Bei schönem Wetter und blauem Himmel kann man im Greinagebiet auf Ski- und Schneeschuhtouren das «grosse stille Leuchten» der Winterberge erleben.

Es ist Karfreitag. Im Unterland war ich in verheissungsvoll weiss im heiligen Karfrei- den letzten Tagen der bohrenden Frage tagslicht. An ihren Flanken liegen die Rui- verreisen ausgesetzt: Was willst du in den einsamen nen von Lawinen: Geröll und Blöcke aus Greina und unwirtlichen Bergen, während hier gepresstem Schnee und Eis, schwer wie der Frühling lacht? Ganz einfach: Ich sass Blei. Die Aufstiegsspur weicht ihnen aus. schon an Weihnachten im Klee, will nun Mehrere Gruppen von Tourenfahrern sind wenigstens über Ostern in den Schnee. unterwegs zur Medelserhütte mit dunkel Ostern im Schnee Doch jetzt lenzt es auch auf 1500 m ü.M. spiegelnden Brillen, kurzärmlig, das Ge- Im Bachbett gurgelt das Schmelzwasser sicht voller Sonnencrème und Zuversicht. Die Greinaebene ist eine Art Kultlandschaft, die seit 1998 der Schweizer des Rein da Plattas. Es ist zu warm in der Oben angekommen, geniessen Bevölkerung gewidmet ist. Im Winter ist sie nicht so leicht erreichbar Surselva für die Jahreszeit. Beim Aufstieg sie auf der Terrasse und an den Holz- und besticht durch das «grosse, stille Leuchten». Falls die Sonne scheint. von Curaglia tropfen Schweissperlen von tischen den Tee, den Weisswein und die Text und Bilder Peter Krebs der Stirn. Die Schneeschuhe können wir Aussicht, inklusive jener aufs Nachtessen. erst nach einer Stunde anschnallen. Jetzt Die Sonne scheint schon ziemlich schräg, erst liegt Schnee auf dem Weg. Oder etwas als die letzten Tourenleute sich als kleine Ähnliches. Am Anfang ist es Pflotsch, der mobile Punkte zum Joch heraufmühen, bei jedem Tritt schmatzend unter den zur Fuorcla da Lavaz, an das sich die tennisschlägergrossen Schuhen hervor- bescheidene Steinhütte lehnt. Das chao- quillt wie zerquetschte Tomaten. Aber tische Relief der Bergwelt erscheint um weiter oben glänzen Gletscher und Berge diese Stunde besonders plastisch und

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Ich denke ans Unterland und den Frühling. Verreisen wollte ich über Ostern wohl, aber doch nicht vereisen.

Wenn die Witterungsverhältnisse allerdings ungünstig sind, die Sicht beschränkt und der Nebel dominiert, ist das Vergnügen eher beschränkt. Man ist dann froh um die warmen Berghütten.

lässt die Alpinistenherzen höher schla- Er war dem Gebirge so verfallen, dass er die unter dem Gipfel auf ihn warteten, vor gen. Später verfärbt sich alles tomatenrot. dafür Kopf und Kragen riskierte und dem Absturz bewahrt. Er sei auch der Erst- Wolken beginnen den Himmel auszufül- manchmal seine Pflichten als Seelsorger besteiger des , den wir auf unserer len, was für die nahe Zukunft nichts leicht vernachlässigte. Hin und wieder Tour noch zu Gesicht bekommen würden. Gutes verheisst. Im Süden, gleich neben musste er einfach hinaus in Gottes weite In einer Zeit, als weder Tourismus noch der Hütte, erhebt sich die Felswand, die Welt, die noch nicht vermessen, kartogra- Alpinismus erfunden waren, nahm der zum Fil Liung emporführt, einem langen, fiert und ausgeschildert war: «Durch das Pater die Strapazen aus Wissensdrang und fadengraden Grat. An seinem steilen stille Sitzen und viele Nachdenken ward purer Freude auf sich: «Ich kam nach Osthang legen zwei Skifahrer in hals- mein Leib schwer und mein Gemüt trau- Haus, gereinigt und leicht wie ein Vogel.» brecherischer Ausgesetztheit eine Spur rig», notierte er. Er war ein aufgeklärter Der britische Skipionier Sir Arnold Lunn für den morgigen Ausflug ihrer Seilschaft Geist, der sich auch mit dem Klerus an- bezeichnete ihn später als den «vielleicht auf den , der mit seinen 3210 legte. Er lehnte das Zölibat für Weltgeist- ersten wahren Bergsteiger». Höhenmetern so etwas wie der König ist liche ab und meinte, die Unterschiede unter den hiesigen Gipfelmajestäten. zwischen Katholiken und Reformierten Der Samstag gestaltet sich schwierig. seien so unbedeutend, dass ihre Kirchen Der Himmel ist bedeckt. Dicke Wolken In seiner Nähe gibt es einen Piz Cristal- zusammengeführt werden könnten. verhüllen die Hörner, als wir früh ins Val lina und gleich rechts davon den Piz a Die Berge erweiterten seinen Lavaz absteigen. Um ins Greinagebiet zu Spescha, dessen Spitze mir vor dem Nacht- Horizont, statt ihn zu beschränken. gelangen, schlägt man im oberen Teil essen eine Tourenfahrerin aus La Tour-de- Spescha stieg so hoch, dass er über die en- dieses Tals den Weg nach Süden ein und Trême zeigt, die die Region von früher gen Täler und das Gipfelmeer hinweg in steigt über den Gletscher zu einem zwei- kennt. Auf der Karte ist der Piz nicht mit weite Fernen blicken konnte. Eine Reihe ten Übergang, zur Fuorcla Sura da Lavaz. Namen eingetragen, wenigstens nicht auf von Erstbesteigungen im Einzugsgebiet Die oberste Schneeschicht ist gefroren. meiner, doch habe es mit ihm eine beson- der Surselva gehen auf das Konto des Bau- Meine Schneeschuhe, die nicht aus Plas- dere Bewandtnis, sagt sie. Er sei eines ernsohns. So habe er, weiss die Tourenfah- tik sind, wie die neueren Modelle, finden der wenigen Schweizer Hörner, das den rerin, den Adula, den höchsten Berg des zuwenig seitlichen Halt. Am steilen letz- Namen einer Person trage, oder vielmehr Tessins, alleine bezwungen, anno 1789, ten Hang drohen sie nach unten zu einer Persönlichkeit, jenen von Pater als in Paris die Revolution sich anschick- sausen. Im Zickzack zu gehen ist ausge- Placidus Spescha (1752–1833) nämlich, te, das Abendland aus den Angeln zu schlossen, nur die ätzend steile Falllinie einem Benediktinermönch aus Disentis. heben. Beim Abstieg habe er zwei Ärzte, kommt in Frage. Die Fuorcla liegt im

10 via 1/2006 verreisen stockdicken Nebel, der Wind peitscht uns Eisregen ins Gesicht, man sieht keinen Meter weit und schlottert, wenn man stehen bleibt. Der Tourenleiter konsultiert die Karte, er setzt das GPS- Gerät in Betrieb, trotzdem finden wir den richtigen Weg erst im dritten Anlauf. Irgendwann taucht unter einem Grat eine ande- re Gruppe auf. Es ist beruhigend zu wissen, dass wir bei diesem Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür jagen würde, nicht die einzigen Unentwegten sind. Wir picknicken stehend. Der Eisschnee klebt auf den Stirnhaaren und den Augenbrauen fest, verwandelt die Teilnehmer in unbekannte Geistergestalten. An der Leeseite der Steine und Wegweiser bilden sich waag- rechte Eiszapfen, denen man beim Wachsen zuschauen kann, wie den Bohnenstauden im Garten, sagt die Frau aus La Tour-de- Trême. Ein Vergnügen ist das alles nicht direkt. Ich denke an das Unterland und den Frühling. Verreisen wollte ich über Ostern wohl, aber doch nicht vereisen. Der Tourenführer, ein Naturbursche, den nichts aus der Ruhe bringt, trägt einen Arm in der Schlinge, weil er sich beim Holzhacken verletzt hat. Das scheint ihn kaum zu stören. Er geht mit nur einem Skistock voraus und findet die Route nun sicher. Wir schreiten schweigend durch den Schnee, kommen einmal durch ein Felsencouloir, dann lösen sich wieder alle Konturen und Kontraste auf. Es ist wie Tauchen in trübem Ge- wässer, bis uns der Duft von Holzfeuer und Spargelcrèmesuppe in die Nase steigt. Wir riechen die Scalettahütte, bevor wir sie se- hen, obschon wir eigentlich schon vor ihr stehen. Wir hielten sie für einen Felsbrocken. Sie hat ein Satteldach, das bis zum Boden Ausblick von der Fuorla da Lavaz, auf der reicht, ist freundlich und warm. Die Finger tauen nägelnd auf, die Medelserhütte steht (oben). Bergland- das Leben kehrt zurück, erst recht, als die Spargelcrèmesuppe schaft mit der Scalettahütte (rechts). aufgetischt wird und danach der Safranreis und die Tessiner- würste. Die Hütte wird von Tessinern vom Bleniotal her bedient. Am Hinterkopf des Chefs baumelt ein langer, dürrer Zopf, ein Souvenir an seine einst prächtige Mähne, die auf der Fotografie an der Wand noch vorhanden ist. Eine Schar von Helferinnen, die hier die Feiertage verbringen, umkreist ihn mit einer ge- WISSENSWERTES ZUR TOUR wissen Distanz wie die Monde einen Planeten. Wir sind die ein- Anreise Mit der Bahn von Chur oder Andermatt zigen Gäste, haben viel Platz zum Jassen und im Schlafraum. nach Disentis (Fahrplanfelder 920 und 143. Mit dem Postauto nach Curaglia (920.80). Aus dem Unterland erreicht mich spät am Abend die mittel- Rückreise Ab mit dem Postauto nach Ilanz lange short-message-Frage: Bist du jetzt eigentlich in den (920.40). Ab Campo mit dem Autobus Bergen und hast du den Osterhasen gesehen? Ich selber lag via nach Biasca an der Gotthard-Linie heute im Liegestuhl und im Bikini auf dem Balkon an der Sonne. der SBB (600.78/600.73). Achtung: In Campo Blenio fährt der Minibus manchmal mehrere Etwas pikiert schreibe ich die Antwort ins Moleskine-Heft. Minuten vor der Fahrplanzeit ab. Bei prekären Für später, als Zeitdokument für die Klimaforschung. Ja, ich bin Schneeverhältnissen kann das Taxi den Abstieg in den Bergen, nein, den Osterhasen habe ich nicht angetroffen, verkürzen. www.alpentaxi.ch wahrscheinlich ist er ebenfalls in der Nebelsuppe herumgetappt Route Curaglia, Val Plattas, Fuorcla da Lavaz wie wir, das war fast schlimmer als Aktivrauchen. Es schneite (Medelserhütte), Gl. da Lavaz, Fuorcla Sura da nass, der Wind wehte uns kühl um die Ohren, um die Finger, Lavaz, Scalettahütte, Pass Crap, Greinaebene, Terrihütte, Pass Diesrut, Vrin. Variante: Rückkehr ums Herz, durch den Sinn; auf den Kleidern bildete sich ein zur Scalettahütte und Abstieg ins Bleniotal. Eispanzer, man hätte die Hosen und Jacken aufrecht auf den Die Gebirgstour ist teilweise anspruchsvoll und Boden stellen können, und sie wären nicht umgefallen. Nicht soll nur von erfahrenen Alpinisten geleitet werden. einmal die Berge, an denen hier oben im Prinzip kein Mangel Geführte Touren Ski- und Schneeschuhtouren herrscht, sahen wir; nur einmal huschte der Schatten eines werden unter anderem vom Veranstalter Höhen- Schneehuhns vorbei, falls es wirklich eines war, was nicht sicher fieber angeboten. Telefon 032 361 18 18. www.hoehenfieber.ch ist, aber es war bestimmt kein Hase, denn es flog. Zehnmal habe Karte Skitourenkarte 1:50000, Blatt 256 S ich den Nebel verflucht und gesagt: Warum musst du dir das Disentis/Mustér antun und bleibst nicht einfach im Unterland, wo die Vögel pfei- Übernachtungen In der Gegend gibt es fen und es warme Duschen gibt, oder überhaupt Duschen (sogar mehrere SAC-Hütten: Medelser-, Scaletta-, gegen eine kalte hätte ich wenig einzuwenden, man wird be- Terri- und Motterasciohütte. www.sac.ch scheiden in den Högern), im Unterland also, wo sich die Toi- letten nicht draussen in einer Art Plakatsäule befinden, direkt über dem Abgrund, sodass man aufpassen muss, dass einen der Sturmwind nicht davonluftet, wenn man mit klammen Fingern den Riegel aufzubekommen versucht, in den nassen Wander- schuhen stehend, die man in aller Eile im schwachen Licht der

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Aufstieg durch eine weite Ebene zum Pass Crap, der auf der anderen Seite gegen die berühmte Plaun la Greina hin abfällt.

Das viele Licht gibt dem Schnee Konturen, Töne, Farben, er glitzert und funkelt und blendet.

Stirnlampe mitten in der Nacht ge- teren, grösseren Ebenen hin abfällt. Auf Salamander unterwegs sind. Im Winter, schnürt hat und die auch der wärmste allen Seiten erheben sich Hänge, Sättel, wenn sie nicht so leicht erreichbar ist, Ofen bis am nächsten Morgen nicht trock- Nasen, Türme, Grate, sie kulminieren in wenn Flora und Kleinfauna unter einer nen wird? Warum? Ich klappe den raben- Gipfeln, die nichts Abweisendes haben, dicken Schneedecke ruhen, besticht die schwarzen Umschlag des Moleskine zu, nicht einmal der Piz Terri, der nun auch Landschaft durch das «grosse, stille Leuch- lege mich schlafen, während der Wind zum Vorschein kommt. Man möchte sie ten», wie es Conrad Ferdinand Meyer im um die Hausecken heult und durchs wie Pater Spescha alle der Reihe nach Gedicht Firnelicht beschrieb. Die Gelän- Gebälk raunt. erobern. deformen sind jetzt weichgezeichnet, wie Die Greinaebene, auf der Karte mit Schlagrahm überzogen. Mäandernde Ostern ist ein strahlend schöner Tag. rätoromanisch als Plaun la Greina ein- Rundungen deuten die Schlangenarme Über Nacht ist ein halber Meter Pulver- getragen, habe bei Schweizer Natur- des Rein da an. schnee gefallen, der nicht mehr einfach liebhabern Kultstatus, heisst es irgendwo eine blassgraue Masse ist. Das viele Licht im world wide web. Was stimmt und Mit hohen Sprüngen setzt ein Rudel gibt ihm Konturen, Töne, Farben, er glit- damit zu tun hat, dass das einst durch Gämsen über den frischen Schnee, auf zert und funkelt und blendet, der Süd- den Bau eines Stausees bedrohte Hoch- den die Sonne eine fragile Glasurhaut wind hat die Oberfläche an ausgesetzten moor nach Jahren der Auseinander- gebrannt hat. Die Tiere sind im Handum- Stellen zu Wellen und Schuppen geformt, setzung gerettet wurde. Die Nordost- drehen auf der anderen Talseite und Böen blasen immer noch Schneemehl schweizerischen Kraftwerke verzichteten schauen zurück, leicht spöttisch, wie ich über die Flächen. Es hat blauen Himmel 1986 auf das Greina-Kraftwerk. Seit eini- mir einbilde, während wir gemächlich und es hat endlich Berge, über die kreide- gen Jahren zahlt der Bund den beiden stapfend für die gleiche Strecke Stunden weisse Wolkenfetzen treiben. Sie stürmen Standortgemeinden Vrin und Sumvitg benötigen und es uns dabei doch nicht aufeinander los, überschlagen sich wie eine Entschädigung für die entgangenen langweilig wird. Auf einmal fällt mir eine Judokämpfer, sie brechen auseinander, Wasserzinsen. Sie verpflichteten sich als verblüffende und tiefsinnige Kurzantwort fallen im Zeitlupentempo um, stehen Gegenleistung, die Landschaft von natio- auf die Message der letzten Nacht ein. wieder auf als neue Gebilde und sich stän- naler Bedeutung im heutigen Sinn zu Es wäre das brillanteste Esemes geworden, dig weiter verformend. Wir marschieren erhalten und zu nutzen und widmeten das ich je verfasst habe, aber es fehlt durch weite, leuchtende Ebenen, ziehen sie 1997 dem Schweizer Volk. Ihre Reize der Empfang, so dass die Nachricht in die eine frische Spur durch das Wattenmeer, werden normalerweise im Sommer be- Endlosigkeit des Äthers entschwindet, steigen über den Pass Crap, der zu wei- sungen, wenn das Wollgras blüht und die ohne Spuren zu hinterlassen.

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