Heinrich-

Zschokke-

Brief

Nr. 6 Juni 2006

––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– Mitteilungsorgan der Heinrich-Zschokke-Gesellschaft Verkaufspreis: Fr. 5.– oder € 3.– –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––

Ausblick und Rückblick

Geleitwort von Thomas Pfisterer, Präsident der Heinrich-Zschokke-Gesellschaft

ir blicken auf ein gutes Jahr zurück. Werner Ort ist seit einem Jahr rastlos daran, Mit unserem zweitägigen Zschokke- die Biografie vorzubereiten. Bei seiner Suche W Symposium haben wir im September in Archiven und Bibliotheken stösst er immer 2005 bedeutende Fachleute aus Deutschland wieder auf neue Funde und Erkenntnisse. Wei- und der Schweiz nach gebracht und ein ter so! In einem Jahr wird er mit der Nieder- breites Publikum auf Zschokke aufmerksam schrift beginnen, damit die Biografie terminge- gemacht. Auf Initiative des Oberbürgermei- recht 2009 fertig ist. sters findet in Anfang November Leider haben wir einige schmerzliche Ver- 2007 das Zschokke-Symposium seine Fortset- luste zu beklagen. Markus Kutter, unser Mit- zung. Wir werden uns auch daran beteiligen; es gründer und verdientes Vorstandsmitglied, ist wird sich mit Zschokkes schriftstellerischem im Juli 2005 plötzlich verstorben. Wir würdi- Werk befassen. Auch dieses Jahr steht ein gen ihn in dieser Ausgabe und bringen einen wichtiges Ereignis bevor: Holger Böning und Aufsatz, den er für uns geschrieben hat. Mit Werner Ort geben ein historisches Lesebuch dem Malanser Johann Hartmann und dem Aa- mit dem „Goldmacherdorf“ und anderen Tex- rauer Historiker Alfred Lüthi haben wir zwei ten Zschokkes heraus und machen damit erst- weitere treue Mitglieder verloren. Wir werden mals seit langem wieder eines seiner wichtig- sie vermissen und sprechen den Angehörigen sten Werke im Buchhandel greifbar. unser herzliches Beileid aus. Die Zschokke-Biografie ist und bleibt im Zentrum unserer Aktivitäten. Es ist uns weit- Inhaltsverzeichnis Seite gehend gelungen, sie auf eine gesunde finanzi- Zschokke-Symposium 2005 in Aarau 2 elle Grundlage zu stellen, sofern jene grösseren Markus Kutter zum Gedenken 8 Auch eine Art von Schweizerreise ... 10 Beträge noch einlaufen, mit denen wir fest „Der Freiheitsbaum“: ein Zschokke-Drama als rechnen. Die Neue Aargauer Bank hat sich be- Vorgabe für Kleists „Zerbrochenen Krug“? 17 sonders grosszügig gezeigt. Vielen Dank allen, Vom Schreibtisch der Redaktion 20 die uns unterstützen! 1 Zschokke-Symposium 2005 in Aarau Bericht von Werner Ort

eit geraumer Zeit wollte ich Zschokke- schicht zu sehen oder durch eine akademische Forscher zu einem gemeinsamen Gedan- Elite vereinnahmen zu lassen. S kenaustausch zusammenbringen, durch Wir planten ein internationales Symposium, wissenschaftliche Vorträge und Diskussionen weil die Fachleute, die sich mit Zschokke be- die Auseinandersetzung mit Zschokke fördern fassen, sich über manche Länder und Konti- und einem weiteren Publikum eine attraktive nente verteilen – hauptsächlich sind sie in Plattform bieten, um Zschokke kennenzulernen Deutschland, in der Schweiz und in den USA oder die Bekanntschaft mit ihm aufzufrischen. beheimatet – und weil Zschokkes Ausstrahlung Ich hoffte auf Impulse für die Zschokke- keine Ländergrenzen kannte und kennt, seine Biografie und auf eine Gelegenheit, Thesen Ideen auf der ganzen Welt verstanden, seine und Hypothesen kritisch zu prüfen. Es genügt Werke von allen Völkern gelesen werden, also nicht, jahrelang in Archiven zu schaffen und im eigentlichen Sinn des Wortes Weltgeltung am Schluss seine Ergebnisse zu präsentieren – besitzen. Er war Kosmopolit, stand mit Persön- ganz abgesehen von der Einsamkeit, die sich in lichkeiten aus fast aller Herren Länder in einer langen Phase klösterlichen Arbeitens ein- freundschaftlichem Briefverkehr, und wer mit stellt. seinen Reiseerzählungen vertraut ist, weiss, Internationaler Anlass mit Lokalkolorit wie leicht es ihm fiel, sich in fremde Gegenden und Sitten einzufühlen. Im Sommer 2004 nahm sich unser Vorstands- mitglied Prof. Rudolf Künzli, Leiter der Leh- » Für eine literarische Öffentlich- rerfortbildung im Kanton , der Sache an keit der Gebildeten gibt es seit je- und gewann sogleich Prof. Lucien Criblez, her Publikationen; Zschokkes Lei- Chef des Instituts für Wissen & Vermittlung der Fachhochschule Pädagogik Nordwest- stung ist es, dass er Publikationen schweiz dazu, gemeinsam mit der Heinrich- macht für jene, die lesen bzw. Zschokke-Gesellschaft ein Zschokke-Sympo- sich bilden wollen, aber nicht oder sium zu tragen. Von der Fachhochschule aus nicht gut lesen können. « wurde Dr. Anna Bütikofer mit der Organis- Peter von Matt ation betraut, Assistentin bei Prof. Fritz Oster- walder am Institut für Pädagogik an der Uni- Eine besondere Ehre war es, Dr. Lutz versität , wissenschaftliche Mitarbeiterin Trümper, den Oberbürgermeister von Magde- bei Prof. Criblez und Autorin der Dissertation burg, Hauptstadt von Sachsen-Anhalt, und sei- „Staat und Wissen. Ursprünge des modernen nen Stellvertreter Bernhard Czogalla unter uns schweizerischen Bildungssystems im Diskurs zu haben, die, notabene, nicht mit dem Flug- der Helvetischen Republik“. zeug, sondern mit dem Zug nach Aarau reisten und ihre Stadt, die gerade ihr 1200-jähriges Ju- Wir einigten uns, für das Symposium das biläum feierte, für zwei Tage allein liessen. Leitwort „Erziehung zur Demokratie“ zu be- nutzen. Damit wurde ein Kerngedanke von Als Austragungsort bot sich Aarau an, das Zschokkes Schaffen auf den Punkt gebracht mit den Beständen des Staatsarchivs und der und zugleich ausgedrückt, dass wir uns für Kantonsbibliothek ein Kompetenzzentrum der einmal dem Pädagogen, Publizisten, Volks- Zschokke-Forschung hat, einmal abgesehen schriftsteller und Politiker zuwenden wollten davon, dass Zschokke hier über 40 Jahre seines und weniger dem Dichter. Das bedeutete nicht, Lebens verbrachte, das Städtchen prägte und Germanistinnen und Germanisten auszu- von ihm geprägt wurde. Trotz anderer verlok- schliessen, sondern, im Gegenteil, auch Erzie- kender Angebote wählten wir die Neue Kan- hungs- oder Medienwissenschaftler, Histori- tonsschule als Tagungsstätte, die uns eine gute ker, Volkskundler, Politologen, Theologen, Infrastruktur, genügend Raum, eine angeneh- Lehrer, Politiker oder Juristen anzusprechen. me Atmosphäre und den Austausch mit Schü- Zschokke dachte an und wirkte auf die Ge- lerinnen und Schülern bot. Es ist nicht leicht, genwart, auf die grösstmögliche Öffentlichkeit. Jugendliche an Zschokke heranzubringen, und Es wäre ein Missverständnis und ein Fehler, so brachten wir Zschokke zu ihnen. Da unsere ihn als Vertreter einer exklusiven Bildungs- Gemeinschaft für zwei Tage Aula und Foyer

2 besetzte, waren wir nicht zu übersehen, und sich stets am Möglichen orientierten, zu begei- beim Mittagessen in der Mensa fand erst recht stern. Er wollte die Welt verändern, indem er eine Durchmischung statt. auf die Gegenwart wirkte. Erstaunlich sei sein Einfühlungsvermögen in die Situation der » Öffentlichkeit ist nicht einfach Schweiz, in unsere Wertordnung und Staats- da, sondern muss permanent er- verhältnisse gewesen. rungen werden, und das ist Thomas Fleiner, Professor für Staats- und Zschokke jeweils hervorragend Verwaltungsrecht an der Universität Freiburg gelungen. Man muss sie erringen, i. Ü., Direktor des Instituts für Föderalismus, bevor man sie überzeugen kann. Autor juristischer Standardwerke, international Was erringt Öffentlichkeit? Es sind anerkannter Experte für Fragen der Verständi- dies Unterhaltung, Reduktion auf gung unter Bürgern verschiedener Ethnien, Konfessionen und Kulturen und – wie Thomas vermittelbare Inhalte, Vereinfa- Pfisterer – ein unmittelbarer Nachkomme chung. Das läuft darauf hinaus, Zschokkes, hatte sich mit ihm intensiv ausein- Ideologie zu verkaufen. Wie andergesetzt. Zschokke das machte, ist das In seinem Referat „Heinrich Zschokkes Faszinierende. « Staat der Moderne: Eine Herausforderung für Thomas Pfisterer die moderne Schweiz in ihrem europäischen Umfeld“ nahm er den Faden seines Vorredners Trotz grossem Engagement und Interesse von der Umbruchszeit auf. Die Wirkungszeit von Rektorat und Fachschaft Geschichte war Zschokkes war eine Periode des Umbruchs, die Schwellenangst aber leider zu hoch, um und er selber war einer der grossen Denker, die Schulklassen direkt ins Symposium zu locken. in der Schweiz den Übergang vom Ancien Nachhaltigkeit wurde dennoch erzeugt: Dr. Régime zum Bundesstaat mitgestalteten. 1798 Pascal Frey notierte markante Sätze aus dem wurde er zum Chef des bureau de l’esprit pub- Podiumsgespräch und liess sie über eine Wo- lic gewählt, „um die allgemeinen und besonde- che lang an einer Stellwand im Foyer hängen. ren Bedürfnisse und Mittel der Bildung, Auf- Sie sind zur Auflockerung in grösserer Schrift klärung und Veredlung unserer Nation, welche in diesen Text eingestreut. Eine Geschichtsleh- durch die vorhandenen Anstalten noch nicht rerin der Schule hatte gar den Mut, Zschokke befriedigt und veranstaltet sind, zu erforschen in den Unterricht einzubringen; mit ihr zu- und ihre Benutzung vorzubereiten“. Darauf sammen gestaltete ich im März 2006 in zwei schuf er mit seinem „Schweizer-Boten“ eine oberen Klassen das Projekt „Schweizer-Bote“. Zeitung für den einfachen Landmann, in der Wir werden darüber berichten. Überzeugung, dass ein aufgeklärtes Volk sich Die Referate nicht mehr hinters Licht führen lasse. Er mach- Da wir die Vorträge in einem Tagungsband te sich die Forderung Luthers zu eigen, dass veröffentlichen werden, ist es nicht nötig, sie derjenige, der für die Menschen schreiben wol- hier abdrucken. Für jene aber, die nicht dabei le, dem Volk aufs Maul schauen müsse. Wie waren, und als Erinnerung für alle andern will ein Philosoph denken und wie ein Bauer ich meine wichtigsten Eindrücke in gedrängter schreiben war für ihn Bürgerpflicht. Gesetze Form hier festhalten. sollten, wie dies Montesquieu sagte, der Seele des Volks entspringen. Dem Gastgeber, Rektor Dr. Daniel Sie- genthaler, gelang es, Bezüge der Neuen Kan- » Unterhaltung und Moral ver- tonsschule Aarau (des ehemaligen Lehrerin- kaufsträchtig verbinden: Er hat nenseminars) zu Zschokke herzustellen. Da- aus dieser “Not” eine Tugend ge- nach begrüsste auch unser Präsident, Ständerat macht. « Dr. Thomas Pfisterer, Teilnehmer und Gäste. Peter von Matt Als Politiker gewohnt, den Blick auf die Zu- kunft zu schärfen, suchte er in seiner kurzen Zschokke war an realistischen und gerech- Ansprache auch bei Zschokke das Bleibende ten Lösungen interessiert, bei denen der Friede und das Gültige. Zschokke sei es gelungen, in oberstes Ziel und deshalb Kompromissbereit- einer Zeit des Umbruchs die Menschen in eine schaft erstes Anliegen war. Er besass in seiner neue Zeit zu weisen, ihnen zukunftsträchtige Vermittlungshaltung eine Grösse, die heutigen Wege zu eröffnen. Er verfügte über die Gabe, Staatsmännern oft fehlt. Als ein universaler Zuhörer für seine Ideen, für seine Visionen, die Mensch legte er zugleich ein eindrückliches

3 Bekenntnis zur Schweiz und deren Föderalis- gestivmacht, die Zschokke über seine Mitmen- mus ab. Er kümmerte sich intensiv um schen besass, und seiner Vielseitigkeit und Schweizertum und schweizerische Identität, Schaffenskraft ist es hohe Zeit, das noch weit- ohne die Idee des Einheitsbundes zu verraten. gehend unbekannte Originalmaterial zusam- Er hob das geschichtlich Gemeinsame hervor menzutragen und eine wissenschaftlich- und versuchte, die verschiedenen Regionen in nüchterne, fundierte Biografie zu schreiben. die neue, noch zu bildende Nation einzubin- Prof. Holger Böning (Universität Bremen) den. Unermüdlich trat er für Gewaltentren- sprach über „Aufklärerisches Engagement und nung, Rechtsstaatlichkeit und gegen Macht- Menschenliebe – Heinrich Zschokke als Volks- missbrauch ein; auch hier könnte man noch aufklärer und Volkserzieher“. Mit 17 Jahren von ihm lernen. kam Zschokke bei Buchhändler Bärensprung in Schwerin in Berührung mit Rudolf Zachari- as Beckers „Noth- und Hülfs-Büchlein für Bauersleute oder lehrreiche Freuden- und Trauer-Geschichte des Dorfs Mildheim“, der auflagenstärksten weltlichen Schrift im 18. Jahrhundert. Hier begann Zschokkes Ausein- andersetzung mit Fragen, die ihn später immer mehr beschäftigten. » Zschokke hatte einen Machbar- keitswahn, keinen Machbarkeits- wahn durch Technologien, son- dern eine Art aufgeklärten Mach- Rektor Siegenthaler begrüsst die Gäste barkeitswahn; deshalb auch seine Für mein Referat wählte ich das Motto: „Du utilitaristische Ausrichtung der sollst dir ein Bildnis machen!“ und sprach über Bildung. Er ging davon aus, dass die „Biografie eines aussergewöhnlichen Men- die jungen Leute zu etwas zu ge- schen“, was ich doppelsinnig verstanden haben brauchen sein müssten – und das wollte. Zschokke stellte sich in seiner Auto- hat auch gut gepasst zu der biografie „Eine Selbstschau“ (1842) idealisie- Schweiz. « rend dar, zeichnete sich in diesem Bildungs- roman seines Lebens als einen durch eigene Rudolf Künzli Kraft und Tatendrang gewordenen Menschen, 1817 erschien mit dem „Goldmacherdorf“ vom Schicksal für die Aufgabe der Menschen- das volksaufklärerische Hauptwerk Zschokkes bildung bestimmt. Hier glaubte ich Parallelen neben dem „Schweizer-Boten“. Diese Erzäh- zu Benjamin Franklin, dem „Lehrmeister der lung kann als eine volksaufklärerische Utopie amerikanischen Revolution“, und seiner Auto- bezeichnet werden, die das Gedankengut einer biografie „Geschichte meines Lebens“ (1771 bürgerlich-demokratischen Schweiz vorweg- und 1784) zu erkennen. nahm. Anders als bei Becker geht der Wille Die meisten Biografen Zschokkes über- zur Veränderung im „Goldmacherdorf“ vom nahmen dessen Selbstdarstellung, ohne sie zu Volk aus, und dieser Wille muss in Reformen hinterfragen und ohne seine pädagogische Ab- umgesetzt werden. Die Bauern führen eine sicht, die Begeisterung, die Hinführung der Le- weitgehende Vergenossenschaftlichung ihres ser zu seiner Überzeugung am Beispiel seines Dorfwesens durch. Zschokkes „Goldmacher- Lebens zu durchschauen oder deutlich zu ma- dorf“ hatte während 100 Jahren grossen, auch chen. Die Idealisierung führte zu einer Mythi- internationalen Erfolg. sierung, hinter welcher der Mensch Zschokke Prof. Böning will das „Goldmacherdorf“ in allmählich verschwand. Zschokke nahm es seinem Verlag „édition lumière“ in Bremen als nicht sehr genau mit der Wahrheitstreue der Jubiläumsband demnächst neu herausgeben, geschilderten Ereignisse, wenn nur ihre Sym- ergänzt um Texte aus dem „Schweizer-Boten“, bolik ins Gesamtbild passte. die sich mit ähnlichen Fragen befassen. Als Folge davon wurden Irrtümer, Beschö- Als letzter Hauptreferent stellte Prof. Lu- nigungen und Begradigungen aus „Eine Selbst- cien Criblez den 1819 durch Zschokke gegrün- schau“ bis in Lexikoneintragungen über deten „Aargauischen Lehrverein als Ort politi- Zschokke mitgeschleppt. Angesichts der Sug- scher Bildung“ vor, eine unentgeltliche private 4 Schule, die Jünglinge im Alter zwischen 18 Yvonne Leimgruber stellte Dr. Anna Bütikofer und 30 Jahren aufnahm und ihnen eine praxis- „Die Bildungskonzepte Heinrich Zschokkes im orientierte, staatsbürgerliche Bildung gab. politischen Kontext“ vor. Zschokkes Pädago- Zschokke besass den (naiven) Glauben an die gik zielte auf eine Tugendbildung der Men- Verbesserung von Individuum und Gemeinwe- schen unter verschiedenen Staatsverhältnissen. sen. Die Reformen der gesellschaftlichen Zu- Sie zeigte dies ausgehend von seiner Tätigkeit stände strebte er auf drei Wegen an: mittels ei- als Leiter des Instituts Reichenau 1796 bis zur ner publizistischen und literarischen Öffent- Schrift „Volksbildung ist Volksbefreiung!“ lichkeit, einer politischen Öffentlichkeit und 1836. Volksbildung war für Zschokke ein Mit- besseren öffentlichen Schulen und Bildungs- tel zur sittlichen (persönlichen) und politischen einrichtungen. (allgemeinen) Freiheit. » Seine Sache steckt in Wörtern, PD Dr. Béatrice Ziegler sprach über die die für uns ranzig geworden sind; „Geschlechterverhältnisse bei Zschokke – Bil- Beispiel Tugend, für Zschokke ein dungskonzepte und Rollenerwartungen“. – Da ich an dieser Veranstaltung nicht teilnehmen glasklarer Begriff, der enthält, konnte, werde ich erst in dem geplanten Ta- worum es ihm ging. Aber heute gungsband zu diesem Symposium erfahren, würde kein Mensch ernsthaft von welche Schlüsse sie zog. Tugend reden. « Im zweiten Workshop, moderiert von Dr. Peter von Matt Werner Bänziger, stand Zschokke als Volks- schriftsteller im Mittelpunkt. Dr. Esther Berner Die Workshops stellte unter dem Titel „Aufklärung und Demo- Der zweite Tag des Zschokke-Symposiums kratie im Spiegel der Stunden der Andacht“ begann mit einer lehrreichen, humorvollen und Zschokkes am weitesten verbreitetes Werk vor, unterhaltenden historischen Führung „Auf das 1809–1816 als Wochenblatt erschien und Zschokkes Spuren“ durch Marianne Blattner. im Zeichen einer aufgeklärten Reformtheolo- Indem wir die Stadt abwanderten, wurde uns gie stand. Zschokke habe eine Versöhnung von die Verflechtung von Zschokke und Aarau, Vernunft und Glauben angestrebt. Motive sei- von Geografie, Architektur, Kultur, Politik und ner theologischen Überzeugung sah die Refe- Alltag physisch bewusst. Danach führte uns rentin in frühen Glaubenszweifeln, in der Be- der Aarauer Stadtammann Dr. Marcel Gui- einflussung durch Gotthelf Samuel Steinbart gnard in einer kurzen, sympathischen Anspra- während des Studiums, in seiner Sehnsucht che diese Verbundenheit geistig vor Augen, nach Freiheit, seinem Ringen nach Wahrheit auch die Verbundenheit von Magdeburg und und seinem religiösen Pädagogismus, also ei- Aarau über den gemeinsamen Bürger und ner aufklärerischen Grundposition. Sohn. Dem schloss sich der Oberbürgermeister von Magdeburg an und hob die Bezüge zwi- schen Magdeburg und Zschokke hervor, auf dessen Namen im Jahr 2001 eine Strasse ge- tauft und 2004 eine Gedenktafel eingeweiht wurde. Im Herbst 2007 werde in Magdeburg eine Fortsetzung des Zschokkes-Symposiums stattfinden. » Zschokke IST ein Lehrer, und zwar in dem Sinne, dass er ein Volkspädagoge ist, ein Erzieher des Schweizer Volkes, ein Magi- ster Helvetiae. « Stadtführung: Gruppenbild mit Denkmal Rudolf Künzli PD Dr. Alfred Messerli sprach über „Nar- Um einige wichtige Aspekte zu vertiefen, rative Aufklärung im Schweizer-Boten (1798- wurden im zweiten Teil des Morgens parallele 1836)“ in einem Resümee aus seiner Habilita- Workshops abgehalten. Der erste wurde von tionsschrift „Lesen und Schreiben 1700–1900. Mitarbeiterinnen der Pädagogischen Hoch- Untersuchung zur Durchsetzung der Literalität schule gestaltet und befasste sich mit pädago- in der Schweiz“ (Tübingen 2002). Er stellte gischen Fragen. Unter der Leitung von Dr. das Leseverhalten auf dem Land vor, die rasan- 5 te Alphabetisierung der Bevölkerung im 19. Künzli und der Germanist und Zschokke- Jahrhundert und zitierte aus Erinnerungen aus Kenner Prof. Dr. Rémy Charbon sprachen un- jener Zeit über das Zeitungslesen. Man könne ter der Leitung von Prof. Dr. Lucien Criblez von einer semioralen Gesellschaft sprechen, in über den Stellenwert Zschokkes damals und der Zeitungen vorgelesen und Pfarrer von der heute. Kanzel herab Verlautbarungen der Obrigkeit Mit tiefer Genugtuung stellten wir fest, dass bekannt gaben (sog. Kirchenruf). Zschokke Peter von Matt, dieser berühmte und versierte sprach im „Schweizer-Boten“ die leseunge- Literaturkenner, die Bedeutung Zschokkes für wohnte Bevölkerung durch Anklänge an die unser Land anerkennt. Anhand der Figur alte Predigtliteratur, mündliche Sprechweise Zschokkes könne man einen Einblick in die und die wöchentliche Wiederholung des Ver- Entstehung der modernen Schweiz gewinnen. trauten an. Die Schweiz konnte sich nur entwickeln und » In Zschokkes Erzählungen ist bestehen, weil sie Fremde ins Land zog und der Lehrer immer eine ganz nor- aktiv werden liess. Am Beispiel Zschokke las- se sich nachvollziehen, wie ein moderner Staat male Figur. « entstehe; den habe er mit in die Wege geleitet. Rémy Charbon Zschokke habe keine grosse Literatur ge- Beide Workshops boten Gelegenheit, die schrieben. Er habe seine Werke vorab so kon- vorgetragenen Thesen zu erörtern und zu er- struiert, dass sie bei seinem Publikum gut an- gänzen. kamen. Peter von Matt sprach gar von einer Podiumsgespräch Literaturfabrik, die Zschokke betrieben habe. An die Qualität von Jeremias Gotthelf und Den Nachmittag leitete eine Grussadresse des Gottfried Keller sei er nicht herangekommen; Aargauer Landammanns (Regierungspräsiden- aber die beiden hätten sich seiner Muster be- ten) Rainer Huber ein. Auf Zschokkes Einsatz dient und sie für ihre Zwecke ausgeführt. für eine gute Schulbildung aufbauend, stellte Zschokke habe Bestseller geschrieben, jedoch der Bildungsminister des Kantons sein Ziel nicht um der „Einschaltquoten“ willen, son- vor, dass kein Jugendlicher die Schule ohne dern in Verfolgung pädagogischer Ziele. Er Abschluss verlassen solle. Zumindest beim war und blieb ein Aufklärer. Die Romantik sei Schulaustritt müssten alle über jene Fähigkei- über ihn hinweggegangen. Man habe sich die ten und Kenntnisse verfügen, die sie brauchen, Romantik in der Schweiz aber ohnedies nicht um ihren Unterhalt zu bestreiten und als auf- leisten können, da die ganze Kraft in den Auf- merksame Bürgerinnen und Bürger am öffent- bau des Bürgerstaats gesteckt werden musste. lichen Leben teilzunehmen. Die Stadt Aarau, die auf den Sitz der Fachhochschule Nordwest- » Seine Literatur steht in einer Li- schweiz verzichten müsse, könnte vielleicht nie mit Gotthelf und Keller, Litera- ein universitäres Institut gewinnen, ein tur nämlich, die eingesetzt wird, Zschokke-Institut für Demokratie, das ihr mit um die Welt ein klein wenig zu Sicherheit zur Ehre gereichen würde. verbessern. « Den Höhepunkt des Tages bildete das ein- Rémy Charbon stündige Podiumsgespräch, zu dem auch die Bevölkerung geladen wurde, so dass sich die Es sei kein Zufall, dass Zschokkes zweiter geräumige Aula der Neuen Kantonsschule Aa- grosser Roman, das „Goldmacherdorf“, ein rau bis in die hintersten Reihen mit Besuchern Lehrerroman war. Die Bedeutung des Begriffs füllte. Das Thema „Über Zschokke reden“ war „Lehrer“ habe sich allerdings seit damals ver- absichtlich so allgemein gefasst, dass es das ändert. Auch andere Begriffe wie „Tugend“ Gespräch nicht einengte. Wir wollten veran- seien heute anders zu verstehen und in der schaulichen, dass es immer noch oder wieder Zwischenzeit verbraucht. Aber wenn wir uns möglich ist, lebhaft, klug, vielfältig und kon- mit Zschokke befassten, so sei dieser Begriff trovers über Zschokke zu sprechen, und dass wichtig und richtig. Sein Inhalt sei es noch ihm ein Rang unter den Grossen des vorletzten heute. Jahrhunderts gebührt. In „Eine Selbstschau“ habe Zschokke das Prof. Dr. Thomas Pfisterer als Präsident der Bild gezeichnet, das die Leute vom Verfasser Heinrich-Zschokke-Gesellschaft, Politiker und der „Stunden der Andacht“ sehen wollten. Die Jurist, der Germanist Prof. Dr. Peter von Matt, „Stunden der Andacht“ zeigten ein gefühls- der Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Rudolf mässiges Christentum, mit Kritik an der Kir-

6 che. Zschokke in „Eine Selbstschau“ gab von stock, Gleim oder Jean Paul) wurde die schöne sich ein „wunderbares“ Bildnis, wenn auch an- Mörderin als Heldin und Märtyrerin verehrt, ders als Rousseau in seinen „Confessions“. von den anderen in Grund und Boden ver- Zschokke dachte politisch und hatte als Politi- dammt. Sie war das Tagesgespräch schlecht- ker grosse Verdienste. Auch andere Politiker hin; ihre Tat brachte Klischees ins Wanken schrieben Autobiografien, die nicht immer und liess neue entstehen. stimmten. Dass nicht alles stimme, gehöre da- In Frankfurt an der Oder sass der 22-jährige zu. Man möchte das Bild von sich unter Kon- Zschokke, Privatdozent für Philosophie und trolle behalten und es nicht von andern Theologie, in seiner Studierstube und schrieb bestimmen lassen. ein Theaterstück über sie. Er kannte die Debat- Szenische Lesung eines Zschokke-Stücks ten, die in allen Journalen breitgeschlagen wurden. Wenn er Aufmerksamkeit erregen Zum Abschluss des Symposiums fand die wollte, musste er eine neue Perspektive wäh- mutmassliche Welturaufführung eines Revolu- len. Er stellte die Person von Charlotte Corday tionsdramas von 1794 statt. Wie vieles andere, in den Mittelpunkt – Marat kommt erst gegen was Zschokke schrieb, werden auch seine den Schluss vor – und suchte sie psychologisch Dramen, die ihm teils grosse Bühnenerfolge zu erfassen, die Hintergründe ihrer Tat auszu- brachten, teils unaufgeführt blieben, heute loten. Da ihm von beidem wenig bekannt war, kaum mehr beachtet. Der Vortrag von „Char- konnte er seine Phantasie walten lassen. Er lotte Corday, oder die Rebellion von Calvados. fing die Stimmung seiner Zeit ein, den Seelen- Ein republikanisches Trauerspiel in vier Ak- zustand einer jungen, durch die revolutionären ten“ wurde symbolhaft für die Inszenierung Forderungen und die scharfen Repressionen eines Meuchelmords im Alten Gerichtssaal des unruhig gewordenen, erhitzten Generation, zu städtischen Rathauses durchgeführt. der er selber zählte. Die für die Bühne erfor- Was in Frankreich vor über 200 Jahren ge- derlichen dramatischen Elemente kommen zu schah, war unerhört: 1789 die Revolution, der kurz, und deshalb wohl blieb „Charlotte Cor- Sturm auf die Bastille, die gewaltsame Abset- day“ ein Lesestück. zung der Adelsherrschaft. Das Volk erklärte sich zum neuen Souverän und verkündete die Menschen- und Bürgerrechte. 1792 die Kriegs- erklärung an Preussen und Österreich, die Ab- setzung des Königs, die Ausrufung der Repu- blik. Die französische Armee konnte sich wi- der Erwarten gegen die österreichisch- preussischen Truppen halten und schlug sie in der Schlacht von Valmy, an der Goethe als Beobachter zugegen war. Zahlreiche Verhaf- tungen und Hinrichtungen waren die Folge. Im Januar 1793 wurde König Ludwig XVI. guillo- tiniert. Fast ganz Europa trat gegen Frankreich in den Krieg. Die radikalen Jakobiner schalte- ten in Paris ihre politischen Gegner aus. Da Charlotte Corday zeigt ihrem Vater einen Brief wurde am 13. Juli 1793 Jean-Paul Marat, der Das von den beiden Aargauer Schauspie- feurige Revolutionär und Redakteur des radi- lern Marianne Burg und Hansrudolf Tweren- kalen „Ami du peuple“, von einer unbekannten bold auf eine Stunden gekürzte und in einer Frau, die kurz zuvor aus der Normandie ge- Mischung von Leidenschaft und Distanz kon- kommen war, in seiner Badewanne erstochen. genial vorgetragene Drama fand unter den Die Revolution war in ihrem Nerv getroffen zahlreichen Zuhörern guten Anklang und war und verschärfte die Hetzjagd auf ihre politi- ein würdiger Abschluss des rundum gelunge- schen Gegner. Die 25-jährige Marie Anne nen Symposiums. Charlotte Corday d’Armont wurde noch am Tatort verhaftet, von einem Revolutionsgericht Dank verurteilt und vier Tage nach dem Mord hinge- Nur wer selber schon einen solchen Anlass or- richtet. Dem Maler Johann Jakob Hauer gelang ganisiert hat, wird ermessen, wieviel Planung es, sie im Gefängnis zu porträtieren. und Einsatz ein solches Kind von seinen El- Das Attentat auf Marat war eine Sensation tern, Tanten und Onkeln verlangt, von den und bald in aller Munde. Von den einen (Klop- zahlreichen Mitarbeiterinnen und bereitwilli- 7 gen Helfern auf und hinter der Bühne, im Aula brachte, und für die Fotos, die wir in die- Rampenlicht und unsichtbar. Wollte ich alle sem Beitrag benutzen dürfen; Landammann, aufzählen, so würde die Liste so lang wie der Stadtammann und Oberbürgermeister für ihre Abspann eines Kinofilms. gehaltvollen Grussadressen mit versteckten Allen voran danke ich meiner Mitorganisa- Ostereiern; der Ortsbürgergemeinde Aarau als torin Anna Bütikofer; Lucien Criblez, Nadine Hauptsponsorin; Marianne von Burg und Schmid und dem Team der Fachhochschule Hansrudolf Twerenbold für ihre sichtliche Pädagogik; dem Team der NKSA mit Rektor Freude an der Verlebendigung eines einge- Siegenthaler, Prorektorin Barbara Haller, den staubten Textes; Redaktor Hans-Peter Widmer beiden Hauswarten Dieter Basler und René für seine schöne Würdigung in der Aargauer Hofer, dem Techniker René Hediger und der Zeitung und NZZ und Christine Jossen, Kom- Mensaleiterin Frau Eggenberger; Thomas Pfi- munikationsleiterin der Stadt Aarau, und Do- sterer, der bei der Planung half, Teilnehmer minik Sauerländer für ihren Kurierdienst. begrüsste, Referenten vorstellte und schliess- Die alten Römer bauten einen Tempel, den lich aufs Podium stieg; allen Referentinnen sie allen Göttern weihten, die sie vergessen und Referenten; Marianne Blattner für ihren hatten. Auch ich entzünde hier noch eine Kerze Stadtrundgang, der uns pünktlich zurück in die der Dankbarkeit und Anerkennung.

Markus Kutter (1925–2005) zum Gedenken

er Anstoss ging von ihm aus. Im Sep- ihn: „Ein Deutscher erfindet die Schweiz“ tember 1998 meinte Markus Kutter am (S. 106-127). Zschokke sei eine „für die D Rande einer Tagung in Aarau, wir schweizerische Bewusstseinsbildung aus- sollten eine Zschokke-Gesellschaft gründen. schlaggebende Figur“, „der erfolgreichste Er- Dann brach er eilig auf, um seinen Zug nach finder schweizerischer Eigenart“. Er betrachte- noch zu erreichen. Dies war irgendwie te ihn als einen mit allen Wasser gewaschenen typisch für ihn: eine provokative These aufstel- Werbestrategen, wie er, Markus Kutter, es ja len, weggehen und das verblüffte Publikum selber war, der aber stets ein hochgestecktes sich selber überlassen. Als ich ihm hinterher- Ziel verfolgte, etwas verändern und bewirken ging, um Genaueres zu erfahren, meinte er wollte. trocken, das solle jetzt wirken und reifen. Sein Buch, das die Aufmerksamkeit auf den Wörtlich sagte er, er habe eine Bombe gelegt, verkannten Zschokke richtete, hatte eine über- die nun zünden müsse. Mehr habe er dazu raschende Folge. Aus Zürich meldete sich ein nicht zu sagen. Kollege, der ihm einen dicken Band Original- Auch das gehörte zu ihm, das Bombenle- briefe Zschokkes an Johann Heinrich von Orel- gen, nicht physisch, sondern mental, aber li anbot, selbstverständlich nicht gratis. Markus durchaus subversiv. Er irritierte Menschen, Kutter organisierte den Ankauf mit Unterstüt- zwang sie, ausgetretene Pfade zu verlassen, zung des Kantons Aargau und der Familie lieb gewordene Ansichten zu überdenken. Da- Zschokke, holte die Briefe persönlich im Taxi mit verband er einen pädagogischen Zweck. aus Zürich nach Basel und schickte Kopien Wir sollten in Bewegung, kritisch bleiben, Be- nach Bayreuth an die Zschokke-Forschungs- stehendes hinterfragen, Neues wagen. Er führte stelle zur Transkription, denn in der ursprüng- einen einsamen Krieg gegen das Festgefahre- lichen Handschrift wollte er sie nicht lesen. ne, gegen Institutionen und gegen das Esta- Er erwog eine Publikation und hoffte auf blishment. Mir erschien er zuweilen wie ein Sensationen, revolutionäre Texte. Aber er Don Quixote, der gegen Windmühlen anrennt. wurde enttäuscht. Die Briefe entsprachen so Bis zuletzt blieb er neugierig, geistreich und gar nicht dem Bild, das er sich von Zschokke anregend. gemacht hatte. Es waren biedermeierliche Markus Kutter, Querdenker aus Basel, rief Schilderungen des Alltags- und Familienle- 1995 dem staunenden Publikum einen Schrift- bens, mit politischen Einsprengseln, gewiss, steller aus Magdeburg, Heinrich Zschokke, ins aber ohne Biss und Sprengkraft. Bewusstsein. In seinem Buch „Die Schweizer Immerhin war der Staub jetzt so weit auf- und die Deutschen“ schrieb er ein Kapitel über gewirbelt, dass wir daran gehen konnten, im

8 Frühjahr 2000 die Heinrich-Zschokke-Gesell- Woche vor seinem Tod bei einer Firma in Ba- schaft ins Leben zu rufen. Massgeblich wirkten sel. an der Gründung ausser Markus Kutter zwei Markus Kutter war, obwohl immer noch ak- Nachkommen Zschokkes mit, die auch beim tiv, lesend und schreibend, Einfälle, Ent- und Ankauf der Orelli-Briefe tätig waren: der Bas- Einwürfe produzierend, im Basler Verfas- ler Privatgelehrte Andres Zschokke und der sungsrat oder anderswo, zu einem lebenden Aargauer Landammann Thomas Pfisterer. Ein Denkmal geworden. Der Basler Schriftsteller Vorbild war die Peter-Ochs-Gesellschaft in Hansjörg Schneider bannte ihn in einen seiner Basel, die ebenfalls Markus Kutter als Initiator Romane um Kriminalkommissär Hunkeler und hatte. Seine Bombe besass eine lange Lunte, liess ihn an einer Abdankungsfeier hinten in aber jetzt hatte sie gezündet. der Kirche sitzen und allmählich einnicken. Wer nun vermutete, Markus Kutter werde die Hände in den Schoss legen, täuschte sich sehr. Zwar hatte sich Zschokke nicht als der erhoffte Revolutionär erwiesen, aber immerhin als ein hervorragender Beobachter seiner Epo- che, ein glänzender Geschichtenerzähler, und diesen zu ergründen, nahm Markus Kutter sich als nächstes vor. Wo immer man den Finger auf die Karte der Schweizer Geschichte zwi- schen 1798 und 1848 legt: Zschokke ist prä- sent, beschreibend, kommentierend, agierend. Die Fülle seiner Tätigkeiten und seines schrift- stellerischen Werks lässt den Stoff so schnell nicht ausgehen. Markus Kutter las sich quer durch das ganze Werk, stiess immer wieder auf Trouvaillen, war fasziniert von dem klugen Kopf, der moderner war, weiter dachte als die meisten Zeitgenossen, und angetan von dem grossen Propagandisten und Populisten, der, wie kaum ein anderer, dem Volk seine Ideen und dem Ausland die Schweiz nahe brachte. Er entdeckte und beschrieb Zschokke als „ersten Zeitungsmacher der Schweiz“ – so Markus Kutter in Aarau im März 2005 formulierte er es für einen Artikel, der für die „Weltwoche“ bestimmt war –, als „Prototyp Und nun ist er selber tot. Der letzte Verfas- des liberalen Bürgertums“ (in einem Artikel ser der Schrift „achtung: Die Schweiz!“, die für die „Schweizerischen Monatshefte“) und 1954 das Bürgertum auf die Palme brachte, ist als Briefpartner des Habsburger Erzherzogs am 26. Juli 2005 in Basel an einer Gehirnblu- Johann im 78-seitigen Aufsatz „Erzherzog Jo- tung gestorben. Die beiden Mitstreiter, Max hann schreibt einen Brief, erobert die Festung Frisch und Luzius Burckhardt, sind ihm vor- Hüningen und wird von Basel gefeiert“. Keiner ausgegangen. dieser Beiträge wurde je veröffentlicht. Was wäre die Schweiz, was wäre unser Markus Kutter fand sich damit ab, bei Ver- Kulturleben ohne unkonventionelle Ideenge- legern und Zeitungsredakteuren abzublitzen. ber, ohne aufmüpfige Querdenker vom Schlag Er eröffnete eine Webseite, die er „Wortlager“ eines Zschokke oder Kutter? Auf jeden Fall nannte, um dort seine Gedankenblitze, unver- ärmer. Wir werden ihn als unseren Mitgründer, öffentlichten Essays und Gedichte aufzube- Anreger und Freund in liebevoller Erinnerung wahren, auf dass jeder und jede sie lesen kön- lebendig bewahren. ne. Mit seinen Regio-Geschichten um skurrile Werner Ort Persönlichkeiten aus Basel und der weiteren Umgebung ging er auf Tournee, las vor, wann und wo man ihn darum bat, so im März 2005 Markus Kutters Sammlung „Wortlager“ im In- (vor halbleeren Reihen) im Literatur-Apéro in ternet für Interessierte zum Nachdenken und der „Blumenhalde“ in Aarau oder noch eine Mitlesen: http://www.markuskutter.ch

9 Markus Kutter: Auch eine Art von Schweizerreise Zu Heinrich Zschokkes „Die klassischen Stellen der Schweiz“

er Karlsruher Kunst- und Buch- schen Hauptarbeit der nächsten Jahre machen, handlung Wilhelm Creuzbauer, anderes beseitigen und diesem so angehören ein auf Illustrationen mit Stahlsti- werde, dass Sie meinerseits nie durch mich in D Ihrem Unternehmen verzögert seyn sollen, an- chen in englischer Manier spezialisierter Verleger, suchte einen Autor, um ein Buch derseits ich dadurch meinem Vaterlande, die- sem schönen Wundergarten Europens, ein mit Stichen aus der Schweiz zu kommen- nicht ganz unwürdiges Denkmahl der Liebe zu tieren. Es gab zwar schon einige Reisefüh- stiften hoffe.“ rer und sehr viele Beschreibungen der Schweiz, aber keine war umfassend bebil- Die hohe Summe, die Creuzbauer ihm zu geben bereit war, kam Zschokke sehr gelegen, dert. Zschokke, dessen fürsorgliches Vor- und man geht wohl nicht fehl in der Annahme, ausdenken bei der Berufswahl seiner Söhne dass dieses Angebot für ihn, der Verlegeran- bekannt ist, suchte seinerseits für seinen zeich- fragen sonst abschlägig beantwortete, den Aus- nerisch begabten Alexander (1811–1859) eine schlag gab. Seit er 1829 als Oberforst- und Stelle, die auch fruchtbar für dessen Weiterbil- Berginspektor aus dem Staatsdienst ausge- dung wäre. Wir wissen nicht, wer den Anstoss schieden war, lebten er und seine Familie fast gab; wir wissen nur, dass der Kontakt 1833 zu- ausschliesslich von Honoraren seiner früheren stande kam und Alexander Zschokke im März Werke, die Sauerländer immer wieder neu auf- 1835 bei Creuzbauer als Stahlstecher einge- legte. Das brachte ihn später in eine finanziell stellt wurde. Als er 1837 zur Absolvierung des prekäre Lage, als er allen Söhnen die bestmög- Militärdienstes nach Aarau zurückkehrte, war liche Ausbildung angedeihen lassen wollte. das Werk seines Vaters gerade auf dem Markt: Alexander hatte das Kupferstechen und Holz- Die klassischen Stellen der Schweiz. schneiden bei den besten Künstlern: Johann Jakob Lips in Zürich und Samuel Amsler in Was für ein Werk? München, darauf das Lithographien bei En- Der vollständige Titel lautet: „Die klassischen gelmann in Mülhausen gelernt. Stellen der Schweiz und deren Hauptorte in Derselbe Brief zeigt auch, wie Zschokke Originalansichten dargestellt, gezeichnet von sich sorgfältige Gedanken über den Aufbau der Gust. Adolph Müller, auf Stahl gestochen von geplanten Schrift machte: „Lange schien mir Henry Winkles und den besten englischen die geschichtliche Folge die zweckmässigste; Künstlern. Mit Erläuterungen von Heinrich Windisch, Wifflisburg, die Ruinen von Schloss Zschokke. 2 Bde., Karlsruhe und Leipzig, Baden, und die Trümmern in den Gärten von Kunstverlag, 1836 und 1838.“ Das Buch er- Augst, – dann Kloster Einsiedeln, Habsburg schien im Format von 18 auf 26,5 cm, hat 423 u.s.w.“ Seiten auf relativ dünnem und 86 Abbildungen Das heisst, dass Zschokke chronologisch auf wesentlich steiferem Papier. vorgehen wollte, also bei den archäologisch Ein paar Briefe Zschokkes an Creuzbauer ältesten Orten der Schweiz zu beginnen ge- lassen uns in seine Schreibwerkstatt blicken. dachte, sich nachher in das Mittelalter und die So schrieb er ihm am 1. Mai 1833: folgenden Zeiten hineinschreiben würde. „Al- „Durch meinen letzten Brief, glaub ich Sie, lein ich bin davon wieder zurückgestanden.“ mein verehrtester Herr, in Betreff Ihres Unter- Denn dann hätte der Zeichner, der für die Auf- nehmens, in so weit beruhigt zu haben, dass nahme der schönsten Szenen in die Schweiz ich Ihnen versprach, mich desselben mit Liebe geschickt wurde, zu viele Kreuz- und Querrei- anzunehmen. Sie sicherten mir seitdem ein er- sen machen müssen, da Creuzbauer erwartete, höhtes Honorar von sechs Louisd’ors für den dass Zschokke die neu geschaffenen Illustra- gedruckten Bogen zu. Ich nehme dieses von Ih- tionen laufend kommentierte. rer Seite ebenso loyale, als gütige Anerbieten „Es ist also, wie mirs scheint, zweckmässi- mit Dank an, und kann Ihnen diesen auf keine ger, die 22 Kantone der Schweiz einzeln für Weise besser, als durch das Versprechen lei- sich zu nehmen, aus jedem derselben einige sten, dass ich die Schilderung der classischen der berühmtesten Stellen oder interressante- Stellen des Schweizerlandes zur schriftstelleri- sten Ansichten zu geben und zur Verlebendi-

10 gung des Bildes das beizufügen, was die höch- würde der eine gleichsam die Phÿsiognomik, ste Kunst eines frommalschen Grabstichels oder den Überblik eines ganzen Kantons ge- nicht aussprechen kann.“ währen, der andre aber die vier Ansichten des- Zschokke bat, dass der Künstler bei ihm selben Kantons erlaütern.“ vorbeikommen solle, um die Reiseroute zu be- sprechen. Am besten käme er über Basel, so dass er im Vorbeizug die Häusergruppe von St. Jakob und die Aussicht vom Bruderholz skiz- zieren könne; dann solle er das Städtchen Lies- tal oder einen Garten in Basel-Augst aufneh- men; eine Zeichnung des Münsters würde Zschokke sich ebenfalls gern gefallen lassen. In einem Brief vom 29. Mai 1833 teilte Zschokke Creuzbauer mit, Gustav Adolph Müller, der Künstler, sei wie verabredet bei ihm eingetroffen und habe die gewünschten Stellen in Basel gezeichnet. Er werde nun die östliche Hälfte der Schweiz bereisen, um mit den 50 bis 60 Themen zu beginnen. „Unterdes- sen will ich mich vorläufig diesen Sommer an die Schilderung der Städte und einzelner mir wohlbekannten classischen Stellen machen. Aber nothwendig wird mir immer seÿn, eine Zeichnung oder ersten Abdruck des Bildes vor Augen zu haben, um die Gegenstände darin zu erklären.“

Das Werk sollte in einzelnen Lieferungen Auf dieser Basis konnte man sich einigen. ausgegeben werden, für jeden Kanton ein Heft, Zschokke beschrieb also jetzt nicht mehr nur und Creuzbauer hoffte auf den Sammeltrieb die Illustrationen, sondern auf seine ihm eigene der Leserschaft, sich alle Teile zu kaufen und Weise den ganzen Kanton. In weiteren Briefen als Buch binden zu lassen. „Bei der Ankündi- vom 5. Mai 1834, vom 6. April und vom 24. gung aber sollten dann auch die Namen der Juli 1835 sowie vom 14. November 1836 se- Gegenstände angegeben seÿn, welche erst dem hen wir Zschokke fleissig mit der Korrektur Titel Bedeutsamkeit geben würden.“ Unter Ge- der Fahnenabzüge beschäftigt. Das letzte Kapi- genständen verstand Zschokke die jeweils aus- tel, das wissen wir aus dem Brief Zschokkes an gewählten Örtlichkeiten, Gebäude oder Merk- seinen Sohn Julius Zschokke vom 13.-16. Ok- würdigkeiten. tober 1837, wurde zu diesem Zeitpunkt gerade Creuzbauer änderte seinen Plan. Er fertiggestellt. wünschte jetzt mehr Text, einen Bogen (acht Seiten) zu jeder Ansicht, statt nur einem Bogen Der Widerstreit der Konzepte für den ganzen Kanton. Zschokke machte Bei der Lektüre merkt man bald, dass „Die Einwände (Brief vom 13. Januar 1834), da er klassischen Stellen der Schweiz“ als Werk aus seine Aufgabe darin sah, die Abbildungen zu der Feder Zschokkes nicht einer festgelegten erläutern. Das Doppelte oder gar Vierfache an Vorstellung folgen, sondern dass die Art und Text für ein Bild zu liefern, fühle er sich au- Weise, wie er es schrieb, bewusst oder unbe- sserstande. Zudem werde das Werk zu volumi- wusst ganz verschiedene Konzepte aufrief. Die nös und zu teuer. Wolle Creuzbauer hingegen Ausgangslage definierte sich so: vier Bilder die Zahl der Abbildungen auf zwei pro Kanton pro Kanton, was auf 22 Kantone umgerechnet reduzieren, dann werde man dem Titel, die 88 Bilder ausmachte, pro Bild einen zuerst kür- Hauptorte der Schweiz darzustellen, nicht zeren, dann länger Text. Aber schon diese Zah- mehr gerecht. Wie sollte man zum Beispiel die len-Ordnung wurde gestört: Im schliesslich Kantone Graubünden oder Bern an nur zwei publizierten Band bekam der Kanton Bern mit Bildern erklären? „Allenfalls, wenn Sie auf acht Unterkapiteln am meisten Bilder, die Kan- mehr Text bestehn und ihn sich zuträglich fin- tone Wallis und brachten es auf sie- den, kann ich mich dazu verstehn, zu jedem ben, für weitere Kantone gab es zwischen Heft zwei Bogen Text zu bearbeiten; davon sechs und drei; am bescheidensten mit zwei

11 oder drei wurden die Kantone Zug, Luzern, von Religion und Vaterland hingedeutet zu ha- Thurgau, Schaffhausen, Genf, Solothurn und – ben“ (S. 107). Das betraf die katholische Pro- überraschenderweise – der Kanton Zürich be- zession mit den knienden Frauen vor dem dacht. Ob daran die Laune des herumreisenden Denkmal des Arnold von Winkelried. Wie Zeichners beteiligt war, ob einzelne Stahlstiche Zschokke sich den Kanton Bern vornimmt, den der zugrunde liegenden Zeichnung nicht ge- damals grössten, bevölkerungsreichsten und nügten, oder ob sich der Arbeitseifer Zschok- auch politisch gewichtigsten der Eidgenossen- kes über die Jahre erschöpfte, wissen wir nicht. schaft, kommen ihm Zweifel über seine eigene Nach welchen Kriterien und Überlegungen Rolle: „Wer lediglich des Berufs ist, bei eini- Zschokke einzelne Örtlichkeiten auswählte, gen hübschen Schweizerbildern, als Erklärer eben die klassischen Stellen, kann verbindlich zu dienen, muss in keine geringe Verlegenheit auch nicht gesagt werden. Dass aber die Pro- gerathen …“ (S. 302), da er angesichts der duktion des herumreisenden Zeichners eine Überfülle von klassischen Stellen auf Berner- wichtige Rolle spielte, lässt sich aus mehr als boden nicht wisse, welche er auswählen solle. einer Bemerkung ablesen. Zschokke realisiert natürlich, dass der grosse Kanton Zürich mit nur zwei Unterkapiteln und nur einem Bild am Ende der Publikation schlecht wegkommt. Er muss das entschuldigen: „Allein, wie in der Welt oft genug das grösste Verdienst vom Spiel und Muthwillen des Zufalls überwogen wird, so geschah es auch hier. Ich folgte nur den Schritten des zeichnenden Künstlers von Kanton zu Kanton, und wohin er ging, trat ich, als getreuer Cice- rone, in seine Fussstapfen“ (S. 390). Stans mit Winkelried-Denkmal und Prozession

Die Verlegenheit, in die er gerät, wird zum Unwillen, und plötzlich bricht der Entschluss durch, nicht mehr länger nur als Kommentator eines einzelnen Bildes zu amten. Bern und be- sonders das Berner Oberland, „das am meisten von europäisch und amerikanischen ‚Touri- sten‘ durchstreift wird“ (S. 302), lassen sich schlecht auf Bildmotive reduzieren, und so wird das Unterkapitel „Thun“ zu einer Reise oder fast zu so etwas wie einem Vogelflug durch das ganze Oberland. Interlaken, Lauter- Sarner-Aa und Landenberg brunnen, die Jungfrau, Grindelwald, Kleine Zschokke folgt nicht nur dem Zeichner, er Scheidegg, das Haslital, Meiringen, die Grim- kommentiert ihn auch gelegentlich (im Ab- sel, der Aletschgletscher und natürlich zahllose schnitt über Sarnen): „Indem der Künstler für Berggipfel geben sich ihr Stelldichein in die Ansicht des Hauptorts der kleinen obwald- Zschokkes Text. ner Republik seinen Standpunkt nicht am See Nur Fremdenführer oder Cicerone will wählte, an dessen Ufern der städtisch gebaute Zschokke nicht sein. Oder wenn, dann nicht als Flecken ruht, sondern da, wo der Aastrom dem ein Begleiter durch blosse Landschaften. Eben- weiten Wasserbecken schon entflossen ist, sowenig wollte er nur ein Kunst-, Architektur- wollte er uns wahrscheinlich den romantisch- oder Museumsführer sein. (Musik, Literatur, idyllischen Ton der ganzen Landschaft geben“ Architektur und die Wissenschaften spielen (S. 100). übrigens kaum eine Rolle in seinem Text.) Zschokke geht noch weiter, er interpretiert Was er manchmal offenherzig deklariert, den Zeichner: „Der Künstler, welcher in diesen manchmal unterschwellig anstrebt, lässt sich Blättern eine Ansicht vom Innern des Fleckens wiederum im Kapitel über Bern nachlesen. Stans giebt, scheint ironisch auf die seltsame Nachdem er die Bedeutung und Vielfalt der Macht der Frömmigkeit und auf den Talisman Republik Bern angerufen und sich auch Re-

12 chenschaft gegeben hat, warum dieser Staat so „Ein Volk von zwei Millionen Seelen lebt in oft als ein Venedig der Alpen bezeichnet wird, 22 unabhängigen Staaten, von ungleicher Grö- fährt er weiter: „Statt also Vielgeschildertes sse, getrennt. Sie wurden bisher durch nichts, wieder zu schildern, mag mir erlaubt seyn, ihre als einen lockern und zweideutigen Vertrag zu- fünfhundertjährige nicht uninteressante Le- sammengehalten. Hier kennt man keine ge- bensgeschichte etwa in hundert Zeilen zusam- meinsame Bundesregierung, sondern unter menzudrängen“ (S. 303). dem Namen ‚Vorort‘ führt eine der Regierun- Das versucht er dann redlich, aber der Vor- gen, von Bern oder Zürich oder Luzern, zwei- satz entgleist, da diese Kurzfassung der Berner jährigwechselnd, in allgemeinen Angelegen- Geschichte bei Zschokke am Schluss doppelt heiten den diplomatischen Briefverkehr mit so lang wird, nämlich 211 Zeilen. Das ist wei- dem Auslande und den höchsten Behörden der ter nicht von Belang, aber Zschokke gibt in Kantone. Erst was die meisten von diesen letz- dieser Zusammenraffung zu erkennen, dass er tern bewilligen, darf der Vorort vollstrecken“ sich in einem entscheidenden Sinn als Histori- (S. 15 f.). enführer betrachtet. Deutlicher gesagt: Der Le- Im Europa nach 1830 war diese schweizeri- ser seines Buches, der sich vielleicht der vielen sche Staatsform singulär, wenn nicht sogar ku- Stiche wegen zum Kauf verführen liess, soll in rios: „Einen festern Verband Aller zu einem der Lektüre geschichtsbewusst werden. Er soll kraftvollen, grossen Ganzen zu knüpfen, zeig- begreifen, dass die Differenziertheit und Viel- ten die Wenigsten dieser kleinen Republiken gestaltigkeit der Schweiz nicht nur durch die Geneigtheit. Auch nur den geringsten Theil ih- Landschaft oder vom Klima bedingt sind, son- rer hoheitlichen Selbstständigkeit zu opfern, dern dass hier die Geschichte mitgewirkt hat. scheint ihnen zuviel. Daher Schwanken und Eben nicht die Geschichte der Schweiz, son- Ohnmacht Aller, und immer unter ihnen ge- dern die Geschichte dieser 22 Kantone, die nährter Unfriede“ (S. 16). Zschokke eindeutig als selbständige Staaten Sichtbar wird, dass Zschokke mit dem poli- und sogar Völker begreift. tischen Zustand seines Landes wenig zufrieden Wo hört Geschichte auf, und wo beginnt ist. Er ist es noch weniger, wenn er bei der Be- die Gegenwart? 1837, da Zschokke die letzten trachtung einzelner Kantone Zustände ent- Zeilen schreibt, ist er 66 Jahre alt. Seine Ent- deckt, die sein Verfassungsdenken verletzen. wicklung hat ihn als Schuldirektor aus Grau- Bei der Schilderung der Verhältnisse im Kan- bünden in eine prominente Rolle als Statthalter ton Uri stellt er fest: „An Trennung der Staats- in der Helvetischen Republik gebracht, dann gewalten aber ist da nicht zu denken. Die wurde er im Kanton Aargau Zeitungsheraus- obern Beamten sind zugleich Regenten, Ge- geber, Forstbeamter, Grossrat und politischer setzgeber und Richter, und können allen ihren Publizist, ein auflagestarker Schriftsteller und Einfluss durch alle Verzweigungen des Staats- ein Freund oder Briefpartner internationaler lebens geltend machen“ (S. 57). Prominenz. Sein Demokratieverständnis fand Ein Staat, der sich um Montesquieus Ge- sich bestätigt durch die Folgen, die die Pariser waltentrennung nicht kümmert oder drückt, ist Julirevolution in der Schweiz auslöste. Also für Zschokke nicht annehmbar. Er ist es auch war geschichtliche Gegenwart für ihn eben nicht ohne Rechtsgleichheit und ohne Volks- auch die Helvetische Republik, die napoleoni- souveränität, die in regelmässigen Wahlen zum schen Kriege, die Mediation von 1803 und der Ausdruck kommt. Patrizische oder gar aristo- neue Bundesvertrag von 1815, die Schikanen kratische Verhältnisse oder deren Überbleibsel der Restauration und der Befreiungsschlag der finden in Zschokkes Augen keine Gnade. neuen Kantonsverfassungen um 1830. Ge- Einen noch intransigenteren Zschokke fin- schichte und Politik gehen nahtlos ineinander den wir in religiösen Dingen. Dem reformier- über, der Führer zu den klassischen Stellen der ten Theologen und Aufklärer sind katholische Schweiz kippt unversehens ins politische Ma- Gemeinwesen besonders dann verdächtig, nifest. wenn sie wirtschaftlich, kulturell und bil- Da muss man sich nicht wundern, wenn der dungsmässig zurückliegen. Er lobt die im End- sonst differenzierte und umsichtige Zschokke resultat reinigende Wirkung der helvetischen gelegentlich höchst vereinfachende Positionen Staatsumwälzung, fährt dann aber fort: „Allein einnimmt, die ihm seine eigene politische Ver- in den kleineren Alpenkantonen, besonders in gangenheit diktiert. Er muss zudem für den denen des katholischen Glaubens, blieb man zu deutschen oder österreichischen Leser die Verbesserungen des Staats und seiner Anstal- Struktur dieser Schweiz klar machen: ten untäthig und selbst unfähig“ (S. 57). Über

13 die Nidwaldner schreibt er: „Das Volk ist im Zschokke beschreibt, waren ohne öffentlichen Allgemeinen ernst, fast düster; die Mehrheit Verkehr, so etwa die Rigi oder das Wildkirch- der Landleute nur mässig bemittelt; wie ge- lein im Säntismassiv. Einzelne Kantone kannte wöhnlich in Hirtenländern, zum müssigen Le- Zschokke besser als andere; in Graubünden ben geneigt; aber kirchlich-religiös und unwis- hatte er eine Zeitlang gelebt, in Nidwalden und send nebenbei“ (S. 105). im Tessin als Regierungskommissär gewirkt Für Zschokke geht es ja nicht um den kon- und in Basel war er als Statthalter installiert fessionellen Unterschied an sich, sondern um worden. Den Aargau kannte er als seinen die gesellschaftlichen Differenzen, die ihn be- Wohn- und Heimkanton und von seiner Tätig- gleiten. So ist im Kapitel über Appenzell nach- keit als Forstmann besonders gut. Also konnte zulesen: „Wie überhaupt in der Schweiz, ist er auf einen neuerlichen Besuch verzichten auch im Appenzeller Ländchen der Abstand An vielen Stellen tritt Zschokke in der Ich- der reformirten und katholischen Gegenden Form auf. Wir dürfen annehmen, dass er die auffallend“ (S. 165). Rolle als aktiver Besucher der klassischen Stel- Ausserrhoden sei wohlhabend, ordentlich, le nicht einfach erfunden hat, sondern er tat- sauber, die Fenster seien hell, die Wiesen, Äk- sächlich manchmal zu Pferd und noch häufiger ker und Gärten gepflegt, die Dörfer zierlich, zu Fuss die betreffende Örtlichkeit besuchte. die Schulen und Bildungsanstalten von Jahr zu Er gibt auch viele Bemerkungen über die auf- Jahr besser. Innerrhoden hingegen habe wohl gewendete Mühe oder die Steilheit des Weges Mutterwitz, sei aber bildungslos und unwis- und Schilderungen der jeweiligen Aussicht. Es send, ohne Sinn für bessere Schuleinrichtun- werden nicht 22 verschiedene Reisen gewesen gen, deren Leitung einer altfrommen Geist- sein, aber sicher mehrere, und das war von Aa- lichkeit übertragen sei, die meistens selber oh- rau aus ohne erheblichen Aufwand nicht mög- ne wissenschaftliche Bildung sei. Die Dörfer lich. und die Leute seien ärmlich und dürftig, über- Die Organisation von Reisen innerhalb der all treffe man auf Bettler. Schweiz war damals nicht einfach. Man muss- te zum einen herausfinden, welches der prak- tischste und kürzeste Weg von A nach B war und mit welchem Zeitaufwand man rechnen musste. Da das Reisetempo zu Fuss, zu Pferd oder in der Kutsche sehr unterschiedlich war, wurden Distanzen in der Regel in Wegstunden gemessen, berechnet nach Fussmärschen. Von Markus Lutz, dem Pfarrer in Läufel- fingen, lag seit 1822 ein „Geographisch- statistisches Handlexikon für Reisende und Geschäftsmänner“ vor, in dem alle Kantone,

Bezirke und Kreise, ferner alle Städte, Flecken, Trogen, Hauptort von Appenzell-Ausserrhoden Dörfer, Schlösser und Klöster nebst Bergen, Täler, Seen und Flüssen verzeichnet waren, mit Dem Schreiber über die Schulter geschaut einem „Wegweiser durch die ganze Schweize- Man möchte den eigentlichen Schreibvorgang rische Eidsgenossenschaft. Sammt Nachrichten Zschokkes noch etwas schärfer ins Auge fas- für Reisende über Postenlauf, Geldeswerth und sen. Eine ganz einfache Frage lautet: Hat er die Gasthöfe in den Hauptorten der Schweiz“, der beschriebenen klassischen Stellen der Schweiz neben den genauen Entfernungen die Neben- alle noch einmal besucht, in der Absicht, die- wege, Abkürzungen, Wirtshäuser usw. um- ses Buch zu schreiben? Mit dem Auto wäre das fasst. Von Aarau nach Basel, liest man, seien heutzutage problemlos, freilich immer noch es über Olten 10, über die Staffelegg 9 und aufwändig genug. Wie aber war das in der Mit- über die Schafmatt 8 ½ Wegstunden, wobei te der dreissiger Jahre des 19. Jahrhunderts, wo der Weg bis Oltingen „nur für Fussgänger, es noch keine Eisenbahnen gab und das mo- aber nicht beschwerlich“ sei. dernste Transportmittel das Dampfschiff auf Nun war Zschokke um diese Zeit schon ein dem Genfersee war? Gewiss existierten in der viel erfahrener, sogar berühmter Mann. Er hat- Schweiz zahlreiche Postverbindungen, deren te wenig Mühe, überall kompetente Ge- Kutschen relativ gut aufeinander abgestimmt sprächspartner zu finden, die ihn mit Details waren. Aber viele klassische Stellen, die vertraut machten, falls er nicht überhaupt in

14 seinen Erinnerungen kramte. Figuren aus dem son und Lecourbe. Darüber berichtet er so Bekanntenkreis treten auf, ein grossen Kreis freimütig wie über die Begegnung mit Pesta- schon gestorbener oder noch lebender Freunde lozzi in Stans. und Bekannte. Diese Schweiz, deren Eigenhei- ten er in den verschiedensten Winkeln und Fal- ten nachspürt, ist auch in den Menschen seine ihm vertraute Heimat. So spricht er über sein Verhältnis zu den französischen Generälen aus dem Jahr 1799, erwähnt Heinrich Pestalozzi, Johannes von Müller, Karl Viktor von Bonstet- ten, Madame de Staël, den grossen Bekannten- kreis in Genf, Louis Philippe von Orléans, so gut wie den Prinzen Louis , den Po- len Tadäus Kosciuszko und Aloys Reding – Namen, die sich für Leser von 1837 zu einem eindrucksvollen Panorama fügten. Zschokke scheut sich nicht, persönlich er- lebte Anekdoten einzustreuen. Im Zusammen- hang mit der Meinrad-Legende von Einsiedeln, in der zwei Raben den Mörder Meinrads ver- folgten, erzählt Zschokke die Geschichte von Enkeln eines Bekannten, die, vom Hochwasser der Emme überrascht, sich auf ein schwim- mendes Wagenrad retten konnten, worauf flat- ternde und krächzende Raben die Leute im be- Die Teufelsbrücke über die Schöllenen nachbarten Bauernhaus auf das Unglück auf- Stellenweise wird Zschokkes Reise durch merksam machten (S. 91). die Schweiz zu einem Erlebnis- und Rechen- Oder er berichtet vom appenzellischen schaftsbericht. Das besonders dort, wo er in Bauern-Landammann Gerhard Zürcher, der ei- amtlichen Funktionen entscheidende Dinge zu nen Patrizier bei sich im Schurzfell empfing bewirken hatte. und dabei von diesem herablassend behandelt wurde. ‚Mit wem wollt Ihr denn eigentlich re- Im Kapitel über das Tessin ist zu lesen: „Es den?’ fragte er den Besucher. ‚Mit dem Bauer war mehr denn ein Jahr nach den blutigen Er- Gebhard Zürcher oder mit dem Landammann eignissen, als ich (im Juny 1800), mit procon- von Appenzell?’ – ‚Natürlich mit dem Land- sularischer Gewalt ausgestattet, von der helve- ammann!’ – ‚So nehmt den Filz ab’, sagte er, tischen Regierung in diese Gegenden gesandt ‚und traget mir Eure Sache vor, von der der wurde, sie verfassungsmässig, als zwei Kanto- Landammann nichts gehört hat, weil Ihr sie ne, Bellinzona und Lugano, zu organisiren“ nur Eures Gleichen, dem Bauer, erzählt habt’“ (S. 229). (S. 168). Dass Zschokke die politischen Ereignisse Oder vom Grindelwaldner Wirt Christian aus der Zeit, als er dieses Buch schrieb, eben- Bohren, der anno 1787 rund 20 Meter tief in falls auftreten lässt, überrascht nicht. Die Ba- eine Gletscherspalte stürzte und sich mit ge- dener Artikel, die zu einem engeren Zusam- brochenem Arm nur dadurch rettete, dass er menschluss der freisinnigen Kantone führten, die Rinne des abfliessenden Gletscherwassers finden sich ebenso erwähnt wie der Sarner fand und sich bis ans Tageslicht durchrobben Bund der konservativen Kantone, einem Vor- konnte. läufer des späteren Sonderbundes. Solche Anekdoten vermischen sich bei Über die damalige Schweiz sind viele Din- Zschokke schnell einmal mit seinen persönli- ge nachzulesen, die sonst gerne übersehen chen Erlebnissen. Als 1799 im Krieg zwischen werden. Was für eine Rolle spielte der Kreti- den Österreichern und Franzosen Suworow mit nismus, eine Art Demenz, oft verbunden mit mehr als 20'000 Russen vom Kanton Uri den Wasserköpfen (S. 237)? Wo fanden sich in der Weg über die Alpen in den Kanton Glarus Schweiz intakte Wiedertäufer-Gemeinschaften suchten, wirkte Zschokke als Regierungskom- (S. 323)? Mit welchen Problemen konfrontierte missär in den Urkantonen und hatte engen das fahrende Volk, also die Jenischen, die kan- Kontakt mit den französischen Generälen Loi- tonalen Regierungen (S. 284)? Welche Wan- 15 derschaft tritt eine auf einem Gletscher gebaute Religionen, Gesittungsstufen, Staatseinrich- Hütte an, wenn sie mit dem Gletscher talab- tungen und Lebensarten besteht?“ (S. 409). wärts rutscht (S. 318)? Es ist das Lob der Kleinräumigkeit, die Eine Propaganda-Schrift? nicht vielfältig genug sein kann. „Man sollte fast schwören, hier, zwischen Alpen und Jura, „Die klassischen Stellen der Schweiz“ ist ein wären, als in einem grossen welthistorischen Sammelsurium: Touristische Empfehlungen, Raritätenkabinet, die Kulturstände aller euro- Landschaftsschilderungen, historische Fakten, päischen Zeitalter aufbewahrt, vom Höhlen- Kuriositäten, persönliche Erinnerungen, politi- bewohner herab bis zum Sybariten in seinem sche Urteile, besondere Vorlieben und gewiss üppigen Pallast“ (S. 409). auch Launen wirken zusammen und bilden ein Konglomerat, das die Abbildungen zum Teil Von dieser Vielfalt in der Kleinräumigkeit, überhaupt nicht mehr rechtfertigen. Der Leser also Vielfalt der Landschaften, des Klimas, der von heute weiss gelegentlich nicht, mit wel- Sprachen, der Beschäftigungen etc. ist noch cher Art von Text er hier konfrontiert ist. heute die Rede, wenn Schweizer die Schweiz schildern; Zschokke hat so etwas wie einen Aber worauf Zschokke hinaus will, lässt Topos geschaffen oder verstärkt. Wir spüren sich nachlesen. Es gibt über den Kanton Zürich noch immer die Neigung, die Schweiz so zu eine Stelle, die sich sinngemäss auf seine Sicht begreifen, wie Zschokke sie begriffen hat. Al- der ganzen Schweiz übertragen lässt: „Wenn lerdings mit einem gewichtigen Unterschied: Staatsmänner, oder die doch dergleichen wer- Für ihn war die Schweiz ein Land im Auf- den wollen, ihre Schweizerreisen nicht bloss bruch. Es war das Land, das die Fesseln der als Lustparthie, von Gasthof zu Gasthof, ma- Restauration abzustreifen gewillt war und mit chen und nebenbei, in Verdauungsstunden, zum Teil revolutionären Bewegungen in den blos den Schönheitswechsel der Gebirgsland- einzelnen Kantonen die Volksrechte erweiter- schaften in den Kauf nehmen mögen: sondern te. Es war ein Bündnis von Miniaturstaaten, wenn sie geneigt wären, ihre Kunst, statt aus deren Bürger zu verstehen begannen, dass das Collegienheften und Büchern, lieber aus dem Heil dieses Staatenbundes nur darin liegen Studium der Wirklichkeit bei einem glücklichen konnte, zum Bundesstaat zu werden. Volke zu erlernen, würde ich ihnen den Kanton Zürich empfehlen“ (S. 397). Zürich als erhell- Wo immer eine einzelne Kantonsgeschichte tester Kanton, als schönste und stolzeste Ver- Zschokke Anlass gab, über die Veränderungen körperung dessen, was die ganze Schweiz aus- nach 1830 zu berichten, benutzte er sie. Denn zeichnete oder auszeichnen sollte. wer sich auf die touristische Reise durch die 22 Kantone der Schweiz begeben wollet, musste Über 423 Seiten und 86 Stahlstiche legt ein sich diese republikanische, demokratische und historisch und politisch versierter Mann ein liberale Lektion gefallen lassen. Buch über ein Land vor, das seine Zeitgenos- sen und wir Spätgeborenen als so etwas wie Woher Zschokke seine Zahlenangaben be- eine Propagandaschrift für die Schweiz verste- zog (die mit denen von Lutz oft nicht überein- hen können – eine besonders kluge Propaganda stimmen), ist schwer zu sagen. Dass er aber insofern, als auch die düsteren Seiten Erwäh- historische, touristische, völkerpsychologische, nung finden. ökonomische, statistische und landschaftliche Elemente auf eine neue Weise zu verknüpfen Es kommt noch etwas dazu, das für das verstand, zeichnet ihn als einen Autor aus, der Verständnis dieses Landes unverzichtbar ist. andere Wege zu beschreiten wagte. Das Bild Im Schlusskapitel, in einem Rückblick auf das der Schweiz, wie es in seinem Buch zum Vor- ganze Werk, schreibt Zschokke: „Die Schweiz schein kommt, ist heute noch teilweise vor- selber ist das bunteste, grossartigste Gemenge handen, auf jeden Fall erspürbar. von Seltsamkeiten, wie sie die Hand der Natur, Dass die Schweizerinnen und Schweizer ihr oder das Schicksal der Menschheit, irgend Land nach einem Muster aus der Biedermeier- hervorgebracht haben mag. Oder wo kann Eu- zeit begreifen, ist, wie Zschokke sagen würde, ropa, in seiner ganzen Länge und Breite, ein eine weitere Seltsamkeit dieser Nation. kleines Land von 800 bis 900 Geviertmeilen aufzeigen, in welchem, neben einander, und (Abb. und Zitate aus: Die Klassischen Stellen scharf von einander abstechend, solches Bun- der Schweiz und deren Hauptorte in Original- terlei von Naturgebilden und klimatischen ansichten dargestellt. Ausgaben 1836-1838 Wirkungen, von Völkertrümmern, Sprachen, und 1842, Neudruck Dortmund 1978.)

16 Zschokke-Drama als Vorgabe für Kleists „Zerbrochenen Krug“?

ekanntlich basiert Kleists Lustspiel nach jenem populären Theaterstück, dem die „Der zerbrochene Krug“ auf einem Neue allgemeine deutsche Bibliothek zubillig- B Kupferstich von Jean Jacques le Veau, te, dass es ein Gewinn für die Bühne sei. „Der „Le juge ou la cruche cassée“, der in Zschok- Dialog ist gut; die Charaktere haben Consi- kes Zimmer an der Gerechtigkeitsgasse in Bern stenz, und sind gut durchgeführt; der Knoten hing. Ludwig Wieland, Sohn des Weimarer ist so geschürzt, daß man die Entwickelung, Dichters, und Zschokke wenn auch auf eine ähnliche, doch nicht gerade trafen sich im Winter 1801/02 hier zu einem auf diese Art vermuthet. Abällino’s Charakter poetischen Wettkampf. Kleist schrieb ein Lust- sticht mit Recht, als der Hauptcharakter, vor spiel, Wieland eine Satire und Zschokke eine allen andern hervor. Er reißt mit sich fort, und Erzählung. Kleists Beitrag trug den ersten erregt Interesse für sich; sey es, daß man ihn Preis davon, wie Zschokke freimütig zugab.1 bald bewundern, bald verabscheuen muß.“3 Nicht untersucht wurde bisher, ob Zschok- In historischem Kleid – das Drama spielt im ke noch ganz anders auf dieses vielleicht be- frühneuzeitlichen Venedig – wird mit einer deutendste Lustspiel der klassischen deutschen Räubergeschichte, einer Verschwörung gegen Literatur Einfluss nahm. Tatsache ist, dass die Regierung, einem geplanten Dogenmord Kleist Zschokke im Dezember 1801 in Basel und der überraschenden Entlarvung der Böse- suchte und ihm, da er ihn dort nicht antraf, wichter der Geschmack der Zeit getroffen. Das nach Bern nachreiste. Man hat darüber speku- Publikum war seit Schillers „Räubern“ und liert, ob die beiden sich von früher kannten, als „Kabale und Liebe“ süchtig nach Intrigenspie- Zschokke Student und Privatdozent in Frank- len und Räuberpistolen, die abwechselnd furt an der Oder, Kleists Vaterstadt, war.2 Be- Schauder, Entsetzen und Mitleid erregten. Da- legen lässt es sich nicht. Aber auch wenn es so zu kam die Nähe der Französischen Revolution gewesen wäre, ergibt dies keinen hinreichen- und ihrer Folgen. Die Lage war gespannt, kein den Grund, wieso Kleist so erpicht darauf war, Thron mehr sicher, die Geheimpolizei allge- Zschokke zu sehen. Nicht die Person zog ihn genwärtig. Vielleicht schlich gerade jetzt ein an, sondern ihr Ruf. Attentäter, den Dolch im Gewand, zum näch- Zschokke hatte bereits sechs Dramen veröf- sten Tyrann? fentlicht, die gleiche Anzahl zum Teil mehr- Selbstverständlich kannte Kleist, wie alle bändiger Romane, einige Anthologien mit Es- anderen Theaterbegeisterten, den Abällino und says und Erzählungen und zwei Reisebeschrei- wusste, dass Zschokke der Verfasser war. bungen, Kleist – nichts. Darüber hinaus hatte Charlotte Corday oder … Zschokke eine steile politische Karriere hinter sich, zuletzt als Regierungsstatthalter von Ba- Zschokke griff gern aktuelle politische The- sel. Er befand sich für einen Zwischenaufent- men auf, die er gekonnt in Szene setzte. Aus halt in Bern, misstrauisch beäugt von den kon- dem Umfeld der Französischen Revolution servativen Machthabern, die fürchteten, dass er stammen zwei weitere Dramen: Charlotte einen Umsturz plane. Zschokke unterhielt Corday oder die Rebellion von Calvados nämlich von der Hauptstadt aus regen Verkehr (1794) und Der Freiheitsbaum (1795 oder mit Anhängern der vor wenigen Monaten weg- 1796). Wir können vermuten, dass die drei jun- geputschten liberalen Regierung. gen Dichter in den langen Wintermonaten in Bern diese beiden Werke genauso debattierten Ohne Zweifel bewunderte Kleist den sechs und sezierten wie Kleists im Entstehen be- Jahre älteren, welterfahrenen, tüchtigen und griffenes Trauerspiel Die Familie Schroffen- erfolgreichen Landsmann, der in mancher Hin- stein. Zschokke hatte keinen Grund, sich einer sicht das Gegenteil von ihm war. Wie aber solchen Analyse zu entziehen oder die beiden schätzte er ihn als Dichterkollegen ein? Kinder seiner Feder zu verleugnen. Abällino, der grosse Bandit Charlotte Corday kann unter dem Ge- Zschokkes philosophische, historische und sichtspunkt der Bühnentauglichkeit als verun- utopische Romane waren anonym oder unter glückt gelten. Der zweite Teil des Titels, die einem Pseudonym erschienen. Auch die Dra- Rebellion von Calvados, ist nebensächlich; die men trugen keinen Verfassernamen oder dann Charaktere sind, mit Ausnahme der Corday, den Zusatz „vom Verfasser des Abällino“, hier keineswegs „gut durchgeführt“, sondern

17 blass und unbedeutend. Der Knoten ist seinem Buch Jakobinerschauspiel und Jakobi- schlecht geschürzt, denn der Ausgang, der nertheater das Stück dem Mainzer Jakobiner Mord an Jean Paul Marat und die Verhaftung Nikolaus Müller zuordnete.5 Holger Böning der Corday, stehen als historische Ereignisse ja hat diesen Irrtum richtiggestellt.6 von Anfang an fest. Marat, der Bösewicht und Zschokke selbst kommt ein einziges Mal Widerpart, tritt erst im letzten Akt auf, als darauf zu sprechen, in einem Brief an Andreas kranker, müder, von Vorahnungen gequälter Gottfried Behrendsen: „’Der Freiheitsbaum’ Mann. Unerwartet taucht im vierten Akt auch war eine Farce für eine Familiengesellschaft, Charlottes Bruder Robert auf, dessen angebli- die ich doch auch ausspielen wollte. Ich ver- che Ermordung ein Hauptmotiv für das Atten- schenkte es an Apitz. Ob’s behagt, weiß ich tat hätte sein sollen. Weshalb, fragt sich der nicht.“7 Christian Ludwig Friedrich Apitz in Leser, fährt Charlotte jetzt nicht mit dem wie- Frankfurt/Oder verlegte neben dem Abällino dergewonnenen Robert zu ihrem alten, kum- auch Zschokkes Dissertation und seine Zeit- mervollen Vater nach Caen und lässt den kran- schriften Frankfurter Ephemeriden für deut- ken Marat in seiner Badewanne sitzen, wo der sche Weltbürger (1793) und Litterarisches doch offenbar kein Unheil mehr anrichten Pantheon (1794). kann? Was für einige seiner besten Erzählungen Mit verschiedenen dramaturgischen Tricks gilt, trifft auch hier zu: Wenn Zschokke spon- versucht Zschokke, die Handlung in Gang zu tan und in einem Zug schreibt, wirkt er origi- halten; aber einiges wirkt an den Haaren her- neller und phantasievoller, als wenn er nach- beigezogen, anderes aufgesetzt; und wie sollte träglich an etwas herumfeilt und zusätzliche man das „Volksgetümmel“ im 2. Akt, die far- Elemente und Handlungsstränge einfügt. Seine bigste Szene im Stück, mit den begrenzten überbordenden Einfälle, eine lebhafte Phanta- Mitteln des damaligen Theaters inszenieren? sie, die Fähigkeit, den Alltag, das Denken und Man spürt, dass es Zschokke nur um eine Fühlen des kleinen Mannes zu zeigen, sein Rechtfertigung und psychologische Studie der Sinn für etwas derbe Komik, skurrile Gestalten Corday zu tun war. Dazu hätte es freilich kei- und witzige Dialoge können sich frei entfalten. nes Dramas bedurft. Ort der Handlung ist ein deutsches Dorf an Dies könnten die Hauptpunkte der Diskus- der französischen Grenze. Die Franzosen ha- sion gewesen sein, falls sich die drei Freunde ben dem reichen Bauern Blum zwei Souvenirs überhaupt mit dem Stück auseinandersetzten. hinterlassen: einen Freiheitsbaum direkt vor Zschokke, einzige Quelle für ihre Unterhal- seinem Haus und einen Kuss auf den Lippen tung, schweigt sich darüber aus. Da er selber seiner Tochter Rikchen. Aus Ärger über beides nicht viel von seiner dichterischen Begabung fällt der in das Mädchen verliebte Gustel das hielt, hätte solche Kritik ihn zu diesem Zeit- Symbol der Revolution. Rikchen kommt dazu: punkt aber kaum mehr getroffen. Er hatte ge- „Gustel, um Gottes willen! weißt du nicht, daß rade einen neuen Lebensabschnitt ins Auge ge- Todesstrafe darauf gesetzt ist?“ Gustel (ohne fasst, sammelte Material für seine politischen sich im Schlagen stören zu lassen): „Mag’s Memoiren, die Historischen Denkwürdigkeiten doch! das alles ist die Strafe für den Kuß an der helvetischen Staatsumwälzung, schrieb den der Gartentür. Hätte dich der Offizier nicht ge- philosophisch abgeklärten Roman Alamontade, küßt, so ließ ich den Baum stehen.“ der Galeeren-Sklav und suchte nach einem Landgut in der Schweiz, um in Ruhe zu publi- Das ganze Stück findet an einem einzigen zieren, naturwissenschaftliche Forschungen zu Morgen vor Blums Haus statt. Jetzt tritt Blum betreiben und als Landwirt tätig zu sein. vor die Tür, in gleicher Absicht wie Gustel, aber aus anderen Motiven. Statt des verhassten Der Freiheitsbaum Freiheitsbaums erblickt er den Sohn von Amt- mann Feger, der die von Gustel weggeworfene Fast nebenbei schrieb Zschokke 1795 ein Lust- Axt in der Hand hat. spiel, von dem wir nicht wissen, ob es je auf- geführt wurde. Möglich ist es, wenn es auch Blum: „Sieh da! – Ei, wer hätte das ge- als Einakter nicht abendfüllend war und des- dacht, also Er ist der Patriot! Bravo!“ Monsieur halb nicht prominent auf den Theaterzetteln Feger (ihn dumm anlächelnd): „He, he! Patri- auftauchte. Obwohl auch hier die Autorschaft ot? Seht mich doch nur recht an, Vater Blum, unzweifelhaft ist – der Zschokke-Biograf Carl ich bin ja Musjeh Feger.“ Günther widmet ihm anderthalb Seiten4 – stif- Der skrupellose Amtmann, der seinen Sohn tete Gerhard Steiner 1975 Verwirrung, als er in mit Rikchen verkuppeln will, wittert eine

18 Chance. Er droht, Gustel an die Franzosen aus- ten, nichts mehr im Wege steht. Das corpus de- zuliefern, falls Rikchen nicht einlenke. Sie aber licti ist hier ein gefällter Baum, dort ein zer- ist an dem ihr zugedachten Schwächling nicht brochener Krug. interessiert und mit Gustel wieder ausgesöhnt. Selbstverständlich ist damit der Gehalt von Die Lage wird brenzlig: In der Ferne marschie- Kleists Stück nicht ausgelotet. Bei Zschokke ren bereits Franzosen auf das Dorf zu. Der fehlt die Gerichtsverhandlung, vor allem fehlt Amtmann lässt sich vom vereinten Flehen der der Aspekt der Selbstentdeckung und Selbst- Blums, die bereits einen hoffnungsvollen Sohn entlarvung, der aus dem Motivkreis der Ödi- und Bruder verloren haben, nicht erweichen. pus-Sage schöpft. Es geht aber hier nicht um Gustel wird in Ketten gelegt und dem französi- die Beurteilung und Bewertung von Kleists schen Kommandanten übergeben. Alle drei, Lustspiel, sondern darum, ob er für sein durch- der alte Blum, Rikchen und Gustel, bezichtigen aus eigenständiges Werk Motive aus Zschok- sich unisono, den Freiheitsbaum mit eigener kes Freiheitsbaum verwendet hat oder nicht. Hand gefällt zu haben. Von Zschokke konnte Kleist auf jeden Fall Da tritt eine überraschend Wendung ein: lernen, wie man einfache Leute darstellt. Der Franzose lässt Gustel laufen und schliesst Zschokke übergeht in der „Selbstschau“ statt dessen den Amtmann in Ketten. Dieser seine Dramen (mit Ausnahme des Abällino). soll die Strafe erhalten, die er dem Rivalen zu- Aber selbst wenn er sich dazu geäussert hätte, gedacht hat. Der Fremde entpuppt sich als je- hätte er sich nicht mit der Priorität seines Frei- ner verschollene Sohn, der durch die Schuld heitsbaums gegenüber Kleists Werk gebrüstet. des Amtmanns in fremde Kriegsdienste ver- So etwas lag ihm fern. Er betrachtete Kleist als kauft worden ist und in der französischen Ar- seinen Bruder im Geist, der eine ähnliche dich- mee Karriere gemacht hat. terische und seelische Krise durchlebte, wie Wir haben die Ingredienzien des Schwanks Zschokke sie hinter sich wusste. jetzt beisammen: Intrige, Verwechslung und Folgende Frage sei angefügt: Weshalb kam Missverständnis, Liebe und Eifersucht, prä- Zschokke beim Kupferstich an seiner Wand gnante Figuren in tragenden Rollen, witzige nicht ebenfalls ein Lustspiel in den Sinn? Die Dialoge, doppeldeutiges Reden und zu guter Antwort könnte lauten: Im Prinzip ja, aber er Letzt Belohnung der Unschuld und Bestrafung hatte sein Stück zu einem ähnlichen Vorfall des Übeltäters. Stichwortgeber ist der gelehrte, bereits geschrieben, sieben Jahre zuvor. Des- aber ängstliche Schulmeister Zebedäus Ehren- halb liess er dem jüngeren Dichter den Vortritt. fried, der, als treuer Gehilfe des Amtmanns, Zschokke spürte, dass Kleist gefährdeter mit Sprüchen und Sprichwörtern um sich wirft war als er selbst, und er verfolgte dessen Leben und so unfreiwillig den Ernst ins Komische mit grosser Anteilnahme und Sorge bis zum und das Rührselige ins Lächerliche kehrt. Selbstmord am Wannsee im November 1811. Der Freiheitsbaum nahm nicht im gering- Seine Erzählung „Der zerbrochene Krug“ sten am (späten) Erfolg von Kleists Zerbro- brachte Zschokke erst nach Kleists Tod 1813 chenem Krug teil. Aber vielleicht ist er durch in seiner Zeitschrift Erheiterungen heraus. Kleists Stück erfolgreich geworden? Die Ge- meinsamkeiten sind so zahlreich, dass wir uns Werner Ort fragen, ob Kleist sich nicht entscheidend vom

Freiheitsbaum inspirieren liess. Personen und 1 Zschokke: Eine Selbstschau (1842), S. 205. Handlung decken sich bis zu einem solchen 2 Theophil Zolling: Heinrich v. Kleist in der Grad, dass diese Vermutung statthaft ist. Schweiz, Stuttgart 1882, S. 18. 3 NADB Bd. 24, 1796, S. 554. Schildern wir Zschokkes Schwank noch 4 Carl Günther: Heinrich Zschokkes Jugend- einmal unter dem Aspekt der Parallelität mit und Bildungsjahre (1918), S. 110-112. dem Stück Kleists: Ein korrupter Dorfbeamter 5 Gerhard Steiner: Jakobinerschauspiel und Ja- mit Polizeigewalt setzt seine Machtmittel dar- kobinertheater, Stuttgart 1973, S. 69 und 74- an, um eine junge Frau gefügig zu machen. Er 76. Abdruck des Stücks: S. 197-221. setzt ihren gutherzigen, aber naiven Freund ge- 6 Holger Böning: Profranzösische Dramatik fangen, droht mit Auslieferung und sicherem gegen den Strich der öffentlichen Meinung Tod und erpresst das Mädchen damit. Am am Ende des 18. Jahrhunderts: „Der Frei- Schluss stellt eine übergeordnete Instanz das heitsbaum“. Im Jahrbuch des Instituts für Recht wieder her und bestraft den Beamten, so Deutsche Geschichte, Bd. 13, Tel-Aviv 1984, S. 347-349. dass dem Glück des jungen Paars, das sich aus 7 Zschokke an A. G. Behrendsen, 21.2.1796. Missverständnis und Eifersucht entzweit hat-

19 Vom Schreibtisch der Redaktion

Goldmacherdorf, neu aufgelegt Fast schon wehmütig erinnern wir DER SOHN DES DICHTERS uns der Plakate mit Schweizer Holger Böning ist nicht nur Pro- Der umfangreiche Nachlass von Sportlern vor einigen Jahren: „Wer fessor an der Universität Bremen, Zschokkes drittjüngstem Sohn zschokkt, hat Stil“ und „Wer sondern auch Verleger. Im Mittel- Achilles befindet sich im Stadtmu- zschokkt, is a winner!“, obwohl punkt seiner edition lumière stehen seum Aarau. 1998 wurde er, in ei- uns der Werbegag (zschokken = Schriften zur europäischen Aufklä- serne Truhen verpackt, wiederent- joggen) damals eher ärgerte. Jetzt rung, zur Pressegeschichte und deckt. Seither ist noch einiges dazu also ist der Name weg, und die Exilliteratur. Im Jahr 2000 er- gekommen wie die Originalbriefe Margerite ist das neues Symbol. schienen Erzählungen Zschokkes von Karl Viktor von Bonstetten an Nur der Ruf bleibt. Wir wünschen unter dem Titel „... weiss wie der Heinrich Zschokke. Die Stadt Aa- der durch die Fusion mit der Bati- Teufel!“ (leider vergriffen). Für rau ist gerade daran, die Bestände group grössten Schweizer Baufir- diesen Herbst ist als Jubiläums- zu inventarisieren, und vielleicht ma viel Glück. band 25 eine Neuedition des Dorf- findet sich dabei noch das eine romans „Das Goldmacherdorf“ oder andere kostbare Stück in einer geplant. entlegenen Ecke, das man schon verloren glaubte. Die letzte deutsche Ausgabe dieser einst wichtigen Volksschrift wurde Dr. Andreas Müller, pensionierter 1973 von Kurt-Ingo Flessau in Geschichtslehrer an der Kantons- Reutlingen nach der Erstausgabe schule Aarau, Autor der zweibän- von 1817 herausgegeben. Die neue digen Pressegeschichte des Kan- Ausgabe von Holger Böning ent- Conradin Zschokke (1842–1918), tons und anderer kleinerer Schrif- hält auch ein später eingefügtes ältester Sohn von Heinrichs Sohn ten, hat es unternommen, eine Kapitel („Glück führt oft zur Un- Alexander, gründete 1898 in Aarau Biografie von Achilles Zschokke glücks-Schwelle, Unglück oft zur die Baufirma „Crd. Zschokke“, die zu schreiben. Als Bewohner von Glückes-Quelle“), zahlreiche Bei- er elf Jahre später in eine Aktien- Gontenschwil im Wynental, wo träge aus Zschokkes „Schweizer- gesellschaft umwandelte. Er brach- Achilles von 1847 bis zu seinem boten“ aus dem Entstehungsjahr, te langjährige Kenntnisse im Tief- Tod als Pfarrer wirkte, ist er dazu dem Notjahr 1817, weitere kleine- bau (Hafenanlagen und Brücken) prädestiniert. Die Bestände aus re Artikel Zschokkes aus dem ein und baute unter anderem die dem Achilles-Nachlass hat er „Schweizerboten“ und die pro- Stauwehren Beznau, Augst-Wyh- durch ortsgeschichtliche Quellen grammatische, vor der Versamm- len und Laufenburg, die Hafenein- und Informationen und Dokumente lung des Schweizerischen Volks- fahrt bei Dieppe und die Eisen- aus der grossen Nachkommen- bildungsvereins in Lausen am 10. bahnbrücke beim Zentralbahnhof schaft ergänzt. Jetzt sucht er einen April 1836 gehaltene Rede „Volks- von Amsterdam. Er erfand die im Weg zur Publikation des rund 150- bildung ist Volksbefreiung!“ Trockendock verfertigte Caissons, seitigen, mit Fotos und Personen- daten versehenen Werks. Wer ihn Mit einem Umfang von gegen 260 die schwimmend an ihren Bestim- dabei unterstützen möchte, kann Seiten, gebunden und bebildert, mungsort gebracht und dort ver- sich an ihn oder an die Redaktion wird das Buch ungefähr 25 Euro senkt werden. Damit erspart man des Heinrich-Zschokke-Briefs kosten. Die Heinrich-Zschokke- sich mühsame Unterwasserarbeit. wenden. Gesellschaft übernimmt 100 Ex- All dies und vieles mehr erfahren emplare, die sie ihren Mitgliedern wir in dem prächtig illustrierten Dr. phil. Andreas Müller, Unteres Buch, dessen erstes Kapitel von Tannenmoos 314, 5728 Gontenschwil, zu einem Vorzugspreis abgibt. Tel. 062 773 15 62. Holger Böning und Werner Ort, Hrsg.: der Genferin Catherine Courtiau sich liebevoll der Kindheit und Ju- Das Goldmacherdorf oder wie man Bildnachweis: gend von Conradin, des Lebens reich wird. Ein historisches Lesebuch S. 4-7: Marianne Blattner, Aar- von Heinrich Zschokke. edition lumiè- und Wirkens seines Grossvaters au. Die anderen Abb.: W. Ort. re 2006 (www.editionlumiere.de). und des Onkels, zeitweiligen Ar- IMPRESSUM Geschichte der Firma Zschokke beitgebers und Mentors Olivier Zschokke annimmt. Auf einer Heinrich-Zschokke-Gesell- Wir haben ein reichhaltiges Buch Doppelseite ist der Familien- schaft, Seebacherstr. 36, 8052 anzuzeigen, das die Zschokke stammbaum abgebildet, der bis zu Zürich, Tel. 044 301 47 11 Holding AG sich und ihren Aktio- Conradins Enkel Alexander hin- e-mail: [email protected] nären schenkte, mit dem Titel aufreicht. Wir gratulieren zu dem Redaktion: Werner Ort „Zschokke, ein Name – ein Ruf“. schönen und informativen Werk! Thomas Pfisterer Es erschien gerade noch rechtzeitig Catherine Courtiau, Bernard Koechlin Markus Kutter † zur ausserordentlichen Generalver- und Marian Stepczynski: Zschokke, ein Veronika Günther sammlung im März dieses Jahrs, Name – ein Ruf. Infolio édition, Gol- Druck: Dietschi AG als die Namensänderung in „Im- lion 2006. 194 S., 68 CHF oder 45 Eu- Mitteldorfstr. 35 plenia“ beschlossen wurde. ro (auch französisch erhältlich). 5033 Buchs

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