FREIBURGER RUNDBRIEF Beiträge zur christlich-jüdischen Begegnung

Aus dem Inhalt Henry Siegman, Synagogue Council of America: Zehn Jahre katholisch-jüdische Beziehungen

Msgr. Charles Moeller, Vatikanisches Sekretariat zur Förderung der Einheit der Christen: Zum 10. Jahrestag von »Nostra aetate«, Nr. 4

Der jüdisch-christliche Dialog eine Herausforderung für die Theologie ? Von Luc Dequeker

Ökumenische Theologie und Judentum. Zur Nichtexistenz, Notwendigkeit und Zukunft eines Dialogs. Von Hans H. Henrix

Was ist der Mensch? Von Jehoshua Amir

Partikularismus und Universalismus aus jüdischer Sicht. Von Shemaryahu Talmon

Versuchung des Glaubens. Zur Kritik des christlichen Antijudaismus. Von Eberhard Bethge

Juden und Judentum im christlichen Religionsunterricht I Bilanz der Reformbemühungen. Von Ingrid Maisch II »Zielfelderplan ...«— eine Chance für den christlich-jüdischenDialog ? Von Hildegard Gollinger

Die Haltung Israels gegenüber Staat, Land und Volk. Von Andre Neher

Die Hebräische Bibel in der israelischen Erziehung und Bibelpädagogik. Von Jacob (Cool) Schoneveld

»Gute Zäune« schaffen gute Nachbarn

Altenwohnheim für NS-verfolgte Christen in Israel (Nahariyya)

11E1011 11111111111U[T] Dokumente des heutigen religiösen Denkens und Forschens in Israel. Hebräische Veröffentlichungen aus Israel in deutscher Übersetzung V/1976. Hrsg. : Ökumenisch-Theologische Forschungsgemeinschaft in Israel und Freiburger Rundbrief

Jahrgang XXVIII 1976 Nummer 105/108

Postverlageort Freiburg i. Br. Rivka Schatz-Uffenheimer: aus: Messianismus und Utopie bei Raw Abraham I. Kook, dem bedeutendsten Vertreter moderner jüdischer Mystik.*

»... Der menschliche Geist wird grösser werden und wachsen; er wird Materie und Geist im Flug durchschauen; der Tod wird sein Gewicht verlieren, wird aus der Realität ver- schwinden. Mit klarer Sicht und sicherem Wissen wird sich das Leben auf alles aus- breiten, die geistige und die materielle Natur, die Natur und die Naturseele, die Natur und das übernatürliche — alles wird zusammengebündelt sein. Der persönliche Wille, der sich in seiner Erhebung zu seinem Quell — dem Gebet — kundtut — dies ist die unerschüt- terliche Offenbarung der Geistesgrösse. Der Inhalt, der in der vollendeten Welt den wich- tigsten Platz einnimmt, dessen Schwergewicht doch schon instinktmässig erkannt war, wird viel schwerwiegender sein aus der Erkenntnis der reinen Wissenschaft heraus. Das Gebet wird dazu dienen, den Höhepunkt jedes tatsächlichen Strebens in der grossen allgemeinen als auch in der persönlichen Welt zu erreichen, im Einklang mit allen Wegen der Vollendung, die die Wissenschaft, die geniale künstlerische Sinnlichkeit und Gefühlswelt als auch die Regierungsgewalt geschaffen haben. Was nur wenige Erwählte wussten, wird allen bewusst sein. Die Reinheit und Entschlossenheit des Willens, der mit Macht dem göttlichen Geheimnis zustrebt, wird der Höhepunkt der zukünf- tigen Kulturwarte sein, die sich im Gebet des Weltenvolkes zur ganzen Welt hin er- heben wird : >Denn mein Haus wird das Gebetshaus aller Völker genannt werdenc«

* In: Clemens Thoma (Hrsg.): Zukunft in der Gegenwart. S. u. S. 122 f.

Für Studienzwecke kostenloses Exemplar; bitte beachten Sie auch Umschlagseite 3

FREIBURGER RUNDBRIEF Beiträge zur christlich-jüdischen Begegnung

XXVIII. Folge 1976 / Nr. 105-108 Freiburg, Dezember 1976 1 A Zehn Jahre kath.-jüdische Beziehungen: Eine Neubesinnung. Ansprache von Rabbiner Dr. Henry Siegman, Executiv- Vicepresident des Synagogue Council of America, New York, anlässlich der Tagung des kath.-jüd. Verbindungs- komitees in Jerusalem vom 1.-3. 3. 1976 3 B Aus einem Kommentar zum 10. Jahrestag von »Nostra aetate«, Nr. 4, von Msgr. Charles Moeller, Vizepräsident der Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum und Sekretär des Sekretariats zur Förderung der Einheit der Christen anlässl. d. nordamerik. Bischofskonferenz, Washington, D.C., 16. 12. 1975 12 2 Der jüdisch-christliche Dialog. Eine Herausforderung für die Theologie? Offene Fragen und Interpretationen. Von Professor Dr. Luc Dequeker, Katholieke Universiteit, Leuven 13 3 Ökumenische Theologie und Judentum. Gedanken zur Nichtexistenz, Notwendigkeit und Zukunft eines Dialogs Von Hans Hermann Henrix, Dozent der Bischöflichen Akademie des Bistums Aachen 16 4 David Flusser zum 60. Geburtstag. Eine fragmentarische Biographie. Von Professor Dr. Clemens Thoma 27 5 Was ist der Mensch? Predigt, gehalten in der Synagoge in Düsseldorf am 6. 3. 1976, von Dr. Jehoshua Amir, Profes- sor für hellenistisches Judentum und moderne jüdische Philosophie an der Universität Tel Aviv 29 6 Zwei Ansprachen I Paul VI.: Im Geiste der Propheten werden Juden und Christen bereitwillig zusammenarbeiten.« Aus einer An- sprache am 24. 11. 1976 32 II Mit den Juden von Marseille. Ansprache von Kardinal Etchegaray, Vorsitzender der franz. Bischofskonferenz, an- lässlich der Einführung eines neuen Grossrabbiners am 4. 4. 1976 32 7 Partikularismus und Universalismus aus jüdischer Sicht. Von Shemaryahu Talmon Ph. D., Professor für Bibelwissen- schaft an der Hebräischen Universität Jerusalem 33 8 Offenbarung, Judentum und Christentum im Denken Franz Rosenzweigs. Bericht über ein Forschungsgespräch in der »Wolfsburg«, der Katholischen Akademie des Bistums Essen, vom 15.-17. 9. 1976. Von Prof. Dr. Georg Scherer, Direktor der Akademie 36 9 Versuchung des Glaubens. Zur Kritik des christlichen Antijudaismus. Bibelarbeit über 1 Petrus 2, 5-7, gehalten vor der Landessynode der Evang. Kirche im Rheinland am 14. 1. 1976 in Bad Neuenahr. Von Prof. D. Eberhard Bethge D. D. 40 10 Juden und Judentum im christlichen Religionssunterricht: I Bilanz der Reformbemühungen. Bericht über eine Tagung in der Ev. Akademie Arnoldshain, 14.-16. 2. 1977. Von Dr. Ingrid Maisch, Prof. a. d. Kath. Fachhochschule Freiburg i. Br. 43 II »Zielfelderpian für den katholischen Religionsunterricht« — eine Chance für den jüd.-chr. Dialog? Von Dr. Hilde- hard Gollinger, Prof. f. Kath. Theologie u. Religionspädagogik a. d. Pädag. Hochschule Heidelberg 46 11 Die hebräische Bibel im puritanischen Neu-England. Vortrag anlässlich des zweihundertjährigen Jubiläums der Ver- einigten Staaten von Amerika auf der Konferenz der Hebrew Federation of America im November 1976. Von Dr David Rudavsky, Professor für hebräische Kultur und Erziehung an der Universität New York 51 12 Im Gespräch mit Juden und mit Israel. Von Prof. Dr. Albert J. Rasker, Rijksuniversiteit in Leiden 53 13 Die Haltung Israels gegenüber: Staat, Land und Volk. Von Rabbiner Prof. Dr. Andre Neher, Strassburg/Jerusalem 56 14 Die Hebräische Bibel in der israelischen Erziehung und Bibelpädagogik von Jacob (Coos) Schoneveld. Buchbericht von Dr. Michael Krupp, Beauftragter d. Ev. Kirche in Berlin für das ökumenische Gespräch zwischen Christen, Juden und Moslems in Jerusalem 60 15 Aussprache: Replik an David Flusser von Johannes M. Oesterreicher 63 16 Rundschau (u. a.: 10 Jahre Ökum.-Theol. Forschungsgemeinschaft in Israel. Rückblick und Ausblick der ökum. Fraterni- tät. Bericht vom 5. 10. 1976 von Rev. Dr. J. Schoneveld, Jerusalem — Theologiestudium in Jerusalem [Studium Biblicum Franciscanum von Prof. W. E. Pax OFM, »Freisemester« im Josephshaus d. Dormitio von Otmar Maas] — »Gute Zäu- ne« schaffen gute Nachbarn. Israels »Gute-Zaun«-Politik, 12 Libanesinnen lernen Iwrith, Libanesen besuchen Jerusa- lem mit Hilferuf an den Papst — Neve Schalom, Wohnstätte f. Juden, Muslimen u. Christen in Israel — Zum Gedenken an Pfarrer Dr. Adolf Freudenberg) 65 17 Literaturhinweise (u. a.: C. Thoma: Zukunft in der Gegenwart. Wegweisungen im Judentum u. Christentum — F. v. Hammerstein: Von Vorurteilen z. Verständnis. Dokumente z. jüd.-christl. Dialog — W. Trutwin: Licht vom Licht. Religionen in unserer Welt — Louis Jacobs: Theology in the Responsa — J. J. Petuchowski: Beten im Judentum — G. Scholem: Sabbatai Sevi, The Mystical Messiah — Franklin Littell: The Crucifixion of the . The Failure of Chri- stians to understand the Jewish experience — Elie Wiesel: Der Schwur von Kolvilläg — »Le Saint Siege et les victimes

de la Guerre«, vol. 9 — Golda Meir: Mein Leben — J. Schoneveld: The Bible in Israeli Education — »Wir wollen Frie- den. Bilder u. Gedichte von jüd. u. arabischen Kindern aus Israel«) 76 18 Aus unserer Arbeit (u. a.: Altenwohnheim für NS-verfolgte Christen in Israel — Grundsteinlegung in Haifa) . . 138 19 Systematische Ubersicht über die Literaturhinweise 140 20 Systematisches Register über den Inhalt Jg. XXVIII. — 21 Personenregister Jg. XXVIII 141 »IMMANUEL«, Dokumente des heutigen religiösen Denkens u. Forschens in Israel, V/1976, Herausgeber: Ökumenisch- Theologische Forschungsgemeinschaft in Israel u. Freiburger Rundbrief (Nathan Rotenstreich: S. H. Bergman — Benja- min Uffenheimer: Yehoshua Meir Grintz zum Angedenken — David Flusser: Der Gekreuzigte u. d. Juden — Sh. Safrai: Die Stellung des 2. Tempels im Leben des Volkes — Eliezer Schweid: Der Sabbat im Staat Israel — Michael Krupp: Mischna-Geniza-Fragmente) 146-176 IM 1-31 Aus: Messianismus u. Utopie bei Raw Abraham I. Kook ... von Rivka Schatz-Uffenheimer Umschlagseite 2 Als Manuskript gedruckt — Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion gestattet.

Herausgegeben (mit Unterstützung der Deutschen Bischofskonferenz und des Deutschen Caritasverbandes e. V.) von Dr. Willehad P. Eckert OP, Dr. Rupert Giessler, Msgr. Dr. Georg Hüssler, Dr. Ludwig Kaufmann SJ, Dr. Gertrud Luckner, Prof. Dr. Clemens Thoma SVD, Prof. Dr. Anton Vögtle. Schriftleitung: Dr. Gertrud Luckner, Prof. Dr. Clemens Thoma SVD. Geschäftsstelle: Dr. Gertrud Luckner — Freiburger Rundbrief. Arbeitskreis für christlich-jüdische Begegnung e. V. Postanschrift: Lorenz-Werthmann-Haus, Postfach 420, D-7800 Freiburg i. Br. (s. auch Seite 2)

Postverlagsort Freiburg i. Br. An unsere Leser

Für alle Hilfe und ein gutes Echo, die der Aufruf an unsere Leser gefunden haben (s. FR XXVII/1975, S. 2), danken wir sehr herzlich. Die hohen Kosten für Herstellung und Versand unseres »Rundbriefs« bedeuten eine erhebliche Er- schwerung unserer Arbeit. Dies veranlasst uns, alle, die sich diesem Anliegen verpflichtet wissen, und alle, die diese sich fortgesetzt ausweitende Arbeit unterstützen und weiterhin zu fördern wünschen, auf ihre Mithilfe anzusprechen. Das diesjährige Heft hat einen etwas grösseren Umfang als vorgesehen. Dies ist auch bedingt durch die besonders umfangreichen Literaturberichte. Wir danken im voraus allen, die uns damit helfen, das in hoher Auflage und in aller Welt verteilte Heft und die damit verbundene Arbeit in der bisherigen Weise fortzusetzen. Das starke Echo, das der »Rundbrief« in all den Jahren seines Bestehens allseits gefunden hat, ermutigt uns, das heute noch mehr als vor achtundzwanzig Jahren notwendige Werk weiterzuführen. Den an alle Mitarbeiter, Förderer und Interessierte unten ausgesprochenen herzlichen Dank geben wir auch an dieser Stelle weiter. Die Herausgeber

Voraussichtlich in Folge XXIX: Gespräch zwischen griechisch-orthodoxer Kirche und Judentum in Luzern — Christliche Theologie angesichts jüdischer Exilserfahrung von Clemens Thoma — Erste Bemerkungen zur neu her- ausgegebenen Tempelrolle von Qumran — Die neue Ausgabe »Der Stern der Erlösung« von Franz Rosenzweig — In »IMMANUEL«: Zwei redaktionelle Antijudaismen im Matthäus-Evangelium von David Flusser.

Der Freiburger Rundbrief erscheint in unregelmässiger Folge. Unkostenbeitrag für dieses Heft DM 15,— und Zustellgebühr (Folge XXVIII, Nr. 105/108). — Dr. Gertrud Ludtner/Rundbrief. Postscheckkonto Karlsruhe Nr. 680 35-750. Bezug durch Freiburger Rundbrief Postanschrift: Lorenz-Werthmann-Haus, Postfach 420, D-7800 Freiburg i. Br.

Gesamtherstellung im Druckhaus Rombach+Co GmbH, Freiburg im Breisgau. FREIBURGER RUNDBRIEF Beiträge zur christlich-jüdischen Begegnung lA Zehn katholisch-jüdische Beziehungen:en Eine Neubesinnung* Ansprache von Rabbiner Henry Siegman, Executiv-Vicepresident des Synagogue Council of America, anlässlich der Tagung des katholisch-jüdischen Verbindungs- komitees in Jerusalem vom 1. bis 3. März 1976

Der »Synagogue Council of America« ist eine Dachorganisation, in früheren christlichen Triumphalismus, in dem das jüdi- welcher die drei grossen Richtungen des religiösen Judentums von sche Volk nur als Akteur im Passionsspiel der anderen Nordamerika vereinigt sind: die Orthodoxie, die Konservativen so- wie die Reform. Diese Organisation kann als repräsentativ für das auftrat, gehören der Vergangenheit an, und das ist tat- Judentum der USA gelten, soweit es religiöse Fragen betrifft und sächlich eine bedeutsame Veränderung. Damit kann auch eine Gesamtvertretung nach aussen erforderlich ist. Daher kann Rabbi das jüdische Volk seine eigene, besondere Art von Siegman als Sprecher in christlich-jüdischen Fragen auftreten, weil Triumphalismus, den defensiven Triumphalismus der Ver- hier die Beziehungen der Juden zu ihrer Umwelt involviert sind. folgten und Misshandelten, aufgeben und der Welt offe- (Anm. d. Red. d. FR.) ner und schöpferischer gegenübertreten. Lassen Sie mich gleich zu Beginn sagen, dass die hier Diese neue Wirklichkeit für Juden und Christen erklärt geäusserten Ansichten natürlich nur meine persönlichen sich nicht aus neuen Antworten auf alte Fragen, denn die sind und keineswegs die Meinung oder ein Konsensus meisten alten Fragen bleiben ungelöst, selbst in radikalen einer bestimmten Gruppe von Juden oder gar der gan- neuen Christologien. Vielmehr ist diese Realität das Re- zen jüdischen Gemeinschaft. Ich hoffe aber, dass diese sultat nicht greifbarer, geschichtlich geformter Überlegun- Einschränkung das hier Vorgetragene nicht auf einen gen, einer Geschichte, die die wunderbare Wiedergeburt subjektiven Nenner reduziert, wenn auch nur aus dem jüdischer Souveränität in Israel, aber auch eine gemein- Grund, dass tatsächliche Anliegen zum Ausdruck ge- same missliche Lage mit sich bringt, die das tatsächliche bracht werden, die die Juden in bezug auf christlich- Überleben unseres Planeten in Frage stellt, wie auch das jüdische Beziehungen bewegen. Welches auch immer die schwindelerregende Tempo technologischer und wissen- bestehenden, sehr realen Differenzen sein mögen, so lie- schaftlicher Veränderungen — nennen Sie es »future gen ihnen doch gewisse gemeinsame Empfindungen zu- shock«, wenn Sie wollen. Wir sind uns alle der unglaub- grunde, die aus jüdischer Tradition erwachsen und auf lichen Vielfalt religiöser Erfahrungen in den Zivilisatio- eine gemeinsame Sicht der Zukunft des jüdischen Lebens nen der ganzen Welt wie nie zuvor bewusst geworden; und der jüdischen Weltgemeinschaft hinweisen. zugleich sind wir auch wie betäubt von dem Ansturm Die vergangenen zehn Jahre interreligiöser Beziehungen, dieser Veränderungen auf traditionelle Vorstellungen und an deren Anfang die historische Vatikanerklärung Werte; und wir blicken auf den anderen, um Halt und (Nostra aetate, Nr. 4) 1 steht und die ihren Höhepunkt innere Ruhe zu gewinnen .. . Nostra in den Richtlinien zur Durchführung von Die logischste Methode wäre wohl, jetzt einige konkrete, aetate2 finden, haben meiner Meinung nach die Bezie- messbare Entwicklungen in verschiedenen Teilen der hungen zwischen der katholischen Kirche und dem jüdi- Welt, vor allem in den Vereinigten Staaten, Westeuropa schen Volk grundsätzlich verändert, obwohl diese weiter- und Lateinamerika aufzuzählen, um das veränderte Kli- hin recht komplex bleiben und Möglichkeiten des Kon- ma der katholisch-jüdischen Beziehungen im letzten flikts und Schmerzes in sich bergen. Unsere Theologie Jahrzehnt festzustellen. Man könnte dabei an die Unter- und historisch bedingten Reflexe müssen eine gewisse suchung von Religionsbüchern, an Bemühungen zur Ver- menschliche Realität einholen, denn wir können den besserung des Religionsunterrichts und der Katechese anderen jetzt in einer Weise wahrnehmen und mit ihm infolge solcher Studien denken, an öffentliche Verlautba- sprechen, wie es vor einer Generation noch gänzlich un- rungen von seiten der Bischofskonferenzen, die Vorurtei- möglich gewesen wäre. Es erscheint mir auch ziemlich le abbauen und Doktrin auf den neusten Stand bringen klar, dass dieser Prozess nicht mehr umkehrbar ist. Zwar wollen, an interkonfessionelle Bemühungen in vielen Tei- besteht auch weiterhin die Möglichkeit, den anderen zu len der Welt, die Katholiken und Juden zwecks Förde- verletzen, und vermutlich wird man die Gelegenheit dazu rung des gesellschaftlichen und politischen Wandels ein- auch nicht ungenutzt lassen. Die Gebiete des Missverste- ander näherzubringen, an die Einrichtung von Kursen hens sind noch riesengross. Aber die Vorstellungen eines über das Judentum an katholischen Universitäten und Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Rabbiner Sieg- Seminaren und viele andere solcher Entwicklungen... man. — Aus dem Englischen übersetzt von Helga Croner. (Anmer- Die erste und wichtigste Frage, die wir uns in diesem kungen d. Red. d. FR.) Rückblick wohl stellen müssen, ist die nach der Art des 1 Vom 28. 10. 1965. Vgl. in: FR XVIII/1966, S. 28 f. 2 Vom 3. 1. 1975 in: FR XXVI/1974, S. 3 ff. Dialogs, der zwischen Juden und Christen tatsächlich

3 stattfinden kann. Was drängt uns zum Dialog, und was des Dialogs für gegenseitige religiöse Unterstützung und möchten wir beide damit erreichen? Zehnjährige inter- als Beitrag zum Widerstand gegen jene gesellschaftlichen konfessionelle Tätigkeit, die unsere formellen Beziehun- Kräfte, die unser Leben seiner transzendenten Bedeutung gen zum »Vatikanischen Komitee für religiöse Beziehun- und den einzelnen seines tzelem Elokim (göttlichen Ab- gen mit Juden« einschliesst, sollte uns eine gewisse Klar- bilds) zu berauben drohen, durchaus nicht unterschätzen. heit in dieser Frage geben. Darüber hinaus können Juden am Christentum nicht Mir erscheint der kürzlich veröffentlichte Artikel einer uninteressiert sein, denn der Sinn unserer Erwählung führenden holländisch-protestantischen Ukumenikerin be- besteht darin, dass »durch dich alle Menschen gesegnet sonders aufschlussreich, denn sie kommt zu dem enttäu- werden«. Das jüdische Volk soll zum Heilsinstrument für schenden Schluss, dass »wir noch in der vor-dialogischen die gesamt-menschliche Familie werden, und aus diesem Zeit leben, in der wir über besseres gegenseitiges Ver- Grunde muss ein Jude unbedingt am geistlichen Leben ständnis und wachsende Zusammenarbeit auf theologi- der Völker, mit denen zusammen sich Israel auf dem schem und sozio-politischem Gebiet nicht hinausgewach- Heilswege befindet, Anteil nehmen. Das trifft ganz be- sen sind . . . Die Frage nach der Wahrheit wird ausge- sonders auf das Christentum zu, das das Vokabular und schlossen.« 3 Sie spricht hier von der letzten, theologi- die Botschaft Israels bis an die Enden der Erde verbreitet schen Wahrheit, die zwischen Juden und Christen steht. hat.4 Diese Erwägungen sind jedoch sekundär; sie er- Ich glaube, es ist unvermeidlich, dass die meisten Chri- klären nicht, warum der Dialog für Juden tatsächlich sten in ihren Erwartungen des Dialogs enttäuscht wer- eine unwiderstehliche Angelegenheit ist; es wäre unehr- den. Diese Unvermeidlichkeit beruht auf zwei Gründen, lich, das zu verleugnen. die aus derselben Überlegung herrühren, nämlich der Es ist nicht weiter erstaunlich, dass Christen nicht durch grundsätzlichen Ungleichheit oder Asymmetrie in der Si- die Geschichte zum Dialog mit Juden angeregt werden, tuation von Juden und Christen. Um es einfach, wenn jedenfalls nicht im jüdischen Sinne. Manche Christen auch nicht besonders elegant auszudrücken, hat das Chri- empfinden zwar ein Schuldgefühl über die Rolle, die die stentum es vorgezogen, sich historisch und theologisch im Kirche in der Judenverfolgung gespielt hat, und bei Judentum zu bestätigen, indem es sich als logische und ihnen besteht der Wunsch, jene christlichen Ursachen zu notwendige Erfüllung eines früheren Bundes ansieht. Das beseitigen, die zu dieser hässlichen Geschichte beigetra- Judentum hätte als leere, verausgabte erste Stufe eines gen haben. Für die Kirche als Ganzes ist es aber das mehrstufigen Raumgeschosses (oder zutreffender »Hirn- . Geheimnis der jüdischen Zurückweisung des Christen- melsgeschosses«) herunterfallen sollen. Das hat es aber tums, was sie zum Dialog mit den Juden zwingt. Wenn nicht getan. Der Christ kann wegen des eigenen Selbst- die letzten zehn Jahre uns also irgend etwas gelehrt verständnisses um eine Konfrontation mit dem lebendi- haben, dann ist es die Erkenntnis, dass wir den Dialog gen, gedeihenden Judentum gar nicht herumkommen. unter verschiedenen Gesichtspunkten sehen. Das braucht Diese lebendige Realität bedeutet für ihn die Frage nach aber durchaus nicht verheerend zu wirken, wenn wir uns der letzten Wahrheit, und deshalb ist der Dialog für ihn dessen bewusst sind und uns bemühen, die Anliegen des notwendig und unwiderstehlich. Ein Dialog, der diese anderen zu beachten. Nur sind wir allzu oft so sehr mit Frage nach der Wahrheit umgeht, ist nach Ellen Flesse- unseren eigenen Programmpunkten beschäftigt, dass wir man-van Leer nur eine »vor-dialogische Unterhaltung«. wie zwei Schiffe in der Nacht aneinander vorbeiziehen. Meine katholischen Freunde werden mich hoffentlich Aus dieser grundlegenden Asymmetrie resultiert noch ein nicht missverstehen, wenn ich sage, dass die Situation des zweiter Grund, warum Christen wahrscheinlich in ihren Judentums in dieser Hinsicht eine ganz andere ist, denn Erwartungen über den Dialog mit Juden enttäuscht sein in seinem Wesen und seiner Struktur enthält es nichts, das werden. Ich habe bereits angedeutet, dass jüdische Ge- einer Konfrontation mit dem Christentum bedarf. Die schichtsbesessenheit eine ernsthafte Erwägung geistlicher Existenz eines vitalen Christentums ist für den Juden und theologischer Aspekte des Dialogs keineswegs aus- keine Frage der »Wahrheit«. schliesst. Doch bedeutet das für den Juden keine Frage Was Juden zum Dialog mit Christen führt, sind nicht nach der letzten Wahrheit, die zwischen ihm und dem theologische, sondern historische Erwägungen. Die Pro- Christen steht. Wenn man die Weigerung orthodoxer blematik christlich-jüdischer Beziehungen bestimmt sich jüdischer Theologen, diese Frage nach der Wahrheit für den Juden aus einer Geschichte, in der christliche einem interreligiösen Dialog zu unterwerfen, für Haltung und christliches Handeln den Juden in seinem »Obskurantismus« hält, dann beruht das auf einem Miss- Menschtum herabwürdigten und ihm Leiden und Marty- verständnis. Rabbiner Joseph B. Soloveitchiks Name rium auferlegten. Man mag sagen, dass ich dem wahren wird hauptsächlich in diesem Zusammenhang genannt, Sachverhalt ausweiche, denn dieses christliche Verhalten und zwar wegen seiner Opposition, wie er selbst sagt, (oder das Verhalten von Christen) war die unvermeid- gegen »jeden Versuch, unsere privaten, persönlichen liche Konsequenz der normativen oder abirrenden Lehre; Glaubensverbindlichkeiten zu diskutieren«. und ich würde dem unbedingt beipflichten. Das ändert Die meisten machen sich aber nicht klar, dass selbst die aber nichts an meiner Ansicht. Es handelt sich nicht engagiertesten jüdischen Verteidiger des Dialogs im gro- darum, dass christliche Doktrin von der jüdischen ab- ssen und ganzen Rabbi Soloveitchiks Haltung teilen. weicht, vielmehr gründet das Problematische unserer Be- Abraham Joshua Heschel erklärte z. B., dass religiöse ziehungen darin, dass gewisse Lehren bösartige Folgen Authentizität durch die Blossstellung unseres inneren für die Art und Weise, wie wir in der Geschichte Glaubenslebens keineswegs gefördert würde. »Israels miteinander umgingen, mit sich brachten. Gemeinschaft muss sich immer des Geheimnisses der Wenn aber Juden an dem Dialog mit Christen wegen Einsamkeit und Einzigartigkeit ihres Daseins bewusst ihrer Geschichtsbesessenheit und ihrer Sorge um das sein«,5 sagte er in seinem berühmten Essay, »No Religion jetzige und zukünftige Überleben interessiert sind, dann muss man auch hinzufügen, dass sie die Möglichkeiten 4 Michael Wyschogrod: Footnotes to a Theology, in Karl Barth Kolloquium, 1972; Martin Thumscheidt ed., SR Supplements. 3 Ellen Flesseman-van Leer: Pre-Dialogue Talks between Jews and 5 Abraham J. Heschel, »No Religion is an Island«, in Union Christians in Study Encounter, XI, 3. Seminary Quaterly Review, Januar 1966, S. 119.

4 is an Island«. Heschel erklärte, dass die höchste Frage, Diese Ungleichheit ist für das Judentum zugleich anzie- die den Dialog für uns zur Notwendigkeit macht, nicht hend und gefährlich. Das Gespräch mit einer so hochent- die nach der »Wahrheit« ist, »sondern die Bedingungen, wickelten Theologie wie der christlichen kann dem Ju- auf denen beide Religionen beruhen, nämlich ob es Pa- dentum nur förderlich sein (so wie es die muslimische thos gibt, eine göttliche Realität, die um das menschliche Philosophie einer anderen Ära war), denn damit wird Schicksal bemüht ist, die in geheimnisvoller Weise auf die das Judentum gezwungen, sich mit Problemen auseinan- Geschichte einwirkt; die höchste Frage ist, ob wir dem derzusetzen, um die es sich sonst nicht kümmern würde. Anruf und der Erwartung des lebendigen Gottes tot oder Eine Gefahr allerdings besteht in der möglichen Verzer- lebendig gegenüberstehen«.° Was den Dialog zwischen rung des wahren Charakters und Selbstverständnisses des uns wirklich ermöglicht und notwendig macht, ist unsere Judentums, wenn man es in theologische Formen presst, Erkenntnis, dass trotz des »Nein«, das wir zueinander in die ihm teilweise fremd sind. Das ist aber ein Risiko, um letzten Glaubensfragen sprechen, wir doch beide Gott das es sich verlohnt. 8 Rechenschaft schulden, dass wir beide Objekte seiner Wenn meine Erläuterung des jüdischen Interesses am Sorge und kostbar in seinen Augen sind. Dialog richtig ist (nämlich, dass es eher historisch als Es gibt wenige Menschen in den Vereinigten Staaten, die theologisch ist) und wenn die Christen geneigt sind, die einen besonneneren Beitrag zum christlich-jüdischen Dia- jüdischen Programmpunkte zu behandeln (und ich glau- log geleistet haben wie Jacob Agus, der zu den Liberalen be, dass das der Fall ist), dann müssen wir beide bereit zählt. In diesem Punkt jedoch stimmt Agus mit Heschel sein, an unsere gemeinsame Geschichte heranzugehen. Das und Soloveitchik überein und lehnt eine Entblössung des erscheint mir elementar. Aber praktisch gesehen ist es inneren Glaubenslebens im interreligiösen Dialog ab. Er durchaus nicht so einfach. Von bemerkenswerten Aus- sieht das vielmehr als Narretei an. » Jedes Glaubensbe- nahmen abgesehen, ist meiner Ansicht nach die Behaup- kenntnis bildet seine eigenen Begriffe aus der Fülle seiner tung nicht unfair, dass die Geschichte der kirchlichen Erfahrungen und auf seine eigene Weise . . . die entspre- Verfolgungen des Judentums und des jüdischen Volkes chenden Begriffe anderer Glaubensweisen sind damit auch heute noch nicht ins Bewusstsein der katholischen unvereinbar . . . im privaten Bereich religiöser Empfin- Kirche eingedrungen ist. Dabei handelt es sich nicht nur dungen und Symbole . . . es wäre einfacher, geometrische um alte Geschichte, sondern auch um die allerneueste. Figuren in eine nicht-euklidische Welt zu rücken«, als Das Holocaust ist uns Juden bei jeder Begegnung auf sich über solche Dinge zu verständigen. 7 quälende Weise gegenwärtig. Der Dialog findet über Es bedarf noch einer weiteren Erläuterung dieses jüdi- einem riesigen Friedhof statt, auf dem ein Drittel unseres schen Widerstrebens, theologische Fragen im interreligiö- Volkes begraben liegt. Wir können nicht so tun, als wäre sen Gespräch zu behandeln. Denn wir müssen zugeben, er nicht vorhanden; täten wir es dennoch, dann müsste dass sich dieses Widerstreben nicht nur auf die Frage unser Vorhaben mit Sicherheit misslingen und versagen. nach der letzten Wahrheit beschränkt, auf die zutiefst Wenn wir diese Tatsache aber aufrichtig ins Auge fassen persönlichen, intimen Glaubenserfahrungen, sondern — nicht zum Zweck der Gegenbeschuldigung, denn wer auch auf mehr formale und objektive theologische Pro- könnte nach Auschwitz noch Tugend und Selbstgerech- bleme. Diese Abneigung erklärt sich nur teilweise aus tigkeit für sich beanspruchen — und letzten Endes zusam- einer gewissen Verteidigungsstellung, aus der verbleiben- men »Kaddisch« für die Martyrer sprechen können, dann den Angst, dass trotz aller Zusicherungen solche Diskus- mag unser Unterfangen vielleicht die Dimension des Hei- sionen nicht doch als Gelegenheit zum christlichen Mis- ligen annehmen. sionieren benutzt werden. Viel wichtiger als diese Furcht Meiner Ansicht nach sind wir noch weit davon entfernt. ist die Tatsache, dass jüdisch-religiöses Leben sich aus Neuere Erklärungen aus offiziellen katholischen Quellen, internen Gründen immer durch eine gewisse theologische die sich auf kürzlich freigegebenes Archivmaterial stüt- Zurückhaltung ausgezeichnet hat, durch eine Abneigung, zen, schmerzen uns vor allem deshalb, weil sie die anhal- die jüdische Begegnung mit dem Göttlichen in theologi- tende Unfähigkeit der katholischen Kirche, sich sinnvoll schen Formulierungen zu konkretisieren. Jüdisches Emp- mit dem Problem auseinanderzusetzen, enthüllen. Zwar finden ist in dieser Hinsicht tief beeinflusst von der hat man über die allgemeine Haltung der katholischen Exoduserzählung, in der Moses Gott anfleht, dass Er ihm Kirche während der Holocaustzeit lebhaft und unent- den Anblick Seiner Glorie gestatte. Er erhält zur Ant- schieden debattiert, aber eine solche Diskussion ist im wort, dass das eine menschliche Unmöglichkeit sei. Got- Grunde genommen sinnlos. Selbst wenn die Rolle der tes Gegenwart kann man erst erfassen, nachdem Er katholischen Kirche vorbildlich gewesen wäre, ist doch vorübergegangen ist. Um metaphorisch fortzufahren: Das der springende Punkt der, dass die Nazis so weit gehen Judenturn hat seine schöpferischen Energien nicht auf konnten, weil die westliche Zivilisation von einer christ- das theologische Unterfangen abgestellt, auf jene Gebie- lichen Dogmatik und theologischen Judenfeindschaft, die te, die das göttliche Antlitz enthüllen. Vielmehr lenkte es lange Zeit in der christlichen Welt vorherrschend waren, seine religiöse Vorstellungskraft auf die Spuren, die die völlig durchsetzt war. Die Angelegenheit wird daher göttliche Gegenwart in der menschlichen Geschichte hin- keineswegs geklärt, wenn man diese oder jene Unterhal- terlässt. In dieser Aufgabe ist die Halacha ein zuverlässi- tung eines Nuntius oder Gesandten zitiert. Der National- gerer Führer als die Theologie. sozialismus war natürlich ein Rückfall ins Heidentum Die je von den beiden Glaubensgemeinschaften gewählte und im Innern so antichristlich wie er antijüdisch war. Strategie stellt jedenfalls ein weiteres Dialoghindernis Sein Gift hätte aber keinen so fruchtbaren Boden finden dar, das sich zuungunsten des Judentums auswirkt. Denn können, wenn die Kirche Jesu Christi nicht ein so wis- der Dialog ist seiner Natur nach jener Tradition am sentlicher und williger Teilnehmer an der jahrhunderte- kongenialsten, die eine im einzelnen ausgearbeitete Theo- langen Dämonisierung des Antisemitismus gewesen wäre. logie entwickelt hat. Eine genuine Konfrontation mit der Geschichte und vor allem mit Auschwitz macht es unumgänglich, dass Chri- 6 a. a. 0. S. 118. sten ihre Tradition einer gründlichen Kritik unterwerfen. 7 Jacob B. Agus: »Response to Father Danielou's Dialogue with Israel«, in: Dialogue and Tradition, London 1971, p. 123. 8 Wyschogrod a. a. 0.

5 In dieser Hinsicht ist Nostra aetate, Nr. 4 so wie auch rein politisches Phänomen behandeln könnten, wenn nur die Richtlinien vom 3. Januar 1975, wenn auch in gerin- die Juden nicht auf der religiösen Dimension bestehen gerem Masse, äusserst defekt. George Higgins und andere würden. Aber selbst wenn Israel nur ein politisches und haben oft und mit viel Geduld die Juden dringend aufge- kein theologisches Problem darstellte, muss man zugeben, fordert, Nostra aetate nicht als ein an sie gerichtetes dass die wärmste theologische Freundschaft sinnlos und Dokument anzusehen. Wollte die Erklärung wirklich die bar jeden menschlichen Inhalts wäre, wenn sie den Zu- Juden von der Verantwortung für die Kreuzigung »frei- sammenbruch Israels gleichmütig mitansehen könnte. sprechen«, dann müsste man sie tatsächlich als herablas- Wie Jacques Maritain sagt: »... diese Rückkehr, die dem send und völlig unzureichend bezeichnen. Das war aber jüdischen Volk endlich gewährt wurde und ihm gestattet, nicht der Zweck des Dokuments. Vielmehr »stellt es eine einen eigenen Zufluchtsort auf der Welt zu haben, nich- ehrliche Prüfung des christlichen Gewissens dar, das in tig machen zu wollen, kommt dem Wunsch gleich, dass dieser Hinsicht für so vieles Rede zu stehen hat«? das Volk wieder vom Unglück verfolgt, dass es von George Higgins' Neigungen bezweifle ich keinen neuem das Opfer schändlicher Angriffslust werde. Anti- Augenblick, aber seine Grossmütigkeit kann die objek- Israelismus ist keineswegs besser als Anti-Semitismus.« 9a tive Realität von Nostra aetate, Nr. 4 nicht ändern. Was Tatsache ist aber, dass Israel nicht nur ein politisches auch immer darin enthalten sein mag, selbst eine noch so Problem darstellt, sondern tiefgehende theologische Fol- gründliche Untersuchung zeigt keine »ehrliche Prüfung des christlichen Gewissens« über den Antisemitismus. ga In: Jacques Maritain, »On the Church of Christ«, Notre Dame, Auch die Richtlinien, die kurz auf das »Gedächtnis an Indiana 1973, p. 171, übersetzt von Joseph W. Evans. — Vgl. dazu die Verfolgung und das Massaker von Juden, die in in: Maritain: »De 1'Eglise du Christ. La personne de 1'Eglise et son Europa stattfanden« hinweisen, bleiben hinter einer personnel«, eh. XII, II, »Digression sur L'Etat d'Israel«, p. 284: ». m'apparait, cU's lors, qu'une fois que le peuple juif a remis Gewissensprüfung in Higgins' Sinne weit zurück. le pied sur la terre que Dieu lui a donn&, nul ne pourra plus la lui Beide Dokumente setzen sich nicht mit der einfachen und arracher; et que vouloir la disparition de l'£tat d'Israil, c'est vou- unausweichlichen Tatsache auseinander, dass, abgesehen loir rejeter au ri&vIt ce retour qui enfin a etc accorde au peuple juif, von sekundären Ursachen, deren es viele gibt, der Anti- et qui lui permet d'avoir un abri ä lui dans le monde; en d'autres termes, c'est, — d'une autre maniere, mais aussi grave, que celle de semitismus vom 1. bis zum 20. Jahrhundert eine christ- ordinaire, — vouloir que le malheur s'acharne encore liche Schöpfung und Verantwortung ist. Statt dessen sur ce peuple, et qu'une fois de plus il soit victime d'une inique finden wir die irrige Behauptung, dass der Antisemitis- agression. »L'anti-israelisme,r* ne vaut pas mieux que 1'antist4ni- mus eine von vielen Erscheinungsformen der Intoleranz tisme.« und Unmenschlichkeit ist, die von der Kirche so offen- »Anti-israelisme« est le mot exact. On prefere dire aujourd'hui »anti-sionisme«. Il est toujours facile (l'imagination et la passion sichtlich verworfen werden. Aus der jüdischen Perspek- sont lä pour Via, il suffit de cesser de les contr6ler, et aussi de faire tive gesehen ist das eine so kränkende Verbiegung der fond sur les vains propos de quelques extremistes, qui ne manquent historischen Wahrheit, die uns im Dialog zusammen- jamais) de creer un mythe tel que ce »Sionisme« que l'on se repre- bringt, dass das ganze Unterfangen kompromittiert wird, sente comme un mouvement organise tendant ä mettre les Juifs du monde entier au service de l'Etat d'Israel, et auquel on reproche . . ehe es noch begonnen hat. »son caractere racial, sa volonte expansionniste, la confusion qu'il All diese Dinge sage ich mit Scheu und Zagen, nicht nur, entretient entre le sacre et le temporel, son interpretation materia- weil auch heute noch die Empfindlichkeit auf beiden liste de la Bible et l'utilisation des Livres Saints dans un but politi- Seiten leicht verwundbar ist und Offenheit als Böswil- que.« Dans cette enumeration fantaisiste, c'est l'accusation de theo- cratie (»confusion du sacre et du temporel«) qui apparait la plus ligkeit ausgelegt werden kann, sondern vor allem, weil ridicule, quand on sait qu'en Israel les moins bien disposes envers ich nicht möchte, dass das Holocaust zur Auslösung leur Etat sont les Juifs les plus religieux, et que d'autre part c'est christlichen Schuldgefühls ausgenutzt wird, wodurch die en Islam que l'Etat est conu comme sacral. Quant 3. »l'interpreta- Beziehungen so manipuliert würden, dass den Juden tion materialiste de la Bible«, elle consiste sans doute ä croire ce qui y est ecrit? Et lorsqu'on parle de »caractere racial«, veut-on daraus ein Vorteil erwächst. Eine solche Manipulation reduire ä la »race« la communaute morale et l'immense heritage stellt eine Entweihung des Gedächtnisses der Opfer dar historique qui font qu'il y a un peuple juif? Enfin est-ce pour l'Etat und würde die tatsächlichen Hoffnungen, die wir auf d'Israel »volonte expansionniste« que de defendre son existence den Dialog setzen, völlig zunichte machen. menacee et son droit ä etre lä.? Ich führe das Problem der christlichen Verantwortlich- Les chretiens qui se declarent anti-sionistes peuvent declarer en meme temps, en toute bonne foi, qu'ils ne sont pas antisemites, et qu'ils en keit für den Antisemitismus nur als ein — wenn auch ont du reste donne la preuve pendant l'occupation. Ils ne voient pas grosses und entscheidendes — Beispiel für jene Probleme que les mythes comme le »Sionisme« en question sont les voies par an, die den Kern unserer Diskussion bilden müssen. lesquelles Pantisemitisme penetre le plus insidieusement dans l'ima- Zumindest muss die Kirche gründlich über diese Dinge gination et le cceur des gens. La propagande anti-sioniste en travail aujourd'hui, et dont les origines politiques sont aisement discernables, nachdenken, bevor sie an den Dialog mit Juden heran- est de fair, une propagande antisemite bien orchestree. tritt. II n'est peut-etre pas inutile de citer ici quelques lignes tirees du Mystire d'Israel (pp. 245-246). »Du fait de la formation de l'Etat Der Staat Israel israelien, ecrivais-je en 1964, la condition d'Israel dans le monde est entree dans une phase entierement nouvelle. Desormais cette condition Der Staat Israel ist ein weiteres Problem. Ich gebe zu, est, si je puis dire, bipolaire: elle implique ä la fois la diaspora parmi dass viele wohlmeinende jüdische Bemühungen zur Auf- les Gentils, qui n'a pas cesse et qui est reclamee par la vocation klärung unserer christlichen Freunde sie oft eher verwirrt rneme d'Israel, — et l'unite politique du peuple israelien en tel point donne du globe, par laquelle nous voyons decidement finis les vestiges als informiert haben. Der Grund liegt zum Teil darin, du regime du ghetto, et decidement commencees les premieres assises dass die Juden selbst die Bedeutung der erneuten jüdisch- d'une realisation dans le temps de l'esperance d'Israel. Ainsi ce n'est politischen Souveränität über das Land Israel und die plus seulement la longue tension tragique entre Israel et le monde Folgen dieses wunderbaren Phänomens auf ihr Leben que le philosophe de l'histoire a desormais ä considerer. C'est aussi, au sein d'Israel lui-meme, une tension fraternelle entre l'Etat juif und ihr religiöses Empfinden noch keineswegs ausgelotet de la Terre sainte et la population juive de la Dispersion, qui rele- haben. Die Entwicklung ist noch zu neu und überwälti- vent, pour ainsi parler, de dcux centres de gravitation differents, et gend, als dass es anders sein könnte. dont les besoins, les desseins et les destinees sont distincts, mais qui Den Christen wiederum wäre wohler, wenn sie Israel als dans une mesure non moins importante demeurent cependant essen- tiellement lies et interdependants, dans l'ordre materiel et dans 9 George Higgins, Origins, N. C. Documentary Service. l'ordre spirituel« (Anmerkungen d. Red. d. FR).

6 gerungen hat, die auf den Kern der christlich-jüdischen Dokument geäusserten Wunsches, Juden so zu verste- Problematik gehen. Es handelt sich nämlich nicht nur hen, wie sie sich selbst verstehen, muss man daran be- darum, dass Juden nach Tel Aviv zurückgekehrt sind, mängeln, dass es den Katholiken nicht auseinandersetzt, sondern dass das Judentum nach Jerusalem heimgekehrt welche Rolle der Staat Israel im jüdischen Bewusstsein ist. spielt; dass man ohne diese Kenntnis die Juden von heute Ironischerweise wurde dieser theologische Zusammenhang weder verstehen noch sich sinnvoll über ihre tiefsten viel klarer von einem katholischen Papst als vom Be- Befürchtungen und Bestrebungen mit ihnen verständigen gründer des Zionismus erfasst. Als Herzl den Papst (Pius kann. X.) 1904 besuchte, sagte ihm dieser: »Wir können die Ich möchte im folgenden über einen Punkt sprechen, in Juden nicht daran hindern, dass sie nach Jerusalem dem viele meiner Kollegen nicht mit mir übereinstimmen zurückkehren, aber Wir können ihnen nie unseren Segen werden, den ich aber für ganz unumgänglich halte, wenn geben.«Ob »Wir bemühen uns gar nicht um Jerusalem, man ein so komplexes Phänomen wie Israel in der sondern um Palästina, den profanen Teil des Landes«, weltlichen Politik verstehen und damit umgehen möchte. antwortete Herzl. Er war natürlich im Unrecht und der Die Behauptung, dass die Rückkehr der Juden in ihr Papst im Recht: Die heutige Problematik für Juden und historisches Heimatland theologische Fragen aufwirft, Christen besteht nicht nur in der Rückkehr von Juden bedeutet nicht, dass der Anspruch auf weltliche jüdische nach Palästina, sondern in der unausweichlichen Sym- Souveränität in heutiger Zeit mit rein theologischen Be- bolik der jüdischen Rückkehr nach Jerusalem. gründungen und dem Hinweis auf biblische Verheissun- Entgegen der Annahme von Herzl und dem Zionismus gen Gültigkeit erhält, besonders im Hinblick auf konkur- hat die Schaffung des jüdischen Staates die jüdische rierende politische Ansprüche. Die Erkenntnis, dass das Situation nicht gelöst. Die Lage ist nicht »normalisiert« Judentum, entgegen dem Christentum, eine Glaubensge- worden, und der Staat hat das Problem der jüdischen meinschaft ist, die in einzigartiger Weise von der nationa- Isolierung nicht beseitigt (es zum Teil sogar intensiviert). len Existenz eines bestimmten Volkes abhängt, lässt sich Der Jude ist »in seinem nationalen Charakter weiterhin nicht automatisch in ein Argument für jüdisch-politische ein Objekt des Hasses, unnatürlicher Befürchtungen und Ansprüche auf Palästina umsetzen. Diese irrige Auffas- Fantasien; und er selbst hegt weiterhin die gleiche Hef- sung hat mehr schmerzliches Missverständnis zwischen tigkeit und Besessenheit.« 1° Der Grund liegt darin, dass Juden und Christen und auch unter den Juden selbst der Zionismus nicht einfach eine nationale Befreiungsbe- hervorgerufen als irgendein anderer Gesichtspunkt. wegung ist. Der Staat Israel ist nicht nur das Resultat Deshalb möchte ich hier gewisse Thesen vortragen, deren moderner nationalistischer Kräfte oder selbst der Juden- Offensichtlichkeit unter anderen Voraussetzungen tiefe verfolgung. Zwar trifft das alles zu, aber vor allem ist Verlegenheit hervorrufen könnten. der Staat die Folge eines inneren Bedürfnisses, eines 1. Die Tatsache, dass in der Bibel dem Abraham und positiven Impulses im jüdischen Leben und in der jüdi- seinen Nachkommen das Land Israel verheissen wird, ist schen Geschichte. Der Staat ist die Verwirklichung einer an sich keine absolute Garantie für heutige jüdische Suche nach Authentizität, die Inkarnation der jüdischen Ansprüche auf das Land. Wäre das die einzige Basis für Last des Andersseins. Der Jude wird von einer Kraft, die die jüdische Forderung, dann könnten Muslimen und so alt ist wie die Bibel, zur Wiedervereinigung mit dem Christen mit grosser Berechtigung erklären, man könne Land getrieben." von ihnen nicht erwarten, dass sie sich jüdisch-religiösen Die Bedeutung dieser »inneren« Wichtigkeit Israels wird Erwartungen unterwerfen, vor allem wenn diese nicht von Christen (und Juden) oft nicht verstanden. Es wäre ihren eigenen religiösen Ansichten entsprechen. Zeitge- eine wenn auch unabsichtliche Verleugnung der Integri- nössisches politisches Anrecht auf das Land Israel ergibt tät und Legitimität des Zionismus, wenn man darauf sich nicht notwendigerweise aus dem christlichen Ver- bestünde, dass er christlicher Unterstützung bedarf, weil ständnis der hebräischen Schrift noch aus einer muslimi- er das Stiefkind des christlichen Vorurteils ist. Damit schen Interpretation des Koran. Beide Religionen vertre- würde man gewissermassen auf fortdauernder christ- ten sogar mehr oder weniger eine religiöse Ablösung, die licher Bevormundung beharren. einen solchen Anspruch negiert. Die Verfolgung von Juden in der Diaspora sowohl im 2. Der jüdisch-politische Anspruch auf Israel begründet christlichen Europa wie in der moslimischen Welt (denn sich hauptsächlich auf weltliche und nicht auf theologi- in Israel leben heute mehr Flüchtlinge von arabischer sche Betrachtungen, nämlich auf die Tatsache, dass es seit als von europäischer Unterdrückung) gibt dem Staat Zerstörung des letzten jüdischen Königreichs vor beinahe Israel natürlich eine pragmatische, nicht-ideologische 2000 Jahren keine andere palästinensische Souveränität Dringlichkeit. Das sollte aber dem ideologischen Inhalt gegeben hat; ferner auf die beinahe ununterbrochene keinen Abbruch tun. Jüdisches Volksgefühl und Liebe jüdische Präsenz in Palästina seit dem ersten Exil; das zum historischen Heimatland sind von einer Vitalität, Existieren einer jüdischen Majorität in Jerusalem seit die ganz unabhängig von Verfolgung und äusserem Druck dem 19. Jahrhundert; die internationale Sanktion des ist. Im letzten muss Israel als das Resultat einer inner- Völkerbundes (der Grossbritannien das Mandat übertrug jüdischen Bestätigung und nicht der Zurückweisung von und die Bedingungen der Balfour-Deklaration bestätigte) aussen verstanden werden. und der Vereinten Nationen (die Palästina in einen Im Licht des oben Gesagten ist die Unterlassung der arabischen und einen jüdischen Staat teilten). Vatikan-Richtlinien, sich mit der theologischen Dimen- Die unverminderte Zuneigung der Juden aller Zeiten sion der jüdischen Beziehungen zum Land Israel ausein- und in den Ländern der Zerstreuung zum Land Israel ist anderzusetzen, sehr schwerwiegend. Im Kontext des im kein theologisches, sondern historisches Datum, es ist eine harte, unbestrittene »weltliche« Tatsache. Das biblische 91' Vgl. Alex Bein: Theodor Herzl. Biographie, Wien 1934, S. 672; W. P. Eckert in: Der ökumenische Aspekt der christl.-jüd. Begegnung, Versprechen und die Zentralität des Landes in der jüdi- in: FR XV/1964, S. 12 (Anm. d. Red. d. FR). schen Theologie erklären diese hartnäckige und heroische " Harold Fisch, The Meaning of Jewish Existente, in Mizpeh, I, 1, Zähigkeit, sie vermindern aber nicht die historische Rea- Jerusalem, Frühjahr 1974. a. 0. lität oder die Auswirkungen für die weltliche Politik.

7 Der biblische Bericht erhärtet auf jeden Fall das hohe Art der Trennung spricht, könnte gar nicht besser darge- Alter des jüdischen Nationalismus; es gibt kaum einen stellt werden als in der Studie der holländischen Refor- anderen Nationalismus mit so tiefen Wurzeln. mierten Kirche Israel en de Kerle (1961): »Die Auser- Ironischerweise bringen diejenigen, die die Möglichkeit wählung Israels . . . bezieht sich auf das Leben in all des jüdischen Nationalismus bestreiten, unvertretbare seinen Dimensionen, die profane und die heilige. Das und irrelevante theologische Gesichtspunkte in die Dis- auserwählte Volk ist daher eine Nation, die mit einem kussion. Dieses Phänomen vereint auf recht merkwürdige bestimmten Land und bestimmten Berufen verbunden ist, Weise die christliche Rechte und Linke. Die Opposition mit mannigfachen Freuden und Leiden, Heiraten und der christlichen Rechten ist seit langem bekannt und Geburten, Sorgen und Ängsten und einem historischen bedarf keiner Erklärung. Die Opposition der Linken ist und politischen Leben, das zutiefst einbezogen ist in die neueren Ursprungs; ihre Feindseligkeit ist eine merkwür- Weltereignisse und verwickelt in die internationale Poli- dige Mischung aus kritikloser Verherrlichung der Dritten tik seiner Zeit.« Welt und theologischem Antisemitismus, der sich aus Worauf ich hinaus will ist, dass unsere sogenannten christlichem Universalismus nährt und die Erdgebunden- »strukturellen Probleme« möglicherweise auf sehr viel heit des jüdischen Partikularismus nicht verdauen kann. ernstere Dinge hinweisen, die unserer Aufmerksamkeit Daniel Berrigan ist ein gutes Beispiel für jene Vertreter bedürfen. der christlichen Linken, die die nicht-leibhaftigen Juden In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass Ber- lieben, die leidenden Knechte, die geisterhaften Abge- nard Olsen (in seinem Buch Faith and Prejudice) zu dem sandten und Symbole einer obskuren Mission. Aber Schluss kommt, dass das »liberalste« Religionspensum Juden aus Fleisch und Blut, Menschen wie andere Men- auch das antisemitischste ist, und zwar interessanterweise schen, mit all ihren Ungelenkheiten und Besonderheiten, aus dem gleichen Grunde, der es auch antikatholisch die physischen Raum in einer realen Welt brauchen, ehe macht. Dieser Lehrplan zeichnet sich durch seine Prädis- sie irgendwelchen hohen Bestrebungen nachkommen position zum Universalismus aus, der jedem Partikularis- können, die können sie nicht ausstehen. Es bekümmert mus abhold ist und die Sondergeschichte religiöser sie, dass Juden eine Fleisch- und Blutexistenz als Volk in Gemeinschaften zurückweist. Es ist ein Liberalismus, der der realen Weltgeographie beanspruchen. 12 der Erdverbundenheit der menschlichen Geschichte, der Wie üblich tragen wir Juden Mitschuld an der Verwir- Endlichkeit aller menschlichen Erfahrung und der Be- rung der Probleme. Wir haben nicht genau genug unter- sonderheit aller persönlichen Erlebnisse abgeneigt ist. schieden zwischen religiöser Tradition und biblischen Auf der Suche nach »zeitloser Wahrheit und hoher Texten. Wir sind nicht entschlossen genug einem gewis- Spiritualität« empfindet er das Paradoxe und die Kon- sen jüdisch-religiösen Zelotentum gegenübergetreten; kretheiten der hebräischen Bibel, die es mit wirklichen ein Zelotentum, das politische Institutionen und geogra- menschlichen Wesen zu tun hat, als Beleidigung. Es ist phische Grenzen mit absoluter, religiöser Heiligkeit um- eine Haltung, die mit der biblischen Dialektik von Parti- gibt und dem normalen Hin und Her des politischen kularismus und Universalismus nicht fertig wird. Prozesses in der weltlichen Geschichte unzugänglich Wie Olsen bereits festgestellt hat, kommen sich meiner bleibt. In Anbetracht unserer eigenen Erfahrungen mit Ansicht nach Juden und Katholiken in dieser Hinsicht ideologischem und mythologischem Nationalismus im besonders nahe. Aus diesem Grunde wäre es äusserst christlichen Europa hätten wir mehr Verstand als die nützlich, die tieferen theologischen Aspekte zu prüfen, anderen haben und die Folgeerscheinungen jedes ideolo- die den »strukturellen Problemen« in den Beziehungen gischen Absolutheitsanspruches beargwöhnen sollen. zwischen der vatikanischen Kommission für religiöse Mit dem Hinweis auf dieses Problem stelle ich aber Beziehungen mit dem Judentum und dem I JCIC (Inter- keineswegs die grundsätzliche jüdische Einheit von national Jewish Committee for Interreligious Consulta- Glauben, Land und Volk in Frage. Diese Einheit bleibt tions) zugrunde liegen. das Kernstück unserer Identität und Existenz. Aber ich möchte auf die Gefahr hinweisen, die darin liegt, keinen Das Christentum im jüdischen Blickpunkt Unterschied zu machen zwischen der religiösen Bedeu- Wie bereits gesagt, brauchen die unterschiedlichen Pro- tung, die der Frage von Juden einzeln und kollektiv grammpunkte kein unüberwindliches Hindernis darzu- zugeschrieben wird (ein biblisch bedingter jüdischer Re- stellen, sofern wir wirklich bereit sind, auch die Anliegen flex) und dem Versuch, diese Dinge mit einer absoluten des anderen zu behandeln. Das gilt natürlich für beide, Heiligkeit zu umgeben, die sie aus dem Gebiet der und es fragt sich, inwieweit Juden fähig sind, sich auf die Geschichte heraushebt. Das letztere ist uncharakteristisch christliche Tagesordnung einzustellen, ohne auf die Frage für Juden und kann zu einem Chauvinismus führen, der nach der letzten Wahrheit, die uns trennt, einzugehen. die Rechte und Ansprüche anderer unbeachtet lässt. Um es Bisher haben wir alle Ansprüche aus dem Vorrecht der theologisch auszudrücken, es kann zu avodah zara, geschädigten Partei gezogen und den Dialog ausschliess- Idolatrie, ausarten. lich auf das beschränkt, was wir als die christlichen Wenngleich es nichts mit der Israelfrage zu tun hat, Mängel ansehen. Man hat uns nicht gezwungen, uns selbst möchte ich hier eine kurze Bemerkung über die Probleme und die Problematik unserer eigenen Theologie und Tra- einfügen, die durch die Beschränkung des Mandats der dition einer Prüfung zu unterziehen, jedenfalls nicht im vatikanischen Kommission für religiöse Beziehungen mit Kontext des Dialogs. dem Judentum entstanden sind, einer Beschränkung, die Christliche Nachsicht mit dieser einseitigen Position be- im Titel der Kommission selbst enthalten ist. ruht wahrscheinlich teils auf einem Schuldgefühl, teils Aus der jüdischen Perspektive her sind wir immer in auf noblesse oblige. Das kann aber nicht lange so bleiben, Gefahr, die Welt um uns in ganz getrennte Sphären zu nicht nur, weil unsere christlichen Gesprächspartner den teilen und die »geistliche« als diejenige göttlicher Betäti- Dialog kaum längere Zeit auf dieser Basis werden durch- gung abzutrennen. Was von jüdischer Seite gegen diese führen wollen, sondern vielmehr, weil es einem innerjü- dischen Bedürfnis entspricht, uns mit den Folgerungen 12 Arthur Hertzberg, »Daniel Berrigan an iSettler Regime; A Re- sponse», in: Congress Monthly, 13. 11. 1973. aus unserer Tradition auf einen sinnvollen Pluralismus

8 auseinanderzusetzen. Wir haben die Christen recht frei- Dann gibt es jene, vor allem im liberalen Lager, die auf mütig zur Rechenschaft herausgefordert, waren aber in der Notwendigkeit neuer theologischer Formulierungen der Selbstprüfung alles andere als wagemutig. bestehen, die die Legitimität und Verträglichkeit der Eine doppelte Aufgabe ist bisher rast unbeachtet geblie- beiden Bünde anerkennen, kurz, was man mit »Gleich- ben, erstens eine Untersuchung der jüdischen Haltung heitstheologie« bezeichnet. Diese letzteren können sich gegenüber einer pluralistischen Welt. Es ist erfreulich, nur schwer mit dem kirchlichen Beharren auf der Juden- dass diese Frage in den Seiten von »Tradition«, der mission abfinden. Sie empfinden die Neubestätigung der Zeitschrift des orthodoxen Rabbinerrats von Amerika, Mission in den neuen Richtlinien wie auch in anderen von einem orthodoxen Gelehrten behandelt worden ist. katholischen Dokumenten als beleidigend und den Dia- Gerald Blidstein tut in seinem Artikel die traditionelle log zerstörend. jüdische Apologetik auf diesem Gebiet als »unfruchtbar Ich bin nicht dieser Ansicht, sondern meine, dass die und verfälschend« ab. Es genügt nicht mehr, »die geistige Richtlinien zwar nicht auf die kirchliche Judenmission Offenheit des Me'ri anzuführen oder selbstzufrieden verzichten, aber doch neue Ausblicke eröffnen. Denn die darauf herumzureiten, dass man am Sabbat das Leben Voraussetzungen für ein solches Zeugnis sind bedeutsam eines Nichtjuden rettett 2a«. und stellen einen deutlichen Bruch mit der früheren In demselben Artikel fordert Blidstein, dass man die in Tradition der Kirche dar. Die Richtlinien sprechen näm- der traditionellen jüdischen Pädagogik und Folkloristik lich davon, dass »der Dialog Respekt für den anderen, so bestehenden Vorstellungen vom Christentum einer Prü- wie er ist, verlangt — Respekt vor allem für seinen fung unterwerfen muss, denn sie sind meistens noch Glauben und seine religiöse Überzeugung«. Das Zeugnis defensiv und feindselig, »trotz aller frommen Erklärun- der Kirche muss ausserdem vereinbar sein »mit äusser- gen über die B'nai Noach«. stem Respekt für religiöse Freiheit«. Schliesslich zeigen Natürlich machen die Erinnerungen an das, was Juden die Richtlinien Verständnis für die jüdische Zurückwei- durch die Kirche erlitten haben, es schwer, die eigenen sung des angebotenen Zeugnisses. Das steht in erstaun- klassischen Bestätigungen über den religiösen Wert des lichem Gegensatz zur früheren Haltung der Kirche. Bis Christentums wirklich ernst zu nehmen. Aber die Juden in unsere Zeit hinein hat sie die jüdische Weigerung, das kompromittieren ihre religiöse Integrität in keiner Weise, christliche Geheimnis anzunehmen, auf dämonologische wenn sie in Übereinstimmung mit den klässischen Vorbil- Weise erklärt; es war der Ausdruck einer heimtücki- dern anerkennen, dass gute und anständige Christen schen, böswilligen Hartnäckigkeit der Juden. Die Worte nicht trotz, sondern wegen ihres Christentums zu solchen der Richtlinien weichen in auffallender Weise davon ab, Menschen geworden sind .. . wenn sie die Katholiken ermahnen, »bestrebt zu sein, die Diese Haltung nehmen z. B. Nachman Krochmal Schwierigkeiten zu verstehen, die die jüdische Seele, (1784 - 1840) und Abraham Isaac Kook (1865 - 1935) ein. gerade weil sie von einem sehr hohen und reinen Begriff Diese Gewährsleute eint die echte und unapologetische der göttlichen Transzendenz geprägt ist, gegenüber dem Verwurzelung in klassischen jüdischen Quellen. Es ist Geheimnis des fleischgewordenen Wortes empfindet«. interessant, dass die Juden der Nachemanzipationszeit, Ich möchte hiermit zu Protokoll geben, dass ich, wie die den Primärquellen der jüdischen Tradition meist bereits gesagt, nicht mit der liberalen Ansicht und der entfremdet und ihrer eigenen jüdischen Identität unsicher jener Leute übereinstimme, die die christliche Haltung waren, viel abfälligere Ansichten über das Christentum noch immer unzulänglich finden. Nun möchte ich in ein hatten als ihre klassischen Vorgänger. Der christliche paar Worten die mehr traditionelle jüdische Ansicht Nachbar wurde für sie eine Art Beziehungspunkt, denn skizzieren, mit der ich mich selbst identifiziere. Wir durch die Feststellung, wer Christ war, wussten sie we- verwerfen die Meinung, dass.die einzig mögliche und für nigstens, was sie selbst nicht waren. Aus diesem Grund Juden akzeptable christliche Haltung die Anerkennung gibt es seit Moses Mendelssohn eine Dialektik zwischen einer »Gleichheit« von Christentum und Judentum ist, Judentum und Christentum, in der der eine negativ in schon aus dem Grunde, weil das Judentum selbst nicht bezug auf den anderen definiert wird. 13 bereit ist, dem Christentum eine solche Gleichheit zuzu- Jedenfalls bin ich der Ansicht, dass sich eine authenti- gestehen. Ich bekenne als gläubiger Jude, dass das Juden- schere jüdische Reaktion auf das Phänomen des Christen- tum die »wahrste« Religion ist, und dieses Bekenntnis ist tums vorbereitet und eindeutiger formuliert werden ein Bestandteil dessen, was mich zum gläubigen Juden wird, sobald das jüdische Volk ein ewiges Mass an Selbst- macht. Deshalb glaube ich auch nicht, dass dieses Be- vertrauen und geistlicher Haltung gewonnen hat, ein kenntnis beleidigend auf Christen wirken wird. Umge- Vorgang, der durch einen gesicherten, gedeihenden Staat kehrt darf ich mich selbst nicht von einem ähnlichen Israel sicher beschleunigt wird. Glaubensbekenntnis der Christen, Muslims oder Hindus Christliche Mission verletzt fühlen. Wenn wir erklären, dass Christen nicht auf einer solchen Beteuerung ihres Glaubens beharren Viele jüdische Kritiker fanden den Teil der Richtlinien dürfen, dann sagen wir damit, dass wir nur mit jenen von 1975, der vom »Zeugnis« handelt, besonders proble- sprechen können, die sich ihres Glaubens noch unsicherer matisch, weil die Kirche erneut ihre unumgängliche Sen- sind als wir des unseren. dung, »der Welt Jesus Christus zu predigen«, bestätigt. Unter den Juden, die den christlich-jüdischen Dialog Wenn Juden übrigens fordern, dass christliche Theologie befürworten, gibt es zwei grundsätzlich voneinander ab- die Gültigkeit des Judentums für Juden anerkennen weichende Meinungen. Der Ausgangspunkt der Tradi- muss, dann enthält das zugleich eine jüdische Legitimie- tionellen, vor allem der Orthodoxen, ist die letzliche rung der christlichen Theologie. Das Judentum stellt eine Unvereinbarkeit der beiden Glaubensgemeinschaften; die- Verleugnung des zentralen christlichen Geheimnisses und se Unvereinbarkeit schliesst aber nicht aus, dass man den der Heilsvorstellung dar; es kann nicht gleichzeitig die Status des anderen im göttlichen Heilsplan anerkennt. christliche Theologie verwerfen und verlangen, dass sie so umformuliert werde, dass sie die Legitimität des Ju- 12a Gerald Blidstein, Jews and the Ecumenical Dialogue, Tradition, dentums anerkennt. Die christliche Überzeugung, dass das Sommer 1970, p. 103-113. 13 John M. Oesterreidier : Anatomy of Contempt, Seton Hall University. Christentum die Erfüllung des Judentums ist, geht paral-

9 lel mit einer traditionellen jüdischen Auffassung, dass lische Kirche keine solche aktive Mission.) Es ist aber das Judentum — phänomenologisch, wenn auch nicht meiner Meinung nach durchaus nicht so offensichtlich, chronologisch — die Erfüllung des Christentums ist. dass aus der jüdischen Perspektive die Missionsidee als Das Judentum braucht das respektvolle Verständnis der solche unzulässig ist oder dass wir berechtigt sind, den Menschen anderer Glaubensrichtungen, und es kann von Christen das Aufgeben der Idee nahezulegen. Juden einem offenen, ehrlichen Dialog geistlich und intellek- bestehen berechtigterweise darauf, dass Christen sich tuell viel gewinnen. Das Judentum bedarf aber keiner endlich mit dem jüdischen Selbstverständnis abfinden Bestätigung seiner eigenen Glaubensverpflichtung, die müssen. Tatsache ist aber, dass die Verbreitung der christ- ihm andere auch nicht geben können, denn eine solche lichen Wahrheit zum christlichen Selbstverständnis ge- Gültigkeitserklärung kann nur von innerhalb des jüdi- hört. Wenn man diesen Aspekt verleugnet, beraubt man schen Lebens und Denkens kommen. Es ist keine Ver- den Christen seiner Identität und religiösen Aufgabe, so unglimpfung des Christentums, wenn man sagt, dass wie er sie versteht. Ich bin der Ansicht, dass es keine christliche Anerkennung des ungekündigten Sinaibun- moralischen oder religiösen Gründe gibt, auf einer sol- des in der jüdischen Theologie kein Gewicht hat. chen Forderung zu bestehen. Wir müssen zwischen einer aktiven Judenmissions- Zeugnis abzulegen ist ein legitimes religiöses Unterfan- kampagne, die den Christen zwar zusteht, aber einen gen, solange es die Gewissensfreiheit Andersgläubiger sinnvollen Dialog unmöglich macht, und der Forderung, voll respektiert und solange es frei ist von den Er- dass Christen ihre eschatologische Hoffnung auf das Ju- scheinungsformen politischer oder anderer Macht. In dentum aufgeben, unterscheiden. Das letztere ist nicht gewissem Sinne soll jeder Jude traditionsgemäss so leben, nur überflüssig, sondern theologisch unklug. Jüdische dass er »Zeugnis« gibt und Nichtjuden zur Erkenntnis Hinweise auf die besondere Verwurzelung des christ- und Bejahung des Gottes Abrahams führt. Das Prinzip lichen Glaubens im Judentum sind gleichermassen über- des christlichen oder jüdischen Zeugnisses braucht weder flüssig und unklug. Ehrliches christliches Selbstverständ- das religiöse Empfinden zu verletzten noch den Bezie- nis, das diese wesentliche Beziehung zum Judentum be- hungen eine Schranke zu setzen. Es ist mir natürlich klar, tont, kann nur aus christlicher Glaubenserfahrung er- dass man den Begriff missbrauchen kann, und in künfti- wachsen. Was von Menschen gesagt wird, die nicht aus gen Diskussionen muss es eines unserer Hauptanliegen einer solchen Glaubenserfahrung sprechen, ist völlig ir- sein, den Begriff eindeutig zu definieren und seine Gren- relevant. zen für den Dialog abzustecken. Es wäre auch nicht ausgeschlossen, dass ein Verzicht der Wenn berechtigtes christliches Selbstverständnis der Mis- Kirche auf Judenmission, d. h. eine Bestätigung der fort- sionsidee bedarf, darf man dieses Prinzip doch nicht auf dauernden Rechtmässigkeit des Sinaibundes, die Erwar- die Definition des jüdischen oder irgendeines anderen tung nach sich zieht, dass Juden den Kalvarienberg in Volkes anwenden, weil es zur Entmenschlichung und irgendeiner Weise anerkennen. Das ist ein weiterer Brutalisierung führt. Aus diesem Grunde sind wir zu der Grund für Juden, sich aus christlichen theologischen Forderung berechtigt, dass man christliche mythologische Vorgängen herauszuhalten. In dieser Hinsicht befürchte Vorstellungen aufgibt, die den Juden dämonisieren. Es ist ich weniger die Reaktion der Traditionellen als die der ganz offensichtlich, dass man das tun kann, ohne die enttäuschten Liberalen, die erwarten, dass jüdisch-christ- Missionsidee zu verleugnen. liche Spannungen durch ein Christentum gelöst werden In diesem und in verschiedenen anderen Punkten stellen können, das die Menschheit Jesu gegenüber seiner Gött- die Richtlinien" einen beträchtlichen Fortschritt ge- lichkeit betont. Ich fürchte, die Liberalen werden auf die genüber Nostra aetate, Nr. 4 dar. Trotz aller Mängel mangelnde jüdische Begeisterung selbst für den Menschen geht ganz klar aus ihnen hervor, dass die Kirche nicht Jesus in ähnlicher Weise reagieren wie die frühen Pro- auf das Verschwinden der jüdischen Gemeinschaft ab- pheten der Emanzipation, die letzten Endes empört wa- zielt, sondern eine lebendige Verbindung mit ihr anstrebt. ren über die jüdische Weigerung, sich selbst in einem Nostra aetate, Nr. 4 hielt an der universalen, bestehen- säkularen Zeitalter des untheologischen moralischen den katholischen Ansicht fest, dass die Vitalität und der Idealismus, ihrer religiösen und kulturellen Ungelenkheit religiöse Wert des Judentums in seiner vorchristlichen zu entledigen. Form zu finden seien. Wenn Gott die Juden »sehr liebt«, dann nur wegen der vorchristlichen Patriarchen. Die Wir müssen Wege zur besseren Unterscheidung finden, entscheidenden Worte der Erklärung, die sich auf das um z. B. die Entdämonologisierung des Judentums im Judentum und das jüdische Volk beziehen, sind die, dass christlichen Denken zu begrüßen, uns aber der theolo- das Kreuz Christi »die Quelle ist, aus der alle Gnaden gischen Einmischung zu enthalten. Die jüdische Forde- fliessen« (Hervorhebung durch Autor). rung, Christen mögen ihre christliche Identität so defi- Im Gegensatz dazu sind die Richtlinien das erste katho- nieren, dass es keiner Entmenschlichung der Juden be- lische Dokument von höchster Stelle, das im Judentum darf, ist völlig berechtigt. Wir haben in der Geschichte eine wertvolle, lebenskräftige religiöse Bewegung auch in einen so hohen Preis für diese Theologie zahlen müssen, der nachchristlichen Zeit sieht. Das ist wohl der bedeu- dass wir zu einer solchen Anregung »berechtigt« sind. tendste Beitrag des Dokuments, für den es vermutlich Dabei handelt es sich aber vor allem um das Verlangen, seinen Vorläufern wie etwa den amerikanischen"' und dass man uns in Ruhe lässt. Es ist etwas ganz anderes, wenn Juden es auf sich nehmen, den Christen zu erklä- französischen 15 Bischofserklärungen zu Dank verpflichtet ren, sie könnten sich nicht selbst verstehen, ohne Bezug ist. Ähnliche Empfindungen brachte auch Papst Paul VI. auf ihre »jüdischen Wurzeln« zu nehmen. Das mag stim- in seiner Ansprache an die jüdischen und katholischen men oder nicht, die Christen müssen das selbst herausfin- Delegationen im Januar 1975 zum Ausdruck. Im Verlauf den . . . dieser denkwürdigen Begegnung sprach der Papst da- Ich sagte bereits, dass aktive christliche Judenmission von, dass im Mittelalter jüdische und katholische Theolo- den ernsthaften Dialog unmöglich machen würde, und 14 Vgl. o. S. 3, Anm. 2. das ist wohl eindeutig. (Übrigens ist dieser Punkt ziem- 14 ' Vgl. FR XXVII/1975, S. 62 ff. lich theoretisch, denn soviel ich weiss, verfolgt die katho- S. FR XXV/1973, S. 14 ff. (Anm. 14a, 15 d. Red. d. FR).

1 0 gen die Entwicklung ihres religiösen Denkens gegenseitig Nüchternheit eine Revolution in der traditionellen Hal- beeinflusst haben" .. . tung darstellen. Selbst in den fortgeschrittensten Ländern Die Richtlinien fordern die Katholiken auf, sich mit dem kann man ausserdem die Gewichtigkeit eines Vatikando- Judentum in all seinen Aspekten zu beschäftigen und kuments auf der höchsten Autoritätsstufe nicht mit bi- Schluss zu machen mit der Unwissenheit, die die Feind- schöflichen Äusserungen über katholisch-jüdische Bezie- seligkeit und den Hass der Vergangenheit hervorgebracht hungen vergleichen. Es ist recht zweifelhaft, ob die ame- hat. Sie regen ein formelles Studium des Judentums rikanische und französische Erklärung auf die bischöf- innerhalb der katholischen Pädagogik an und die Errich- liche Haltung in jenen Ländern grossen Einfluss gehabt tung besonderer Lehrstühle für jüdische Studien. Ebenso hat, von der Gefolgschaft ganz zu schweigen. bedeutend ist die Stelle, in der es heisst, man dürfe das Letztlich verfehlt die ganze Debatte über die Richtlinien »Alte Testament« und die darauf gründende Tradition ihren eigentlichen Punkt. Wenn diese Richtlinien den dem Neuen Testament nicht derart gegenüberstellen, dass endgültigen Höhepunkt einer Entwicklung darstellten, das »Alte Testament« als Religion der Gerechtigkeit und wenn sie die neue kirchliche Theologie des Judentums Gesetzlichkeit, das Neue als die der Gottes- und Näch- repräsentierten, dann wären sie allerdings enttäuschend. stenliebe hingestellt wird. Die Richtlinien führen dabei Aber sie sollen ja den Prozess nicht beenden, sondern bestimmte biblische Stellen an, die die Zentralität der einleiten. Die katholische Kirche hat das Werkzeug ge- Liebe betonen. Gleichzeitig werden die Katholiken er- schaffen zur überprüfung ihres inneren Lebens in seiner mahnt, in der Auswahl liturgischer Lesungen und der gesamten Breite, in der Erziehung, in der Ausbildung der darauf basierenden Predigten Vorsicht anzuwenden, wie Priester, im Verständnis der Bibel, im Katechismus, so- auch in der übersetzung liturgischer Texte, vor allem weit diese sich auf das Verständnis des Judentums be- jener Stellen, »die jene Christen, die nicht gut unterrich- ziehen. Dieses Werkzeug gab es vorher nicht, und aus tet sind, aus Vorurteilen heraus missverstehen könnten«. diesem Grund hat die Konzilserklärung über die Juden Es bleibt natürlich eine offene Frage, ob die Kirche sich auch nicht viel hervorgebracht. erfolgreich von ihrem jüdischen Problem befreien kann. Es bleibt also die grosse Frage, ob die Kirche von diesem Aus den bereits angedeuteten Gründen möchte ich mich neuen Werkzeug guten Gebrauch machen wird. Das als Jude nicht in die Debatte einmischen, die Rosemary hängt von vielen Faktoren ab, vor allem aber von der Ruether in Faith and Fratricide angeschnitten hat. Ich Entschlossenheit und Beharrlichkeit der Kirche; denn sie hoffe, dass sie sich in ihrer Annahme irrt, »dass der muss Hindernisse überwinden, die ihr unweigerlich von Antisemitismus die linke Hand der Christologie« ist und denen in ihren eigenen Reihen in den Weg gelegt werden, dass das Neue Testament und sein Antijudaismus un- die die alten Vorurteile und Feindseligkeiten nicht so trennbar sind. Ich hoffe, sie irrt sich; wenn nicht, dann leicht aufgeben können. Der Entschluss, sich in Jerusalem ist die Lage allerdings sehr misslich. zu treffen, ist bestimmt ein gutes Omen für die Zukunft. Doch selbst wenn Ruether vom wissenschaftlichen und Ich bin sicher, dass diejenigen Kirchenvertreter und theologischen Standpunkt aus unrecht hat, steht die Kir- Theologen, die sich um eine Realisierung der in den che vor einer riesengrossen Aufgabe, denn ihr theolo- Richtlinien enthaltenen Versprechen so hingebend be- gisches Leben ist auch heute noch unauflöslich verknüpft mühen und deren nie ermüdende Bestrebungen die Kir- mit einem Volk, das Jesus zurückwies und es auch heute che in dieses neue Stadium gebracht haben, Offenheit noch tut. Und wie man sich auch dreht und wendet, die und Wertschätzung, Unterstützung und Gegenseitigkeit Evangelien bleiben eine wichtige Quelle des Antisemi- von der jüdischen Gemeinschaft, wo immer angemessen, tismus. Ich habe grenzenlose Bewunderung und Respekt finden werden. für jene katholischen Bemühungen, sowohl in den Richt- Unsere Begegnung in Jerusalem ist eine Art Wasser- linien als auch sonst, einen religiös gangbaren Weg zur scheide, zum Teil weil ein Jahrzehnt seit Vatikanum II Lösung dieses Problems zu finden. Es ist ein grosser vergangen ist, aber noch viel mehr, weil es nicht zehn, Schritt für die Kirche, ihre heiligen Schriften der Prü- sondern zweitausend Jahre der Geschichte sind, die ihren fung zu unterwerfen, wie es die Richtlinien anregen, um Höhepunkt in dem Ende einer Ära finden. Die geistige ihren antijüdischen Einfluss in den vergangenen Jahr- und moralische Haltung von Millionen von Menschen, hunderten zu entschärfen. Als ein Jude der orthodoxen die am judäo-christlichen Erbe des Westens teilhaben, ist Richtung, deren Führung immer noch keine glaubwürdige gelockert worden. Wir leben in einem historischen Inter- Lösung finden konnte für eine so einfache Frage wie das regnum, in einer Zeit vor dem Sichtbarwerden einer Gebet in der Morgenliturgie, in dem Männer danksagen, neuen Realität, deren Formen noch unklar sind. dass sie nicht als Frauen geschaffen wurden, habe ich Die Annäherung von Christen und Juden, die in Nostra Verständnis für die Schwierigkeiten, wenn es sich darum aetate, Nr. 4, den Richtlinien und auch in unserem Tref- handelt, alte Formeln zu verändern, und ich weiss um die fen hier in Jerusalem vorgezeichnet ist, ist etwas noch nie Befürchtungen, dass sich in dem Prozess auch sonst noch Dagewesenes. Es fragt sich, ob es zu spät ist, nämlich einiges lockern könnte. zweitausend Jahre zu spät? Sind dies die letzten Atem- Am wichtigsten ist wohl die »Verpflichtung, dass die züge eines sterbenden Zeitalters, das im Begriff ist, in Christen danach streben, die grundlegenden Komponen- Belanglosigkeit und historische Vergessenheit zu versin- ten der religiösen Tradition des Judentums besser zu ken beim Herannahen der neuen Zeit? Oder deutet unser verstehen, und dass sie lernen, welche Grundzüge für die Unterfangen auf diese noch nicht geformte neue Ge- gelebte religiöse Wirklichkeit der Juden nach ihrem ei- schichtsperiode hin? genen Verständnis wesentlich sind«. Diese Möglichkeit, die Zukunft gemeinsam zu beeinflus- Jene Kritiker mögen zwar im Recht sein, die behaupten, sen und zu bilden, mit jenen Werten und Empfindungen, dass in bezug auf die Vereinigten Staaten und Frankreich die in den vergangenen zweitausend Jahren wegen der die Richtlinien nicht viel Neues bieten. Diese Kritik ätzenden Feindseligkeit dieser Zeit kaum eine Chance ignoriert aber die Realität in den meisten anderen katho- hatten, diese Möglichkeit und diese Hoffnung geben nach lischen Ländern der Welt, wo die Richtlinien trotz ihrer meiner festen Überzeugung unserem Unterfangen ausser-

16 S. in FR XXVI/1974, S. 13 ff. (Anm. d. Red. d. FR). ordentliche Bedeutung und Dringlichkeit.

1 1 1B Aus einem Kommentar zum 10. Jahrestag von »Nostra aetate«, Nr. 4* Von Charles Moeller, Vizepräsident der vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum (und Sekretär des Sekretariats zur Förderung der Einheit der Christen)

Anlässlich der von den nordamerikanischen Bischöfen geförderten ten nicht so leicht aufgeben könnten . . . Ich bin sicher, dass Feier zum 10. Jahrestag von »Nostra aetate«, Nr. 4*", hielt Msgr. diejenigen Kirchenvertreter und Theologen, die sich um Charles Moeller im Theological College der Katholischen Universität von Amerika die Schlussansprache am 16. 12. 1975. eine Realisierung der in den Richtlinien enthaltenen Dem »Information Service« des »Sekretariats zur Förderung der Ein- Versprechen so hingebend bemühen und deren nie ermü- heit der Christen« entnehmen wir den folgenden abschliessenden Teil dende Bestrebungen die Kirche in dieses neue Stadium und geben ihn in Übersetzung aus dem Englischen wieder. gebracht haben, Offenheit und Wertschätzung, Unter- . Wenn Demut, Geduld und Besonnenheit zugleich stützung und Gegenseitigkeit, wo immer angemessen, von Frucht und Bedingung für einen gesunden Fortschritt des seiten der jüdischen Gemeinschaft, finden werden.« 2 jüdisch-christlichen Dialoges sind, müssen konstruktive Sehr gerne teile ich jene von Rabbi Henry Siegman in Dynamik und kühne Hoffnung noch viel mehr die seiner Zusammenfassung ausgesprochenen Meinungen, bis Kennzeichen des uns vom Herrn aufgetragenen Feld auf seine Formel, die eine noch bedingte Beurteilung unserer Tätigkeit sein. Lassen Sie mich an dieser Stelle enthält. Ich übernehme sie meinerseits und messe ihnen einen unserer vortrefflichen Partner im Internationalen den Wert einer voll ausgesprochenen Hoffnung bei und Jüdisch-Katholischen Verbindungskomitee zitieren, Rabbi sogar, mit Gottes Hilfe, eine Gewissheit. Henry Siegman, den Vizepräsidenten des »Synagogue Ich danke Ihnen, dass Sie mich eingeladen haben, an Council of America«. dieser Feier heute teilzunehmen, und ich möchte Sie In der mir gerade vor Augen gekommenen Zeitschrift bitten, mir zu erlauben, kurz bevor ich zum Schluss »Worldview«, vom Dezember [1975], stellte Rabbi Sieg- komme, eine andere, gleicherweise wichtig erscheinende man eine Studie vor über die Beziehungen zwischen Dimension zu erwähnen. An früherer Stelle sprach ich Juden und Christen, die in sich ein wichtiges Element von einer Entwicklung, die manchmal sehr gewunden darstellt in diesen Beziehungen und die meiner Ansicht scheint, obwohl wir letztlich sehen können, dass sie einen nach als ein aussergewöhnlicher Beitrag in bezug auf die geraden Weg eröffnet. Als Mitglied der römischen Kurie, Klärung der Probleme angesehen werden kann, die die eingeladen von einer Bischofskonferenz, möchte ich jetzt Entwicklung eines ernsthaften gemeinsamen Dialogs glei- noch die unvermeidliche dialektische Spannung ins Ge- chermassen für beide, Juden und Christen, stellt. dächtnis zurückrufen, die sogar hilfreich sein kann und In diesem Artikel, der sich besonders mit den vor einem die notwendigerweise bestehen muss unter den verschie- Jahr veröffentlichten Vatikanischen Richtlinienl befasst, denen hierarchischen und administrativen Ebenen der hat Rabbi Henry Siegman etwas erarbeitet, was ich als Kirche, gerade so wie sie auch unter den verschiedenen eine jüdische theologische Analyse dieses Dokuments zu kirchlichen Organisationen bestehen muss — sowohl re- bezeichnen wage und als eine brillante und genaue Aus- gional als auch national — in den verschiedenen Län- wertung der Textinhalte sowie der daraus resultierenden dern. Jede hat die Aufgabe — entsprechend ihrer Kom- hauptsächlichen Reaktionen von jüdischer Seite. Er petenz und der spezifischen Probleme — ihre eigene Art schliesst mit folgenden Folgerungen: der Teilnahme am gemeinsamen Werk zu entwickeln, »Aber sie [Die ›Richtlinien(] sollen ja den Prozess nicht besonders im Bereich der jüdisch-christlichen Bezie- beenden, sondern einleiten. Die katholische Kirche hat hungen. Welchen Wert hat eine Entscheidung, die von das Werkzeug geschaffen zur Überprüfung ihres inneren der Spitze ausgeht, wenn diese Entscheidung nicht hinun- Lebens in seiner gesamten Breite, in der Erziehung, in der ter bis zu den Wurzeln durchgezogen wird? Ebenfalls Ausbildung der Priester, im Verständnis der Bibel, im können bestimmte Entscheidungen zum Wohl der ganzen Katechismus, soweit diese sich auf das Verständnis des Gemeinschaft nicht an der Spitze gefällt werden, wenn Judentums beziehen. Dieses Werkzeug gab es vorher an einigen Orten in der Welt die verantwortlichen Autori- nicht ... Es bleibt also die grosse Frage, ob die Kirche täten diese Entscheidungen auf ihre eigene Art und Weise von diesem neuen Werkzeug guten Gebrauch machen — innerhalb vernünftiger Grenzen — nicht schon vor- wird. Das hängt von vielen Faktoren ab, vor allem aber weggenommen und sie bis zu einem gewissen Grad er- von der Entschlossenheit und Beharrlichkeit der Kirche probt haben. In dieser Perspektive möchte ich Ihnen selbst; denn sie muss Hindernisse überwinden, die ihr un- versichern, dass die Kommission für die religiösen Bezie- weigerlich von denen in ihren eigenen Reihen in den Weg hungen zum Judentum alles in ihrer Macht Stehende tun gelegt werden, die die alten Vorurteile und Feindseligkei- wird, tim auf ihrer Ebene den Bestrebungen zu entspre- " Aus: Conference of Msgr. Moeller in USA. In: »Information Ser- chen, die in diesem Lande unternommen werden und für vice« No. 30 (Vatican City), 1976/1, p. 29 f. die wir Ihnen aufrichtig dankbar sind. ->"- Vgl. FR XXVII/1975, S. 62, 3. 1 S. in FR XXVI/1974, S. 3 ff. 2 Vgl. o. S. 11.

O lass uns, Herr, des Opfers Glut empfinden, Mit unsern Toten kehrst Du strahlend wieder. Reinhold Schneider: Aus »Requiem«, Die Deines Todes Kraft geschürt auf Erden! Die Klage endet gläubig im Gebet. in: Das Gottesreich in dieser Zeit. Uns beugt die Stunde nicht vergebens nieder, Sonette und Aufsätze. Als Manuskript Dass wir in Dir die Toten wiederfinden, gedruckt. Udzialowa, Reichshof, o. J. Da Deines Reiches Macht in uns ersteht. Lass uns zur Stimme Deiner Liebe werden! [etwa 1947?].

12 2 Der jüdisch-christliche Dialog eine Herausforderung für die Theologie ? Offene Fragen und Interpretationen Von Professor Dr. Luc Dequeker, Katholieke Universiteit, Leuven

Die folgenden achtzehn Thesen wurden 1973 in Ergänzung von die Neuheit und Originalität des Christentums zu beto- »Nostra aetate« erarbeitet und in der theologischen holländischen nen, um seine Authentizität zu gewährleisten? Geht es Zeitschrift »Bijdragen«* in einem Beitrag von Professor Dr. Luc Dequeker veröffentlicht. Wir bringen die Thesen in Übersetzung mit darum, die Unterschiede zu betonen oder die gemeinsa- freundlicher Genehmigung des Verfassers und der Schriftleitung von men Elemente hervorzuheben? Welches sind die wesent- »Bijdragen«. lichen Elemente, die der christliche Glaube vom Juden- Seit dem II. Vatikanischen Konzil wird das Problem der tum übernommen hat? Die vatikanische Erklärung hat jüdisch-christlichen Beziehungen in der Katholischen eben die Tatsache, dass es solche gemeinsame Elemente Kirche auf der Ebene des Dialogs und der Katechese gibt, ins Gedächtnis zurückgerufen. 4 Lassen sich diese offiziell aufgeworfen. Das Dokument, das der Vatikan Elemente im heutigen Judentum auffinden? am 3. 1. 1975 veröffentlicht hat, Richtlinien und Hin- Das vatikanische Dokument ermutigt die theologische weise zur Durchführung der Konzilserklärung »Nostra Forschung.5 Die Aufgabe drängt. Es geht darum, das aetate«, Nr. 4, erhebt das Problem noch mehr auf die christliche Kerygma unter den heutigen Zeitumständen, Ebene theologischer Forschung.! Um zu erkennen, dass es die tief von der Erinnerung an Auschwitz und an das sich um ein Problem von Theologie und Lehre handelt, Holocaust sowie durch die Schaffung eines jüdischen das nur mit Mühe von politischen Zwistigkeiten verdeckt Staats im Heiligen Land geprägt sind, zu erneuern. wird, genügt es, sich zu erinnern an die in christlichen Manche haben vom Scheitern der christlichen Theologie Kreisen heftigen Reaktionen gegen das von der französi- in Auschwitz gesprochen. Hat man diese sowohl für die schen Bischofskonferenz zu Pessach am 16. 4. 1973 ver- christliche Welt als auch für die jüdischen Opfer trauma- öffentlichte Dokument: »Die Haltung der Christen zum tisierende Erfahrung genügend berücksichtigt? Welche Judentum: Dokumentation über die Erklärung für die Wirkung auf die katholische Theologie ist von den prote- Beziehungen zum Judentum.« 2 Man denke auch an den stantischen Theologen wie K. Barth, E. Tillich und E. langen Leidensweg, den die vatikanische Erklärung durch Bonhoeffer, die in ihre theologische Reflexion das Dra- die Büros des Vatikans hindurch zu gehen hatte. 3 ma des jüdischen Volkes und des Holocaust einbezogen Das Problem der Beziehungen zwischen Christentum und haben, ausgegangen? Was bedeutet für uns Christen die Judentum ist in eine sehr breite theologische Problematik Rückkehr des jüdischen Volks in das Land Israel? eingebettet. Es gibt da das Problem der Beziehungen Das zu Anfang des Jahres 1975 veröffentlichte vatikani- zwischen Altem und Neuem Testament. Es gibt das sche Dokument ist durch zahlreiche Publikationen in den Problem der »Kirche«: In welchem Sinn des Wortes kann Ortskirchen vorbereitet worden. 6 In Belgien hatte die man neben der Kirche ein Volk Gottes annehmen? Wie »Nationale Katholische Kommission für die Beziehungen kann man sagen, dass die Geschichte des Reiches Gottes zwischen Christen und Juden« 1973 eine Reihe von verschieden ist von der der Kirche, die sich das Neue 18 theologischen Thesen zu diesem Thema verfasst.' Für Israel nennt? Es gibt das Problem » Jesus« : Ist es wahr, 4 dass der Jesus der Geschichte ein anderer ist als der Jesus »Obwohl das Christentum im Judentum entstanden ist und von ihm gewisse wesentliche Elemente seines Glaubens und seines Kults über- der Christologie? Was bedeutet dieses neuerwachte Inter- nommen hat, ist der Graben zwischen beiden immer tiefer geworden, esse, das Jesus von jüdischen Autoren entgegengebracht so sehr, dass es auf beiden Seiten beinahe zu einem Niditmehrerken- wird? Es besteht das Problem der irdischen Werte und nen gekommen ist.« (Einleitung) das einer säkularisierten Theologie: Kann man im Zu- 5 »Man sollte die Forschung der Fachleute über die das Judentum und die jüdisch-christlichen Beziehungen betreffenden Probleme, be- sammenhang mit Gerechtigkeit in dieser Welt und mit sonders im Bereich der Exegese, der Theologie, Geschichte und Sozio- menschlicher Befreiung von messianischem Frieden re- logie anspornen« (I). den? 6 Siehe »SIDIC« (Internationaler jüdisch-christlicher Dokumentations- Es gibt auch das riesige Problem der christlichen Apolo- dienst), 3 (1970): Texte und Dokumente. [Desgl. Thesen (s. u. S.14 ff.) englischer Text in SIDIC 2 (1976), p. 24 ff.] getik: Ist es immer noch nötig, im Rahmen des Dialogs 7 Die Mitglieder des Redaktionsausschusses waren: P.-M. Bogaert, L. Dequeker, M.-H. Fournier, P. Fransen, G.-P. Passelecq, J. Rade- L. Dequeker, Le dialogue judeo-diretien un defi ä la theologie? makers, A. Schoors. Questions ouvertes et clefs d'interpretation. In: Bijdragen Tijd- Es ging darum, die Implikationen von >Nostra Aetate< Nr. 4 heraus- schrift voor Filosofie en Theologie 37 (1976), 2-35. zuarbeiten und eine korrigierte und zusammenhängende Formulierung 1 Das am 3. Januar 1975 veröffentlichte Dokument stammt von der von uralten Irrtümern, die Anlass zu tragischen Missverständnissen »Kommission für die religiösen Beziehungen mit dem Judentum« im gegeben haben, den für die christliche Lehre Verantwortlichen in einer Vatikanischen Sekretariat zur Förderung der Einheit der Christen. leicht übersichtlichen Form, im Warten auf ausführlichere Kommen- Es ist datiert vom 1. Dezember 1974. Siehe FR XXVI/1974, S. 3 ff., tare, zugänglich zu machen. S. 74. Für ein Studium des Dossiers »Die christliche Lehre und die Juden« 2 Vgl. in: FR XXV/1973, S. 14 ff. (Anm. 1 u. 2 d. Red. d. FR). lese man J. Isaac: L'enseignement du meprise, Paris 1962; F. Lovsky, 3 Der erste Entwurf, der der Plenarsitzung des Sekretariats zur För- L'antisemitisme chretien, Paris 1970, und die zwei Untersuchungen derung der Einheit der Christen nach Konsultierung von 21 katho- von P. Dimann: Die Juden in der christlichen Katechese [vgl. FR V lischen Experten aus 14 Ländern vorgelegt wurde, datiert von 1969. (Nr. 17/18), August 1952, 5.12 ff.] und von Fr. HoutartIG. Lemer- Er ist vorzeitig in den Vereinigten Staaten veröffentlicht worden. cinier (Hrsg.): Les Juifs dans la catechese. Die Juden in der Kate- (The Catholic Review, Baltimore, 12. Dezember 1969) [vgl. auch chese. Studie über die Übertragung religiöser Gesetze, Brüssel 1972 »Überlegungen und Vorschläge zur Anwendung der Konzilserklärung [vgl. in: FR XXII/1970, S. 45 ff.] (siehe besonders die Seiten über das Verhältnis der Kirche zu den Juden. (Auszüge zu einem 59-68: die theol. Theorien. 1: Eine dogmat. und apologetische Theorie. Entwurf)« in: FR XXI/1969, S. 139 ff.]. 2: Eine Theorie über die Stellung Israels in der Heilsgeschichte). Siehe

13 in der christlichen Ausbildung Verantwortlichen be- Christus auf uns gekommen sind« (Jo 1, 17). Aber diese stimmt, heben sie die heiklen Punkte hervor, die in Behauptung beinhaltet keinen Gegensatz zwischen Ge- einer neuen Formulierung unter Berücksichtigung der setz und Gnade. Gesetz und Gnade sind zwei untrenn- Gegebenheiten der biblischen Wissenschaften zu klären bare Aspekte der göttlichen Offenbarung. unumgänglich ist. Wir veröffentlichen sie hier zum ersten Jesus Christus ist gekommen, um die Botschaft vom Mal als ein Arbeitspapier, das zur Forschung einlädt.? Es ersten Bund auf einzigartige und endgültige, also norma- ist nicht unsere Absicht, eine vollständige Studie über das tive Weise zu bestätigen. Hervorgegangen aus dem jüdi- Thema vorzulegen. Unser einziges Ziel ist es, darzustel- schen Volk, hat er voll nach dem Gesetz des Moses, in len, wie das Problem sich stellt. 8 einer für gewisse jüdische Kreise charakteristischen Frei- heit gegenüber den Institutionen, gelebt. Die Beziehungen zwischen Christen und Juden — 4. Sogar der heilige Paulus hat nicht den Bruch mit 18 Thesen Israel, seinem Volk, gewollt. Er hat betont, dass »die Gaben und der Anruf Gottes unbereubar sind« (Röm Einheit der göttlichen Offenbarung 11, 25 - 29). 1. Derselbe lebendige Gott, Schöpfer und Heilsstifter Die Aussagen des heiligen Paulus über das jüdische Ge- spricht zu allen in der Bibel, sowohl im Alten als auch im setz müssen nach ihrem ursprünglichen Kontext interpre- Neuen Testament, und sein Heilshandeln betrifft alle tiert werden. Das heisst unter anderem, dass man sich Menschen. bemühen sollte, die Aussagen Pauli im Zusammenhang Das AT ist ein unveräusserlicher Bestandteil der Heili- mit den polemischen Diskussionen über praktische Fra- gen Schrift und muss als solches seinen Platz im christ- gen des religiösen Lebens ( = halacha), das heisst Diskus- lichen Leben und Denken haben. Neben der Lektüre des sionen, die schon im Judentum heftig geführt wurden, zu AT im Lichte des NT sollte man das AT auch seinem sehen. eigenen Sinn gemäss lesen und es auch dazu benützen, um Paulus liebt es, an jenen Stellen die Herrschaft und das NT zu erhellen. Knechtschaft des Gesetzes dem Dienst Christi, die toten Die Einheit der Offenbarung Gottes und die Tatsache, und erstarrten Buchstaben der Erneuerung im Geiste dass Christus gekommen ist, um im NT die Botschaft des Christi gegenüberzustellen. Er fasst jedoch eigentlich kei- AT zu bekräftigen, zeigt an, dass man das eine ohne das ne zwei aufeinanderfolgenden Heilseinrichtungen ins andere nicht lesen kann. Auge, die von Natur aus einander entgegengesetzt und 2. Die eschatologische Verheissung des Neuen Bundes voneinander verschieden wären. Für ihn gibt es nur einen ( Jer 31, 31-34) enthält das unzerstörbare göttliche Ver- einzigen Heilsplan Gottes, dessen letztes Ziel Christus ist sprechen einer Wiederherstellung der Beziehungen zwi- (Röm 10, 4). schen Volk und Gott nach dem Bruch des Bundes durch die Untreue der Menschen. Die Wiederherstellung des Paulus nimmt zunächst Stellung gegen eine legalistische Bundes bedeutet, dass er wieder in seinem ursprünglichen Haltung gegenüber der Torah ( = göttliche Lehre/gött- Glanz aufleben wird. Die Entstellung des göttlichen Ge- liche Offenbarung), wie es mit ihm manche Rabbiner setzes durch die Untreue des Menschen ist es, die die seiner Zeit taten (z. B. Pirqe Avoth). Es wäre ungerecht, Wiederherstellung in Christus notwendig macht. Es ist den Legalismus, vor dem er den Jünger Christi warnt, also ein und derselbe göttliche Bund, Ausdruck des Wil- schlechthin mit dem Judentum seiner Zeit zu identifizie- lens und der Treue Gottes, der feierlich mit Abraham ren. geschlossen, der mit dem hebräischen Volk am Sinai Dann hebt Paulus die neuen Möglichkeiten des Lebens in bestätigt und durch Christus wiederhergestellt ist. Christus hervor. Sich erneuern im Geist Christi, im Ge- setz 3. Kann man sagen, dass Jesus sich über die Autorität Christi leben, das heisst sich vom toten Buchstaben des Moses erhoben hat? Ohne die Möglichkeit einer und vom Legalismus ( = nomos) zu befreien, um in gewissen Verschiebung zwischen dem Text der Evange- Christus die Totalität der göttlichen Torah wiederzufin- lien und der Botschaft Jesu zu leugnen, kann man be- den. haupten, dass Jesus keineswegs die Absicht hatte, das Die Tatsache, dass Paulus die Gerechtigkeit des Glaubens Gesetz und die Propheten abzuschaffen, sondern sie zu den Werken des Gesetzes entgegensetzt (Röm 3, 27), erfüllen (Mt 5, 17). bedeutet bei ihm keineswegs die Abschaffung des Geset- Das Gesetz des Moses erfüllen bedeutet nach Mt 5 zu- zes (siehe Röm 3, 31). Mehr noch: Es besteht kein Wider- nächst: die allgemeinen Vorschriften des Dekalogs (Mt spruch zwischen Paulus und Jakobus, was die Werke des 5, 20-30) im konkreten Leben konkretisieren, präzisieren Gesetzes angeht, trotz ihrer verschiedenen Perspektive. und anwenden. Von daher erweist sich der Dekalog als Der heilige Paulus hebt die Tatsache hervor, dass wir durch von Christus bekräftigt. Das Gesetz des Moses erfüllen den Glauben an Christus gerechtfertigt sind und nicht bedeutet weiterhin, gewisse Interpretationen des Gesetzes durch die Werke des Gesetzes (Röm 3). Der heilige Jako- zu verwerfen, die überholten oder von der Tradition bus betont die Tatsache, dass dieser Glaube sich in Wer- schlecht ausgelegten Vorschriften zu verwerfen (Mt ken, z. B. in den Werken des Gesetzes, erweisen und zei- gen muss ( Jak 2, 14 ff.). 5, 31 - 48). Mit dem heiligen Johannes kann man sagen, dass »das Der Gedanke, dass das Opfer Christi die priesterlichen Gesetz gegeben wurde durch die Vermittlung des Mose« Opfer ersetzt und dass Christus der Hohepriester eines und dass »die Gnade und die Wahrheit durch Jesus neuen Bundes nach der Abschaffung des alten Gesetzes ist, ist dem Hebräerbrief eigen (Kap 7 u. 8), — was das NT betrifft. Es ist ratsam, diese Behauptung in ihrem auch: [Clemens Thoma: Kirche aus Juden und Heiden. Biblische In- formationen über das Verhältnis der Kirche zum Judentum. Wien- ursprünglichen historischen Kontext zu interpretieren: Freiburg—Basel 1970; W. P. Ecken I H. H. Henrix: Jesu Jude-Sein das Heimweh nach dem Kult bei den im Ausland woh- als Zugang zum Judentum. S. u. S.44, Anm. 1]. Claire Huchet Bishop, nenden Judenchristen , und der endgültige Bruch zwi- How Catholics look at Jews. Inquiries into Italien, Spanish and schen Christen und Juden nach der Zerstörung des Tem- French Teaching Materials, Paulist Press New York, 1974. pels (70), sogar nach dem zweiten jüdischen Aufstand 8 Siehe >Concilium<. Internationale Zeitschrift f. Theologie 98 (Okt. 1974): Christen und Juden (s. u. S. 17, Anm. 8). (132-135). Man sollte in den Thesen des Hebräerbriefs

14 eine theologische Rechtfertigung der Trennung zwischen dem Tod für die Sünden aller Menschen unterwor- Christentum und Judentum sehen. fen . . .« (Nostra Aetate, Nr. 4; Catechismus Conc. Tri- 5. Nach dem christlichen Glauben ist das Königreich dent. Pars I Cap. V/11). Gottes in der Person Christi offenbar geworden. Diese Tatsache darf nicht vergessen lassen, dass die Christen Die Kirche und das jüdische Volk mit den Juden die Hoffnung auf das künftige Reich 10. Die gängige Meinung, die dahin geht, die Kirche Gottes gemeinsam haben. Diese Hoffnung beseelt Han- habe die Stelle des jüdischen Volks als Heilsinstitution deln und Beten der Juden und der Christen und beson- eingenommen, beruht auf einer oberflächlichen Inter- ders ihr konkretes Mühen, Gerechtigkeit und Frieden in pretation, nach der alles Neue das Alte ersetzt: so evo- dieser Welt zu verwirklichen. ziert der Gedanke eines neuen Bunds den eines alten, der Die Christen und die Juden haben Seite an Seite die eines neuen Gottesvolks den eines alten Israel usw. Spannung zu tragen, die ihre messianische Erwartung In der Bibel bedeutet die eschatologische Verheissung scheidet zwischen dem »schon da« und dem »noch eines neuen Bundes wesentlich die endgültige und ent- nicht«, zwischen dieser Welt und der kommenden. scheidende Wiederherstellung des Bundes nach dem durch menschliche Untreue verursachten Bruch. Interpretation der die Juden betreffenden Texte des NT Nach christlichem Glauben ist diese Verheissung im Mes- 6. Die Predigt Jesu und der Apostel kann nicht vom sias Jesus verwirklicht worden. Die Kirche kann sich in Hintergrund der jüdischen sowohl palästinensischen als Wahrheit »Volk des neuen Bundes« nur in dem Masse auch hellenistischen Tradition losgelöst werden, inmitten nennen, als sie — als Leib Christi — die messianische derer sich der Glaube der ersten christlichen Gemein- Botschaft und Wirklichkeit Jesu lebt. Sie wird es erst am schaften entwickelt hat. Für das Studium des Judentums Ende der Zeiten in vollem Masse sein. zur Zeit Christi ist es notwendig, auf die jüdischen 11. Das Hauptgebot des Christentums, das der Gottes- Quellen selbst zurückzugreifen, um die authentischen und Nächstenliebe, das schon im AT erlassen und von Werte, die sie zum Ausdruck bringen, aufzudecken und Jesus Christus bekräftigt worden ist, verpflichtet Chri- um sich mit dem Klima und dem religiösen Leben, die sie sten und Juden in allen menschlichen Beziehungen aus- widerspiegeln, vertraut zu machen. nahmslos. Institutionen, seine Lebensart, mit dem Ziel, durch unan- 7. Einige die Juden betreffenden Stellen der Evangelien haben Anlass zu falschen und gefährlichen Deutungen biblische Judentum geringzuschätzen: seine Gesetze, seine schen den Gemeinschaften leben. gegeben. 12. Man sollte es vermeiden, das biblische oder nach- Wenn die Synoptiker und der heilige Johannes den kollek- gebrachte verzerrende Gegensatzpaare das Christentum tiven Ausdruck »die Juden« gebrauchen, bezeichnen sie herauszustreichen: Legalismus — Glaube; Fleisch — Geist; damit nicht alle Juden aus der Zeit Christi und noch Furcht — Liebe; Lehre — Leben; Erde — Himmel; Kult — weniger alle Juden der Geschichte. Der Ausdruck meint Handeln; institutionelle Verhärtung — prophetischer allgemein, besonders im 4. Evangelium — wie der Aus- Schwung; Verheissung — Erfüllung; . . . Es handelt sich in druck »die Welt« —, die Gegner Jesu. Dasselbe gilt für die Innern einer jeden Gemeinschaft religiöser Art und zwi- Parabeln. Der ältere Bruder des verlorenen Sohns, die Wirklichkeit um konstruktive Spannungen, die tief im verbrecherischen Winzer z. B. werden zu Unrecht mit Innern einer jeden Gemeinschaft religiöser Art und der Gesamtheit des jüdischen Volks identifiziert, wäh- zwischen den Gemeinschaften leben. rend Jesus durch den Unglauben und den Neid seiner 13. Das jüdische Volk ist wirklich der Nächste der Kir- Zeit hindurch den Unglauben, der uns alle bedroht, che und nicht ihr Rival oder eine zu assimilierende verurteilen will. Minderheit. Zudem muss das eher negative Bild der Pharisäer in den Die Nachkommen Abrahams und das christliche Volk Evangelien durch eine objektive Information, die aus der sollten in der Heilsgeschichte nicht miteinander kon- rabbinischen Literatur gewonnen werden kann, korri- kurrieren. Durch eine Dialektik von göttlicher Gnade giert werden. und menschlicher Freiheit haben Christen und Juden je Die Stellungnahmen Jesu zu den Formen ritueller Rein- eine spezifische Rolle und spornen sich gegenseitig im heit sind ein Charakteristikum seiner Botschaft. Aber Hinblick auf das Heil der Völker an (Röm 9-11). man kann daraus kein Prinzip des Gegensatzes zwischen 14. Durch den Glauben an Christus, der seinerseits tief in dem Judentum als »Religion des Ritus« und dem Chri- Israel verwurzelt ist, hat die christliche Gemeinschaft an stentum als »Religion des Geistes« ableiten. den dem Volk Gottes gegebenen Verheissungen teil. 8. Die Stellen im NT, die sich auf Bestimmung des Nach Paulus hat die Kirche der Nichtjuden Anteil an jüdischen Volkes beziehen, stehen in der Tradition der der Berufung und Sendung Israels (Röm 11,16 ff.: der Propheten Israels, indem sie die Drohung der Verwer- ungepfropfte Uibaum und das Pfropfreis; Eph 2, 19: fung mit der Verheissung einer endgültigen Wiederher- Mitbürger der Heiligen). stellung verbinden. 15. Die christliche Liturgie und ganz besonders die 9. Was das Leiden Christi betrifft, so ist es klar, dass das Eucharistie ist in Inhalt und Form durch ihre Ursprünge jüdische Volk als solches weder an der Verurteilung und eng mit der religiösen Praxis des jüdischen Volks verbun- Hinrichtung Jesu Christi noch an der Ablehnung seiner den. messianischen Sendung schuld ist. Die Christen haben von den Juden gelernt, mit den Man kann den guten Glauben der jüdischen Zeitgenossen Psalmen und Texten der Schrift zu beten und Gott für Jesu nicht ohne weiteres in Frage stellen, was ihre Treue seine Gaben zu preisen. zum Judentum und ihre Gegnerschaft zum entstehenden Sie feiern an den grossen christlichen Festen das Geden- Christentum betrifft. ken an die bedeutenden Ereignisse des Bundes. Denn Ausserdem ist von theologischem Standpunkt aus Grund Jesus Christus hat, indem er das Oster- und Pfingstfest vorhanden, die Solidarität aller Menschen in der Sünde feierte, die Kontinuität des Plans der Befreiung der zu betonen. »Christus hat sich freiwillig dem Leiden und Menschen durch den Vater offenbart.

15 Sie können im Judentum noch den Reichtum der Haus- Alle Formen von Antisemitismus, besonders der immer und Familienliturgie entdecken. latente religiöse Antisemitismus, müssen geächtet und be- 16. Da die Beziehungen zu den Juden mit dem Geheim- kämpft werden, um dem christlichen Glauben und der nis selbst der Kirche verbunden sind (Nostra Aetate, göttlichen Offenbarung treuer zu sein und um glaubwür- Nr. 4), sind alle christlichen Kirchen und Gemeinschaften dige Beziehungen zwischen Christen und Juden zu er- aufgerufen, sie zu fördern. möglichen, was eine notwendige Voraussetzung für die Die christliche Einheit kann ohne ein Zurückgehen zu den Schaffung einer menschlicheren Welt ist. Quellen nicht verwirklicht werden, was nicht nur bedeu- 18. In dem Masse, in dem das Christentum im Judentum tet, dass man Beziehungen dort wieder aufnimmt, wo sie die Wurzel seines eigenen Glaubens erkennen und das abgebrochen wurden, sondern dass man die Verwurzelung Judentum nicht mehr als eine missratene oder überholte Jesu und seiner Botschaft in der Geschichte und Tradi- Religion ansehen wird, wird das missionarische Zeugnis tion seines Volks wieder entdeckt. der Kirche nicht mehr auf die »Bekehrung der Juden« Das Judentum und also auch das heutige Judentum vom hinzielen, im geläufigen Sinn, den dieser Ausdruck hat: christlichen »Aggiornamento« auszuschliessen, hiesse den Eingliederung oder Proselytentum. jüdischen Ursprung des Christentums verkennen. Die Christen haben die Pflicht, besonders durch ihre Andererseits muss eine Annäherung an das Judentum im Taten, Zeugnis von ihrem Glauben an Jesus als den Hinblick auf ein christliches »Aggiornamento« gleichen Messias zu geben. Dieses Zeugnis muss, wenn es der Schritt halten mit einem tiefen Respekt gegenüber dem Botschaft Christi treu sein will, eine Botschaft der Liebe, eigenen und andersartigen Charakter des Judentums. der Gerechtigkeit und Achtung vor den andern sein. 17. Die Leiden, Verfolgungen und die Zerstreuung, die Besonders dem Judentum gegenüber muss das christliche die Juden erduldet haben, können nicht als ein unabän- Zeugnis bescheiden und von Achtung erfüllt sein, denn es derliches Schicksal oder, schlimmer noch, als Strafe hin- muss den gemeinsamen Elementen der jüdischen und gestellt werden. christlichen messianischen Erwartung Rechnung tragen.

3 Ökumenische Theologie und Judentum Gedanken zur Nichtexistenz, Notwendigkeit und Zukunft eines Dialogs* Von Hans Hermann Henrix, Dozent der Bischöflichen Akademie des Bistums Aachen

Der folgende Beitrag ist Teil III eines Aufsatzes, der erscheinen wird dafür gewertet werden, wie schwer noch immer das im Band »Uiturnenische Theologie. Beiträge zu einer Zwischenbilanz historische Gewicht der alten adversus- Judaeos-Tradi- aus katholischer Sicht«, herausgegeben von Peter Lengsfeld. Wir veröffentlichen diesen Beitrag mit freundlicher Genehmigung des tion in heutiger Theologie wiegt. Antijudaismus gefähr- Verfassers und des Herausgebers des oben genannten Bandes, Peter det nach wie vor die theologische Mentalität'. Davon ist Lengsfeld. der Okumeniker nicht ausgenommen. Er wird sich dieser Gefährdung bewusster, sobald er entschlossen das Juden- »Die ökumenische Bewegung wird deutlich vom tum in den Gegenstandsbereich und den Formalaspekt Geiste des Herrn getrieben. Aber wir sollen nicht seiner Arbeit einbezieht und sich engagiert am christlich- vergessen, dass es schliesslich nur eine tatsächlich jüdischen Dialog beteiligt, der noch weithin in die Vor- grosse ökumenische Frage gibt: unsere Beziehungen höfe oder Seitenhallen des etablierten Theologiebetriebes zum Judentum« (Karl Barth). verbannt ist. Vor der Aufnahme des eigentlichen Dialogs mit dem 1. Prüfung der Dialogbereitschaft* Judentum durch Vertreter der ökumenischen Theologie ist Die Tatsache, dass das Judentum im Themenkanon und diesen eine doppelte Anstrengung abverlangt. Zunächst Aufgabenkatalog ökumenischer Theologie — zumindest gilt es, eine erste solide Vorkenntnis des Judentums — im deutschen Sprachraum — bislang kaum vorkam, ist sei es über ein Studium der Judaistik 2, sei es über einen arbeitsökonomisch und wissenschaftsorganisatorisch mit- propädeutischen Dialog mit Juden — zu erlangen. Sodann begründet. Darüber hinaus muss sie aber auch als Beleg bedarf es einer eigenen Vergewisserung der tatsächlichen Dialogfähigkeit und -bereitschaft, womit mehr als ein Der ungekürzte, im oben genannten Band erscheinende Aufsatz Akt subjektiver Gewissenserforschung gemeint ist; sie hat folgendes Inhaltsverzeichnis: I Analyse. Zur Nichtexistenz eines Dialogs — 1 Ein Ruf ohne Echo: zielt auf Grundsätzlicheres. Die Forderung nach einer Theologie des Judentums — 2 Die Forde- Die Prüfung der Frage, ob christliche Theologie und ihre rung als Herausforderung ökumenischer Theologie — 3 Das herr- Teildisziplin ökumenischer Theologie zum eigentlichen schende Selbstverständnis ökumenischer Theologie hinreichender Grund zur Abweisung des Dialogs mit dem Judentum? — II Plädoyer. Dialog mit dem Judentum tatsächlich fähig und bereit Zur Notwendigkeit des Dialogs — 1 Der christologisch-inkarnations- sind, kann bei der Erinnerung an das historische Gegen- theologische Aspekt — 2 Der ekklesiologische Aspekt — 3 Der heils- ökonomische Aspekt. — III Prognose. Zur Zukunft des Dialogs — 1 Vgl. Ch. Klein, Theologie und Anti-Judaismus. Eine Studie zur 1 Prüfung der Dialogbereitschaft — 2 Gegenstand, Ziel und Problem- deutschen theologischen Literatur der Gegenwart, München 1975 stellungen einer Theologie des Judentums — 3 Mögliche Dialog- (« Abhandlungen zum christlich-jüdischen Dialog 6). erfahrungen und -themen — 4 Rückwirkungen des christlich-jüdischen 2 Eine Fülle von Literatur verarbeitet die umfassende Darstellung Dialogs auf die ökumenische Theologie. des Kölner Judaisten J. Maier, Geschichte der jüdischen Religion. Teil I und II erschienen als eine erste Fassung in: »Una Sancta« Von der Zeit Alexanders des Grossen bis zur Aufklärung mit einem (2'1976), S. 136-145. Ausblick auf das 19./20. Jahrhundert, Berlin 1972.

16 modell zum Dialog einsetzen. Als solches muss man die sen Freiheit des anderen haben jüdische Augen in den grossen Disputationen des christlich-jüdischen Religions- Aussagen die Aufrechterhaltung des Missionsanspruches gespräches im Hoch- und Spätmittelalter verstehen, be- der Kirche gegenüber Juden gelesen 7 . Der Argwohn sonders die von 1240 in Paris, von 1263 in Barcelona kann nur durch die Praxis des Dialogs in ein volles und von 1413/14 in Tortosa3. Die Gespräche waren Vertrauen überführt werden. Einen Vertrauensvorschuss christlicherseits darauf angelegt, die jüdischen Partner zu werden ökumenische Theologen ihren jüdischen Partnern belehren, zu bekehren und zu missionieren. Der jüdische vielleicht dadurch erleichtern, dass sie ihnen die Grund- Beitrag zum Gespräch blieb auf »Antwort«, d. h. auf die richtung des Interesses ihrer theologischen Disziplin ver- Beantwortung und Abwehr christlicher Fragen und An- deutlichen. Ihr Hauptaugenmerk richtet sich auf die griffe fixiert 4. Glaube und Religiosität der Juden sollten Wahrnehmung der Einheit in der Wahrheit bei vorhande- als Fossil, als versteinerter Rest einer ehemals lebendigen nem Getrenntsein. Der so pointierte Verständigungswille, und legitimen, seit Christus aber überholten Glaubensge- der zur missionarischen Absicht in Gegensatz steht, mag stalt blossgelegt werden. Ihr Vergangenheitscharakter die ökumenischen Theologen gegenüber dem Argwohn sollte von den Juden durch den Übertritt zum Christen- ihrer jüdischen Gesprächspartner entlasten. tum und die Taufe ratifiziert werden. Andererseits verschärft das Theologe-sein der Ökumeni- Gegenmodell zum Dialog waren die grossen Disputatio- ker die letzten der beiden vorhin genannten Bedingun- nen darin, dass sie nicht frei zustande kamen und nicht gen. Anerkennung der Zeitgenossenschaft und Eigenstän- ohne Verzicht auf Zwang und Gewalt verliefen, dass sie digkeit hat spezifisch theologischen Sinn. Sie besteht für einbahnig verkündigen und aus der Position des Mächti- sie in der Aufgabe, die Zeitgenossenschaft des jüdischen geren belehren wollten, dass sie dem jüdischen Partner Partners in seinem Judesein theologisch zu würdigen und Zeitgenossenschaft im Glauben verweigerten und die An- dessen religiöse Eigenständigkeit theologisch in Anschlag erkennung seiner religiösen Eigenständigkeit versagten. zu bringen. Die so für die ökumenischen Theologen Der Dialog aber — soll er den Namen verdienen — hat zur zugespitzte Bedingung zum Dialog besagt gewiss auch Grundbedingung Freiheit und Verzicht auf Zwang und »eine Öffnung und Weitung des Geistes, eine Haltung Gewalt, beiderseitige Zurücknahme von Bekehrungsab- des Misstrauens gegenüber den eigenen Vorurteilen, Takt sichten und Machtvorsprung und gegenseitige Anerken- und Behutsamkeit«, welche die Ausführungsbestimmun- nung von Zeitgenossenschaft und Eigenständigkeit. Im gen vom 3. Januar 1975 mit Recht für unentbehrlich wirksamen Ja zu diesen Bedingungen besteht die Dialog- erachten. Die theologische Anerkennung des nachbibli- fähigkeit und -bereitschaft. schen und heutigen Judentums stellt darüber hinaus einen Die Dialogbereitschaft hat ihre Reibungsflächen nicht bei Akt explizierter und konstruktiver Würdigung dar, der den Bedingungen von Freiheit und Gewaltverzicht, die innerhalb einer übergreifenden Gesamtreflexion des sich von selbst verstehen. Weiterhin fehlt ein offener Themas Israel unter biblischem, heilsgeschichtlichem und Machtvorsprung, der eigens zurückgenommen werden eschatologischem Aspekt seinen Ort hat. Das bedeutet müsste'. Die Bedingung der Rücknahme der Bekeh- nichts weniger als die Herausbildung einer christlichen rungsabsicht bedarf nach der Auffassung vieler jüdischer Theologie des Judentums, wie sie von J. J. Petuchowski, Teilnehmer am christlich-jüdischen Dialog einer eigenen N. Lohfink, R. Rendtorff, F.-W. Marquardt, M. Hellwig, Aufmerksamkeit. Oft wird der Argwohn formuliert, J. Parkes, C. A. Rijk, K. Hubry und anderen gefordert Dialog sei nur eine Variante der zweiten Hälfte des wird8. 20. Jahrhunderts von dem, was in all den Jahrhunderten In Form des Entwurfs einer christlichen Theologie des zuvor von Juden als Mission erfahren oder auch erlitten Judentums vergewissern sich die ökumenischen Theolo- wurde. Gegenüber dem Argwohn hilft die Einlassung gen also ihrer eigenen Fähigkeit und Bereitschaft zum wenig, dass die Konzilserklärung »Nostra aetate« das eigentlichen Dialog, zur Verständigung. Es kostet einige Thema der Mission ausgeklammert hat. Immerhin heisst es in deren Ausführungsbestimmungen vom 3. Januar 7 So N. P. Levinson, Dem Dialog eine Chance. Die neuen Richt- linien zur Judenerklärung aus jüdischer Sicht, in: Emuna 10 (1975) 1975: »Gemäss ihrer von Gott gegebenen Sendung soll 6-9, 8 f. die Kirche ihrem Wesen nach der Welt Jesus Christus 8 J. J. Petuchowski, Zum Geleit, in: J. Oesterreicher, Die Wieder- verkünden (>Ad Gentes<, Nr. 2). Den Juden gegenüber entdeckung des Judentums durch die Kirche, Meitingen 1971 (= Theo- soll dieses Zeugnis für Jesus Christus nicht den Anschein logie und Leben 7), 14-20, 17. Welchen Duktus eine jüdische Theologie des Christentums haben soll, skizziert Petuchowski in: Anglikaner einer Aggression erwecken; so ist den Katholiken aufge- und Juden. Leitlinien für die Zukunft, in: FR XXVII/1975, 17-20; geben, dafür Sorge zu tragen, dass sie ihren Glauben N. Lohfink, Methoden der Schriftauslegung unter besonderer Berück- leben und verkünden im konsequent durchgehaltenen sichtigung der das Judentum betreffenden Schriftstellen, in: C. Thoma (Hg.), Judentum und christlicher Glaube, Zum Dialog zwischen Chri- Respekt gegenüber der religiösen Freiheit des anderen.« 6 sten und Juden, Wien 1965, 19-41, 23; ders., Das heutige Verständnis Trotz der Betonung des Respekts gegenüber der religiö- der Schriftinspiration in der katholischen Theologie, in: W. P. Eckert / N. P. Levinson / M. Stöhr (Hg.), Antijudaismus im Neuen Testament? H. J. Schoeps, Israel und die Christenheit. Jüdisch-christliches Exegetische und systematische Beiträge, München 1967 (= Abhand- Religionsgespräch in neunzehn Jahrhunderten, München 3 1%1; W. P. lungen zum christlich-jüdischen Dialog 2), 15-26, 25 f. Ganz ähnlich Eckert, Hoch- und Spätmittelalter. Katholischer Humanismus, in: R. Rendtorff, Die neutestamentliche Wissenschaft und die Juden. Zur K. H. Rengstorf / S. von Kortzfleisch (Hg.), Kirche und Synagoge. Diskussion zwischen David Flusser und Ulrich Wilckens, EvTh 36 Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden, Darstellung mit (1976) 191-200, 198 f.; F.-W. Marquardt, Die Entdeckung des Juden- Quellen, Bd. I, Stuttgart 1968, 210-306; E. I. J. Rosenthal, Jüdische tums für die christliche Theologie. Israel im Denken Karl Barths, Mün- Antwort, in: ebda, 307-362; R. R. Geis, Geschichte des christlich- chen 1967 (-- Abhandlungen zum christlich-jüdischen Dialog 1). 13 ff., jüdischen Religionsgesprächs, in: ders., Gottes Minorität, Beiträge 29 u. ö.; M. Hellwig, Proposals Toward a Theology of Israel as a zur jüdischen Theologie und zur Geschichte der Juden in Deutschland. Religious Community with the Christian, Washington 1968; J. Parkes, Munchen 1971, 165-205. The Concept of a Chosen People in Judaism and Christianity, New 4 Dies will E. I. J. Rosenthal mit der Überschrift seines genannten York 1969 (die beiden letztgenannten Titel konnten leider nicht ein- Beitrags (s. o., Anm. 3) zum Ausdruck bringen. gesehen werden); C. A. Rijk, Quelques remarques ä propos d'une theo- Inwieweit sublime Machtkonstellationen nicht doch die christlich- logie chretienne du Judaisme, in: SIDIC 5 (1972), Heft 1, 3-18; K. jüdische Begegnung beeinflussen, ist eine offene Frage. Zum Problem Hubry, Möglichkeiten einer jüdisch-christlichen Begegnung und Ver- vgl. P. Lengsfeld, Macht als Faktor in ökumenischen Prozessen, in: ständigung. Christliche Sicht, in: Concilium 10 (1974) 610-613, der Una Sancta 28 (1973) 235-241. mit dem Wort »Begegnung« die propädeutische Dialogphase und mit dem Wort »Verständigung« die Phase des eigentlichen Dialogs meint. 6 Zitiert nach: Herder-Korrespondenz 29 (1975) 65-68, 66.

17 Anstrengung. Denn die theologiegeschichtlich wirksam verleiten, jüdisches Selbstverständnis würde zur Norm gewordene Tradition hat positiv vom Judentum nur im christlicher Theologie erhoben. Das ist jedoch keineswegs Rückgriff auf das biblische Israel oder im Vorgriff escha- angestrebt. Ein christlicher Traktat über das Judentum tologischer Perspektive und somit im überspringen des ist nicht dadurch zu schreiben, dass jüdisches Selbstver- zeitgenössischen Judentums gesprochen. Eine nicht nur ständnis von christlicher Seite bloss unterschrieben wird. negative, sondern auch und vor allem positive und kon- Jüdisches Selbstverständnis ist nicht als unmittelbare struktive Reflexion über das aktuelle Judentum ist ohne Richtschnur für christliche Theologie relevant. Dagegen theologiegeschichtliches Vorbild. Sie muss sich ihre Katego- ist es als Faktum wichtig, zu dem sich christliche Theolo- rien und Kriterien noch eigens erarbeiten 9. So wird es nicht gie würdigend und wertend zu verhalten hat. Nicht leicht sein, den vorn Cikumenismusdekret formulierten zuletzt der Umstand, dass christliche Theologie lange Grundsatz der Gleichheit der Teilnehmer >spar cum pari Zeit meinte, sich dieses Hinhören und -sehen auf jüdische agat« 10 für das christlich-jüdische Verhältnis nicht nur Eigenartikulation und das nachfolgende Sich-Verhalten moralisch und gesprächspsychologisch, sondern auch her- dazu ersparen zu können, führte zu verhängnisvollen meneutisch und theologisch in Geltung zu setzen bzw. theologischen Phantombildern. Um deren unselige Tradi- einzulösen. tion zu unterbinden, bedarf es des Eingehens auf das jüdische Selbstverständnis. Zudem hat jüdisches Selbst- 2. Gegenstand, Ziel und Problemstellungen einer Theo- verständnis theologisch-biblisch gesehen eine eigene Ka- logie des Judentums tegorialität, welche dem in der Theologie sonst gerne Eine christliche Theologie des Judentums bedenkt das gebrauchten Begriff des Selbstverständnisses abgehtli. geschichtlich greifbare, im Wechsel seiner Geschichte Ist es doch gerade in seiner Artikulation u. a. »lebendiger Kontinuität und Diskontinuität erlebende und nach sei- Kommentar zum Alten Testament« 12. Der Verweis an nem Selbstverständnis als Volk Identität wahrende Ju- das jüdische Selbstverständnis ist also theologiegeschicht- dentum, sofern es gemäss der Bibel des Alten und Neuen lich veranlasst und theologisch-biblisch begründet, ohne Testamentes Adressat des göttlichen Handelns und Part- dass mit ihm christliche Theologie ihre Eigenverantwort- ner des handelnden Gottes ist, sofern aus seiner Ge- lichkeit aufkündigt. schichte und Mitte der als menschgewordene Gott be- Die Eigenverantwortlichkeit der christlichen Theologie kannte und als Erfüllung der Zeit geglaubte Jesus Chri- des Judentums wird durch die vorgelegte Gegenstandsbe- stus hervorgeht, ohne vom grösseren Teil des jüdischen stimmung mit ihrem zuletzt genannten Punkt betont: Der Volkes als Messias und Äonenwende anerkannt zu wer- Aspekt, sofern Kirche und Judentum in ein besonderes den, sofern es auch post Christum natum in offenkundi- Verhältnis zum Judentum gesetzt sind, ist für sie leitend ger Eigenständigkeit und Lebendigkeit (bis hin zur wie- und regulativ. Darin liegt die Zielgerichtetheit einer Theo- dererlangten Staatlichkeit) existiert und sofern mit all logie des Judentums. Ihr Ziel ist die theologische Bestim- dem Kirche und Christentum in ein besonderes Verhält- mung des christlich-jüdischen Verhältnisses, die in Kon- nis zu ihm gesetzt sind. frontation mit der traditionellen Rede von Israel und Die versuchte Umschreibung des Gegenstandes einer Judentum weithin den Charakter einer theologischen Neu- Theologie des Judentums ist nicht frei von Unschärfen. begründung des christlich-jüdischen Verhältnisses haben Zum ersten haftet dem Begriff »Judentum« eine gewisse muss. Als ökumenische Bemühung markiert sie zwar das Unschärfe an. Die Umschreibung spannt den geschichtli- Geschiedensein von Kirche und Judentum, fragt aber dar- chen Bogen so weit, dass auch das Alte Israel und seine über hinaus nach der Notwendigkeit und Möglichkeit Väter eingeschlossen sind. Der eigentliche Wortsinn je- einer Verständigung und Einheit in der Wahrheit zwi- doch sperrt sich gegen ein solches Ausgreifen; er legt schen beiden. Dass die christliche Theologie des Juden- nahe, vom Judentum erst seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. tums in diesem Sinn ökumenische Tendenz hat, darauf zu sprechen, als die hauptsächlich aus dem Stamme Juda konzentriert sich der Beitrag ökumenischer Theologie abkünftige Gemeinde aus dem Babylonischen Exil nach zur theologischen Neubestimmung des christlich-jüdi- Jerusalem zurückkehrte. Die Gegenstandsbeschreibung schen Verhältnisses besonders. entschied sich aus mehreren Gründen für einen die Um die Problemgeladenheit und den Radius einer Theo- Grenzen des eigentlichen Wortsinns überschreitenden logie des Judentums anzudeuten, seien nun einige Thesen und darin unscharfen Gebrauch des Wortes Judentum. angefügt, die z. T. einige Erwägungen der ersten beiden Erstens soll die Kontinuität zwischen altem Israel, nach- Gedankengänge aufgreifen. exilischer Gemeinde und nachbiblischem Judentum von vornherein als Problemstellung einer Theologie des Ju- 1. These: dentums festgehalten werden. Zweitens ist der Assozia- Die Notwendigkeit, die Bibel als Norm einer christ- tionshof des Begriffs geeignet, Hauptgewicht und Haupt- lichen Theologie des Judentums zur Geltung zu augenmerk einer von der theologiegeschichtlichen Situa- bringen, stellt einige Methoden- und Grundlagen- tion geforderten Reflexion zu signalisieren: Wie das probleme, welche nur in Zusammenarbeit zwischen herrschende christliche Sprachbewusstsein beim Wort Ju- historischer (Exegese und Kirchengeschichte) und dentum vorrangig die nachbiblische Zeit assoziiert, so systematischer (Fundamentaltheologie und Dogma- hat die heute geforderte christliche Theologie des Juden- tik) Theologie gelöst werden kann. tums ihre grösste Mühe des Nachdenkens für das nach- Christliche Theologie generell und die des Judentums biblische, dem Christentum zeitgenössische und aktuelle besonders hat ihren Kanon, ihre Norm in der Bibel. Auf Judentum aufzuwenden. sie hat sie sich zu beziehen und sich von ihr das Mass Zum zweiten liegt im Verweis der oben gegebenen Ge- geben zu lassen. Mit diesem Mass ist ihr aber u. a. genstandsbestimmung auf das jüdische Selbstverständnis folgende Problematik gegeben: eine gewisse Unschärfe. Er könnte zu dem Eindruck

9 Vgl. F.-W. Marquardt, Die Entdeckung des Judentums (Anm. 8), 11 So mit F.-W. Marquardt (Anm. 9), 7. 15. 12 K. Barth, Kirchliche Dogmatik. Bd. IV/3, Zollikon 1959, 1005 1 ° Deereturn de Oecumenismo »Unitatis redintegratio«, Art. 9. (ähnlich ebda, Bd. 11/2, 1942, 249).

18 Die Differenz zwischen der judenkritischen Polemik des Ist dann nicht der Boden katholischer Schriftinspira- Neuen Testamentes und der historischen Realität des von tionslehre verlassen? ihm polemisch und mit theologischer Aussageabsicht dar- Die Fragen seien anhand eines längeren Zitates etwas gestellten Judentums lässt die Frage nach dem Stellen- weiter verfolgt. W. G. Kümmel hat die sieben Weherufe wert historischer Betrachtung innerhalb der Theologie über die Schriftgelehrten und Pharisäer in Mt 23 auszu- zum Methodenproblem der Theologie werden. Gewiss legen versucht. Seine Auslegung mündet in der Frage, kann die Theologie nicht auf Historie reduziert werden. »ob in der matthäischen Polemik nicht die Bereitschaft Aber kann jene gegen diese gelingen? Die Funktion aufgegeben ist, auch in den Führern des Jesus und die Kir- historischer Betrachtung innerhalb der Theologie bzw. che aufgebenden Judentums einen echten Gottesgehorsam die Zuordnung von Historie und Theologie muss im zu sehen im Sinne von Röm 10, 2: >Ich bezeuge ihnen, dass Wechsel zwischen grundsätzlicher hermeneutischer Re- sie Eifer für Gott haben, freilich nicht nach der (richti- flexion und neutestamentlicher Einzelauslegung geklärt gen) Erkenntnis< und ob hier nicht eine >Verteufelung< werden, damit theologische Sachaussagen über die Juden der Gegner vorgenommen wird (vgl. 23, 15. 32!), die aus dem Neuen Testament erhoben werden können. sich nicht nur Gottes Urteil über die Gegner anmasst, Weiterhin: Wie in der gesamten Bibel generell eine sondern auch ihr Verhalten bösartig verzeichnet (23, 28). Vielzahl von Theologien ihren Niederschlag gefunden Das bedeutet aber: Es muss die Frage gestellt werden, ob hat, so ist in ihr besonders ein Pluralismus von miteinan- diese Polemik im Rahmen des gesamten Neuen Testa- der in Spannung stehenden Aussagen über Israel und ments nicht als irrtümliche Verzeichnung der Wirklich- Judentum festzustellen. Der Pluralismus kann sogar zum keit, als Verrat an Jesu Gebot der Feindesliebe und als Gegensatz der Aussagen verschiedener Schriften oder Aufgeben des Glaubens verstanden werden muss, dass Schriftgruppen werden. Was bedeutet das aber für eine das Evangelium eine rettende Kraft für jeden Glauben- Auslegung auf dem Boden katholischer Inspirationslehre, den ist, den Juden zuerst und den Griechen (Röm 1, 16). wie sie durch das Zweite Vatikanum aufs Neue formu- Und diese Frage muss eindeutig und uneingeschränkt mit liert wurde und die vom göttlichen Ursprung sowie von Ja beantwortet werden, d. h. hier muss die theologische der Wahrheit der ganzen Bibel — d. h. aller ihrer einzel- Sachkritik vom Zentrum des Neuen Testaments her die nen Teile — und der Bibel als ganzer ausgeht 13 ? Der Angemessenheit und damit auch die den Christen ver- Glaubenssatz vom göttlichen Ursprung und von der so pflichtende Gültigkeit dieser neutestamentlichen Aussage verbürgten Wahrheit der ganzen Bibel, d. h. aller ihrer bestreiten.« 14 Hier ist eine Schrift durch eine andere Teile, verlangt zunächst eine exakte Erhebung des Sinnes kritisiert. Hier ist die Gültigkeit, der Wahrheitsanspruch der einzelnen Stellen je für sich — so etwa der johannei- der einen Schriftstelle deutlich und unbeirrt herausge- schen Kennzeichnung der Juden als Teufelssöhne (Joh stellt. Das hat Konsequenz, Klarheit und Prägnanz für 8, 37-47) wie der paulinischen Rede von der Sohnschaft sich und verdient die Sympathie. Es hat aber auch das der Israeliten (Röm 9, 4 f.). Der Glaubenssatz vom göttli- Gewicht katholischer Inspirationslehre gegen sich. Denn: chen Ursprung und von der so verbürgten Wahrheit der Hier ist ein Kanon im Kanon etabliert. Hier ist innerhalb Bibel als ganzer verlangt eine Auslegung der Schriften innerbiblischer Vielstimmigkeit ausschliessend Partei er- durch die Schriften — so etwa der Stelle Joh 8, 37-47 griffen für die eine und gegen die andere Schriftstelle — durch Röm 9, 4 f. wie auch umgekehrt. Das ist nun nicht mit Hilfe des Wortes Luthers: »urgemus Christum contra in direkt konfrontierender und kombinierender Weise scripturam.« 15 Will man theologische Kritik an bibli- möglich, sondern durch mehrere Vermittlungen vom schen Aussagen durch biblische Aussagen nicht mit die- nächsten Kontext (für Joh 8, 44: Joh 8, 36-47: für Röm sem Preis bezahlen — und es ist offensichtlich, dass man 9, 4: Röm 9, 1-5) bis zum weiteren Kontext(johanneische ihn auf dem Boden klassischer katholischer Lehre nicht Theologie bzw. paulinische Theologie). Wenn nur auf zahlen kann —, wie kann solche Kritik dann aussehen? dieser Vermittlungsebene die beiden Aussagen eben nicht Ich kann hier nur postulatorisch reden, ohne dieses vermittelt, d. h. ausgesöhnt werden können, sondern nur Postulat konkret einlösen zu können. Der »Satz« von Mt in ihrem Charakter als Satz und Gegen-Satz um so 23 ist nicht einfach durch den einzelnen »Gegen-Satz« schärfer hervortreten, wäre an das Ganze des Neuen von Röm 10, 2 zu bestreiten. »Satz« und »Gegen-Satz« Testamentes und schliesslich der ganzen Bibel zu appel- haben in das Ganze der Schrift einzurücken. Das Ganze lieren. Was aber ist das Ganze der Bibel? Wie kann es in der Schrift ist tendentiell aber erst dann angezielt, wenn der Zusammenschau auseinanderstrebender Aussagen als z. B. dieser »Satz« und sein »Gegen-Satz« aus dem appellable Instanz zur Geltung gebracht werden? Wie innerneutestamentlichen Horizont herausgeführt werden lässt sich das Ganze auf den Begriff bringen? Eine und ihr Beisammen auch alttestamentlich verifiziert ganzheitliche Schriftinterpretation ist m. E. nicht zu lei- wird. In der Rücktransposition und Rückverwandlung in sten als eine Gegenüberstellung der Einzelaussage und die hebräische Bibel, d. h. in den biblischen Grossraum, des auf den Begriff gebrachten Ganzen der Bibel. Was der Juden wie Christen gemeinsam — wenn auch auf wäre dieses Ganze? Eine ganzheitliche Schriftinterpreta- unterschiedliche Weise — als Grundurkunde ihrer Exi- tion ist m. E. nur so möglich, dass die alte Auslegungs- stenz gilt, verwandelt sich die mattäische Polemik gegen- regel, nach der Schriften durch Schriften zu interpretieren über dem anderen zur Betroffenheit eigener Selbstkritik. sind, präzisiert und spezifiert wird zur Auslegungsanwei- In solcher Auslegung wechselt die christliche Theologie sung, die Schriften durch die Schriften zu kritisieren. des Judentums von der Aussage über den anderen zur Führt das aber nicht zur Ausserkraftsetzung des Wahr- Selbstaussage — eben als christlich-jüdische Verhältnisbe- heitsanspruches der einzelnen kritisierten Schriftstelle? stimmung. So rezipiert sie biblische Aussagen über die Gegenwart, in der Juden leben, die das Gesagte zur 13 »Denn aufgrund apostolischen Glaubens gelten unserer heiligen Mutter, der Kirche, die Bücher des Alten wie des Neuen Testamentes in ihrer Ganzheit mit allen ihren Teilen als heilig und kanonisch, W. G. Kümmel, Die Weherufe über die Schriftgelehrten und weil sie, unter der Einwirkung des Heiligen Geistes geschrieben ... Pharisäer (Matthäus 23, 13-36), in: W. P. Ecken / N. P. Levinson / Gott zum Urheber haben«: Dogmatische Konstitution »Dei Verbum«, M. Stöhr (Hg.), Antijudaismus im Neuen Testament? (Anm. 8), Art. 11, zitiert nach: LThK. Das Zweite Vatikanische Konzil II, 135-147, 146 f. 545-547 (vgl. auch FR XVIII/1966, 10). Ebda, 147.

19 Kenntnis nehmenl". In ihre »Gleichzeitigkeit« mit der theologische Sachkritik zu formulieren, welche die Bibel Bibel ist die Gleichzeitigkeit mit dem heute lebenden von der Bibel her kritisiert? Wie weit ist der Spielraum, Judentum eingegangen, ohne dass dadurch das Eigenpro- den katholisches Inspirationsverständnis einer Auslegung fil christlicher Aussage verlorengehen muss. zubilligt, die für die Aufnahme der aus der Wirkungsge- Freilich ist damit das hier vorliegende Feld von Problem- schichte entstehenden Rückfragen offen ist? stellungen noch nicht hinreichend vermessen. Die Gleich- Hier wird alles andere als theologisch-abstrakt gefragt. zeitigkeit des Schriftinterpreten mit der Bibel sollte nicht Es geht um nichts Geringeres als um die Frage, ob und nur durch seine Gleichzeitigkeit mit den heute lebenden wieweit Auschwitz und das Holocaust auch die Exegese Juden affiziert sein. Vielmehr muss sie sich auch jener angehen. Die Selbstverständlichkeit, mit der von exegeti- Direktheit und Unmittelbarkeit enthalten, welche die scher Seite dieses Problem meist als nicht existierend Wirkungsgeschichte der neutestamentlichen Aussagen über behandelt wirdu, erklärt biblische Aussagen in ihren (die) Juden bzw. ihre Auslegungen ausser Acht lässt. Wirkungen und Folgen ebensowenig wie die Verurteilung Die historisch-kritische Auslegung der Texte verfährt des Neuen Testamentes, wie sie von extremster katholi- weitgehend atomistisch in dem Sinn, dass sie es bei der scher Position der in den letzten Jahren aufgekommenen Erhebung des historisch-ursprünglichen Sinnes der Holocaust- oder Endlösungstheologie vorgebracht Schriftstellen belässt, nicht mehr deren Hineinwirken in wurdelM. Eine Theologie des Judentums ist der Ort, wo die nachbiblische Geschichte von Theologie, Kirche und paradigmatisch und in grundsätzlicher Reflexion bibli- Christentum bedenkt und nicht von dorther nochmal zur sche Aussagen mit der Theologie-, Kirchen- und Chri- historisch-ursprünglichen Textaussage zurückkehrt. Histo- stentumsgeschichte konfrontiert werden bzw. umgekehrt risch kritisch wird die Exegese genannt, weil sie den histo- christliche Schuldgeschichte bis hin zur Bibel verfolgt, risch-ursprünglichen Sinn des Textes unter Berücksichti- erklärt und bewertet wird. gung von dessen Vorgeschichte, d. h. der auf den Text zu- laufenden, ihm vorhergehenden Überlieferungsgeschichte 2. These: erhebt. Die vom Text her weiterlaufende, ihm nachgehen- Die zu erarbeitende Theologie des Judentums wird de Überlieferungsgeschichte bleibt auf sich beruhen. Histo- nur im Widerspruch an die traditionelle Lehre von risch-kritisch im Vollsinn des Wortes wird die Auslegung der Verwerfung Israels und des Judentums anknüp- aber erst mit dem kritischen Hindurchgang durch die Wir- fen können. kungsgeschichte biblischer Texte in Theologie, Kirche und Es wurde im ersten Gedankengang die These vom nach- Christentum als ihrer nachgehenden Überlieferungsge- biblischen Judentum als Heilsweg entwickelt. Sie besagt schichte im weitesten Sinn. Z. Z. ist noch nicht zu sehen, den Gegensatz zur These, wonach das Judentum ein wie ein solcher kritischer Hindurchgang durch die jewei- heilloser Weg ist. Sie bestreitet damit die lange Tradition lige Wirkungsgeschichte für die Exegese methodisch gesi- der Verwerfungslehre. Der Bestreitung soll die zweite chert werden kann. Ehe es soweit ist, wird über die Theo- These etwas nachgehen. logie (und ihre Disziplinen wie Exegese, Kirchengeschichte Die Tradition der Verwerfungslehre könnte nach Klä- und fundamentaltheologische Hermeneutik) hinaus in- rung der Fragen zur Wirkungsgeschichte von ihrer ge- terdisziplinär gearbeitet werden müssen. Denn die Wir- schichtlichen Wirkung her bestritten werden. Aber z. Z. kungsgeschichte liegt nicht einfach zu Tage. Sie kann nur herrscht hier noch zu sehr die Hypothese, als dass die mit einem sehr differenzierten Instrumentarium und Argumentation mit ihr nicht belastet wäre. Auch soll die wohl auch nur sehr begrenzt aufgespürt werden. Mit der Tradition hier nun nicht von der vorhin entwickelten Gefahr, fortlaufende Kausalzusammenhänge zu kon- These vom Judentum als Heilsweg dechiffriert werden. struieren, statt geschichtsgegebene Abläufe präsent zu ma- Statt dessen soll diese These dadurch gestützt werden, chen, ist zu rechnen. dass jene Tradition daraufhin befragt wird, ob sie in der Die Wirkungsgeschichte stellt ausser dem Methodenpro- Explikation ihres nach wie vor fälligen Themas der Ver- blem möglicherweise auch ein Grundlagenproblem neu. werfung Israels das Zentrum christlicher Theologie hin- Sollten sich nämlich nach behutsamer Prüfung der Ab- reichend hat zur Sprache kommen lassen. läufe, Verweise und Verantwortlichkeiten sowohl für Dass die Tradition in ihrer Rede von der Verwerfung ganze Auslegungstraditionen wie auch für einige Aussa- Israels dieses nicht getan hat, hat F.-W. Marquardt m. E. gen des Neuen Testamentes selbst unheilvolle Wirkungs- überzeugend an der Israellehre K. Barths demonstriert. zusammenhänge als wahrscheinlich aufdrängen, entsteht Barths Reden von der Verwerfung folgte den Spuren der die Frage: Sind die Aussagen aufgrund ihrer Nachge- Tradition. Im Stile einer immanenten Barthkritik will schichte verdorben, oder lassen sie sich interpretatorisch Marquardt solches Reden aus den eingefahrenen Bahnen gegen eine solche Nachgeschichte retten? Sind sie schul- der Tradition herausführen. Er stellt seine Rückfragen an dig geworden oder haben sie ihre »Unschuld« bewahrt? Barth von dessen ständigem Bezugspunkt, nämlich der Kann es neben einer theologischen Sachkritik an bibli- Christologie her. Sie nötigen dem Theologen katholischer schen Aussagen von biblischen Aussagen her — im Sinne Tradition m. E. keine konfessionsspezifische Differenzie- einer ganzheitlichen Schriftinterpretation — auch eine rung auf. Und da sie Problemstellungen der Revision theologische Sachkritik an biblischen Aussagen von deren traditioneller Verwerfungslehre und also einer Theologie eigener Wirkungsgeschichte her geben? Ist eine theologi- sche Sachkritik gegenüber neutestamentlichen Aussagen 17 Einen Beleg für das in der Fachexegese herrschende Bewusstsein überhaupt möglich? liefert G. Klein, Erbarmen mit den Juden! Zu einer »historisch- Die letzte Frage wird auf den ersten Blick vom katholi- materialistischen« Paulusdeutung, in: EvTh 34 (1974) 201-218; vgl. schen Inspirationsverständnis her zu verneinen sein. Aber freilich auch das Gegenbeispiel von F. Mussner, Theologische »Wie- dergutmachung«. Am Beispiel der Auslegung des Galaterbriefes, in: könnte es bei näherem Zusehen nicht möglich sein, eine FR XXVE1974, 7-11. theologische Sachkritik, deren Legitimität sozusagen jen- ° So R. R. Ruether, Faith and Fratricide. The Theological Roots of seits der Grenzen der Bibel erkannt wird, als eine solche Anti-Semitism, New York 1974. Über die Versuche und Aussagen der sog. Holocaust-Theologie informieren Helga Croner und N. P. Ahnlich R. Rendtorff, Die neutestamentliche Wissenschaft und die Levinson, in: FR XXVIE1975, 20-23 sowie die Beiträge in: SIDIC 7 Juden (Anm. 8), 199. (1974), Heft 2 (»«).

20 des Judentums markieren, können sie als für den hier rung, dabei die Skylla ideologischer Verbrämung politi- vorliegenden Zusammenhang fällige Fragestellungen scher Realitäten und die Charybdis billiger Unverbind- vergegenwärtigt werden 19. Hat die traditionelle Rede lichkeit abstrakter Theologie zu meiden? von der Verwerfung Israels schon alles das bedacht, was »von Christus her, vom Werk seiner Rechtfertigung, 3. These: Heiligung und Versöhnung des Verlorenen gesagt werden Der spezifische Eigenbeitrag ökumenischer Theolo- könnte«? Hat Gott in der Auferstehung Jesu Christi gen zu einer Theologie des Judentums besteht im nicht »den Schlussstrich des jüdischen Verwerfens Christi, Entwurf von Einheitsmodellen für die Beschreibung aber damit doch auch den Schlussstrich der Verwerfung christlich-jüdischer Zusammengehörigkeit. der Juden selbst durchgestrichen< (KD 11/2, 320)«? Kann das sofortige Hinüberblicken auf das Israel der eschato- Die These ist im Hinblick auf mehrere der angestellten logischen Zeit und das »Hinwegsehen über das Christus Überlegungen formuliert. Das Ausbleiben verbindlicher verwerfende Judentum wirklich Auslegung ausgerechnet theologischer Anstrengungen zu einem Traktat über das der Auferstehung Jesu Christi von den Toten sein«? Ist Judentum sowie Disposition und Anliegen ökumenischer das nachbiblische, empirische Israel »nicht, wie Zeuge Theologie als theologischer Einzeldisziplin gaben Anlass des Todes, so auch Zeuge der Auferstehung Jesu Christi? und Grund, die Theologie des Judentums als Aufgabe Ereignen sich also an ihm nicht nur jene unübersehbaren und Projekt ökumenischer Theologen zu reklamieren. Zeichen seiner Erwählung zum Leiden, sondern ebenso Nun zeigten die skizzierten Fragestellungen die Notwen- die seiner Erwählung zum Leben? Verwirklicht sich an digkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit an. Ökumeni- Israel nicht längst wie Vergehen so auch Kommen, wie sche Theologen sind beim Entwerfen einer Theologie des Sterben so auch Auferstehung? Rettet Gott Israel nicht Judentums darauf angewiesen, Ergebnisse der Exegese, aus den Feueröfen, in denen es vergangen ist? Ergreift Kirchengeschichte und Systematik, aber auch der Juda- Israel nicht das ihm neu geschenkte Leben?« istik vorauszusetzen und deren Arbeitsweisen zu über- In den letzten Fragen steckt natürlich ein Hinweis auf nehmen bzw. in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit- das historische Faktum der Gründung des Staates Israel, zuvollziehen. Sie selbst werden in ihrer Federführung sol- der für jüdisches Selbstverständnis — mit Ausnahme ex- cher Zusammenarbeit von der Frage nach der notwendigen trem orthodoxer Gruppen — von so überragender und und möglichen Einheit zwischen Kirche und Judentum zentraler Bedeutung ist 20. Israel als Land und Staat muss geleitet. In ihrer Frage nach der Einheit liegt ihr Spezifi- bereits aufgrund der biblischen Landverheißungen 21 in kum, in den Versuchen ihrer Antwort darauf ihr spezifi- einer Theologie des Judentums thematisiert werden. Aber scher Eigenbetrag. Dieser Impetus ist nicht der neben- was sind die Kategorien und Kriterien einer angemesse- sächlichste Aspekt einer Theologie des Judentums. Im nen theologischen Würdigung? Eine lange Tradition der Gegenteil. Eine Theologie des Judentums als Bestim- Theologie hat Gottes Strafen und Verwerfen angesichts mung des Verhältnisses von Kirche und Judentum hat des Landverlustes und der Zerstreuung der Juden in aller ihren Skopos in der Bestimmung der Einheit in der Welt konkretisiert. Das Anliegen, den Gottesgedanken Verschiedenheit. In den Modellen der Einheit kann man anhand geschichtlicher Realitäten zu konkretisieren, bie- das Kompendium einer ökumenisch angelegten Theologie tet eine Anknüpfung. Aber dass die Theologie ihr Anlie- des Judentums sehen. gen an Phänomenen des Leidens und des Todes verifi- Nun meldet sich auch bei der Frage nach der Einheit die zierte, nahm ihr den Charakter der Explikation einer Belastung der Geschichte. Die Geschichte des christlich- Frohbotschaft 22. Anknüpfung im Widerspruch wäre es, jüdischen Verhältnisses hat das Anliegen der Einheit wenn die Theologie das Thema des Landes und Staa- zwischen Kirche und Judentum veruntreut. Dies geschah tes Israel als eine Chance wahrnimmt, ihr Denken nicht nur allgemein durch die faktische Entzweiungsge- Gottes, seines Erwählens und Berufens, seines Bundes schichte. Dies geschah noch einmal und pointierter, wo und Verheissens aufgrund und angesichts einer zeitlich im Namen der Gemeinsamkeit die Einheit erzwungen und räumlich angebbaren Wirklichkeit der Gegenwart werden sollte. So begründete z. B. die päpstliche Bulle zu konkretisieren 23. Gibt es methodologisch eine Siche- »Antiqua Judaeorum improbitas« vom 10. Juni 1581 mit dem Grundbestand christlich-jüdischer Glaubensgemein- 9 Vgl. zum folgenden F.-W. Marquardt, Die Entdeckung des Juden - samkeit ihre Anordnung, auch die Juden der Inquisition tums (Anm. 8), 345-360. zu unterstellen und die Rechte der Inquisition auf die 20 U. Tal, Jüdisches Selbstverständnis und das Land und der Staat Israel, in: FR XXIII/1971, 27-32 und seine umfangreiche Biblio- Juden hin auszuweiten". graphie zum Thema ebda, 163-165; R. J. Z. Werblowsky, Jewish- So haben Christen Röm 11, 25 f. in eschatologischer Ge- Christian Relations with Particular Reference to the Contribution stimmtheit gelesen und die Einheit von Kirche und Israel of the State of Israel, in: Christian News from Israel 24 (1973) 116-121; A. Neher, Die Haltung Israels gegenüber: Staat, Land und Volk (s. u. S. 56 ff.); die verschiedenen jüdischen Beiträge zum Heft Wien 1968; C. Klein, The Theological Dimensions of the State of »People — Land — Religion«, in: SIDIC 7 (1975), Heft 2. Israel, in: Journal of Ecumcnical Studies 10 (1973) 700-715; F.-W. Marquardt, Die Bedeutung der biblischen Landverheissungen C. Thoma, Der Staat Israel — eine crux theologiae, in: Bibel und für die Christen, München 1964 ThExh 116); W. P. Eckert / Kirche 29 (1974) 48-50; A. Davies, Die Haltung Israel gegenüber: N. P. Levinson / M. Stöhr (Hg.), Jüdisches Volk — gelobtes Land. Staat, Land und Volk. Ein christlicher Standpunkt, in: Concilium 10 Die biblischen Landverheissungen als Problem des jüdischen Selbst- (1974) 585-589; F.-W. Marquardt, Die Juden und ihr Land, Ham- verständnisses und der christlichen Theologie, München 1970 (= Ab- burg 1975 (= Siebenstern-Taschenbuch 189); R. Rendtorff, Israel handlungen zum christlich-jüdischen Dialog 3); F.-W. Marquardt, und sein Land. Theologische Überlegungen zu einem politischen Gottes Bundestreue und die biblischen Landverheissungen, in: Problem, München 1975 ThExh 118); die christlichen Beiträge zum W. Strolz (Hg.), Jüdische Hoffnungskraft und christlicher Glaube, Heft »People — Land — Religion« von: SIDIC 7 (1975); vor allem Freiburg 1971, 80-133. aber die Handreichung der Nederlandse Hervormde Kerk: Israel: Volk, Land en Staat. Handreiking voor een theologische bezinning, ' 2 Dagegen hat die katholische Tradition der Heiligsprechung die Grenze gewahrt und ist nicht umgeschlagen in ein Verwerfungsurteil. s'-Gravenhage 1970, übersetzt in FR XXIII/1971, 19-27. 2:3 Von den vorliegenden Arbeiten christlicher Autoren vgl. nur die " Vgl. W. P. Ecken, Katholizismus zwischen 1580 und 1848, in: entsprechenden Titel der Bibliographie von U. Tal, (Anm. 20), K. H. Rengstorff / S. von Kortzfleisch (Hg.), Kirche und Synagoge. 163-165 sowie: C. Thoma (Hg.), Auf den Trümmern des Tempels. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden. Darstellung mit Land und Bund Israels im Dialog zwischen Christen und Juden, Quellen, Bd. II, Stuttgart 1970, 222-279, 222 f.

21 dadurch herbeizwingen wollen, dass sie um so kräftiger tionelle Union, wie sie — in welcher Form auch immer — Judenmission betrieben 25. Ziel- und Endpunkt innerchristlicher Einheitsmodelle Es wäre wohl ein falsches Praxisverständnis, wollte man und zwischenkirchlicher Wiedervereinigungsbestrebun- aufgrund dieser Geschichte die Reflexionsarbeit zum gen ist. Die christlich-jüdische Schranke der Verschieden- Thema der Einheit von Kirche und Judentum so lange heit fällt vor dieser Art, Form und Gestalt von Einheit. suspendieren, bis eine erneuerte Praxis christlich-jüdi- Zwischen dem Sein von Kirche und dem Sein von Juden- scher Einheit das moralische Recht dafür erworben hat. tum besteht eine Asymmetrie. Das Judentum ist mehr als Damit die Entzweiungsgeschichte immer deutlicher der Synagoge und Religion; und der Kirche fehlt die dem Solidaritätsgeschichte Platz macht, bedarf es der theore- Judentum eigene ethnische Dimension. Diese Asymme- tisch-theologischen Bemühung, die Solidarität und Ein- trie lässt ein organisatorisches, in Institutionen und deren heit auf den Begriff zu bringen. In diesem Bewusstsein Lebensvollzügen zum Ausdruck kommendes Zusammen- entwickelte der zweite Gedankengang aus der Sicht sein von Kirche und Judentum als undenkbar erscheinen. christlicher Theologie einen christologischen, einen ek- Sehr wohl denkbar und bereits Praxis ist, dass die christ- klesiologischen und einen heilsökonomischen Aspekt lich-jüdische Einheit im Glauben, Tun und Erfahren christlicher Verwiesenheit auf das Judentum. Die Aspek- auch in institutionalisierten Formen 'wie Räten, Gesell- te stellen Elemente des christlichen Begriffs der Einheit schaften, Büros und Kommissionen, aber auch wie Gebet von Kirche und Judentum dar. Sie bereiteten im obigen und Gottesdienst ihren Ausdruck findet. Eine christliche Gedankengang die Beschreibung der Einheit durch den Theologie des Judentums wird sich zur Art, zum Umfang Begriff des »einen Volkes Gottes in der Zweigestalt von und zur Darstellungsmöglichkeit der Einheit von Kirche Israel und Kirche« vor. und Judentum erklären müssen. Dass die Aufgabe von Alternativen zu diesem Einheitsbegriff lassen sich z. B. christlichen Theologen noch kaum angegangen ist, sollte durch kritische Aufnahme jüdischer Einheitsformulie- mit der zufälligen und gleichzeitig bewussten Auswahl rungen erarbeiten. Am bekanntesten ist F. Rosenzweigs jüdischer Einheitsbeschreibungen demonstriert werden. Bild vom doppelten Kommen zu dem einen Vater 26. Seit vielen Jahren verficht H. L. Goldschmidt die These von 3. Mögliche Dialogerfahrungen und -themen einer »heilsgeschichtlichen Arbeitsteilung zwischen Ju- Der Entwurf einer christlichen Theologie des Judentums dentum und Christentum«. Repräsentativer für jüdisches stellt die theologisch angemessene Form dar, in der sich Denken und Empfinden ist die Meinung J. J. Petuchows- ökumenische Theologen ihrer Bereitschaft zum eigentli- kis, dass » Judentum und Christentum zusammen eine chen Dialog vergewissern. Er bildet den Zwischenschritt Minderheit darstellen — eine belagerte Minderheit«, was zwischen dem propädeutischen Dialog und dem eigent- die beiden auf ihre gemeinsamen Wurzeln und ihr ge- lichen Dialog. Die Folge, der Dreierschritt: Propädeuti- meinsames Schicksal zurückwirft 27. scher Dialog (oder Begegnung) — Entwurf einer Theolo- In den zitierten Auffassungen ist die christlich-jüdische gie des Judentums (oder Selbstvergewisserung) — eigentli- Einheit in je verschiedener Nuancierung beschrieben. cher Dialog (oder Verständigung) ist sachlich gemeint. Rosenzweig blickt auf eine Einheit im Ziel (der eine Zeitlich, im konkreten Vollzug gehen die einzelnen Vater). Sie ist nicht erst zu schaffen, sie ist präsent, wenn Schritte ineinander über. Freilich enthält der Wechsel im auch verborgen unter der Verschiedenheit des christlichen Vollzug etwa von der Phase der Selbstvergewisserung Kommens-zu-ihm und des jüdischen Seins-bei-ihm. Sie ist zur Phase der Verständigung mit einer Rückkehr zur Einheit im Indikativ. Einheit im Imperativ klingt bei neuerlichen Selbstvergewisserung sachliche Logik: Die H. L. Goldschmidt an. Heilsgeschichtliche Arbeitsteilung christliche Theologie ist ein Entwurf mit offenen Sät- fordert die Verifizierung der Einheit: »Zusammenarbeit zen. Die Offenheit der Sätze einer Theologie des Juden- auf das für das Judentum wie für das Christentum in tums dispensiert nicht vom Wahrheitsanspruch christ- seiner Vollendung noch ausstehende Reich Gottes hin.« 28 licher Botschaft und ihrer Explikation oder von der Die zitierte Einheitsbeschreibung Petuchowskis meint Eigenverantwortlichkeit christlicher Theologie. Die Of- eine aufgedrängte Einheit. Sie ist theologisch bescheide- fenheit der Sätze einer Theologie des Judentums spie- ner und zielt auf die Einheit in der kultur- und geistesge- gelt die Erwartung, welche christliche Theologen dem schichtlichen Situation, die erfahren wird. Vorgegebene Dialog der Verständigung mit dem Judentum gegen- oder geforderte oder aufgedrängte Einheit — anders: über hegen: Das Ziel des theologischen Dialogs ist der Einheit im Glaubensziel oder im Tun oder im Erfahren: »christlich-jüdische Gedanken- und Solidaritätsfort- so könnten die Kurzformeln für die je anders nuancierten schritt«; es geht um »den Glauben beider Teile auf den Kennzeichnungen der Einheit lauten. Nicht zufällig fehlt grösstmöglichen Konsens hin« 29. Die voranschreitende An- in diesen Beispielen, welche hier das mögliche Spektrum näherung an dieses Ziel wirkt zurück auf die je eigene einander ergänzender Einheitsvorstellungen widerspie- Wahrheitserkenntnis der Dialogpartner. Der Dialog geln sollen, der Hinweis auf eine organische und institu- bringt in der Verständigung mit dem anderen auch ein Mehr für den eigenen Glauben und dessen Explikation, 25 Vgl. z. B. M. Schmidt, Judentum und Christentum im Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts, in: K. H. Rengstorff / S. von Kortz- im christlich-jüdischen Solidaritätsfortschritt auch einen fleisch (Anm. 24), 87-128. Fortschritt in der Erkenntnis der eigenen Wahrheit. Das 26 F. Rosenzweig schreibt in seinem Brief vom 1. 11. 1913 an R. Eh- Mehr an Wahrheitserkenntnis, der Fortschritt in der renberg u. a.: »Was Christus und seine Kirche in der Welt bedeuten, darüber sind wir einig: es kommt niemand zum Vater denn durch eigenen Identität wird einfliessen in die Fortschreibung ihn. Es kommt niemand zum Vater — anders aber, wenn einer nicht der Theologie des Judentums und ihrer offenen Sätze. mehr zum Vater zu kommen braucht, weil er schon bei ihm ist. Und Und die Fortschreibung wird zurückführen in die weite- dies ist nun der Fall des Volkes Israel (nicht des einzelnen Juden)«; re theologische Verständigungsarbeit. zitiert nach: ders., Die Schrift. Aufsätze, Übertragungen und Briefe, Frankfurt o. J., 217. Der Unterschied des oben entwickelten Verständ- Die formulierten Erwartungen und Hoffnungen müssen nisses vom Judentum als Heilsweg zur Sicht Rosenzweigs geht aus den auf beiden Seiten gegenüber Hindernissen, Rückschlägen Erwägungen zur These der Revision traditioneller Verwerfungslehre (siehe oben S. 24 f.) hervor. 29 C. Thoma, Einführung in: J. Pfammatter / F. Furger (Hg.), Juden- 27 Petuchowski, Anglikaner und Juden (Anm. 8), 20. tum und Kirche: Volk Gottes, Zürich 1974, 13-25, 25, sowie C. F. 2 ' H. L. Goldschmidt, Weil wir Brüder sind, Stuttgart o. J. (1975), 18. Pauwels, nach: FR XI/1958, Nr. 41/44, S. 57.

11 und Enttäuschungen des Dialogs durchgehalten werden. dem religiös-theologischen Gehalt all der Rede seines Ein gewisser Teil von Hindernissen entsteht fast zwangs- Gesprächspartners von Geschichte, Politik und Welt. läufig aus der vielfältigen Asymmetrie im christlich-jüdi- Auch wenn diese Problematik sowohl im innerjüdischen schen Beziehungsgeflecht. Theologische und aussertheo- wie im innerchristlichen Streit formal gleich auftauchen logische Motive und Gegebenheiten wirken aufeinander kann, so prägt sie doch in besonderer Weise die Schwie- ein. Ihre wechselseitige Verflechtung muss eigens beachtet rigkeit christlich-jüdischen Dialogs, dieselbe Artikula- werden; sie sei mit einigen Hinweisen zur christlich- tionsebene zu finden. jüdischen Asymmetrie vergegenwärtigt. Schliesslich besteht eine Asymmetrie in der Definition Am augenfälligsten ist die Asymmetrie der Zahl. Der der eigenen Identität: »Das Christentum wird, ob Chri- Zahl der Angehörigen des Judentums steht das Vielfache sten es wollen oder nicht, notwendigerweise stets auf das an Mitgliedern der christlichen Kirchen gegenüber. Die- Judentum verwiesen. Aus dem, was Christen >Altes Te- ser Tatbestand hat das jüdische Minoritätenschicksal be- stament< nennen, spricht zu ihnen Religion, Kultur und dingt und sich im sozialpsychologischen Klima, in der Geschichte des Volkes Israel; aus dem >Neuen Testament< kulturgeschichtlichen Entwicklung und in der religiösen tritt ihnen eine durch Johannes den Täufer und Jesus Milieubildung des Judentums niedergeschlagen. Der ju- von Nazaret repräsentierte jüdische Gruppe entgegen .. . denmordende Wahn des Nationalsozialismus hat die Anders ist es nun mit den Juden. Nichts nötigt sie, von Asymmetrie der Zahl vergrössert. Der Umstand, dass im Jesus und den Evangelien Kenntnis zu nehmen; die deutschen Sprachraum die jüdischen Bürger eine sehr Fortsetzung des >Alten Testaments< erfolgte nicht im kleine Minderheit mit einem grossen Problemreichtum 3° >Neuen<, sondern das Judentum besitzt eine ungemein bilden und dass auf örtlicher Ebene weithin die jüdischen reiche Tradition, die sich organisch an das Alte Testa- Gesprächspartner fehlen, verhindert die christlich-jüdi- ment anschliesst, es erläutert und ergänzt, seine Gedan- sche Begegnung auf dieser Ebene oder vermindert die ken aufnimmt und entwickelt. So besteht hier eine grund- Gelegenheit dazu in beträchtlichem Mass. Er hemmt sätzlich andere Situation zwischen Christen und Juden: auch den fachtheologischen Dialog zwischen Christen Wollen jene die Religion des Volkes Israel ignorieren, und Juden in Deutschland. schneiden sie sich selbst die Wurzeln ab, von denen sie Vielleicht kann man weiterhin von einer Asymmetrie des theologisch leben; der Jude hingegen kann ein vollgülti- moralischen Ausgangspunktes reden. Der christliche ges Leben führen, ohne je etwas von Jesus und dem Partner im Dialog sieht sich oft angesichts der langen Evangelium gehört zu haben.« 33 Dementsprechend un- Geschichte und der Gegenwart des christlichen Antiju- terscheiden sich die Motive zum christlich-jüdischen Dia- daismus in der Defensive der Argumentation. Er wird log: Der Christ ist aus theologischen Gründen zum Dia- das als sein persönliches Einstehen für die Kirche und log herausgefordert. Der Jude sieht im Christentum ein ihre Geschichte, welche auch zu seiner eigenen Geschich- Kulturphänomen der Geschichte und seiner Umwelt, die te gehört, akzeptieren müssen. Der jüdische Partner des er verstehen will; es sind also historische oder soziologi- Dialogs kann versucht sein, die jüdische Leidensgeschich- sche Gründe, die ihm den Dialog mit dem Christentum te a priori als einen Vorsprung in seiner Argumentation nahelegen"; und fallen soziologische Anreize zum Dia- zu betrachten. Wie sollte er nicht versucht sein? Aus der log aus, so kann eine faktische Immunität gegen den Versuchung kann eine Verzerrung der Wahrnehmungund christlich-jüdischen Dialog entstehen, wie es etwa bei Aufmerksamkeit erwachsen, wodurch Fragen, die sowohl weiten Teilen der Orthodoxie in Israel der Fall ist 35. christliches wie jüdisches Verständnis herausfordern, le- Die zwischen Kirche und Judentum vielfältig herrschen- diglich als christliche Betroffenheiten erkannt werden. de Asymmetrie warnt vor dem Trugschluss, eine christ- Und der christliche Partner kann versucht sein, dies als lich-jüdische Verständigung sei leicht zu haben. Die Ver- Aufkündigung der Verständigungsabsicht misszuverste- ständigungsmöglichkeiten müssen nüchtern eingeschätzt hen. Dadurch kann christlich-jüdische Begegnung in »Ver- werden. So wird der Dialog vor Rückschlägen und Ent- gegnung« (M. Buber) umschlagen und die Verständigung täuschungen aufgrund falscher Erwartungen bewahrt. zunichte gemacht werden. Die Asymmetrie der Struktur, des Seins von Kirche und Nüchternheit gehört zu den arbeitspsychologischen Vor- Judentum, wurde bereits erwähnt. Das Judentum ist mehr aussetzungen für eine ergiebige Erörterung der Themen als Synagoge und Religion. Und der Kirche fehlt die dem des christlich-jüdischen Dialogs. Judentum wesenseigene ethnische Dimension. Dement- E. L. Ehrlich, Eine jüdische Auffassung von Jesus, in: W. P. sprechend definiert der Christ sich in religiös-theologi- Ecken / H. H. Henrix (Hg.), Jesu Jude-Sein als Zugang zum scher Begrifflichkeit, der Jude demgegenüber stärker als Judentum. Eine Handreichung für Religionsunterricht und Erwach- senenbildung, Aachen 1976 (= Aachener Beiträge zu Pastoral- und Glied eines Volkes". Das schafft eine latente Fragekon- Bildungsfragen 6), 35-49, 35 f. stellation, die im Dialog schnell aufbrechen kann: Der 34 Ahnlich S. Talmon, Der interkonfessionelle Dialog in Israel. Rück- jüdische Partner fordert das Konkretum christlicher Ab- blick und Ausblick, in: FR XXVI/1974, 140-146, 142: »Ihr (der jüdischen Teilnehmer) Beweggrund zur Teilnahme am Dialog ent- straktheit ein 32 ; und der christliche Partner fragt nach springt mehr ... einem historisch-kulturellen Bewusstsein als dem 30 Vgl. nur H. Maor, Jüdisch-deutsche Transmigration, in: Emuna 5 ihrer religiösen Überzeugung.« Insofern ist die theologisch artiku- (1970) 3-9. lierte Position, wie sie der der orthodoxen Richtung des Judentums an- 35 Die Aussage ist als eine tendenzielle zu verstehen. Das Problem gehörende New Yorker Philosoph M. Wyschogrod in seinem Beitrag: jüdischer Selbstdefinition ist spannungsgeladen; vgl. nur: A. A. Co- Warum war und ist Karl Barths Theologie für einen jüdischen hen, Der natürliche und der übernatürliche Jude, Freiburg 1966; Theologen von Interesse?, in: EvTh 34 (1974) 222-236 vorlegt, G. Scholem, Israel und die Diaspora, in: ders., Judaica II, Frank- singulär. furt 1970 (= Bibliothek Suhrkamp 263), 55-76; R. J. Z. Werblowsky, 35 Während der Jerusalem-Konferenz des International Council of Eine Nation geboren aus der Religion, in: Emuna 5 (1970) 117-121 Christians and Jews vom 20. bis 30. 6. 1976, bei der mehr als 100 jü- oder S. Sandmel, Welcher Jude ist ein guter Jude?, in: Concilium 10 dische und christliche Delegierte aus 15 Ländern das Thema »Israel: (1974) 572-575. Significance and realities« behandelten, waren zwei verbindliche Ge- 32 Diese Fragerichtung führte jüdischerseits u. a. zu der These, dass sprächstermine mit einer als repräsentativ geltenden Gruppe des die Konzilsaussagen zu gesellschaftlichen und sozialen Fragen für das orthodoxen Judentums (Angehörige und Freunde des Abraham J. Judentum wichtiger seien als die Konzilserklärung »Nostra aetate«, Heschel Institute) vereinbart. Beide Termine wurden kurzfristig von vgl. U. Tal, Zur neuen Einstellung der Kirche zum Judentum, in: der Gruppe abgesagt. Dieser Vorfall demonstrierte die Sprödigkeit FR XXIV/1972, 150-157. der Orthodoxie gegenüber dem christlich-jüdischen Dialog.

23 Welche theologischen Themen haben eine gewisse Dring- gesehen wird man christlicherseits das Gesamt theologi- lichkeit? Folgt man der hier gezeichneten Perspektive, so scher Sachdiskussion als Themenfeld christlich-jüdischer rücken christlicherseits besonders zwei Fragen- und The- Verständigungsarbeit betrachten — mit Ausnahme der menbereiche ins Blickfeld: Christologie. Auf ihrem Feld ist Verständigung als christ- (1) Wenn sich in der innerchristlichen Reflexion die lich-jüdische Einheits- und Wahrheitsfindung nicht mög- These vom Judentum als Heilsweg positiv weiterent- lich. Gewiss ist das Verwiesensein der Kirche an das wickeln lässt, würde sie im christlich-jüdischen Dialog in Judentum gerade auch christologisch begründet. Aber der Gestalt der Frage wiederkehren, ob auch im jüdischen eben der Modus des Verweises als christologischer be- Verständnis eine solche Würdigung anderen Glaubens zeichnet gleichzeitig die ganze christlich-jüdische Diffe- möglich ist, die nicht nur einzelnen Angehörigen dieses renz. So wird man die Christologie lediglich als Material Glaubens das Heil zuspricht, sondern der ganzen Ge- religionskundlichen oder -wissenschaftlichen Vergleichs meinschaft dieses Glaubens. Äusserungen einer Reihe von und nicht als Gegenstand theologischer Verständigung in Autoritäten jüdischer Tradition" weisen in die Richtung den christlich-jüdischen Dialog einbeziehen können.° einer solchen Würdigung, die F. Rosenzweig am weite- Das jüdische Dialoginteresse dürfte sich auf eine christ- sten vorangetrieben hat. 37 Sollten für ein Judentum, das liche Theologie konzentrieren, welche dem Glauben erlebt, wie Kirche und Christentum gerade im Hin-Blik- darin Welt und Gesellschaft zurückgibt, dass sie die k en auf das zeitgenössische Judentum sich selbst neu defi- christliche Botschaft unter den Bedingungen gegenwärti- nieren, nicht neue Anfragen an die eigene Selbstdefinition ger Gesellschaft formuliert. Es liegt auf der Hand, dass und die aus ihr folgende Verhältnisbestimmung zu Kirche dabei die Schöpfungstheologie ebenso die Aufmerksam- und Christentum entstehen? Und könnte für die Auf- keit verlangt wie die Eschatologie. 41 Im Gefolge der nahme der neuen Anfragen nicht der eigene schmale Eschatologie-Diskussion könnte dem christlichen Dialog- Traditionsstrang positiver Würdigung anderen Glaubens partner aufgehen, dass Judentum nicht nur die ortho- mehr Gewicht erhalten als bisher innerhalb des jüdischen doxe, die konservative und die liberale Strömung als Spektrums? Ist es dem Judentum möglich, dem Christen- Hauptrichtungen umfasst, sondern auch das Phänomen tum gegenüber Zeitgenossenschaft in einem spezifisch des religions- bzw. glaubenslosen Juden aufweist 42 ; theologischen Sinn zu üben und eine das besondere Ver- haben doch gerade religionslose Juden an der Säkulari- hältnis zum Christentum aussagende jüdische Theologie sierung der Eschatologie mitgearbeitet.° Das religiöse des Christentums zu entwickeln? Judentum hat auf den Exodus vieler Juden aus jüdischer (2) »Ist die Bezeichnung des Christentums als Volk Got- Religiosität nicht mit der Aufkündigung der Solidarität tes nur eine christliche Konstruktion, oder ist sie eine bzw. der Bestreitung des Judeseins geantwortet, was auf christlich-jüdische Gemeinsamkeit?« 38 Kann jüdisches christlicher Seite für die theologische Bewertung des Verständnis von eigener Tradition her 39 das Christentum Problems der Teilidentifizierung mit Kirche und Glaube als Mit-Volk akzeptieren? Oder wirkt sich die Asymme- relevant sein könnte. Ja, ein Mystiker wie R. Abraham trie im Sein, in der Struktur von Kirche und Judentum Kook (Kuk) (1865-1935) konnte aufgrund seiner kosmo- als eine Asymmetrie im »Volk«-Begriff aus, so dass vom logisch orientierten und gegenwartswachen Frömmigkeit jüdischen Innen her eine Gemeinsamkeit mit christlichem »selbst in der prononcierten Profanität sozialistischer Verständnis nicht in Sicht kommen kann? Kann dann der Kibbuzim noch eine positive Komponente der religiös- jüdisch-christliche Dialog zum Movens werden? Kann es nationalen Wiedergeburt und Vollendung Israel für das Judentum eine positive Bedeutung haben, dass erblicken« 44 . Möglicherweise wird die Mystik in der sich auch das Christentum bzw. die Kirche »Volk Got- tes« nennt? Und kann die Bedeutung dieses Faktums so 4° Unter dieser Einschränkung dürfte etwa ein Vergleich zwischen weit gehen, dass der Volk-Gottes-Begriff geeignet ist, ein der jüdischen Akeda-Theologie, welche die Erzählung von der »Fe s spezielles Verhältnis zum Christentum, eine jüdisch- Isaaks Gen 22 ausdeutet und ein »Herzstück des jüdischen-selung« Glaubens« darstellt (so J. Maier, Geschichte der jüdischen Religion, christliche Einheit auszudrücken? Und würde eine Neu- Anm. 2, 118-121 mit zahlreichen Literaturangaben, selbst zur Ikono- akzentuierung des Volk-Gottes-Begriffs nicht auch eine graphie; dazu siehe auch G. Sternberger, Die Patriarchenbilder der Weiterentwicklung des jüdischen Verständnisses von Katakombe in der Via Latina im Lichte der jüdischen Tradition, in: Land und Staat Israel involvieren? Kairos 15, 1973, 19-78, 50 ff.; zum Ganzen: Artikel Akedah, in: Encyclopaedia Judaica 2, Jerusalem 1971, 480-487), und der christo- Die Dringlichkeit gerade dieser beiden Themenkomplexe logischen Tradition mit ihren Topoi wie Opfer, Martyrium, Gottes- ergibt sich aus dem hier gewählten Ansatz. Aus anderer knecht, Rettung oder Hinrichtung äusserst ergiebig sein. Perspektive drängen sich andere Fragen auf. Aufs Ganze 41 Vgl. C. Thoma, Zukunft in der Gegenwart. Gedanken zu einem jüdisch-christlichen Symposion, in: FR XXVII/1975, 13-16. 42 H. Maor, Der glaubenslose Jude, in: Emuna 4 (1969); R. Misrahi, 36 J. Katz, Exclusiveness and Tolerance. Jewish-Gentile Relations Ein neuer Weg für das Judentum: Für ein atheistisches Judentum, in: in Medieval and Modern Times, New York 2 1969, 114-128, 164-168 E. L. Ehrlich u. a., Religiöse Strömungen im Judentum heute, Zürich nennt und zitiert Menachem ha-Me'iri (13./14. Jh.), Mose Ribkes 1973, 73-87; W. Rosenstock, Bekenntnis zum Judentum eines nicht- (17. Jh.), Eliezer Aschkenasi (1513-1586), Jair Chajim Bacharach gläubigen Juden, in: Emuna 10 (1975) 47-54. (1638-1702) und Jakob Emden (1697-1776). Demnach scheint das 43 G. Dietrich, Das jüdisch-prophetische Erbe in den neueren revo- Urteil von J. Maier, Geschichte der jüdischen Religion (Anm. 2), lutionären Bewegungen, in: W. Strolz (Hg.), Jüdische Hoffnungs- 380, Rabbi Me'iri sei »ein einzigartiger Extremfall von positiver kraft (Anm. 21), 191-243; W. Strolz, Sinnfragen nichtglaubender Anerkennung anderer Religionen«, nicht zuzutreffen. Juden, in: Frankfurter Hefte 31 (1976) 25-34. J. 37 So jedenfalls J. J. Petuchowski, Anglikaner und Juden (Anm. 8), 44 Maier, Geschichte der jüdischen Religion (Anm. 2), 583 f.; vgl. 19. Rosenzweig hat im Vergleich mit den genannten Autoren der auch K. Wilhelm, Abraham Isaak Kook über das ständige Gebet der Tradition ein besonderes Verhältnis des Judentums zum Christen- Seele, in: 0. Betz M. Hengel / P. Schmidt (Hg.), Abraham unser tum stark betont, was ansonsten jüdischerseits bestritten wird. Vater. Juden und Christen im Gespräch über die Bibel, FS Otto 36 C. Thoma, Einführung (Anm. 29), 19. Michel, Leiden 1963 («« Arbeiten zur Geschichte des Spätjudentums " Vgl. nur K. Hruby, Begriff und Funktion des Gottesvolkes in der und Urchristentums 5), 478-483; Z. Zinger, Artikel Abraham Isaak rabbinischen Tradition, in: Judaica 21 (1965) 230-256; 22 (1966) Kook (Kuk), in: Encyclopaedia Judaica 10 (Jerusalem 1971), 1182- 167-191; 23 (1967) 30-48, 224-245; 24 (1968) 224-244; J. Maier, Die 1187 sowie R. Schatz-Uffenheimer, Messianismus und Utopie bei Vorstellung vom Gottesvolk in der nachtalmudischen Zeit, in: Ju- Rav. A. J. Kook, dem bedeutendsten Vertreter moderner jüdischer daica 22 (1966) 66-82, 149-167; A. Safran, Le peuple de Dieu dans Mystik, in: C. Thoma (Hg.), Zukunft in der Gegenwart — Jüdische la tradition juive ancienne et moderne, in: Rencontre 7 (1972) 5-34; und christliche Wegweisungen, Bern (s. u. S. 122) (= ,Judaica et Chri- J. Maier, Geschichte der jüdischen Religion (Anm. 2). stiana 1).

24 Zukunft jene Drehscheibe sein, von der zum Stillstand erscheinen. Da die vorgetragenen Überlegungen die Ein- gekommene Züge christlich-jüdischer Verständigung neue beziehung des Judentums in die Sache der ökumenischen Gleise finden. 45 Theologie und eine Erweiterung der innerchristlichen Der christlich-jüdische Dialog, in den die Vertreter der Ökumene zur christlich-jüdischen Ökumene anzielen, ist ökumenischen Theologie einschwenken sollten, scheint im abschliessenden Schritt Rechenschaft zu geben, was sich z. Z. in einer neuen Phase zu befinden — sowohl für die ökumenische Theologie bzw. die innerchristliche weltweit wie auch in Deutschland. Weltweit haben die Ökumene aus einer solchen Öffnung folgen könnte. Wel- Vatikanischen Richtlinien und Hinweise für die Durch- che Rückwirkungen könnten sich für sie selbst ergeben? führung der Konzilserklärung »Nostra aetate« vorn Welche innerchristlichen Gemeinsamkeiten und Kontro- 3. Januar 1975 — über den katbolisch-jüdischen Dialog versen erscheinen vor dem erweiterten Horizont christ- hinaus — stimulierend gewirkt; die Resolution der Voll- lich-jüdischer 'Ökumene in einem neuen Licht? versammlung der Vereinten Nationen über den Zionis- Der christlich-jüdische Dialog lässt die innerchristliche mus vom 10. November 1975 hat diesen Impuls eher Einheit deutlicher wahrnehmen und relativiert den zwi- verstärkt als geschwächt. In Deutschland sind zu den schenkonfessionellen Glaubensdissens. Das Zentrum weltweit wirksamen Impulsen die Studie »Christen und christlicher Theologie, die Christologie, muss aus dem Juden« der EKD sowie der ein neues Verhältnis zum jü- christlich-jüdischen Verständnis ausgeklammert bleiben, dischen Volk fordernde Synodentext »Unsere Hoffnung« während es in der innerchristlichen Ökumene und ihrer hinzugetreten." Für die neue Phase christlich-jüdischer theologischen Verständnisarbeit zentripetal wirken kann Beziehungen werden unter Hinweis auf die Vatikanischen (die gegenläufige, zentrifugale Wirkung hat dort die Richtlinien gemeinsam von Juden und Christen erarbei - Ekklesiologie). Der gemeinsame Bezugsrahmen der in- tete Richtlinien für die christlich-jüdische Zusammenar- nerchristlichen Argumentation umfasst grundsätzlich — beit gefordert. 47 Für solche Richtlinien könnten das »In- und das heisst noch nicht eo ipso faktisch — das »Alte« ternational Jewish Committee for Interreligious Consul- und »Neue« Testament, während sich für den christlich- tations«, die Kommission für die religiösen Beziehungen jüdischen Dialog die biblische Basis auf die hebräische zum Judentum im Sekretariat zur Förderung der Einheit Bibel beschränkt. Die intensivere und extensivere Einheit der Christen und der ÖRK-Ausschuss für die Kirche und zwischen den christlichen Traditionen und Kirchen tritt das Jüdische Volk (CC JP) gemeinsam verantwortlich angesichts der schmaleren Einheitsbasis zwischen Kirche zeichnen. Sie würden einen ökumenisch abgestimmten und Judentum tiefer ins Bewusstsein. Und die zwischen- Themenplan für die weitere theologische Konsensbildung konfessionellen Glaubensdifferenzen erhalten angesichts abstecken können. Es besteht kein Zweifel, dass durch der grundsätzlichen Anfragen durch jüdisches Gottesver- eine Verständigung über die Inhalte und Projekte theo- ständnis und jüdische Eschatologie (Messianologie) sowie logischer Konsensarbeit diese einen entscheidenden Schritt Ethik ein leichteres Gewicht. Neben der Grunderfah- nach vorn tun würde. rung der deutlicheren Wahrnehmung innerchristlicher Einheit und der Relativität zwischenkonfessioneller Dif- 4. Rückwirkungen des christlich-jüdischen Dialogs auf ferenzen sind weitere Rückwirkungen auf die ökumeni- die ökumenische Theologie sche Theologie zu erwarten: Die Aufnahme des christlich- Korrigiert die ökumenische Theologie ihren bisherigen jüdischen Dialogs verschiebt den Themenplan ökumeni- Kurs, und nimmt sie den christlich-jüdischen Dialog auf, scher Theologie, korrigiert deren unbewussten Marcionis- so tritt die christlich-jüdische Ökumene zur innerchrist- mus, verhindert eine unbedachte innerchristliche Kon- lichen bzw. zwischenkonfessionellen Ökumene hinzu. sensbildung zu Lasten des Judentums bzw. zum Preis Dies geschieht nicht wie die Addition von in sich unver- antijüdischer Polemik und eröffnet die Möglichkeit, vor- ändert bleibenden Grössen oder wie das Berühren von in handene zwischenkonfessionelle Streitfragen in einem sich geschlossen bleibenden Kreisen. Vielmehr ist die neuen Horizont zu lösen. Aufnahme bzw. das Hinzutreten zu vergleichen mit der Die Aufnahme des christlich-jüdischen Dialogs verschiebt Überführung der Figur von mehreren Einzelkreisen in den Themenplan ökumenischer Theologie. Die Ämterdis- die Figur eines Grosskreises, wobei die einzelnen Punkte kussion der letzten Jahre zeigte, wie stark z. Z. die der kleinen Kreise einen neuen Stellenwert erhalten und Arbeit ökumenischer Theologie Fragen der Ekklesiologie deren bisherige Perspektiven verschoben werden. Die zugewandt ist. Der zwischenkonfessionelle Dissens ver- christlich-jüdische Ökumene in ihrer Gestalt als katho- dichtet sich dort, was die theologische Anstrengung be- lisch-jüdische oder evangelisch-jüdische Begegnung wird sonders herausfordert. Zudem ist der Problemdruck von zurückgebunden an den innerchristlichen Konsens oder der kirchlichen Realität her dort am stärksten. Er hat zurückgeworfen auf den zwischenkonfessionellen Dis- ökumenische Theologen in der Konsensarbeit so weit sens. Und 'die innerchristliche 'Ökumene erhält einen fortschreiten lassen, dass die kirchliche Hemmung, den neuen Horizont, vor dem die innerchristlichen Gemein- theologisch erarbeiteten Konsens in institutionelle Eini- samkeiten und Kontroversen in einem anderen Licht gung umzusetzen, wohl kaum ohne aussertheologische Fremdmotive erklärt werden kann. Diese rücken als 46 Eines der überschatteten, aber dennoch vorhandenen guten Kapitel wichtige Problemstellungen der ökumenischen Theologie der Geschichte des christlich-jüdischen Verhältnisses wurde von der als Ökumenik in das Bewusstsein. In einer solchen Situa- Begegnung christlicher Humanisten mit der jüdischen Mystik geschrie- ben; vgl. W. P. Eckert, Hoch- und Spätmittelalter (Anm. 3), 272 ff.; tion könnte die Reklamation theologischer Aufmerksam- G. Scholem, Die Erforschung der Kabbala von Reuchlin bis zur Ge- keit für den christlich-jüdischen Dialog wie ein Wegrufen genwart, in: ders., Judaica III. Studien zur jüdischen Mystik, Frank- von den ekklesiologischen Fragen erscheinen. Es geht furt 1973 Bibliothek Suhrkamp 333), 247-263. jedoch nicht um die Ersetzung ekklesiologischer Arbeit, 46 Christen und Juden. Eine Studie des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1975 [vgl. FR XXVII/1975, 68 ff.], sondern um deren entschlossene Ergänzung. Dazu sei auf und: Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik. Offi- einen Punkt noch hingewiesen. Die im Plädoyer und in zielle Gesamtausgabe I, Freiburg 1976, 84-111, 108 f. (vgl. FR XVII/ der Prognose angestellten Erwägungen konnten ein 1965, 5). F. von Hammerstein, Christlich-jüdische Begegnungen in Jerusalem Schwanken in der Argumentationsweise nicht verleug- (25. Februar bis 3. März 1976), in: Una Sancta 31 (1976) 93-96. nen. Dort, wo der zwischenkonfessionelle Konsens vor-

25 ausgesetzt werden konnte, wurde er in Anspruch genom- gemeinsames Nein zu einem als negativ empfundenen men — so etwa bei der christologischen Reflexion zur oder gewerteten Inhalt zu verdeutlichen oder zu unter- Judewerdung Gottes oder zur Tradition der Verwer- streichen. Die Neigung ist auch in der ökumenischen fungslehre. Dort, wo er als noch nicht eindeutig gegeben Theologie anzutreffen. Das innerchristliche Ja wird oft oder als noch ausstehend erschien, war das katholische vor einem als jüdisch bezeichneten Hintergrund artiku- Verständnis Bezugspunkt der Argumentation — so etwa liert, der dann zur Abgrenzung dient und verneint bei der Entwicklung des heilsökonomischen Aspekts wird.5° Solange christliche Theologen unter sich bleiben, christlichen Verwiesenseins an das Judentum oder bei den ist für sie der Zusammenhang zwischen ihrem Ja und Fragen vom Inspirationsverständnis her. Das Schwanken dem Nein der Abgrenzung zum Judentum selbstverständ- der Argumentationsweise wird auf die Dauer der christ- lich. Das Hinzukommen des jüdischen Partners problema- lich-jüdischen Verständnisarbeit als ökumenischer An- tisiert die Selbstverständlichkeit, da sie persönliche Be- strengung nicht möglich sein. D. h.: Die Theologie des troffenheit auslöst. Die Betroffenheit äussert sich im Pro- Judentums ist nicht einfach als katholische oder als test gegen das christliche Zerrbild vom Jüdischen. Der protestantische, sondern als christliche zu entwerfen. Sie Protest fordert die christlichen Theologen heraus — nicht bedarf der Basis des innerchristlichen Konsenses. Die nur zur Rücknahme des Zerrbildes oder zu einem feine- Phase der christlichen Selbstvergewisserung wird immer ren psychologischen Fingerspitzengefühl. 51 Vielmehr auch eine Phase der innerchristlichen Konsensbildung wirft er als grundsätzliches Problem die Frage auf, ob sein. Hier tut sich erneut die Angemessenheit, ja Not- das innerchristliche Ja ein antijüdisches Nein notwendig wendigkeit auf, die Theologie des Judentums als Aufgabe impliziert, was dann auch ausgedrückt werden muß, 52 ökumenischer Theologie anzugehen. Und hier ist denn oder ob dieses Implikat nicht besteht und das antijüdi- schliesslich auch offenkundig geworden, dass die Arbeit sche Nein ein überflüssiges, ja verletzendes und in diesem daran nicht bloss subsidiär und in der Geschäftsführung Sinn unchristliches Beiwerk ist. Greift die innerchristli- einer anderen theologischen Diziplin geschieht, sondern che Konsensbildung die Herausforderung auf, wird ein als genuiner Selbstvollzug ökumenischer Theologie. Es unbedachtes Nein zu Lasten des Judentums verhindert. wird kein alienum, sondern ein proprium besorgt. Ist Die Aufnahme des christlich-jüdischen Dialogs eröffnet dem aber so, dann hat dieses Thema im Fahrplan ökume- schliesslich die Möglichkeit, noch vorhandene zwischen- nischer Theologie eine eigene Dringlichkeit, der Rech- konfessionelle Streitfragen in einem neuen Horizont zu nung zu tragen ist. lösen. Manche der Problemstellungen, die zwischen den Die Aufnahme des christlich-jüdischen Dialogs korrigiert Konfessionen zur Debatte stehen, haben als formal glei- den unbewussten »Marcionismus« in der ökumenischen che Fragestellungen im Judentum eine Antwort gefunden Theologie. Unter »Marcionismus« ist hier die faktische und können in das christlich-jüdische Verständnis einbe- Preisgabe der hebräischen Bibel gemeint, die darin be- zogen werden. Die jüdische Lösung des jeweiligen Pro- steht, dass das »Alte« Testament mit seinen Inhalten das blems steht hier in Affinität zur katholischen Sicht und theologische Denken nicht durchgreifend, sondern nur dort in Nähe zum evangelischen Verständnis. Das erstere sporadisch oder gar nicht prägt. Dass man auch in der trifft z. B. bei der Verhältnisbestimmung von Schrift und ökumenischen Theologie zwar Bibel sagt, aber tatsäch- Tradition zu. G. Scholem schreibt im Blick auf das lich nur das Neue Testament meint, mag das für die Verhältnis von schriftlicher und mündlicher Tora u. a.: ökumenische Theologie repräsentative Werk »Neues »Natürlich drängen sich dem Religionshistoriker die Glaubensbuch« belegen: »Von den ca. 1700 Verweisen, starken Parallelen zum katholischen Begriff der Tradi- mit denen der Leser am Rande auf ergänzende Gesichts- tion auf, der ja ebenfalls mündliche Tradition aus Gottes punkte innerhalb des Werkes verwiesen wird, beziehen Mund kennt — verba divina non scripta in seinen

sich weniger als 3 0/0 auf den atl. Teil (114 - 131) !«48 helleren und dunkleren Aspekten. Auch hier herrscht die In ihrer Konsensarbeit teilt die ökumenische Theologie Meinung vor, dass Gegenwart und Vergangenheit vor den allgemeinen Befund einer »unbestreitbaren prakti- Gott in der Tradition lebendig verbunden werden. >Wer schen Bedeutungslosigkeit des AT für das gegenwärtige die Tradition verwirft, der sei verflucht<, wie ein Ana- kirchliche Bewusstsein und die gegenwärtige katholische thematismus des VII. Konzils lautet. Wobei natürlich Theologie«.49 Biblischer Bezugsrahmen ihrer Argumen- diese Tradition der Kirche eine an die christliche Offen- tation ist faktisch nur das Neue Testament. Solche Eng- barung anschliessende ist, wie die der Rabbiner an die führung wird in der Aufnahme des Dialogs mit dem sinaitische. Das Phänomen als solches bleibt strukturell Juden korrigiert, der gerade die Verbindlichkeit dieses dasselbe.« 53 Die strukturelle Gleichheit könnte den ka- Teils der Bibel für sich verneint und nur die hebräische

Bibel, den Tenach, anerkennt. Das fordert auch vom 50 Für das ökumenische Gemeinschaftswerk »Neues Glaubensbuch« christlichen Theologen die faktisch wirksame Anerken- (Anm. 48) lässt sich trotz seiner zukunftsweisenden Perspektiven zum nung des »Alten« Testamentes und die Überwindung des Verhältnis Kirche — Judentum (vgl. nur 30, 399-401) diese Neigung nachweisen: 174, 309, 394 u. ö. unbewussten »Marcionismus«. 51 Dies ist offensichtlich die Meinung F. J. Schierses, demzufolge Die Teilnahme am christlich-jüdischen Dialog verhindert »man im Rahmen des heutigen Bemühens um jüdisch-christliche Ver- eine unbedachte innerchristliche Konsensbildung zu Lasten ständigung eine ganze Reihe psychologischer Faktoren berücksichtigen muss, die der rein fachwissenschaftlich arbeitende Exeget nicht un- des Judentums bzw. zum Preis antijüdischer Polemik. bedingt zu beachten braucht«, so: Jesus und das Judentum seiner Betrachtet man die Konsensbildung in ihren formalen Zeit. Aus der Sicht eines katholischen Exegeten, in: W. P. Eckert / Strukturen, so stösst man auf die allgemeine Neigung, das H. H. Henrix (Hg.), Jesu Jude-Sein (Anm. 33), 50-68, 50. Dass in den psychologischen Faktoren fachwissenschaftlich Relevantes zum gemeinsame Ja zu einem positiven Inhalt durch ein Vorschein kommen kann, erweist sich etwa für Fr. Mussner, Der Galaterbrief, Freiburg 1974; vgl. auch ders., Theologische »Wieder-

18 So über J. Feiner / L. Vischer (Hg.), Neues Glaubensbuch. Der gutmachung« (Anm. 17). gemeinsame christliche Glaube, Freiburg 1973: M. Limbeck, Bedarf 52 So U. Wilckens, Das Neue Testament und die Juden. Antwort an der Christ des Alten Testaments? Der Ausfall des Alten Testaments David Flusser, in: EvTh 34 (1974) 602-611. im gegenwärtigen kirchlichen Bewusstsein, in: Herder-Korrespondenz 53 Ders., Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im 29 (1975) 77-84, 84. Judentum, in ders., Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frank- 45 Ebda, 83. furt 1970 (= edition suhrkamp 414), 90-120, 98.

26 tholischen Dkumeniker auf die Suche nach einer Wahr- jüdischen Dialogs nicht nur neue Probleme auf die öku- heit im jüdischen Traditionsverständnis setzen, die er menische Theologie zu, sondern auch ein Angebot und bisher noch nicht hinreichend berücksichtigt hat und ein Potential zur Lösung bisheriger Probleme. 57 Insofern deren Zur-Geltung-Bringen einen innerchristlichen Kon- steckt »Karl Barths ökumenisches Testament« 58, welches sens befördert. Ähnliches ist denkbar beim Problem von er 1966 den Mitgliedern des Vatikanischen Einheitssekre- Glaube und Werken54 oder der Parallele zwischen tariates hinterliess —, bei allem Charakter der Mahnung — Eucharistieverständnis und »der jüdischen Auffassung voller Verheissung: »Die ökumenische Bewegung wird der wirklichen Anwesenheit Gottes, der Shechinah, in deutlich vom Geiste des Herrn getrieben. Aber wir Zeichen und Bundesmahl«. 55 Mutatis mutandis das sollen nicht vergessen, dass es schliesslich nur eine tat- Gleiche gilt für die Nähe zwischen protestantischem sächlich grosse ökumenische Frage gibt: unsere Beziehun- Verständnis des allgemeinen Priestertums und dem jüdi- gen zum Judentum. «5s schen Verständnis vom priesterlichen Charakter des Vol- kes Gottes." 57 Ähnlich H.-J. Kraus, Kirche und Synagoge, in: K. von Bismarck / Dass die zwischenkonfessionellen alten Streitfragen im W. Dirks (Hg.), Neue Grenzen. ökumenisches Christentum morgen 1, Stuttgart 1966, 66-72, 68 und C. Thoma, Einführung, in: ders. (Hg.), christlich-jüdischen Kontext einen neuen Aspekt erhal- Judentum und christlicher Glaube, Wien 1965, 9-18, 16 f. ten, ist evident. In welchem neuen Licht sie dabei näher- 58 So überschrieb K. G. Steck seinen Beitrag in: E. Klinger (Hg.), hin erscheinen, wird das christlich-jüdische Verständnis Christentum innerhalb und ausserhalb der Kirche, Freiburg 1976 (= QD 73), 232-246. Nach ihm besteht Barths ökumenisches Testa- noch an den Tag bringen müssen. Dass dieses Licht ein ment in dessen Hinweis auf die Kirche des Aufbrechens, Umkehrens helles und gutes sein wird, darf man mit Fug und Recht und Bekennens, in die Barth ausdrücklich die römische Kirche ein- hoffen. So können Plädoyer und Prognose mit der These bezieht. Demgegenüber sehe ich Barths ökumenisches Testament im schliessen: Es kommen mit der Aufnahme des christlich- mahnenden Hinweis darauf, »dass es schliesslich nur eine tatsächlich grosse ökumenische Frage gibt: unsere Beziehungen zum Judentum«. Meine hier nicht näher zu entwickelnde Gegenthese lässt sich be- 54 Vgl. dazu die Beiträge in: R. Brunner (Hg.), Gesetz und Gnade gründen aus Barths Schrift Ad Limina Apostolorum, Zürich 1967, im Alten Testament und im jüdischen Denken, Zürich 1969. 33, 39 f.; aus Barths Brief vom 5. 9. 1967 an F.-W. Marquardt (in: 55 So C. A. Rijk, Das gemeinsame Band. Die Bedeutung der jüdisch- K. Barth, Gesamtausgabe. V. Briefe — Briefe 1961-1968, Zürich 1975, christlichen Beziehungen für die Einheit der Christen, in: Bibel und 419-423) sowie aus Barths Textvorlage für die Vollversammlung des Kirche 29 (1974) 42-44, 44. Zum Begriff der Schechina vgl. J. Maier, Ökumenischen Rates in Evanston von 1954, die mit dem Satz endet: Geschichte der jüdischen Religion (Anm. 2) sowie G. Scholem, Zur »Das Problem der Einheit der Kirche mit Israel ist das erste Problem Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt 1973 stw 13), bes. der ökumenischen Einigung« (zitiert nach: P. Demann, Israel in 140-156, 193-202. Zur Frage eines jüdischen »Sakramentsverständ- Evanston, in: FR VIII/1955, Nr. 29/32, 25-30). nisses« vgl. J. Maier, Thora, Lex und Sacramentum, in: Miscellanea 59 Zitiert nach C. A. Rijk, Das gemeinsame Band (Anm. 55), 44; Mediaevalia 6 (1969) 65-83. vgl. ders., L'Oecumenisme et le dialogue, in: SIDIC 1 (1968), Heft 3, 5 " Vgl. die in Anm. 39 genannten Titel. 14-17, 17.

4 David Flusser zum 60. Geburtstag Eine fragmentarische Biographie Von Professor Dr. Clemens Thoma

Am 15. September 1977 wird Dr. David Flusser, Pro- war kein Bethlehemite, sondern ein Nazarener, der in fessor für Religionswissenschaft an der Hebräischen Uni- Bethlehem geboren wurde! versität Jerusalem (Spezialgebiet: Zeit des 2. Tempels, Als Halbjähriger wurde David, dem man kaum Lebens- Neues Testament), seinen 60. Geburtstag feiern können. chancen gegeben hatte, nach Böhmen zurückgebracht. Bis Der Freiburger Rundbrief will schon vorzeitig mit roten zum 6. Lebensjahr lebte er in der böhmischen Kleinstadt Rosen aufwarten, damit auch andere Freunde, Schüler Rekonitz, in der seine Familie schon seit 1618 ansässig und Verehrer des Jubilars auf dieses Ergebnis aufmerk- war. Der Name Flusser ist eine Berufsbezeichnung. Bei sam werden. der Glasherstellung hatte die Familie das Privileg der Professor Flusser hielt im Wintersemester 1975/76 Gast- Vorbereitung und Überwachung des (richtigen) Fliessens vorlesungen an der Theologischen Fakultät Luzern. Das der heissen Glasmasse. Mütterlicherseits stammt Flusser von Thema lautete: » Jesus im Lichte des damaligen Juden- der Familie Hamburger ab, die schon im 17. Jahrhundert tums« (jede Woche 2stündig). Am Ende seiner Luzer- in Prag lebte. Bekannt sind der Frankisten-Gegner Mor- ner Lehrtätigkeit erzählte er seinen bisherigen Lebensweg dechai Hamburger (17. Jh.) und David Hamburger, Arzt in ein Tonband hinein. Der Verfasser dieses Geburtstags- bei Ferdinand dem Gütigen und Urgrossvater unseres artikels fühlt sich aufgrund dieser akustischen Primär- David. David Hamburger erhielt den Titel des kaiser- quelle und vieler Begegnungen und Beobachtungen be- lichen Hofarztes deshalb nicht, weil er sich trotz mehr- fugt, einiges über Flusser zu erzählen und ihn fragmen- maligen Drängens nicht taufen liess. Nach seinem Tode tarisch zu deuten. berichtete der Kaplan, der erfolglos mit einer Tauf-Auf- forderung zum Sterbenden geeilt war, dem Kaiser: Herkunft und Lebensweg »David Hamburger hat im Wahn gelebt und ist im Wahn Kurz vor dem jüdischen Neujahr wurde David Flusser gestorben!« Dazu der Urenkel: »Stellen Sie sich vor, David am 15. September 1917 in Wien geboren. Er ist kein Hamburger wäre damals Christ geworden! Würde dann Wiener, sondern eine Böhme, der in Wien geboren wurde! sein Urenkel als Christ soviel vom Christentum ver- Seine Mutter kam nur zur Niederkunft nach Wien. Flus- stehen, wie er jetzt als Jude vom Christentum versteht?« ser weist selbst auf den berühmten Parallelfall hin: Jesus Vom 6.-16. Lebensjahr lebte David in der böhmischen

27 Stadt Nibram. Sie zählte 12 000 Einwohner und hatte einführende Bemerkung, die »Informations Catholiques ein traditionell katholisches Gepräge. Das Zentrum der Internationales« hätten Flusser vor kurzem »als einen der Stadt war ein heiliger Berg mit einer Wallfahrtskirche zu besten israelischen Kenner des Christentums, von grosser Ehren einer schwarzen Madonna aus dem 14. Jahrhun- geistiger Weite« bezeichnet (XIII [Nr. 50/52], 11.6. 1961 1 , dert. David besuchte dort die Volks- und Mittelschule. S. 66 f.). In den folgenden Jahrgängen des Rundbriefs Er legt Wert auf die Feststellung, dass er in seiner Jugend tritt Flusser immer öfter als Mitarbeiter unserer Zeit- in Böhmen nie etwas von Antisemitismus gespürt habe. schrift auf. Wir danken ihm an dieser Stelle sehr herzlich Masaryk verhinderte damals den Antisemitismus. Aber für seine vielen Anregungen. Er liess uns nie im Stich. auch früher gab es in Böhmen kaum antisemitische Ele- mente. Man warf dem Jungen auch nie vor, seine Vor- Persönlichkeit und vorläufige Bedeutung fahren oder er hätten Jesus gekreuzigt. David Flusser be- David Flusser ist ein Mann, der in kein Schema hinein- sitzt also kein antisemitisches Trauma von seiner Jugend passt. Alles ist bei ihm überquellend und überströmend: her. das Wissen, die Fabulierkunst, die Formulierkunst, die Die jüdischen Gefährten und Zeitgenossen des jungen Erfahrung, die Phantasie, die Leidenschaft für den Huma- David Flusser lebten assimilatorisch. Sein Vater ver- nismus, für die Geschichte, für die Literatur, für Jesus, für dankte seinen Aufstieg als Ingenieur der Eisenbahn u. a. das Judentum, für die Zukunft der Welt, für Gerechtig- seiner den Christen angepassten Lebensweise. In Böhmen keit und Gründlichkeit. Es ist nicht leicht, seinen Ge- galt schon als fromm, wer am Freitagabend in die dankengängen zu folgen. Noch schwieriger ist es, seinen Synagoge ging. Der jüdische Religionsunterricht wurde Tonfall und seine vielsinnigen Nebenbemerkungen rich- seitens der Rabbiner lax und forderungsarm erteilt. Für tig zu verstehen. Er ist ein nicht bequemer, nicht kon- David ergab sich aus all diesen Umständen das problem- former und nicht zähmbarer Gesprächspartner der christ- lose Akzeptieren eines Judentums, das mit dem Tschechen- lichen Wissenschaftler und des Christentums. Die christ- tum vollkommen verbunden war. Er kannte die hebrä- lichen Forscher bringen es (trotzdem oder deswegen?) ischen und zionistischen Traditionen nur sehr vage. Dies nicht fertig, David Flusser zu ignorieren. Er sagt von änderte sich auch nicht, als die Familie 1933/34 nach sich selbst: »Es gibt drei Wurzeln für die Beschäftigung Nordböhmen übersiedelte. Er bezog das dortige Real- mit dem Christentum. Die erste Wurzel ist mein jüdischer gymnasium und pflegte Latein und Griechisch als sein Glaube, der immer ungebrochen war, wenn er auch zu- besonderes Hobby. erst nur ein Nachplappern war. Dieser Glaube gibt mir Im Jahre 1936/37 inskribierte er sich in Prag für klassi- die Kraft für die Beschäftigung mit dem Christentum. sche Philologie. Im 2. Universitätsjahr führten die nun Als er bewusst durchbrach, war er zuerst ein barthiani- auch in Prag deutlich spürbaren antisemitischen Mass- scher Trotz. Dieser Trotz richtete sich gegen das liberale nahmen Hitlers zu einer vermehrten Beschäftigung Flus- Judentum ohne Inhalt. Später wurde mein Glaube ein sers mit seinem Judentum. Er teilte seine Wohnung mit humanistischer Glaube, ein theozentrischer Anthropozen- einem Pastor der protestantischen »böhmischen Brüder«. trismus. Er wurde gestärkt, als ich die vielen Leiden der Dieser Pastor hatte Verbindungen zu dem in der Schweiz Juden unter Hitler in Böhmen und anderswo sah und er- lebenden religiösen Sozialisten Leonhard Ragaz. Das fuhr. Die zweite Wurzel ist die schon frühe Beziehung Schrifttum von Ragaz eröffnete für Flusser neue Zugänge zum Christentum und die günstige Interpretation des- zum Alten und Neuen Testament. Als der Druck der selben im Kreise der böhmischen Brüder. Die katholische Nationalsozialisten gegen die Juden überstark wurde, Stadt Nibram ermöglichte mir einen lebendigen Kontakt fragte man Ragaz an, ob er Flusser helfen könne, ins Aus- mit dem Katholizismus. Die dritte Wurzel ist mein wissen- land zu gelangen. Ragaz musste ablehnen, weil er nicht schaftliches Interesse. Wichtig ist nur, dass der Mensch einmal seinem eigenen Sohn helfen könne. Er hatte da- schafft. Ich bin wahrscheinlich so von meiner Arbeit und mals in der Schweiz Redeverbot. dem Willen, dass mein Wirken durchkommt, eingenom- Als Hitler in Prag einmarschierte, verliess Flusser Böh- men, dass ich keine Zeit für Hoffart oder Demut habe. In men. Als er sich auf dem Schiff in Richtung Palästina be- diesem Sinne bin ich auch eine Art >stupor mundi< gewor- fand, begann er nach dem jüdischen Gesetz zu leben. Die den. Ich verzweifle immer mehr an jeder Art von Kom- Eltern hatten ihn zuvor dauernd vor diesem Schritt ge- munikation ausser an der wissenschaftlichen. Aber dies ist warnt. Das Gesetz mache unfrei. Es existiert noch ein meine neueste Entwicklung.« Brief aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, in dem David Das wissenschaftliche Opus Flussers umfasst bis heute u. a. seinen Eltern — um ihnen nicht weh zu tun — versichert, gut 60 grössere Abhandlungen, die in Zeitschriften, Fest- er lebe noch nicht nach dem Gesetz. schriften und Sammelbänden hebräisch, deutsch, franzö- In Jerusalem gab es zunächst grosse Schwierigkeiten. sisch, englisch oder spanisch erschienen. Viele wurden in David Flusser war nie ein guter Zionist, sondern — wie mehrere Sprachen übersetzt. Die Hebräische Universität er sich auszudrücken pflegt — immer ein schlechter. Ihn Jerusalem gab vor einiger Zeit eine (unverkäufliche) trug nie das Hochgefühl eines Nationalisten. Um so härter Sammlung wichtiger Flusser-Artikel heraus: » Judaism plagten ihn Hunger, Armut und die Lasten eines harten and Christianity, Collection of Articies.« Am bekann- Studiums der Philologie und der jüdischen Geschichte. testen wurde Flusser durch sein 1968 im Rowohlt-Verlag Von 1947-50 weilte Flusser nochmals in Böhmen. Er erschienenes Buch: » Jesus in Selbstzeugnis und Bilddoku- konnte sich aber mit seiner alten Heimat nicht mehr identi- menten.« Es wurde als wissenschaftlicher Bestseller in fizieren. Seine Förderer wurden schliesslich die Jerusa- 6 Sprachen übersetzt. lemer Professoren Hans Lewy (vgl. FR XXIV/1972, David Flusser frisiert Jesus nicht jüdisch so zurecht, dass S. 20-26) und Gerschom Scholem. Das Jahr 1955 wurde er zu einem nichtssagenden jüdischen Rabbi bzw. zu zu Flussers Glücksjahr. Er heiratete seine Frau Hannah, 1 »Eichmann und der Gott der Christen«, in: >The Jerusalem Post< erhielt den Doktorgrad und begann mit Vorlesungen an vom 21.6. 1961, vom FR aus dem Englischen übersetzt, veröffent- der Hebräischen Universität Jerusalem. Im Jahre 1961, licht in dem vom 11. 6. 1961 datierten Heft, an dem das auf Seite 3 dort wiedergegebene Gebet der deutschen katholischen Bischöfe an- als der Freiburger Rundbrief zum ersten Male einen Ar- lässlich des Eichmann-Prozesses in den katholischen Kirchen Deutsch- tikel von Flusser veröffentlichte, machte die Redaktion die lands gebetet wurde (Anm. d. Red. d. FR).

28 einem Durchschnittspharisäer würde. Er möbelt auch das verknüpft ist, nicht mit einer Ideologie. Auch der oft ver- Judentum nicht so auf, dass es christlich-salonfähig wird. götzte moderne Motivationshorizont hat sich dieser Ge- In diesen wichtigen Fragen redet er weder uns Christen schichte zu beugen. Der Geschichte des Volkes Gottes und noch den Juden »nach dem Maul«. Beide Gruppen fühlen speziell Jesu beharrlich nachzusteigen, hält er für die sich von ihm bisweilen auf die Zehen getreten. wichtigste christlich-theologische Aufgabe. Es gibt eine Frage, bei der sich Flusser über die Christen Anlässlich des 25jährigen Jubiläums des Freiburger Rund- ärgert: Die Frage nach dem Gesetzesgehorsam Jesu. Er briefes schrieb Professor Flusser u. a.: »Wir Juden in Israel kann nicht begreifen, dass die Christen es für so wichtig finden im Freiburger Rundbrief unsere jüdische Hoffnung halten, dass Jesus das jüdische Gesetz — »souverän«, wie für eine bessere Zukunft bestätigt. Wir fühlen uns im die Christen sagen — gebrochen habe. Flusser zählt es zu Rundbrief zu Hause ... Im Rundbrief herrscht nicht ein den Sternstunden seines Lebens, dass er (zusammen mit sentimentaler Philosemitismus, sondern eine echte christ- Prof. Shmuel Safrai) herausgefunden hat, dass Jesus liche Liebe zum Judentum, aus einem stolzen, selbstsiche- nach damaligem galiläischem Gesetzesverständnis das Ge- ren christlichen Standpunkt. Gerade solche Haltung lieben setz nie gebrochen hat. Jene engmaschigen jüdischen Auto- wir hier in Israel, wo wir auch daran gewöhnt sind, un- ritäten, die ihm Gesetzesbruch vorwarfen, seien selbst im seren Glauben selbstverständlich zu leben. So wollen wir Unrecht gewesen. Flusser meint, dass der Gesetzesgehor- in Israel dem Freiburger Rundbrief eine fruchtbare Zu- sam Jesu gut ins christliche Konzept hineinpassen würde kunft wünschen« (XXV/1973, S. 8). Es ist leicht, diese (vgl. Gal 4, 4 f.). Die Heidenchristen sollten doch darob Worte für einen christlichen Ausgangspunkt umzuprägen nicht den Kopf und die Bibel verlieren, da sie ja nicht auf und dann Professor Flusser zu gratulieren: Viele Christen das Gesetz verpflichtet seien. Sie sollten sich aber ernstlich auf der ganzen Welt freuen sich, dass es den Professor fragen, ob ihr Eifer gegen den Gesetzesgehorsam Jesu Flusser gibt. Sie fühlen sich von ihm angesprochen. Sie nicht ihren versteckten antijüdischen Tendenzen ent- schöpfen daraus Hoffnung für eine bessere jüdische und springe. christliche Zukunft. Er ist kein sentimentaler Christen- Flusser warnt immer wieder vor vorschnellen Ent- freund, sondern besitzt eine echte jüdische Liebe zum geschichtlichungen und den damit verbundenen Über- Christentum, die aus einem stolzen, selbstsicheren jüdi- interpretationen, Überexponierungen, Theologisierungen schen Standpunkt erwächst. Solche Haltung schätzen wir. und Versteinerungen heiliger Texte. Ihm ist wichtig, dass Wir wünschen ihm und seiner Familie eine fruchtbare Zu- die Offenbarung mit der Geschichte des Volkes Gottes kunft: ad multos annos!

5 Was ist der Mensch? Predigt, gehalten in der Synagoge in Düsseldorf am 6.3.1976*/** Von Dr. Jehoshua Amir, Professor für hellenistisches Judentum und moderne jüdische Philosophie an der Universität Tel Aviv

Von allen menschlichen Wissenschaften ist die Wissen- ist es, was wir heute morgen hier in dieser Synagoge gebe- schaft vom Menschen die des Menschen würdigste. So tet haben: >Eine Du unser Herz, zu lieben und zu ehr- schrieb der französische Philosoph Malebranche vor 300 fürchten Deinen Namen<, womit wir uns auf das Bekennt- Jahren. Aber nicht wissenschaftliches Bestreben führt uns nis des >Höre Israel, der Herr ist einzig< vorbereitet haben: hier zusammen. Man mag darüber nachdenken, ob Wis- die Einheit des Herzens als irdischer Widerpart der Ein- senschaft >wertfrei< sein kann und soll, wie es gefordert heit Gottes. Darum mag eine Synagoge die rechte Stätte worden ist, aber gewiss ist es, dass Wissenschaft sich Werte sein, zu der wir unsere Frage herbringen. nicht selbst setzen kann. Und um den Wert des Menschen In einer Synagoge haben wir keine Cherubim, keine und seines Lebens geht es uns, wenn wir uns hier an- Bundestafeln und keinen Altar, wie einst in unserem Tem- schicken, gemeinsam zu bedenken, was der Mensch sei. pel. Was eine Synagoge zu einer heiligen Stätte macht, Das Setzen von Werten ist eine Entscheidung, die der ist einzig das, dass wir hier Torarollen bewahren, dass wir Mensch auf eigene Verantwortung trifft. Verantwortlich hierherkommen, um Zwiesprache zu halten mit den alten entscheiden aber kann der Mensch nur, wenn er alle Kräfte heiligen Worten, die uns den göttlichen Anruf zutragen seiner Persönlichkeit zu einer Einheit zusammengerafft von Geschlecht zu Geschlecht. Sie haben ihre innere Kraft hat. Indem er so aber sich rüstet, wird er gewahr, dass er dadurch bewiesen, dass bisher noch jede Generation sie nicht aus eigener Willkür heraus einen Wert sich setzt, als ein neues Wort gelesen hat, dass sie sich, nach dem sondern dass er ihn findet, dass er einen seienden Wert Deutungswort unserer Weisen, bewährt haben als >neue findet, den nicht er gemacht hat. Denn >verantworten< — alle Tage<. Sehen wir also zu, ob auch uns ein Gleiches so hat Buber uns gelehrt — bedeutet: antworten auf den geschieht! Anruf dessen, vor dem wir, vor dem unser Sein steht. Im Was uns die hebräische Bibel vom Menschen zu sagen hat, Antworten auf diesen Anruf wird uns die Einigkeit der brauchen wir nicht lange zu suchen. Ihr erstes Blatt erzählt Person zuteil, aus der heraus wir entscheiden dürfen. Das von der Schöpfung des Menschen und sagt uns das Ent- scheidende. Um es aber aufzufassen, haben wir es in sei- Anlässlich der in der Bundesrepublik Deutschland veranstalteten nem Zusammenhang, im Rahmen des Schöpfungsganzen,

29 Die Theologen sagen, die Bibel lehre die Schöpfung aus Erzählung das ausdrückt. Der Schaffung des Menschen dem Nichts. Die Bibel aber hat keine solchen glatten, geht eine feierliche Ankündigung voraus. Und der Mensch, begrifflich abgeschliffenen Formeln. Und das biblische fruchtbar und sich mehrend wie die Tiere, ist doch zu- Nichts ist jedenfalls keine runde und nichtssagende, lo- gleich geschaffen im Ebenbild Gottes. Der Schöpfung an- gisch definierbare mathematische Null. Wie heisst die gehörend und doch teilhaft eines göttlichen Anteils, von Bibel das, was da war, ehe die Welt war? Da steht: >Fin- Gott gemacht und doch freier Herr seiner eigenen Ent- sternis über dem Abgrund<. Thehom, Abgrund — was ist schlüsse, so steht der Mensch am Ziele dessen, worauf die das? Wenn wir es mit den primitivsten Worten zu sagen ganze Schöpfung angelegt ist: von Gott in die eigene Ver- versuchen: ein tiefes Loch. Aber das ist noch nicht genau; antwortung entlassen zu werden. Das drückt sich aus in das Loch muss so tief sein, dass unter ihm überhaupt kein dem neuen Wort, um das nun der Segen, wie er den Tieren Grund mehr ist. Nun, werden wir sagen, so etwas gibt es gegeben war, erweitert wird: »Füllet die Erde und be- nicht. Das sind Fabeldinge, die in unserer Erfahrung nicht mächtigt euch ihrer!« vorkommen. Oder doch? Kennen wir das nicht alle aus Und damit hat die Schöpfung ihren Schlusspunkt erreicht, unserer Traumerfahrung? Begegnet es uns nicht manchmal »und siehe, sie war sehr gut«. Und der Midrasch, die rab- im Traum, dass wir fallen und fallen und fallen, dass wir binische Auslegung, nimmt sich bei der Exegese dieses hinabstürzen in eine Unendlichkeit? Ein Angsttraum, aus Verses das Recht, das ihr zugestanden ist, die Buchstaben dem nur das Erwachen in Gottes Welt hinein uns rettet? eines Wortes umzustellen — nur ein Beispiel, wie in der Und ein solcher Abgrund, erfüllt mit schwarzer Finster- rabbinischen Welt gerade der Buchstabe es ist, der den nis. Die Religionshistoriker werden schon recht haben, Geist belebt — und liest statt >tov meod -- sehr gut<: >tov wenn sie das hebräische Wort für den Abgrund, Thehom, adam = gut ist der Mensch<. Also: »Und Gott sah alles, zusammenbringen mit der Tijamat, der Urschlange, dem was er gemacht hatte, und siehe: Gut ist der Mensch«. Urdrachen der Tiefe des altorientalischen Mythos, der Aber freilich, wir müssen es wohl anders lesen, nämlich: vom Schöpfergott besiegt wird. Was in jenem Vers mit Wenn der Mensch gut ist, dann ist die Welt sehr gut. Mit dem anderen Wort, Tohu-wa-bohu, gesagt wird, davon der Herrschaft über die Welt ist in des Menschen Hand lässt uns der unheimlich heulende Klang der Worte mehr die Verantwortung für die Welt gelegt. Unsere Weisen vernehmen als die dunkle Etymologie der Worte selbst. sagen: Zu jeder Zeit soll der Mensch die Welt so ansehen, Ein gefährlicher Drachen lauert im Hintergrund der als wäre sie zur Hälfte gerecht und zur Hälfte schuldig, Welt — das hat uns die glatte rationale Theologenformel und diese eine Tat, die er in diesem Augenblick tun will, von der >Schöpfung aus dem Nichts< überhören lassen. gibt den Ausschlag, ob die Welt gerecht oder schuldig ist. Wir dürfen es nicht mehr überhören. Auf dich und deine Tat, jetzt und hier, kommt es an, von Und nun setzt Gottes Schöpfungswerk ein. Das Werk hat ihr hängt es ab, was aus der Welt wird, aus Meer und seinen festen Takt. Gott spricht und es ward, Gott sieht, Land, aus Himmel und Erde und allen Planeten. Wir dass es gut ist, Gott scheidet, Gott gibt einen Namen. brauchen ja nicht viel weiter zu lesen und kommen an die Jeder einzelne von diesen Akten zerbricht ein Stück des Stelle, wo es heisst: »Und es leidete Gott, dass er den Urgrauens, schafft eine heimische Welt, hebt Dinge ab aus Menschen gemacht hatte auf Erden«. Denn »alles Sinnen dem Entsetzen des Unfassbaren, macht sie vertraut, macht und Trachten seines Herzens — nur böse ist es allen Tag«. sie anredbar. Aber es ist keine reine Wiederholung der Der Mensch ist böse und der Mensch ist gut, und beides Akte mit allein wechselndem Objekt: Es liegt eine Archi- ist wahr und beides gehört zusammen. tektur im Schöpfungswerk. Bei der Pflanze heisst es nicht Und an uns und unserer Tat hängt der Bestand der Welt. mehr wie beim Licht und beim Firmament, >es werde Ge- Freilich, die Bibel erzählt, wie Gott nach der Sintflut spross<, sondern dieses Mal sagt Gott: »Spriessen lasse die beschliesst, nicht noch einmal die Welt zu verwüsten um Erde, Gespross«. Die Kreatur soll nicht stumpf brütend da- des Menschen willen. Aber in unseren Tagen ist etwas liegen, während Gottes Wort an ihr geschieht; sie hat Neues geschehen. Der Mensch hat seinen Schöpfungs- ihren werkenden Anteil an Gottes Werk. Und der Frucht- auftrag ausgeführt und sich der Welt bemächtigt. Er hat baum hat seinen Samen in sich, aus dem ein neuer Baum die Kräfte der Natur sich dienstbar gemacht in einem wachsen wird nach seiner Art. Und nicht mehr Gottes Masse, das keine frühere Generation je für möglich gehal- Wunderlicht vom ersten Tag macht den Abend und den ten hätte. Und nun ist er in seinem Siegeszug zu einem Morgen, sondern Gott setzt nun die Leuchten an den Punkt gelangt, der alledem, was wir bisher gesagt haben, Himmel, und sie machen fürderhin die Tage und die einen verhängnisvoll neuen Sinn gibt: Zum ersten Mal, Jahre; ja noch mehr: Gott gibt ihnen, heisst es ausdrück- seitdem Gott Himmel und Erde geschaffen hat, verfügt lich, die Herrschaft über den Tag und über die Nacht. der Mensch über die technischen Mittel, um die Welt zu Und indem wir höher aufsteigen in den Ordnungen des zerstören. Er hat heute die unheimliche Macht, nicht nur Daseins, ist es auch damit nicht getan. Gott will die Welt sich selbst zu vernichten, sondern buchstäblich die Welt nicht als ein Puppenspiel, bei dem er selbst alle Drähte in wieder in ein Tohu-wa-bohu zu verwandeln, Gottes der Hand hält und kein Ding eine Bewegung machen Schöpfung dem ewig lauernden Abgrund in den Rachen kann, ohne dass Gottes Finger an seinen Gelenken zieht. zu werfen. Gott will eine lebendige Welt, Wesen, die ihren eigenen Niemand mag das so offen sagen, aber wir alle wissen, Weg gehen, die die Erde füllen und sich auf ihr tummeln. dass es so ist. So steht der Mensch heute da. Das ist die Und dafür wird die Reihe der Schöpfungshandlungen um ungeheuerliche Verantwortung, die der Mensch von Stund einen neuen Akt vermehrt: zum ersten Mal heisst es >Gott an auf seinen Schultern trägt und der er sich wohl nie segnete<. Was den Sternen am Himmel nicht gesagt war, wieder wird entziehen können. Kann er diese Probe be- das wird hier den Vögeln und den Fischen gewährt, denn stehen? Es ist genau so, wie unsere Weisen es gesagt haben: sie verkörpern das Lebendige auf Erden, und der Leben- Die Welt ist in der Schwebe zwischen Sein und Nichtsein, dige Gott will eine lebendige Welt. und eine einzige Tat des Menschen kann den Ausschlag Und zu dieser lebendigen Welt gehört der Mensch. Und geben nach der einen oder nach der anderen Seite. Und innerhalb der Daseinsstufe des Lebens steht der Mensch die Mächte der Versuchung sind gewaltig. Sollte Gott den wieder auf der höchsten Stufe. Wir wissen ja alle, wie die Menschen ganz wehrlos, ganz schutzlos dieser Versuchung

30 ausgesetzt haben? Sollte Gott, indem er seine Welt dem verheissen wird, dass er Stammvater sein soll, da heisst es Menschen anvertraut hat, ihm gar nichts mitgegeben ha- noch: »Ich werde dich machen zu einem grossen Volke«. ben, um ihn vor sich selbst zu schützen? Ist wirklich mit Erst wo das Volk am Sinai zusammensteht, da wird ihm der Einsetzung des Menschen als Herrn der Schöpfung gesagt: »Ihr sollt ein heiliges Volk sein«. Da erst verstehen das Letzte gesagt? wir ganz, was mit dem alten Wort gesagt ist: »Es ist nicht Und wir schauen noch einmal in unsere biblische Erzäh- gut, dass der Mensch allein sei«. Seine wahre Bestimmung lung hinein, und wir staunen. Haben wir nicht bereits erlangt er erst, wo er daran geht, eine Gemeinschaft von gelesen: »Und Gott sah alles, was er geschaffen hatte«? und Menschen zu erbauen. Erst wo Mensch mit Mensch lebt, war mit dem Urteil »Und siehe, es war sehr gut« nicht wird dem Heiligen eine Stätte bereitet. Das Zehngebot das Siegel der Endgültigkeit auf das Werk des Anfangs gebietet und verbietet in der Einzahl des >du sollst<, aber gedrückt? Und dennoch: Es gibt noch einen siebenten Tag. gerade das Heiligkeitsgesetz heisst: »Heilig sollt ihr sein«. Am sechsten Tage war bereits >alles< geschaffen, und den- Der Talmud verhandelt einmal über das Heiligkeitsgebet, noch lesen wir »Und Gott vollendete am siebenten Tag die Keduscha, die in unserem Gottesdienst nur gesagt wird, die Arbeit, die er getan hatte«. Wie kann ein Tag, an dem wenn mindestens eine Zehnzahl von Betern zusammen ist: nichts mehr geschaffen wird, trotzdem erst das Ende des »Woher weiss ich, dass der einzelne >heilig< nicht sagt«? Werkes bringen? Die Antwort der Bibel: Allerdings, Weil es heisst: »Auf dass ich geheiligt werde inmitten der nichts wird mehr am siebenten Tag geschaffen ausser — Kinder Israel«. Zwischen den Menschen, zwischen den eben dieser siebente Tag selbst. Erst das Ruhen von dem Gemeinschaften der Menschen soll das Heilige seine Werk ist das Letzte, Erhabenste, um dessentwillen das Wohnstatt nehmen auf Erden. Werk da ist. Und ein Stückchen davon kann jeder Jude, Wie Israel als Gemeinschaft gesehen ist, so auch die Völ- der den Schabbat kennt, jede Woche an sich nachspüren, ker der Welt. Abraham ist auf seinen Weg gestellt mit wenn er die Last und die Hast von sich abgleiten fühlt, dem Wort: »Und durch dich sollen gesegnet werden alle und ein Fünkchen der grossen Gottesruhe ergreift von Familien der Erde«. In Familien, in Gemeinschaften, baut ihm, von Seele und Leib, Besitz. Und nun erinnern wir sich die Menschheit auf. Was in Israel untrennbar ver- uns noch einmal der Kette der Schöpfungstätigkeiten, an einigt ist, Glaubensgemeinde und Volksgemeinschaft, mag deren Hand wir vorhin die Stufenleiter der Daseinsord- bei den Völkern der Welt zweierlei Gestalt annehmen, in nungen der Welt hinangestiegen sind: Gott sprach, sah, einer tiefverschlungenen Dialektik des Auseinander und dass es gut war, schied, nannte einen Namen. Und dar- Ineinander; aber erst in beidem zusammen wird die über hinaus entdeckten wir: Gott segnete; und auch der Menschheit ihrer Erlösung entgegengeführt. Die Erlö- Segen hatte seine Stufenleiter, zuerst >füllet die Erde< und sungsvision des Propheten erschaut ein Zion, zu dem »hin- dann kam hinzu >bemächtigt euch ihrer<. Nun also, beim strömen werden alle Völker« und nicht atomisierte ver- Sabbat haben wir wieder >Gott segnete<. Das haben wir lorene einzelne in grossen Massen. Durch Völker und wohl erwartet, denn wir sind ja nun auf dem Gipfel alles Gemeinschaften will Gott uns zur einigen Menschheit Geschaffenen. Aber nun ist es auch mit diesem Tätigkeits- führen. wort nicht mehr genug, und erst jetzt kommen wir zu Hier stocke ich, denn ich spreche zu Söhnen eines Volkes, dem allerletzten, allerhöchsten Wort, mit dem Gott seine mit dem sich Ungeheuerliches begeben hat. In einer Ge- Schöpfung entlässt: »Und Gott segnete den siebenten Tag schichtsstunde, die niemand vergessen kann und darf, hat und heiligte ihn.« Erst indem das Heilige in die Welt sich ihr Volkstum in einen Moloch verkehrt, und nachdem gesetzt ist, ist der Welt das Letzte gegeben, das Gott ihr das Volk aus dem Taumel wieder erwacht ist, gibt es zu geben hat. Dem Menschen, dem Herrn der Schöpfung, viele, und gewiss gerade unter den Besten, denen es ist in der Schöpfung etwas gesetzt, das ihn über die Schöp- graut, wenn von ihrem Volkstum gesprochen wird. Ein fung hinauslangen lässt. Und damit ist ihm etwas gegeben, guter deutscher Freund sagte mir vor wenigen Tagen: was nur er kennen kann von allen Geschöpfen des Him- »Wenn man mir sagt: >So haben es deine Väter gemacht<, mels und der Erde. Wie wir es an dem grössten Tag des dann heisst das für mich: So ist es also falsch«. Gott gebe jüdischen Jahres 1 in unserem Gebet sagen: »Du hast den euch Deutschen, dass ihr es wieder vermögt, eures Volkes Menschen ausgesondert von Anbeginn und hast ihn er- froh zu werden. Denn nur aus heilen Völkern erbaut sich kannt, vor Dir zu stehen.« Gott hat den Menschen ausge- die heilige Menschheit. sondert von all seinen Geschöpfen und ihm das Heilige Und ein Wort darf ich von meinem umstürmten Volke mit auf seinen Weg gegeben. Der Mensch ist nicht schutz- sagen, daheim in Jeruschalajim und wo immer auf der los dem Gewoge seiner Triebe und Impulse anheimgege- Welt. Immer noch haben wir um die Anerkennung des ben, es ist etwas über ihm aufgerichtet, zu dem er hinauf- Rechtes zu kämpfen, als Volk in der Familie der Völker schauen kann, und von da aus mag sein Tun und Lassen zu leben. Gegen einen oft unverhüllt ausgesprochenen seine Richtung bekommen. Von seiner Verantwortung Vernichtungswillen hat unser Volk um seine Existenz zu wird ihm dadurch nichts genommen; im Gegenteil, nun, kämpfen. Und ich darf es sagen: Ich bewundere, in wie da das Antwortende ihm gegenübertritt, ist er erst in die hohem Masse das Volk bei Anspannung all seiner Kräfte rechte Verantwortung hineingestellt. dennoch auch an seiner Verantwortung für die Familie Der Mensch soll mit dem Heiligen leben. Wie aber findet der Völker festgehalten hat. Aber die bange Frage ist: das Heilige im Leben des Menschen seine Stätte? Wenn Werden wir weiter die Kraft haben, bei allem Feindlichen, wir in der Bibel suchen, wo vom Heiligen die Rede ist, was uns aus der Menschheit entgegentönt, unserer Mensch- machen wir eine auffallende Entdeckung, auf die noch heitsverantwortung treu zu bleiben? Gott gebe seinem wenige gestossen sind: Nach jener Erzählung von der Ein- Volke Kraft, Gott segne sein Volk mit Frieden. setzung des heiligen Tages kommt in der ganzen Genesis Und so stehen wir da, wir alle, Menschen mit Menschen, das Wort >heilig< nicht mehr vor. Die Stammväter, bei wirken am Bau einer Menschheit und bangen um den Be- allem Gewaltigen, was die Bibel von ihnen erzählt, heissen stand der Welt. Und in dieser Sorge und in diesem Tun ihr nicht heilig. Vom Heiligen beginnt die Bibel erst allein kann es sich weisen, was der Mensch ist. Wissen da zu sprechen, wo ein Volk entsteht. Als dem Abraham wir es? Können wir es finden? Als Kant seine berühmten drei Fragen gestellt hatte: Was können wir wissen, was 1 Der grosse Versöhnungstag, Jom Kippur.

31 sollen wir tun, was dürfen wir hoffen, da fassten sie alle drohtheit und seiner erschreckenden Verantwortung er- drei sich ihm zusammen in einer vierten Frage: Was ist kennen, können auch wir nichts anderes tun, als unsere der Mensch? Auch in der Bibel findet sich ebendiese Frage Frage an Gott zurückzugeben. Indem wir in Sorge und mit ebendiesen Worten, aber mit einem Unterschied: Sie Verantwortung an heiliger Stätte unsere menschlichen ist nämlich nicht an den Menschen gerichtet, sondern an Schritte bedenken, treten wir an Gott heran und fragen: Gott. Und indem wir den Menschen in seiner ganzen Be- Adonai, mah adam - Herr, was ist der Mensch?

6 Zwei Ansprachen Papst Paul VI.: ». . . Im Geiste der Propheten werden Juden und Christen bereitwillig zusammenarbeiten . . .« Aus einer Ansprache am 24. November 1976* 1**

Liebe Freunde! Geiste der Propheten werden Juden und Christen bereit- ... Wir sind glücklich, zu erfahren, dass so viele unserer willig zusammenarbeiten und sich auf allen Ebenen - Brüder aus dem Judentum die Errichtung unserer Kom- auf der örtlichen, nationalen und internationalen - um mission für die religiösen Beziehungen zum Judentum soziale Gerechtigkeit und Frieden bemühen« (IV) 3 . und die von dieser Kommissionl erlassenen »Richtlinien Reiche Möglichkeiten der Zusammenarbeit eröffnen sich und Vorschläge für die Erweiterung der Konzilserklä- vor uns, die wir der »jüdischen und christlichen, auf dem rung Nostra aetate, Nr. 42 « mit Befriedigung aufgenom- Wort Gottes beruhenden Tradition« angehören und men haben. »um den Wert der menschlichen Person, des Abbilds Was uns betrifft, so bringen wir unsere tiefempfundene Gottes, wissen« (ebd.) Zufriedenheit über die Verbesserung der jüdisch-christ- Unsere Aufrufe zum Frieden treffen sich mit den Ihren lichen Beziehungen zum Ausdruck und hoffen gleichzei- zur Anerkennung von Würde und Wert des menschlichen tig, dass diese Zusammenarbeit auch weiterhin dem ge- Lebens. So lautet unser Leitspruch für den kommenden genseitigen Verstehen und der gegenseitigen Achtung för- Weltfriedenstag: »Willst du den Frieden, so verteidige derlich sein wird. das Leben!« - verteidige das menschliche Leben gegen So findet sich unter anderem in den oben erwähnten alles, was es verletzen, schwächen, entehren oder zerstö- »Richtlinien und Vorschlägen« der folgende Satz: »Im ren könnte! Ja, der Gott der Gerechtigkeit und des Friedens, der An den Verband zum Kampf gegen die Diskriminierung. Unter der Überschrift: »Die Zusammen irbeit zwischen Chri ten Herr über das Leben, ist unser gemeinsamer Vater und und Juden«, in: »L'Osservatore Romano. Wochenausgabe in deutscher der Ursprung unserer Verbrüderung. Auf Sie alle rufen Sprache« (6'49). Vatikanstadt, 3. 12. 1976. wir sein Licht und seine Kraft herab. 1 S. FR XXVI '1974. S. 74. 2 a. a. 0., S. 3 ff. a. a. 0., S. 5.

II Mit den Juden von Marseille Ansprache von Roger Etchegaray, Erzbischof von Marseille, Vorsitzender der französischen Bischofskonferenz, anlässlich der Einführung eines neuen Grossrabbiners am 4. April 1976

Au, dem Diözesanblatt der Diözese Marseille >Toi et >Nouveau von denen die ganz hochfeine des Stadtteiles St. Mar- Monde«, (No. 13) 4. 4. 1976 p. 297 entnehmen wir den Leitartikel g,uerite eben eingeweiht wird. und geben ihn in Übersetzung aus dem Französischen wieder. Aber wir gehen neben den Juden einher, ohne sie zu ken- Zeichen der Zeit: Während einer meiner jüdischen nen. »Die jüdische Existenz« (Titel eines bewunderswer- Freunde, Andre Chouraqui, die Evangelien »Les quatre ten Buches von Andre Neher, Editions du Seuil 1962) in Annonces« in einem Französisch veröffentlicht, das die ihrer heiklen Lage, aber auch mit ihrem unzerstörbaren Atmosphäre ihres Mutterbodens wieder einfängt, bin ich Glauben, enthält einen für uns ständigen Appell, unsere eingeladen, das Wort zu ergreifen bei der Amtseinfüh- christliche Existenz zu vertiefen. Die Kirche zieht ihre rung des neuen Grossrabbiners Joseph Sitrouk, dem Kraft unmittelbar aus den Wurzeln des Ölbaums, der das Nachfolger von Israel Salzer. Man kann mit Recht jüdische Volk ist und auf den die Zweige des wilden sagen, dass die phönizische Stadt der jüdischen Bevölke- Ölbaums - die wir sind - aufgepfropft werden (Röm rung eine immer freundliche Stadt gewesen ist, die sich 11, 16). Es ist der heilige Paulus, der uns daran erinnert: seit dem Auszug aus Nordafrika auf eine Zahl von »Denke nicht hochmütig. Nicht du trägst die Wurzel, 60 000 beläuft, wodurch Marseille in Frankreich an sondern die Wurzel trägt dich« (Röm 11, 18). Ich lade zweiter und in Europa an vierter Stelle steht. Die israeli- Sie ein, dieses erstaunliche Kapitel 11 des Römerbriefes tische Gemeinschaft in unserer Mitte zählt 20 Synagogen, wieder zu lesen und dabei über die besondere Berufung

32 dieses Volkes zu meditieren, das sich dem Hören des wünsche, dass unsere Stadt ein Vorbild für diese gelebten Wortes (»Shema Israel«) geweiht hat, mehr noch, einem Beziehungen im Alltag des Lebens von Marseille sein vertrauten Dialog mit Gott. Der Jude ist der, der »Gott möge. schafft« als den einzigen Partner, aber der sich nicht mit In der »Göttlichen Komödie« fordert Dante die Juden Worten zufrieden gibt, denn seine Religion drückt sich auf, ihre Hoffnung aufzugeben. Der grosse Mystiker darin aus, dass sie vor allem ein Lebensziel ist, der Tag des zeitgenössischen Judentums, Franz Rosenzweig, ver- und Nacht anhängt dem wahren und treuen Gott, dem merkte dazu, von diesen Versen erschüttert: »Wir könn- Ewigen (Dt 7, 9), 1 »um der Heiligung seines Namens ten alles aufgeben, mit Ausnahme von Hoffnung«, und er willen«. zitierte diesen Midrasch: »Wenn der Jude vor dem gött- Wenn es Menschen gibt, die die Juden verstehen können, lichen Thron erscheinen wird, wird ihm nur eine einzige die sie verstehen sollen, dann sind dies die Christen. Wir Frage gestellt werden: >Hast du auf die Erlösung ge- sagen das im demütigen Geist der Reue, wie das hofft?<, alle anderen Fragen«, fügte der Schriftsteller F. Lovsky so gut bezeugt in »La dechirure de l'absence« hinzu, »werden an euch Christen gestellt werden. Bis (Calman-Levy, 1971), eines der tiefsten Bücher über die dahin lasst uns unsererseits vorbereiten, um im Glauben Beziehungen der Kirche Christi und dem Volk Israel. Ich vor dem Ewigen zu erscheinen« (zitiert von Neher, 1 So erkenne dann, dass der Ewige, dein Gott, Gott ist, der treue p. 232). Gott, der da bewahrt den Bund und die Liebe denen, die ihn lieben Schalom, Friede der jüdischen Gemeinschaft von Mar- und seine Gebote halten bis zu tausend Geschlechtern (In: Tur-Sinai [H. Torczyner] Die HI. Schrift. Jerusalem 1954, S. 599). [Anm. d. seille, Friede den Juden Frankreichs, Frieden über das Red. d. FR.] Heilige Land, Friede unter allen Völkern, Schalom!

7 Partikularismus und Universalismus aus jüdischer Sicht*I** Von Shemaryahu Talmon Ph. D., Professor für Bibelwissenschaft an der Hebräischen Universität Jerusalem

1. Die Zwillingsbegriffe Partikularismus und Universa- che Konversion aller Menschen zum einen und einzigen lismus sind im Lauf der Geschichte nicht nur durch Glauben vor, der Universalreligion der Menschheit, He- Judentum und Christentum unterschiedlich interpretiert gels »absoluter Religion«. Andere gesellschaftliche Bin- worden, sondern auch durch verschiedene gesellschaftli- dungen und Strukturen zur Mittlerschaft zwischen dem che und politische Ideologien. Dass das religiöse Ver- einzelnen und der endgültigen Einheit, d. h. der Kirche, ständnis von Begriffen, die nicht ausschliesslich dem sind überflüssig, ja unzulässig. Die Kirchengemeinschaft religiösen Bereich angehören, stets von Stimmungen, ist Weltgemeinschaft. Formen und Haltungen beeinflusst worden ist und beein- Die auf dem Erwählungsbegriff basierende universalisti- flusst wird, die in der sozio-politischen Dimension vor- sche Ideologie trägt den Keim der Hybris der Selbstge- herrschend sind, ist unvermeidlich. In unserer Generation rechtigkeit nicht weniger in sich als der partikularistische hat sich die Dichotomie zunehmend zu einem völligen Begriff der Auserwähltheit. Der sich auf die erhabene Widerspruch zwischen den beiden Begriffen erhärtet. Vision einer vereinten Menschheit gründende direkte Partikularismus und Universalismus werden sehr oft als Universalismus kann leicht Verachtung für einzelne und zwei sich gegenseitig ausschliessende Konzepte und ideo- Gruppen, die nicht das Licht gesehen haben, hervorru- logische Bestrebungen angesehen. fen. Da diese Art des Universalismus sich als einziger 2. Während das Judentum es emphatisch ablehnt, Parti- legitimer Weg zum Heil der Menschheit versteht — nulla kularismus und Universalismus als sich gegenseitig aus- salus extra ecclesiam —, fühlen sich seine Verfechter schliessende Begriffe anzusehen, bejaht das Christentum leicht berechtigt, ja bestimmt, zur Anwendung nicht nur im allgemeinen eine solche Definition. Die Erwartung missionarischer Überredung, sondern krassen Zwangs, um einer vollen Gleichheit aller Menschen im künftigen den Widerspenstigen diesen Universalismus aufzudrän- Gottesreich ruft im gläubigen Christen das Bewusstsein gen'. gegenseitiger Verpflichtung und Solidaritätssinn im Rah- Auch die Kirche distanziert sich heute zunehmend von extremen men einer konstituierten Gemeinschaft hervor: die Auslegungen des Satzes. Vgl. dazu: »Die dogmatische Konstitution Kirche als Leib Christi. Der einzelne und die Gemein- über die Kirche >Lumen gentium<«, Kapitel II, Art. 16: »Diejenigen schaft sind dazu berufen, den Weg zur Verwirklichung endlich, die das Evangelium noch nicht empfangen haben, sind auf einer allumfassenden Zukunftsgesellschaft vorzubereiten, das Gottesvolk auf verschiedene Weise hingeordnet. In erster Linie jenes Volk, dem der Bund und die Verheissungen gegeben worden indem sie diese in der aktuellen Geschichte zunehmend sind und aus dem Christus dem Fleische nach geboren ist (vgl. Röm vorwegnehmen. 9, 4-5), dieses seiner Erwählung nach um der Väter willen so teure Das Idealbild sieht implizite und explizite die schliessli- Volk: die Gaben und Berufung Gottes nämlich sind ohne Reue (vgl. Röm 11, 28-29). Der Heilswille umfasst aber auch die, welche den "- In: Jewish-christian dialogue. Six years of diristian-jewish Con- Schöpfer anerkennen, unter ihnen besonders die Muslim, die sich sultations, The quest for World Community: Jewish and christian zum Glauben Abrahams bekennen und mit uns den einen Gott an- perspectives. Published by the International Jewish Committee on beten, den barmherzigen, der die Menschen am Jüngsten Tag richten Interreligions Consultations and the World Council of Churches' Sub- wird. Aber auch den anderen, die in Schatten und Bildern den un- unit on Dialogue with the People of Living Faiths and Ideologies. bekannten Gott suchen, auch solchen ist Gott nicht ferne, da er allen Genf 1975, S. 36-42. Leben und Atem und alles gibt (vgl. Apg 17, 25-28) und als Er- Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Professor löser will, dass alle Menschen gerettet werden (vgl. 1 Tim 2, 4) .. .« Shemaryahu Talmon. (Anm. d. Red. d. FR.)

33 Jede Opposition gegen die Verwirklichung dieses als Von allem Anfang an bestätigt das biblische Denken »objektiv« angesehenen Universalismus muss ausgerottet »Partikularismus« als universale empirische Tatsache werden, denn sie entspringt beinahe definitionsgemäss und »Universalismus« als einen Wert und als besonderes einem eigenwilligen »subjektiven« Egotismus. Indivi- Endziel in Israels einzigartigem Monotheismus. Der Par- duen und Gruppen, die beharrlich ausserhalb der Struk- tikularismus des einzelnen drückt sich nicht in Einsam- tur dieses »partikularistischen Universalismus« stehen, keit und »Einzigartigkeit« aus — denn nur Gott ist müssen wie in der Vergangenheit der Gefahr der mögli- »einzig« —, sondern eher in verschiedenen Kristallisie- chen Vernichtung gewärtig sein. rungen der kollektiven Besonderheit: Familie, Sippe, 3. Eine sich vorwiegend bei westlichen Liberalen äussern- Stamm, Glaubensgemeinschaft, Volk, Nation, freiwillig de ideologische Tendenz befürwortet die Aufhebung jeg- eingegangene Mitgliedschaft. Das Judentum versucht, licher institutionalisierter Grenzen und Beschränkungen dem fragmentarischen Leben des einzelnen auf dem Weg im sozio-politischen Organisationsbereich und stimmt über die Projektion auf soziale Strukturen Gültigkeit zu hierin, trotz gänzlich verschiedener Beweggründe, mit verleihen und ihn dadurch vor direkter, unentschärfter der oben dargestellten christlich-unversalistischen Hal- Konfrontation mit einer unpersönlichen Universalgesell- tung überein. Der resultierende, sich »progressiv« nen- schaft zu bewahren. Das Ich ist also der Prüfstein, den nende Universalismus verneint instinktiv das Beharren man an uneigennützige Beziehungen anlegen muss: Liebe anderer Gruppen auf ihrem Recht zur partikularen zum Nächsten und Liebe zum eigenen Ich sollten einan- Identität und bekämpft es aktiv. Das Judentum mit der gleich sein. Auf die gesellschaftliche Ebene und Be- seinen historisch spezifischen Sitten und Bräuchen stellt ziehungen zwischen einzelnen Gruppen angewendet, eine völlig andere Ideologie dar, die durch die Wiederher- werden kollektive Besonderheiten und partikulare Iden- stellung Israels als eigenständige politische Einheit noch tität zum Fundament aller allgemeinen und universalen unterstrichen wird. Dieser tatsächliche Partikularismus Strukturen: »Das Ideal der Religion Israels war eine ist bei Universalisten als Ausdruck einer unangenehmen Gesellschaft, in der die Beziehungen des einzelnen zu religiös-politischen Engstirnigkeit verrufen. Die Ver- seinem Mitmenschen von dem Prinzip >Liebe deinen wechslung von »Partikularismus« als Wirklichkeit mit Nächsten wie dich selbst<, beherrscht war.« 2 »Partikularismus« als Normbegriff in bezug auf das 6. »Partikularismus« und »Universalismus« schliessen Judentum macht eine erneute Analyse der Probleme und sich nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen sich. Auf der ihnen im Ideensystem des Judentums zugewiesenen tatsächliche Lebenssituationen angewendet, verursacht Rolle unbedingt notwendig. diese beinahe axiomatische Behauptung offensichtliche 4. Es muss von vornherein gesagt werden, dass dieser Schwierigkeiten, und das Problem, ein Prinzip auf eine Darstellung enge Grenzen gesetzt sind, denn das Juden- spezifische Situation anzuwenden, tritt in voller Kraft tum ist bei der Interpretation seines eigenen Erbgutes auf. Einerseits besteht die Gefahr, Tatsachen in ihrer keineswegs monolithisch. Man kann kaum den verschie- Relativität nach visionären, absoluten Massstäben zu be- denartigen Nuancen gerecht werden, die in diesem Zu- urteilen; andererseits bewirkt Zweckdienlichkeit, dass das sammenhang bei der Diskussion innerhalb des Judentums Ideal kurzfristigen, praktischen Erwägungen unterwor- sichtbar werden und die z. T. sogar in den Grundprin- fen wird. »Es stimmt«, sagt Martin Buber, »dass wir zipien voneinander abweichen. Abgesehen davon hängt nicht im Zustand vollkommener Gerechtigkeit (und die Interpretation von Partikularismus und Universalis- mehr noch, vollkommener Liebe, S. T.) leben können. mus und der ihnen in der Gesamtstruktur des jüdischen Zur Erhaltung der menschlichen Gemeinschaft müssen Denkens zugewiesenen Rolle zum grossen Teil von spezi- wir oft diesbezügliche ungerechte Entscheidungen hin- fischen historischen Situationen ab. Die Variationen, auf nehmen. Es kommt aber darauf an, dass wir uns in jeder die jüdische Denker verschiedener Generationen Gewicht Entscheidungsstunde unserer Verantwortung bewusst sind legen, sind oft das unmittelbare Resultat äusserer poli- und unser Gewissen befragen, um genau abzuwägen, tisch-religiöser Bedingungen und die jüdische Reaktion wieviel zur Erhaltung der Gemeinschaft notwendig ist, darauf. Solche Umformulierungen der Begriffe Partiku- um gerade so viel und nicht mehr in Kauf zu nehmen.« 2 larismus und Unversalismus bestimmen weitgehend die Angewandte jüdische Ethik versteht diese komplementä- jüdische Haltung gegenüber der Aussenwelt. Ein Versuch, ren Aspekte der gesellschaftlichen Realität und versucht, das Wesen des jüdischen Partikularismus und Universa- die unvermeidliche Spannung zwischen beiden zu mil- lismus darzustellen, muss daher notwendigerweise selek- dern. In Anerkennung der Unzulänglichkeit unserer hi- tiv sein. Man kann nur hoffen, die wichtigsten Aspekte, storischen Welt fügt sich das Judentum darein, dass eine die das jüdische Denken diesbezüglich leiten sollten, fest- Idealstruktur der menschlichen Gesellschaft erst »am zustellen, mag auch die historische Realität, wie es tat- Ende der Tage« verwirklicht werden kann. Das Wissen sächlich zu Zeiten der Fall war und ist, davon abwei- um die Beschränkungen des kollektiven Lebens auf allen chen, ja ganz offen die aus den grundlegenden, normativ- Gebieten der historischen Welt erzeugt aber keine Untä- jüdischen Quellen abgeleiteten Prinzipien verletzen. tigkeit. Das Judentum hat sich seit den biblischen Tagen Zwischen die Idee des Anfangs bis zur heutigen Stunde mit internen und Und die Wirklichkeit externen Problemen auseinandergesetzt, die sich aus der Zwischen die Eingebung Spannung zwischen verschiedenen Gemeinschaften erga- Und die Handlung ben, und hat ihre Bewältigung den besonderen Bedürfnis- Fällt der Schattenla. sen der jeweiligen historischen Situation angepasst. Die Wertung der Geschichte veranlasst den Juden, sein Jüdischer Partikularismus als auch universalistisches 5. Erbgut bereitwillig zu reinterpretieren und selbstkritisch Drängen des Judentums sind in der biblischen Ideenwelt auf neue Bedingungen und Erfordernisse einzugehen. beheimatet, und von dorther muss jegliche Diskussion dieser beiden Aspekte ihren Ausgang nehmen. 2 George Foote Moore, »Judaism«, in Historia Religionum, C. Jouco Bleeker and Geo. Widengren, eds. (Leiden: E. J. Brill, 1971), II, 156. T. S. Eliot, »The Hollow Man«, in Collected Poems (London: 3 Martin Buber, »Hebrew Humanism«, in Israel and the World (New Faber & Faber, 1966). York: Schocken, 1971), 246.

34 Diese Haltung lässt sich nutzbringend auf die Umdefi- 10. In der Geschichte ist durch die menschliche Sündhaf- nierung grundlegender jüdischer Begriffe im Kontext tigkeit eine positiv verstandene Besonderheit in Entzwei- dieser Diskussion anwenden: die Suche nach einer besse- ung ausgeartet. Die Entwicklungen, durch die Vereinze- ren Weltordnung. lung von Individuen und Arten als auch die Besonder- 7. Es scheint, dass hierbei die Idee der »Erwählung« heit von Gruppen in feindliche Gegnerschaft und Hass unbedingt einer neuen Definition bedarf. Der Gedanke entarteten, sind in der Bibel in einer Reihe von Episoden des »auserwählten Volkes«, der ins Christentum hinein- aus vorsintflutlichen und »prähebräischen« Zeiten leben- genommen wurde, ist zwar ein Kernbegriff, aber die ihm dig dargestellt. Die Adam-Eva-Schlange-Feindschaft zugrunde liegende Haltung, dass »Ausgezeichnetsein« (Gn 3, 14-15) versinnbildlicht die Trennung des Men- gleichbedeutend ist mit »Ausgezeichnetheit« steht im Wi- schen von anderen Gattungen. Kains Brudermord an derspruch zu einer geplanten Weltordnung, deren Abel symbolisiert anthropologisch die Untergrabung der Grundlage die allgemeine Gleichheit bildet. Das Juden- Individualität zu egotistischer Rivalität (Gn 4, 3 ff.). Die tum muss die Erwählungslehre, sofern sie nicht Dienst Entzweiung rührt nicht nur von einer fehlgeleiteten In- und Andersartigkeit, sondern Überlegenheit bedeutet, zu- dividualität her, sondern entsprechend der biblischen rückweisen, denn sie enthält den unannehmbaren Gedan- Erzählung auch von falsch verstandener Universalität. ken einer automatischen Vorzugsstellung des jüdischen Diese wird beispielhaft an der Episode vom Turmbau zu Kollektivs vor dem Schöpfer, im Gegensatz zu anderen Babel dargestellt (Gn 11, 1-9): Bis dahin »war auf der Glaubens- und Volksgruppen. In einer auf inhärenter ganzen Erde eine Sprache und einerlei Worte« (oder Gleichheit aller Menschen beruhenden Weltgemeinschaft möglicherweise, »einerlei Ziele«). Übermässiges »Eins- kann einem Kollektiv das Beiwort »erwählt« im Sinne sein« bewirkte Hybris gegenüber dem wirklichen Einen, moralischer Überlegenheit nur von einer anderen Gruppe dem Schöpfergott, und wurde mit der entzweienden verliehen werden, vorausgesetzt, dass es sich solcher Aus- Zerstreuung der Menschheit bestraft, die den menschli- zeichnung durch exemplarische Lebensweise würdig er- chen Zustand bis zum »Ende der Tage« charakterisiert. wiesen hat. Die historische, trennende Partikularität wird als Unter- 8. Die synchronische Ausweitung des einzelnen ins Kol- brechung zwischen der göttlich festgesetzten, abgestimm- lektiv hinein wird durch die diachronische Ausweitung ten Verschiedenheit zur Zeit der Schöpfung und der ergänzt. Der Mensch in seiner Gesamtheit überbrückt die wiederhergestellten, verbindenden Einheit von Mensch Lücke zwischen vorangehenden und zukünftigen Gene- und Tier, von Nation und Nation in der Zeit der rationen. Das Kollektiv gibt daher dem einzelnen die »letzten Tage« angesehen. Gewissheit der Kontinuität über seine eigene begrenzte 11. Das Judentum hat den »Universalismus« zum letzten Lebensspanne hinaus. Aus der Kollektivität erwächst Ziel gemacht, auf dessen Erreichung die Menschheit ihre Geschichtsbewusstsein, das seinerseits das Kollektiv un- Anstrengungen richten soll. Alle Menschen und Völker termauert und stärkt. Geschichtsbewusstsein trägt zur werden gemahnt, ihre Hoffnungen auf die Vision der Überwindung des Fragmentarischen im Menschen bei, »letzten Tage« zu richten, eine kosmische Situation, in das zur Aussichtslosigkeit und letzthin zur Zerstörungs- der die historisch-existentiellen Spannungen zwischen wut führen kann. Die Gewissheit, Glied einer Kette von Partikularismus und Universalismus zur Ruhe gekommen Generationen zu sein, regt zur Erhaltung ererbter Werte sind. Alle werden friedfertig am Universum teilhaben, an, und das Wissen um die Aufgabe, diese Werte unter unter der gerechten Leitung des Schöpfers, dem alle ständig wechselnden Umständen an künftige Generatio- Völker Ehre erweisen werden. Wie im Anfang, d. h. in nen weiterzugeben, führt zur Bereitschaft, sie im Licht prähistorischen Zeiten, so wird in den letzten Stadien der neuer Erfahrungen zu reinterpretieren. Eine ständige menschlichen Geschichte der Universalismus zur Wirk- Umbildung ererbter Werte macht den Juden geneigt, lichkeit werden, nicht durch die Beseitigung des Partiku- diese Werte auf breitere Gemeinschaften anzuwenden. larismus — sei er nun anthropologisch, glaubensmässig 9. In einer Zusammenfassung der jüdischen Grundideen oder sozio-politisch —, sondern im Gleichklang der Ar- über die Dichotomie »Partikularismus-Universalismus« ten und Besonderheiten. Israels unversalistische Vision muss gesagt werden, dass das Judentum Partikularismus drückt sich in der Harmonie zwischen einzelnen Men- als ein unleugbares Prinzip der menschlichen Existenz schen und einzelnen Völkern aus, die den »Einen Aller- anerkennt. Das Judentum verleiht dem tatsächlichen, höchsten« anbeten, in der mannigfachen Wesenheit der bestehenden Partikularismus, wie man ihn in allen Le- Gottheit. Israel wird zwar Gottes »besonderes« Volk, am benssituationen erfährt, eine geistige Dimension, indem segulah, bleiben (Ex 19, 5; Dt 7, 6; 14, 2; 26, 18; Mal man ihn als von Gott angeordnet versteht. Er ist ein 3, 17); aber in gleicher Weise wird jedem Volk, innerhalb Grundphänomen des menschlichen Zustandes seit den seines eigenen Glaubens, eine besondere Stellung und Be- Tagen der Schöpfung, auf natürlichem, anthropologi- ziehung zu Gott eingeräumt. »Und sitzen wird jeder schem, ethnischem, gesellschaftlichem und politischem unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum, Gebiet. Besonderheit schliesst die Verschiedenheit und, und keiner stört, denn der Herr der Heerscharen hat bis zu einem gewissen Grade, Getrenntheit von Men- gesprochen. Alle Völker mögen gehen, jegliches im Na- schen ein, unter der einigenden Oberherrschaft des men seines Gottes; wir aber wollen gehen im Namen des Schöpfers, der über die Menschheit regiert. Das Juden- Herrn, unseres Gottes, für immer und ewig« (Mich tum bejaht die daraus erwachsende Verschiedenheit im 4, 4-5). Das Judentum sagt den Völkern salus extra Bereich des menschlichen Geistes. Es erkennt die Vielfalt synagogam zu. der religiösen Erfahrungen, die in verschiedenen und ver- 12. In diesem Zusammenhang gewinnt die jüdische Vor- schiedenartigen kultischen Praktiken ihren Ausdruck fin- stellung, dass das Leben innerhalb der Gesellschaft auf den, als eine Realität der menschlichen Geschichte an. einem festen Kodex von gesetzlichen Vorschriften und Entscheidungsfreiheit in geistlichen Dingen wird als un- Verfügung basiert, besondere Bedeutung. Das Zusam- veräusserliches Recht aller Menschen als Individuen und menwirken von einzelnen und gesellschaftlichen Körper- als Mitglieder bestimmter Kollektive, d. h. gesellschaft- schaften muss durch göttlich verkündete und normativ lich-religiöser Gemeinschaften, verstanden. erläuterte Statuten reguliert werden, die die ganze

35 Menschheit, wenn auch in verschiedenem Grade, angehen. chung werden allen Zwiespalt überwinden, der intern aus Jüdischer Universalismus ist auf einer gesetzlichen Basis falsch verstandenem Partikularismus zwischen Juda und gegründet, an der die ganze Menschheit teilhat, nämlich Ephraim (Jes 11, 12), extern zwischen Israel und den den sieben noachidischen Gesetzen, den sieben Säulen Völkern (Jes 19, 24-25) und zwischen den Völkern un- menschlichen Zusammenlebens. Jüdischer Partikularis- tereinander entstanden ist, während ihre Besonderheit mus wird offenbar in der Überstruktur von Geboten und unversehrt bleibt. Gesetzen, welche die Besonderheit des Judentums festle- In dieser biblischen Vision enthüllt sich Israels Verständ- gen. Im idealen »Reich der Völker« werden diese freiwil- nis der »Weltgemeinschaft« als einer »Gemeinschaft von lig ihren souveränen Willen unter die überzeugende Gemeinschaften« in reinster und verdichtetster Form. Kraft des göttlichen Richters beugen ( Jes 2, 1-4; Mich Zwischen die besondere, subjektive Ebene der einzelnen

4, 1 - 4). Göttliche Gerechtigkeit wird im israelitischen menschlichen Existenz und den universal-objektiven Be- Staat unter der gerechten Leitung der israelitischen Kö- reich der Weltgemeinschaft postuliert das Judentum das

nige offenbar werden (Jes 11, 1 - 5). Die ordnende Kraft nicht-universale, aber transsubjektive Gepräge der Grup- des Göttlichen und menschlich-königliche Rechtspre- pe, gleich welcher Art oder Bestimmung. (Aus dem Englischen von Helga Croner)

8 Offenbarung, Judentum und Christentum im Denken Franz Rosenzweigs Bericht über ein Forschungsgespräch in der »Wolfsburg«, der Katholischen Akademie des Bistums Essen, vom 15.-17. September 1976* Von Professor Dr. Georg Scherer, Essen

An der Tagung, die einer Begegnung von Christen und weisheit angesehen wird, gegen die sich die Offenba- Juden dienen sollte, nahmen von jüdischer Seite u. a. rungsrede abgrenzt. Die Abgrenzung hat den Sinn, die teil: Unverfügbarkeit der Offenbarungswahrheit, die Unter- Prof. Dr. Jehoshua Amir, Jerusalem; Dr. Ernst L. Ehr- scheidung zwischen Erwählten und Nichterwählten und lich, Basel; Prof. Dr. Shemaryahu Talmon, Jerusalem. schliesslich die Freiheit der Offenbarung und Erwäh- Die christliche Seite wurde u. a. vertreten von: Prof. D. lung durch Gott herauszustellen. Daraus ergibt sich, Bernhard Casper, Augsburg; Dr. Willehad P. Eckert dass der Offenbarungsbegriff bedeutungslos wird, wenn OP, Köln; Prof. Dr. Richard Schaeffler, Bochum; Prof. er universalisiert, d. h. über den Bereich der konkret-ge- Dr. Hans-Jürgen Verweyen, Essen; Prof. Dr. Georg Sche- schichtlichen Offenbarung hinaus ausgeweitet wird. Er rer, Essen (Leiter der Kath. Akademie >Die Wolfsburg<). wird unscharf, wenn er nicht eindeutig bestimmt, woge- Das Denken Franz Rosenzweigs kann darum im beson- gen er sich abgrenzt. Er wird beliebig, wenn er das,, wo- deren Masse als Ausgangspunkt einer solchen Begegnung gegen er sich abgrenzt, nicht als konkret gegeben aufwei- verstanden werden, weil Rosenzweig u. a. eine eigene sen kann, sondern als Schatten seiner selbst konstruiert. Theorie des Verhältnisses von Synagoge und Kirche ent- Daher gilt grundsätzlich: Offenbarung ist nur sinnvoll, wickelt hat. Die Tagung erhielt einen besonderen Ak- wenn der Mensch als Mensch in einem Frage-Horizont zent dadurch, dass der Verlag Nijhoff, Nijmegen, wel- steht, innerhalb dessen ihm das zu Offenbarende ver- cher eine Ausgabe der Schriften Rosenzweigs herausgibt, hüllt bleibt und diese Verhüllung durch die offenbaren- während der Tagung ein erstes Exemplar der Neuauf- de Enthüllung aufgehoben wird. Daraus folgt, dass die lage des Hauptwerkes von Franz Rosenzweig, des Abgrenzungsfunktion des Offenbarungsbegriffs qualita- »Sterns der Erlösung«, vorstellen konnte. tiv verstanden werden muss: Was ist so, dass es das »Ver- Das erste Referat von Richard Schaeffler über das The- gehen von Hören und Sehen« voraussetzt und ein neues ma »Der Offenbarungsbegriff — Die Frage nach Krite- Auge und Ohr verlangt, um wahrgenommen zu werden? rien seines sinnvollen Gebrauchs« fasste Offenba- Als weitere Elemente des Offenbarungsbegriffs wurden rung als einen meta-sprachlichen Reflexionsbegriff durch Schaeffler Personalität und Freiheit namhaft ge- auf. Damit wurde deutlich, dass der Offenbarungsbegriff macht. Damit bezog Schaeffler bereits eine Position, die eine sprachkritische Funktion hat. Diese kritische Funk- insofern mit dem Denken Rosenzweigs übereinstimmt, tion bezeichnet Schaeffler als strukturell-limitativ: Offen- als auch dieser sich gegen die Versuche der idealistischen barungsrede will sich nämlich immer abgrenzen gegen das Dialektik wehrt, Offenbarung als eine ontologisch not- Reden aus blosser Menschenweisheit, wie Schaeffler am wendige, Natur und Geschichte übergreifende Totalität zu neutestamentlichen Gebrauch des Offenbarungsbegriffs verstehen. Betont man allerdings in dieser Weise die Frei- deutlich machte. Dabei hob er hervor, dass immer beach- heit und Souveränität des sich offenbarenden Gottes, so tet werden müsse, was jeweils als die blosse Menschen- taucht die Frage auf, wie der Offenbarungsinhalt zwi- schen Gott und Mensch kommunikabel werden kann. Die Referate und ein Diskussionsbericht werden 1977 oder 1978 von der Kath. Akademie des Bistums Essen im Ludgerus-Verlag in Essen überraschenderweise konnte Schaeffler in diesem Zusam- veröffentlicht werden. menhang auf Platon zurückgreifen, der dort von einem

36 »Zuteilwerden« spricht, wo sich dem Menschen das eröff- schlossenheit dort aufgebrochen wird, wo sich in der net, was dem Denken die Kraft und dem Gedachten die Sprache Personen frei füreinander öffnen, der Mensch Erkennbarkeit verleiht. Im Anschluss an diese Bemerkung zur »sprechenden Seele« wird. Dabei wird von Rosen- Schaefflers wurde in der Diskussion der Versuch unter- zweig vorausgesetzt, dass sich das Reden des Menschen nommen, die Zusammengehörigkeit transzendentaler immer in irgendeiner Weise auf die Prota und die Escha- Strukturen des menschlichen Geistes mit einem Offenba- ta, die erste Herkunft und das letzte Ziel aller Dinge, rungsereignis zu denken, welches letztlich im Sinne Ro- bezieht. Für Rosenzweig spielt nach der Interpretation senzweigs als ein Angesprochensein durch Gott verstan- von Casper in diesem Zusammenhang der »Augenblick« den werden darf. Sollte sich eine solche Möglichkeit des eine entscheidende Rolle. Denn in der Offenheit der Per- Denkens eröffnen, so liesse sich die von Rosenzweig an- sonen füreinander, wie sie sich im Gespräch zu ereignen gegriffene klassische Metaphysik, die Transzendental- vermag, welche von Rosenzweig als eine von Gott um- Philosophie und ein vom Ereignis im Sinne Heideggers griffene und ermöglichte gedacht wird, ist ein augen- ausgehendes Denken, sowie das »neue Denken« Rosen- blickshaftes Ineinander der drei Urphänomene möglich, zweigs als ein dialogisches miteinander vermitteln. Aller- welches auf das Eschaton verweist, in dem Gott alles in dings betonte Schaeffler nachdrücklich, dass es bei der allem sein wird. In solchen Augenblicken erscheint das Offenbarung im jüdischen und christlichen Sinne nie nur »ewige Leuchten, das über die göttlichen Züge geht«. um die Eröffnung eines neuen, individuellen Horizontes Ewig bedeutet hier für Rosenzweig gerade keine festste- geht, sondern um ein Geschehen, das von vornherein auf hende Eigenschaft Gottes und auch keine Beschreibung Intersubjektivität zielt. Es scheint, dass das Denken Ro- der göttlichen Substanz. Gott selber wird vielmehr ereig- senzweigs in dieser Frage weiterführen könnte. nishaft gedacht. Weil er sich uns von Augenblick zu Augen- Im zweiten Referat wandte sich Bernhard Casper unmit- blick neu als der sich Offenbarende, d. h. der Sprechen- telbar dem Werk Rosenzweigs zu. Sein Thema lautete: de zeigt, kann er auch als der immer Währende erfahren »Offenbarung im Sprachdenken Franz Rosenzweigs«. werden. So versteht Rosenzweig die Offenbarung des gött- Casper machte deutlich, dass Rosenzweigs Hauptwerk lichen Namens im brennenden Dornbusch. Gottes Name »Der Stern der Erlösung«, in welchem er sein »neues Den- lautet im Sinne Rosenzweigs »Ich bin der, der sich je ken« formuliert, im Grunde als ein »Bibelkommentar ohne und je ereignen wird«. Nur, weil er immer da sein wird, Text« zu verstehen sei. Dabei lässt sich Rosenzweig von sich ereignen wird, »wenn du ihn anrufst«, ist er dann dem Grundanliegen leiten, das Ursprüngliche biblischer auch der ewig Seiende. Wie die Sprache Freiheit voraus- Offenbarung in der Überwindung der idealistischen Ver- setzt bzw. sich nur als Freiheit ereignen kann, so auch stellungen eines genuinen Offenbarungsverständnisses Zeit. Die Betonung der Zeitlichkeit der Sprache spielt aufs neue herauszuarbeiten. Gegenüber dem idealisti- für Rosenzweig eine überragende Rolle. An diesem schen Versuch, die gesamte Wirklichkeit aus der Setzung Punkte wurde im Referat, aber auch in der Diskussion durch das Denken abzuleiten, beruft sich Rosenzweig Strukturverwandtschaft des Denkens Rosenzweigs mit auf das ursprüngliche Recht der Erfahrung, wobei Er- dem Heideggers konstatiert, wobei allerdings auch ent- fahrung nicht im kantischen Sinne kategorialer Erfah- scheidende Unterschiede nicht übersehen werden dürfen. rung verstanden wird, sondern umfassender als das Sich- Die Zeitstruktur der Sprache zeigt sich nicht nur in der einlassen des Menschen auf die von ihm unabhängige überragenden Bedeutung des Augenblicks und auch Wirklichkeit dessen, was nicht er selbst ist. Für den nicht nur darin, dass Vergangenheit und Zukunft in der Idealismus hängt, so führte Casper aus, die Möglichkeit Gegenwart des Augenblicks zusammenschiessen, sondern von Identität daran, dass der Geist sich in allem wieder- auch darin, dass die Sprechenden einander Zeit geben findet und er auf nichts zu stossen braucht, das unabhän- müssen, um einander antworten zu können. Daher rufen gig von ihm wäre. Identitätsdenken im idealistischen Sin- sie sich gerade gegenseitig in ihrer Freiheit vor, indem ne besagt: Geist in allem er, und nur er! Für Rosenzweig sie einander Zeit geben, und konstituieren sich als Sichzei- dagegen ereignet sich Identität grundsätzlich im »Zwi- tigende, indem sie einander freilassen. schen« von Interpersonalität. Darum gewinnt die Spra- Um die Position Rosenzweigs richtig beurteilen zu kön- che für ihn eine entscheidende Bedeutung. Hier taucht nen, ist die Feststellung wichtig, dass es für Rosenzweig für Rosenzweig das Unverfügbare auf, von welchem im Offenbarungsgeschehen ein Zugleich von Gebot und Schaeffler in seinem Einleitungsreferat gesprochen hatte. Liebe gibt. Indem Gott den Menschen anruft, tritt Gott Analog zu Kierkegaard, den Rosenzweig aber nur am in ein Liebesgeschehen ein, das auf den Menschen hin- Rande erwähnt, während er sich häufiger auf Kant be- zielt. Zugleich erscheint er aber auch als der im Gebot ruft, entdeckt Rosenzweig die Unableitbarkeit des Ein- fordernde Gott. Gott offenbart sich als Liebe, aber er zelnen in seiner Freiheit: Individuum triumphans! Da- offenbart sich gerade als die Liebe, indem er vom Men- mit soll aber kein Individualismus begründet werden, schen Liebe fordert. Das Offenbarungsgeschehen hebt sondern vielmehr die Voraussetzung erscheinen, unter übrigens für Rosenzweig Gottes Verborgenheit nicht der das interpersonale Geschehen von Sprache und Of- auf. Nicht das Urphänomen Gott selbst wird sichtbar, fenbarung als Sprachgeschehen steht. Rosenzweig geht sondern es wird nur seine Anrede in Gebot und Verhei- von den drei Urphänomenen aus, welche er als unhinter- ssung hörbar. Casper zitierte den Satz Rosenzweigs »deus fragbare Voraussetzungen jedes Denkens und der gesam- absconditus, sed non ignotus«. Gottes Sein bleibt verbor- ten menschlichen Praxis ansieht: Gott, Mensch, Welt. gen, aber er ereignet sich als der Sprechende. Solche Aus- Nach Rosenzweig ist eine Rückführung zweier dieser sagen Rosenzweigs werden nur verständlich, wenn man Urphänomene auf eines problematisch. Das Denken fin- bedenkt — das wurde in der Diskussion hervorgehoben —, det hier zu keiner gültigen Orientierung, weil sich diese dass »Sein« hier im Sinne des Wesensdenkens verstanden drei Urphänomene voreinander verschliessen, isoliert wird, wie es über weite Strecken die klassische Metaphy- nebeneinanderstehen und jedes für sich das All, die Tota- sik bestimmt hat, ohne doch in ihr schlechthin zur Herr- lität schlechthin sein will, während sie in Wirklichkeit schaft gekommen zu sein. Man kann daher die kritische nur ein Ganzes, aber gerade nicht das All darstellen. Anfrage Schaefflers verstehen, ob Rosenzweig hier nicht Rosenzweigs Absicht ist es nun, zu zeigen, dass diese Ver- sich selber einen Gegner aufgebaut hat, der in dieser

37 Form historisch nicht vorfindlich ist. Casper antwortete gnation, verbunden mit Atheismus, die Emanzipation von hierauf durch den Verweis auf die Herrschaft des Neu- der deutsch-christlichen Gesellschaft weg zum orthodo- kantianismus, von dem sich Rosenzweig abstossen wollte, xen Judentum bzw. zum Zionismus hin und schliesslich wobei für ihn die Auseinandersetzung mit Hermann die Emanzipation vom Judentum weg zum Christentum Cohen eine entscheidende Rolle spielte. Casper stellte und so in die deutsch-christliche Gesellschaft hinein. überzeugend heraus, dass Rosenzweig sich als Jude ver- Rosenzweig hat mit allen diesen Möglichkeiten gespielt. standen hat und sein Hauptwerk, den Stern, als die Ausle- Entscheidend für seinen Weg ist der Briefwechsel mit gung der einen Grunderfahrung auffasst, die er als »sein Rosenstock-Huessy, der, gleich ihm aus dem liberalen Judesein« interpretiert. Allerdings behauptet Rosen- Judentum kommend, zum Christentum konvertierte. Der zweig auch, dass Offenbarung die Seele jeder Religion sei. Anfang des Dialogs sieht Rosenzweig als jüdischen Von daher gelangt er zur Forderung der Toleranz. Diese Agnostiker und Rosenstock als offenbarungsgläubigen Toleranz ist die eines Wettbewerbs der Religionen. Zu Christen. Rosenstock entzieht dem Relativismus Rosen- dieser These gelangt Rosenzweig, weil er von der Ein- zweigs den Boden, doch ein jüdischer Gottesdienst in heit der Wahrheit überzeugt ist. Diese Wahrheit muss Berlin bringt die Wende: Auf dem Wege vom Agnosti- sich im Dialog, jetzt verstanden als Dialog der Religio- zismus zum Christentum entdeckt Rosenzweig sein Jude- nen, bewähren. Dieser Dialog lebt, so skizzierte Casper sein. In der Auseinandersetzung mit der deutschen prote- Rosenzweigs Überzeugung, von den »Stillsten-Kämmer- stantischen Theologie wird Rosenzweig nun zum »jüdi- leinworten«, die im Dialog zu den »grossen Parlaments- schen Theologen«, obwohl es im strengen Sinne jüdische reden« werden. Es heisst, im Dialog muss das zur Sprache »Theologie« kaum gibt. Diese Entwicklung erklärt, war- kommen, worin ein Mensch die Authentizität seiner Exi- um Rosenzweig zu den wenigen Juden gehört, die das stenz erlangt. Diese kommt aber gerade, hier wird noch Christentum ernst nehmen, als besondere Offenbarung einmal der Charakter des Sprachdenkens deutlich, im anerkennen und ihm heilsgeschichtliche Bedeutung zu- Augenblick des Aussprechens erst voll zu sich selbst. Au- messen. Rosenzweig steht hier unter dem Eindruck der thentizität ist selber eine dialogische. Gestalten von Ecclesia und Synagoga am Strassburger In der Diskussion im Anschluss an das Referat von Cas- bzw. Freiburger Münster. Judentum und Christentum — per tauchte die Vermutung auf, bei Rosenzweig finde es ist bezeichnend, dass die anderen Religionen in Rosen- sich die Vorstellung eines »werdenden Gottes« (Ehrlich). zweigs Denken keine vergleichbare Rolle spielen — sollen Dem hielt Casper entgegen, dass es sich bei dem augen- nebeneinander bestehen bleiben und auf gegenseitige Mis- blickshaften Ereignis der Offenbarung nicht um ein Wer- sion verzichten. Rosenzweig bejaht den Satz des johan- den handelt, sondern um ein eh und je neues Anwesen, neischen Christus: »Niemand kommt zum Vater ausser in welchem Gott zwar augenblickshaft, aber doch »ganz« durch mich« ( Joh 14, 6) — niemand, es sei denn, er wäre da sei. Es geht nicht um Werden, sondern um Ge- schon beim Vater, und eben dies trifft für Israel zu, wenn schichte. Allerdings wurde darauf hingewiesen, dass es auch nicht ohne weiteres für den einzelnen Juden. Ro- insofern bei Rosenzweig den Gedanken des werdenden senzweig unterscheidet zwischen »sakraler« und »ge- Gottes gibt, als er von einer Selbsterlösung Gottes schichtlicher« Zeit, nimmt das jüdische Volk aus der spricht, die für ihn sogar die äusserste Sinnspitze des Geschichte heraus und teilt diese der Kirche zu. Israel, einen Geschehens bedeutet, welches er in Schöpfung — erwählt von seinem Vater, nimmt am Gang der Ge- Offenbarung — Erlösung skandiert (Scherer). Obwohl schichte nicht teil, sondern blickt starr über die Geschich- deutlich wurde (Amir), dass man hier von einem über- te hinüber zu Gott. Proselytismus gibt es nur als das zeitlichen in Gott immer schon vollzogenen Geschehen messianisch-zeichenhafte Kommen des einzelnen: nie- sprechen muss und dieses im Sinne Rosenzweigs vom Ge- mand wird geholt. Auftrag der Kirche dagegen ist die schick des Menschen und der Welt zu unterscheiden hat, Mission, nicht unter den Juden, wohl aber unter den konnte die Befürchtung nicht unterdrückt werden, dass Völkern. Die christliche Mission ist der Strahlenkranz, Rosenzweig dem, wovon er loskommen wollte, dem idea- Israel ist das innere Feuer des »Sterns der Erlösung«. listischen Denken nämlich, in gewisser Weise doch noch Dabei bleibt offen, ob Jesus der Messias ist; es wird sich zugehört. Die Problematik des werdenden Gottes bzw. zeigen, wenn der Messias kommt. Am Ende aber wird der trotz seines Werdens unangetasteten Überzeitlichkeit auch der Sohn sich dem unterwerfen, der ihm alles Gottes stellt sich ja in ähnlicher Weise bei Hegel und unterworfen hat (vgl. 1. Kor 15, 28). Wenn dann Chri- Schelling, mit deren Denken Rosenzweig aufs tiefste ver- stus aufhört, Herr zu sein, wird Israel aufhören, erwählt traut war. Weiter wurde die Anregung gegeben, die zu sein, und Gott ist alles in allem. Grundpositionen Rosenzweigs einmal mit denen Marcels In der Diskussion des Vortrages von Talmon wurde die zu vergleichen, weil sich bei Marcel manchmal bis in die Frage erörtert, ob unter den gegenwärtigen Bedingungen Wortwahl gehende Übereinstimmung mit Grundgedan- des Dialoges der Religionen die starke Abwertung der ken Rosenzweigs findet, wobei allerdings ein völlig ande- Bedeutung der asiatischen Religionen durch Rosenzweig res Verständnis von Sein zu beachten ist. Was die Authen- noch haltbar sei. Danach gelangte die Tagung zu einem tizität des Redens und die im Aussprechen gefundene gewissen Höhepunkt: Es ging um die Bedeutung, die Identität angeht, wurde auf die bekannte Meridianrede Judentum und Christentum heute füreinander haben Paul Celans hingewiesen, in der sich ein verwandter können. Dabei wurde von seiten der anwesenden Chri- Gedanke findet (Scherer). sten betont, dass, obwohl der christliche Glaube Jesus Das dritte Referat stand unter dem Thema »Das Verhält- Christus als zentrales Heilsereignis betrachtet, das Juden- nis von Judentum und Christentum im Denken Franz tum, wo es weiterhin von einer eschatologisch ausgerich- Rosenzweigs«. Shemaryahu Talmon zeigte, dass Rosen- teten Haltung der Erwartung bestimmt bleibt, den Chri- zweigs Ideen nicht aus dem Inneren des Judentums, sten darauf zu verweisen vermag, dass das Reich noch sondern aus der Konfrontation mit dem Christentum nicht gekommen ist. Von hierher versuchte man auch die entstanden. Für den Angehörigen einer Gesellschafts- von Talmon herausgestellte These Rosenzweigs von dem schicht assimilierter Juden gab es im Kaiserreich auf der ungeschichtlichen Charakter des Judentums zu verstehen. Suche nach Identität verschiedene Möglichkeiten: Resi- Sie meint nicht, dass der Jude nicht in geschichtlichen

38 Situationen und Bezügen zu existieren habe, sondern und Erinnerung. Rosenzweig löst sich allmählich aus der stellt ihn, vor allem im Zusammenhang der sein Schicksal antithetischen Umklammerung durch das Christentum. bestimmenden Dialektik von Exil und »Besitz des Lan- Der Weg zurück führt nicht in ein System von Institutio- des«, immer aufs neue in die Erwartung des Reiches. nen und Lehren, sondern an jenen Punkt, an dem er sich Jehoshua Amir sprach über »Das spezifisch Jüdische im in die Kette der Geschlechter Israels als ganzer Mensch Denken Franz Rosenzweigs«. Rosenzweig selbst legte wieder einreihen kann. Für diese verschüttete Grund- grössten Wert darauf, als jüdischer Denker zu gelten: »Es schicht, die nur freigelegt werden muss, ist »Synagoge« muss der Welt mit allen Mitteln klargemacht werden, kein sinnvoller Name mehr. Aber auch » Judentum« sieht dass dieses Buch (der >Stern der Erlösung<) ein jüdisches zu sehr nach etwas Abgeschlossenem, Lehrbarem aus, Buch ist!« Gerade nach Rosenzweig gibt es vorausset- und Rosenzweig findet für das, was nun sein Leben zungsloses Denken nicht, und so schien ihm sein Werk bestimmt, das Wort »Judesein«. Erst hier, nachdem Ro- nur dann von Bedeutung zu sein, wenn es in jener senzweig sich sein Judesein freigekämpft hat, schlägt bei Geistesmacht verankert war, auf die er sein Leben ge- ihm wirklich jüdisches Denken durch. Es lässt ihn zwei gründet erfunden hatte. Sein Weg ist von Grundworten im zeitgenössischen Westjudentum verkümmerte Elemen- bestimmt, an deren zeitlicher Aufeinanderfolge sich die te entdecken: das jüdische Lernen und das jüdische innere Entwicklung ablesen lässt: Synagoge, Judentum, Gesetz. Mit der Gründung des »freien jüdischen Lehr- Judesein: Zunächst ist Rosenzweig gewillt, die Position hauses« nimmt Rosenzweig eine zweitausendjährige Tra- der Synagoga gegenüber der Ecclesia zu halten. In die- dition wieder auf. Aber die Generation der Umkehrer sem Zusammenhang gilt: Israel ist ein Volk, nicht weni- bedarf eines anderen Lehrhauses als die Generationen ger, sondern mehr als andere. Was bietet die Gewähr für selbstverständlicher Zugehörigkeit; hier müsse, sagt Ro- seinen ewigen Bestand? Rosenzweig gibt eine uns zu- senzweig, in umgekehrter Richtung gelernt werden: nicht nächst schockierende Antwort: das Blut. Doch im Grun- aus dem Judentum heraus, sondern auf das Judentum zu. de ist das, was hier mit »Blut« bezeichnet wird, etwas Dadurch, dass dem Lernenden der Stoff der Vergangen- übermaterielles, das freilich nicht zu einem blossen Ge- heit zugetragen wird, wird er aufgenommen in das grosse dankending verflüchtigt werden darf: Es geht ihm — in überzeitliche Gespräch der Generationen, in das hinein Absetzung vom deutschen Idealismus — um die Priorität er dann schliesslich sein eigenes Wort sprechen wird. des Seins vor dem Bewusstsein. Das soll u. a. durch das In der Diskussion wurde zunächst die Frage aufgewor- »Blut« unterstrichen werden. Die Auserwähltheit Israels fen, wie Rosenzweig auf die durch die Gründung des ist für Rosenzweig eine im Geschlechterzusammenhang Staates Israel veränderte Situation wohl reagiert hätte. und nur in ihm unmittelbar erfahrene Tatsache. Er deu- Dabei wurde man sich schnell einig, dass er seine von tet aber diese jüdische Erfahrung um zur Antwort auf Amir kritisierte Position »Judesein heisst im Exil sein« eine christliche Frage: Israel ist »bei Gott«, also da wohl nicht hätte aufrechterhalten können. Sodann ging bereits angelangt, wo die Heidenvölker auf dem ewigen es erneut um die Frage des Verhältnisses von Judentum Wege des Christentums erst hingeführt werden sollen. und Christentum bezüglich des in beiden Religionen Dabei kommt wohl die Erlösungsbedürftigkeit Israels anwesenden Offenbarungsgutes. Casper formulierte: Das selbst zu kurz. Das Exil wird theologisch gerechtfertigt: »Arkanum« des Christen sei die Person Jesu Christi, zum »Judesein heisst im Golus, im Exil sein.« Dennoch »Arkanum« des Juden gehöre z. B. das Ritualgesetz. scheint gerade in diesem Zusammenhang Rosenzweig Bleibt nun das »Arkanum« dem jeweils anderen einfach auch der genialste Griff gelungen zu sein: Weil Israel für unzugänglich oder hat jeder dem anderen etwas zu sagen, die Menschheit steht, muss es die Gegensätze eines ganzen das ihm gilt, ohne dass er es sich selber sagen könnte Universums in sich beschliessen. Daher gehört Paradoxa- (Schaeffler)? Darauf wurde geantwortet: Die Korrektur lität zum Wesen jüdischer Religion. Das zeigt sich in einer christozentrischen Eschatologie durch die Landver- »blitzschnellen Übergängen«, in denen z. B. der ferne heissung könne das Christentum vor der Gefahr einer Gott plötzlich als der nahe erfahren wird. Und doch: allzu grossen Spiritualisierung seiner eschatologischen Die Gegensätze reissen das Judentum nicht auseinander, Vorstellungen bewahren (Scherer). Der Jude habe den sondern bewahren in ihm ihre spannungsvolle Einheit. — Christen auf die Verankerung des Geistigen im Natürli- Ist es ein Widerspruch zu Rosenzweigs Konzeption des chen hinzuweisen. Im übrigen aber sei der Dialog zwi- »geschichtslosen« Judentums, wenn es nun um den »jüdi- schen Juden und Christen »asymmetrisch«: Der Christ schen Weg« geht? Christ wird man, Jude ist man — und habe mit dem »Alten Testament« das jüdische Erbe doch gilt es für den, der »nur noch dem Namen nach gleichsam »von innen«, während dem Juden das Unter- Jude« ist, wieder Jude zu werden. Dies ist ein Weg, der scheidend-Christliche doch mehr äusserlich bleibe nicht nach aussen, sondern nach innen führt, Umkehr (Amir).

. . . Hätte die Bibel nicht diese geheimnisvolle Kraft, unsre Irrtümer in ihre Wahrheit zu verwandeln, so wäre sie zu übersetzen ein noch grösseres Wagnis, als es das schon ist. Aber darum allein auch wird das Wagnis Gebot und ein jeder Mühe wertes Ziel. Denn diese Kraft der Bibel zur Verwandlung ist das Geheimnis ihrer weltgeschichtlichen Wirkung.

Franz Rosenzweig: In: Sprache und Gestalt der Schrift. »Der Ewige«, S. 198, aus: Kleinere Schriften. Berlin 1937. Schocken Verlag.

39 9 Versuchung des Glaubens Zur Kritik des christlichen Antijudaismus* Bibelarbeit über 1 Petrus 2,5-7, gehalten vor der Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland am 14. Januar 1976 in Bad Neuenahr* Von Professor D. Eberhard Bethge D. D.

Den folgenden uns zur Verfügung gestellten Beitrag verdanken wir Geheimnis nicht einfach in historischen Zusammenhängen, sondern in Herrn Professor Bethge. Von dieser Bibelarbeit sind hier die Teile 3 dem gemeinsamen einen Gott liegt, der seinen Bund ungekündigt und 4 wiedergegeben. hält. Nun hat eine veränderte Nahost-Politik, aber sicher auch andere Im Vorwort dazu heisst es:"" theologische Orientierung das, was gerade begonnen war, zurückge- ... Noch vor gar nicht langer Zeit — da war >Wir und Israel( eines drängt auf wieder kleinere Kreise. Eberhard Bethge steuert gegenan der Gebiete, in denen die Kirche unserer Gesellschaft führend und ver- und will die Kirche erinnern — indem er den so selbstverständlich tiefend helfen konnte. Die Suche nach Verständnis zwischen Christen scheinenden Umgang mit dem Alten Testament als ungeheuer an- und Juden befruchtete das Gespräch von Deutschen und Israelis. Es spruchsvoll bewusst macht. Was doch ein Bibeltext sagt, wenn er schien, als begriffe jetzt die Christenheit ihre Geschichtlichkeit, deren mit Geschiduswissen gelesen wird ... P. S.""

»Und bauet auch ihr euch als lebendige Steine zum geistlichen denn sie stossen sich, weil sie an das Wort nicht glauben, wozu Hause und zur heiligen Priesterschaft, zu opfern geistliche sie auch verordnet (früher: gesetzt) sind. Opfer, die Gott angenehm sind durch Jesus Christus. Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, das königliche Darum steht in der Schrift (Jes 28, 16): Priestertum, das heilige Volk, das Volk des Eigentums (Ex >Siehe da, ich lege einen auserwählten, köstlichen Eckstein in 19, 6), dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten (früher: Tu- Zion; und wer an ihn glaubt, der soll nicht zuschanden werden.< genden) des, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem Euch nun, die ihr glaubt, ist er köstlich; wunderbaren Licht; den Ungläubigen aber ist >der Stein, den die Bauleute verwor- die ihr vormals >nicht-ein-Volk< waret, nun aber 'Gottes-Volk< fen haben, der zum Eckstein geworden ist, ein Stein des An- seid, und vormals >nicht-in-Gnaden<. waret, nun aber >in-Gnaden< stosses und ein Fels des Argernisses< (Ps 118, 22; Jes 8, 14); seid (Hos 2, 25).« (1 Petr 2, 5-10, rev. Luthertext von 1956)

Ich schicke den Blick in diesen alttestamentlich-neu- dürften wir die christliche Übernahme der jüdischen testamentlichen Text ein Zitat aus Schlatters immer noch Grundurkunde vom erwählten Volk Gottes nicht mehr lesenswertem Kommentar aus den Zwanzigern voraus. lesen, ohne ständig zu sehen, wie diese seit den frühen Schlatter schreibt zu Vers 9: »Darum überhäufen Juden Kirchenvätern von uns usurpiert wurde und welche Fol- und Griechen in ihrem blinden Hass die Glaubenden gen das in 1900 Jahren gehabt hat. Wir dürften das umsonst mit Schmähungen: die Glaubenden haben die allenfalls vergessen, nur wenn es die Juden zuerst verges- Ehre, die ihnen niemand rauben kann, die Ehre, dass sie sen könnten. als lebendige Steine in Gottes Haus stehen und ihn Johannes Chrysostomos, der als der grösste Prediger der preisen dürfen als heilige Priesterschaft. 1 « Ob wir heute Alten Kirche gilt, hielt am Ende des vierten Jahrhun- heraushören, welche Gerichtsworte wir damit über uns derts beifallumtoste Predigten gegen die Juden: »Ihr, die selbst, die Christen, aussprechen? ihr euch an Christus versündigt habt, seid mit Recht im Als mich die Bitte erreichte, diesen Text für die Landes- Stande der Schande und Ungnade, während wir, die wir synode zu übernehmen, hatte ich gerade die erste Seite in ihn anbeten, durch die Gnade Gottes uns nun in einer Golda Meirs Memoiren2 gelesen, wo sie andeutet, was sie respektableren Position befinden als irgendeiner von als Fünfjährige erlebte, nämlich wie Leute mit dem Ruf euch und in grösserer Ehre, obwohl wir doch einst »Christusmörder« auf Juden Jagd machten. Dieses Zu- weniger Ehre besassen als irgendeiner von euch.« 3 Ja, sammentreffen bestimmte meine Beschäftigung mit diesem er kann sagen, es bestehe keinerlei Vergleichbarkeit jüdisch-christlichen Text. zwischen den Leiden der christlichen Märtyrer und Als wir vor vierzig Jahren die Verse unmittelbar auf uns den Leiden von gestraften Dieben, Grabschändern und und unsere Situation bezogen, kannten — oder erkannten Hexen — und das jüdische Leiden falle unter die letztere — wir die Barriere der bösen 1900jährigen Geschichte Kategorie. Chrysostomos ist nur einer unter den vielen, mit diesem Erwählungswort für uns überhaupt nicht. Wir einschliesslich Augustin 3a, freilich der Beredtste. hatten das nicht einmal im Hinterkopf. Heute aber Unser Text hat nun die Erwählung Israels — in der reichsten Ausdrucksweise — für die Kirche übernommen " Erschienen mit obigem Titel». Neukirchen-Vluyn 1976, Neukirche- und sie begleitet mit der Feststellung einer Verwerfung ner Verlag, als Sonderheft Reihe Erbaulicher Reden I), 14 Sei- (»wozu sie auch gesetzt sind«). Beides wurde hier freilich ten. Nachstehend mit auch freundlicher Genehmigung des Neukirche- ner Verlags widergegeben. ausgesprochen zu einer Zeit, in der die Christen selber "- Diese Bibelarbeit erschien zuerst in: Wissenschaft und Praxis, in eine Minderheit waren, ja als sie noch als eine innerjüdi- Kirche und Gesellschaft, unter dem Titel: »Christlicher Umgang mit sche Sekte betrachtet und hart verfolgt wurden. jüdischer Tradition«. 65. Jg., Heft 6, Juni 1976, S. 201-207. Das nachstehende, ebd. auf S. 197, hier enthaltene Vorwort 3 J. Chrysostomos, Orationes contra Jud. VI, 2-3. findet sich nicht in dem Sonderheft". 3a Vgl. auch Bernhard Blumenkranz, Die Judenpredigt Augustins, 1 Zu: Adolf Schlauer, Die Briefe des Petrus, Judas, Jakobus, der Basel 1946. Ges. S. 173 ff. Nachgewiesen in: Karl Thieme, Der reli- Brief an die Hebräer, Calver Verlag, Stuttgart 1964, S. 31. giöse Aspekt der Judenfeindschaft, in: FR X, Nr. 37/40 (Oktober 2 S. u. S. 134 f. (Anmerkungen "'"*, 2 d. Red. d. FR). 1957), S. 11.

40 In solcher Situation formulierten sie ihr Selbstverständ- Juden haben schon immer besser gewusst als wir, dass nis. Und dabei rangen sie darum, nur ja einen »guten nichts, aber auch gar nichts in Hitlers Judenverordnun- Wandel« zu bewähren (V. 12) und auf Vergeltung zu gen und in Streichers Material im »Stürmer« von diesen verzichten. Das hiess, auf dem unteren Weg des Gekreu- neu erfunden war. Es war alles dagewesen: Berufsbe- zigten zu bleiben. schränkung, Assoziationsverbot im Dienst-, Geschäfts- Dann kam der Durchbruch zur Religion des Imperiums. und Sexualbereich, gelber Stern, Deportation und schliess- Das in Zeiten bedrohter Minorität formulierte Selbstver- lich Ausrottung. Antisemiten wie Hitler hatten nur säku- ständnis von Vers 9 stand nun zur Verfügung, zu recht- larisiert und deshalb rassisch begründet, was zuvor reli- fertigen und auszubauen, was man in den sozialen giös und theologisch vorbereitet und untermauert worden Kämpfen um Anerkennung und Macht bzw. ihre Aber- war. kennung durchsetzte. Diese Geschichte lässt sich in einem zusammenfassenden So selbstverständlich wie es heute in Südwestafrika gilt, Zitat aus dem neuen Buch von Rosemary Ruether, Theo- dass kein Weisser unter einem Schwarzen arbeiten soll login in Boston, verdeutlichen: Die antijüdische Literatur (»never a White under a Black«), so selbstverständlich der frühesten Kirche »war nicht geschaffen worden, um wies man nun aus theologischen Gründen den Juden ihren Juden zu bekehren, nicht einmal, um sie direkt anzugrei- negativ bestimmten Ort an: niemals ein Christ unter einem fen, sondern um die Identität der Kirche zu sichern. Und Juden. Die theologischen Outcasts wurden die Opfer einer das konnte sie nur tun, indem sie die Identität der Juden gesellschaftlichen, beruflichen, finanziellen und rechtli- verletzte. Das hätte weithin theoretisch bleiben können, chen, ja moralischen Apartheid. wenn Christentum und Judentum beide Minoritäten ge- Aus der prophetischen Selbstkritik Israels leiteten die blieben wären ... Im vierten Jahrhundert jedoch wurde Christen in zahlreichen Schriftbeweisen ab, dass die Ju- das Christentum zur Religion des Imperiums . die Kir- den nach ihren eigenen Zeugnissen kriminell und unheil- chen müssen eine wesentliche Verantwortung für die tra- bar fleischlich gesinnt seien. Chrysostomos: »Die Syn- gische Geschichte der Juden unter den Christen überneh- agoge ist nicht nur ein Hurenhaus und eine Schaubühne, men. Sie haben den Grund gelegt, auf dem der säkulari- sie ist auch eine Diebesschlucht und der Schlupfwinkel sierte, politische Antisemitismus errichtet wurde, von dem wilder Tiere, nicht nur wilder, sondern schmutziger wil- dann die Nazis ihren Gebrauch gemacht haben.« 6 der Tiere ... Die Juden haben keine Auffassung von Wenn wir nun also unseren Erwählungstext bei 1 Petr 2 geistlichen Dingen ... sie sind nicht besser veranlagt als im Bewusstsein dieser Wirkungsgeschichte lesen, berüh- Ziegen und Schweine; sie leben von Ausschweifung und ren wir das Problem, das in der Stuttgarter Schulderklä- unmässiger Gefrässigkeit.« 4 rung von 1945 6a noch kaum berührt worden ist. Inzwi- So war aus der Erfüllung des jüdischen Messianismus in schen ist der theologische und kirchliche Antijudaismus der Erwählung durch Christus der Antijudaismus gewor- für Rom, für Genf und auch für uns in der EKiD und in den (erwidert von dem entsprechenden synagogalen An- dieser Landeskirche zu einem unheimlich drohenden, tichristentum); aus dem theologischen Antijudaismus er- ungelösten Problem geworden. Die EKiD hat nun eben wuchs dann mit der Emanzipation der säkular rassisti- auch eine Studie herausgebracht, die im Vergleich mit an- sche Antisemitismus. Der christliche Glaube hatte defi- deren grosser Konfessionen sicher sehr begrüssenswert ist'. niert, wer die Juden seien und diese Definition dann Aber auch in ihr wird die ganze Mühsal deutlich, dass gesellschaftlich exekutiert. Diese jeweilige Versuchung noch keine allgemein akzeptierten Kategorien für ein des Glaubens, den oder die anderen zu definieren und zu neues Verständnis von Ekklesiologie und Christologie exekutieren, bleibt die unheimliche Möglichkeit seiner angesichts eines Dialoges mit den Juden gefunden sind — Vertreter zu allen Zeiten. und dass man eben den Verzicht auf die Judenmission Kein Wunder: Nun haben Juden und Christen sehr ver- noch nicht hat gemeinsam aussprechen können. schiedene Daten in ihr jeweiliges Geschichtsbewusstsein Bei den Juden stossen unsere Erklärungen natürlich auf aufgenommen. Was die einen vergassen, behielten die an- ein zwiespältiges Echo; schon deshalb, weil sie sehen, deren im Gedächtnis. Was die einen eine grosse Zeit nann- wieweit das Thema des theologischen Antijudaismus ten, überlieferten die anderen als eine schreckliche Epoche. noch Thema nur für Spezialisten ist. Was kommt für die So wissen die ursprünglichen Adressaten des Erwäh- Kirche ins Wanken, wenn sie also 1 Petr 2 ohne theologi- lungswortes aus Vers 9 meist besser, dass die Kreuzzugs- schen Antijudaismus auslegen soll? Mancher Jude aber predigten hier am Rhein ihr erstes Ziel darin fanden, die wartet nicht einmal so sehr auf eine Pro-Israel-Erklä- Juden in Speyer, Worms, Mainz, im Moseltal, in Köln, rung. Die kommen bei uns jetzt verhältnismässig leicht Neuss und Xanten aufzuspüren und umzubringen. Am zustande. Er wartet aber auf neue Analysen unseres 15. Juni 1099 — und auch dessen erinnern sich die Juden theologischen und homiletischen Antijudaismus. besser als wir — sind in Jerusalem mit den Anhängern des Wir pflegen uns damit zu helfen, daß wir den Antisemi- Islams auch alle Juden, Frauen und Kinder eingeschlossen, tismus, vielleicht auch sogar den Antijudaismus, als einen ausgelöscht worden; danach, so heisst es bei Stephen Run- akzidentiellen, zufälligen Nebeneffekt der christlichen ciman, »begaben sich die Fürsten des Kreuzheeres in fei- Geschichte ansehen — dann hat er mit Stellen wie 1 erlichem Zuge . . . zum Dankgottesdienst in die heilige Petr 2 fast nichts zu tun. Ein neues Lesen wird nicht Grabeskirche.« 5 einfach sein. Werden wir die Schrift von antijüdischen Elementen so befreien können, dass das Evangelium nicht

4 Ebd., I, 3. 4. selbst geschwächt wird? Mindestens bleibt die Frage »Chrysostomus ist überhaupt einer der allergehässigsten Anti- stehen, wann und wo wir diesen Text auf uns beziehen judaisten; gerade weil auch für manche Christen Antiochias der dürfen. Dürfen wir das dann noch, wenn uns die Aus- jüdische Kult in der Synagoge viel Anziehendes hatte, muss diese sich einandersetzungen auf die Siegerseite gebracht haben und von dem redegeübten >Goldmund< schmähen lassen.« Vgl. Marcel Simon: Versus Israel, Paris 1948, S. 119 (a. a. 0. Karl Thieme, Anm. 22); vgl. ferner: Uon Poliakov, Geschichte des Antisemitismus. Bd. 1. 6 R. Ruether, Faith and Fratricide, New York 1974, 181, 193 f. Von der Antike bis zu den Kreuzzügen. Worms 1977. Verlag Georg 6a Vgl. in FR XXI/1969, S. 53 (Anm. d. Red. d. FR). Heintz. 93 Seiten. (Anmerkungen 3a, 4a d. Red. d. FR). 7 Christen und Juden. Eine Studie des Rates der Ev. Kirche in 5 St. Runciman, Geschichte der Kreuzzüge, München 1967, 247. Deutschland, Gütersloh 1975 [S. in FR XXVII/1975, S. 68 ff.].

41 in die Position, den Status der unten befindlichen Gegner Und Buber, Baeck und Rosenzweig sind nicht müde einseitig zu bestimmen? Das gilt ja auch weit über die geworden, in der Urstelle unseres Textes, Exodus 19, die jüdisch-christliche Beziehung hinaus. Jede etablierte Kir- kritische Einheit vom Sein der Erwählung mit der Funk- che gerät in die Gefahrenzone eines bösen Missbrauchs tion der Verkündigung zu betonen und die kritische dieser Petruszusagen. Der Unterschied ist gross, das »Ihr Abhängigkeit des Seins von dieser Funktion und der seid«, »Ihr seid« im Status des Establishments zu hören Funktion von diesem Sein. Nur in der Verkündigung des und den anderen ihren Platz zu definieren und anzuwei- Namens Gottes, des Wohltäters der Erde wider die sen — oder es zu hören im Status ausgestossener oder Unterdrücker der Erde, seid ihr, was ihr seid — mit dieser verfolgter Existenz. Verkündigung seid ihr in der Tat das freie königliche Gewiss, wir sind nicht die Richter unserer Väter, nicht Priestertum. der unmittelbaren und nicht der über die Jahrhunderte Und das bedeutet, dass wir der Predigt, die uns dieser hinweg. Aber wir sind unentrinnbar Erben. Nun, wenn Text heute hält, zunächst als einer Gegenrede zuzuhören uns in diesen Breiten Europas kein Regime verfolgt, so haben. Dass wir in betroffener Scham das Strassburger verfolgt uns doch unsere Geschichte. Santayana meinte, Tor anschauen mit seiner stolzen Frau Ekklesia und wer sich ihr nicht stellt, muss sie zum zweiten Mal seiner blinden Frau Synagoge. 8a Dass wir nicht abschalten, durchmachen. Und die ersten Eigentümer von Vers 9 wenn die alten und neuen Anklagen vorgetragen werden, haben nicht vergessen. seien sie subtil, seien sie massiv geäussert. Dass wir Ich vergesse nicht, wie uns der Amsterdamer Rabbiner hinhören, wenn nun zu den jüdischen auch noch die Ashkenasy, Entkommener aus Auschwitz, einmal sagte, Anfragen aus der Dritten und Vierten Welt hinzukom- während wir über den modernen Abfall der Christen men und die gleiche Frage stellen: Wer seid ihr denn von ihrem Glauben sprachen: »Ein Jude kann seinem eigentlich wirklich, ihr angeblich Erwählten, Heiligen Judentum nicht entlaufen, er bleibt Jude, ob er glaubt mit euren imperialen Missionsansprüchen, mit euren oder nicht. Ihr Christen irrt, wenn ihr jetzt meint, euch zweifelhaften Bündnissen oder verdächtigen Neutrali- so einfach davonstehlen zu können. Wir werden euch tätsbehauptungen, mit eurem Oben- statt Unten-Sein? diesen billigen Atheismus nicht so leicht machen. Wir Wir sollen an den glauben, auf den ihr euch beruft? behaften euch mit dem, was ihr so lange beansprucht Werden wir ihn und sein Bild etwa vor euch retten habt. Nun seid das doch: messianisches Volk, das bereits müssen? Die meisten Jesusbücher kommen jetzt aus königliche Priestertum, welches Gottes Wohltaten besitzt jüdischen Federn! Genau das Anhören der Gegenrede und weitergibt.« Wer wird folgenlos davonkommen, dieses Textes, das ist jetzt die Weise, wie wir den Exodus- wenn er dies zu sein und zu tun einmal behauptet hat! zuspruch und die grosse Hoseatröstung als Evangelium Was können wir angesichts solcher Sachverhalte in einem für uns zurückerhalten. Die harte Rede ist für uns die Blick auf diese Verse aus ihrem Dialog mit uns nun noch Stimme der Liebe. hören und sagen? Allem voran, dass wir bei dem ergangenen Ruf und bei dem erteilten Auftrag gewiss bleiben wollen; dass wir 8» »In dem Beitrag über den religiösen Aspekt des Antisemitismus [s. o. Anm. 3a] musste von der Verzerrung des Jüdischen im hohen nichts darüber hinaus wissen können und wollen als diese und späten Mittelalter gesprochen werden. In der bildenden Kunst unglaubliche Zusage: Ja »Ihr seid ...«. Dass wir also wie auch in der Dichtung hat es aber auch ehrfurchtsvolle Gestal- nichts Überzeugenderes und Gültigeres kennen als die tungen der Synagoge gegeben ... Die Gestalt der Synagoge am Strass- Nachfolge des gekreuzigten und auferstandenen Christus, burger Münster bietet dazu das Gegenstück in der bildenden Kunst, wie es von dem frühverstorbenen Ernst Stadtler in dem untenstehen- welcher der Eckstein auch unseres »geistlichen Hauses« den Gedicht erkannt worden ist: ist. Dieses durch IHN »erwählt, königlich beauftragt, Zuletzt, da alles Werk verrichtet, meinen Gott zu loben, ausgesondert (heilig) und IHM zugehörig«, das bleibt die Hat meine Hand die beiden Frauenbilder aus dem Stein gehoben. Fremdbestimmtheit und Fremdbestimmung. Zu ihr be- Die eine aufgerichtet, frei und unerschrocken — kennen wir uns gern, weil sie das Gegenteil einer Ver- Ihr Blick ist Sieg, ihr Schreiten glänzt Frohlocken. Zu zeigen, wie sie freudig über allem Erdenmühsal throne, sklavung unter das eigene System, unter fanatische Deifi- Gab ich ihr Kelch und Kreuzesfahne und die Krone. zierungen und Dämonisierungen, ja unter das Joch der Aber meine Seele, Schönheit ferner Kindertage und mein tief ver- Geschichte und der Selbsttäuschungen meint, schenkt und stecktes Leben Hab ich der Besiegten, der Verstossenen gegeben. verwirklicht. Diese Fremdbestimmung unseres Seins und Und was ich in mir trug an Stille, sanfter Trauer und demütigem unserer Aufgaben ist um so eindeutiger, je betroffener Verlangen wir sie annehmen mit Hosea als die Berufung der Unwür- Hab ich sehnsüchtig über ihren Kinderleib gehangen: digen und der Untauglichen, derer, die alles verspielt Die schlanken Hüften ausgebuchtet, die der lockre Gürtel hält, Die Hügel ihrer Brüste zärtlich aus dem Linnen ausgewellt, haben, die aber wirklich als »Nicht-mein-Volk« zu »mei- Liess ihre Haare über Schultern hin wie einen blonden Regen fliessen, nem Volk« und wahrhaftig als »Nicht-in-Gnaden« zu Liebkoste ihre Hände, die das alte Buch und den zerknickten Schaft den »In-Gnaden« gemacht sind. umschliessen, Doch wehe, wenn aus diesem Spitzensatz die tägliche Gab ihren schlaffen Armen die gebeugte Schwermut gelber Weizen- felder, die in Julisonne schwellen, Selbstverständlichkeit, wenn das grandiose »Umsonst« Dem Wandeln ihrer Füsse die Musik von Orgeln, die an Sonntagen billig geworden ist! Wehe, wenn aus der Erwählung das aus Kirchentüren quellen. Interesse an der Abgrenzung des Heilsbesitzes erwächst Die süssen Augen mussten eine Binde tragen. und diese sich mit Macht verbindet! Dass rührender durch dünne Seide wehe ihrer Wimpern Schlagen. Und Lieblichkeit der Glieder, die ihr weiches Hemd erfüllt, Das bedeutet, dass wir die Verse 9 und 10 nur recht Hab ich mit Demut ganz und gar umhüllt, hören, wenn wir die prophetische Selbstkritik der Juden Dass wunderbar in Gottes Brudernähe erst recht die Kritik an dem neu berufenen Volk sein Von Niedrigkeit umglänzt ihr reines Bildnis stehe. lassen. Bei Rosemary Ruether heisst es: »Die christliche (Aus: »Deutsche Lyrik«, Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, aus- Entfremdung vom kritischen Prinzip und die Projektion gewählt und herausgegeben von Walter Urbanek, Ullstein-Bücherei, seiner negativen Seite auf die Juden hat auch den Effekt, Nr. 93. Berlin 1956. S. 166.) 8 [In: Zwei christliche Würdigungen der Synagoge aus dem deutschen dass das kritische Prinzip in der Kirche verlorengeht.« Mittelalter. In: FR X, Nr. 37/40 (Oktober 1957), S. 14 f.]

8 R. Ruether, a. a. 0., 164. (Anm. d. Red. d. FR).

42 So ist der Zuspruch und die Identitätsstärkung dieser was wir noch eben gerade formulieren, ohne unsere Verse untrennbar mit Busse verknüpft. Einer Busse, die Antijudaismen schon zu bemerken". das eigene Missionieren neu durchdenkt. Einer Busse, die Aber so geschähe eine angemessene Annahme dieses »Ihr die Definition, wer wir denn seien und wer die anderen, seid« und eine hoffnungsvolle Antwort auf die Hosea- nicht mehr selbst allein bestimmt, sondern mindestens ansprache von der Grossherzigkeit Gottes. einen möglichst vorbehaltlosen Dialog mit den Juden Ist damit die Ermächtigung dieses stolzen »Ihr seid« nun sucht — und so auch 1 Petr 2 eventuell mit ihnen zusam- doch an Bedingungen geknüft? Hängt die Gewissheit men auslegt. Einer Busse, welche die dann mit Sicherheit des Glaubens dann doch an den Werken, die Rechtferti- aufkommende Verunsicherung riskiert und nicht vor- gung an der Heiligung? Tasten wir das reformatorische schnell und ängstlich die Unklarheiten, die uns dann erst solus an, sola gratia, sola fide? Verleugnen wir die Lehre recht deutlich werden, überspielt und also die neue der Kirche von der nie auszuschöpfenden Gnade? Ich Identitätsstärkung nicht an ihnen vorbei, sondern durch erinnere an Bonhoeffer, der 1937 schrieb: sie hindurch erwartet. Einer Busse, die mit langem Atem . . . »und doch wurde diese Lehre das Ende und die Ver- die Mühe demütigender neuer Bewusstseins- und Ge- nichtung der Reformation . . . Wie die Raben haben wir schichtsbildung auf sich nimmt. uns um den Leichnam der billigen Gnade gesammelt; von Einer Busse, die etwa in einem rheinischen Landessyno- ihr empfingen wir das Gift, an dem die Nachfolge Jesu dal-Proponendum die EKiD-Studie übernimmt und die unter uns starb . . . Das sollte lutherisch heissen, dass man notwendige Analyse des theologischen Antijudaismus die Nachfolge Jesu den Gesetzlichen, den Reformierten und eine neue Standortbestimmung nicht mehr den Exper- oder den Schwärmern überliess, alles um der Gnade ten überlässt. Es wäre schon viel, wenn wir in der willen; dass man die Welt rechtfertigte und die Christen Verbindlichkeit einer Synode wenigstens soweit kommen in der Nachfolge zu Ketzern machte. Ein Volk war könnten wie vor 400 Jahren das von uns eigentlich nicht christlich geworden, aber auf Kosten der Nachfolge zu so geliebte Tridentiner Konzil, als es in dem 1570 pro- einem allzu billigen Preis . . . Ist der Preis, den wir heute mulgierten Trienter Katechismus sagte: »Unsere Schuld mit dem Zusammenbruch der organisierten Kirchen zu (an der Kreuzigung) ist wahrscheinlich tiefer als die der zahlen haben, etwas anderes als die notwendige Folge der Juden gewesen . . . wir, die wir bekunden, ihn erkannt zu zu billig erworbenen Gnade? . . . Das Wort von der haben und ihn dennoch durch unsere Werke verraten — billigen Gnade hat mehr Christen zugrunde gerichtet als wir legen Hand an ihn und fügen ihm Leid zu.« 9/9a Heute irgendein Gebot der Werke.«" wäre das konkreter zu sagen. Juden warten darauf. Die Jawohl, die Identitätsstärkung von 1 Petr 2 ist total um- Arbeit wird ungleich härter werden als die, welche wir sonst. Aber sie zerfällt — und dann ist sie »umsonst« —, wenn auf die Ökumene-Proponenden in bezug auf die katholi- sie nicht mehr zu neuen Identifikationen mit den von Gott sche Kirche und auf die Freikirchen verwendet haben. geliebten Ausgestossenen und in die Minorität führt. Und manches wird dann neu geschrieben werden müssen, Niemand ist verwehrt, dass er . . . den spontanen Trost dieser Ich-Stärkung dankbar hört, die ganze Geborgen- heit: Ich bin gewählt, geliebt, ich werde gebraucht, und 9 Nach: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts, 1975, Nr. 5, 89. ich gehöre dazu, und ich bin ganz in Gnaden beim Vater. 9a Im Urtext: »Quod quidem scelus eo gravius in nobis videri potent, So ist das tatsächlich in der Gemeinde Christi. Wenn das quarr fuerit in Iudaeis, quod illi, eodem Apostolo teste, >si cogno- so ist, dann wird er aber wohl auch hören, welche Folgen vissent, numquam Dominum gloriae crucifixissent<, nos autem et dieser Zuspruch für seine Existenz hat; denn diese Exi- nosse eum profitemur, tarnen factis negantes, quodammodo violentas ei manus videmur inferre.« stenz ist ja nicht ein Moment, sondern sie ist eine nach (Pars I, Caput V. Qu XI, III, S. 51) In: Adolf Buse: Der Römische hinten und vorn und zur Seite zu verantwortende Sache. Katechismus, nach dem Beschlusse des Konzils von Trient für die Eine Landessynode kann jedenfalls nicht bei dem indivi- Pfarrer auf Befehl Papst Pius des Fünften herausgegeben. Biele- duellen Trostbedürfnis und -anrecht ihrer Glieder stehen feld u. Leipzig 3 1867 — Vgl. auch Katechismus nach dem Beschlusse bleiben! Sie verantwortet die Gabe des Namens Christi. des Konzils von Trient für die Pfarrer. Auf Befehl der Päpste Pius V. und Klemens XIII. übersetzt nach der zu Rom veröffent- 9b Die rheinische Landessynode behandelte in ihren Proponenden lichten Ausgabe mit Sachregister. Kirchen/Sieg 1970 (Anm. d. Red. 1974 die katholische Ukumene und 1976 die freikirchliche. d. FR). to D. Bonhoef fer, Nachfolge, München 7 1961, 20, 24, 26.

10 Juden und Judentum im christlichen Religionsunterricht

Zum obigen Thema bringen wir einen Bericht über die Arnoldshainer »In den letzten Jahren hat eine intensive Bemühung eingesetzt, eine Tagung vom 14. bis 16. Februar 1977: »Bilanz der Reformbemühun- sachgerechte Darstellung der Juden und des Judentums im christ- gen« von Professor Dr. Ingrid Maisch und einen Beitrag von Pro- lichen Religionsunterricht zu erreichen. Eine Reihe von neuen Schul- fessor Dr. Hildegard Gollinger »Zielfelderplan für den katholi- büchern zeigt neue Ansätze der inhaltlichen und methodischen Dar- schen Religionsunterricht, eine Chance für den jüdisch-christlichen stellung. Das Verhältnis des Juden Jesus von Nazareth zu seiner Dialog?» jüdischen Umwelt und Tradition erschloss vertiefte Möglichkeiten, Zur Weiterführung von Fragen, die Anfang November 1974 ein von Jesus von Nazareth und seine Botschaft zu verstehen. Eine neue der Bischöflichen Akademie Aachen veranstaltetes Symposion »Das Bewertung der hebräischen Bibel und ihres Verhältnisses zum Neuen Judentumsbild im christlichen Religionsunterricht<4 behandelte, luden Testament wurde versucht. Ein entscheidender Neuansatz besteht Februar 1977 zu einer gemeinsamen Tagung ein die Evangelische darin, anstelle der Äusserungen über das Judentum von einer Auf- Akademie Arnoldshain (Martin Stöhr) und die Bischöfliche Akademie nahme des jüdischen Selbstverständnisses in Theologie und Unterricht Aachen ( Hans Hermann Henrix). der christlichen Kirchen zu sprechen. Wichtig ist bei allen Versuchen Dem folgenden Bericht stellen wir ihre Einführung zu der Einladung eines Neuansatzes, das Judentum nicht nur als Voraussetzung oder voran: Folie des Neuen Testamentes bzw. der Darstellung der Botschaft Jesu

43 zu verstehen. Gerade da, wo in der christlichen Theologie und Kate- die Aufgabe, ein neues Verständnis nicht nur des Judentums, son- chetik das Thema Judentum nicht ausdrücklich thematisiert war, wa- dern auch des Christentums zu gewinnen. Welche Folgen theolo- ren in vielen Äusserungen der christlichen Theologie, Verkündigung gische Vorurteile haben können, hat sich in der Säkularisierung und Katechese Urteile und Vorurteile über das Judentum enthalten, solcher Vorurteile und in ihrer tödlichen politischen Verwendung ge- die ausgearbeitet werden mussten. Hinter all den Bemühungen steht zeigt . ..«

I Bilanz der Reformbemühungen Bericht über eine Tagung in der Evangelischen Akademie Arnoldshain, 14. — 16. Februar 1977 Von Dr. Ingrid Maisch, Professor an der Kath. Fachhochschule Freiburg i. Br.

Der Antijudaismus ist in unserer Gesellschaft eine nicht bereits bei früheren Tagungen dabei; dass es dennoch nicht zu leugnende Tatsache. Aber wo hat er seine Wurzeln, zu der gewünschten Bilanz, sondern höchstens zu einer vor allem dann, wenn er sich bei Kindern und jungen Zwischenbilanz kam, lag gewiss nicht an den vielen Erwachsenen feststellen lässt? Empirische Untersuchungen »Erstmals-Teilnehmern«, sondern an der derzeitigen haben eindeutig nachgewiesen, was viele vermutet haben: Situation; die neutestamentliche Wissenschaft als die von die antijüdischen Affekte werden im christlichen Religions- der Religionspädagogik angesprochene Bezugswissenschaft unterricht grundgelegt! Die meisten Religionslehrer wer- kann noch kein sicheres Jesusbild im Rahmen der da- den sich gegen dieses Pauschalurteil wehren, und – subjek- maligen religiösen, politischen und gesellschaftlichen Ver- tiv! — zu Recht. Dennoch wird faktisch die negative hältnisse anbieten; wo es um die Konkretionen geht, Voreingenommenheit gegen das Judentum in dem Augen- bleibt vieles offen. Noch unsicherer ist die Lage bei der blick grundgelegt, wo Schüler der Gestalt Jesu begegnen; didaktischen Reflexion judaistischer und neutestament- denn sie lernen Jesus als den kennen, der in seinem Le- licher Ergebnisse. Dennoch – wenn man diese gemeinsame ben und seiner Lehre das Judentum überwindet: das Tagung nicht unter dem Erfolgszwang einer Bilanzierung eigentlich Bedeutsame an ihm ist das, was über das Juden- von Ergebnissen betrachtet, brachte sie die bisherigen Be- tum hinausführt. – Wen kann es verwundern, dass jede mühungen im Detail und im ganzen ein gutes Stück heranwachsende Generation in einen neuen Antijudaismus weiter. hineinwächst? Die Arbeit begann mit einem einführenden Referat von Es wäre allerdings zu einfach, die Verantwortung für Herbert Jochum über »Juden und Judentum im christ- diese Situation auf den Religionslehrer als das schwächste lichen Religionsunterricht«, wobei er einige didaktische Glied einer ganzen Reihe von Verursachungsfaktoren Ansätze für die Behandlung des Judentums im Religions- abzuwälzen: der Lehrer hat es in seiner Ausbildung nicht unterricht aufzeigte und auf deren Problematik hinwies besser gelernt; die Schulbücher und zugehörigen Kommen- (religionskundlicher Ansatz im Rahmen der Weltreligio- tare verstärken das Klischee; die Lehrpläne fordern ge- nen, problemorientierter Ansatz bei der Vorurteilsdiskus- radezu dazu auf, das Unterscheidende und nicht das Ge- sion). Jochum zeigte auf, dass die sachgemässe Behand- meinsame von Juden und Christen in den Unterricht ein- lung des Judentums nur dort gelingen kann, wo das Ver- zubringen. Wo ist Hilfe — für den einzelnen Religions- hältnis beider Religionen auf dem Hintergrund einer lehrer wie für den Religionsunterricht insgesamt? neuen theologischen Einschätzung des Judentums religions- Dieser Frage stellen sich seit Jahren — neben einigen pädagogisch reflektiert wird. anderen Institutionen — die Bischöfliche Akademie des Die folgenden Referate beschäftigten sich mit Grund- Bistums Aachen' und die Evangelische Akademie Arnolds- erfahrungen im Judentum und Christentum: der Exodus- hain. Beide Akademien haben nicht nur allgemeine Ta- tradition und der Passionsgeschichte, wobei in beiden Fäl- gungen über das Judentum oder den Jüdisch-Christlichen len sowohl der historische Ausgangspunkt als auch seine Dialog veranstaltet, sondern auch gezielte Tagungen für (theologische) Deutung und stete Vergegenwärtigung Religionspädagogen, Schulbuchautoren und Verlagslekto- untersucht wurden. über den ersten Komplex sprach Rab- ren angeboten. So lag es nahe, gemeinsam zu der Tagung biner Albert Friedländer in seinem Referat »Die Exodus- » Juden und Judentum im christlichen Religionsunterricht Tradition — Geschichte und Heilsgeschichte«. Friedländer — Bilanz der Reformbemühungen« vom 14. bis 16. 2. setzte bei den Exoduserfahrungen ein, die in den Frei- 1977 nach Arnoldshain einzuladen (Leitung: Heinz Her- heitsbewegungen des 20. Jahrhunderts sichtbar wurden mann Henrix und Martin Stöhr). und die zeigen, wie der einmalige geschichtliche Impuls Die meisten Referenten und einige Teilnehmer waren immer neu lebendig wird. Dies gilt besonders für das Judentum wegen des unlösbaren Zusammenhangs von Vgl.: Jesu Verhältnis zum Judentum. Das Judentum im christ- Religion und Geschichte. Die Exoduserfahrung bleibt als lichen Religionsunterricht. I. Bericht über ein Symposion in der Bi- Grunderfahrung des jüdischen Volkes erhalten, vor allem schöflichen Akademie Aachen vom 1./2. 11. 1974, von W. P. Eckert; im Rückbezug auf die Herkunft aus einer Sklavengruppe, II. Jesusgestalt und Judentum in Lehrplänen, Rahmenrichtlinien und Büchern für den Religionsunterricht, von Herbert Jochum. In: FR die erst durch die Befreiung zu einem Volk wurde, aber XXVI , 1974, S. 21 ff. auch in der religiösen Deutung des Auszugs als eines Hin- Vgl. auch den Sammelband, der die auf dem Symposion gehaltenen wegs zu Gott. Beiträge enthält: W. P. Eckert/H. H. Henrix: Jesu Jude-Sein als Der Komplex der Passionsgeschichte wurde unter ver- Zugang zum Judentum. Eine Handreichung für den Religionsunter- richt und Erwachsenenbildung. Einhard Verlag, Aachen 1976. Schrif- schiedenen Gesichtspunkten behandelt: Heinz Kremers tenreihe der Bisdiöfl. Akademie Aachen, Bd. 6, 199 Seiten. arbeitete in seinem Beitrag »Die Schuld am Tode Jesu

44 als historisches Problem« den historisch gesicherten Kern wertend bzw. abwertend; als positiv konnte nur das in der Passionsgeschichte heraus, der nur von einer römi- der Anfangsphase des jüdisch-christlichen Dialogs ver- schen Verantwortung für die Verurteilung Jesu weiss; er wendete Komplementärmodell verbucht werden: danach konnte sich dabei auf jüdische wie christliche Unter- geht man vom ungekündigten Bund mit Israel aus und suchungen stützen, die darin übereinstimmen, dass die von der daraus abgeleiteten Parallelexistenz von Israel Rolle der jüdischen Seite aus den neutestamentlichen und Kirche. Klappert führte das christologische Depen- Quellen nicht mehr zu rekonstruieren ist. Im Korreferat denzmodell neu in die Diskussion ein, womit er die blei- sprach Ruth Kastning-Olmesdahl, Duisburg, über »Die bende Verwiesenheit der Heidenchristen ( = Kirche) auf Passionsgeschichte im Religionsunterricht der Grundschule Israel meint; die Kirche ist danach nicht nur in ihrer Her- als Quelle antijüdischer Affekte«. In einer Analyse neuerer kunft, sondern auch in ihrer Zukunft von der Erwählung Grundschulbücher stellte sie zunächst fest, dass die anti- Israels abhängig. Klappert konkretisierte seine These in jüdische Darstellung der Passionsgeschichte weitgehend einer eindrucksvollen Exegese relevanter neutestament- verschwunden ist; es hat den Anschein, als seien die von licher Texte, wobei er anhand ältester Traditionsschich- H. Kremers zitierten wissenschaftlichen Ergebnisse bis in ten zeigte, dass die Deutung der Passion Jesu dort noch den Grundschulbereich durchgedrungen. Demgegenüber nicht gegen, sondern für Israel formuliert ist. Die Wir- stellte Frau Kastning-Olmesdahl aber fest, dass die kungsgeschichte dieser alten Texte hat jedoch gezeigt, Autoren nur eine Verlagerung der antijüdischen Elemente dass die Kirche aus den Heidenvölkern nicht zur Er- vorgenommen haben: sie erstrecken sich jetzt auf das kenntnis ihrer Schuld bereit war, sondern die eigene gesamte Leben Jesu und damit auf das gesamte Buch. Schuld auf Israel projiziert hat. Hinzu kommt die lebendige und kindgemässe Aufmachung Vor allem die johanneische Fassung der Passionsgeschichte der neueren Bücher als Vehikel für antijüdische Affekte: und ihre pauschale Verurteilung der Juden ist für das während die »dogmatische« Sprache der älteren Bücher negative Judenbild im christlichen Raum verantwortlich. für die Kinder meist fremd geblieben ist, liegt in Sprache Diesem Problem ging Johannes Beutler SJ in seinen und Darstellung der neuen Bücher ein latenter neuer »10 Thesen zu den 'Juden< in der Passionsgeschichte des Antijudaismus, jedenfalls dort, wo man die Haltung Johannesevangeliums« nach, wobei er nicht nur auf die Jesu im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen zeigt (z. B. bei Tendenz des vierten Evangeliums zur Belastung der der historisch falschen Behauptung, eine Heilung am Juden und Entlastung des Pilatus einging, sondern auch Sabbat sei verboten und von Jesus gegen das Gesetz vor- auf neuere Forschungsergebnisse verwies, wonach das genommen worden!). negative Judenbild dieses Evangeliums gar nicht die Mit den theologischen Problemen des Passionskomplexes historische Situation der Jesuszeit, sondern die Konkur- befassten sich drei Referate. Pinchas Lapide behandelte renzsituation von jüdischer und christlicher Gemeinde das Thema »Prozess Jesu — Leiden und Sterben Jesu. zur Zeit der Abfassung des Evangeliums (Ausgang des Geschichte und Deutung«. Er führte sowohl beim Prozess ersten Jahrhunderts) widerspiegelt; demnach lassen sich als auch beim Leiden Jesu verschiedene Positionen an, dem Johannesevangelium weder historische Fakten noch die eine Sinngebung versucht haben (z. B. schuld sind die theologische Deutungen der ursprünglichen Ereignisse um Juden, die Römer, die Sünder ...; Jesus musste nach dem den Tod Jesu entnehmen. Heilsplan Gottes sterben ...), um dann in einem zweiten Das Schlussreferat von J. F. Konrad, Dortmund, über Anlauf die jüdischen Schwierigkeiten mit dem Passions- »Das 'Neue( an Jesus« griff in die Diskussion darüber kerygma zu thematisieren, vor allem die Ablehnung von ein, ob das »Neue« erst in der christlichen Wirkungs- Menschenopfern seit Abraham und das vermeintlich sa- geschichte beginnt oder bereits bei Jesus, der damit den distische Gottesbild der Kreuzestheologie. Lapide glaubt, Rahmen des Judentums gesprengt hätte. Konrad wollte dass sich diese Probleme auf der jüdischen Seite seit der diese Alternativen zugunsten seiner These vermeiden, Erfahrung von Auschwitz verlagert haben: die jüdische wonach mit Jesus zwar Neues beginnt, aber innerhalb Theologie findet in ihrer eigenen Tradition das Bild von des jüdischen Gesamtrahmens. Jesus greift danach Impulse der Selbsterniedrigung Gottes, den mit-leidenden Gott. auf, die im Judentum bereitliegen, so dass er auch in Wie immer nach den grossen Katastrophen der jüdischen seinem »Neuen« Juden und Christen gemeinsam gehört. Geschichte, taucht das Theodizeeproblem auf, auch nach Insgesamt hat diese Tagung gezeigt, wie die religions- Auschwitz; gerade in dieser Situation ist eine jüdische pädagogische Arbeit weitergeführt werden muss: im in- Interpretation der Passion Jesu möglich geworden: Jesus terdisziplinären Gespräch mit der neutestamentlichen Be- als Prototyp für Israel und seinen Leidensweg. — Damit zugswissenschaft. Hier wird die Arbeit ins Detail gehen ergibt sich für das Faktum des Kreuzes nicht nur eine müssen, hier sind — nach der Phase der heissen Herzen — christliche Deutungsgeschichte, sondern auch eine jüdische die kühlen Köpfe gefragt (H. Jochum). Dass diese Pro- Sinngebung. blematik deutlich sichtbar wurde, war Bilanz und Neu- Von christlicher Seite ging zunächst Bertold Klappert anfang zugleicht. das Passionsproblem an mit seinem Referat »Der Verlust der israelitischen Kontur des Kreuzes, des Leidens und 2 Die Referate dieser Arnoldshainer und Aachener Tagung sollen des Prozesses Jesu«. Er ging von Modellen aus, die bisher als Band 8 der »Aachener Beiträge zu Pastoral- und Bildungsfragen« veröffentlicht werden mit dem Titel: »Exodus und Kreuz — Grund- das Verhältnis von Israel und Kirche bestimmten. Die themen des christlich-jüdischen Gesprächs. Eine Handreichung für meisten dieser Modelle waren nicht deskriptiv, sondern Religionsunterricht und Erwachsenenbildung.«

Höre Jisrael: ER unser Gott, ER Einer! So liebe denn IHN deinen Gott mit all deinem Herzen, mit all deiner Seele, mit all deiner Macht.

Dt 6, 5 (In: Die fünf Bücher der Weisung, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Köln, 1954. Das Buch Reden, S. 494.

45 II »Zielfelderplan für den katholischen Religionsunterricht«* eine Chance für den jüdisch-christlichen Dialog ? Von Dr. Hildegard Gollinger, Professor für Kath. Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg

Als Herbert Jochum vor mehr als zwei Jahren auf der nung« bekennen die Synodalen nicht nur Schuld und Ver- Tagung »Jesu Verhältnis zum Judentum. Das Judentums- sagen der Kirche in der Vergangenheit, sondern ziehen bild im christlichen Religionsunterricht« (1./2. 11. 1974 in auch Konsequenzen für die Zukunft: »Wir sehen eine be- Aachen) eine bestürzende Bilanz zum Thema »Jesusge- sondere Verpflichtung der deutschen Kirche innerhalb der stalt und Judentum in Lehrplänen, Rahmenrichtlinien Gesamtkirche gerade darin, auf ein neues Verhältnis der und Büchern für den Religionsunterricht« zog', waren Christen zum jüdischen Volk und seiner Glaubensge- sich die Teilnehmer einig, dass eine Änderung nur da- schichte hinzuwirken« 4. Ihre volle Tragweite gewinnt durch bewirkt werden kann, dass das Problem gezielt diese Aussage erst vom Kontext her: »Unsere Hoffnung« von der grundsätzlichen Seite her aufgearbeitet wird. In- hat als ein »Bekenntnis zum Glauben in unserer Zeit« (so zwischen wurden zwei Dokumente veröffentlicht, die das der offizielle Untertitel) eine so zentrale, zukunftswei- Verhältnis von Christentum und Judentum direkt betref- sende Bedeutung für Selbstverständnis und Selbstdarstel- fen und speziell im Hinblick auf die Praxis katholischer lung der katholischen Kirche in Deutschland, dass das Lehre und Verkündigung formuliert sind: Dokument in zahlreichen Stellungnahmen als Höhepunkt 1) Die »Richtlinien und Hinweise für die Durchführung und Krönung der mehrjährigen Synodentätigkeit be- der Konzilserklärung >Nostra aetate<, Nr. 4« 2 ; unabhän- zeichnet wird. Wenn die deutschen Katholiken in diesem gig von der Gewichtung der Vorzüge und Mängel dieses Rahmen ein Bekenntnis zur »besonderen Verpflichtung« Textes, über die seither viel geschrieben wurde, ist ein Fort- gegenüber dem jüdischen Volk ablegen — zu einem Zeit- schritt gegenüber bisherigen kirchlichen Verlautbarungen punkt, wo führende deutsche Politiker ein »besonderes unübersehbar: der Text verlangt, »dass die Christen da- Verhältnis« zum Staat Israel ablehnen und die Welt- nach streben, die grundlegenden Komponenten der reli- öffentlichkeit in Gestalt der UNO Zionismus und Ras- giösen Tradition des Judentums besser zu verstehen und sismus gleichsetzt! —, so artikuliert sich darin das Bewusst- dass sie lernen, welche Grundzüge für die gelebte religiöse sein, dass eine Aufarbeitung des eigenen Selbstverständ- Wirklichkeit der Juden nach ihrem eigenen Verständnis nisses ohne eine Stellungnahme zum Versagen in der Ver- wesentlich sind« 3. Wird dieser Satz ernst genommen, so gangenheit und daraus resultierende Konsequenzen für muss er die Praxis kirchlicher Unterweisung auf eine völlig die Zukunft unvollständig und unglaubwürdig wäre. neue Basis stellen: katholische Religionslehrer und Pre- Erfahrungsgemäss bewirken auch gutgemeinte offizielle diger sind künftig auf jüdische Selbstdarstellung als Deklarationen noch keine Einstellungs- und Verhaltens- Grundlage für ihren Unterricht in Sachen Judentum ver- änderung auf breiter Basis. Die Ernsthaftigkeit und Effi- wiesen. Welche einschneidenden Konsequenzen dieses die zienz kirchlicher Absichtserklärungen muss sich daher an Gesamtkirche verpflichtende Prinzip für die Darstellung ihren konkreten Auswirkungen auf die kirchliche Praxis nicht nur des heutigen, sondern auch des Judentums zur messen lassen. Ein wichtiges Instrument zur Gestaltung Zeit Jesu hat, wird erst deutlich, wenn man sich die vor- dieser Praxis ist im schulischen Bereich der jeweils gültige herrschende Praxis bewusst macht: nicht nur in Religions- Lehrplan. Daher kommt dem neuen »Zielfelderplan für unterricht und Predigt, sondern auch in der theologischen den katholischen Religionsunterricht im 5.-10. Schuljahr« Fachliteratur hat sich weitgehend die Unsitte eingebür- besondere Bedeutung zu 5. Zwar wurde er vor der Ver- gert, Aussagen über das Judentum ausschliesslich dem öffentlichung der beiden genannten Dokumente erarbeitet, Neuen Testament, vorzugsweise dem Johannesevange- so dass diese, will man dem Zielfelderplan gerecht wer- lium und dem 23. Kapitel des Mattäusevangeliums zu den, nicht als Kriterium für seine Beurteilung gelten kön- entnehmen, ohne das so gewonnene Bild anhand zeitge- nen; dennoch lohnt ein Versuch, den neuen Plan auf das nössischer jüdischer Quellen auf seine Richtigkeit hin zu Thema »Judentum« hin zu befragen — weniger mit dem überprüfen oder gegenteilige Darstellungen von jüdischer Ziel der Kritik als vielmehr der Information und Sensi- Seite auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Dieser allzu be- bilisierung des Lehrers im Sinne der »Richtlinien« und quemen, vom Anspruch der Wissenschaftlichkeit her nicht des Synodenbeschlusses »Unsere Hoffnung«. Das geschieht vertretbaren Methode erteilen die »Richtlinien« eine ein- sinnvollerweise unter einer dreifachen Fragestellung. deutige Absage. 2) Trotz einer erdrückenden und im Laufe der Sitzungs- 1. »Judentum« als expliziter Lerninhalt perioden mehrfach reduzierten Fülle von Problemen liess An zwei Stellen erscheint » Judentum« im Bereich »Reli- es sich die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bun- gion, Religionen« als eigenständiger Lerninhalte: im desrepublik Deutschland nicht nehmen, das Thema »Ju- dentum« anzusprechen. In dem Beschluss »Unsere Hoff- 4 Vgl. FR XXVII/1975, 5. 5 Der Zielfelderplan löst seit Beginn des Schuljahrs 1976/77 in Baden- * Zielfelderplan für den katholischen Religionsunterricht der Schul- Württemberg und anderen Bundesländern den bisher gültigen »Rah- jahre 5-10. Erarbeitet von einer Kommission des Deutschen Kateche- menplan« ab; in einigen Ländern dauert die Erprobungsphase noch ten-Vereins in Zusammenarbeit mit der Bischöflichen Hauptstelle für an, doch ist nach Auskunft bischöflicher Schulreferate vom Schuljahr Schule und Erziehung. Herbst 1973. Auslieferung: Deutscher Kate- 1977/78 an mit einer bundeseinheitlichen Geltung des Zielfelderplans dieten-Verein, München. (mit Ausnahme der bayerischen Diözesen) zu rechnen. 1 Vgl. FR XXVI/1974, 24-30; jetzt auch in: Eckert-Henrix (Hrsg.), 6 Die religionspädagogische Konzeption unterscheidet den Zielfelder- Jesu Jude-Sein als Zugang zum Judentum. Aachen 1976, 114-139. plan grundlegend von all seinen Vorgängern: 1. Er zielt auf eine 2 Vgl. FR XXVI/1974, 3-5 und den Kommentar von C. Thoma, Synthese von problemorientiertem und stofforientiertem Unterricht. ebd. 5-7. Um die Fehler der Vergangenheit — wo religiöses Wissen vielfach 3 Hervorhebung vom Verf. übergestülpt und damit Religion zu einem Bereich wurde, der ein

46 6. Schuljahr sind innerhalb des Rahmenthemas »Religiö- schichte, die nicht gerade ein Ruhmesblatt in der Kir- ses Brauchtum« u. a. » Jüdische Feste und Bräuche im chengeschichte darstellt, völlig ausgespart. Die unmittel- Jahreskreis« genannt, und für das 7. Schuljahr ist » Ju- bare Verknüpfung von Christenverfolgungen durch Ju- dentum — Christentum« unter folgenden Aspekten vor- den im 1. Jahrhundert und späteren Judenverfolgungen, gesehen: 1) Wie Juden leben; 2) Grundlagen des jüdi- von Jesusprozess und Antisemitismus kann, wie bei der schen Glaubens; 3) Judentum und Christentum. Beide Argumentation von Tagungsteilnehmern immer wieder Themen haben im bisher gültigen »Rahmenplan« keine zu beobachten ist, zur Annahme einer selbstverständlichen vergleichbaren Parallelen. Die Freude über diesen inhalt- Kausalität, ja sogar zur Rechtfertigung von Judenmord lichen Fortschritt wird jedoch leicht getrübt durch eine führen. Das liegt gewiss nicht im Sinne der Autoren, doch sorgfältige Analyse der Themenfeldskizze zu »Juden- sollte man die Gefahr sehen. tum — Christentum« anhand der »Richtlinien« und der 2) Bei den Medien zum Themenfeld » Judentum — Chri- Aussagen in »Unsere Hoffnung«. stentum«H fällt zunächst die Vielzahl und Verschieden- 1) Bei den Unterrichtszielen finden sich u. a. folgende artigkeit, v. a. im audio-visuellen Bereich (Schallplatten, Formulierungen: »Die Schüler sollen die Schwierigkeiten Tonbilder, Diaserien, Filme) positiv auf 12. Auch die Aus- der Beziehungen zwischen Juden und Christen kennen«; wahl der empfohlenen AT-Stellen — 5 Mos 6, 4 - 5. 20 - 24;

»Mit Inhalten des NT vergleichen. Geschichtliche Aus- 26,5 - 9; Ps 1; Ps 119 (118), 1 - 8; Dn 5,1 - 8,27 — ist gut einandersetzungen und Belastungen zwischen Juden und gelungen. Problematisch erscheint jedoch die Auswahl neu- Christen nennen können«. Wenn dazu als Unterrichts- testamentlicher Perikopen. Die Zusammenstellung von

anregung vorgegeben wird: »Verfolgung durch die Ju- Mt 5 - 7 unter dem Titel »Thora — Bergpredigt« und den — die ersten Christenverfolgungen in Jerusalem — Mt 23, 13-29 unter dem Motto »Weh euch, ihr Phari- Judenverfolgungen allgemein«, » Jesusprozess — Anti- säer« führt fast zwangsläufig zur Schwarz-Weiss-Malerei semitismus«, wenn ferner bei den »Hinweisen zur Aus- und zu einem negativen Bild vom pharisäischen Juden- gangslage der Schüler« nur von » Judenverfolgungen«, tum, das dem historischen Pharisäismus nicht gerecht nicht aber von Zwangstaufen und Massenmorden an Ju- wird. Zwar kann über die Notwendigkeit einer unter- den gesprochen wird'', so kann man den Autoren dieser richtlichen Aufarbeitung gerade solcher Texte kein Zwei- Themenfeldskizze den Vorwurf der Verharmlosung fel bestehen, doch sollte dies auf dem heutigen Stand der nicht ersparen. Die Angst vor »einem falsch verstandenen zuständigen Fachwissenschaften — in diesem Fall der Philosemitismus«9 dient als Alibi für das Verschweigen Bibelwissenschaft und der Judaistik — geschehen. Dafür christlicher Schuld. Es ist zwar einmal die Rede von »ge- braucht der Lehrer Hilfen, die ihm hier versagt bleibenis. meinsamen Wurzeln«lo, doch wird die gemeinsame Ge- Die ferner genannten NT-Texte sind eher geeignet, vor-

Sonderdasein parallel zum Alltagsleben führte — schon im Ansatz zu überprüfen. Ein Lernziel gilt dann als erreicht, wenn die ihm zugeord- vermeiden, setzt Religionsunterricht nach dem Zielfelderplan bei der nete Lernkontrolle (z. B. in Form von Tests, Rätsel, Lückentexten ...) Ausgangssituation des Schülers an. Diese wird in 4 Erfahrungsberei- positiv ausfällt. che aufgefächert: Erfahrung im eigenen Leben, im Leben mit an- Um den Lehrer bei dieser neuen Form von Religionsunterricht zu deren, in der Begegnung mit Religion und Religionen, in der Begeg- unterstützen, hat ein Autorenteam zu allen 101 Themenfeldern kurze nung mit der Kirche. Skizzen als Angebot zur unterrichtlichen Konkretisierung erarbeitet, die in 3 Bänden (5./6., 7./8. und 9./10. Schuljahr) vom Deutschen Erfahrungsbereiche: Katechetenverein herausgegeben werden. Der Aufbau der einzelnen Themenfeldskizzen folgt jeweils demselben Muster: 1. Hinweise zur II: Leben III: Religion, IV: Kirche I: Eigenes Ausgangslage der Schüler; 2. Religionspädagogische Begründung des Leben mit andern Religionen Themenfeldes; 3. Ziel des Themenfeldes; 4. Mögliche Einzelthemen Schuljahr: 5 (mit Unterrichtszielen und -anregungen); 5. Medien; 6. Literatur für den Lehrer. Diese Themenfeldskizzen sind zwar nicht verbindlich, 1 stellen jedoch zumindest in der Anlaufphase des neuen Plans ein 1 I I I_ unverzichtbares Hilfsmittel für den vielgeplagten Lehrer dar und 6 werden daher im folgenden immer mit einbezogen. 7 Zur Erläuterung des Begriffs s. A 6, letzter Abschnitt. i 8 Vgl. Themenfeldskizzen der Schuljahre 7/8, München 1974, 78-81. 7 - — 1---- 7 ----- f----- T - 9 Ebd. 78. I 10 Ebd. 79. 8 - _ t. _ - - __, _ _ __r_ _ 11 Ebd. 80 f. 12 Allerdings fehlt bei den genannten Unterrichtsmodellen das emp- fehlenswerte Heft von D. Ptassek, Auf drei Säulen steht die Welt. Biblisches Arbeitsbuch Heft 5. Lahr 2 1975. 1 13 Schon K. Schuberts Bibelstudie »Die jüdischen Religionsparteien __ __ t______4 ______I______l_ __ __ in neutestamentlicher Zeit« (SBS 43. Stuttgart 1970) könnte dem 10 Lehrer die notwendige Grundlageninformation vermitteln. Weiter- führende Information bieten z. B.: K. Schubert, Jesus im Lichte der Jedes der insgesamt 101 Einzelthemen ist einem dieser 4 Bereiche zu- Religionsgeschichte des Judentums. Wien/München 1973 und geordnet. Da sich diese in der Lebenswirklichkeit nicht so säuberlich C. Thoma, Kirche aus Juden und Heiden. Wien 1970. — Wissenschaft- trennen lassen wie im Lehrplan, der Religionsunterricht aber grund- liche Standardwerke zu diesem Thema sind: J. Maier, Geschichte der sätzlich die ganze Lebenswirklichkeit des Schülers umfassen muss, be- jüdischen Religion. Berlin/New York 1972, sowie Maier/Schreiner deutet die Zuordnung eines Themas zu einem Erfahrungsbereich ledig- (Hrsg.), Literatur und Religion des Frühjudentums. Würzburg 1973. — lich eine Schwerpunktsetzung, die nie zur Vernachlässigung der 3 übri- Leider nicht mehr im Handel, sondern nur noch in Bibliotheken gen Erfahrungsbereiche verleiten darf. Ein Beispiel: im 5. Schuljahr ist erhältlich sind: R. T. Herford, Die Pharisäer. Nachdruck Köln 1961; das Themenfeld »Feiern mit anderen« dem Erfahrungsbereich II (Leben L. Baeck, Die Pharisäer. In: ders., Paulus, die Pharisäer und das mit anderen) zugeordnet; dennoch kann man dem Thema im Sinne des Neue Testament. Frankfurt 1961, 39-98; M. Buber, Pharisäertum. Zielfelderplans nur gerecht werden, wenn man zugleich religiös geprägte In: ders., Der Jude und sein Judentum. Köln 1963, 221-230. Formen des Feierns und somit die Erfahrungsbereiche III (Religion, Die hier genannte Literatur hilft dem Lehrer auch bei der Erarbei- Religionen) und IV (Kirche) mit einbezieht. Dieser Aspekt gewinnt v. a. tung der Themenfelder »Das Neue des Evangeliums« und »Umwelt im 3. Teil der folgenden Überlegungen besondere Bedeutung. — 2. Reli- der Bibel« (beide 5. Schuljahr). Ein Unterrichtsziel zu »Umwelt der gionsunterricht nach dem Zielfelderplan ist lernzielorientiert. Er soll Bibel« lautet z. B.: »Die religiösen Gruppen der Zeit Jesu benennen dem Schüler bestimmte Fähigkeiten (»Qualifikationen«) vermitteln, die und ihre Überzeugungen vereinfacht darlegen«, ohne dass dafür Fach- im pragmatischen, kognitiven oder affektiven Bereich liegen können, literatur angegeben wird (vgl. Themenfeldskizzen der Schuljahre 5/6. und er muss den Erfolg dieser Bemühung in Form von Lernkontrollen München 1974, 78-81).

47 handene Klischees zu verfestigen als aufzubrechen: aus haftes Problembewusstsein und ein niederes Informations- dem paulinischen Schrifttum werden nur Röm 2, 12-4, 25 niveau in Sachen Judentum mahnen zur Skepsis. Die ein- und Gal 2, 15-21 (Überschrift: »Gerechtigkeit nicht durch zige Hoffnung besteht darin, dass es in jüdisch-christ- das Gesetz«) empfohlen. Unverständlicherweise fehlt ein licher Zusammenarbeit gelingt, dieses Themenfeld so für Hinweis auf den einzigen neutestamentlichen Text, der den Unterricht aufzuarbeiten, dass die angebotenen Hil- dem Nebeneinander von Judentum und Christentum eine fen den Lehrer zur Annahme motivieren. positive Sinndeutung gibt: Röm 9-11. In der Angst vor geistiger Überforderung der Schüler kann der Grund für 2. »Judentum als impliziter Lerninhalt diese Auslassung nicht zu suchen sein; denn wem die kom- Nur wenig erfreulichere Ergebnisse bringt eine Unter- plizierten Gedankengänge über die Heilsbedeutung von suchung der Themenbereiche, in denen Aussagen über das Gesetz und Glaube zugemutet werden, dem darf auch das Judentum nicht ausdrücklich thematisiert sind, sondern paulinische Bekenntnis zur bleibenden Erwählung der nebenbei, gleichsam als Abfallprodukt bei der Entfaltung Juden als Gottesvolk nicht vorenthalten werden. christlicher Glaubenswahrheiten, gemacht werden. Als 3) Den schwächsten Teil der Themenfeldskizze » Juden- deutlichstes Beispiel, das wegen der notwendigen Be- tum — Christentum« bildet zweifellos die »Literatur für schränkung exemplarisch für andere steht, lässt sich das den Lehrer« 14 . Der erste Hinweis bezieht sich auf die »Ab- Themenfeld »Das Neue des Evangeliums« (5. Schuljahr) lösung des Judentums vom Christentum« (!!). Unter den anführen". Zwei der Unterrichtsziele lauten: »Manches auf einer halben Seite aufgeführten Titeln findet sich kein Handeln der Gesetzestreuen als unmenschlich durch- einziger jüdischer Autor, kein Hinweis auf R. Mayers schauen«; »Beispiele für ein enges Gesetzesdenken im Talmud-Auswah1 15, auf ein jüdisches Gebetbuch" oder Spätjudentum (!) nennen ...« 21 Abgesehen davon, dass auf eine knappe, verständlich geschriebene Darstellung die absurde Bezeichnung »Spätjudentum« inzwischen des Judentums 17 . Selbst R. Mayers » Judentum und Chri- wissenschaftlich disqualifiziert ist und nicht ausgerechnet stentum« 18, das sich — trotz einiger Schwächen in den über einen neuen Lehrplan wieder eingeführt werden beiden ersten Kapiteln — vom Thema her geradezu auf- sollte, ist aus pädagogischer Sicht zu fragen, warum die drängt, bleibt unerwähnt. Unterrichtsziele, die das Judentum zur Zeit Jesu betref- 4) Die Themenfeldskizze nennt als besondere Kennzeichen fen, ausschliesslich negativ formuliert sind und auf Ab- der jüdischen Religion: »Messiaserwartung, Bedeutung wertung zielen 22. Damit entsteht der Eindruck, als sei des Gesetzes, vertrauen auf Jahwe« 19. Ob Inhalt und das Judentum zur Zeit Jesu durch eine enge, unmensch- v. a. Reihenfolge dieser Charakterisierung jüdischem liche Gesetzesauslegung gekennzeichnet. Ein Religions- Selbstverständnis entsprechen, erscheint zweifelhaft; doch unterricht, der seine Aufgabe in sachlicher Information müsste diese Frage von jüdischer Seite geklärt werden. und in der Grundlegung von Verständnis für Anders- Zweifellos lässt sich über einzelne der angeführten Sach- denkende sieht, sollte seine Ziele objektiver formulieren, verhalte und Wertungen streiten; unverkennbar ist je- etwa: »an Beispielen verdeutlichen, was >Gesetz< im Ju- doch, dass die in der Themenfeldskizze » Judentum — dentum zur Zeit Jesu bedeutet«. Dabei verdient das Christentum« angebotenen Konkretisierungsvorschläge Typische, z. B. die pharisäische Maxime »Die Gebote sind weit hinter den Anforderungen der »Richtlinien« und gegeben, um durch sie zu leben« (vgl. 3 Mos 18, 5), abso- des Synodenbeschlusses »Unsere Hoffnung« zurück- luten Vorrang vor vereinzelten Fehlformen. Problem- bleiben. bewusstsein als Voraussetzung für das Verständnis der Doch nicht nur das Autorenteam, sondern auch (zumin- Gesetzesdiskussionen Jesu und der paulinischen Gesetzes- dest) ein Teil der Kirchenleitungen scheint diesem Themen- polemik kann beim Schüler nur dann entstehen, wenn feld reserviert gegenüberzustehen. Die einzelnen Diözesen »Gesetz« nicht von vornherein als etwas Lebensfremdes, haben innerhalb des grossen Gesamtrahmens einen (von- Unmenschliches abqualifiziert wird, sondern als eine einander abweichenden) Katalog »unverzichtbarer Kern- Wirklichkeit erscheint, die das Leben von Menschen sinn- themen« festgelegt, zu deren Behandlung der Lehrer ver- voll prägt (womit die Möglichkeit einer Verkehrung pflichtet ist. Da ein solches Verzeichnis bisher nur von dieses Sinnes im Einzelfall nicht ausgeschlossen ist) 23. Be- wenigen Diözesen vorliegt, kann noch keine allgemeine sonderes Gewicht erhält die Forderung nach einer sach- Bilanz gezogen werden. Für die baden-württembergischen lichen Darstellung des Phänomens »Gesetz«, wenn man Diözesen jedenfalls gilt »Judentum — Christentum« nicht mögliche Nebenwirkungen mitberücksichtigt: eine aus- als »unverzichtbares Kernthema«, obwohl die revidierte schliesslich negative Darstellung des Frühjudentums unter Fassung dieses Katalogs im Mai 1976, also nach der Ver- dem Aspekt »Vergesetzlichung« hat fast notwendig Fol- öffentlichung der »Richtlinien« und nach Abschluss der gen für die Einstellung zum heutigen Judentum, zumal Synode herausgegeben wurde! Somit bleibt das Thema die Themenfeldskizze »Das Neue des Evangeliums« mit » Judentum — Christentum« dem Interesse und guten dem Unterrichtsziel »An Beispielen der Gegenwart auf- Willen des Lehrers anheimgestellt. Ob und wie es unter zeigen, wie notwendig Wertungen und Einstellungen diesen Voraussetzungen in den katholischen Religions- Jesu für den Menschen sind« 24 ausdrücklich den Bezug unterricht Eingang findet, muss die Zukunft erweisen. zur Gegenwart herstellt. Der Umfang der obligatorischen Themen, die grosse Zahl der ausfallenden Stunden, die Scheu vor dem »heissen 3. »Judentum« als möglicher Lerninhalt Eisen«, v. a. bei Lehrern der älteren Generation, mangel- Glücklicherweise verbietet es die Eigenart des Zielfelder- 14 Themenfeldskizzen 7/8, a. a. 0. 81. plans, bei der bisher wenig ermutigenden Bilanz steh en- 13 R. Mayer (Hrsg.), Der babylonische Talmud (Auswahl). Gold- mann 7902. 20 Vgl. Themenfeldskizzen 5/6, a. a. 0. 90-93. 16 Z. B. Sidur Sefat Emet, mit deutscher übersetzung von S. Bam- 21 Ebd. 91. berger. Basel 1956-1964. 22 H. Jochums Diagnose scheint auch hier zuzutreffen: »Die Juden als 17 Z. B. L. Trepp, Das Judentum. rde 325/326, oder: H.-J. Gamm, Legalisten, Etablierte, Mensdienverachter sind die Juden, die man Judentumskunde. List 268. München 1966. braucht, um den Normbrecher, Aussenseiter und Menschenfreund R. Mayer, Judentum und Christentum. Der Christ in der Welt Jesus profilieren zu können« (FR XXVI/1974, 30). XVI/6. Aschaffenburg 1973. 23 Literatur zum Gesetzesverständnis des Frühjudentums: s. A. 13. 19 Themenfeldskizzen 7/8, a. a. 0. 79. 24 Themenfeldskizzen 5/6, a. a. 0. 92.

48 zubleiben. Denn nach der religionspädagogischen Kon- diesen Staat. Ein Religionsunterricht, der vorgibt, von zeption dieses Plans dürfen die 101 Einzelfelder nicht von- der Erfahrungswelt des Schülers auszugehen, schuldet einander isoliert werden; jedes Thema ist vielmehr in eine diesem auch die Einbeziehung der aktuellen Phase von Vielfalt inhaltlicher Bezüge zu seinen Nachbarthemen »Israels Weg als gedeuteter Geschichte« ; dazu gehört not- eingebettet und erhält erst von daher seine Konturen. wendig der heutige jüdische Staat und seine Bedeutung Zugespitzt könnte man sagen: jedes Einzelthema wird für das Selbstverständnis der Juden, z. B. seine Deutung durch die 100 anderen mitgeprägt und interpretiert: als »Beginn des Spriessens unserer Erlösung«. Bei anderen Themenfeldern bleibt die biblisch-jüdische Erfahrungsbereiche: Tradition in den vorgegebenen Themenfeldskizzen ausser I: Eigenes II: Leben III: Religion, IV: Kirche Betracht, obwohl sie sachlich dazugehört. Ausgehend von Leben mit andern Religionen den für die baden-württembergischen Diözesen Freiburg Schuljahr: 5 i und Rottenburg festgelegten »unverzichtbaren Kern- 1 I themen«, sollen daher im folgenden einige Anregungen i gegeben werden, wie eine inhaltliche Auffüllung vom 6 1 V' 1 Themenfeld » Judentum — Christentum« her erfolgen 1 könnte. 1) Im Medienteil des Themenfelds »Gesang und Gebet I als religiöse Ausdrucksform«, das — alternativ zu »Völker 8 - - I------r- - - verehren Gott« — für das 5. Schuljahr vorgesehen ist, 1 i sucht man vergeblich nach Schallplatten oder Tonbändern mit Synagogenmusik. Wer jedoch einmal erlebt hat, wie nachhaltig der ausdrucksstarke Gesang eines Kantors wie z. B. Leo Roth auch Kinder beeindruckt und ergreift, 1 0 - +-1 -- --- wird auf dieses Medium nicht mehr verzichten wollen". Die Tatsache, dass der Plan ein Themenfeld »Judentum — 2) Ähnliches gilt für das Themenfeld »Gebet« (7. Schul- Christentum« aufweist, muss sich somit auf die inhalt- jahr), das, wie die Erfahrung (nicht nur des Religions- liche Gestaltung der übrigen Themenfelder auswirken. unterrichts, sondern auch der Gemeindearbeit) zeigt, viel- Aufgrund dieser Struktur des Zielfelderplans bedeutet die fach recht einfallslos, fast wie eine lästige Pflichtübung, Festlegung »unverzichtbarer Kernthemen« durch die abgehandelt wird. Das karge Medienangebot der Themen- Kirchenleitungen keine Beschränkung, sondern lediglich feldskizze30 zeugt von dieser Verlegenheit. Dabei wird eine Schwerpunktsetzung; Aufgabe des Lehrers bleibt es, u. a. Mt 23, 5-9 31 unter dem Stichwort »Pharisäer — die obligatorischen Themen in den grossen Gesamtrahmen Heuchler« (!) genannt. Ob die Aufgabe des Religions- zu integrieren, indem er inhaltliche Beziehungen aufspürt. lehrers mit dieser Medienempfehlung erleichtert wird, sei Damit steht der Lehrer vor neuen Problemen, aber auch dahingestellt. Mit einer Umfunktionierung des Unter- vor vielfältigen Möglichkeiten. Erste Hilfen zur ange- richtsgegenstandes »Gebet« in Pharisäerschelte ist weder strebten Integration bieten die Themenfeldskizzen — be- dem Lehrer noch den Schülern geholfen, zumal die zogen auf unser Thema — z. B. beim Themenfeld »Völker Perikope am Kernproblem heutigen Betens vorbeigeht: verehren Gott« (5. Schuljahr) an: in der religionspäd- sie warnt vor der Sucht nach öffentlicher Anerkennung; agogischen Begründung wird u. a. auf das Themenfeld die Krise des Gebets in unserer Zeit hat aber ihre Ur- » Judentum — Christentum« (7. Schuljahr) verwiesen und sachen eher in einer Krise unseres Gottesbildes, in der somit ein direkter Bezug zum Judentum hergestellt. Reduzierung individuellen Betens auf das Bittgebet und in Dieser schlägt sich auch in den Medienempfehlungen nie- der gerade bei Jugendlichen zu beobachtenden Scheu vor der, wo auf die beiden Filme »Bar Mitzvah« und »Indem der Ausbreitung des eigenen Innern in Gegenwart an- wir dienen« hingewiesen wird 25. derer. Keines dieser Probleme wird durch Mt 23, 5-9 einer Inkonsequent verfährt dagegen die Themenfeldskizze zu Lösung nähergebracht. Weiterhelfen könnte dagegen die »Israels Weg als gedeutete Geschichte« (9. Schuljahr) 28 : Einbeziehung der jüdischen Gebetstradition, wie sie von im Medienteil werden die jüdische Religion und der mo- P. Nave und J. J. Petuchowski vorgestellt wird 32. Beide derne Staat Israel berücksichtigt 27, während sich die (für Bücher ergänzen einander und bereichern einen Unter- die Unterrichtsgestaltung ausschlaggebenden) Lernziele richt über das Gebet: während P. Nave, am Vaterunser auf die Zeit von der Landnahme bis zur Römerherrschaft entlanggehend, jüdische Gebete, Bibeltexte und Medita- beschränken". Die Medien laufen somit Gefahr, als blo- 29 Zumindest drei im Handel und in den Medienstellen erhältliche sser »Aufhänger« zu dienen und ihrer unterrichtsgestal- Schallplatten sollten genannt werden: 1. Denkmäler synagogalen tenden Kraft beraubt zu werden. Ein Unterricht über Gesanges. Musica Judaica. Quadriga-Ton-Gesellschaft Frankfurt a. M. »Israels Weg als gedeutete Geschichte«, der sich (im Best.-Nr. 1004. — 2. Meisterwerke der Synagoge. EMI Electrola Köln 1965. Best-Nr. C 047-30 602. — 3. Zwölf Grosse Gesänge. EMI Elec- 9. Schuljahr!) ausschliesslich auf die Vergangenheit be- trola Köln 1975. Best.-Nr. C 061-28 832. schränkt, ist jedoch nicht nur sachlich unbefriedigend, son- 20 Vgl. Themenfeldskizzen 7/8, a. a. 0. 158 f. dern ignoriert darüber hinaus die Interessen und Erfah- 31 Mt 23, 5-9: »Alles, was sie tun, tun sie, um sich vor den Menschen rungen der Schüler. Das Reizwort »Israel« wird im Be- zur Schau zu stellen: Sie machen ihre Gebetsriemen breit und ihre Kleiderquasten lang, beim Gastmahl möchten sie den obersten Platz wusstsein der älteren Schüler zunächst einmal mit dem und in der Synagoge die vordersten Sitze einnehmen, und auf den heutigen Staat Israel assoziiert und erweckt eine Erwar- öffentlichen Plätzen lassen sie sich gern grüssen und von den Leuten tungshaltung im Hinblick auf aktuelle Probleme um Rabbi nennen. Ihr aber sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder. Auch sollt ihr 25 Vgl. ebd. 70-72. niemand auf Erden euren Vater nennen; denn nur einer ist euer 26 Vgl. Themenfeldskizzen der Schuljahre 9/10. München 1974, Vater: der im Himmel.« 104-108. 32 Vgl. P. NazA, Du unser Vater. Jüdische Gebete für Christen. 27 Ebd. 107 f. Freiburg 1975 [s. u. S. 103 f.]; J. J. Petuchowski, Beten im Judentum. 28 Vgl. ebd. 106: »4.3. UZ: Vereinfacht die Epochen der Geschichte Stuttgart 1976 [s. u. S. 106 f.]. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang Israels von der Landnahme bis zur Römerzeit kennzeichnen und ab- auch die Anthologie von R. R. Geis, Vom unbekannten Judentum. grenzen können ...« Freiburg 2 1975.

49 tionen vorlegt, stehen bei J. J. Petuchowski grundsätzliche Ostererfahrung wieder zu jener konkret-existentiellen Fragen (z. B. freies und geformtes Gebet, Bittgebet als Dimension verhelfen, die die frühe Kirche noch selbst- Problem für das biblische Gottesbild, individuelles und verständlich damit verband und die die offizielle Kirche gemeinschaftliches Beten, Pflichtgebet und freiwilliges bis heute zu vermitteln sucht, indem sie die Exodustradi- Gebet) im Mittelpunkt, die aufgrund der bisweilen ge- tion in die Osternachtliturgie hineinnimmt. radezu spritzigen Formulierungen geeignet sind, Jugend- Ähnliches gilt für das Pfingstfest. Obwohl Pfingstprediger liche aus der Reserve zu locken 33. Abgesehen vom hohen nicht müde werden, das Fest des Geistes als das Freuden- Motivationswert des Neuen, könnte das für die Persön- fest der Kirche zu rühmen, gelingt es kaum einmal einem lichkeitsentwicklung so bedeutsame Phänomen »Gebet« Gottesdienst oder Unterricht, Pfingstfreude wirksam zu durch die Einbeziehung einer uns weitgehend unbekann- vermitteln und die angestrebte Be-Geist-erung von Men- ten, aber inhaltlich nahestehenden Gebetswelt — die Er- schen zu erreichen. Vielleicht liegt das u. a. daran, dass fahrung, dass gläubige Christen diese jüdischen Gebete Pfingsten vielfach auf das Fest des Sprachenwunders ein- vollinhaltlich mitvollziehen können, mag viele Leser zu- geengt wird; wo die Wirksamkeit des Geistes auf die nächst erstaunen, dann aber beglücken — eine grössere eines besseren Dolmetschers reduziert wird, geht der Vielfalt an Ausdrucksformen und Inhalten gewinnen. Wer eigentliche Festgehalt verloren. Ein Seitenblick auf das sich als Lehrer darüber hinaus die Mühe macht, das von jüdische Wochenfest zeigt, dass dort die Offenbarung der jüdischen und christlichen Wissenschaftlern gemeinsam er- Torah am Sinai im Mittelpunkt steht. Die Torah als arbeitete Werk »Das Vaterunser« 34 durchzuarbeiten, wird Manifestation des Gotteswillens ist die konkret-aktuelle durch vertieftes Verstehen und einen neuen Zugang zu Form der Gegenwart Gottes bei seinem Volk. Genau be- einem vertrauten Gebet belohnt — eine persönliche Be- sehen, hat Pfingsten einen ähnlichen Gedanken zum In- reicherung des Lehrers, die nicht ohne positive Auswir- halt: der Geist Gottes meint im Neuen Testament die Er- kungen auf die Überzeugungskraft seines Unterrichts fahrung der lebendigen Gegenwart Gottes, und wenn die bleiben wird. frühe Kirche Entscheidungen »im Namen Jesu« treffen 3) Was bisher als Möglichkeit an Einzelthemen aufgezeigt kann, so nur aus dem Bewusstsein heraus, dass sein Geist wurde, könnte im Bereich der »unverzichtbaren Kern- in ihr lebendig ist. Beide Vorgänge — Sinaioffenbarung themen« für das 6. Schuljahr zum Modellfall werden 35. wie Geistsendung — hatten gemeindegründende Funktion, Hier drängt sich — über die in den Themenfeldskizzen ohne dass sich der eine gegen den anderen (etwa im Sinne aufgezeigten Zusammenhänge hinaus — eine Verbindung einer Ablösung) ausspielen lässt. Im Bewusstsein dieses von »Exodustradition« (die für Katholiken in jeder Feier für Christen unaufgebbaren Zusammenhangs zwischen der Osternacht zum »Heute« wird) und »Zugang zu Sinaioffenbarung und Geistsendung betet die Kirche in christlichen Festen« geradezu auf. Aus unergründlichen der Pfingstvesper u. a.: »Er sendet sein Wort zur Erde, Erwägungen heraus haben die Verfasser der Themenfeld- rasch eilt sein Befehl dahin. Er verkündet Jakob sein skizze zur »Exodustradition« nur die Wirkungsgeschichte Wort, Israel seine Gesetze und Rechte. An keinem andern für Kirche und abendländische Kultur angesprochen und Volk hat er so gehandelt, keinem sonst seine Rechte ver- damit die wichtige Sachinformation unterschlagen, dass kündet« (Ps 147, 18-20) 36. Nach dem Verständnis der der Exodus zunächst einmal von den Juden als die grund- Kirche wird Offenbarung der Vergangenheit für den legende Befreiungstat Gottes, als Typos der Erlösung ver- Menschen von heute lebendig durch das Zusammenspiel standen wird. von heiliger Schrift und Gottesgeist; wird eine dieser Ebenso unverständlich ist der Verzicht der Themenfeld- beiden Komponenten von der anderen isoliert, so besteht skizze »Zugang zu christlichen Festen« auf jeglichen Hin- die Gefahr eines verbalistischen Biblizismus oder eines weis zur biblisch-jüdischen Herkunft von Ostern und Schwärmertums, das den Kontakt zum Ursprung ver- Pfingsten bzw. zum Inhalt der — meist etwa parallel dazu liert. Von daher gesehen, vermag ein »Blick über den gefeierten — jüdischen Feste Pessach und Schawuot (Wo- Zaun« — hinüber zum Festinhalt des Wochenfestes" — bei chenfest). Durch solche Engführung wird dem Schüler ein der unterrichtlichen Erarbeitung von Pfingsten nicht nur Stück Kulturgeschichte, aber auch religiöser Identifi- eine tiefere Erfahrung des Festgeheimnisses zu vermitteln, kationsmöglichkeit vorenthalten. Vermeiden lässt sich sondern auch die theologische Balance zu gewährleisten. das nur durch eine Verzahnung des Themenfeldes »Zu- Diese wenigen Beispiele verdeutlichen, ohne Anspruch auf gang zu christlichen Festen« mit den Themenfeldern Vollständigkeit zu erheben, dass die in den eingangs er- »Exodustradition« und »Religiöses Brauchtum«, speziell wähnten Dokumenten proklamierte Selbstverpflichtung unter dem Aspekt » Jüdische Feste und Bräuche im Jahres- der katholischen Kirche gegenüber dem jüdischen Volk kreis«; dabei geht es nicht um aufgesetzte Zusatzinfor- im Zielfelderplan und den beigegebenen Themenfeld- mation, sondern um Interpretation vom Ursprung her, skizzen noch nicht in die Praxis umgesetzt ist, dass aber der dem Festinhalt neue Dynamik verleihen kann. Das die innere Struktur des Zielfelderplans eine Fülle von gilt z. B. für Ostern als Hauptfest unserer Erlösung. Die Möglichkeiten dazu bietet. Vielleicht können die vor- moderne Theologie hat erkannt, dass »Erlösung« im ab- stehenden Überlegungen einen ersten Anstoss zur Reali- strakten, verinnerlichten Sinn dem heutigen Menschen sierung dieser Möglichkeiten bei der persönlichen Unter- wenig zu sagen hat, und gibt dem Begriff deshalb kon- richtsvorbereitung, bei Treffen im Kollegenkreis" und Ver- kretere Deutungen im Sinne von Emanzipation oder Be- anstaltungen der Lehrerfortbildung bieten. Nur wenn es freiung. Ein Rückgriff auf die biblische Wurzel unseres gelingt, Religionsunterricht nach dem Zielfelderplan so zu Osterfestes und damit auf den Inhalt des jüdischen gestalten, dass man Juden dabei in die Augen sehen kann, Pessachfestes — wie es Jesus gefeiert hat! — könnte unserer wird der Zielfelderplan wirklich zur »Chance für den " Vgl. die Kapitel »Gebet als >Frechheit«< (Petuchowski, a. a. 0., jüdisch-christlichen Dialog«. 13 ff.) und »Kult, Unterhaltung und Gottesdienst« (ebd. 40 ff.). (Manuskript abgeschlossen Dezember 1976) 34 Brodte/Petudiowski/Strolz (Hrsg.), Das Vaterunser. Gemeinsames im Beten von Juden und Christen. Freiburg 1974. 36 Vgl. Gotteslob. Katholisches Gebet- und Gesangbuch. Ausgabe für 35 Die »unverzichtbaren Kernthemen« für das 6. Schuljahr lauten in das Erzbistum Freiburg. Freiburg 1975, 314. Baden-Württemberg: Menschen, die unsere Hilfe brauchen; Normen 37 Durch die christliche Interpretation von Ostern und Pfingsten be- und Spielregeln; Exodustradition; Gleichnisse; Handeln des Geistes dingt, bleibt hier die zweite (landwirtschaftliche) Komponente des Gottes; Zugang zu christlichen Festen; Paulus. Festinhalts von Pessach und Schawuot (= Erntefest) ausgespart.

50 11 Die hebräische Bibel impuritanischen Neu-England Vortrag anlässlich des zweihundertjährigen Jubiläums der Vereinigten Staaten von Amerika auf der Konferenz der Hebrew Federation of America im November 1976*'** Von David Rudavsky, Professor für hebräische Kultur und Erziehung an der Universität New York

Die Puritaner waren ein Volk, das die Bibel liebte und lassen« (Ex 22, 17) 3 lediglich als Anachronismus betrach- sich selbst als Nachkommen des alten Israel betrachtete, teten, glaubten die gläubigen Puritaner an Zauberei. an das die Heilige Schrift gerichtet war. Ihre Kinder Maimonides (1135-1204) hatte diesen Glauben längst als nannten sie nach den Namen der biblischen Helden. Im abergläubisch gebrandmarkt (Avodat Kochavim 11, 16), allgemeinen nahmen sie die biblischen Gebote sehr ernst nicht aber die Puritaner oder ihre Zeitgenossen. Im Jahre und oft sogar wörtlich. Das Leben in den Siedlungen der 1663 hatte der Hexenwahn das Hängen von 14 Opfern Puritaner war ziemlich streng und wurde vom Geist des in Connecticut und Massachusetts zur Folge. Pfarrer Calvinismus beherrscht. Den sonntäglichen Sabbath hielt Cotton Mather (1663-1728) half mit seinen »Memor- man vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang wie ables Providences Relation to Witchcraft and Possession« bei den Juden, und er wurde durch starre puritanische (1689) den Hexenwahn von 1692 anzustacheln, demzu- Gesetze beherrscht. Man glaubte, dass ein Puritaner we- folge zwanzig Personen hingerichtet und zweihundert nigstens ein Siebentel seiner Zeit Gott schuldete. weitere, unter ihnen mehrere prominente Persönlichkei- Ein frommer Puritaner Neu-Englands besuchte sonntags ten, dieses Verbrechens bezichtigt wurden. Es sollte noch zwei Gottesdienste und auch eine zusätzliche Nachmit- besonders erwähnt sein, dass nach rabbinischem Gesetz tagsversammlung zur Auslegung der Schrift durch den solche Verurteilungen ganz unmöglich gewesen wären, da Pfarrer. Bezüglich Reisen, Hausputz und sogar Spazie- dieses Selbstbeschuldigung verbietet (San 9a). rengehen beobachtete der Puritaner strenge Vorschriften. In der der amerikanischen Revolution vorausgehenden Es war auch Sünde, wenn Mütter ihre Kinder am Sonn- Periode unterstützten die Vorkämpfer der Republik ihre tag küssten, wenn Geistliche sich rasierten oder Andäch- Position mit der Antwort Samuels. Er begriff den Ruf tige während des langen Gebetes einnickten. Es war ein der Israeliten nach einem König als gleichbedeutend mit besonders für Nicht-Puritaner bedrückender Tag. Diese der Zurückweisung Gottes, des einzigen Herrschers Is- strengen Einschränkungen mögen das Ergebnis eines pu- raels (1 Sam 8, 6 f.) 4. Gideons frühere Verweigerung der ritanischen Glaubens an die Aggadah gewesen sein, dass, Königswürde wurde in gleicher Weise angewandt. Was wenn ganz Israel nur einen Sabbath richtig beobachten den Fall einer Begünstigung der Monarchie betraf, so würde, der Messias erschiene'. wurde diese dabei auf der Grundlage der biblischen Für die biblisch gesinnten Puritaner war der Tyrann Analogie bekämpft. Den göttlichen Rechten der Könige König James I. ihr Pharao, England ihr Sklavenhaus, wurde auch biblische Unterstützung zuteil (Dt 17, 15) 5. der Atlantik ihr Rotes Meer und Amerika das Land ihrer Der bekannte Bostoner Prediger Samuel Howard hob Verheissung. Ihr Moses war John Winthrop und ihr in seiner Ansprache von 1780 vor dem Rat und dem Josua William Bradford. Die Indianer waren Kanaani- Repräsentantenhaus von Massachusetts hervor, dass Kö- ter, Götzendiener und Baalsanbeter. Ihre Kirche war ein nig Saul, David und seine Nachfolger beim Volke aner- Versammlungshaus, das im Englischen genau dem He- kannt waren. Als ausreichender Grund, die Herrschaft bräischen Bet Knesset entspricht, und ihre Kirchenoberen eines Monarchen einzuschränken, bot sich die biblische waren Älteste der Gemeinde wie in der Bibel (Lev Vorsorge: »Damit sein Herz sich nicht erhebe über seine 4, 15) 1 a. Ihr erstes Dankfest entsprach dem Muster des Brüder und dass er nicht abgehe von den Geboten zur Erntedankfestes, wie es in der Schrift (Lev 23, 33) 2 Rechten oder zur Linken« (Dt 17, 20) 6. Die Wahl der vorgeschrieben war, welches in dem kühleren Klima Neu- Richter hatte nur unter den besten Kandidaten zu erfol- Englands später stattfindet als in dem Judäas. gen (Dt 17, 16 ff.) 7 . Das puritanische Interesse an der Da die Heilige Schrift den Puritanern als das unfehlbare hebräischen Bibel, ihre Wertschätzung und die Liebe zu Wort Gottes gilt, interpretierten sie es oft unkritisch und

buchstabengetreu. Während zeitgenössische Juden den 3 a. a. 0. (S. 251). biblischen Auftrag »Eine Zauberin sollst du nicht leben 4 Die Sache missfiel dem Samuel, da sie gesagt hatten: >Gib uns einen König, der uns regieren soll!<« Vgl. dazu: Die Heilige Schrift des Erschien auch im »Journal of Hebrew Studies«, veröffentlicht von Alten und Neuen Testamentes, hrsg. von Prof. Hamp / Stenzel / der »National Association of Professors of Hebrew«. Kürzinger. Paul Pattloch Verlag, Aschaffenburg 16 1964, S. 303. ** Aus dem Englischen übersetzt. 5 ». . . so sollst du einen König über dich setzen, den der Ewige, 1 Dazu b. Schabbat 118a/118b. dein Gott erwählen wird ...« (s. o. Anm.). la Vgl. dazu: Die Heilige Schrift ins Deutsche übertragen von 6 Vgl. dazu s. o., Anm. la (S. 635). N. H. Tur-Sinai (H. Torczyner). Jerusalem 1954, Bd. 1 S. 331 (alle 7 ». . . Und wenn er nun auf dem Thron seines Königreiches sitzt, Anmerkungen d. Red. d. FR). schreibe er sich den Vertrag dieser Weisung auf ein Buch ab von den 2 Und der Ewige redete zu Mosche und sprach: »Rede zu den Kin- levitischen Priestern. Und sie soll bei ihm sein, und er soll darin dern Jisrad und sprich: >Am fünfzehnten Tag dieses siebenten Monats lesen alle Tage seines Lebens, auf dass er lerne, den Ewigen, seinen ist das Fest der Hütten, sieben Tag lang dem Ewigen . ..<« (s. o., Gott, zu fürchten: Zu wahren alle Worte dieser Weisung und diese Anm. la, S. 407). Gesetze, um sie zu üben ...« (a. a. 0.).

51 ihr führte zu Vorschlägen einer Vielfalt von jüdischen chen war wöchentlich ein ganzer Tag gewidmet. Formen und Praktiken wie dem Versuch, das Hebräische Hebräisch wurde im ersten Jahr gelehrt, Chaldäisch oder in der kirchlichen Liturgie einzuführen, die Einhaltung Aramäisch im zweiten und Syrisch im dritten. Abschnitte des siebenten Tages als Sabbath und Speisevorschriften, aus dem Originaltext des Alten und Neuen Testaments die Enthaltung von Blut und anderem. H. L. Mencken ins Lateinische zu übersetzen, war eine frühe Forderung berichtet in seiner »American Language« (S. 79) über den zur Erreichung des Diploms an der Harvard-Universität. einflussreichen antiamerikanischen Verleger der (engli- Der 20jährige Michael Wigglesworth (1631-1705), ehe- schen) »Quartely Review«, William Gifford, von einem maliger Schüler der Harvard-Klasse von 1651, Geistli-

Vorschlag gegen Ende der Revolution, wonach »in den cher und Dichter, später auch Arzt, war (1653 - 54) Vereinigten Staaten der Gebrauch des Englischen formell Tutor für Hebräisch an der Harvard Universität. verboten und statt dessen Hebräisch verwendet Seine Art und sein Temperament lassen sich an seinem werden sollte«. Im Lichte einer Verlautbarung Thomas beliebten Lehrgedicht »Day of Doom« erkennen. In Macaulays in seiner »Geschichte Englands« mag dies seinem Tagebuch berichtet er, dass er seinen Studenten vielleicht bedeutungsvoll erscheinen, dass die Puritaner die Bitte um Zustimmung, »das Hebräisch aufzugeben«, »der hebräischen Sprache einen Respekt zollten, den sie verweigert habe. 1722 wurde dieses Fachgebiet neu der Sprache verweigerten, in der die Botschaft Jesu und aufgebaut, nachdem Judah Monis (1683 - 1764), ein ma- die Episteln Pauli auf uns gekommen sind. Sie suchten rokkanischer oder italienischer Jude, Ehrenbürger von nach Prinzipien der Jurisprudenz in den Mosaischen New York, der 1720 den Magister der Harvard Uni- Gesetzen ...« Angesichts ihrer Sympathie für Hebräisch versität ehrenhalber erhielt, verpflichtet wurde, aus- und hebräisches Schrifttum im kolonialen Neu-England schliesslich Hebräisch zu lehren. Seine Berufung war wurden die Puritaner alttestamentarische Christen und offensichtlich die Belohnung für seine öffentliche Taufe umgekehrt neutestamentarische Juden genannt. Wegen im März 1722, die hauptsächlich durch die Bemühungen seines Eifers im Bibellesen wurde der Protestantismus ein des einflussreichen Reverend Mather (1637-1723) zu-

Ansporn, lesen und schreiben zu lernen und sich darin stande kam. Nach Hannah Adams (1755 - 1831), einem weiterzubilden; in dieser Beziehung wetteiferten die Pro- frühen Historiker Neu-Englands, befolgte Monis wäh- testanten ebenfalls mit den Juden. rend seines ganzen Lebens den siebenten Tag als Sabbath, und auf seinem Grabstein wurde er als Rabbi bezeichnet. Er hatte (1735) eine 94seitige hebräische Grammatik, die Hebräisch im besiedelten Neu-England »Dikdook Lesbon Gnebreet«, verfasst, die voller Fehler In seiner Sammlung »Magnolia Christi Americana«, ist. Stephan Sewall (1734-1804) wurde der Nachfolger einer Sammlung von Betrachtungen über die Religions- von Monis und erster ordentlicher Professor der Han- geschichte der Siedlung von Plymouth, behandelt Cotton cock-Professorenschaft in Harvard. Bis 1817 wurde eine Mather die Tradition der, wie er sich ausdrückt, Mi- hebräische Neujahrsbotschaft von der Harvard Universi- drasch- oder Religionsschulen, die es nach seiner Beobach- tät verschickt. tung in jeder Stadt im alten Israel gab. Bei der zweiten Die 1701 gegründete Yale Universität lehrte ebenfalls Sitzung der Synode der Ältesten und Botschafter wurde seit ihrer Gründung Hebräisch. Ihr fünfter Präsident eine Entschliessung angenommen, die zum Studium des Ezra Stiles (1727-1795), der seine Einführungsrede AT im originalen Hebräisch aufrief, »der angeborenen (1778) in Hebräisch hielt, begann mit seinen hebräischen Sprache des Alten Gottesvolkes«. Hebräisch wurde Studien in Newport im Jahre 1767, als er vierzig Jahre dann, wie Samuel Johnson, der erste Präsident des King's alt war, zwölf Jahre nachdem er das Amt übernommen College (Columbia), feststellte, als die »Mutter der Spra- hatte. Isaac Touro, Hazzan von der Newport Synagoge, che und Redekunst wie auch als Quelle allen Wissens unterrichtete ihn in Hebräisch, beginnend mit den Psal- und wahrer Weisheit und als Teil der Erziehung eines men, dann mit verschiedenen Büchern des Pentateuch Mannes von Bildung« betrachtet. Hebräisch war nicht und später in der Zohar. Wie ein früherer Yale-Schüler nur die heilige Sprache der jüdischen Schriften, sondern berichtet, verlangte Stiles von seinen Studenten am Col- wurde auch — von der Renaissance bis zu Gesenius lege, dass sie die Psalmen beherrschten, denn er erwarte- (1786-1843) — als Archetyp der Sprachen Westeuropas te, dass dies die ersten Gesänge sein würden, welche die angesehen. Weil die Unterwerfung unter das Wort Got- Schüler vernehmen würden, wenn sie in den Himmel tes in der Bibel als Zeichen der Erwählung zur ewigen kämen und es ihn als Lehrer in grosse Verlegenheit Seligkeit im calvinistischen Sinne galt, besass das Hebräi- brächte, wenn sie die Psalmen nicht beherrschten. Stiles sche einzigartigen Wert und Wichtigkeit. Gewiss nahm war eifrig darauf bedacht, solche Misshelligkeiten in auch das Griechische einen hohen Rang als Schlüssel zum seiner ewigen Wohnung zu vermeiden. NT ein. Die Abiturarbeiten an der Harvard Universität in der Es überrascht deswegen nicht, dass das Harvard College, Zeit vor 1700 spiegeln in ihrem Hebräisch-Programm das von der Vollversammlung oder gesetzgebenden Kör- den Schwerpunkt für Grammatik und Linguistik wider. perschaft von Massachusetts Bay gegründet wurde, 1640 Die Themen der M. A.-Vorschläge oder solche Arbeiten mit seinen Hebräisch-Kursen begann, gerade erst vier verraten eine grosse Auswahl von Themen, die die grund- Jahre, nachdem es seine Tore geöffnet hatte. Harvard sätzliche puritanische Haltung gegenüber der Bibel of- folgte darin nur dem Präzedenzfall von Cambridge und fenbaren. 1681 betonte Cotton Mather nachdrücklich, Oxford in England, welche Hebräisch für den Magister- dass die hebräischen Vokale göttlichen Ursprungs seien, grad verlangten. Harvards Absicht wurde in »New Eng- änderte aber später seine Meinung wieder, obwohl Gor- land's First Fruits« (London 1643) klar umrissen: »För- don Saltonstall nachträglich diese Behauptung bestätigte derung des Lernens und seine stete Fortdauer für die (1687). Nachkommen; denn seine Gründer fürchten, den Kir- 1701 machte Dudley Bradstreet den Anspruch geltend, chen eine ungebildete Führung zu hinterlassen, wenn dass das Alte und das Neue Testament rein und unver- unsere gegenwärtige Leitung Staub und Asche sein wird.« dorben auf uns gekommen seien. Übereinstimmend mit Dem Hebräischunterricht und den orientalischen Spra- William Dudley (1707) glaubten manche Studenten, dass

52 Noahs Sintflut weder das Ergebnis natürlicher Ursachen, Zeit indessen lehren die meisten der vielen hundert Insti- noch dass die Sprachverwirrung von Babel nur die tutionen des höheren Schul- und des Universitätswesens Angelegenheit von Meinungsverschiedenheiten war. 1731 in den Vereinigten Staaten Hebräisch: Sie lehren es als bot Josia Quincy eine negative Antwort auf die Frage: moderne Sprache, als Sprache des wiedererstandenen »Als Balaams Esel sprach, gab es da eine Veränderung in Staates Israel. Heute hat sie eine völlig andere Ausrich- seinen Organen?« Indessen versuchte Sampson Sheaf tung als in den Kolonialzeiten, als man sie vor allem 1738 zu beweisen, dass die Füchse seines biblischen Na- studierte als Schlüssel für die hebräische Bibel. Wir mensvetters keine gewöhnlichen Tiere seien. Diese und können indessen nicht umhin zu bemerken, dass trotz des ähnliche Probleme beschäftigten die Gemüter der Har- Interesses der Puritanter für das Hebräische und die vard-Absolventen in jener Kolonialzeit. hebräische Bibel und obwohl die Puritaner die Juden Ausser Harvard und Yale lehrten alle Hebräisch seit ihrer Fähigkeit wegen beneideten, sich ungezwungen auf ihrer Gründung bis heute, auch das College von Phil- Hebräisch mit ihren patriarchalischen Vorvätern im adelphia, heute Universität von Pennsylvania, gegründet Himmel zu unterhalten, sie wenig dazu taten, das Los 1740, das College von New Jersey (Princeton), errichtet ihrer jüdischen Zeitgenossen auf Erden zu erleichtern. 1747, das King's College (Columbia), eröffnet 1754, Ihr Eifer für ihren eigenen Glauben erzeugte äusserste Rhode Island (Brown) 1766 und Dartmouth 1771. Zur Unduldsamkeit für den der Andersgläubigen.

12 Im Gespräch mit Juden und mit Israel* Von Professor Dr. Albert J. Rasker, Rijksuniversiteit in Leiden**

»Die Gemeinde ist nie ohne Gojim. Aber sie ist angesiedelt hatten. 1598 öffneten diese ihre erste Syn- auch nie ohne Juden. Das gilt grundsätzlich, weil es agoge in Amsterdam; die deutschen und polnischen Juden zum Wesen der Kirche gehört, dass sie der Ort ist, (Azkenazim) kamen infolge des Dreissigjährigen Krieges wo die Versöhnung geschieht, der Ort der Einheit in grosser Zahl, ihre Synagoge entstand 1671. Dass die zwischen Israel und den Völkern. Wo dieses fehlt, Juden in den Niederlanden unter günstigeren Umständen mit andern Worten, wo eine Kirche ist, in welcher leben konnten als in den meisten anderen Ländern, ist die Einheit mit Israel, von Christus zustande ge- bekannt. Sie wurden nicht gezwungen, im Getto zu bracht, nicht ans Licht tritt, weil die Liebe zu diesem leben, und konnten frei mit den Niederländern verkeh- Volke fehlt, da ist sie nicht im vollen Sinne des ren. Die Sefardim waren zum Teil sehr wohlhabend und Wortes Kirche.« 1 haben für die Ökonomie und die Kultur des Landes viel bedeutet; Berufsverbote hingegen waren besonders für Durch die bösen Erfahrungen mit dem Hitlerreich und die ärmeren Azkenazim oft recht ungünstig. die darin angestrebte »Endlösung der Judenfrage« sind Das Interesse vieler calvinistischer Theologen für die vielen Christen die Augen dafür aufgegangen, was alles Juden hatte hauptsächlich polemischen und missionari- wir und unsere Vorfahren im Verlauf der Jahrhunderte schen Sinn. So wurde an der Leidener Universität Con- den Juden angetan haben, bis zu der greulichen Apo- stantijn l'Empereur van Oppijck 1633 zum ersten theose im Zweiten Weltkrieg. Seitdem hat unsere An- » Judaicarum Controversiarum Professor« ernannt. 1650 massung, christliche »Mission« unter Israel zu treiben, erhielt Coccejus einen ähnlichen Lehrauftrag. In einem den Platz geräumt zugunsten eines viel bescheideneren Gutachten schrieb er, dass die Juden dasselbe principium »Gesprächs mit Israel«, eines Dialogs, in welchem wir fidei haben wie die Christen, sie können deshalb nicht für uns üben, das »Alte Testament« auch mit jüdischen Ketzer gehalten werden; wenn sie von der Obrigkeit Augen zu lesen und dadurch auch eine in mancher zugelassen werden, gelten ihnen gegenüber dieselben Ar- Hinsicht neue Sicht auf das »Neue Testament« zu erwer- gumente wie bei ihrer Missionierung: Humanität, Liebe, ben. Dankbarkeit und Respekt gegenüber dem Volk, aus wel- chem auch der Christus einst geboren wurde; sie seien I Etwas aus der Vorgeschichte gleichsam Hausdiener der Christen: wie einst die Sklaven In den Niederlanden haben mindestens seit Anfang des für die Söhne der Römer ihre Buchrollen und Schreib- 17. Jahrhunderts viele der bedeutenderen reformierten material in die Schule trugen, so seien die Juden in der Theologen sich für die Konfrontation mit Israel lebhaft christlichen Gesellschaft: Deuter der alten Schrift, Ora- interessiert, seit sich gegen Ende des 16. Jahrhunderts culorum Dei depositarii. Auch Utrechter Theologen wie viele aus Spanien und Portugal vertriebene Juden (Sefar- Voetius und Hoornbeek haben in diesem Sinne geschrie- dim) in Amsterdam und anderen Städten unseres Landes ben. Letzterer, ein aufrichtiger Freund des Alten Volkes, schrieb einmal: »Wir haben vielen Völkern vieles zu * Das Material dieses Aufsatzes ist in der Hauptsache Raskers Buch verdanken, aber den Juden haben wir alles zu verdan- »De Nederlandse Hervormde Kerle vanaf 1795, Haar geschiedenis en theologie in de negentiende en twintigste eeuw«, Kampen 1974, ken.« In seiner Schrift »Teschuba Jahudim« beschrieb er, entnommen, besonders den Kap. VI, VIII, X, XX, XXII und was die Juden mit Vorurteil gegen die Christen erfüllt, XXIV. Dort findet sich auch die vollständige Literaturangabe. und wies Mittel an, die zu ihrer Bekehrung dienlich sein Der Verfasser widmete diesen Beitrag seinem Schwager, Pfarrer könnten; die Theologiestudenten sollten darin geübt wer- Ernst Wittekindt, zum 65. Geburtstag am 6. 6. 1976 und dessen Gattin als »ein Zeichen von Verbundenheit in gemeinsamem Denken, den. In diesem Sinne schrieben auch viele andere. Auch Arbeiten und Hoffen«, ein Denken, was auch auf ihren Einsatz für Classen und Synoden haben sich mit diesem Thema Juden in der NS-Zeit zurückgeht (Anm. d. Red. d. FR). befasst; so gab z. B. die Provinzialsynode von Zuid- 1 Israel en de Kerk, een studie, in opdracht van de Generale Synode Holland 1677 Anweisungen, wie man die Rabbiner zu der Ned. Hervormde Kerk, samengesteld door de Raad voor de verhouding van Kerk en Israel, 1959; 1960 2, S. 19 f. »freundlichen Konferenzen über Moses und die Prophe-

53 ten« einladen sollte; Pfarrer und Studenten hätten sich Eschatologie gehörte für ihn von jetzt an zum Kern zu diesem Zweck eifrig in der hebräischen Sprache und christlichen Glaubens. den jüdischen Kontroversien zu üben. Da Costa, der jüdische und christliche Dichter und Pro- Hauptzweck solcher Theologen und Synoden war un- phet, der nicht Theologe war, hat auf das theologische zweifelbar die Bekehrung der Juden zum Christentum; Denken im 19. bis tief in das 20. Jahrhundert hinein in wesentlich ist aber auch dann, dass sie sich dabei bewusst unserm Lande tiefen Einfluss gehabt. Das gilt besonders waren, dafür eifern zu können aufgrund der gemeinsa- für die sogenannte »Ethische Theologie«, deren Begrün- men Wurzeln im Alten Testament, und es für sinnvoll der Daniel Chantepie de la Saussaye (1818-1874) und hielten, dazu auch rabbinische Quellen zu studieren. Dass Johannes Hermanus Gunning (1829 - 1905) gewesen sind. die Juden das Missionsmotiv in dieser Begegnung wenig De la Saussaye, tief beeinflusst von Schleiermacher und zu schätzen wussten und sich über calvinistische Intole- Vinet, wie viele Theologen seiner Zeit überzeugt von ranz beklagten, ist verständlich, um so mehr als ein einer Kontinuität zwischen allgemeiner Gotteserkenntnis strenges Verbot gegen jüdischen Proselytismus gehand- aus Natur, Geschichte und Gewissen einerseits und der habt wurde unter Androhung strenger und in einzelnen biblischen Offenbarung andererseits, unterschied sich von Fällen auch grausam vollzogener Strafen. ihnen gerade dadurch, dass er diese Kontinuität gestört sah durch den kontingenten, einmaligen Charakter der Israel geschenkten und in Jesus Christus erfüllten Offen- II Neunzehntes Jahrhundert barung. Er schrieb darüber mehrfach in diesem Sinne: Als Frucht der Aufklärung und der Französischen Revo- »Die Erscheinung Jesu Christi auf Erden ist ein ur- lution genossen die Juden seit dem Anfang des 19. sprüngliches Faktum .. ., das einzige ursprüngliche Fak- Jahrhunderts völlige Emanzipation, so dass sie nicht tum in der Menschheitsgeschichte. Alle anderen Fakten mehr wie unter der alten Republik als Gäste und Beisas- lassen sich erklären aus dem, was vorherging . . . Dieses sen, sondern als vollberechtigte niederländische Staats- Faktum allein ..., statt aus dem Vorhergehenden erklärt bürger gelten konnten. Es gab aber auch Juden sowohl zu werden, ist selbst die Erklärung des Vorhergehenden: wie Christen, die diese Emanzipation als »Frucht der so, dass nicht Christus um Israels willen, sondern Israel Revolution« unannehmbar fanden. Zu diesen letztge- um Christi willen war. Israel hat nicht Christus hervor- nannten gehörte der Dichter Willem Bilderdijk (1756- gebracht, sondern ist zubereitet gewesen, um Christus zu 1831), lebenslänglicher Bekämpfer der Revolutionsideen. empfangen.« »Die Person Jesu Christi ..., im Zusam- In seinen Augen hatten die Juden die Eigenschaft, Got- menhang mit der Vorbereitung seines Kommens, mit den tes auserwähltes Volk zu sein, nicht verloren; gerade prophetischen Erwartungen . .., bleibt ein unerklärtes deshalb sollten sie als geehrte Gäste um der Väter willen Faktum, das als solches entweder der Schlüssel der Welt- geschätzt werden und als solche ihre eigenen, sie von dem geschichte sein muss oder die Weltgeschichte zu einem holländischen Volk unterscheidenden Rechte und Freihei- unlösbaren Rätsel macht.« ten haben. Er sah in ihnen noch immer die älteren Söhne De la Saussaye sah, wie auch sein jüngerer Freund des Gnadenbundes und erwartete, dass sie Christus bei Gunning, Schöpfung und Inkarnation, Heilsgeschichte seiner Wiederkunft vor den Christen Ehre — und mehr und Eschatologie mit einem umfassenden christozentri- Ehre als diese erweisen und so in ihr Erstgeburtsrecht schen Blick. Gunning legte dabei besonderen Nachdruck wiedereingesetzt werden sollten. auf das Kreuz. Für ihn war Jesus vollkommen mensch- Bilderdijks meistgeliebter Schüler war der junge Isaac da lich, zugleich vollkommen göttlich, und zwar besonders

Costa (1798 - 1860), aus einem alten sefardischen Ge- in der Tiefe des Leidens. Darum sprach Gunning, im schlecht stammend. Bei ihm wurde durch sein von Bil- Gegensatz zu jedem Fortschrittsoptimismus, vom Opfer derdijk angeregtes Studium der Propheten das Interesse als höchstem Weltgesetz und vom Kreuz als »histori- für die messianische Erwartung neu geweckt. Als er dazu schem Faktum, aber auch suprahistorischem Prinzip«. kam, Jesus als den Erfüller dieser Erwartung zu beken- Gerade dadurch sind für ihn Inkarnation und Eschato- nen, war das für sein Bewusstsein nicht der Austritt aus logie untrennbar verbunden: »Die herrliche Erwartung dem Judentum, sondern eine Neuorientierung im Glau- des Reiches Gottes und des Endzwecks aller Dinge sollte ben seiner Väter. Was er meinte zusammenzuhalten, war uns viel mehr erfüllen, als meistens der Fall ist.« Alles aber in den Augen der Welt ein zweideutiges Verhalten, menschliche Streben, davon schon jetzt etwas zu verwirk- was ihn dann veranlasste, sich 1822 taufen zu lassen und lichen, sei die Sünde der Antizipation; seit Konstantin in die Hervormde Kerk einzutreten. Durch ein intensives haben Staat, Gesellschaft und Kirche sich dessen schuldig Studium der biblischen Theologie entwickelte er sich gemacht. später zu einem scharfen Bekämpfer der rationalistischen Eine eigene Linie verfolgte Kohlbrügge. Dieser war in Bibelkritik; er trat für die Einheit der Bibel ein: Wir seinen jüngeren Jahren mit Da Costa befreundet, nach haben das Neue Testament alttestamentlich und das Alte 1833 sind sie wegen der Lehre von der Heiligung aus- Testament neutestamentlich zu lesen; es besteht zwischen einander geraten. Was das Alte Testament betrifft, war beiden eine gegenseitige organische Beziehung. Das Alte Kohlbrügge in einer eigentümlichen Weise radikaler als Testament ist eine Maria, die das ungeborene Kind unter Da Costa, insofern er von der gebräuchlichen Weise, ihrem Herzen trägt. zwischen »Altem und Neuem Testament« zu unterschei- Im Jahr 1840 fand eine neue Entwicklung in Da Costas den, nichts wissen wollte. Schon in seiner Jugend hatte Denken statt, in dem Sinne, dass die biblische Zukunfts- sein Vater ihm vorgehalten: »Wenn du die fünf Bücher erwartung von neuem eine zentrale Bedeutung für ihn Mose verstehst, so verstehst du die ganze Schrift.« Er hat gewann. Die biblischen Prophetien kamen in diesem sich sein ganzes Leben daran gehalten. Für ihn ruhte die echten Sohn Israels zum Leben. Der Glaube an den Gültigkeit des Neuen Testaments auf der des Alten, gekommenen Messias wurde gleichsam überstrahlt vom nicht umgekehrt. In seinem Buch »Wozu das Alte Testa- Ausschauen nach dessen noch ausstehender Wiederkunft. ment?« (1845) hat er die These durchgeführt, welche er Die in den reformierten Bekenntnisschriften zu kurz schon in seiner Doktorarbeit über die christologische kommende (nur gleichsam in einem Anhang behandelte) Auslegung des 45. Psalms verteidigt hatte: »Veteri Testa-

54 mento innititur Novum. Vaticiniis constat Jesum esse schen Besatzung 1941 ein illegales Zeugnis unter dem Christum.« Darum hatte er auch in seinen jungen Jahren Titel »Wat wij wel en wat wij niet gelooven«, nach Form in Amsterdam gerne mit den Rabbinern — auf Hebräisch und Inhalt inspiriert von den Barmer Thesen, aber viel — disputiert und hat er später einmal schreiben können: radikaler als diese gegen den Antisemitismus gerichtet. »Auch die Juden haben an vielen prophetischen Stellen Die 4. These sagte u. a.: es besser gewusst, bei ihrer Auslegung Christum zu fin- »Wir glauben und bekennen, dass Gott von jeher das den, als selbst Calvin.« Volk Israel auserwählt hat, um seine Offenbarung zu empfangen bis auf die Erscheinung Jesu, des aus diesem III Zwanzigstes Jahrhundert Volk geborenen Messias ... Aus sich selbst war dieses In derselben Tradition wie Kohlbrügge stand Arnold Volk nicht besser, würdiger oder geeigneter als andere A. van Ruler, als er 1940 die These verteidigte, dass das Völker. Aber diesem Volk hat der HERR sein Wort Alte Testament die eigentliche Bibel ist, auch für die anvertraut, so dass, wer zu Gott kommt, >Israel einver- christliche Kirche, und dass das Neue Testament sozusa- leibt wird<. gen nicht mehr ist als ein angehängtes Verzeichnis zur Darum glauben wir, dass wer sich gegen Israel stellt, sich Deutung fremder Wörter. Er hat diesen Gedanken in dem Gott Israels widersetzt . . . Darum halten wir den seiner Schrift »Die christliche Kirche und das Alte Antisemitismus für etwas viel Böseres als eine unmensch- Testament« (1955) näher ausgeführt, in welcher auch der liche Rassen-Ideologie. Wir halten ihn für eine der hart- Gedanke zu finden ist, es bleibe im Alten Testament ein näckigsten Formen des Aufstandes gegen den heiligen »Zuviel«, ein »Rest« übrig, der in der neutestamentlichen und barmherzigen Gott, dessen Namen wir bekennen.« Erfüllung niemals ganz aufgehe (S. 43). Diese Schrift trug unmissverständlich einen bekenntnis- Diese beiden Gedanken sind auch von K. H. Miskotte mässigen Charakter, war aber keine offizielle kirchliche entwickelt, namentlich in seinem zusammenfassenden Aussage. Es folgten aber, in verwandtem Sinne und Hauptwerk »Wenn die Götter schweigen« (urspr. nie- sicher durch sie inspiriert, eine Reihe kirchlicher Protest- derl. 1956, deutsch 1963), besonders in dem Abschnitt schreiben und Hirtenbriefe, auslaufend in ein grossange- »Der Überschuss«, S. 179-304. legtes Hirtenschreiben der Generalsynode der Hervorm- Miskotte (1894-1976) stammt sowohl aus der ethischen de Kerk »Christlicher Glaube und Nationalsozialismus« wie aus der kohlbrüggianischen Tradition. In seiner auf- (1943). Hier wird wiederholt, dass die Abneigung gegen sehenerregenden Doktorarbeit »Het wezen der Joodsche Israel im Grunde der Aufstand des natürlichen Men- Religie« (1932) hat er das Gespräch mit dem Judentum schen gegen den Gott Israels und darum ein Angriff auf in ganz eigener Weise neu aufgenommen, namentlich mit das Fundament des christlichen Glaubens ist: dem Judentum in seiner nachbiblischen Entwicklung. Das »Dass Israel, obgleich es Jesus nicht als seinen Messias Resultat seiner Analyse, in welcher viele zeitgenössische anerkannt hat, uns viel mehr verwandt ist als das Hei- jüdische Philosophen und Literaten zu Wort kamen, lief dentum, das sich als seinen Richter aufwirft, wird von in eine Kontroverse unter dem Titel »Lehre der Korrela- vielen nicht klar genug verstanden. Das Rätsel der Juden tion« aus, in welcher Miskotte betonte, diese für das und ihre zeitweilige Verhärtung darf nicht Anlass sein, Judentum charakteristische Lehre sei eine Umdeutung den Antisemitismus gutzuheissen; dass Gott eine Rechts- des alttestamentlichen Gedankens vom Gnadenbund, ein sache mit den Juden hat, will nicht besagen, dass wir und Antitypus der Religion der Gnade. In der Korrelation andere, die von Natur Heiden sind, nun auch eine nämlich sei der Mensch — sei es auch in tiefster Demut Rechtssache mit ihnen haben.« vor dem Heiligen Gott — dessen Partner, ein Mitarbeiter Gottes, ein Heros, von welchem der entscheidende erste IV Gespräch mit Israel oder letzte Schritt erwartet wird. Die Voraussetzung des Frucht der bösen Erfahrungen des Krieges, in welchen Kerygma, sowohl des Alten wie des Neuen Testaments, auch das niederländische Volk sich wegen des Versagens sei hingegen, dass Gott immer der Erste ist und immer gegen Israel anzuklagen gehabt hat, ist, dass die Zusam- als solcher offenbar wird; der Mensch lebt nur von den mengehörigkeit der christlichen Kirche mit dem Juden- grossen Taten Gottes und wird nur dazu aufgefordert, in tum ein zentrales Thema in Kirchenordnung und Be- den guten Werken zu wandeln, die Gott für ihn zuberei- kenntnis wurde. Im VIII. Artikel der 1950 eingeführten tet hat (Eph 2, 10). Kirchenordnung der Nederlandse Hervormde Kerk wird Dass die so geübte Kritik am jüdischen Denken dem unter dem Titel »Vom Apostolat der Kirche« an erster Bewusstsein einer tiefen Verbundenheit mit Israel auf- Stelle »Das Gespräch mit Israel« genannt. Es wird nicht grund der diesem Volke anvertrauten Offenbarung kei- mehr, wie in früheren Zeiten, von »Judenmission« ge- nen Abbruch tat, kam in Miskottes Buch »Edda en sprochen, als ob wir Christen den Anspruch erheben Thora« zum Ausdruck, in welchem er im Jahr 1939, als könnten, das neue und wahre Volk Gottes zu sein, wäh- die Vernichtungsmaschine gegen die Juden schon auf rend die Juden als Aussenstehende von uns zu uns hohen Touren lief, in einer tiefgreifenden Analyse und zurückzurufen wären. Wir werden vielmehr zurückgeru- erbarmungslosen Demaskierung darstellte, wie radikal fen zur Erinnerung an die Wahrheit, dass Israel histo- der Gegensatz der Thora und der Offenbarung Gottes risch und prinzipiell früher ist als die Kirche, dass Jesus gegenüber dem neuerweckten germanischen Mythus und der Messias des Israel verheissenen und von Israels Pro- dem »arischen« Lebensgefühl sei. Als in den darauf pheten erwarteten Reiches Gottes ist; dass die Grund- folgenden Jahren der Kampf auch in unserm Lande strukturen der neutestamentlichen Heilserwartung israe- immer härter wurde, war Miskotte wesentlich an ver- litischen Charakter haben; dass wir uns üben müssen, das schiedenen kirchlichen Verlautbarungen und anderen Neue Testament vom Alten her zu verstehen — und dass Schriften bekenntnismässigen Charakters beteiligt, wel- ein Verlust dieser Erinnerung unvermeidlich zu einer che dann entstanden. unbiblischen Spiritualisierung des Christentums führen Aus einem theologischen Freundeskreis unter Leitung kann und schon zu oft geführt hat. von J. Koopmans, an welchem sich u. a. auch Miskotte Davon spricht dann auch die Schrift »Fundamente und und K. H. Kroon beteiligten, entstand während der deut- Perspektiven des Bekennens«, 1949 von der Generalsyn-

55 ode der Hervormde Kerk vorgelegt als »Probe erneuten Idee«. Wichtiger sind wohl zwei in unserm Lande neu reformatorischen Bekennens«, namentlich in den Arti- erschienene Dogmatiken, Ellen Flesseman-van Leer, »Ge- keln 3 »Die Erwählung Israels« und 17 »Gegenwart und loven vandaag« und Hendrik Berkhof »Christelijk Ge- Zukunft Israels«. Im synodalen Ausschuss (Raad) für loof«. Charakteristisch ist für beide die zentrale Stellung Kirche und Israel hat das Verlangen, die Juden zu des Gnadenbundes mit Israel und durch Israel mit allen bekehren, Platz gemacht für ein Verlangen nach einer Menschen. Unter allen Menschen ist aber Jesus, der Bekehrung und Erneuerung der Kirche als Frucht einer wahre Sohn Israels, der einzige, bei dem der Bund echten Begegnung mit dem jüdischen Volk. 2 Dasselbe wirklich »ankommt«, er ist der eigentliche und einzige Verlangen lebt in der Amsterdamer Gruppe »Tenach Mensch des Bundes, der Neue Mensch, der eschatologi- und Evangelium« mit einem Monatsbrief »Bekirbenu«. sche Mensch. Das, wozu Israel bestimmt war, ist in ihm Miskotte hat in seinem Buch »Wenn die Götter schwei- Wirklichkeit geworden, Gott hat in ihm inmitten des gen« von der Trennung zwischen Juden und Christen Menschengeschlechts einen neuen Anfang gemacht. geschrieben als von »dem unauslotbar wesensfremden So wird uns stets deutlicher zum Bewusstsein gebracht, Schisma in Gottes Gemeinde« (S. 171), weiter ausgeführt dass Israel und die Kirche zusammengehören als der in »Das Judentum als Frage an die Kirche« (1970). ältere und der jüngere Bruder, die auseinandergeraten Dass das »Gespräch mit Israel« auch politisch Konse- sind und sich um ihres gemeinsamen messianischen Ver- quenzen haben kann und muss, wurde in einer Denk- langens willen, besser: um der Israel geschenkten und für schrift der Hervormden Generalsynode »Israel, Volk, die ganze Menschheit bestimmten Verheissungen willen, Land und Staat« 1970 ausgesprochen, 3 ein ernstes, aber wiederfinden müssen. Damit ist de facto wiederholt, was nicht unkritisches, auch nicht unwidersprochen geblie- Bilderdijk und Da Costa in ihrer eschatologischen Er- benes Zeugnis für den Staat Israel, das sinnvoll zu wartung gehofft haben und was das theologische Denken vergleichen wäre mit Martin Bubers schon 1950 erschie- in unserem Lande — wenn auch nicht immer mit lauter nener Schrift »Israel und Palästina, zur Geschichte einer Stimme — begleitet hat ... Einige Übersetzungen: 2 Vgl. dazu: Erklärung des Niederländischen Reformierten Rates »Fundamenten en Perspectieven« ist unter dem Titel »Lebendiges für Kirche und Israel (Auszug). In: FR (»Rundbrief« 2 / Nr. 5/6), Bekenntnis« ins Deutsche übersetzt und mit einer Einleitung versehen Dezember 1949, S. 14 f. (Anm. d. Red. d. FR). von 0. Weber, Neukirchener Verlag, 1951, 2 1959. 3 S. Israel: Volk, Land und Staat. Handreichung für eine theo- Ellen Flesseman-van Leer, »Geloven vandaag« ist in deutscher Spra- logische Besinnung über den Staat Israel von Dr. Ellen Flesseman- che erschienen unter dem Titel »Rechenschaft über den Glauben«, van Leer, in: FR XXIII/1971, S. 19 ff. (Anm. d. Red. d. FR). Göttingen 1974.

13 Die Haltung Israels gegenüber Staat, Land und Volk* Von Rabbiner Professor Dr. Andre Neher**, Strassburg/Jerusalem

Wer Israel sagt, sagt Volk. Er sagt aber zugleich auch erst eine Art Treue, die ich seit einigen Jahren als »die Land: Eretz Israel. Und seit etwas über 25 Jahren sagt er Treue zum Unersetzbaren« zu bezeichnen pflege; sodann auch Staat: Staat Israel. die organische Funktion des Landes, des Eretz Israel, die Diese gleichzeitige Aussage in einem einzigen Wort, das in ganz organischer Weise zum Staat Israel hinführt; und ein Volk, ein Land und einen Staat bezeichnet, bildet schliesslich als dritte die Mittlerfunktion des Landes eines der Fundamente jüdischer Theologie von ihren Israel, die ebenfalls zum Staat Israel hinführt, indessen biblischen Ursprüngen an bis auf unsere Zeit. nicht in einer kontinuierlichen Form, in einer organi- Mir scheint, hinter dieser Aussage stehen drei Hauptmo- schen Weise, die sich von den Wurzeln bis zur Frucht tivationen, die ich anschliessend formulieren möchte. Zu- ununterbrochen fortsetzt, sondern auf dem Weg einer Mutation, durch eine Art Sprung. "- Diesen Beitrag verdanken wir Professor A. Neher. Mit auch freund- licher Genehmigung der Schriftleitung entnehmen wir ihn aus: Con- cilium 10. Jg. Heft 10, S. 185 ff. Nijmegen 1974, S. 580-584. a) Die Treue zum Unersetzbaren ' ''Andre Neher, geboren 1914 in Obernai (Frankreich). Seit 1955 ist er Professor und Direktor der Abteilung für alte und moderne hebräische Es gibt zwei Grundideen von Eretz, vom Land Israel und jüdische Studien an der Universität Strassburg. Er war Mitglied und von Jerusalem. Man kann zunächst sagen, dass das der französischen UNESCO-Kommission, ist Vizepräsident der Sek- Land Israel ein Land wie alle anderen ist, dass das, was tion Strassburg der »Amitie judeo-diretienne« Präsident der fran- sich dort gegenwärtig abspielt — in diesem Land, das die zösischen Sektion des jüdischen Weltkongresses, Mitglied des Zentral- komitees der »Alliance Israelite Universelle«, Mitglied des wissen- einen Israel, die andern Palästina nennen —, nichts ande- schaftlichen Komitees der Weltvereinigung für jüdische Studien (Jeru- res ist als ein historischer Vorfall, der sich, positiven salem), Mitglied des Nationalzentrums für Höhere Jüdische Studien historischen Normen folgend, lösen kann und muss. Es der freien Universität Brüssel und der Universitäten Tel Aviv und gibt eine andere Auffassung, die zu der erstgenannten in Haifa. Seit 1971 ist er dem Nationalzentrum für wissenschaftliche Forschung (Institut d'Histoire et de Recherche des Textes, Paris) mit einem Gegensatz steht und gleich dieser einen extremen einem Forschungsauftrag in Jerusalem verbunden. Er veröffentlichte Standpunkt darstellt. Sie erblickt in dem Land Israel und u. a. [Jeremias (Köln 1961), Israel, Juni 1967: Ein Zeugnis (in: FR in Jerusalem das »himmlische Jerusalem«, das »univer- XIX'1967, 4 ff.)], Moise et la vocation juive (Paris 6 1972, deutsch: sale Jerusalem«, das Jerusalem eines jeden Menschen, das Hamburg 1964), L'Existence Juive (Paris 3 1972), Histoire Biblique du Peuple d'Israd (Paris 21974). Seit 1974: Emeritus Professor. Land der Verheissung für jeden Menschen, das Ideal, das

56 vielleicht für jeden beliebigen Menschen keinen besseren tung eine Beobachtung der gesamten Thora. Es handelt metaphorischen Ausdruck findet. sich dabei um alle die Landbestellung betreffenden Hun- Nun handelt es sich für das jüdische Volk eben nicht um derte von sozialen Gesetzen usw. ein Land wie alle anderen noch um ein Land-das-nicht-ist- Die dritte Dimension: die Liturgie. Das ist vielleicht die wie-die-andern, in einem höheren, metaphorischen Sinne. ergreifendste von allen, denn jeder Jude empfindet noch Für die Juden ist das Land Israel nicht ein Land wie die heute, auch wenn er noch in der Diaspora lebt, die anderen, doch es ist auch für sie ein Land. Diese beiden Tatsache, dass nichts von dem sich geändert hat, was Aussagen lassen sich nicht voneinander trennen. Zwi- gleich nach der Zerstörung des Tempels und dem Unter- schen ihnen gibt es eine Art Verschachtelung von Physi- gang des Staates im Jahre 70 sich darin Ausdruck ge- schem und Metaphysischem, die eins der Elemente dieses schaffen hat; die Richtung der Gebete auf Jerusalem, das Unersetzbaren bildet. Der Grund dafür ist, dass nur für naive Täfelchen, auf dem das eine Wort steht: Mizra'h, dieses Land und für diese Stadt Physisches und Metaphy- der Osten (für die Juden des Westens; für die Juden des sisches untrennbar miteinander verknüpft sind, dass auf Ostens: Ma'arav) und das allen jüdischen Familien die diesem Land, in dieser Stadt sich das Geschick des Richtung angibt, in der Jerusalem liegt, zu dem nicht jüdischen Volkes abspielt, ein Geschick und eine Bestim- allein Herz und Heimweh gehen, sondern ebenso die mung, wie sie in der Regel ihren Weg über die Schöpfung Gebete. In jedem jüdischen Haus fehlt — auch seit neun- des Staates nehmen. Der Staat ist ganz einfach die zehn Jahrhunderten — ein Ziegel: Etwas bleibt unvoll- physische Konsekration des irdischen Aspektes dieses endet. Der Jude, der im Exil sein Haus baut, will durch Landes, das auf dem Weg über diesen Staat nicht allein die fehlende Vollendung seines Hauses zeichenhaft die seine ganze metaphysische Kraft bewahrt, sondern sie Verstümmelung seiner eigenen Person zu erkennen geben: auch besser ausdrücken kann und muss. Sein eigenes Dasein ist nicht vollständig, es fehlt ein letzter Ziegel. In den Bibliotheken — denn das jüdische Volk hängt an den Büchern — bleibt ein Platz frei: Dieser Platz b) Die organische Funktion des Landes wird besetzt, wenn die Bibliothek nach Jerusalem ge- Das Verständnis der organischen Funktion des Landes schafft wird. Wenn junge Juden heiraten, wenn sie in hängt an sehr einfachen Tatsachen und Gegebenheiten. ihrem Leben jene Symbolik erleben, die das 62. Kapitel Die jüdische Auffassung ist so, dass sie weder Leib von des Isaias zwischen dem jüdischen Volk und seinem Land Seele noch Seele von Leib trennt. Israel und sein Land aufzeichnet, wird ein Kristallglas zerbrochen, um die stehen zueinander in einem Verhältnis wie Leib und Jungverheirateten daran zu erinnern, dass für sie eben- Seele. Man kann sagen, dass das Land der Leib der Seele falls gilt: »Auf den Gipfel meiner Freude stelle ich Israels ist und dass Israel die Seele des Leibes Israel ist. In Jerusalem.« Und schliesslich sind da die drei Worte: abstrakterer Weise formuliert kann man sagen, dass das lashana habaah byrousalayim, die während der neun- Land der Raum und die Zeit Israels ist. zehn Jahrhunderte wahrhaft der Schrei der gefangenen Ich möchte die wichtigsten Dimensionen nennen, in de- und verstümmelten Seele des Juden gewesen sind, der nen sich während der tausendneunhundertjährigen von Jerusalem, von seinem Raum, getrennt gelebt hat: Diaspora dieses Empfinden des jüdischen Volkes ausge- »Nächstes Jahr in Jerusalem!« drückt hat, verstümmelt, von seinem Leib, von seinem Das alles zeigt, dass Jerusalem für die Juden keine Raum getrennt zu sein, und zugleich jenes andere Emp- erhabene Vision ist. Juden sind aufgebrochen. Es hat finden, dass dies nur ein vorläufiger Zustand sei und dass während dieser neunzehn Jahrhunderte eine konkrete er eines Tages aufgehoben werde durch eine neue Zusam- alyiah gegeben. Zu keiner Zeit ist das Land Israel völlig menführung, durch eine Rückkehr, durch eine Wieder- leer gewesen von Juden, nicht einmal in den Zeiten der vereinigung und die Wiedererrichtung eines Staates. Die schlimmsten Verfolgung; es hat immer Juden gegeben im Bibel nennt dieses Land — und das ist vielleicht die Eretz Israel, und sie sind immer nach Jerusalem gegan- schönste Metapher und die, in der all das Gesagte kulmi- gen, wenn sie überhaupt Zutritt dort bekamen. Am niert — beoulah: Braut des jüdischen Volkes (vgl. Is Vorabend der Kreuzzüge gab es im Land an die 250 000 62, 4). Juden; die Mehrheit der Bevölkerung von Jerusalem Dieses Bild, das die ganze zweite Phase der Diaspora bestand aus Juden, wie es späterhin vom 18. Jahrhundert hindurch bewahrt worden ist, hat noch eine äusserst an wiederum der Fall sein sollte, das heisst ein Jahrhun- interessante Nuancierung erfahren, die das Buch Zohar dert, bevor das Wort Zionismus geschaffen wurde. Die ihm gegeben hat. Anstatt während des Mittelalters das Mehrzahl der so buntgescheckten, aus Muselmanen, Ka- Land Israel als Gemahlin des jüdischen Volkes zu be- tholiken, Orthodoxen und Protestanten usw. zusammen- trachten, hat man es hier als die Ketoubah angesehen: als gesetzten Bevölkerung war seit Ende des 18. Jahrhunderts seinen Ehekontrakt; es war seine auf der Oberfläche der jüdisch. Erdkugel abmessbare Urkunde, durch die bestätigt Es hat eine ständige alyiah stattgefunden, und man wurde, dass Gott und Israel wie Gemahl und Gemahlin zitiert die Namen von Lehrern, denen die grosse Masse zueinander standen; damit erfuhr die Ehesymbolik der nicht immer gefolgt ist; zu ihnen gehört Juda Halevi. Propheten ihre konkrete Übertragung in die Geschichte. Der jüdische Dichter und Philosoph des Goldenen musel- Und nun die zweite Dimension neben der metaphori- manischen Zeitalters Spaniens im 12. Jahrhundert hat ein schen: die halakhische Dimension, das heisst die des Land verlassen, in dem er glücklich war — dort gab es zu jüdischen Rechtes. Für den Juden besteht eine Verpflich- der Zeit keine Verfolgung —, um sich in Israel niederzu- tung, im Land Israels zu wohnen, im Schatten Jerusa- lassen, wo er gleich bei seiner Ankunft starb. Doch starb lems. Das ist eine mitsvah, eines der 613 Gebote der er nicht, ohne zuvor die Sion-Lieder, die Shire Sion Thora. An dieses Grundgebot schliessen sich mehrere gesungen zu haben, die zu den grundlegenden Texten des hundert Einzelgebote an, die sogenannten mitsvoth hate- Zionismus gehören und im 12. Jahrhundert geschaffen louyoth baaretz, »die an das Land gebundenen Gebote«. worden sind. Rabbi Yehiel von Paris, der Paris nach den Sie können nur beobachtet werden, wenn man im Land Verfolgungen verlassen hat, die sein Freund und Schützer Israel bleibt; andererseits ermöglicht erst ihre Beobach- König Ludwig IX., der sogenannte heilige Ludwig, gegen

57 ihn unternommen hat, gründete in Jerusalem die Yeshiva europäischen Judenschaft anerkannte Messias werden: von Paris. Im Verlaufe desselben 13. Jahrhunderts hat Die Juden Europas beginnen bereits, ihr Gepäck reisefer- der berühmte Theologe und Kabbalist Nahamides Spa- tig zu machen und ihre Koffer nach Hamburg und nien verlassen und, nachdem er sich in Jerusalem nieder- Genua zu schicken, um die grosse Reise zu beginnen mit gelassen hatte, die jüdische Gemeinde von Jerusalem dem Ziel, im Land Israel in der Person Sabbatai Tsevis erneuert. dem König, dem König David, zu huldigen, der den Etwas später folgten dann die aus Spanien Vertriebenen, neuen Staat errichten sollte. die sich im 16. Jahrhundert in Massen in Israel nieder- Wenn es einer weiteren Bestätigung des zugleich politi- liessen, vor allem in Safed. Im 18. Jahrhundert kam schen und nationalen Charakters jener messianischen Moshe Hayim Luzzato; gegen Ende des 18. und zu religiösen Bewegung bedürfen sollte, so findet man sie Beginn des 19. folgte eine ganze Anzahl chassidischer unschwer bei Spinoza, der seinem Freund 011endorf, von Rabbis, die gruppenweise einwanderten, zugleich aber dem er um Rat gefragt worden war, die Antwort gibt, es auch Gegner des Chassidismus, Schüler Gaons von Wil- entspreche ganz und gar der jüdischen Tradition, dass na. Die Masse der Juden befand sich ständig unterwegs die Verstreuten sich eines Tages sammeln und ihren Staat nach Jerusalem, entweder in ganzen Gemeinschaften neu begründen. Spinoza fand die Bewegung, die damals oder als einzelne, zumeist grosse Lehrer, die alleine das ganze jüdische Volk erschütterte, vollkommen nor- kamen. Und die meisten sind angelangt. mal. Die letzte Dimension dieser organischen Ausbreitung, Es lässt sich nicht leugnen, dass in dem gegenwärtigen dieser Rückgliederung des verstümmelten Volkes an sein zionistischen Abenteuer Motive dieser Art in organischer Land, von dem es wusste, dass es ihm die Einheit wieder- Form mitbeteiligt sind: die Entblössung des Landes, der geben würde, ist der Staat. Es war vollkommen klar: Erfolg des zionistischen Unternehmens, das von den Was man schaffen wollte, nach dem Akt der Hoffnung Juden nicht als wirtschaftlicher physischer Erfolg ange- in dem Wagnis der alyiah, war der jüdische Staat, wie er sehen, sondern als Antwort des Landes auf die Liebe zur Zeit Esras und Nehemias durch das Dekret des Kyros seiner Kinder gedeutet worden ist (vgl. Os 2, 23). neu geschaffen und wie er den Verbannten in der neuen Diaspora, der christlichen und muselmanischen, der unter c) Die Mittlerfunktion des Landes Edom und unter Ismael, verheissen worden war. Hier steht zunächst — das darf man nicht vergessen — 60 Diese organische Sicht führt zum Staat als der Blüte, die Jahre nach der Zerstörung des Tempels der Bar-Kochba- am Baum aufbricht, ihren Anfang nehmend an den Aufstand in den Jahren 130-135. Er lässt erkennen, dass Wurzeln, über das Miterleben aller Wechselfälle im Le- nach einer recht langen Zeit die Idee eines Wiederauf- ben des Baumes. Bei der Mittlerfunktion erleben wir nun baues des Staates noch lebendig war, wo man doch hätte einen jähen Niveauwechsel, einen Sprung. Dieser Sprung glauben können, dass nach einer so langen Frist die muss mit Notwendigkeit zum Staat führen. Das Leben Juden verzichtet und aufgegeben hätten. Übrigens tauch- besteht aus Widersprüchen, und es gibt nur da Leben, wo ten schon in den Jahren kurz nach 70 in der rabbinischen es einander gegenüberstehende These und Antithese gibt, Dialektik in diese Richtung weisende Themen auf: »Wir die dann eine Synthese schaffen. Die Synthese erhebt sich wollen auf den Staat verzichten!« Das ist das Thema auf einer Ebene, die oberhalb jener liegt, auf der These eines Rabbi Jochanan Ben Zakkai, der Jerusalem ver- und Antithese ihren Platz hatten. Wer keiner Spannung lässt, bevor es zerstört wird, und Vespasian um die ausgesetzt ist, ist tot. Das Leben ist Spannung und Wider- Genehmigung bittet, in Javneh eine Schule gründen zu spruch. Nun ist es aber gerade diese Funktion des Landes, dürfen. Doch 60 Jahre später steht Bar Kochba auf in dass es seine Rückwirkungen gewissermassen zugleich auf der ausgesprochenen Absicht, den jüdischen Staat neu zu die Sammlung der Verstreuten, die Rückkehr des jüdi- schaffen, und die grossen Lehrer, allen voran Rabbi schen Volkes auf sein Land und die notwendige Errich- Akiba, begrüssen ihn. tung eines Staates auf dem Boden dieses Landes lenkt. Auch im Laufe des Mittelalters tauchen blitzartig hin In Ex 19 erklärt Gott vor der Verkündigung der 10 und wieder derartige Versuche auf. So hat vor der Gebote dem jüdischen Volk: »Ihr werdet für mich ein Judenvertreibung in Spanien einer der grössten Mishna- Volk der Segoulah, ein Königreich von Priestern und ein Kommentatoren, Rabbi Obadia Bartenoura, der vom heiliges Volk, sein, denn die ganze Erde gehört mir« (Ex Ende des 15. bis Anfang des 16. Jahrhunderts lebte, das 19, 3 ff.). Land verlassen, um sich in Israel anzusiedeln; von dort Die Segoulah, die Auserwählung Israels, ist eine Auser- aus hat er dann Briefe geschrieben. In einem heisst es: wählung der Verantwortlichkeit, einer umwandelnden »Ach, welcher Jammer! Kämen doch wenigstens 10 Verantwortlichkeit, die alles umstürzen soll, was auf Juden, die wie ich das Abenteuer auf sich nähmen — anderem Wege angenommen worden ist unter den 70 morgen schon hätten wir unsern Staat.« Das Land stand Völkern und was bewirkt, dass die 70 Völker ihrerseits zu dieser Zeit unter dem Zeichen einer politischen Auflö- die Thora nicht annehmen können. Israel hat sich nicht sung, die so deutlich war, dass Obadia Bartenoura, einfach bereit erklärt, nicht zu töten, sondern noch be- Talmudist und Mishna-Kommentator, aber auch ein deutend weiter zu gehen: nämlich die Schwerter in Pflug- Mann, der seine alyiah gewagt hatte, es bedauerte, den scharen umzuschmieden, den Mord unmöglich zu ma- jüdischen Staat nicht schaffen zu können. Er glaubte, chen. Israel hat sich nicht allein bereit gefunden, keinen diese Möglichkeit läge in Reichweite. Ehebruch zu begehen und keine Unzucht, sondern die Erwähnt sei ferner der Versuch des Juda von Naxos, Leidenschaft in eheliche Liebe zu verwandeln, ja Leiden- eines der Ratgeber Sultan Suleimans im 16. Jahrhundert. schaft unmöglich zu machen, weil sie Liebe wird. Israel hat Er hat, wenigstens ansatzweise, versucht, eine Art jüdi- nicht nur das Land Kanaan angenommen, das in der sche Provinz rings um den See von Tiberias zu errichten. Bibel seinen Namen behält, es hat zugleich die Berufung Als sich im Jahre 1666 Sabbatai Tsevi ein Jahr lang — angenommen, das Land Kanaan in das Land Israel zu vor seinem Übertritt zum Islam — als Messias verkünden verwandeln. liess, sollte er im Augenblick der von der gesamten Wir rühren hier an das Thema des Bedingten in der

58 Schöpfung. Nach jüdischer Auffassung hat Gott die Welt Profanum. Marxisten, Sozialisten, Kommunisten, Athei- nicht so geschaffen, dass er ihr anschliessend eine organi- sten, assimilierte Juden waren als bewegende Kräfte - als sche Richtungsweisung gab, die bewirkte, dass die notwen- Promotoren - mit den religiösen, mit den gläubigen dig von einem Anfang aus auf ein Ende und Ziel zugeht. Juden verbunden. Ist der Staat Israel ein religiöser oder Gott hat die Welt unter Bedingung und Risiko geschaf- ein laizistischer Staat? Er ist beides zugleich, sacrum und fen, in einer radikalen Unsicherheit. Im Midrasch heisst es profanum, in einer Weise, dass man es nicht voneinan- von Gott, er habe, nachdem er eben 26 Welten zerstört - der trennen kann: Eben dadurch aber ist er in Wahrheit von denen keine die war, die er gewollt hatte - und eine der jüdische Staat; hätte er sich als rein klerikaler und neue, siebenundzwanzigste, die unsere, geschaffen hatte, religiöser Staat konstituiert, so wäre es nicht der jüdische gesagt: »Vorausgesetzt, diese hier hat Bestand.« Gott Staat; hätte er sich als rein marxistischer Staat konsti- selbst hat nicht einmal die Garantie dafür, dass die Welt tuiert, so wäre er ebensowenig der jüdische Staat. Er ist Bestand hat, da die Welt nur dann Bestand haben kann, jüdischer Staat, weil er beides zusammen ist. Ich glaube, wenn der Mensch etwas von dem Seinen hineinlegt, weil wir geben hier ein Beispiel für die Koexistenz von Gott eben den Menschen braucht (Abraham Heschel). Atheismus und Gläubigkeit sowie für ihre Kooperation Gott hätte niemals die Welt nur dazu geschaffen, dass sie auf allen Ebenen. einfach seiner göttlichen Spur folgt. Die Schöpfung stellt c) Und die dritte Aussöhnung: die Versöhnung unter ein Wagnis dar, das Gott eingegangen ist und an dem der allen Völkern insgesamt, namentlich aber der anderen Mensch teilzunehmen hat: Das jüdische Volk ist das Volk, biblischen Völker. Es besteht vor allem um Jerusalem, die das dieses Wagnis akzeptiert hat. Dann aber muss das heilige Stadt, ein unvermeidlicher Streit zwischen dem Wagnis so weit gehen, bis dieses mamMkhet kohanim, jüdischen, dem christlichen und dem muselmanischen dieses Königreich von Priestern, dieses goy qadosh und Volk. nicht 'am qadosh, das heilige »Volk«, aber dennoch phy- Dieser Streit ist so schwer und tiefgreifend, dass um sisch gesprochen goy, also bis das jüdische Volk sich seinetwillen die Thora nicht damit beginnt, womit sie bereit findet, dieses Land von Kanaan zu nehmen, um hätte beginnen müssen. Dieser Streit ist unvermeidbar: dort Sabbate zu feiern, aber auch, um dort einen Staat zu Die Liebe des Christentums und des Islams zu den Heili- schaffen, damit die grundlegende Wandlung sich auch gen Stätten ist eine unvermeidliche und legitime Liebe, auf der politischen Ebene vollzieht, damit die menschli- und das Judentum ist gerade der Ansicht, dass seine che Gesellschaft, die mamlakha, und das goy in den Sammlungsaufgabe in seinem Land und die Schaffung Vorgang der »Messianisation«, also der Umwandlung der des Staates Israel - unter anderem - die Aussöhnung Politik, hineingeführt wird, die nunmehr einen Sprung dieser drei Unaussöhnbaren ist, das heisst der Begegnung tun muss bis hin zu dem, was wir, philosophisch gespro- der drei biblischen Völker und aller Menschen, ausgehend chen, Ethik nennen und das man vielleicht in drei Grund- von der Herausforderung ihres Je-anders-Seins. Der Sätzen zusammenfassen kann, die die Berufung des Staa- Staat Israel ist glücklich und stolz - und hier liegt mit tes Israel seit 25 Jahren umfassen. Dieser Staat steht der erschütterndste und am stärksten verwandelnde Sinn natürlich auf der organischen Linie des ständig fortle- der Wiedervereinigung Jerusalems - auf diesen anderen benden Zionismus, der in die jüdische Geschichte einge- Erfolg, der eine Antwort des Landes und eine Antwort bettet ist, aber auch in die Berufung zur Herausforde- Jerusalems ist, jenen Erfolg, der darin besteht, dass erst rung: Die Geschichte des Zionismus steht unter dem seit dem Juni 1967 ein Mensch, der nach Jerusalem Zeichen des Schwimmens gegen den Strom, gerade weil kommt, an demselben Morgen in aller Freiheit die man etwas beginnen wollte, was ein Wagnis enthalten Stimme des Muezzin vernimmt, der die gläubigen Mos- sollte, nämlich: lems zum Gebet ruft, die Glocken, die die Christen 1. Das Land nicht »banalisieren«, wie Kanaan es getan veranlassen sollen, in die Kirche zu gehen und den hatte. Dem Land eine äusserst wichtige Funktion belas- hallenden Shophar für die Juden, dass sie zu ihrem sen, die darin lag, dass es etwas Metaphysisches in sich Gebet kommen. Das ist das erste Mal der Fall in der barg. Geschichte Jerusalems seit dem Jahre 70 nach Christus, 2. Die Ethik in die politische Gemeinschaft einführen. das heisst seit nunmehr 1900 Jahren. 3. Die Utopie - nach einem Ausdruck von Martin Buber Juda Halevi erblickte im tiefsten Mittelalter in dieser - auf einem topos ansiedeln, das heisst, die Utopie auf Liebe, die die anderen Völker, die Völker des Altertums, die Erde stellen, der »utopie« eine »topie« geben, und das christliche Volk und das muselmanische Volk, Jerusa- zwar um den Preis der Aussöhnung von drei unaussöhn- lem entgegengebracht hatten und entgegenbrachten, ein baren Grössen (ich meine, der Staat Israel hat Enormes Zeichen der jüdischen Auserwählung für Israel und für in dieser Richtung getan, und sein gesamtes Bemühen ist den Staat. »Wie sollten wir nicht gewiss sein, dass unser auf dieses Ziel gerichtet. Wer immer am Leben des Volk auserwählt worden ist, um sich auf diesem Land zu Staates Israel teilnimmt, verspürt dies zutiefst): sammeln und sich dort zu einem Staat zusammenzu- a) Innerhalb des jüdischen Volkes die dem »Messianis- schliessen, wo wir doch sichtbare Zeichen dafür haben mus« gegenüber »Geduldigen« und »Ungeduldigen« aus- durch die Liebe, die die anderen Völker der Welt an söhnen. Nun sind wir aber von demselben Volk: Der dieses Land bindet: eine Liebe, die so treu ist, dass sie Staat Israel verwirklicht die Verbindung von »Geduldi- dieses Land suchen, dass sie daran denken, dass sie für gen« und »Ungeduldigen«; der Weg ist für beide Seiten und um dieses Land beten? ...« (Kuzari 11/2). So ver- derselbe, aber seine Markierung ist unterschiedlich: Die sucht eben seit 1967 der Staat Israel gerade das: Men- einen haben bereits eine Markierung und sagen: »Der schen, die sonst mit dem Schwert in der Hand Jerusalem vom Staat Israel gebaute Weg ist der messianische Weg«, erobern wollen, zu einer Begegnung im Gebet zu führen die anderen sagen: »Nein, noch nicht!« Doch handelt es und sie dazu zu bringen, dass sie ihre Schwerter in Gebet sich um einen und denselben Weg, und die »Geduldigen« umwandeln. Und dieses Bemühen ist eines der bemer- können nirgendwo anders warten als im Land Israel und kenswertesten Zeichen der göttlichen Auserwählung die- im Schosse des Staates Israel. ses Staates. b) Die zweite Aussöhnung ist die des Sacrum mit dem Übersetzt von Karihermann Bergner

59 14 Die Hebräische Bibel in der israelischen Erziehung und Bibelpädagogik* von Dr.Jacob** Schoneveld*** Ein Buchbericht von Dr. Michael Krupp, Beauftragter der Evangelischen Kirche Berlin für das ökumenische Gespräch zwischen Christen, Juden und Moslems in Jerusalem

»Die Hebräische Bibel ist der Grundstein der jüdischen sondern auch in den Klubs der Kibbuzim und der sozia- Religion und der gemeinsame Grund und das gemein- listischen Juden; die berühmtesten wurden und werden same Erbe des jüdischen Volkes trotz aller Aufspaltun- von dem Staatspräsidenten selbst geleitet. gen in den letzten Jahrhunderten. In Zeiten der Krise war So nimmt es nicht wunder, dass die Bibel in allen Lehr- sie die Quelle der Inspiration, wenn es darum ging, ein plänen vom Kindergarten bis zur Universität, im ortho- neues Konzept jüdischen Selbstbegreifens und jüdischer doxen Heder3 bis zum freien Klassenraum eines Schomer Selbstbestimmung zu finden. Dies trifft besonders zu bei ha zair-Kibbuz 4 eine hervorragende Rolle einnimmt. den Bestrebungen um nationale jüdische Wiedergeburt, Entsprechend der Weite des ideologischen Spektrums ist die zur Errichtung des jüdischen Staates geführt haben.« auch die Varietät von Interpretationsmöglichkeiten die- Dies sind die Eingangsworte zu der faszinierenden Studie ses geheiligten Buches, und aus der jeweiligen Interpreta- über das Selbstverständnis Israels in seinen Lehrkonzep- tion wird das jeweilige Selbstverständnis der einzelnen ten im wichtigsten Fach aller israelischen Schulen, dem Schichten in der bunten israelischen Gesellschaft sichtbar. Fach Bibel, die Coos** Schoneveld jetzt einer breiten Schoneveld gliedert seine Studie in drei Teile. I: Die Off entlichkeit vorgelegt hat. Coos Schoneveld ist ein jun- Hauptorientierungen des israelischen Bibelunterrichts. ger holländischer Theologe, der seit 1967 mit seiner Fa- II: Beispiele verschiedenen Zugangs zu biblischen Ab- milie in Israel lebt und theologischer Berater seiner Kirche schnitten und den kürzesten Teil III: Zusammenfassung in Fragen Judentum und Kirche ist. Coos Schoneveld ist und Bewertung. der Sekretär zweier wichtiger ökumenischer Gruppen Das erste Kapitel behandelt die verschiedenen Formen in Israel, der »ökumenisch-Theologischen Forschungs- jüdischer Bibelerziehung in der Diaspora am Anfang der gemeinschaft in Israel« 1 und der akademischen jüdisch- zionistischen Bewegung in der zweiten Hälfte des 19. christlichen Diskussionsgruppe »Der Regenbogen« 2. Durch Jahrhunderts. Noch immer steht die traditionelle Erzie- seine intensive Mitarbeit im jüdisch-christlichen Gespräch hung des Heder, seit der Zeit der Mischna bis ins 18. in Jerusalem und seine spezifischen Kenntnisse auch des Jahrhundert, dem Ende des jüdischen Mittelalters, die israelischen Schulalltags — Coos und Ellen Schoneveld einzige jüdische Erziehungsform, im Vordergrund. Hier sind die Eltern von sechs Kindern, die zum Teil hebräische unterrichtet der Lehrer seine Schüler vom 5. bis zum 10. Schulen besucht haben — ist Schoneveld ausgerüstet, eines Lebensjahr im Memorieren der Heiligen Schrift, die mit der wichtigsten Themen für das Selbstverständnis des Hilfe der traditionellen Kommentare erschlossen wird, heutigen Israel anzupacken. So ist dieses Buch zu einem vom 11. bis zum 13. Lebensjahr wird dann in ähnlicher Werk geworden, das für jeden unentbehrlich sein wird, Form Mischna und Talmud rekapituliert, bis der Schüler der sich mit der geistigen Situation des werdenden Israel nach seiner Bar Mizva ein volles Mitglied der Synagogen- auseinandersetzen will. gemeinde ist. Das Interesse an der Bibel (in diesem Zusammenhang ist Ein anderes Lehrziel verfolgt die jüdische Aufklärungs- immer die Hebräische Bibel gemeint) ist in Israel in allen bewegung seit Moses Mendelsohn, die Haskala. Sie streb- Kreisen von den orthodoxen Juden in Mea Schearim bis te eine Symbiose von praktischer Umwelterfahrung mit zu den linkssozialistischen jungen Kibbuzniks und auf den Werten der jüdischen Tradition an. den verschiedensten Bereichen des menschlichen Erfahrens Die neo-orthodoxe Erziehung versuchte profanes Wissen vorhanden. Die Bibel ist für Israel Geschichts- und Erd- mit dem traditionellen zu vermitteln, ohne dass es zur kundebuch, Anfang und Vorbild aller hebräischen Lite- Symbiose beider Wissensgebiete kommt, und das letzte ratur, Vorlage für die Namen neugeborener Kinder wie System, das heder metukan 5, bestimmte die jüdische Bibel- neugegründeter Städte und Dörfer. Ihretwegen spricht erziehung durch den Geist des erwachenden jüdisch-natio- man in diesem Lande wieder Hebräisch, die Sprache der nalen Gedankens. Vorväter und die Sprache der Bibel. Ihretwegen konnte Im nächsten Kapitel behandelt Schoneveld das Erzie- sich die Rückkehrbewegung des jüdischen Volkes nur ein hungssystem Israels und seine Entwicklung vor seiner Ziel setzen, das Land Israel, das verheissene Land und Staatsgründung. Er stellt fest, dass die Aufteilung in drei die Heimat der Bibel. Die Bibel ist so, wie der erste Mi- Hauptströmungen, den religiös-zionistischen Zweig, den nisterpräsident des Landes, David Ben Gurion, ein nicht allgemein-zionistischen und den sozialistisch-zionistischen religiöser Jude, zu sagen pflegte, die Identitätskarte des Zweig, auch nach ihrer Auflösung im Jahr 1953 sich be- jungen Staates geworden. Bibelkurse gibt es so nicht nur hauptet hat. Nach 1953 gibt es nur noch zwei staatliche in den von Gebet erfüllten Räumen der Talmudschüler, Erziehungszweige, den religiösen, der das Erbe des reli- giös-zionistischen fortsetzt, und den allgemein-staatlichen "- Titel im Original: »The bible in Israeli education. A Study of Zweig, der eine Vermischung aus den beiden anderen Approaches to the Hebrew Bible and its Teaching in Israeli Edu- cational Literature«. 3 Heder = »Zimmer«, die konservative Bibel-Talmud-Schule, in der Coos = im Holländischen Verkürzung von Jacob. die Bibel auswendig gelernt wird. ""-"• Bibliographische Angaben s. u. S. 136. 4 Schomer ha zair = »der junge Wächter«, linkssozialistische Jugend- 1 S. u. S. 65 ff. bewegung. 2 Besteht seit 1971. 5 = Reform Heder.

60 vorstaatlichen Gruppen darstellt. Da aber auch Privat- schen Verknüpfung mit der jüdischen Welt, im Bewusst- schulen, sogar mit staatlicher Unterstützung, geduldet sein des gemeinsamen Schicksals und der historischen Kon- werden, hat sich auch der sozialistisch-zionistische Zweig tinuität, das Juden überall in der Welt, in allen Genera- treu in der unabhängigen Kibbuzerziehung erhalten, tionen und Ländern, vereinigt«. Bei allen Überlegungen während die ultra-orthodoxe Kindererziehung der Schu- für ein neues Curriculum wird dieser Kabinettsbeschluss len der Agudat6, die das alte Hedersystem bewahren, neu bedacht, und Veränderungen werden auf folgenden drei 1953 bestätigt wurde. Gebieten gefordert: In den folgenden Kapiteln schildert Schoneveld die Rolle 1. grössere Aufmerksamkeit der Tora gegenüber, den des Bibelunterrichts in den verschiedenen Lehrsystemen fünf Büchern Moses, im Gesamtzusammenhang der Bibel, von 1882 bis zur Staatsgründung; aus Platzmangel kann 2. spezielle Aufmerksamkeit dem wöchentlichen Tora- hier auf diese interessante Entwicklung, die ein treuer abschnitt gegenüber, der in der Synagoge verlesen wird, Spiegel für die divergierenden Auffassungen im entste- und henden jüdischen Jischuv sind, nicht eingegangen werden. 3. stärkere Berücksichtigung der traditionellen Kommen- In den letzten Kapiteln kommt Schoneveld dann zu den tare, besonders des klassischen jüdischen Kommentars Verhältnissen im Staat Israel und ihren Kritikern. In den Raschi. Jahren 1954/55 wurden für beide Zweige des staatlichen Aber auch Vorschläge für eine Erweiterung des Curri- Erziehungswesens, das allgemeine und das religiöse, offi- culums des religiösen Zweiges werden unterbreitet und zielle Curricula vom Erziehungsministerium erlassen, wo- zeigen eine Veränderung im religiösen Lager in Israel be- bei schon, was den Bibelunterricht betrifft, in den Einlei- sonders nach 1967 an. Auf zwei Punkte soll im künfti- tungen die völlig verschiedenen Grundhaltungen offen- gen Bibelunterricht in den staatlichen religiösen Schulen bar werden. Während für die freie Richtung die Bibel grösserer Wert gelegt werden: 1. In den Vordergrund zu »die Grundlage der Kultur Israels« ist, wird in der reli- stellen ist die Idee von »Existenz und Friede Israels im giösen Richtung der göttliche Ursprung der Bibel betont. Lande Israel in Verbindung mit dem Einhalten der Tora Der Bibelunterricht der religiösen Richtung hat die Auf- und der Gebote«. Hier drückt sich die verstärkte Be- gabe, »in die Herzen der Kinder den Glauben an den tonung der Heiligkeit des Landes in religiösen Kreisen Herrn einzupflanzen, der Schöpfer der Welt und Spen- nach der Eroberung der Altstadt von Jerusalem, Judäas der der Tora ist«. Das Bibelstudium der freien Richtung und Samarias 1967 aus. 2. »Das Einsammeln der Exilier- hat dagegen die Aufgabe, »in die Herzen der Kinder die ten ist der Beginn der Realisierung der Worte der Tora Liebe zum Vaterland und die Liebe für das Volk einzu- und der prophetischen Vision, die von der Erlösung Israels pflanzen, das hier lebte und hier seine Kultur schuf«, die sprechen« ; der hebräische Fachausdruck dafür ist athalta gerade in der Bibel zum Ausdruck kommt. Zweifelsohne digeula (der Beginn der Erlösung), die mit der Staats- kommt die Liebe zur Bibel auch im nichtreligiösen Zweig gründung angebrochen ist. deutlich und tief zur Geltung. Einer der Verfasser des Zum Schlusskapitel dieses Teiles werden die israelischen Curriculums kann sich so äussern: »Für viele Generatio- kritischen Stimmen berücksichtigt, die auf Gefahren ge- nen, von der Zeit, in der die Bibel geschaffen wurde, hat wisser Tendenzen in der Bibelerziehung hinweisen. Be- sie uns bewusst oder unbewusst beeinflusst durch tausend sonders wichtig sind hier die Anfragen nach einer Ge- kulturelle Kanäle in Lehre und Glaube, in Ausblick und fährdung moralischer Werte. Schoneveld bringt hier eine Rückblick, in Sprache und Stil, im Denken und Fühlen Anzahl Beispiele, von denen eines hier seine Aktualität und so fort. Die Bibel ist unsere Mutter, und wir sind ihre deutlich machen soll. In einer Umfrage, die verschiedene geistigen Kinder, so wie wir die Kinder unseres Volkes repräsentative Schülergruppen umfasst, soll sich der und Söhne unseres Heimatlandes sind ... Hier, wo es Schüler dazu äussern, wie er die Ausrottungspraxis Josuas um die Würdigung der Quelle der Quellen unseres bei der ersten Eroberung des Landes beurteilt, die Aus- menschlichen und nationalen Wesens geht, können wir rottungspraxis eines chinesischen Generals in einem fikti- nicht objektiv sein« (S. 112). Trotzdem, und das haben ven Krieg und wie die israelische Armee sich bei der Er- israelische Kritiker des nichtreligiösen Curriculums gleich oberung eines arabischen Dorfes zu verhalten hat. Allzu erkannt, ist es problematisch, ein Buch, das von der Of- nahe Identifizierung mit biblischen Gestalten und Hand- fenbarung des einen Gottes zu seinem Volk in seinem lungen könnte chauvinistische und gefährliche Tendenzen Land redet, zum Produkt des israelitischen Genius zu ma- fördern. chen, der sich hier sein unerschütterliches Monument auf- Im Teil II wird der verschiedene Zugang zu einzel- gerichtet hat. nen Abschnitten der Bibel besprochen. Folgende Partien Tendenzen in der israelischen im Lande geborenen Ju- sind von Coos Schoneveld ausgesucht worden: von den gend, die sich als Hebräer und nicht mehr als Juden Abrahamsgeschichten die Landesverheissung und die empfanden, verstärkten dann bald die Zweifel an der Bindung (besser als Opferung) Isaaks, aus der Sozialge- Richtigkeit dieser Erziehung. Die »Kanaanisierung« führ- setzgebung das Gesetz der Sklaverei in Exodus 21, von te deutlich zu einer Entfremdung von Israel und jüdischer der Prophetengeschichte Jeremias Lage im belagerten Je- Diaspora. Die Vernachlässigung der Tradition und der rusalem, aus der Prophetie des Propheten Amos die Pro- abrupte Anschluss an eine vor Jahrtausenden stattgefun- bleme »Erwählung und Strafe« und »Kult und Ethik«. dene Geschichte, die keine jüdische Geschichte in der Dia- Den Abschluss bildet das Buch Hiob. Man wird sagen spora mehr kennt, droht die Grundlagen des gerade neu dürfen, dass diese Auswahl besonders geschickt ist, denn geborenen jüdischen Staates zu erschüttern. Schon 1955 sie spiegelt auch das besondere Interesse der modernen beschloss das israelische Kabinett, im Erziehungssektor Bibelpädagogik in Israel an diesen Stellen wider. Liegt Sorge zu tragen »für die Vertiefung jüdischen Bewusst- das Schwergewicht des orthodoxen Judentums besonders seins unter der israelischen Jugend, für eine Verwurze- auf der Tora, während die prophetische Botschaft zu kurz lung in der Vergangenheit des jüdischen Volkes und sei- kommt, so liegt das Interesse der nicht orthodoxen Bibel- nem historischen Erbe und für die Stärkung einer morali- erzählung in Israel gerade am ethischen und sozialen En- gagement der Propheten. Die beiden ausgesuchten Abra-

6 Agudat Jisrael = »die Gemeinschaft Israel«, ultraorthodoxer Zu- hamsgeschichten symbolisieren auch einen besonderen sammenschluss. Schwerpunkt im Torastudium für die moderne Bibel-

61 pädagogik, der zionistische Anspruch auf das Land wird wertung« bringt nun die persönliche Meinung und Stel- auch in nichtreligiösen Schulen durch die Verheissung der lungnahme des Verfassers. Das erste Kapitel dieser Ab- Vätergeschichte begründet, während die Bindung Isaaks teilung trägt die Überschrift »eine Klassifikation der Zu- als Beispiel für den ungebrochenen Gehorsam gegenüber gänge zur Bibel« und bringt auf wenigen Seiten eine Zu- einem Glauben gilt, der über das eigene Selbst hinaus- sammenfassung der wichtigsten Ergebnisse dieser Studie führt. Die Hiobgeschichte spiegelt das Leiden des jüdi- unter den Rubriken »die Sorge um die Treue zur Tradi- schen Volkes durch die Jahrhunderte wider. tion«, »die Sorge um Universalität«, »die Sorge um na- Zur Illustration dieses Teiles sei eines der Beispiele hier tionale Existenz«, »die Sorge um eine gerechte Gesell- herausgegriffen, die Aqedat Jizhaq, die Bindung Isaaks. schaft« und »die Sorge um den Menschen«. Schoneveld hat sechs moderne Interpretationsversuche Das zweite Kapitel dieses Teils beschäftigt sich mit ver- dieses schwierigen Stoffes ausgesucht, Unterrichtshilfe er- schiedenen hermeneutischen Zugängen zur Bibel als Quel- fahrener Pädagogen Israels für Lehrer, von der ortho- le für die eigene Identität. Schoneveld unterscheidet hier doxen Nehama Leibowitz, die weit über das orthodoxe vier Typen. Der erste betrachtet die Schrift als Quelle und Lager hinaus in Israel geschätzt und beachtet wird, bis Norm, dies ist der religiöse Zugang. Auch der zweite zum Werkbuch des Curriculum-Zentrums des Erzie- Typ ist von religiösen Motiven getragen, wenn er ver- hungs- und Kultusministeriums, das 1975 erschien. Die sucht, seine moderne Selbstidentität in die alte Quelle zu- Erzählung von der Bindung Isaaks nimmt in der rabbi- rückzuprojizieren, um sich so aus der göttlichen Vergan- nischen Literatur einen breiten Raum ein. Schlomo Dov genheit seines Volkes für sein Tun in der Gegenwart rück- Goitein, einer der von Schoneveld untersuchten Interpre- zuversichern. Die beiden anderen Typen sind stärker von ten, sieht hierin deutliche Einflüsse früher Mysterienreli- der Säkularisierung erfasst, der dritte konfrontiert sich gionen, die sich um ein Zentralmythos gruppieren, wo die mit der Schrift und übernimmt oder verwirft für das Hauptgottheit der Religion sich selbst opfert oder von eigene Selbstverständnis so viel, wie schlüssig die Schrift seiner Vater- oder Muttergottheit geopfert wird, um für ihm erscheint, Massstab ist hier das eigene Ich. Der vierte die Sünden der an sie Glaubenden Sühne zu bewirken. Typ distanziert sich bewusst von der Schrift und betrach- Die frühe kirchliche Interpretation hat dann auch in tet sie aus einem historischen Interesse für die Vergan- Isaak den Prototyp für Jesus gesehen, andeutungsweise genheit seines Volkes, vielleicht mit der bewussten oder findet sich das schon im Hebräerbrief 7. In der späteren unbewussten Hoffnung, in ihr Bausteine für ein neues jüdischen Geschichte wurde die Abraham-Isaak-Opferung säkulares Wertsystem zu finden. dann zum Symbol, sich selbst und seine Kinder in den Das letzte Kapitel trägt die Überschrift »Säkularismus Judenverfolgungen hinzugeben, um besonders die Kinder und jüdische Selbstidentität« und befasst sich mit dem vor der Zwangstaufe zu retten. Eine ganze Literatur um Hauptproblem, wie biblische Texte in einer säkularisier- diese Erzählung entstand im Mittelalter, die besonders in ten Welt fruchtbar oder anwendbar gemacht werden kön- der Liturgie ihren Niederschlag bis heute fand. Diese nen. Denn anders als in sonstigen säkularisierten Gesell- Geschichte des Erzählungsstoffes kann natürlich kein schaften ist für die israelische Gesellschaft, auch für die israelischer Pädagoge übersehen, und so war die Versu- säkularisierte, die Bibel unerlässlich und Grundlage jeder chung jeweils gross, gerade in der kriegerischen Bedro- Selbstidentität. Es gibt kein anderes Buch der jüdischen hung Israels die Erzählung als ein Beispiel für den Hel- Überlieferung, das dies von sich behaupten könnte, und denmut von Vätern und Söhnen hinzustellen, ihr Leben es gibt keinen Juden, der dieses Buch als unerheblich für zur Rettung des Vaterlandes und für das überleben des sich ablehnen wollte, will er nicht sein Judesein über- Volkes hinzugeben. Beispiele für eine solche Deutung haupt aufgeben. Das Hauptproblem eines jeden Bibel- zählt Schoneveld genügend auf. Aber gerade das Werk- unterrichtes in den nicht-religiösen Schulen wird es also buch des Erziehungsministeriums stellt Anfragen an diese sein, wie ein religiöses Dokument in einer nicht-religiösen in ihrer Konsequenz ganz traditionelle Deutung. Es ver- Welt so zu verankern ist, dass es zur Persönlichkeitsbe- weist auf die grosse Schwierigkeit, die in der Unver- stimmung dienen kann. gleichbarkeit der Situation des modernen Israeli besteht, Schoneveld stellt gegen Schluss der Untersuchung die ver- der vor die Frage von Leben und Tod gestellt wird, und schiedenen Möglichkeiten zusammen, die ihm bei seiner der Situation Isaaks und Abrahams, für deren Opferung Untersuchung begegnet sind. Es gibt den Versuch, das und Selbstopferung es keinen zwingenden äusseren jüdische Erbe als Folklore, als sogenannte » Jiddischkeit«, Grund gab. Die Not des modernen Israel trifft eher die zu verstehen, ein Versuch, der auf Dauer unbefriedigend Erzählung des Königs von Moab, 2 Könige 3, 27, der sein wird, weil ihm die Tiefe fehlt und so keine endgül- durch die Opferung seines Sohnes eine nationale Gefahr tige Antwort auf die Fragen der modernen Existenz zu abzuwenden weiss, weil sein Beispiel das ganze Volk erhalten sind. Ausführlicher setzt sich Schoneveld mit dem überzeugen muss. Das Werkbuch kommt nach einer lan- Versuch auseinander, jüdisches Erbe in einer nichtreligiö- gen Erörterung des Vergleiches dieser beiden grundver- sen Weise auf die tagtägliche Lebensbewältigung zu in- schiedenen Opferungen zu dem Schluss: »Der wahre Gott terpretieren. Schoneveld lehnt dabei die Art und Weise, bedarf nicht der Körper von Toten, sondern des Willens alle Aussagen von Gott problemlos auf den israelitischen der Lebenden« (S.178). Alle Interpreten scheuen sich, die- oder jüdischen Genius zu übertragen, als gefährlich ab, ses dunkle »mysterion« des jüdischen Volkes und seines weil es zum Chauvinismus führen kann. Auch der Weg Gottes in schlichte Massstäbe erzieherischer Werte für die religiöser Interpreten, ihren nichtreligiösen Schülern den heutige israelische Jugend umzufunktionieren. Zugang zur Schrift zu öffnen, indem sie auf die auch sonst Der letzte Teil des Buches »Zusammenfassung und Be- humanistisch, soziologisch oder universalistisch bedeut- samen Züge des eigentlichen religiösen Kerns hinweisen,

7 Hebr 11, 17 ff.: Durch Glauben hat Abraham den Isaak dargebracht, ist fraglich, weil der eigentlich religiöse Kern nicht zum als ob er auf die Probe gestellt wurde, ja er war im Begriff, den Ein- Tragen kommt. Ein letzter Weg wird darin gesehen, die geborenen darzubringen, er, der die Verheissungen empfangen hatte, Texte auf ihre Brauchbarkeit für eine Lebensbewältigung ja er, zu dem gesagt worden war: »Nach Isaak wird die eine Nach- hin auszusuchen oder durch Literatur- und Textkritik die kommenschaft genannt werden.« Er dachte, Gott ist imstande, auch von den Toten zu erwecken. Darum erhielt er ihn denn auch als ein Texte von ihrer religiösen Verpackung zu befreien, um so Gleichnis zurück ... zu den humanistischen, soziologischen etc. Aussagen zu

62 kommen, die auf heutige Probleme eine gültige Antwort nimmt in diesem Schlusswort die Gelegenheit wahr, auf geben können. Wenn nach Meinung von Schoneveld dies gewisse Konsequenzen, die diese Studie auf den jüdisch- auch ein zweifelsohne brauchbarerer Weg ist, so bleibt er christlichen Dialog haben könnte, hinzuweisen. Er ver- doch unbefriedigend. weist darauf, dass auch das Christentum mit ähnlichen Ein ganz anderer Zugang ist der Versuch, die nicht-reli- Problemen kämpft wie das Judentum gerade auf dem giöse Welt zurück zu religiösen Werten zu führen, um da- Feld der Säkularisierung und einer glaubwürdigen Bibel- mit die religiösen Aussagen ungebrochen wirksam sein zu interpretation für unsere Zeit. Er verhandelt dann die lassen. Die einen versuchen nun, eine religiöse Welt zu allerdings recht verschiedenen Aspekte im jüdischen wie schaffen, die so unterschiedlich zur traditionellen jüdi- im christlichen Selbstverständnis, da die starke Verschmel- schen ist, dass die Gefahr des Individualismus entsteht, zung von Nation und Religion nur dem Judentum eigen der nicht in der Lage ist, Werte von allgemein bindender ist. Gerade die systematischen Ansätze zum Verständnis Art für ein Volk zu verleihen. Der Versuch müsste vom der Bibel und der modernen Welt, wie sie z. B. von Diet- orthodoxen Lager ausgehen, das aber, von gewissen Aus- rich Bonhoeffer und K. H. Miskotte versucht wurden, nahmen abgesehen, nicht oder noch nicht reif für diese könnten dem Judentum in der Bewältigung seiner Proble- Aufgabe ist oder vielmehr diese Aufgabe noch gar nicht me behilflich sein, während wieder die starke Verwurze- erkannt hat. lung Israels im sozialen und humanistischen Sektor und Als ernsthaftesten bewertet Schoneveld den Versuch, die die Weltbezogenheit der israelischen Bibelerklärung eine Spannung von religiösem Anspruch und säkularisierter grosse Hilfe für christliche Theologie sein dürften. Das Gegenwart durchzuhalten und zu versuchen, eine zeitge- Buch schliesst mit der Einsicht, »es dürfte für engagierte mässe Symbiose zwischen diesen Gegensätzen zu errei- Juden wie Christen von hohem Wert sein, die gegenseiti- chen. gen Erfahrungen auszutauschen, die verschiedenen An- Das Judentum hat bisher keine Systematik und keine sätze im hermeneutischen Feld, und eine gemeinsame An- Theologie entwickelt, weil es das für seinen bisherigen strengung auf sich zu nehmen, die entscheidende Bedeu- Weg der Gebotseinhaltung nicht bedurfte. Die zusammen- tung ihrer gemeinsamen Quelle für den modernen Men- haltende Kraft des Judentums in der Diaspora wurde schen in einer modernen Welt ans Licht zu bringen«. auch jeweils verstärkt durch die Sonderstellung in seiner Aus Platzmangel gab es in diesem Bericht nur die Umwelt und seine Anfeindung. Schoneveld fragt nun, ob Möglichkeit, auf einige besonders markante und wichtige nicht die in Israel veränderte Situation einen Wandel er- Informationen und Gedanken, die die Schoneveldsche forderlich macht, und hier müssten Bibelgelehrte und jü- Studie enthält, hinzuweisen. Das Buch ist um vieles rei- dische Philosophen für Schüler wie Lehrer systematische cher und überzeugt in der Ausbreitung und Deutung sei- Denkentwürfe und biblische Konzepte entwickeln, die nes Materials. Als »Aussenseiter«, wie Schoneveld sich im es dem heutigen Israel ermöglichen, in der Bibel seine Vorwort bezeichnet, ist es ihm gelungen, eine Studie vor- Selbstidentifikation zu finden und zu bewahren. Unter zulegen, die dazu beitragen wird, ein sehr viel klareres dieser Voraussetzung sieht Schoneveld hier für den drit- Bild von Israels Selbstverständnis und von seinem Ringen ten vorher vorgestellten Typ des hermeneutischen Zu- um Selbstidentifikation zu geben. Es wäre wünschens- gangs zur Bibel die grössten Chancen, der die Bibel durch- wert, wenn dieses wichtige Werk auch einen deutschen forscht in der ernsthaften Suche nach verbindlichen Wer- Übersetzer und Verleger finden könntes. ten für die heutige Zeit. In einem Postscriptum kommt Schoneveld auf die äussere 8 Vermerkt sei auch, dass das mit grosser Sorgfalt gearbeitete Werk Worterklärungen hebräischer Ausdrücke enthält sowie eine aus- Veranlassung zu dieser Studie zu sprechen, das Interesse gewählte umfangreiche Bibliographie, ein Sach- und ein Personen- an einer besseren jüdisch-christlichen Verständigung. Er register (Anm. d. Red. d. FR).

15 Aussprache* Replik an David Flusser von Johannes M. Oesterreicher

Zu den »Thesen zur Entstehung des Christentums aus dem Juden- Der Wagemut, mit dem Sie Thesen zu einer Geschichts- tum« von Professor Dr. David Flusser (in FR XXVII/1975, S. periode erstellen, durch deren Dunkel und Ungewissheit IM 24/181) schreibt Prälat Johannes Oesterreicher an den Verfasser den folgenden Brief, den wir in dieser Rubrik* bringen: wir uns sonst nur mühsam hindurchtasten müssen, beein- druckt und verblüfft mich zugleich. Manchmal sieht es so South Orange (New Jersey), im Dezember 1976 aus, als wollten Sie die zwischen Christen und Juden bestehende Kluft erweitern. So, wenn Sie das Christen- Sehr verehrter Herr Flusser, tum »in gewisser Hinsicht« ein »billigeres Judentum« die Redaktion des FR hat mich gebeten, zu Ihren »The- nennen (These 37). Klingt das nicht so, als würde ein sen zur Entstehung des Christentums aus dem Judentum« nicht gerade wacher Christ sagen, jüdische Orthopraxie Stellung zu nehmen. Ich entspreche diesem Anliegen und sei die leichteste Lebensweise der Welt: alles sei vor- unserer Beziehung wohl am besten, wenn ich meine Ge- geschrieben, sittliche Entscheidungen seien unnötig, auch danken in das Gewand eines Briefes kleide. das Herz könne schweigen? Eine solche Wertung des * In dieser Rubrik erschienen bis 1965 (FR XVI/XVII) regelmässig Judentums wäre ebenso abwegig wie Ihre beiläufige Be- Beiträge; wegen Platzmangels entfiel dies dann. merkung über das Christentum. In all den Jahren seit

63 dem Kommen Jesu bis heute haben Christen leider zur schaffung der Welt durch den Logos, der Hypostasen, in Genüge bewiesen, dass sie die Nachfolge Jesu nicht für einem anderen Zusammenhang, auf die Lehre vom Sühne- einen billigen, ja oft nicht einmal für einen akzeptablen tod der Märtyrer hin (These 33); man könnte noch die Weg halten. rabbinischen Einsichten in das Geheimnis der Selbsterniede- Ich bin überzeugt, dass der Eindruck, von dem ich eben rung Gottes, der Israels Schmerzen und Lasten mitträgt, sprach, trügt. Die Grundstimmung Ihrer Arbeit scheint oder in das des stellvertretenden Leidens und anderes in dem Satz: »Das Christentum und das Judentum sind mehr hinzufügen. Ich wünschte, die mir zugedachte Sei- eine Religion« (These 53) anzuklingen. Man muss nicht tenzahl wäre gross genug, um Ihre Auffassungen vom gerade ein Jünger Bonhoeffers oder Verehrer Bubers sein, Einfluss der Qumrangemeinde (in Ihrer Sprache der um gegenüber der Kennzeichnung der beiden in der »Essener«) zu diskutieren. Schrift gegründeten Glaubens- und Lebensweisen als »Re- Lassen Sie mich Ihnen nochmals dafür Dank sagen, dass ligion« Bedenken zu haben. Gehe ich aber fehl in der An- Sie das Ihre getan haben, um uns von einem unheiligen nahme, dass Ihre These im letzten dem Theologumeon Bündnis zu befreien. Jahrzehntelang haben christliche nahesteht, dass nämlich Christen und Juden »unter dem Exegeten, oft uneins mit sich selbst und Ihrem Glaubens- Bogen des einen Bundes« (Karl Barth) wandeln? In an- bekenntnis, und jüdische Apologeten, deren geistliche und deren Worten, all die Bünde, die wir aufzählen und be- wissenschaftliche Beglaubigungen nicht selten zweifelhaft nennen können, von Noe bis zu Golgatha, sind »nur« sind, weite Kreise mit der Idee tyrannisiert, das Christ- Erscheinungen oder Gestalten der einen, allumfassenden liche sei wesentlich hellenistisch. Sie selbst sind so sehr in Liebe Gottes. Sie stellen Sein dauerndes Engagement mit jüdischem Boden verwurzelt, so liebend mit dem echten der Welt, die Er geschaffen, immer neu dar. jüdischen Erbe verbunden, dass Sie nicht in die Ver- Ich bin dankbar, dass Ihre Thesen mit der Erklärung: suchung fallen, die Verwandtschaft von Christentum und »Jesus war Jude« (These 1) beginnen. Für mich ist dieser Judentum zu leugnen. Satz, mit der nicht unbedeutenden Änderung der Zeit- Um so mehr überrascht es mich, dass Ihre Kritik sich aus- form » Jesus ist Jude«, nicht bloss eine historische Fest- schliesslich gegen jene geistlosen, undankbaren Christen stellung, sondern auch eine Glaubenserklärung. Dass Jesus richtet, die die Wurzeln, die sie tragen, nicht zu kennen als Jude gelebt, gedacht, gesprochen, gebetet, gehofft, scheinen. Sie kennen doch auch Juden, die es nie über gelitten hat, ist ein wesentlicher Teil Seines Menschtums. sich bringen, etwas Gutes über Jesus, Seine Frohbotschaft Sein Eingebettetsein in das Leben Israels ist zum vollen oder Seine Kirche zu sagen. Sie kennen doch so gut wie Verständnis Seiner Botschaft notwendig, wenn auch die ich, wenn nicht besser, jene frühe rabbinische Rede von Fülle Seines kreatürlichen Seins — wie die eines jeden Jesus, dem Zauberer und Verführer Israels, und oder das Menschen — mit Faktoren wie Herkunft, Volkstum, Ge- zeitlich spätere, doch kaum mehr erfreuliche Wortspiel, meinschaft, Tradition, Milieu nicht voll bestimmt oder das euangelion in awen gillajon, »Lügenrolle«, oder awon umschrieben werden kann. In all dem stimmen wir, denke gillajon, »Sündenrolle« verkehrt. Ich erwähne diese alte ich, voll überein, wenn uns auch der Glaube trennt, dass Polemik nicht, um die Verleumdungen von gestern, der Er voller Mensch und zugleich mehr als Mensch war, die Talmud sei ein durch und durch antichristliches Werk, Schechinah, Gottes Gegenwart unter Menschen. wieder aufleben zu lassen. Was ich sagen will, ist gerade Wie sehr ich mit Ihnen das Jude-sein Jesu betone, in einem das Gegenteil. Echtes Verstehen und echte Zuneigung von Punkt kann ich Ihnen aber nicht folgen. Ich meine Ihre Christen und Juden sind nur möglich, wenn beide er- überraschende Aussage, Jesus sei für den jüdischen Glau- kennen, dass sie gesündigt haben — wenn auch in ver- ben gestorben. Rabbi Akiba, der sein Märtyrertum mit schiedenem Mass — und der Umkehr bedürfen. dem Bekenntnis vollendete: »Höre, o Israel, der Herr Ich würde mich freuen, wenn Sie mit mir darin überein- ist unser Gott, der Herr ist Einer« (Ber. 61 b), ist ohne stimmten, dass wir alle lernen müssen, nicht nur das Ver- Zweifel für den jüdischen Glauben gestorben. Kann man sagen der anderen, sondern auch das eigene zu bekennen, aber das gleiche von Jesus sagen? Nach dem Johannes- das heisst in unserem Zusammenhang, nicht nur der an- evangelium gibt Jesus Seinen Geist mit den Worten auf: deren, sondern auch der eigenen Gemeinschaft und Tra- »Es ist vollbracht« (19:30). Das bedeutet gewiss nicht dition. Nicht minder würde ich mich freuen, wenn Sie bloss: »Bald sehe ich das Ende meiner Schmerzen«, son- meinen Eindruck zurückwiesen, dass Sie eine Art Ver- dern darüber hinaus: »Ich habe den Auftrag meines Va- schwörung seitens der frühen Christen annehmen, das ters ausgeführt. Ich bin den Gang des Erbarmens mit den Gesetz seiner Würde und Geltung zu berauben: »Es war Verlassenen Israels bis zu dem mir aufgetragenen Ziel also nötig, unter den Heidenchristen zuerst Abscheu vor gegangen. Ich gebe mein Leben dahin, damit andere Le- dem Gesetz zu erregen und es ihnen dann zu verbieten« ben haben.« Muss ich noch den Unterschied zwischen dem (These 22). Ich kenne keine geschichtlichen Beweise für Bekenntnis des sterbenden R. Akiba und den übrigen diese Hypothese. Griechen hatten ja von Haus aus einen Worten darlegen, mit denen die andern Evangelisten den Widerwillen, ja ein Grauen vor der Beschneidung: ihre einsamen, aber »für die andern« erlittenen Tod Jesu be- instinktive Abneigung gegen die Beengtheit des Lebens, zeugen? Ich denke nicht, wenn es mir auch nicht gelungen die das Gesetz auferlegte, war so stark, dass niemand sie ist, den Sinn Ihrer Behauptung zu ergründen. gegen das Gesetz selbst aufhetzen musste. Ich brauche Alle — Christen und Juden —, denen die christlich-jü- wohl nicht zu betonen, dass ich diese Geringschätzung dische Begegnung von heute und von morgen ein ernstes nicht teile. Wenn ich auch nicht nach dem Gesetz lebe, so Anliegen ist, sind Ihnen zu Dank verpflichtet, dass Sie halte ich es dennoch für ehrwürdig und bringe denen, die mit nicht misszuverstehender Klarheit erklärt haben: es in Liebe beachten, meinen tiefen Respekt entgegen. »Die Grundlagen der Christologie sind insgesamt jüdisch Paulus nennt das Gesetz nicht nur »ehrwürdig«, sondern und nicht hellenistisch« (These 29). Zu meiner Freude »geistlich« (Röm 7, 14), sogar »heilig« (7, 12). Dennoch haben Sie dieser These eine andere beigefügt: »Die Neben- schreiben Sie, dass er »abschätzig von den >Werken< motive der Christologie sind auch jüdischen und nicht spricht« und dazu beitrug, dass diese »theologische und hellenistischen Ursprungs« (These 36). Sie weisen hier später gefühlsmässige Verabscheuung der jüdischen Le- auf die Lehren von der Präexistenz des Messias, der Er- bensweise [zu einem] Grundpfeiler des christlichen Anti-

64 judaismus und [einem wichtigen] Motiv des Antisemitis- minder wichtig sind die Arbeiten von Meinrad Limbeck, mus« wurde (These 22). Ich glaube nicht, dass diese Cha- vor allem seine Untersuchungen zum Gesetzesverständ- rakterisierung der Verachtung der Juden durch Christen nis des Frühjudentums, Die Ordnung des Heils. Kürz- richtig ist. Auf jeden Fall tun Sie dem Apostel unrecht. lich sprach er zur Frage: »Ist die paulinische Botschaft Gewiss, seine paradoxen Aussagen — so wenn er auf der antijüdisch?« Paulus Botschaft, dass die Vollendung der einen Seite bekennt, dass Christus uns vom »Fluch der Welt nicht dem Gesetz, sondern der vom Gesetz befreiten Thora, des Gesetzes« (Gal 3, 13) losgekauft hat, und auf Güte zu danken sei, sei ein Sprengsatz für ein orthodoxes der anderen erklärt, dass das Gebot, die mizwah, heilig, Judentum wie für ein etabliertes Christentum, antwortet gut und gerecht« (Röm 7, 12) ist — und nicht immer Limbeck. Paulus »ist derjenige, welcher jenen, die unter auf den ersten Blick einsichtig. Dennoch gestatten sie dem Gesetz leiden, Freiheit gewährt — hüben wie drü- uns nicht, Paulus als einen Verächter des Judentums hin- ben«. Auch wer Limbecks Auffassung nicht ganz teilt, zustellen oder, wie das öfters geschieht, als Feind sitt- wird durch sie zu einer neuen Wachsamkeit aufgerufen. licher Bindung abzutun. Mit vereinfachten, stereotypen Wendungen kann man In meinem Bestreben, Paulus gegen den Verdacht in Paulus nicht gerecht werden. Schutz zu nehmen, dass seine Stellung zum Gesetz nur Es gibt noch andere Thesen, zu denen ich gerne Stellung ein Versuch war, den Heidenchristen Abscheu gegen jü- genommen hätte, z. B. denen zur Messiasfrage. Gewiss ist dische Lebensformen einzuflössen, stehe ich nicht allein. Jesus der von der Schrift, dem Tenach, verheissene Er- Sie kennen doch gewiss Leo Baecks meisterhaften Aufsatz löser. Kann man Ihn, den Ohnmächtig-Mächtigen, der »Der Glaube des Paulus« mit seiner Feststellung, dass Gottes Sorge um Israel und die Menschheit und Seine Paulus durch und durch Jude war, und nie aufhörte, es Liebe zu ihnen gerade in der Machtlosigkeit des Kreuzes zu sein. Ein Grieche verehrte Götter, die ihn nicht in offenbart, schlechthin den »Messias der Juden« (These 34) Anspruch nahmen; ein Jude jedoch sah eine göttliche nennen? Erklärt der für viele unerwartete Charakter des Offenbarung als Sendung an. So kam es, sagt Baeck, dass Erwarteten nicht zur Genüge den neutestamentlichen Paulus über seine Vision von Damaskus nicht nachgrü- Sprachgebrauch » Jesus Christus«, ja »Christus Jesus«? belte, sondern sie als Auftrag, als »den jüdischen Be- Ich kann diesem und anderen von Ihnen angeschlagenen fehl >Geh!<« verstand. Die grundlegende Frage, die sich Problemen leider nicht nachgehen, da die Herausgeber ihm stellte, war: Sind dies noch die Tage der Thora oder des FR sich nicht durch das Gesetz gebunden fühlen, das schon die des Messias? Da er überzeugt war, die messia- lehrt: »Du sollst dem dreschenden Ochsen nicht das Maul nische Zeit sei angebrochen, hiess die Wahl für ihn: verbinden« (Dt 25, 4), obwohl Paulus selbst es sich zu »Gesetz« oder »Erlösung«. »Wir dürfen deshalb nicht eigen macht (1 Kor 9, 9, 1 Ti 5, 18). sagen«, fährt Baeck fort, »Paulus habe das Gesetz ver- Wenn ich aber von Ihren einzelnen Thesen absehe und worfen oder verurteilt — hätte er das getan, so hätte sie alle als Ganzes in einem Blick zu erfassen suche, so er damit die Grundlage seines Glaubens zerbrochen.« sagen sie mir eines: Das grosse rabbinische Prinzip der Seine paradoxen Aussagen sind »kein Widerspruch, wie Mitverantwortlichkeit aller Israeliten — Kol Jisrael are- einige Gelehrte angenommen haben. Im Gegenteil, sie vin seh ba-seh, »Ganz Israel ist haftbar, einer für den zeigen die Folgerichtigkeit in seinem Denken.« Er musste andern« (Scheb. 38 a) — muss auf Juden und Christen die dauernde Gültigkeit des Gesetzes verneinen, weil er ausgedehnt werden. Es kann zu keinem wahren Gespräch, an die Gegenwart und Kraft Christi glaubt. »Paulus hat zu keiner echten Begegnung von Christen und Juden nie daran gedacht, das jüdische Volk zu verwerfen oder kommen, es sei denn, sie seien sich ihrer Solidarität voll zu verachten.« bewusst. Christen und Juden, Juden und Christen müssen So weit Leo Baeck, der grosse Zeuge des jüdischen Glau- lernen, die Verantwortung, die sie füreinander haben, zu bens in einer Zeit der Finsternis. Um Paulus' Aussagen leben. Darin sind wir doch einig? über das Gesetz richtig zu werten, sollte man auch Franz In herzlicher Verbundenheit Mussners Kommentar zum Galaterbrief befragen. Nicht Ihr Johannes Oesterreicher

16 Rundschau 1 Zehn Jahre Ökum.-Theolog. Forschungsgemeinschaft in Israel Rückblick und Ausblick der Ökumenischen Fraternität Bericht anlässlich ihrer Zusammenkunft vom 5.10.1976. Von Rev. Dr. J. Schoneveld*

Schon länger vor Bestehen der ökumenisch-Theologischen stoss. Mit dem Weltkirchenrat verbundene Kreise waren Forschungsgemeinschaft in Israel war bekannt, dass der interessiert, in Zusammenarbeit mit der römisch-katho- Staat Israel einen einzigartigen Hintergrund (Back- lischen Kirche ein ökumenisches Studienzentrum in Je- ground) bot für christliche Studien und für die Beziehung rusalem für jüdisch-christliche Beziehungen zu schaffen. zwischen der Kirche und dem jüdischen Volk und den in Am 26. 2. 1966 wurde die ökumenisch-Theologische For- Israel lebenden Christen, die dazu einen wertvollen Bei- schungsgemeinschaft in Jerusalem gegründet'. Das Pro- trag leisten konnten. Die Wiedergeburt des jüdischen tokoll der Zusammenkunft enthielt folgende Zielsetzun- Volkes, die ihren Ausdruck in der Entstehung des Staates gen: fand, brachte der theologischen Auseinandersetzung über 1. Persönliche Verbindungen schlossen sich zu einer theo- das Judentum und das jüdische Volk einen neuen An- logischen Forschungsgemeinschaft zusammen; 2. der christ-

" Aus dem Englischen übersetzt und gekürzt. 1 vgl. FR XXI/1969, S. 71; XXII/1972, S. 86.

65 lichen Kirche sollte zu einem Selbstverständnis in der hungen untereinander, besonders zwischen westlichen und durch die Entstehung des Staates Israel bedingten neuen östlichen Kirchen, aber auch zwischen lokalen, besonders Situation verholfen werden; 3. Vertiefung der christlichen arabischen Christen und Christen aus anderen Teilen der Beziehungen zu Juden, Judentum und Israel. Welt. Anstatt in zu vielen dieser verschiedenen Verbin- Es war tatsächlich eine ökumenische Gruppe, die katho- dungen engagiert zu sein, wollten wir uns auf unsere lische bis baptistische Traditionen umfasste und auch sol- ursprüngliche Bestimmung konzentrieren: die jüdisch- che, die bereits jüdisch-christliche Beziehungen pflegten christlichen Beziehungen, uns aber dabei jederzeit bewusst (wie u. a. das Schwedische theologische Institut, die Ar- sein, dass diese Forschung nur Teil eines grösseren Gan- beit der Dormitio2, das Haus Jesajas der Dominikaner3, zen ist und ihre Bemühungen dem Ziel der Befriedung das Haus Ratisbonne, das Amerikanische Institut der aller in diesem Land Lebenden dienen, ob sie religiös als Studien vom HI. Land, den United Christian Council in Juden, Christen, Muslimen oder der Nationalität nach Israel). Die in der Ökumenisch-Theologischen Forschungs- als Juden oder Araber anzusprechen seien. gemeinschaft zusammengefassten Gruppen waren seit Diese monatlichen Veranstaltungen (Vorlesungen mit ihrem Beginn aktiv. Die Forschungsgemeinschaft wollte Diskussionen) fanden weithin Interesse, auch ausserhalb sich auf eine alle interessierende gemeinsame Forschung der Forschungsgemeinschaft, sowohl bei Theologen wie konzentrieren, um für eine neue christliche Beziehung Nichttheologen. Aber einige unserer Mitglieder verloren zum Judentum, zu den Juden und zu Israel zu wirken. Interesse an öffentlichen Vorlesungen, deshalb sollte die Eine grundsätzliche Bedingung war Ehrfurcht vor dem Grundtendenz, die »theologische Forschung«, mehr in den jüdischen Selbstverständnis, eine Haltung der Offenheit Vordergrund treten und die Teilnahme sich auf Mit- gegenüber den geistigen Werten der Judenheit und des glieder und Gastmitglieder beschränken. Aus solchen Judentums in ihrer neuen Situation in Israel sowie Be- Überlegungen ergab sich folgende Formulierung des Zie- reitschaft, zu hören und zu lernen. Historisch gesehen, les unseres Zusammenschlusses: war dies eine ziemlich ungewöhnliche christliche Haltung Die Ökumenisch-Theologische Forschungsgemeinschaft ist gegenüber jüdischem Glauben und jüdischer Überliefe- eine Arbeitsgruppe von in Israel lebenden christlichen rung. Die Ökumenisch-Theologische Forschungsgemein- Theologen mit dem Ziel, fortlaufende Forschung auf dem schaft hat sich von jedem missionarischen Eifer dem Gebiet jüdischen Glaubens und jüdischer Tradition zu jüdischen Volk gegenüber ferngehalten. Die Forschungs- pflegen sowie gegenseitige Beziehungen zwischen Juden gemeinschaft wollte die Glaubensüberzeugung neu über- und Christen in der Vergangenheit wie auch in der Ge- prüfen, besonders auch im Hinblick auf ihre eigenen genwart, vornehmlich im Zusammenhang der tagtäglichen Wurzeln in bezug auf jüdischen Glauben und jüdische christlich-jüdischen Beziehungen in Jerusalem und Israel. Tradition. Wir suchten Begegnung mit dem Judentum In den vergangenen drei Jahren versuchten wir, den und den Juden als lebendige Wirklichkeit, nicht als einen monatlichen Zusammenkünften mehr den Charakter eines Anachronismus, der auch nach dem Erscheinen Christi Seminars zu geben. 1973/74: eine Verbindung von öffent- nicht dazu verurteilt ist, zu verschwinden. Wir verstan- licher Vorlesung und Seminararbeit mit dem Thema den, dass ein solches theologisches Denken und Nach- »Religiöse Erfahrungen im jüdischen Glauben«. Dabei denken auch die Bereitschaft beinhaltet, mit vielen Fragen wurden folgende Fragen behandelt: »Die Freude an der und wenig Antworten zu leben. Wie sind wir diesem Thorah«, »Die Erfahrung des Sabbath«, »Religiöser Ziel nähergekommen? Glaube nach Auschwitz«. Jüdische Gelehrte wurden zu Wesentlich in unserer Arbeit waren von Beginn an Vor- Vorträgen über diese Themen eingeladen, die auch interes- lesungen und Diskussionen, monatliche Veranstaltungen sierten Nichtmitgliedern offen standen. 1975 behandelten während des akademischen Jahres. Jeweils wählte man wir das Thema »Im Hinblick auf christliches Verständnis ein Jahresthema. Die beiden ersten Jahre waren dem jüdischer Hoffnung«. Diese Studie wurde im Zusammen- Thema gewidmet: »Bedeutung und Bestimmung des Aus- hang mit der Sektion des Weltkirchenrats »Faith and drucks Israel im jüdischen und christlichen Selbstverständ- Order« ausgewählt, der eine weltweite Studie über den nis als Gottesvolk«. Nach dem Sechstagekrieg und in Ausdruck christlicher Hoffnung in der heutigen Welt ver- darauffolgenden Aussprachen über kritische politische anlasstes. 1976 hiess das Thema »Sicherheit und Un- Entscheidungen wurden wir mit der Frage konfrontiert, sicherheit im religiösen Leben«. Was das Forschungs- wie wir als Christen die Verbindung zwischen Volk, Land projekt betrifft, so können wir für das Erreichte dankbar und Religion im jüdischen Selbstverständnis verstehen 4. sein. Trotz aller Unzulänglichkeiten ist die Forschungs- Wir widmeten diesem Thema ein Jahr. Andere Jahres- gemeinschaft ein Ort geworden, wo Probleme, die für studien betrafen »Die Auslegung der Prophetie« sowie das Judentum und die jüdisch-christlichen Beziehungen »Bibelauslegung«. 1972/73 konzentrierten wir uns auf grundlegend sind, tiefgründig diskutiert werden können. Gebet und Liturgie im Judentum, Christentum und Islam Zu Vorträgen eingeladene jüdische Gelehrte empfanden unter dem Titel »Monotheistische Kulte in Jerusalem«. auch für sich diese Gelegenheit wertvoll, im Sinne eines Als unser Büro 1973 aus dem Gebäude des Amerikani- Austauschs mit christlichen Theologen, wie auch um ihre schen Instituts vom Hl. Land nach drei Jahren in das eigenen Gedanken zu klären und herauszuarbeiten. Ein Studienhaus St. Josef der Dormitio umzog, überdachten Beispiel der Zusammenarbeit ist die Studie, die 1972 von wir unsere bisherige Arbeit und unsere weiteren Pläne. einer Studiengruppe ausserhalb der Forschungsgemein- In Jerusalem gab es verschiedene ökumenische und inter- schaft, durch den Weltkirchenrat angeregt, erarbeitet kirchliche Beziehungen, in die wir besonders verwoben wurde zum Thema: »Bibelauslegung und ihr Einfluss auf waren: Christlich-muslimische Beziehungen, jüdisch- christliches Verhalten in bezug auf die Lage im Mittleren christlich-muslimische und christlich-ökumenische Bezie- Osten«. Ich hatte den Vorzug, die Forschungsgemein- schaft im Januar 1974 in Cartigny (nahe Genf) bei einer 2 Vgl. u. a. gemeinsamer Gebetsgottesdienst um Frieden von Juden diesem Thema gewidmeten Konferenz zu vertreten. In und Christen und Muslimen Anfang August 1958. In: FR XI, 41/44, Vorbereitung für diese Konsultation organisierten wir S. 99, sowie in: FR XXI 1969, S. 65. eine denkwürdige Vorbesprechung in Jerusalem mit jüdi- 3 Vgl. FR XIV, 55/56, S. 96. 4 In: FR u. a. XXIII/1971, S. 17 ff. 5 Vgl. FR XXVII/1975, S. 68 ff.

66 schen Gelehrten und christlich-arabischem Klerus, an der Dies führt uns zu dem ersten Wort in unserem Namen: der Leiter der Cartigny-Beratung, Dr. Lukas Vischer, teil- »Ökumenisch«. Wir sind in der Tat ökumenisch: Katho- nahm. Während dieser Vorgespräche in Jerusalem ent- liken, Anglikaner, Lutheraner, Reformierte, Mennoniten wickelte sich ein spontaner Dialog zwischen jüdischen und Baptisten arbeiten miteinander. Wie schon früher Gelehrten und christlich-arabischen Geistlichen. Dies war erwähnt, fehlen auffallenderweise die östlichen Kirchen ein nicht vorauszusehender Höhepunkt der Vorbespre- der alten Traditionen. Bis heute ist es aus verschiedenen chungsa. Gründen nicht leicht gewesen, Mitglieder der östlichen Die Ökumenisch-Theologische Forschungsgemeinschaft Traditionen zu beteiligen. Vor einigen Jahren schrieb wurde auch gebeten, bei der Vorbereitung der Cartigny- Hans Rudi Weber vom Weltkirchenrat einen Beitrag: Gespräche über Bibelauslegung und den Mittleren Osten » Jüdisch-christliche Beziehungen — eine nordatlantische mitzuwirken. Auch war die Ökumenische Forschungs- Sache?« Betreffen diese Beziehungen nur Europäer und gemeinschaft bei einem anderen Gespräch des Weltkir- Amerikaner wegen der Nachbarschaft und der Spannun- chenrats anwesend, das im Oktober 1975 ebenfalls in gen von Juden und Christen in Europa und den USA? Cartigny abgehalten wurde, das die Erklärung über den Vielleicht haben wir nun den Wendepunkt erreicht. Es Mittleren Osten vorbereitete, die der Generalversamm- gibt Pläne für einen jüdisch-christlich-orthodoxen Dialog lung im Sommer 1977 in Nairobi unterbreitet wurde. Im unter der Schirmherrschaft des Weltkirchenrats und des Sommer 1977 wird die Forschungsgemeinschaft als Gast- Internationalen jüdischen Rats für Gespräche zwischen geber an der beratenden Zusammenkunft über die Kirche den Religionen."/" Einer der Diskussionsbeiträge bei und das jüdische Volk des Weltkirchenrats teilnehmen. einer kommenden Zusammenkunft des CC JP° wird sein: Somit geht eine starke Ausstrahlung von unserer Arbeit Wie sehen orthodoxe Christen das Judentum und Israel auf Aussenstehende aus. Auch »IMMANUEL«, die Zeit- aus ihrer Tradition, Liturgie und Theologie? Wir sind schrift religiösen Denkens und Forschens in Israel, stellt dankbar, dass zwei griechisch-orthodoxe Geistliche eine eine wichtige Verbindung mit der Aussenwelt über unsere Einladung zu einer Zusammenkunft mit uns annahmen Belange her, ebenso wie in der Rubrik »Christlicher Kom- und auch dankbar, dass Erzbischof Ajamian vom arme- mentar« in der »Jerusalem Post«. (Vgl. zu Immanuel auch nischen Patriarchat einen Vortrag am Seminar dieses Jah- die seit 1972 erscheinende deutsche Ausgabe im FR [s. u. res zugesagt hat. S. 144 ff.)). Zusammenfassend kann man sagen, dass die Aber es gibt noch andere, die auffallenderweise abwesend Ökumenisch-Theologische Forschungsgemeinschaft gehört sind: Unsere christlichen arabischen Brüder. Hätte die wurde, wenn sie offizielle amtliche Verlautbarungen mit Fraternität ihren Sitz in Galiläa gehabt, wäre es ein wichtigen Problemen publizierte (z. B. 1970 Antwort auf wenig leichter gewesen, sie in diese Arbeit einzugliedern. den Ruf von Beirut°, herausgegeben von der Weltkonfe- In Galiläa haben nämlich christliche Araber seit 1948 mit renz der Christen für Palästina; die Erklärung während Juden zusammengelebt, und das hätte sie veranlassen kön- des Jom-Kippur-Krieges 7 ; der Aufruf an die Kirchen der nen, sich mit unseren Bemühungen zu verbinden und sich Welt, ein Dokument in 8 Bänden, publiziert nach der mit der jüdischen Wirklichkeit in der heutigen Gegen- UNO-Resolution 19748). Im Hinblick auf die Publika- wart in einem Geist der Offenheit und gegenseitigen An- tion öffentlicher Verlautbarungen waren die meisten un- erkennung zwischen Juden und Christen auseinander- serer Mitglieder der Ansicht, dass wir in bestimmten kri- zusetzen. In Jerusalem gibt es oft eine unsichtbare Grenze, tischen Augenblicken nicht schweigen dürften, sondern als die mitten durch die Innenstadt verläuft, die Juden und Gruppe aussprechen sollten, was wir als Wahrheit und Araber und auch oft genug die ausländischen Christen Gerechtigkeit sehen. Manchmal sind dies direkte Be- voneinander trennt, sowohl die, die unter Juden, als ziehungen zu bestimmten Personen, die uns um solche auch die, die unter Arabern leben. Dieser traditionelle Publikationen bitten, oder es handelt sich um einen Bei- Konflikt zwischen Juden und Arabern scheint es arabi- trag zu einer wichtigen öffentlichen Debatte. schen Christen meist unmöglich zu machen, zu einer Die Forschungsgemeinschaft heisst »Ökumenisch-Theolo- offenen Haltung gegenüber den Juden bereit zu sein, so- gische Forschungsgemeinschaft in Israel«. Wie ausgeführt, gar in sogenannten rein religiösen Fragen. Vielleicht ist handelt es sich dabei um »Theologische Forschung« und es noch zu früh, von ihnen zu erwarten, dass sie die Fra- auch um »Israel«. Israel steht hier für beides: für das ternität in ihren Bestrebungen mit einem neuen christ- jüdische Volk, den jüdischen Glauben und den Staat lichen Verständnis für das Judentum, die Judenheit und Israel9 ; all dieses beinhaltet den Brennpunkt unseres Israel unterstützen. Aber wir als Mitglieder der For- Wirkens. schungsgemeinschaft, die wir uns für diese Sache ein- Was aber bedeutet das Wort Fraternität? Sind wir eine setzen, sollten den Kontakt mit unseren arabischen christ- Fraternität? Haben wir eine genügend überzeugende Ge- lichen Mitbrüdern suchen, sogar mit einem nach dem an- meinschaft unter uns selbst entwickelt? Wissen wir wirk- deren, um ihnen klarzumachen, wofür wir eintreten. Dies lich voneinander, was unsere Anliegen und unsere Ver- könnte vielleicht ein bescheidener Beitrag zur Schaffung pflichtungen sind? Und in bezug auf unsere spezielle einer Atmosphäre gegenseitigen Verstehens in dieser Stadt Aufgabe, welches die jüdisch-christlichen Beziehungen sein, zumindest unter ihren Christen. sind: Haben wir unsere Erfahrungen, unsere Hoffnungen, Ich bin fest davon überzeugt, dass es falsch wäre, von wie auch unsere Zweifel und Ungewissheiten miteinander unseren ursprünglichen Zielen abzugehen, weil unsere geteilt? Und wie steht es mit dem gemeinsamen Gebet arabischen Brüder noch nicht bereit sind, mit uns zu- und Gottesdienst? Sollte dies kein Ausdruck unserer sammenzugehen. Aber lässt dies nicht eine kleine Minder- Existenz als einer Fraternität sein? heit von in der Hauptsache ausländischen Christen im Stich, die sich mit Christen jüdischer Herkunft befassen " Vgl. u. S. 115, Anm. la. 6 u. 7 Vgl. Beiruter Erklärung. In: FR XX/1%8, S. 58 ff., ferner: inmitten einer grossen Mehrheit von im Lande geborenen Botschaft der Weltkonferenz der Christen für Palästina (C. M. C. P.) Christen, die sich nicht betroffen fühlen? in: FR XXV/1973, S. 28 f. sowie Erklärung von 40 Jesuiten im Libanon, a. a. 0. S. 29. 10 = »International Jewish Council for Inter-religious Consul- 8 Vom 30. 11. 1975. tations«. 9 Vgl. dazu: Israel, Volk, Land u. Staat in FR XXIII/1971, S. 17-35 n s. o. S. 2; vgl. u. S. 115, F. v. Hammerstein; S. 132 f., P. Löffler.

67 1. Leben unter uns hier im Lande eingeborene Christen Bei dieser Konferenz, 1976 in Jerusalem, betonte Rabbiner Dr. Israel unter unseren Mitgliedern, insbesondere Christen jüdischer Goldstein, der grosse alte Mann des amerikanischen Zionismus, Ehren- vorsitzender des ICCJ, einer der wenigen, ursprünglichen Teilnehmer Herkunft und Tradition und andere, hebräisch sprechende der Oxford-Konferenz, die Geschichte des ICCJ und die besondere Christen, Brüder Israels, die ständig hier leben. Bedeutung, die nach dreissig Jahren dem christlich-jüdischem Dialog 2. Das Heilige Land ist von allen anderen Ländern ver- einer Konferenz in Jerusalem zukomme, der heiligen Stadt dreier schieden, weil es seit den ersten Tagen der Christenheit Religionen. Gerade Jerusalem sei das Symbol der Hoffnung: »Wir haben die richtige Plattform, wir Brüder und Schwestern im Glauben. immer zwei Kategorien hier gab: hiesige Christen und Wir sind voller Geduld und Hoffnung, dass der Tag kommen werde, Christen aus dem Ausland. Die ersteren sind hier ver- wo Jerusalem sein wird, was prophezeit wurde: eine Stadt, in der wurzelt, sie gehören zu diesem Land. Die zweite Kate- alle vereint sind. Wir schauen vorwärts auf diese und die kommenden gorie ist auf der Suche nach den Ursprüngen ihres Glau- Generationen 5.« bens für längere oder kürzere Zeit hierher gekommen. Für Ausgehend von der Position der Christen und christlichen einige sind diese Ursprünge verknüpft besonders mit den Kirchen schreibt Wolfgang Zink: »Diese« Position gegen- heiligen Stätten, während für wieder andere diese Wur- über dem Staat Israel war und ist nicht unproblematisch. zeln mit der Heiligen Schrift verbunden sind. Besonders Der Bogen spannt sich von endzeitlich-messianischen Er- seit der Rückkehr einer grösseren Zahl von Juden in wartungen fundamentalistischer Christen bis zur anti- dieses Land gibt es hier für Christen viel zu lernen über zionistischen Kritik linker kirchlicher Gruppen und christ- die Ursprünge ihres Glaubens. Die Forschungsgemein- licher arabischer Kirchen. Für die einen ist die Existenz schaft versucht offen zu sein für alle christlichen Theolo- Israels Erfüllung der Prophezeiungen der Johannes- gen, die sich auf das Studium jüdischen Glaubens, jüdischer apokalypse und damit Beweis für das Geschichtshandeln Tradition sowie auf die gegenseitigen Beziehungen zwi- Gottes. Die anderen sehen in Israel die negative, eigen- schen Juden und Christen konzentrieren wollen. Diese staatliche Realisierung eines ehemals unterdrückten, nun von auswärts kommenden Mitglieder bezeugen das Inter- zum Unterdrücker gewordenen Volkes. Durch seine esse einer grossen Anzahl von Christen, die keine Ge- staatstragende Ideologie, den Zionismus, beutet dieses legenheit haben, mit dem, was hier vorgeht, so eng in Volk ein anderes aus, die Palästinenser (als die »Armen« Berührung zu kommen, die aber gerne etwas von un- des Neuen Testamentes verstehbar), kolonialisiert sie und seren Erfahrungen und Forschungen hören möchten. Dies unterdrückt sie in ihren politischen Rechten durch ein legt uns eine grosse Verantwortung auf, der wir nicht faschistoides und militaristisches System. [Unter den ausweichen dürfen. Wir dürfen uns aber auch nicht in Christen mit anderen Problemen sind auch zu nennen die einem nur besonderen Bereich, isoliert von allen anderen Christen der hebräischsprechenden Gemeindes.] Ange- Christen, engagieren, sondern sollten dies in grösstmög- sichts dieser [Vielfalt und] Extreme hatte die Konferenz licher Zusammenarbeit und Gemeinschaft tun. Im Hin- des ICCJ besonderes Gewicht. blick darauf liegt noch eine grosse Aufgabe vor uns in Teilnehmer der Konferenz waren 120 Delegierte aus bezug auf die östlichen Kirchen und die hiesigen arabi- 16 Ländern: Argentinien, Australien, Belgien, Brasilien, schen Christen. Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Italien, Kanada, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Schweiz, Spanien, USA und der Gastgeber Israels. 2 Konferenz des Internationalen Rates der Dazu entnehmen wir dem Bericht von Dr. Brassloff: Christen und Juden (ICCJ), Juni 1976, »... Die Kombination von alterprobten Sachkennern mit der Sache dem christlich-jüdischen Verständnis? ergebenen in Jerusalem Israel wohlwollender junger Menschen gab der durchweg Israel: Bedeutung und Wirklichkeit* harmonischen Tagung das Gepräge . . . Aufgrund von anregenden Diskussionen in Studiengrup- Der Internationale Rat der Christen und Juden (ICCJ), Dachorga- pen über theologische, weltanschauliche und politische nisation nationaler Mitgliedsgruppen, veranstaltete vom 20. bis 30. Juni 1976 erstmals eine Konferenz in Jerusalem, dreissig Jahre Fragen7 erarbeitete die Konferenz eine Erklärung, die nach Oxford, wo im August 1946 sich erstmals einige, damals schon unter anderem die gegenseitige Respektierung von Chri- bestehende nationale Gruppen von Christen und Juden international stentum und Judentum, aber auch des Islams und anderer zu einer Tagung zusammenfanden' und sich Anfang August 1947 zu Weltanschauungen bekräftigte. Es wurde angeregt, dass einer Konferenz mit 70 Personen aus 19 verschiedenen Ländern in Seelisberg, Schweiz, versammelten. Dort gründeten sie den Inter- der Internationale Rat Richtlinien für die Tätigkeit seiner nationalen Rat der Christen und Juden und beschlossen vornehmlich Mitgliedsorganisationen vorbereiten möge, in denen die die »10 Seelisberger Thesen«v". Einsichten und das tiefere Verständnis für die Realität Israels, die den Konferenzteilnehmern bewusst gemacht * Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion »Das Neue Israel« entnehmen wir dem gleichlautendem Heft (29/3), September 1976, worden war, ihren Niederschlag finden sollen. An einer S. 124, einige Abschnitte aus dein Beitrag von Dr. Fritz Brassloff anschliessenden Geschäftssitzung des Internationalen (Jüdischer Weltkongress, Genf) »Zukunftweisende christlich-jüdische Rates wurden neue, der Konsolidierung des Rates ge- Begegnung in Israel«. Die entfallenden ersten Abschnitte beziehen sich auf die Konsultationen des Weltrats der Kirchen und die des 4 Von weiteren Konferenzen des ICCJ sind besonders zu nennen: Internationalen katholisch-jüdischen Verbindungskomitees, Februar Cambridge 1966, vgl. in: FR XVIII/1966, S. 90 ff.: Die Hamburger 1976, über die im FR XXVII/1975, S. 65, berichtet wurde. Ferner Internationale »Holocaust«-Konferenz vom 8. bis 11. 6. 1975, vgl. verdanken wir Wolfgang Zink, dem Generalsekretär des Deutschen FR XXVII/1975, S. 24 f. Koordinierungsrats der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusam- 5 a. a. 0. Bericht Zink, S. 3. menarbeit, einen Originalbericht (Fotokopie), aus dem wir mit Geneh- 6 Vgl. auch in: Altenwohnheim für NS-verfolgte Christen in Israel, migung des Verfassers einige Teile entnehmen (s. u. Anm. 5). Aus der in: FR XXVII/1975, S. 148 sowie E. Hemker: Kirche in der Ver- Eröffnungsvorlesung der Konferenz, die Prof. Dr. Marcel Dubois OP, kündigung in Israel. In: FR XIX/1967, S. 61 f. Prior des Hauses St. Jesaja, West-Jerusalem, hielt, zitieren wir einige 7 Fünf Arbeitsgruppen behandelten folgende Themen: 1. Israel, Volk, Sätze (vgl. u. Anm. 5 und Anm. 11). Land und Staat aus historischer, theologischer und ideologischer Sicht 1 Vgl. Christians and Jews in: »The Council of Christians and des christlich-jüdischen Dialoges; 2. Analyse: Die Bedeutung des Jews«, London, April 1946, p. 4 sq., p. 22. Staates Israel für die gegenwärtigen christlich-jüdischen Beziehungen; 2 »Der Antisemitismus. Ergebnisse einer internationalen Konferenz 3. Konfrontation mit den tagtäglichen Realitäten und Problemen von Christen und Juden«, Seelisberg, Schweiz, 1947, S. 33 f.; S. 39. Israels; 4. Christen und Juden vor den Problemen der heutigen Welt; 3 Betr.: Seelisberger Thesen vgl. dazu FR II (August 1950), Nr. 8/9, 5. Die christlich-ökumenische Bewegung und christlich-jüdischen Be- S. 9 ff.; FR XVI/XVII, Juli 1965, S. 54 ff. ziehungen.

68 mässe Statuten beschlossen sowie Rabbiner Dr. Peter »Eure Rückkehr nach Zion ist nur bedeutungsvoll, wenn N. Levinson (Deutschland) als Nachfolger von Claire ihr alle ihre Konsequenzen versteht und akzeptiert. Nach Huchet-Bishop (Frankreich) zum Vorsitzenden gewählt. Jerusalem zurückzukehren, ist für das jüdische Volk nicht Dr. David Hyatt (USA) wurde zu seinem Stellvertreter nur die Frage, als Nation seine politische Hauptstadt und Pastor William W. Simpson wieder zum Sekretär wiederzugewinnen. Nach Jerusalem zurückzukehren be- bestellt. Das Amt des Schatzmeisters übernahm Kurt deutet für das jüdische Denken auch, den Ruf nach Ver- Pordes (Osterreich). Für die Konferenzteilnehmer war es antwortung wahrzunehmen, der das ganze Universum wertvoll und lehrreich, dass ihnen — dank den umsichtigen umfasst, seine Einheit, seine Harmonie und seinen Frie- Arrangements durch die israelische Mitgliedorganisation den. Woraus besteht nun diese universelle Berufung? Was des Rates, des >Israel Interfaith Committee< — reichlich sind ihre Forderungen, welches ihre Verheissungen? Die Gelegenheit geboten wurde, sich in Gesprächen mit christ- Antwort lautet: Heimkehr nach Zion ist Rückkehr zu lichen und mohammedanischen Arabern über Probleme Gott. Für jüdisches Empfinden können diese beiden Be- arabisch-jüdischer Koexistenz in Israel zu informieren. wegungen nicht getrennt werden. Dies ist eine schwere Christliche Tagungsteilnehmer waren vom Wochenend- Verantwortung und ein ungewisses Ziel: Niemand weiss, aufenthalt im orthodoxen Kibbuz Lavi, insbesondere wohin alles führen und was gefordert werden wird, einer stimmungsvollen Shabbat-Feier, sichtlich stark be- wenn ihr euch selbst treu bleibt. Die Ungewissheit ist der eindrucke. Einem ökumenischen Sonntagsgottesdienst in Preis, der gezahlt werden muss, wenn der Lebenswille des Kapernaum am Genezareth-See folgten die jüdischen jüdischen Volkes seinen Sinn und seine Bestimmung haben Teilnehmer respektvoll. Israels schwierige Existenz in- soll. mitten einer gegnerischen Umwelt wurde allen durch eine Ich weiss, dass eine solche Sprache von Extremisten beider Exkursion zu den Golanhöhen augenfällig. Auf dem reich- Lager missverstanden werden kann: Vom eingefleisch- haltigen Programm stand auch ein Besuch des internatio- ten Antizionisten ebenso wie vom fanatischen Natio- nalen christlichen Kibbuz Nes Ammim 9, der durch land- nalisten. Es scheint jedoch der einzige Weg zu sein, um wirtschaftliche Arbeit im Geiste der Identifizierung mit gegenseitige Achtung zu erreichen, und der Weg, der dem Land und seinen Menschen einen bescheidenen, aber schliesslich zum Frieden führt ... «11 imponierenden Beitrag zum christlich-jüdischen Verständ- it Vgl. Marcel Dubois: Anti-Zionismus und Frieden, in: FR XXII/ nis leistet ...« 1970, S. 18 f. »Dabei wurde — wie Wolfgang Zink ausführte' — im Laufe der Konferenz deutlich die Bedeutung Israels nicht allein 3 Theologie-Studium in Jerusalem für das Judentum in der Welt, sondern auch für das Christentum. Es ist eine Erfahrung dieser Konferenz, in I Studium Biblicum Franciscanum Jerusalem nicht nur ein Symbol, sondern ein reales Bei- im Studienjahr 1976/77 spiel dafür zu sehen, wie Christen, Juden und Muslim Professor Dr. Wolfgang Elpidius Pax OFM, Jerusalem, hat in sei- miteinander reden und wie sie miteinander leben können. nem Beitrag »Warum studiert man Exegese in Jerusalem?« (FR Nicht umsonst ist Jerusalem Sitz der Organisationen und XXVI/1974, S. 77 ff.) dargelegt, dass Studenten der Theologie in Begegnungsstätten, in denen sich auch junge arabische Jerusalem das Milieu der Bibel in seiner Ganzheit vor Augen tritt, Christen und Muslim zum Gespräch und Gedanken- während anderenorts ein solches Studium nur Teilaspekten ausgesetzt ist. Die folgenden Beiträge berichten von den weiteren Studienjah- austausch mit jüdischer Jugend treffen. Dieses Mitein- ren des »Studium Biblicum Franciscanum« und im Josephshaus der anderreden und Miteinandererleben ist nicht frei von Dormitio in Gestalt der dortigen »Freisemester« (vgl. FR XXVI! Konflikten. Fanatiker und religiöse Eiferer gibt es auf 1974, s. u. S. 70 f.). beiden Seiten. Jedoch werden vom Staat Israel die Rechte In der Altstadt von Jerusalem, an der zweiten Kreuz- aller drei grossen monotheistischen Religionen geachtet, wegstation der Via Dolorosa, wo sich die Kirchen der geschützt und unterstützt. Geisselung und der Verurteilung Jesu befinden, liegt das Deutlich wird noch ein anderes: Es gibt auch christlichen franziskanische Bibelinstitut, das vor 50 Jahren gegründet Zionismus, die Hoffnung auf Zion und das bewusste worden ist. Es besteht aus zwei Abteilungen. Das wissen- Leben in einem jüdischen Staat. Dieses Leben kann und schaftliche Forschungszentrum befasst sich mit archäolo- soll nur in Solidarität mit diesem Staat und Volk ge- gischen Ausgrabungen an christlichen heiligen Stätten; schehen. Der [oben erwähnte] Kibbuz Nes Ammim ist hierher gehören die Grabungen in Kaphernaum mit sei- dafür ein Beispiel. Im Zusammenleben von Juden und ner Synagoge und der byzantinischen Kirche, wobei fest- Christen sollen jedoch die muslimischen Glaubensbrüder gestellt wurde, dass die Synagoge erst aus dem 4.15. Jahr- nicht vergessen werden, ganz besonders diejenigen nicht, hundert stammt und daher eng sich mit der aus dem die zum Gespräch mit Juden und Christen bereit sind 5. Jahrhundert stammenden Kirche berührt, ein interes- und die als Muslim in einem jüdischen Staat leben wol- santes Beispiel für die Koexistenz der beiden Gemein- len. Auch sie bedürfen der Solidarität, einer Solidarität, schaften in dieser Zeit. Weitere Funde wurden in Naza- wie sie in Israel die Siedlung Neve Schalom" er- reth, auf dem Ölberg, in Bethlehem u. a. gemacht. Zur strebt ...« 5 Zeit wird im alten Migdal (Magdala), wo eine Synagoge In seiner Eröffnungsvorlesung gab Dr. Marcel (Jacques) zum Vorschein kam, und in Sepphoris gearbeitet. Bedeu- Dubois OP, Professor für griechische und mittelalterliche tende Grabungen fanden auf dem Berge Nebo in Jor- Geschichte an der Hebräischen Universität, eine Analyse danien statt; hier liegt eine byzantinische Moseskirche, in der Haltung der Christen zum Staat Israel vor dreissig der im vergangenen Jahr ein prachtvolles Mosaik ent- Jahren und heute. Auf die Frage nach der Bedeutung deckt wurde. Es ist interessant, dass die alten Christen Jerusalems antwortete er wie stets: ihre Kirchen den Grossen des Alten Bundes weihten, eine 8 Dabei trug Dr. Pindias Peli die Lehre von A. J. Heschel über den Sitte, die leider im Mittelalter aufgegeben wurde, obwohl Sinn des Shabbat vor. sie zum gegenseitigen Verständnis zwischen Christen und Hier leben 120 junge Menschen aus den Niederlanden, der Schweiz, Juden beitragen kann. Die Grabungen erfreuen sich der den USA und der Bundesrepublik Deutschland (begonnen von evan- vollsten Unterstützung der staatlichen Stellen. Natürlich gelischen Christen aus den Niederlanden). 10 S. u. S. 74. kann bisweilen ein Missgeschick passieren, wenn z. B. wie

69 jüngst bei der Erweiterung einer Strasse bei Tabgha durch dienhaus der Abtei der Dormitio für katholische Theologiestudenten einen Bulldozer aus Versehen einige Ruinen beschädigt aus deutschem Sprachraum schreibt wiederum ein Teilnehmer aus dem wurden. Man sprach sofort in der Zeitschrift »Terra Studentenkreis über das Studienjahr 1975/76: Santa« von einem »Vandalismus«, wobei es sich in Wirk- Im Studienjahr 1975/76 waren 35 Studenten aus der lichkeit um menschliches Versagen handelte. Der Fall Schweiz, Österreich und der Bundesrepublik zwei Se- zeigt die typischen Symptome einer Krankheit, von der mester im Josephshaus der Dormitio. Hervorzuheben ist besonders in der Altstadt residierende Ausländer infiziert dabei die Möglichkeit, innerhalb eines eigenen Studien- werden, die alltägliche Versehen, die sich in allen Ge- ablaufs zwei Semester engen und direkten Kontakt mit meinschaften finden, zu einer Haupt- und Staatsaktion anderen Religionen erleben zu können. machen und politisch hochspielen. Hier ist noch viel guter Der Stoffverteilungsplan zielt etwas das 5. und 6. Se- Wille notwendig, um die Gegensätze zu überbrücken. mester des Theologiestudiums an. Schwerpunkte liegen auf Die zweite Abteilung des Bibelinstitutes ist eine bibel- dem Gebiet der Bibelwissenschaften, der sabbinischen und theologische Fakultät der römischen Universitaet Anto- besonders der ökumenischen Theologie sowie der Ar- nianum, an der bereits geweihte Priester in einem zwei- chäologie, die in Israel wie nirgends sonst zu studieren bis dreijährigen Spezialstudium der Exegese, der Archäo- ist. Das Vorlesungsangebot beinhaltete eine breite Palette logie, der semitischen Sprachwissenschaft und der Judaistik innerhalb der theologischen Wissenschaften. Hingewiesen die Lizenz in der Theologie bzw. den römischen Doktor- sei besonders auf die Vorlesung von Professor Shemaryahu grad erwerben können. Der Lehrkörper besteht aus Fran- Talmon (Bibelwissenschaft), der auch sehr bemüht war, ziskanern, vornehmlich Italienern, unter ihnen ein Deut- den Studenten persönlichen Kontakt zu den Menschen scher. Die Studenten sind Welt- und Ordenspriester. Sie im Lande zu ermöglichen, um das Judentum nicht nur wohnen bei der Flagellatio in einem College, nicht mehr theoretisch zu erfahren und sich mit ihm auseinander- als 25, und stammen zur Zeit aus 13 verschiedenen zusetzen. Auch in solchen direkten Begegnungen wird ein Nationen, vornehmlich aus den romanischen Ländern. tiefer und weiter Einblick in Religion und Gesellschaft Die Unterrichtssprache ist italienisch. Die Internationali- des Staates Israel vermittelt. In seiner Vorlesung mit tät bringt gewisse Schwierigkeiten mit sich. Das schu- dem Thema »Nachexilische Literatur des Judentums an- lische Fundament ist verschieden, manche haben wenige hand der Bücher Esra und Nehemia« wurden die Vor- Sprachkenntnisse; sie müssen zum Teil erst bei uns He- gänge, wie in diesen beiden Büchern beschrieben, im Zu- bräisch und Griechisch lernen, auch das Englische ist weit- sammenhang mit anderen Stellen der hebräischen Bibel hin unbekannt. über das Judentum wissen sie wenig und konkret und realistisch reflektiert, wodurch die Geschichte haben meistens nur Klischeevorstellungen. Daher dringen und die damalige Situation des jüdischen Volkes deutlich wir darauf, dass sie in den Ferien einen Ulpankurs be- zur Anschauung gebracht wurde. Schalom Ben Chorin suchen. Die Judaistik steht leider stark im Hintergrund bot eine Reihe theoretischer wie auch praktischer Ein- und beschränkt sich in jedem Semester auf eine einstün- blicke in die jüdische Theologie und Gottesdienstpraxis. dige Vorlesung über »Jüdische Liturgie« und »Einfüh- Sowohl seine Vorlesung »Theologie des maimonidischen rung in die Mischna«. Freilich muss man bedenken, dass Glaubensbekenntnisses« wie seine Lektüre hebräischer man psychologisch vorsichtig zu Werke gehen muss, da Gottesdiensttexte gaben eindrucksvolle Inhalte des jüdi- vielfach erst Vorurteile abgebaut werden müssen. Der schen Glaubens, auch eine ausführliche »Darlegung der beste Weg ist eine gute Einführung in das jüdische litur- jüdischen Feste im jüdischen Jahr«. gische Leben, wobei man stets Ausblicke in die verglei- Eine Gastvorlesung von R. J.Z.Werblowsky, Professor chende Religionswissenschaft geben sollte, um jüdische für vergleichende Religionswissenschaft, behandelte be- Vorstellungen aus ihrer Isoliertheit herauszunehmen und eindrückend das Thema » Jahwe bei den Juden, den in das allgemeine religiöse Denken hineinzustellen. Ferner Christen, den Muslimen«. Dr. Michael Krupp, Beauftrag- müssen die Studenten eine gute Einsicht in orientalisch- ter der evangelischen Kirche Berlin für das ökumenische semitische Mentalität gewinnen; dies wird in weitem Gespräch zwischen Christen, Juden und Moslems in Masse in der neutestamentlichen Exegese durchgeführt, Jerusalem', unterrichtete zwei Semester über talmudische in der bewusst literarkritische Probleme in den Hinter- Literatur. Dieser Bereich des Judentums war den meisten grund treten und an ihrer Stelle die Milieuforschung her- seiner Hörer weithin bisher recht unbekannt, so dass diese vorgehoben wird. Schliesslich versuchen wir, Kontakt mit Information besonderen Stellenwert im ganzen Lehr- jüdischen Menschen zu bekommen, was allerdings bei uns angebot bekam. Gabriel Grossmann OP (Haus St. Jesaja vielfach auf Sprachschwierigkeiten stösst. Neben Synago- der Dominikaner) vermittelte eine profunde Darstellung genbesuchen und der Teilnahme an öffentlichen Vorträgen des Werdegangs des jüdischen Volkes von seinen An- und Veranstaltungen werden persönliche Begegnungen fängen bis zur Gegenwart. gepflegt, die wegen der konservativen Haltung der Haus- Hervorzuheben ist ferner das auch in diesem Studienjahr leitung meist ausserhalb des Colleges stattfinden müssen. umfassende Exkursionsprogramm. Wissenschaftliche Ex- Trotz mancher Schwierigkeiten kann man erfreulicher- kursionen unter jeweils fachmännischer Führung berück- weise sagen, dass die jungen Studenten für das Juden- sichtigten vor allem den archäologischen Bereich des Stu- tum aufgeschlossen sind, während die ältere Generation diums, waren aber auch in der Lage, eine spirituelle Seite in einer gewissen Distanz bleibt. Viel hängt von der Per- des Studiums in Israel wahrzunehmen. Einen Höhepunkt sönlichkeit des Professors ab, der um so mehr Erfolg innerhalb dieser Exkursionen lieferten zweifelsohne die haben wird, wenn er selbst sich innerlich mit dem Juden- Fahrten in die Wüste, vor allem die sieben Tage währende tum verbunden fühlt. Sinai-Exkursion. Begegnungen mit Beduinen liessen in uns die Anfänge des Glaubens an den einen Gott auf- kommen, die durch das unmittelbare Erleben der Wüste II »Freisemester« im Josephshaus der Abtei in ihrer Tiefe verstärkt wurden. Mariä Heimgang, Studienjahr 1975/76 1 Besonders wertvoll war auch, dass hier alle Studenten in einzigartiger Weise die Probleme des Judentums ausführ- Im Anschluss an den Bericht über das Studienjahr 1974 (s. FR XXVI/1974, S. 81 f.) in dem seit 1973 bestehenden Jerusalemer Stu- 1 Vgl. u. a. S. 60 ff.

70 lieh kennenlernen konnten: Von den internen Ausein- zahl von libanesischen Bürgern sich wegen medizinischer andersetzungen extrem konservativ gelebten Glaubens Hilfe an israelische Grenzpatrouillen gewandt hatte — und bis zu der anderen Seite, auf der religiös dimen- israelische Streitkräfte einen regulären täglichen Gesund- sioniert, überhaupt kaum mehr von Glauben gesprochen heitsdienst von mobilen Kliniken für jene Libanesen, die werden kann. Hinzu kommen die persönlichen Begegnun- medizinische Behandlung benötigten. Die überwältigend gen mit den politischen Problemen eines Staates, der an- positive Antwort darauf führte bald zur Ausdehnung dauernden Anfeindungen ausgesetzt ist. dieses Dienstes. Heute sind diese Feldlazarette an be- Der unmittelbare, vielfältige Kontakt, die Begegnungen, stimmten Punkten entlang der Grenze tätig, in Metulla, Gespräche und Erfahrungen an Ort und Stelle inmitten Dovev und Hanita. In der Zeit zwischen Juni und Sep- jeweils glaubender und hoffender Menschen waren ein tember 1976 haben über 10 000 Libanesen 2/3, von denen grosser Gewinne. Otmar Maas, Freiburg i. Br. manche durch die Kampfhandlungen im Libanon ver-

2 Ein solches Studienjahr, das als 2semestriges Studium für Diplom- wundet worden waren, diese Dienste in Anspruch ge- Theologen und Priesteramtskandidaten von deutschsprachigen Uni- nommen. Darunter waren 6000 Christen 3 und 4000 Mus- versitäten die erforderlichen akademischen Voraussetzungen erfüllt, lime4 ; etwa 3005 von ihnen wurden in israelischen Kli- beinhaltet als Voraussetzung dafür auch die Kenntniss des biblischen niken unterschiedlich lange stationär behandelt. In all Hebräisch. Einer Anzahl der Teilnehmer bedeutet das Studienjahr auch Anregung, später das Neuhebräische, Iwrith, zu lernen. Dies ist diesen Fällen wurde diese Hilfe den Hilfsbedürftigen im Rahmen des ohnehin umfangreichen Lehrangebots im Studien- kostenlos gewährt. jahr selbst nicht möglich. (Anm. d. Red. d. FR.) Ebenso wurden besondere Vorkehrungen getroffen, damit libanesische Bürger Lebensnotwendiges wie Nahrung, 4 »Gute Zäune« schaffen gute Nachbarn Brennmaterial und Kochgas kaufen konnten, während Wasser kostenlos geliefert wurde. Die Bezahlung dieser I Israels »Gute-Zaun«-Politik Güter ist in einer Vielfalt von Währungen möglich, ein- gegenüber dem Libanon* schliesslich des libanesischen Pfunds, US-Dollars, Pfund Sterling, Holländischer Gulden u. a. Der Gesamtwert der Südlich vom Libanon liegt Israel. Die Grenze zwischen an libanesische Bürger verkauften Waren beträgt bisher ihnen verläuft durch Hügelland mit Bauerngütern und (bis Oktober 1976) 1,6 Millionen israelische Pfunde. Obstgärten. Jahrelang war es so friedlich wie es aussah. Andere kooperative Unternehmungen, in die man infolge Aber als die PLO-Terroristen 1971 die Bühne betraten, gegenwärtiger Umstände eingestiegen ist, betreffen den verwandelten sie den Libanon in ein Kriegsgebiet, das Kauf von 80 Tonnen Tabak im Wert von 110 000 Dollar »Fatahland« genannt wird'. durch israelische Zigarettenfabrikanten von Landwirten Zum Verdruss der libanesischen Christen, Muslimen und des südlichen Libanon, den Versand von Post nach Über- Drusen dieser Region benutzten die PLO-Terroristen see über den israelischen Postdienst und die Beschäftigung ihre Heimat als Angriffsbasis gegen israelische Dörfer von libanesischen Bürgern in Israel. Gegenwärtig pen- jenseits der Grenze. deln etwa 300 libanesische Arbeiter, die täglich hinüber- Die Lage ist indessen heute nicht mehr so. Oktober 1976 kommen und mit Projekten wie Landurbarmachung, in sind es mehr als 18 Monate, seitdem der Bürgerkrieg im Textilfabriken, Pflanzenverpackungsunternehmen u. a. Libanon ausbrach, der die PLO und die extremen Linken beschäftigt sind. Ihre in israelischer Währung bezahlten gegen die libanesische Regierung und die christliche Ge- Löhne entsprechen denen ihrer israelischen Arbeitskolle- meinschaft stellte. Unter schweren Kämpfen, die in Beirut gen. Dieses Geld wird dann zum Einkauf von Waren in und anderen strategisch wichtigen Städten wüteten, zogen Israel verwendet. die Gegner ihre Streitkräfte von der libanesischen Periphe- Eine kürzliche Neuerung ermöglicht Bürger des Süd- rie zurück, um sie für den Streit um das Landesinnere zu libanon, die in Israel Verwandte haben, diese zu be- konzentrieren. Als die PLO zum Rückzug gezwungen suchen6. Die Bestimmungen für solche Besuche ähneln den- war, um ihren belagerten Terroristen in Beirut bei- jenigen, die für Besucher anderer arabischer Länder als zustehen, wandten sich die Dorfbewohner des Südlibanon Teil der »Offenen-Brücken«-Politik über den Jordan er- um Hilfe an ihre israelischen Nachbarn, mit denen sie lassen wurden. [Für solche Besuche wurde seit dem 20. 2. nicht im Streit lagen. Denn der Südlibanon wurde ohne 1977 auch ein regelmässiger Busverkehr nach dem Süd- einsatzfähige Verwaltung zurückgelassen, was zum völ- libanon eingerichtet.] ligen Zusammenbruch aller Dienstleistungen führte. Sie In Ergänzung der oben beschriebenen offiziellen Mass- konnten sich um Hilfe, die sie in immer wachsendem nahmen haben Israelis aller sozialen Schichten parallel- Masse benötigten, nur an die Israelis wenden. laufende Bemühungen zur Linderung der Notlage im Israels »Gute-Zaun«-Politik an der israelisch-libanesischen Südlibanon initiiert. Das Jerusalemer Interfaith-Komitee Grenze wurde eingeführt, um den Einwohnern des süd- zur Hilfe libanesischer Kriegsopfer wurde im Juli 1976 lichen Libanon humanitäre Hilfe zu geben, den Opfern gegründet, um die Bestrebungen einer Anzahl von christ- eines Bürgerkrieges, der sie tatsächlich von allen Liefe- lichen Gemeinden und Synagogengemeinden zu koordi- rungen an Nahrungsmitteln und Wasser, Brennstoffen nieren. Im Libanon-Konflikt haben verschiedene Gruppen und ärztlicher Versorgung und in gewissem Grade auch schon früh über Caritas, das Internationale Rote Kreuz, von ihren Einkommensquellen abgeschnitten hatte. 2 Nach statistischen Angaben für Dezember 1976 ergeben sich gegen- Das Ausmass und die Reichweite der Dienstleistungen, über den oben genannten Zahlen für Oktober 1976 folgende: die im Rahmen der »Gute-Zaun«-Politik angeboten wur- 3 10 197 Christen. den, eröffneten sich als Folge der allerdringendsten Le- 4 5493 Moslems und 134 Drusen. 5 In Spitälern im Inneren Israels wurden hospitalisiert 538 dieser bensbedürfnisse der Bevölkerung des südlichen Libanon. 15 824 Libanesen. So begannen z. B. im April 1976 – nachdem eine An- 6 Bis Dezember 1976 haben über 1000 Familienangehörige des süd- lichen Libanon, deren Familienangehörige in Israel wohnen, Israel * In: »Israel Information Service«, Jerusalem, 17. 10. 1976, unter besucht. dem Titel »Good Fences make good Neighbours«. Zu den Anmerkungen 2-6 vgl. »Der gute Zaun« — Zusammenfas- Aus dem Englischen übersetzt. sung für Dezember 1976. In: »Das Neue Israel« (29/8), Zürich, März 1 Vgl. dazu u. S. 73, III. 1977, S. 462.

71 lig Fotos von einem Ausflug am 23. Januar 1977 zum »Guten Zaun«*

Rechts vom Stacheldraht: Israel. Die Gruppe auf dem Weg in Richtung Metulla, dem nördlichsten und israelischen Grenzort (etwa 525 m ü. M.), im Hintergrund das in Israel liegende Hermon-Massiv (2750 m ü. M.).

Rechter Weg (südlich) Israel, links Libanon, die im Hintergrund liegenden Berge sind libanesisch. Zwischen den Wegen der »GUTE ZAUN« mit der Drehtür, an der libanesische Bürger die Grenze überschreiten. Einige Schritte vom Weg entfernt stehen Baracken, die dem regulären ärztlichen Dienst mit mobilen Kliniken dienen, mit einer auch libanesischen Krankenschwester. Dort herrscht ein vertrauensvoller menschlicher Kontakt. Auf dem gleichen Platz befindet sich ein Postamt, von dem aus Briefe nach beiden Seiten, nach Israel und dem Libanon, aufgegeben werden können. Eine Wechselstelle dient libanesischen Bürgern, die nach Israel zur Arbeit gehen (im März 1977 waren es 500) und auch Waren in Israel einkaufen können.

Die Originalaufnahmen an jenem unvergesslichen Tag zeigen einen dunkelblauen Himmel über schneebedecktem Hermon, über der Landschaft Galiläas und der des Libanon. Die Erinnerung geht 15 Jahre zurück. Welch ein Kontrast: Damals ging der Blick — bedrückend —, herüber und hinüber von jeder Seite aus — aber mit welch einem Umweg (Einbahn-Weg über Damaskus). Zwischen beiden Seiten lag ein »Eiserner Vorhang«. Die Stimmen der dadurch Getrennten waren verstummt. Heute nun hört man hebräische und arabische Rufe, beobachtet herzliches Händeschütteln derer, die den »Guten Zaun« überschreiten, Hilfe, für infolge des Krieges in Not Geratene im Libanon, hat freie Bahn durch den »Guten Zaun«. Gertrud Luckner das Päpstliche Hilfswerk, die Lutherische Weltföderation, Israel wieder in den Libanon heimkehren, zu kaufen. das Mennonitische Zentralkomitee und andere Kanäle Die Reaktion der Libanesen war allgemeines Erstaunen Beiträge zur Hilfe geleistet. Als sich Gelegenheit bot, und Dankbarkeit. den Einwohnern des Südlibanon Hilfestellung zu leisten, Die PLO reagierte mit Unwillen auf die wachsende war man der Ansicht, dass ein Komitee am ehesten im- libanesisch-israelische Zusammenarbeit und unternahm stande ist, den Graben zwischen Bedarf und Bedarfs- einen gehässigen Propagandafeldzug dagegen, der be- befriedigung tatkräftig zu überbrücken. Die Vizepräsi- gleitet wurde von bewaffneten Angriffen auf südlibane- denten des Komitees, unter ihnen ein jüdischer Rabbi, ein sische Dörfer, die nur von den Dorfbewohnern zurück- protestantischer Professor und eine römisch-katholische gewiesen wurden'. Von der PLO nicht abgeschreckt, hat Ordensschwester, ein Araber, eine Jüdin und ein Hol- mancher Libanese den Vorteil des persönlichen Kontakts länder sind gemeinsam bevollmächtigt, Schecks für die genutzt, um Nachforschungen nach lange verlorenen gesammelten Gelder zu unterschreiben. Die meisten Mit- Freunden und Verwandten anzustellen. Und in der Tat, glieder des Komitees, wie auch die Kirchen und Synago- glückliche Wiedervereinigungen zwischen Menschen, die gen, die sie repräsentieren, zogen es vor, anonym zu sich dreissig Jahre lang nicht mehr gesehen hatten, haben bleiben, doch repräsentieren sie einen weiten Bereich von stattgefunden. Angehörigen religiöser Glaubensgemeinschaften. Als libanesische Landwirte und Geschäftsleute zum ersten Bisher ging alle Hilfe soweit, Lebensmittelpakete zur Mal in die israelischen Städte kamen, waren sie beein- Verteilung durch geistliche Leiter an bedürftige Familien druckt über den Grad der Entwicklung. Die Neugierde im Libanon, Essensmarken für Eltern von im Kranken- wuchs, und infolgedessen wurden organisierte Touren für haus behandelten Kindern und Lebensmittelpakete für Dorfhonoratioren veranstaltet, um einen überblick über Genesende, die nach einem Krankenhausaufenthalt in die landwirtschaftliche Entwicklung Israels zu erhal-

72 ten. Beamte im Ruhestand des israelischen Landwirt- sehr lerneifrig und haben »eine starke Motivation wie schaftsministeriums erboten sich, jedem libanesischen Land- auch gute Auffassungsgabe«. Sie verrichten mit besonderer wirt, der danach verlangte, Rat und Anleitung zu geben. Gewissenhaftigkeit auch alle »Hausaufgaben«. Im Gegensatz zu den Feindseligkeiten der jüngsten Zeit zeigt der biblische Bericht, dass die Tradition israelisch- III Libanesen besuchen Jerusalem libanesischer Freundschaft 3000 Jahre zurückgeht bis auf mit Hilferuf an Papst Paul VI. König Salomo und König Hiram von Tyrus, die mit- »Der libanesische Präsident Sarkis richtete verschiedene Hilferufe an einander Handelsverträge schlossen, die Lieferungen von die arabischen Staaten und auch an andere Länder und bat sie um Lebensmitteln in den Libanon im Austausch gegen Zedern- Eingreifen im südlichen Libanon, der zu einem >wilden Süden< im holz für den Tempel vorsahen. Später rüsteten beide wahrsten Sinne des Wortes wurde. Tagtäglich spielen sich Kämpfe Könige eine gemeinsame Schiffsexpedition nach dem Fer- zwischen den Moslems (und den mit ihnen verbundenen Terroristen) und den cnristlidien Maroniten ab . . . Christliche Delegierte mach- nen Osten, dem mythischen Ophir aus. ten den päpstlichen Legaten sowie die Botschafter Frankreichs und Israels Verteidigungsminister, Shimon Peres, sagte am Belgiens auf die Not der christlichen Maroniten aufmerksam und 26. 8. 1976 im »Maariv«, indem er die alte königliche fragten, wo eigentlich die christliche Solidarität bleibe . .« 1 Der »Je- Politik fortführte: rusalem Post« 213 entnehmen wir den folgenden Bericht ihres Reporters (aus Haifa): »Der Libanon kann sicher sein, dass Israel ihm den Eine Delegation angesehener Libanesen übergab dem Wiederaufbau ermöglichen und sich selbst von der Apostolischen Legaten in Jerusalem am Freitag [4. 3. 77] Drohung befreien wird, so dass die israelisch-libanesische ein Schreiben für Papst Paul IV. Sie erbat darin drin- Grenze, anstatt eine Barriere der Infiltration zu sein, die gend Hilfe, damit das Blutvergiessen zwischen Christen in der Vergangenheit dem Volk auf beiden Seiten viel und Muslimen im Südlibanon ein Ende nehmen möge. Leid gebracht hat, nun, wie die Brücken über den Jordan, Die 17 Mann starke Delegation, die am gleichen Tag in den Weg zu fruchtbarer Verbindung zwischen unseren den Libanon zurückkehrte, sagte, sie seien nach Jerusalem Völkernebnet.«' .. . gekommen, weil die Feindseligkeiten Reisen von Zivili- 7 Israel eröffnet Buslinie einmal wöchentlich nach dem Südlibanon. sten zwischen Beirut und dem Libanon unmöglich machen. Die erste regelmässige Buslinie zwischen Israel und einem arabischen Land ist am Sonntag [20. 2. 1977] in Betrieb genommen worden. Je- Sie hätten dies dem Vertreter des Papstes erklärt, als die- den Sonntag soll künftig ein Bus nach Südlibanon fahren, um israe- ser ihnen mitteilte, dass er kaum Kenntnis habe, was im lischen Arabern Verwandtenbesuche dort zu ermöglichen. Der Bus Südlibanon vorgehe und unter dem Eindruck stand, dass soll am Morgen in Haifa starten und bis zu dem im Südlibanon, tief der päpstliche Vertreter in Beirut um die Lage dort be- rund sieben Kilometer von der Grenze, liegenden Dorf El-Klia fah- ren. Am Abend kehrt der Bus nach Haifa zurück. sorgt wäre. Die Delegation, in der ein Bürgermeister war, Auf der ersten Fahrt benutzten 31 Christen die Gelegenheit dieser war bereit, eine kurze Erklärung abzugeben, ehe sie gleich neuen Linie und besuchten Familien in den vom Krieg beschädigten darauf am Freitag über den Guten Zaun bei Dovev Dörfern jenseits der Grenze*. zurückkehrte. Diese lautete: Zwischen Israel und Jordanien gibt es Personenverkehr über das besetzte Westjordanien und die Jordanbrücken, aber keine regel- »Wir, die wir die ganze Bevölkerung im südlichen Liba- mässige Buslinie. non vertreten, sind wegen der besorgniserregenden Um- In: »Allgemeine jüdische Wochenzeitung« [XXXII], Düsseldorf, stände hierhergekommen. Wir übergaben der Regierung 25. 2. 1977. * Vgl. » Jerusalem Post Weekly«, Nr. 851, 22. 2. 1977. von Israel und den Vertretern des Vatikans, Frankreichs und Belgiens einen Bericht. Wir fordern sie auf, unseren II 12 Libanesinnen lernen Iwrith Hilferuf der ganzen Welt und allen, die ein Gewissen im Ulpan Chanita* haben, zu übermitteln und für den Frieden im südlichen Ein Hebräisch-Ulpanl für Libanesinnen, die in Israel arbeiten, wurde Libanon zu arbeiten, um die Stimmen von Artillerie und kürzlich im Kibbuz Chanita in Zusammenarbeit mit dem Gemein- Maschinengewehren zum Verstummen zu bringen, die in schaftszentrum des Bezirks Schlomi und der Militärverwaltung so- unserem Gebiet nicht einmal während des Bürgerkrieges wie dem israelischen Erziehungsministerium errichtet. In dem Ulpan im Zentrallibanon hörbar waren. Auch bitten wir drin- lernen derzeit 12 junge Libanesinnen im Alter von 20 bis 21 Jahren, aus dem christlichen Dorf A-Schaab. Vorläufig [im Februar 1977] gend um Hilfe wie Nahrungsmittel und Medikamente. kommen sie zweimal in der Woche zum Unterricht. Wir wurden durch das Versprechen von Hilfe ermutigt Die Initiative ging von einigen Dutzend Arbeiterinnen und hoffen, dass diese sich bald erfüllen möge«, sagten die aus dem Libanon aus, die in der Textilfabrik »Moller« Libanesen. in Naharyia beschäftigt sind. Sie ersuchten Offiziere am 1 Aus: »Chaos zwischen Beirut und dem Roten Meer«, in »Israel »Guten Zaun«, ihnen in der gewünschten Richtung be- Nachrichten«, Tageszeitung in deutscher Sprache, Nr. 981. Tel Aviv, 11. 3. 1977. hilflich zu sein. 2 »Jerusalem Post International Edition«, Nr. 853, 8. 3. 1977. Die Mädchen erklärten, sie wollten die Sprache lernen, (Aus dem Englischen übersetzt.) 3 Vgl. dazu u. S. 132. um bessere Kontakte mit ihren Arbeitskolleginnen auf- rechterhalten zu können. Der Bezirksinspektor des Er- 5 Neve Schalom, Begegnungsstätte ziehungsministeriums, Dr. Josef Levy, genehmigte das für Juden, Christen und Muslime* Ansuchen und traf die nötigen technischen Vorkehrungen. »Das Neve-Schalom-Bildungszentrum ist ein Ort, wo Menschen, die Den Kurs finanziert die Militärverwaltung. Als Unter- durch Bande verschiedener nationaler, religiöser und kultureller Zu- richtszimmer dient das Sekretariat im Kibbuz Chanita. gehörigkeit verbunden sind, durch und über ihre Unterschiede hinaus, Die ersten Unterrichtsstunden gab der Inspektor für Er- die Stärke des Bandes entdecken, das sie als Menschen, die das gleiche wachsenenbildung im Landesnorden, Schalom Al-Gali, Bild des Schöpfers widerspiegelt, vereinigt. Da es in Israel errichtet wurde, spiegeln sein Charakter und seine anschliessend beschriebenen und danach unterrichtete Jaffa Chasan, eine Angestellte Ziele die spezifischen Bedingungen dieses Landes und dieser Gegend des Gemeinschaftszentrums von Schlomi. Das Lehrpro- wider. (In: Information, von Neve Schalom, Jerusalem, S. 1.) gramm beruht auf dem für — neue Olim 2. Auch das klas- »Die Gesellschaft Neve Schalom« 1/2 wurde am 7. Juli 1970 sisch gewordene Lehrbuch »Tausend Worte Iwrith« von als Verein in Jerusalem eingetragen, die Initiative zur El-Gali wird zu Hilfe gezogen. Die »Schülerinnen« sind * Nach einem Bericht von Bruno Hussar OP.

* In: »Israel Nachrichten«, Tageszeitung in deutscher Sprache. 1 ' 2 Neve Schalom = Oase des Friedens (vgl. Is 32, 18: »In einer Oase Nr. 941. Tel. Aviv, 4. 2. 1977. des Friedens wird wohnen mein Volk«). (Vgl. FR XXII/1970, S. 105, 1 Intensivkurs. 2 Einwanderer. Anm. 5; a. a. 0. S. 104.)

73 Gründung ging von Bruno Hussar OP aus, aus dem Haus seinen Schülern den Zionismus erklären, so dass diese St. Jesaja in West-Jerusalems und von seinen jüdischen die Lebensrechte der Israelis verstehen?« Dabei erklärte und islamischen Freunden. er auch, wie er die Frage mit seinem palästinensischen Die Trappisten in Latrun 4 schenkten ihnen 40 Hektar Gewissen vereinbaren kann. Hügelland, wo seit 1976 eine Gebetshalle steht, fünf Ba- Beiden entgegnete Theodor Holdhein, der Pädagoge vom racken, 55 Bienenstöcke neben Baumpflanzungen und Ge- Kibbuz Beit Alpha, und führte aus, dass die Interessen müseland. Der Anfang schien utopisch zu sein, langsam der israelischen und arabischen Gruppen in einer Koexi- aber haben sich die Wurzeln fester verankert. Eine Quelle stenz des Friedens festgelegt werden müssten, zum über- wurde gefunden. Deutsche Freunde bezahlten die Wasser- leben beider. Das Seminar wurde im Martin-Buber-Zen- leitung zum Hügel. Auch die elektrische Leitung wird trum der Hebräischen Universität von Dr. Arie Simon, gelegt werden. Unser dringliches Anliegen im kommenden Direktor von Ben Schemen, dem alten Jugenddorf, be- Jahr ist der Bau von zwei Familienhäusern. Eine jüdische schlossen. Die Teilnehmer aus dem Kibbuz Kerem Scha- und eine arabische Familie sind bereit, im Herbst 1977 lom im Süden und diejenigen aus dem arabischen Dorf dort einzuziehen. Merar in Galiläa beschlossen, sich im Geist der Freund- Wir erhielten Unterstützung für die Durchführung unse- schaft von Neve Schalom weiter zu verständigen und gute rer Seminare. Das Jahr 1975/76 brachte eine lebendige Nachbarschaft zu halten. Am Abend des Sabbat hielten Seminararbeit. Pater Bruno Hussar berichtete im Sep- wir mit 200 Freunden ein Fest auf dem Hügel, an dem tember 1976: In den letzten drei Jahren hatte sich der sich Israelis und Araber in gleicher Weise mit Folklore Riss zwischen der israelischen und arabischen Bevölke- beteiligten. Wir assen zusammen arabischen »Kebab«, rung in Israel vertieft. Friedenshoffnungen wurden immer auf dem Holzfeuer gegrillten Hammel. Bei den volks- skeptischer beurteilt. Viele antworteten auf unsere Ein- tümlichen Tänzen der verschiedenen Volksgruppen und ladungen mit der Frage: »Was kann uns eine solche neue dem Orchester konnte man zwischen Juden, Arabern, Vereinigung bringen? Was können uns solche Zusammen- Christen und Muslimen diese nicht mehr unterscheiden. künfte bedeuten?« Vor jedem neuen Seminar, das wir Ohne die schwierige Zielsetzung aus dem Auge zu ver- ankündigten, fragten wir uns: Werden überhaupt Araber lieren, glauben wir doch, dass Neve Schalom seinen be- kommen? Und, wenn ja, werden sie sich freimütig äussern? scheidenen Beitrag leisten kann, auf dass beide Volks- Heute können wir sagen, dass unsere Befürchtungen nicht gruppen in unserem Land friedlicher zusammen leben eintrafen. Es kommen viele Araber, und die Diskussionen können. Das nächste Treffen wird in einem arabischen werden mit grossem Ernst und Sachverständnis geführt. Dorf stattfinden. Am 10. Oktober 1976 wiederholten wir U. a. berichtet Dr. Kaiman Yaron, Direktor des Martin- einen Besinnungstag: »Ist der jüdisch-arabische Dialog Buber-Zentrums für Erwachsenenbildung der Hebräischen möglich?« Über hundert Teilnehmer kamen, unter ihnen Universität, über die Erwachsenenbildung, die für Israelis auch der arabische stellv. Bürgermeister von Nazareth. und Araber gemeinsam durchgeführt wird 5. Für die Zukunft überlegen wir, solche grösseren Zusam- Unter den Anwesenden war eine grosse Zahl von arabi- menkünfte durch Treffen in kleinerem Kreis zu unter- schen Studenten, die in beachtlichem Freimut ihre Pro- stützen und in solchen praktische Resolutionen und Kon- bleme darstellen konnten und Verständnis für die Argu- sequenzen zu erarbeiten. mente der Israelis zeigten. Sie erkannten die tägliche Be- Am 30. Oktober 1976 hatten einige arabische Freunde drohung des jungen Staates an infolge der Einkreisung von Cis-Jordanien der Gemeinde von Neve Schalom ein durch die arabischen Nachbarstaaten — ebenso die ele- Fest angeboten, das wir mit ihnen auch diesmal mit Tän- mentare Forderung nach überleben und Zukunft für zen und Liedern auf dem Hügel feierten. Arabische Kinder und Enkel nach dem »Holocaust«, dem sie kaum Freundschaft muss durch auch konkrete Gastfreundschaft entronnen waren. besiegelt werden. G. L. Am Schluss der Tagung waren alle Beteiligten dankbar, dass Neve Schalom ihnen einen solchen Ort des frieden- 6 Zu Ehren von Martin Buber stiftenden Dialogs anbieten möchte. Anlässlich von Martin Bubers hundertstem Geburtstag Anschliessend ergab sich eine ermutigende Konsequenz: im Februar 1978 findet vom 3. bis 5. Januar 1978 in der arabische und israelische Studenten der Universität von Ben-Gurion-Universität im Negev ein Symposium statt, Jerusalem verabredeten, sich regelmässig auf diesem Hü- gel zu treffen. Das erste Treffen stand unter dem Thema auf dem versucht werden soll, die geistige Variations- breite Martin Bubers dem heutigen Publikum vorzustel- »Kulturelle und nationale Identität der Araber innerhalb des Staates Israel«. — Mitte August kamen an drei Tagen len. Referenten aus Israel, den USA und der Bundes- jüdische und arabische Lehrer zusammen zur Behandlung republik Deutschland sind dazu eingeladen. des Themas: Wie kann man in einer Situation des immer noch verlängerten Krieges, belastet mit Misstrauen und 7 Zum Gedenken an Pfarrer i. R. Ungerechtigkeit, Erziehungsziele vertreten, die dem isra- Dr. jur. Adolf Freudenberg* elischen Grundgesetz entsprechen? Wie kann man in Kin- dern Vertrauen erwecken für eine Gesellschaft, die im Ansprache am 12. Januar 1977 in der Geist der Freiheit, Gleichheit und Toleranz aufgebaut evangelischen Kirche Bad Vilbel-Heilsberg werden soll? Von Pfarrer Martin Stöhr 41 Teilnehmer kamen zu einem Seminar. Referent war Professor Akiva Ernst Simon mit dem Thema: »Bewälti- Die folgende Ansprache bringen wir, leicht gekürzt, mit freundlicher Genehmigung von Pfarrer Stöhr. Damit möchten auch wir unseren gung des jüdisch-arabischen Konflikts in der Erziehung«. tiefen Dank an Pfarrer Freudenberg verbinden. Dank auch für die Boutros Daleh, arabischer Pädagoge von Kfar Yassif, hielt das Korreferat: »Wie kann ein arabischer Lehrer " 4. April 1894 — 7. Januar 1977. Bis 1935 im Auswärtigen Dienst des Deutschen Reiches; im Gegensatz zum damaligen Regime ausgeschie- den. Dann Studium der evangelischen Theologie, folgte nach Ab- 3 Vgl. FR XIV/1962, Nr. 53/56, S. 96. schluss des Studiums der Berufung zum Flüchtlingssekretär des Vor- Liegt in der Mitte zwischen Jerusalem und Tel Aviv. läufigen Cikumenischen Rats mit einstweiligem Dienstsitz in London, 5 Vgl. FR XXIV/1972, S. 60 f. der dann mit Kriegsausbruch 1939 nach Genf verlegt wurde.

74 Anteilnahme, die Pfarrer Freudenberg am »Rundbrief« nahm. Die Alle diese Aktivitäten begnügten sich nicht mit dem harm- Unterzeichnete weiss sich Pfarrer Freudenberg lange Jahre hindurch losen Missverständnis eines christlich-jüdischen Dialogs, verbunden, in besonderer Dankbarkeit auch für seine Hilfe beim Vorläufigen Ökumenischen Rat in Genf für die 1940 aus Baden nach der lediglich auf Bildungsbereicherung aus ist, nachdem Gurs Deportierten, als wir auf sonderbaren Wegen und Verbindungen christliche und unchristliche Vorurteile eine Todesmaschi- über die Schweiz Hilfe suchteng. Wir danken ihm für die grossherzige nerie für Millionen von Juden mit ermöglicht hatten. Hilfe der damaligen Jahre und dafür, was er für die christlich-jüdischen Hier geht es um reale Neuanfänge im Denken, Glauben Anliegen war und tat. Mit den Worten von Dr. Willem A. Visser't Hooft*": »Die christliche Kirche und die ökumenische Bewegung ha- und Leben. ben einen Mann verloren, der aus grosser Konsequenz und Überzeu- Die Arbeit Adolf Freudenbergs in der Ökumenischen gung in Wort und Tat die Ansicht vertrat: Zwischen der Kirche und Flüchtlingshilfe des werdenden Weltkirchenrates in Lon- dem jüdischen Volk besteht ein tiefer Zusammenhang.«**" (G. Luckner) don und Genf (vor allem mit seinen Freunden Dr. Ger- ... Unser verstorbener Bruder, Dr. Adolf Freudenberg, hard Riegner und Dr. Willem Visser't Hoofi) vor, wäh- verstand sein Leben in einem doppelten Sinne als Ant- rend und nach dem Zweiten Weltkrieg gehört wort: Einmal in jenem urbiblischen Sinne, den Martin zum Kern des Lebenswerkes Freudenbergs und zum Buber vielen Christen neu erschlossen hat. »Ich habe dich Kern des werdenden Ökumenischen Rates: Eine Öku- bei deinem Namen gerufen. Du bist mein« ( Jes 43, 1). Ein mene, die nicht hilft, hilft nichts. Der Erdkreis sollte für solcher Anruf an Gottes Volk verdient die Antwort eines alle bewohnbar sein können. Das bedeutet Mitarbeit am ganzen Lebens. Adolf Freudenberg hat sie mit seinem Werk der Befreiung von den vielgestaltigen unterdrücken- ganzen Leben gegeben. Er hat sich aus diesem lebendigen den und auslöschenden »Pharaonen«, das bedeutet Exo- Zwiegespräch mit Gott nie entlassen. Das macht sein dus aus Heimat, Beruf und Sicherheit, um anderen Men- Leben eindrücklich, glaubwürdig, dankenswert. Aber er schen den befreienden Exodus in neue Heimaten, Berufe verstand sein Leben auch in einem anderen Sinne als Ant- und Sicherheiten zu ermöglichen. Dieses ökumenische wort, so wie Franz Werfel es einmal in einem Gebet an Handeln musste illegal vor und in den bestehenden Ord- Gott formuliert hatte: »Die Welt ist die Frage ... und nungen sein. Es war legitim für Verfolgte und an den um der Antwort willen schufst du mich«. Wer sich mit Existenzrand gedrängte Menschen. Gott im Dialog befindet, nimmt die Welt nicht fraglos hin, Die eingeübte Kooperation mit Juden hielt sich durch, wie sie ist, wie sie für mich vielleicht bequem und passend wurde die Vertrauensbasis für die vielfältigen Versuche ist, sondern fragt nach dem Willen und der Sinngebung der Versöhnung und Verständigung, die er im politischen Gottes. Adolf Freudenberg hatte eine wache Aufmerk- wie im kirchlichen Bereich vorantrieb. Ich habe es manch- samkeit für das, was in und an unserer Welt fragwürdig mal gehört, dass das Werk und die Person Adolf Freuden- ist. Er war aufmerksam für die Menschen, die Opfer die- bergs für Juden ein Zeichen der Hoffnung in diesem ser fragwürdigen Einstellung und Verhältnisse wurden. Lande war, wieder in Deutschland wohnen zu können. Ein Sektor seines reichen Lebenswerkes macht das beson- Von ihm ist noch immer zu lernen, dass das Volk Gottes ders deutlich, seine Begegnung mit Juden, dem Judentum eine transnationale Bewegung ist, eine ökumenische Weite, und Israel. Er widerstand im klaren theologischen und die zähe und geduldige Aufarbeitung des theologischen, politischen Widerspruch einem Staat, der seine Bürger in pädagogischen und politischen Gedankenunrates, der Bürger erster und letzter Klasse einteilte und in seinem Bilder von Juden an die Stelle von Menschen setzte ... Vernichtungsprogramm von der schweigenden Mehrheit Zu lernen ist weiter von ihm eine zupackende Konkret- (und oft genug jubelnden Mehrheit) in Kirche und Ge- heit, die Menschen und ihre Lebenschancen zu retten ver- sellschaft nicht ernsthaft gehindert wurde. Zu tief war der sucht und sich nicht scheut, dabei mit allerlei menschlichen, Grundkonsensus der Judenfeindschaft zwischen denen, allzu menschlichen und unmenschlichen Interessen und die exekutierten, was die anderen zuliessen. Adolf Freu- Mächten zu kollidieren. denberg wusste: Die Illoyalität zum Staat war die not- Ich nehme dankbar und nachdenklich Abschied. Wir alle wendige Folge, Gott und den Menschen eine Antwort haben seinem Leben auch mit unserem zu antworten. Ich nicht schuldig zu bleiben, die Menschen retten muss, weil schliesse mit einem Gedicht, das Georg Kafka 1943 in Gerechtigkeit und Liebe Jesu Christi nach Verwirklichung Theresienstadt schrieb: 114 drängen. Und ich muss mit vielen Juden und Christen an dieser Stelle dankbar aussprechen, wie inspirierend und »DU EWIGKEIT ansteckend Adolf Freudenberg Menschen und Organisa- Sieh Herr, die Toten Wir aber leben und dürfen tionen mit in diese menschenrettende Schule Gottes nahmt. kommen zu Dir. nicht die Tage versäumen. Die wir geliebt, sind allein Wir tragen geduldig das ** Ehrenpräsident des Ökumenischen Rates der Kirchen, bis 1966 sein und so weit. schwere Gewicht Generalsekretär. Nun müssen wir ihre Munde zu Deinen Träumen. *** Dr. Adolf Freudenberg — In memoriam, in: »World Council of sein und beten zu Dir, 0 Herr, die Lebenden Churches, The Church and the Jewish People. News Letter«, Du Ewigkeit ... kommen zu Dir. No. 1/1977 (Genf, March 1977), p. 2. Und ihre Hände, die immer Die wir geliebt, sind allein. 1 Vgl. Adolf Freudenberg: Rettet sie doch! Franzosen und die Genfer bereit, Wir finden sie nicht. Ökumene im Dienste der Verfolgten des Dritten Reiches, S. 19 (vgl. Dein Werk zu tun, Du aber wirst die Erleuchtung dazu: FR XXII/1970, S. 140 f.). o Gott, Du ewige Erntezeit, sein. 2 Nach seiner Rückkehr aus Genf 1947 begann er, den Kontakt zu den lass sie ruhn. Du Licht.« wenigen überlebenden Juden zu suchen. Er steht mit am Anfang der Arbeit in den Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit und gehört zu den Gründungsvätern ihrer Dachorganisation, des 3 Unter der Überschrift »Totengebet« in: »An den Wind geschrieben. Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdi- Lyrik der Freiheit. Gedichte der Jahre 1933-1945«. Hrsg. von Man- sche Zusammenarbeit. — Er schuf und begleitete den Arbeitskreis fred Schlösser und Hans-Rolf Ropertz. Darmstadt 1960. Agora 13/14. »Kirche und Israel« der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, S. 211 (hier leicht gekürzt). stets bemüht, die Neubesinnung über Kirche und Judentum bis in 4 Georg Kafka, * Teplitz-Schönau 15. 2. 1921. Wurde im Sommer die Predigt der Pfarrer hineinzuvertiefen. — Seit den Anfängen von 1942 nach Theresienstadt verschickt. Folgte am 15. 5. 1944 s. Mutter »Aktion Sühnezeichen — Friedensdienste« begleitete er diesen neuen freiwillig nach Auschwitz. Kam von dort in das Lager Schwarzheide, Weg einer praktischen Versöhnung mit tatkräftiger Hilfe und Unter- wo er Ende 1944 starb. Mit Franz Kafka weitläufig verwandt. stützung. — Die Arbeit der Arbeitsgemeinschaft »Juden und Christen Werke: Der Tod des Orpheus, szenisches Gedicht; Märchen vom Regen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag« kennt Adolf Freudenberg und von goldenen Kupferl; Alexander in Jerusalem. Alle in There- seit dem Beginn auf dem Berliner Kirchentag 1961 als einen wich- sienstadt entstanden, ungedruckt. (In a. a. 0., S. 341.) tigen Gesprächspartner und Förderer. (Vgl. dazu o. Anm. 1.) [Alle Anmerkungen d. Red. d. FR]

75 17 Literaturhinweise

RAINER ALBERTZ: Weltschöpfung und Menschen- und der Theologie als der entsprechenden Deutung und schöpfung. Untersucht bei Deuterojesaja, Hiob und in den Schaffung von Sinnzusammenhängen des Glaubensver- Psalmen: Calwer Theologische Monographien A/3. Stutt- stehens im Bereich von »Glauben« liegt, ist Schicksal gart 1974. Calwer Verlag. XI und 264 Seiten. und Chance für Judentum und Christentum zugleich: Die Heidelberger, von C. Westermann betreute Dis- Alles hängt, wie leicht einzusehen ist, sobald man erst sertation geht aus von den Aporien, in die die Forschung einmal diese Ausgangsebene konsequent akzeptiert hat, bei der Behandlung der »Schöpfung« bei Deuterojesaja von der Totalität der Respektierung jener Freiheitsräume geraten ist, und untersucht von da aus die Schöpfungsaus- ab, welche für Glauben von Judentum und Christentum sagen bei Dt- Jes mit dem Ergebnis, dass es bei Dt- Jes (und darüber hinaus für eine jede auf den Plan der zwei voneinander völlig getrennte Gruppen von Schöp- Gesellschaft tretende Gruppe) notwendig ist. Dies ist in fungsaussagen gibt: die Weltschöpfung im beschreibenden Kürze die Ausziehung der sorgfältigen Gedankenfüh- Lob und die Menschenschöpfung im Heilsorakel und der rung von J. Becker in dem genannten Exkurs. Klage des einzelnen. Diese bei Dt- Jes gemachten und Es ist unverkennbar, dass die moderne Problematik der durch einen religionsgeschichtlichen Vergleich abgesicher- »Religionsfreiheit« (mit ihren Lösungsversuchen, die ten Beobachtungen werden grundsätzlich — wenn sich meist als a-religiös empfunden werden, als säkularisierte auch eine Reihe wichtiger Differenzierungen ergeben — Prozesse, als fortschreitende »Verweltlichung«) hier ihren von einer Untersuchung der Schöpfungsaussagen in den Ansatzpunkt haben kann und wohl muss. Dass ein Ur- Psalmen und bei Hiob voll bestätigt. Damit drängt sich und noch ein Frühchristentum ebenso wie ein diesen der Schluss auf: »Wir haben es im Bereich des Redens zu Grössen zeitentsprechendes Judentum sich hier mit einer Gott nicht mit einer, sondern mit zwei Schöpfungstradi- Verhandlung der Problematik im theologischen Raum tionen zu tun. Sieht man einmal von den Differenzie- (jedenfalls wesentlich) zufriedengeben können, ist vorab rungen ab, so lassen sie sich grob folgendermassen charak- der Tatsache zuzuschreiben, dass keine der beiden Grup- terisieren: Die Weltschöpfung gehört in das beschreibende pen für den Bestand der Gesellschaften und für den diese Lob, sie dient dazu, die weltüberlegene Macht Jahwes zu garantierenden römischen Staat real verantwortlich zu preisen; die Menschenschöpfung gehört in die Klage des zeichnen hatte. Um so bezeichnender (und: um so ver- einzelnen, bzw. das Heilsorakel, sie dient dazu, die Zu- pflichtender) ist aber der theologische Lösungsversuch wendung Jahwes zu seinem Geschöpf zu beschwören« eines Paulus (vgl. dazu den Exkurs von G. Friedrich). (S. 173). Peter Weimar, Münster Einen geistesgeschichtlich in seinen möglichen Folgen JÜRGEN BECKER / HANS CONZELMANN / GER- kaum überschätzbaren Punkt einer Wende bzw. Entwick- HARD FRIEDRICH: Die Briefe an die Galater, Ephe- lung zeigt A. Strobel in seinem (ebenfalls exquisiten) ser, Philipper, Kolosser, Thessalonicher und Philemon. Exkurs auf: »Hier äussert sich nicht der mit dem Phari- (Das Neue Testament Deutsch — Neues Göttinger Bibel- säismus kämpfende christliche Theologe, sondern der im werk, Teilband 8). 14., neu bearbeitete Auflage, Göttin- Rahmen eines philosophischen Weltbildes sich artikulie- gen 1976. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. 294 Seiten. rende christliche Denker. Der Horizont der geistigen JOACHIM JEREMIAS / AUGUST STROBEL: Die Auseinandersetzung ist offenbar ein weiter und allgemei- Briefe an Timotheus und Titus. Der Brief an die Hebrä- ner. Nicht die christliche Gestalt des Glaubens wird er. (Das Neue Testament Deutsch — Neues Göttinger Bi- verhandelt, sondern der Glaube überhaupt, .. .« (a. a. 0. belwerk, Teilband 9). 11. Auflage (Neubearbeitung), Göt- S. 210). Und: »Allem Anschein nach ist der Hebr. ele- tingen 1975. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. 268 Seiten. mentar von der Erkenntnisproblematik berührt, was ihn Die über Jahrzehnte bewährte Konzeption des »NTD« in die Nähe Philos rückt« (ebenda). bedarf üblicher Empfehlungen längst nicht mehr: Jeder, Damit zeigt sich uns die unseres Erachtens äusserst be- der in der Praxis von Verkündigung und Unterricht, aber denkenswerte Kehrseite eines an sich sehr wichtigen posi- auch wer im Bereich der Forschung mit dem NT zu tun tiven Prozesses. So notwendig es nämlich ist, dass christ- hat, weiss das NTD zu schätzen. licher Glaube — und was für ihn gilt, wird wohl auch für Es liesse sich an zahlreichen Beispielen sehr einfach jeden anderen gelten — sich mit den Vorstellungs- und zeigen, wie konkrete Fragen des christlich-jüdischen Ge- Denkmöglichkeiten einer Zeit auseinandersetzt und sich sprächs durch die Hilfen dieses Kommentarwerks eine in ihrem Horizont zu präsentieren weiss, so gefährlich wichtige neutestamentliche Orientierung und Beantwor- (für das Wesen dieses Glaubens wie für die Existenz eines tung erfahren können. So sei etwa, um nur einige Beispie- anderen) kann dieser Prozess werden, wenn aus diesem le zu nennen, auf die thematische Ausführung von »Ausgleichen« ein System wird, in dem christlicher J. Becker unter der Überschrift »Zur Theologie der Juda- Glaube (oder ein anderer) nicht mehr eigentlich als isten« (Teilband 8: Der Brief an die Galater), auf Glaube, sondern als (massgebende) Philosophie, nicht A. Strobels Exkurs »Der Glaubensbegriff des Hebr.« mehr als Möglichkeit einer Weltanschauung, sondern als (Teilband 9: Der Brief an die Hebräer) oder an die definitives Weltbild erscheint. Es bedarf dann nur noch Ausführungen von G. Friedrich »Paulus und die Juden« einer Anzahl begleitender, völlig konsequent durchge- (Teilband 8: Der erste Brief an die Thessalonicher) führter »Hilfsmassnahmen« — und wir sind bei dem aufmerksam gemacht. geschichtlich nur zu bekannten Gegenstück dessen ange- Einheit und Verschiedenheit, unzertrennliches Zueinan- langt, wovon wir ursprünglich einmal ausgingen. Und der und zugleich unabdingbares Auseinander von Juden- die Fatalität — anders kann man das, was folgt, unseres tum und Christentum werden in ihrer schmerzlichen Erachtens kaum bezeichnen — liegt schliesslich darin, dass Dialektik für beide Gruppierungen begründet in der man, sobald erst einmal in diesen Kreis hineingeraten, Grösse »Glauben«. Dass der Kern der Entscheidung und nicht mehr leicht erkennen kann, wie dies überhaupt somit der »Scheidung«, der Existenz als Lebensvollzug geschah, dass man »Fehler« kaum zu entdecken vermag

76 (weil alles so sinnvoll-konsequent zu sein scheint) und des Bundes zwischen Gott und »Israel« sind. — 4. Bezeich- dass jedes Umkehren nur noch als ein Verrat an der nenderweise begegnen die apodiktischen Gesetze nur zum eigenen Sache erachtet werden kann. Teil im prophetischen Schuldaufweis, während diejeni- Die Relevanz des Skizzierten liegt offen zutage. Es gen fehlen, die kultische Forderungen zum Inhalt ha- zeigt sich aber auch, dass nur eine exakte und kritische ben. Das aber bedeutet, dass es eine Tradition gegeben Erforschung der Quellen uns — jedenfalls auf die über- hat, für die die kultischen Forderungen der apodikti- haupt mögliche Weise — weiterzuhelfen vermag. Wir schen Gesetze nicht Teil des Bundes gewesen sind. Daher danken es eindeutig der kritischen Forschung, wenn wir darf man schliessen, dass, obgleich der Inhalt des prophe- nicht vor unlösbaren Rätseln in Einzelheiten und Ten- tischen Schuldaufweises dem Inhalt bestimmter apodik- denzen der Offenbarungsquellen untereinander und ge- tischer Gesetze korrespondiert, die Bundestradition die geneinander stehen bleiben müssen: Tatbeständen, von wirkliche Basis der in Frage stehenden prophetischen denen selbst grösste Kirchenlehrer bekannten, dass man Schuldaufweise abgegeben hat. Die Korrespondenz im In- sie nur im Gebet auszuhalten vermöchte (Thomas v. A.), halt lässt sich durch die Annahme erklären, dass die Bun- weil ihnen die Grundlagen der uns möglich gewordenen destradition die Verkündigung von Gesetzen apodikti- Erklärung zu ihrer Zeit nicht zu Gebote stand. scher Form einschloss. — 5. Die Propheten proklamierten Diese weitreichenden Auskünfte können, um auf die in neuer Weise die Forderungen Jahwes an sein Volk, vorliegenden Publikationen zurückzukommen, durch for- so dass dadurch, insofern das Unheil nicht Gottes letztes schungskontroverse Einzelfragen und -antworten weder Wort ist — die Annahme der Bundesverpflichtungen bleibt verunsichert noch verdunkelt werden. Ob man also z. B. weiterhin möglich —, für »Israel« der Weg zum Leben er- Strobel in der von ihm vorgeschlagenen Frühdatierung öffnet wurde. — Die Arbeit bewegt sich weitgehend in tra- des Hebräerbriefes (etwa auf das Jahr 60, vgl. Strobel ditionellen Bahnen und ist — forschungsgeschichtlich ge- a. a. 0. S. 83) folgen wird, mag eine andere Frage blei- sehen — zum Teil überholt. Peter Weimar, Münster ben. Es fällt gegenwärtig ohnehin eine Tendenz zur Frühdatierung auf: so etwa, wenn Cullmann (Der johan- ELEMENTAR-BIBEL, Teil 3: Geschichten von Köni- neische Kreis, Tübingen 1975; vgl. unsere Besprechung gen in Israel. Ausgewählt und in einfache Sprache gefasst s. u. S. 80, der den Hebräerbrief in großer Nähe zu Jo- von Anneliese Pokrandt, gestaltet und illustriert von hannes sieht (vgl. Cullmann a. a. 0. S. 58), das Johannes- Reinhard Herrmann. Lahr und München 1975. Verlag evangelium etwa auf das Jahr 70 datiert (ebendort 101 f.) Ernst Kaufmann und Kösel-Verlag. 88 Seiten. wissen möchte. — Andere Unterschiede in der Beurtei- Zu diesem dritten Band der Elementar-Bibel ist im lung von Einzelfragen ergeben sich aus wechselweise Grund dasselbe zu sagen, was schon in der Besprechung verschiedenen Differenzierungen (z. B. wie ein Forscher zum 2. Band im FR XXVII/1975, S. 89 gesagt wurde. die »Umwelt« einer neutestamentlichen Schrift bestimmt Die dort genannten Vorzüge bestimmen auch dieses bzw. aufteilt: Daraus resultiert etwa die »Nähe« oder Buch: einfache Sprache, lebendige Anschaulichkeit, ver- »Ferne« zu einer der vielfältigen Grössen, die als »Gno- tretbare Auswahl aus den entsprechenden biblischen Bü- sis« benannt werden, zu den verschiedenen Strömungen chern. Hier wird von Israels ersten Königen erzählt. Den und Gruppierungen des Judentums usw., zu zeitgenössi- historischen Rahmen bildet das 11./10. Jahrhundert schen philosophischen Richtungen usw.). Dass hier, über v. Chr. mit den drei ersten Königen Saul, David und bestimmte Einzelfragen hinaus, vieles im Fluss ist und Salomon. Die Geschichten sind im wesentlichen den bleibt, darf nicht zu einer Unterschätzung des durch beiden Samuelbüchern entnommen. Eine Fortführung der kritische Wissenschaftlichkeit Erreichten und Erreichba- Königsgeschichte über Salomon hinaus erfolgt nicht. ren im Blick auf eine verantwortungsbewusste Interpre- Zu den vielen Vorzügen dieser kindertümlichen Aus- tation führen. Die vorliegenden Kommentarbände sind wahlbibel kommen auch hier wieder einige Schwächen. selbst erneute Beweise für die Leistungsfähigkeit und die Manche altertümliche Stelle dürfte nicht nur erzählt, sie Notwendigkeit kritischer neutestamentlicher Wissen- müsste auch erklärt werden, so der Zorn Gottes gegen- schaft. 0. K. über Saul, der nach einer Schlacht nicht alle Menschen und Tiere tötet, die er gefangengenommen hat (S. 16 ff.) oder die harte Strafe Gottes an Ussa, der mit der Hand RICHARD VICTOR BERGREN: The Prophets and the die Bundeslade (Schrein) berührt hat. Welches Gottes- Law: Monographs of the Hebrew Union College 4. Cin- bild soll das Kind von solchen Erzählungen erhalten? cinnati 1974. Hebrew Union College Press. XV, 213 Wird ihm der Gott des AT nicht doch unbewusst als ein Seiten. Gott der Grausamkeit und Rache vermittelt? Eine Ver- Die vorliegende Untersuchung — eine Dissertation aus stehenshilfe wäre hier schon notwendig. Die Salomon- dem Jahre 1972 — behandelt im ersten Teil das Gesetz Erzählungen enden hier mit der Tempeleinweihung. Man bei den Propheten (Art, Autorität und Volk des Geset- vermisst die kritische Sicht der Bibel gegenüber diesem zes) und im zweiten Teil die Propheten und das Gesetz. König, der sich am Ende seines Lebens weit vom Weg Dabei ergibt sich: 1. Am prophetischen Schuldaufweis Gottes abgewandt hat. — Was die Bilder angeht, so haben wird erkennbar, dass das Volk bestimmte Taten beging diese zwar altertümliches Kolorit, aber manches Detail und dass diese Unrecht waren. Das impliziert aber, dass stammt eher aus mittelalterlichen deutschen Städten als es so etwas wie einen Massstab gegeben hat, woran das aus dem 2. vorchristlichen Jahrtausend in Israel, z. B. die Volk gebunden war und woran es gemessen werden Städteansichten oder die Bekleidung. konnte. — 2. Der Inhalt des Schuldaufweises lässt eine Werner Trutwin, Bonn Übereinstimmung mit dem Inhalt bestimmter Gesetze des Pentateuch erkennen. Da aber in allen Fällen die RUDOLF BULTMANN: Der zweite Brief an die Ko- pentateuchische Form dieser Gesetze apodiktisch ist oder rinther. Hrsg. von E. Dinkler. (Sonderband der Reihe: zumindest eine apodiktische Form als Grundlage anzu- Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testa- nehmen ist, dürfte das sogenannte apodiktische Recht den ment, begr. v. H. A. W. Meyer, hrsg. v. F. Hahn). Göt- vermuteten Massstab für das Volk abgegeben haben. — tingen 1976. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. 270 Seiten. 3. Die Eigenart dieser Gesetze liegt darin, dass sie Teil »Also vollzieht sich in der Verkündigung des Christusge-

77 schehens das Gericht, hic et nunc in der Wortverkündi- Verhältnis« wird schliesslich aufgewiesen, wie solche gung der Kirche. Dass die Verkündigung des Apostels Ambivalenz sich auch denkerisch im christlichen »Prin- und damit der Kirche — diesen Charakter hat, ist darin zip« des »Gott-Menschlichen« überwinden lässt. »Wenn begründet, dass sie das in Christus geschehene Heilsereig- Gott ein Gott der Menschen ist und der Mensch nur nis verkündigt, und zwar nicht als einen zu referierenden Mensch durch Gott ist, dann kann die Realisierung historischen Bericht, sondern als das Ereignis der Versöh- menschlichen Lebens nur vom Gott-Menschlichen her ge- nung Gottes mit der Welt, ein Ereignis, das für die Hörer schehen« (S. 49). Dass solcher Realisierung des Gottes- in der aktuellen Verkündigung wirksam wird.« (So glaubens auch das naturwissenschaftliche Denken nicht E. Dinkler in seinem Vorwort als Herausgeber, a. a. 0. widersteht, zeigt Fr. Rauh in sehr klaren Überlegungen S. 11.) Vielfacher Zusammenarbeit ist es zu danken, dass zur »Frage nach Gott in der heutigen Naturwissenschaft«. Rudolf Bultmanns Vorlesungsmanuskript über den Hier wird u. a. die Evolutionslehre als Beispiel einer 2. Korintherbrief als originale Arbeit des Verfassers und Grenzerfahrung interpretiert, in der trotz aller Aufhel- zugleich als mannigfach nachbearbeiteter Beitrag (Quel- lung von verbindlichen Gesetzmässigkeiten die letzten lenverweise, Literaturangabe usw. nach neuesten Ausga- Fragen über Herkunft, Wesen und Sinn des Ganzen von ben u. a. m.) im Blick auf die weitergehende Forschung der Naturwissenschaft nicht beantwortet werden können jedem Interessierten zugänglich gemacht wurde: somit (S. 53). Deshalb liefert uns die Naturwissenschaft freilich noch einmal eine Würdigung ureigenster Art für Leben keine Gottesbeweise (S. 59), kann uns wohl aber für Fra- und Arbeit des grossen Gelehrten, von dessen Theologie gen des Glaubens transparent werden, wie besonders an Erich Dinkler sagt, sie sei »stärker von der dem 2. Korin- der gelungenen Auseinandersetzung mit J. Monods »Zu- therbrief des Paulus inhärenten Theologie geprägt als fallstheorie« erkennbar wird. Die Überleitung vom philo- von irgendeinem anderen Briefe oder Evangelium des sophischen bzw. naturphilosophischen Aspekt zur theolo- neutestamentlichen Kanons, insofern es hier thematisch gischen Fragestellung leistet B. Casper als Fundamental- um >das Wort der Verkündigung< geht — ein Thema, das theologe, indem er »die Frage nach Gott und das Ge- sich mit dem des >apostolischen Amtes< deckt« (S. 11). schehen der Offenbarung« als Frage nach dem Sinn des O. K. menschlichen Daseins ausarbeitet. Dieser Sinn geht in BERNHARD CASPER (Hrsg.): Des Menschen Frage nach seiner Unbedingtheit schon in der zwischenmenschlichen Gott. Donauwörth 1976. Verlag Ludwig Auer. 192 Seiten. Begegnung auf, erfährt aber seine Steigerung in der ethi- Die Frage nach Gott, die in jüngster Vergangenheit schon schen Entscheidung und im Verhältnis zum Tod. In diesen als gegenstandslos erklärt und deren Inhalt totgesagt »Differenzerfahrungen« (S. 77) geht dem Menschen »das wurde, erweist sich für das menschliche Denken nach wie ganze Andere« Gottes auf, das ihn immer nur als freies vor als unabweisbar, auch wenn sie faktisch nicht alle Geschenk in einem geschichtlichen Widerfahrnis berührt Menschen berührt. Aber das Oberflächenbewusstsein der und allein im Glaubensverhältnis erfasst wird. Dass von Menschen ist nicht der Massstab für das Wesen des daher »im nachhinein« die in Jesus von Nazareth gesche- Menschlichen. Es ist darum ein Anliegen dieses aus einer hene dichteste Gottesoffenbarung »nicht widersinnig er- interdisziplinären Vorlesungsreihe des Fachbereichs Ka- scheint« (S. 94), wird man als begründete Aussage anneh- tholische Theologie der Universität Augsburg hervorge- men, allenfalls aber fragen können, ob diese konkreteste gangenen Buches, bei Aufnahme dieser Frage zunächst Gottbegegnung »im nachhinein« nur beispielgebend und dieses Oberflächenbewusstsein durch einen philosophischen ergänzend zu denken ist oder ob sie nicht vielmehr nach Denkansatz zu durchstossen, der den unberechtigten der Sünde den notwendigen Ursprung und Ermöglichungs- Autonomieanspruch des modernen Denkens kritisiert. grund aller heilshaften Gotterfahrung darstellt. Was den Deshalb beginnt das Buch mit drei Beiträgen philosophi- spezifisch christlichen Inhalt dieser Erfahrung angeht, so scher Provenienz, in denen gleichsam die Diagnose des wird er sachgemäss von der biblischen Exegese und Theo- modernen Bewusstseins erstellt und eine Öffnung für die logie entfaltet. Hier stellt R. Kilian zunächst die Frage Gottesfrage unternommen wird. So kritisiert A. Halder nach »Gott und Gottesbilder[n] im Alten Testament«, an Hegel und Nietzsche (»Hegel und Nietzsche; Gott als die, dem Duktus des AT entsprechend, nicht auf die die absolute Wahrheit und die Erfahrung des Nihilis- Existenz Gottes zielt, sondern »nach dem Wie« und »nach mus«), dass beide, wenn auch von entgegengesetzten Po- dem Wesen Gottes« geht (S. 96). Das »Wesen« ist jedoch sitionen aus (als »Pantheismus« und »Pannihilismus«), nicht metaphysisch zu denken, sondern (besonders nach ein absolutes metaphysisches Begreifen des letzten Sinnes Ex 3, 14) als in der Erfahrung sich ereignende »macht- der Wirklichkeit intendierten und auf diese Weise das volle und hilfreiche Gegenwart für die Zukunft«, die letzte Prinzip (»Geist« oder »Willen«) als blosses »Für- dem Menschen aber unverfügbar ist und nicht einfach aus sich-Sein« und »selbstbezüglich« (S. 28) dachten. Dem- dem Denken abgeleitet werden kann. Die abschliessende gegenüber gelte es heute, Gott als das »Für-andere-Sein« Aussage, dass Gott für das Verständnis des AT Mysterium und d. h. als Freiheit zu denken, welche mit der Freiheit bleibt, wäre in ihrer Allgemeinheit von der Dogmatik her des Menschen in einem geschichtlich gedachten Sein in Be- dahingehend zu ergänzen, dass das Mysterium auch seine ziehung tritt. Allerdings wird zugegeben, dass solches erkenntnisoffene und inhaltlich bestimmte Seite hat. Dies Sprechen von Gott »nicht nur für theologische Ohren min- zeigt in diesem Band eindrucksvoll die am ausführlichsten destens missverständlich klingt, sondern auch für den gehaltene neutestamentliche Abhandlung von E. Neu- Philosophierenden ... selber« (S. 19). Bezüglich der Ne- häusler über die »Gotteserfahrung Jesu, ein Interpreta- gierung der Gottesfrage in der »Gott-ist-tot-Theologie« ment seiner Weisungslehre?«, in welcher der Autor mit stellt J. Möller fest (»Das Ringen um einen neuen Gott«), einem heute selten gewordenen kritischen Urteil gegen- dass der in diesem modernen Gedankenexperiment unter- über der historisch-kritischen Forschung (S. 122) und der nommene Versuch, den Gott der Transzendenz durch »hermeneutischen Auslegung« (S. 142) mit ihrer Tendenz einen »menschlichen Gott« zu ersetzen, zunächst zu der zum Verschweigen »nicht konforme[r] neutestament- Ambivalenz im religiösen Denken führt, entweder einen liche[r] Aussagen« das Unableitbare und Einzigartige der »Gottmenschen« oder einen »Menschgott« zu etablieren. Gotteserfahrung Jesu u. a. aus seinen Gleichnissen zu er- In bemerkenswerten Überlegungen zum »Gott-Mensch- heben sucht. Er findet in ihnen eine Gottesvorstellung an-

78 gelegt, die keineswegs als »Interpretament für die Radi- dem geehrten Verstorbenen und sich auf, in der die Frage kalisierung der Nächstenliebe« (S. 147) zu gelten hat, nach Einheit und Redaktion des Hoseabuchs wieder auf- sondern als Zugewandtheit Gottes zum Menschen zugleich gerollt wird. Auch wenn die Trost- und Hoffnungsworte einen das Menschliche transzendierenden »unendlichen aus nachexilischer judäischer Redaktion stammen, so sol- Anspruch« (S. 161) beinhaltet. Ein solcher Anspruch er- len sie doch, sagt Stinespring, sehr ernst genommen und fordert auch eine ins Unendliche ausgreifende Antwort, von der Forschung gebührend berücksichtigt werden. John die nicht identisch sein kann mit der im endlichen Bereich T. Willis zeigt an Pss 15 und 24 >Ethics in a Cultic zu erfüllenden Bruderliebe. Die philosophischen und Setting<. Brian Kovacs fragt nach einer möglichen Klassen- bibeltheologischen Überlegungen finden ihren Abschluss Ethik in den Sprüchen. Lou H. Silberman, Judaist in in dem Beitrag von K. Forster über die »Pastorale[n] und Vanderbilt, vergleicht die jüngste Vergangenheit mit der gesellschaftliche[n] Dimensionen der Gottesfrage«. Von Ethik der Apokalyptik: >The Human Deed in a Time of der Diagnose der gegenwärtigen Glaubenssituation aus- Despair — The Ethics of Apocalyptic<; Bubers >Prophetie gehend und sie mit reichem statistischen Material be- und Apokalyptik< und Gollwitzers Kriegsgefangenen- legend, ermittelt der Pastoraltheologe Grundsätze zur bericht dienen als Ausgangspunkt der kurzen Diskussion. Steuerung der »Identitäts- und Relevanzkrise in der Ver- Walter Harrelson geht ebenfalls nur sehr kurz auf die kündigung«, die zunächst stark auf die Notwendigkeit Bedeutung des Genres der »Letzten Worte« für die zwi- einer lebendigen Verwirklichung der Kirche dringen. Aber schentestamentliche Ethik ein. Samuel Sandmel schreibt es wird dabei nicht verkannt, dass diese Notwendigkeit über >Virtue and Reward in Philo<. Millar Burrows, mit der Forderung nach einer ursprünglichen Verleben- >01d Testament Ethics and the Ethics of Jesus<, vergleicht digung des Gottesglaubens Hand in Hand gehen muss. beide und kommt zu dem Ergebnis: »Abgesehen von der So gewährt dieses Werk trotz seiner Gedrängtheit nicht besonderen Aufforderung zur Entsagung hinsichtlich der nur einen instruktiven Einblick in die vielschichtige unmittelbar einbrechenden Krisis, war es im wesentlichen theologische Problematik der modernen Gottesfrage, son- die Ethik des AT, die Jesus lehrte, zwar mit einer Akzent- dern weist auch die Richtung auf Lösungen dieser verlagerung, aber ohne Veränderung der Substanz. Sogar Problematik in einem verantworteten Glauben. Diese seine radikalsten Forderungen können in einer Krise oder Ausrichtung hätte durch einen dogmatisch-systematischen >apokalyptischen Situation< anwendbar sein. Es ist in der Beitrag, der die Antwort des kirchlichen Glaubens und Tat angemessen, zu fragen, ob irgend etwas, das normales darin das trinitarische Moment als specificum christianum soziales Leben voraussetzt, für den heutigen Zustand der herausstellte, sicher noch gewonnen. Welt relevant sein kann ... Soweit wir wissen, hat Jesus Leo Scheffczyk, München nie ausdrücklich Krieg oder Sklaverei oder Ungleichheit JAMES L. CRENSHAW / JOHN T. WILLIS (Hrsg.): der Rasse oder des Geschlechts verurteilt. Er bestätigte Essays in Old Testament Ethics (J. Philipp Hyatt in und verbreiterte ein Grundprinzip, das schliesslich und Memoriam). New York 1974. Ktav. XXXVI und 287 folgerichtig verlangt, solchen Übeln ein Ende zu ma- Seiten. chen ... Er gab die Richtung an, in der Lösungen gesucht Ein Band des Gedenkens für einen hier weniger bekann- werden müssen ...« (242). Der wichtigste Beitrag des ten Alttestamentler der Vanderbilt University, J. Philipp Bandes, besonders in diesem Rahmen des Rundbriefs, Hyatt, verstorben Ende 1972. Das einende Thema der scheint mir der hochinteressante Aufsatz von James A. Beiträge sind Fragen nach der Ethik des AT und des Sanders, Union Theological Seminary, New York, zu nachbiblischen Frühjudentums, einschliesslich eines Auf- sein. >The Ethic of Election in Luke's Great Banquet Pa- satzes zur >Ethik der Erwählung< bei Lukas. 14 Beiträge rable< zu Lukas 14 setzt sich zunächst mit jüngeren Deu- nehmen sich der Thematik an und bilden ein recht wert- tungen des Gleichnisses auseinander, um dann vermittels volles Ganzes, das hohen wissenschaftlichen Ansprüchen der von Sanders propagierten Methode des »comparative genügen kann, zugleich aber auch dem aus seiner Midrash« nach den Materialien zu fragen, die Lk im gegenwärtigen Situation fragenden >Laien< Anregungen Gleichnis vom grossen Gastmahl verarbeitet hat. Das ist bietet. zum einen Dt 20, 5-8 (diejenigen, die vom Kriegsdienst Georg Fohrer, >The Righteous Man in Job 31<, zeigt, im heiligen Krieg ausgenommen sind) und Texte aus dass der Verf. von Ijob 31 der Form nach eine Weisheits- Qumran, die anhand von Lev 21, 17-23 auflisten, wer in lehre benutzt, aber sie durch starke Bindung des äusseren den Kern der Gemeinde keine Aufnahme finden kann. Verhaltens an die innere Ausrichtung überhöht. James Sanders sieht nun in den Worten Jesu bei Lk 14 eine be- Crenshaw handelt über Kohelet 3, 11, Herbert May, wusste Umkehrung der Gästeliste und des Sitzarrange- >Aspects of the Imagery of World Dominion and World ments, wie diese in Qumran ganz im Sinne der In-group State in the OT<, vor allem nach Dtjesaja und den Psal- gehandhabt wurden. Jesus übt eine scharfe prophetische men. Hans Walter Wolff steuert einen Beitrag zum Gene- Kritik am In-group-Verhalten derjenigen, die sicher sind, rationenproblem im AT bei, der in seiner »Anthropologie« als einzige an der Tafel des Reiches Gottes zu sitzen. deutsch zu finden ist. Dennis J. McCarthy, >The Wrath Lukas nimmt dieses Gleichnis in die Interessen und Funk- of Yhwh and the Structural Unity of the Deuteronomistic tionsbezüge seiner Zeit hinein und verändert damit un- History<, sieht die deuteronomistische Geschichte als wohl- gewollt die ganze Stossrichtung der Worte Jesu. Sie sind strukturiertes Ganzes an, im Gegensatz zur vorherrschen- jetzt nicht mehr prophetische Kritik innerhalb einer Ge- den Meinung, es handle sich um eine Ineinanderarbeitung meinde, sondern sagen geradezu das Gegenteil, dadurch vieler verschiedener Quellen. McCarthy untersucht die dass sie durch »statischen Transfer« der Gemeinde des »Zornesformel« als wiederkehrendes Leitwort und sieht Lukas dienstbar gemacht werden, wo sie nun bedeutet: darin den göttlichen Aufruf zur Umkehr. Sheldon Blank, »Die Juden haben sich dagegen entschieden, und die Hei- >The Prophet as Paradigm<, behandelt die >Confessiones< den sollen hereingeholt werden«. Sanders benutzt dieses des Jeremia, die er nicht als öffentliche Liturgien nimmt, Beispiel, um mehr Optimismus bei der Wiedergewinnung sondern als persönliche Bekenntnisse, die durch ihre >Ver- der ursprünglich-eignen Stimme Jesu aufkommen zu las- öffentlichung< paradigmatischen Charakter erhielten. Wil- sen. Das heisst in anderen Worten, dass gerade jene Worte liam Stinespring nimmt eine alte Diskussion zwischen Jesu, die uns sehr scharf als antijüdisch in den Ohren

79 klingen, authentisch sein mögen, jedoch sehr anders ge- literarischer Zeugnisse aus sich in den »Realsetzungen« meint waren, als sie von den Redaktoren der Evangelien (z. B. Abfassungsort und -zeit eines Schriftstückes betref- für ihre aktuellen Bedürfnisse bei der Lostrennung der fend) weiter voneinander entfernt, als dies über einige Christen von den Juden eingesetzt wurden. Was bei Jesus Zeit hin zuletzt der Fall gewesen sein dürfte, wobei, um prophetisch-kritische Funktion innerhalb einer und der- nur dies zu nennen, die »Nähe« der einen Forschungsrich- selben Gemeinschaft hatte, das wurde bei seinen Nach- tung zum historischen Jesus ebenso erstaunen lässt wie die folgern zu einer ganz auf die fraglos positive Konstitu- »Ferne« der anderen. Hier könnte Cullmanns Werk un- ierung der jungen Gemeinde ausgerichtete Bestätigung ter anderem direkt wie indirekt zu Überprüfungen anrei- des Eigenen, verbunden mit einer unreflektierten Ableh- zen: ein Nebeneffekt, der gewiss nicht zu unterschätzen nung der anderen, die nicht zu dieser Gemeinde gehören. wäre. Qumran, das zeigt Sanders in diesem und anderen Bei- Ein anschliessender, nicht weniger interessanter und in trägen auf, verwendet dieselbe Hermeneutik wie die junge seinen Folgen vielleicht noch grössere Brisanz enthalten- Kirche: Alle Kritik wendet sich an die anderen, die aussen der Fragekreis ergibt sich z. B. aus Grössen wie denen stehen. Es gibt da keinen »prophetischen Realismus« oder eines esoterischen, eines heterodoxen, eines Randzonen- eine prophetische Kritik, die sich auf die innen richten Judentums, und, in der konsequenten Folge, eines eben- würde und sie selbst auch nur reflektierend in Frage solchen Christentums: und dies rückgreifend zur histori- stellen könnte. Hier liegt ein hochbrisanter Ansatz zu schen Täufer- und Jesusgestalt, und von diesen ausge- einer neuen Verhältnisbestimmung der »ipsissima vox hend wiederum bis zu einer Schrift, wie das Johannes- Jesu« und der Hermeneutik der Evangelien und der frü- evangelium sie darstellt. hen Kirche, die auch unabsehbare Folgen für eine Neube- Braucht es wirklich noch die Ausführung eines einzigen stimmung des Verhältnisses von Christentum und Juden- Hinweises, was damit für das jüdisch-christliche Ge- tum haben wird. Dieser Ansatz ist hierzulande, in der spräch angezeigt sein kann? Wohl kaum. Vorläufig bleibt wissenschaftlichen Exegese und im christlich-jüdischen uns in dieser Hinsicht zunächst einmal die Hoffnung, Gespräch, völlig neu und auch nicht einmal ansatzweise dass eine christliche Theologie 1. weiss, welchen Weg sie aufgenommen. Michael Brocke, Regensburg damit beschreitet, und 2. bereit ist, die Konsequenzen (wenigstens theologisch) durchzustehen. Sie könnten alles OSCAR CULLMANN: Der johanneische Kreis. Sein andere als einfach sein. 0. K. Platz im Spätjudentum, in der Jüngerschaft Jesu und im Urchristentum. Zum Ursprung des Johannesevangeliums. GEORG FOHRER: Die Propheten des frühen 6. Jahr- Tübingen 1975. Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). 111 hunderts, in: Die Propheten des Alten Testaments. Seiten. Band 3. Gütersloh 1975.237 Seiten. Die nähere Explikation des Haupttitels in dem Zusatz DERS.: Die Propheten um die Mitte des 6. Jahrhunderts, »Sein Platz usw.« zeigt dem aufmerksamen Leser schon in: Die Propheten des Alten Testaments. Band 4. Güters- in etwa an, wohin das Unternehmen führen wird. loh 1975.159 Seiten. Der schmale Band besticht durch die Reichhaltigkeit der Die beiden vorliegenden Bände zu den Propheten des Perspektiven mit ihrem unmittelbaren und mittelbaren 6. Jh., mit denen die auf 7 Bände angelegte Reihe zu den Material, der weitgreifenden Primär- und Sekundärlite- Propheten des Alten Testaments fortgeführt wird', um- ratur und den vielen damit direkt aufgewiesenen oder greifen die prophetische Verkündigung der Zeit kurz vor doch indirekt angesprochenen Bezügen, Bezugsmöglich- und während des Exils. Im dritten Band nimmt die Aus- keiten und Fragen. Cullmann legt ein kleines, aber in legung der Worte des Ezechiel den breitesten Raum ein. jeder Beziehung meisterhaftes Werk vor, das über alles Es wird hierbei mit drei Perioden der Tätigkeit des Fachliche hinaus noch durch eine flüssige Sprache, die Propheten gerechnet. Die erste Tätigkeitsperiode (vgl. Ez das Lesen im besten Sinn des Wortes angenehm macht, 3-24), die von der Berufung zum Propheten bis in die und durch eine klar durchschaubare Gedankenführung Zeit des Untergangs Jerusalems reicht und mit der Aus- in höchstem Mass anzusprechen vermag. Der dieser führung von symbolischen Handlungen begonnen und Schrift gebührende Platz in der so schwierigen Johannes- geendet hat, ist bestimmt durch die unbedingten Unheils- forschung steht damit ausser jeder Frage, und Forschung ankündigungen über Juda und Jerusalem. In der zwei- wie Verkündigung werden dem weltweit bekannten Ver- ten Tätigkeitsperiode änderte sich der Charakter der fasser erneut ihren Dank wissen. Prophetie Ezechiels, insofern der Prophet auf der einen Anfragen lassen sich z. B. gewiss hinsichtlich der sehr Seite zwar mit den Verantwortlichen für die Katastrophe weitreichenden Historisierungs- bzw. Rehistorisierungs- abrechnete, auf der anderen Seite aber bemüht war, die Verzweifelten aufzurichten, weshalb seine Botschaft als versuche stellen, denen unbestreitbar die Sympathie des eine bedingte Heilsankündigung zu bezeichnen ist. In der gelehrten Verfassers gehört. Man wird es sich aber gerade dritten Periode seiner Tätigkeit wandelte sich Ezechiels damit nicht zu einfach machen dürfen: Unseres Erach- Botschaft zur unbedingten Heilsankündigung. Im Mit- tens zu Recht verteidigt sich der Verfasser verschiedent- telpunkt der Verkündigung des Propheten stehen jetzt die lich gegen den Vorwurf eines »Konservatismus«. Tiefer Verheissungen der Schaffung eines neuen Israel (Ez greifen wohl die mehr grundsätzlichen Methodenfragen, 36-37) und die Ankündigung des äusseren Neuaufbaus also etwa: Wie steht es mit Folgerungen, die sich aus rein Israels (Ez 48). Den Anschluss des dritten Bandes bildet literaturwissenschaftlicher Arbeitsmethodik einerseits die Auslegung der fünf von Obadja sich herleitenden und den Wahrscheinlichkeiten einer reinen Logik ande- Sprüche über Edom in Ob 1-18 sowie von Worten un- rerseits nahelegen, die selbst aber in eminentem Mass nur bekannter Propheten über Israel (Jes 63, 7-64, 11; Jer soziologisch oder realhistorisch anzugehende und zu er- 30, 12-15; Hos 8, 1-3; Am 9,9-10; Jer 5,18 f., 20-25; fassende Sachverhalte implizieren? Mit anderen Worten: 3, 14-18; Hos 2, 1-3; Jer 12, 14-17). — Der vierte Band Die Nomenklatur »konservativ« oder »progressiv« für enthält in den beiden ersten Teilen die Worte unbekann- diese bzw. jene Position ist zwar verständlich, erhellt aber kaum die Probleme, die (wieder) zunehmend darin 1 Bd. 1 u. Bd. 2, die Propheten des 8. u. 7. Jh. vgl. in FR XXVII/ bestehen, dass man vom unbestreitbar selbigen Boden 1975, S. 90 f.

80 ter Propheten der Exilszeit gegen andere Völker, welche und Brennpunkt des Neuen Testaments vertreten. Auch neben einigen Sprucheinheiten in den Büchern Jesaja, wenn im einzelnen die Akzente verschieden gesetzt wer- Ezechiel und Zephanja, vor allem in dem Komplex Jer den, entscheidend ist die unlösliche Verklammerung von 46-51 zusammengefasst sind, sowie Worte über Juda und Christologie und Rechtfertigung ...« (493). In besonderer Israel, die hauptsächlich in Jer 30 und 31 überliefert sind. Nähe zu Schrages Thematik steht der Aufsatz von Walther Den Hauptteil dieses Bandes nimmt die Interpretation der Zimmerli: Alttestamentliche Prophetie und Apokalyptik Worte des unbekannten Exilspropheten »Deuterojesaja« auf dem Wege zur >Rechtfertigung der Gottlosen< (575- ein, dessen Botschaft in sieben thematischen Gruppen (an- 592). Schon im Alten Testament, besonders bei den Pro- stelle eines Berufungsberichts; das endzeitliche Heil; die pheten, lasse sich ein heimliches und starkes Hoffen auf Einzigkeit Gottes; die Erlösung Israels; Heil für Israel; den Gott, der die Sünder rechtfertigt, feststellen: »Prophe- das Heil und die Völker; der Knecht Jahwes) entfaltet tie schaut aus auf die iustificatio impiorum« (582). Es ist wird. – Die Auslegung der einzelnen Texte, die jeweils in schade, dass kein Festschriftautor das zwischentestament- Übersetzung (mit kritischen Fussnoten) geboten werden, liche Schrifttum nach diesem Thema durchforscht hat. ist im allgemeinen knapp gehalten und beschränkt sich Ausgesprochen schrille Töne werden von Günter Klein auf das Wesentliche, eröffnet aber gerade dadurch einen (Präliminarien zum Thema >Paulus und die Juden<: 229- ausgezeichneten Zugang zu den Texten. 243) angeschlagen. Er kämpft vor allem gegen Helmut Gollwitzer und Friedrich W. Marquardt und deren Aus- DERS.: Die Propheten des ausgehenden 6. und 5. Jahrhun- legung des Römerbriefes. Er wirft ihnen vor, die Ausch- derts, in: Die Propheten des Alten Testaments. Band 5. witz-Tragödie illegitim in die Exegese des Römerbriefes 1976. Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn. 182 Seiten. hineingetragen zu haben und dadurch für ein »ungewöhn- Der fünfte Band der »Propheten des Alten Testaments« lich repressives Gesprächsklima« verantwortlich zu (vgl. auch FR XXVII/1975, S. 90 f.) enthält neben einem sein (229 f.). Ihre Maxime, wonach »christlich von den geschichtlichen Überblick über Israel im ausgehenden Juden nur noch so gesprochen werden« dürfe, »dass damit 6. sowie im 5. Jahrhundert v. Chr. in sechs Abschnitten nicht wiederum der Weg nach Auschwitz gebahnt wird« eine Auslegung von Prophetenworten aus dem genannten (231), sei hermeneutisch falsch. Richtig sei vielmehr: »Auch Zeitraum: 1. Propheten, die mehr oder weniger deutlich Auschwitz präjudiziert nicht den Aussagewillen unserer in den Spuren Deutero- Jesajas gehen, wozu Jesaja 34-35 Texte« (231). Zu Röm 4, 11 f. bemerkt er, »das vor- und 60-62 sowie einzelne kleine Sprüche aus dem Jesaja- christliche Israel« trete an dieser Stelle »als theologisches buch ( Jes 4, 2-6; 42, 8-9; 45, 8, 18-19) und aus dem Thema explizit nicht in Erscheinung« (234). Es gebe in Buch Zephanja (3, 14-20) zu rechnen sind; 2. das Buch Röm keinen auf die atl. Patriarchen bezüglichen Text, in des Propheten Haggai; 3. das Buch des Propheten Sa- dem diese »als Repräsentanten jüdischer Existenz figu- charja (Sach 1-8); 4. Worte unbekannter Propheten um rieren« (236). Paulus sei »an einer thematisch selbstän- die Jahrhundertwende, zu denen Jes 56, 1-8; 56, 9-57, digen Erörterung des jüdischen Daseins in der Vergangen- 13; 59; 66, 1-4 gerechnet werden; 5. das Buch des Pro- heit nicht interessiert« (237). Er werde »allein dank des pheten Maleachi; 6. Worte unbekannter Propheten des Christus-Evangeliums seines Volkes inne« (241). Wenn 5. Jahrhunderts v. Chr. mit eschatologischem Inhalt, die Paulus von Israel rede, dann handle es sich um die in sachlich-thematischer Abfolge dargeboten werden (Stel- »christologisch entschlüsselte Realität Israels« (242). So lungnahmen zu früheren Prophetenworten; der Spruch- methodisch naiv, wie Klein dies in der Hitze der Ausein- zyklus Mich 4-5; die Verheissung endzeitlichen Heils; andersetzung schildert, sind Gollwitzer und Marquardt die Völker der Endzeit; Hindernisse und vergebliche beileibe nicht. Klein versetzt sich durch seine extremen Hoffnung auf das Anbrechen der ewigen Heilszeit; nicht- Formulierungen eher selbst ins Unrecht, wenn man auch eschatologische Sprüche). — Auch dieser Band bringt wie- zugeben muss, dass er einzelne Punkte (z. B. die christo- derum eine Fülle neuer Einsichten zum Verständnis der logisch entschlüsselte Realität Israels) richtig sieht. Man prophetischen Literatur in Israel. Peter Weimar, Münster wird aber die antijüdische Wirkungsgeschichte bestimm- ter Paulusstellen nicht einfach auf die leichte Schulter JOHANNES FRIEDRICH / WOLFGANG P.OHL- nehmen dürfen! In diesem Punkt ist Gollwitzer und MANN / PETER STUHLMACHER (Hrsg.): Rechtfer- seinen Schülern recht zu geben. tigung, Festschrift für Ernst Käsemann zum 70. Geburts- Weit ruhiger behandelt Otto Kuss (zu Röm 9, 5: 291-303) tag. Tübingen 1976 (Mohr/Siebeck). 650 Seiten. einen für das Verhältnis Judentum–Christentum eben- »Die von Jesus verkündigte und von Paulus auf den falls wichtigen Text. Ihm geht es aber nicht um das an Begriff gebrachte Rechtfertigung der Gottlosen aus Gottes dieser Stelle titulierte Judentum, sondern nur um die schöpferischer Gnade und aufgrund von Glauben allein Frage, ob in Röm 9, 5 die Gottheit Christi ausgesagt ist für Ernst Käsemann die Mitte des Neuen Testa- werde. Er meint, dies lasse sich kaum aus dem Text her- ments ... So konnte es für die Herausgeber keine Frage auslesen. Wahrscheinlicher sei, dass auch hier die subordi- sein, dass >Rechtfertigung< der Leitgedanke einer Fest- natianischen Elemente der paulinischen Christologie zum schrift für Ernst Käsemann sein müsse« (Vorwort). An Vorschein kämen (296 f.). dieser Festschrift wird deutlich, wie vielfältig und an- Diese herausgegriffenen Aufsätze zeigen nur einen kleinen regend das exegetische Werk des Jubilars ist. Von Wolf- Ausschnitt aus der ausserordentlich reichhaltigen Käse- gang Schrage (Die Frage nach der Mitte und dem Kanon mann-Festschrift. 30 Exegeten, deren Namen hohen im Kanon des Neuen Testaments in der neueren Diskus- Klang haben, scheinen als Autoren auf. Unbedingt zu er- sion: 415-442) wird Käsemanns Mitte-These überprüft wähnen ist: Martin Hengel, Mors turpissima crucis. Die und bestätigt: »Geht man jedoch von der Sachmitte des Kreuzigung in der antiken Welt und die >Torheit< des Neuen Testaments aus, kann Christus recht nur als der >Wortes vom Kreuz< (125-184). Christus iustificans, als der Christus pro nobis . ver- Das Buch wird abgeschlossen durch eine Bibliographie kündigt werden. Solche Bestimmung der Mitte wird zwar der Werke Käsemanns und durch ein Register moderner nicht durch den ganzen Kanon gedeckt, andererseits aber Autoren und von Bibelstellen. Es wird ein Standardwerk mit gutem Grund von vielen Neutestamentlern als Kern- für die Paulustheologie bleiben. Man möchte – gerade als

81 christlich-jüdisch Interessierter — wünschen, dass in Zu- hen, dass eine Rehabilitierung des jüdischen Volkes der kunft sich die Paulusforschung vermehrt der Erforschung Zeit Jesu »nicht ohne Auswirkungen auf Judas Iskariot auch des historischen Paulus zuwenden möge. bleiben kann und bleiben darf« (84). Clemens Thoma Der Dialog zwischen Goldschmidt und Limbeck über HERMANN LEVIN GOLDSCHMIDT / MEINRAD Judas Iskariot ist ein gutes Beispiel jüdischer und christ- LIMBECK: Heilvoller Verrat? Judas im Neuen Testa- licher Ehrlichkeit und Solidarität. Clemens Thoma ment. Stuttgart 1976. Verlag Kath. Bibelwerk. 101 Sei- ten. PAULUS GORDAN: Es ist der Herr. 12 Betrachtungen Es ist eine ausgezeichnete Idee, die Gestalt des Judas- zu Bildern des Stuttgarter Psalters. Beuron 1976. Beuroner Iskariot für das jüdisch-christliche Gespräch in Erwä- Kunstverlag. 58 Seiten, 12 Farbtafeln. gung zu ziehen. Hermann Levin Goldschmidt tut dies Zu dieser »Kleinen bibliophilen Kostbarkeit« gibt Frieda Weber- mit Spürsinn, Engagement und Sachkenntnis. Nach sei- Krebs ergänzend einige auch ins einzelne gehende beispielhafte Bild- nen Beobachtungen wurde Judas im kirchlichen Raum in Interpretationen (s. u. S. 83) nach dem zunächst folgenden ersten I:eitrag (Anm. d. Red. d. FR). unheilvoller Weise vorwiegend als eine Symbolgestalt des angeblich ebenfalls an Christus gestrandeten Judentums Die Württembergische Landesbibliothek in Stuttgart be- bewertet. Er frägt vorwurfsvoll: »Weshalb wurde und wahrt als eine ihrer kostbarsten Handschriften den sog. wird . . . zwar die heilvolle Frucht des Christentums »Stuttgarter Bilderpsalter«, auf, einen Codex, der etwa in bejaht, aber Judas und das Judentum verneint und ge- dem Jahrzehnt von 820 bis 830 in Saint-Germain-des-Pres schmäht?« (25). Er beschwört die Bibel mit ihren diver- bei Paris entstanden ist und sämtliche Psalmen des Alten gierenden Judasinterpretationen, moderne Theologen, Testamentes in der Fassung der Vulgata enthält. Als Illu- Literaten und Psychologen, um den »Verrat« des Judas stration zu einzelnen Psalmversen sind in den Text über in die richtigen historischen, heilsgeschichtlichen und 300 farbige Miniaturen von hoher künstlerischer Schönheit psychologisch-soziologischen Zusammenhänge hineinstel- und lebendiger Ausdruckskraft eingefügt, die den histo- len zu können. Sein Urteil lautet: »Selbst dann, wenn rischen Wortsinn bildhaft veranschaulichen und zugleich Judas, der nun einmal Verräter genannt wird, einer auf den tieferen Sinn, auf das eigentlich Gemeinte, näm- gewesen wäre, ist auch er heilvoll gewesen« (27). Faszi- lich auf Christus und sein Heilsmysterium hin, transparent niert zeigt sich Goldschmidt auch von einem mittelalter- machen sollen. In diesen Miniaturen lässt sich die Kunst lichen Steinmetzen, der in der Kirche des burgundischen der christlichen Spätantike in all ihren Entwicklungs- Vezelay nicht nur die Hängung des Judas darstellte, phasen entdecken. Neben Schöpfungen aus dem italieni- sondern auch seine Abnahme durch einen gläubigen Men- schen und byzantinischen Raum macht sich auch der anti- schen (33). Der Steinmetz hatte den lukanischen Christus ochenisch-syrische Einfluss deutlich bemerkbar. Damit ver- beim Wort genommen: »Einer von euch hat 100 Schafe aient der Stuttgarter Psalter auch besondere Beachtung im und eines davon verläuft sich. Er lässt bestimmt die 99 Blick auf die morgenländische Bibeltheologie und ihre allein und sucht das verlorene, bis er es findet. Wenn er Rezeption durch die Theologie des Abendlandes (vgl. dazu es gefunden hat, freut er sich, nimmt es auf seine Schul- das in diesem Band veröffentlichte Kapitel »Der Stutt- tern und trägt es heim« (Lk 15, 4). garter Psalter« [S. 57 f.D. Es war katastrophal, dass das Christentum den Judas Paulus Gordan OSB hat es unternommen, aus der Fülle und das Judentum bisher nicht oder kaum heilvoll sah der Bildszenen zwölf Darstellungen auszuwählen und zum und dass es den verzeihenden Christus nicht auch bezüg- Ausgangspunkt einer heilsgeschichtlichen Betrachtung zu lich des Judas und des Judentums zur Sprache kommen machen. Die zwölf aufeinanderfolgenden Meditationen liess. Nur wenn die Kirche sich entschliesst, mit dem (Der erste und der zweite Adam, Verkündigung 1, Heim- Judentum den Dialog und die heilsgeschichtliche Arbeits- suchung t, Anbetung der Könige, Am Ölberg t, Vor dem teilung zu praktizieren, wird nach Goldschmidt die Zu- Hohenpriester, Kreuzigung, Erhöhung, Christus und sein kunft heilvoll sein (26. 33 f.). vierfaches Evangelium 1 , Christus als Sieger, Christus als Der Neutestamentler Meinrad Limbeck unterzieht die Weltenrichter, Christus und sein Volk) lassen vor den neutestamentlichen Berichte über Judas, den Falschen (------Augen des Lesers das gesamte Heilsdrama abrollen, indem Iskariot) einer umsichtigen Beurteilung und versucht sie einen grossen Bogen spannen vom ersten Adam des dann, gültige Antworten an Goldschmidt zu geben. Seine Paradieses bis zur Vollendung der Welt durch Christus, exakten literarkritischen Analysen zeigen, dass Judas den zweiten Adam. In diesen Betrachtungen werden die ursprünglich keine Symbolgestalt war, sondern eine hi- Worte des Alten Bundes in Verbindung mit dem deuten- storische Person aus dem nächsten Jüngerkreis Jesu, der den Bild transparent auf den tiefsten Sinn und das letzte bei der Verhaftung Jesu eine wichtige Rolle spielte (53). Ziel der göttlichen Offenbarung: auf Jesus Christus und Schon für die Markusgemeinde wurde Judas zum Pro- seine Heilstat. So gibt der Titel des Buches »Es ist der blem der Jesusdeutung und des Gemeindebewusstseins. Herr« zugleich Sinn und Ziel jeder einzelnen Betrachtung Weshalb duldete Jesus diesen falschen Menschen so lange an: Im betenden Umgang mit dem Wort der Schrift den in seiner Nähe? Ist es möglich, dass auch Christen zu lebendigen Herrn zu entdecken, so wie es die frühchrist- Verrätern an Christus werden (vgl. 55-59)? Im Gegen- liche Kirche tat, wenn sie die Psalmen ganz im Blick auf satz zu Mk beantwortet Mt diese Fragen bereits feindse- Christus, im Licht seiner Heilstat, betete. Auf diese Weise liger. Für ihn stellt Judas »im Grunde keine erschrecken- kann uns der vorliegende Band hinführen zu einem tiefe- de eigene Möglichkeit mehr dar« (62). Die wunde christ- ren Verständnis und zu einem besseren Beten des Psalters, lich-jüdische Stelle scheint im Johannesevangelium auf, der zwar immer zum festen Bestand der kirchlichen Litur- in dem sowohl »die Juden« (8, 44) als auch Judas (6, 64- gie gehörte, dem einzelnen aber oft genug fremd und 71) als »Teufel« bezeichnet werden (81-85). Man muss spröde geblieben ist. Wir lernen hier neu verstehen, dass die Stelle jedoch im Lichte damaliger Gemeindeprobleme das Neue Testament auf verborgene Weise schon im Alten sehen. Limbeck gibt zu, dass sich bereits in neutesta- Testament als dem gemeinsamen Fundament von Juden- mentlicher Zeit unterschwellige Ansätze für antijüdische Deutungen des Judas ergaben. Man sollte nicht überse- I S. u. S. 83.

82 tum und Christentum enthalten ist. Auch wenn die Offen- »Er lässt seine Stimme erschallen, seine gewaltige Stimme. barung der Liebe Gottes zum Menschen erst mit Jesus Preist Gottes Macht. Seine Hoheit erstrahlt über Israel. Christus und seiner Botschaft ins volle Licht tritt, so be- Hoch in den Wolken erstrahlt seine Macht. Furchtbar ist steht doch eine unauflösbare Kontinuität zwischen Altem Gott an seiner heiligen Stätte, Israels Gott; er verleiht und Neuem Bund: Die Kontinuität von Verheissung und seinem Volk Stärke und Macht. Gott sei gepriesen.« Erfüllung, von Anfang und Vollendung. Hans-Arnold Bergheim, Freiburg i. Br. MARTIN HENGEL: Der Sohn Gottes. Die Entstehung der Christologie und die jüdisch-hellenistische Religions- Frieda Weber-Krebs erläutert folgende Bilder: geschichte. Tübingen 1975. Verlag J. C. B. Mohr (Paul P. Paulus Gordan versteht es in ganz besonderer Weise Siebeck). 144 Seiten. und im eleganten Stil, die Bilder anhand des Psalmen- Der Tübinger Neutestamentler untersucht mit der ihm textes zu interpretieren und entsprechende Stellen aus dem eigenen Gründlichkeit und Weite des Blickfelds eine Alten und Neuen Testament nachzuweisen. Thematik, deren Aktualität sich zwar wandeln mag, die Zur »Heimsuchung« sei auch hingewiesen auf Abdruck und aber nach dem nun einmal eingeschlagenen Weg der Text im vorjährigen FR (Paulus Gordan: »Gerechtigkeit Geschichte des Christentums nie mehr aus der ersten Linie und Frieden haben sich geküsst«, Ps 84 [85], 11 2). des fragenden Glaubensinteresses zurücktreten wird. So Zur »Verkündigung« erinnert P. Gordan daran, dass die gibt der Verfasser einen ausgezeichneten Überblick über Psalmen das Gebetbuch des ganzen Gottesvolkes sind wohl alle für ein urchristliches Sohn-Gottes-Verständnis (5. 15). Die »Tituli« sollen dem Beter einen Hinweis ge- und -Bekenntnis relevanten Grössen der religionsge- ben, in welchem Sinne die Psalmen zu verstehen sind. P. schichtlichen Vor- und Umwelt des Neuen Testaments. Es Gordan erwähnt das Fell des Gideon, in dem der Psalmist ist sein besonderes Anliegen, neutestamentliche Exegese, einen Hinweis auf die zukünftige Heilsfülle der messiani- Religionsgeschichte und systematische Theologie im Ver- schen Endzeit sieht. ein mit dem hermeneutischen Bemühen zusammenzufüh- P. Gordan bemerkt ferner, dass Maria statt des Buches die ren. Spindel (nach den Apokryphen) im Schoss birgt (S. 16 f.). Dies alles ist natürlich gleichermassen für christliche Sie ist nicht als zarte Jungfrau dargestellt, sondern sie Theologie wie für das christlich-jüdische Gespräch von webt »parzenhaft an dem Geschick der Welt oder spinnt, allergrösster Bedeutung (hierzu wie zu dem folgenden eine neue Ariadne, an dem roten Faden, der die Mensch- vgl. auch unsere Besprechung zu Küng/Lapide, Jesus im heit aus dem Labyrinth der Sünde (wieder) herausführen Widerstreit, s. u. S. 115 f.). soll . ..« – Zudem wird an den Vorhang des Tempels er- Hengel legt aber nicht nur eine materialmässig einen innert, an dem Maria arbeitet, und an das nahtlose Kleid ausgezeichneter Überblick gewährende Arbeit vor. Er des Herrn. führt die Diskussion in das (oben umschriebene) Anliegen Zu dem Bild »Am Ölberg« (S. 25 ff.), einem anderen Bei- einer Zusammenführung von Exegese, Religionsgeschich- spiel: Statt des stärkenden Engels erscheint die Hand Got- te und Systematik hinein, wobei – vor allem gegen tes. Die Deutung des Autors bezieht sich auf die Stellen Schluss der Darlegung – das hermeneutische Bemühen des Alten Testaments, in denen Gott in seiner Erscheinung zur Entfaltung kommt. Manche »Gegensätzlichkeit«, die die Gestalt von Engeln annimmt (vgl. Gen 18, 1-3 3). zuvor stärker hervortritt, wird dort im Grunde – minde- Zu: ». . . sein vierfaches Evangelium« (Psalm 67, 12). Die- stens unseres Erachtens – in gewisser Weise »entschärft«, ses Bild ist eingefügt in den Psalm, der den Wüstenzug des und das scheint uns eben gut und sachlich ebenso folge- Gottesvolkes zum Thema hat (S. 42). »Der Herr gibt aus richtig wie notwendig. Denn entscheidend ist, dass Fra- das Wort« (Psalm 68, 12 [S. 42 f.]). (Das vom Sinai aus- gen und Antworten sich in den angewandten kategoria- gehende Wort 4.) len Dimensionen entsprechen. Ein Beispiel: Wenn die Der Bildzusammenhang weist auf die vier lebenden Wesen Frage, ob Jesus »Sohn Gottes« sei, sinnvoll gestellt und hin (Ez 1, 10 5 ; 10, 14 6) sowie auf die entsprechende Sym- ebenso beantwortet werden soll, dann müssen Fragestel- bolik in der Offenbarung des Johannes 4, 7 7 (Christus, ler und Antwortgeber ihren Horizont kategorial ausle- das Wort), in deren Mitte P. Gordan als Abschluss der Be- gen: das heisst, sie müssen sagen, welche (z. B. philoso- trachtung die letzten Worte des Psalms zitiert: phisch usw. zu benennenden) Kategorien für sie Gültig- keit besitzen. (Über das Warum oder das Warum-nicht kann man dann, falls nötig, in der entsprechenden be- 2 Vgl. FR XXVII/1975. S. 16 ff. 3 Und der Ewige erschien ihm bei den Terebinthen von Mainre, als grifflichen und analytischen Klarheit und Trennung – er um die Tageshitze am Eingang seines Zeltes sass. Da hob er seine nämlich von der zuerst gestellten Frage – weiter verhan- Augen und sah: da standen drei Männer vor ihm. Und da er's sah, deln, um die Hintergründe der Einigkeit oder Uneinig- eilte er ihnen vom Eingang des Zeltes entgegen, und warf sich hin zur keit ans Licht zu bringen). Werden diese Zusammenhän- Erde und sprach: »0 Herr, wenn ich doch Gunst gefunden in deinen Augen, so geh doch nicht an deinem Knecht vorüber!« (Vgl. dazu: Die ge nicht berücksichtigt, so kommt es zu ebenso end- wie Heilige Schrift, ins Deutsche übertragen von N. H. Tur-Sinai [K. aussichtslosen Auseinandersetzungen, bei denen man bald Torczyner], Jerusalem 1954. Erstes Buch, S. 47.) übereinstimmt, bald wieder einen wesentlich erscheinen- • Vgl. Ps 68, 8 f. Gott, als vor deinem Volk du auszogest, her- den Dissens feststellt und im einen wie im anderen Fall schrittest in der Wildnis ... vor Gott — der Sinai war's. ' Die Gestaltung ihrer Gesichter aber war: Ein Mensdienge,icht, ein nicht recht zu sagen weiss, warum dem im einen Mal so, Löwengesicht zur Rechten bei den vieren, ein Stiergesicht zur Linken im folgenden wieder anders ist, sobald man sich über bei den vieren und ein Adlergesicht bei den vieren (a. a. 0., Anm. 2: mehr als über ein jeweiliges Detail Rechenschaft abzu- 3. Bd., S. 345). legen versucht. 6 Und vier Gesichter hatte jedes; das Gesicht des einen war das eines Kerubs (Grossstiers), das des zweiten das Gesicht eines Menschen, das Konsequent erhellt also aus der überzeugenden und um- dritte Löwengesicht und das vierte ein Adlergesicht (a. a. 0., S. 369). sichtigen Darlegung des religionsgeschichtlichen Mate- • Das erste Wesen gleich einem Löwen, das zweite Wesen gleich rials durch unseren Verfasser, dass das frühe Christentum einem Stier, das dritte Wesen hatte ein Gesicht wie das eines Men- in einer aus Welten (der Deutung) bestehenden Welt (so schen, und das vierte Wesen gleich einem fliegenden Adler (vgl. Deut- sche Ausgabe der Jerusalemer Bibel. Herder 1968). unsere Formulierung, in einem gewissen Anschluss an Alle Anmerkungen d. Red. d. FR. Jaspers) völlig folgerichtig und ebenso soziologisch wie

83 psychologisch erklärbar und deshalb in höchstem Mass führung auszuziehen suchten (soweit dies in der Kürze wahrscheinlich, nicht bestrebt sein konnte, eine bestimm- hier möglicher Andeutungen vollziehbar ist), dürfte au- te und einzige kategoriale Aussage über Jesus als einzige sserordentlich ertragreich wirken, wenn man es versteht, und letztverbindliche Prädikation zu propagieren, son- sich auf ihn einzulassen. Hengel unterstreicht abschlie- dern sich bemühte, in jedem sich eröffnenden (z. B. durch ssend noch einmal die Bedeutung der Kategorie »Sohn Mission usw.) Bereich die obersten und letztgültigen Gottes« für eine christliche Theologie. Immerhin wird Kategorien für die Aussage über Jesus, seine Verkündi- man aber eine genaue Lektüre dessen, was dort gesagt ist, gung, sein Gott-Verhältnis, seine Person (und Gottes nachdrücklichst empfehlen dürfen. 0. K. »Person« in ihm) in einen jede andere Grösse ausschlie- ssenden Sinn und Dienst zu nehmen. Es ist nur die OTFRIED HOFIUS: Der Christushymnus Philipper 2, Konsequenz, dass schliesslich unter der Voraussetzung 6-11. Untersuchungen zu Gestalt und Aussage eines ur- (Behauptung) der Verbindlichkeit eines (natürlich unter christlichen Psalms. (Wissenschaftliche Untersuchungen Einschluss und nicht im Absehen von »Physikalität« als zum Neuen Testament, hrsg. von M. Hengel, J. Jeremias, einer analogieverhafteten Präfiguration einer in die To- 0. Michel, Band 17). Tübingen 1976. Verlag J. C. B. talität des Seins reichenden Metaphysik-Ontik, welche Mohr. 118 Seiten. in Metaphysik-Ontologie letztverbindlich aussagbar Die Studie enthält folgende Abschnitte: I. >Bis zum Tod wird) Welt-bildes die Kategorien nicht mehr variabel, am Kreuz< (S. 3-17); II. Die universale Huldigung sondern »festgefügt« und hierarchisch aufgebaut bzw. (S. 18-55); III. Gedankengang und Skopus des Christus- geordnet werden. Und es ist die Konsequenz, dass » Je- hymnus (S. 56-74); IV. Der Skopus des Christus- sus« von jetzt an (also von einem bestimmten Zeitpunkt hymnus und der Hebräerbrief (S. 75-102); Anhang: der so verlaufenden Theologiegeschichte an) seine Letzt- Übersetzung des Hymnus (S. 103). — Dies sind die durch verbindlichkeit nicht mehr durch Einnahme der in einem den Verfasser gewählten Hauptabschnittsüberschriften; raschen Wechsel sich anbietenden Prädikationen, sondern zu bemerken ist, deutlichkeitshalber, dass sachlich unter durch die Fixation auf die als höchstgültig erachtete II. der Textabschnitt Phil 2, 9-11 behandelt wird, wäh- (im Sinn des zugrunde liegenden kategorialen Aussagesy- rend der Gesamthymnus in Abschnitt III. vorgestellt wird. stems) erhält und fortan behält. Für den auch nur bescheidenen Kenner der Diskussion Der entscheidende Unterschied zwischen der Vergangen- um den »Christushymnus« des Philipperbriefs zeigt sich heit und der Gegenwart (sich vollziehender Theologie) in den oben vorgestellten Überschriften bereits an, wie liegt nun aber doch wohl darin, dass wir heute ein das Interesse der Untersuchung orientiert ist, für deren kritisches Bewusstsein und damit eine Möglichkeit zu Vorlage man dem Verfasser — unbeschadet einzelner kritischer Reflexion (und das bedeutet zugleich »Di- Differenzen — ausserordentlich dankbar sein darf. Die- stanz« zu »objektmässiger« Verhandlungsweise) über die- ser Dank ist hier nicht als »Füllsel« irgendwelcher Art se Prozesse als solche haben oder doch mindestens haben eingesetzt: er bezieht sich vorab 1. auf die neu beigebrach- können. (Dass dies nicht einfach »gegeben« ist, sondern ten oder doch neu erhobenen literarischen Materialien erarbeitet werden muss, macht ja eine der entscheidenden (vgl. dazu etwa die S. 41 - 55), und 2. auf den Versuch, Schwierigkeiten aus, der viele Missverständnisse ent- diesen »Psalm« als ein Beispiel urchristlicher literarischer springen, weil aus der Vorstufe des kritischen Bewusst- Gestaltung in neuer Sicht (formal wie inhaltlich, vgl. seins dessen »Relativitäten« bzw. »Relativierungen« S. 4-17; dazu dann der Bezug zu und die Abgrenzung nicht als positive Grössen erkannt und deshalb wiederum gegenüber dem Hebräerbrief, vgl. S. 75 ff.) vorzustellen, nicht anerkannt werden können.) wobei den Fragen des »Hintergrundes« (vgl. S. 41 ff.) Die heutige Situation ähnelt aus vielfältigen Gründen eine besondere Bedeutung zukommen muss. wieder der urchristlichen: Die alles beherrschende und Gerade bei überaus hoher Anerkennung dieser Leistung durchdringende Einheit eines christlichen Weltbildes ist muss aber doch sehr deutlich bleiben — oder, falls es das auseinandergesprengt, und dies gilt auch dort, wo das nicht ist, so sollte es das werden –, dass gerade in dieser Christentum in irgendeiner Weise noch ansonsten vor- so schwierigen Materie, wie Phil 2, 6-11 (mit — nicht herrschend oder doch mitbestimmend sein mag, ja es gilt nur literarischem, wie sich verstehen sollte — »Kontext«) dies sogar für geradezu alle Innenbereiche des Christen- sie darstellt, gegenwärtig ungleich stärker als anderswo tums selbst. Dass die Konsequenzen aus einer derartigen nur beispielhafle Durchführungen möglich sind, die den Situation – auch in dem uns beschäftigenden Zusammen- Charakter eines »Beispiels« in genau zuzumessender Re- hang – keineswegs als bedrohlich erachtet werden müs- lativierung auf sämtliche veranschlagungsmöglichen Kom- sen, das danken wir vorderhand ebenso dem Beispiel des ponenten einerseits ebenso beanspruchen können, wie sie Urchristentums wie der neutestamentlichen Wissenschaft, diesen (Charakter) auf der anderen Seite eben schwer- welche uns diesen Sachverhalt erkennen lehrt. lich zu überschreiten vermögen. (Dass eine solche Aussage Christliche Theologie wird also vor der Aufgabe stehen, wie die soeben unsererseits gemachte für gewöhnlich in wie und in welchen Kategorien sie im Hinblick auf ihren Folgeansprüchen nur schwer oder gar nicht »ge- welche Fragestellungen die Unüberbietbarkeit des Ereig- ortet« werden kann, spricht natürlich auch für sich.) nisses » Jesus« in seinen verschiedenen Dimensionen zu Konkret: manche Zuspitzung, wie sie seitens des Ver- explizieren vermag. Denn in dieser »Unüberbietbarkeit« fassers z. B. gegenüber Lohmeyer oder Grässer (zu letz- (wie immer sie dann einzeln zu erklären sei) liegt doch terem, der eine »Antwort« inzwischen nicht schuldig das Unikum des ganzen Christentums, insoweit es wirk- blieb, vgl. in der vorliegenden Studie etwa die »gehar- lich sich auf Jesus als auf die Mitte seiner Offenbarungs- nischte« Anmerkung 43 auf S. 85 f.) vorgenommen wird, theologie und dem für sie sich darin anzeigenden und erscheint mir sachlich weder so stark gerechtfertigt noch darin verbürgten Offenbarungsgeschehen beziehen will. nötig, wie sie vorgetragen wird — und überdies dem Der Beitrag Hengels, in dessen Verfolgung wir einige der ansonsten durchaus überzeugenden Entwurf eher schäd- dort schon angezeigten Linien auf dem hermeneutischen lich oder abträglich als förderlich. Das ist meines Erach- Schnitt zwischen neutestamentlich-religionsgeschichtli- tens zu bedauern, denn wie jede Erfahrung lehrt, wird eher Erhebung und theologisch-systematisierender Aus- mit »Zuspitzungen« gewöhnlich mehr aufs Spiel gesetzt

84 als man meint. Und es wäre schade, wenn die ausser- ist mehr als seine Tat und wird nicht zum Freiwild. Und ordentliche positive Leistung des Verfassers sich selbst fürs andere ergibt sich der Auftrag, in einem unermüd- beeinträchtigte, zumal er in zahlreichen traditionell ver- lichen, zähen Ringen gegen den »Kain in uns« (56) härteten Einzelfragen mit vielen feinsinnig-differenzie- anzugehen. Denn nur durch diesen wachen und beharr- renden und alte Gegensätze überwindenden Sichtweisen lichen Kampf, zu dem auch Selbstüberwindung und Ver- aufzuwarten versteht. 0. K. zicht gehören, kann es gelingen, dass wir Menschen werden und bleiben und unseren Mitmenschen zum Bru- JOACHIM ILLIES (Hrsg.): Brudermord. Zum Mythos der machen. von Kain und Abel. München 1976. Kösel-Verlag. Dieses Buch vermittelt nicht nur eine weitgefächerte 188 Seiten. Anregung, sondern es setzt Akzente, aus denen Konse- Von verschiedenen Seiten wird hier der Versuch unter- quenzen für Denken und Handeln sich ergeben. So leistet nommen, des Menschen in seiner Vielfalt und in seiner es einen entscheidenden Beitrag zur Verwirklichung un- Wahrheit ansichtig zu werden. Die Grundlage für die seres Menschseins. Rudolf Pfisterer, Schwäbisch Hall weitgespannten Überlegungen bildet der biblische Be- richt von Kain und Abel. Dadurch wird ein Blick hinter KARL KERTELGE (Hrsg.): Rückfrage nach Jesus. Zur die Fassaden unserer üblichen und geläufigen Vorstellun- Methodik und Bedeutung der Frage nach dem historischen gen vom Menschen ermöglicht. Jesus (Quaestiones disputatae 63). Freiburg—Basel—Wien Dabei wird deutlich, wie tief der Drang nach Rivalität 1974. Verlag Herder. 223 Seiten. und Konkurrenz in uns allen steckt und wie dadurch eine Für das christlich-jüdische Gespräch ist die Rückfrage ruhige und gelassene Anerkennung des Mitmenschen nach dem historischen Jesus von besonderer Bedeutung. blockiert wird. Wir sind alle vom Gift des Vergleichens Seit dem Zeitpunkt, da E. Käsemann eine »neue Frage nach durchsetzt und können die auf uns zukommende Enttäu- dem historischen Jesus« als Forderung erhob (1954), ist schung und Zurücksetzung nicht ertragen. Der »Kain in das gegen die Bultmannsche Richtung gewendete Inter- uns« (37) reagiert sehr heftig und unreflektiert und esse der christlichen Exegese am historischen Jesus ständig zerbricht rasch die Schranken, die das Nachdenken über im Wachsen begriffen. Aber, wie manche diesbezüglichen uns und die Distanz zu uns selbst (63) uns verschaffen Veröffentlichungen zeigen, ist für die Theologie wie für möchte. Damit verfehlen wir unser Menschsein, weil wir den Glauben noch nicht viel gewonnen, wenn das dürf- den Mitmenschen nicht mehr verantwortlich in unsere tige Bultmannsche »Dass« der Existenz des historischen Überlegungen und unser Tun einbeziehen (14; 65). Jesus mit allerlei Einzelheiten aus der vorösterlichen Ge- Bei Kain führt dieses auf Ausschaltung des Mitmenschen schichte aufgefüllt wird, die menschlich ungemein inter- gerichtete Denken zum Mord. Sein Handeln nötigt uns, essant sein mögen, aber deren theologische Relevanz nicht über Macht und Möglichkeit des Bösen in uns und unter erkennbar wird. Deshalb verdient es Anerkennung, wenn uns nachzusinnen. Dabei darf man auf der einen Seite — in diesem Buch, das die Referate der Tagung der deutsch- trotz der heute vielfältigen Proteste — nicht versäumen, sprachigen katholischen Neutestamentler vom Frühjahr vom Bösen im Menschen auszugehen (42), auf der ande- 1973 zusammenfasst, die Frage nach dem historischen ren Seite muss aber betont werden, dass »der Mensch Jesus neuerlich aufgegriffen und methodologisch wie >diesem Bösen< nicht zwangsweise anheimfällt« (42). Ne- theologisch ausführlich erörtert wird. ben der Realität der Sünde bleibt die Möglichkeit der Die methodischen Probleme und Schwierigkeiten dieses Entscheidung (38). Doch darf dies nicht zur Verharmlo- »Rückgangs« werden von F. Hahn und Fr. Mussner ein- sung dieses Faktors führen. »Wer realistisch die Welt gehend ausgearbeitet. Der evangelische Theologe F. Hahn betrachtet, kann nicht der Ideologie von einer >friedferti- geht in seinen »Methodologischen Überlegungen zur gen Natur< des Menschen anhängen« (53). In einer er- Rückfrage nach Jesus« (S. 11-77) nicht nur auf die den schütternden Weise wurde dies in einem durch einen Historiker interessierenden Fragen nach der Selektion der Blindtest offenbar, den der bekannte Wissenschaftler Stoffe, nach Umfang und Bedeutung des Interpretations- Leopold Szondi auf Bitten eines israelischen Psychiaters prozesses des Überlieferungsgutes und nach den Kriterien abfasste. In seinem Gutachten hiess es unter anderem: für eine sachgerechte Rekonstruktion des vorösterlichen »Der Mann ist ein Verbrecher von einer unstillbar töten- Jesus ein, er bietet unter Auswertung dieser Prinzipien den Gesinnung. Seine Gemeingefährlichkeit wird durch auch »Anhaltspunkte für ein Gesamtbild der voröster- das autistische Macht-Ich und die Projektionsbereitschaft lichen Geschichte Jesu«, die letztlich alle auf ein umfas- noch gesteigert. Zu bemerken wäre noch, dass wir in sendes Neuheitserlebnis hinweisen, welches sich »im unserer 24jährigen Testpraxis unter mehr als 6000 gedeu- Gegenwärtigwerden des Heiles« (S. 45) im Wirken und teten Testserien keine einzige fanden, die den autistischen an der Gestalt Jesu artikulierte. Interessant und wohl- Kain in dieser Quantität und Dominanz gezeigt hätte. Es tuend ist die Art und Weise, wie Hahn diese historisch- handelt sich somit um einen fast einzigartigen Fall.« (50) kritische Frage nach dem vorösterlichen Jesus von der Erst ein Jahr später erfuhr Szondi, dass er — Adolf dogmatischen Frage nach dem »vere homo« abhebt, deren Eichmann gestestet hatte. [Hervorhebung d. Red. d. FR] sich Exegeten heute auffallend häufig annehmen, ohne die Es ergibt sich, dass mit einer Bagatellisierung des Bösen dogmatischen Implikationen dieser ihrer Fragestellungen nichts Gutes erreicht wird. »Böses lässt sich nicht da- zu bedenken. So ist es nicht überraschend, wenn Hahn am durch aus der Welt schaffen, dass man es leugnet.« (54) Ende vor unreflektierter Aktualisierung und vor der Ein- Diese schmerzliche Betretenheit verursachende Aussage führung moderner Verstehenskategorien in die Frage nach bedeutet zweierlei. Einmal gilt es das Böse und den Böses dem historischen Jesus warnt. Dem entspricht auch die vollbringenden Menschen zu unterscheiden. Denn mit der Feststellung: »Hier muss Ernst damit gemacht werden, Vernichtung eines Menschen oder einer Menschengruppe dass die isolierte Darstellung der vorösterlichen Ge- wird dem Bösen nicht Schach geboten; es wird dadurch schichte ... für sich allein keine theologische Funktion dem Bösen nur neue Unterstützung zuteil. Gott schützt hat« (S. 72). Dass die Überwindung der »Isolation« nur nämlich ausdrücklich den Versager und eröffnet ihm im Glauben der Kirche möglich ist, wird am Schluss des dadurch eine neue Chance (66); denn auch der Mörder Beitrags nachdrücklich betont.

85 Fr. Mussner geht dieselben methodologischen Fragen zurückzuverweisen. Bezüglich der Wundererzählungen (S. 118-147) unter einem anderen Aspekt an, innerhalb darf nach K. Kertelge die sachliche Treue zum irdischen dessen nicht so sehr das Zweiteilungsprinzip »historischer Jesus in der Gestaltung vorausgesetzt werden (S. 182), die Jesus-Christus des Glaubens« beherrschend ist, sondern von der historischen Kritik freilich überprüft werden die Disjunktion » Jesus und der Text«. Obgleich dieses muss. Das Ergebnis verweist im Sinne des Kriteriums der Schema zunächst nur eine Formalisierung der Fragestel- Kohärenz auf den Zusammenhang dieser Taten Jesu mit lung zu erbringen scheint, wird doch seine Ergiebigkeit seiner eschatologischen Verkündigung, weshalb mit Recht bald deutlich, insofern unter diesem Blickwinkel die vor einer Isolierung der Wunderüberlieferung gewarnt sprachlichen Prozesse, in die das Jesusgeschehen eingegan- wird (S. 199). gen ist, verdeutlicht und in ihrer Relevanz stärker zur Den theologischen, auch für den Systematiker aufschluss- Geltung gebracht werden können. Das Anliegen ist reichen Ertrag dieses Bandes fasst R. Schnackenburg in näherhin darauf gerichtet, »vom Niveau der schriftlichen seinem Beitrag »Der geschichtliche Jesus in seiner stän-

Texte über die Barriere ihrer Verschriftlichung methodisch digen Bedeutung für Theologie und Kirche« (S. 194 - 220) gesichert in das Stadium ihrer Mündlichkeit zu gelangen« zusammen. Die Notwendigkeit der historisch-kritischen (S. 120), was durchaus als Weg zum historischen Jesus Rückfrage nach dem irdischen Jesus wird theologisch vor anerkannt werden kann. Unter diesem vorzugsweise allem mit der Wahrung der Geschichtlichkeit und Mensch- linguistischen Aspekt erscheinen die Faktoren, die den lichkeit Jesu Christi begründet entgegen allen gnostischen, Traditionsprozess »von Jesus zum Schlussredaktor« be- mythologischen und monophysitischen Fehlinterpreta- stimmten, differenzierter und die Möglichkeiten zur Ver- tionen. Auch kann der irdisch-geschichtliche Jesus und die änderung eines Jesuslogions zahlreicher; aber es werden entsprechende Sicht der Schrift positive Kräfte für die ebenso die Kräfte der Konsistenz und Bewahrung des moderne Weltaufgabe von Theologie und Kirche frei- Ursprünglichen sichtbar (S. 130), die z. B. auch dem Wi- setzen. Allerdings wird man diesen Ansatz wohl nicht so derspruch von seiten religionsgeschichtlicher Ableitungen auffassen müssen, dass die Exegese nur für das »vere standhalten können. Die umsichtig geführte Analyse er- homo« zuständig wäre, die Dogmatik dagegen für das bringt eine Erweiterung der formgeschichtlichen Arbeit, in »vere Deus«. Auch wenn so interdisziplinär weitere der noch sehr viel »Ungedachtes« eingeschlossen liegt. Probleme offen bleiben, vermag das Sammelwerk doch Die Frage nach den »Kriterien für die historische Beur- einen informativen Einblick in die theologische Arbeit der teilung der Jesusüberlieferung in den Evangelien« modernen Exegese bezüglich eines entscheidenden Themas (S. 78-117) wird von Fr. Lentzen-Deis noch einmal spe- zu vermitteln. Leo Scheffczyk, München zieller gestellt und zunächst vorbereitend mit einem Über- blick über die bisher aufgestellten Kriterien beantwortet. KORNELIS HEIKO MISKOTTE: Biblisches Abc. Wi- Die heute herausgearbeiteten Kriterien (wie der »Ausgang der das unbiblische Bibellesen. Mit Vorwort zur deut- von möglichst alten, gesicherten Quellen«; das »Unähn- schen Ausgabe von Adriaan Geense. Neukirchen 1976. lichkeitsprinzip«; der Konnex mit grösseren Überliefe- Neukirchner Verlag des Erziehungsvereins. 216 Seiten. rungseinheiten) werden dabei mit Recht als nicht so Hinrich Stoevesandt liefert mit dieser Ausgabe die Über- problematisch betrachtet wie die dahinter stehenden »Leit- setzung einer Arbeit, die in mehr als einer Hinsicht vorstellungen«, etwa der Evolutionismus oder das form- problematisch scheint. Das niederländische Original er- geschichtliche Vorstellungsbild von den mehrfachen Tra- schien bereits 1941 — damals wohl als aktuelle Anregung ditionsströmen, das die Gefahr in sich birgt, den Rück- in der schwierigen Kriegszeit gedacht — und wurde 1966 gang zum historischen Jesus faktisch zu verunmöglichen. in ziemlich unveränderter Form neu aufgelegt. Durch Der hier gesehenen Gefahr »methodischer Engführung« seine Sprache, Bibelübersetzung und Textzitate ist das wird im Anschluss an B. Lonergan die Forderung nach Buch so in der niederländischen Kulturwelt verhaftet, »Konvergenz der Methoden« entgegengesetzt, die gewiss dass es eine höchst riskante Sache scheint, es dem deut- geeignet ist, gewisse Fehlerquellen auszuschalten. Dabei schen Sprachgebiet zugänglich machen zu wollen. So bleibt allerdings fraglich, ob das im Hintergrund dieses muss manchmal in den Fussnoten nachgeholfen werden, informativen Beitrages stehende Problem der »Krise des was bei der einfachen Textübersetzung nicht zu verwirk- Historismus« allein mit einer Methodenreflexion gelöst lichen war. Indessen möchte das Buch dem Leser das werden kann. Neue, Einmalige und Befremdende der Hl. Schrift er- Als konkretisierende und exemplifizierende Beiträge zur schliessen helfen, so dass es sicher über seinen Wert als notwendigerweise theoretisch und abstrakt gehaltenden Zeitdokument hinaus auch noch für unsere Generation Methodenproblematik stellen die Referate von R. Pesch Beachtung verdient. Miskotte will uns die Bibel neu lesen über »Die Überlieferung der Passion Jesu« (S. 148-193) lehren. Nur selten hat die Bibel in Zeiten grosser Rich- und von K. Kertelge (dem auch die instruktive Einfüh- tungskämpfe ihre Aufgabe als Orientierungshilfe erfüllt. rung in den Band zu danken ist) über »Die Überlieferung So will Miskotte die wirksame Selbstunterscheidung des der Wunder Jesu und die Frage nach dem historischen Gottes Israel von allen absolut gedachten Göttern und Jesus« (S. 174-193) wertvolle Ergänzungen des Werkes Götzen herausstellen. Die kritische Kraft einiger bibli- dar. R. Pesch vermag aufzuzeigen, dass die historische scher Grundworte möchte unsere bewusste oder unbe- Rekonstruktion der Passion Jesu nicht nur ein exegetisch wusste Weltanschauung durchdringen, so dass Gott wie- erfolgversprechendes Unternehmen ist, sondern dass sie der Gott sein kann und nicht in unsere selbstgeschaffenen auch Rückschlüsse auf das Selbstverständnis Jesu erlauben Denksysteme eingereiht wird. Wohl darin liegt der blei- müsste. Wenn allerdings abschliessend mit der These des bende Wert dieses anregenden Buches. Nichtexegeten J. Nolte operiert wird, dass die historische D. Kinet, Augsburg Person Jesu das einzige inhaltliche Kriterium für die FRANZ MUSSNER: Theologie der Freiheit nach Pau- Authentizität des Christlichen sei, so meldet sich hier die lus (Quaestiones disputatae 75). Freiburg—Basel—Wien Frage, ob unter diesem Jesus etwa die verborgene dogma- 1976. Verlag Herder. 86 Seiten. tische Setzung eines blossen Menschen gemeint sei. Des- »Das Thema Freiheit ist heute ein Konzentrationspunkt halb ist der Leser hier an die Ausführungen von F. Hahn nicht nur in der sich ständig verschärfenden politischen

86 und ideologischen Auseinandersetzung, sondern auch in ches< Tun befreit . . . nicht vom, vielmehr zum Gehorsam der Theologie und im Leben der Kirche« (Klappentext). gegen Gott«, zu einem Gehorsam des Herzens (49; seine Deshalb wird man Mussner dankbar sein, dieses vieldis- Hervorhebung). »Die Freiheit, zu der Jesus den Men- kutierte und vielumkämpfte Thema der Gegenwart auf schen befreien will, ist die Freiheit der Kinder Gottes« seine biblisch-paulinischen Wurzeln hin untersucht zu (50). Paulus hat Christus vor allem als den grossen haben. Das Büchlein stellt einen Exkurs über die paulini- Befreier verstanden. Das zeigt vor allem der Galater- sche Freiheitstheologie dar und wurde »zur Entlastung« brief (vgl. 5, 1). Grundlegend dafür ist die paulinische seines Kommentars zum Galaterbrief (Herders Theologi- »Einsicht« in die Bedeutung des Todes und der Auferste- scher Kommentar zum Neuen Testament IX, Freiburg hung Jesu für Mensch und Welt. »Der Apostel Paulus hat `1974) »in erweiterter Form gesondert« publiziert (5). Jesu Befreiung des Menschen zur Freiheit der Kinder Deshalb auch die verhältnismässig vielen Verweise auf Gottes zu einem Grundthema seiner Theologie gemacht« diesen Kommentar. Die »Ursprünge« der christlichen (52). Freiheit (9-13) wurzeln in der Rechtfertigung des Men- Ein eigener Abschnitt vergleicht die christliche Freiheit schen und im christlichen Taufgeschehen. Auf den »pro- mit »der jüdischen, griechischen und gnostischen Frei- grammatischen Satz in Gal 5, 1: Zur Freiheit hat uns heitsidee« (53-64). Wenn auch »durch das AT ... ein Christus befreit« (14 f.) folgt ein längerer Abschnitt über frischer Wind der Freiheit im Glauben« (Vriezen) weht, die christliche »Freiheit als eschatologische Befreiung« »ist die Freiheit kein ausdrückliches Thema der alttesta- (16-29). Der Christ ist befreit: »vom Gesetz als Heils- mentlichen Theologie« (53). Nach rabbinischer Ansicht weg; von der Macht der Sünde; vom Tod als eschatologi- ist nur der frei, der sich mit dem Studium der Torah sche Unheilsmacht (und) vom >Elementen<-Dienst«. Des- beschäftigt. Das Gesetz führt seinen Befolger in die halb kann man auch von der »Freiheit als Heilzustand« Freiheit, verkündet die rabbinische Lehre. Nach Paulus sprechen (30 f.). Dieser christliche Heilzustand hat auch kann aber das Gesetz diese Aufgabe nicht erfüllen. Es ist seine entsprechenden »Konsequenzen« (32-43). Er ist nach ihm vielmehr zu einem Todesfaktor geworden. charakterisiert vom Spannungsfeld eines Indikativs und Die griechische Freiheitsidee ist wesentlich gebunden an eines Imperativs (32-36). Die »Macht« des befreiten »Heimat, Polisgemeinschaft, Leben in froher Gelassen- Christen-Menschen besteht darin, »sich frei zwischen heit und Dankespreis auf Gott« (59). Und gerade darin Gut und Böse entscheiden zu können« (33). zeigt sich das Wesen des Menschen an. Dem widerspricht Die christliche Freiheit ist wesentlich Dien-Freiheit und Paulus zwar nicht direkt. Doch ist für ihn »Freiheit« hat mit Zügellosigkeit nicht das geringste zu tun. Sie ist »ein genuin theologisch-heilsgeschichtlicher Begriff« »Freiheit zum Liebesdienst« (36 f.; vgl. Gal 5, 13 b). (vgl. Gal 5, 1: Zur Freiheit hat uns Christus befreit) Dieser Liebesdienst ist in keiner Weise leibfeindlich. Im (59). »Die Befreiung, die Christus brachte, ist in erster Gegenteil. Der Leib ist »ein vorzüglicher Ort, an dem und letzter Hinsicht Befreiung von der Unheilsmacht der sich die Freiheit des Christen zu bewähren hat, was selbst Hamartia . . . Mit Freiheit, zu der Christus befreit hat, unter Schmerzen geschehen kann« (39). Die volle »Frei- öffnet sich grundsätzlich die Heilszukunft, sowohl des heit der Herrlichkeit der Kinder Gottes« (Röm 8, 21) Menschen wie des Kosmos« (59). Wer »ohne Christus« bringt allerdings erst unsere Auferstehung von den Toten lebt, hat »keine Hoffnung« (Eph 2, 12) und deshalb auch mit sich. Die christliche Freiheit entbindet den Menschen keine richtige Freiheit. Weil Christus erst »der Ort ist, an keineswegs von »Existenzangst und Existenzsorge« dem die Macht des Todes schon überwunden ist und (40-42). Beides umfängt die Liebe des Vaters und die einst endgültig überwunden werden wird«, was das Liebe zum Vater. »In der Kindschaft wird die Angst still, Griechentum nicht kennt, gibt es erst mit Christus diese weil in ihr der Vater laut wird« (Niederwimmer) (41). Freiheit (60). Gewiss gehört die Freiheit zum wahren Christliche Sorglosigkeit meint nur Freiheit von angst- Wesen des Menschen. Aber dieses wahre Wesen des Men- voller Sorge. Der Christ ist frei für das »Sich-Sorgen schen ist erst seit Christus erkennbar. füreinander« (1 Kor 12, 25), das heisst konkret, er wird Für den Gnostiker besteht die Freiheit im »Freisein« frei für die Liebe. Deshalb ist er auch frei und offen für vom Weltgesetz, »durch das er in die Materie und in den die »Freimütigkeit« (Parrhesia); die ganz offen redet Kosmos verstrickt ist« (63). »Für Paulus ist Freiheit nicht und nichts zu verschweigen hat; die sich in aller 'Öffent- Freiheit vom Kosmos, sondern Freiheit von der Sünde, lichkeit freimütig bewegt und unerschrocken mit Men- die mit Hilfe des Gesetzes den Menschen den Tod brach- schen, besonders auch Höhergestellten, und mit Gott te, aus dessen Herrschaft ihn Christus mit Seele und Leib verkehrt (42 f.). befreit, aber nicht bloss den Menschen, sondern am Ende Vermutlich gibt es auch noch für die aussermenschliche auch den Kosmos. Davon weiss die Gnosis nichts« (63 f.). Schöpfung, also für den Kosmos, eine »Befreiung« »von Für Paulus kündet sich in der Freiheit, zu der uns der Knechtschaft der Vergänglichkeit«, d. h. von der Christus befreit hat, die absolute Zukunft an, »und dar- durchgehenden Todesverfallenheit, zur »Freiheit, die die um ist diese Zukunft wesentlich Freiheit« (65-73). So ist (kommende) Herrlichkeit (Verherrlichung) der Kinder für Paulus Freiheit ein »heils- und offenbarungsge- Gottes in sich schliesst« (44 ff.; vgl. Röm 8, 19-23). Für schichtlicher Prozess« (65 ff.). Freiheit gehört also zum den Kosmos hat aber die Zukunft noch nicht begonnen. Wesen des Menschseins. Deshalb ist sie auch keine absolu- Sie hat nur im Christenmenschen schon begonnen, besitzt te, sondern nur eine kreatürliche Freiheit. Sie ist eine der doch bereits das Pneuma und darin auch die Freiheit. befreite Freiheit, die man sich nicht selbst erringen, Das »Hoffnungs-Objekt« des Kosmos auf eine kommen- sondern nur schenken lassen kann. Deshalb kennt sie ein de Befreiung und Befreitheit ist wohl schwer, wenn »Woher und ein Wohin« (67-70). »Die Befreiung der überhaupt, näher zu bestimmen. Mussner versucht es auch Freiheit hat einen festgelegten und festlegbaren Anfang, nicht. der ... die freie Gnadentat Gottes in Christus (ist), Weder Paulus noch Johannes haben den christlichen durch die der Prozess der Befreiung der Freiheit radikal Freiheitsbegriff »erfunden«. Die christliche Freiheit und prinzipiell in Gang gesetzt wurde, bis er seine gründet letztendlich in Jesus selbst, in seinem Leben, in eschatologische Vollendung in der absoluten Zukunft seinem Sterben und Auferstehen (47-52). »Jesu >gefährli- Gottes finden wird« (67 f.). Damit ist auch »durch die

87 Befreiungstat Christi für die Welt ein dynamischer Pro- frühe Christentum können wohl kaum überschätzt wer- zess eingeleitet worden, der unaufhaltsam ist und die den. Dabei verdienen aber nicht nur die traditionellen, Geschichte selbst in seine Dynamik hineinreissen will« für die spätere Theologiegeschichte bedeutsamen Themen (68). Bezieht sich doch dieser Befreiungsprozess nach Beachtung, wie sie sich anhand der für dieses paulini- Röm 8 auf die gesamte Schöpfung. Deshalb ist auch die sche Dokument bekannten Begrifflichkeiten (z. B. Zorn, christliche Freiheit wesentlich zukunftsorientiert (70-73). Sünde, Gesetz, Tod u. ä.) aufweisen lassen. Es geht — und An dieser Stelle wäre die schwierige Frage — wenigstens dies wird namentlich für die Zukunft nicht minder von andeutungsweise — einzubringen, wieweit sich alle ge- Wichtigkeit sein — um den sich vollziehenden Prozess der schichtlichen Freiheits- und Befreiungsversuche in diese Bildung von Theologie, wie er sich aus dem literarischen biblisch-christliche Befreiungsdynamik einbringen lassen. Dokument erheben lässt. Es ist unnötig, mit mehr als Mussners diesbezügliche Ansätze (vgl. S. 68-73) schei- einem Wort auf die Bedeutung der Erhebung dieser nen etwas zu dürftig zu sein. Man müsste wohl differen- Vorgänge für das christlich-jüdische Gespräch hinzuwei- zierter den Begriff »Zukunft« unterscheiden in das, was sen. noch der menschlich-geschichtlichen freien Planung und Der Verfasser der vorliegenden Publikation hat sich Verwirklichung dieses Plansolls entspricht, also noch dieser Aufgabe der Erhellung der Bildung paulinischer »wird«, und dem, was jedem Menschen im Moment seines Theologie in Konzentration auf das so wichtige 8. Kapi- Todes, also seines Schlusspunktes der (freien) Geschichts- tel des Römerbriefs gewidmet. Es hat dies in einer Arbeit entwicklung »zukommt«. Letzteres dürfte wohl mit »ab- getan, welche sich vor allem einer subtilen Analyse der soluter Zukunft« auch von Mussner gemeint sein, wenn Formen und Strukturen verpflichtet weiss und so zu er mit Rahner feststellt: »>Absolute Zukunft< ist aber >nur einem durchweg überzeugenden Aufweis der Anteile von ein anderer Name für das, was mit >Gott< eigentlich Überlieferung und Auslegung gelangen kann, soweit dies gemeint ist< (Rahner)« (70). Erste Versuche dazu finden bei Lage der Dinge überhaupt möglich ist, vorab »weil es sich bei Gisbert Greshake und Gerhard Lohfink. 1 — Ohne ins Urchristentum und auch bei Paulus Überlieferung nur ein Neuüberdenken der christlich-biblischen Eschatologie in der Auslegung und nicht trennbar von der Auslegung wird man wohl auch den biblisch-christlichen Freiheits- gibt«, wie der Autor klar formuliert (S. 4). begriff nicht ganz heben können, zumal was die Proble- Zu den wichtigen Ergebnissen dieser Untersuchung gehö- matik von »Zukunft und Freiheit« betrifft. ren die Feststellungen: »Die christliche Überlieferung Mit seinen zwei letzten Abschnitten: »X. Lehrfreiheit?« wird von Paulus ausgelegt, geprüft und kritisch rezi- (74-78) und »XI. Christliche Freiheit und kirchliche piert«; und weiterhin »Überlieferung ist kritischer Anlass Einheit« (79-82) und einen Literaturhinweis (in Auswahl) und Innovationsprinzip. Überlieferung ist kritisch über- (83) beschliesst Mussner seine lesenswerten Ausführun- wundene Vergangenheit« (183). Der Verfasser konstatiert gen. eine »freie, weithin kritische Haltung des Paulus gegen- Man wird Mussner unbedingt zustimmen können, wenn über der Überlieferung« und eine kritische Interpreta- er feststellt, dass es »gegenüber dem Ur-Credo ... von 1 tion der Überlieferung in der Auslegung (184). Damit Kor 15,3-5 ... nach dem Apostel keine >Lehrfreiheit< zeigt sich wiederum an, worin im Grunde eine der (gibt), vielmehr ist das Credo die bleibende norma nor- Vorbildhaftigkeiten paulinischen Theologisierens beste- mans des Glaubens, die keine x-beliebige Auslegung der hen könnte (und eigentlich müsste): in der Befreiung zu Glaubensüberlieferung zulässt« (77). Die in dieser Ur- einem ähnlichen Glaubensdenken. Den Mut dazu müsste Credo-Formel mitenthaltene Osterproblematik ist damit das paulinische Vorbild schaffen, oder, anders gesagt, es aber noch lange nicht eindeutig gehoben. Sie wird sich müsste stark genug sein, um die Furcht davor bannen zu wohl noch längere Zeit hindurch einer Interpretations- helfen. Der Verfasser der vorliegenden Arbeit hat dazu freiheit erfreuen müssen. Wenn die christliche Freiheit jedenfalls einen über viele interessante Einzelaspekte und ausschliesslich durch »die Wahrheit des Evangeliums« -analysen hinausreichenden und überaus dankenswerten, gegeben ist, sieht man wohl auch ein, dass diese christli- gründlichen wissenschaftlichen Beitrag geleistet, dessen che Freiheit der kirchlichen Einheit zu dienen hat. Bedeutung für die Theologie überhaupt erst noch ent- Augenblicklich scheinen sich ja alle Bestrebungen gegen sprechend zu würdigen wäre. diese kirchliche Einheit um das Thema »Papsttum und Der Autor hat sich — unseres Erachtens in gut gewählter Petrusdienst« (80) zu drehen. Eine Synthese von Petrus- Ausgewogenheit — auch verschiedener Hilfen bedient, dienst und Papsttum scheint für alle christlichen Kirchen wie sie durch eine moderne Literaturwissenschaft ange- möglich zu sein, wenn von allen »Seiten gehorsam auf die boten werden. Einseitigkeiten, die in diesen Bereichen Stimme der Schrift gehört wird und in diesem Hören bei gar nicht selten anzutreffen sind, vermochte er zu ver- allen Kirchen zugleich das Prinzip der christlichen Frei- meiden. All das spricht weiter für die Solidität seiner heit zur Geltung kommt« (81). Denn »ohne Verwirkli- Arbeitsergebnisse, aber auch für den Anspruch, den diese chung der christlichen Freiheit (gibt es) keine kirchliche zu erheben vermögen. Einheit!« (82). Johannes Riedl, Wien und Mödling Wenn er sich, was ebenfalls grundsätzlich anerkennens- Gisbert Greshake, Auferstehung der Toten. Ein Beitrag zur ge- wert ist, auf moderne Vertreter bestimmter Wissenschaf- genwärtigen theologischen Diskussion über die Zukunft der Ge- ten wie z. B. Th. Adorno beruft, so sei, um möglichen schichte. Essen, Ludgerus-Verlag 1969 (----- Koinonia-Beiträge zur Einwänden im vorhinein zu begegnen, lediglich ange- ökumenischen Spiritualität der Theologie Bd. 10) und Gisbert Gres- merkt, dass das Anliegen unseres Verfassers, seine Ergeb- hake / Gerhard Lohfink, Naherwartung, Auferstehung, Unsterb- lichkeit. Untersuchungen zur christlichen Eschatologie. Herder, Frei- nisse und die von ihm aufgewiesenen Tendenzen des burg—Basel—Wien 1975 Quaest. Disput. 71). paulinischen Verfahrens auch von anderer Seite eine sehr weitreichende, äusserst interessante und, wie uns scheint, HENNING PAULSEN: Überlieferung und Auslegung recht unbezweifelbare Unterstützung und Erhellung er- in Römer 8 (Wissenschaftliche Monographien zum Alten fahren können: Wir verweisen lediglich auf das in diesem und Neuen Testament, Band 43). Neukirchen-Vluyn Zusammenhang sich nahelegende Werk von 0. Nahodil, 1974. Neukirchener Verlag. 276 Seiten. Menschliche Kultur und Tradition. Kulturanthropologi- Zentralität und Programmatik des Römerbriefs für das sche Orientierungen, Aschaffenburg 1971. 0. K.

88 WERNER SCHATZ: Genesis 14. Europäische Hochschul- wendig ist, für Gn 14 eine ausserbiblische Quelle anzu- schriften, Reihe XXIII Theologie, Bd. 2. Bern/Frankfurt nehmen, dass dieses Kapitel »trotz seiner Eigenarten als 1972. Verlag Herbert Lang. 384 Seiten. Werk alttestamentlicher Tradition verstanden werden Diese Arbeit wurde zunächst von Prof. W. Baumgartner, kann« (7). Gn 14 kann zwar weder teilweise noch ganz Basel, und später von Prof. R. Martin-Achard, Genf, be- einer der traditionellen »Quellen« des Pentateuch: J, E, treut. Dtn, P zugewiesen werden. Dennoch lässt der Verf. an Ein überblick über die Meinungen zu Gn 14 eröffnet die der Entstehung dieses Kapitels den jahwistischen, deute- ronomistischen und priesterschriftlichen »Traditionskreis« Untersuchung (13 - 62) und zeigt überdeutlich »die ganze Unsicherheit, die über Herkunft und Art von Gn 14 herr- sowie spätjüdische Einflüsse beteiligt sein. schen« (49). Ein zweiter Teil (63-80) diskutiert minutiös Die Arbeit bietet zu den einzelnen Stichworten, die aus die textkritischen Fragen, auch jene, die für das Verständ- Gn 14 entnommen werden können, eine reiche Informa- nis kaum von Bedeutung sein können. Im sehr kurzen tion über die verschiedenen Gesichtspunkte, die im Laufe dritten Kapitel (81-84), der Literarkritik gewidmet, rech- der Auslegungsgeschichte vorgebracht worden sind, ins- net der Verfasser mit der Möglichkeit einiger Glossen und besondere auch über das historische Material, das hierzu hält es für wahrscheinlich, dass die Szene zwischen Abra- beigebracht wurde. Die einzelnen Kapitel, und innerhalb der Kapitel die verschiedenen Darlegungen zu einzelnen ham und Melchisedek VV 18 - 20 ein Einschub ist. Im 4. Kapitel (85-167) wird zusammengetragen und diskutiert, Punkten, stehen jedoch recht unverbunden nebeneinander. was über die erwähnten Völker und Einzelpersonen, im Die vorgetragenen Gesichtspunkte sind weder ausgewählt 5. Kapitel (168-206), was über die erwähnten Städte und noch ausgerichtet auf die Frage nach dem Gesamtver- Orte historisch auszumachen ist bzw. was bisher hierüber ständnis von Gn 14, so dass die Arbeit über grosse Strecken an Meinungen geäussert worden ist. Trotz des grossen den Eindruck einer Sammlung von Exkursen oder gar Umfangs dieser beiden Abschnitte ist »das Resultat ... in von Lexikonartikeln macht. Sie informiert also recht aus- gewissem Sinn enttäuschend«. Die genannten Personen führlich über viele Fragen, die sich aus dem Text von und Völker können, von Abraham und Melchisedek ab- Gn 14 stellen lassen, trägt aber zur Lösung des Problems, gesehen, nicht mit historischen Personen und Völkern iden- das Gn 14 stellt, kaum neue Gesichtspunkte bei. tifiziert werden (315). Wenn auch die geographischen An- Rudolf Mosis, Eichstätt gaben »zum guten Teil als den Gegebenheiten entspre- KARL HERMANN SCHELKLE: Theologie des Neuen chend angesehen werden« können (317), trägt diese Fest- Testaments. Band IV/1: Vollendung von Schöpfung und stellung für die Beurteilung und das Verständnis von Erlösung. Düsseldorf 1974. Patmos-Verlag. 124 Seiten. Gn 14 nicht viel aus. — Das sechste Kapitel (207 - 240) In der (inzwischen vollständig vorliegenden) »Theologie referiert und diskutiert, was über Herkunft und Bedeu- des Neuen Testaments« hat sich der bekannte Tübinger tung der Gottesbezeichnungen in Gn 14 zu sagen ist. Auch Altmeister der neutestamentlichen Exegese einer grossen dieses religionsgeschichtliche Kapitel kann das Problem, Aufgabe gestellt, die er in vielfältigster Hinsicht bewun- »ob es sich bei Gn 14 um ein junges Machwerk (Midrasch), derungswürdig durchzuführen verstand. Niemand hätte um einen alten Bericht oder ein altes Dokument, das spä- es dem Verfasser verübeln können, wenn er es sich — nach- ter überarbeitet worden ist, oder um eine Arbeit alttesta- gerade in den schwierigen Fragen der Eschatologie — es mentlicher Tradition handelt«, einer Lösung nicht näher- mit der Beantwortung einfacher gemacht hätte. Das aber bringen (235). — Das 7. Kapitel (241-262) untersucht den hat er nicht getan und somit gezeigt, was eine sich Wortschatz, um vielleicht auf diesem Wege Gn 14 in eine unserer Zeit verpflichtet wissende neutestamentliche der traditionellen Pentateuchschichten einzuordnen, Da Theologie alles zu bewältigen vermag. nur geringe Verbindungen zum Wortschatz von J, E oder Die rund 100 Numern, welche die Einteilung des In- P festzustellen sind, schliesst der Verf. wie viele vor ihm, halts des umfangmässig knapp bemessenen Bandes ein- dass das Kapitel nicht einer der bekannten Quellen des drucksvoll repräsentieren, lassen bereits erkennen, dass Pentateuch zugewiesen werden kann. Zwar weisen viele der Verfasser sich den zahlreichen Details einer »Eschato- Namen und seltene Wörter auf »ältere Elemente oder gar logie« stellt. Er tut dies in doppelter Weise dadurch, dass ausseralttestamentliche Tradition(en) hin« (319), es ist er einerseits alle für die Eschatologie leitenden Begriffe jedoch unmöglich, »das Kapitel einer bestimmten fremden aufnimmt und auf der anderen Seite diese nach den für Quelle zuzuschreiben« (319). — Zu ähnlich vagen Ergeb- sie wichtigen Grössen (Personen, Schriften, literarischen nissen führt die Untersuchung der Traditionsgeschichte Einzelstücken bzw. -stellen usw.) befragt, diese anführt (Kapitel VIII, 263-290) und des Stils (Kapitel IX, und im einzelnen — soweit eben in der gebotenen Kürze 291-324). »Die komplizierte Überlieferungsgeschichte von möglich — untersucht. So entsteht ein ausgezeichnetes Gn 14 ist nicht mehr aufzuhellen« (321). Dennoch glaubt »Geflecht«, welches es dem Verfasser ermöglicht, ein fast der Verf. einzelne Traditionsschichten und -stufen un- unüberschaubares Material in klarer Gliederung fassbar terscheiden zu können und wagt hier Aussagen, die nach zu machen. Unnötig zu sagen, dass so natürlich auch die dem Vorausgehenden erstaunlich präzis, wohl zu präzis Reichhaltigkeit und zugleich die Verschiedenartigkeit des sind. Die Grundlage des Kapitels nimmt der Verf. in Vorstellungs- und Ausdrucksmaterials im Bereich von VV 13-16/17 und 21-24 wie 18-20 an und datiert diese »Eschatologie« für das NT (und darüber hinaus) ein- Grundlage ins 10. Jh. (320). Diese Grundlage soll dann drucksvoll präsentiert zu werden vermag. Das wird be- verschiedene Überarbeitungen erfahren haben, zunächst sonders jeder aus denen zu schätzen wissen, die in den eine deuteronomistische, sodann eine priesterschriftliche, verschiedenen Arten der Verkündigungsarbeit sich mit und soll auch noch spätjüdische Elemente in sich aufge- einer Darbietung jener Vielfalt und den daraus erwach- nommen haben. Das Interesse und die Beweggründe für senden Problemen zu beschäftigen haben. die jeweilige Überarbeitung bleiben allerdings im dun- Einer eigenen Erwähnung wert ist auch die in einer keln. — Ein letzter Abschnitt (Kapitel X, 309 - 324) wie- ansprechenden Ausgeglichenheit vorgelegte Literaturaus- derholt die Zusammenfassungen, die am Schluss der je- wahl. Sie berücksichtigt die Thematik jeweils möglichst weiligen Kapitel gegeben wurden. — vielseitig, somit nicht nur unter exegetischen, sondern Als Ergebnis stellt der Verf. heraus, dass es nicht not- auch unter neueren theologischen Gesichtspunkten und

89 entspricht so wiederum bestens der umsichtigen Behand- noch in der »Weisheit« je für sich allein ihre Herkunft lung der Fragen durch den Verfasser, der sich ja auch mit und geistige Heimat hat, sondern in jenem Weltordnungs- Auskünften auf einer einzigen Ebene erfreulicherweise denken, das in Recht und Weisheit und eben auch im nicht zufrieden gibt. 0. K. Amosbuch auf je verschiedene Weise zur Sprache kommt

(5. Beitrag, 121 - 144). HANS HEINRICH SCHMID: Altorientalische Welt in Der letzte Beitrag, dessen Titel zugleich den Titel des der alttestamentlichen Theologie. Zürich 1974. Theolo- ganzen Bandes abgibt (145 - 164), setzt die vorgetragene gischer Verlag. 166 Seiten. Auffassung des Alten Testaments mit eher systematisch- Der Verfasser legt hier eine Sammlung von sechs Auf- theologischen Fragen in Beziehung. Hier wird deutlich, sätzen bzw. Vorträgen vor, darunter zwei, die schon an- dass die vorgelegten Arbeiten als ein exegetischer Beitrag derwärts veröffentlicht wurden. Alle Beiträge des Sam- zur Überwindung der (frühen) dialektischen Theologie melbandes wollen zeigen, dass den allgemein orientalischen verstanden sein wollen, von der z. B. auch Gerhard von Formen der Welterfahrung eine grössere und positivere Rad weithin beeinflusst war. Bedeutung für das AT zukommt, als das bisweilen ange- Die literarische Art von »Vorträgen« bringt es mit sich, nommen wird und insbesondere, dass »Welt und Welt- dass nicht alles, was in diesem Buch gesagt wird, in glei- erfahrung im biblischen Glauben eine sehr viel fundamen- chem Masse abgesichert ist. Die Stossrichtung gegen eine talere Rolle spielen, als dies im allgemeinen zugestanden weithin etablierte Auffassung der atl. Theologie führt wird« (7). Dabei ist es das Anliegen des Verf., die dazu, dass bisweilen eine gewisse Ausgewogenheit vermisst exegetischen Ergebnisse für die systematisch-theologische werden könnte. Insbesondere müsste die Gebrochenheit Reflexion fruchtbar werden zu lassen. des Verhältnisses von (idealer) Weltordnung und fakti- Der erste Beitrag »Schöpfung, Gerechtigkeit und Heil« schem Dasein, die der Verf. gelegentlich deutlich anmerkt (9-30) versucht, die Schöpfungstheologie »als den Gesamt- (z. B. 117 f.; 152 f.), bei der grundsätzlichen Verhältnis- horizont biblischer Theologie überhaupt zu erweisen« (9). bestimmung von Welterfahrung und Offenbarung aus- Überzeugend weist der Verf. nach, dass die chronolo- drücklich mitbedacht werden. Dringlicher noch wäre, dass gisch späte Ausarbeitung des Schöpfungsthemas nicht den eine weitere Linie ausgezogen würde, die der Verf. allen- Schluss zulässt, der »Schöpfungsglaube« sei im AT auch falls andeutet: Nicht nur wird das allgemeine Wissen zum theologisch sekundär. Er erinnert zunächst daran, dass Träger der »speziellen Offenbarung« (142), so dass ledig- der »Schöpfungsglaube« im Alten Orient nicht primär lich eine ohnehin stattfindende »Welterfahrung« (man von einer einstigen, vergangenen Weltentstehung redet, würde vielleicht besser von Seinserfahrung und von On- sondern im Begriff Schöpfung »die kosmische, die politi- tologie sprechen) mit Glaube und Offenbarung zu einer sche und die soziale Ordnung ihre Einheit« finden: »Recht, Einheit würde, sondern die spezielle Glaubenserfahrung Natur und Politik sind nur Aspekte der einen, umfassen- Israels verändert und verwandelt die Welterfahrung im den Weltordnung« (12). —Er zeigt sodann in einem kurzen ganzen und von innen her und erschliesst der Welterfah- Durchgang durch wichtige alttestamentliche literarische rung, das heisst der Vernunft, ganze Bereiche, zu denen Komplexe und theologische Themen, dass dies auch für »Vernunft« und Welterfahrung ohne Glaube und Offen- das AT zutrifft. Entsprechend erhält auch die »Weisheit« barung keinen Zugang finden kann (angedeutet etwa 162: innerhalb der alttestamentlichen Theologie einen theolo- Erweiterung des empirischen Materials durch die Aufar- gisch legitimen Ort. »Die Vorstellung einer umfassenden beitung der biblischen Erfahrungs- und Integrationspro- Weltordnung und mithin der Schöpfungsglaube im wei- zesse; vgl. auch, was 163 f. über die Nichtidentifizierbar- teren Sinn des Wortes« ist somit für den Verf. »der be- keit von heiler Welt und faktischer Wirklichkeit und herrschende Hintergrund des alttestamentlichen Denkens insbesondere über die Erkenntnis dieser Unmöglichkeit und Glaubens« (21). vom Gottesglauben her gesagt wird). Ähnlich versucht der zweite, ebenfalls grundlegende und Jedoch weiss der Verf. selbst um gewisse Einseitigkeiten. allgemeine Beitrag (31-63) nachzuweisen, »dass das alt- Er sagt, »dass ich da und dort bewusst einseitig akzen- orientalische Weltordnungsdenken ... das alttestament- tuiere« und bittet »die Kritiker, dafür Verständnis zu liche Denken weit stärker geprägt hat, als dies im all- haben« (7). Es wäre darum sehr schade, wenn die genann- gemeinen angenommen wird« (31), wobei dies gerade ten Mängel zum Anlass genommen würden, aus eingefah- auch für die prophetischen und geschichtlichen Überliefe- renen und fixierten theologischen Positionen heraus das rungen des AT gilt (vgl. 31). Damit stellt sich der Verf. Buch und sein Anliegen ins Abseits zu drängen. Eine gegen ein Bild der Religionsgeschichte Israels, wie es vor Theologie, für die das m. E. weithin richtig aufgezeigte allem durch Gerhard von Rad entworfen und zur Geltung Verhältnis von alttestamentlicher Welterfahrung und alt- gebracht wurde (vgl. z. B. 59, 61). testamentlichem Gottesglauben zum Massstab des eigenen Diese grundlegende Sicht des alttestamentlichen theolo- theologischen Bemühens würde, könnte wieder frei wer- gischen Denkens wird in drei weiteren Beiträgen an ein- den dazu, ihre Sache im Zusammenhang mit heutiger zelnen Fragekomplexen verdeutlicht und erprobt: Alt- Welterfahrung und verständlich für diese zur Sprache zu orientalisch-alttestamentliche Weisheit und damit Welt- bringen, ohne sich in heutige Welterfahrung oder gar in erfahrung und »Schöpfungstheologie« als Verstehensho- heutige Weltveränderungsprogramme aufzulösen. Eine rizont von Geschichte in der Weisheitsliteratur, aber auch solche Theologie vermöchte auch bestimmte, schon lange in prophetischen und »historischen« Texten (3. Beitrag, vorgetragene und bekannte Positionen der katholischen 64-90); das »heilsgeschichtliche« Ereignis des Heiligen Theologie und mancher jüdischer Denker hinsichtlich des Krieges als Durchsetzung des »Gottesfriedens« und der Verhältnisses von »Vernunft« und »Glaube« wieder bes- gerechten und heilen Weltordnung, zugleich damit aber ser zu verstehen. Schöpfungstheologie in einem weiteren Sinn als der grosse Die von H. H. Schmid entworfene und begründete Sicht theologische Kontext, in dem die Deutekategorie Heiliger der atl. Theologie ist somit von eminent »missionarischer« Krieg ihren Ort hat — auch hier wieder in Gegenstellung und zugleich »ökumenischer« Bedeutung, dieser Sammel- zu Gerhard von Rad (4. Beitrag, 91-120); die Verkündi- band ein sehr anregendes und provozierendes, vielleicht gung des Propheten Amos, die weder im »Bundesrecht« sogar ein notwendiges Buch. Rudolf Mosis, Eichstätt

90 CHRISTIAN SCHÜTZ: Verborgenheit Gottes. Martin lich auch in verschiedenen Weisen rezipiert und (wieder- Bubers Werk — Eine Gesamtdarstellung. Zürich 1975. um) wissenschaftlich angegangen werden (wobei mir Verlag Benziger. 493 Seiten. selbst nicht jeder Modus gleichermassen geeignet, zur Be- WILHELM MAAS: Unveränderlichkeit Gottes. Zum Ver- wältigung jeder Aufgabe ebenso verwendungsfähig, zur hältnis von griechisch-philosophischer und christlicher Got- Darstellung bestimmter Sachverhalte genauso gültig er- teslehre. Paderborn 1974. Verlag Schöningh. 211 Seiten. scheinen wird als eben ein anderer. Nur: »falsch« ist hier JOSEF HOCHSTAFFL: Negative Theologie. Ein Ver- noch lange nicht alles, was in dieser oder jener Hinsicht such zur Vermittlung des patristischen Begriffs. München als nicht hinreichend erscheinen kann). Schliesslich: wenn 1976. Kösel-Verlag. 272 Seiten. seitens des Verfassers — unter Berufung auf H. U. v. Man wird, bei aller angesichts eines so vielschichtigen und Balthasar — »auf gewisse praktische Inkonsequenzen, weitgreifenden Werkes von wahrhaft säkularer Gestalt, die sich mit dem Tenor theoretischer Überlegungen nicht wie es das von Martin Buber nun einmal darstellt, ge- decken, aufmerksam gemacht« wird (S. 436), so wird botenen Zurückhaltung nach einer eingehenden Lektüre wohl dem Verfasser wie dem genannten theologischen der umfangreichen Untersuchung von C. Schütz dem Ur- Lehrer, den ich sehr wohl zu schätzen weiss, klar sein, teil von E. Biser zustimmen dürfen, demzufolge »die von dass hier die schwerere Hypothek auf seiten des Chri- Schütz vorgelegte Studie als die umfassendste, verläss- stentums lastet: übrigens sehr ähnlich der Problematik lichste und eindringlichste Darstellung der Buberschen der »Geschichtslosigkeit« – könnte man doch im Raum Gedankenwelt« gelten darf, die uns bislang zur Ver- des Christentums äusserst beruhigt sein, wäre die dort fügung steht. — Wenn mir hier ein Wort sehr hohen Lobes immer noch so vielfältig nachwirkende »Geschichtslosig- und ebensolcher Anerkennung als geradezu dringlich ge- keit« nur in dem von Schütz bei Buber angezeigten Sinn boten erscheint, dann geschieht dies freilich unter der problematisch! — Diese Hinweise mit etwas kritischem bewussten Voraussetzung, dass ein Werk – und erst Frageeinschlag ändern nichts an dem, was schon zu Ein- recht ein Lebenswerk und dazu eines von säkularer Be- gang über dieses weittragende Werk der Buber-Darstel- deutsamkeit — wohl stets »systematisiert« wird und dies lung und Buber-Interpretation geäussert wurde. Der wahrscheinlich auch werden muss, soll es unter einer lei- Dank an den Autor soll auch am Ende noch einmal her- tenden Titulatur vorgestellt werden. Dass diese leitende vortreten! Titulatur hier als »Verborgenheit Gottes« deklariert Die soeben (wieder einmal) aufgeworfene »Geschicht- wird, ist eine Entscheidung, die, nach strenger Massgabe lichkeitsfrage« ist denn auch ein Kernstück der Verhand- für eine geisteswissenschaftliche Darstellung und Inter- lung — und wohl noch mehr des Hintergrundes — pretation, sinnvoll ausweisbar und belegbar sein muss: einer tiefen Problematik, mit der sich ein anderes aus- und zwar aus dem Werk dessen, um den es dabei geht — gezeichnetes Werk beschäftigt: W. Maas mit seiner Mono- als Denker und Autor. Es kann nicht weniger, es darf graphie »Unveränderlichkeit Gottes«. Neben zahlreichen füglicherweise aber auch nicht mehr verlangt werden. anderen Ergebnissen, welche diese Studie zu zeitigen ver- Der Verfasser der vorliegenden Studie genügt diesem mag (und die ein Rezensent nicht in ein Werte-Schema Anspruch in denkbar guter (und zuweilen vielleicht theologischer Bedeutsamkeit einzuordnen hat), scheint sogar bester) Weise: mehr lässt sich kaum sagen, aber mir besonders wichtig, dass Maas auf einem methodisch das darf und muss gesagt werden. Dass damit auch Gren- klaren Weg zur Erhellung der Zusammenhänge gelangt, zen angezeigt sind — offene Grenzen selbstverständlich welche für das in der Neuzeit unserer Geschichte (und –, das wird dem Verfasser, über dessen einfühlsame gerade jener der Theologie) so folgenreiche Verständnis Intensität angesichts eines schier unüberschaubar weiten eines »unveränderlichen« Gottes von der Geschichte der Lebenswerks man nur staunen kann, selbst gewiss und antiken Philosophie her leitend waren und (weithin noch) deutlich genug vor Augen stehen, so dass er Hinweise von sind. Dabei kann er aufweisen, dass nicht die ständig be- anderer (wie z. B. unserer) Seite wohl nicht benötigt. mühten Stellen der Heiligen Schriften des Alten und Gemessen an der in der Darstellung erreichten Höhe der Neuen Testaments (Exodus 3, 14; Psalm 102, 28; Mala- Studie wird man m. E. im VI. Teil (»Kritische Rechen- chia 3, 6; Jakobus 1, 17) es sind, welche ein ganz be- schaft«, S. 393 f.) des Unternehmens mindestens zuwei- stimmtes Verständnis der Unveränderlichkeit Gottes ver- len die Notwendigkeit eines kritischen Dialogs mit dem langen und deshalb in der abendländischen Theologie- Verfasser in einer greifbaren Nähe sehen: konsequent geschichte durchsetzen, sondern dass es letztlich griechisch- bezieht sich (nach meiner Auffassung) dieser Dialog nicht philosophische Spekulation über die Natur des Kosmos auf die sich ausweisende Darlegung Bubers (hier gilt, ist, welche mit Hilfe von Mathematik und Geometrie zu was oben gesagt wurde, weiterhin uneingeschränkt), son- einer »Lehre« und einem Verständnis des Kosmos ge- dern auf manche der kritischen Gegenansätze bzw. -fra- langt, die dann in der konsequenten Folge eine dement- gen, die der Verfasser an die Adresse des Werkes von sprechende Gotteslehre geradezu herbeizwingen. Jedoch Buber richtet. Manches »erledigt« sich denn auch im ist, wie die Darlegung von Maas überzeugend aufweist, Grunde und bei Licht besehen durch die gute Dialog- das nur ein Teil des Problems. Das eigentlich Problema- rührung des Verfassers wie von selbst (vgl. die Diskus- tische ist das konsequente Weitertreiben des Unveränder- sion um die »Geschichtslosigkeit«, S. 409 ff.) oder durch lichkeitsdenkens auf Glauben, Dogma und Kirche hin Klärungen, die schon in den vorausgehenden Teilen ge- (dazu besonders S. 189 ff.). Und gerade eben folgenschwer geben wurden. Selbstverständlich kann man an den Kon- wird, dass die Ausgangskonstellationen, deren Bedeutung zepten und den Gedankenführungen selbst des grössten rasch zunahm — verständlicherweise, denn sie waren Denkers »Korrekturen« anbringen: den seitens des Ver- und sind zunächst einmal Aufgabenstellungen — nicht fassers zuweilen im Blick auf die Entwürfe Bubers ge- mehr als das erkannt werden, dass sie nicht mehr als das brauchten Ausdruck »Fehler« würde ich allerdings nicht kenntlich gemacht zu werden vermögen, was sie ur- für entsprechend halten. So ist z. B. »Geschichtlichkeit« sprünglich einmal waren: sie wandern als »feste Be- — wie dies moderne Erkenntnisse zur Genüge deutlich standteile« in die Traditionsbildung ein, und nur zu bald werden lassen — nicht nur nach Begriff und Sache eine wird man gar nicht mehr wissen, wie und in welcher äusserst vielschichtige Angelegenheit; sie kann offensicht- Weise sie eigentlich als »relativ« zu gelten haben müss-

91 ten: ein Absehen von ihnen wird zum Problem der Auf- wird. Schliesslich sei auf die hohe Bedeutung hingewie- gabe »wesentlich« christlicher Elemente, wie man meint. sen, welche der dem Verfasser zu dankenden Erörterung — Maas ist es in einem hohen Grad gelungen, in einer um die »Denkformen« zugesprochen werden muss. Auch auch sprachlich sehr ansprechenden Weise diese Proble- damit tut sich eine Tür auf — nicht nur für diese, son- matik von ihren Gründen her freizulegen. Wieder ein- dern für jede Theologie, die das Angebot zu nutzen weiss. mal zeigt sich der heilvoll-unheilvolle Zusammenhang O. K. von Theorie und Praxis, wie der Verfasser ihn zu ent- hüllen vermag. Im Blick auf die Lösungsvorschläge möch- PAUL WINTER: On the Trial of Jesus. Second Edition. ten wir besonders die vom Verfasser ins Auge gefassten Revised and edited by T. A. Burkill and Geza Vermes" -. Konsequenzen für Glaube, Dogma und Kirche unter- Studia Judaica. Forschungen zur Wissenschaft des Juden- stützt wissen. tums. Hrsg. von E. L. Ehrlich. Band I. Berlin 1974. Ver- Von einer weiteren Seite wächst uns für eine verantwor- lag Walter de Gruyter. XXIII und 225 Seiten. tungsbewusste theologische Arbeit in der Frage nach Paul Winters Buch über den Prozess Jesu braucht, da es »Gott« eine sehr begrüssenswerte Hilfe zu — durch das sich längst selbst empfohlen hat, nicht mehr angepriesen Werk von J. Hochstaffl, überschrieben »Negative Theo- zu werden. Fachleute und Kenner besitzen entweder das logie«. Dass der Patristik schon immer eine bedeutende Werk oder aber sie vermissten es schmerzlich und be- Rolle in der Theologie zukam, ist absolut nichts Neues. dauerten, dass es nicht mehr zu kaufen war. Denn es ge- Die Frage war nur, worin diese Rolle bestand, wofür die hört, wie etwa Leo Baecks Büchlein über die Pharisäer, Patristik eingesetzt oder doch bemüht wurde. Für unse- zur Grundausstattung auf den Studiertisch zumindest all derer, die von Berufs wegen über die Zeit des Zweiten ren Autor darf man diese Frage mit freudiger Entschie- Tempels und über einen weltgeschichtlich bedeutsam ge- denheit äusserst positiv beantworten: er zeigt, dass die wordenen Zwischenfall dieser Epoche zu lehren haben theologisch als »gross« zu bezeichnende Zeit des frühen und dies nicht aus Vorurteil und Phantasie im Ammen- Christentums uns in unserem Bemühen um Glauben und märchenstile, sondern geschichtsgemäss und verantwort- Theologie eine unmittelbare und durchaus sehr kritisch lich tun wollen. Aus den Erzählungen über den Prozess einsetzbare und verwendbare Hilfe — und eigentlich Jesu wurde Gift gesogen und schon in junge Menschen noch mehr als nur das — zu bieten vermag, wenn wir nur geträufelt, die, geblendet und betäubt, unfähig wurden in der Lage sind, aus dem sich findenden Material, aus zum rechten Sehen, Hören, Lesen, Reden, Verhalten, den Fragestellungen und Antwortversuchen das Entspre- dann die Juden hassten und verfolgten und damit eigent- chende — und nicht etwas anderes — ans Licht zu lich aufhörten, Christen zu sein. Wer an dieser für das heben. Es nützte wenig, wenn der wirkliche Wert des christlich-jüdische Verhältnis wohl entscheidendsten theologischen Bemühens jener frühen Zeit den Fachleu- Stelle nach-, auf-, umarbeiten will, um gegenwärtig und ten allein bekannt und somit ihnen (weiterhin) vorbe- zukünftig richtiger als früher zu denken, zu reden und zu halten bliebe, während schon eine breitere theologische handeln, der kann »am Winter« nicht vorübergehen. Öffentlichkeit unserer Tage neben einer Anzahl dürrer Für viele ist es darum eine gute Nachricht, dass dieses un- Zahlen und Fakten nur im Stil hergebrachter Florilegia- entbehrliche Standardwerk jetzt wieder zu haben ist. Der litäten um »die Väter« wüsste: die Väter als Zeugen für Text wurde von den Herausgebern in der Neuauflage allerlei Spekulationen, für Vorstellungen, zu denen uns gelegentlich verbessert; sie fügten auch besonders gekenn- so ziemlich jeder Zugang fehlt, als Zeugen für diesen zeichnete Anmerkungen zu, arbeiteten vor allem Bemer- oder jenen später definierten Glaubenssatz und so wei- kungen ein, die der inzwischen verstorbene Paul Winter ter — von anderem, auch im Blick auf das geschichtliche noch für die zweite Auflage vorbereitet hatte. Eine bio- Auseinander von Christentum und Judentum, gar nicht graphische Bemerkung über den Verfasser, eine Liste sei- erst zu reden. Es könnte sein, dass eine neue Beschäfti- ner wichtigsten Veröffentlichungen, eine weitere mit den gung mit der frühen christlichen Theologie diese in einem wichtigsten Besprechungen der ersten Auflage, eine Biblio- anderen Licht erscheinen liesse, als es das bislang der Fall graphie zum Thema und ein Index zum Buch sind dies- war. Hochstaffl hat dazu — freilich neben und mit an- mal gewinnbringenderweise dazugekommen. deren, die hier zu nennen wären — einen denkbar guten Wie die Wissenschaft des Judentums im ganzen im deut- Beitrag geleistet. — Als besonders tragfähig erscheint uns schen Sprachbereich ihren bedeutsamen Anfang nahm, die von ihm erhobene und sehr gut ausgewiesene via aber mitsamt ihren Vertretern, die sich vor ihren Verfol- negativa, die sich in dreifacher Weise (als Grundmoment, gern und Mördern retten konnten, in den englischen und Vermittlungsmoment und Affirmationsmoment) expli- hebräischen Sprachraum auswanderte, so floh der deutsch- ziert und somit anzeigt bzw. ermöglicht, dass Negation sprachige Paul Winter auf abenteuerlichen Wegen aus der eben nicht nur einfach Negation (»und sonst gar nichts«) Tschechei über Ungarn, das damals sogenannte Palästina zu sein braucht. Die Affirmation, »die eben nur im Ver- und Nordafrika nach England, wo er durch Handarbeit weis angezielt werden kann«: genau das scheint uns die seinen Lebensunterhalt verdienen musste, um wissen- Situation zu erfordern — nicht mehr und nicht weniger. schaftlich arbeiten zu können. Zwei Jahrzehnte lang wid- Ebenso wichtig scheint uns, dass der Verfasser »die Be- mete er sich dem Neuen Testament, hauptsächlich den griffsgeschichte negativer Theologie als eine Reihenfolge Passionsberichten: aus tiefer Ehrfurcht vor der Gestalt relativer Transzendenzen von Verständnissen absoluter Jesu, seines grossen leidenden Bruders und aus schwerer Transzendenz« zu fassen und zu verstehen vermag: denn Erschütterung über das grandiose Missverständnis seines darin offenbart sich unseres Erachtens die entscheidende Leidens und dessen schreckliche Folgen. Von daher ist es Möglichkeit, den geschichtlichen Ablauf des theologischen wohl zu verstehen, dass er sich der deutschen Sprache Bemühens in seiner Verschiedenheit und in seiner Ganz- verweigerte und sein Buch in Englisch erschien. Es ist den heit so zu respektieren — und zwar in allen je möglichen Toten von Auschwitz, Izbica, Maidanek und Treblinka einzelnen Phasen — dass damit der Kontinuität im Ge- gewidmet, unter denen seine Liebsten, Mutter und Schwe- schichtsvollzug (und nicht nur in einer diesen systemati- sierenden Idee, die sich an der ausweisbaren Wirklichkeit Vgl. zu Auflage 1 (Berlin 1961) in FR XIII (11.6. 1961) Nr. 50/52, nicht zu bewähren vermöchte) das fällige Genüge getan S. 18 ff.

92 ster, waren. Den Epilog bildet eine kafkaisch verdichtete Alle Evangelien wollen partout nicht zugeben, dass Pi- Klage darüber, dass der Prozess Jesu weitergeht und der latus es war, der Jesus verurteilt hat; vielmehr geht ihre Schrei, ihn zu kreuzigen, weiterhallt. Was Paul Winter Tendenz dahin, ihn nicht nur zu entlasten, sondern auch nicht schrieb, aber jeder Leser bei sich ergänzen kann: Seit- immer sympathischer darzustellen, so dass ihn ägyptische dem galten Prozesse und Schreie den Juden, brachten Jesu Christen zum Heiligen ihrer Kirche machen konnten. Brüdern millionenfachen Tod. Das Buch kann jedem dar- Die Barrabasgeschichte verwirrt eher als dass sie klärte; ob Erschreckenden helfen, an seinem Platz dafür zu sor- deutlich dient sie apologetischem Zweck, ist doch dieser gen, dass die Leidensgeschichte der Juden zu Ende komme. Brauch sonst nirgends nachzuweisen. Auch die Verspot- Die rechtshistorischen und literarkritischen Analysen er- tung, wohl allein von Soldaten veranstaltet, wurde in den gaben, dass der Prozess Jesu zwar historisch gesichert ist, Berichten ausgeweitet. Kreuzesinschriften waren üblich; sein Verlauf im einzelnen aber unsicher bleibt, weil die die einfachste Form findet sich bei Markus, in den späteren frühesten Quellen, die Evangelien, aus religiöser Absicht Evangelien ist sie weiter entfaltet worden. und politischer Rücksicht die Nachrichten tendenziös ent- Winters Stärke und gewichtigster Beitrag besteht in der stellten: In einer Zeit, da die Völkerwelt über die ver- Bestreitung und Widerlegung des christlicherseits be- hassten Juden triumphierte, sollten »die Juden« immer haupteten Zusammenhanges zwischen Jesu innerjüdischer stärker belastet und die Heiden — in Gestalt des Pilatus — Auseinandersetzung und seinem Kreuzestod: Jesu jüdische in umgekehrter Entsprechung dazu immer mehr entlastet Feinde waren die Hochpriester und deren Schriftgelehrte werden. Trotzdem ist erstaunlicherweise recht deutlich, und nur sie; aufschlussreich ist die Liste S. 171-173, mit dass Jesus nach römischem Recht verurteilt und nach der Winter erweist, dass Markus im Passionsbericht nur römischer Art getötet wurde, was um so bedeutsamer ist, sie erwähnt. Aber eben diese Gruppe hatte nach der Tem- wenn der Hohe Rat selber befugt war, Religionsverbre- pelzerstörung des Jahres 70, also zu der Zeit, da die cher durch Verbrennen, Steinigen, später auch durch Er- Evangelien fixiert worden sind, alle Bedeutung verloren, würgen, aber ausgerechnet nicht durch Kreuzigen zu töten. Die Erklärung im Johannesevangelium, dass der waren also damit als Gegner für die Christen uninter- Hohe Rat Jesus zwar töten wollte, aber ihn nicht töten essant geworden, während sich nur die Pharisäer neu konnte — und Pilatus zwar konnte, aber nicht wollte, formierten und sich ihrerseits gegen die Ketzer allgemein sondern musste —, ist eine kühne polemische Umkehrung und gegen die Nazarener besonders wehrten. Kein Wun- der historischen Tatsachen. der, dass sie, dass die Pharisäer, der entstehenden Kirche Allgemein lag zwar die aussen- und militärpolitische als Gegner galten, obwohl sie niemals Jesu Feinde waren. Macht bei der römischen Besatzung, aber wie anderwärts, Vielmehr gehörte er zu ihnen: Jesus lernte und lehrte so auch in Judäa, griffen sie möglichst bei intern religiösen unter Pharisäern, er hatte teil am innerpharisäischen Streitigkeiten nicht ein. Aber die Grenze liess sich nicht Streitgespräch, das hart und scharf werden konnte; seine eindeutig ziehen, zumal für Juden beide Bereiche konver- Polemik entspricht nach Inhalt und Stil den normalen gierten und Römer Zweifelsfälle für sich reklamierten. Lehrhausdebatten, die mit Ablehnung oder Anerkennung Die Hochpriesterschaft wiederum, eine hauchdünne endeten. Was immer auch Jesu Lehre war — nirgends in Oberschicht, war nicht allein aus Gründen der Selbst- den Evangelien lässt sich nachweisen, dass es sich um Dif- erhaltung, sondern auch und vor allem nach Besatzungs- ferenzen auf Leben und Tod handelte. Erst die Kirche zog recht gegenüber dem Statthalter zur Erhaltung der öffent- aufgrund der geschichtlichen Entwicklung den fatalen lichen Ordnung verpflichtet. Schon der Verschiedenheit dogmatischen Fehlschluss, dass »die Juden« ihn getötet von Sprache und Sitte wegen waren die Römer auf die hätten, weil sie ihn als Erlöser nicht anerkennen wollten. Einhilfe lokaler Behörden angewiesen, denn sowenig In Wirklichkeit kam er im Verlaufe seines öffentlichen etwa Römer Hebräisch oder Aramäisch verstanden, so- Auftretens mit den Behörden in Konflikt, die einzig ein wenig konnten Angeklagte normalerweise Latein oder Interesse daran und die Macht dazu hatten, ihn zu be- Griechisch. Jüdische Beamte mussten bei der Festnahme seitigen. Verdächtiger und bei der Prozessvorbereitung helfen: Unsicherer wirkt allerdings Paul Winters Antwort auf die verhören, übersetzen, Anklageschrift vorbereiten. Fragen: wer und was Jesus war und weshalb er verurteilt Im einzelnen wies Winter auf, dass Jesus von römischen ward. Diese Probleme sind darum gewichtiger als Winter Soldaten im Auftrag von Pilatus festgenommen worden glauben wollte, weil Christen sie, bedingt durch die lange ist, die ihrerseits von Tempelpolizisten begleitet waren. Auslegungsgeschichte, im Zweifelsfalle fast zwangsläufig Sie brachten ihn zum Hochpriesterpalast, in dem aber, im tendenziösen Sinne der Evangelien — als ob »die Ju- zumal nächtens, nicht verhandelt, sondern, von unter- den« doch Jesus getötet hätten! — lösen. Zwar spürte er, geordneten Verwaltungsbeamten, eine Vorbefragung dass die Gründe für Jesu Verhaftung im politi- durchgeführt worden ist. Nach kurzer Beratung bei einer tischen Bereich gelegen haben könnten und müss- Vormittagssitzung des Hohen Rates in der Quaderhalle ten, aber zugleich reduzierte er, bedingt durch sei- wurde Jesus zum einzig stattgehabten Prozess an Pilatus ne schwache literarische Position, die er von der zurückgegeben, der ihn im Schnellverfahren entsprechend Bultmannschule übernahm, diese politische Kompo- römischem Recht mit der für Rebellen üblichen Strafe zum nente: Jesu Einzug in Jerusalem und die Tempel- Tod am Kreuz verurteilte und hinrichten liess. reinigung wurden in der ersten Auflage entschärft, für Des Hochpriesters Anteil bei Zustandekommen des Ur- die zweite Auflage allerdings wieder aufgewertet; vor teils, in der überlieferung absichtlich verstärkt, bleibt so allem bestritt Winter, dass sich Jesus in irgendeiner Weise unsicher, wie das Pilatusbild sicher tendenziös ins Gegen- auf messianische Ambitionen eingelassen habe. Wenn aber teil verkehrt ist: nach ausserbiblischen Nachrichten un- erst die Apostel politische Erwartungen eingebracht hät- beugsam, grausam, nach den Evangelien weich, schwach, ten, wenn alle Messianismen erst Bildungen der nach- nachgiebig; bei Markus und Matthäus urteilte er selb- österlichen Gemeinde wären, wenn Jesus sich demnach ständig, nach Lukas und Johannes liess er sich drängen, nur für einen normalen und gewöhnlichen Menschen ge- Jesus gar den Juden zur Kreuzigung auszuhändigenl. halten hätte, dann ist freilich kein zureichender Grund für seine Verurteilung durch die politische Instanz an- 1 Joh 19, 16.18.

93 zugeben, dann kann allerdings seine Verurteilung als wenn sie sich der Realität des Lebens zu stellen wissen, Rebell nur wie ein Versehen und eine Tragik erscheinen. und man versteht nicht recht, warum das Vertrauen in Obwohl Paul Winter vor lauter Besorgtsein um die lau- eine derartige Zukunft vielenorts so gering zu sein tere Wissenschaftlichkeit nicht zum positiven Aufweis scheint. 0. K. kam, bringt sein Werk die bisher entscheidendste Hilfe für ein sachgemässeres Verstehen des Prozesses Jesu. Vor ALEXANDER ALTMANN: Moses Mendelssohn. A allem die hingebungsvolle Arbeit am Detail macht das Biographical Study. The University of Alabama Press, Buch zum unentbehrlichen Nachschlagewerk: Ohne den University Alabama 1973 und Routledge and Paul Ke- Winter fehlte ein entscheidendes Handwerkszeug für gan. London 1974. 900 Seiten. eine Korrekturarbeit, die längst fällig ist. Mittels dieser Der »Vater der jüdischen Emanzipation«, Moses Men- Arbeit kann und muss klargemacht werden, dass der Vor- delssohn (1729-1786), der grosse Philosoph und homme wurf des Mordes Jesu durch »die Juden« nicht ins Leben de lettres, der mit allen Grossen seiner Zeit in regem Jesu gehörte, sondern eine polemische Waffe der werden- Kontakt stand, ist auch jenen bekannt, die nur sehr we- den Kirche in ihrem Kampf gegen die konkurrierende nig von jüdischer Geschichte und ihren geistigen Höhe- Synagoge war. Aber dieser Streit hat vor allem für die punkten wissen. Nachgeborenen, die seine furchtbaren Folgen überblicken, Das Zeitalter der Aufklärung, mit dem die Mauern der seinen Sinn verloren; an seine Stelle muss wieder das Gettos fielen, setzte viele Juden der Anziehung und den partnerschaftliche Gespräch zwischen Juden und Christen Verlockungen der reichen und diversifizierten Kultur des treten, bei dem auch Christen aufgrund jüdischer Bei- Abendlandes aus. Für viele von ihnen bedeutete es den träge offen sind zum Umlernen und bereit werden zur Bruch mit dem Judentum oder die Abwendung von ihm Preisgabe altvertrauter und bequemer Vorurteile. fort. Reinhold Mayer, Tübingen Mendelssohn wollte den Beweis liefern, dass ein Jude aktiv und erfolgreich am Leben der christlichen Mehr- ERICH ZENGER / RUPERT BOSWALD: Durch- heitsgesellschaft und deren Kultur teilhaben kann, ohne kreuztes Leben. Besinnung auf Hiob. Freiburg — Basel — dafür und dabei sein bewusstes Jude-Sein einzubüssen, Wien 1976. Verlag Herder. 133 Seiten. sondern es gerade als Jude, der sich seiner Tradition und Dieses kleine Buch hat es in sich. Vielleicht lässt sich das seinen partikularen Normen verpflichtet weiss, tun kann. durch ein kurzes Zitat deutlich machen, so wir lesen: Damit aber visierte Mendelssohn eine von gegenseitigem »Auf die Frage nach dem Sinn des Leidens gibt es keine Respekt getragene pluralistische Gesellschaft an. Hierin Antworten, durch die Leiden aufhören würden, nicht zeigen sich die positiven Auswirkungen der Freundschaft mehr Leiden zu sein. Auch in der Bibel gibt es solche Lessings und Mendelssohns, die dieses ihr Ideal im priva- Antworten nicht. Leiden ist nicht ein theoretisches Pro- ten Bereich weitgehend verwirklichen konnten. Die Früch- blem, das es zu verstehen gilt. Leiden ist eine Situation, te dessen, aber auch die Unmöglichkeit der gesellschaft- die allein durch die Praxis zu bestehen ist. Und dazu will lichen Verwirklichung des Ideals einer neutralen, Gleich- uns das Buch Hiob Impulse geben« (S. 57). berechtigung gewährenden, pluralistischen Sozietät wer- den schon zu Mendelssohns Lebzeiten sichtbar. Es ist das Was sich in diesen Sätzen anzeigt, ist nichts anderes als grosse Verdienst von Prof. Altmann, einem der promi- die reale Entmythisierung der Religion, hier der jüdisch- nentesten Erforscher der jüdischen Geistesgeschichte, diese christlichen Offenbarungsreligion, insoweit sie den Men- Aspekte und die Auseinandersetzungen Mendelssohns mit schen — und wahrscheinlich jeden Menschen — zu irgend- den Freunden Lessing und Kant, mit dem missionarischen einem Zeitpunkt seines Lebens ureigenst und unmittelbar Schwärmer Lavater, mit Herder, Hamann und — schon betrifft: Entmythisierung hier zu verstehen als Befreiung an der Schwelle des Todes — mit F. H. Jacobi im »Pan- von falschen, ungedeckten Erwartungen und Deutungen. theismusstreit«, so detailliert, oft mit Hilfe bisher unbe- Was die Offenbarungsreligion an Wendepunkten kannter Materialien, so faszinierend aufgezeichnet zu menschlicher Existenz zu sagen oder nicht zu sagen, zu haben. Im Licht der nachmendelssohnschen Geschichte des bieten oder nicht zu bieten hat, das kann der Mensch, deutschen Judentums ist man betroffen von den hässli- jedenfalls von den Anfangsgründen her, nicht erst dann chen Attacken, die Mendelssohns Denken als »typisch zu lernen beginnen, wenn er selbst in seiner eigenen jüdisch« etc. in dem Augenblick auf sich zog, als sein Existenz zutiefst getroffen ist. Jeder kann das von sich Ruhm schwand und es unter die Kantsche Kritik an der selbst wie aus der Erfahrung mit anderen wissen. Zenger klassischen Metaphysik und die Woge des neomystischen weist den richtigen Weg (durch biblischen Text, Beispiel Christentums geriet. und knappe Erläuterung): am Schicksal des anderen zu- Mendelssohn spielte eine so zentrale Rolle in seiner Zeit zeiten mit-lernen, wie allein und wie gemeinsam Leid und weit darüber hinaus, dass man Verwunderung und Leiden getragen werden müssen und ertragen wer- empfindet darüber, dass die letzte Biographie des »deut- den können, was die biblischen Texte als Schicksale im schen Sokrates« fast ein Jahrhundert alt ist! Wort uns sagen, worin ihr Trost und ihre Hilfe — von Altmann ist es jetzt meisterlich gelungen, eine ausserge- Hiob bis Jesus — liegen und worin nicht (wobei das eine wöhnlich material- und detailreiche, einfühlsame und ebenso wichtig ist wie das andere, also das eine vom moderne bio- und historiografischen Ansprüchen entspre- anderen nicht getrennt werden darf); was Solidarität chende Biografie zu schreiben, die als definitives Stan- Gottes mit uns besagt und was nicht, was uns selbst dardwerk angesehen werden muss. aufgegeben ist und für wen wir was zu leisten haben. — Zu wünschen, dass dieses höchst beachtliche Buch auch Böswalds Interpretationen zu modernen »Hiob«-Ge- deutsch erschiene und sei es in einer (durchaus möglichen) dichten (Sachs, Goll, Wolfskehl) erscheinen uns vorab gekürzten Fassung — ist das unrealistisch? Michael Brocke deswegen gut gewählt, weil sie der Realitätsnähe des Kernes der Hiobsgeschichte in aller wünschenswerten GERSION APPEL: A Philosophy of Mizvot. The Reli- Deutlichkeit (und das heisst hier: Härte) entsprechen. — gious-Ethical Concepts of Judaism, Their Roots in Bibli- Zugleich sieht man wieder einmal: Religion und Theolo- cal Law and the Oral Tradition. New York 1975. Ktav gie brauchen dann nicht um ihre Existenz zu fürchten, Publishing House, Inc. 288 Seiten.

94 Der Verfasser behandelt das weite Feld der Gebote, wie diese Weise gewinnt der Leser einen relativ mühelosen sie sich im philosophischen und halachischen Denken des Eindruck von einem Phänomen, das ihm sonst gar nicht Judentums präsentieren. Dabei geht er vor allem von dem so leicht zugänglich ist. E. L. Ehrlich Sefer ha-Hinnuk, dem Buch der Erziehung aus, welches Rabbi Aaron ha-Levi aus Barcelona zugeschrieben wird, HANS I. BACH: Jacob Bernays. (Schriftenreihe wis- einem führenden talmudischen Gelehrten des 13. Jahrhun- senschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts derts. Das Buch hat eine mehrfache Absicht: In ihm sollen 30) J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Tübingen 1974. XV, die halachischen Aspekte der Gebote ebenso dargelegt wer- 251 Seiten. den wie die religiösen und ethischen Wurzeln. Die Voraus- Bachs Studie über Bernays vereinigt wissenschaftliche setzungen einer solchen Philosophie der Gebote ist natür- Genauigkeit mit warmer Anteilnahme für diesen bedeu- lich der Glaube an den göttlichen Ursprung der Tora, wo- tenden Philologen, was das Buch zu einer fast romanhaft bei Israel dadurch ausgezeichnet wurde, dass ihm diese lesbaren, gut dokumentierten Biographie macht. Jacob Offenbarung zufiel. Damit hängt die Erwählung zusam- Bernays war der Sohn des grossen Hamburger Rabbiners men, welche als ein Dienst verstanden wird. Die Escha- Isaac Bernays, dem aufgrund seiner grossen Gelehrsam- tologie dieses Buches basiert auf der rabbinischen Tradi- keit der Ehrentitel »Chacham« verliehen wurde. Von ihm tion, die ein weitverzweigtes, teilweise widersprüchliches erbte Jacob B. seine Liebe zur klassischen, vor allem zur System über dieses Problem aufweist. Erst in der kom- griechischen Literatur. Er vermochte auch, wie sein Va- menden Welt wird Gott den Menschen das Heil schaffen, ter, antikes Gedankengut und jüdische Religiosität in auf Erden kann nur eine Vorbereitung darauf erfolgen, Harmonie zu bringen. und dies geschieht durch Sühne unserer Sünden, Reini- Die bitteren Erfahrungen, die sein Vater als Gemeinde-- gung unserer Seelen als Vorbereitung für die kommende rabbiner im Hamburger Tempelstreit machte, als er sich Welt. In diesen Rahmen gehören dann auch die Leiden als allzu assimilatorischen Bestrebungen entgegenstellte, be- göttlich verordnetes Geschehen. Es muss gläubig angenom- stimmten Jacob dahingehend, dass er selbst nie eine men werden. In der messianischen Zeit wird Israel wieder Rabbinerstelle annahm, obwohl ihn eine solche von den in seinem Lande siedeln, wobei der messianische König ärgsten finanziellen Sorgen befreit hätte. Er wusste aber über Israel herrschen wird. sehr genau, dass er dem Kampf zwischen den Juden, die in Andere Kapitel handeln von Gott, seinem Wesen, seiner der deutschen bürgerlichen Gesellschaft aufgehen woll- Einheit, ferner gibt es Ausführungen über die kommende ten, und der rabbinischen Orthodoxie nicht gewachsen Welt und die ewige Belohnung der Seele. Ein Kapitel han- war. Er war überhaupt kein kämpferischer Mensch, hatte delt über göttliche Offenbarung und Prophetie, ein ande- keine Freude daran, in die 'Öffentlichkeit zu treten, und res über die Wahrheit der mündlichen Lehre. Hier geht es im ganzen viel zu differenziert, als dass er für eine der um den Gedanken, dass mündliche und schriftliche Lehre beiden Seiten hätte rückhaltlos Partei ergreifen können. in gleicher Weise göttlichen Ursprungs sind. Das Bibelwort Sein ganzes Leben lang stand er irgendwie zwischen den bedurfte einer authentischen Deutung, und diese stellt die Fronten, viel zu sehr klassisch gebildet, als dass er die mündliche Lehre dar, welche von gleicher Dignität wie die Starrheit der Orthodoxie hätte gutheissen können, aber schriftliche ist. doch ängstlich besorgt um die Zukunft des Judentums, Die jüdische Tradition hat oft Antworten auf die Frage als dass er die langsame Integration und Verflachung gesucht, warum Menschen die Gebote ausüben. Letztlich begrüsst hätte. war man sich darüber klar, dass die Tora den Menschen Seine Natur war sensibel, aber zu kraftlos für jene wild gegeben wurde, um sie zu veredeln (Nachmanides), sie zur bewegte Zeit. Seine Existenz als Privatgelehrter ent- Vollkommenheit zu führen (Maimonides). Die Pflichten sprach eigentlich seinem Charakter, wenn seine Fähigkei- des Menschen beruhen auf der imitatio Dei, wie es schon ten auch grösseren Ruhm verdient hätten. das rabbinische Judentum gesehen hat und vollends die Bernays studierte in Bonn, wo man bald seine Begabung mittelalterliche jüdische Religionsphilosophie. erkannte, klassische Philologie, u. a. bei dem damals sehr Ein anderer Abschnitt handelt von dem Individuum und berühmten Friedrich Ritschel. Mit einer Untersuchung der Gesellschaft. Hier geht es um Ehe- und Erziehungs- über verlorene Verse von Lukrez gewann er den Univer- fragen, um die Nächstenliebe, Schutz des Schwachen etc. sitätspreis. Nach Beendigung des Studiums zeigte es sich, Ein anderes Kapitel hat die universale Moral zum Inhalt, dass in Deutschland es noch weit bis zur bürgerlichen d. h. die Beziehungen des Juden zu seiner nichtjüdischen Gleichstellung der Juden war. War schon die Habilita- Umwelt. Hier geht es um die noachidischen Gebote, das tion schwierig, so war es schliesslich gänzlich unmöglich, Recht des Fremden. »Im Umgang mit Nichtjuden ist der als gläubiger Jude eine Professur in Deutschland zu Jude nicht nur gehalten, die gesetzlichen und ethischen erlangen. Da halfen die einflussreichsten Freunde nichts, Erwägungen in Betracht zu ziehen, sondern er hat sich und einer von ihnen, J. C. v. Bunsen, wusste als letzten auch des Elementes des >Kiddusch-Ha-Schem< (der Heili- Rat nur noch die Taufe, damit Bernays im akademischen gung des göttlichen Namens) bewusst zu bleiben. Nicht- Leben Karriere machen könnte. Bernays lehnte so ein juden zu übervorteilen, bedeutet Entweihung des Namen Ansinnen ab und nahm eine Stelle als Lehrer am Jüdi- Gottes, anderseits beweist das anständige Umgehen mit schen Theologischen Seminar in Breslau an, um so mehr, Nichtjuden, dass Juden ehrenhaft und zuverlässig sind als er dabei gleichzeitig einige Stunden an der Universi- und auch auf diese Weise den göttlichen Namen heiligen tät in Breslau lesen durfte. Seine Aufgabe an diesem und Ehre über Israel bringen« (S. 129). Der geistlichen Seminar sah er darin, in den jüdischen Studenten die Dimension des Mensch, dem Dienst an Gott sind u. a. wei- Liebe zur klassischen Antike zu wecken und ihnen damit tere Abschnitte dieses Werkes gewidmet. den Zugang zur europäischen Kultur zu eröffnen. Das Das Buch bietet einen interessanten und leicht verständ- bescheidene Niveau seiner Studenten und das provinziel- lichen Einblick in das traditionelle Judentum, besonders le Klima Breslaus liessen Bernays nicht lange zögern, auch deshalb, weil Appel nicht nur das Sefer ha-Hinnuk eine Bibliothekarsstelle in Bonn an der Universität anzu- behandelt, sondern häufig auch Querverbindungen zum nehmen, wo er bis zu seinem Tod blieb. rabbinischen und mittelalterlichen Judentum herstellt. Auf J. Bernays' humanistisches Ideal spiegelt sich in seiner

95 wiederholten Beschäftigung mit dem grossen Humani- einerseits für den Bibliker, der an Ben Sira arbeitet, dar- sten und klassischen Philologen Joseph Scaliger wider, über hinaus aber von grosser Wichtigkeit für jeden He- dem er zu Beginn seines wissenschaftlichen Lebens und braisten. Es handelt sich hier um eine »objektive« Edition, an dessen Ende eine Studie widmete, wobei unschwer also ohne kritische Edierung wird alles »Rohmaterial« autobiographische Züge zu erkennen sind. Ausser Sokra- mit durch die EDV gewährleisteter grösster Exaktheit so tes galt sein Hauptinteresse Persönlichkeiten der Antike, vorgelegt, dass der Benutzer sofort überschauen kann, mit die, so wie er selbst, am Schnittpunkt jüdischer Religiosi- welcher Handschrift er es zu tun hat und wie sicher oder tät und klassischer Weltanschauung standen, wie der unsicher die Lesung ist. Diese Textausgabe (S. 1-69) ent- jüdische Philosoph Philo v. Alexandrien und der Histo- hält sämtliche hebr. Fragmente des Buchs (5 Genisa-Hss., riker S. Severus. die Rolle von Metzada und die zwei qumranischen Frag- In seiner eigenen Haltung fiel vielen eine gewisse Wider- mente), eine Konkordanz (71-314) und zahlreiche lexi- sprüchlichkeit auf, insofern er sich weigerte, die Bibel kalische Listen dazu (315 - 517) mit zweifelhaften Les- genauso zum Objekt seiner philologischen Studien zu arten, unsicheren Lemmatisierungen und Lemmata-Listen machen wie klassische Texte. Doch er fürchtete, eine unter verschiedenen Gesichtspunkten. Die englische Ein- derartige Betrachtung der heiligen Schriften könnte das leitung gibt klare Auskunft über die zugrunde liegenden ohnehin schon sehr geschwächte Judentum zur Auflösung Prinzipien und hilft auch dem hebräischsprachig weniger bringen. Gewandten, vollen Nutzen aus diesem hochmodernen Wir sehen ein Leben in einer Zeit des Aufbruchs und der Hilfsmittel der Exegese und Philologie zu ziehen. Transformation: Zuerst die Kämpfe zwischen Ortho- Michael Brocke doxie und Reformern innerhalb der jüdischen Gemeinde, HARTMUT BINDER: Kafka in neuer Sicht. Mimik, dann die spätvormärzliche Unruhe der Universitätsjahre, Gestik und Personengefüge als Darstellungsformen des die Revolutionen des Jahres 1848, wo Bernays plötzlich zur Autobiographischen. Stuttgart 1976. J. B. Metzler. 677 politischen Stellungnahme gezwungen wurde, darauf die Seiten. Mit 21 Abbildungen. Restauration unter Bismarck und gleichzeitig damit das In der Fülle der Neuerscheinungen über Kafka lässt einen kulturelle Aufsteigen des liberalen Bürgertums zur geisti- dieser anspruchsvolle Titel aufmerksam werden und gen Macht. Sein ganzes Leben begleitete ihn die Tatsache, weckt Hoffnungen auf Neues. dass trotz aller ökonomischen und kulturellen Verdienste Das Buch ist in drei Teile eingeteilt, die auf methodisch der Jude immer nur ein Mensch zweiter Klasse war, für interessante Weise miteinander verbunden sind; dabei den bestimmte Stellungen nicht zugänglich waren. Sein bleibt jedoch die Eigenständigkeit eines jeden Teils er- Leben und seine Arbeiten sollten wohl der Gesellschaft halten. Obwohl es eine grosse Fülle von Material wissen- beweisen, dass die Vorurteile gegen die Juden, vor allem schaftlich genau ausbreitet und gedanklich sauber verar- gegen die von Juden betriebene Wissenschaft, zu Unrecht beitet, liest es sich flüssig und spannend. Die vielen Ein- bestanden. zelheiten sind auf gekonnte Weise integriert, so dass auch Lebendige Schilderungen der berühmten Freunde und der Nicht-Germanist und der Nicht-Fachmann das Buch Kollegen Jacob Bernays', wie z. B. Th. Mommsens, run- erwartungsvoll lesen und die grossen Züge und Zusam- den die Darstellung dieses Gelehrtenlebens ab. menhänge, die Binder aufzeigen möchte, nachvollziehen Dr. Brigitte Stemberger, Wien können. Der erste Teil, »Lebenszeugnisse« (S. 3-98), behandelt die THE BOOK OF BEN SIRA. Text, Concordance and an Briefe und die Tagebücher, die als intime Lebenszeugnisse Analysis of the Vocabulary. (The Historical Dictionary die Kulisse der schriftstellerischen Tätigkeit Kafkas bil- of the Hebrew Language.) The Academy of the Hebrew den. Von diesem Teil aus werden immer wieder die Fäden Language and the Shrine of the Book. Jerusalem 1973 zu den beiden anderen Teilen gesponnen, um literarische (hebr.). 16, XIX (engl. Einleitung) und 517 Seiten. Deutungen auch mit biographischen Daten zu vervoll- Die Vorarbeiten zum Grossen Historischen Wörterbuch ständigen. der gesamten hebräischen Sprache an der Jerusalemer Der zweite Teil, »Mimik und Gestik« (S. 117-262), ist Sprachakademie schreiten seit Jahren ruhig und stetig wohl der wichtigste und spannendste, jener der auch be- voran. Es sind breit angelegte und vielfach aufgegliederte sondere Aspekte im Werk Kafkas herausschält. Dessen Vorarbeiten, deren Bekanntheitsgrad umgekehrt propor- 2., 4., 5. und 6. Kapitel (>Grundsätzliches zu den Aus- tional ihrer Grossangelegtheit zu sein scheint. drucksbewegungen<; >Augen und Blicke<; >Die Als-ob- Bei diesen Vorarbeiten handelt es sich u. a. darum, aus Sätze< und >Hände<) lenken den Leser auf die feinen allen literarischen Quellen, seien sie gedruckt oder unge- und feinsten Details in Kafkas Werk hin und runden das druckt, zunächst zuverlässige Texte zu erstellen, die dann Bild der Inhalte mit diesen Einzelheiten ab. für die EDV aufbereitet werden. Es gibt inzwischen eine Der dritte Teil schliesslich (S. 265-526) versucht mit sei- ganze Anzahl von für die spätere rein elektronische Wör- nen acht Kapiteln das, was in den beiden ersten Teilen terbuchherstellung präparierten literarischen Werken aus allgemein wie spezifisch gesagt wurde, exemplarisch in den verschiedenen Epochen der hebräischen Sprach- eine Deutung des Romans >Das Schloss< einfliessen zu geschichte. Diese Vorstufen und Nebenprodukte machen lassen. sich z. B. als Konkordanzen nützlich, lange bevor es das Hier kann man natürlich nur einen engen Teilaspekt an- ganze historische Wörterbuch geben wird. Leider ist es sprechen, der besonders in den Zusammenhang dieser unmöglich, sie alle zu veröffentlichen. Eine willkommene Zeitschrift gehört. Eingangs, bei der Analyse der Briefe, Ausnahme stellt diese Konkordanz dar, weil das Buch Ben bemerkt der Autor: »Würde man Kafkas Aussagen über Sira oder Jesus Sirach als deuterokanonisches bzw. apo- das Judentum und besonders über sein Schreiben in der kryphes Werk der Bibel des AT auf weitaus breiteres hier angesprochenen kritischen Weise in die Forschung, Interesse stösst als die Konkordanz eines Midraschwerks einbeziehen, dann verschwände das Bild vom traditions- oder liturgischer Dichtungen. Die hier in ästhetisch beson- losen, assimilierten deutschen Juden und vom Künstler, ders ansprechender Weise vorgelegte Edition und Kon- der sein Leben der Literatur opfert, wie ein Phantom« kordanz des hebräischen Ben-Sira-Textes ist nützlich (S. 32). Um so grösser ist dann der Wunsch, diesem metho-

96 dischen Ansatz des Buchs nachzugehen, denn er wäre in leiten, den Gesamteindruck dieses anregenden Buches der Tat ein neuer Zugang zu Kafkas Werken sowie zum falsch verstehen zu lassen. Schriftsteller selbst. Vielerorts macht Binder auf die Zu- Die Hoffnungen, die durch den Titel geweckt werden, sammenhänge mit Kafkas Judesein aufmerksam, doch erweisen sich nicht als unbegründet. bleibt ein defizitäres Wissen vom Judentum ein merk- Edna Brocke, Regensburg liches Hindernis in der Behandlung dieses Aspekts bei Kafka. DAVID J. BLEICH: Providence in the Philosophy of Gersonides, Studies in Judaica 4. New York 1973. Als Beispiel soll das vierte Kapitel des zweiten Teils Yeshiva University Press. 141 Seiten. dienen (>Die Darstellung des Geschlechtlichen und ihr zeit- Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts stehen sich inner- geschichtlicher Hintergrund<, S. 374-395), wo Binder den halb der jüdischen Philosophie zwei grosse Konzeptionen individual-psychologischen Aspekt mit einem allgemein gegenüber: die des Maimonides und die des Levi ben jüdischen Hintergrund Kafkas zu verknüpfen sucht. In Gerschom (1288-1344). Beide Werke, gleichsam Gegen- Kafkas Haltung zum Judentum, meint Binder, muss man pole, bildeten für alle folgenden jüdischen Philosophen sehen, »dass er (Kafka) in seinen Anschauungen an den und Theologen des ausgehenden Mittelalters und der be- kritischen Analysen der Zeitgenossen teilhat, und zwar ginnenden Neuzeit die Bezugspunkte bei der Ausarbei- besonders insoweit es sich um die in gewisser Weise eine tung eines eigenen Systems, einer neuen Theorie. Einheit bildenden kulturkritischen Gedanken des Wiener Die Rezeption beider Werke war von ausserordentlich Cafehauskreises und seiner geistigen Väter handelt, also erbittert geführten Kontroversen gekennzeichnet. Doch um Otto Weininger, Otto Gross, Anton Kuh (und natür- anders als bei Maimonides, dessen Werk von Anfang an lich Sigmund Freud). Die Position dieser Gruppe ist, Anhänger fand und von diesen verteidigt und verbreitet etwas vereinfacht ausgedrückt, dadurch gekennzeichnet, wurde, bis es sich letztlich gegen die gegnerischen Ansich- dass sie als Wiener und Juden geistig getragen werden ten durchgesetzt hatte, wurde das Werk Gersonides' — von den Erkenntnissen der Psychoanalyse und dem auf- von wenigen Ausnahmen abgesehen — von seinen Zeitge- kommenden Zionismus beziehungsweise Antisemitismus« nossen heftig angegriffen und abgelehnt; noch in der (S. 376). zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es Gegenstand Otto Gross, den Kafka vermutlich erst 1917 kennen- einer polemischen Schrift, die in Schärfe und Unsachlich- lernte und der einen grossen Einfluss auch auf Kafka keit die zeitgenössischen Äusserungen teilweise noch über- hatte, war selbst kein Jude und stand seinerseits sehr stark trifft (I. Weil: La philosophie religieuse de Levi ben unter dem Einfluss der Kosmischen Runde. So mag der Gerson, Paris 1868). Und in der Tat scheint es, als sei >Brief an den Vater< (der 1919 entstand) unter dem Gersonides auch heute noch »quelque peu suspect dans psychologisch-analytischen Einfluss von Gross entstanden certains milieux du judaisme« (Ch. Touati). Wie anders sein, doch sicherlich nicht in dem engen Zusammenhang ist es zu erklären, dass seine Werke nicht kritisch ediert mit Kafkas Haltung zum Judentum, wie sie Binder dar- sind, sein opus magnum »Milhamoth Adonai« nur in stellt. (Hierzu siehe M. Green, Else und Frieda. Die Richt- einer unbrauchbaren deutschen Übersetzung vorliegt und hofen-Schwestern, Kindler, München, 1976, S. 48-92, wo folglich auch nur eine spärliche Anzahl von Schriften dieser zeitgeschichtliche Hintergrund überzeugend und sich mit dem Werk des grossen Philosophen befassen? umfassend dargestellt wird.) Lediglich der Kommentar zum Buch Hiob ist dem in- »Dass hier eine ganz spezifische Sehweise des Judentums teressierten und sprachkundigen Leser in den rabbini- vorliegt, die in Kafkas Umwelt keineswegs selbstver- schen Bibelausgaben leichter zugänglich. Dieser Kommen- ständlich war, lehrt die Tatsache, dass etwa Max Brod tar nun enthält die Substanz des vierten Buchs »Mil- andere Auffassungen vertrat« (S. 394). So wahr auch diese hamoth Adonai«, in dem Gersonides versucht, die zwei Aussage für sich ist, reicht sie nicht aus, denn die anderen fundamentalen, doch sich widersprechenden Glaubens- (nicht nur Max Brod), die andere Auffassungen vertraten, prinzipien von der göttlichen Vorsehung einerseits und konnten dies tun, weil sie selbst sehr viel mehr vom der Freiheit des menschlichen Willens andererseits in Ein- Judentum wussten und somit nicht allein auf Theorien klang zu bringen. Nachdem Charles Touati 1968 das von Weininger, Kuh, Freud u. a. angewiesen waren. Die dritte und vierte Buch des Werks in einer auf gründlichem Textvergleich basierenden und mit minutiösen Anmer- komplexen und komplizierten Zusammenhänge von poli- kungen versehenen französischen Übersetzung vorgelegt tischen, religiösen und psychologischen Elementen dieser hat, ist 1973 auch eine englische Übersetzung des vierten Zeit beschreibt und analysiert Nicolaus Sombart in seiner Buchs erschienen. Buchbesprechung »Die Welt der Richthofen-Schwestern« Der Titel der Ausgabe scheint mir irreführend zu sein, da (in: Merkur, Nr. 341 vom Oktober 1976, 5.972-990) er eher auf eine Monographie hinweist. Indessen ist der in hilfreicher Weise, wo er in den beiden letzten Ab- Übersetzung eine Einführung vorangestellt, in der zu- schnitten den psychoanalytischen Aspekt des Antisemitis- nächst Leben und Werk Gersonides' und die Kontrover- mus deutlich macht, auf die Übertragungs- und Projek- sen, die speziell sein Hauptwerk hervorrief, skizziert tionsmechanismen hinweist und z. B. Otto Gross' Haltung werden. In einem zweiten Kapitel wird die Behandlung dazu definiert: »In der Situation politischer Ohnmacht des Verhältnisses zwischen der göttlichen Vorsehung und wurde >der Jude< so zum willkommenen Substitut der der menschlichen Willensfreiheit bei früheren Philosophen wirklichen Väter, d. h. der realen politisch herrschenden untersucht. Bleich beginnt mit Maimonides und referiert Klasse, gegen die um so weniger anzukommen war, als im Zusammenhang mit dessen Ausführungen die Lehr- die rebellierenden >Söhne< ihre Unterwerfung ja längst meinungen der von diesem rezipierten griechischen und verinnerlicht haben ... Eben diese autokastrative, depo- islamischen Autoren. Es hätte zweifellos zum besseren litisierende Verinnerlichung der Herrschaftsstrukturen Verständnis der jüdischen mittelalterlichen Philosophie hat ja Otto Gross genau gesehen und psychoanalytisch im allgemeinen wie des vierten Buchs der Milhamoth im aufzulösen versucht« (S. 988-989). besonderen beigetragen, wenn ein gesonderter Abschnitt Doch soll das Aufgreifen dieses Aspekts und der Versuch, den angeführten Philosophen, vor allem Aristoteles, ihn in ein etwas anderes Licht zu stellen, nicht dazu ver- Alexander von Aphrodisias, der Schule der Asch'ariya

97 und der Mu'tazila (es seien nur die wichtigsten genannt) und Zionismus und Israel kurz behandelt werden. Da- gewidmet worden wäre, um die Entstehung des Problems zwischen stehen Beiträge über Judentum und christliche und die Zusammenhänge, in denen es erörtert wurde, Gesellschaft im Hochmittelalter und in der Neuzeit. Aus- festzustellen und zu untersuchen. Auch wäre es sicher- führlich wird das bürgerliche Zeitalter behandelt (1782 lich aufschlussreich, zu erfahren, welcher griechische resp. bis 1918) sowie »Antisemitismus, Rassenpolitik und Ju- arabische Terminus dem durchweg benutzten englischen denverfolgung in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg«. Begriff »providence« zugrunde liegt. Im dritten Ka- Über österreichisches Judentum heute erfährt man leider pitel der Einleitung schliesslich werden Gersonides' Er- nichts. Es ist schade, dass die Zielgruppen, die im Namen örterungen des Problems und seine Auseinandersetzung des Verlags angesprochen sind: »Jugend und Volk«, nicht speziell mit der Philosophie des Maimonides dargestellt. eigentlich in den Blick der Autoren kommen. Es fehlt an Der zweite Teil enthält die Übersetzung, der die Aus- Überlegungen zu den Lehr- und Lernzielen des Buches, gabe Leipzig 1866 der Milhamoth zugrunde liegt; Abwei- und einige dialektische Anregungen für Lehrer und andere chungen in den Manuskripten und frühen Drucken werden Benützer wären ihm sicher zugute gekommen. Für sich ge- auch berücksichtigt. Die Übersetzung ist äusserst text- nommen, sind einzelne Beiträge wirklich nützlich und getreu, dabei durchaus lesbar geblieben. Der Anmerkungs- wertvoll, ein abgerundetes und effektiv gestaltetes Gan- teil gibt zahlreiche hilfreiche Erläuterungen und weist auf zes ergibt sich jedoch in diesem Rahmen nicht. wichtige Primär- und Sekundärliteratur hin. Bedauer- Michael Brocke lich ist, dass die Ausgabe weder ein Personen- noch ein MARTIN HAUSER: Auf dem Heimweg. Aus den Tage- Sachwortregister enthält, auch die benutzte Literatur ist büchern eines deutschen Juden. 1929-1945. Bonn 1975. nicht gesondert aufgeführt, was die Arbeit mit dem Werk Hrsg.: Bundeszentrale für politische Bildung. Schriften- erschwert. reihe der Bundeszentrale f. polit. Bildung. Bd. 109. Ungeachtet dieser Mängel scheint mir die Ausgabe durch- 228 Seiten". aus brauchbar als Grundlage für wissenschaftliche Arbei- Dieser Tage kam mir ein sehr beachtenswertes Buch in die ten. Eva-Maria Thimme, Berlin Hand. Es verdient weitestgehende Beachtung, nicht nur in den Kreisen, denen das christlich-jüdische Problem ANNIE DAVID: Von den Juden in Deutschland 1600- Herzenssache ist. Ausserdem finden wir in ihm den Aus- 1870. Ein Bildbericht. Ramat Gan 1973. Massada Press. druck einer jüdischen Vergebensbereitschaft, die berech- 94 Seiten. tigterweise so subtil gewesen ist, dass sie einer langen Wohl gibt es ein reiches Schrifttum über die Juden und Bewährungswilligkeit von nicht jüdischer, ganz besonders ihre Geschichte, ihre Religion, ihr Leben und ihre allmäh- aber von deutscher Seite bedurfte, ehe es zu den ersten liche Liberalisierung vom mittelalterlichen Ghetto bis zur Anfängen des Vergebens (wenn es eine Vergebung über- Gleichberechtigung im 19. Jahrhundert, aber die grossen haupt geben kann!) kommen konnte. Es sind diese von Werke lasen nur wenige, und so blieb die Kenntnis der der Bundeszentrale für politische Bildung herausgege- Juden in Deutschland bei der nicht jüdischen deutschen benen Tagebuchaufzeichnungen. Bevölkerung im ganzen gering. Hier füllt das kurz- Dieses Tagebuch nimmt seinen Anfang in des Autors Alter gefasste Buch von Annie David mit seiner ausgezeich- von 16 Jahren (Jahrgang 1913) und wird, mit einigen neten Information eine Lücke. Es unterrichtet authen- Abständen, ziemlich regelmässig geführt. tisch über die jüdischen Minoritäten, ihr Leben und ihr Was diesen jungen Mann von anderen jungen Leuten Geschick in Deutschland vom 17. bis 19. Jahrhundert unterscheidet ist, dass er, als Jude geboren, seine Zeit- und damit bis zur Gleichberechtigung 1869. Der Vorzug genossenschaft als Verpflichtung empfindet und sie schrei- dieser sorgfältigen Arbeit besteht einmal in der eingehen- bend reflektiert. Alle, die einen jungen jüdischen Men- den Darstellung jüdischer Religiosität und Sitte, dann und schen, seien es politische oder persönliche Probleme, die vor allem in dem reichen und vorzüglich ausgewählten mit seinem Judentum und dem Antisemitismus in Deutsch- Bildmaterial, das in dieser Fülle und Seltenheit einmalig land und der Welt zusammenhängen, beschäftigen, macht ist. Durch die grosse Kenntnis des Materials und seiner er nicht nur in einzigartiger Weise deutlich und erfüllt sie Fundorte ist es der Verfasserin gelungen, die Abbildungen mit Leben und Herzschlag. Was diesen Lebensbericht be- zusammenzutragen und sachgemäss zu erläutern. So ge- sonders auszeichnet, ist die Unmittelbarkeit, die Ehrlich- winnt der Leser durch den Text wie die Bilder ein plasti- keit und die Bescheidenheit sowie die als Lebensaufgabe sches Bild von dem Leben, der Frömmigkeit und Sitte der empfundene Hilfsbereitschaft. jüdischen Gemeinden und Familien in Deutschland, dem Wir erleben kontinuierlich, fast hautnah, die Ereignisse in dieser anschaulichen Kürze kaum ein anderes literari- in Deutschland ab 1929 vor dem Ausbruch des Reiches sches Werk an die Seite gestellt werden kann. Es gilt, der des Verbrechens 1933, wir durchwandern mit Martin Verfasserin für diese Arbeit aufrichtigen Dank zu sagen. Hauser die Jahre aus dem Vorzimmer der Hölle mit allen D. Ernst Hornig t, Bad Vilbel Schrecken und Sorgen, seine Auswanderung, seinen »Heimweg« nach Palästina, seinen Eintritt in die Jüdische ANNA DRABEK / WOLFGANG HÄUSLER / KURT Brigade im geistigen Kampf mit den Engländern, die SCHUBERT / KARL STUHLPFARRER / NIKOLAUS von der Balfour-Erklärung durch das »Weissbuch« immer VIELMETTI: Das österreichische Judentum. Vorausset- mehr abrückten und am Rande, immer wieder vehement zungen und Geschichte. Wien—München 1974. Verlag Ju- hineinspielend, die weitere politische jämmerliche Ent- gend und Volk. 216 Seiten. wicklung in Deutschland und die Unentschlossenheit der Im Zentrum dieses Sammelbandes österreichischer Histo- Welt, durch die die Schatten auf sie fielen, das Elend der riker und Judaisten steht zwar das österreichische Juden- deutschen Juden, die der Ausrottung vorangingen und tum. Es wird aber eingerahmt, wenn nicht gar ein wenig schliesslich den Ausbruch des Brandes 1939, der erst die an die Seite gedrückt durch die Beiträge, die die »Voraus- Welt aus ihrer Lethargie weckte . setzungen« behandeln. Kurt Schubert leitet ein »Von der In diesem Brand steht Martin Hauser, der inzwischen Entstehung des Judentums bis zum Ende des ersten Jahr- Amram heisst und auf dessen Armwinkel das Wort »Palä- tausends n. Chr.« und gibt auch einen Anhang, in dem das Judentum im mittelalterlichen Islam, in Osteuropa '• Mit Erläuterungen (Wort- und Begriffserklärungen).

98 stina« steht, macht den Krieg an der Seite der Engländer »Vor zwei Tagen hatte ich ein wunderschönes Erlebnis: im Nahen Osten mit, durchlebt alle Täler und Höhen Durch einen guten Bekannten in einer der jüdischen Kom- dieses Krieges und empfindet mit ihm seine Bitterkeit panien hatte ich Gelegenheit, nach Assisi zu fahren. Dort gegenüber dem Unverständnis der Engländer den Juden trafen wir eine Gruppe von ca. 50 Juden aus Jugoslawien, gegenüber, seinen Hass gegen die Welteroberer, aber auch Österreich und Italien, die sich in ein kleines Konvent auf seinen durch nichts zu beeinträchtigenden Kampfesmut dem Berge über dem Dorf geflüchtet hatten. Gleich hinter zur Erreichung des einen einzigen Ziels: Einen Staat zu den letzten Häusern des Dorfes ging es steil aufwärts, bis schaffen, in dem die Juden der Welt eine Heimat finden. wir zu diesem Gebäude kamen, das einsam in einem tie- Das Buch ist eine selten chronische Reproduktion der Zeit fen Walde am Bergabhang steht. Dort lebt der Bischof bis zur endlichen Befreiung, der Zerschlagung des Dritten von Assisi, ein Kardinal Giuseppe Placido Nicolini, mit Reichs. einer Anzahl Mönche, und dort hatten ca. 80 Personen, Wichtig, vielleicht das Entscheidende an dem Buch aber Männer, Frauen und Kinder — darunter die Hälfte Juden ist die Wandlung eines jüdischen Menschen von der Er- — Zuflucht gefunden. Die Mönche beschafften alles, von kenntnis seiner Berufung, seines Einsatzes für ein Ziel, falschen Dokumenten bis zum Essen und Hilfe zur Flucht. sein Hass gegen die Gewalttäter, der nie daran glaubt, Nur dank dieser Menschen konnte sich diese kleine Gruppe jemals noch mit Deutschen zusammenkommen zu können, am Leben halten. Unter ihnen befand sich eine Familie zu einer späten Versöhnungsbereitschaft. mit 12 Köpfen, Grosseltern, Eltern, Kinder, Schwieger- Hierzu wollen wir ihn selbst sprechen lassen: Arnram söhne etc., und der alte Grossvater, ein Weinhändler aus wird 1975 befragt, wie er nach allen Hassschwüren und Fiume, geboren in Galizien, sehr orthodox, erzählte mir allem, was er erlebt hat, noch »mit Deutschen sprechen mit Tränen in den Augen von den Hilfeleistungen dieser und Beziehungen zu ihnen pflegen kann«. Seine Antwort katholischen Priester unter Anleitung des Bischofs. Das lautete: »Das ist eine schwierige, komplexe Frage. Auch Treffen hatte die Form eines Festessens, das die Flücht- die Antwort kann nur komplex sein ... Es ist richtig, dass linge anlässlich ihrer Befreiung den Mönchen zu Ehren mir am Anfang die ersten persönlichen Kontakte sehr vorbereitet hatten. Eingeladen waren noch der Town- schwerfielen. Was mir das erste Treffen mit Deutschen Major von Assisi und der Commanding Officer der einen erleichterte, war die Tatsache, dass ich unter den ersten jüdischen Kompanie in dieser Gegend. Wir waren im Besuchern Menschen wie Dr. Gertrud Luckner und Propst ganzen etwa zehn Palästinenser, und ich zufällig der ein- Grüber kennenlernte, die wegen ihrer Hilfe für Juden zige von der R. A. F. ins KZ kamen. Wer als erster den Begriff prägte, dass es Am Schluss der Feier wurde dem Bischof eine Pergament- wieder >ein anderes Deutschland< gibt, war damals zu rolle überreicht — geschrieben mit Gold, Blau, Rot und Anfang der fünfziger Jahre Ben Gurion nach seinem Tref- Grün, in wunderbar verschnörkelten lateinischen Buch- fen mit Adenauer. Diese These stiess damals hier im staben, auf der in Italienisch eine Danksagung und alle Lande noch auf heftigen Widerspruch ... Dann kamen Namen der Flüchtlinge handgeschrieben stand. Das ganze die Stadtverwaltungen von München und Köln anlässlich Geschehen wirkte besonders stark durch den Hintergrund, von Hakenkreuzschmierereien 1959 zu der Erkenntnis, gebildet von Klostermauern, den grünen Wäldern, dem dass zur Vermeidung einer Wiederholung vergangener hohen Berggipfel und der weiten Aussicht über die Tief- Zeiten die deutsche Jugend etwas kennenlernen muss, was ebene, und es war ein kleines Entgelt für mein Leben in für sie aus Gründen der Vergangenheit unbekannt ist: diesem Krieg als Jude und Soldat« (S. 168 f.). Was ist ein Jude, wie sieht er aus, wie lebt er, wie denkt Kunz von Kauffungen, Freiburg i. Br. er, wie arbeitet er, wie baut er auf sein Land auf? ... Später begannen offizielle Stellen, die sich mit politischer JOSEPH HEINEMANN / JAKOB J. PETUCHOWSKI Bildung befassen, Erwachsene aus allen Fachbereichen (Hrsg.): Literature of the Synagogue. Edited with intro- herzuschicken ..., wodurch bis heute Fäden auf sehr wei- ductions and notes. New York 1975. Behrman House, ten Feldern gesponnen worden sind... Für mich ent- Inc. X, 292 Seiten. scheidend war der Ausspruch meines ehemaligen Lehrers, J. Heinemann und J. J. Petuchowski, beide angesehene Prof. Heuss: >... Die Juden können nie vergessen, was Fachleute auf dem Gebiet der jüdischen Liturgie, geben ihnen angetan wurde, die Deutschen dürfen nie vergessen, in diesem Band eine allgemein verständliche Einführung was von Menschen ihrer Staatsangehörigkeit in diesen in die Liturgie der Synagoge und ihre historische Ent- schamreichen Jahren geschah ...<« Auf das Thema der wicklung. In den beiden ersten Teilen des Werks stellt deutschen Jugend kommend, woran sie schuld sei, ant- Heinemann Gebete und Predigten der Synagoge vor, wortet Amram: »Nein, sie ist nicht schuld. Schon Ben während Petuchowski im dritten Teil die liturgische Gurion brauchte das Wort, dass wir nichts an der zweiten Dichtung behandelt. Jeder Teil bietet zuerst eine knappe Generation rächen wollen; aber was wir wollen ist, dass historische Einführung, der ausgewählte Texte mit Ein- die deutsche Jugend weiss, was war. Was wir wollen ist, leitung und kurzen Anmerkungen folgen. dass sie über alles hört und unterrichtet wird und dass sie J. Heinemann zeichnet zuerst kurz die Entwicklung der nicht aus Bequemlichkeit in die >Versuchung kommt, aus jüdischen Liturgie vom Tempel zur Synagoge nach, die der Erinnerung das auszuklammern, was unbequem zu einer echten Volksliturgie ohne kultische Funktionäre ist .. .«< oder Mittler zwischen Gott und dem einzelnen führte. Er Wie kam Amram langsam von seinem Hass zu einer Ver- wählt die wichtigsten Texte des Synagogengottesdienstes söhnungsbereitschaft? Hierzu ist eine Aufzeichnung von — das Sch'ma mit seinen Benediktionen, das Achtzehn- ihm wohl wichtig. Im Jahre 1944 kommt Amram auf sei- gebet in seinen verschiedenen Abwandlungen, das Qad- ner Odyssee nach Assisi in ein kleines Konvent, wohin disch usw. — in sehr alten Textfassungen, die alle im sich 50 Juden aus verschiedenen Ländern geflüchtet hatten. wesentlichen auf die rabbinische Zeit zurückgehen könn- Seine Aufzeichnung wollen wir als Schluss dieser Betrach- ten, und erklärt die immer reichere Entfaltung dieser tung setzen, weil sie mehr über den Menschen Amram Gebete, ihre Struktur und Funktion. aussagte als eine Beschreibung seiner Person und seines Der zweite Teil bringt eine Reihe von Texten aus Tal- Wollens von dritter Seite: Arnram sagt unter dem mud und Midrasch, welche die homiletische Bibelausle- 14. August 1944: gung in der rabbinischen Zeit illustrieren. Auch hier legt

99 Heinemann besonderen Wert auf Aufbau und Stilmittel von Ambrosius von Mailand bei Kaiser Theodosius er- dieser Predigten und die Unterschiede zwischen Texten, zwungenen antijüdischen Gesetzen bezüglich eines Ehe- die auf tatsächlich vorgetragene Predigten zurückgehen, verbotes mit Juden zu den »Nürnberger Rassenschandge- und literarischen Fassungen solchen Predigtmaterials in setzen« sei »sehr viel kürzer, als allgemein geglaubt wird« den Midraschim. Gerade hier könnte man so manche (34). Johannes Chrysostomus habe im » Jargon des >Stür- Datierung eines Textes in Frage stellen, ebenso auch die mer< geredet« (34). Hieronymus habe in den Juden »nur Beurteilung mancher Texte als Predigten (und nicht als Untermenschen« gesehen (35). Cyrillus von Alexandrien Schulvortrag oder rein literarische Kreation), doch liegt habe die »erste Endlösung« organisiert (37). dies am allgemeinen, meist noch recht chaotischen Zu- Im Mittelalter habe sich der kirchliche Vor-Nazismus stand der rabbinischen Forschung. fortgesetzt. »Der seelische Terror, der auf den Juden Petuchowskis Einführung in die liturgische Dichtung ist lastete, glich schon ganz der Gehirnwäsche der Diktatu- nicht ganz so zufriedenstellend. Die Welt des Pijjut ist ren des 20. Jahrhunderts« (59). Unter päpstlicher und dem modernen Leser so fremd, daß man hier weiter bischöflicher Manipulation habe eine »pseudotheologi- ausgreifen müsste. Was die Anfänge des Pijjut betrifft, sche Infamie« geherrscht (63). »Es gibt Verfügungen der referiert Petuchowski nur die verschiedenen Meinungen, Inquisition, die fast wörtlich in Anklageakten der Hit- ohne selbst klar Stellung zu nehmen. Die ausgewählten lerzeit gegen Juden wiederkehren« (73). Texte umfassen sehr verschiedene Formen des Pijjut und Oft gibt Kühner keine Primärquellen für seine harten reichen zeitlich von Jannai (5. Jahrh.?) bis in das Thesen an. Wenn er bisweilen einen Satz unter Anfüh- 12. Jahrh., als die Blütezeit der liturgischen Dichtung rungszeichen setzt, dann ist auch dieser Satz nicht nach- endete. Die Stilmittel der einzelnen Dichter werden zwar prüfbar, da nicht verraten wird, woher er genau stammt. angeführt, wenn auch nur sehr kurz; doch lassen sie sich Jeder, der sich mit Geschichte befasst, weiss ferner, dass auch an einer Übersetzung nur selten aufzeigen, auch eine historische Wahrheit nicht durch Aneinanderreihung wenn diese so wörtlich wie möglich gehalten ist. von Zitaten gewonnen werden kann. Immer ist darüber Insgesamt ist das Buch eine hervorragende Einführung, hinaus der historische Zusammenhang dieser Sätze in die das Interesse für das Erbe der jüdischen Liturgie (die Rechnung zu ziehen. Wenn Kaiser Theodosius z. B. jü- ja auch die christliche Liturgie weithin beeinflusst hat) disch-christliche Ehen als Ehebruch bezeichnen liess (34), wecken und das Verständnis dafür fördern kann. dann müsste man sich auch nach der damaligen jüdischen Günter Stemberger, Wien Einstellung zu Ehen mit Christen erkundigen, bevor man die theodosianischen Gesetze mit den Nürnberger »Ras- HANS KÜHNER: Der Antisemitismus der Kirche, Ge- senschandgesetzen« vergleicht. Rückfragen nach jüdi- nese, Geschichte und Gefahr. Zürich 1976. Verlag Die schen Ausgangspunkten sind aber bei Kühner äusserst Waage. 216 Seiten. selten. Noch etwas stört bei der Lektüre dieses Buches: Der Verfasser leitet aus der Kirchengeschichte eine feste Man merkt die Voreingenommenheit und ist verstimmt! These ab: Die Kirche als Institution, speziell die römische Der Sündenbock für alles Unchristliche den Juden ge- Kirchenspitze, habe von Anfang an einer Verwerfungs- genüber muss unbedingt die sogenannte Amtskirche sein. theologie über die Juden gehuldigt. Diese kirchliche Suggestivworte, die auf die Nazizeit passen, werden Blindheit, bzw. Pseudotheologie, sei eine der Hauptursa- deshalb auch bei der Behandlung der Spätantike und des chen für den Massenmord an Juden in Auschwitz. Die Mittelalters verwendet. Ferner wird vom Autor über die Institution Kirche habe auch nach den Judenmorden im unleugbare Tatsache hinweggesehen, dass sich der heutige Nazireich »keinen Augenblick lang Andeutungen ge- Antijudaismus in jenen Bereichen festsetzt, in denen die macht, dass sie das Inferno . . . möglicherweise zum An- Kirche keinen Einfluss mehr ausüben kann: in nachchrist- lass genommen hätte, eigene Mitschuld und Mitverant- lichen Subkulturen und in weltpolitischen Machtkonzen- wortung zu erkennen 1, und zwar als >Endlösung< von trationen. Er erkennt auch die innerkirchliche Szenerie nur Pseudotheologie. Im Gegenteil. Ganze kirchliche Litera- ungenau. Er müsste doch wissen, dass sich heute viel ten sind seit 1945 bemüht, jede Andeutung von Mitschuld Antijudaismus in traditionellen und progressiven Kreisen und Mitverantwortung weit von sich zu weisen« (13). einnistet, die mit der Amtskirche möglichst nichts zu tun Kühner definiert den kirchlichen Antijudaismus bzw. haben wollen. Sein Schimpfen gegen Paul VI. (186 f. die antijüdische Pseudotheologie als »Hass auf die gott- u. ö.) geht daher weitgehend ins Leere. Hätte Kühner alle bezogene Geistesmacht des Judentums, als der einzigen diese Umstände beachtet, wäre sein Urteil über die Amts- Geistesmacht, die sich dem christlichen Primatanspruch kirche bezüglich der Oberammergauer Passionsspiele, des auf Gott gegenüber zu behaupten gewagt und sich nicht Andreas von Rinn und anderer moderner antijüdischer gebeugt hat« (15 f.). Auswüchse (vgl. S. 133-163) differenzierter ausgefallen`'. Die christlichen Kirchenväter, die spätantiken Kaiser Er hätte dann auch die Judenerklärung des Zweiten und Päpste, waren laut Kühner böse Leute. Sie raubten Vatikanischen Konzils nicht nur mit dem Satz abtun Israel »seine gesamte Geschichte, um deren Träger desto können, sie sei »in der Sphäre des Opportunismus hängen leichter eliminieren und vernichten zu können« (30). geblieben« (186). Dadurch seien sie zu Vorgängern der nazistischen Juden- Das Geschwür des kirchlichen Antijudaismus ist von mörder geworden. Man sehe dies aus Jahreszahlen und Kühner nicht genau diagnostiziert worden. Ähnlich vage den parallelen Handlungsmotiven. Das Konstantinische sind auch seine Therapievorschläge. Man hilft der Kirche Toleranzedikt sei »fast auf den Tag« 1620 Jahre vor den nicht, vom Antijudaismus frei zu werden, wenn man »Nürnberger Gesetzen« erlassen worden (32 f.). Die anti- Emotionen gegen sie mobilisiert und ungenaue Beschul- jüdischen Vorkehrungen eines Bischofs der kleinasiati- digungen ausstösst. Clemens Thoma schen Stadt Kallinikum seien 1550 Jahre vor der »Reichskristallnacht« geschehen (33 f.). Der Weg von den 2 Auf Seite 8 wird bedauerlicherweise Johannes XXIII. wieder einmal als Verfasser des wiedergegebenen »Bussgebetes« genannt. 1 Aber u. a. vgl. dazu im Gegensatz: Erklärung der deutschen Vgl. dazu aber »Klarstellung der Authentizität des angeblich von Bischöfe zum Eichmannprozess und Gebet für die ermordeten Juden Papst Johannes XXIII. verfassten Bussgebetes« (in: FR XIX/1967 und ihre Verfolger vom 11. 6. 1961 sowie Grusswort der deutschen S. 106), wonach sich diese Authentizität nicht nachweisen lässt (An- Bischöfe vom 23. 9. 1962, in: FR XXVII/1975, S. 67. merkungen d. Red. d. FR).

100 CECILE LOWENTHAL-HENSEL (Hrsg.): Mendels- Reissner schildert »Alexander von Humboldt im Verkehr sohn-Studien. Beiträge zur neueren deutschen Kultur- mit der Familie Josef Mendelssohn« und bringt einige und Wirtschaftsgeschichte. Band 2. 1 Berlin 1975. Briefe Humboldts. Als besonders lesenswert erscheint Duncker & Humblot. 238 Seiten, 9 Abb. mir der hochinteressante Vergleich zweier sehr ungleicher Die von C. Lowenthal-Hensel begründete Mendelssohn- Professoren und ihrer Karrieren, der »ersten Professo- Gesellschaft besteht nunmehr seit zehn Jahren und kann ren« unter den Nachfahren Moses Mendelssohns, »Georg hier bereits den zweiten Band Studien zur »deutschen Benjamin Mendelssohn und Karl Mendelssohn Barthol- Kultur- und Wirtschaftsgeschichte« veröffentlichen. Un- dy. Zwei Professoren aus dem 19. Jahrhundert« von ter dem Namen der Mendelssohn firmiert hier wiederum Felix Gilbert (der 1975 unveröffentlichte Briefe der Fa- ein beachtlich breites Spektrum von deutsch- und eng- milie Mendelssohn aus dem 19. Jhdt. herausgegeben hat). lischsprachigen Beiträgen, die den Untertitel des Bandes Die Herausgeberin steuert eine Arbeit zu den Aufenthal- voll und ganz rechtfertigen. Der Umfang des 2. Bandes ten des preussischen Hofmalers Wilhelm Hensel in Eng- ist dem ersten gegenüber um 50 S., die Zahl der Studien land (mit vier Bildern der kgl. Familie) bei. Rudolf auf neun angewachsen. Elvers veröffentlicht »weitere Quellen zu den Werken Auch hier leitet eine Arbeit von Prof. Alexander Alt- von Fanny Hensel«, der zu wenig bekannten, ebenfalls mann ein, eine englische Vorlesung, »Moses Mendels- komponierenden Schwester des berühmten Felix. sohn's Proofs for the Existence of God«. Darin unter- Der 2. Band der Mendelssohn-Studien zeigt die erfreuli- sucht Altmann die Bemühungen des Philosophen um den che Lebendigkeit des Interesses sehr verschiedener Kreise Erweis der Gültigkeit des ontologischen und des kosmo- an der weitläufigen »Wirkungs-Geschichte« der Men- logischen Gottesbeweises — ein letzter Höhepunkt der delssohns. Michael Brocke, Regensburg Leibniz-Wolff-Baumgartenschen Schulphilosophie, die Kant mit der »Kritik der reinen Vernunft« zu entkräften LOUIS JACOBS: Theology in the Responsa. London — unternahm. Leider war Mendelssohn kurz vor seinem Boston 1975. Routledge & Kegan Paul. 378 Seiten. Tode nicht mehr in der Lage, diese Kritik wirklich Die erhellende Untersuchung des gelehrten Autors reicht aufzunehmen, doch zeigt eine Untersuchung seiner von der gaonäischen Periode (bis 1050), über das ganze »Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Got- Mittelalter bis in unsere Tage. Die Responsenliteratur ent- tes« sein originelles Bemühen, auf Kants Widerlegung hält meist keine theoretischen Fragen, sondern die Pro- jener Gottesbeweise zu antworten. Hans von Haimber- bleme entstammen dem Leben. Es handelt sich um Anfra- ger studiert »Die Rolle der Illusion in der Kunst nach gen an berühmte Rabbiner der Zeit. So stellte sich etwa Moses Mendelssohn«. Julius H. Schoeps, »Ephraim Veitel das Problem, was mit einem Kohen (Priester) geschehen Ephraim. Ein Vorkämpfer der Judenemanzipation«, ver- solle, der zum Christentum übertritt, später aber wieder öffentlicht erstmalig eine an Friedrich II. gerichtete Jude wird. Man entscheidet, dass seine Rechte als Priester Denkschrift des Bankiers Ephraim von 1785, in welcher nicht angetastet werden, andere meinen, er solle zwar als Schoeps einen weiteren Beweis dafür sieht, »dass die Erster zur Tora aufgerufen werden, nicht aber die Ge- Judenemanzipation in Preussen zu gleichen Teilen von meinde segnen dürfen. Eine Anfrage betrifft das Problem, der aufgeklärten Beamtenschaft Friedrichs II. wie durch ob Muslime Götzendiener seien. Maimonides entscheidet die Bemühungen einiger privilegierter Juden vorbereitet eindeutig, sie seien es nicht; ihre Religion ist monothei- wurde«. Friedrich II. selbst dagegen hatte 1750 ein »Ge- stisch. Darf ein Gelehrter an einem Bankett teilnehmen, neralreglement« erlassen, das mittelalterlich geprägt war wenn dieses nicht aus spezifisch religiösem Anlass statt- — Mirabeau: »würdig eines Kannibalen« — und das in findet? Rabbi Meir von Rothenburg (gest. 1293) entschei- der Rechtsgeschichte der preussischen Juden einen Tief- det positiv, zumal man an jedem Bankett ohnehin Psalmen punkt bedeutete (Kopfsteuern; Handels- und Berufsver- singt und Lieder (etwa beim Tischgebet) und es sich auf bote; Geburtenbeschränkung; Einteilung in »ordentliche diese Weise indirekt um einen religiösen Anlass han- und ausserordentliche Schutzjuden« sowie »general-privi- delt. Salomon Ibn Adret aus Barcelona (Raschba) (1235- legierte« Juden). Lessing und Christian Wilhelm Dohm 1310) hat viele Responsen verfasst. Eine bezog sich auf vor allem sowie die dünne Schicht der privilegierten den Ausspruch im Talmud (Ket. 110b): »Wer im Lande Juden (hier am Beispiel der Denkschrift) bewirkten Israel lebt, ist wie einer, der einen Gott hat, wer aber allmählich mit ihrer Kritik an diesen Bestimmungen und ausserhalb des Landes Israel lebt, ist wie einer, der keinen ihren Widersprüchlichkeiten eine Verbesserung der Lage Gott hat.« Adret antwortet, das heilige Land würde »Got- der Juden in Preussen. tes Erbteil« genannt: »... weil sie mich jetzt vertrieben Boyd Alexander erzählt lebendig über »Felix Mendels- haben aus der Gemeinschaft am Erbteil des Herrn, sagend: sohn-Bartholdy and Young Women«. Da werden rüh- Geh, diene andern Göttern« (1. Sam. 26, 19). Gottes Vor- rende Briefe der jungen Mary Alexander-Crompton sehung erstreckt sich direkt auf dieses Land, nicht durch (1806-1867) abgedruckt; sie liebte den erfolgreichen Fe- himmlische Fürsten. Daher heisst es auch: »... ständig lix seelenvoll, während er etwas zu geschmeichelt-hinhal- sind die Augen des Herrn, deines Gottes, darauf gerich- tend war. Diese Beziehung ist ein Beispiel mehr für die tet . . .« (Dt. 11, 12). Im übrigen können die meisten Vor- Konventionen und Zwänge jener Zeit, auf die so viele schriften ohnehin nur im heiligen Lande ausgeführt intelligente, dann »ehrenwerten, langweiligen« Männern werden. verheiratete Frauen mit Krankheit reagierten. Alexander Ein Responsum von R. Israel Isserlein (1390-1460) geht fragt aber auch, ob nicht diese heimlichen Liaisons zur um die Frage, ob ein Sohn zum Talmudstudium in eine Erschöpfung und zum frühen Tod des sensiblen Felix fremde Stadt gehen soll, selbst wenn der Vater sich um Mendelssohn-Bartholdy beigetragen haben. (In diesem das Schicksal des Sohnes in der Ferne sorgt. Was geht vor? Beitrag stören einige Druckfehler im englischen Text.) Das Gebot der Elternehrung oder das des Torastudiums? Werner Vogel beschreibt den Brand Hamburgs im Jahre Isserlein entscheidet, der Sohn solle dorthin gehen, wo er 1842 und die preussischen Hilfsmassnahmen. Hanns G. meint, seinen Lehrer zu finden. Er darf also das elterliche Heim verlassen, selbst gegen den Willen des Vaters. Bd. 1 in: FR XXTV/1972, S. 92. Leon da Modena (1571-1648) hat die Frage zu entschei-

101 den, ob man im Gottesdienst komplizierte musikalische Mittelalter zurück — zum Beispiel die Verbindung von Gesänge aufführen darf. Da, so sagt da Modena, ein Vor- Judenschutz und Judenabgaben oder das sogenannte sänger ohnehin eine angenehme Stimme haben soll, ist »Hehlerprivileg« — und macht geistes-, rechts- und wirt- nicht einzusehen, warum er nicht durch einen Chor be- schaftsgeschichtliche Bezüge erkennbar, so etwa Reli- gleitet werden darf. Interessant ist auch die Begründung: gionsfreiheit, Gemeindeautonomie, jüdische Gerichtsbar- Die Nichtjuden könnten meinen, Juden hätten keinen Sinn keit, Zensur, ärztliche Versorgung, Handel und Hand- für Ästhetik und würden annehmen, Juden beteten zu werk. Mit Recht spricht der Herausgeber einmal (S. 76) ihrem Gott in einer Weise, dass es an das Krächzen von von einer »weitgehenden Konvergenz der Interessen von Raben erinnerte. Im 17. Jahrhundert hatte man also be- Staat und Gemeinde«, die es erlaubte, letztere den reits einen Blick auf die Umwelt geworfen. Zwecken des ersteren nutzbar zu machen. Der exemplari- Im 19. Jahrhundert handeln die Responsen etwa davon, sche Wert dieser Publikation wird daraus ersichtlich; ob man eine Trauung in der Synagoge vornehmen darf wenn in Altona bekanntermassen der Rahmen des jüdi- oder ob es dabei bleiben soll, das junge Paar im Syn- schen Eigenlebens »weiträumiger bemessen war als an- agogenhof zu trauen. Es wird aus den Responsen deutlich, derswo«, so bietet dieser Band gerade dadurch auch dass man bereits schwankend geworden war und auch nicht allein auf die Geschichte der deutschen Juden Trauungen in der Synagoge vorgenommen wurden. ausgerichteten Lesern besonders viel Anregung. Abraham Isaac Kook (1865-1935), der erste Oberrabbi- Hans Thieme ner von Palästina, wurde gefragt, ob sich ein frommer ALFRED MOMBERT: Briefe an Friedrich Kurt Benn- Mann malen lassen darf. Kook entscheidet, dass es besser dorf 1900 - 1940. Ausgewählt und kommentiert von Paul ist, wenn nur der obere Teil des Körpers gemalt würde. Kersten. Mit einer Einleitung »Alfred Mombert« von Er äusserte sich auch zu der Frage, ob man Sündern mate- Hans Wolffheim und einem Nachwort von Elsbeth rielle Unterstützung gewähren solle. Kook beantwortet Wolffheim. Heidelberg 1975. Verlag Lambert Schneider die Frage so, dass er meint, Sünder würden letztlich wohl GmbH (Veröffentlichungen der Deutschen Akademie doch ohne eigenen Willen sündigen, und daher darf man für Sprache und Dichtung Darmstadt, 49. Veröffentli- ihnen helfen, falls sie in Not sind. So verständnisvoll Raw chung). 200 Seiten. Kook in vielen Fällen auch war, gegen die Kremation war Alfred Mombert, Sohn eines wohlhabenden jüdischen er unerbittlich, weil er meinte, ein Begräbnis würde den Arztes aus Karlsruhe, Exponent des deutschen Expres- Glauben an die Auferstehung festigen. sionismus, war in seinem Leben ein Einsamer, indes nicht Das Buch ist von grossem Reiz, weil es Einblick in die wider Willen, und ist heute keiner der Vielgenannten, Praxis des Judentums verleiht und auch zeigt, welche Pro- obgleich nicht vergessen. Die Esoterik seines Dichtens ist bleme Juden in den Jahrhunderten mit ihrer Religion nicht Sache der grossen Offentlichkeit, sondern des mit- hatten, anderseits aber auch, in welcher Weise versucht wissenden einzelnen oder des kleinen Zirkels. Mag auch wurde, diese Probleme zu lösen. Obwohl es keine autorita- Rudolf Pannwitz' Paradoxie vom »subjektiven Mythos« tive Behörde gab, die von allen Juden akzeptiert werden sein Denken am Ende nur annäherungsweise treffen (soll konnte, fand man doch Wege, sein Leben nach der Tora dies Wort nicht radikal kritisch verstanden werden). Er zu gestalten. Die Lehrer verkündeten keine Dogmen, aber hatte und hat einen kleinen Kreis treuer Freunde, denen sie wiesen den Weg. E. L. Ehrlich zu seinen Lebzeiten Martin Buber und Hans Carossa, Richard Benz und Friedrich Kurt Benndorf zugehörten. GÜNTER MARWEDEL: Die Privilegien der Juden in Von Benndorf, der selber Dichter war und mit dem ihm Altona (= Hamburger Beiträge zur Geschichte der nicht zuletzt die Überzeugung der inneren Einheit von deutschen Juden, Band V). Hamburg 1976. Hans Chri- Musik und Dichtung, von Benndorf eher als komplemen- stians Verlag. 432 Seiten. täre Parallelität, von ihm selbst konsequenter als Bedin- In derselben guten äusseren und inneren Qualität wie die gung der Möglichkeit sprachlichen Ausdrucks musikali- früheren Bände dieser Reihe (vgl. Jahrgang scher Vorgänge aufgefasst, verband, hat er sich verstan- XXVII/1975 des Freiburger Rundbriefs S. 122) wird den gewusst. Benndorfs Mombert-Interpretationen sind hier dem Leser eine Vielzahl von Quellen — solchen der in engem Kontakt mit dem Dichter entstanden und Archive in Hamburg, Kopenhagen und Schleswig — dürften so ein unverzichtbarer Ausgangspunkt der Be- erschlossen, die nicht nur für die Geschichte von fast mühungen um sein Werk bleiben. Darin liegt auch der dreihundert Jahren »hochdeutscher« und portugiesischer besondere Wert der erschienenen Briefe, dass sie an Juden in Altona, sondern darüber hinaus für eine »ver- jemanden gerichtet sind, von dem dies gilt. Die Ausgabe gleichende Minderheitenforschung« von hohem Interesse ist von Paul Kersten mit liebevoller Umsicht besorgt und sind. Der Ausdruck »Privilegien« ist dabei, wie der mit einem ungewöhnlich dichten, an schwer zu beschaf- Herausgeber schon im Vorwort betont und in seiner sehr fenden Informationen reichen Kommentar (»Anmerkun- sorgfältigen Einleitung (S. 13-109) näher ausführt, nicht gen«, S. 125-185) versehen worden. Die in Momberts eng gefasst: Auch landesherrliche Verfügungen und Wei- Denken einführende Einleitung hat Hans Wolffheim, das sungen, Schriftstücke mit judenrechtlichen Bestimmun- der Beziehung Momberts zu Benndorf gewidmete Nach- gen normativen Charakters, werden im Textteil wort Elsbeth Wolffheim geschrieben. Hans Wolffheims (S. 111-410) abgedruckt und erläutert, dem dann noch besonders im Hinblick auf die Verfluchung Hitlers im anhangsweise das Emanzipationsgesetz des Herzogtums zweiten Teil des Werkes »Sfaira der Alte« vorsichtig Holstein von 1863 und Register folgen. In Verbindung angebrachte Kritik: »Es gibt historische Geschehnisse mit den von H. Mosche-Graupe im dritten Band ver- von derart massiver Gewalt, dass sie von der Verkündi- öffentlichten Gemeindestatuten erschliesst sich damit der gung einer höchst introvertierten >Bild-Welt< nicht einge- Raum, »der eigenständigem jüdischem Leben in und holt werden können«, gibt zu denken (S. 16 f.). Wäre es neben einem christlichen Gemeinwesen von den Herr- nicht eine allzu verzweifelte, auch zweifelhafte Treue schenden eingeräumt wurde und es zugleich ermöglichte gewesen, sich an den »Geisteszustand Jenseits des Tragi- und begrenzte« (S. 9). Ein solcher Einblick ist keineswegs schen«, in dessen Schaffung Mombert seine eigene Bedeu- nur lokalhistorisch interessant; manches reicht weit ins tung sah (S. 17), noch in der Situation der Verfolgung

102 bruchlos zu halten? Oder soll mit dieser Kritik solche wünschten die >Individualisierung<, das heisst die Auf- introvertierte »Bild-Welt« selbst in Frage gestellt sein? lösung aller korporativen Bindungen des Judentums, den Das im Verlag Lambert Schneider, den nach dessen Tod >Verlust der Gruppenidentität< — andere forderten seine Lothar Stiehm übernahm, erschienene und in der ver- >Berufsumschichtung<, nämlich die Abkehr vom Handel pflichtenden Tradition schön gestaltete Buch wird zwei- und machten den Juden zur >negativen Symbolfigur des fellos seinen Weg machen, und dies ist zu wünschen. Kapitalismus< — wieder andere wurden von religiösen Hermann Greive, Köln Vorurteilen motiviert, zumal ja das Nebeneinander der christlichen Konfessionen auch noch längst nicht bewältigt WERNER E. MOSSE / ARNOLD PAUCKER (Hrsg.): war und an Schulen und Universitäten Diskriminierungen Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890-1914. Ein vorkamen. Der Umschlag von der Emanzipation zum Sammelband (= Schriftenreihe wissenschaftlicher Ab- Antisemitismus >bis weit ins bürgerlich-liberale Lager hin- handlungen des Leo Baeck Instituts 33). Tübingen 1976. ein< ward auch durch wirtschaftliche und politische Kräfte J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). 786 Seiten. und Entwicklungen vorbereitet und führte zu einem Von dem reichen Inhalt dieses Gemeinschaftswerks aus- >Epochenwandel< Ende der siebziger Jahre, den der Ver- ländischer (Israel, England, USA) und deutscher Gelehr- fasser eindrucksvoll belegt. 'Oberhaupt ist in diesem wie ten in Kürze wenigstens einen Begriff zu geben, ist nicht in den meisten anderen Beiträgen die Dokumentation leicht. Mit Goethe möchten wir sagen: Und wo ihr's packt, überaus sorgfältig; es steckt sehr viel Arbeit in den An- da ist's interessant! Hier die Titel der Beiträge: R. merkungen, die den Leser ebenso weiterführen wie die Emanzipation und Krise — Zur Geschichte der >Juden- umfassende Bibliographie. Gewiss werden nicht restlos frage< in Deutschland vor 1890; W. E. Mosse, Die Juden alle Wünsche erfüllt; so hätte zum Beispiel gerade der in Wirtschaft und Gesellschaft; E. Schulin, Die Rathenaus Beitrag E. L. Ehrlichs >Judenfeindschaft in Deutschland< — Zwei Generationen jüdischen Anteils an der industriel- in dem von K. Thieme herausgegebenen Sammelband len Entwicklung Deutschlands; P. Pulzer, Die jüdische >Judenfeindschaft< (Fischer-Bücherei, 1963) sowie dieser Beteiligung an der Politik; P. Gay, Begegnung mit der insgesamt eine Anführung verdient. Aber gleichwohl Moderne — Deutsche Juden in der deutschen Kultur; L. schulden wir diesem Werk grössten Dank: Vermag es auch Cecil, Wilhelm II. und die Juden; H. Greive, Die gesell- Fragen, die uns bedrängen, ja quälen — >Wie konnte dies schaftliche Bedeutung der christlich-jüdischen Differenz — alles bei uns geschehen?< — nicht einfach zu lösen, weil sie Zur Situation im deutschen Katholizismus; W. Jochmann, dafür viel zu kompliziert sind, so gibt es uns doch eine Struktur und Funktion des deutschen Antisemitismus; Fülle von Anhaltspunkten, Hilfen, Sachwissen an die A. Paucker, Zur Problematik einer jüdischen Abwehr- Hand, zeigt vieles in neuem Licht, behütet uns vor einer strategie in der deutschen Gesellschaft; P. E. Rosenblüth, Simplifizierung und vorschnellen Urteilen. Gründlichkeit, Die geistigen und religiösen Strömungen in der deutschen Ernst und Tiefe werden darin einem Gegenstand zuge- Judenheit; U. Tal, Theologische Debatte um das >Wesen< wandt, der uns alle angeht. Hans Thieme des Judentums; Y. Eloni, Die umkämpfte nationaljüdische Idee; R. Weltsch, Die schleichende Krise der jüdischen PNINA NAVE: Du, unser Vater. Jüdische Gebete für Identität — Ein Nachwort. Ein Vorwort von W. E. Mosse Christen. Mit einem Vorwort des Bischofs von Strassburg und A. Paucker geht den dreizehn Beiträgen voran; Biblio- Leon Arthur Elchinger. Freiburg i. Br. 1975. Verlag Her- graphie, Personen- und Sachregister sowie ein Mitarbei- der. 114 Seiten. terverzeichnis folgen ihnen. Mit dieser Sammlung von jüdischen Gebeten liegt uns ein Es handelt sich um ein sehr fundiertes, teilweise frühere Buch vor, für das wir dankbar sind. Forschungen zusammenfassendes, auf weite Strecken aber Wir erfahren hier an Gebetsbeispielen aus dem Juden- Neuland betretendes Werk, dessen Herausgeber und Mit- tum, welcher Ur- und Hintergrund unser christliches Be- arbeiter eingangs eine Fülle von Archiven, Bibliotheken, ten hat. Jesus hat uns beten gelehrt. Sein Gebetsbeispiel Instituten und Einzelpersonen aufzählen, denen sie zu ist keine »freie Erfindung«, sondern er betet aus seinem Dank verpflichtet und deren Materialien verwertet sind. jüdischen Denken heraus. Englisch oder hebräisch geschriebene Abhandlungen wur- Die vorliegende Gebetssammlung ist nach den Vaterunser- den ins Deutsche übersetzt; das Londoner Leo Baeck Insti- Bitten gegliedert. Zu jeder Bitte sind Gebete und Gedan- tut dankt der Fritz-Thyssen-Stiftung und der Memorial ken gesammelt, die in einer Zeitspanne von dreitausend Foundation for Jewish Culture für die Bereitstellung der Jahren entstanden sind. Diese Beispiele reichen von der Mittel, die dieser Band im Rahmen seiner Gesamtdarstel- Hebräischen Bibel bis zur Gegenwart. lung der deutsch-jüdischen Koexistenz während des 19. Die Texte, auch die Bibelstellen wurden mit Ausnahme und 20. Jahrhunderts erforderte. Auf die früher erschie- der äthiopischen Gebete von der Herausgeberin übersetzt. nenen Bände »Entscheidungsjahr 1932« ( 2 1966; vgl. FR Die meisten Gebete sind hebräischen und aramäischen XVI/XVII [1965] S. 147 ff. und XIX/1967, S. 159) und Ursprungsl. >Deutsches Judentum in Krieg und Revolution< (1971; Die Verfasserin sieht ihre Lebensaufgabe darin, das Ver- vgl. das. XXIII/1971, S. 134 ff.) dieser >Trilogie< sei auch hältnis der Juden und Christen zu verbessern, aufzuzei- hier nochmals hingewiesen; für diesen dritten, abschlie- gen, was uns verbindet. Dieses Anliegen ist ihr sehr gut ssenden Band — dem später noch eine Dokumentation in der Gebetssammlung gelungen. Grosses Interesse wer- folgen soll — gilt dasselbe, was E. L. Ehrlich in seiner den bei den Lesern und Betern dieses Buches die zahl- oben angeführten Besprechung bezüglich seines Vorgän- reichen »Gebetsanekdoten« finden. Köstlich, erfrischend gers feststellte, nämlich, dass er zu den besten gehört, die und beispielhaft für unser persönliches Beten! vom Leo Baeck Institut herausgegeben wurden. Ein Beispiel einer »Gebetsanekdote« sei hier vorgestellt: Wir wollen dies gleich am ersten Beitrag, demjenigen von Reinhard Rürup, exemplifizieren. Hier wird die ganze 1 Vgl. dazu auf S. 107-114 die dieser Sammlung beigegebene Liste. Problematik der >Judenfrage< vor dem Leser ausgebreitet, S. 107 zitiert: »Abba, aramäisch >Vater, Väterchen<, verbreiteter Eigen- name, jüdischer Name für Gott.« Vgl. aber dagegen : Joachim Jere- die mit der >bürgerlichen Verbesserung< im Sinne von Chr. mias, Neutestamentliche Theologie. I. Teil. Gütersloh 1971. (Anm. d. W.. Dohm (1781) keineswegs bewältigt war: Die einen Red. d. FR.)

103 Ein Frommer ging seines Weges und betete. Ein Fürst kam ersten Ziel sind vor allem die Seiten 7-62, dem zweiten und grüsste ihn, aber er erwiderte nicht den Gruss, bis er die Seiten 63-118 gewidmet; ein Textanhang bietet die das Gebet beendet hatte. Jener sprach: »Hohlkopf, steht Übersetzung sämtlicher 36 Beschwörungstexte des Sefer denn nicht in eurer Lehre: >Aber hüte dich und be- ha-razim (SHR). wahre deine Seele sehr< (5. Mose 4,9) — weshalb hast du Die nach Himmelsbeschreibung, magischem Anliegen, meinen Gruss nicht erwidert? Wer würde dir helfen, wenn Anweisung und Beschwörung aufgegliederte Inhaltswie- ich dich jetzt köpfen liess?« dergabe (S. 17-62) gibt auch dem Laien eine gute und Er sagte: »So warte doch und lass dich beschwichtigen! rasche Übersicht über das SHR. Die hier eingeschobenen Wenn du vor einem König stündest, dein Freund aber Bemerkungen zeigen mit Hilfe der literarkritischen Me- begrüsste dich, würdest du ihm da antworten?« thode die Disparatheit der verschiedenen magischen Er sagte: »Nein«. — »Was geschähe, wenn du zu ihm sprä- Stoffe und deren sekundäre Bindung an den die Himmel chest?« — »Man würde mich köpfen.« beschreibenden Teil auf, was man schon zuvor aufgrund Da sagte er: »So denke doch nur logisch. Das tätest du, formaler und traditionsgeschichtlicher Einsicht gesehen der du vor einem König stehst, der heute hier ist und hatte, wiewohl gerade der Herausgeber Margalioth in morgen im Grab. Um wieviel mehr Grund habe ich, der seiner Einleitung stets von einem »Verfasser« spricht. ich vor dem König aller Könige stand, dem Heiligen, Der eigentliche Hauptteil der Arbeit ist der Beschrei- gelobt sei Er, der ewig lebt und vor Anbeginn bis zur bung der »Beschwörungen in ihren typischen Merkma- Unendlichkeit besteht!« len«. gewidmet (S. 63-118). Den vielerörterten Unter- Dies beschwichtigte den Fürsten, und er liess den From- schied zwischen Gebet und Beschwörung sieht N. im men in Frieden ziehen. zusätzlichen Element der »magischen Bindung« (S. 63), Im Nachwort der Verfasserin heisst es: Gebete, Legenden, so dass die typische Beschwörung aus zwei Teilen be- Predigten reihen sich hier an die Bitten und Schriftverse steht: 1. aus der magischen Bindung und 2. aus der an, bilden ein vielfarbiges Fenster in uns hinein und über »möglichst genauen Übermittlung des jeweiligen Anlie- uns hinaus. gens« (S. 66). Die magische Bindung, die aus der Hin- Bei einem jüdisch-christlichen Gebetsgottesdienst zweier wendung zu den höheren Mächten eine Beschwörung Freiburger Pfarrgemeinden (Evangelische Petrusgemeinde macht, kann auf fünf verschiedene Arten geschehen — die und katholische Pfarrgemeinde St. Cyriak und Perpetua) man aber besser, nach dem Vorgang der Tabelle auf mit der jüdischen Gemeinde von Freiburg hat dieses Buch S. 65, in drei zusammenfasst: 1. Nennung des Namens »Pate gestanden«. Wir sind deshalb dankbar und froh des angerufenen Wesens (a), Benennung der Funktionen über dieses Buch. und Attribute dieses Wesens (b); 2. Bindeformel (c) und Der Bischof von Strassburg L. A. Elchinger hat als Vor- 3. Anrufung einer dritten, höheren Macht, entweder sitzender des Komitees der französischen Bischöfe für ohne (d) oder mit (e) besonderer Formel. Die fünf (a—e) die Beziehung zum Judentum das Vorwort geschrieben genannten Möglichkeiten scheint N. als Alternativen der Er begleitet dieses Buch unter anderem mit dem Hinweis magischen Bindung zu betrachten, wiewohl sie »vielfach auf die Vatikanischen Richtlinien und Hinweise für die gehäuft innerhalb einer Beschwörung« auftreten (S. 64). Durchführung der Konzilserklärung »Nostra aetate«, Allein, die von N. 5.65 dafür aufgestellte Tabelle ist Nr. 4 vom 3.1.1975 1 . trügerisch, denn in ihr bleiben »individueller gestaltete Die vorliegende Sammlung kann uns eine Hilfe sein. Formen« der Beschwörung (vgl. S. 69), auch Löse- und Sie trägt dazu bei, durch Gemeinsamkeit des Betens das Übergabeformeln, sowie das ersatzweise Aufschreiben Band der gemeinsamen Wurzeln ihrer Erben zu festigen. der zu beschwörenden Namen auf Amuletten u. Contardo Müller OFM, Freiburg i. Br. unberücksichtigt. Bezieht man jedoch all jene mit ein, scheint es, dass man im Grunde mit einem Minimum von 1 S. in FR XXVI/1974, S. 3. Element (1) und (2) mit häufiger Verwendung von Nr. 3 als Grundschema der magischen Bindung wird rechnen JENS-HEINRICH NIGGEMEYER : Beschwörungs- müssen (vgl. auch S. 67). formeln aus dem »Buch der Geheimnisse« (Sefer ha- Im folgenden werden dann zehn verschiedene Merkmale razim). Zur Topologie der magischen Rede. Judaistische der magischen Rede zusammengestellt: 1. Name, 2. Texte und Studien Bd. 3, Hrsg. J. Maier. Hildesheim— Attribut (Gottes u. d. Engel), 3. Funktionsbezeichnung New York 1975. G. Olms. 274 Seiten. (d. Engel u. Dämonen), 4. Die Identifizierung, 5. Die Das Buch der Geheimnisse, ein im Jahre 1966/67 in Bindeformel, 6. Die Löseformel, 7. Das instrumentale Jerusalem von M. Margalioth herausgegebenes jüdisches »bei«, 8. Die Präzisierung, 9. Der Analogieanspruch, 10. Zauberbuch in hebräischer Sprache, hat die Gestalt einer Modalitäten. Die jeweils zusammengeordneten Beispiele Beschreibung der sieben Himmel, aufsteigend vom unter- geben dem Leser ein hilfreiches und praktikables Mass sten bis hin zum obersten, in dem Gott in Herrlichkeit zur Gliederung und zum Verständnis von Beschwörungs- auf seinem Throne sitzt, wie wir sie aus der Apokalyptik texten an die Hand. und den esoterischen Traditionen der Rabbinen kennen. Den Abschnitt »Das Attribut« nimmt sich der Verf. zum Im Anschluss an die Beschreibung der ersten sechs Him- Anlass einer kleinen Theologie der Gottesattribute der mel, deren wichtigster Teil lange Reihen von Engelna- magischen Texte. Zu viel gebrauchten theologischen men sind, folgen jedoch jeweils magisch-praktische An- Schlagwörtern sucht der Verf. Belege aus den Attribu- weisungen für alle Arten Zauberei, wie sie aus den tenreihen der Texte im SHR, die er allerdings häufig griechischen Zauperpapyri schon länger bekannt sind. unter Nichtbeachtung des gegebenen Kontextes übersetzt. Die vorliegende Kölner Dissertation »verfolgt zwei Zie- So soll z. B. das Wort hazaq, »der Gewaltige« als tradi- le. Zum einen soll das kürzlich von M. Margalioth rekon- tionell biblische Bezeichnung der »diesseitigen« Macht struierte >Buch der Geheimnisse< einem breiteren Publi- Gottes dienen, obwohl es in einer typisch häufenden kum bekannt gemacht werden ... Zum anderen sollen Reihe merkava-mystischer Texte steht (S. 80), oder soll auf einer verbreiterten Basis die Beschwörungen in ihren »der auf den Flügeln des Windes einherkommt« ein typischen Merkmalen beschrieben werden« (S. 5). Dem Beleg für »Gottes Allgegenwart« sein (S. 84) u. a.

104 Den Interpretationen dieses theologischen Teiles muss welche er mit der Geschichtsauffassung Geigers konfron- man darum eher skeptisch gegenüberstehen, wie über- tiert. Er kommt dabei zu folgendem Resultat: Obwohl haupt alle interpretativen und beschreibenden Teile des Geiger immer wieder beteuerte, wie sehr er sich um ein ob- Buches kurz geraten sind. Der Verf. neigt eher zum jektives Geschichtsverständnis bemühte, war das Gegen- Tabellarischen, wie auch die Wiedergabe des übersetzten teil der Fall. Seine Reformbestrebung implizierte eine sub- Inhaltsverzeichnisses der Einleitung Margalioths, die jektive Geschichtsdarstellung und eine tendenziöse Juden- Reproduktion von anderwärts gedruckten Engellisten tumskonzeption. In der Folge wurde für ihn jüdische und die Dreingabe eines Stellenregisters zu L. Blaus Alt- Geschichte analog zur Geschichte des Judentums, was jüdischem Zauberwesen zeigt. eigentlich eine Beschränkung der allgemeinen Geschichte Dennoch wird das Buch von Niggemeyer vor allem auf die Geistesgeschichte bedeutete. Daher waren für ihn wegen seines zweiten Teiles jedem Bearbeiter magischer die Geschichte Altisraels wie der Status der Juden im Texte ein wichtiges und hilfreiches Werkzeug sein. Mittelalter irrelevante Ereignisse. Denn laut Geiger habe K. E. Grözinger, Frankfurt/M. die politische Geschichte der Juden mit dem Verlust des eigenen Landes aufgehört. Die rechtliche, wirtschaftliche JAKOB J. PETUCHOWSKI (Hrsg.): New Perspectives und soziale Stellung der Juden sieht Geiger nicht als Teile on Abraham Geiger. Cincinnati 1975. Hebrew Union jüdischer Geschichte, die profiliert werden müssen, son- College Press. 58 Seiten. dern als Bestandteile der Geschichte jener Völker, unter Die interessante, aus vier Aufsätzen bestehende Studie welchen die Juden lebten. »New Perspectives on Abraham Geiger« stellt Jakob Geigers Theorie vom Judentum ist subjektiver Art und J. Petuchowski in seiner Einleitung folgendermassen vor: resultiert in einer Synthese von deutscher Nationalität Das Institut für Religion am Hebrew Union College, das und mosaischer Konfession. Laut Mayer besteht Geigers sich in doppelter Hinsicht — sowohl in wissenschaftlicher Irrtum darin, da er nicht das von ihm gezeichnete Ge- als auch in religiöser — als das geistige Erbe Geigers be- schichtsbild der Juden von der tatsächlichen Geschichte trachtet, nahm dessen 100. Todestag zum Anlass, sein des jüdischen Volkes zu unterscheiden wusste. geistiges Schaffen durch ein Symposium zu würdigen. Wir Der Aufsatz von Nahum M. Sarna »Abraham Geiger and erfahren aus der Einleitung nicht, worauf die geistige Biblical Scholarship« bietet mehr, als der Titel verspricht. Verwandtschaft des College mit Geiger beruhen soll. Neben einer ausgewogenen Betrachtung über Geigers Zu- Ebensowenig erfahren wir, warum sich eine religiös ge- gang zur Erforschung der Bibel reflektiert der Verfasser bildete Jugend noch auf einen Reformator des Judentums über die Bibelforschung schlechthin und hebt den jüdi- aus Deutschland beruft, der dem Judentum das Attribut schen Aspekt dieser Disziplin in der damaligen Zeit deut- »Volk« absprach, da es zu Geigers Lebzeit kein eigenes lich hervor. Zu diesem Zweck führt er paradigmatisch Land mehr besass. eine Reihe jüdischer Wissenschaftler und deren Werke auf, Begrüssenswert ist, dass das College bemüht war, auch um den Beweis zu erbringen, wie sehr die jüdische Gei- Referenten zu engagieren, die nicht dem Kreis des Re- steswelt die Bibelforschung gemieden hat. formjudentums angehören; die Begründung jedoch, Gei- Allein Geiger war mit diesem Zustand unzufrieden. Diese ger habe sich als Lehrer und Rabbiner einer »ganzen« Unzufriedenheit war einerseits wissenschaftlich motiviert, Gemeinde betrachtet, ist hingegen falsch, da er von den andererseits aber suchte der Reformator einen Beweis da- die Reformsynagoge ablehnenden Juden als Rabbiner für, dass das Judentum eine Religion sei, die sich vom nicht anerkannt wurde. Der Hinweis, dass das von Gei- Anfang an bis in die Gegenwart im Zustand der Ent- ger herausgegebene Gebetbuch einen würdigen (decorous) faltung befinde. Seine Betrachtungen über den Pentateuch und liberalen Gottesdienst gewährleistete, stimmt nur führten zu einer Unterbewertung seiner Gesetze, um den zum Teil: Wie sehr ein herkömmlicher Gottesdienst wür- Angriff auf den nationalen und partikularistischen Cha- dig sein kann, überzeugt man sich beim Eintritt in die rakter der Religion zu erleichtern. Auf diese Weise wollte Ichud schibhat Zion Synagoge in Tel Aviv. er den ethischen Monotheismus der Propheten als Kern In dem ersten der vier Aufsätze beschäftigt sich Michael des jüdischen Universalismus erweisen, der den natür- A. Mayer mit »Abraham Geigers Historical Judaism«. lichen Boden für ein jüdisch-christliches Gespräch bieten Hier soll a priori gesagt werden, dass der Verfasser auf sollte. nur zwölf Seiten eine konzise und zugleich umfassende Man kann also sagen, dass Geiger in diesem Falle seine Darstellung bietet. Um dem Leser das Phänomen Geiger Wissenschaft in den Dienst der Reform stellte; was die plausibel zu machen, lässt er einige Persönlichkeiten, aller- Kritik anlangt, hatte er wenig dem hinzuzufügen, was dings aus verschiedenen Richtungen und Strömungen, protestantische Theologen bereits gesagt hatten. So ist er über ihn urteilen. Während Cäsar Seligmann, liberaler zwar laut Sarna derjenige, welcher die Bibelforschung in Rabbiner in Frankfurt, im Jahre 1910 anlässlich der die Wissenschaft des Judentums einbezogen hatte, er 100. Geburtstagsfeier Geigers in der Zeitschrift »Liberales wusste aber nicht die Gelegenheit zu nützen, um einen Judentum« die Rückkehr zu Abraham Geiger verlangte, echt jüdischen Beitrag zu liefern. schrieb der Krakauer Rabbiner und Zionist Osias Thon Bemerkenswert allerdings und durch die Funde in Qumran im He-atid, dass Geigers Konzept nichts als Verheerung, bestätigt ist die These, dass die Septuaginta eine hebräi- Zerstörung und Negatives enthalte. Es sei ein grausamer sche Vorlage gehabt habe und der samaritanische Penta- Witz, meint Thon, wenn dieser darauf besteht, ein neues teuch nicht auf einer unbedeutenden bzw. tendenziösen Judentum bilden zu wollen und dabei ihm sein Recht Schrift beruhe, sondern eine alte Texttradition voraus- auf nationalen Charakter und eigene Sprache nehmen setze. Es darf dabei aber nicht ausser acht gelassen wer- will. Vierunddreissig Jahre später bezog sich der Ber- den, dass die hebräische Vorlage, wenn auch nicht fehler- liner Gerschom Scholem, später Professor an der Jerusa- frei, authentisch, dem Original näherstehend und demzu- lemer Universität, auf Geiger als auf den talentiertesten folge auch hochwertiger als die Septuaginta und der »Gelehrten der Zerstörung«, dessen Denkweise einer samaritanische Pentateuch war. soliden Grundlage entbehrte und in dessen Schriften der Die Abhandlung über »Abraham Geiger and Talmud- unangenehme Geist klerikaler Heuchelei durchsickerte. criticism« eröffnet David Weiss Halivni mit dem Hin- Sodann führt Mayer eine Reihe historischer Topoi auf, weis, dass die Talmudkritik keineswegs Geigers Haupt-

105 beitrag zu den Rabbinica war. In einer Zeit jedoch, in der den Geiger an seinen Freund, den Orientalisten M. A. die Talmudkritik zu einer beachtlichen und selbständigen Levy, schrieb, ist zu ersehen, wie er sein Gebetbuch be- Disziplin wird, sollte doch Geigers Namen mit dieser in wertet hat: »Although it contributes nothing to science Verbindung gebracht werden. Sein Beitrag zur Talmud- (Wissenschaft), it is nevertheless partly of practical im- kritik bestand zwar nicht so sehr in dem, was er sagte, portance, and partly a matter of honour.« Auf die prak- als vielmehr in seiner Weigerung, die wissenschaftliche tische Bedeutung dieses Gebetbuchs zur Zeit Geigers geht Erkenntnis der Tradition unterzuordnen. Denn ab- aber Petuchowski nicht ein, er nimmt ebensowenig Stel- gesehen von einer möglichen Annahme, galt die Ab- lung zu dessen Bedeutung für das amerikanische Juden- weichung von der herkömmlichen rabbinischen Tradition tum bzw. das Judentum schlechthin. Statt dessen spricht bis zu Geigers Zeit als unüblich. er von dem Erfolg der Liturgie, die er erstaunlicherweise Um das Wesen der Talmudkritik transparent zu machen, in der »Divergenz« sieht, die zwischen Geigers liturgi- führt Weiss Halivni einige Paradigmata an: Der Histori- scher Theorie und Praxis bestehe. Der Praktiker Geiger ker Heinrich Graetz, der in jungen Jahren die Talmud- habe nicht mehr oder nicht mehr in diesem Masse auf kritik missbilligte, machte später in seinem Geschichts- jenen liturgischen Änderungen bestanden, welche der werk von dieser reichlich Gebrauch. Dabei unterschied er Theoretiker forderte — unter anderem wäre den Begriffen in seiner Forschung zwischen Geschichte und Halacha, »das jüdische Volk«, »amalek«, sowie der hebräischen welche letztere er aus seiner Kritik ausschloss. Geiger hin- Sprache und der Hoffnung auf Jerusalem ihre Bedeutung gegen machte diesen Unterschied nicht und dehnte seinen genommen worden. Dass Geiger infolge seiner Einstellung kritischen Apparat auf alle Gebiete und Texte des Tal- zur deutschen Umwelt, in der er lebte — das deutsch- mud aus. Beachtenswert ist sein Hinweis auf das System sprachige Gebet rief bei ihm mehr Hingabe hervor als das der Reihung der Traktate. Der Versuch jedoch, in Gei- hebräische (S. 45) —, dem jüdischen Gebet seine nationale gers Schriften eine textkritische Stelle zum Talmud zu Substanz nehmen wollte, liegt auf der Hand. Die Frage finden, die in ihrer Methode an R. Menasse, den Schüler allerdings, ob er sich darüber im klaren war, dass er da- des Wilnaer Gaon erinnerte, blieb ohne Erfolg, obwohl mit der Liturgik ihre Essenz nahm und sie seiner subjek- R. Menasse in seiner Kritik der Methode Geigers näher- tiven Haltung unterwarf, kann hier nicht erörtert wer- stand als der des Graetz. Dies sei darauf zurückzuführen, den. dass Geigers Interesse nicht der Halacha an sich gegolten Zusammenfassend soll festgestellt werden, dass auch habe, sondern ausschliesslich dem Zwecke der historischen Petuchowski den Standpunkt Geigers hinsichtlich der er- und theologischen Forschung. wähnten Eliminierungen nicht teilt. Diese allerdings mit Abschliessend stellt Weiss Halivni folgende Überlegung dem Hinweis abzutun, Geiger sei ein Kind seiner Zeit, an: In dem Werk des Wilnaer Gaon »Schemot Elijahu« ist nicht ausreichend. Seine Zeit und besonders die darauf- befinden sich Passagen, die darauf hinweisen, dass sich folgende Generation hatte Männer, deren Würdigung des dieser erlaubte, von der herkömmlichen Gemarainter- Judentum das einigende Kriterium, das Hebräische, zu pretation abzuweichen. Dies wird von dem ebenfalls aus fassenden Kenntnis des Judentums und der Identifizie- Wilna stammenden R. Schmuel Straschun in einer Glosse rung mit dessen Schicksal geschah. zu Pesachim 74a bestätigt. Es ist wohl kaum anzuneh- Vergleicht man all die Mühe, die sich Geiger gab, dem men, dass Graetz bzw. Geiger von der in Kreisen des Judentums das einigende Kriterium, das Hebräische, zu litauischen Rabbinismus herrschenden Neigung zur Tal- nehmen, ihm sein Empfinden für Jerusalem abzuspre- mudkritik gewusst haben. Daher wirft der Verfasser der chen und den Begriff »jüdisches Volk« zu leugnen, mit Studie die Frage auf, ob die Konfrontation eines neuen dem Werk jener Männer, denen diese Werte heilig waren, Geschichtsbildes mit dem Talmud dessen Verständnis ge- neigt man trotz aller wissenschaftlicher Verdienste Gei- fördert hat oder ob die sich allgemein durchsetzende wis- gers dazu, dem beizupflichten, was Scholem (S. 4) über senschaftlich-kritische Analyse an verschiedenen Orten ihn sagte. und voneinander unabhängig zu einer Talmudkritik ge- Eine Wiederaufnahme der Diskussion über Geiger ist be- führt haben konnte. grüssenswert. Die Aufgliederung der Studie in vier Teile Die Serie schliesst mit einem Aufsatz von Jakob J. Petu- gewährleistete eine erschöpfende Abhandlung des Werkes chowski über »Abraham Geiger, the Reform Jewish Abraham Geigers. Die Perspektiven allerdings sind kei- Liturgist«. Konzis und zugleich klar schildert Petu- neswegs neu, zumindest nicht für den europäischen Leser. chowski den Weg des von Geiger edierten Gebetbuches Jacob J. Allerhand, Wien von Europa nach den USA. Auffallend ist, dass selbst Geiger, der sein Gebetbuch durchaus nicht als wertvollen JAKOB J. PETUCHOWSKI: Beten im Judentum. In Beitrag zur Wissenschaft des Judentums betrachtet, es englischer Ausgabe unter dem Titel: »Understanding sonderbar findet, dass die Reformatoren Jastrow und Jewish Prayer«". Aus dem Englischen übertragen von Hochheimer es für nachahmungswürdig hielten. Wenn Elizabeth R. Petuchowski. Stuttgart 1976. Verlag Katho- Geiger einen Zusammenhang zwischen dem von ihm lisches Bibelwerk. 123 Seiten. edierten Gebetbuch und der Wissenschaft vom Judentum Wer der These zuneigt, das Judentum erschliesse sich von sieht, so sollte auch der Zusammenhang zwischen dieser seiner Esoterik her in zuverlässiger Weise, der wird mit Wissenschaft und der bürgerlichen Lage der Juden in Neugier zu dem Bändchen »Beten im Judentum« greifen. Deutschland, welche diese Wissenschaft ausgelöst hat, ge- Und das Vorwort zur aus dem Amerikanischen über- sehen werden. Diese Zusammenhänge werden für die setzten Publikation verstärkt die Erwartung eines christ- amerikanische Religionspraxis anscheinend als irrelevant lichen Theologen, stellt es doch die Behandlung dessen in betrachtet. Aussicht, »was der Jude im jüdischen Gebetserlebnis er- Der europäische Leser jedoch, der in einer leider so dezi- fährt und was die Tradition der jüdischen Theologie dar- mierten Nachkriegsgesellschaft nur Spuren jenes reforma- über zu sagen hat« (7). torischen Geistes auf dem Boden seiner Entstehung ken- Der bekannte Autor beleuchtet das »Gebet an sich« in nengelernt hat, kann nicht umhin, diese auf die Gesamt- fünf Kapiteln, um mit dem sechsten Kapitel eine Erörte- entwicklung des Judentums zu beziehen. Aus der von Petuchowski zitierten Stelle eines Briefes vom 28. 4.1870, * New York 1972 (vgl. FR XXVI/1974, S. 109. Anm. d. Red. d. FR).

106 rung der Frage »Kann der moderne Mensch noch beten?« ständnis jüdischer Gebetspraxis und Tradition vertieft. anzuschliessen. Im ersten Kapitel unter der Oberschrift Obwohl es sich als jüdische Selbstvergewisserung in einer »Spontaneität und Tradition« (11-28) bestimmt er das grundlegenden Frage des Judentums gibt, ist es aus- Verhältnis von kawwanah, dem persönlichen Gebet, des- gezeichnet geeignet, demjenigen einen profunden Einblick sen Innerlichkeit ungezwungen glückt, und qebha', dem zu gewähren, der ihn vom christlichen Nachbargrund- der festgelegten liturgischen Formel folgenden Gebet. stück aus nehmen will. Judentum, ja sein Eigenstes wird Petuchowski vergegenwärtigt den geschichtlichen Vor- hier im besten Sinn des Wortes er-schlossen. Dabei impo- gang der Festlegung des qebha'-Gebets und verflüssigt die niert nicht nur die Darstellungsart, die den souveränen scheinbare Antithese zur wechselseitigen Verwiesenheit: Meister seines Fachs als »bescheidenen« Gelehrten aus- »Die >kawwanah< der einen Generation wird zur >qebha< weist: Er schreibt verständlich und trägt seine Gelehrsam- der nächsten Generation« (21). Und: »Die lange Ge- keit nicht protzig auf. Ebenso gewinnend wirkt Petu- schichte des >qebha'< ist also an sich ein aufschlussreicher chowskis Fähigkeit zur Vermittlung bzw. Offenheit: Er Beweis für die Macht der >kawwanah< in der Entwick- lässt seine Sympathie für das Reformjudentum zutage lung der jüdischen Liturgie« (27). Beim zweiten Kapitel treten (vgl. 25 f., 27, 64) und verzichtet dennoch nicht »Gabe und Gebot« (29-39) geht es um das Gebet als auf sein Recht zur Kritik daran (vgl. nur 57, 77); er ist Pflicht wie als Geschenk. Der Autor bewertet das Pflicht- mit der orthodoxen Reaktion gewiss nicht einverstanden gebet positiv als »befreiende Pflicht«. »Gebet als >Pflicht< (vgl. nur 27, 64) und nimmt sich dennoch die Freiheit, erhält unsere Fähigkeit zu beten am Leben« (37), was mit den legitimen Kern des orthodoxen Anliegens herauszu- einem bemerkenswerten Zitat von A. J. Heschel belegt stellen (vgl. 74-77). Und dass er Fremdes aufnimmt ohne wird. »Kult, Unterhaltung und Gottesdienst« sind die Einbusse des Eigenen und jüdische Zukunft zu skizzieren Stichworte des dritten Kapitels (40-51), welches die weiss im Hindurchgang durch die Geschichte des Juden- ästhetische Seite des synagogalen Gottesdienstes bedenkt tums, davon war bereits die Rede. und gleichzeitig die Weite des Verfassers durchscheinen Hans Hermann Henrix, Aachen lässt: Petuchowski stimmt mit dem katholischen Reli- gionsphilosophen Romano Guardini überein, der in der LEON POLIAKOV: Geschichte des Antisemitismus Bd. I: Liturgie ein »Spiel« vor Gott und ein Werk der Kunst Von der Antike bis zu den Kreuzzügen. Übersetzt von sah. Sein Konsens mit dem Katholiken Guardini geht je- Rudolf Pfisterer. Originaltitel: Histoire de l'Antisemitis- doch nicht zu Lasten eigener Wertung und Programmatik me. Worms 1977. Verlag Georg Heintz. 93 Seiten. etwa in der Frage von neuen Gottesdienstversuchen, wie Kurz vor Erscheinen des FR sei noch auf dieses wichtige sie wohl für die Szene des amerikanischen Judentums Werk hingewiesen, das in acht Bänden erscheinen soll. Der typisch sind. »Die moderne Synagoge ist die Nachfolgerin vorliegende erste deutsche Band beschreibt anhand eines des ehemaligen Tempels. Deshalb muss sie, zusätzlich zu reichen Quellenmaterials die Entwicklung der jüdisch- ihren anderen Funktionen, dem modernen Juden die Art christlichen Beziehungen von der Antike bis zum Beginn und Weise geistiger und religiöser Ausdrucksmöglichkeit der Neuzeit. Zunächst werden die Lebensbedingungen der bieten, die seine Ahnen im Heiligtum zu Jerusalem vor- Juden im römischen Imperium dargestellt; ein Vergleich fanden. Und das umfasst ausser der legitimen >Unter- mit der Situation inmitten der heidnischen Kulturen des haltung< und gesellschaftlichen >Lebensnähe< auch einen in Fernen Ostens, Chinas und Indiens schliesst sich an. Es >Treue und Gehorsam< getanen Gottesdienst, eine Ge- folgt eine Schilderung der Zustände im Europa des Hoch- legenheit, die >mizwah< des Gebets zu erfüllen und einen mittelalters, wo die Juden noch zahlreiche Privilegien ge- liturgischen Rahmen, dem etwas von der Permanenz der nossen haben. Die guten jüdisch-christlichen Beziehungen ehemaligen ständigen Brandopfer anhaftet« (51). bestanden Jahrhunderte hindurch und überdauerten so- Ganz ähnlich verbindet der Verfasser die Rückschau in gar — trotz der sie begleitenden Massaker — die blutige die Geschichte mit der Perspektive der Zukunft in seinem Welle der Kreuzzüge. Erst danach verschlechterten sich fünften Kapitel »Hebräisches Gebet und Gebet in der die Lebensumstände der Juden zusehends, was Thema des Landessprache« (62-79), nachdem er zuvor im vierten folgenden 2. Bandes sein wird, der unter dem Titel »Das Kapitel (52-61) »Bitte und Lob« behandelt hat. Der be- Zeitalter der Verteufelung und des Gettos«, voraussicht- sonderen Erwähnung wert erscheint die Prognose des lich 1977, erscheinen soll. G. L. Fachmanns: »Was die Zukunft des jüdischen Gebetbuchs betrifft, so wird wohl der Hebräisch sprechende Staat Israel noch zu ... tiefgreifenderen liturgischen Änderun- GABRIELLE SED-RAJNA: Azriel de Gerona. Com- gen führen« (78) — aber auch die wirklich erhellende Be- mentaire sur la liturgie quotidienne. Introduction, traduc- leuchtung des Phänomens des Kaddischgebets; der nicht- tion annotee et glossaire des termes techniques par Ga- jüdische Leser dieser Passage versteht nach der Lektüre, brielle Sed-Rajna. Leiden 1974. E. J. Brill (Etudes sur le warum es so ist, wie es bei vielen des Hebräischen nicht judaisme medieval 5). XI u. 196 Seiten. mächtigen Juden ist: »Wessen Herz voll ist, der findet Die Publikationen der von Georges Vajda umsichtig ge- sich durch Unkenntnis der Gebetssprache im Gebet nicht leiteten Reihe, in der Gabrielle Sed-Rajnas kommentierte gestört« (70). Das sechste Kapitel (80-94) bietet eine Obersetzung des Kommentars zur täglichen Liturgie von argumentative Darlegung von Perspektive und Hinter- Azriel von Gerona erschienen ist (der Band enthält in grund heutiger Gebetsmüdigkeit und bleibt sich dabei der Form von Anhängen noch zwei kürzere Texte des Autors: Grenzen des Argumentativen bewusst: »Wir haben auch den Kommentar zum Musaf-Gebet des Neujahrsfestes, festgestellt, dass unsere Fähigkeit zu beten letzten Endes S. 124 - 141, und die Grundregeln für die rechte Verrich- von unserer Fähigkeit abhängt, uns als Geschöpfe Gottes tung des Achtzehngebets, S. 142 - 147), entsprechen — zu betrachten. Es gibt Menschen, die diese Fähigkeit umstritten oder nicht — durchweg hohem wissenschaftli- haben, und andere, die sie nicht haben ... Darum müssen chem Standard. Während die drei ersten Bände der the- wir unsere Antwort beenden, wie wir sie auch begonnen matischen Behandlung philosophiegeschichtlicher (Colette haben: Kann der moderne Mensch beten? Einige können Sirat, Jacques Schlanger) und kunstgeschichtlicher (Men- es, andere nicht« (94). del Metzger) Fragen gewidmet waren, geht es in den drei Wer das Bändchen durchgearbeitet hat, hat sein Ver- folgenden (Georges Vajda, Gabrielle Sed-Rajna, David

107 R. Blumenthal) um die philologische Erschliessung gei- dern ganze Abschnitte samt ihren Parallelen. Seine jeweils stesgeschichtlich wichtiger Texte. gleich anschliessenden Kommentierungen wollen nur Ver- Sed-Rajnas Beitrag betrifft in Azriel von Gerona (1. deutlichungen der Primärtexte sein (vgl. S. 75-218). Hälfte des 13. Jahrhunderts) eine Schlüsselfigur der frü- Ebenso will er das rabbinische Material vor sachfremden hen Kabbala und zugleich ein dieser Bewegung eigentüm- Masstäben verschonen. Sein pointiertester Satz in dieser liches literarisches Genus: »Es gibt in der von dieser gei- Hinsicht lautet: »Die schlechteste aller denkbaren Lö- stigen Strömung hervorgebrachten Literatur keine sungen ist jedenfalls nach wie vor eine angeblich chrono- Schöpfung, die origineller und mithin repräsentativer logische Anordnung der Texte, weil eine solche Chronolo- wäre als dieser Kommentar« (S. IX). gie dem Charakter der rabbinischen Literatur zuwiderläuft Die Einleitung stellt insbesondere in ihren Ausführun- und zu groben Verzerrungen führen muss« (S. 7). An- gen zur Methode und zur spekulativen Lehre des Autors gesichts der nur sehr beschränkt erstellbaren Form- und (S. 6-23) einen ersten grundlegenden Kommentar zum Traditionsgeschichte der rabbinischen Texte besteht die Haupttext dar. Nach der Behandlung der kabbalistischen einzige Möglichkeit der sachentsprechenden Darlegung Gebetsweise unter dem Titel meditativae orationes der Texte in einer Kombination von inhaltlich und histo- (S. 6 f.) und speziell des Begriffs der Kawwänäh (S. rischen Gesichtspunkten. 8-12), dessen Bedeutung mit dem gängigen Äquivalent Die von Schäfer ziemlich vollständig angeführten Texte Intention hier nur unvollkommen wiederzugeben ist, so- führen zum Ergebnis, dass die dominierende Gruppe in- wie der Legitimation kabbalistischen Betens durch die nerhalb des rabbinischen Judentums mehr Gewicht auf Berufung auf Offenbarung des Elias (S. 12 ff.) werden das Verhältnis zwischen Engeln und Menschen (besonders (abschliessend) drei zentrale Inhaltskreise besonders her- Israels) legte als auf das Verhältnis zwischen Engeln und ausgehoben: (das Verhältnis von) Seele und Leib, der Gott. Dabei spiegelt die Mehrheit der Texte ein Rivali- Schöpfungsprozess, die Wirksamkeit der Sefirot in tätsverhältnis zwischen Engeln und Menschen wider. Die d(ies)er Welt (S. 15-23). Der Vertiefung der einleiten- kaum systematisierbaren Engelspekulationen der Rab- den Erläuterungen dient ein den Übersetzungstexten fol- binen berühren also »ein zentrales Thema der rabbini- gendes Glossar, in welchem 20 Schlüsselbegriffe der theo- schen Anthropologie« (S. 224). Dass der Mensch von Gott sophischen Lehre des Autors erörtert werden (S. 148-171). vor den Engeln bevorzugt ist, findet z. B. in der jüdischen Demgegenüber sind die die Übersetzung begleitenden An- Liturgie und Esoterik ihren starken Ausdruck: Der Lob- merkungen, die zumeist recht ausführlich ausfallen, dazu preis der Menschen ist Gott wichtiger und wertvoller als gedacht, ein erstes, noch vordergründiges Verständnis der Gesang der Engel (S. 230-232 u. ö.). Damit ist der des Wortlauts der Ausführungen zu ermöglichen. wichtigste Bezugspunkt aller Engelvorstellungen erreicht: Alles in allem ist das Netz der Erläuterungen sehr dicht, »Der einzig adäquate Kontext für die rabbinische Engel- ohne jedoch zu eingreifenden und umfassenden themati- vorstellung ist das Bewusstsein von der Erwählung Israels schen Analysen zu werden. Dies ist nicht intendiert und und der Hinwendung Gottes zu seinem Volk. Das den gereicht der als kommentierte Übersetzung angelegten Ar- Aussagen über die Engel zugrunde liegende Weltbild ist beit zum Vorteil. Denn je weiter die Linien interpretativer deutlich anthropozentrisch . . . Der Mensch richtet sich Konsequenzen einem gegebenen Text entnommener Prä- nicht mehr nach der von den Engeln garantierten Har- missen durchzogen werden, desto anfechtbarer pflegen die monie des Kosmos aus, sondern die himmlische Ordnung Ergebnisse zu werden. Sed-Rajnas Untersuchung bewegt ist von der irdischen Ordnung abhängig« (S. 233). sich auf dem festen Boden zuverlässiger Deutung. Dieses Ergebnis schafft freie Bahn für die Untersuchung Es ist nur zu wünschen, dass das Programm der philo- verschiedener von Schäfer ebenfalls ausgeführter oder logischen Erschliessung exemplarischer Texte in dieser angedeuteter Problemkreise: die Engelvorstellungen des Weise weitergeführt wird und seine schrittweise Verwirk- Frühjudentums, besonders der Henochapokalyptik und lichung dazu beiträgt, nach und nach der jüdischen Kom- Qumrans (vgl. S. 9-40) sowie neutestamentlicher Aus- ponente der Geschichte des Denkens über die engen Gren- sagen über die Engel (S. 45 u. ö.). Ein Sach-, Autoren- zen der fachwissenschaftlichen Forschung hinaus eine und Stellenregister sowie ein bibliographisches Verzeich- ihrer Bedeutung entsprechende Berücksichtigung zu ver- nis (S. 243-280) erleichtern anknüpfende Forschungs- schaffen. Hermann Greive, Köln arbeiten. Der als Habilitationsschrift eingereichten Unter- suchung Schäfers ist ohne Einschränkung zu bescheinigen, PETER SCHÄFER: Rivalität zwischen Engeln und Men- dass sie hohes Lob verdient und für die Forschung des schen. Untersuchungen zur rabbinischen Engelvorstellung, Frühjudentums, des rabbinischen Judentums und des Studia Judaica Bd. VIII. Berlin 1975. Verlag Walter de Neuen Testaments eine wichtige Lücke schliesst. Gruyter. 280 Seiten. Clemens Thoma Die Engelvorstellungen des frühen und rabbinischen Ju- dentums wurden seitens christlicher Forscher oft aus den GERSHOM SCHOLEM: Sabbatai Sevi, the Mystical Zusammenhängen gerissen und ideologisiert. Sie seien ein Messiah 1626-1676. (Bollingen Series XCIII) Princeton Ausdruck der jüdischen Zerfallsreligion. Die religions- University Press, Princeton/Routledge and Kegan Paul. geschichtliche Forschung ist eben erst daran, sich von Vor- London 1973. XXVII + 1000 Seiten. urteilen freizustrampeln, um echte Beiträge auch für die Gerschom Scholem, der führende Wissenschaftler auf Theologie bieten zu können. Der Judaist Schäfer erreicht dem Gebiet der jüdischen Mystik und Esoterik, legt nun im vorliegenden Werk einen so hohen Grad an metho- eine ergänzte und vervollständigte englische Version sei- discher Sauberkeit und inhaltlicher Gründlichkeit, dass nes hebräischen Werkes über den »mystischen Messias« man wünschen muss, er werde die bisherigen Gewährs- des siebzehnten Jhdts., Sabbatai Zwi (1626 - 1676), vor. leute (Wilhelm Bousset, Hugo Gressmann, Paul Biller- Die hebräische Originalausgabe erschien bereits 1957, beck usw.) samt ihren Vorurteilen ablösen. Schäfer möchte blieb aber bis jetzt dem interessierten, aber des Hebräisch zu einem möglichst unvoreingenommenen Studium der unkundigen Leser verschlossen. Diese jetzt vorliegende vielen einschlägigen, von ihm sehr gut übersetzten Texte englische Ausgabe ist aber nicht blosse Übersetzung aus verhelfen. Er führt deshalb nicht nur Textfetzen an, son- dem Hebräischen, sondern eine wahre Meisterleistung

108 von R. J. Z. Werblowski, der in jahrelanger Arbeit dieses MENAHEM STERN: Greek and Latin Authors an Jews Werk mit Erläuterungen für den in Judaica wenig be- and Judaism, ed. with Introductions, Translations and wanderten Leser versehen und die von Scholem neuge- Commentary. Vol. I, from Herodotus to Plutarch. Jeru- wonnenen und nachgetragenen Erkenntnisse eingearbei- salem 1974. The Israel Academy of Sciences and Humani- tet und das Ganze in ein elegantes Englisch übertragen ties. 576 Seiten. hat. Seit dem wichtigen Werk von Theodore Reinach ist dieses In den acht Abschnitten des Buches behandelt Scholem Thema in einem Kompendium nicht mehr bearbeitet wor- die sozialen Hintergründe und die religiösen Aspekte, die den. Hans Lewy (1901-1945), der sich mit der Absicht zum Phänomen Sabbatai Zwi und zur sabbatianischen getragen hatte, dieses Werk zu unternehmen, ist zu früh Bewegung geführt haben, tut dies jedoch nur für den aus dem Leben gerissen worden, um es zu vollenden. So Zeitraum der Lebzeit von Sabbatai Zwi und seines Pro- hat nun M. Stern diese wichtige Aufgabe durchgeführt, pheten Nathan von Gaza, nicht aber für die Folgeer- alle Hinweise auf Juden und Judentum, die sich in der eignisse und -erscheinungen dieser explosiven Bewegung alten griechischen und lateinischen Literatur finden, zu- nach dem Tode Sabbatais. sammenzustellen. In einem 2. Band will dann der Verf. Die beiden ersten Kapitel behandeln den geschichtlichen von Tacitus bis zur Spätantike das entsprechende Material Hintergrund, der die Bewegung überhaupt ermöglichte, sammeln. sowie die ersten Anfänge des Sabbatai. Die vier folgen- Stern geht so vor, dass er den Texten eine gute und knappe den Abschnitte beschreiben und analysieren die Gescheh- Einleitung vorausschickt und hernach die Quellen im Ori- nisse in Palästina (Kap. 3), weiter bis zu Sabbatais ginal mit englischer Übersetzung bietet. Von besonderer Verhaftung in Gallipoli (Kap. 4), in Europa (Kap. 5) und Bedeutung ist der berühmte Text von Hecataeus von Ab- im Osten, bis zur Apostasie (Kap. 6). Die beiden letzten dera (ca. 300 v. Chr.); dieser Text findet sich im 40. Buch Kapitel gehen wieder stärker auf die religiösen Folgen von Diodorus. Der Priester Manetho (3. vorchristl. Jahrh.) seiner Konversion zum Islam (Kap. 7) und deren Einfluss kann als einer der ersten antijüdischen Autoren gelten. auf seine Anhänger ein. Abschliessend werden die letzten Fragmente sind in Josephus' Contra Apionem erhalten. Lebensjahre Sabbatais (1668-1676) behandelt. Von besonderem Interesse ist Ciceros Haltung zu den Neben der Analyse der eindrucksvollen Persönlichkeit Juden. Der grosse Rhetor beschäftigt sich mit der jüdischen des Pseudomessias Sabbatai hebt Scholem auch stark die Religion eigentlich gar nicht, sondern verteidigt nur Flac- Rolle des Nathan von Gaza hervor, der Sabbatai die cus, der angeklagt ist, als Statthalter der Provinz Syrien theoretischen Materialien für seine Entwicklung lieferte, auch Juden bestohlen zu haben. Dabei bezeichnet Cicero bis Sabbatai sich im Mai 1665 zum Messias proklamierte die jüdische Religion als »babara superstitio«. Für die Ge- und in ganz Europa und Kleinasien eine der intensivsten schichte der Juden im Zeitalter des Herodes ist Nicolaus messianischen Bewegungen auslöste. Es war Nathan, der von Damascus von grosser Bedeutung. Exzerpte seines die Idee des Messias in das kabbalistische System ein- Werkes finden sich in Josephus' Altertümer, aber auch in brachte und zu diesen Folgen führte. So betrachtet seiner Autobiographie, von der Fragmente in den Excerpta Scholem auch die Gründe für das Entstehen der Bewe- de Virtutibus und Excerpta de Insidiis von Constantinus gung in zwei Bereichen: einmal im populären Messianis- Porphyrogenitus erhalten sind. Das Werk von Nicolaus mus, in der Furcht vor einer Katastrophe, an deren Ende von Damaskus ist besonders für die Darstellung der Ge- die Erlösung stehen müsste; zum anderen in der kabbali- schichte des Herodes bei Josephus wichtig, wobei Nicolaus stischen Mystik und ihrer Systematisierung, die ihre gro- im wesentlichen ein positives Bild dieses Königs bietet. ssen Lehrer — allen voran Isaak Luria Aschkenasi aus Ihm folgt Josephus im Bellum. In den Altertümern, die Safed — einführten und sie mit ihren Vorstellungen vom er später schreibt, ist er Herodes gegenüber kritisch und Auf- und Abstieg und den Wechselwirksamkeiten der distanziert, aber ohne andere Quellen zu benutzen. Von göttlichen Kräfte in den Sefirot tief ins religiös-ge- Interesse ist auch Strabo (64 v. Chr. bis ca. 20 n. Chr.), der schichtliche Bewusstsein der Juden dringen liessen. So uns nicht nur durch Zitate bei Josephus bekannt ist, son- sucht Scholem die sabbatianische Bewegung nicht als dern auch in seinen Geographica über Juden und Juden- durch Einflüsse von aussen entstanden, sondern als in- tum berichtet. Neben den vielen andern Schriftstellern nerjüdisch darzustellen. Deshalb ist dieses brillante Buch nennen wir noch Plinius den Älteren (ca. 23 - 79), der in auch keine »Biographie« des Sabbatai Zwi im herkömm- seiner Naturalis Historia auch Judaea erwähnt, und in lichen Sinne, sondern, weit darüber hinausgehend, eine dieser Beschreibung erscheint auch der berühmte Abschnitt Zusammenfassung vieler Einzelheiten aus dessen Leben, über die Essener. gepaart mit der Absicht, viele bisherige Fehlinterpreta- Dieses wichtige Buch sollte jeder besitzen, der sich mit tionen zu korrigieren und viele unbekannte Details zu nachbiblisch-spätantiker jüdischer Geschichte beschäftigt. ergänzen, eingebettet in eine auch für das jüdische Gei- E. L. Ehrlich stesleben von heute folgenreiche Erklärung der sabba- JOHANNES THEISOHN: Der auserwählte Richter, tianischen Bewegung. Untersuchungen zum traditionsgeschichtlichen Ort der Inzwischen ist das Buch übrigens in den USA in einer Menschensohngestalt der Bilderreden des Aethiopischen äusserst preiswerten Paperbackausgabe erschienen. Henoch. Göttingen 1975. Vandenhoeck & Ruprecht. Wer jedoch zunächst weniger an der minutiös dargeleg- 308 Seiten. ten Geschichte Sabbatai Zwis interessiert ist, sondern »Für die Probleme der Menschensohngestalt des jüdischen diese nur im Rahmen der Lehren und Entwicklungen der Traditionskreises nehmen die Bilderreden des Aethiopi- Kabbalah kennenlernen möchte, sei auf die ausgezeich- schen Henoch (Hen 37-71) eine Schlüsselstellung ein« nete, überarbeitete Sammlung aller Scholemschen Enzy- (S. 1). Mit grossem methodischem Geschick bestimmt klopädie-Artikel zur Kabbalah hingewiesen: »Kabba- Theisohn den traditionellen Ort der Menschensohngestalt lah«. Library of Jewish Knowledge, Keter, Jerusalem der henochschen Bilderreden im Rahmen der Heilserwar- 1974, bzw. Quadrangle Books, New York, 1975. tungen des alttestamentlichen und nachalttestament- Michael Brocke lichen Judentums. Mit derselben Akribie geht er den

109 Einwirkungen dieser henochschen Vorstellung auf die über »Herkunft und Sinn der Patriarchen-Reden in den neutestamentlichen Menschensohn-Aussagen nach. Testamenten der 12 Patriarchen«. B. Dehandschutter Die besondere Stärke und Bedeutung dieser Arbeit liegt schreibt in einer kurzen Kommunikation über den Traum darin, dass Theisohn den henochschen Menschensohn in im Genesis-Apokryphon (19, 14-17; 20, 22). Pierre M. seinen entscheidenden Zügen dem jüdischen Vorstellungs- Bogaert, Herausgeber der syrischen Baruchapokalypse in bereich zuzuweisen vermag. Dadurch wirken die Bilder- der Reihe »Sources Chretienne«, untersucht die Ver- reden nicht mehr als erratische Blöcke im Rahmen des wendung des Namens Baruch in der pseudepigraphischen zwischentestamentlichen Frühjudentums. Entscheidend für Literatur. Das deuterokanonische Baruchbuch sei erst sehr die traditionsgeschichtliche Einordnung der Menschen- spät von Jeremia getrennt worden. Das erste Buch, das sohngestalt der Bilderreden ist der Aufweis ihres Ver- den Namen Baruch pseudepigraphisch verwendet, sei die hältnisses zum Menschenähnlichen des Danielbuches syrische Apokalypse. Marc Philonenko und Christoph (Dan 7) und zur postulierten sogenannten »Danielvor- Burchard diskutieren in unterschiedlich umfangreichen lage«. Theisohn kommt in dieser Frage zu folgendem Er- Beiträgen die Differenzen und Gemeinsamkeiten ihrer gebnis: »Bei der Aufnahme der danielischen Menschen- jeweiligen Behandlung der Probleme des hellenistisch- sohn-Überlieferung hat der Verfasser die danielische Deu- jüdischen » Joseph und Aseneth«. Dabei stellt Burchard tung des Menschenähnlichen durchbrochen und durch die präzise Vergleiche mit griechisch-römischen Themen und Identifikation des Menschenähnlichen mit dem auserwähl- Werken aus den »Metamorphosen« des Apulejus an. ten Richter zur vordanielischen Vorstellung vom Men- M. Delcor sucht nach dem Ursprungsmilieu und der Ent- schensohn als einer eschatologischen Einzelgestalt zurück- wicklung der jüdischen Apokalyptik. Er sieht in Daniel gelenkt. Durch diese Identifikation setzten die Bilderreden 7- 12 »hyperorthodoxe« Kreise am Werk, die ihm die einen Neuanfang einer eigenen Menschensohn-Tradition« Kanonizität verschafften. Die wesentliche Entwicklung (S. 99). Theisohn bringt diese in den Bilderreden initierte der Apokalyptik hingegen sei Werk der Essener, das aber Menschensohn-Tradition eng mit der damaligen Messias- von der Hauptströmung zurückgewiesen wurde, die die erwartung zusammen: »Der eschatologische Richter Essener für heterodox erachtete. J. W. Doeve befasst sich könnte als Zweig des königlichen Messianismus zu ver- mit der Geschichte des »Tempel-Territorium« von Jerusa- stehen sein. Dafür spricht, dass die Richtervorstellung in lem, das nach ihm von Kyros 538 v. Chr. auf ca. 40 mal den Bilderreden in zentralen Vorstellungsreihen durch 50 km um Jerusalem eingerichtet worden sei. Dabei wer- königlich-messianische Tradition geprägt ist und dass die den auch verschiedene Fragen der Geschichte Judäas, wie anderen Richterstellen im nachalttestamentlichen Juden- das Sprachenproblem, behandelt. Die einzelnen Beiträge tum ... einen Reflex auf königlich-messianische Tradition sind zweifellos gewichtig, das Ganze aber hinterlässt zeigen« (S. 113). Mit diesem Forschungsergebnis werden einen nicht voll befriedigenden, zumindest sehr unein- sich vor allem drei Forschergruppen auseinandersetzen heitlichen Eindruck — ein Symposion für Spezialisten, das müssen: die den Menschensohn zu einer genuin apokalyp- seinem umfassenden Obertitel nur zum Teil gerecht wird. tischen Figur stempeln, die eine nachchristliche Entstehung Michael Brocke der Bilderreden annehmen und die einer bloss linearen Entwicklung von Daniel zu den Bilderreden und zum GEZA VERMES: Post-Biblical Jewish Studies (Studies Neuen Testament das Wort reden. Theisohn betont immer in Judaism in Late Antiquity VIII). Leiden 1975. E. J. wieder, es sei kein pauschaler, sondern nur ein partieller Brill. XI und 246 Seiten. Einfluss auf das Neue Testament zu erweisen (vgl. Unter den Gruppierungen »Qumran« (5), »Bible Exege- 5.151 f.). Er versucht, möglichst alle jüdischen Traditionen sis« (5) und »Rabbinic History« (3) sind hier 13 Studien, und Deutungen von einzelnen Bibelstellen beizuziehen, geschrieben zwischen 1960 und 1974, versammelt. 12 um der Menschensohngestalt der Bilderreden ihren tra- waren bereits andernorts erschienen, mit ein, zwei Aus- ditionsgeschichtlichen Platz im Frühjudentum zuzuweisen. nahmen an gut zugänglichen Orten. Die zum ersten Mal Er untersucht z. B. die Ebed-Jahwe-Tradition (124-126), gedruckte Arbeit ist »Ancient Rome in Post-Biblical die Weisheitstradition (126-143) und die frühjüdische Jewish Literature« (215 - 224). Esoterik (68-92). Die gelegentlichen Überarbeitungen und Zusätze, die Forschungsergebnisse über das Frühjudentum dürfen nicht nicht immer als solche gekennzeichnet werden, sind nütz- vorschnell als praeparatio evangelica in Dienst genommen lich, doch nicht von solchem Gewicht, daß sie die frühe- werden. Die vorliegende Untersuchung zeigt aber, dass ren Fassungen der Arbeiten hinfällig werden liessen. das Frühjudentum, in dessen Verlauf Jesus von Nazareth Die Sammlung beginnt mit einer kurzen, der (leider auftrat, bedeutend vielfältiger, selbständiger und krea- inzwischen eingestellten) Zeitschrift der englischen libe- tiver war, als bisweilen gesagt wird. Man kann deshalb ralen Judenheit »Pointer« entnommenen Übersicht auch von einem eigenen Kerygma des Judentums der Zeit »Ancient Judaism in the Light of the Dead Sea Scrolls«. Jesu sprechen, in das man sich heute auch aus ökumeni- Nach der Quellenangabe ist sie dort im Herbst 1971 schen Gründen zu vertiefen hätte. Clemens Thoma erschienen, nach einer Anmerkung aber im Frühjahr 1972 von der Londoner Society for Jewish Study vorge- W. C. VAN UNNIK (Hrsg.): La litterature juive entre tragen worden (?). Tenach et Mischna. Quelques problemes (Recherches Bibli- Zwei Studien untersuchen die Etymologie von »Essener« ques IX). Leiden 1 1974. E. J. Brill. VI und 163 Seiten. »Healers«). Ein Aufsatz von 1966, »The Qumran Die Wiedergabe der Vorträge auf den » Journees Bibli- Interpretation of Scripture in Its Historical Setting«, hat ques« in Löwen 1969 in Buchform liefert einen Einblick nichts von seinem Interesse und seiner Wichtigkeit verlo- in »einige Probleme« der zwischentestamentlichen For- ren. Vermes weist eine grundlegende Einheit der exegeti- schung »zwischen Bibel und Mischna«. Der Herausgeber schen Tradition im so ungemein pluralistischen Frühju- leitet mit einem kursorischen Überblick der Fragestellun- dentum auf, die bei aller Unterschiedlichkeit Pharisäern, gen ein. Matthew Black behandelt die aramäischen Frag- Qumranleuten und Judenchristen gemeinsame Basis ist. mente des Henoch aus Qumran, deren editio princeps in- Ein noch grundsätzlicherer und weiterhin wichtiger Bei- zwischen erschienen ist. Karl Heinrich Rengstorf handelt trag ist die für die »Cambridge History of the Bible I«

110 verfasste dichte Einführung: »Bible and Midrash. Early Jews rediscover Yiddish 3 — Nathan Rotenstreich: Reli- Old Testament Exegesis« — voll gut gewählter Beispiele gion innerhalb der Grenzen der Vernunft. Der Beitrag der verschiedenen Weisen des Frühjudentums, die Schrift ist Hugo Bergman zum 90. Geburtstag gewidmet, dem auszulegen und je neu für sich zu aktualisieren. »The Interpreten Hermann Cohen's 3". Targumic Versions of Genesis 4, 3-16« ist eine der [1973] Bd. XVIII: From the Middle Ages to Nazi Rule. auffällig zahlreichen vergleichenden Studien, die vor und Ein Nachruf auf Dr. Siegfried Moses (1887-1974) eröff- nach Vermes diesem Text (Kain und Abel) gewidmet net das Jahrbuch; Dr. Moses starb unerwartet am 5. 1. worden sind. »Haggadah in the Onkelos Targum« ist 1974 4 . Er folgte Dr. Baeck als 2. Präsident des Leo Baeck eine Pionierarbeit zur Bestimmung der aggadischen Ele- Instituts. mente in diesem grundsätzlich um grösstmögliche Text- Leo Baeck Centenary (23. 5. 1873 —2. 11.1956), mit einem nähe bemühten aramäischen Targum. »He Is the Bread. bewegenden Bild von Dr. Baeck (S. VIII). — Hans Liebe- Targum Neofiti Exodus 16, 15« und »The Use of Bar schütz: The Relevance of the Middle Ages for the Under- Nash/Bar Nasha in Jewish Aramaic« runden die Rubrik standing of Contemporary Jewish History (Christian- Exegese ab. (Die Arbeit am Menschensohnproblem ist Jewish Relations in Medieval ) — Karl Marx — fortgeführt in einem Exkurs in Vermes' originellem Buch Moses Hess — Max Weber — Houston Stewart Chamber- » Jesus the Jew«, London 1973.) lain: Forerunners of Nazism — Prevalence of Antisemitic Ideas: Geoffrey G. Field: and Weltpolitik — Aus der 3. Abteilung ist der grosse Aufsatz über den The Quandary of the German Conservatives — The charismatischen »Haninah Ben Dosa« zu erwähnen, Expulsion of Jewish Scientifics from the German Univer- einen »galiläischen Heiligen« der Mitte des 1. Jhdts., der sities — Jews as German Writers in Times of Transition — eine für den Vergleich mit Jesus zu Recht wichtige Rolle The oldest Portrait of a German Jew — Goethe as Advo- spielt, die bisher noch nicht genügend berücksichtigt cate in a Jewish Case — Symposion on Joseph Roth — worden ist. (S. dazu auch » Jesus the Jew«.) Walter H. Sockel: Franz Kafka as a Jew. Man ist dankbar, hier eine zweite (s. »Scripture and Die Einbeziehung der Aufsätze über Joseph Roth und Tradition in Judaism«, 2 1973) Sammlung fruchtbarer F. Kafka in dieses Jahrbuch zeigt, dass die Jahrbücher und weiterhin wichtiger Studien von Geza Vermes zu sich nicht mehr nur auf deutsch-jüdische Studien innerhalb erhalten, neu gesetzt und mit Registern ausgestattet. Ist es der alten Reichsgrenzen beziehen. aber unbescheiden zu wünschen, solch ein doch nicht [1974] Bd. XIX: Robert Weltsch: Siegfried Moses: End gerade billiger Band enthielte etwas mehr als nur eine of an Epoch. — A Typology of German Jewry. bisher unveröffentlichte Arbeit?! An American Conference on Jewish Group Character- Michael Brocke, Regensburg istics — David S. Landes: Merchant — Alexander Altmann: 1 S. in: FR XXVI/1974, S. 95 f. Rabbi — Max Grünewald: Teacher — Chanoch Rinott: Trends in Jewish Youth Movement (Jewish Bünde) — ROBERT WELTSCH (Hrsg.): Year Book XVII (Leo Werner Rosenstock: The Jewish Youth Movement — Vil- Baeck Institute). London 1972. Verlag Secker & Warburg lage Jew — Functionary — Ruth Pierson: Jewish Ex-ser- Ltd. 350 Seiten'. vicemen fight Antisemitism and Nazism in the Weimar Republic — Berlin Technical University expels its Jewish DIES.: XXVIII, 1973, 372 Seiten; XIX, 1974, 367 Sei- Students — Ephraim E. Urbach: Daniel Goldschmidt — ten; XX, 1975, 379 Seiten; XXI, 1976, 379 Seiten. Eva G. Reichmann: Max Horkheimer — The Painter Les- Seit Band XXVII (1972) werden diese im Auftrag des ser Ury — A Provincial Liberal Newspaper — Erich Ah- Leo Baeck Instituts herausgegebenen Jahrbücher durch rens: The Frankfurt Lehrhaus. I. The Star of Redemption, den Verlag Secker & Warburg veröffentlichtla. Wie bisher 1971, englische Übersetzung von »Der Stern der Er- wird der abgesteckte Problemkreis durch in ihnen wirk- lösung« (S. o. S. 2). II. Gründung des Lehrhauses. III. Er- sam gewesene Persönlichkeiten erhellt. innerungen an Buber, Rosenzweig, Anton Nobel, Eduard Die nun über zwei Jahrzehnte erscheinenden Jahrbücher Strauss — Post-War Historiography on German Anti- veröffentlichen in englischer Sprache Forschungsarbeiten semitism. deutsch-jüdischer Geschichte auf verschiedensten Gebieten. [1975] Bd. XX Titelbild: Hugo Bergman s. A. und Frau Sie bieten ein hohes Niveau, mit Illustrationen, Doku- Bergman in H. Bergmans Jerusalemer Studierzimmer an menten, Registern und sorgfältigster Bibliographie — die seinem 85. Geburtstag (verstorben am 18. 6. 1976) [s. FR jeweils auch als Sonderdrucke erscheinen 2. XXVII/1975, S. 3]. Hugo Bergman gehörte dem Jerusa- Zu unserem Bedauern kann aus Mangel an Platz hier nur lemer Leo Baeck Institut als Vorstandsmitglied vom ersten eine Übersicht aus folgenden Bänden auswahlsweise er- Anfang an bis 1974 an, danach als Ehrenmitglied. folgen: Jewry in the German Reich: Einführung von Gerson D. [1972] Bd. XVII: Focus on Wilhelminian Germany. Cohen: German Jewry as Mirror of Modernity — I His- American Scholars debate the Jewish Question in Prussia torians Convention: Arnold Paucker: Prefatory Re- — Jews and the German Officer Corps — Caught in the marks — Werner Jochmann: The Jews and German Society Crossfire: Bohemian Jewry between Czechs and Germans in the Imperial Era — R. Rürup: Emancipation and — Upsurge of Jewish Culture in Nazi Germany — Salman Crisis — Hans Liebeschütz: German Politics and Jewish Schocken and the Schocken Verlag — Alex Bein: Arthur Existence — Hermann Greive: On Jewish Self-Identifica- Ruppin: Sociologist and Builder of Modern Israel — Eva tion. Religion and Political Orientation — R. Rürup: Ger- Michaelis-Stern: William Stern 1871-1938 — Prominent man Liberation and the Emancipation of the Jews — Jewish Lawyers Mommsen and the Jews — German II Enlightment and Reform — James H. Lehmann: Maimo-

3 Nach Redaktionsschluss vgl. dazu auch: Publikationen des Leo Baeck 1 S. Year Book XVI, 1971 in FR XXIV/1972, S. 98. Instituts aus zwei Jahrzehnten, hrsg. von Max Kreutzberger unter " Volumes I—XVI sind jetzt erhältlich bei Kraus Reprint Co., Route Mitarbeit von Irmgard Foerg. Jerusalem—London—New York 1977. 100, Millwood, N. Y. 10546/USA oder FL-9491 Nendeln/Liechtenstein. 119 Seiten. 2 Offprint from Year Book XXVII, London 1972; XVIII, 1973; XIX, " Vgl. H. Cohen: Die Religion der Vernunft aus den Quellen des 1974; XX, 1975. Sämtlich compiled by Hertha Cohn. Judentums. 4 S. o. Bd. XIX, S. VII.

111 nides, Mendelssohn and the Me' asfim — Moshe Pelli: Saul gewinnt sein allgemeineres Interesse durch ein grosses ori- Berlin's Ktav Yosher — Gershon Greenberg: The His- ginales Prolegomenon von 36 Seiten Umfang, das Eric torical Origins of God and Man. Samuel Hirsch's Luxem- Werner als eine Art »bibliographie raisonnee« angelegt bourg Writings — III Jews in the Public Eye: James F. hat und in dem er in sechs Schritten die Geschichte jüdi- Harris: Eduard Lasker — Ernest Hamburger: Hugo Preuss: scher Musik als Problem- und Wissenschaftsgeschichte dar- Scholar and Statesman [Vater der Weimarer Verfas- stellt und so auch dem interessierten Nichtfachmann einen sung] — IV Jews in German Literature: Percy Matenko: Einstieg und kritischen Überblick verschafft. Ludwig Tieck and Rahel Varnhagen. Michael Brocke [1976] Bd. XXI: Robert Weltsch: Introduction u. a.: In J. P. ASMUSSEN / J. LASSOE, in Verbindung mit Memoriam Shalom Adler-Rudel (1894-1975), Direktor C. Colpe (Hrsg.): Handbuch der Religionsgeschichte, des Jerusalemer Leo Baeck-Instituts von 1960 bis zu sei- Bände 1-3 (Übersetzung aus dem Dänischen). Göttin- nem Tod am 14. 11. 1975. In Czernowitz geboren, waren gen 1971-1975. Verlag Vandenhoeck und Ruprecht. weitere Stationen Wien, ab 1920 Berlin, dort 1924 Direk- 1646 Seiten; 261 Abbildungen; 12 Skizzen; dazu Namen-, tor des Arbeiterfürsorgeamts, ab 1933 Reichsvertretung Sach- und Quellenregister; Nachträge und Berichtigun- der Juden in Deutschland, 1937 London bis 1945 (vgl. gen am Schluss des 3. Bandes. seinen Einsatz für die Rettung von Kindern aus Deutsch- Wenn ein Gelehrter von Rang wie Carsten Colpe als lands). Mit-Herausgeber und Betreuer eines wissenschaftlichen Ein weiterer Abschnitt der Einführung behandelt »Trans- Unternehmens in Erscheinung tritt, so weiss inzwischen lating the Bible«, die Kontroverse um die Buber-Rosen- längst nicht nur mehr die strengere Fachwelt, was sie zweig-Übersetzung. Dazu: I The Bible in German: Mar- erwarten darf. tin Jay: Politics of Translation — Siegfried Kracauer and Das vorliegende Werk erfüllt die vielfältigen Erwartun- Walter Benjamin on the Buber-Rosenzweig Bible — II The gen, die man an eine derartige Publikation stellen wird, Jewish Question and Antisemitism — M. A. Riff: The in einem ungemein hohen Mass. Überblickt man zudem Anti- Jewish Aspect of the Revolutionary Unrest of 1848 die bisher in den zunächst zuständigen Fachzeitschriften in Baden and its Impact on Emancipation — S. M. Lo- vorgelegten Kritiken, so fällt das unverhältnismässig ge- wenstein: The Pace of Modernisation of German Jewry ringe Mass an eigentlichen Sachfehlern bzw. -korrekturen in the 19th Cent. — Austria's Antisemites — Konrad auf, welche — über die bereits am Schluss des Werkes Kwiet: Historians of the German Democratic Republic selbst verzeichneten (oder durch Einlage beigefügten) hin- on Antisemitism and Persecution — III Age of Transition: aus — bislang angeführt werden. Das heisst aber, dass Walter Schwarz: Baron v. Blankenstein — IV Records die Kritik sich weitaus mehr auf das bezieht, was man and Biography: Moshe Rinott, The Zionist Organisation nach Massgabe heutiger Einsicht in die Aufgaben und and the Hilfsverein (1901-1914) — Banesh Hoffmann: Möglichkeiten von Wissenschaften als wissenschaftlich Albert Einstein — Hans Liebeschütz: Arnold Toynbee legitime (weil ausweichliche) Modellbildung bezeichnet (1889-1975). G. L. wird, denn als auf Sachdifferenzen in einem strengen Sinn.

5 S. Adler-Rudel: A Chronicle of Rescue Efforts, in: Year Book XI, So wird man also, besonders in einzelnen Fällen, durchaus 1966, p. 213-241. einen anderen Weg als den gerade vorgezeichneten gehen können: das wird aber der Darbietung des Werkes als ERIC WERNER (Hrsg.): Contributions to a Historical Gesamtversuch gerade keinen Abbruch tun. (In der einen Study of Jewish Music. New York 1976. Ktav Publish- oder anderen geäusserten Kritik sehe ich allerdings die ing House. 287 Seiten. zu dieser Beurteilung von Wissenschaften nötigen wissen- Der Nestor der jüdischen Musikologie, Professor Eric schaftstheoretischen Voraussetzungen noch nicht als ge- Werner, New York—Tel Aviv, versammelt hier 12 Auf- geben.) sätze aus dem gesamten Bereich der jüdischen Musikge- Carsten Colpe hat — aber wen kann das verwundern — schichte, die sich als selbständiger Wissenschaftszweig zu in einer geradezu unglaublich feinen und scharfen Weise etablieren beginnt. Die ältesten Artikel datieren von 1898 die Notwendigkeit und die (heutige) kontextuale Situa- und sind aus der Allgemeinen Zeitung des Judentums tion für die Vorlage eines solchen Werkes erspürt: dass übersetzt, in der Eduard Birnbaum über Franz Schubert dem so ist, weist das einleitende Vorwort zu Band 1 als Komponisten synagogaler Musik geschrieben hatte. bereits deutlich genug auf. Die je eigens zugeschnittenen Der zweite Aufsatz von Birnbaum behandelt musikalische Vorworte zu den einzelnen Bänden — auch Band 2 und 3 Überlieferungen für das Lesen der Estherrolle. Des weite- besitzen ein solches Vorwort und damit eine wichtige ren finden sich zwei Aufsätze des Herausgebers, beide aus Einführung — werden schliesslich durch einen entspre- dem Hebrew Union College Annual: »Hebrew and Orien- chenden Schlussbeitrag unter der Überschrift »Synkretis- tal Christian Metrical Hymns — A Comparison« und »The mus, Renaissance, Säkularisation und Neubildung von Origin of the Eight Modes to Music (Octoechos)«. Zwei Religionen in der Gegenwart« zu einem Rahmen, welcher Aufsätze von Abraham Zwi Idelsohn: »The Kol Nidrei der Erscheinung »Religion« in den Dimensionen von Ver- Tune« und »Parallels Between the Old-French and the gangenheit und Gegenwart, aber auch auf Zukunft hin Jewish Song«. Hanoch Avenary »A Geniza Find of ihren Ort anweist. Es ist wohl überflüssig, des Näheren Saadya's Psalm — Preface and its Musical Aspect«; Israel zu betonen oder gar auszuführen, welche Bedeutung diese Adler, »The Notated Synagogue Chants of the 12th Cen- Darstellung (auf rund 80 Seiten) für die Zukunft von tury of Obadiah, the Norman Proselyte« (aus dem Franz. Religion und Theologie haben kann. Besondere Beach- übersetzt); Msgr. Iginio Angles, » Jewish Music in Medie- tung verdient meines Erachtens dabei, dass C. Colpe val Spain« und schliesslich ein Beitrag aus dem Leo-Baeck- eben nicht nur diese oder jene Einseitigkeit vermeidet — Instituts- Jahrbuch von Peter Gradenwitz zu Gustav Mah- wie dies auch von manchen Kritikern zu Recht festgestellt ler und Arnold Schönberg, sowie Edith Gerson-Kiwi wird —, sondern geradezu jeder Vereinseitigung zu steu- »The Music of the Kurdistan Jews« (1971). ern weiss. Das »Geheimnis«, das dies ermöglicht, liegt Dieser Sammelband, für den man sich gern als Anreiz und offenbar in einer äusserst bedachten Abstimmung von Beigabe auch ein, zwei Originalbeiträge gewünscht hätte, Ergebnissen und Sichtweisen zahlreicher Wissenschaften:

112 hier ist hervorzuheben, dass, entgegen vielfacher heutiger tur des Bändchens durchleuchten? Auch da gäbe es Behauptung, solches sehr wohl möglich ist und effektiv Schwierigkeiten. Die Gedankenfolge ist oft esoterisch; zu anderen (höheren, weil qualitativ »besseren«) Er- aus seinem religionsgeschichtlichen Wissensschatz teilt der gebnissen führt als das ständig von neuem beschworene Verfasser oft nur Andeutungen mit; die Argumentation Gegenteil verabsolutierender Vereinseitigungen, welche mit der Begriffsgeschichte von >Ökumene< wirkt z. T. et- weder aus einem wissenschaftlichen noch aus einem per- was spielerisch, manche Bemerkung wirkt peinlich (vgl. sönlichen Dilemma zu befreien vermögen. So aber kann, 5.52 zum Sekretariat für die Ungläubigen). – Doch wissenschaftlich erhärtet, die »Endgültigkeit« meiner per- wenn man dem Gehalt dieser Schrift nicht aus dem Weg sönlichen Entscheidung mit der »Gültigkeit« einer Ent- gehen will, sollte man versuchen, zu den bestimmenden scheidung eines anderen vereinbart werden. Es bedarf Perspektiven vorzudringen: der geschichtstheologischen wohl keiner langen Ausführungen, damit deutlich wird, Ortung des Problems, dem Plädoyer gegen eine »Theo- was das im Blick auf die missionarische Seite von Re- logie der Erlösung ohne Schöpfung«, den Ausführungen ligionen und Theologien besagen muss: wir sind auf zur grundlegenden Bedeutung des Judentums und zum einer qualitativ anderen Stufe, als bisherige Kategoriali- Missverständnis von Heilsgeschichte als willkürlicher sierungen die Problematik zu sehen gestatteten: entweder Aussonderung, zur skandalösen Situation der Notwen- wissenschaftliche Gleichgültigkeit gegenüber allem oder digkeit eines >Ökumenismus< als solcher ... In wenigen persönliche Entscheidung des »Für« auf eine Erscheinungs- Zeilen lässt sich das hier freilich nicht differenziert be- weise von Religion bei (damit gleichzeitiger) Entschei- trachten; aber das Bändchen selbst gibt auch eher Anre- dung eines »Wider« im Blick auf alle anderen Erschei- gungen als fertige >Lösungen< (trotz der häufig thetischen nungsweisen. überwindbar ist ein Zweifaches: einmal Form der Aussagen) und kann daher hier nur zu einer das Auseinanderfallen von Wissenschaft und realem Le- kritischen Meditation weiterempfohlen werden. ben, und zum anderen die folgenschwere Beschränktheit Albert Raffelt, Freiburg i. Br. auf einander ausschliessende Kategorien. Zwar sind die einzelnen Gedanken dieser Art nicht in jeder Hinsicht ALBRECHT GOES: Tagwerk. Prosa und Verse. Frank- neu; wohl aber ist die Möglichkeit der hier angezeigten furt/Main 1976. S. Fischer Verlag. 248 Seiten. Konzentrierung ein Ergebnis unserer Tage, und der kon- Sachkundig und tief erfahren, nennt der Dichter sein kretisierende Schritt, wie er hier ausgeführt wird, ist es Tun »das strenge Handwerk des Schreibens«. Und für das ebenfalls. also Getane könnte er im Rückblick keine treffendere, Von diesem »Rahmen« her erschliessen sich denn auch keine dichterischere Bezeichnung finden als eben »Tag- die Religionen in einer neuen Weise. Der Erfahrungs- werk«, womit die Alltagsmühe des Schaffens aufgerufen schatz der Menschheit im Umgang mit dem als göttlich ist und zugleich der Wirkungskreis genannt wird, den Erahnten wird somit nicht nur in der Perspektive eines solche Tätigkeit erfüllt: Ein »Tagwerk« ist ja ein bäuer- geschichtlichen Wissens oder eines Wissens aus Vergangen- liches Flächenmass, und das hier bestellte Land ist wahr- heit und Gegenwart relevant — etwa in der Art dessen, lich, um mit Fontane zu sprechen: »Ein weites Feld.« Auf was man wissenschaftlich konstatieren kann: es artiku- den Dichter, Schriftsteller und Prediger Goes trifft allemal liert sich vielmehr die drängende hermeneutische Aufgabe nicht zu, was die Franzosen gern bösmäulig und spitz- im Blick auf den heutigen Menschen und seine Versuche züngig von manchen Literaten sagen: dass nämlich edle zur Bewältigung der Sinnfragen und -möglichkeiten sei- Gesinnungen und gute Absichten schlechte Literatur her- nes technisch perfekten und psychisch so belastenden und vorbrächten. Bei ihm, im Gegenteil, veredelt einzig die ungemeisterten Lebens. Angesichts dieser Fragestellungen Form den Gehalt, was und worüber immer er schreiben gewinnt das vorliegende Werk wiederum eine hohe Be- mag. Stets ertönen Melodie der Sprache und Harmonie deutung, weil die Welt der Religionen in einer ausführ- der Gedanken in überzeugendem Einklang. In diesem lichen, aber doch noch überschaubaren Weise dargeboten Band ist die Ernte von seinem »Tagwerk«, dem wohlbe- wird. — Es sei lediglich angemerkt, dass z. B. in Band 2 stellten Feld seines Wirkens, eingebracht. Getreu einem die Artikel über das Alte Israel, Spätjudentum und seiner Hausheiligen, Eduard Mörike, liegt darin »holdes Judentum etwas über 200 Seiten füllen — also an- Bescheiden«; denn was ihm nicht angehört, weiss er zu gesichts der Fülle des Gesamtmaterials einen auch um- meiden. Um so ausdruckssicherer und beteiligter kann er fangmässig beachtlichen Platz gefunden haben. 0. K. darum – in Prosa und Versen – von dem ihm Gemässen sprechen. Und da ist das Mass wie das der Liebe: Unge- HANS FISCHER-BARNICOL: Das Ende der Öku- messen. Da ist es Bach, Mozart, Goethe, Mörike und – mene. Die Ausflucht vor dem Selbstverständlichen (Reihe Goes selbst mag es verantworten, dass man noch einen »Essenz + Evidenz«). Zürich 1969. Verlag Die Waage. am gleichen Atem mit jenen Erlauchten nennen darf – 65 Seiten. der Bauer Christian Wagner aus Warmbronn. Und von Von wo aus soll man dieses kleine Büchlein beurteilen? den Lebenden oder denen, die mit ihm gelebt haben, die Von seinen praktischen Postulaten aus? Diese – an die er noch erlebt hat: Karl Barth, Max Picard, Hans Ca- Adresse der Kirchen gerichtet – lauten: »Verzicht auf rossa, Thomas Mann, Bruno Walter, Carl J. Burckhardt, jede Mission, innere wie äussere, solange sie nicht gemein- Martin Buber. Ganz bescheidentlich und sanft ironisch sam erfolgen kann ... Verzicht auf sämtliche karitativen auch er selbst mit einem Nachruf in eigener Sache »Wie Aktionen, die nicht miteinander durchgeführt werden ... wir erst jetzt erfuhren«. Aber dann auch wieder voll- Verzichte auf jeglichen öffentlichen Anspruch der Kir- mächtig und in strenger Verantwortung vor dem Wort in chen, sofern er nicht gemeinsam erhoben werden kann ... seiner Dankansprache bei der Ehrenpromotion zum Dok- Verzicht auf die ökumenische >Bewegung< und die öku- tor der Theologie in Mainz: »Buchstab und gesprochen menische Besonnenheit«. Dazu liesse sich leicht Vernich- Wort«. tendes sagen, und unschwer könnte man aus der Kommen- Gerade die Ehrfurcht vor dem Wort musste ihn mit tierung – und schon aus der Tatsache des Vorliegens die- Martin Buber zusammenführen. Goes ist kein »wortge- ser Schrift – Selbstwidersprüche des Autors ableiten. – waltiger« Prediger und Schriftsteller, wie der Klischeeaus- Sollte man statt dessen besser die Argumentationsstruk- druck lautet, – Gottlob ist er's nicht; denn die Wortgewal-

113 tigen tun allzu oft dem Wort Gewalt an. Er ist vielmehr, bleibt, bewusst These und Antithese gelten lässt, ohne die schon kraft seiner Musikalität, ein ehrfürchtig Lauschen- gegenseitige Infragestellung und Verantwortung durch der, ein Diener am Wort und Hörer des Wortes, — ohne ein Vorwegnehmen einer künftigen Synthese auszuschal- aufzuhören, auch ein gehorsamer Täter des Wortes zu ten« (S. 14). Und: »Dialogik lehrt, dass die Lösung nicht sein. So kam es — nach einem frühen Briefwechsel im Jahre in einer letzten Herrschaft liegt — das könnte heute nur 1934 — nach dem Krieg zu manchen Begegnungen mit ein totalitärer Anspruch sein —, sondern in einem Zusam- Buber, jenem anderen grossen Diener am Wort, — die Er- menleben, das jedem Widerspruch die Freiheit gibt, sich innerung beschwört sie herauf. Geist- und anekdotenrei- an seinem Ort selber zu äussern« (S. 15). — Damit ist ches Geplauder des Anfangs führt bald zu tiefem geist- Entscheidendes gesagt. lichen Gespräch, — nicht freilich über die »Zwei Glaubens- Goldschmidt weiss nun sehr wohl, dass die Schwierigkei- weisen«; dazu waren diese beiden Glaubens-Weisen viel ten einer praktischen Durchführung damit erst beginnen zu sehr eins und einig! Goes ist aber auch in diesen — und dass dem so ist, zeigt er deutlich in den Hinwen- Gesprächen fast stets der Hörende; nur einmal lässt er dungen zu konkreten Fragen, denen er nicht ausweicht. — sich, in Gegenwart Bubers, zu folgendem Bekenntnis hin- Auf der anderen Seite muss aber die Erarbeitung eines reissen: »Wenn Martin Buber so unter uns ist, hat man ... Konzepts der Dialogik als erkenntnistheoretisch-prakti- die Vorstellung: die Gottesgeschichte geht weiter, die sche Leistung nachhaltig gewürdigt werden. Denn solan- Geschichte von Abraham und Jesaja: die ewige Stimme ge ein derartiges »Leitbild« nicht besteht oder sich (als schweigt nicht«. Buber, gar nicht verwirrt, fragt lächelnd Leitbild) nicht durchzusetzen vermag, wird diese »Stelle« zurück: »Das wäre dann also eine Art Dasein als Le- von einem anderen eingenommen, das vermutlich so oder gende?« — Albrecht Goes holt diese Legende aus der Er- so auf nichts anderes als auf Einseitigkeit hin orientiert innerung in die Wirklichkeit zurück. Und wenn »Legende« ist und Menschen fortwährend neu daraufhin ausrichtet. wörtlich »das zu Lesende« oder moderner ausgedrückt: Die zu Ende gedachten und schliesslich ausgeführten Pflichtlektüre — bedeutet, so mag von dem Kapitel über Konsequenzen der Einseitigkeit sind aber aus den Abläu- Buber, aber auch von dem ganzen »Tagwerk«, gelten: fen der Geschichte — auch jener der Religionen und des »Nimm und lies!« Paulus Gordan OSB, Beuron Christentums — hinreichend bekannt. Das philosophische Konzept Goldschmidts ist als er- HERMANN LEVIN GOLDSCHMIDT: Freiheit für kenntnistheoretisches allein schon von grösster Bedeut- den Widerspruch. Mit einem einführenden Interview von samkeit, weil es eine echte Möglichkeit eines Denk- Alfred A. Häsler. Schaffhausen 1976. Novalis Verlag. schritts über das hinaus darstellt, was uns ansonsten 245 Seiten. geboten wurde: ein Denkschritt, welcher falsche Alterna- Der Mensch von heute ist — wir — sind auf der Suche. tiven (so da sind: »Verrat« an der eigenen Sache durch Aber was suchen wir eigentlich? Dass die Antwort nicht Aufgeben der eigenen Einsicht, Position oder Tradition — leichtfällt, zeigt in etwa schon an, wie wenig auf eine oder Erzwingen eines entsprechenden Verhaltens des an- solche Frage eine klare und eindeutige Antwort zu er- deren, das dann mit denselben Nomenklaturen zu beden- warten ist. Wird sie aber gegeben, von vielen gegeben, ken wäre — jeweils aus der anderen Sicht) nicht nur dann wird zugleich das Auseinander offenbar — das wir vermeiden, sondern von innen her überschreiten lässt. anstreben und unter dem wir im gleichen Atemzug doch Die praktische Bedeutsamkeit fügt sich dem lückenlos an wieder leiden; ein Auseinander, das anscheinend ebenso und ein. Man kann nur wünschen und das seinige dazu lebensnotwendig wie lebensbeschränkend ist, wenn man tun, dass beide Bedeutsamkeiten sich möglichst weitflä- den vielen Worten und der Vielzahl der dazu geäusserten chig durchzusetzen vermögen. Meinungen Glauben schenken soll. Hinter und unter diesem denkerischen Konzept scheint Dass der Philosoph sich der menschlichen Misere zuwen- uns allerdings etwas noch Bedeutsameres sich zu vollzie- den muss, dass er an ihr etwas auszurichten hätte — wer hen: Es ist nichts Geringeres als eine neue Bezugsetzung würde dem noch vor wenigen Jahren offen zugestimmt des Denkerischen überhaupt zum Ganzen des menschli- haben! Man hätte den, der solches wahrhaben zu wollen chen Lebens, und zwar sowohl hinsichtlich des Einzel- beanspruchte, wohl am liebsten in Realität einer der (in menschen wie der Gesellschaft. Die denkerischen Tradi- Gedanken schon ausgebauten) »menschenverändernden« tionen des Abendlandes (mit denen hier weder begrifflich Wissenschaftstechniken überantwortet. Jetzt gerade sieht noch sachlich leichtfertig und global verfahren werden es hingegen wieder anders aus. Statt sich einem wissen- soll, aber Kürze ist leider geboten) haben sich in zuneh- schaftstechnischen Optimismus — oder, etwas später, mendem und erschreckendem Mass von der Totalität des einem ebensolchen Pessimismus — zu verschreiben, blieb Lebens entfernt und sich verselbständigt, wobei es gleich- H. L. Goldschmidt, der den Lesern des FR ohnehin be- gültig ist, ob sich diese Verselbständigung als totale ver- kannt ist, konstant an einer zukunftsgerichteten, auf den einseitigte Herrschaft in Religion oder Wissenschafts- Menschen hin orientierten Arbeit, als deren neues Ergeb- technik, mittelalterlich oder neuzeitlich oder wie immer nis — vielleicht besonders in der Reihe von Goldschmidts und unter welchen Vorzeichen auch sich auslässt und »Philosophie als Dialogik« (1948) und »Dialogik. Philo- austobt. Schon Toynbee erkannte, dass Rationalität, auf sophie auf dem Boden der Neuzeit« (1964) — wir das nun die Spitze jedweder Vereinseitigung getrieben, in höch- vorliegende Werk begrüssen dürfen. stem Mass irrational werden und wirken kann und somit In der gebotenen Kürze scheint uns das Zentrale des genau dem selbst verfällt, wogegen sie einmal auf den Anliegens und des Angebots von Goldschmidt an uns in Plan gerufen wurde. zwei Zitaten aus erläuternden Aussagen des Autors (aus All das ist in dem von Goldschmidt vorgelegten Konzept dem Gespräch mit Alfred Häsler) umreissbar. Dort lesen hinter- und untergründig wirksam. Seine Dialogik ist wir: » ... die Dialektik ist insofern fast noch mittelalter- keine Modephilosophie im negativen Sinn dieses Wortes, lich, als sie auf ein letztes Ziel zustrebt, nämlich in einer so, als wäre sie (wie manches andere) eben allenfalls letzten Synthese jeden Widerspruch aufzuheben. Demge- »nach Denkgesetzen« bloss »ausgedacht« — vielleicht genüber ist Dialogik ein Philosophieren, das die Errun- auch aus Gründen von Lust und Laune oder in der genschaften der Dialektik beibehält, aber bewusst offen (zuweilen durchaus ebenfalls berechtigten) Absicht, ein-

114 mal etwas anderes, noch nicht Gehabtes zu produzieren. ment, um die biblischen Landverheissungen im Zusam- — Man muss dies vor allem deswegen betonen, weil menhang mit dem Staat Israel und um die biblische Geister, welche die genannten Hinter- und Untergründe Auffassung von Gerechtigkeit angesichts der heutigen nicht zu erkennen oder zu durchschauen vermögen, leicht Kriegslage im Nahen Osten (vgl. S. 76-121). in die Gefahr geraten, sich im Blick auf Reichweite und Die Abhandlungen S. 122-148 stellen die schwächsten Tiefgang des von Goldschmidt vorgelegten Konzepts Partien dieses vorzüglichen Buches dar. Man hätte auf sehr zu verschätzen. die Aufnahme dieser freihändigen Zufallsäusserungen Gerade wenn man sich angesichts der Verhältnisse in verzichten können. unserer Welt einer realistischen Sicht verschrieben hat, Von ausgezeichnetem theologischem Rang sind hingegen wird man sich hinsichtlich einer Umsetzung des von die Abhandlungen der beiden israelischen Professoren Goldschmidt gemachten Angebots in die Wirklichkeit Uriei Tal (»Strukturen der Gemeinschaft und Gemeinde unseres Lebens keinen Illusionen hingeben. So wollen wir im Judentum«: 30-42) 2 und Shemaryahu Talmon (»Auf wenigstens die bescheidene Hoffnung formulieren, es dem Wege zu einer die Welt umspannenden Gemein- möchten nicht mehr zu viele leidvolle Erfahrungen für schaft« : 43-55). Ähnliches gilt für den vom Harvarder einzelne und Gesellschaften nötig sein, bis man auf brei- Theologen Krister Stendahl verfassten Antwortartikel ter Ebene erkennt, was ein verantwortbarer und zu- auf Talmons Ausführungen (70-75) 2". Alle drei Autoren kunftsgerichteter Weg des Denkens, wie Goldschmidt ihn machen deutlich, dass man nicht von einem unreflektier- uns weist, zu ermöglichen oder doch wenigstens einzulei- ten und ideologisierten christlichen Universalismus auf ten vermag. einen falsch zur Kenntis genommenen jüdischen Partiku- Dass die Dialogik, wie Goldschmidt sie auszulegen ver- larismus herabschauen kann. Im Gegenteil: Die jüdische steht, im Hinblick auf das christlich-jüdische Gespräch Partikularität hat immer auch die Universität als Beglei- und weit darüber hinaus als Anfrage an das Verhalten terin. Das Judentum stellt einerseits einen permanenten von Judentum und Christentum gegenüber der Welt wie Protest gegen jede Unterdrückung individueller, familiä- zueinander von eminenter Bedeutung ist, braucht wohl rer, völkischer und religiöser Partikularität durch unper- kaum unterstrichen zu werden. Derzeit stehen wir allen- sönliche universale Gesellschaften dar. Ebenso stark ist falls auch in diesem Bezugsbereich im Vorfeld jener aber auch das von der Bibel her begründete jüdische Koexistenz- und Konvergenzversuche und -erwartungen, Hoffen und Harren nach Universalität: »Das Judentum von denen Goldschmidt überzeugend aufzuweisen ver- hat den Universalismus als allerletztes Ziel aufgestellt, steht, dass sie »auf Dialogik hin« überwunden werden auf dessen Erreichung die Menschheit ihre Anstrengun- müssen, wenn unser Dasein in Welten des Widersprüch- gen richten sollte. Alle Menschen und alle Völker werden lichen wirklich den Namen »Leben« noch verdienen ermahnt, ihre Hoffnung auf die Vision der >letzten Tage< soll. 0. K. zu richten, eine kosmische Situation, in der die historisch- existentiellen Spannungen zwischen Partikularität und FRANZ VON HAMMERSTEIN (Hrsg.): Von Vorur- Universalität zur Ruhe gebracht sind« (50: Talmon) 3. teilen zum Verständnis. Dokumente zum jüdisch-christ- Das Generalsekretariat des OeRK führt seit einiger Zeit lichen Dialog. Frankfurt/M. 1976. Verlag Otto Lembeck. einen systematischen und konsequenten Dialog mit den 165 Seiten. Juden. Das Buch von F. von Hammerstein ist ein Beleg Der Herausgeber dieser Dokumente ist Sekretär des Ko- dafür. Die Schwächen dieses Dialogs mögen in seiner mitees für die Beziehungen der Kirche mit dem jüdischen Unverbindlichkeit für die Mitgliedskirchen liegen. Da Volk im Oekumenischen Rat der Kirchen (OeRK) in auf katholischer Seite die Schwächen des Dialogs mit den Genf. Die von ihm verfasste Einleitung (7-29) ist von Juden eher in einem Lavieren der zentralen Leitung hohem dokumentarischen Wert. Sie zeigt, wie sich der liegen, möchte man wünschen, dass der Vatikan dem Dialog zwischen dem OeRK und dem Judentum seit 1948 Genfer Vorbild nacheifern würde. Clemens Thoma entwickelte, wie er in die Struktur des OeRK eingepasst wurde, welche theologischen und zeitgeschichtlichen 2 Vgl. Uriei Tal: Strukturen der Gemeinschaft und des Gemeinwesens Schwierigkeiten dahinter standen und welche Zukunfts- im Judentum in FR XXVI/S. 45-49. " Vgl. auch: S. 153: Der Dialog zwischen Christen, Juden und Mus- pläne bestehen. Man gewinnt den Eindruck, dass die Zen- limen (Anm. d. Red. d. FR). tralstelle des OeRK ein effizienter Motor für das christ- 3 S. o. S. 35. lich-jüdische Gespräch innerhalb der ganzen Oekumeni- schen Bewegung ist oder sein kann. Dass der jetzige Ge- HANS KONG / PINCHAS LAPIDE: Jesus im Wider- neralsekretär des OeRK, Dr. Philipp Potter, diesem Ge- streit. Ein jüdisch-christlicher Dialog. Stuttgart und spräch samt seinen politischen Konsequenzen nicht aus- München 1976. Calwer Verlag und Kösel-Verlag. 51 weicht, zeigt z. B. seine auf S. 159 f. abgedruckte Erklä- rung gegen die 1975 herausgekommene Zionismus-Rassis- Seiten. mus-Resolution der UNO'. Das schmale Bändchen bietet in grosser Kürze einen Die auf die Einleitung folgenden Abhandlungen und hervorragenden Beitrag zum jüdisch-christlichen Ge- Gesprächswiedergaben jüdischer und christlicher (evan- spräch. So, wie er hier vollzogen wird, wünscht man sich gelisch-protestantischer, christlich-arabischer und angli- einen Dialog: nicht als Wiederholung des längst Offen- kanischer) Autoren gehen auf sehr gezielte Dialogbemü- kundigen, sondern als ein Geschehen, bei dem ein wech- hungen des OeRK besonders in den Jahren 1974/75 selseitiges Lernen nicht nur auf der Ebene eines Austau- zurück. Unter Leitung des Theologen Dr. Lukas Vischer sches höflicher Worte erscheint, sondern sich real auswei- (Genf) wurden Aussprachen mit jüdischen Gelehrten sen lässt. verschiedener Glaubensrichtung und mit orientalischen Die nächste Stufe des Unternehmens müsste nun aber Christen in Genf, Beirut und Jerusalem geführt. Dabei doch wohl dahin führen, dass das Erkannte und Erar- ging es um die Beziehungen des Alten zum Neuen Testa- beitete eine entsprechende Verbreitung und somit Ein- gang in das Bewusstsein nicht nur der unmittelbar Betei-

1 Vgl. auch: FR XXVII/1975, S. 46. ligten, also der »Interessierten« unter den Juden und den

115 Christen, sondern der menschlichen Gesellschaft über- Einstellung gegenüber »Religion« überhaupt sich als haupt finden kann. »Kampf gegen Ideologien, Heilslehren, Dogmen, Glau- Damit ist aber ein Übergreifen dessen, was der Dialog bensgehorsam und Offenbarungswahrheiten« vorab des- erbringt, auf das Jüdische und das Christliche, insoweit wegen so leicht deklarieren lässt, weil diese Religionen es sich in Institutionen und Organisationen manifestiert, sich selbst zu so hohen Anteilen als Bastionen von Rück- unausweichlich — so nicht alles zuletzt doch wieder nur ständigkeit, Unterentwicklung, Unvernunft und Aber- schöne, völlig unverbindliche Redeweise bleiben soll. glauben stempeln lassen. Es liegt also mit in der Hand Hier liegt das Hauptfeld einer zukünftigen (und der der Religionen, ob sie sich schon morgen in einer recht eigentlich schwierigen) Arbeit, wobei die Unterschiede hoffnungslosen Situation befinden, oder ob sie, im Gegen- und höheren Schwierigkeitsgrade an den Möglichkeiten teil dazu, der Menschheit neue Wege zu weisen verstehen des innerchristlich-innerkonfessionellen Gesprächs be- und damit viele Fragen wie von selbst gegenstandslos wusst gemacht werden können, so man sich dieser Pro- machen, ohne dass sie dabei auf Selbstverteidigung be- blematik aussetzen will. Es wäre sehr vermessen, wollte dacht zu sein bräuchten. man meinen, es würde uns heute zu mehr als zu einer Wir haben im Rahmen dieser Besprechung nicht wieder- Umreissung der Probleme reichen. Aber auch das ist ein holt, was Küng und Lapide bereits (besser als wir es hier Anfang. Und dieser ist allein schon deswegen notwendig, könnten) gesagt haben. Für uns ging es darum, das weil abzusehen ist, dass die Zeit, in der man guten »Ende« des Dialogs, dessen Zukunftsbedeutung nach Art Gewissens der Welt erklären kann, man müsse im Ver- und Inhalt dem Leser nicht ohne weiteres in jeder Hin- hältnis Judentum/Christentum »Vorfragen« erörtern, sicht aufscheint, in eine Konfrontation mit jenen Fragen ihrem Ende entgegengeht. zu bringen, über die zu bestimmen Judentum und Chri- Gewiss, wir leben »in einem religiösen Pluralismus« stentum je länger, je weniger noch allein anheimgegeben (Lapide, 49). Wenn die Religionen — dies gilt ganz allge- sein wird, welche aber über die reale Bedeutung von mein — diesen Pluralismus als Chance gewinnen wollen, Judentum und Christentum für die zukünftige Mensch- dann werden sie zusehen müssen, wie sie aus ihm Mög- heit immer stärker bestimmend sein werden. 0. K. lichkeiten eines überzeugenden Nebeneinander und Mit- einander, und schliesslich, in einer fortgeschrittenen PINCHAS E. LAPIDE: Ist das nicht Josephs Sohn? Stufe, eines Miteinander als Zueinander zu demonstrie- Jesus im heutigen Judentum. Stuttgart—München 1976. ren vermögen. Judentum und Christentum sind dabei Kösel u. Calwer Verlag. 167 Seiten. nicht gefragt, ob diese Massstäbe ihnen so, wie sie an sie In Lapides eigenen Worten ist dieses Buch »dem wahren angelegt werden, gefallen oder nicht. Es genügt, dass Zwiegespräch, in dem keiner recht hat, keiner siegt noch eben diese Massstäbe geradezu gleichermassen aus der den anderen bekehrt, aber beide voneinander lernen«, jüdisch-christlichen Programmatik resultieren, wie sie gewidmet (12). sich als Notwendigkeiten einer modernen Welt unaus- In den letzten Jahren hat der Autor eine Reihe von Bü- weichlich aufdrängen. Die »Schonzeit«, welche die Reli- chern und Aufsätzen als Beitrag zu diesem Zwiegespräch gionen gegenwärtig ohne Zweifel erfahren, sollte nicht geschrieben. Im Gegensatz zu seinem Buch »Der Rabbi überbewertet werden. Sie resultiert nicht sosehr aus tief- von Nazaret«, in dem er wenigstens indirekt sein eige- greifenden Veränderungen seitens des modernen Men- nes Jesusbild darlegte, geht es hier um eine Zusammen- schen gegenüber dem Phänomen Religion oder aus weit- stellung von Äusserungen über Jesus 1) in der hebräischen reichenden Wandlungen der Religionen selbst — sie ent- Literatur der neueren Zeit, 2) in einer Auswahl von israe- stammt viel eher zu nicht geringen Anteilen den augen- lischen Geschichtsbüchern, in einem Lehrplan über »Das blicklichen Depressionen, in welche gerade der wissen- antike Christentum« sowie in dem dazugehörigen »Leit- schaftlich und technisch so weit vorangeschrittene Flügel faden für den Lehrer« und 3) in den Schriften einiger der Menschheit geraten zu sein scheint. Diese Depressio- Rabbiner. nen, die sich in Wissenschaftsverdrossenheit, in Zukunfts- Das erste Kapitel ist eine »kurze, subjektive Auswahl aus losigkeit und in Desorientierungen gegenüber manchen hebräischen Jesuswerken unserer Tage, die keinerlei An- Zielvorstellungen äussern, dürften aber schwerlich von spruch auf Vollständigkeit erhebt« (42). Die Auswahl lange anhaltender Dauer sein. Es lässt sich schon heute beschränkt sich auf die neuere hebräische Literatur, denn absehen, dass, wenn diese Phase (wieder und für einige »im letzten Vierteljahrhundert sind weit mehr hebräische Zeit) beendet sein wird, eine andere folgt, welche die Schriften über Jesus verfasst worden als in den 18 voran- Religionen (auch hier muss man sagen: wieder) zum gegangenen Jahrhunderten« (42 f.). Die wichtigsten Aus- Gegenstand einer neuen und heftigen Kritik machen sagen über Jesus in der hebräischen Literatur der voran- wird. Die Auseinandersetzung wird um so stärker und gegangenen 18 Jahrhunderte erwähnt Lapide in dem 3. folgenreicher sein, je weniger die Religionen in der Zwi- Kapitel über die Rabbinen. Welche Bewandtnis hat es schenzeit dazugelernt haben werden. Beachtet man dies aber dann mit dem Satz auf S. 13: »Hebräische Literatur als Hintergrund zu den (den vorliegenden Dialog) ab- über Jesus gibt es dann erst wieder in unserem Jahrhun- schliessenden Worten von Küng und Lapide, dann wird dert«, wobei auf die Zeit der Evangelienniederschrift Be- um so deutlicher, von welcher Wichtigkeit für die Zu- zug genommen wird. kunft eben das sein wird, was auf den ersten Blick nur In diesem ersten Kapitel bringt der Autor Zitate — Über- als Ausklang des vorangegangenen »lehrhaften« Ge- setzungen aus dem Hebräischen — der verschiedensten sprächs erscheinen mag. Autoren: Historiker, Dichter und andere Schriftsteller. Die Praxis muss (so mit Küng, 50) so gestaltet werden, Er zeigt dabei, wie sich das Jesusbild im Laufe der letzten dass sie den Dialog nicht nur erhält, sondern weitertreibt Jahrzehnte gewandelt hat, wobei er 4 verschiedene Auf- und in mancher Hinsicht sogar legitimiert. Damit wird fassungen herausarbeitet: jene die die unjüdischen Ele- sich zugleich wesentlich entscheiden, wieviel Angriffs- mente in Jesus Lehre betonen, jene die nur das, dem Ju- fläche mit wieviel Recht und Ausweismöglichkeit eine dentum seiner Zeit Entsprechende, Jesu zuordnen, alles moderne, wissenschaftsorientierte Welt an dem Komplex andere aber späterem redaktionellem Einfluss zuschrei- Religion noch oder wieder finden wird, und ob die ben; jene die Jesu Rebellentum akzentuieren und jene die

116 »die Beziehung Jesu zum Glauben seines Volkes als eine seins« (67), ein »heidnisch-antijüdischer Komplex« (49), schöpferische Kontrast-Harmonie ansehen« (44 f.). eine »doketische Häresie«, die typisch für das heidnisch- Das zweite Kapitel, dessen erster Teil schon vor einigen griechische Denken sei (50) etc.... Die aus dem ausser- Jahren in den »Christlich pädagogischen Blättern« 4/1973, jüdischen Bereich stammenden Christen hätten sich selbst- 203-213 erschien, zeigt die positive Darstellung Jesu im gefällig über die jüdische Konkretheit, den jüdischen israelischen Unterricht. Lapide fasst die Absicht dieses Partikularismus und das jüdische Volkstum erhoben und Kapitels mit folgenden Worten zusammen: »Könnte das hätten zu ihrem eigenen Schaden abstrakten, spirituellen, jüdische Jesusbild im heutigen Unterricht Israels nicht spekulativen, universalen, liberalen und utopischen Pseudo- als Vorbild für Toleranz dienen, um das Judentumsbild idealen angehangen. Sie seien dadurch nicht nur der Ge- im christlichen Unterricht wahrhaft christlicher zu gestal- schichte entflohen, sondern auch dem Gott der Geschichte ten«? (80) (37 u. ö.). Das dritte Kapitel ist gewissermassen ein historischer Der theologische Antisemitismus, von dem her nach Mei- Überblick über die jeweilige Situation der Juden und das nung Littells ein ziemlich direkter Weg zum Genocid von daraus entstandene Jesusbild: vom Schweigen über Jesus Auschwitz führt (47-59), entstand bald in nachneutesta- oder seine Umschreibung als »jener Mann« in der älte- mentlicher Zeit, als die den Ton angebenden Heiden- sten Literatur, über dem Jesusbild der Disputationslite- christen die innerjüdischen Auseinandersetzungen im ratur des Mittelalters, bis hin zur Anerkennung Jesus Neuen Testament nicht mehr verstanden und spezifisch »nicht nur als jüdischer Bruder, sondern auch als Rabbi« heidnisch gegen die Juden zu argumentieren begannen. (164) in neuester Zeit. Wie ein Fremdkörper in diesem Man dürfe in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass Kapital wirkt ein Zitat aus dem Roman »Der Letzte der Jesus, Petrus und Paulus nach den nationalsozialistischen Gerechten« von Andre Schwartz-Bart, in dem der Spruch Gesetzen auch in Auschwitz hätten ermordet werden eines Rabbiners anlässlich einer Disputation zitiert wird müssen (24 f.). (95). In einem historischen Kapitel hätte man wohl den Der jüdische Opfergang in die Gaskammern sei eine Lek- geschichtlich überlieferten Bericht erwartet, nachdem kein tion, die das Christentum nicht vergessen dürfe, wenn es unbekannter Rabbiner das Wort ergriff, sondern der sich nicht selbst aufgeben wolle: »Wenn die Getauften ihre grosse Talmudgelehrte und Bibelkommentator Rabbi Taufe verraten, wenn jene, die in die Geschichte hinein- Moses ben Nachman, der übrigens nicht verbrannt, son- gepfropft wurden, wieder aus der Geschichte heraus flie- dern verbannt wurde! hen ... und wieder ein Teil des sterbenden Zeitalters Letztlich geht es Pinchas Lapide darum, die Toleranz und werden, dann ist das >alte Israel< wieder allein gelassen positive Haltung der Juden Jesus gegenüber aufzuzei- als das Zeichen, dass der wirkliche Gott noch herrscht und gen. Sein Beitrag zum Zwiegespräch ist ein Angebot, von dass ... seine Herrschaft schliesslich triumphieren wird. dem er hofft, dass wir Christen lernen werden. Speziell für die Christen heisst das: Wir müssen uns ... Sr. Hedwig Wahle, Wien mit der Tatsache konfrontieren, dass in einer Zeit des FRANKLIN H. LITTELL: The Crucifixion of the Jews. Verrats und der Glaubenslosigkeit die weitaus grösste The Failure of Christians to Understand the Jewish Zahl der Märtyrer für den Herrn der Geschichte Juden Experience, New York/London 1975. Harper and Row waren. Das jüdische Volk trug Geschichte, während die Publisher. 153 Seiten. Christen unbesonnen von ihrer Berufung weg flohen. Die Der Verfasser ist von der nationalsozialistischen Juden- Zeit der Bewährung endete mit dem Tod von 6 Millionen vernichtung, dem unerwarteten Aufleben des Judentums Juden und mit dem Abfall von ungezählten Millionen nach »Auschwitz« und dem modernen Massenabfall vom von Christen ... Die Juden starben, weil sie allein stan- Christentum menschlich und theologisch aufs äusserste den und nicht zu den Nationen der Erde gezählt wurden. betroffen. Der letzte Punkt weist ihn als christlichen Die Christen, mit Ausnahme einer Minorität von Märty- Holocausts-Theologen aus. Er ist der festen Überzeu- rern und Bekennern, verrieten das Leben, zu dem sie gung, dass der in der NS-Zeit und nachher eklatant ge- berufen waren« (79 f.). wordene Abfall vom Christentum wesentlich mit dem Es ist ein grosses und schwieriges Anliegen unserer Zeit, ideologischen und menschlichen christlichen Versagen dem den jüdischen Opfergang unter dem Naziterror kirchen- Judentum gegenüber zusammenhängt. Das Hineinschlit- kritisch und theologisch aufzuarbeiten. Littell hat recht, tern in das Vernichtungswerk an den Juden zur NS-Zeit dass die Kirchen noch weiter in die Unglaubwürdigkeit »begann mit der christlichen Verleugnung des jüdischen absinken werden, wenn sie dies unterlassen. Im vorlie- Volkes, mit der Aufgabe des wesentlich jüdischen Charak- genden Buch werden keine kirchenfeindlichen Positionen ters des Christentums (essential Jewishness of Christia- bezogen. Einige Schwächen liegen besonders im 5. Kapitel nity)2, mit dem Mord an jenen, die als repräsentatives (83-99), in dem Politisches und Theologisches teilweise Zeichen einer von der Welt gehassten Gegenkultur ver- ineinander geschachtelt werden. Überhaupt wird eine standen werden konnten. Die meisten der Getauften gründliche christliche Theologie des Judentums noch einige schritten mit Begeisterung zum Verrat. Die Apostasie der Differenzierungen und Versachlichungen vornehmen müs- getauften Heiden ist der signifikanteste religiöse Faktor sen. Die Hauptanliegen Littells aber bleiben davon un- in der gegenwärtigen Krise des Christentums. Sie endete berührt. Wir Christen müssen die Morde an den Juden nicht mit dem Opfergang der Juden in die Gaskammern historisch und systematisch-theologisch — das heisst auch: (= Holocaust). Sie wird erst geheilt werden können, im Zusammenhang mit Tod und Auferstehung Christi — wenn sich die Kirchen in unbestechlich-unbarmherziger aufarbeiten. Der christliche Antisemitismus muss als Hä- Selbstprüfung der Bedeutung dieser Apostasie stellen und resie und Abfall bewusst werden. Das Ringen der Kirche ihren Ursprüngen nachsteigen« (41). Die christliche Apo- um ihre Identität und Glaubwürdigkeit hängt mit ihrer stasie sei in ihrem Wesen eine »Erosion der christlichen theologischen Einstellung zum Judentum und seiner Ge- Grundlagen« (48), ein »Kollaps des historischen Bewusst- schichte ab. Auch die Glaubensfrage, bzw. das moderne Gottesproblem, muss im Zusammenhang mit dem jüdi- 1 Vgl. in FR XXVII/1975, S. 20, Anm. ". schen Todesschicksal und dem jüdischen Weiterleben ge- 2 Vgl. dazu: E. L. Ehrlich, in: »Le Saint Sige et les Victimes de la Guerre«, s. u. S. 125 ff. sehen werden (vgl. 100-133). Clemens Thoma

117 ERICH LUTH: Die Friedensbitte an Israel 1951. Eine Gleichgesinnten in der Bundesrepublik in deutschen Lan- Hamburger Initiative. Mit Beiträgen von Rudolf Küster- den so unerträglich, dass sie sich zu Sprechern der guten meier, Dr. Moshe Tavor und Norbert Wollheim. Ham- Deutschen machten und zur Aktion >Friede mit Israel< burg [1976]. Hans Christian Verlag. 160 Seiten. aufriefen. Da Adenauer nicht sprach, sprechen wir. Die In unserer rasant schnellebigen Zeit werden allzuoft be- Losung hiess: >Wir bitten Israel um Frieden<.« — Am 31. sondere Ereignisse übergangen, die für die Entwicklung August 1951 erschien in der »Neuen Zeitung«, die von der ganzen deutschen Bundesrepublik eminent wichtig Hans Wallenberg geleitet wurde, die Veröffentlichung waren. Sie liegen ja schon 25 Jahre und länger zurück und des Aufrufs »Friede mit Israel« und am nächsten Tag in was ist inzwischen alles geschehen?! Zu ihnen gehört die der »Welt« der Artikel »Wir bitten Israel um Frieden«. entscheidende Wendung des Verhältnisses der deutschen Der Berliner »Telegraf« schloss sich sofort an. Dieser von Schuld und Scham gegenüber Israel und den Juden in zwei deutschen Journalisten gestartete Versuch entwik- aller Welt. Wer denkt noch an die bahnbrechende Tat kelte sich in wenigen Wochen zu einer Welle deutscher zweier deutscher Journalisten im Jahre 1951, die die Erkenntnis, die nicht nur die BRD erfasste, sondern die Initiative ergriffen, Israel um Frieden zu bitten?! Ich Welt aufhorchen liess. In tausenden von Zuschriften und meine Erich Lüth, den einstigen Pressesprecher der Hanse- unzähligen Veröffentlichungen fanden die Initianten Zu- stadt Hamburg, und Rudolf Küstermeier, den damaligen stimmung. Auch DPA, die Deutsche Depeschen-Agentur, Chefredakteur der »Welt«? Deshalb können wir froh unter ihrem mutigen und verdienstvollen Chefredakteur sein, dass einer der Initianten der Aktion »Friede mit Fritz Sänger reihte sich in den Chor der Friedensrufer Israel«, Erich Lüth, ein Erinnerungsbuch an diese Tat ein. Der »Freiburger Rundbrief« brachte eine Sonderaus- schrieb. gabe »Friede mit Israel« heraus 1, die von zahlreichen Was ging der von den beiden Journalisten spontan und Bischöfen, wie dem späteren Kardinal Döpfner, den Bi- einsam gestarteten Aktion voraus? — Siebenundvierzig schöfen von Freiburg, von Köln, von Osnabrück 273 und Staaten, mit denen das einstige Deutsche Reich in seinem anderen sowie dem Apostolischen Nuntius, Erzbischof von ihm verschuldeten, verbrecherischen Krieg 1939/45 Muench2, unterstützt und lebhaft begrüsst wurde. Der stand, hatten sich bereit erklärt, den »Kriegszustand mit Freiburger Rundbrief-Kreis schrieb an Dr. Adenauer und der Bundesrepublik Deutschland zu beenden«. Das war dankte ihm für sein mannhaftes Eintreten für die Wieder- ein grosser Schritt und befreiender Akt zur Entwicklung gutmachungsverträge, gegen den Einspruch der Arabischen eines neuen deutschen Staates. Gelähmt, teilweise oppo- Liga [vgl. »Rundbrief« V/Januar 1953, Nr. 19/20, S.9]. nierend, ja fast fassungslos, nahm der Grossteil der deut- Die Hamburger Aktion zog immer weitere Kreise" und schen Bevölkerung Kenntnis von der Stellungnahme eines knapp vier Wochen nach dem Ruf aus der deutschen Ge- Staatsmannes, der gegen die Bereitschaft dieser 47 Staaten sinnungswüste, die auch in Israel ein so weites Echo und ganz hart Stellung bezog: David Ben Gurion, der Mini- Genugtuung erfahren hatte [dass Erich Lüth von der sterpräsident Israels! Er wehrte sich gegen diese Entschlie- israelischen Zeitung » Jedioth Chadashoth« den Beinamen ssung und betonte mit scharfen Worten, dass es erst eines »Israelüth« erhielt], erfolgte am 27. September 1951 im konkreten Beweises des wirklichen Gesinnungswechsels Bundestag die Erklärung des Bundeskanzlers über das der Deutschen bedürfe, an dem es noch immer fehle, ehe deutsch-jüdische Verhältnis, deren Schlussätze u. a. lau- dieser Schritt getan werden könne. Ben Gurions Anklage teten: »... Die Bundesregierung ist bereit, gemeinsam mit richtete sich nicht nur gegen die Deutschen allein, sondern Vertretern des Judentums und des Staates Israel ... >eine nicht zuletzt an die Bundesregierung. Lösung der materiellen Wiedergutmachungsprobleme her- beizuführen, um damit den Weg zur seelischen Bereini- Betretenheit, Ratlosigkeit erfasste ob dieser Erklärung des gung unendlichen Leides zu erleichtern ... Diesem Geist israelischen Ministerpräsidenten die Deutschen offen und mit aller Kraft zu dienen, betrachtet die Bundesregierung versteckt. Es wurde Ben Gurion die Aktivlegitimation als vornehmste Pflicht des deutschen Volkes.« 6 Diese Er- abgesprochen, für einen Staat zu sprechen, der zu Kriegs- klärung fand die einhellige Zustimmung aller Parteien des beginn nicht bestand und er deshalb nicht berechtigt sei, Bundestages. Die Ausführungen Adenauers und das Vo- sich »einzumischen« oder sein Veto einzulegen. Diese An- tum des Parlaments veranlasste Dr. Leo Baeck, den einsti- sicht war in der Bundesrepublik ziemlich allgemein, man gen Rabbiner von Berlin und Präsidenten des Council fühlte sich verunsichert, weil man mit der Aufarbeitung for the protection of the rights and interests of Jews from der Naziherrschaft zu tun hatte und sich durch Ben Germany, zu einem Dankesbrief an Adenauer, in dem Dr. Gurions Protest mit der schmachvollen deutschen Ver- Baeck von seiner »tiefen Ergriffenheit« spricht und die gangenheit erneut konfrontiert sah. Nur die Gutwilligen, Bereitschaft zeigt, an der grossen Aufgabe mitzuwirken die durch die Aufräumung der Vergangenheit Fronarbeit und zu Verhandlungen mit den verantwortlichen Stellen leisteten, fühlten sich angesprochen und versuchten den der Bundesregierung zur Verfügung zu stehen.' Unverständigen klar zu machen, dass wohl der Staat Israel nicht bestand, sondern erst durch Hitlers Ausrot- Das Wagnis der Aktion »Friede mit Israel« war gelungen. tungskrieg gegen das Gesamtjudentum gebildet wurde, Der Widerhall in Europa und Übersee war überall hör- aber dass dieser neue Staat eben jetzt das Gesamtjuden- tum zu vertreten hatte. Auch wenige deutsche Politiker 1 Vgl. FR III/IV (Dezember 1951), Nr. 12/15. 2 S.: Zuschriften zur Sondernummer »Friede mit Israel«, in: FR IV erkannten die Tragweite der gezielten Protestaktion des (April 1952), Nr. 16, S. 15. weitsichtigen und grossen Staatsmannes Ben Gurion, von 3 S. in Aufruf zur Ölbaumspende: Wendelin Rauch, Erzbischof von dem später Dr. Adenauer von einer »einmaligen Persön- Freiburg, a. a. 0. 5. 21. lichkeit« sprach. In der Nachfolge wandte sich deshalb 4 Vgl. dazu auch Aufruf zur Ölbaumspende, FR VI (Februar 1954), Nr. 21/24, S. 30; a. a. 0. V (August 1952), Nr. 17/18, S. 28 f. die israelische Regierung in einer Note an die Alliierten — 5 Vgl. dazu u. a.: Moshe Tavor: Die deutsch-israelischen Beziehungen, Amerikaner, Engländer, Franzosen und Russen — mit der in: a. a. 0. XIV (September 1962), Nr. 53/56, S. 27 ff. Forderung auf Wiedergutmachung durch die Bundesrepu- 6 Aus: Deutschland und das Judentum. Die Erklärungen Bundeskanz- blik und die DDR. Bonn reagierte zunächst überhaupt ler Dr. Adenauers und der Parteien über das deutsch-jüdische Ver- hältnis, in a. a. 0., III/IV (Dezember 1951), S. 9. nicht, die DDR lehnte ab. Erich Lüth schreibt hierzu: 7 Aus: Rabbiner Dr. Leo Baeck zur Regierungs- und Parteienerklä- »... Das erschien einigen Hamburgern und anderen rung, in a. a. 0., S. 11.

118 bar. Nun ging es zügig weiter. Am 18. März 1952 kam burtstag des Religionshistorikers, die eine ganze Anzahl es zur Verabschiedung und Ratifizierung der inzwischen wichtiger Aufsätze enthält. durch Verhandlungen der Bundesregierung mit Israel Es ist hier unmöglich und auch gar nicht angebracht, alle abgeschlossenen Luxemburger Israel-Verträge, die die Beiträge zu nennen oder gar ihre Inhalte und Ergebnisse Wiedergutmachung beinhalten. 8 Doch wer nach der ein- zu skizzieren. Wenn dennoch nicht nur diejenigen ange- stimmig gutgeheissenen Zustimmung des Bundestages zur zeigt werden, die für den Leserkreis des FR von besonde- Adenauer-Erklärung vom 27. 9. 1951 an ein ähnliches rem Interesse sind, so mag man daran ablesen, welche Votum bei der Ratifizierung der Verträge geglaubt hatte, Fülle von Themen und Problemen hier gleich mehreren sah sich schwer getäuscht. Schon während der Verhand- Fachgebieten zur Verarbeitung gestellt werden. lungen begann ein schweres Gerangel, das beschämend An Band 1 zum Neuen Testament fällt auf, dass er wirkte. Wohl kam es im Plenum zur Annahme, aber das mehrere Artikel zu Methodenproblemen und einige Re- Resultat liess doch aufhorchen. Von 379 Abgeordneten sümees der Forschungsgeschichte einer bestimmten Teil- sagten von 214 Mandatsträgern der Regierungskoalition disziplin ntl. Wissenschaft enthält. (In geringerem Aus- (CDU/CSU, FDP, DP) lediglich 106 Ja zur Regierungs- mass trifft das auch für die anderen Bände zu.) Helmut vorlage. Das war die Minderheit! Aber es kam trotzdem Koester, Harvard, übt Kritik an der ntl. Einleitungswis- zu einer qualifizierten Mehrheit von 239 Stimmen, da die senschaft und gibt Beispiele zur Überwindung von wer- geschlossene SPD, die in der Opposition stand, sowie tenden Vorteilen und für einen neuen Zugang, der der einige Vertreter von Splittergruppen mit insgesamt 133 Forschung helfen würde, die engen Grenzziehungen des Abgeordneten ihre Zustimmung gaben. Danach war die ntl. Kanons zu durchbrechen. Jonathan Smith, Chicago, Zahl der Neinsager im Regierungslager mit insgesamt 15 vergleicht das MkEv mit den hellenistischen religiösen CDU/CSU, 5 FDP und 5 DP nicht gross, aber um so Biographien Vita Apollonii und Vita Pythagorae — ein schwerer wiegen jedoch die Stimmenthaltungen (CDU/ wichtiger Beitrag für die an den ntl. Wundergeschichten CSU 139, FDP 19 und DP 10). So paradox es klingen interessierten Leser. T. A. Burkill untersucht Mk von mag: Eine Ablehnung der Verträge wäre ehrlicher gewe- einem selten eingenommenen Standpunkt aus, wenn er sen als die Stimmenthaltung, die zwar den Weg zur An- die »doppelte eschatologische Wende« als strukturieren- nahme freigab, aber eine offene Stellungnahme vermied. des Prinzip des MkEv sieht und zu dem interessanten Man versteckte sich, was kennzeichnend für die damalige Ergebnis kommt, dass Mk die Zahl der Erwählten eng Zeit war, nach dem Motto »Wasch mir den Pelz, aber begrenzt und das Evangelium der Mehrzahl der Men- mach mich nicht nass«! Der Schreibende titelte seinen Leit- schen Verdammnis und nicht Heil bringt (»Blasphemy — artikel in jener Zeit zu diesem Ergebnis: »Die Leisetreter St. Mark's Gospel as Damnation History«). der Nation«, was ihm damals viel Gegnerschaft eintrug, James A. Sanders, Union Theological New York, gibt in aber zu diesem Titel er noch heute steht. »From Isaiah 61 To Luke 4« ein besonders gutes Beispiel Ober 25 Jahre sind seit der Aktion »Friede mit Israel« für die von ihm als »comparative Midrash« bezeichnete vergangen. Vieles ist inzwischen geschehen, die Verträge Methode der Aufdeckung der verschiedenen Funktionen mit Israel wurden genau vor 25 Jahren ratifiziert, und eines atl. Textes oder einer atl. Tradition in verschiede- die Wiedergutmachungsgesetze zur Abgeltung deutschen nen Gemeinden, denen des Frühjudentums und denen des Unrechts und deutscher Verbrechen wurden Wirklichkeit. 8 Frühchristentums. In dieser Studie geht er den Rollen Viele damalige Leisetreter sind inzwischen ins Vergessen nach, die Jesaja 61, 1-3 im Leben mehrerer Gemein- abgetreten oder aber auch zu Schrittmachern geworden. schaften gespielt hat, vom AT über Qumran zu Jesus in Manche erinnern sich kaum oder wenig an die bahnbre- der Synagoge von Nazareth (Lk 4) und der Gemeinde chende Initiative von Erich Lüth und Rudolf Küstermeier. des LkEv. Sanders gibt zunächst einen knappen Aufriss Es ist deshalb dankenswert von Erich Lüth, mit seinem der Aufgaben des »vergleichenden Midrasch« und seiner Buch uns diese Zeit nochmals ins Gedächtnis zu rufen. Abgrenzung von den bekannten Methodenschritten und Dafür dankt ihm die Geschichtsschreibung und seine ein- weist die Legitimität und die Notwendigkeit nach, von stigen noch lebenden Mitstreiter. Kunz v. Kauffungen der auf Traditions- und Redaktionsgeschichte innerhalb der Synoptiker konzentrierten Analyse weiterzukommen g Vgl. Franz Böhm: Das deutsch-israelische Abkommen 1952 (s. u. zur Untersuchung der Funktionen einer Tradition im S. 131). (Alle Anmerkungen d. Red. d. FR.) gesamten zeitgenössischen Judentum, d. h. in diesem Fall Qumran. Nach einer für den ATler interessanten Diskus- sion der Forschung des Jes 61, 1 ff. bahnte sich Sanders mit JACOB NEUSNER (Hrsg.): Christianity, Judaism and Hilfe der alten Übersetzungen und Kommentare den Other Greco-Roman Cults. Studies for Morton Smith Weg zur Erhellung der beachtlichen Rolle, die dieser at Sixty. Part 1: New Testament, XI und 330 S. — Part Text auch in Qumran gespielt hat, und zwar vor allem 2: Early Christianity, VII u. 227 S. — Part 3: Judaism mit Hilfe von 11QMelch(izedek), in dem mehrere atl. Before 70, VII u. 248 S. — Part 4: Judaism After 70; Zitate eng mit Jes 61, 1-3 verwoben sind. Die Analyse Other Greco-Roman Cults; Bibliography, VII u. 241 S. der unterschiedlichen Funktion dieses Textes in Qumran (Studies in Judaism in Late Antiquity XII). Leiden und bei Jesus, der Jes 61 als Haftara in seiner Heimat- 1975. E. J. Brill. synagoge vorträgt und auf sich auslegt, führt Sanders zu J. Neusner hat in der von ihm initiierten und getragenen dem Ergebnis, das er bereits an anderen Beispielen zu Reihe SJLA eine vierbändige Festschrift für seinen Leh- erhärten suchte: Qumran besass zwei Auslegungsaxiome, rer Morton Smith, Columbia Univ., New York, orche- zwei Schlüssel zu Verständnis und Auslegung der Schrift. striert. Auch wenn vor kurzem hier Smith' Versuch, ein Einmal der Glaube, dass Jetztzeit gleich Endzeit sei, und »geheimes Markusevangelium« aus einem Wüstenkloster zum zweiten, dass Gottes endzeitlicher Zorn gegen die mit beachtlichem wissenschaftlichen Aufwand zu lancie- anderen und nur gegen die anderen gerichtet sei, die ren, deutsch erschienen ist, dürfte er doch hierzulande erwählte Gemeinde hingegen, so sündenbewusst sie auch wenig bekannt sein. Um so interessanter und akzeptabler sein möge, werde ausschliesslich Gottes Erbarmen und ist hingegen die vorliegende grosse Ehrung zum 60. Ge- Güte erfahren. Es ist Sanders Verdienst, dieses zweite

119 hermeneutische Grundprinzip von Qumran ans Licht ment«. Man erfährt erstaunt, dass die klassische soziolo- gehoben zu haben. Der Vergleich nun mit der Weise der gische Definition einer Sekte noch nie auf das entstehen- Benutzung des Textes durch Jesus zeigt, dass die Her- de Christentum angewendet worden ist, was Scroggs meneutik Jesu ähnlich endzeitlich ist wie die von Qum- hier erstmalig versucht und feststellt, dass das frühe ran, dass aber Jesus das Prophetenwort nicht auf die In- Christentum alle Kriterien einer Sekte erfüllt. Das ist von Group zentriert und für sie »konstitutiv« verwendet, Interesse für ein fundierteres Gespräch über die Tren- sondern »prophetisch-kritisch«! Wer sind bei Jesus die nungsschwierigkeiten von Christentum und Judentum. befreiten Armen, Gefangenen, Blinden? Am Verweis auf Zugleich deutet Scroggs ein neues Verständnis der theolo- Elijas und Elischas Taten an der Witwe aus Sidon und gischen Bedeutung des Todes Jesu für die Urgemeinde dem syrischen Aussätzigen erhellt, dass es sich gerade an. Vom Standpunkt des Anthropologen untersucht dabei nicht um die Mitglieder einer exklusiven In-Group Sheldon Isenberg die millenaristischen Ideologien und handelt, sondern um diejenigen, die Gott damit meint, Aktivitäten des ersten Jahrhunderts: »Power through eben auch und besonders die »Aussenseiter«. Das möge Temple and Torah in Greco-Roman Palestine«. Marcel nun niemanden zu vorschneller Freude verleiten, denn Simon, Strasbourg, übt in »Reflexions sur le Judeo- die prophetische Kritik, die Qumran so gänzlich abgeht, Christianisme« Kritik u. a. an Jean Danielou und ver- ist wohl die Jesu, nicht aber die der jungen Kirche, die sucht die verworrene Begrifflichkeit zu entzerren, die ihre Identität erst einmal »konstitutiv« und nicht selbst- hinsichtlich so verschiedener Phänomene wie » Judenchri- kritisch zu festigen suchte! Ihre »konstitutive« Verwen- stentum«, »Judaismus«, »judaisierendes« Heidenchristen- dung etwa der Worte Jesu ähnelt sehr dem zweiten tum usw. grassiert. Sherman Johnson liefert einen breiten qumranischen Auslegungsprinzip. Die junge Kirche, die überblick über »Asia Minor and Early Christianity«. sich mit dem Judentum über die Frage stritt, wer das Kurt und Ursula Schubert setzen ihre Studien zur Her- »wahre Israel« sei, brauchte nur die Worte Jesu getreu kunft frühchristlicher Kunst aus jüdischen Vorlagen fort, und »statisch«, wie Sanders sagt, überliefern, sie aber hier mit einer auch bildlich gut dokumentierten Arbeit jetzt als von der Verwerfung der Juden und der Annah- über »Die Vertreibung aus dem Paradies in der Kata- me der Heiden gesagt lesen. Damit wird ein dem jesuani- kombe der Via Latina in Rom«. Mit Hilfe einer jüdi- schen diametral entgegengesetztes hermeneutisches schen, targumisch erhaltenen Tradition wird die Abhän- Axiom verwandt und so die ipsissima vox Jesu geradezu gigkeit des christlichen Bildtypus von einer jüdischen in das Gegenteil verkehrt, eben aus den Bedürfnissen der Vorlage wahrscheinlich gemacht. Man ist gespannt auf jungen Gemeinde heraus. »Luke's point is that the Na- weitere Arbeiten aus dem Wiener Arbeitskreis, der be- zareth congregation rejected Jesus precisely because he müht ist, Katakombenfresken vermittels der rabbinischen preached Isa 61 in the way he did — by applying the Aggada besser zu deuten. Von den sechs weiteren Aufsät- hermeneutic axiom of prophetic critique even to the End zen dieses Teils seien nur noch genannt Marc Philonenko: Time. Little wonder that the faithful at Nazareth rejec- »Une allusion de l'Asclepius au livre d'Henoch« ted not only his interpretation but the preacher-interpre- und Ernest Frerichs, »Contemporary Ecclesiastical ter as well. The offense was intolerable. It went against Approaches to Biblical Interpretation: Orthodoxy and all they believed in« (103). Man wird sich fragen müssen, Pseudorthodoxy« — eine Untersuchung der Haltungen ob die »konstitutive« Auslegung von prophetisch-kriti- des World Council of Churches zur biblisch-exegetischen schen Worten Jesu so völlig die Oberhand im Verlauf der Wissenschaft, lesenswert auch für nichtprotestantische christlichen Geschichte bis heute gewonnen hat, dass wir Christen, denen an der Auseinandersetzung von Wissen- kaum noch in der Lage sind, umzulernen und die scharfe schaft und kirchlicher Autorität gelegen ist. prophetische Kritik an der eigenen Gemeinschaft mit Teil 3 zum Judentum vor derZerstörung des Jahres 70 n.Chr. dem historischen Jesus gegen uns selbst einzusetzen. enthält 12 Beiträge, in denen sich etwas von der Vielfalt Neben den weiteren Aufsätzen des NT-Bandes, welche jenes Judentums widerspiegelt. Yochanan Muffs vom die Forschungssituation am Hebräerbrief, die Verwandt- Jewish Theological Seminary, N. Y., schreibt über » Joy« schaft des JohEv mit der Apostelgeschichte, das Problem and »Love« als Metaphern der Bereitschaft und Spon- der Gegner des Paulus und den christologischen Hymnus taneität in keilschriftlicher, althebräischer und verwand- Kol 1,15-20 thematisieren, verdienen erhöhte Aufmerk- ter Literatur und führt damit seine Studien zu den samkeit Max Wilcox, »A Foreword to the Study of the aramäischen Papyri von Elephantine weiter. Hier geht es Speeches in Acts«, der zur Diskussion stellt, ob nicht der um die Interdependenz zwischen neubabylonischen Ur- erzählerische Rahmen erst sekundär aus dem Redenmate- kunden und dem Midrasch — ein Untersuchungsgebiet mit rial der Apg abgeleitet sein könnte, sowie Wayne Zukunft, das allerdings auch die Beherrschung weit aus- Meeks, der die ironische Frage des Pilatus aufgreift: einanderliegender Wissenschaftszweige voraussetzt. Der »Am I a Jew? — Johannine Christianity and Judaism«. Aufsatz von Baruch Levine zu den Elephantine-Papyri Das ist ein äusserst wichtiges Thema in der delikaten steht in engem Zusammenhang mit den Arbeiten von Diskussion um die Herkunft (und die Wirkungsgeschich- Muffs. Albert Baumgarten, der mythisierende und te) des JohEv. Meeks kommt zu dem unzweideutigen midraschische Interpretationen der Trunkenheit Noachs Ergebnis: »The Fourth Gospel is indeed one of the most und des Frevels Chams (Kastration?) untersucht, kommt Jewish of the early Christian writings, even as it deve- seinerseits jedoch nicht zum Aufweis von Beziehungen lops one of the most vehement anti-Jewish polemics in zwischen Mythos und Midrasch. Elias Bickerman the first century. At the same time it reveals some of the schreibt über den jüdischen Historiker Demetrios (ca. diversity of Judaism in the first century . . . and shows 220 v. Chr.), der im damals populären Wettstreit der some of the torment that was experienced an both sides Völker um die längste Geschichte die Zeitspanne zwischen as Christian groups were wrenched from their Jewish Adam und Abraham um anderthalbtausend Jahre ausge- (and Samaritan) matrix« (185). dehnt hat oder zumindest der erste war, von dem uns das Band 2 widmet sich dem frühen Christentum. Robin bekannt ist. Jonathan Goldstein untersucht die Scroggs, Chicago, leitet ihn religionssoziologisch ein: Tobiadenerzählungen in Josephus' Antiquitates 12, »The Earliest Christian Communities as Sectarian Move- Horst Moehring die »Acta pro Judaeis« ebendort 14 und

120 16. Geza Vermes, Oxford, zieht eine targumische Par- aus sehr verschiedenen Bereichen um sich zu versammeln allele zu Qumran mit einer Studie über den Erzengel und in ein die Forschung vorwärtsbewegendes Gespräch »Sariel«, der die englischen Chöre leitet und dessen miteinander zu bringen. Michael Brocke, Regensburg Name mit einer der möglichen Ausdeutungen des Na- mens »Israel« zu tun zu haben scheint. Robert Kraft FRIEDRICH SEEGENSCHMIEDT (Bearb.): Christen resümiert sehr nützlich »The Multiform Jewish Heritage und Juden. Arbeitshilfe für den evangelischen Religions- of Early Christianity« und versucht dabei Ordnung in unterricht an Gymnasien, hg. im Auftrag der Arbeitsge- die zahlreichen anstehenden Probleme der Erforschung meinschaft evangelischer Religionslehrer an den Gymna- des literarischen Erbes zu bringen. Jack Lightstone sien in Bayern (für den internen Gebrauch als Manuskript nimmt sich der tannaitischen Kontroversen von Phari- gedruckt). Heft 1 u. 2. Erlangen 1976. Heft 1: 200 Sei- säern und Sadduzäern an, die nach ihm aber nichts für ten, Heft 2: 168 Seiten. die Feststellung prinzipieller Gegensätze erbringen. Louis Man muss dieser Materialsammlung ein hohes Lob aus- Feldman, Yeshiva U., registriert in »Masada: A Critique sprechen. Sie bietet viele Dokumente und Informationen, of Recent Scholarship« 79 Titel von 1943-1973, Publi- regt zum Nachdenken an und gibt dem Religionslehrer kationen, die sich mit Masada und Josephus' Bericht eine Fülle von Material an die Hand, das er entweder für archäologisch und literarisch befassen. Feldman setzt sich sein eigenes Verständnis des christlich-jüdischen Verhält- geschickt und kritisch mit diesem Material auseinander nisses oder auch unmittelbar für die Unterrichtsvorberei- und argumentiert sehr differenziert gegen die These von tung gebrauchen kann. Mir ist keine neuere Material- Trude Weiss-Rosmarin, nach der der von Josephus be- sammlung bekannt, die ähnlich aspektenreich und über- richtete gemeinsame Suizid der letzten Verteidiger eine legt das Verhältnis von Christen und Juden erschliesst. Sie Erfindung gewesen sei. (Ein Topos, der, dessen ist sich steht theologisch ganz auf dem Stand der Zeit, berück- Feldman auch bewusst, die Sensibilität Israels empfind- sichtigt die wesentlichen Themen der heutigen Diskussion lich tangieren könnte.) und gibt zugleich Anregungen zu einer weiteren Vertie- Teilband 4 versammelt Arbeiten sowohl zum Judentum fung des jüdisch-christlichen Gesprächs. nach 70 wie solche zu »anderen griechisch-römischen Es kann hier nicht die Aufgabe sein, zu den einzelnen in Kulten«, dazu eine Bibliographie aller Veröffentlichun- die Sammlung aufgenommenen Texten Stellung zu neh- gen von M. Smith bis Ende 1973 und 40seitige Register, men. Statt dessen sollen nur die wichtigsten Themen kurz die ausgesprochen nützlich sind und auf die der Heraus- benannt werden. Das erste Heft enthält vor allem Texte, geber bekanntlich in allen seinen Arbeiten dankenswerter- die der Information dienen. Hier ist die evangelische Ver- weise achtet. Die Studien zum Judentum nach 70 spie- lautbarung »Juden und Christen« abgedruckt, hier sind geln, man wird es nicht anders erwarten, vor allem die auch die Texte des 2. Vatikanums, die Erklärung der fran- Interessen und Methoden der anwachsenden Neusner- zösischen Bischofskonferenz vom April 1973 und die Vati- Schule, und das macht das Bild ein wenig monochrom. kanischen Richtlinien und Hinweise für die Durchfüh- Jacob Neusner selber liefert am Beispiel von Mischna rung der Konzilserklärung »Nostra aetate« vom Januar Ohalot 2,1 einen Beitrag zu »Form-Criticism and Exe- 1975 zu finden. Zu diesen offiziellen kirchlichen Verlaut- gesis« rabbinischer Literatur und zieht ausdrücklich dazu barungen hat es Stellungnahmen und Interpretationen von die Lösungsversuche der klassischen jüdischen Kommen- jüdischer und christlicher Seite gegeben. Wichtige Beispiele tare heran. Dabei werden einmal mehr die grossen Schwie- dafür sind hier ebenfalls (Ausnahme: Kommentare zum rigkeiten, die diese Literatur adäquatem Verstehen macht, Konzil) gesammelt. So enthalten diese Arbeitshilfen die sehr deutlich. Baruch Bokser vergleicht »Two Traditions wichtigsten kirchenamtlichen Texte der letzten Jahre. of Samuel«. William Scott Green handelt von »Redac- Im Anschluss an diese Dokumente findet man Texte, Auf- tional Techniques in the Legal Traditions of Joshua b. sätze, Auszüge aus Referaten, Büchern, Artikel zu fol- Hananiah«. Gary Porton analysiert »The Artificial genden Themen: Judentum (Teil III), Zionismus (IV), Dispute: Ishmael and Aqiba«. Lee Levine, 1975 mit einer Der Staat Israel und die Christen (V), Christen und Dissertation über »Caesarea Under Roman Rule« hervor- Juden — Begegnung und Gespräch (VI), Theologische Fra- getreten, untersucht hier die Informationen und Traditio- gestellungen (VII), Das Thema Judentum im Religions- nen über einen der bedeutendsten jüdischen Caesareaner, unterricht (VIII), Literatur- und Medienhinweise (IX). R. Abbahu, eine hochinteressante Figur, u. a. auch in der Zu der Auswahl der abgedruckten Texte mag das eine jüdisch-christlichen Auseinandersetzung des 3. Jh. in oder andere Fragezeichen erlaubt sein. Warum wird z. B. Caesarea. ein so bekannter Buber-Text zum »Bruder Jesus« erneut William Braude illustriert die Schwierigkeiten und be- abgedruckt, während andere neuere Äusserungen von Ju- sonderen Erfordernisse der übersetzung von Midrasch- den zu Jesus fehlen? überhaupt ist die Diskussion um werken an zwei grundverschiedenen Probeübersetzungen Jesus nur knapp repräsentiert. Dies gilt noch mehr für das desselben Textes aus Tanna debe Elijahu. Es wäre sehr Themenfeld Paulus und seine Theologie. Zu wenig findet erfreulich, würde Braude, der bereits die Pesikta Rab- man auch über das Judentum im katholischen Religions- bati, die Pesikta deRab Kahana und den Midrasch Te- unterricht. Aber dies zu beschreiben wäre wohl auch eher hillim ins Englische übersetzt hat, bald auch die -Oberset- eine Aufgabe einer katholischen Publikation. — Alles in zung dieses »Seder Elijahu«, eines der eigenartigsten und allem: eine sehr nützliche und zugleich sehr preiswerte anziehendsten Werke der Aggada, vorlegen können. Publikation, der man eine grosse Verbreitung bei den Mary Boyce: »Iconoclasm Among the Zoroastrians«, Religionslehrern wünscht. Werner Trutwin, Bonn Kurt Rudolph: »Quellenprobleme zum Ursprung und Alter der Mandäer«, Robert M. Grant: »The Religion of GERD STEIN / E. HORST SCHALLENBERGER Maximin Daia«, Stanley Isser: »Dositheus, Jesus, and a (Hrsg.): Schulbuchanalyse und Schulbuchkritik. Im Moses Aretalogy« bilden die weiteren Elemente des letz- Brennpunkt: Juden, Judentum und Staat Israel. Duis- ten Bandes. Alles in allem genommen: eine Festschrift, burg 1976. Verlag der Sozialwissenschaftlichen Koopera- wie sie nicht sehr oft vorkommt. Sie zeugt von der tive. 211 Seiten. Fähigkeit M. Smiths (und J. Neusners), Wissenschaftler Im Oktober 1975 fand in Duisburg eine Tagung statt, die

121 sich mit dem Bild des Juden und Israels im Schulunter- B. U ffenheimer: Die biblische Vorstellung vom König- richt befasste und dazu auch eine Schulbuchanalyse zu tum Gottes und deren Dynamik; R. Schmid: Gottesherr- diesem Thema vornahm. Geleitet wurde diese Tagung schaft und menschliche Institution – Die Bedeutung von E. H. Schallenberger (Politische Wissenschaften) und menschlicher Initiative im Licht von 1 Sam 8 und 12; Heinz Kremers (Evgl. Theologie), der sich seit vielen C. Thoma: Die gegenwärtige und kommende Herrschaft Jahren in Duisburg für einen theologisch wie politisch Gottes als fundamentales jüdisches Anliegen im Zeitalter verantwortbaren Dialog zwischen Juden und Christen, Jesu; E. Ruckstuhl: Streiflichter zur Eschatologie Jesu; Deutschen und Israelis einsetzt. Vornehmlich durch seine P. Schäfer: Die messianischen Hoffnungen des rabbini- Aktivitäten ist Duisburg zu einem Zentrum christlich- schen Judentums zwischen Naherwartung und religiösem jüdischer und deutsch-israelischer Begegnung geworden. Pragmatismus; J. Maier: Das Werk des Maimonides und Dafür ist auch die vorliegende Publikation ein gutes die damalige und spätere jüdische Gegenwartsbestimmung Beispiel. Sie bietet in ihrem zweiten – und wie uns und Zukunftshoffnung; R. Schatz-Uffenheimer: Messianis- scheint bedeutenderem Teil – zuerst einmal Schulbuch- mus und Utopie bei Raw Abraham I. Kook, dem bedeu- analysen. Hier wären vor allem die Untersuchungen von tendsten Vertreter moderner jüdischer Mystik; D. Wie- Kremers zu neueren Religionsbüchern zu nennen. Die derkehr: Der Christusglaube als Absorbierung oder Frei- Ergebnisse zeigen ganz eindeutig, dass inzwischen aus- setzung von Zukunft: Das Verhältnis von Christologie gezeichnete Schulbücher bzw. Unterrichtsmodelle und und Eschatologie. Textsammlungen zu diesem Thema vorliegen. Wichtiger Was lässt sich in der gebotenen Kürze, welche ein Ein- noch als diese Schulbuchanalysen sind die Überlegungen gehen auf die einzelnen Referate natürlich nicht erlaubt, zu einem grossangelegten Forschungsprojekt zum Thema an Sinnvollem und Wesentlichem sagen? Aus den sich »Darstellung der Juden, des Judentums und des Staates anbietenden Möglichkeiten sei auf eine Bezug genommen. Israel in Schulbüchern der Bundesrepublik Deutsch- Aus den Perspektiven der Referate leuchtet eines auf: land«. Dieses Forschungsprojekt wird vom fachwissen- die Verantwortlichkeit des Menschen, des jüdischen wie schaftlichen Diskussionsstand »Geschichte des Juden- des christlichen. Mochte man in vergangenen Zeiten rasch tums« und »Staat Israel« ausgehen, erziehungs- und so- Zuflucht zu einer »übergeordneten Grösse« nehmen oder zialwissenschaftliche Perspektiven berücksichtigen und doch wenigstens zu nehmen sich bemühen (es sei dahin- multidisziplinäre fachdidaktische Studien anstellen. Man gestellt, wieweit man anders hätte handeln können bzw. hofft, so zur Analyse und Kritik insbesondere von Schul- wieweit eine heutige Sicht schon früher hätte möglich büchern, aber auch anderer Materialien beitragen zu sein können oder sogar müssen): jetzt ist solches nicht können. Hauptmitarbeiter auf israelischer Seite ist mehr im hergebrachten Sinn möglich, es sei denn, man Chaim Schatzleer, der sich seit vielen Jahren mit diesem wollte oder würde hinter den grundsätzlich vollzieh- Problemfeld befasst. Er hat auch einige Beiträge zu baren Einsichten einfach zurückbleiben. Aber wie wollte dieser vorliegenden Schrift verfasst. – Der erste Teil des man das rechtfertigen? Buches enthält Studien zu Methode und Verfahren wis- Wo ist es wirklich Er, Jahwe, gepriesen sei Er, wo ist es senschaftlicher Schulbucharbeit. Hier finden sich eher wirklich Er, Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Chri- grundsätzliche Überlegungen und – man fragt sich, stus — der uns in all dem trennt, was uns, Juden und warum – einige Wiederabdrucke zu Schulbuchanalysen, Christen, voneinander trennt, wo ist Er es, der uns in die aus früheren Jahren stammen und z. T. anderen einem Zueinander hindert — und wo sind wir es, die Themen gelten. – Insbesondere wegen der Skizzierung sich voneinander trennen, die sich gegenseitig hindern? des genannten Forschungsprojektes verdient der Sammel- Man vermeine nicht, diese Fragen würden hier vorder- band Aufmerksamkeit. Man wird auf das Unternehmen gründig oder oberflächlich gestellt — oder wir seien gespannt sein dürfen. Werner Trutwin, Bonn etwa der Auffassung, eben diese Fragen liessen sich leicht und eindeutig beantworten, namentlich in ihren Kon- CLEMENS THOMA (Hrsg.): Zukunft in der Gegen- sequenzen! Das Gegenteil ist der Fall: gerade wer die wart. Wegweisungen in Judentum und Christentum. Erkenntnisse über den Menschen, wie moderne Wissen- (Reihe: Judaica et Christiana, hrsg. von S. Lauer 1 schaften sie liefern — schon heute und morgen noch viel C. Thoma, Band 1.) Bern — Frankfurt/M. 1976. Verlag mehr — ernst zu nehmen weiss, wird sich keine raschen H. Lang. 241 Seiten. Erfolge versprechen. Genau das aber kann für ein ver- Dieser wichtige Sammelband — zugleich der Auftakt zu antwortungsbewusstes Denken, Planen und Handeln nur einer äusserst begrüssenswerten neuen Reihe, zu deren bedeuten, dass die Viel- und insbesondere die Tief schich- Verwirklichung man die Herausgeber und den Verleger tigkeiten der anstehenden Fragen klar erkannt und so- gleichermassen beglückwünschen darf — bietet die Re- dann zunächst einmal klar benannt ( = beim wirklichen ferate des jüdisch-christlichen Symposions, das vom Namen genannt!) werden müssen. Und diese Phase der 10. bis 12. März 1975 in Luzern stattfand'. Der energie- Entwicklung haben wir noch nicht in jeder Hinsicht er- vollen Führung durch C. Thoma ist es vorab zu danken, reicht, geschweige denn gar durchschritten — ungeachtet dass, im Verein mit dem verlegerischen Mut und Weit- der vielen positiv zu bewertenden Einzelfälle, die sich blick von P. Lang, diese Referate einer interessierten (und hier anführen liessen, und ungeachtet einer bereits in die noch zu interessierenden) weiten Öffentlichkeit angeboten Breite wirkenden Entwicklung auf manchen Sektoren. Es werden können. ist daher insbesondere dem Herausgeber und den Mit- Doch zunächst zur Thematik. Nach einer Einführung, arbeitern dieses ersten Bandes einer neuen Reihe, welche die sich durch eine erfrischende (wenngleich keineswegs sich in den Dienst dieser langwierigen Entwicklung ge- hinsichtlich des Inhalts immer erfreuliche) Aktualität und rufen weiss, ganz ausserordentlich zu danken, dass der Zeitbezogenheit auszeichnet, lässt der Herausgeber eingeschlagene Weg mit so grosser Entschiedenheit be- schritten wurde. — Dazu sollte man immer wieder eines C. Thoma die Referenten zu Wort kommen; also: bedenken: jedes Unternehmen einer Zueinanderführung geschiedener Gruppen — wie klein oder gross diese im 1 Vgl. dazu: Clemens Thoma: Zukunft in der Gegenwart. Gedanken zu einem jüdisch-christlichen Symposion. In: FR XXV11/1975, S. 13 ff. einzelnen sein mögen — ist ein risikoreiches Unterfangen

122 (und darin z. B. nicht unähnlich dem, was J. Maier in kommt zum Schluss, die christliche Forschung habe in seinem Beitrag so eindrucksvoll über messianische Be- dieser Frage vieles unbeachtet gelassen. Das Judentum wegungen und Erwartungen, hier zur Zeit des Maimoni- habe viel mehr vom präsentischen Heil gelebt, als ihm dies des, vgl. S. 141 ff., auszuführen versteht): man weiss im von heutigen Exegeten zugestanden werde. Auch die Er- vorhinein nicht, welcher Erfolg einer Sache beschieden wartung auf die Endherrschaft Gottes (Basileia) sei in sein wird, und Beargwöhnung und weit Schlimmeres frühjüdischer und rabbinischer Zeit stärker gewesen, als sind als leidbringende Begleiter dieses Unternehmens dies motivgeschichtlich gewöhnlich eruiert werde (57-77). eben nun einmal nie völlig auszuschliessen. Mit all dem Es geht also, wie man sehen kann, nicht um Utopistik, aber kommen wir durch ein Beschwören von Himmel und sondern höchstens um eine realisierbare Utopie. Diese Hölle ebensowenig weiter wie durch eine alleinige allerdings sollte für alle Beteiligten um ihrer Zukunft Schuldzusprache an die Adresse des je einzelnen Men- willen schon in der Gegenwart manches Opfer wert sein, schen — so wichtig und richtig, aber eben auch so relativ um es in Anschluss an die von Clemens Thoma gewählte all das in je seiner Bezugnahme sein mag und stets sein Überschrift des vorgestellten Bandes zu sagen. 0. K. wird. Hier sind, so scheint es mir, angesichts einer mo- dernen Herausforderung durch die Verhältnisse in unse- WERNER TRUTWIN: Licht vom Licht. Religionen in ren Gesellschaften die Religionen und damit insbesondere unserer Welt. Düsseldorf 1976. Patmos-Verlag und Ver- Judentum und Christentum zunächst einmal gerufen, in lag des Borromäusvereins. 336 Seiten. 224 Abbildungen Wirklichkeit zu zeigen, was sie auf der Ebene einer ge- und Photos, davon 115 farbig. sellschafilich relevanten Ethik der Praxis des Lebens als Um es vorweg zu sagen: Dem als Religionspädagogen Institutionen zu leisten vermögen: und daran — und an bekannten und im christlich-jüdischen Dialog engagierten nichts anderem — wird »die Welt«, im übrigen völlig Autor ist mit dem vorliegenden Titel ein rundum sym- unaufgefordert und wie von selbst, ermessen, was es mit pathisches Werk gelungen: ein prächtiger Bildband und unseren Programmen und Reden ansonsten auf sich hat, doch voller Wärme, eine Dokumentation mit authenti- mögen sie nun jüdisch, christlich oder beides zugleich sein. schen Belegen und doch von christlichem Standort aus Unter dem Einsatz moderner Erkenntnisse über Indivi- wertend, eine überaus materialreiche Einführung und duum und Gesellschaft wäre sehr wohl ein echtes und doch nicht ausufernd. wirklichkeitsentsprechendes Voranschreiten in einer weit- Das Werk stellt die Religionen von Judentum, Islam, reichenden jüdisch-christlichen Gemeinsamkeit denkbar, Hinduismus und Buddhismus dar und gibt ihren Lehren, welche eben gerade nicht jedes beliebige Opfer an je Glaubensaussagen und Motivschichten den Vorrang, ohne eigener Identität, Eigenständigkeit und Tradition ver- auf einen Gang durch ihre Geschichte und einen Blick auf langt — das eben, weil von vornherein nicht leistbar, ihre heutige Verfasstheit zu verzichten. Für das hier inter- nämlich jeden wirklichen Schritt in eine gemeinsamere essierende Judentum bedeutet das eine Aufteilung des Zukunft gerade nicht befördern, sondern verunmöglichen Stoffes in sechs Kapitel. Die Einführung »Gottes Minori- würde. tät« (14-17) begründet die Eröffnung der Darstellung In diesem ersten Band von « Judaica et Christiana« 2 geht der »Weltreligionen« durch das Judentum aus dessen un- es aber nicht darum, nur allgemein über die Wegweisungen geheuren grossen Wirkungen und erläutert die Begren- grosser jüdischer und christlicher Autoritäten zu referieren. zung des Stoffes: »Hier soll der Hauptakzent auf dem Nicht zufällige Ereignisse werden beleuchtet, sondern die >unbekannten Judentum< (R. R. Geis) liegen« (17). grossen jüdischen und jüdisch-christlichen Entscheidungs- Diese Akzentuierung leitet deutlich das historische Kapitel zeiten: Altes Testament, Zeitalter Jesu, talmudisches Ju- »Geschichtliche Erinnerungen« (18-37). Der Christ ohne dentum, die mittelalterlichen Auseinandersetzungen und religionskundliche Vorbildung, welcher der Adressat des die heutige Lage. Wie lauteten die Ratschläge der grossen Bandes ist, ist vielleicht noch mit der biblischen Zeit ver- Meister an ihre bedrängten jüdischen oder christlichen Ge- traut, aber so gut wie ohne jedes Wissen über die inner- meinschaften? Welcher Weg in die Zukunft wiesen sie? jüdische Entwicklung der nachbiblischen Zeit. Gerade ihre Welche Vorkehrungen trafen sie, um die Verunsicherten Skizzierung nimmt mehr als die Hälfte des Raumes ein. zu leiten und die Ungeduldigen und Schwärmer im Zaum Trutwin folgt in der Periodisierung der nachbiblischen zu halten? Dabei werden von den christlichen und den Geschichte den Einteilungen Johann Maiers und wird der jüdischen Autoren auch die wichtigen, zwischen Judentum Schlüsselrolle der Daten von Tempelzerstörung, arabischer und Christentum umstrittenen Themen angeschnitten: Eroberung, Vertreibung aus Spanien, Aufklärung und Messianismus, Christologie, Heil im Heute, die Rolle des nationalsozialistischer Katastrophe gerecht. Vom christ- Volkstums u. a. Clemens Thoma geht der Frage nach, lichen Leser verlangt der Autor vermehrte Lernwilligkeit wieviel Heil das nichtchristliche Judentum der Zeit Jesu dort, wo er ungeschminkt die christliche Beteiligung an der und der frühen Kirche in ihrem Heute gesehen habe. Er jüdischen Verfolgungsgeschichte beschreibt. Der geschicht- liche Abriss endet mit der Staatsgründung Israels. Beson- 2 Der 2. Band dieser Reihe erscheint Herbst 1977 und wird den Titel tragen: »Die Offenbarungslehre des Samson Raphael Hirsch.« Die ders hier erscheint die Zusammenordnung von Text und Sachbücher dieser Reihe wollen das schwierige, aber ausserordentlich Bild sehr geglückt: Das ausdrucksstarke Photo eines alten bereichernde jüdisch-christliche Verhältnis unter neuen Gesichtspunk- Juden, der die Westmauer küsst (35), vergegenwärtigt ten vertiefen und klären. Vgl. dazu u. a. auch: Benjamin Uffenhei- den motivgeschichtlichen Hintergrund des Zionismus mehr mer: Die älteste Prophetie Israels: in: FR XXV/1973, S. 218/IM 33 ff.; ferner sein oben genannter Beitrag: »Die biblische Vorstellung als weitschweifende Erläuterungen. vom Königtum Gottes und ihre Dynamik« (S. 17-42). B. Uffenheimer Nach dem geschichtlichen Durchblick beginnt die syste- bietet eine eigenwillige, hierzulande kaum gehörte Interpretation matische Darstellung mit dem Kapitel »Bücher des Glau- alttestamentlicher Hoffnungen (S. 17-42). Von seiner Frau, Rivka bens« (38 - 44), welches das Judentum als Buchreligion Schatz-Uffenheimer, der Nachfolgerin von Gerschom Scholem auf dem jerusalemischen Lehrstuhl für jüdische Mystik, vgl. »Quietistische charakterisiert. Freilich sind die Erläuterungen zu Bibel Elemente im chassidischen Denken des 18. Jahrhunderts«, in: FR und Talmud etwas ungenau. (Der Satz »Die Bibel ist bis ibid., S. 211 ff., sowie ihr oben genannter Beitrag, in dem sie Raw auf den heutigen Tag das wichtigste Buch des Judentums Abraham Isaak Kook vorstellt, den bedeutendsten Vertreter moderner geblieben« übersieht vielleicht doch die teilweise Domi- jüdischer Mystik und seine Gegenwarts- und Zukunftsperspektiven (S. 187-206) (Anmerkungen d. Red. d. FR). nanz des Talmud im jüdischen Bewusstsein, 38; die Ketu-

123 bim sind nicht allesamt »Weisheitsschriften«, 38; die Re- Die Darstellung des Judentums rechtfertigt das Fazit: daktion des palästinensischen Talmud erfolgt nicht um Der Borromäusverein — eine mitgliederstarke katholische 500, sondern um 400, 39.) Textproben aus dem Talmud Haus- und Volksbüchereiorganisation — hat mit der Be- geben dem Kapitel eine gewisse Authentizität. Dasselbe auftragung Trutwins, die Jahresgabe 1976 zu verfassen, gilt für die Wiedergabe der 13 Glaubensgrundsätze des einen guten Griff getan. Und der Autor hat die Chance, Maimonides und einiger chassidischer Erzählungen nach eine seriöse Darstellung jüdischer Religion — Verbund M. Buber, deren Plazierung unter dem Stichwort »Bücher mit anderen Religionen — für weiteste Kreise zu erstellen, des Glaubens« jedoch nicht so recht einleuchtet. in imponierender Weise genutzt. Die Freude darüber kann Das Kapitel »Glaube und Hoffnung« (45-59) konzen- durch kleine Schönheitsfehler im Werk (einzelne Unstim- triert sich auf das Verständnis von Gott, Tora, Land und migkeiten im Detail oder eine gewisse Inkonsequenz bei Messias. Den stärksten Eindruck hinterlassen Trutwins der Umschreibung hebräischer Worte und Namen und bei Darlegungen zum jüdischen Gottesbild. Sie korrigieren das den Siglen der Talmudtraktate) nicht geschmälert werden. herkömmliche christliche Bild vom jüdischen Gott kräftig Hans Hermann Henrix, Aachen und treffend, wobei er das Schema (freilich nicht Dtn 6,5 f. — so 45, 46, 48 — , sondern Dtn 6,4 f.) auslegt und auch JÖRG VON UTHMANN: Doppelgänger, du bleicher Texte der jüngeren Geschichte heranzieht. Das Eigenpro- Geselle. Zur Pathologie des deutsch-jüdischen Verhält- fil jüdischer Messianologie tritt gut hervor, so dass die nisses. Stuttgart 1976. Seewald Verlag. 188 Seiten. späteren Erwägungen über das christlich-jüdische Verhält- Das Buch enthält eine Fülle von Behauptungen, aber nis vorbereitet werden. keinen einzigen kritisch abgewogenen primärliterarischen Vorher folgt das Kapitel »Jüdisches Leben« (60-73), wel- Beweis. Das Formale ist aber nicht das Schlechteste! Noch ches dem normalen Leser die Fremdheit jüdischer Fest- schlimmer ist der Inhalt. Er besteht aus Beleidigungen, und Lebensgestaltung (Beschneidung, Bar Mizwa, Ehe und Pauschalurteilen und Fehlanzeigen. Es heisst zum Beispiel, Tod, Speisegesetze, Synagoge, Sabbat und Feste) leicht »die Lebensumstände« von Karl Marx seien »von zwei und verständlich nahebringt. Trutwin konnte hier auf Leitmotiven beherrscht« gewesen: »Seiner ambivalenten bereits bewährte Darstellungen früherer Publikationen in Beziehung zum Judentum und seiner offenbaren Unfähig- Text und Bild zurückgreifen. Wie von selbst hätte sich hier keit, einem geordneten Broterwerb nachzugehen. (Letztere eine Ergänzung durch Hinweise auf die Hauptströmungen teilt er, nebenbei bemerkt, mit Jesus und Hitler)« (S. 166). im heutigen Judentum angeboten, welche die Pluralität Jesus, Hitler und Marx sind nicht die einzigen, die der- jüdischer Lebensgestaltung vergegenwärtigt hätten. massen plump charakterisiert, parallelisiert und mit Hilfe Das abschliessende Kapitel » Juden und Christen« (74-83) phantastischer Gedankensprünge geradezu ineinander- beschreibt nicht mehr das Judentum, sondern wertet es geschachtelt werden. Ungefähr die ganze Geschichte des und wird aufgrund seines ökumenischen Charakters zur Judentums, des Zionismus, des Nationalsozialismus, des Selbstbesinnung eines Christen für Christen, die wohl auch Staates Israel, des Kommunismus, Katholizismus, Pro- den Respekt jüdischer Leser finden dürfte. Was Trutwin testantismus und Deutschlands wird ähnlich zusammen- hier zum gemeinsamen Fundament, zum Juden Jesus, zur gewürfelt. Über Deutschtum, Zionismus und Kommunis- Geschichte christlicher Missverständnisse und zur heutigen mus schreibt er z. B.: »Politische Geschichte und Heils- Situation schreibt, ist ganz auf der Höhe gegenwärtiger geschichte sind bei Juden und Deutschen untrennbar mit- Argumentationslage im christlich-jüdischen Dialog. Ein einander verbunden. Beide Völker haben eine spezifische längeres Zitat, welches einige modische Jesus-Konzeptio- Geschichtstheologie entwickelt. Kennzeichen dieser Ge- nen im Visier hat, mag es demonstrieren: schichtstheologie ist die chiliastische Hoffnung auf die »Die wesentlichen Unterschiede (zwischen Jesus und sei- Wiederkehr des ersten (salomonischen, staufischen) Rei- nen Zeitgenossen) aber werden sich kaum mit religions- ches ... Das zweite und dritte Reich waren untaugliche geschichtlichen oder religionsphänomenologischen Metho- Versuche, diesen Mythos in die Wirklichkeit zu über- den aufweisen lassen, sie liegen im unterschiedlichen tragen. Insofern sind die deutsche Reichsromantik und Glauben an und von Jesus. Sie können nur in der Theo- der Zionismus vergleichbare Phänomene. Auch der Kom- logie oder Christologie gesucht werden. Messianität, Got- munismus hat in diesem chiliastischen Antrieb seine Wur- tessohnschaft und Auferstehung — das sind die Daten des zel« (85). Hinter dem zitierten »dritten Reich« verbirgt Glaubens, in denen sich Juden und Christen voneinander sich für von Uthmann sowohl das Hitlerreich als auch der unterscheiden. Dieser absolute Unterschied Jesu gegen- Staat Israel. Beide seien je eine Seite derselben Medaille! über allem Menschlichen, auch gegenüber dem Judentum, Deutschtum (welcher Sozialordnung, Konfession und Ge- dürfte für die Juden eher annehmbar sein als die relative schichtszeit auch immer) und Judentum (ob Zionismus Differenz, die zwischen jüdischer und jesuanischer Lehre, oder alttestamentliches Israel) seien aber nicht nur extrem Gesetzespraxis, Ethik und Frömmigkeit liegen soll. Denn nahe miteinander verwandt. Diese Verwandtschaft sei in jenem absoluten Unterschied kommen zwei verschie- auch mit tödlicher Tragik belastet: »Die Schärfe des Wider- dene Glaubensweisen zum Ausdruck, die nach Auffassung spruchs wächst mit der Nähe der geistigen Verwandt- beider Religionen zunächst nicht in Übereinstimmung zu schaft. Diese Erkenntnis hat der naive Volksglaube zur bringen sind. In dieser relativen Differenz aber geht es Figur des Doppelgängers verdinglicht, die allemal übles um historische Fakten, die, wenn sie stimmen, ein negatives bedeutet. In der germanischen Mythologie verkündete Bild vom Judentum rechtfertigen würden.« (76) sein Erscheinen nahen Tod« (S. 50). Zwischen Verwandt- Der Unterschied ist benannt — nicht um ihn festzuschrei- schaftsbewusstsein und gegenseitigem Umbringen kom- ben, sondern um über ihn hinauszufragen nach gemein- men nach von Uthmann verschiedene psychopathologische samen Wegen und auf den einen Glauben hin. Dass Trut- Züge bei Juden und Deutschen zum Vorschein. Nicht nur win so verstanden sein möchte, sagt er nicht zuletzt mit dass die Juden sich in Deutschtümeleien ergehen und die der ausführlichen Wiedergabe der bedeutendsten Passagen Deutschen in Jüdeleien! Die Deutschen hängen an der

aus Röm 9 - 11, der Konzilserklärung und der Erklärung Nabelschnur des Judentums, und die Juden suchen die des Komitees der französischen Bischöfe aus dem Jahr Deutschen zu kopieren. Der Grössenwahn beider ist gren- 1973. zenlos: Er kippt bei beiden immer wieder um in »selbst-

124 zerfleischenden Kleinmut« (S. 78). Beide leiden unter Joseph Becker in die Aufsatzsammlung aufgenommen. einem »ungelösten Identitätskonflikt« (S. 75) und am Zusammengefasst wird das Ganze von einem bisher nicht »Auserwähltheitsdünkel« (S. 98 u. ö.). veröffentlichten Manuskript von Ulrich von Hehl »Kir- Wie sehr auch die vielen Seitenhiebe und Sarkasmen von che, Katholizismus und das nationalsozialistische Deutsch- Uthmanns ihr Ziel verfehlen, mögen folgende Beispiele land. Ein Forschungsüberblick«. Hier wird in einer sehr illustrieren: Im christlichen Heiligenkult trete »die abgewogenen Weise ein Überblick über die ja nicht un- polytheistische Tendenz (des Christentums) besonders problematische und zum Teil recht hektische Art der Dis- deutlich zutage« (S. 106). Das alttestamentliche Buch kussion gegeben, die das Thema »Katholische Kirche und Daniel sei eine »Hetzschrift« (S. 136). In der Bibeldeu- Drittes Reich« seinerzeit bestimmte. Dieser bibliogra- tung habe der »Textfetischismus und die philologische phische Artikel macht in etwa den grossen Nachteil die- Haarspalterei bei jüdischen und protestantischen Gelehr- ses Bändchens wett, dass es nämlich in allererster Linie ten atemberaubende Ausmasse« erreicht (S. 118). Das Vertreter einer apologetischen Geschichtsbetrachtung zu Werk des alttestamentlichen Priesters Esra sei »die skru- Wort kommen lässt. Von den kritischen Artikeln, mit pellose Anpassung der überlieferten Texte an die politi- denen in den Anmerkungen zum Teil recht unsanft um- schen Tageserfordernisse« gewesen (S. 100). gegangen wird, ist kein einziger abgedruckt worden. So Der Verfasser spielt geschickt mit der geschichtlichen Un- ist auch die ganze Frage der Hochhuth-Diskussion nur informiertheit der heutigen jungen Generation. Deswegen mit dem etwas blassen Beitrag von Ludwig Volk be- kann sein Buch gefährlich werden. Ein neuer Julius Strei- handelt. Um die Spanung, die vor zehn Jahren in die- cher fände hier eine Menge abstruses Material, um neue sem Thema enthalten war, darzustellen, hätte es wohl gefährliche Konfusionen zwischen Judentum und Chri- doch der Aufnahme des einen oder anderen kontrover- stentum sowie zwischen Europa und dem Nahen Osten sen Artikels bedurft. Eine zweite Frage ist, welchen Wert zu stiften. Deshalb soll man wissen, dass J. von Uthmann es eigentlich hat, Artikel, die zum Teil zehn oder mehr sich in diesem Buch weder als Kenner des Judentums noch Jahre alt sind, ohne jede Veränderung abzudrucken. Ein des Christentums, noch des Deutschtums, noch des Kom- Teil von dem, was hier als offene Frage behandelt wird, munismus, noch des Zionismus, noch des Nationalsozialis- ist ja längst durch die im selben Verlag erscheinenden mus, noch der Völkerpsychologie, noch der Geschichts- Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, theologie, noch des Antisemitismus ausweist. Er schreibt die ursprünglich von der Katholischen Akademie Bayern trotzdem mit der Attitüde eines Supergelehrten über diese herausgegeben wurden, geklärt. Eine Auseinandersetzung und andere Themen. Die Lektüre des Buches zahlt sich mit diesen neuen Erkenntnissen hätte freilich einer ziem- keinesfalls aus. Clemens Thoma lichen Bearbeitung dieser Aufsätze bedurft. So aber über- wiegt am Ende das antiquarische Interesse, zumal man DIETER ALBRECHT (Hrsg.): Die katholische Kirche vom Herausgeber auch im Stich gelassen wird über die im Dritten Reich. Eine Aufsatzsammlung zum Verhält- Absicht, die hinter dem Ganzen steht. nis von Papsttum, Episkopat und deutschen Katholiken Karl Otmar Freiherr von Aretin, Mainz zum Nationalsozialismus 1933-1945. Mainz 1976. Mat- thias-Grünewald-Verlag. VIII, 272 Seiten. PIERRE BLET / ROBERT A. dRAHAM / ANGELO In diesem kleinen Bändchen wird eine Reihe wichtiger MARTINI / BURKHART SCHNEIDER' (Hrsg.): Le Aufsätze zu dem Thema »Katholische Kirche und Drittes Saint Siege et les victimes de la Guerre, Janvier-Decembre Reich« veröffentlicht. Das Bändchen beginnt mit einer 1943. Actes et Documents du Saint Siege Relatifs ä la Se- Skizze von Konrad Repgen, die den Versuch macht, die conde Guerre Mondiale. Vol. 9. Citta del Vaticano. Libre- sehr schwierige und auch sehr kontroverse Frage des An- ria Editrice Vaticana 1975. 687 Seiten.* teils des deutschen Katholizismus an der nationalsozia- Zwei einander ergänzende Berichte dienen dieser erschütternden Auf- listischen Machtergreifung und des Verhältnisses der klärungsarbeit. Wir bringen sie aus der Feder, jüdischerseits, von katholischen Kirche zu diesem Ereignis zu deuten. Dieser Dr. Ernst L. Ehrlich sowie von Professor Dr. Friedhelm Jürgens- Beitrag von Repgen, seinerzeit an entlegener Stelle ver- meier, Ordinarius für Mittlee und Neuere Kirchengeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, der mit einem der Heraus- öffentlicht, ist sicher ein wichtiger Versuch, die zum Teil geber des Werke s , dem verstorbenen Professor Dr. Burkhart Schnei- recht hart aufeinanderstossenden Meinungen über dieses der SJ', als dessen Schüler eng verbunden war (Die Red. d. FR). Problem auf eine gemeinsame Linie zu bringen. Es fol- gen dann zwei Aufsätze von Ludwig Volk, der noch mit Dr. E. L. Ehrlich: zwei weiteren in diesem Bändchen vertreten ist. Es geht Bevor wir im einzelnen auf diesen wichtigen Band einge- hierbei um eine Gesamtdarstellung der Tätigkeit der hen, soll ein Wort des Gedenkens für einen der Heraus- Fuldaer Bischofskonferenz von der Machtergreifung bis geber gesagt werden: Prof. Burkhart Schneider, der aus zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft. Alle unserer Mitte abberufen wurde.' Professor Schneider hat vier Aufsätze sind ursprünglich in den »Stimmen der sich mit viel Hingabe der Edition dieser Bände gewidmet Zeit« veröffentlicht worden und haben seinerzeit dieser und versucht, ein Geschichtsbild zu vermitteln, welches Zeitschrift einen wichtigen Part in der zeitgeschichtlichen nicht durch Apologie, sondern durch die vorgelegten Quel- Diskussion gegeben. Mit der Ludwig Volk eigenen Akribie len bestimmt wurde. sind hier die Probleme in einer sehr nüchternen Weise Das Jahr 1943 ist durch die systematische Ausrottung der geschildert. Auch wenn diese Aufsätze zum Teil zehn Juden im deutschen Machtbereich gekennzeichnet. Auch die Jahre alt sind, ist es nicht unwichtig, sie hier in einem Herausgeber dieses Bandes behaupten nicht, der Vatikan Bändchen zusammengefasst zu bekommen. Besonders hin- hätte von der Vernichtung der Juden nichts gewusst. Es zuweisen ist auf Ludwig Volks Beitrag über den Kirchen- waren eine Reihe von mutigen Katholiken, welche ständig minister Kerrl, der meines Wissens die beste Darstellung Rom wissen liessen, was mit den Juden geschah. An erster ist, die es über diesen eigentümlichen Mann gibt. Es folgt Robert Leibers Nachruf auf Pius XII., der sicher eine Vgl. FR XXVI/1974, S. 41, S. 123 f., desgl. o. S. 40 ff. zeitgeschichtliche Quelle ersten Ranges ist. Es ist dann 1 Vgl. In memoriam Pater Burkhart Schneider SJ, in: FR XXVII/1975, noch ein Aufsatz von Dieter Albrecht und einer von S. 149 f. (Anmerkungen 1, 2, 4-7 d. Red. d. FR).

125 Stelle muss hier der Vertreter des Vatikans in Bratislava Ausführlich wird in der Darstellung durch die Herausge- genannt werden, Msgr. Giuseppe Burzio, der bereits 1942 ber sowie in der Wiedergabe der Quellen auch jener furcht- nach Rom gemeldet hatte, die Juden gingen einem sicheren bare 16. Oktober 1943 behandelt, an welchem die Juden Tode entgegen. Der Prälat hat auch später alles versucht, aus Rom deportiert wurden, gleichsam »unter den Fen- was in seiner Macht stand, um den Juden zu helfen. Eine stern des Papstes«, wie sich der deutsche Vatikanbotschaf- Nonne, Sr. Margit Slachta, begab sich aus Ungarn nach ter von Weizsäcker auszudrücken beliebte. Juden wurden Rom, um sich für die Juden einzusetzen. Man wird daher in Klöstern versteckt, aber mehr als tausend Juden wur- aufgrund der hier vorgelegten Quellen sagen können, den nach dem Osten deportiert und dort ermordet. Nie- dass der Vatikan sehr viel unternahm, um das Schicksal mand weiss, ob ein Protest des Papstes sie hätte retten der verfolgten Juden zu lindern, wenn auch der Erfolg der können, niemand wird heute behaupten können, ein sol- Interventionen leider allzu oft ausgeblieben ist. Natürlich cher Protest hätte zur Folge gehabt, dass die in den Klö- gab es nicht nur Judenretter in der römischen Kurie. Der stern versteckten Juden durch die SS herausgeholt worden tapfere Bischof von Berlin, Kardinal von Preysing, teilt wären. Juden wurden »unter den Fenstern« des Papstes in einem Brief an Pius XII. mit, was ihm der Nuntius in ermordet, andere Juden wurden auf die Initiative des Berlin, Msgr. Orsenigo, sinngemäss mitgeteilt habe: »Ca- Papstes hin gerettet. ritas sei gut und schön, die höchste Caritas sei, der Kirche Und immer wieder stellt sich die Frage, was man im Va- keine Schwierigkeiten zu machen .. .« 2 Der Bischof von tikan »genau« gewusst habe: In einem kurialen Dokument Berlin empört sich zwar über eine solche Haltung, der vom 5. Mai 1943 (Nr. 174 S. 274) ist vom »Todeslager« Papst beruft den Nuntius aber nicht ab. 3 Fairerweise wird Treblinka die Rede und vom Gas, durch welches die Juden man sagen müssen, dass es zweifelhaft ist, ob ein anderer ermordet werden. In Polen seien von 4,5 Millionen Juden Nuntius für die Verfolgten viel mehr hätte erreichen kön- nur noch 100 000 übrig; im Warschauer Getto, wo es einst nen. Immerhin hat der Kardinal Maglione gemeldet, dass 650 000 Juden gab, leben noch etwa 20-25 000. Treblinka »una signorina di quell'Ufficio Cattolico di Caritä ver- wird erwähnt, Auschwitz nicht. haftet worden ist«. Gemeint ist natürlich Frau Dr. Gertrud Da sich wiederholt die Frage der Einwanderung nach Pa- Luckner (S. 492) 4. Auffallend ist jedoch, dass sich in den lästina stellt, wird der Vatikan genötigt, auch zum Zionis- hier abgedruckten Berichten keinerlei Dokument über den mus Stellung zu nehmen. Jedenfalls im Jahre 1943 ist in Besuch von Dr. Gerstein beim Nuntius findet. Gerstein der Kurie dieses Problem noch nicht verstanden worden: schreibt darüber in seinem Lebenslauf (4. 5. 1945, Rott- Man sieht es allein unter dem Gesichtspunkt der »Heiligen weil), abgedruckt in: Dokumentation zur Massenverga- Stätten«, und am 13. März 1943 erklärt Msgr. Tardini sung, Schriftenreihe der Bundeszentrale f. Heimatdienst, lapidar: »Der Heilige Stuhl hat niemals das Projekt gut- 1962, S. 10: »Ich versuchte, in gleicher Sache dem Päpstli- geheissen, aus Palästina ein jüdisches Nationalheim zu chen Nuntius in Berlin Bericht zu erstatten. Dort wurde machen.« Wenn Palästina allein den Juden gehörte, müss- ich gefragt, ob ich Soldat sei. Daraufhin wurde jede wei- ten Katholiken dort um ihre Rechte fürchten, schrieb Kar- tere Unterhaltung mit mir abgelehnt, und ich wurde zum dinal Maglione. Diese Haltung entsprach damals der offi- Verlassen der Botschaft seiner Heiligkeit aufgefordert ...« ziellen vatikanischen Politik; makaber ist freilich der An- Vielleicht hat der Nuntius angenommen, Dr. Gerstein kön- lass der Stellungnahme: Es handelte sich um Kindertrans- ne ein Spitzel sein. 5 Gerstein schreibt dann weiter, er habe porte nach Palästina (vgl. S. 184). Demgegenüber sind die alles, was er über die Massenvergasungen gewusst habe, Skrupel, die Msgr. Roncalli, apostolischer Delegierter in dem Syndikus des Berliner Bischofs zwecks Weitergabe an Istanbul, hat, eher rührend. Der spätere Papst Johannes den Papst mitgeteilt. XXIII. hatte enge Beziehungen in Istanbul mit zionisti- schen Funktionären. Er macht sich darüber Gedanken, dass 2 Vgl. dazu: »Actes et documents du St. Siege«, vol. 9 (hier zit. jeweils durch die Hilfe des Vatikans (indem er Transporte nach »a. a. 0.«): a. a. 0. p. 93 [Aus Brief des Bischofs von Berlin an Pius XII. vom 23. 1. 1943] : »Nunmehr kommt seine Stellung in der Frage Palästina fördert) das »Königreich Israel« rekonstruiert der Fürsorge für die deportierten Polen hinzu [. .1 3. Hierauf ent- werden könnte. Aber: Ganz typisch für diesen grossen gegnete heftig der Nuntius, prudenza sei nicht genügend, die Geist- Mann dann der Schluss seiner Mitteilung an Kardinal lichen müssten wissen, dass die Reichsregierung die Polen nicht als Maglione: »All das kann nur ein Skrupel meinerseits sein, Glieder eines besiegten Volkes, sondern als Staatsfeinde betrachte. Im es genügt mir, ihm Ausdruck zu verleihen, um ihn ver- Verlauf des Gesprächs sagte mein Sekretär, dass immerhin die Priester, die da Unbill erlitten, irgendwie Martyrer der Caritas seien, worauf schwinden zu lassen.« Schliesslich weiss Msgr. Roncalli der Nuntius erwiderte (dem Sinne nach): Caritas sei gut und schön, die dann doch, dass die Errichtung der Königreiche von Juda höchste Caritas sei, der Kirche keine Schwierigkeiten zu machen. Ich und Israel nur eine Utopie ist (Nr. 324, S. 469, 4. 9. 1943). befürchte grosse Schädigung der kirchlichen Interessen durch solche Auffassungen und Äusserungen des Vertreters Eurer Heiligkeit.« Aus dieser Stellungnahme spürt man schon, dass zwischen Dazu a. a. 0. (p. 94, Anm. 6): »Der Bischof von Berlin, Preysing, der Menschlichkeit des späteren Papstes Johannes XXIII. stand in unüberbrückbarem Gegensatz zur Taktik des Nuntius. Er und der bürokratischen Haltung von manchen seiner Kol- übermittelte dem Kardinalstaatssekretär [Pacelli] Urteile ungewöhn- legen aus der Kriegszeit eine Welt liegt. Wahrscheinlich licher Schärfe über das Verhalten Orsenigos. Ausserdem hätte er wohl mehr als gerne gesehen, dass der Heilige Stuhl den Nuntius aus Berlin wird man sachlich und nicht apologetisch darauf zu ant- abberufen hätte. Bei diesem Wunsche kalkulierte Preysing wohl nicht worten haben: Pius XII. musste mit den Mitarbeitern ar- das Risiko ein, dass höchstwahrscheinlich Hitler die Genehmigung für beiten, die er damals hatte. Dazu gehörte dann eben u. a. einen Nachfolger Orsenigos nicht erteilt hätte.« auch »le malheureux Orsenigo« (S. 17). Abschliessend a. a. 0. (Anm. 3): Mme. Gertrud Luckner, domiciliee ä Fribourg-en- l3risgau, s'occupait depuis 1933 (d'abord de son propre chef et plus drängt sich die Frage auf, ob man durch diesen Band Ent- tard par ordre special de Pardieveque de Fribourg, Mgr. Gröber, qui scheidendes erfährt, was man bisher noch nicht gewusst etait responsable, au nom de la conference des eveques allenlands, du hat. Die Antwort ist eindeutig: nein. Andererseits handelt »Deutscher Caritasverband«) de l'aide en faveur des Juifs en Alle- es sich ja auch hier nicht um den Versuch, Sensationen auf- magne. Elle fut auetee le 24 mars 1943 et fut emprisonnee au camp de concentration de Ravensbrück jusqu'ä la fin de la guerre. zudecken, sondern um seriöse Gelehrtenarbeit und um die Der hier von Gerstein Zitierte fährt fort: »Beim Verlassen der Päpst- verständliche Tendenz, der Welt zu verdeutlichen, die lichen Botschaft wurde ich von einem Polizisten mit dem Rade ver- katholische Kirche habe alles getan, was in ihrer Macht folgt, der kurz an mir vorbeifuhr, abstieg, mich dann aber völlig un- stand, um den Verfolgten zu helfen. Wie auch sonst, gilt begreiflicherweise laufen liess ...« (In: Schriftenreihe der Bundes- zentrale ... Heft 9, 3 1956, S. 14). gewiss auch hier: Viel wurde zweifellos getan (und dieser

126 Band zeugt einmal mehr davon), gewiss hätte noch weit eine lebhafte Erinnerung an jene Gastvorlesung in Mainz mehr getan werden können, wahrscheinlich kaum vom wach. Es war der letzte Vortrag, den er von seinem hoch- fernen Rom aus, wohl aber an jenen Orten, wo die Ver- geschätzten Lehrer und Doktorvater hörte. Wenn er nun brechen geschahen. Das bewusst katholische Regime des die Besprechung des vorliegenden Bds. übernimmt, ver- Priesters Tiso verfolgte die Juden nicht minder als die na- bindet er damit einen letzten herzlichen Dank an den Ver- zistischen germanischen Neuheiden in Berlin. Nicht zu- storbenen. fällig erwuchs aber gerade an diesen beiden Orten, in Ber- Der 3. Bd. von »Le Saint Si&ge et les victimes de la lin und in Bratislava, der Kirche auch ein vehementer Wi- Guerre« umfasst den Zeitraum vom 1. Januar bis zum derstand: Kardinal Preysing und der apostolische Dele- 31. Dezember 1943. Ein Jahr nur ist in den 492 Num- gierte Burzio zeugen für diese Kirche des Widerstandes: mern zählenden Akten und Dokumenten festgehalten »Wohl noch bitterer trifft uns gerade hier in Berlin die (S. 65-638), doch es ist ein Jahr der Alpträume, ein Jahr neue Welle von Judendeportationen, die gerade vor dem apokalyptischer Schrecknisse, ein Jahr voll unvorstell- 1. März eingeleitet worden sind. Es handelt sich um viele barer Grausamkeiten und Menschheitskatastrophen. Tausende, ihr wahrscheinliches Geschick haben Eure Hei- Hitlers unheilvoller Kriegsapparat hatte im Sommer 1942 ligkeit in der Radiobotschaft vor Weihnachten angedeu- den Höhepunkt seiner Durchschlagskraft und Dynamik tet.6 Unter den Deportierten sind auch viele Katholiken. erreicht. Europa drohte ein Opfer jenes Tyrannen und Wäre es nicht möglich, dass Euere Heiligkeit noch einmal Despoten zu werden. Dann kam die Wende. Mit dem versuchten, für die vielen Unglücklichen-Unschuldigen ein- Jahresanfang 1943 begannen für den Nationalsozialis- zutreten? Es ist dies die letzte Hoffnung so vieler und die mus die Rückschläge. Stalingrad, das der Führer um je- innige Bitte aller Gutdenkenden« (Nr. 82, Bischof von den Preis halten wollte, fiel, eine ganze Armee wurde Berlin von Preysing an Papst Pius XII. 6. 3. 1943, S. aufgerieben. Dann ging Nordafrika verloren. Etwa 70 f.). 250 000 deutsche Soldaten gerieten in Gefangenschaft. 1943 war es zu spät, den meisten Juden zu helfen. Das Italien entledigte sich des Faschismus und löste das Waf- Unheil hatte früher begonnen, natürlich auch nicht erst fenbündnis mit Deutschland. Die Alliierten landeten auf 1933, sondern dann, als man meinte, Judenfeindschaft und Sizilien und bereiteten die Eroberung des italienischen christlicher Glaube wären miteinander vereinbar 7. Festlandes vor. E. L. Ehrlich Die Rückschläge hatten auf beiden Seiten Hunderttau- " Vgl. in: Edith Stein und der Entwurf für eine Enzyklika gegen Ras- sende von Menschenopfern gefordert. Die aus den Rück- sismus und Antisemitismus, in: FR XXVI/1974, S. 40 f. schlägen gezogenen Konsequenzen waren noch furcht- Vgl. in: Versuchung des Glaubens, s. o. S. 40 f. barer; denn die Antwort des Nationalsozialismus auf die ungeheuren Verluste war nicht von der Vernunft diktiert Professor Dr. Friedhelm Jürgensmeier: — wobei die Frage offen bleiben mag, ob damals über- Der Besprechung des schon äusserlich gewichtigen und im- haupt noch eine vernünftige Antwort möglich war —, son- posanten 9. Bds. der »Actes et Documents« sei eine per- dern von fanatischem Hass, von Zerstörungswut und sönliche Bemerkung vorangestellt. von wahnwitziger Menschenverachtung. Ein unheimliches Am 26. Juni 1974 sprach in Mainz auf Einladung des Spiel, mitunter satanisches Versteckspiel mit Menschen, Kirchengeschichtlichen Seminars des Fachbereichs Katho- ein schlimmes Machtspiel begann. Goebbels diabolische lische Theologie der Johannes Gutenberg-Universität der Aufpeitschung der Massen im Berliner Sportpalast am 1976 allzufrüh verstorbene Professor Dr. Burkhart 30. Januar 1943 zum »totalen Krieg« blieb nicht gespen- Schneider über das Thema »Die Edition der Akten des stische Episode, sie wurde grausame Wirklichkeit. Hitlers Heiligen Stuhles zur Geschichte des Zweiten Weltkrie- erneute Proklamation einer allgemeinen Judenverfolgung ges«. Ausführlich erläuterte er die Prinzipien und Krite- blieb ebenfalls nicht die Wahnvorstellung eines bösartigen rien, die der Herausgabe des so brisanten und von einem Fanatikers. Sie liess das jüdische Volk erst recht und ohne kritischen Publikum mit grosser Spannung erwarteten Ma- Ausnahme in die einem gesunden Menschenverstand terials zugrunde gelegt worden waren. Professor Schnei- kaum noch fassbare Vernichtungsmaschinerie einer tota- der sprach mit dem ihm eigenen Engagement. Dabei len Willkürherrschaft geraten. Selbst diejenigen Juden, konnte er davon überzeugen, dass es dem Vatikan und die bisher von den Rassengesetzen verschont geblieben den Herausgebern bei der Edierung der Akten und Do- waren, gerieten in äusserste Lebensgefahr. Am 6. März kumente um eine für die historische Forschung notwendig schrieb der Berliner Bischof Konrad von Preysing nach gewordene Quellenvorstellung und um das Angebot einer Rom: »Wohl noch bitterer trifft uns gerade hier in Berlin kritischen Überprüfungsmöglichkeit ging. Auch vertiefte die neue Welle der Judendeportationen, die gerade die er den Eindruck, dass von den Herausgebern, alle als Tage vor dem 1. März eingeleitet worden sind. Es handelt gründliche Wissenschaftler anerkannt und qualifiziert, sich um viele Tausende, ihr wahrscheinliches Geschick ha- nach genauer Sichtung und Prüfung aller Bestände die ben Eure Heiligkeit in der Radiobotschaft von Weih- Auswahl der vorgestellten Akten und Dokumente so ge- nachten angedeutet. Unter den Deportierten sind auch troffen worden war, dass sie Tatsachen nicht verdeckt viele Katholiken. Wäre es nicht möglich, dass Eure Hei- oder verstellt, sondern möglichst objektiv und nahe an ligkeit noch einmal versuchten, für die vielen Unglück- das Geschehene heranführt. Apologetisches Betreiben lich-Unschuldigen einzutreten? Es ist dies die letzte Hoff- lehnte Schneider ebenso entschieden ab wie unqualifizierte nung so vieler und die innige Bitte aller Gutdenkenden« Schwarzmalerei und Graufärberei. (S. 170/71). Die intensive Befassung mit dem 9. Bd. der Gesamtreihe, Furchtbar traf es Polen, allen voran die dort noch leben- dem 3., der dokumentarisch belegt, was der Heilige Stuhl den Juden. Sie wurden vernichtet. Arbeitsfähige nicht jü- für die Opfer des Zweiten Weltkrieges tat, zu tun ver- dische Polen mussten zu Tausenden Zwangsarbeiten in suchte oder, aus welchen Gründen auch immer, nicht tat Deutschland leisten. Wüten der nationalsozialistischen bzw. zu tun unterliess (Bde. 6, 8' u. 9), rief beim Rez. Schergen auch in Rumänien, Albanien, Ungarn, Jugosla- wien, Dalmatien, Kroatien, Slowenien, Belgien und

1 Vgl. FR XXVI/1974, S. 41 f.; S. 123 f. (Anm. d. Red. d. FR). schliesslich auch in Rom, das im September 1943 von den

127 Deutschen besetzt worden war und aus dem im Oktober rina Staritzl, die sich damals in Breslau im Rahmen des »Büro Grüber« die SS ca. 1000 aufgegriffene Juden gewaltsam zur Ver- der Evangelischen Hilfsstelle für die Opfer der Nürnberger Gesetze" einsetzte und deswegen auch Gefangenschaft und KZ Ravensbrück auf nichtung abtransportierte. sich nahm. Vor ihrer Gefangenschaft konnte die Unterzeichnende sie Von all diesen Verbrechen an der Menschheit, von unge- anlässlich ihrer Hilfsfahrten gelegentlich in Breslau besuchen und weiss rechtfertigter Internierung von Zivilisten, von Kriegsge- sich ihr sehr verbunden (Anm. G. Luckner). fangenschaft, von Zwangsverschleppung, von Vernich- Die Leser und Leserinnen des Freiburger Rundbriefs tung ideologisch oder politisch Andersdenkender, vom könnte das Buch des am 5. Dezember 1976 verstorbenen Massenmord am jüdischen Volk, von all dem ist in den Altbischofs von Schlesien, D. Ernst Hornig, aus mancher- edierten Akten und Dokumenten immer wieder die Rede. lei Gründen interessieren. Die Nuntien und Apostolischen Delegierten berichten dar- Gewiss geht es zunächst die Breslauer und die Schlesier über. Unter ihnen engagierte sich besonders Angelo Giu- selbst an, da Augenzeugenberichte, Briefe und Tagebuch- seppe Roncalli (der spätere Papst Johannes XXIII.) in aufzeichnungen der verschiedensten Menschen in diesem Istanbul. Weniger intensiv setzte sich in Berlin Cesare Buche verarbeitet sind, die die drei Monate der Umzinge- Orsenigo ein. Er gab mehrfach eine so schlechte Figur lung durch die sowjetische Armee mit all den Schrecken ab, dass der mutige Bischof von Preysing seine Abberu- miterlebt haben. In grosser Deutlichkeit tritt der Dienst fung vom Heiligen Stuhl erbat (5. 93). Es berichteten der Christen und der Kirchen hervor, waren doch die von den Vorgängen Bischöfe, Priester, Ordensleute, in der »Festung« Breslau verbliebenen evangelischen Pfar- Laien. Zumeist waren die Berichte mit Hilfegesuchen rer alle Mitglieder der »Bekennenden Kirche« und damit, verknüpft. Viele der vorgelegten Dokumente beweisen, gebunden an ihren Herrn, den Menschen zum Dienst ver- wie sehr sich der Vatikan bemühte, den Hilfegesuchen pflichtet und im Widerspruch zur Ideologie des National- nachzukommen. Für die Kriegsgefangenen und für die sozialismus. Aus dieser Bindung und Verpflichtung her- Zivilinternierten setzte er sich ein, er intervenierte bei aus sahen sie das furchtbare Ende des Krieges voraus und den Westmächten, mühte sich um die Verbesserung der versuchten, den Menschen die Geborgenheit bei Gott zu Situation der Zwangsarbeiter und tat vieles für die ver- bezeugen, ohne die Durchhalteparolen der Partei zu er- folgten Juden. Noten wurden gewechselt, Eingaben wur- wähnen oder die erschreckten Menschen in ihrem Elend den gemacht, Bittgesuche wurden eingereicht, Genehmi- zu bejammern und zu bestärken. gungen für Aus- und Einwanderungen wurden gestellt, In dieser Notzeit wurde der schon bestehende Kontakt bereitwillig wurden Gelder gegeben und Verfolgten Un- zwischen evangelischen und katholischen Geistlichen ver- terkunft gewährt. Erreicht wurde damit im Grunde nur stärkt und befestigt, so dass die als »Festung« erklärte wenig. Vielleicht gehört diese deprimierende Erkenntnis Stadt Breslau schliesslich aufgrund der Fürsprache von zu der bedrückendsten bei der Lektüre des vorliegenden Geistlichen beider christlichen Kirchen beim Stadtkorn- Dokumentenbandes. Es ist die Erkenntnis, dass Menschen mandanten von ihm übergeben wurde. oder auch Institutionen wie die römische Kurie (dem Ro- Erwähnt wird der Dienst von Stadtvikarin lic. Katharina ten Kreuz und ähnlichen Organisationen ging es nicht Staritz und ihr Einsatz für die Christen jüdischer Her- viel besser) einer totalitären Staatsform mit einem effek- kunft, der sie vom März 1942 bis Mai 1943 in Gefangen- tiven Machtapparat ohnmächtig und hilflos ausgeliefert schaft und das Konzentrationslager Ravensbrückl brachte. sein können. Menschliche Unzulänglichkeiten können Ihre Nachfolgerin, auch eine Vikarin der Bekennenden überdies die Hilflosigkeit noch steigern. Fast greifbar Kirche, setzte diesen Dienst und diese Hilfe ebenso mutig wird bei der Lektüre auch die innere Not eines Pius XII. und entschlossen fort und wurde dabei durch Granatsplit- und seiner engeren Mitarbeiter, die oft zu helfen ver- ter schwer verwundet. Viele unbekannte Christen ver- suchten und die in Wirklichkeit nicht helfen konnten. steckten in ihren Kellern Juden und jüdische Christen, Oder die sprechen und anklagen wollten, die aber nicht deren Leben dadurch gerettet wurde. sprechen durften, um die Situation derer nicht zu ver- Christen sind jedermann zum Dienst der Liebe verpflich- schlimmern, für die sie sprechen wollten. Ob sie trotz- tet. Vor ihrem Herrn sind alle Unterschiede von Kultur dem mehr hätten sagen und wagen sollen? Die Dokumen- und Religion aufgehoben3. Herta Dietze, Bingen tation lässt die Frage offen, muss sie offen lassen. 1 Vgl. Katharina Staritz: Des Grossen Lichtes Widerschein. Berichte Dass dieses Mehr von einzelnen Christen erbracht wurde, und Verse aus der Gefangenschaft, hrsg. von der Ev. Frauenhilfe in das allerdings sagt die Dokumentation auch. Dafür sei Deutschland. Nachwort von Charlotte Staritz. Münster o. J. 43 Seiten. den Herausgebern Dank gesagt. Dank gebührt ihnen aber 2 Vgl.: An der Stechbahn. Erlebnisse und Berichte aus dem Büro Grü- auch für die Edition als solche. Sie ist ein bedeutsamer ber in den Jahren der Verfolgung. Evangelische Verlagsanstalt Berlin 1951 u. 3 1 96 0 , 87 Seiten. und wichtiger Beitrag für die Erforschung und Erhellung 3 Vgl. dazu: Erklärung des Zweiten Vatikanums über die Religions- der Geschichte, insbesondere auch der Kirchengeschichte freiheit: 15 Denn es ist eine offene Tatsache, dass alle Völker immer des 20. Jahrhunderts. mehr eine Einheit werden, dass alle Menschen verschiedener Kultur und Religion enger miteinander in Beziehung kommen und dass das Bewusstsein der eigenen Verantwortlichkeit im Wachsen begriffen ist. ERNST HORNIG t: Breslau 1945 — Erlebnisse in der Damit nun friedliche Beziehungen und Eintracht in der Menschheit eingeschlossenen Stadt. Mit einem Geleitwort von Joachim entstehen und gefestigt werden, ist es erforderlich, dass überall auf Konrad. München 1975. Bergstadtverlag Wilh. Gottl. Erden die Religionsfreiheit einen wirksamen Rechtsschutz geniesst und dass die höchsten Pflichten und Rechte des Menschen, ihr reli- Korn. 207 Seiten. giöses Leben in der Gesellschaft in Freiheit zu gestalten, wohl be- Dieser Beitrag, auch ein Zeugnis der Ökumene aus der NS-Zeit, ist achtet werden. In: Karl Rahner / Herbert Vorgrimler: Kleines Kon- Frau Pfarrerin Herta Dictze zu verdanken, die damals, wie Altbischof zilskompendium. Alle Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen des Hornig, der »Bekennenden Kirche« angehörte. Er möchte hier als Zweiten Vatikanums in der bischöflich beauftragten Übersetzung. Ausdruck des Dankes stehen für seinen Einsatz in der NS-Zeit und S. 675. Herder-Bücherei 270/71/72'73. Freiburg 1966. danach. Auch danken wir Bischof Hornig für seine Anteilnahme und (Alle Anmerkungen d. Red. d. FR.) Hilfe am und für den »Rundbrief« (vgl. dazu FR XXVII/1975, S. 140 f., 143 f., s. o. S. 98). Altbischof Hornig arbeitete intensiv an HILDEGARD KATTERM ANN: Geschichte und Schick- zeitgenössischen Dokumenten aus persönlicher Erfahrung zur Kirchen- sale der Lahrer Juden. Eine Dokumenation. Heraus- politik des Dritten Reiches, bis ihm im hohen Alter ein jäher Tod die Feder aus der Hand nahm. In dem hier vorgestellten Buch setzt gegeben von der Stadtverwaltung Lahr 1976. 88 Seiten, er u. a. auch ein Denkmal der 1953 verstorbenen Stadtvikarin Katha- 20 Fotos.

128 Die Geschichte der jüdischen Gemeinde seit dem 14. Jahr- Nach dem Literaturverzeichnis findet sich ein sehr guter hundert in Lahr und die Schicksale ihrer Mitglieder in der und mit viel Akribie ausgearbeiteter Nachtrag von 31 Zeit des Nationalsozialismus hat Gymnasialprofessorin Seiten, der über Schicksal und Verbleiben der Lahrer Ju- i. R. Hildegard Kattermann untersucht und in einem Um- den Auskunft gibt. Viele Einzelschicksale, wenn auch nicht fang von 43 Seiten (mit einem Nachtrag von 31 Seiten) alle, konnten dabei geklärt werden. Es ist daraus zu sehr informativ aufgezeichnet. ersehen, dass die meisten Lahrer Juden, denen eine Aus- Die erste spärliche Kunde von Juden in Lahr stammt aus wanderung nicht mehr möglich war, in den Konzentra- der Zeit kurz nach der Pest von 1349, in der die Juden tionslagern umkamen. vertrieben werden. Bis 1862 werden in Lahr nie mehr Diese saubere und umfangreiche Arbeit von Frau Prof. Juden erwähnt. Durch die Schaffung des Grossherzogtums Kattermann ist nicht nur für die Lokalgeschichte, sondern Baden sowie durch liberale Fürsten und Landtage wird auch für die historische Beleuchtung der deutschen Juden allmählich die rechtliche Gleichstellung der Juden mit den allgemein ein wertvoller Beitrag. Sie versteht ihre Arbeit anderen Bürgern durchgeführt. Ein nicht unumstrittener als einen Versuch, »das Geschehen in Lahr auf dem Gesetzeserlass des badischen Landtages sichert diese recht- grossen historischen Hintergrund zu zeichnen, als ein Bei- liche Gleichstellung. Sehr erfreulich war die Unterstützung spiel, das uns in seiner unmittelbaren Nähe direkt angeht des Gesetzes durch den Lahrer Gemeinderat. Dieser und zum Nachdenken veranlassen muss«. richtete am 18. 2. 1862 eine Petition an die zweite Kam- Hansjörg Rasch, Freiburg i. Br. mer des badischen Landtages und ging so gegen die Gegner dieses Gesetzes vor. In dieser Erklärung heisst es u. a.: MANES SPERBER: Wie eine Träne im Ozean. Roman- »Gleichwohl erachten wir es als eine Pflicht der Ge- trilogie. Wien 1976. Europaverlag. 1035 Seiten. meindebehörden, diesem finsteren Treiben entgegen- »Die vorliegende endgültige Fassung dieses trilogischen zutreten und sowohl hoher Kammer als auch der hohen Romans, die nicht weniger als 1035 Seiten enthält, er- Regierung kund zu geben, dass es solchen Umtrieben scheint dem Leser lang genug, doch für den Autor bleibt nicht gelungen ist, Abneigung gegen ein solches Gesetz sie ein Fragment ... Dieser Roman hat nur scheinbar ein hervorzubringen ... Dass die Israeliten seither in Sitten Ende«, so schreibt der Autor im Vorwort zur Neuauflage und Gebräuchen von der christlichen Bevölkerung ab- der 1961 erstmals aus den drei Romanen »Der verbrannte geschlossen waren, daran trägt diese selbst einen grossen Dornbusch«, geschrieben 1940-1948, »Tiefer als der Ab- Teil der Schuld, weil sie den Israeliten hinausgestossen grund« (1949-1950) und »Wie eine Träne im Ozean« und abgesondert hat von der staatlichen Gemeindever- (1950-1951) zusammengefügten Trilogie (siehe die Be- bindung. Die Lasten trug der Israelit mit uns, die Rechte sprechung von Karl Thieme im FR XIV/1962, Nr. 53/56 hatten wir allein« (5. 8). S. 61 f.). In der Tat sagte er einmal gesprächsweise (Ex- 1888 kam es zur Gründung einer israelitischen Kult- Libris-Gespräch): »Es könnte sein, dass ich, wenn ich ge- gemeinde. sund bleibe und der Tod mir nicht die Feder aus der Hand Ein grosser Teil der Dokumentation ist den antijüdischen nimmt, doch noch einen vierten Band schreibe.« Das kann Aktionen im »Dritten Reich« gewidmet. doch nur heissen, dass dieses grosse Romanwerk dem glei- Nach dem Pogrom vom 9./10. November 1938 beginnt chen existentiellen Ausserungsdrang entstammt, der dem die sogenannte Entjudung. Viele jüdische Geschäfte dür- Verf. die Feder für seine Essaybände und für seine Auto- fen nicht mehr eröffnet werden, einige Lahrer Geschäfte biographie geführt hat, von der einstweilen zwei Bände werden »arisiert« 1 . Ende 1941 wird die Auswanderung vorliegen: »Die Wasserträger Gottes« und »Die vergeb- der Juden verboten. Am 22. Oktober 1940 werden 21 liche Warnung«. Das alles sind nur verschiedene und Lahrer Juden in das Barackenlager Gurs am Fuss der allemal grossartig beherrschte Formen der Selbstmittei- Pyrenäen deportiert, insgesamt aus Baden und der Pfalz lung. Dabei ist Sperber jedoch keineswegs an seinem 6500 Juden. 2 Spiegelbild interessiert. Vielmehr treibt ihn ein päd- »Bis zur Grenze des besetzten französischen Gebiets be- agogischer Eros, eine Leidenschaft zur Menschen- und gleiteten Gestapobeamte und SS-Männer die Züge. Die Gewissensbildung und zur Bewahrung der Jugend vor französische Regierung in Vichy war von der Aktion völ- Irrwegen, die er selbst gegangen ist. lig überrascht worden. Sie gab Anweisung, die Ausge- Manes Sperber, 1905 in Zablotow, einem typischen jüdi- wiesenen in dem Interniertenlager Gurs, das für Flücht- schen »Städtel« Ostgaliziens, geboren, in Wien heran- linge des spanischen Bürgerkrieges eingerichtet worden gereift, als Schüler und Mitarbeiter Alfred Adlers zum war, provisorisch unterzubringen« (S. 27). Individualpsychologen ausgebildet und in Berlin bis 1933 Die Überlebenden dieser »Bürckel-Aktion« wurden aus als solcher tätig gewesen, floh über Jugoslawien nach den Lagern Gurs, Rivesaltes und den anderen dieser Paris, wo er bis heute lebt. Das Erstaunliche ist nicht nur, Lager in Südfrankreich nach der völligen Besetzung im dass der so viel Umgetriebene und Unbehauste ein so voll- Herbst 1942 nach Auschwitz transportiert. endetes Deutsch schreibt, sondern mehr noch, dass seine Von den 21 Juden aus Lahr überlebten nur fünf. psychologischen Einsichten und pädagogischen Absichten Im folgenden wird an drei Beispielen dargestellt, wie die seiner dichterischen Gestaltungskraft keinerlei Abbruch Juden anerkannte Mitbürger wurden, »die sich um unsere tun. Er verfasst keinen Thesenroman, sondern erzählt die Stadt verdient gemacht haben«. Zu ihnen zählt auch Lud- facettenreiche Geschichte einer grossen, immer wieder wig Frank, der bedeutende sozialdemokratische Politiker, enttäuschten, doch niemals entmutigten, stets wieder auf- der im Ersten Weltkrieg fiel. flammenden Liebe. Er selbst gebraucht in dem bereits zitierten Gespräch den Vergleich mit dem Mann, dem seine geliebte Frau stirbt und der sich bald darauf wieder 1 Vgl. u. a. Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Ju- den, vom 26. 4. 1938 (BGBl. I, S. 414); Verordnung zur Ausschaltung verheiratet, gerade weil er ein so guter Gatte war: Er der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben, vom 12. 11. 1938 kann eben als Witwer nicht allein leben! Mehr als ein (BGBl. I, S. 1580). [In: Bruno Blau: Das Ausnahmerecht für die Ju- Schlüsselroman, ist das Werk »Bruchstück einer grossen den in Deutschland 1933-1945. Düsseldorf, 1954, S. 43, 53.] Konfession«, ein Glaubensbekenntnis und Liebesgeständ- 2 Nach dem damals unbesetzten Teil Frankreichs blieb dies die ein- zige Aktion. Die anderen Züge rollten dann wieder nach dem Osten nis in mancherlei Verkleidung. Gewiss lassen sich manche und nach Theresienstadt. Personen des Buches identifizieren, aber nicht das sichert

129 ihm seinen Rang und sein Oberleben über die betroffene weltlich. Gott ist für ihn — oder besser: für die eine oder und durch das »Aha-Erlebnis« des Wiedererkennens be- andere Person, durch deren Mund er spricht — allenfalls friedigte Generation hinaus. Vielmehr ist es die drama- die nie erreichbare Grenze menschlichen Denkens, Han- tische Handlung, die sich auf kaleidoskopartig wechseln- delns und Leidens, der Horizont irdischer Hoffnungen den Schauplätzen — Berlin, Wien, Paris, Dalmatien — ab- und Verpflichtungen. Gläubige und im Einklang mit spielt und dem Buch sowohl Einheit wie Spannung gibt. ihrem Glauben lebende Christen kommen in der Vielzahl Den Hauptgestalten geht es dabei immer um den Kampf der Personen seines Romanwerks nicht vor, der einzige für Menschlichkeit und Gerechtigkeit gegen den menschen- Priester, der in einer Nebenrolle auftritt, trägt eher die feindlichen, staatenzerstörenden, völkermordenden Nazis- Züge des Grossinquisitors aus der Legende Dostojewskis. mus. Die Tragödie beginnt in dem Augenblick, als den Und doch bleibt es dem christlichen Leser unbenommen, Kämpfenden klar wird, dass der mit religiöser Hingabe sich dem Verfasser und denjenigen Gestalten, denen seine idealisierte und mit unbedingter Gefolgschaftstreue be- Liebe gilt, brüderlich nah zu fühlen. Sein Buch endet in jahte Sowjetkommunismus unter Stalin nur ein anderer sanfter Tonart: »Wie eine samtene Decke breitete sich der Ausdruck der gleichen zynischen Fratze ist, die den Nazis- Abend über das Land aus, über den nahen Fluss, die mus so abscheulich macht. Dass dieses Medusenhaupt Felder, die Strassen und die Bäume — eine lautlose Bewe- nun aber die Betroffenen nicht erstarren lässt, sondern gung von grenzenloser Zärtlichkeit.« Man möchte mit dass sie aus dieser ihrer Desillusionierung die Antriebs- dem Dichter, der hier spricht, die Frage wagen und die kräfte zu revolutionärem Handeln, zum persönlichen Antwort ahnen: Woher stammt wohl diese »grenzenlose Einsatz, zum Widerstand bis hin zum organisierten Klein- Zärtlichkeit«? Paulus Gordan OSB, Beuron krieg schöpfen, macht sie recht eigentlich zu Menschen mit Selbstverantwortung, Eigengesicht und Eigengewicht. ELIE WIESEL: Der Schwur von Kolvilläg. Roman. Dabei ist ihr Tätertum nicht blind, sondern bei aller Hell- Aus dem französischen Original »Le serment de Kolvilläg« sichtigkeit nicht von des Gedankens Blässe angekränkelt. (Editions du Seuil, Paris 1973), von Margarete Venjakob Die essayartigen Diskussionen und geistvoll zugespitzten ins Deutsche übersetzt. Wien 1976. Europaverlag. 283 Sei- Reflexionen, an Dostojewski erinnernd, sind nicht etwa ten nur retardierende Elemente, sondern bieten Impulse und Es ist ein ergreifendes, tief beunruhigendes, aber ständig Motivationen zu den oft donquijotesken Taten und Lei- packendes Buch. Es ist die Geschichte des jüdischen den der tragischen Helden. Geschichte — etwa die Dar- Leidens und der Verfolgungen, dargestellt am Schicksal stellung von Partisanenkämpfen in Dalmatien — wird zur der jüdischen Gemeinde Kolvilläg. Das ist wohl auch der Dichtung erhöht; ihre scheinbare Vergeblichkeit erfährt Sinn des symbolischen Namens des imaginären Städt- von da aus eine gleichnishafte Sinndeutung. chens in Ungarn, das auf keiner Landkarte verzeichnet Fragt man nach den Wurzeln solcher sowohl realistischen ist. Der Name ist anscheinend zusammengesetzt aus drei wie verwandelnden Darstellungskunst, so entdeckt man Worten dreier Sprachen: »Kol« (hebräisch) für jeder, bald den religiösen Mutterboden. Manes Sperber sagt alle; »ville-village, für Stadt-Dorf- und >Lager«<. Kolvil- zwar von sich, er gehöre nicht zu denen, die jetzt zur läg, ist also jede Stadt, jedes Dorf, jedes Konzentrations- Religion zurückkehren, aber er kann das nur sagen, weil lager. So verstanden wird der Bericht von Kolvilläg die er sich im Grunde von der Religion nie abgekehrt hat. Erzählung aller jüdischen Gemeinden, aller Zeiten. Zwar ist er nicht mehr der orthodoxe Jude, zu dem man Die Untertitel der drei Teile des Buches: »Der Mann und das Kind im »Städtel« seiner Herkunft hat erziehen wol- das Kind«, »Das Kind und der Verrückte«, »Der Narr len. Aber sein Ethos und Pathos, seine Stilmittel, seine und das Buch«, sollen wohl auch symbolisch verstanden Gleichnisreden, sein ideales Menschenbild stammen aus werden. Ihr Inhalt, das Holocaust, der Pogrom und das jener Atmosphäre seiner Kindheit, sind biblisch und rab- tradierte Wissen um diesen: das Buch. Die nie endende binisch geprägt. Das Werk hebt an mit der in tragischer Drangsal der grauenvollen Erinnerungen, das immerprä- Ironie schillernden Parabel oder Legende vom »verbrann- sente Wiedererleben des sinnlosen Mordens und Gemor- ten Dornbusch«; sie bietet gewissermassen den musikali- detwerdens, kurz das »Holocaust« ist das immer wieder- schen Schlüssel, unter dem die ganze folgende Partitur kehrende Thema der Bücher Wiesels. zu lesen ist. Auf S. 538, etwa in der Mitte der Trilogie, In diesem neuen Buch macht er noch einen Versuch, mit heisst es: »Dojno« — eine der Hauptgestalten — »wollte der erdrückenden Bürde fertig zu werden, doch wieder- im Jesaja nur blättern, doch bald war er wieder erfasst um erfolglos. Der der Erzählung vorangestellte Talmud- wie in seiner Kindheit, aufmerksam las er Kapitel um satz kann darüber nicht hinwegtäuschen: »Hätten die Kapitel. Deutlicher als damals spürte er ..., wie sehr Völker und Nationen gewußt, welches Leid sie sich selbst Jesaja von dem eigenen Versprechen verführt war, vom zufügten, als sie den Tempel von Jerusalem zerstörten, Bild einer nahen Zukunft, die nur noch Erfüllung sein würde ... Vor Jahrtausenden hatte er gesät, die Saat war hätten sie mehr geweint als die Kinder Israels«. Die nicht aufgegangen, aber noch immer wartete man auf ihre christliche Bevölkerung Kolvillägs, die Pogromisten wie Frucht. Und hoffte, weil man wartete«. Gegen Schluss ihre Zuschauer, kommen alle durch den Brand, den sie wird das Ende des »alten jüdischen Städtchens Wolyna« selbst gestiftet haben, um. Aber der einzig überlebende beschworen, die Ausrottung der teppichknüpfenden, gei- Jude kommt von der plagenden Erinnerung des Brandes genbauenden Bevölkerung, der Mord an dem Zaddik, nicht los. dem Wunderrabbi, der seiner Gemeinde als Neunter in Selbst der Schwur hilft nicht, er wird gebrochen. Es ist der Erbfolge vorsteht. Alle mystische Inbrunst, aller fun- der unmögliche Schwur, die Geschichte des Pogroms an kelnder Intellekt, alle kindliche Güte dieser Generatio- den Juden Kolvillägs nicht zu erzählen. Er soll totge- nenkette aber verdichten sich in dem sechzehnjährigen schwiegen werden. Das Totschweigen des Pogroms soll Bynie, dem Sohn des Rabbi, wohl der ergreifendsten Ge- gleichwie die magische Notwendigkeit neuer Pogrome stalt der Trilogie. Fast wäre man versucht, den Schöpfer aus der Welt schaffen. Der letzte überlebende, Asriel, solcher Gestalt für einen »anonymen Christen« zu erklä- muss leben: »Indem der Vater ihm das Buch anvertraute, ren. Doch würde er sich mit Recht dagegen verwahren. verurteilte er ihn zum Überleben«. (37) Das Buch ist die Dazu ist sein Engagement zu bewusst und begrenzt inner- Chronik der Gemeinde. Um ein Leben zu retten, muss

130 Asriel erzählen, denn nicht der Tod, sondern das Leben WILLY GUGGENHEIM: 30mal Israel. 2. überarbeitete birgt allen Sinn. und erweiterte Auflage. München—Zürich 1975. R. Piper Die Rahmenerzählung Asriels, des einzig überlebenden & Co Verlag. 419 Seiten mit Zeittafel und Registern. von Kolvilläg, ist sein Versuch, mittels der Erzählung Das Buch erschien im Rahmen der »Panoramen der mo- einen jungen Mann, überlebenden des Holocaust (Wie- dernen Welt«, 1973 in erster Auflage. Der Titel »30mal sel?), vom Selbstmord abzubringen. Israel« bedeutet nichts anderes als 30 Panoramen oder Asriel fragt ihn, »du willst sterben? Wie soll ich dich Aspekte Israels. Israel wird von 30 verschiedenen Seiten dafür tadeln? Diese verfaulte Welt verdient es nicht, dass beleuchtet und gezeigt. Jede dieser Seiten ist kennzeich- man sich lange in ihr aufhält« ... (16). Es geht aber nicht nend für Israel und erklärt es als Teil des Ganzen, ob- um die Welt, sondern um den Menschen, und seinetwegen schon das Ganze in jedem Teile bereits enthalten ist. Es wird Asriel den Schwur des Schweigens brechen und die ist die eigenartige und einzigartig unabreissbare Ver- Geschichte des Pogroms von Kolvilläg erzählen. bindung und Zusammengehörigkeit von Volk und Land, Religion und Nation. Es ist aber auch das Herausbilden »Wenn du dich tötest, begehst du ein zusätzliches Un- der grossen monotheistischen Religionen und ihrer Bezie- recht. Und was beweist du damit? (19) ... die Flucht in hung zueinander. Es ist kein Geschichtsbuch, gibt aber den Tod (ist) unsinniger ... als die Flucht ins Leben.« die Geschichte des jüdischen Volkes, seines Landes, seiner (22). zentralen Stätten und Städte einschliesslich Jerusalems. Schön und gut, aber »die Rolle Gottes in den Lagern«, Das Buch ist flüssig geschrieben, erläutert die Geschehen fragt das Kind. Und die Antwort des Vaters: »Der mittels geschichtlicher Rück- und zeitlicher Vorblenden. Henker und das Opfer haben beide Grund, an Gott zu Mit wenigen, aber sicheren Strichen gelingt es dem Autor, zweifeln.« (28) Vergangenheit und Gegenwart, zionistische Geschichte, Quälende Fragen und Erinnerungen. »Es sind die Ner- Aufbau des Landes, der Städte, Dörfer, Kibbuzim und ven, sagte der Arzt« (89). Die kranke Mutter jedoch Moschavim, der Verteidigungsorganisationen, des natio- sieht »die Verladerampe, die Selektionierung. Der Mili- nalen, kulturellen und wirtschaftlichen Schaffens, der tärarzt, so fein, so kultiviert, der den kleinen Jungen Immigration und ihrer Probleme zu zeichnen. Die ent- ausfragt: >Wie alt bist du? Fünf Jahre schon, geh da stehenden Auseinandersetzungen und Widersprüche inner- hinunter spielen, lauf schnell, wie ein Grosser. Nur noch halb der zionistischen Bewegung, der politischen Parteien, rasch eine Träne, ein Stoss . . . Ich hätte ihm nachlaufen der religiösen Observanzen, der Kirchen Jerusalems und sollen. Er war so klein, so weit weg . .< (60) >Er ist fünf vor allen Dingen des arabisch-israelischen Konfliktes wer- Jahre alt. Er ist nicht gewachsen. Er wird immer fünf den fein säuberlich in ihrem Entstehen und Auswirken Jahre alt sein<.« (61) aufgezeigt und auf ihrem geschichtlichen Hintergrund und Mehr als zwei Drittel des Buches ist der Darstellung des Zeitrahmen reflektiert. Das Resultat ist verblüffend: Der Pogroms gewidmet, eine feine Darstellung der Genesis Leser hat das Gefühl, einen tiefen Einblick und volles aller Pogrome und die Erzählung der sinnlos Gemorde- Verständnis der Probleme und Lösungsversuche des Heili- ten. Wir erfahren vom schrecklichen Martyrertum des gen Landes gewonnen zu haben. »Verrückten« Mosche, der den Pogrom durch Selbstbe- Der Autor tritt mit gründlicher Sachkenntnis und Eigen- zichtigung zu vermeiden sucht. Als dieser Versuch fehl- erfahrung als scharfer Kritiker, aber liebender Beobachter schlägt, überzeugt er die dem Massaker geweihte Gemein- an die 30 Panoramen Israels heran. Die vorliegende de, dass »das Leiden und die Geschichte des Leidens seien zweite Auflage des Buches hat nebenbei die Aufgabe, den unaufhörlich miteinander verbunden, man könnte das Jom-Kippur-Krieg aufzuarbeiten, und hat diese in exem- eine beseitigen, wenn man das andere angriff; wenn man plarischer Weise gelöst. Es ist nicht ein zusätzliches Kapi- aufhörte, von den gegenwärtigen Ereignissen zu reden, tel zu den bereits vorhandenen angeschlossen, sondern könnte man die zukünftigen verhindern.« Daher sein der Krieg, wie es dazu kam und seine Folgen sind in die Beschluss: »Wir werden kein Zeugnis mehr ablegen.« verschiedenen Kapitel hineingewoben worden. Es ist ein (241). Das ist der Schwur von Kolvilläg, der den einzig umfassendes, aufschlussreiches und empfehlenswertes Buch Überlebenden des Städtchens zum Schweigen zwingt und für jeden, der Israel kennt oder kennenlernen will. Israel damit zur Ruhelosigkeit verurteilt. Das Schweigen wird entsteht sozusagen vor den Augen des Lesers. gebrochen, um eine Seele vor dem Selbstmord zu bewah- Das Buch versucht mit Erfolg ein objektives Sehen und ren. Verstehen der Dinge, setzt seine Akzente an den richtigen Ort, lässt seinen scharfen Blick auf Sonnen- und Schatten- Wiesel stellt lebensnah den Leidensweg des jüdischen seiten fallen und scheut nicht, das Unechte und Falsche Volkes, der jüdischen Gemeinden dar, der im Holocaust aufzudecken, selbst wenn es schmerzt. kulminiert. Dieser Leidensweg — wie Wiesel überzeu- Dies wird sehr deutlich bei der Behandlung des Genera- gend zeigt — ist mit Schweigen nicht aus der Welt zu tionswechsels und seiner Bedeutung für das Verständnis schaffen. Yehiel Ilsar, Jerusalem der israelischen Selbstbewertung, wie sie im angeführten Zitat aus dem Interview mit dem jungen Schriftsteller FRANZ BÖHM: Das deutsch-israelische Abkommen Amos Oz in treffender Weise zum Ausdruck gebracht 1952. In: Konrad Adenauer und seine Zeit. Politik und wird: »Ich bin Zionist, und zwar ein trauriger. Ich bin in Persönlichkeit des ersten Bundeskanzlers. Beiträge von einem ganz ursprünglichen Sinn Zionist, indem ich bei Weg- und Zeitgenossen. Hrsg. Dieter Blumenwitz, Klaus aller Ablehnung des Nationalismus als einem archaischen Gotto, Hans Maier, Konrad Repgen, Hans-Peter Schwarz. und verwerflichen Begriff als Vater mir einfach persönlich Stuttgart 1976. Deutsche Verlagsanstalt. S. 437-465. nicht erlauben kann, als ein israelisches >Cape Kennedy Professor Dr. Franz Böhm, der Leiter der deutschen Ver- des Internationalismus< aufzutreten. Um Ivan Karama- handlungsdelegation der Verträge, die am 10. 9. 1952 zu sow in ganz anderem Zusammenhang zu zitieren, ich kann dem Luxemburger Abkommen führten, legt in diesem es mir nicht länger leisten. Soll es erstmal jemand anderes äusserst dankenswerten Beitrag den Verlauf der Verhand- versuchen. Ich werde jedenfalls nicht der Erste sein, der lungen dar. Nach Redaktionsschluss dieser Folge des FR den Nationalstaat und seine Attribute, die Armee und wird in der nächsten Folge darüber berichtet. G. L. ihre Verteidigungsprogramme aufgibt. Nicht der Erste

131 auf dieser Erde und sicherlich nicht der Erste im Nahen panarabischen Islam bleibt unüberhörbar. Nur ist die Aus- Osten. Als Zweiter oder Dritter werde ich gerne mit- rüstung mit dem Gewicht einer langen theologischen Tra- machen. So gesehen, will ich — jedenfalls nach Auschwitz — dition und einer beschränkten soziologischen Verankerung nicht länger als Pionier auftreten.« (S. 265). dieser Kirchen nicht gerade förderlich für einen Weg in Eine zusätzliche Facette, welche die Realität des jungen die Zukunft. Die Selbsteinordnung in die Dritte Welt ver- Israels wiedergibt, findet sich im Ausdruck: »Wir sind harmlost deren Probleme. Sie geschieht zu einfach — aber Soldaten, mit 10 Monaten Urlaub.« (S. 384). Der Grund diese Probleme sind auch in unseren westlichen Kirchen für diese eigenartige Tatsache liegt wohl im Schlussatz des keineswegs gelöst. Allerdings geschieht es immer wieder, Buches: »3 Millionen Israelis stehen 100 Millionen Ara- dass die Abgrenzung zum Judentum durch zwei scharf bern gegenüber, ein 'Verhältnis, das deutlicher als viele gehandhabte Argumentationen deutlicher (als etwa gegen- Worte zeigt, was für ein aussergewöhnliches historisches über dem Islam) ausfallen. Einmal werden biblische Aus- Phänomen der Nahostkonflikt und Israels Entstehung, sagen über das Leiden zu Metaphern (und nicht zu analy- Entwicklung und Überlebenskampf darstellen.« (S. 389). tischen, die Dinge beim Namen nennenden Erhellungen) Dr. Yehiel Ilsar, Jerusalem für das vergangene Leiden der Juden und das gegenwär- tige Leiden der Palästinenser: Ein Spiritualisierungspro- PAUL LÖFFLER: Arabische Christen im Nahostkon- zess, der dem Judentum die Schrift und sein Selbstver- flikt. Christen im politischen Spannungsfeld. Frankfurt/M. ständnis, die geschichtliche Erfahrung eines Völkermordes 1976. Verlag Otto Lembeck. 98 Seiten. und die kritische Anfrage an das Christentum, ob das Paul Löffler gehört zu den wenigen Theologen in unserem Reich Gottes trotz der grossartigen Hoffnungen der Bibel Land, die durch Mitarbeit und persönliche Kenntnis, durch so verborgen wie in der Kirche wirklich angefangen haben wissenschaftliche Bemühungen und durch Befragen auch könne, nicht zugesteht. Zum andern wird dem Islam eine der jeweils anderen Seite bei den Analysen des Nahost- grössere Nähe, nicht nur physisch, sondern auch theologisch konfliktes und allen seinen Implikationen Gehör verdie- zum Christentum zugeschrieben, weil er z. B. Jesus und nen. Er hat in diesem schmalen Band wichtige Stimmen Maria positiv aufgenommen hat. Die Beobachtung kann der Christenheit aus dem mittleren Osten zusammenge- nur deswegen auffallen, weil die arabischen Autoren leider stellt. Sie sind nur wenigen bisher bekannt und sollten keine Kenntnis von der jüdischen Beschäftigung mit Jesus ernsthafter als bisher zur Kenntnis genommen werden. und der Rezeption jüdischer Traditionen im Christentum Die Autoren sind vom Konflikt unmittelbar betroffen. Sie nehmen. gehören zu den ältesten Kirchen der Christenheit. Sie be- Leider vermisst man auch eine kritische Auseinanderset- wahren theologische Traditionen in sich auf, die deutlich zung des arabischen Umgangs mit Juden, die ja keineswegs formulieren, was auch in anderen Kirchen (noch) lebendig immer und nur die Sonne islamischer oder gar christlicher ist und doch aus mancherlei Opportunismen nicht laut ge- Toleranz umstrahlte. Die Distanzierung vom kirchlichen sagt wird: Eine massiv antijüdische Tradition, die sich an- Westen erfolgt mit Recht, aber zu pauschal, als ob die tijudaistisch versteht, aber Gegenkräfte kaum entwickelt grosse Gemeinsamkeit (z. B. eine im Blick auf das Juden- hat, die eine Säkularisierung solcher Vorurteile und ihre tum vertretene Enterbungstheologie, die dem Neuen Te- Ausstattung mit politischer Schlagkraft verhindern könn- stament widerspricht und die das »Neue« an Jesus nur ten. Viele der Texte sprechen von der politischen Erfah- glauben kann, indem das Alte Testament als veraltet und rung einer Minderheiten-Kirche, die ihre Versuchlichkeit, die Juden als Anachronismen der Heilsgeschichte und nicht imperiale Mehrheitskirche sein zu wollen (z. B. in Byzanz), mehr als Volk Gottes angesehen werden) eine so rasch bitter büssen musste und theologisch zu verarbeiten ver- bezogene Gegenposition erlaube. Merkwürdig bleibt dem, suchte. Weiter wird eindrucksvoll deutlich, wie das Ernst- der beide Seiten zu hören versucht, die Klage arabischer nehmen des arabischen Kontextes mehr ist als eine billige Christen, die Weltchristenheit sei mehrheitlich einseitig Anpassung an panarabische Ideologien. Volkskirche zu proisraelisch, und zugleich die Klage Israels, die Welt- sein, Kirche des Volkes und Kirche für das (keineswegs nur christenheit sei am Schicksal des Judentums und Israels durch den Nahostkonflikt leidende) Volk wird glaubhaft desinteressiert. Für beide enttäuschten Beobachtungen gibt ausgesprochen. Und doch ist gerade diese Position immer es vielleicht den gleichen bitteren Grund: die Schwerfällig- verknüpft mit einer massiven Kritik an Israel und dessen keit grosser Teile der ökumenischen Christenheit, theolo- essentieller Verbindung von Religion und Volk. Ihm wird gische und politische Reflexionen und Realisierungen zu die Übernahme christlicher Kategorien, sich selbst zu ver- verstehen, wie sie in den orientalischen Kirchen und in stehen und zu verwirklichen, angeraten. Der hier fällige den reichen Strömungen des jüdischen Lebens, in der Dia- Begriff lautet: Konfession. Hat man Judentum so defi- spora und im Staat Israel, zu finden sind. niert, folgt unweigerlich der Theokratievorwurf an den Zwei gewichtige Arbeiten von Paul Löffler umrahmen die säkularen Staat Israel, der trotz allem ein jüdischer Staat Textdokumente von entscheidenden Sprechern der orien- sein will und die Verbindung zur Tradition nicht aufzu- talischen Kirchen: einmal eine Beschreibung der dort vor- geben bereit ist. handenen Kirchen und Konfessionen, ihre theologischen Der griechisch-orthodoxe Metropolit, Bischof G. Khodr, und regionalen Profile sowie eine vorzüglich systemati- stellt diesen Punkt besonders deutlich heraus. Für ihn ist sierende Zusammenfassung und Interpretation des ara- die arabische Identität Voraussetzung für einen guten Dia- bisch-christlichen Standpunktes zur Nahostfrage. Die in log zwischen Christentum und Islam, durch einen als ana- allen Texten beschworene gemeinsame Zukunft ist aller- chronistisch empfundenen jüdischen Staat bedroht. Die dings auch ein jüdisch-israelisches Ziel — wenn man nicht umgekehrte Bedrohung wird nicht gesehen. Khodr und die Extremisten in beiden Lagern als authentische Sprecher anderen Autoren lassen durchscheinen, dass die orientali- herausstellen will. Ob allerdings der direkte Schritt eines schen Christen, die gerade als Minderheit überdurch- multireligiösen Staates im Nahen Osten der richtige ist, schnittlich viel zur Renaissance arabischer Kultur, Litera- mag nach der Tragödie im Libanon bezweifelt werden. 1 tur und Selbstfindung beigetragen haben, mit der Kritik Immer noch sind Juden wie Araber durch eine Geschichte an Israel auch eine Kritik am keineswegs von Theokratie- der Fremdbestimmung geprägt, noch nicht frei von dem suchen freien Islam meinen. Das Pathos einer progressiven (Fortsetzung Seite 134) Rolle des Christentums gegenüber dem Judentum und dem 1 Vgl. o. S. 73 f.

132

Israel-Mappe und Jerusalem-Mappe

Je 20 Graphiken jüdischer und arabischer Kinder. Begleitender Text hebräisch, arabisch, englisch, deutsch. Hrsg.: Puah Menczel. Beersheba–Jerusalem [1976], Aus- lieferung Rubin Maas, Jerusalem, Grossformat. Israelische und deutsche öffentlich bekannte Persönlichkeiten haben den beiden Mappen kurze Geleit- worte mit auf den Weg gegeben, u. a.: Golda Meir, Yigal Allon, Dr. Hildegard Hamm-Brücher. Israelische und deutsche öffentliche Stellen haben durch Spenden die Herausgabe dieser reizvollen, hoch- informativen Mappen gefördert. Die Bilder stammen von Schul- jugend im Alter von 12-16 Jahren und sind eine Frucht des bedeuten- den Erziehungswerkes, das der ver- storbene Dr. J. S. Menczel und sei- ne Frau, Dr. Puah Menczel, seit 1903 und im Rahmen der Gesamt- Bild oben: aus Israel-Mappe: Besuch des Scheichs. Von Mazal Khuri, 15 Jahre, aus schule der Negevstadt geschaffen Marokko. — Bild unten: aus Jerusalem-Mappe: Schöner alter Bogen. Von Ruth Bar, haben. — Kinder von Einwande- 15 Jahre, aus Shoresh, Neve Ilan. rern »aus dem Irak, aus Polen, Rumänien, Russland, Ägypten, Tu- nesien und Marokko mit all ihren verschiedenen Sprachen und Natio- nalitäten. Die Jugend, auch die der Araber und Nomaden, musste in das Gemeinsame des neuen Staates hineinwachsen. Die Barrieren der Sprache, des Hasses, die Hinder- nisse des Unzulänglichen waren zu beseitigen. Hier setzte die Erzie- hung ein. Mit der Gründung einer ersten Gesamtschule im Jahr 1954 durch Frau Dr. Puah Menczel hat diese Pioniertat begonnen. Sie wur- de zu einem Brückenschlag auch hin zu den verfeindeten Arabern und Nomaden. Jüdische und arabische Kinder, Kinder von Neueinwande- rern und Nomaden sassen und sit- zen in dieser Schule Seite an Seite. Gleiches Bildungsgut wird ihnen vermittelt, sie haben alle dieselben Chancen. Neues Leben begann in der Wüste. Aus dem Gegeneinander und Nebeneinander wurde ein Mit- einander und Füreinander . . . 1 « Möchten viele »die Blätter dieser Mappen betrachten und in dem Willen bestärkt werden, alles zu tun, was von aussen zur Verständi- gung zwischen den Völkern in Nah- ost beitragen kann«. 1 G. L.

1 Vgl. Georg Ehninger, Einführung. In: Israel Mappe S. 5. u. 6.

133 Zwang und/oder der Aufforderung zur Assimilation oder troffen ist von dem Vorwurf, Mitglied des Establishment von der Gefahr direkter Kolonisierung. Ihrer beider Iden- zu sein, ein Mensch, der zur Pioniergeneration gehört und tität ist noch nicht so gesichert, dass sie sie sogleich wieder sich noch gut der schweren Jahre des Aufbaus erinnert. in absolut neue Rahmenbedingungen zur Disposition Frau Gold Meir hat ihre Arbeit wichtiger genommen als (wessen?) stellen könnten. ihr persönliches Leben. In der Vorbemerkung zu ihrer Das sehr empfehlenswerte Buch zeigt das Bild der arabi- Autobiographie weist sie darauf hin, dass sie nie ein schen Christen sehr deutlich. Leider belegt dieses Bild Tagebuch geführt hat, dass sie überdies nicht zu den auch, dass die arabischen Kirchen — entgegen dem zweiten Briefeschreibern gehört. Erst das Bedürfnis, Rechen- Gebot — von Juden — Zionisten — Israel sich nur ein Bild schaft zu geben, das sie nach dem Jom-Kippur-Krieg gemacht haben, das nicht dem Risiko des so oft beschwore- hatte, veranlasste sie, ihre Autobiographie zu schreiben. nen Dialoges ausgesetzt wird. Um so überraschender ist die Lebendigkeit ihrer Darstel- Die augenblickliche Entwicklung im Nahen Osten, die den lung. Sie gibt nicht nur ein vorzügliches Bild ihres Palästinensern in einer ähnlichen Weise wie Israelis ihre eigenen Lebens, ihres Denkens, Wollens und Wirkens, Isoliertheit bewusst gemacht hat, verstärkt bei beiden die sondern auch treffliche Charakteristiken der Persönlich- Entdeckung: Wir sind (jeweils) ein Volk, ein Volk (Th. keiten, die ihr Leben gekreuzt oder begleitet haben. Herzl). Beide sind noch nicht sehr weit auf dem Weg ge- Manche längst verstorbene Gestalt aus der Geschichte des kommen, ihre Autoemanzipation (L. Pinsker) wie ihre Zionismus und vor allem des jüdischen Aufbaus in Erez Identität zu sichern. Dem Buch sind viele aufmerksame Israel wird durch ihre Darstellung erst dem Leser leben- Leser zu wünschen, den dort zu Worte kommenden Men- dig. Diese Charakterisierungen gehören mit zu den Stär- schen wie den Israelis ist zu wünschen, dass ihre Stimmen ken ihres Buches. miteinander ins Gespräch kommen. Wie Frau Meir freimütig zugibt, ist in ihrer Familie ein Martin Stöhr, Ev. Akademie Arnoldshain Hang zur Starrköpfigkeit ausgeprägt. Sie weiss recht wohl, dass sie selbst nicht frei davon ist. Diese gewisse GOLDA MEIR: Mein Leben. Aus dem Englischen von Starrheit wird auch im politischen Bereich fühlbar. Helmut Degner und Hans-Joachim Maass. Hamburg Zwar spricht sie es nicht aus, aber zwischen den Zeilen ist 1975. Hoffmann und Campe Verlag. 499 Seiten. doch zu lesen, dass sie auch heute noch das ganze deut- Den Erinnerungsband der ehemaligen Ministerpräsiden- sche Volk für die Vernichtung der sechs Millionen Juden tin Israels lege ich nicht ohne Bewegung aus der Hand. verantwortlich macht. Jahrzehntelang hatte sie es ver- Die Tragik von Frau Golda Meir ist deutlich spürbar, mieden, in die Bundesrepublik zu kommen. Erst nach auch ohne dass sie das aussprechen müsste. Es ist die dem Sechstagekrieg entschloss sie sich für wenige Stun- Tragik, die in dem notwendigerweise Schuldigwerden den zu einer Reise dorthin, und dies nur, weil sie einen liegt. Ihre Berufung als Politikerin lässt sich mit der Besuch in anderer Gelegenheit machen musste. Bei die- Berufung als Ehefrau letztlich nicht verbinden. Zwar sem Blitzbesuch kann es daher kaum zu ernsthaften bleibt der Ehemann bis zu seinem Tod von ihr geliebt, die Gesprächen mit Deutschen gekommen sein. Erst Jahre Ehe wird formal auch aufrecht erhalten, aber sie ist früh später konnte sie sich zu einem eigentlichen Deutschland- zerbrochen und kann nicht geheilt werden. Frau Meir ist besuch entschliessen. Mit dem ersten Bundeskanzler, Dr. ehrlich genug, das Scheitern zuzugeben und auch die Konrad Adenauer, hatte sie niemals einen persönlichen Gründe dafür einzugestehen. Sympathisch hat es mich Kontakt. Wenn es einen Deutschen gibt, mit dem sie in berührt, dass sie die Schuld nicht zuerst beim anderen, engeren Kontakt kam, dann ist es der Vorsitzende der sondern bei sich selbst sucht und findet. In diesem Re- SPD, Willy Brandt. Gelegenheiten zum vertrauten Ge- chenschaftsbericht über das eigene Leben gibt Frau spräch hat es tatsächlich gegeben und sind auch wahrge- Golda Meir nicht nur freimütig Auskunft über das per- nommen worden. Aber bei aller Hochachtung vor der sönliche Leben, Wege und Irrwege seit der Kindheit in Persönlichkeit des Parteivorsitzenden der SPD kann sie Russland, später dann in Amerika und den Pionierjahren es ihm doch kaum verzeihen, dass er für eine Normalisie- in Erez Israel bis in den Jom-Kippur-Krieg und bis zu rung der Beziehungen der Bundesrepublik zu Israel ein- ihrem Rücktritt als Ministerpräsidentin. Sondern sie gibt trat bzw. eintritt. Für Frau Meir müsste das Israel-En- eben auch über ihr öffentliches Leben, ihr Wollen und gagement der Bundesrepublik nach wie vor motiviert Wirken freimütige ehrliche Auskunft. Auch hier stellt sein, vom Bewusstsein der Schuld und der sich daraus- sich für sie die Frage nach der Schuld, nicht im juristi- ergebenden Verantwortung gegenüber den Juden. 1 Für schen, auch nicht im moralischen Sinne, wohl aber in den Wandel in den Anschauungen, der durch den Wech- dem noch tiefer gehenden existentiellen Verhältnis des sel der Generationen bedingt ist, hat sie m. E. nicht Menschen, dem politische Verantwortung übertragen ist, genügend Verständnis. Ebensowenig vermag sie sich ge- zu seinem Volk. Sie bedrängt die Frage, warum sie ihrem nügend in die Mentalität der Araber hineinzudenken. Instinkt nicht gefolgt ist, warum sie sich die richtigen Hier sind ihre Urteile nicht frei von Ressentiments. Schlüsse, die sie bereits aus der Nachricht von der Eva- Daraus ihr einen persönlichen Vorwurf machen zu wol- kuierung russischer Familien aus dem syrischen Grenzbe- len, wäre gewiss abwegig. Die schlimmen Erfahrungen, reich gezogen hatte, sich wieder von ihren Ratgebern die sie in ihrem Leben machen musste, sind genügend ausreden liess. Wäre sie ihrem Instinkt gefolgt, so hätte Erklärung für Ressentiments. Eine andere Frage jedoch noch vor Beginn des Jom-Kippur-Krieges die General- ist es, ob dadurch nicht der Blick für das politisch mobilmachung stattgefunden. Die Verluste wären dann Mögliche und Machbare zuweilen getrübt wird. Doch für Israel möglicherweise nicht so blutig gewesen, der darüber zu richten, ist inzwischen müssig geworden; Oberraschungseffekt, der den Angreifern zugute gekom- denn eine andere Generation ist in die politische Verant- men ist, wäre ausgeblieben. Vielleicht hätten sogar Ägyp- wortung nachgerückt. Jetzt kann es nur darum gehen, ten und Syrien auf den Angriff verzichtet. Das sind den Weg zur gegenwärtigen Lage Israels besser zu verste- Fragen, auf die es keine Antwort gibt, die gleichwohl hen. Dazu tragen die Lebenserinnerungen von Golda sich dem Verantwortlichen, also hier Frau Meir, be- Meir wesentlich bei. drückend stellen. Rechenschaftsbericht ist die Autobio- 1 Zu dieser mit vielen Differenzierungen belasteten Frage vgl. u. a. graphie auch insofern, als hier ein Mensch zutiefst ge- auch o. S. 118 (Anm. d. Red. d. FR).

134 Noch ein Aspekt sollte nicht unerwähnt bleiben. Die Dem Autor hat anscheinend eine aktuelle Zeitgeschichte Autobiographie ist charakteristisch für den Weg eines vorgeschwebt, daher sind der geschichtliche Rahmen und Menschen, der sich von dem überlieferten Glauben löst die geschichtliche Zeitsetzung der Ereignisse unberück- und statt dessen Ersatz findet in der Betonung der natio- sichtigt geblieben. Dies führte zu schiefen Urteilen und nalistischen und sozialistischen Komponente seines Jude- unbegründeten Interpretationen. Der Zeitrahmen ist vor seins. Diesen Weg hat ein gut Teil der Politiker beschrit- allen Dingen für die frühe Geschichte des Zionismus ten, die den Aufbau Israels und seiner Geschicke in den völlig unbeachtet geblieben, die Darstellungen entbehren vergangenen Jahrzehnten bestimmt haben. Diese Genera- geschichtliches Zeitverständnis. So werden Herzl — auf tion tritt nun vom Schauplatz der Geschichte. Golda Meir Grund von Herausreissen einzelner Sätze aus seinen ist eine ihrer letzten Zeuginnen und ihre Aussage hat Tagebüchern (ohne Stellenangabe!) — kolonistische Ab- grosses Gewicht. Man muss dankbar dafür sein, dass sie sichten unterstellt, ohne auch nur auf die Grundideen des sich entschlossen hat, den Rechenschaftsbericht über ihr » Judenstaat« oder »Alt-Neuland« hinzuweisen. Gera- Leben und Wirken zu verfassen und dass dieser Bericht de in diesen Büchern hat Herzl seine Überzeugungen und in einer angenehm lesbaren Übersetzung auch in Deutsch Ziele klar zum Ausdruck gebracht. Was er wollte und vorliegt. Willehad Paul Eckert OP, Walberberg propagierte war, einen wissenschaftlich und technolo- gisch hochentwickelten » Judenstaat« zu gründen, in dem JANUSZ PIEKALKIEWICZ: Geschichte der israeli- die Juden »normalisiert« zu Handwerkern und Bauern schen Geheimdienste und Kommandounternehmen. werden. Die Ausstrahlungen des Staates, das war seine Frankfurt/M. 1975. Goverts Verlag im S. Fischer Verlag. Hoffnung, werden zur Entwicklung der Nachbarstaaten 408 Seiten, über 240 Fotos. und Afrikas mit Hilfe jüdischer Fachleute beitragen. Der Buchschutzumschlag informiert, dass der Autor, ehe Der Verfasser spricht von der Beziehung der Haganah zu er das Buch schrieb, seinen Stoff bereits für einen erfolg- den Nazis und behauptet, dass Mittelsmänner der Haga- reichen Fernsehfilm verwandt hatte. Der Verfasser ist nah die Nazis zu strengeren und schwereren Massnahmen 1928 in Warschau geboren, beteiligte sich als Neunzehn- gegen Juden zu bewegen suchten, um diese dadurch zur jähriger am Aufstand in Warschau, studierte an der Auswanderung nach Palästina zu veranlassen. Nun ist Filmakademie in Lodz und lebt seit 1965 in der BRD. die Verbindung zu Nazis zur Rettung von Juden aus Vor uns liegt ein sensationelles Buch, denn es enthält nur Deutschland und den besetzten Gebieten nicht nur legi- Sensationen, die sich wie Detektivgeschichten lesen. Es ist tim, sondern ein notwendiges Unternehmen. Es durfte nicht nur das Buch »der israelischen Geheimdienste und nicht unversucht bleiben. Wer aber die Geschichte auch Kommandounternehmen«. Es stellt vielmehr eine Ge- nur einigermassen kennt, weiss, dass das eigentliche Pro- schichte des jüdischen Volkes vom Gesichtspunkt der blem jener Jahre in den nichtvorhandenen und nichter- Kämpfe um seine Existenz seit seinem Auftreten auf der haltbaren Einwanderungszertifikaten für die an den To- Weltbühne dar und insbesondere eine Geschichte der jü- ren Palästinas klopfenden jüdischen Flüchtlinge war. Es dischen Immigration nach Palästina, der Staatswerdung, muss hier an das Schicksal der vielen Flüchtlingsschiffe des israelisch-arabischen Konflikts, einschliesslich des Jom- wie St. Louis, Salvadore, Atlantic, Patria, Struma Kippur-Krieges, eingeschlossen im Rahmen »der israeli- u. a. m. erinnert werden, und brauchte es wirklich eines schen Geheimdienste und Kommandounternehmen«. zusätzlichen Druckes auf die Nazis, die Juden schlecht Es ist ein verblüffendes, hochinteressantes, ambitionsrei- zu behandeln? ches Buch. Der Autor kleidet es in ein wissenschaftliches Die Erzählung (S. 68-70) vom »Haganahvertreter«, der Gewand — es enthält eine ausgiebige Bibliographie von 5 mit Eichmann angeblich in Kairo zusammentraf und Seiten und ein Namenregister gleichen Ausmasses. Es verhandelte und diesem für etwa 16 engl. Pfund monat- enthält viele in Anführungszeichen gesetzte Sätze, aber lich Informationen lieferte, erinnert sehr an den darüber es bleibt unklar, ob es sich um Zitate handelt, da Fussno- erschienenen Artikel in »Der Spiegel« Nr. 52, 1966. Die ten und Quellenangaben fehlen. Das gut gewählte Bild- noch immer geheimen Haganaharchive können diese Ge- material ist authentisch und umfangreich. schichte nicht bestätigen. Eichmann selbst hat im Prozess Das Buch enthält einen Prolog — Hinweise auf Spionage — ausgesagt, dass er über Dr. Reichert einen gewissen und frappierende Kriegshandlungen der Hebräer und Herrn — an dessen Namen er sich nicht mehr erinnere — des alten Israels in der biblischen und nachbiblischen Zeit —, aus Palästina in Berlin und später in Kairo getroffen ein kurzes Kapitel über Herzl, sein Weg zum Zionis- hat. Weiterhin erwähnt Eichmann, dass er, im Gegensatz mus, seine Konzeption vom » Judenstaat« und 25 Ka- zur Schilderung unseres Autors, in Haifa besuchsweise an pitel Moritaten der Geheimdienste und Waffenver- Land gegangen ist und seine Reise nach Alexandrien im bände der jüdischen Siedler in Palästina und Zahal's. gleichen Schiff fortgesetzt habe. In diesem Zusammen- Die Glaubwürdigkeit der Erzählungen wird durch viele hang erzählt Eichmann weder von einem Ausnahmezu- Schreib- und Übersetzungsfehler sowie Tatsachenverren- stand in Haifa am Tage der Ankunft des Schiffes, der kungen in Frage gestellt. Anscheinend ist dem Buch das ihn am Verlassen des Schiffes gehindert haben sollte, Korrekturlesen erspart worden, es fehlen sogar manch- noch von dem Umstand, dass »Polkes und einige Herren mal halbe Sätze oder ganze Zeilen. Statt Petach-Tikva der Haganah ... erwartungsvoll am Kai« gestanden ha- lesen wir Petach-Tikuach (S. 22). Nezach Israel lo ben sollten. Ebensowenig wird die Behauptung des Ver- jischaker (1. Buch, Sam XV, 29) kann nicht übersetzt fassers, dass Polkes »ein hochgestellter Mann bei der werden »der Unsterbliche aus Israel lügt nicht« (S. 33), Haganah« gewesen war, vom Geheimarchiv der Haga- es muss heissen: »der Ewige Israels lügt nicht«. Moshe nah bestätigt. Die Geschichte mag sich, aber nicht in der Dajan ist am 20. 5. 1915 und nicht am 2. 5. 1915 geboren Form wie vom Autor beschrieben, zugetragen haben. (S. 30). Es gab keinen Jizchakk Ehimshelewitch in Dokumente des Geheimarchivs der Gestapo enthalten Seg'era (S. 25). Ben-Gurion und Kollegen wurden von gewisse Berichte über Polkes und seine Besprechungen den Türken aus Palästina 1915 und nicht 1916 ausgewie- mit Eichmann, muten Polkes eine hohe Stellung in der sen (5.32). »Schomrim« ist der Plural von Schomer, Haganah zu, jedoch scheint die einzige Basis dafür die kann also nicht für den einzelnen Wächter angewendet Erzählung Dr. Reicherts an seinen Mittelsmann der Ge- werden (S. 29). stapo zu sein.

135 Es ist ungeschichtlich, vom »jüdischen Schutz« zu spre- Die Kanonenrohre der Kampfwagen sind verbogen, Vögel chen, den Rahab geniesst (S. 8) (Josua II) oder vom »jü- nisten darauf, alles ist von Blumen überblüht. Das am dischen Reich« (S. 8) des Königs Salomo. Die Verwen- meisten verwendete Friedenssymbol ist die Taube mit dem dung von Begriffen wie »Villa«, »Gutsverwalter« mit Be- Olzweig, Fahnen oder Sprechblasen mit dem Wort »Scha- zug auf die Siedlung Rischon Lezion zu Beginn dieses lom«, Blumen, auch die biblischen Bilder des Friedens- Jahrhunderts und dieser »ein idyllisch operettenhaftes reiches bei Jesaja kommen vor: Sie schmieden die Schwer- Hirtenleben auf israelisch« zuzuschreiben, erscheint mehr ter zu Pflugscharen (oder Gartenschaufeln), und das Lamm als fragwürdig. Aber wer den »Bund« und die »Poale weidet friedlich mit dem Wolf. Tanz, Spiel, freie Bewe- Zion« nicht säuberlich unterscheiden kann, hat seine Haus- gung auf Blumenwiesen sind häufige Darstellungen. Oft aufgabe einfach nicht gemacht. wird auch als Frucht des Friedens die Freundschaft und Dennoch, das Buch ist eine reiche Fundgrube von hoch- Verbrüderung zwischen Israelis und Arabern gezeigt, und interessanten Erzählungen. Es kann jedoch nur als Hin- zwar von beiden Seiten. Auch die Eintracht zwischen den weis auf die Geschehen dienen und nicht als ihre Ge- Religionen kommt ins Wunsch-Bild: Vor den Mauern schichte. Das Buch bedarf einer gründlichen Revision Jerusalems stehen Moschee, Kirche und Synagoge neben- und Überprüfung der Tatsachen, so wie seiner unter- einander, kindliche Strichmännchen friedlich davor! schwelligen Konzeption. Wie jedes Buch bedarf es auch Die Bilder wirken naiver und überzeugender als die Verse; einer Korrekturlese. Man merkt es dem Buch an, dass sein das mag an der deutschen Übersetzung liegen, die sich Stoff ursprünglich einem Film gedient hat. gelegentlich zu sehr um »schöne« Sprache und kunstvollen Dr. Yehiel Ilsar, Jerusalem Reim bemüht. Dennoch wirkt da und dort jene echte dich- terische Inspiration ergreifend, wie sie Kindern so oft JACOB (COOS) SCHONEVELD: The Bible in Israeli eigen ist. Ein paar Beispiele. Aus dem »Gebet« einer Drei- Education. A Study of Approaches to the Hebrew Bible zehnjährigen: » Ja, um Frieden bitte ich, / und einem klei- and its Teaching in Israeli Educational Literature. Assen nen Mädchen / schlägst du sicher / keine Bitte ab.« Oder 1976. Van Gorcum. 294 Seitens. jener Achtjährige, der die friedliche Zukunft so sieht: 1 S. o. S. 60. »Morgen, im Frieden, brauchen wir kein Geld mehr für WIR WOLLEN FRIEDEN. – Bilder und Gedichte von Waffen / und werden uns Kühe für den Kibbuz anschaf- jüdischen und arabischen Kindern aus Israel. Freiburg – fen.« Oder der kleine Araberjunge Muhamad, der hofft, Basel – Wien 1977. Verlag Herder. 96 Seiten. (Graphische es werde kommen »der Tag, an dem die Generäle Blumen Gestaltung und Redaktion: Jaakov Zim, Auswahl der züchten ..., wenn Ismael und Israel sich verbünden, / wenn Gedichte: Uri Uriel Ofek, Übersetzung Jaakov Hessing. alle Juden den Arabern Brüder werden«. Und endlich der Erste hebräische Edition unter dem Titel: Hashalom Sheli, »Traum von der Flöte«, in dem ein Knabe, wie der Rat- American Israel Publishing Comp. Ltd. / Sonol Israel Ltd. tenfänger von Hameln, durch sein Spiel alle Waffen hinter 1974. – Die deutsche Übersetzung von Sabra Books.) sich herzieht: »Verzaubert folgten seine Flöte Kanone und Im Jahre 1974, noch unter dem unmittelbaren Eindruck Gewehr, / verliessen folgsam unsere Welt. Ich sah sie nie- des » Jom Kippur-Krieges«, veranstalteten die israelischen mals mehr.« – Man wünschte diesem bezaubernden Buch Behörden in Israel und in den von Israel verwalteten Ge- die gleiche magische Kraft: Schalom, der Friede, wäre auf bieten unter Kindern zwischen 8 und 14 Jahren einen immer gewonnen! Paulus Gordan OSB, Beuron Wettbewerb über das Thema »Frieden«, darzustellen in Bild und Wort. Aus über tausend prämiierten Arbeiten Bibliographische Notizen entstand durch engere Auswahl das vorliegende Buch mit Zeichnungen und Versen von 43 Kindern teils israelischer, CONCILIUM. Internationale Zeitschrift für Theologie, teils arabischer Herkunft, aber auch von Neueinwanderern 12. Jg., Heft 2, Februar 1976. S. 75-139. (Mainz/Zü- aus der UdSSR, den USA und Südamerika. Die deutsche rich/Einsiedeln; Verlage Benziger/Grünewald). Fassung aus dem Jahre 1977, die der Herder-Verlag dan- Das Heft bringt im Rahmen einer Thematik, die sich mit kenswerterweise herausgebracht hat, ist – leider! – noch der Verwendung nichtchristlicher heiliger Schriften im immer höchst aktuell; denn dem Krieg im Nahen Osten christlichen Gotteswort beschäftigt, einen Abschnitt unter ist bisher noch kein Friede gefolgt. Im Gegenteil: Indessen der Überschrift: »Das Judentum und die Verwendung wütete der Bürgerkrieg im Libanon, und noch immer ste- heiliger Bücher in der christlichen Liturgie« (S. 116-130), hen an allen Grenzen Israels die feindlichen Nachbarn welcher folgende Beiträge enthält: C. MacLeod, Die bewaffnet einander gegenüber, und nicht nur in diesem Bibel, das Judentum und die jüdisch-christlichen Be- Gebiet droht Kriegsgefahr und ist der Friede fern. Wollte ziehungen (5. 116-120); A. Segre, Die Bibel und das man den ergreifenden Zeugnissen dieses Bilderbuches glau- jüdische Volk (5. 120-126); C. Rijk, Die jüdisch-christ- ben, so wäre es am besten, man überliesse Kindern das lichen Beziehungen und die Verwendung heiliger Bücher Geschäft der Politik; denn sie wollen Frieden. Nun weiss anderer Religionen im christlichen Kult (S. 126-130). man freilich, wie leicht beeinflussbar Kinder sind, und dass Erfreulicherweise wird schon im ersten Beitrag (von sie ihre natürliche oder erbsündliche Aggressivität nur C. MacLeod) deutlich herausgestellt, dass das Verhältnis allzu gern gewaltsam entladen, woraus denn auch die Judentum—Christentum nicht einfach unter das General- Spielzeugindustrie ihren Nutzen zieht – was wird sie von thema Christentum und andere Religionen zu stehen Wünschen halten wie diesem: »In Spielzeugläden gibt es kommen darf — leider ist solches festzustellen immer viele / Baukästen und Würfelspiele. / Doch überall im noch eine Notwendigkeit und nicht eine Selbstverständ- ganzen Land / sind Spielzeugwaffen unbekannt«? Den- lichkeit, über die Worte zu verlieren nicht mehr nötig noch besteht kein Zweifel: Es ist den jüdischen Kindern in wäre. — Insgesamt zeigen die Beiträge eine ausserordent- Israel und den arabischen Kindern in den besetzten Ge- lich grosse Aufgeschlossenheit für die Gewinnung neuer bieten ernst mit ihrer Friedenssehnsucht. Sie haben unter Perspektiven im Blick auf ein allgemeines Gespräch der dem Krieg gelitten, Väter und Brüder verloren, Freunde Religionen miteinander, wobei die gesonderte Zuordnung und Freuden eingebüsst. In den Zeichnungen wird der von Judentum und Christentum gerade nicht als ein Hin- Krieg meist durch einen Tank dargestellt, seltener durch dernis, sondern als eine Wegbereitung zu erscheinen ver- Flugzeuge. Der Wunsch aber nimmt den Frieden vorweg: mag. Solches stellt man mit Freude fest. 0. K.

136 JEWISH-CATHOLIC DIALOGUE: In: The Eucharist mativen Anfang« (S. 422). Anhand von Lk 1, 2; Joh 1, 1; in ecumenical Dialogue. Aus: Journal of Ecumenical 1 Joh 2, 24a; 2 Joh 9 u. a. zeigt Mussner, dass es dem Studies 13 (1976) 125-140. Eric Werner: The Eucharist Neuen Testament sehr zentral darum geht, dass der Gläu- in Hebrew Literature during the Apostolic and Post- bige seins- und bekenntnismässig im Anfang (archä) – apostolic Epoch (S. 126-130); Monika K. Hellwig: in Jesus Christus – verwurzelt bleibt. Damit ist aber Catholic Response (S. 130 f.); M. K. Hellwig: The Chri- noch nicht alles über die christliche Identität gesagt. Muss- stian Eucharist in Relation to Jewish Worship ner weist darauf hin, dass die Urkirche in Jesus Christus (S. 132-138); E. Werner: Jewish Response (S. 138-139). sowohl den erschienenen Sohn Gottes sah als auch – Eric Werner versucht zunächst aus jüdischer Sicht einige ebenso entschieden – den Sohn Davids. Das Bekenntnis linguistische Vorfragen des Einsetzungsberichtes zu klä- zur Davidssohnschaft ist Mussner besonders wichtig. »Da- ren. Bewusst schränkt er seine Fragestellung auf die Zeit mit ist Jesus in das Kontinuum Israels gestellt« (425). ein, in der spekulative Fragen, wie die der Transsubstan- Zur christlichen Identität »gehört das Wissen um den tion, noch nicht aufgekommen waren. Hingegen setzt er unlösbaren Zusammenhang der Kirche mit Israel. Würde sich eingehend mit einem jüdischen Midrasch (Exodus die Kirche diesen Zusammenhang nicht sehen oder gar Rabba) aus dem 6. Jh. (enthält aber Material, das wesent- nicht sehen wollen, so wäre das mit Identitätsverlust ver- lich älter ist) auseinander, den er als frühe jüdische bunden« (425). Wegen dieser Gedankenfolge und wegen Reaktion auf das christliche Eucharistieverständnis deu- der exegetischen Begründungen lohnt sich die Lektüre des tet. Aufgrund des darin enthaltenen Kommentars über Mussnerschen Artikels sehr. Es handelt sich um einen den Kommunionvers »Schmecket und sehet, wie gütig Versuch, Jesus Christus und den Christusglauben in die der Herr ist« (Ps 34, 9) legt der Autor eine neue Interpre- offenbarungsgeschichtlichen Zusammenhänge hineinzu- tation der conversio donorum vor: So wie der Hyssop stellen. Clemens Thoma auch als etwas Wertloses galt – und dennoch für Reini- UNA SANCTA. Zeitschrift für ökumenische Begegnung. gungsriten eingesetzt wurde (vgl. Ex 12, 22) –, so ist auch 31. Jg., 1976, Heft 2, S. 89-172. Meitingen/Freising. Jesus als Instrument in Gottes Händen zur Erlösung der (Kyrios-Verlag). Welt zu betrachten. In diesen Ausführungen des Das Heft enthält u. a. in seinem Berichtsteil von E. Flesse- Midrasch möchte Werner eine versteckte jüdische Anspie- man-van Leer »>Christen und Juden< — Bemerkungen lung auf Jesus Heilsfunktion sehen! zur Studie des Rates der EKD« (5.90-93) mit Wür- Monika K. Hellwig stellt in ihrem Beitrag heraus, dass digung und Kritik der EKD-Studie (vgl. in FR XXVII, nur ein steter Dialog mit dem Judentum Früchte für ein S. 68 ff.); die Ausstellungen, die gemacht werden, beziehen besseres Verständnis der Eucharistie abwerfen kann. Das sich vor allem auf das Fehlen einer Erwähnung oder Dar- christliche Verständnis hat sich nämlich immer wieder stellung des Phänomens der Mystik im heutigen Juden- nach der Person und der Intention des Jesus, der Jude tum, auf die Unterschiedlichkeit in der Begründung der war, auszurichten. So werden die Grundlagen des christ- Ethik, schliesslich auf die durch Unmittelbarkeit ( = Ju- lichen Sakramentsverständnisses – und insbesondere der dentum) bzw. Mittelbarkeit ( = Christentum, nämlich eigentliche Sinn des Eucharistie-Sakramentes – vom Ju- durch »Mittlerschaft« Christi) zu Gott differierenden dentum mitbestimmt. Jüdische Mahlgemeinschaft und Auffassungen über das Verhältnis von Gott und Mensch Seder wurden in die christliche Liturgie übernommen. in Judentum und Christentum u. a. m. — insgesamt also Wie im Judentum dominiert dabei die Zeitdimension, eine Reihe von Bemerkungen, die des Nachdenkens sehr denn die Eucharistie ist zugleich auf die Vergangenheit, wohl wert sind, wenngleich sie natürlich nicht in jeder Gegenwart und Zukunft ausgerichtet. Es geht um den Hinsicht ohne Gegendarstellung bleiben dürften. gleichen, einen Gott, der sowohl im Pascha-Geschehen berichtet über Christlich-Jüdische Be-—F. v. Hammerstein handelte, der in neuer und unüberbietbarer Weise in gegnungen in Jerusalem (25. Februar-3. März 1976) (vgl. Jesus präsent war, als auch jetzt im eucharistischen Ge- in FR XXVII, S. 65 f.). – W. Sanders berichtet über schehen tätig wird; die Eucharistie hat zudem eine ausge- »Biblische Verheissung und ökumenische Wirklichkeit – sprochen eschatologische Dimension, weil die Erlösung Tagungen zum Thema >Israel< in Schleswig-Holstein«. als eine für die ganze Welt noch nicht abgeschlossene Der Artikelteil bringt einen sehr instruktiven Beitrag von Wirklichkeit verstanden wird. In der immer weiterge- S. Herrmann: Die Schlüsselfunktion des Alten Testaments führten, metaphysischen Spekulationen um die Euchari- im ökumenischen Dialog (S. 109-117). – N. P. Levinson: stie sieht Hellwig eine konkrete Gefahr, weil gerade sie Das »Alte« Testament als Hl. Schrift der Juden (5. 118- die jüdischen Wurzeln zu verdecken drohen. Eine glück- 124) zeigt vor allem Unmittelbarkeiten zwischen Hei- liche Wende hat hier erst das Vat. II gebracht. liger Schrift und heutigen Menschheitsfragen (Frieden, D. Kinet, Augsburg Umweltschutz usw.) auf. — J. Magonet: Angst und Hoff- FRANZ MUSSNER: Christliche Identität in der Sicht nung in jüdischer Erfahrung (S. 125-135) lässt schon des Neuen Testaments, Intern. katholische Zeitschrift. vom Titel her die Aktualität des behandelten Themas Communio Verlag. Frankfurt/M. 5 (1976). S. 421-430. (unter anderem Explikationen über die »Strategien des Es genügt nicht, Jesus Christus nur im Mund zu führen, Überlebens des Judentums«) erkennen (wobei auch auf um sich als Christ ausweisen zu können (vgl. S. 423). Witz und Humor rekurriert wird — als Versuche und Wenn man sich die Frage nach der christlichen Identität Möglichkeiten, Herr über Ängste zu werden). von der Warte des Neuen Testaments aus stellt, dann liefert unter der Überschrift »Der Dialog—H. H. Henrix genügt es ausserdem nicht, nur Gräben aufzureissen: zwi- mit dem Judentum als Aufgabe ökumenischer Theologie« schen der vorösterlichen Jesuszeit und der nachösterlichen (S. 136 - 145) einen sachlichen, gut fundierten und be- Christuszeit, zwischen Jesus und Paulus, zwischen der legten Beitrag. – Der Artikel von H. A. Fischer-Barnicol, Lehre der Rechtfertigung des Sünders und der frühkatho- »Wortwechsel oder Gespräch? Bedenken zur Begegnung lich-judenchristlichen Werkfrömmigkeit. Jenseits aller der Kirche mit dem Islam« (S. 146-162) dürfte vor allem Lippenbekenntnisse und aller Verschiedenheiten inner- unter Gesichtspunkten einer stets und auf allen Seiten zu halb des Neuen Testaments geht es für den Christen tätigenden, insgesamt immer wichtiger werdenden jeder Generation um die »durchgehaltene Treue zum nor- Selbstkritik zu bedenken sein. 0. K.

137 18 Aus unserer Arbeit I Altenwohnheim für NS-verfolgte Christen* in Israel (Nahariyya) * * In der letzten Jahresfolge des FR konnte über die Grün- dung des Altenwohnheims in Israel für die obengenannte Gruppe berichtet werden**, die überwiegend katholische Frauen umfasst, die wegen der Rettung von jüdischen Kindern und Männern in der NS-Zeit in Polen selber Verfolgung durchzustehen hatten. Sie kamen nach dem Krieg mit den von ihnen Geretteten nach Israel und be- dürfen nun im Alter dringend einer Geborgenheit. Eine in besonderer Weise geschaffene Kooperation mit dem Heim, deren Träger ein gemeinnütziger Verein ist*, er- möglichte die Gründung des Heimes. Auch sind damit verbundene Formalitäten gut gelaufen. Sie brauchten aber Zeit, auch im Zusammenhang mit den innenpolitischen Umständen in Israel, die jeden noch stärker belasten als Bei einem Blitzbesuch in Israel konnte ich am 25. 1. 1977 das ohnehin. Mittlerweile wurden Baugenehmigungen für die Haus besuchen'. Von der an der Rückseite des Hauses gelegenen noch erforderliche Renovation des Hauses erteilt. Zur ma- überdachten Terrasse geht der Blick weit über das Mittelmeer; nach links gen Rosh Hanikra, den 7 km nördlich liegenden ximalen Ausnutzung des Raumes in diesem schönen Haus, weissen Klippen, an der Grenze zum Libanon, nach rechts zur das in einem ausgesprochenen Wohngebiet liegt, waren für Bucht nach Haifa. — Am Strand entlang ist der Bau einer An- und Umbauten Sondergenehmigungen erforderlich. Promenade geplant, die bis nach Shave Zion führen soll Dabei freut es uns zu berichten, dass das israelische So- (etwa '12 Stunde Weg). zialministerium, Abteilung Altenpflege, wohlwollend alle Shave Zion2 , eine Gründung von Juden aus Rexingen (Wttbg.), die Pläne unterstützte und Anregungen gibt. Darüber hinaus in Israel den ersten Moshav aufgebaut haben. Heute mit einem Ferien- hat das Sozialministerium in Zusammenarbeit mit dem zentrum und einem Mosaikfussboden einer frühchristlichen Kirche. staatlichen Sozialamt das Heim als »case study« vorge- schlagen. Es ist dies das erste Heim dieser Art in Israel. Ich bin sehr froh, dass ich hier in diesem Heim arbeiten Dafür ist dem Sozialministerium sehr zu danken. kann. Dieser Versöhnungsdienst bietet für junge Leute Die Renovation ist im Gang, und die den Einzug erseh- aus der Bundesrepublik Deutschland gute Möglichkeiten. nenden Bewohner werden im Sommer einziehen können. Man kann gewiss nicht erreichen, dass die Bewohner ihre Ausser dem in Aussicht genommenen Personal ist Ende Vergangenheit vergessen, aber man kann mit ihnen spre- Februar bereits ein junger Deutscher angekommen, der chen. Das Heim in Nahariyya kann eine geeignete Stätte den Bewohnern in besonderer Weise seine Dienste leihen der Begegnung werden.« wird. Er berichtete kurz nach seiner Ankunft über seine Für die eingegangenen Spenden und die uns damit ge- allerersten Eindrücke: gebene grosse Hilfe danken wir sehr herzlich. »Ich heisse Peter Berstermann, bin 23 Jahre alt, von Be- Frau Jünemann3 ist im Frühjahr 1977 von ihrem 14. Be- ruf Heimerzieher. Ich bin als Militärdienstverweigerer an- such in Israel zurückgekommen. Sie hat das Haus auch erkannt und leiste nun im >Altenwohnheim Gertrud Luck- wieder — und mit einigen künftigen Bewohnern — besucht. ner< einen 18monatigen Versöhnungsdienst. Dadurch bin Sobald das Heim im Sommer bewohnt sein wird, wird ich von der Ableistung des internationalen Zivildienstes sie weiteren Kontakt mit den Bewohnern aufnehmen und befreit worden. ist nach wie vor bereit, Kontakt mit diesen zu vermitteln. 3 Bereits zwei Tage nach meiner Ankunft in Israel hatte Es würde uns freuen, von Interessenten zu hören. Etwaige ich die Freude, an einer 5tägigen Sinaifahrt teilzuneh- Schreiben erbitten wir an: men. Diese Fahrt wurde von dem Karmelitenkloster FREIBURGER RUNDBRIEF >Stella Maris< in Haifa organisiert, da sich eine Gruppe Postfach 420, 7800 Freiburg i. Br. spanischer Mönche zu einem Studienjahr in >Stella Maris< Der Deutsche Caritasverband hat für das Altersheim ein aufhält. Ausserdem nahm noch eine Gruppe von Juden teil, Treuhandkonto errichtet. Spenden bitte an: so kam eine christlich-jüdische Begegnung zustande. Deutscher Caritasverband, 7800 Freiburg i. Br. Anlässlich einer Berlin-Ausstellung mit dem Thema Postscheckkonto Karlsruhe Nr. 7926 >Berlin — eine Stadt auf der Suche nach der Zukunft< und einem anschliessenden Empfang des Botschafters der Bun- Mit Vermerk: ALTERSHEIM ISRAEL desrepublik Deutschland in Israel, Herrn Dr. Per Fischer, hatte ich Gelegenheit, diesen persönlich kennenzulernen. 1 Aufnahme von Anne Jünemann. Gertrud Luckner 2 Shave Zion = Heimkehrer nach Zion. Ich möchte meinen Dank an dieser Stelle bekräftigen. 3 Vgl. FR XXVII/1975, S. 149. Auch konnte ich einige Mitglieder von dem Trägerverein des Altenwohnheims kennenlernen. Inzwischen nehme ich an einem Ulpan (= Intensiv-Sprachkurs) teil, um die II Grundsteinlegung, Haifa, 24. 1. 1977 Landessprache, Iwrith, zu lernen. Ich wohne schon in dem Der Anlass für einen Blitzbesuch im Januar 1977 war die Haus in Nahariyya. Es hat mir gleich sehr gut gefallen. Einladung von der Israel Medical Association Central Ich meine, dass es als Altenheim sehr geeignet ist. Committee zur offiziellen Grundsteinlegung des neuen Verfolgt aufgrund der Nürnberger Gesetze, vom 15. 9. 1935. (Vgl. Gebäudes im militärischen Erholungsheim in Haifa', das Bruno Blau: Das Ausnahmerecht für die Juden in Deutschland 1935 bis 1945. Düsseldorf 1954, S. 29 ff.) 1 Vgl. dazu o. S. 72: Ausflug zum »Guten Zaun«; s. o.: Besuch des * Vgl. in FR XXVII/1975, S. 147 ff. Altenwohnheims.

138 u. a. die physiotherapeutische Abteilung und die medi- III Echo von seiten der jüdischen Wissenschaft zinische Station enthalten wird. Im Jom-Kippur-Krieg Mit grosser Überraschung und Freude empfing ich von Professor Al- hat eine sehr grosse Zahl junger Soldaten Glieder einge- fred Gottschalk, dem Präsidenten des Hebrew Union College-Institute büsst. Rehabilitation und Beschäftigungstherapie sind of Religion!, Cincinnati-NewYork- Jerusalem, am 5. 1. 1977 aus Cin- äusserst dringlich, damit diese jungen Familienväter für cinnati/Ohio die folgende (aus dem Englischen übersetzte) Mitteilung: ihre Familien Sorge tragen können. Es ist dem Deutschen »Dear Miss Luckner: Im Auftrag der Fakultät und des Caritasverband, besonders seinem Präsidenten Msgr. Dr. Senats des Hebrew Union College-Jewish Institute of Re- Hüssler, zu verdanken, dass ich im Januar 1974 in Israel ligion darf ich Ihnen vom Beschluss Kenntnis geben, ein 'geeignetes Objekt suchen durfte, einen Ausdruck der Ihnen den Grad des >Doctor of Humane Letters, honoris Anteilnahme und Hilfe durch Caritas zu ermöglichen. causa< zu verleihen. Dieser Grad wird bei den allgemeinen Das Recuperation Home (Civil Committee for the Sol- Promovierungen in New York am Sonntag, 5. Juni 1977, diers Medical Recreation Centre) am Karmelabhang in verliehen. schöner, gesunder Lage bot sich an. Medizinische Betreu- Es wird uns freuen, von Ihnen zu hören, dass Sie diese ung und Unterhaltskosten gelten als gesichert. Ursprüng- Auszeichnung annehmen. Sie wird Ihnen verliehen für lich in der Mandatszeit 1937 als Mädchengymnasium von Ihre hervorragenden humanen Bemühungen, den Mut und der St. Luke's Church vom anglikanischen Bischof von die Entschlossenheit, womit Sie Ihr Schicksal mit dem un- Portsmouth gegründet, ist es seit 1950 ein Erholungsheim seres Volkes verbunden haben. Wir möchten, dass Sie als für Soldaten. Der Träger für dieses Objekt der Caritas unser Gast reisen und auch in New York einige Tage un- ist die oben genannte Israel Medical Association, eine seit ser Gast sind. Ich freue mich, von Ihnen zu hören. 1912 bestehende öffentliche freiwillige ärztliche Fachor- Ihr ergebener Alfred Gottschalk, Präsident.« ganisation. Neben der deutschen Caritas beteiligten sich einige europäische Caritasverbände und ein privater Mit besonderer Bewegung nehme ich diese Auszeichnung Spender. Ein aus amerikanischen Mitteln finanziertes an. Sie macht mich zur Alumna dieser Hochschule, an der Schwimmbecken ist vorhanden. der verehrungswürdige Dr. Leo Baeck — bis 1943 der letzte Rabbiner in Berlin — nach 1945 wirkte. In Dank- barkeit nehme ich sie auch stellvertretend für die an, die in den NS-Jahren sich mit an der Hilfe für die Verfolg- ten beteiligten. Ohne sie wäre meine Hilfstätigkeit nicht möglich gewesen. Ebenso gedenke ich derer, die die aus den Verfolgungsjahren erwachsene Rundbriefarbeit mit- trugen, insbesondere: Karl Thieme 2, Karlheinz Schmidt- hüs3, Msgr. Joerger4, Hans Lukaschek 5. Gertrud Luckner

1 Liberale Rabbiner-Hochschule Nordamerikas. 2 t 26. 7. 1963. 3 t 21.2. 1972. 4 t 4. 11. 1958. 5 t 26. 1. 1960.

IV Letzter Gruss von Julius Kardinal Döpfner Die folgenden Worte sind einem Schreiben vom 7. Juli 1976 entnom- men, kurz vor dem erschütternden Hinscheiden von Kardinal Döpfner am 24. Juli 1976. Ihr Inhalt beinhaltet zugleich den Dank, den wir Die Grundsteinlegung war mit einer eindrucksvollen Feier Kardinal Döpfner schulden für sein immer wieder geschenktes volles verbunden, besonders bewegend waren die Gesichter der Verständnis und alle Ermutigung, Jahre hindurch: jungen Soldaten. » . . . Sie haben mir freundlicherweise wieder die neue Aus der Ansprache von Dr. Ram Yishai, Präsident der Folge des Freiburger Rundbriefs vorgelegt. Haben Sie Israel Medical Association: besten Dank dafür. Die Fülle von Beiträgen führt uns »... Zu unserem Leidwesen sind wir, unterschiedlich von erneut in den Geist des Judentums ein und macht deutlich, anderen Ländern, die mit ihren Nachbarn in Ruhe und wie unerlässlich es als Verständnishorizont für unseren Frieden leben können, mit Kriegen übersättigt. Jeder christlichen Glauben ist ... Ich verbinde damit auch mei- Krieg, ganz gleich, welches sein Ausgang ist, hinterlässt nen aufrichtigen Dank für Ihren unermüdlichen Einsatz menschliche Tragödien, die junge Menschen zwingen, mit für eine christlich-jüdische Begegnung, wie sie gerade im ihren Verwundungen viele Jahre hindurch und manchmal Arbeitskreis auf so hohem Niveau stattfindet ...« sogar ihr ganzes Leben lang fertig zu werden. Die Erstellung dieses Gebäudes mitsamt seinem Institut V Dank des Freiburger Rundbriefs ist für die Invaliden, für welche der Krieg noch nicht be- Wir schulden Frau Dr. Angela von Kries, Jerusalem, für endet ist, ein ungeheurer Beitrag zur Erleichterung ihres ihre ausgezeichneten Übersetzungsarbeiten schwieriger Lebens- und Rehabilitationsprozesses. Darum sind wir Artikel aus dem Hebräischen ins Deutsche grossen Dank. Zahl und allen Spendern, die den Bau ermöglicht haben, Zu ihrer Promotion im Juli 1976 gratulieren wir. unseren Dank schuldig. Bei dieser Gelegenheit erlaube ich Sie erhielt den Doktorgrad der Philosophischen Fakultät mir, der Caritas und Frau Dr. Luckner unseren warmen der Ludwig-Maximilians-Universität zu München für und herzlichen Dank auszusprechen ...« ihre Dissertation: »Zur Erforschung der Jüdischen Litur- Was mich betrifft, so danke ich von ganzem Herzen, dass gie innerhalb der Wissenschaft des Judentums.« ich dieser für mich unvergesslichen Feier beiwohnen durf- Wir sind sehr dankbar, dass Frau Dr. von Kries uns bei te. Auf den mir ausgesprochenen Dank möchte ich erwi- dieser fachmännischen Arbeit auch weiterhin helfen wird. dern, dass ich zu danken habe, überhaupt und für die mir * in diesen Tagen überreich zuteil gewordene Güte. Möge Es freut uns, mitzuteilen, dass Herr dipl.-theol. Hansjörg das Haus gut heranwachsen und eine gesegnete Stätte des Rasch als Mitarbeiter beim Freiburger Rundbrief ein- Heilens werden. G. L. getreten ist.

139 19 Systematische Übersicht über die Literaturhinweise

Seite Seite Ia Bibel und Theologie F. v. Hammerstein (Hrsg.): Von Vorurteilen z. Verständ- nis. Z. jüd.-chr. Dialog [s. u. II, IIa, IIb] 115 Rainer Albertz: Weltschöpfung und Menschenschöpfung. Martin Hauser: Auf d. Heimweg. Aus d. Tagebüchern e. Untersucht bei Deuterojesaja, Hiob u. i. d. Psalmen 76 dt. Juden 1929-1945 98 Jürg, Becker / H. Conzelmann / Gerb. Friedrich:14 D. Brie- Joseph Heinemann / J. J. Petuchowski (Hrsg.): Litera- fe a. d. Gal, Eph, Phil, Kol, Thess u. Phm. 76 ture of the Synagogue 99 Rich. Victor Bergren: The Prophets and the Law 77 Hans Kühner: D. Antisemitismus d. Kirche 100 Elementar-Bibel, Teil 3: Geschichten v. Königen in Israel. F. Littell: The Crucifixion of the Jews [s. u. Ia, IIa, III] 117 Ausgew. Anneliese Pokrandt, illustr. Reinh. Herrmann 77 Cecile Lowenthal-Hensel (Hrsg.): Mendelssohn-Studien 101 Rudolf Buhmann: D. 2. Brief a. d. Kor 77 Louis Jacobs: Theology in the Responsa 101 Bernhard Casper (Hrsg.): Des Menschen Frage nach Gott 78 Günter Marwedel: D. Privilegien d. Juden in Altana 102 J. L. Crenshaw / John T. Willis (Hrsg.): Essays in Old A. Mombert: Briefe an Friedr. K. Benndorf 102 Testament Ethics 79 W. E. Mosse / A. Paucker (Hrsg.): Juden im Wilhelmini- 0. Cullmann: Der johanneische Kreis. S. Platz im Spät- schen Dtschld. 1890-1914. Sammelbd. 103 judentum, i. d. Jüngerschaft Jesu u. im Urchristentum 80 Pnina Nav: Du, unser Vater. Jüd. Gebete f. Christen 103 Gg. Fohrer: Die Propheten d. frühen 6. Jh., Bd. 3. D. Jacob Neusner (Hrsg.): Christianity, Judaism and other Proph. um d. Mitte d. 6. Jh., Bd. 4. D. Proph. d. aus- Greco-Roman Cults [s. u. IIa, Ia] 119 geh. 6. u. 5. Jh., Bd. 5 80 J.-H. Niggemeyer: Beschwörungsformeln aus d. Buch der Joh. Friedrich! Wolf g. Pöhlmann / P. Stuhlmacher (Hrsg.): Geheimnisse 104 Rechtfertigung. Festschr. f. E. Käsemann 81 J. J. Petuchowski (Hrsg.): New Perspectives on Abra- H. Lev. Goldschmidt / Meinr. Limbeck: Heilvoller Verrat? ham Geiger 105 Judas im NT 82 Ders.: Beten im Judentum 106 P. Gordan: Es ist d. Herr. 12 Betrachtungen zu Bildern d. Uon Poliakov: Gesch. d. Antisemitismus Bd. 1: V. d. An- Stuttg. Psalters 82 tike bis zu d. Kreuzzügen 107 Monika K. Hellwig: Catholic Response, The Christian G. Sed-Rajna: Azriel de Gerona. Commentaire sur la Eucharist in Relation to Jewish Worship in: Jewish liturgie quotidienne 107 Catholic Dialogue [s. u. IIa] 137 Peter Schäfer: Rivalität zwischen Engeln und Menschen M. Hengel: D. Sohn Gottes. D. Entstehung d. Christologie [s. u. Ia] 108 u. d. jüd.-hellen. Religionsgeschichte 83 R. Schatz-Uffenheimer: Aus: Messianismus u. Utopie bei Otfr. Hof ius: D. Christushymnus Phil 2, 6-11. Unter- A. I. Kook [s. u. la] US 2 suchungen z. Gestalt u. Aussage e. urchr. Psalms 84 Gershom Scholem: Sabbatai Sevi, the Mystical Messiah Joachim Illies (Hrsg.): Brudermord. Z. Mythos von Kain 1626-1676 108 u. Abel 85 Menahem Stern: Greek and Latin Authors on Jews and Joachim Jeremias / Aug. Strobel: D. Briefe an Tim u. Tit. Judaism 109 D. Brief an d. Hebr 76 Joh. Theisohn: D. auserwählte Richter. Z. traditionsgesch. K. Kertelge (Hrsg.): Rückfrage n. Jesus. (Quaestiones dis- Ort d. Menschensohngestalt d. Bilderreden des Aethio- putatae 63) 85 pischen Henoch 109 Franklin Littell: The Crucifixion of the Jews. The Failure Cl. Thoma (Hrsg.): Zukunft i. d. Gegenwart [s. u. Ia, IIa] 122 of Christians to Understand the Jewish Experience W. C. v. Unnik (Hrsg.): La litterature juive entre Tenach [s. u. Ib, IIa, III] 117 et Mischna 110 Wilhelm Maas: Unveränderlichkeit Gottes. Z. Verhältnis G. Vermes: Post-Biblical Jewish Studies (Studies in Ju- v. griech. phil. u. chr. Gotteslehre 91 daism in Late Antiquity VIII) 110 K. H. Miskotte: Biblisches Abc. Wider das unbiblische R.Weltsch (Hrsg.): Year Book (Leo Baeck Institute) XVII, Bibellesen 86 1972; XVIII, 1973; XIX, 1974; XX, 1975; XXI, 1976 111 F. Mussner: Theologie d. Freiheit n. Paulus 86 Eric Werner (Hrsg.): Contributions to a Historical Study Ders.: Christliche Identität in der Sicht d. NT [s. u. IIa] 137 of Jewish Music 112 J. Neusner (Hrsg.): Christianity, Judaism and Other Greco-Roman Cults [s. u. Ib, IIa] 119 Henning Paulsen: Überlieferung u. Auslegg. in Röm 8 88 IIa Christlich-jüdische Beziehungen P. Schäfer: Rivalität zwischen Engeln und Menschen J. P. Asmussen / J. Lassoe, in Verb. m. C. Colpe (Hrsg.): [s. u. Ib] 108 Handbuch d. Religionsgeschichte Bd. 1-3 (Übers. aus W. Schatz: Gen 14 89 d. Dänischen) 112 R. Schatz-Uffenheimer: Aus: Messianismus u. Utopie bei Concilium 12, 2 Februar 1976 136 Abraham I. Kook [s. u. Ib] US 2 Hans Fischer-Barnicol: D. Ende der Ökumene 113 K. H. Schelkle: Theologie des NT, Bd. IV/1 89 Albrecht Goes: Tagwerk 113 H. H. Schmid: Altorientalische Welt in der atl. Theologie 90 E. Flesseman — van Leer: Christen u. Juden. Bemerkungen Chr. Schütz: Verborgenheit Gottes. M. Bubers Werk 91 zur Studie des Rates der EKD in: Una Sancta 31. Jg. Cl. Thoma (Hrsg.): Zukunft in d. Gegenwart [s. u. Ib, Heft 2. S. 89-172 137 IIa] 122 Ders.: Chr.-Jüd. Begegnung in Jerusalem in: Una Sancta Paul Winter: On the Trial of Jesus. Edited by T. A. Bur- 31. Jg. 1976 Heft 2 137 kill and Geza Vermes 92 H. L. Goldschmidt: Freiheit für den Widerspruch 114 E. Zenger / Rupert Böswald: Durchkreuztes Leben. Be- F. v. Hammerstein (Hrsg.): Von Vorurteilen z. Verständ- sinnung auf Hiob 94 nis. Dokumente z. jüd.-chr. Dialog [s. u. Ib, IIb] 115 H. H. Henrix: D. Dialog mit d. Judentum als Aufgabe ökum. Theologie in: Una Sancta (s. o. S. 136-145) 137 Ib Jüdische Geschichte und Judentum S. Herrmann: D. Schlüsselfunktion d. AT im ökum. Dia- log in: Una Sancta (s. o. S. 109-117) 137 Alexander Altmann: Moses Mendelssohn. Biographic. Study 94 Jewish-Catholic Dialogue in: Journal of Ecumenical Studies 13 (1976) 137 Gersion Appel: A Philosophy of Mizvot. Relig.-Ethic. Concepts of Judaism 94 Hans Küng l P. Lapide: Jesus im Widerstreit. Ein jüd.- 115 Hans I. Bach: Jacob Bernays. Abhdlg. d. Leo Baeck Insti- chr. Dialog tuts 30 95 P. Lapide: Ist das nicht Josephs Sohn? Jesus im heutigen Judentum 116 The Book of Ben Sira 96 H. Binder: Kafka in neuer Sicht 96 N. P. Levinson: D. AT als Hl. Schrift der Juden in: Una Sancta 31. Jg. 1976 Heft 2, S. 118-124 137 David J. Bleich: Providence in the Philosophy of Ger- son ides 97 Franklin H. Littell: The Crucifixion of the Jews. The Fail- ure of Christians and the Jewish Experience [s. u. Ia, Annie David: Von d. Juden in Dtschld. 1600-1870. Bild- bericht 98 Ib, III] 117 Die Friedensbitte an Israel 1951. Eine Ham- A. Drabek / Wolfg. Häusler / Kurt Schubert / Karl Stuhl- Erich Lüth:: pfarrer / Nikol. Vielmetti: D. österreichische Judentum 98 burger Initiative 118

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Seite Seite Franz Mussner: Christliche Identität in d. Sicht des NT in: Intern. kath. Zeitschrift Communio (5, 1976) III Verfolgung und Widerstand [s. u. Ia] 137 Dieter Albrecht (Hrsg.): D. kath. Kirche im 3. Reich. Auf- Jacob Neusner (Hrsg.): Christianity, Judaism and Other satzsammlung z. Verhältnis v. Papsttum, Episkopat u. Greco-Roman Cults NT 2: Early Christianity. 3: Be- dt. Katholiken z. NS 1933 - 1945 125 fore 70, 4: Judaism After 70, Other Greco-Roman Cults P. Blet / R. A. Graham / Ang. Martini / Burkhart Schnei- [s. u. Ia, Ib] 119 der t (Hrsg.): Le Saint Siege et les victimes de la W. Sanders: Biblische Verheissung u. ökum. Wirklichkeit. Guerre. Janvier-Decembre 1943. Actes et Documents Tagungen z. Thema Israel in Schleswig-Holstein in: du St. Siege relatifs ä. la II. Guerre Mondiale. Vol. 9 125 Una Sancta 31. Jg. 1976, Heft 2 137 Ernst Hornig t: Breslau 1945 128 Friedr. Seegenschmiedt (Bearb.): Christen u. Juden, Heft 1 Hildegard Kattermann: Geschichte u. Schicksale der Lah- u. 2 (f. ev. Religionsunterricht an Gymnas.) 121 rer Juden 128 J. Schoneveld: The Bible in Israeli Education. A Study of Approaches to the Hebrew Bible and its Teaching in F. Littell: The Crucifixion of the Jews [s. u. Ia, Ib, IIa] 117 Israeli Educational Literature [s. u. IV] 60 Malüs Sperber: Wie eine Träne im Ozean. Romantri- Gerd Stein / E. H. Schallenberger (Hrsg.): Schulbuchana- logie 129 lyse u. Schulbuchkritik. Juden, Judentum u. Staat Israel Elie Wiesel: Der Schwur von Kolvilläg 130 [s. u. Ib] 121 Cl. Thoma (Hrsg.): Zukunft in d. Gegenwart. Wegwei- IV Zionismus und Staat Israel sungen in Judentum u. Christentum. Sammelband 122 W. Trutwin: Licht vom Licht. Religionen in unserer Welt 123 Franz Böhm: D. dt.-israelische Abkommen 1952 131 J. v. Uthmann: Doppelgänger, du bleicher Geselle. Z. Willy Guggenheim: 2 30mal Israel 131 Pathologie d. dt.-jüd. Verhältnisses 124 Israel Mappe hrsg. von Puah Menczel-Ben Tovim 133 Una Sancta 31. Jg. 1976, Heft 2, S. 89-172 137 Jerusalem Mappe (s. o.) 133 Eric Werner: The Eucharist in Hebrew Literature during Paul Löffler: Arabische Christen im Nahostkonflikt. the Apostolic and Postapostolic Epoch in: Jewish- Christen im politischen Spannungsfeld 132 Catholic Dialogue (Aus: Journal of Ecumenical Studies Golda Meir: Mein Leben 134 [s. o.]) 137 Janusz Piekalkiewicz: Geschichte der israelischen Geheim- IIb Christlich-jüdische-muslimische dienste und Kommandounternehmen 135 J. Schoneveld: The Bible in Israeli Education. A Study of Beziehungen Approaches to the Hebrew Bible and its Teaching in Concilium 12. Jg. Heft 2 Februar 1976 136 Israeli Educational Literature [s. u. IIa] 136 H. A. Fischer-Barnicol: Wortwechsel oder Gespräch? Be- G. Stein / E. H. Schallenberger (Hrsg.): Schulbuchanalyse denken zur Begegnung d. Kirche mit dem Islam in: u. Schulbuchkritik. Juden, Judentum u. Staat Israel Una Sancta 31. Jg. 1976. Heft 2 (S. 146-162) 137 [s. u. Ib] 121 F. v. Hammerstein: Von Vorurteilen z. Verständnis [s. u. Wir wollen Frieden. Bilder u. Gedichte von jüd. u. arab. Ib, IIa] 115 Kindern aus Israel (bei Herder) 136 I Wie in den vorangegangenen Rundbriefen ist im vorliegenden Heft unter den gleichen Hauptgesichtspunkten, jeweils alphabetisch I geordnet, die darin verarbeitete Literatur verzeichnet, um deren Auffindung zu erleichtern. 20 Systematisches Register über den Inhalt Jg. XXVIII

Standortsangabe der Sparten siehe 3. Umschlagseite Seite 7 Partikularismus u. Universalismus aus jüd. Sicht, I. Aufsätze und Berichte Shemaryahu Talmon 33 8 Offenbarung, Judentum u. Christentum im Denken Franz Rosenzweigs. Bericht Georg Scherer [s. u I/II] 36 1/1. Bibel und Theologie Seite Zur Bibel, in »Der Ewige«, Franz Rosenzweig 39 1 B Aus einem Kommentar z. 10. Jahrestag von »Nostra 9 Versuchung des Glaubens. Jüd. Kritik des chr. Anti- aetate«, Nr. 4, Msgr. Charles Moeller [s. u. 1/4, 1/6, judaismus. Bibelarbeit über 1 Petr. 2, 5-7, Eberhard 12 Bethge D.D. [s. u. I/1, 1/6] 40 2 Der jüd.-chr. Dialog — eine Herausforderung f. d. Dt 6, 5, verdeutscht von M. Buber / Fr. Rosenzweig 45 Theologie?, Luc Dequeker 13 14 Die hebräische Bibel in d. israelischen Erziehung u. 3 Ökumenische Theologie u. Judentum. Gedanken z. Bibelpädagogik von J. Schoneveld. Buchbericht. Nichtexistenz, Notwendigkeit u. Zukunft eines Michael Krupp [s. u. I/10] 60 Dialogs, H. H. Henrix [s. u. 1/6] 16 9 Versuchung des Glaubens. Zur Kritik des christlichen 1/4. Kirche und Synagoge Antijudaismus. Bibelarbeit über 1 Petrus 2, 5-7, ge- 1 A Rabb. Henry Siegman, Synagogue Council of halten vor der Landessynode der Ev. Kirche im Rhein- America. 10 Jahre kath.-jüd. Beziehungen. Eine land, 14. 1. 1976, Eberhard Bethge D.D. [s. u. 1/3, 1/6] 40 Neubesinnung [s. u. 1/3, I/II] 3 1 B Zum 10. Jahrestag von »Nostra aetate«, Nr. 4, Char- 1/2. Katechese les Moeller [s. u. I/1, I/II] 12 10 Juden u. Judentum im christl. Religionsunterricht Einladung (Einführung z. Tagung), Ev. Akademie 1/5. Ökumene Arnoldshain u. Kath. Akadem. Aachen 43 Aus: Messianismus u. Utopie bei A. I. Kook, Rivka I Bilanz d. Reformbemühungen, Ingrid Maisch 44 Schatz-Uffenheimer [I/3] US 2 II »Zielfelderplan f. d. kath. Religionsunterricht« — 'Ökumenische Theologie u. Judentum. Z. Nichtexistenz, eine Chance f. d. jüd.-chr. Dialog? Hildegard Notwendigkeit u. Zukunft eines Dialogs, H. H. Henrix Gollinger 46 [s. u. 1/1] 16 1/3. Jüdische Geschichte und Judentum 1/6. Christen und Juden Aus: Messianismus u. Utopie bei A. I. Kook, Rivka 1 A 10 Jahre kath.-jüd. Beziehungen [s. u. I/1, 1/3, Schatz-U ffenheimer [s. u. 1/5] US 2 1/4, I/II] 3 1 A 10 Jahre kath.-jüd. Beziehungen. Eine Neu- 1 B Zum 10. Jahrestag von »Nostra aetate«, Nr. 4 [s. u. besinnung. Ansprache, Rabb. Henry Siegman [s. u. I/1, 1/2, 1/4] 12 I `II] 3 3 Ökumenische Theologie u. Judentum, H. H. Hen- 2 David Flusser z. 60jährigen Geburtstag. Eine rix [s. u. I/1, 1/5] 16 fragmentarische Biographie, Clemens Thoma 27 4 David Flusser z. 60jährig. Geburtstag, Clemens 5 Was ist der Mensch? Predigt, Rabb. Jehoshua Amir 29 Thoma [s. u. 1/3] 27

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Seite Seite 6 Zwei Ansprachen 3 Theologie-Studium in Jerusalem I Papst Paul VI.: »... Im Geiste der Propheten I Studium Biblicum Franciscanum, Wolfgang El- werden Juden und Christen bereitwillig zu- pidius Pax OFM 69 sammenarbeiten.« Aus Ansprache, 24. II. 1976 32 II »Freisemester« im Josefshaus der Abtei Mariae II Mit den Juden von Marseille. Ansprache von Heimgang 1975/76, Otmar Maas [s. u. IV/6] 70 Kardinal Etchegaray anlässlich d. Einführung eines neuen Grossrabbiners, 4. 4. 1976, Kardinal IV/S. Ökumene Etchegaray 32 5 Neve Schalom. Begegnungsstätte für Juden, Christen 8 Offenbarung, Judentum u. Christentum im Denken und Muslimen 73 Franz Rosenzweigs. Bericht, Georg Scherer [s. u. 1/3, I/II] 36 IV/6. Christen und Juden 9 Versuchung des Glaubens. Zur Kritik d. chr. Anti- 1 10 Jahre Ökumenisch-Theologische Forschungsgemein- judaismus. Bibelarbeit üb. 1 Petr. 2, 5-7, Eberhard schaft in Israel, J. Schoneveld [s. u. IV/1, IV/11] 65 Bethge D.D. [s. u. I/1, 1/3] 40 2 Konferenz des JCCJ Juni 1976 in Jerusalem: Israel, 11 Die hebräische Bibel im puritanischen Neuengland. Bedeutung u. Wirklichkeit 68 Vortrag David Rudavsky [I/II] 51 3 Theologiestudium in Jerusalem 12 Im Gespräch mit Juden u. mit Israel, Albert J. I Studium Biblicum Franciscanum, W. E. Pax Rasker [s. u. 53 IV/1] 69 II »Freisemester« im Josefshaus der Abtei Mariae 1/9. Sühne und Wiedergutmachung Heimgang, Otmar Maas [s. u. IV/1] 70 6 Zu Ehren Martin Bubers 74 Reinhold Schneider, aus: Requiem 12 IV/10. Staat Israel 1/10. Staat Israel 4 »Gute Zäune« schaffen gute Nachbarn I Israels »Gute-Zäune«-Politik gegenüber dem 13 Die Haltung Israels gegenüber Staat, Land und Volk, Rabb. Andrg Neher 56 Libanon 71 14 Die hebräische Bibel in d. isr. Erziehung u. Bibel- pädagogik von J. (Coos) Schoneveld. Buchbericht, IV/11. Kirche und Christen in Israel — Kirche und Michael Krupp [s. u. 1/3] 60 Israel 1 10 Jahre Okumenisch-Theologische Forschungsgemein- schaft in Israel, J. Schoneveld [s. u. IV/1, IV/6] 65 VII. Tagungen IV/14. Juden und Araber 4 »Gute Zäune« schaffen gute Nachbarn 71 1 A 10 Jahre kath.-jüd. Beziehungen, Rabb. Siegman Fotos von einem Ausflug am 23. 1. 1977 zum »Guten [s. u. I/1, 1/3, 1/4, 1/6] 3 Zaun« 72 1 B Zum 10. Jahrestag von »Nostra aetate«, Nr. 4, II 12 Libanesinnen lernen Iwrit im Ulpan Chanita 73 Msgr. Charles Moeller [s. u. I/1, 1/4, 1/6] 12 III Libanesen besuchen Jerusalem mit Hilferuf an 8 Offenbarung, Judentum u. Christentum im Denken Papst Paul VI. 73 Franz Rosenzweigs. Bericht, Georg Scherer [s. u. 1/3, 1/6] 36 10 I Juden u. Judentum im chr. Religionsunterricht. Bilanz der Reformbemühungen, Ingrid Maisch 44 VI. In memoriam 11 Die hebräische Bibel im puritanischen Neuengland. Vortrag anlässl. 200jährig. Jubiläums der USA, Zum Gedenken an Pfarrer i. R. Adolf Freudenberg. David Rudavsky [s. u. 1/6] 51 Ansprache am 12. 1. 1977 in der ev. Kirche Bad Vilbel- Heilsberg, Pfarrer Martin Stöhr 74 IV Letzter Gruss von Jul. Kard. Döpfner 139 III. Aussprache VII. Aus unserer Arbeit Replik an David Flusser, Johannes M. Oesterreicher 63 V11/6. Christen und Juden II Grundsteinlegung, Haifa, 24. 1. 1977 138 IV. Rundschau VII/11. Kirche und Christen in Israel — Kirche und Israel IV/1. Bibel und Theologie I Altenwohnheim für NS-verfolgte Christen in Israel 1 10 Jahre Ökumenisch-Theologische Forschungsgemein- (Nahariyya) 138 schaft in Israel, J. Schoneveld [s. u. IV/6, IV/11] 65 V Dank des FR 139

21 Personenregister Jahrgang XXVIII*

Das Personenregister umfasst alle Namen einschliesslich der Namen und Autoren aus dem Alten Testament und Neuen Testa- ment, jeweils nachgewiesen mit Seitenangabe. Berufsbezeichnungen oder Titel sind soweit übernommen, als es der eindeutigen Bestimmung von Personen dienlich ist. Statt des im Deutschen gebräuchlichen ß ist das international übliche ss verwendet. Vornamen sind bei neuzeitlichen Namen nachgestellt, bei Namen des Altertums oder Mittelalters ist hingegen die natürliche Wortfolge beibehalten oder der bekannteste Teil des Namens vorangestellt. — Für arabische oder hebräische Namen ist die Schreib- weise verwendet, in der sie am häufigsten im FR erscheinen. — Nicht in allen Fällen konnte der Vorname angegeben werden.

Abel (Habel, AT) 35, 85, 111 Adenauer, Konrad 99, 118 f., Agus, Jacob B. 5 Albrecht, Dieter 125 Abbahu, Rabbi 121 131, 134 Ahrens, Erich 111 Alexander-Crompton, Mary Abraham (AT) 10, 14 f., 24, 31, Adler, Alfred 129 Ajamian, Erzbischof, arm.- 101 61 f., 76, 89, 114, 120 Adler, Israel 112 orth. 67 Alexander von Aphrodisias 97 Adam (AT) 35, 82, 120 Adler-Rudel, Shalom 111 f. Akiba, Rabbi 58, 64, 121 Al-Gali, Schalom 73 Adams, Hannah 52 Adorno, Theodor W. 88 Albertz, Rainer 76 Allerhand, Jacob J. 106

* Für »IMMANUEL« werden später separate Register hergestellt.

142 Allon, Yigal 133 Black, Matthew 110 Dietrich, Gabriele 24 Gersonides (Levi ben Gerschon Altmann, Alexander 94, 101, Blank, Sheldon 79 Dietze, Herta 128 RaLBaG), 111 Blankenstein, Baron v. 112 Dinkler, Erich 77 f. s. u. Ben Gerson Ambrosius von Mailand 100 Blau, Bruno 128, 138 Diodorus 109 Gerstein, Kurt 126 Amir, Jehoshua 29, 36, 38 f. Blau, Ludwig 105 Dirks, Walter 27 Gesenius, Heinrich Friedrich Amos (AT) 61, 80, 90 Bleeker, Jouco C. 34 Döpfner, Julius, Kardinal, Wilhelm 52 Angles, Iginio 112 Bleich, David J. 97 Erzbischof 118, 139 Gideon (AT) 51. 83 Apio 109 Blet, Pierre 125 Doeve, J. W. 110 Gifford, William 52 Appel, Gersion 94 f. Blidstein, Gerald 9 Dohm, Christian Wilhelm 101, Gilbert, Felix 101 Apulejus 110 Blumenkranz, Bernhard 40 103 Goebbels, Josef 127 Aretin, Karl Otmar Blumenthal, David R. 108 Dositheus 121 Goes, Albrecht 113 f. Freiherr v. 125 Blumenwitz, Klaus 131 Dostojewski, Fedor M. 130 Goethe, Johann Wolfgang v. Ariadne 83 Böhm, Franz 131 Drabek, Anna 98 103, 111, 113 Aristoteles 97 Böswald, Rupert 94 Dubois, Marcel (Jacques) OP Goitein, Schlomo Dov 62 Aschkenasi, Eliezer, Rabbiner Bogaert, Pierre M. 13, 110 68 f. Goldschmidt, Daniel 111 24 Bokser, Baruch 121 Dudley, William 52 Goldschmidt, Hermann Levin Aschkenasi, Isaak Luria 109 Bonhoeffer, Dietrich 43, 63 f. 22, 82, 114 f. Aseneth (AT) 110 Bonhoeffer, Emmi 13 Eckert, Willehad Paul OP 7, 14, Goldstein, Israel 68 Askenasy, Rabbiner 42 Books, Sabra 136 17, 19, 21, 23, 25 f., 36, 44, 46, Goldstein, Jonathan 120 Asmussen, J. P. 112 Bousset, Wilhelm 108 135 Goll, Yvan 94 Asriel 130 f. 1 Boyd, Alexander 101 Edom (AT) 58 Gollinger, Hildegard 43, 46 Augustinus 40 Bradford, William 51 Ehimshelewitch, Jizchakk 135 Gollwitzer, Helmut 79, 81 Azriel von Gerona 107 f. Bradstreet, Dudley 52 Ehninger, Georg 133 Gordan, Paulus OSB 82 f., 114, Brandt, Willy 134 Ehrenberg, Rudolf 22 130, 136 Ehrlich, Ernst L. 23 f., 36, 38, Bach, Hans L 95 Brassloff, Fritz 68 Gotto, Klaus 131 92, 95, 102 f., 109, 125, 127 Bach, Johann Sebastian 113 Braude, William 121 Gottschalk, Alfred 139 Eichmann, Adolf, SS-Ober- Bacharach, Jair Chajim, Brocke, Edna 97 Gradenwitz, Peter 112 sturmbannführ. 28, 85, 135 f. Rabbiner 24 Brocke, Michael 50, 80, 83, 94, Grässer, Ernst 84 Baeck, Leo, Rabbiner 42, 47, 96, 98, 101, 109 ff., 121 Einstein, Albert 112 Graetz, Heinrich 106 Elchinger, Leon Arthur, Bischof 65, 92, 111, 118, 139 Brod, Max 97 Graham, Robert A. 125 103 Balaam (AT) 53 Broyce, Mary 121 f. Grant, Robert M. 121 Elia ben Salomo, Gaon v. Wilna Balthasar, Hans Urs v. 91 Brunner, Robert 27 Graupe, Heinz Mosche 102 58, 106 Bamberger, S. 48 Buber, Martin 23, 29, 34, 42, Green, Martin 97 Elija (Elias, AT) 108, 120 Bar, Ruth 133 45, 47, 56, 59, 64, 74, 79, 91, Green, William Scott 121 Eliot, T. S. 34 Bar-Kochba, Simeon 58 102, 111 f., 113 f., 121, 124 Greenberg, Gershon 112 Elisa (AT) 120 Barrabas (NT) 93 Bultmann, Rudolf 77 f., 85 Greive, Hermann 103, 108, 111 Bunsen, J. C. v. 95 Eloni, Y. 103 Greshake, Gisbert 88 Bartenoura, Obadia, Rabbi 58 Elvers, Rudolf 101 Barth, Karl 4, 13, 16 ff., 20, 23, Burchard, Christoph 110 Gressmann, Hugo 108 Emden, Jacob 24 27, 64, 133 Burckhardt, Carl J. 113 Gröber, Conrad, Erzbischof 126 Burkill, T. A. 119 Ephraim, Veitel Ephraim 101 Grözinger, Karl E. 105 Baruch (AT) 110 Esra (Ezra, AT) 58, 70, 125 Baumgarten, Albert 120 Burrow, Millar 79 Gross, Otto 97 Burzio, Giuseppe 126 f. Etchegaray, Roger, Erzbischof Grossmann, Gabriel OP 70 Baumgarten, Sigmund Jakob 32 101 Buse, Adolf 43 Grüber, Heinrich 99, 128 Eva (AT) 35 Grünewald, Max 111 Baumgartner, Walter 89 Ezechiel (AT) 80 f., 83 Bea, Augustin SJ, Kardinal 10 Calvin, Johannes 55 Guardini, Romano 107 Becker, Joseph 125 Carossa, Hans 102, 113 Feiner, Johannes 26 Guggenheim, Willy 131 Becker, Jürgen 76 Casper, Bernhard 13, 36 ff., 78 Feldman, Louis 121 Gunning, Johannes Hermanus Bein, Alex 111 Cecil, L. 103 Ferdinand der Gütige 27 54 Ben Chorin, Schalom 70 Celan, Paul 38 Field, Geoffrey G. 111 Ben Dosa, Haninah 111 Cham (AT) 120 Fisch, Harold 7 Häsler, Alfred A. 114 Ben Gerson (Gersonides) 97 f. Chamberlain, Houston Stewart Fischer, Per 138 Haggai (AT) 81 Ben-Gurion, David 60, 99, 118, 111 Fischer-Barnicol, Hans 113, 137 Hahn, Ferdinand 77, 85 f. 135 Chasan, Jaffa 73 Flavius Josephus 109, 120 f. Haimberger, Hans v. 101 Ben Hananiah, Joshua 121 Chouraqui, Andre 32 Flesseman-van Leer, Ellen 4, 56, Halder, Alois 78 Ben Israel, Menasse, Rabbi 106 Cicero 109 137 Halevi, Juck 57, 59 Benjamin, Walter 112 Coccejus, Johann 53 Flusser, David 17, 26 ff., 63 Hamann Joh. Georg 94 Benndorf, Friedrich Kurt 102 Cohen, Arthur A. 23 Flusser, Hannah 28 Hamburger, David 27 Ben Sakkai, Jochanan, Rabbi 58 Cohen, Gerson D. 111 Foerg, Irmgard 111 Hamburger, Ernest 112 Ben Sira s. u. Jesus Sirach Cohen, Hermann 38, 111 Fohrer, Georg 79 f. Hamburger, Mordechai 27 Ben-Zakkai, Jochanan, Rabbi Cohn, Hertha 111 Fontane, Theodor 113 Hamm-Brücher, Hildegard 133 s. u. Ben Sakkai Colpe, Carsten 112 Forster, Karl 79 Hammerstein, Franz von 25, Benz, Richard 102 Conzelmann, Hans 76 Fournier, Marie-Helene 13 115, 137 Bergheim, Hans-Arnold 83 Costa, Isaak da 54, 56 Frank, Ludwig 129 Hamp. Vinzenz 51 Bergman, Elsa 111 Crenshaw, James L. 79 Fransen, Piet 13 Harrelson, Walter 79 Bergman, S. Hugo 111 Croner, Helga 3, 20, 36 Frerichs, Ernest 120 Harris, James F. 112 Bergner, Karlhermann 59 Cullmann, Oskar 77, 80 Freud, Sigmund 97 Hauser, Martin 98 Bergren, Richard Victor 77 Cyrill von Alexandria 100 Freudenberg, Adolf 74 f. Häusler, Wolfgang 98 Berkhof, Hendrik 56 Friedländer, Albert 44 Hectataeus von Abdera 109 Bernays, Isaac 95 Daia, Maximin 121 Friedrich II., König von Hegel, Georg Wilhelm Friedrich Bernays, Jacob 95 f. Dajan, Moshe 135 Preussen 101 38, 78 Berrigan, Daniel 8 Daleh, Boutros 74 Friedrich, Gerhard 76 Hehl, Ulrich v. 125 Berstermann, Peter 138 Daniel (AT) 110, 125 Friedrich, Johannes 81 Heinemann, Joseph 99 f. Bethge, Eberhard 40 Danielou, Jean 120 Furger, Franz 22 Heidegger, Martin 37 Betz, Otto 24 Dante, Alighieri 33 Hellwig, Monika K. 17, 137 Beutler, Johannes SJ 45 David (AT) 51, 58, 77 Gamm, Hans-Joachim 48 Hemker, Elisabeth 68 Bickerman, Elias 120 David, Annie 98 Gaon von Wilna, s. u. Elia b. Hengel, Martin 24, 81, 83 f. Bilderdijk, Willem 54, 56 Davies, Alan 21 Salomo Henrix, Hans Hermann 14, 16, Billerbeck, Paul 108 Degner, Helmut 134 Gay, P. 103 23, 26, 43 f., 46, 107, 124, 137 Binder, Hartmut 96 f. Dehandschutter, B. 110 Geense, Adriaan 86 Hensel, Fanny 101 Birnbaum, Eduard 112 Delcor, Mathieu 110 Geiger, Abraham 105 f. Hensel, Wilhelm 101 Biser, Eugen 91 Demann, Paul NDS 13, 27 Geis, Robert Raphael, Rabbiner Herder, Joh. Gottfr. v. 94 Bismarck, Klaus von 27 Demetrios 120 17, 49, 123 Herford, Travers R. 47 Bismarck, Otto Fürst v. 96 Dequeker, Luc 13 Gerson-Kiwi, Edith 112 Herodes 109

1 Imaginärer Name eines einzig überlebenden des symbolischen Namens der jüdischen Gemeinde von Kolvilläg.

143 Herodot 109 Käsemann, Ernst 81, 85 Liebeschütz, Hans 111 f. Michel, Otto 84 Herrmann, Reinhard 77 Kafka, Franz 96 f., 111 Lightstone, Jack 121 Miskotte, Kornelis Heiko 55 f., Herrmann, Siegfried 137 Kafka, Georg 75 Limbeck, Meinrad 26, 65, 82 63, 86 Hertzberg, Arthur 8 Kain (AT) 35, 85, 111 Littell, Franklin H. 117 Misrahi, Robert 24 Herzl, Theodor 7, 134 f. Kaiser, Odilo OP 77 f., 80, Löffler, Paul 132 Modena, Leon da 101 f. Heschel, Abraham J. 4, 59, 107 84 f., 88, 90, 92, 94, 113, Lohfink, Gerhard 88 Moehring, Horst 120 Hess, Moses 111 115 f., 123, 136, 138 Lohfink, Norbert SJ 17 Moeller, Charles 12 Heuss, Theodor 99 Kant, Immanuel 31, 37, 94, 101 Lohmeyer, E. 84 Möller, Joseph 78 Hieronymus 100 Karamasow, Ivan 131 Lonergan, Bernard 86 Mörike, Eduard 113 Higgins, George 6 Kastning-Olmesdahl, Ruth 45 Lovsky, Ferdinand 13, 33 Mombert, Alfred 102 Hiob (Ijob, AT) 61 f., 76, 79, Kattermann, Hildegard 128 f. Lowenstein, S. M. 112 Mommsens, Theodor 96 94, 97 Katz, Jacob 24 Lowenthal-Hensel, Cecile 101 Monis, Judah 52 Hiram (Chiram, AT) 73 Kauffungen, Kunz v. 99, 119 Luckner, Gertrud 72, 74 f., 99, Monod, Jacques 78 Hirsch, Samson Raphael 123 Kerrl, Hanns 125 107,112, 126,128, 131, 138 f. Moore, George F. 34 Hirsch, Samuel 112 Kersten, Paul 102 Ludwig IX., König v. Frkr. 57 Moses (AT) 5, 14, 24, 33, 35, 40, Hitler, Adolf 28, 41, 102, 118, Kertelge, Karl 85 f. Lüth, Erich 118 f. 42, 45, 47 f., 51, 54, 58, 60 f., 124, 126 f. George Khodr, griech.-orth. Lukas, Evangelist 33, 79, 82, 65, 77 ff., 83, 89, 91, 101, 103, Hochheimer, Wolfgang 106 Metropolit 132 93, 119 f., 137 111, 121, 124, 137 Hochhuth, Rolf 125 Khuri, Mazal 133 Lukaschek, Hans 139 Moses Maimonides 51, 95, 97 f., Hochstaffl, Josef 91 f. Kierkegaard, Sören 37 Lukrez 95 101, 112, 124 Hoffmann, Banesh 112 Kilian, Rudolf 78 Luther, Martin 19 Moses Nachmanides 58, 95, 117 Hofius, Otfried 84 Kinet, Dirk 86, 137 Luzzato, Moses Hayyim 58 Moses, Siegfried 111 Holdhein, Theodor 74 Klappert, Bertold 45 Mosis, Rudolf 89 f. Hoornbeek, Johannes 53 Klein, Charlotte NDS 16, 21 Maas, Otmar 71 Mosse, Werner E. 103 Horkheimer, Max 111 Klein, Günter 20, 81 Maas, Wilhelm 91 f. Mozart, Wolfgang Amadeus Hornig, Ernst, Altbischof 98, Klemens XIII., Papst 43 Maass, Hans-Joachim 134 113 128 Klinger, E. 27 Macaulays, Thomas 52 Müller, Contardo OFM 104 Hosea (Ossee, AT) 40, 42 f., 58, Koester, Helmut 119 MacLeod, C, 136 Muench, Alois, Kardinal 118 79 f. Kohlbrügge, Hermann Friedrich Maglione, Kardinal 126 Muffs, Yochanan 120 Houtart, Franois 13 54 f. Magonet, Jonathan 137 Mussner, Franz 20, 26, 65, Howard, Samuel 51 Konrad, Joachim 45, 128 Mahler, Gustav 112 85 ff., 137 Hruby, Kurt 17, 24 Konstantin d. Gr. 54 Maimonides, Moses s. u. Huchet-Bishop, Claire 14, 69 Kook (Kuk), Abraham Isaak, Moses Maimonides Nachmanides s. u. Moses Hüssler, Georg 139 Oberrabbiner US 2, 9, 24, Maier, Hans 131 Nachmanides Humboldt, Alexander v. 101 102, 122 f. Maier, Johann 16, 24, 27, 47, Nahodil, Ottokar 88 Hussar, Bruno OP 73 f. Koopmans, Jan 55 104, 122 f. Nathan von Gaza 109 Hyatt, David 69 Kortzfleisch, Siegfried von 17, Maisch, Ingrid 43 f. Nave, Pnina 49, 103 Hyatt, J. Philipp 79 21 f. Maleachi (AT) 35, 81, 91 Naxos, Juda von 58 Kovacs, Brian 79 Malebranche, Nicolas de 29 Nehemia (AT) 58, 70 Ibn Adret, Salomon 101 Kracauer, Siegfried 112 Manetho 109 Neher, Andr6, Rabbiner 21, Idelsohn, Abraham Zwi 112 Kraft, Robert 121 Mann, Thomas 113 32 f., 56 Illies, Joachim 85 Kraus, Hans Joachim 27 Maor, Harry 23 f. Neuhäusler, Engelbert 78 Ilsar, Yehiel 131 f., 136 Kremers, Heinz 44 f., 122 Marcel, Gabriel 38 Neusner, Jacob 119, 121 Isaac, Jules 13 Kreutzberger, Max 111 Margalioth, Mordecai 104 f. Nicolaus von Damaskus 109 Isaak (AT) 61 f. Kries, Angela v. 139 Maria s. u. Mirjam (Miriam) Nicolini, Giuseppe Placido, Isenberg, Sheldon 120 Krochmal, Nachman 9 (NT) 54, 83, 132 Kardinal 99 Ismael (AT) 58, 121 Kroon, K. H. 55 Maritain, Jacques 6 Niederwimmer, Kurt 87 Isserlein, Israel, Rabbi 101 Krupp, Michael 60, 70 Markus, Evangelist 82, 93, 119 Nietzsche, Friedrich 78 Isser, Stanley 121 Kühner, Hans 100 Martin-Achard, R. 89 Niggemeyer, Jens-Heinrich Kümmel, Werner Georg 19 Martini, Angelo 125 104 f. Jacobi, F. H. 94 Küng, Hans 83, 115 f. Marquardt, Friedrich-Wilhelm Noach (AT) 9, 53, 120 Jacobs, Louis 101 Kürzinger, Josef 51 17 f., 20 f., 27, 81 Nobel, Anton 111 Jacobus d. Ältere (Zebed. NT) Küstermeier, Rudolf 118 f. Marwedel, Günter 102 Nolte, Josef 86 14, 40, 91 Kuh, Anton 97 Marx, Karl 111, 124 Masaryk, Thomas 28 James I., König von England 51 Kuss, Otto 81 Obadja (AT) 80, 112 Matenko, Percy 112 Jannai, R., Rabbi 100 Kwiet, Konrad 112 Oesterreicher, Johannes M. Mather, Cotton 51 f. Jaspers, Karl 83 Kyros, König 58, 110 9, 17, 63, 65 Jastrow, Marcus 106 Matthäus, Evangelist 14, 19, Ofek, Uri Uriel 136 Jay, Martin 112 46 f., 49, 82, 93 011endorf, Franz 58 Jeremia (AT) 14, 61, 79 ff., 110 Landes, David S. 111 May, Herbert 79 Lang, Paul 122 Olsen, Bernhard 8 Jeremias, Joachim 76, 84, 103 Mayer, Michael A. 105 Oppijck, Constantin Jesaja (AT) 36, 40, 57, 76, 79 ff., Lapide, Pinchas E. 45, 83, Mayer, Reinhold 48, 94 115 ff. L'Empereur van 53 114, 119 f., 130, 136 McCarthy, Dennis J. 79 Orsenigo, Cesare, Nuntius Lasker, Eduard 112 Meeks, Wayne 120 Jesus Sirach 96 126, 128 Lassoe, J. 112 Meir, Golda 40, 133 ff. Jochmann, Werner 103, 111 Oz, Amos 131 Joerger, Kuno 139 Lauer, Simon 122 Meir, Rabbi v. Rothenburg 101 Jochum, Herbert 44 ff., 48 Lavater, Joh. Kaspar 94 Me'iri, Menachem ha, Rabbi Johannes (Apk) 83 Lehmann, James H. 112 9, 24 Pacelli, Eugenio, s. u. Pius XII. Johannes (Evangelist) 14 f., 19, Leiber, Robert 125 Melchisedek (AT) 89 Pannwitz, Rudolf 102 38, 46, 64, 77, 80, 82, 87, 93, Leibniz, Gottfried Wilhelm v. Mencken, H. L. 52 Parkes, James 17 120, 137 101 Menczel, J. S. 133 Passelecq, Georges 13 Johannes der Täufer 23, 80 Leibowitz, Nehama 62 Menczel, Puah 133 Paucker, Arnold 103, 111 Johannes XXIII., Papst 126, 128 Lemercinier, Genevieve 13 Mendelssohn, Georg Benjamin Paul VI., Papst 11, 32, 73, 100 Johannes Chrysostomus 40 f., Lengsfeld, Peter 16, 17 101 Paulsen, Henning 88 100 Lentzen-Deis, Fritzleo 86 Mendelssohn, Josef 101 Paulus, Apostel 14 f., 19 ff., 26, Johnson, Samuel 52 Lessing, Gotthold Ephraim Mendelssohn, Moses 9, 60, 94, 29, 32 f., 38, 40, 47 f., 50, 52, Johnson, Sherman 120 94, 101 101, 111 55, 62, 64 f., 76 ff., 81 f., 84, Joseph (AT) 110 Levi, Aaron ha, Rabbi 95 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 86 ff., 120 f., 124, 137 Joseph (NT) 116 Levine, Baruch 120 101 Pauwels, C. F., OP 22 Josua (AT) 51, 61, 136 Levine, Lee 121 Mendelssohn-Bartholdy, Karl Pax, Wolfgang Elpidius OFM Judas (NT) 40 Levinson, Nathan Peter, 101 69 Judas Iskariot 82 Rabbiner 17, 19 ff., 69, 137 Metzger, Mendel 107 Peli, Pinchas 69 Jünemann, Anne 138 Levy, Josef 73 Meyer, Heinrich Aug. Wilh. 77 Pelli, Moshe 112 Jürgensmeier, Friedhelm 125, Levy, M. A. 106 Micha (AT) 35 f., 81 Peres, Shimon 73 127 Lewy, Hans 28, 109 Michaelis-Stern, Eva 111 Pesch, Rudolf 86

144 Petrus, Apostel 40 ff. Rotenstreich, Nathan 111 Schmidt, Peter 24 Toynbee, Arnold 112 Petuchowski, Elizabeth R. 106 Roth, Leo 49 Schmidthüs, Karlheinz 139 Toynbee, Philip 114 Petuchowski, Jakob J. 17, 22, Roth, Joseph 111 Schnackenburg, Rudolf 86 Touati, Charles 97 24, 49 f., 99 f., 105 ff. Ruckstuhl, Eugen 122 Schneider, Burkhart SJ 125, 127 Trepp, L. 48 Pfammatter, Josef 22 Rudavsky, David 51 Schneider, Reinhold 12 Trutwin, Werner 77, 121 ff. Pfisterer, Rudolf 85, 107 Rudolph, Kurt 121 Schocken, Salman 111 Tsevi, Sabbatai 58 Philemon (NT) 76 Rürup, Reinhard 103, 111 Schoenberg, Arnold 112 Tur-Sinai, N. H. (Harry Philo von Alexandria 76, 79, 96 Ruether, Rosemary 11, 20, 41 f. Schoeps, Hans Joachim 17 Torczyner) 33, 51, 83 Philonenko, Marc 110, 120 Ruler, Arnold A. van 55 Schoeps, Julius H. 101 Picard, Max 113 Runciman, Stephen 41 Scholem, Gershom (Gerhard) Uffenheimer, Benjamin 122 f. Piekalkiewicz, Janusz 135 Ruppin, Arthur 111 23, 25 f., 27 f., 105 f., 108 f., Unnik, Willem Cornelis van Pierson, Ruth 111 123 110 Pinsker, Leo 134 Sabbatai Zwi 108 f. Schoneveld, Jakob (Coos) 60 ff., Urbach, Ephraim E. 111 Pius V., Papst 43 Sacharja (AT) 81 65 Urbanek, Walter 42 Pius X., Papst 7 Sachs, Nelly 94 Schoneveld, Ellen 60 Ussa (AT) 77 Pius XII., Papst 125 ff. Sänger, Fritz 118 Schoors, Antoon 13 Uthmann, Jörg von 124 f. Plato 36 Safrai, Shmuel 29 Schrage, Wolfgang 81 Plinius d. Ältere 109 Schreiner, Josef 47 Safran, A. 24 Vajda, Georges 107 Plutarch 109 Salomo ben Isaak, Rabbi (s. u. Schubert, Franz 112 Pöhlmann, Wolfgang 81 Schubert, Kurt 47, 98, 120 Varnhagen, Rahel 112 Raschi) 61 Venjakob, Margarete 130 Pokrandt, Anneliese 77 Salomon (AT) 73, 77, 136 Schubert, Ursula 120 Poliakov, Leon 41, 107 Schütz, Christian 91 Vermes, Geza 110 f., 121 Polkes 135 f. Saltonstall, Gordon 52 Vespasian 58 Salzer, Israd 32 Schulin, E. 103 Pontius Pilatus 45, 93, 120 Schwartz-Bart, Andre 117 Verweyen, Georg-J. 36 Pordes, Kurt 69 Samuel (AT) 51, 77, 101, 122 Vielmetti, Nikolaus 98 Sanders, James A. 79 f., 119 f. Schwarz, Hans-Peter 131 Porphyrogenitus, Constantinus Schwarz, Walter 112 Vinet, Alexandre 54 Sanders, Wilm 137 109 Stadler, Ernst 42 Vischer, Lukas 26, 67, 115 Sandmel, Samuel 23, 79 Porton, Gary 121 Stalin, Josef 130 Visser t'Hooft, Willem 75 Potter, Philip A. 115 Santayana, George 42 Staritz, Charlotte 128 Voetius, Gisbertus 53 Prediger (Kohelet, AT) 79 Sarkis 73 Staritz, Katharina 128 Vogel, Werner 101 Preuss, Hugo 112 Sarna, Nahum M. 105 Steck, Karl Gerhard 27 Volk, Ludwig 125 Preysing, Konrad Graf v., Saul (AT) 51, 77 Stein, Edith (Teresia Vorgrimler, Herbert 128 Kardinal, Bischof 126 ff. Saussaye, Daniel Chantepie Benedicta a Cruce) 127 Vriezen, Th. C. 87 Psalmen [118, 22] 40, [1, 119 de la 54 Stein, Gerd 121 (118), 1-8] 47, [147, 18-20] Scaliger, Joseph 96 Steinberger, Brigitte 96 Scroggs, Robin 120 Wagner, Christian 113 50, [45] 54, [15; 24] 79, [84 Stemberger, Günter 24, 100 Wahle, Hedwig NDS 117 (85), 11; 67, 12; 68, 12; 68, Sed-Rajna, Gabrielle 107 f. Stendahl, Krister 115 Seegenschmiedt, Friedrich 121 Wallenberg, Hans 118 8] 83, [102, 28] 91, [34, 9] 137 Stenzel, Meinrad 51 Walter, Bruno 113 Ptassek, D. 47 Segre, A. 136 Stern, Menahem 109 Seligmann, Cäsar 105 Weber, Hans Rudi 67 Pulzer, Peter G. J. 103 Stern, William 111 Weber, Max 111 Severus, S. 96 Stiehm, Lothar 103 Sewall, Stephan 52 Weber, Otto 56 Quincy, Josia 53 Stiles, Ezra 52 Weber-Krebs, Frieda 82 f Sheaf, Sampson 53 Stinespring, William 79 Siegman, Henry, Rabbiner Weimar, Peter 76 f., 81 Stöhr, Martin 17, 19, 21, 43 f., Weininger, Otto 97 Rachab (AT) 136 3, 12 74, 134 Rad, Gerhard v. 90 Silbermann, Lou H. 79 Weiss Halivni, David 105 f. Stoevesandt, Hinrich 86 Weiss-Rosmarin, Trude 121 Rademakers, Jean 13 Simon, Akiva Ernst 74 Stolt, Peter 40 Raffelt, Albert 113 Weizsäcker, Ernst v. 126 Simon, Arie 74 Strabo 109 Weltsch, Robert 103, 111 f. Ragaz, Leonhard 28 Simon, Marcel 41, 120 Straschun, Schmuel, Rabbiner Werblowsky, R. J. Zwi 21, 23, Rahner, Karl SJ 88, 128 Simpson, William W. 69 106 70, 109 Rasch, Hansjörg 129, 139 Sirat, Colette 107 Strauss, Eduard 111 Werfel, Franz 75 Raschi s. u. Salomo ben Isaak Sitrouk, Joseph, Rabbiner 32 Streicher, Julius 41, 125 Werner, Eric 112, 137 Rasker, Albert J. 53 Slachta, Margit 126 Strobel, August 76 f. Rauch, Wendelin, Erzbischof Smith, Jonathan 119 Westermann, Claus 76 Strolz, Walter 21, 24, 50 Wiesel, Elie 130 f. 118 Smith, Morton 119, 121 Stuhlmacher, Peter 81 Wigglesworth, Michael 52 Rauh, Fritz 78 Sockel, Walter H. 111 Stuhlpfarrer, Karl 98 Reichert 135 f. Wilckens, Ulrich 17, 26 Soloveitchiks, Joseph B., Wilcox, Max 120 Reichmann Eva G. 111 Rabbiner 4 Reinach, Theodore 109 Tacitus 109 Widengren, Geo. 34 Sombart, Nicolaus 97 Tal, Uriel 21, 23, 103, 115 Wiederkehr, Dietrich 122 Reissner, Hanns G. 101 Sperber, Manes 129 f. Rendtorff, Rolf 17, 20 f. Talmon, Shemaryahu 23, 33, Wilhelm II. 103 Spinoza, Benedictus (Baruch) 36, 38, 70, 115 Wilhelm, Kurt, Oberrabbiner Rengstorf, Karl Heinrich 17, de 58 21 f., 110 Tardini, Kardinalstaatssekretär 24 Suleiman, Sultan 58 126 Willis, John T. 79 Repgen, Konrad 125, 131 Szondi, Leopold 85 Reuchlin, Johannes 25 Tavor, Moshe 118 f. Winter, Paul 92 ff. Schäfer, Peter 108, 122 Teresia Benedicta a Cruce Winthrop, John 51 Ribkes, Mose, Rabbiner 24 Schaeffler, Richard 36 f., 39 Richthofen, Else 97 s. u. Stein, Edith Wittekindt, Ernst 53 Richthofen, Frieda 97 Schallenberger, E. Horst 121 f. Theisohn, Johannes 109 f. Wolff, Christian v. 101 Riedl, Johannes 88 Schatz, Werner 89 Theodosius I. 100 Wolff, Hans Walter 79 Riegner, Gerhard 75 Schatz-Uffenheimer, Rivka Thieme, Hans 102 f. Wolffheim, Elsbeth 102 Riff, M. A. 112 24, 122 f., US 2 Thiema, Karl 40 f., 103, 129, Wolffheim, Hans 102 Rijk, Cornelius A. 17, 27, 136 Schatzker, Chaim 122 139 Wolfskehl, Karl 94 Rinn, Andraes v. 100 Scheffczyk, Leo 79, 86 Thimme, Eva-Maria 98 Wollheim, Norbert 118 Rinott, Chanoch 111 Schelkle, Karl Hermann 89 Thoma, Clemens SVD US 2, Wyschogrod, Michael 4 f., 23 Rinott, Moshe 112 Schelling, Friedrich Wilhelm 14, 17, 21 f., 24, 27, 46 f., 82, Joseph von 38 Ritschel, Friedrich 95 100, 108, 110, 115,117,122 f., Yaron, Kalman 74 Roncalli, Angelo G., Nuntius Scherer, Georg 36, 38 f. 125, 137 Schierse, Franz Joseph 23 Yehiel, Rabbi 57 (später Johannes XXIII.) Thomas von Aquin 77 Yishai, Ram 139 126, 128 Schlanger, Jacques 107 Thon, Osias 105 Ropertz, Hans Rolf 75 Schlatter, Adolf 40 Thumscheidt, Martin 4 Rosenblüth, Pinchas E. 103 Schleiermacher, Friedrich Tieck, Ludwig 112 Zenger, Erich 94 Rosenstock, Werner 24, 111 Daniel Ernst 54 Timotheus (NT) 76 Zephania (AT) 80 Rosenstock-Huessy, Eugen 38 Schlösser, Manfred 75 Tiso, Joseph 127 Zim, Jaakov 136 Rosenthal, Erwin I. J. 17 Schmid, Hans Heinrich 90 Titus (NT) 76 Zimmerli, Walther 81 Rosenzweig, Franz 22, 24, 33, Schmid, Rudolf 122 Tillich, E. 13 Zinger, Zwi (Zvi) Garon 24 36 ff., 42, 45, 111 f. Schmidt, B. Martin 22 Touro, Isaac 52 Zink, Wolfgang 68 f.

145 Dokumente des heutigen religiösen Denkens 1111 111 0 und Forschens in Israel

Hebräische Veröffentlichungen aus Israel in deutscher Übersetzung

HERAUSGEBER: IMMANUEL V/1976 Jerusalem/Freiburg i. Br. Ökumenisch-Theologische Forschungsgemeinschaft in Israel und Freiburger Rundbrief in Zusammenarbeit mit: INHALT der Abteilung für Religionswissenschaft der Hebräischen Universität Jerusalem der »School of Jewish Studies« der Universität Tel Aviv I S. Hugo Bergman. Von Nathan Roten- dem »Israel Interfaith Committee« streich Ph. D., Professor für Philoso- dem Israel Büro des »American Jewish Committee« phie an der Hebräischen Universität Jerusalem 147 / IM 2

Redaktionelle Koordination II Jehoshua Meir Grintz zum Ange- denken.Von Dr. Benjamin Uffenheimer, Für 4 Fachbereiche mit je einem jüdischen und Professor für Bibelwissenschaft, Uni- christlichen Redakteur: versität Tel Aviv 149 / IM 4 Hebräische Bibel: Dr. Benjamin Utfenheimer, Pro- fessor für Bibelwissenschaft, Bibelabtlg. der Uni- versität von Tel Aviv — Professor Jacques-Ray- III Der Gekreuzigte und die Juden. Von mond Tournay OP, Ecole Biblique der Domini- Dr. David Flusser, kaner in Jerusalem Professor für das Judentum zur Zeit des Zweiten Tem- Neues Testament und zeitgenössisches Judentum: pels und für das frühe Christentum an Dr. David Flusser, Professor für Vergleichende Religionswissenschaft, Hebräische Universität Jeru- der Hebräischen Universität Jerusalem 152 / IM 7 salem — Dr. Michael Krupp, Beauftragter der Evan- gelischen Kirche Berlin für das Ökumenische Ge- spräch zwischen Christen, Juden und Moslems in IV Die Stellung des Zweiten Tempels im Jerusalem Leben des Volkes. Von Shmuel Safrai, Jüdisch-christliche Beziehungen in Vergangenheit Professor für jüdische Geschichte an und Gegenwart: Dr. Ze'ev W. Falk, Professor für der Hebräischen Universität Jerusalem 158 / IM 13 Familien- und Erbrecht, Hebräische Universität Jerusalem — Michael de Goedt OCD, Pfarrer der hebräischsprechenden röm.-kath. Gemeinde Jeru- V Der Sabbat im Staat Israel. Von Ehe- salem zer Schweid Ph. D., Professor der jü- Zeitgenössisches religiöses Gedankengut in Israel: dischen Philosophie an der Hebräischen Zwi Yaron (Zinger), Direktor der Public Relations Universität Jerusalem 165 / IM 20 and Press Department der Jewish Agency — Gabriel Grossmann OP, Haus St. Jesaja der Dominikaner, West Jerusalem VI Mischna-Geniza-Fragmente. Buchbe- Redaktionssekretär: Dr. Coos Schoneveld, Theolo- richt über drei Texteditionen. Von Dr gischer Berater in Jerusalem der Niederländischen Michael Krupp, Jerusalem 172 / IM 27 Reformierten Kirche

Für die deutsche Ausgabe: Dr. Gertrud Luckner, Dr. Clemens Thoma SVD, Professor für Bibel- wissenschaft und Judaistik, Theologische Fakultät Luzern

146 , /M 1 I Shmuel Hugo Bergman*/** Von Nathan Rotenstreich Ph. D., Professor für Philosophie an der Hebräischen Universität Jerusalem

Einer Beschreibung von Bergmans religiösem Denken was er dialogisches Denken nannte. Es ist in gewissem sollte eine kurze Darstellung des Klimas der vorherrschen- Grade die existentialistische Position. Es begann mit der den philosophischen Anschauung (climate of opinion) Begegnung mit Buber und dem jüdischen Denken der vorausgehen, das Bergman beeinflusste und an welchem er zeitgenössischen jüdischen Renaissance. Es traf sich ge- tatsächlich teilhatte. Die Prager Tradition philosophi- rade, dass Bubers »Drei Reden über das Judentum« in schen Denkens hatte einen tiefen Einfluss auf ihn. Ihr Prag vorgetragen wurden, wo Bergman lebte und sehr prominenter Vertreter Bernard Bolzano (1781-1848), der aktiv in der zionistischen Studentenbewegung »Bar römisch-katholisch war, entwickelte als zentrales Ideal Kochba« war. Bubers drei Vorlesungen vor dieser Hörer- den Begriff der »Wahrheit an sich«, ein Bereich der Wahr- schaft bewirkte die Begegnung zwischen ihnen, und der heit, der unabhängig ist von Sätzen, Urteilen und Darle- Kontakt setzte sich bis zu Bubers Tod in Jerusalem fort''. gungen des denkenden Subjekts. Dies ist irgendwie eine Dennoch bewahrte Bergman eine kritische Haltung Buber platonische Interpretation, nicht des Objektes, sondern gegenüber, die ihren Grund in der verschiedenen Deu- der Wahrheit, die behauptet, dass unsere Sätze nicht Be- tung religiöser Phänomene hattelb und nicht zuletzt auch deutungen entwerfen und in Kraft setzen, sondern dass in dem während seiner letzten zwanzig oder dreissig Jahre wir imstande sind, die Wahrheit zu erfassen, die in der Bergmans innewohnenden Drang oder Trend, sich in Rich- Struktur des Universums enthalten ist. Ein anderer Philo- tung auf eine strengere Beobachtung der Gesetze zu be- soph, der von der Prager Tradition herkam und Berg- wegen, die Buber nicht für zentral hielt, gemäss sei- man beeinflusste, war Franz Brentano (1838-1917). Auch ner Philosophie der Unmittelbarkeit. Nach Buber begeg- er war römisch-katholisch, brach jedoch mit der Kirche net der Mensch dem Göttlichen, aber für Gebote ist in wegen des Unfehlbarkeitsdogmas. Bergman arbeitete seiner Philosophie der Unmittelbarkeit kein Raum. In ständig mit ihm und führte mit ihm einen Briefwechsel, gewissem Grade trennten sich ihre Wege, trotz des sehr der nicht nur von biographischer, sondern auch von philo- grossen Einflusses, den Buber während ihrer engen Be- sophischer Bedeutung war'. Bergman wurde von der Be- ziehung über die Jahre hin auf Bergman ausübte. Das deutung beeinflusst, die Brentano dem zumass, was er führte ihn dazu, die moderne existentialistische (oder dia- »evidence« (Evidenz) nannte: Es gibt nicht nur Darle- logische) Philosophie im letzten von ihm veröffentlichten gungen im Bereich von Wissen und Erkennen, sondern Buch über die dialogische Philosophie von Kierkegaard auch im Bereich von Haltungen, Gefühlen, Liebe und bis Buber2, 2a, das demnächst in Englisch und Deutsch er- Hass, Ablehnung und Anziehung, die in sich selbst evi- scheinen wird, zu untersuchen. dent sind, so dass man sagen kann: Diese Haltung ist In diesem Buch, das zur Hälfte von Kierkegaard han- wahr: sie ist moralisch korrekt. Dies ist keine Angelegen- delt, zeigt Bergman seine Wertschätzung der Phänomene heit von Meinung, von reiner Beurteilung, noch in An- religiöser Erfahrung, die sich in jedem Zweig existentia- wendung eines utilitaristischen Kriteriums in bezug auf listischer Philosophie zeigen, der von der von Heidegger nützliche Auswirkungen einer solchen Haltung in der und Sartre eingenommenen Position verschieden ist. Berg- Geschichte der Menschheit. man bringt ein klares jüdisches Motiv zum Ausdruck, Ethischen Haltungen sind ihre Rechtfertigungen inhärent. wenn er in seiner Analyse Kierkegaards feststellt, dass der Umstände, wahrscheinlich Wandlungen in zu dem Klima Trugschluss des Existentialismus darin bestehe, dass er vorherrschenden Anschauungen (general climate of sich nur auf die unmittelbare Erfahrung berufe bzw. in opinion), brachten Bergman in die Nähe der Kantiani- ihr verharre, ohne zu einer klar umrissenen Lebensfüh- schen Tradition, durch Hermann Cohen und durch Paul rung zu führen (orach chayyim). Das Buch beruht auf Natorp, der ihn als religiöser und sozialer Denker be- Vorlesungen, die Bergman Jahre zuvor an der Hebräi- einflusste; ebenso durch Ernst Cassirer, über den Berg- schen Universität gehalten hat. Ich kenne keine andere man eingehend schrieb und mit dem er korrespondierte. dermassen gründliche Kritik an Kierkegaard, die sich auf Die Kantische Tradition lässt keinen Raum für Evidenz diese Konfrontation von Lebensführung, Lebensweise und im Sinne von Brentanos Position. Dennoch ist Bergmans unmittelbarer Erfahrung konzentriert. Sicher berührt sie Religionsphilosophie ein Versuch in Richtung auf eine auch eine Spannung in Bergmans eigenem Denken. Synthese zwischen Brentano und Kant, zwischen der re- Da wir es mit religiösem Denken zu tun haben, möchte ligiösen Überzeugung, die ihre eigene Evidenz in sich ich einen frühen Aufsatz erwähnen, den Bergman 1914

trägt, und der Analyse der Voraussetzungen der wissen- veröffentlichte, betitelt Kiddush - ha- Shem (Die Heiligung schaftlichen Weltanschauung, die die religiöse Weltan- Seines Namens). Dieser Begriff »kiddush ha-Shem« hat schauung einschliesst. in der jüdischen Tradition die Bedeutung totaler Hinga- Es gibt einen dritten Trend in Bergmans Denken, der sich be, den, sein Leben hinzugeben für die Sache Gottes. In in seinem späteren Leben entwickelte, das ihn zu der diesem Aufsatz gebraucht Bergman trotz vieler Zitate Intuition, die er anfangs hatte, zurückführte. Das ist das, " Vgl. u. a.: Martin Bubers dialogische Philosophie. Ein Vortrag 1 n : »Immanuel«, hrsg. als Originalbeitrag von der Ockumenisch- von Hugo Bergman, gehalten am 28. 6. 1965. In: FR XVI/XVII, Theologischen Forschungsgemeinschaft in Israel Nr. 6, Spring 1976 pp. Juli 1965, S. 65 ff. (Anm. d. Red. d. FR). 84-89. Aus dem Englischen übersetzt (Anm. d. Red. d. FR). lt' Vgl. dazu: Hugo Bergman an Martin Buber, [30. 5. 1949] in Überarbeitet aufgrund eines Vortrags, gehalten am 10. 12. 1975 FR XXVII/1975, S. 3 f. zum Gedenken an Shmuel Hugo Bergman bei einem Abend der 2 Mosad Bialik, Jerusalem 1974. »Rainbow Group«, einem ständigen Studienzirkel von jüdischen und S. Hugo Bergman: Die dialogische Philosophie von Kierkegaard christlichen in Jerusalem lebenden Wissenschaftlern. bis Buber. Hrsg. von Moshe Barant. Hebräische Universität Jerusa- 1 Veröffentlicht in »Philosophical and Phenomenological Research«, lem 1976, ca. 300 Seiten, Heidelberg, 1977. Lambert Schneider Vol. 7, September 1946, pp. 83-158. (= Phonesis. Eine Schriftenreihe. Bd. 1 [Anm. d. Red. d. FR]).

IM 2 147 aus der jüdischen Literatur durch die Jahrhunderte hin- an die Bergman sich mit Bezug auf seine religiöse Haltung durch »kiddush ha-Shem« nicht in der Bedeutung »Hin- und Religionsphilosophie wendet? Er betonte nachdrück- gabe« im Sinne einer Aufopferung seines Lebens, sondern lich die Beziehung zwischen religiöser Erfahrung und Of- im Sinne eines Antwortens auf die Heiligkeit Gottes; es fenbarung. Religiöse Erfahrung ist eine Begegnung mit ist die Antwort des Menschen an Gott. Zentral in dieser der transzendenten Wirklichkeit, die Erfahrung von et- Haltung der Heiligung ist die Aktivität des Menschen. was, das einer Person zukommt und das nur von >Evi- Der Mensch antwortet aktiv: Sein Selbstbewusstsein ist denz< (im Sinne Brentanos) bestätigt wird, seine Selbst- nicht vorwiegend — wenn wir diesen Ausdruck benützen Rechtfertigung, was bedeutet, dass er innerhalb seines in dürfen — geschöpfliches Bewusstsein, sondern es liegt in sich selbst geschlossenen Bereichs verbleibt. Bergman der Antwort an Gott. Der Schlussatz dieses sehr frühen nimmt die ernst, die religiöse Erfahrung beanspruchen, Artikels sagt, dass, seit Aktivität zentral ist, der Zionis- und hört aufmerksam auf sie. Auch von einem humanisti- mus ein neuer Ausdruck menschlicher Aktivität ist. Er schen Standpunkt aus hält er das für legitim, weil reli- macht Schluss mit dem passiven Dahintreiben der Juden giöse Erfahrung ein Humanum ist. auf dem Strom der Weltgeschichte, ermutigt sie aber, Aber wenn seine philosophische Voraussetzung, dass die selbst aktiv an ihr teilzunehmen. Der letzte Satz jenes Welt im Grunde mit Sinn erfüllt ist, zutrifft, dann wird Artikels lautet: »Der Zionismus ist unser Kiddush ha- Offenbarung möglich. Offenbarung ist dann eine be- Shem«, d. h. unsere Heiligung Seines Namens. Nur ein wusste Aufdeckung des Sinns. Der der Welt inhärente paar Sätze beziehen sich auf den Zionismus: Sie enthüllen Sinn wird artikuliert, formuliert und dem Menschen klar den Vorstoss des Aufsatzes in Richtung auf die vorgestellt. Bergman teilt nicht die Ansicht vieler reli- Schaffung einer Art von spirituellem Glauben, der das giöser Denker, Offenbarung ist nötig, weil die Welt Handeln der Juden in unserer Zeit leiten sollte. irrational ist; er nimmt an, dass Offenbarung möglich Der Aspekt der Aktivität wird von Bergman bisweilen ist, weil die Welt sinnvoll ist. Deshalb kann eine Be- >Humanismus< genannt. Humanismus hängt eng zusam- ziehung zwischen Erfahrung und Offenbarung bestehen. men mit dem Begriff des eigenen menschlichen Handelns Religiöse Erfahrung findet nicht in einem Vakuum statt, oder (um es anders auszudrücken) steht in engem Zusam- sondern ist die menschliche Antwort auf die Offenbarung. menhang mit des Menschen eigener Autonomie oder Dies ist der harte Kern seines Denkens, der sich in einem Spontaneität. Sie äussert sich auf mannigfache Weise. langen Prozess von Studium und Reflexion herauskristal- Bergman zeigt jedoch, dass Humanismus nicht menschli- lisierte. Indem er den Begriff des Ereignisses der Offen- che Selbstgenügsamkeit impliziert; das ist ein Hauptmo- barung einführt, spricht er über verschiedene Offenba- tiv seines Denkens. Autonomie ist auf jene Bereiche be- rungen, wenigstens soweit es sich um die drei mono- grenzt, die einer Bewertung durch den Menschen selbst theistischen Religionen handelt. Seiner Ansicht nach er- offen stehen, selbst wenn sie in religiösen Schriften er- geht eine neue Offenbarung in gewissen entscheidenden scheinen, wie z. B. Gottes Befehl an Saul, Amalek zu zer- Augenblicken menschlicher Geschichte. Der Humanismus, stören, oder sogar sein Befehl an Abraham, Isaak zu den Bergman vertritt, ist von der Art wie die in Lessings opfern. Sie sind für eine Beurteilung durch den Menschen Die Erziehung des Menschengeschlechts, wonach die drei zugänglich. Bergman kritisierte Kierkegaards Meinung Offenbarungen je ihre eigene Rechtfertigung in sich tra- einer Skala von Haltungen, in welcher die ethische Hal- gen und wie die drei Ringe Nathans des Weisen gesehen tung ein Vorstadium darstellt, das der religiösen Hal- werden, die alle gleich wertvoll sind. Indem er gewissen tung Platz macht. Er macht sich die Sicht zu eigen, dass Trends mittelalterlicher jüdischer Philosophie folgt, cha- ethische und religiöse Haltung aufeinanderprallen kön- rakterisiert Bergman das Judentum als eine Offenbarung, nen, und überliess es menschlicher Autonomie, in Fällen die an ein Volk und nicht an Individuen ergeht. des Kollidierens zu entscheiden. Der Mensch hat ein Die Bedeutungsfülle der Welt ist ein Begriff, der ver- autonomes Recht zu entscheiden und ist keiner vorgege- schiedene Nuancen hat. Er nimmt an, dass die Welt als benen hierarchischen Ordnung unterworfen, in der das solche eine Struktur hat, überdies, dass diese Struktur Ethische dem Religiösen untergeordnet wäre, wie es die vom menschlichen Verstand erkannt werden kann und Geschichte von Amalek nahezulegen scheint. dass es einen Fortschritt gibt, im Verlaufe dessen neue Aber Autonomie ist nicht Autarkie, Selbstgenügsamkeit Perspektiven von Wissen und Erkenntnis gewonnen wer- oder Herrschaft über die Welt. Und hier, denke ich, ver- den können. Diese Bedeutungsfülle der Welt impliziert, suchte Bergman zu zeigen, dass eine negative Beziehung dass unsere Versuche, die Welt zu erkennen, nicht auf zwischen zwei Meinungen besteht. Wenn jemand der An- Täuschung beruht, sondern dass wir die Welt deuten sicht ist, die Welt sei eine Gesamtheit sinnloser Daten, so können. Sie impliziert weiterhin, dass es dem Menschen führt ihn das zu menschlichem Selbstgenügen; denn dann erlaubt ist, zu erwarten, dass die Offenbarung ihn hin- ist der Mensch berechtigt, den sinnlosen Daten seine eige- führt, was er tun soll. Wenn die Welt voller Sinn ist, ne Ordnung aufzuerlegen. Deshalb führt Sinnlosigkeit wird sie den Menschen weder in die Irre führen noch ihn auf der Seite des Objekts zu Konstruktivismus und Prae- in Einsamkeit belassen. Hier unterscheidet sich Bergman skriptivismus auf der Seite des Subjekts. Aber wenn je- von Buber — wir kommen auf diesen Punkt zurück. mand sich eine andere Sicht zu eigen macht — und dies ist Das eindeutige Vorherrschen des >Du< ist wesentlich für der Ausgangspunkt von Bergmans Philosophie der Re- Buber. Für Bergman ist die Existenz des >Du< nicht ge- ligion und Religionsphilosophie —, nämlich dass die Welt nug, sondern er sucht die Bedeutung des >Du<, die Offen- mit Sinn erfüllt ist, dann kann der Mensch nicht die Welt barung, die Gebote, wie auch die Reaktion, die das >Du< beherrschen, sondern hat auf die Welt zu antworten. Sein in uns auslöst. Dieser Unterschied erklärt den Unterschied bewusster kommunikativer Versuch, die Welt zu erken- im Lebensstil zwischen beiden. Buber betont die Unmit- nen, zu verstehen, ist die Enthüllung in ihr verborgener telbarkeit, Bergman versucht, sein Leben nach den Gebo- Sinngehalte. Für Bergman ist sowohl die prinzipielle re- ten zu gestalten und sie in das Gefüge seines Lebens ein- ligiöse Voraussetzung und die Voraussetzung für alle zugliedern, wie es auch Franz Rosenzweigs Anliegen war. menschlichen Aktivitäten die Bedeutungsfülle der Welt. Bergman meint, dass der Dialog, die Beziehung zum an- Der Begriff Sinn hat viele Bedeutungen, wie die analy- dern, die die Basis religiöser Erfahrung ist, nicht nur Un- tische Philosophie betont hat. Welches ist die Bedeutung, mittelbarkeit in Betracht zieht, was Buber betont, son-

148 /M 3 dern auch Meditation. Die Bedeutungsfülle der Welt hat talität im von Cusanus definierten Sinne artikulierten, eine zusätzliche wichtige, in der Tat eine religiöse Impli- was in der Verschiedenheit der Systeme offenbar wird. kation. Sie erfordert die Bejahung, nicht nur die Erkennt- Diese Art und Weise, sie zu betrachten, war eine Art di- nis der Realität — nicht nur der Annahme der Offenba- daktischer Kunstgriff, den er für sich als Lehrer, Profes- rung willen, sondern auch wegen menschlicher Anerken- sor und Ausbildender anwandte; gleichzeitig versuchte er, nung der Realität. Im letzten Abschnitt seines Lebens seinem eigenen Denken diese Hauptströmungen im weiten betrachtete er, in der Tradition des jüdischen Gebetes, die Spektrum des Dialogs unter Philosophen einzuverleiben. verschiedenen Segnungen der Dinge der Welt, deren der Dieses Bemühen um Integration brachte ihn dazu, in den Mensch als eine Zusammenfassung der Bejahungshaltung frühen zwanziger Jahren ein sehr bedeutendes Buch über sich erfreuen kann. Das Segnen (berachah oder kiddush) die Rolle des Kausalitätsprinzips in der modernen Physik schliesst die Anerkennung der Wahrheit ein, dass die Welt zu schreiben, das vor kurzem in englischer Sprache (ur- einem gegeben ist; sie gehört einem nicht, sie ist nicht von sprünglich in deutsch) 3 veröffentlicht wurde. In diesem einem selbst geschaffen, man kann sich der Welt »er- Buch versuchte er, sich mit der Krise der modernen Phy- freuen«, weil sie einem begegnet; diese Begegnung ist in sik, wie sie im Denken Heisenbergs und anderer zum der Haltung des Segnens ausgedrüdu 2b. Andernfalls — Ausdruck kommt, auseinanderzusetzen. Er blieb ein wenn die Welt einem nicht gegeben wäre — wäre es einem Philosoph der Wissenschaft, ein Philosoph des Erkennens. verboten, sie zu nutzen. Jedoch hält er eine Unterscheidung zwischen Wissen- Diese frühe Haltung der gegenseitigen Beziehung und des schaft und Erkennen aufrecht. Erkennen ist weiter als Antwortens, die für den oben erwähnten Artikel von Wissenschaft; Wissenschaft kann auf gewissen Voraus- 1914 über die Heiligung des Namens (Kiddush ha-Shem) setzungen beruhen, Erkennen sich der Transzendenz zu- charakteristisch war, wurde mehr und mehr der zentrale wenden. Während er Erkennen auf den Bereich der Tat- Kern und Gehalt von Bergmans Denken. sachen eingrenzte, gelangte er nicht zu der Schlussfol- Bergman war ein sehr fruchtbarer Schriftsteller und ein gerung, dass Wissenschaft und Erkennen gleich sind und sehr wacher und intensiver Leser. Er bewältigte die dass deshalb nur der Glaube die Grenzen des Erkennens Fülle, indem er für sich selbst einen Dialog zwischen die- überschreiten kann. Erkennen überschreitet die Grenzen sen verschiedenen Denkern inszenierte, die alle einander der Wissenschaft. Erkennen enthüllt die Sinnhaltigkeit irgendwie kritisierten. Er stellte die Geschichte der Philo- der Realität und ist so die Haupthaltung jedes religiösen sophie dar als einen sich fortsetzenden Dialog zwischen Zugangs. Philosophen, die nur Teilsichten bieten und so die To-

25 Vgl. dazu Hugo Bergman: Einiges über den jüdischen Segens- 3 Der Kampf um das Kausalgesetz in der jüngsten Physik, Vie- spruch in FR III/IV, Januar 1951, S. 26 ff. weg & Sohn, Braunschweig 1929.

IIjehoshua Meir Grintz zum Angedenken* Von Dr. Benjamin Uffenheimer, Professor für Bibelwissenschaft, Bibel-Abteilung an der Universität Tel Aviv * * Am 1. 5. 1976 starb Dr. Jehoshua Meir Grintz, seit 1959 vorwiegend religiöse oder hebräisch säkulare Bildung Professor für Bibelwissenschaft an der Universität Tel mit — zum Teil kamen sie aus dem Lehrhaus und hatten Aviv. Er wurde 1911 in Radom (Polen) geboren, wo er auf den litauischen Talmud-Hochschulen gelernt; einige sich die Grundlagen seiner jüdischen Bildung aneignete. unter ihnen hatten bereits ein hohes Mass an Gelehrsam- Unmittelbar nach seiner Einwanderung im Jahre 1937 keit erreicht, bevor sie ein akademisches Studium auf- studierte er an der Hebräischen Universität Landeskun- nahmen'. Die Studenten aus Zentral- und Westeuropa de, Bibel und jüdische Geschichte. Ausserdem befasste er hatten das Gymnasium absolviert und zum Teil ihr sich mit Ägyptologie und klassischer Philologie, wobei Studium unter dem Druck des NS-Regimes abbrechen er sich auf griechische Sprache und Literatur konzen- müssen. Sie verfügten zumeist über eine wohlfundierte trierte. So erwarb er sich das notwendige Handwerks- klassische Bildung, einschliesslich Vertrautheit mit den zeug für die Erforschung der Epoche des Ersten und griechischen und römischen Quellen. Zweiten Tempels. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs versetzte eine Bei dem bescheidenen Umfang der Hebräischen Univer- grosse Anzahl der Studenten in eine überaus schwierige sität damals waren die Beziehungen zwischen Lehrern Lage, denn er schnitt sie von ihren Unterhaltsquellen in und Studenten sehr viel enger und persönlicher als heute Europa ab. Einige traten in die britische Armee ein, um nach dem ungemein raschen Anwachsen der akademi- gegen Hitler zu kämpfen, andere studierten weiter und schen Institutionen in den fünfziger und sechziger Jah- verdienten sich ihren Lebensunterhalt als Bauarbeiter ren. Auch das Bild des Studenten hat sich erheblich oder durch andere Schwerarbeit, als Angestellte oder als verändert; damals waren die meisten Neu-Einwanderer Lehrer; die meisten gehörten einem der damaligen halb- und nur wenige im Land geboren, und das Durch- offiziellen oder gar den von der Mandatsregierung ver- schnittsalter lag höher als üblich. Damals kamen die folgten para-militärischen Verbänden an. In jenen Tagen Neuankömmlinge aus den europäischen Ländern, wo seit hatte Grintz wirtschaftlich schwer zu kämpfen, denn die der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten die Wogen antisemitischer Ausschreitungen immer höher Unter ihnen möchte ich Gedaljahu Alon erwähnen, der dann zu schlugen. Die Studenten aus Osteuropa brachten eine einem der grössten Erforscher der Epoche des Zweiten Tempels wer- den sollte; er starb im Alter von 48 Jahren. Zu diesen Studenten Nachruf, gehalten am 10. 6. 1976 an der Universität Tel Aviv. aus Polen und Litauen gehört auch Saul Liebermann, einer der gro- Aus dem Hebräischen übersetzt von Dr. Angela von Kries, Jeru- ssen Talmud-Forscher unserer Generation; bis heute lehrt er Talmud salem. am Jewish Theological Seminary in New York.

/M 4 ! 149 Arbeitsmöglichkeiten waren nicht eben reichlich. Zusätz- dieser Ort wird in der Regel mit dem biblischen Ai lich bedrängend war die Isoliertheit und die bedrückende identifiziert, das laut Kapitel 8 von Josua erobert wurde. Sorge um das Geschehen rings um uns her und in Europa. Der archäologische Befund hat nun aber ergeben, dass Et- Bei Grintz kam zu alledem noch ein körperliches Leiden Tell erheblich vor der Eroberung des Landes im 13. hinzu, das ihm von Kind auf zu schaffen machte und ihn Jahrhundert zerstört worden ist. Darauf und auf weitere in Abständen aufs Krankenlager warf. Er fand jedoch Funde gründen die meisten Forscher bis zum heutigen einen treuen Freund in seinem Lehrer und Meister Pro- Tag ihre Annahme, dass die Landnahme kein einmaliges fessor Umberto Cassuto, s. A., der seine Talente zu schät- Ereignis war, wie im Buch Josua berichtet, sondern ein zen wusste, ihn förderte und während jener harten Zeit allmählicher Prozess, der sich in kriegerischer und fried- ermutigte. Im Jahre 1943 schloss Grintz seine Studien mit licher Form über viele Generationen hinzog. Grintz dem Magister-Examen ab. 13 Jahre später, 1956, erhielt protestierte lebhaft gegen diese These und vertrat die er für seine Studien zum Buch Judith den Doktor-Titel Ansicht, dass die Identifizierung von Et-Tell mit Ai verliehen. Seit 1951 war er fester Mitarbeiter der he- falsch sei, vielmehr handele es sich bei Et-Tell um Bet- bräischen Enzyklopädie in den Abteilungen Bibel, Ge- Awen4. Begeistert schloss er sich Y. Kaufmanns allgemei- schichte des Alten Orients, der Epoche des Ersten und des ner Auffassung von der Landnahme ans. Kaufmann Zweiten Tempels. Von 1959 bis zu seinem Tode gehörte vertrat in seinen Büchern entschieden die historische er dem Lehrkörper der Universität Tel Aviv an, wo er Wahrscheinlichkeit der Landnahme-Erzählungen im 1969 einen Lehrstuhl erhielt. Das sind die wenigen äusse- Buch Josua, wobei er heftige Kritik an der Schule Alt- ren Daten eines reichen schöpferischen Lebens. Noth6 übte. Der Bogen seines vielfältigen wissenschaftlichen Schaf- Besonderes Interesse zeigte er am Problem der Priester- fens war weit gespannt. Er umfasste praktisch die beiden Schrift. Bekanntlich ist die Wellhausen-Schule der Mei- formativen Epochen der jüdischen Kultur, die des Ersten nung, dass die »Quelle P«, zu der das dritte Buch Moses und Zweiten Tempels, und gründete sich besonders auf sowie erzählerische Partien aus dem ersten, zweiten und die Erforschung der Realia. Bedeutend sind seine Beiträ- vierten gehören, im babylonischen Exil oder in der Früh- ge zu zwei Disziplinen: zur historischen Ethnographie zeit des Zweiten Tempels verfasst worden ist, denn zum und Geographie2. In seinen zahlreichen, erst zum Teil Teil gibt sie die Verhältnisse unter der Herrschaft der veröffentlichten Studien über das Buch Genesis tritt er Hohen Priester in der persischen Epoche wieder. Bereits für die Echtheit der dortigen historischen Überlieferun- Kaufmann hat an dieser These gerüttelt: Er erkennt die gen ein. Insbesondere zieht er gegen die gewöhnlich gesonderte Existenz einer priesterlichen Quelle an, da- innerhalb dieses Buches angenommenen Anachronismen tiert sie aber hinauf ins 8. Jahrhundert, d. h. in die zu Felde. Einer der in der Forschung bis heute fraglichen Königszeit. Der Ausgangspunkt der Grintzschen Kritik Punkte ist das Philister-Problem, denn soweit uns be- waren die Vorschriften für die rituelle Schlachtung in kannt, kamen sie erst im Lauf des 11. Jahrhunderts ins 3. Mose 17, ein Kapitel, das für Wellhausens System von Land, also Jahrhunderte nach der Patriarchen-Zeit. grundlegender Bedeutung ist. Aufgrund einer Analyse Grintz unternahm wissenschaftliche Anstrengungen und dieses Abschnitts, die stark von David Hoffmann beein- verwandte grossen Scharfsinn darauf, nachzuweisen, dass flusst ist', sowie Vergleich mit 1. Samuel 14, 32 ff. stellte er die Gesellschaftsstruktur der im ersten Buch Moses er- fest, dass die Bestimmungen von 3. Mose 17 weder mit wähnten Philisterstädte völlig verschieden sei von jener dem babylonischen Exil zu tun haben noch auf dem der in den Samuel-Büchern aufgeführten. Informationen Hintergrund der Bedingungen zur Zeit der Könige oder aus griechischen und mesopotamischen Quellen kombi- der Landnahme zu erklären sind. Vielmehr gibt dieser nierte er zu dem Nachweis, dass der philistäischen Ein- Abschnitt die Verhältnisse von Israels Wüstenwanderung wanderungswelle, die wir aus dem 11. Jahrhundert wieder, vor der Landnahme, die das Volk in Kontakt mit kennen, eine frühere vorausging. Er stellte die These auf, der kanaanäischen Kultur brachte. Die dortige War- dass dieses uns bisher unbekannte historische Faktum im nung der Bibel richtete sich nicht gegen den Baals-Kult, ersten Buch Moses seinen Niederschlag gefunden hat 3. sondern gegen den Kult von Wüsten-Dämonen, den Sei- Ein zentrales historisches Problem, das sich im Lauf der rim8. In seinen letzten Lebensjahren wandte er sich von letzten Generation durch die archäologischen Forschun- neuem der Priester-Schrift zu — diesmal unter rein gen ergeben hat, dreht sich um die Beschreibung der sprachlichem Gesichtspunkt: In einer Reihe von Aufsät- Landnahme im Buch Josua. Die moderne Wissenschaft zen9 betont er das hohe Alter von kultischen und sozio- hat den historischen Charakter dieser Beschreibung in logischen Ausdrücken und Termini aufgrund von Ver- Frage gestellt und verschiedene Wege zur Lösung des gleich mit ägyptischen und akkadischen Quellen. Er Problems eingeschlagen. Eines der schwierigsten Proble- kommt zu dem Schluss, dass die sprachliche Basis des 3. me wurde auf die Ausgrabungen in Et-Tell (an der Buch Moses zum Teil die Patriarchen-Zeit, zum Teil die Strasse Jerusalem—Nablus, südlich von Ramalla) hin noch Zeit des Auszugs aus Ägypten (13. Jh.) widerspiegelt. in den dreissiger Jahren von Judith Krause aufgeworfen; Eine soziologische Fundierung seines Systems findet sich in seiner Abhandlung über die Erzählung Josua 2 Die meisten seiner zahlreichen Beiträge auf diesem Gebiet erschienen Kapitel 910. Im Gegensatz zur Auffassung der Schule Alt- in dem Band Studies in early Biblical ethnology and history (hebr.), Noth, dass hier eine ätiologische Sage in der Bearbeitung Tel Aviv 1969; aber wichtiges Material ruht noch in zwei bisher un- veröffentlichten Arbeiten. Eine davon, »Einleitung ins Buch Genesis« (hebr.), befasst sich mit dem altorientalischen Hintergrund der 4 Das >Ai< bei Bet Awen (zur Identifizierung von Et-Tell und zur Patriarchen-Erzählungen unter besonderer Berücksichtigung der Be- Lage von Ai) (hebr.), in: Sinai 21 (1947), 219-228. ziehung dieser Erzählungen zum Onomastikon von Mari und Nuzi. 5 Das geht aus seiner Rezension hervor, die April 1954 in der Zeitung Diese Übersicht soll im Magnes-Verlag der Hebräischen Universität haArez zu Kaufmanns Buch »Die biblischen Berichte von der Land- erscheinen. Die zweite Arbeit, »Völkerschaften der Bibel« (hebr.), ist nahme« und zu dessen Kommentar zum Buch Josua erschien. eine Ethnographie der Bibel; auch diese Monographie liegt druckbe- 6 Dazu mein Aufsatz über Kaufmann, FR XXVII/1975, S. 159-167. reit vor. 7 D. Hoffmann, Das Buch Leviticus, Berlin 1905. 3 Die Philister von Gerar und die Philister an der Küste (hebr.), in: 8 Ye shall not eat an the blood (hebr.), in: Zion 31 (1966), 1-17. Studies in Memory of Moses Schorr, New York 1944, 96-111; Das 9 Archaic Terms in the Priestly Code (hebr.), in: Leschonenu 39/40 erste Auftauchen der Philister in Inschriften (hebr.), in: Tarbiz 17 (1965/6). (19461, 32-42. 10 The treaty with the Gibeonites (hebr.), in: Zion 26 (1961), 69-84.

150 IM 5 des Deuteronomisten vorliegt, hielt er an der historischen entnehmen, dass die jüdische Besiedlung nördlich über Echtheit der Einzelheiten des Berichts fest und verglich Samarien hinausreichte. In diesem Punkt basierte Grintz sie mit entsprechendem Material aus Verträgen der hethi- seine historisch-geographische Beweisführung auf Arbei- tischen Vasallen-Staaten aus dem zweiten Jahrtausend. ten seines Lehrers und Meisters Professor Samuel Klein, Daraus entnahm er unter anderem, dass der Begriff s. A.14. Zu den geographischen Argumenten fügte er die »Gemeinde« (»Eda«), der sich im 3. Buch Moses findet, Tatsache hinzu, dass nirgendwo über Eroberungen im nicht die Kultgemeinde zur Zeit des Zweiten Tempels Gebiet von Samarien berichtet ist, das bedeutet, dass bezeichnet, sondern den nach militärischen Prinzipien dieser Landstrich von jeher jüdisch besiedelt und nie eine organisierten Stämmeverband zur Zeit der Landnahme. heidnische Enklave war, wie es sich die Gelehrten im Aus diesen sowie einigen erst posthum veröffentlichten vorigen Jahrhundert vorgestellt hatten. Aufsätzen" ergeben sich zwei Schwerpunkte seines In- Mit diesen seinen Arbeiten suchte Grintz eine der am teresses auf dem Gebiet der Bibelwissenschaft: wenigsten bekannten Epochen der jüdischen Geschichte 1. die fünf Bücher Moses, zu deren Ehrenrettung er die zu erhellen, von der Zeit Esras und Nehemias bis zur Quellenhypothese zu widerlegen sucht, hellenistischen Eroberung, d. h. vom Ende des 5. bis 2. die alte historiographische Literatur, wobei sein Haupt- ins 2. vorchristliche Jahrhundert. Nach Grintz war ziel darin besteht, die historische Echtheit der Berichte dies eine Epoche der Konsolidierung und Selbstbesin- von der Landnahme in den Büchern Josua und Richter nung, in der die Grundlagen des Judentums gelegt wur- aufzuweisen. den. Entsprechend der These von Professor Y. Baer, dass Ein weiteres Forschungsgebiet, auf dem er sich engagier- sich zu eben dieser Zeit die frühe Halacha herauskristal- te, ist die Epoche des Zweiten Tempels nach der Rück- lisierte, wie sie in frühen Zeugnissen von Mischna und kehr aus dem babylonischen Exil. Auch hier verfolgte er Baraita formuliert ist 15, datiert Grintz einen Teil der die Absicht, die Dinge auf ihren ursprünglichen Stand zu Apokryphen in diesen Zeitraum. Erst aufgrund positiver bringen 12. Zunächst legte er die geographisch-historische Würdigung dieser Epoche als einer formativen in gesell- Grundlage in seiner Arbeit »Die Städte von Nabrachta schaftlicher, religiöser und nationaler Hinsicht lässt sich — zur Geschichte der israelitischen Besiedlung von Gali- der rasche historische Aufschwung begreifen, den die läa und Samarien in der vor-hasmonäischen Zeit«. Da- jüdische Geschichte nach dem Makkabäer-Aufstand ge- nach holte er weiter aus in einem zweiten Aufsatz gen Ende des 2. Jahrhunderts genommen hat. »Räumliche Ausbreitung nach der Rückkehr aus dem Eine andere Epoche, der Grintz Arbeiten gewidmet hat, babylonischen Exil«. Im erstgenannten Aufsatz weist er ist die Spätzeit des Zweiten Tempels. Es waren die nach, daß schon in der persischen Epoche ein jüdischer Handschriften-Funde am Toten Meer, die sein besonde- Siedlungsraum im Grenzgebiet zwischen Jesreel-Ebene res Interesse an diesem Zeitraum erregten. In einem und Samarien existierte, und zwar handelt es sich um die umfassenden Artikel über die »Einheitsgemeinde« 16 Orte, die im Talmud »Städte von Nabrachta« genannt stellt er vorsichtig Vergleiche an zwischen Gebaren und werden. In dieser Arbeit untersuchte er zum ersten Mal Ansichten der Qumran-Sekte und dem Dichten und die geographischen Daten des Buches Judith. Den krö- Trachten der »Boethusäer« aus der rabbinischen Litera- nenden Abschluß seines Schaffens auf diesem Gebiet tur, d. h. der Essener; nach seinen Ausführungen erlaubt bildet seine wissenschaftliche Ausgabe dieses Buches 13 . die weitgehende Übereinstimmung zwischen beiden Sek- Zunächst stellte er dessen Text durch Vergleich der ver- ten ihre Identifizierung. Dieser Aufsatz, der von bewun- schiedenen auf uns gekommenen griechischen Versionen dernswerter Vertrautheit mit den Schriften des Josephus, her und unternahm sogar die Rekonstruktion des verlo- mit der talmudischen, apokryphen und jüdisch-hellenisti- renen hebräischen Originals. Zu dieser Übersetzung gab schen Literatur zeugt, stellt einen Meilenstein dar in der er gründliche philologische Erläuterungen, in denen er Erforschung der Handschriften vom Toten Meer, und die Problematik aufzeigte, mit der er sich auseinanderzu- seine Ergebnisse sind heutzutage bei den meisten Gelehr- setzen hatte, sowie den jeweils eingeschlagenen Weg zur ten anerkannt. Lösung. Die Einleitung zu dieser Aufgabe befasst sich mit Seine Beschäftigung mit dem Buch Judith bringt uns auf den literarischen und historischen Fragen, die mit dem ein weiteres Forschungsgebiet von ihm: die Weisheitslite- Verständnis des Buches und seinem geschichtlichen und ratur samt ihren ägyptischen Ursprüngen. In dem Sam- geographischen Hintergrund zusammenhängen. melband »Erzählungen, Psalmen und Gleichnisse aus der Aus diesen Forschungen ergeben sich in der Hauptsache altägyptischen Literatur«" legt er dem hebräischen Le- zwei Schlussfolgerungen: ser Übersetzungen ägyptischer Dichtung und Prosa vor 1. Das Buch Judith stammt aus der persischen Epoche mit kurzen Einleitungen und Erläuterungen schwieriger und gibt ein zuverlässiges Bild vom Leben der jüdischen Stellen. Die Mehrzahl der hier ausgewählten Texte steht Siedler in jener Zeit. Diese Annahme steht in krassem in direkter oder indirekter Beziehung zur jüdischen Ge- Widerspruch zu der in der Forschung bis heute verbreite- schichte oder zur Bibel. Das nette Heft »Einleitung ins ten Meinung, es handle sich um eine erfundene Geschich- Buch der Sprüche« 18 rundet sein Schaffen auf diesem te aus der hellenistischen Epoche, die jeder historischen Gebiet ab. In seinem 1973 erschienenen Buch »Einleitungs- Grundlage entbehre. probleme in die Bibel« behandelt er Fragen des Bibel- 2. Die zweite Folgerung ist von historisch-geographischer

Bedeutung, denn die Zuverlässigkeit der geographischen 14 Samuel Klein war der erste Professor für israelische Landeskunde Daten im Buch Judith ist unumstritten. Daraus ist zu an der Hebräischen Universität; er starb 1940. Er hat über die jüdi- sche Siedlungsgeschichte im Land Israel zur Zeit des Zweiten Tem- pels und nach dessen Zerstörung gearbeitet. Auf diesem Forschungs- 11 Zur Hochdatierung des >Bundesbuches< (hebr.), in: GS Israel und gebiet hat er Pionierarbeit geleistet. Zwi Broido, 1966, 57-68. 15 Y. F. Baer, Israel among the nations (hebr.), an essay on the 12 Seine Arbeiten über diesen Zeitraum sind zum grossen Teil ge- history of the period of the second Temple and the Mishna and on sammelt in dem Band >Abschnitte aus der Geschichte des Zweiten the foundations of the Halacha and Jewish religion, Jerusalem 1955. Tempels< (hebr.), Jerusalem 1969. 18 In: Sinai 32 (1953), 11-33; auch in: >Abschnitte aus der Geschich- 13 Sefer Yehudith (The Book of Judith), a reconstruction of the te des Zweiten 'Tempels< (hebr.), Jerusalem 1969, 105-142. original Hebrew text with introduction, commentary, appendices and 17 Jerusalem 1965. indices, Jerusalem 1957. 18 Im Verlag der Jewish Agency 1958.

/M 6 1 151 Textes, der antiken Übersetzungen, der Kanonisierung beschreibungen hervor sowie seine Skizzen von Persön- der biblischen Bücher, und damit schliesst sich der Kreis, lichkeiten, geistigen und politischen Grössen. Bemer- in dessen Mittelpunkt die Bibel stand. kenswert sind seine polemischen Stellungnahmen zu ak- In seinen schriftlichen Arbeiten erweist sich Grintz als tuellen Problemen und zu den Existenzproblemen des ein sehr schreibgewandter und streitbarer Forscher, der jüdischen Volkes in seinem Land. In diesen Äusserungen vor der kompromisslosen Vertretung der von ihm als tritt er als militanter Zionist auf und erhebt unser histori- richtig erkannten These selbst dann nicht zurückschreckt, sches und politisches Recht auf das Land Israel zu einem wenn sie in absolutem Gegensatz zur allgemein üblichen Grundprinzip der Politik Israels. wissenschaftlichen Auffassung steht. Seine Gabe der wis- Seine wissenschaftliche und publizistische Wirksamkeit senschaftlichen Intuition und seine Fähigkeit, an den erklärt sich von diesem Aspekt her als Dienst an der bedeutendsten Knotenpunkten der Wissenschaft anzuset- Renaissance Israels im eigenen Land. Ebenso wie er auf zen, verleihen seiner Methode Gültigkeit und Gewicht. dem Gebiet der Wissenschaft gegen überkommene Mei- Auch wenn er kein umfassendes systematisches Werk nungen und Routine anging, erwies er sich in seinem verfasst hat, ist der thematische Bogen seiner Forschun- gesellschaftspolitischen Denken als ein scharfer und gen weit gespannt und können zur Lösung grundsätz- eigenständiger Denker, der sich nicht scheute, gegen Rou- licher Probleme in der jüdischen inneren und äusseren tine und Mittelmässigkeit Stellung zu nehmen. Von sei- Geschichte beitragen. Selbst wer seinen Folgerungen nem persönlichen Engagement für die Sache Israels zeugt nicht uneingeschränkten Beifall zollen kann, besonders folgender Abschnitt aus seiner Einleitung zum Buch was seine Positionen bezüglich der älteren Geschichte Judith. Dort berichtet er: »Diese Arbeit, die ich im Jahre Israels betrifft, wird sich mit seinen Ideen auseinanderzu- 1946 begonnen habe, ist erst am Vorabend des Freiheits- setzen haben, denn sie sind aufgrund reicher Kenntnis krieges (1948) fertig geworden. Meine letzten Arbeitstage und sorgfältiger Überlegung geschrieben. waren grosse, ergreifende, stürmische Zeiten, als die letz- Seine Begabung und sein schöpferischer Elan haben sich ten Zeloten aus ihrem Schlaf zu neuer Tat erwachten. ausserdem in Dutzenden von Aufsätzen, Miszellen und Nach den Schrecken und den himmelschreienden Notizen niedergeschlagen, die vielerorts erschienen sind. Greueln der Vernichtung wurde der einzelne und die Daraus ragen insbesondere seine Reise- und Landschafts- Gemeinschaft wieder zur Tat fürs Volk aufgerüttelt.«

III Der Gekreuzigte und die Juden*/** Von Dr. David Flusser, Professor für vergleichende Religionswissenschaft an der Hebräischen Universität Jerusalem * * * der Theologischen Fakultät Luzern als Dank Die Judenfeindschaft ist nicht eine christliche Erfindung, kes mit dem gekreuzigten Jesus zu einer Feindschaft der aber durch das Christentum wurde sie hochgespielt, und spottenden Menge geworden ist. Wenn es uns gelingen der christliche Antijudaismus schwindet nur langsam. wird, diese Umbiegung in den Schriften aufzuweisen, Judenfreunde sagen oft wohlmeinend: »Wenn wir in den dann werden wir einen wunden Punkt berühren. Es fing Tagen unserer Väter gelebt hätten, wir hätten uns nicht vielleicht mit einer tendenziösen Verschiebung an — und mit ihnen des Blutes der Juden schuldig gemacht« (vgl. die späteren Folgen sind ja bekannt. Ich betone: Es ist die Mt 23, 30 f.). Aus leider für den Aussenstehenden durch- Pflicht des Historikers, wenn er auf eine blutige Unge- sichtigen apologetischen Gründen entstehen dazu noch rechtigkeit stösst, die den Keim künftiger Verbrechen in pseudohistorische Konstruktionen, um das schwere Lei- sich birgt, sie als solche zu bewerten, sonst ist er nur ein den der Juden durch die Christen als eine Entgleisung zu Sammler und kein Wissenschaftler. entschuldigen. Diese Theorie wird weitergegeben, und Noch eine Vorbemerkung: Ich bin bei meinen Arbeiten von dem jüdischen Gesprächspartner wird verlangt, er von der Voraussetzung ausgegangen', dass der alte Be- solle mit der gutgemeinten Entschuldigung glücklich le- richt am besten bei Lukas erhalten ist und dass Markus ben. Das könnte man vielleicht noch irgendwie ertragen, den Stoff gründlich überarbeitet hat, und, wo Markus aber was soll dazu ein Forscher sagen? Leider kann es vorliegt, hängt von ihm meistens Matthäus ab. In meinem ihm leicht passieren, dass, wenn er ein Jude ist und z. B. Jesus-Buche habe ich leider diese Erkenntnis an den es sein wissenschaftliches Gewissen nicht erlaubt, »Anti- Bericht über die Kreuzigung nicht genügend gründlich judaistica« im Neuen Testament als »prophetische Schelt- angewandt. Erst jetzt konnte ich die besondere Wichtig- reden« dankend entgegenzunehmen, dann sein christli- keit der Unterschiede zwischen Lukas und Markus bei cher Kollege aggressiv wird! Soll dann der jüdische der Schilderung der Kreuzigung erkennen. Meine Folge- Forscher um des lieben Friedens wegen die einfache rungen, die ich bringen werde, haben also keine ideologi- Wahrheit, die aus den Texten spricht, verleugnen? Doch sche, sondern philologische Grundlagen. Ihr Ausgangs- wir wollen hier nicht allgemeine Fragen behandeln. Wir punkt ist die literarkritische Methode. werden an einem Beispiel zeigen, wie schon sehr früh die Man pflegt sprichwörtlich von der Menge zu sagen, an ursprüngliche Tatsache der Sympathie des jüdischen Vol- einem Tag rufe sie »Hosianna« und am nächsten Tag »Kreuzige«. Dieses Sprichwort entstand aus einem be- "- Mit freundlicher Genehmigung der Theologischen Fakultät Luzern stimmten Verständnis des markinisch-matthäischen Be- entnommen dem Jahresbericht 1975/76, S. 18-29, der Theologischen Fakultät und Katechetischem Institut (Anm. d. Red. d. FR). richts über die Kreuzigung. Doch diese Volksweisheit Erscheint in der englischen Ausgabe von »IMMANUEL«, Nr. 7, im Frühjahr 1977. 1 Siehe David Flusser, Jesus in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Im Wintersemester 1975/76 Gastprofessor an der Theologischen Hamburg 1968, S. 10 f. Fakultät Luzern. 2 a. a. 0. 133.

152 ! /M 7 drückt nicht den Sinn dieser Berichte aus. Wenn uns 23, 28 f.) sind ein Sondergut des Lukas. Vorläufig könnte nicht Lukas erhalten wäre, könnten wir eher annehmen, man meinen, dass Markus, und ihm folgend Matthäus, dass die Volksgruppen, die an dem Gekreuzigten vorbei- diese Worte ausgelassen hat, weil er auch sonst die gegangen sind, teilweise aus der Partei der sadduzäischen Wehworte Jesu über Jerusalem fast ganz auslässt. Aber Hohenpriester bestanden haben, aber die meisten waren vielleicht wird auch dieses Verhalten des Markus bedeut- einfach sadistischer Pöbel, der sich über den gekreuzigten sam, wenn man seine Beschreibung der Kreuzigung mit Messias belustigt hat. Ich habe sogar angenommen, dass der des Lukas vergleichen wird. Jedenfalls fehlen bei das Psalmwort (22, 2), das Markus 15, 34 und Matthäus Markus nicht nur die Wehrufe, die Worte Jesu zu den 27, 46 als das letzte Wort Jesu bringen, eine unfreundli- Töchtern Jerusalems, sondern auch die grosse Schar des che Interpretation des letzten Schreies Jesu durch die Volkes und die Frauen, die über Jesus wehklagten und Umstehenden gewesen ist, die dann Markus irrtümlicher- ihn beweint haben. Auch die Worte des Gekreuzigten: weise in den Mund Jesu selbst gelegt hat 3. Warum wäre »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun« es nicht möglich gewesen, dass es damals unter den Juden (Lk 23, 34) befinden sich nur bei Lukas, aber auch dort einen rohen Pöbel gegeben hat? Es konnten ihn wirklich nicht in allen Handschriften. Das Wort wurde seit dem die Vorbeigehenden lästern, die Hohenpriester konnten zweiten Jahrhundert von solchen Schreibern oft ausge- über ihn spotten und die Mitgekreuzigten konnten ihn lassen, die wussten, was sie damit getan haben 5. Sie schmähen und die Dabeistehenden konnten spöttisch haben offensichtlich gemeint, Jesus habe seinen himmli- meinen, der Sterbende rufe den Elias: »Wartet, wir schen Vater um Verzeihung für seine jüdischen Gegner wollen sehen, ob Elias kommt, ihn herabzuholen.« Die gebeten, und darum hielten sie das Wort für unecht: So Schriftgelehrten (Mk 15, 31; Mt 27, 41) und die Ältesten was durfte nicht in ihrer Handschrift stehen! Wenn es in (Mt 27, 41), die zusammen mit den Hohenpriestern sich der Vorlage des Markus gestanden hat, konnte er viel- am Spott beteiligt haben, könnte man dann entweder als leicht das Wort aus demselben Grund nicht stehen lassen. eine sekundäre Erweiterung ansehen oder sie anders Allerdings ist es nicht sicher, dass da Jesus für die weginterpretieren 4. Was wir bei Markus lesen, muss also jüdischen Widersacher gebetet hat. Vielleicht bat er um nicht an sich eine tendenziöse Verzeichnung sein; so was Verzeihung für die römischen Soldaten, die ihn gekreu- kann man sich vorstellen, dass es sich wirklich ereignet zigt haben. hat - ohne dass es unhistorisch die Juden belastet. Aber Doch zur Sache. Auf seinem Kreuzwege folgte Jesus eine es hat sich wieder gezeigt, dass man ein Ereignis leicht grosse Schar des jüdischen Volkes und, wie es damals bei historisch falsch einschätzen kann, wenn man nicht als Trauer üblich gewesen ist, haben Frauen einen Klagege- erstes die Quellen selbst miteinander vergleicht und sie sang angestimmt. Als Jesus gekreuzigt wurde, »stand das nicht literarkritisch untersucht. In unserem Fall wirkt es Volk da und sah zu« (Lk 23, 35). Und nachdem Jesus sich gefährlich aus, dass wir schon alle verlernt haben, verschieden war, wird die Menge zum drittenmal er- Lukas zu lesen, ohne dabei von Markus und Matthäus wähnt: »Und die ganze Menge, die zu dieser Schau unwillkürlich beeinflusst zu sein. mitgekommen war, wie sie gesehen haben, was gesche- Wir wollen nun sehen, was Lukas (23, 26-49) über die hen, schlugen sie an die Brust und kehrten um.« Die Kreuzigung Jesu zu berichten weiss. Oder anders gesagt: dreifache Erwähnung der Menge wird kunstvoll mit Wer waren nach Lukas bei der Kreuzigung Jesu seine Leitwörtern verbunden: Bei der ersten (23, 27) und zwei- Feinde, und wer waren seine Freunde? Auf dem Wege ten Erwähnung (23, 35a) spricht Lukas vom »Volk«, bei zwangen die Römer einen vorübergehenden Juden na- der zweiten (23, 35a) und dritten Erwähnung (23, 48) mens Simon, aus Cyrene in Nordafrika, das Kreuz Jesu spricht er vom »zusehen«, und zweimal, im ersten zu tragen. An jüdischen Festtagen den Pilgern einen (23, 27) und im dritten Fall (23, 48), berichtet er von den Frondienst zu befehlen, war für die römische Besat- Trauerkundgebungen der anwesenden Menge des Volkes: zungsmacht nichts Ungewöhnliches - eine fürchterliche auf dem Wege Jesu zum Tode, und nachdem die Menge Erniedrigung in diesem Falle, wie man sie auch in der gesehen hatte, dass Jesus verschied. Es ist also sicher, dass Zeit des Nationalsozialismus gekannt hat. »Es folgte ihm es sich dreimal um dieselben jüdischen Menschen handelt, aber eine grosse Schar des Volkes und von Weibern, die die mit Jesu mitgefühlt haben. Wir nehmen an, dass es so wehklagten und ihn beweinten« (Lk 23, 27). Dies und die schon in der Vorlage des Lukas gestanden hat, wie auch folgenden Worte Jesu zu den Töchtern Jerusalems (Lk die zusätzliche Nachricht: »Es standen aber alle seine Bekannten von ferne, auch die Frauen, die ihm mitge- folgt waren von Galiläa, und sahen es« (Lk 23, 49). Auch 3 Siehe Flusser, Jesus, S. 132 unten und Anm. 237. Diese Annahme ist unwahrscheinlich. Es gab eine urchristliche Tendenz, die Worte des hier ist das Sehen erwähnt, wie schon auch früher bei Psalms 22 auf den Tod Jesu zu beziehen. Vers 2 wurde bei Markus dem Centurio: »Da aber der Hauptmann sah, was ge- (15, 34; vgl. Mt 27, 46) zum Kreuzesruf; auf den Vers 8 wird in schehen6, pries er Gott 7 und sprach: >In der Tat, dieser Lk 23, 35 und Mk 15, 29 (Mt 27, 39) angespielt; das Werfen des Mensch war ein Gerechter<« (Lk 23, 47). Dass ein Hen- Loses um die Kleider Jesu (Lk 23, 34; Mk 15, 24; Mt 27, 35; Jo 19, 23 f.) hängt von Ps 22, 19 ab. Es scheint, dass eine Möglichkeit be- kersknecht bei der Hinrichtung eines Frommen tief er- steht, dass es sich um eine sukzessive Beeinflussung des Psalms auf die schüttert wird, wird oft in der Geschichte der Menschheit Evangelien handelt. Das kann auch für Lukas selbst gelten, und darum berichtet, und es ist auch verständlich. Dass der Centurio können wir nicht wissen, wie weit die Worte des Psalms 22 schon die Quelle des Lukas beeinflusst haben. Auf Lk 23, 35 hat Ps 22, 8 in Jesus nicht wie bei Lukas den Gerechten, sondern bei seiner griechischen Form eingewirkt. Im Ps 22, 8 steht geschrieben: Markus (15, 39) (vgl. Mt 27, 54) Gottessohn nennt, ist »Alle, die mich sehen, spotten meiner . . . und schütteln den Kopf.« nicht sehr sinnvoll und ist ein zusätzlicher Grund dafür, Nur das Schütteln der Köpfe steht bei Markus (15, 29; Mt 27, 39), warum wir auch sonst Lukas dem Markus vorziehen. wogegen bei Lk 23, 35 zu lesen ist: »Und es stand das Volk da und Wir fassen also das bisher Gesehene zusammen. Dreimal sah zu. Die Oberen höhnten . . .« Der scheinbar so klare Zusammen- hang zwischen Ps 22, 8 und Lk 23, 35 ist doch undurchsichtig: Im wird die Sympathie der jüdischen Menge mit dem Ge- Psalm sind die Zusehenden die Spottenden, wogegen das Zusehen des kreuzigten bei Lukas ausgedrückt, nirgendwo wird bei Volkes bei Lukas 23,35 mit dem Spott nichts zu tun hat; die Zusehen- den in Lukas 23, 47 (Mk 15, 39; Mt 27, 54), 23, 48, 49 (Mk 15, 40; 5 über die Geschichte des Jesuswortes werde ich anderswo berichten. Mt 27, 55) sympathisieren mit Jesus. Siehe auch Anm. 8 (Zu Markus 6 Auch hier, wie gleich nachher (Lk 23, 48), wird der Tod euphemi- s. W. Marxsen, und zu Lukas: Conzelmann: »Die Mitte der Zeit«). stisch als »das Geschehene« umschrieben. 4 Flusser, Jesus, S. 118 f. 7 Diese Worte könnten eine Hinzufügung des Lukas sein.

IM 81153 ihm von irgendeinem Spott der umstehenden Juden be- dich du nun, der du die anderen erlösen wolltest!« Der richtet: Die grosse Schar des Volkes kommt mit, und die eine Verbrecher, der doch dasselbe Schicksal am Kreuze Frauen klagen um ihn, das Volk steht bei der Kreuzi- erleiden wird, sagt noch dazu: »Hilf doch dir selber und gung, und als die ganze Menge sieht, dass Jesus verschied, uns.« In allen drei Worten des Spottes wird Jesus als schlagen sie sich an die Brust zum Zeichen der Trauer, Messias angesprochen. Die römischen Soldaten nennen und trauernd gehen sie nach Hause. Das Mitgefühl des ihn spottend »den König der Juden«, was eine nichtjüdi- Volkes ist verständlich. Die Menge stand doch die ganze sche, römische Bezeichnung ist, die man auf dem Kreuze Zeit, als Jesus in Jerusalem war, an seiner Seite, und die lesen kann. Wenn wir Recht haben 12, wird auch hier die Hohenpriester trauten sich nicht, ihn öffentlich festzu- Messianität Jesu variiert; die jüdischen Oberen: »der nehmen, denn »sie fürchteten das Volk« (Lk 20, 19; Mk Auserwählte Gottes«, die römischen Soldaten: »der Kö- 12, 12). nig der Juden«, der eine Verbrecher: »der Messias«. Und als ihn die Römer kreuzigten und die für die Juden Wie die mit dem Gekreuzigten mitfühlende Menge des schmachvolle Inschrift angebracht haben, konnte dann jüdischen Volkes, so entsprechen auch die spottenden jemand aus dem jüdischen Volk anders fühlen, als den Feinde Jesu bei Lukas der historischen Wahrscheinlich- Märtyrer, das Opfer römischer Grausamkeit, zu bewei- keit. »Die Oberen« (archontes) ist die lukanische Be- nen? Das, was uns Lukas erzählt, ist also historisch zeichnung der Würdenträger, die Jesus an die Römer wahrscheinlich, und wenn es da nicht stünde, müsste man ausgeliefert haben 13, und der Spott der römischen Solda- es eigentlich so rekonstruieren. Dass wir das früher nicht ten ist natürlich. Nach Lukas wird Jesus nur von dem gesehen haben, kommt davon, weil wir Markus zu wohl- einen der mitgekreuzigten Banditen verhöhnt, nach wollend interpretiert haben. Markus und Matthäus von beiden. Entweder handelt es Wer sind aber nach Lukas die Feinde Jesu bei der sich da um Verbrecher oder wahrscheinlicher um zeloti- Kreuzigung gewesen? Nachdem Lukas (23, 34b), dem sche Eiferer aus der Gruppe des Barabbas. Ein Zelot Psalm 22, 19 folgend, von den römischen Soldaten be- würde an sich nicht viel Verständnis für den gekreuzig- richtet, dass sie seine Kleider verteilten und darüber das ten, unpolitischen, leidenden Messias aufgebracht ha- Los warfen, sagt er: »Die Oberen aber 8 höhnten und ben 14. sagten: Anderen hat er geholfen, so helfe er sich selbst, Wer also über den Gekreuzigten gespottet und wer über wenn er der Christus Gottes ist, der Auserwählte 9. Es ihn getrauert hat, das hat Lukas historisch wahrschein- verspotteten ihn aber auch die Soldaten, indem sie heran- lich dargestellt, und so stand es anscheinend schon in traten, ihm Essig reichten und sagten: Wenn du der seiner Quelle. Doch der lukanische Aufriss gewinnt un- König der Juden bist, so hilf dir selber. über ihm war gemein an Bedeutung — auch für die Frage der angebli- aber eine Inschrift: Dieser ist der König der Juden. Einer chen Schuld der Juden an der Kreuzigung —, wenn man aber von den Verbrechern, die da hingen, lästerte ihn: ihn mit Markus (und den von ihm abhängigen Matthäus) Bist du denn nicht der Messias? Hilf doch dir selber und konfrontiert. Bei Markus fehlt jegliche Erwähnung der uns!« (Lk 23, 35-39). Dann folgt bei Lukas das Zwiege- klagenden und trauernden jüdischen Menge, dagegen spräch mit dem zweiten, guten Schächer 10. aber erscheinen bei ihm Gruppen von spottenden und Wie bei der Schilderung der Sympathie des Volkes mit schmähenden vorübergehenden und dabeistehenden ein- dem Gekreuzigten, so ist auch die Reaktion der Gegner fachen Juden. Wie wir sehen werden, ist anzunehmen, Jesu bei Lukas kunstvoll, und auch sie wird durch die dass diese Änderung durch Manipulation und Erfindung Dreizahl beherrscht, nur dass es sich hier nicht um entstand. Die alten Feinde aus den Juden des Lukas — die dieselben Menschen handelt, sondern um drei verschiede- Oberen und, in diesem Falle, die beiden Mitgekreuzigten ne Arten von Gegnern. Die Beschreibung ist zusammen- — sind bei Markus natürlich geblieben. Als Freund bleibt hängend, wird nur durch die Nachricht über die In- der römische Centurio, der jetzt die Gottessohnschaft schrift am Kreuze unterbrochen. Das ist verständlich, Jesu bezeugt, also, sozusagen, der bekehrte Römer, und weil vor dem Kreuze die Soldaten über den »König der die vielen Frauen, »die ihm schon, so lange er in Galiläa Juden« spotten, und so steht es auf dem Kreuz. Es gibt war, nachfolgten und ihm dienten und noch andere viele, eine gelungene Parallelität in der Schilderung. Die Wor- die mit ihm nach Jerusalem hingegangen waren« (Mk te, die den Spott bezeichnen, variieren (»höhnen«, »ver- 15, 40 f.; vgl. Lk 23, 49; 27, 55 f.), also sozusagen Frauen spotten«, »lästern«) 11, aber der Inhalt des Spottes ist aus der christlichen Gemeinde in Galiläa. Sonst steht eigentlich in den drei Fällen derselbe: die Ohnmacht nach Markus und Matthäus dem Gekreuzigten kein Jude dessen, der sich für den Heiland gehalten hat. »Rette bei — im schroffen Gegensatz zu Lukas. Vor seinen letzten Worten am Kreuze wird Jesus bei 8 Im griechischen Text »de kai«, also wörtlich: »Doch auch die Oberen Markus (15, 19-32; Mt 27, 39-43) auch dreimal ge- höhnten und sagten .. .« Das bedeutet nicht, dass auch das zusehende schmäht: »Und die Vorübergehenden lästerten ihn, in- Volk über Jesus spottete (siehe Anm. 3). Lukas wollte einfach sagen: Aber die Oberen, die auch dabei standen, höhnten. — Die ungenaue dem sie die Köpfe schüttelten und sagten: Ha! Der du Ausdrucksweise des Lukas, antijudaistische Vorurteile und die Ten- den Tempel abbrichst und in drei Tagen aufbaust, hilf denz des Markus (und des Matthäus) haben verursacht, dass in eini- dir selber und steig herunter vom Kreuze. Ebenso auch gen Handschriften und alten Übersetzungen zu lesen ist: »Die Oberen die Hohenpriester spotteten untereinander nebst den aber höhnten mit ihnen«, das heisst, mit dem Volk! Schriftgelehrten und sagten: Anderen hat er geholfen, 9 Wir vermuten, dass in dem alten Bericht nur »der Auserwählte Gottes« stand. Der Messias wird auch im Henochbuch »der Aus- sich selber kann er nicht helfen: der Christus, der König erwählte« genannt, und nach Lukas (9, 35) hat ihn die himmlische Israels! Jetzt steige er herunter vom Kreuze, dass wir ihn Stimme bei der Verklärung »meinen Sohn, den Auserwählten« ge- nannt. 10 Dieses Gespräch beabsichtigen wir, an einer anderen Stelle zu 12 Vgl. oben, Anm. 9. besprechen. 13 Vgl. Lk 23, 13, 35; 24, 20; Apg 3, 17; 4, 5, 8; 13, 27. »Archontes« 11 Auch bei Markus (15, 29 f.; vgl. Mt 27, 29 f.) gibt es eine Trias werden bei Josephus (Bellum VI 303) die genannt, die dem römischen von Spottenden, und ihr Spott wird mit drei verschiedenen Zeitwör- Präfekten den Urteilspropheten Jesus, den Sohn des Ananias, über- tern bezeichnet. Wir werden noch sehen, dass bei Markus die Trias geben haben. von der des Lukas verschieden ist und dass auch der Spott nicht mehr 14 Dies stimmt auch, wenn das Gespräch zwischen Jesus und dem einheitlich ist — bei den Mitgekreuzigten wird der Inhalt des Spottes guten Schächer historisch ist. Dieser sieht in Jesus den unschuldig nicht mitgeteilt (Mk 15, 32b; Mt 27, 44). sterbenden Gerechten und bereut seine Schuld.

154 IM 9 sehen und glauben. Auch seine Mitgekreuzigten schmäh- Man wird also bei Markus in unserem Abschnitt schwer- ten ihn.« lich etwas finden, was gegenüber Lukas unsere Kenntnis- Wir haben sehen können, dass bei Lukas die drei Schmä- se über die Kreuzigung Jesu bereichern würde - vielleicht hungen parallel gebaut sind. Bei Markus (und bei Mat- mit einer Ausnahmetb: Nach Markus (15, 23) hat man thäus) fehlen die Worte der dritten Schmähung, der der Jesus auf dem Weg zur Kreuzigung Wein mit Myrrhe Mitgekreuzigten. Bei Lukas (23, 39) sagt bekanntlich gegeben, er aber nahm es nicht an. Es war damals einer der Verbrecher: »... Hilf doch dir selbst und uns«, wirklich Sitte, den zum Tode Verurteilten vor dem Tode was der Situation sehr gut entspricht. Bei Markus (und mit einem solchen Getränk zu betäuben 17. Markus hat Matthäus) sind die zwei Schmähworte nicht so parallel von dieser Sitte gehört 18, aber ob es seine Vermutung gebaut wie die drei Verspotteten bei Lukas. Zwar wird war oder ob es auch im Falle Jesu wirklich geschehen ist, bei Markus (und Matthäus) beide Male zu der spöttischen können wir nicht wissen 1". Aufforderung, Jesus möge doch sich helfen, noch hinzu- Fassen wir nun die Ergebnisse unserer Untersuchung gefügt, er möge vom Kreuze heruntersteigen, aber die bei zusammen. Wie wir gesehen haben, fehlt bei Markus (und Lukas dreimal wiederholte spottende Bezeichnung Jesu Matthäus) die dreimalige Erwähnung (Lk 23, 27-32. 35. als Heiland erscheint bei Markus nur einmal bei den 48) der jüdischen Menge, die um den zum Tode geführten Worten der Hohenpriester und Schriftgelehrten: »der und gekreuzigten Jesus von Nazaret klagt und weint. Christus, der König Israels« (Mk 15, 32; Mt 27, 42). Die Nach der dritten Erwähnung ist auch die Nachricht (Lk Hohenpriester und die Schriftgelehrten bei Markus, zu 23, 49a) entfallen, dass alle seine Bekannten von ferne denen bei Matthäus (27, 41) noch die Ältesten hinzuge- standen. Wenn wir annehmen, dass Markus ein ähnlicher fügt sind, entsprechen den »Oberen« bei Lukas (23, 35b). Text wie Lukas vorlag, könnte man annehmen, dass Lukas benützt hier ein für ihn typisches Wort, aber er Markus mit der Erwähnung der ganzen Menge, die den hätte auch dieselben Bezeichnungen wie Matthäus und toten Jesus beweint hat (Lk 23, 48), unvorsichtig die Markus benützen können. Vielleicht ist aber doch die Nachricht über die Bekannten Jesu gestrichen hat. Wie ausdrückliche Erwähnung mehrerer Arten von »Schuldi- schon gesagt, blieben von den Freunden Jesu nur solche, gen« bei Markus und Matthäus beabsichtigt: Wir haben welche sozusagen die christliche Gemeinde repräsentie- gesehen, dass bei der ganzen Beschreibung bei Markus ren: der bekehrte Heide, der Centurio (Mk 15, 39) und die Absicht sichtbar ist, jüdische Menschen zu belasten, die christlichen Frauen aus Galiläa (Mk 15, 40). Die im Gegensatz zu Lukas, bei dem die einfachen Juden mit Feinde bei Lukas sind auch bei Markus geblieben. Aller- dem Gekreuzigten solidarisch sind. dings fielen die spottenden Soldaten (Lk 23, 36 f.) aus, Diese Absicht zeigt sich schon bei der ersten Gruppe von wahrscheinlich, weil Markus das Motiv der Essig rei- Schmähenden bei Markus (15, 29; Mt 27, 39): »Und die chenden römischen Soldaten auf einen anonymen Juden Vorübergehenden lästerten ihn .. .« Später, nach dem übertragen hat (Mk 15, 36). Die anderen alten Feinde, Schrei vom Kreuze, spricht Markus (15, 35; vgl. Mt die jüdischen, aus Lukas, sind bei Markus geblieben: die 27, 47) von den spottenden »Dabeistehenden«, und einer jüdische Obrigkeit (Lk 23, 35b; Mk 15, 31 f.) und die von ihnen ist der, welcher mit dem Schwamm 15 mit Mitgekreuzigten (Lk 23, 39; Mk 15, 32b). Dass bei Mar- Essig Spott trieb (Mk 15, 36; Mt 27, 48). Also alles kus ihn die beiden schmähen und bei Lukas nur einer, jüdische Menschen! Doch kehren wir zu der Gruppe der bedeutet anscheinend nicht eine Steigerung der jüdischen Vorübergehenden zurück. Von ihnen wird Jesus nicht Schuld bei Markus. Aber in dieser Richtung ist von spottend als Heiland bezeichnet, sondern »sie schüttelten besonderer Wichtigkeit der Unterschied des Verhaltens den Kopf und sagten: Ha! Der den Tempel abbricht und der Menge bei Lukas und bei Markus. Bei Lukas lebt sie in drei Tagen aufbaut . . .« (Mk 15, 29). Markus wieder- das Leiden und den Tod Jesu mit. Bei Markus hören wir holt da durch die Vorübergehenden die Beschuldigung, nur von den schmähenden und giftig spottenden Juden: die nach ihm (Mk 14, 58) vom Hohen Rat ausgesprochen einmal vor dem Kreuzesschrei (Mk 15, 29 f.) und nach wurde. Auch dort fehlt sie bei Lukas. dem Ruf am Kreuz zweimal (Mk 15, 35 f.). Und schliess- Das Psalmwort am Kreuze wird bei Markus (15, 35 f.; lich: Bei Lukas gibt es keinen einfachen Juden, der nicht Mt 27, 47 f.) spottend interpretiert: »Und etliche der durch den Tod Jesu ergriffen wäre, bei Markus sind alle Dabeistehenden, da sie es hörten, sagten: Siehe, er ruft »nichtchristlichen« Juden Feinde Jesu, und Anhänger den Elias. Es lief aber einer und füllte einen Schwamm Jesu sind nur die christlichen Frauen aus Galiläa (und mit Essig, steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu der Centurio). trinken mit den Worten: Wartet, wir wollen sehen, ob Den wichtigsten Unterschied zwischen der Kreuzigung Elias kommt, ihn herabzuholen.« Dieser jüdische Spott bei Lukas und bei Markus könnte man dadurch erklären, fehlt bei Lukas! Dass der zweimalige Hohn mit Elias eine dass Markus die Vorlage des Lukas gewesen ist und dass Erfindung des Markus ist, wird durch die Tat des einzel- Lukas aus judenfreundlicher Tendenz seine Vorlage so nen jüdischen Spötters sehr wahrscheinlich: Er tränkte bearbeitet hat, dass aus der feindlichen Schar der Juden angeblich den Gekreuzigten mit Essig. Das wird aber bei eine dem Gekreuzigten freundliche Menge geworden ist. Lukas (23, 36 f.) über die römischen Soldaten berichtet. Dieser Weg ist aber nicht gangbar, wie die vorhergehen- Diese Manipulation verrät, wie es scheint, die Absicht de Beschreibung der Verurteilung Jesu bei Lukas des Markus. Dabei ist zu bemerken, dass hier die Bela- (23, 13 f.) zeigt. »Pilatus rief die Hohenpriester und die stung der Juden bedeutsam ist und nicht die Tatsache, 16 Eine andere konkrete Nachricht wäre das aramäische Psalmwort dass bei Markus (und Matthäus) der Spott der Soldaten am Kreuz (Mk 15, 34; Mt 27, 46) - wenn es historisch ist. über den schon gekreuzigten Jesus fehlt, denn nach Mar- 17 Billerbeck I, S. 1037 f. 16 Markus bringt oft Angaben, die auf Informationen beruhen. kus (15, 16-20; 27, 27-31) verspotten die römischen Sol- Manchmal sind sie richtig und gehören zur Sache, manchmal scheint daten Jesus vor der Kreuzigung (vgl. Lk 23, 11). er sich zu irren. Jedenfalls würde ich annehmen, dass seine besonde- ren Nachrichten auf Information und nicht auf mündlicher Ober- 15 Markus (15, 36) erzählt: »Es lief aber einer und füllte einen lieferung fussen. Schwamm mit Essig, steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trin- 19 Matthäus (27, 34) hat von der barmherzigen Sitte der Juden nicht ken.« Bei Lukas (23, 36) »verspotteten ihn die Soldaten, indem sie gewusst, und darum konnte er Markus nicht verstehen. Er schreibt, herzutraten und ihm Essig reichten«. Vielleicht ist der Schwamm auf man hätte ihm »Wein mit Galle zu trinken gegeben, und da er dem Rohr eine ausmalende Erfindung des Markus. kostete, mochte er es nicht trinken«.

IM 10 ; 155 Oberen und das Volk zusammen« und wollte Jesus frei- Lukas (21, 38) kam alles Volk in der Frühe zu ihm, um lassen (Lk 23, 13 f.). »Sie schrien aber insgesamt: Hinweg ihn zu hören. Und als das Fest der ungesäuerten Brote mit diesem, lass uns aber den Barabbas frei ... Abermals nahte, welches man Passa nennt, sannen die Hohenprie- sprach sie Pilatus an in der Absicht, Jesus loszulassen. Sie ster und Schriftgelehrten »wie sie ihn umbrächten; denn aber riefen dagegen: Kreuzige, kreuzige ihn. Er aber sie fürchteten sich vor dem Volk« (Lk 22, 1 f.; Mk sprach zum dritten Male zu ihnen: Was hat denn dieser 14, 1 f.; Mt 26, 1 f.). Vor der Gefangennahme Jesu erfah- Übles getan? Ich habe nichts Todeswürdiges an ihm ren wir aus den Evangelien nur über die Sympathie der gefunden ... Sie aber klagen ihn mit lautem Rufen an und jüdischen Menge und nicht über eine feindliche Span- forderten seine Kreuzigung, und ihr Rufen drang durch. nung des Volkes gegenüber Jesus. »Er lehrte täglich im Und Pilatus beschloss, ihr Verlangen zu erfüllen .. .« (Lk Tempel; die Hohenpriester aber und die Schriftgelehrten 23, 18 f.; siehe auch Lk 23, 4 f.). suchten ihn umzubringen, ebenso die Häupter des Volkes; Wir haben gesehen, dass bei der Kreuzigung Lukas und sie fanden nicht, wie sie es machen könnten; denn (23, 27. 35) von dem mit Jesus mitfühlenden »Volk« das ganze Volk hing an seinem Munde« (Lk 19, 47 f.; Mk spricht. Dagegen früher (Lk 23, 13), bei der Verurteilung 11, 18 f.; vgl. auch Lk 20. 19; Mk 12, 12; Mt 21. 45 f.) Jesu, wird bei Lukas »das Volk« zusammen mit den Es ist natürlich, dass die Menge des Volkes um den Hohenpriestern und den Oberen genannt, also zusammen Märtyrer der römischen Grausamkeit getrauert hat. mit den Feinden Jesu. Alle diese schrien dann insgesamt Auch darum ist da Lukas verlässlich, und Markus ver- und verlangten den Tod Jesu. Dreima1 2° wendet sich zeichnet die Tatsachen. Pilatus an sie, und dreimal ist die Antwort dem Jesus Wie aber hängen die zwei Beschreibungen der Kreuzi- feindlich. Die zweite und dritte Antwort ist: »Kreuzi- gung, die des Markus und die des Lukas, zusammen? ge!« Der schrille Ruf steigert sich bei Lukas — und nur bei Sollen wir da zwei Quellen, eine historischere, juden- ihm — ins Unerträgliche: »Und sie bedrängten ihn mit lau- freundliche, einen »Proto-Lukas« und eine judenfeindli- tem Rufen und forderten seine Kreuzigung, und ihr Rufen chere, weniger historische Quelle, unseren Markus, an- drang durch.« Es besteht also kein Grund für die An- nehmen? Oder beruhen Markus und Lukas auf einer nahme, Lukas hätte aus seiner Judenfreundlichkeit her- gemeinsamen Quelle? Beide Möglichkeiten deuten auf aus die Kreuzigung selbst gegenüber seiner Quelle um- eine progressive Entfernung von der Wirklichkeit im gearbeitet. Sinne einer unfreundlichen Entfremdung gegenüber dem Dabei ist noch etwas zu bemerken. Wir können aus der Judentum hin. Dies gilt für den Bericht des Markus, auch Apostelgeschichte erkennen, was Lukas über die Teilnah- wenn da vielleicht auch etwas anderes mitspielt. me der Juden von Jerusalem an der Kreuzigung Jesu Es kann sein, dass Markus durch seine Erfindungen auch gedacht hat. Dort (2, 22) sagt Petrus zu den Bewohnern ausdrücken wollte, dass am Kreuze Jesus von allen ver- Jerusalems über Jesus: »Diesen ... habt ihr durch die lassen war, ausser den christlichen Frauen und dem Hand der Gesetzlosen ans Kreuz geschlagen und getö- bekehrten Centurio; ausser ihnen starb Jesus in einer tet.« Und später (Apg 3, 13 f.) sagt dort Petrus über den feindlichen Welt. Aber auch der, der bereit ist, dies als Tod Jesu zu den israelitischen Männern: »Gott ... hat die Hauptabsicht des Markus anzusehen, kann nicht seinen Knecht Jesus verherrlicht, den ihr ausgeliefert und umhin, die feindlichen, höhnenden Juden um das Kreuz verleugnet habt vor Pilatus, da dieser beschlossen hatte, herum bei Markus zu bemerken, während bei Lukas die ihn loszulassen, ihr aber habt den Heiligen und Gerech- Menge des Volkes um Jesus trauert. Wir haben genügend ten verleugnet, und euch einen Mörder freigegeben. Den Gründe angeführt, warum wir den Hohn der einfachen Anführer des Lebens habt ihr getötet ... Und nun Brü- jüdischen Menschen bei der Kreuzigung für unhistorisch der, ich weiss, dass ihr in Unwissenheit getan, sowie auch halten. Eines ist sicher: Wenn es stimmen sollte, dass eure Oberen.« Das bezieht sich hauptsächlich 21 auf die Markus die spottenden Juden erfunden hat, um die Verurteilung Jesu (Lk 23, 13 f.), von der wir schon ge- »existentielle« Einsamkeit Jesu am Kreuze zu betonen, sprochen haben. Jedenfalls, wenn Lukas so von der dann konnte er schwer der jüdischen Menge freundlich Schuld der Juden denkt, ist es schwer anzunehmen, dass gesinnt sein und war ganze nahe der Vorstellung, dass die die Beschreibung der Sympathie der jüdischen Menge bei jüdische Menge Jesus »verworfen« hat. Diese Erkenntnis der Kreuzigung (Lk 23, 26 f.) von Lukas stammt. So fand scheint mir bedeutend zu sein. es Lukas in seiner Quelle, denn die angeführten Stellen Die Frage, ob Lukas in unserem Abschnitt eine besondere aus seiner Apostelgeschichte zeigen, dass Lukas persön- Quelle gehabt hat oder ob Markus von derselben Quelle lich gegen die feindlich spottende jüdische Schar in wie Lukas abhängt, die er dann nach seiner Tendenz Markus nichts einzuwenden gehabt hätte. Die Quelle der bearbeitet hat, ist, so weit ich sehe, nicht so schwer zu Schilderung der Kreuzigung bei Lukas ist also nicht beantworten, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint. Markus. Ich konnte auch sonst in meinen Arbeiten feststellen, dass Die Beschreibung der Sympathie der jüdischen Menge das Markus-Evangelium eine gründliche Bearbeitung des mit dem Gekreuzigten bei Lukas ist sicher stilisiert, das alten Stoffes und kaum mit dem alten Bericht identisch sieht man aus der dreimaligen Erwähnung der Menge; ist, wogegen Lukas denselben alten Bericht bringt, die zweite (Lk 23, 35a) sagt nicht viel aus und ist ohne von Markus abhängig zu sein — und vielleicht hängt eigentlich unnötig. Doch die Tatsache dieser Sympathie daneben noch Markus von Lukas ab. Kurz gesagt: Es gibt ist sicher historisch und nicht von der Quelle konstruiert. eine gemeinsame Quelle von Lukas und Markus, aber ihre Wir wissen ja, dass in den letzten Tagen Jesu in Jerusa- Form bei Lukas ist der markinischen Bearbeitung bei lem die jüdische Menge auf seiner Seite stand 22 . Nach weitem vorzuziehen. Die hier vorliegende Untersuchung bestätigt die sonstigen Ergebnisse meiner Forschung: auch 20 Das wird bei Lukas (23, 22) ausdrücklich gesagt. Bei Markus (und Matthäus) wendet sich Pilatus viermal an sie. da ist Lukas ursprünglicher, historischer, und Markus hat 21 »Die Oberen« stammen aus Lk 23, 13, 35b. Vgl. die Stellen oben, seine Vorlage grundsätzlich bearbeitet. Anm. 13. Ich glaube, auch in unserem Abschnitt könne man An- 22 Allerdings liess sich die Menge von den Hohenpriestern aufwiegeln, zeichen dafür finden, dass Markus ein ähnlicher Text wie die Freilassung des Barabbas zu verlangen. »Die Menge hasste zwar Jesus nicht, aber sie liebte den Freiheitskämpfer Barabbas« (Flusser, der des Lukas vorlag, den er dann selbständig neu umge- Jesus, S. 125). schrieben hat. Besonders ist auf den vorzüglichen Auf-

156 1 /M 11 bau der Erzählung bei Lukas zu achten, die bei Markus Was wir bei Markus lesen, ist zwar ein lebendiges, nicht ziemlich verdorben wurde. Die dreimalige Erwähnung ganz unmögliches Bild, aber es ist die Frucht seiner der mit Jesus sympathisierenden Menge fehlt, wie wir Phantasie und — sicher in unserem Fall — seiner Tendenz. gesehen haben, bei Markus. Dadurch verschwanden mit Dies könnten wir ohne den Bericht bei Lukas nicht der ersten Erwähnung der mitleidenden Schar des Volkes erkennen. Und wenn wir Markus mit Lukas vergleichen, auch die tiefen Worte Jesu an die Töchter Jerusalems (Lk sehen wir, dass wir aufgrund von Lukas die Zersetzung 23, 27 f.) über die künftige Zerstörung. Auch sonst wer- des Aufbaus bei Markus und den Sinn seiner Bearbeitung den bei Markus die Trauerworte Jesu über das künftige verstehen können. Wir können also annehmen, dass Mar- Unheil fast alle ausgemerzt. Mit der dritten Erwähnung kus auch in unserem Fall ein ähnlicher Text wie dem der klagenden Menge (Lk 23, 48) werden auch die fol- Lukas vorlag, den er nach seinem Geschmack und nach genden Worte (Lk 23, 49a) »Es standen aber alle seine seiner Tendenz bearbeitet hat. Bekannten von ferne« entfernt; was bei Markus (15. 40) Bei Lukas klagt also die jüdische Menge um den gekreu- blieb, ist: »Es waren aber auch Frauen da, die von ferne zigten Jesus von Nazaret, bei Markus ist sie ihm feind- zuschauten . . .« Markus hat also nicht gemerkt, dass seine lich gesinnt. Wenn sich gezeigt hat, dass das von Lukas Quelle ein Psalmwort (Ps 38, 12) enthielt: »Meine Erzählte historisch stimmt, dann ist es für die angebliche Freunde und Genossen stehen abseits von mir, und meine jüdische Schuld am Tode Jesu sehr wichtig. Genau so Nächsten halten sich fern.« Er hat also, ohne es zu wichtig ist auch, dass schon bei Markus eine Verschiebung bemerken, den ersten Teil der biblischen Anspielung zuungunsten der Juden vorliegt. Also schon bei Markus gestrichen. beginnt da die Bewegung in der Richtung der An- Gegenüber der dreimaligen Erwähnung der zu Jesus schwärzung der Juden, die so grausame, unmenschliche stehenden Menge gibt es bei Lukas drei Arten von Folgen in der Geschichte gehabt hat. Übrigens konnten Spöttern: die Oberen (Lk 23, 35b), die Soldaten wir sehen, dass von dieser unseligen Tendenz auch Lukas (23, 36 f.) und einer der Mitgekreuzigten (Lk 23, 39). selbst bei dem Rufe »Kreuzige« nicht so frei ist 23 — frei Wir haben schon gesehen, dass die drei Schmähungen bei von dieser Verzerrung waren sicher die ersten Quellen — Lukas Variationen von einem Spott sind: »Andern hat er wir nehmen an, dass sie auch noch in ihrer griechischen geholfen, so helfe er sich selber, wenn er der Messias Übersetzung fehlte, die die Grundlage der Evangelien Gottes ist, der Auserwählte« (Lk 23, 35). Auch bei gewesen ist. Markus kommen drei Arten Worte von Schmähenden Die Schilderung der Kreuzigung bei Lukas kann auch vor, aber der Parallelismus der Schmähworte ist gestört, deshalb nicht sekundär sein, weil es in der Geschichte des und die Identität der Spottenden ist nicht dieselbe wie Urchristentums nie eine Bewegung in der Richtung zur bei Lukas. Die Worte des Spottes der Mitgekreuzigten Judenfreundschaft, sondern immer eine Entwicklung zur (Lk 23, 39) fehlen bei Markus (15, 32b); nur die Worte Judenfeindschaft gibt 24. Um den Platz des Markus in der Oberen (Lk 23, 35b) sind bei Markus (15, 31 f.) diesem Prozess zu bestimmen, müsste man den ganzen ähnlich. Bei Markus fehlen die schmähenden Soldaten Markus untersuchen. Was die Schilderung der Kreuzi- (Lk 23, 36 f.) ganz, aber dagegen werden bei ihm (Mk gung Jesu bei Markus anbelangt, konnten wir sehen, dass 15. 29 f.) als erste Gruppe die Vorübergehenden einge- die Juden zwar belastet sind, aber noch nicht als Volk führt, und ihr Spott ist neu und verschieden, nur das und Religion verurteilt. Matthäus ist in der Schilderung Ende »hilf dir selber« ist parallel. Eine Störung der der Kreuzigung nicht judenfeindlicher als Markus: In Parallelität ist in der Geschichte der Versionen fast diesem Abschnitt ändert er nicht die Tendenz gegenüber immer ein Zeichen einer sekundären, weniger gelungenen seiner Vorlage, dem Markus. Aber sonst ist der End- Bearbeitung. redaktor des Matthäus in seiner Judenfeindschaft weiter Bei Markus (15, 35 f.) erscheinen nach dem Worte am gegangen, wie ich anderswo zu zeigen versucht habe. Kreuz neue jüdische Spötter. Die Schilderung zeugt zwar Das ganze Bild ist nicht sehr erfreulich. Vielleicht war von einer fabulistischen Begabung des Markus, die wir einmal eine Spannung des Christentums gegenüber den auch sonst bei ihm entdecken konnten, aber eines spricht Juden und dem Judentum für die Entwicklung des Chri- u. a. sehr gegen die Ursprünglichkeit und Historizität stentums als einer selbständigen, von dem Judentum des Geschilderten: Das Motiv des Essigs (Mk 15, 36), das verschiedener Religion sozusagen historisch notwendig — bei Markus so pittoresk eingebaut ist, stammt, wie wir jetzt kann man das Gerüst, leider zu spät, getrost entfer- schon gesehen haben, von den spottenden römischen nen. Man kann aber die Anfälligkeit des Christentums Soldaten (Lk 23, 36 f.), von denen Markus nichts weiss. auf den Antijudaismus nur dann beseitigen, wenn man Die Manipulation scheint dem Markus nicht sehr gelun- den Krankheitsherd behandelt. Da werden keine selbst- gen zu sein: Die um das Kreuz stehenden römischen gerechten Ausflüchte helfen. Man sollte erkennen, dass Soldaten konnten dem Gekreuzigten spottend Essig rei- der christliche Antijudaismus keine zufällige Entgleisung chen, aber wie kann man sich zusammenreimen, dass sie gewesen ist. Der Antijudaismus stand als Pate bei der zulassen würden, dass einer der herumstehenden Juden Bildung des Christentums. Dies versuchten wir an unse- herbeiläuft und einen Schwamm mit Essig auf einem rem Beispiel zu zeigen und wollten dadurch unseren Rohr dem Gekreuzigten reichen kann? Ganz ausge- christlichen Brüdern einen guten Dienst erweisen. schlossen wäre so was bei einer tumultuarischen Hinrich- 23 Auch Johannes steigert tendenziös die Lautstärke und die Wieder- tung zwar nicht, aber solch eine Vermutung erweist sich holungen des Rufes: »Kreuzige« (Jo 19, 6, 15), aber die ersten Schreier als überflüssig, weil wir Lukas besitzen. Diese Überle- bei ihm (Jo 19, 6) sind noch »die Hohenpriester und die Diener«. 24 Eine Ausnahme bilden die judenchristlichen Sekten. Nachdem sie gung gilt übrigens nicht nur für die Geschichte mit dem von der Kirche verketzert worden sind, beginnen sie ihr Judentum Essig, sondern für die ganze Schilderung der Kreuzigung. zu betonen und die Juden werden ihnen nahe.

»Ich danke dir, Herr, denn du hast meine Seele erlöst aus der Grube und dem Abgrund der Scheol. Du hast mich heraufgehoben zu ewiger Höhe. Ich wandle auf ebener Bahn, die nicht auszuforschen ist. Und ich erkenne, dass es Hoffnung gibt für den, wel- chen du aus Staub gebildet hast für den ewigen Rat. Und den verkehrten Geist hast du gereinigt von grosser Missetat, dass er sich stelle an den Standort mit dem Heer der Heiligen und in die Gemeinschaft eintrete mit der Gemeinde der Himmelssöhne ...«.*

In: Gebet aus Qumran: 1 Q H III, 19 -22.

IM 12 J 157 IV Die Stellung des Zweiten Tempels im Leben des Volkes* Von Shmuel Safrai, Professor für jüdische Geschichte an der Hebr. Universität Jerusalem Die Rückkehrer aus dem babylonischen Exil zogen hinauf Beginn, der Gottesdienst in Gestalt von Opfer-Darbrin- nach Jerusalem, um das zerstörte Gotteshaus wieder zu gung nicht mehr die einzige Position im religiösen und errichten und die Ordnungen des Gottesdienstes, wie sie gesellschaftlichen Leben des Volkes ein. Der Schwerpunkt im durch Feindeshand verwüsteten Heiligtum gebräuch- verlagerte sich weitgehend auf die Weisung in Synagoge lich waren, wieder herzustellen. Die Proklamation des und Lehrhaus. Mit Anstrengung all seiner geistigen Kräf- Perserkönigs Kyros, nach ihrem Wortlaut im Buch Esra te suchte das Volk Wege zur Lebensgestaltung im Gutes- und in der Chronik, bezeichnet die Errichtung des Got- tun. Schon in dem Ausspruch von Schimon dem Gerech- teshauses als die ausschliessliche Bestimmung der Heim- ten heisst es: »Auf drei Dingen besteht die Welt: auf Wei- kehrer: »Und er gebot mir, ihm ein Haus zu erbauen im sung, Gottesdienst und guten Werken« 5. Auch Verwal- judäischen Jerusalem. Wer unter euch von all seinem tung und Rechtsprechung lagen im Lauf der Zeit nicht Volk ist, sein Gott sei mit ihm; er ziehe hinauf ins ju- mehr ausschliesslich in den Händen der Priesterschaft. däische Jerusalem und baue das Haus des Herrn, des Vielmehr waren all diese Einrichtungen und Grundvor- Gottes Israel« 1 . Jedoch bereits von den ersten Tagen an stellungen des religiösen, gesellschaftlichen und nationalen beginnt sich die Sonderstellung des Zweiten Tempels im Denkens im Leben des Heiligtums begriffen und gelangten Vergleich zum Ersten abzuzeichnen. dadurch zum Durchbruch in der Bevölkerung. Die Stadt Von der Zeit des Ersten Tempels her waren einige Insti- Jerusalem — und als ihr Brennpunkt der Tempel — war tutionen im Leben und Denken des Volkes fest veran- nicht nur der Nährboden für all die gesellschaftlichen Be- kert: das Königtum, die Prophetie, Tempel und Priester- wegungen und Strömungen, sondern weitgehend auch tum. Diese Einrichtungen waren nicht nur entwicklungs- Schauplatz und Rahmen all dieser Geschehnisse, selbst geschichtlich unabhängig voneinander, sondern auch theo- wenn diese dazu angetan waren, die Vormachtstellung retisch und praktisch unterschieden. Die Autorität des von Tempel und Priesterschaft einzuschränken. Tempels beruht weder auf Königtum noch auf Prophetie, Offenbar liegen die Ursprünge der Synagoge in den und weder Prophetie noch Königtum beziehen die ihrige Volksversammlungen und der öffentlichen Tora-Vorle- vom Tempel und seiner Priesterschaft. Es kommt zwar sung, wovon erstmals in den Tagen Esras und Nehemias vor, dass der König im Tempel vom Hochpriester gesalbt berichtet wird 6. Für die Endphase des Zweiten Tempels wird oder durch Macht und Einfluss der Priesterschaft zu finden wir in den Vorhöfen des Tempels Lehrhäuser und seiner Würde kommt", aber die Salbung des Königs im Synagogen zu Studium und Gebet'. Die Gebete sollten Tempel ist keine Notwendigkeit und keine feste Einrich- nicht den Opferdienst nach seinem Aufhören ersetzen, tung; das Königtum in Israel ist weder Ausfluss noch sondern sie wurden entsprechend den Opfern verordnet, Fortsetzung des Priestertums 3. Das Prophetentum richtet und die Beter verrichteten ihr Gebet zur Stunde der seine Forderungen an König oder Volk kraft Gebot des Opferdarbringung mit Ausrichtung nach Jerusalem und Gottes, der sich seinen Propheten offenbart hat, aber der auf den Tempels. Prophet empfängt vom Tempel weder Inspiration noch Auch einige andere Elemente der Synagogen-Liturgie Autorisation4. stammen ursprünglich aus dem Tempeldienst und griffen Auch war der Erste Tempel weder das erste Zentrum des erst im Lauf der Zeit auch auf die Synagogen über. Der Gottesdienstes noch seine einzige Stätte. Die Sonderstel- Priestersegen, das Schwingen des Feststrausses zum Laub- lung des Tempels als einzigem Kultort bildete sich erst hüttenfest, Schofarblasen und Hallel finden wir zunächst im Lauf von Generationen heraus. Allgemein lässt sich in Verbindung mit dem Altardienst, und erst allmählich sagen: Der Erste Tempel nahm wohl einen gewissen Rang breiteten sie sich über die Synagogen im Land und in der im Leben des Volkes ein, umfasste aber nicht alle Bereiche Diaspora aus9. Die meisten dieser Vorschriften und Ge- des geistigen und konkreten Lebens in Israel. s Sprüche der Väter I 2. Anders lagen die Verhältnisse beim Zweiten Tempel. Von 6 Damit folge ich den Ausführungen von M. Rosenmann, Der Ur- Anfang an siedelten die Rückkehrer aus dem Exil rings sprung der Synagoge, Berlin 1907 und von L. Herzfeld, Geschichte um Altar und Tempel. Allerdings nahm im weiteren Ver- des Volkes Israel, Braunschweig 1847-57, II 131, im Gegensatz zu den meisten Forschern des vorigen Jahrhunderts bis in die Gegen- lauf seiner Geschichte, vielleicht sogar schon vor ihrem wart, die den Ursprung der Synagoge ins babylonische Exil zurück- Einleitung zu dem Buch Pilgrimage at the Time of the Second verlegen. Dieser Irrtum kam dadurch zustande, dass diese Gelehr- Temple (hebr.), Tel Aviv 1965; übersetzt v. Angela v. Kries, München. ten das Wesen der Synagoge nicht richtig erfassten; sie war nämlich I Esra 1, 2 f.; 2 Chr 36, 22 f. Obige Ausführungen haben nichts zu von Anfang an nicht auf das Gebet, sondern auf die öffentliche Tora- tun mit den von Gelehrten aufgeworfenen Zweifeln an der Echtheit Lesung ausgerichtet. Die öffentliche Tora-Vorlesung als Gottesdienst, der Proklamation des Kyros noch mit dem Problem ihrer Datierung. als kultischer Akt, findet sich erstmals bei Esra. Dazu ferner S. Zumindest ist das wiedergegeben, was nach Anschauung der ersten Kraus, Synagogale Altertümer, Berlin/Wien 1922, 52 f. und 66 f. Heimkehrer und nach der erhaltenen historischen Überlieferung ihr Dazu M Joma VII 1; MSota VII 7; TSukka IV 5; TSanhedrin VII 1. Ziel war. 8 MBerachot IV; jBerachot IV (7a); bBerachot 26b. Zur Gleichzei- 2 Dazu 2 Kön 11; 12. tigkeit von Gebet und Opfer Judith 9, 1; Apg 10, 9; Lk 1, 10 et Viele Gelehrte haben sich bemüht, die enge Beziehung zwischen passim: dazu die Ausführungen von G. Alon, Studies in Jewish Königtum und Prophetie und dem Priestertum aufzuweisen. Unter den History in the Times of the Second Temple (hebr.), Tel Aviv 1957/58, jüngeren Forschungen: J. de Fraine, L'aspect religieux de la royaute 1. Teil 284 ff. israelfite, Rom 1954, und S. Mowinckel, He that Cometh, Oxford 9 Zum Priestersegen zum Schluss des Tamid-Opfers MTamid VII 2;

1954, 21 - 91; im Gegensatz dazu die Ausführungen von Jecheskel in der Frühzeit war es der Hochpriester allein, der das Volk segnete, Kaufmann, Geschichte des jüdischen Glaubens (hebr.), Tel Aviv 1955/56, gemäss 3. Mose 9, 22; so noch bei Ben Sira 50, 20. 1101-110. 180 f. 473-485. Das Lulaw-Schwingen fand zunächst nur am Tempel statt; MSukka Die Samuel-Geschichte widerspricht dem nicht; denn Samuel ist IV 4 ordnet es den rituellen Handlungen am Tempel zu, und das- kein priesterlicher Seher, und weder sein Prophetentum noch seine selbe ergeben die Äusserungen von Josephus Antiquitates III 10, 4. führende Position hängen mit dem Heiligtum zusammen; dazu Kauf- Ähnlich verhielt es sich mit dem Schofarblasen: Wie aus einigen Quel- mann, op. cit. II 105 ff. len mischnischer Zeit hervorgeht, wurde vor der Tempelzerstörung

158 IM 13 bräuche gingen noch vor der Zerstörung des Tempels auf und einige unter ihnen legen dem Volk die Schrift aus 17 . die Synagoge über". Im weiteren Verlauf unserer Betrachtungen werden wir Obige Beispiele lassen den besonderen Status des Zwei- noch auf die Rolle kommen, die der Tempel bei der Wah- ten Tempels als Brennpunkt im Leben des Volkes deut- rung und Verbreitung der jüdischen Literatur spielte durch lich hervortreten. Dieser Umstand erhellt insbesondere Redaktion, Abschrift und übersetzung heiliger Schriften aus der Gestaltung des Tempeldienstes und aus der Be- sowie durch Anlage und Sammlung historischer Bücher ziehung des Volkes zum Tempel und seinen Vorhöfen. und Aufzeichnungen. Bekanntlich fungierten am Zweiten Tempel alle Priester Die religiös-sozial-nationalen Strömungen und die mes- und Leviten, die ihre Abstammung auf den Stamm Levi sianischen Bewegungen zur Zeit des Zweiten Tempels ent- zurückführen konnten. Der Dienst war aufgeteilt unter standen oder artikulierten sich zumindest im Bereich des 24 Wachen von Priestern und Leviten. Jede Wache Tempels. Die Stadt Jerusalem mit dem Tempel bildete amtierte eine Woche lang, zog also turnusmässig zweimal den Hintergrund für die Auseinandersetzung zwischen im Jahr hinauf zum Tempeldienst". Die Ausgaben für den verschiedenen Strömungen im Volk während der Altar und Tempel wurden nicht aus der Kasse des Königs, ganzen Epoche des Zweiten Tempels, angefangen unmit- des Präsidenten oder der Obersten des Volkes bestritten, telbar nach der Rückkehr aus dem babylonischen Exil mit sondern aus dem Fonds des Halbschekels, der dem gan- dem Konflikt, den die Leiter der Heimkehrer mit den zen Volk als Pflichtabgabe auferlegt war. Entsprechend Samaritanern, mit Sanballat und mit Tobias dem Am- stellen wir fest, dass Abgeordnete der Bevölkerung, nach moniter auszufechten hatten, bis zu den Hellenisten und Bezirken gegliedert, mit der jeweiligen Priesterwache hin- den Streitigkeiten zwischen Pharisäern und Sadduzäern — aufzogen, um den Opfern beizuwohnen und damit zu do- bis hin zum Fall des Tempels. kumentieren, dass das Tamid-Opfer im Namen des gan- Die Wallfahrt und ihre Bedeutung für das Leben von zen Volkes dargebracht wurde 12. Volk und Stadt Der Tempel diente auch als Sitz des Hohen Rates, der nur Eines der wichtigen Gebiete, auf denen die Gestalt des dort über seine vollen Rechte verfügteu. Der Sanhedrin Zweiten Tempels besonders hervortritt, ist die dreimal vor der Tempelzerstörung war nicht nur Legislative und jährliche Wallfahrt. Im Rahmen und mit Hilfe der Wall- Exekutive, sondern auch eine Hochschule — ein Lehr- fahrt kamen auch andere Aspekte der Beziehung zwischen haus. An Sabbaten und Festtagen versammelten sich die dem Volk und seinem Tempel zum Ausdruck. Bei dieser Mitglieder des Hohen Rates nicht in der Quaderhalle, Gelegenheit artikulierten sich die geistigen Strömungen sondern in dem Lehrhaus innerhalb des Tempelbezirks im Volk. Die Wallfahrt erneuerte und bereicherte das re- und bildeten eine Akademie zum Studium der Weisung". ligiös-nationale Erleben, stellte für den Laien eine neue Die Verbreitung von Gottes Wort im Tempel geschah Beziehung zum Studium der Weisung her und verstärkte nicht nur durch die offiziellen zentralen Lehranstalten. den inneren Zusammenhalt des Volkes im Land und in Nicht nur ein allgemein anerkannter Gelehrter wie Rabbi der Diaspora. Ich werde versuchen aufzuzeigen, dass Jochanan ben Sakkai »sitzt und predigt im Schatten des nicht alle zu jedem Fest pilgerten und dass nicht alle, we- Heiligtums« 15. Lehrer wie Jehuda ben Zarifai und Matit- der im Land noch in der Diaspora, es als ihre religiöse jahu ben Margalit, die ihre Schüler dazu anstachelten, den Pflicht betrachteten, zu jedem Fest an der Wallfahrt teil- goldenen Adler abzureissen, den Herodes über dem Hei- zunehmen. Mancher Jude mochte sich wohl jahrelang auf ligtum hatte anbringen lassen, »lehrten täglich im Tempel diesen erhabenen Anlass vorbereiten, aber Zehntausende vor vielen jungen Leuten, die ihre Worte begierig aufnah- zogen wirklich zu jedem Wallfahrtsfest hinauf nach Je- men«". Von Jesus berichten die Evangelien, dass er täg- rusalem, und das Erscheinen vor Gott hatte grosse Be- lich im Tempel lehrte. Und nach seinem Tod versammelt deutung. Wie die talmudische und die christliche über- sich die urchristliche Gemeinde Tag für Tag im Tempel, lieferung berichten, teilte sich der heilige Geist nicht nur nur am Tempel selbst angesichts der Opfer geblasen; MRosch haSchana Priestern bei der Ausübung ihres Amtes, sondern auch I 4, dazu die Baraita bRosch haSchana 30a, sowie Philon, de legibus Laien beim Eintritt in den Tempel anlässlich eines Wall- II 188. Zu den beiden letzteren Alon, op. cit. 106 ff. Auch Hallel hing fahrtsfestes mit's. ursprünglich mit den Opfern des Volkes an den Wallfahrtsfesten zu- sammen, dazu A. Büchler, in: ZAW 20 (1900), 115 ff. In der Frühzeit des Zweiten Tempels, unter Nehemia, t° Zum Priestersegen ist aus MTamid V 1 zu entnehmen, dass die verpflichtete sich das Volk dazu, den Tempel durch die Priester das Volk beim Gebet in der Synagoge segneten. Nach der Steuer eines Drittel-Sehekels zu erhalten und dorthin ihre Tempelzerstörung verordnete Jochanan ben Sakkai, die Priester sollten nicht in Sandalen zum Segen auftreten; folglich war der Prie- Zehnten, Heben, Erstlingsfrüchte und sonstigen Abgaben stersegen als solcher zuvor auch ausserhalb Jerusalems üblich (bRosch an die Priesterschaft abzuführen". Die meisten dieser haSchana 31b und bSota 40a). Zum Lulaw-Schwingen ausserhalb Jerusa- Gaben hingen direkt oder indirekt mit der Wallfahrt zu- lems unmittelbar vor der Tempelzerstörung die Aussage von Rabbi sammen. Der Halb-Scheke1 2° wurde sowohl aus dem Elasar im Namen von Rabbi Zaddok, dass die Bewohner von Je- rusalem ihren Lulaw mitnahmen, wohin sie gingen (TSukka II 10; Land als auch aus der Diaspora am Wallfahrtsfest nach bSukka 41b; jSukka III [53c], ferner MSukka III 2). Zum Hallel Jerusalem hinaufgebracht; die Erklärung über die Abson- unabhängig vom Opferdienst Büchler, loc. cit. Schofarblasen war derung der Zehnten wurde zu Pessach abgegeben", und offenbar ausserhalb des Tempels bis unmittelbar vor dessen Zerstö- die Erstlingsfrüchte wurden vom Wochen- bis zum Laub- rung nicht üblich. . Im Lauf unserer Untersuchung 11 Die Chronik verlegt die Einrichtung der 24 Priesterwachen in die hüttenfest dargebracht 22 Zeit König Davids (1. Chr 24; 25), aber die Listen der Priesterfami- wird sich herausstellen, dass die Wallfahrt nicht nur den lien Nehemia 10 und 12, 1-7 sind älter als die in der Chronik, denn einzelnen anging, sondern sowohl im Land als auch in Nehemia zählt 21 bzw. 22 Priesterfamilien auf, die Chronik aber der Diaspora eine Sache der Stadtgemeinde war. Und die 24; dazu J. Jeremias, Jerusalem zur Zeit Jesu, Leipzig 1923, 60 ff. und W. Rudolph in seinem Kommentar zur Chronik, Göttingen 1963, 17 Mt 21, 23 und 26, 55; Mk 11, 23 und 14, 49; Lk 20, 1, 21, 37 und 159 ff. In der tannaitischen Literatur, bei Josephus, in den Apokryphen 18, 20; Apg 2 bis 4. und Pseudepigraphen kehren die auf David zurückgeführten Zahlen 18 Apg 2 ist berichtet von den Aposteln, denen der heilige Geist am und Namen der Chronik wieder, nicht die bei Nehemia genannten. Wochenfest zuteil wurde. Und jSukka V (55a) heisst es: » Jona ben 12 Dazu MTaanit IV 2. Amitai trat als Wallfahrer ins Haus des Wasserschöpfers (am letz- 13 Die Bedeutung des Sitzungsortes wird festgestellt bSanhedrin 14b ten Tag Sukkot), und der heilige Geist ruhte auf ihm«. mit Hinweis auf 5. Mose 17, 8b/9. 19 Neh 10, 35 - 40. 20 Dazu 2. Mose 30, 13. 14 TSanhedrin VII 1; jSanhedrin I (19e). 21 Dazu 5. Mose 26, 12-16 und MMaaser scheni V 6. 15 bPessachim 26a. 16 Antiquitates XVII 6, 2 f. 22 Dazu Mischna Bikkurim (Erstlingsfrüchte).

IM 14 159 Wallfahrer reisten in organisierten Gruppen mit den Ge- darf und als Geschenke mitgebrachten Kleider und Ge- meindeleitern an der Spitze und in Begleitung der öffent- räte verschiedenster künstlerischer Provenienz regten si- lichen Funktionäre 23. cher die Töpferei, Weberei, Schneiderei, Goldschmiede- Insbesondere wirkte sich die Wallfahrt auf den Tempel kunst und das übrige Kunsthandwerk an, wie aus den selbst und auf die Stadt Jerusalem aus. Der Aufenthalt mannigfachen stilistischen Beeinflussungen der in Jerusa- von Zehntausenden von Juden zu jedem Fest in der Stadt lem aus dieser Zeit erhaltenen Gebäude hervorgeht 28. Li- hatte erheblichen Einfluss auf Handel und Wirtschaft, terarisch wird ausdrücklich erwähnt, dass in Jerusalem al- sowohl unmittelbar vor und nach den Festen als auch le Währungen in Umlauf waren, ebenso wie dort alle während des übrigen Jahres, denn manche Wallfahrer Sprachen gesprochen wurden 29. Zusätzlich zur Heiligkeit blieben länger in der Stadt oder kamen früher, und man- der Gottesstadt erblickte der Pilger in ihr mancherlei che nahmen sogar ihren festen Wohnsitz in Jerusalem äussere Pracht und Schönheit; und wenn schon der bi- wegen der Heiligkeit des Ortes als Sitz des Tempels'''. blische Psalmdichter in ihr die Stadt sah »von Bergen um- Dem Hohen Rat in Jerusalem oblag die Sorge für die ringt«39, die »hochgebaute Stadt, dahin die Stämme des Wallfahrer während ihres Aufenthalts in der Stadt, Herrn wallen«, und ihre historische Vergangenheit »da ebenso die Bereitstellung von Wasser, Verpflegung und Stühle gesetzt sind zum Gericht« 31, so kennt sie der Pil- Unterkunft; seine Mitglieder kümmerten sich auch um ger zur Zeit des Zweiten Tempels sogar als die Stadt, »die die Instandsetzung von Wegen, Pflanzung von Bäumen neun Mass Schönheit nahm« 32 und »die ganz Israel zu als Sonnenschutz, Anlage, Auffüllung und Wartung von Genossen macht« 33. Wasser-Reservoirs für die Wallfahrer. Aber der Hauptaspekt der Wallfahrer ist doch nicht in Die frühesten Nachrichten über die Wallfahrt ihrer Wirkung auf die wirtschaftlichen Verhältnisse oder Die Wallfahrt ist in den fünf Büchern Moses geboten, und in ihrer organisatorischen Seite zu sehen, sondern auf an- für die Zeit des Ersten Tempels ist uns die Wallfahrt des derem Gebiet. Eines der Charakteristika des jüdischen Elkana und seiner Familie berichtet 34. Dessen ungeachtet Volks besteht darin, dass die Mehrzahl seiner Angehöri- spielte offenbar in der Epoche des Ersten Tempels die gen in der Diaspora leben. Im Land wohnte eine relativ Wallfahrt keine entscheidende Rolle im Leben des Volkes zahlreiche jüdische Bevölkerung, aber doch nur eine Min- und des Tempels. Jedenfalls haben wir aus der ganzen derheit der Gesamtnation. Die Mehrheit des jüdischen Königszeit nur sehr vereinzelte Aufzeichnungen über Volkes war in der nahen (Agypten, Syrien) oder fernen Wallfahrt von Juden. Kein politisches Ereignis — weder (Babylonien, Europa) Diaspora ansässig. Mittels der unter den Richtern noch unter den Königen — steht in Wallfahrt wurde die Verbundenheit der Gemeinden un- zeitlichem Zusammenhang mit Wallfahrt zu den Festen, tereinander von neuem gefestigt und ihr vertrauter Um- auch die Propheten richten ihre Ansprachen nicht an eine gang gefördert. In der Literatur jener Zeit kommt das zum Fest versammelte Volksmenge. Bei der Errichtung zum Ausdruck in vielen zu diesem Zweck erlassenen Ver- der Stierkulte in Bet El und Dan heisst es nur, Jerobeam ordnungen betreffs kultischer Reinheit, Verbot von Miet- hatte Sorge, »falls das Volk hinaufzöge, Schlachtopfer zu forderung und Übernachtungsgebühr in Jerusalem und schlachten im Haus des Herrn zu Jerusalem« 35, aber Wall- vielen anderen Dingen 25. fahrt als Einrichtung zu den Festzeiten ist gar nicht er- Am Wallfahrtsfest, da Zehntausende von Juden zusam- wähnt". In der Erzählung vom Pessach-Fest unter König menströmten, schlug das Herz des Volkes höher, steigt Josia37 fordert der König das Volk auf, das Fest zu be- das nationale Hochgefühl im Stolz auf seine religiöse gehen, aber das Gebot der Wallfahrt, des Erscheinens vor Auserwähltheit und seine unmittelbare Beziehung zu sei- dem Herrn, findet sich nicht einmal angedeutet. Auch das nem Gott sowie auf die Kraft, die in dem Volk ruht, das Buch Hesekiel, das den Tempel, seine Bauten und Ord- über die ganze Welt zerstreut ist — und doch einen ein- nungen, viel beschreibt, erwähnt die Wallfahrt nicht. heitlichen Organismus darstellt". Zwar heisst es, das Landvolk sei an den Festen gekommen, Wie bekannt, berichtet Josephus von Revolten und Er- den Herrn anzubeten, aber ebenso kam es an Sabbaten hebungen gegen die römische Besatzungsmacht, die häufig und Neumonden; Wallfahrtsfeste sind nicht eigens her- an Wallfahrtsfesten ausbrachen. Sicher dürfen wir an- vorgehoben38. Auch die Berichte über das Pessach-Fest nehmen, dass schon die Ansammlung ungeheurer Volks- unter König Hiskia und unter König Josia in der Chronik massen als solche Ausschreitungen ermöglichte; aber die wissen nichts von einer Wallfahrt speziell zu den Festen". Annahme liegt näher, dass das Steigen der national-re- Auch sind die in der Chronik erscheinenden Zahlen von ligiösen Spannung zur Festzeit einerseits und die Knecht- Opfernden keineswegs stattlich, und der Verfasser des schaft, die jedem einzelnen Wallfahrer angesichts der in Buches würde diese gewiss nicht verringert haben, so wie der heiligen Stadt stationierten ausländischen Truppen er auf die Verherrlichung des Tempels und seiner Ord- zu Bewusstsein kam, andererseits feindselige Reaktionen nungen bedacht war. Beim Pessach-Fest unter Hiskia steht erweckte und auslöste. keine Zahl", aber bei Josia lesen wir: » Josia hob Klein- Die Anwesenheit zahlreicher Pilger aus allen Teilen des 28 Auf einiges weist J. Jeremias, Jerusalem zur Zeit Jesu, Leipzig Landes sowie der Ökumene verlieh der Stadt ein beson- 1923, 1-19, hin. deres Gepräge und erweiterte den geistigen Horizont ihrer 29 jMaaser scheni I (52c); TSchekalim II 3; Apg 2, 1-11. Bewohner27. Die von Pilgern für ihren persönlichen Be- 30 Ps 125, 2. 31 Ps 122, 3 und 5. 32 bKidduschin 49b, dazu bSukka 51b und viele Stellen in Talmud 23 MBikkurim III. und Midrasch. 24 Die eigenen Bethäuser von Diaspora-Gemeinden in Jerusalem be- 33 jChagiga III (9d); das bedeutet, dass die Schranken zwischen den zeugen einen längeren Verbleib der Wallfahrer in der Stadt. Israeliten fallen, dadurch dass die kultische Unreinheit des Landvolks 25 Dazu MChagiga III 7; eine Baraita, die sich in verschiedener zu den Festen als aufgehoben galt. Überlieferung an drei Stellen der talmudischen Literatur findet, zählt 34 1. Sam 1. 55 1. Kön 12, 27. zehn solche Jerusalemer Verordnungen auf (die ausführlichste Fas- 36 Er setzt zwar ein Fest im achten Monat ein anstelle des Laubhüt- sung steht Awot deRabbi Natan, Version A 35, 2; die beiden an- tenfestes, aber von Wallfahrt zu diesem Anlass ist nicht ausdrücklich deren TNegaim VI 2, bBaba Kamma 82b). die Rede, mag sie auch impliziert sein. 29 Dazu MSukka V 4 und jSukka V (55b). 37 2. Kön 23, 21-23. 27 Daher offenbar die legendäre Weisheit der Jerusalemer, nicht nur 38 Hesekiel 46, 9 und 3. 39 2. Chr 30 und 35. der Gelehrten, sondern auch der Frauen und Kinder; dazu z. B. 40 Kapitel 30, 24 steht, dass Hiskia für die Festgemeinde 1000 Wid Midrasch Klagelieder rabba Kapitel 1. der und 10 000 Stück Kleinvieh aushob für die 7 zusätzlichen Fest-

160, IM 15 vieh aus für die Bevölkerung, Schafe und Ziegen zum gung der Erstlinge nahe steht das Holzopfer. Die Dar- Pessach-Opfer für jeden Anwesenden, 30 000 an Zahl, bringung von Holz zu festgesetzten Zeiten im Jahr nach und 3000 Stück Grossvieh« 41 . Familien wurde unter Nehemia zur Pflicht gemacht, und Sicher gab es die Wallfahrt zur Zeit des Ersten Tempels. im Lauf der Zeit wurde dieser Anlass zu einem Fest der Das ist zu entnehmen aus der Erzählung von Elkana und betreffenden altehrwürdigen Familien in Juda und Ben- seinen Frauen und aus Stücken von Wallfahrtsliedern in jamin und sogar für das ganze Volk, wer immer sich dem den Büchern Jesaja, Micha, Jeremia und Jona 42. Auch Zug derer, die Holz zum Altar brachten, anschliessen wenn einige dieser Lieder in messianischem Ausblick von mochte51 . Auch hier finden sich Festopfer und Pflicht zu den Scharen der Heiden sprechen, spiegeln sie doch auch übernachten sowie das übrige Brauchtum, was zur Ein- die Wallfahrts-Praxis zu ihrer Zeit wider. Ähnliches geht richtung der Wallfahrt gehört 52 . aus der Klage in den Klageliedern hervor: »Zions Wege Auch das allwöchentliche Hinaufziehen der Standmann- sind verwaist von Festgästen« 43 . Nur war die Wallfahrt schaften mit den Priesterwachen wurde zu einer Art in der Bevölkerung nicht so verbreitet und nicht so wichtig Wallfahrt für den jeweiligen Distrikt 53 . wie dann zur Zeit des Zweiten Tempels. Sicher nahm nicht einer alle diese Gelegenheiten wahr; Im Buch Nehemia, wo die Pflichten des Volks gegenüber wer zum Wallfahrtsfest hinaufgezogen war, kam nicht dem Tempel aufgezählt sind«, sind weder die Wallfahrt noch einmal eigens mit seinen Erstlingsfrüchten und war als solche noch ihre Ordnungen aufgeführt. auch rechtlich nicht dazu verpflichtet; aber jede Festzeit Auch in der nachbiblischen Literatur tritt sie nicht sonder- brachte doch viele Israeliten mit sich. Am zahlreichsten lich hervor. Insbesondere ist zu bezweifeln, ob Wallfahrt strömten die Pilger zu den drei in der Bibel bezeichneten aus der Diaspora in der Frühzeit des Zweiten Tempels Wallfahrtsfesten. Auf sie konzentrierte sich die Wallfahrt üblich war 45. Gegen Ende der Hasmonäerzeit mehren sich hauptsächlich, sowohl was die Zahl der Pilger als auch die Nachrichten über Wallfahrt sowohl aus dem Land was die Bedeutung des Fest-Akts selbst und der mit ihm selbst als auch aus der Diaspora, und deutlich werden sie verbundenen Gebote und Bräuche betrifft. in den letzten Generationen vor der Tempelzerstörung von Herodes an. Wallfahrt und Weiterbildung des Religionsgesetzes Von diesem Zeitpunkt an hören wir von Zehntausenden Die Wallfahrt wandelte sich beträchtlich im Lauf von von Israeliten, die aus dem Land und aus der Diaspora Generationen, nahm immer grössere Ausmasse an, bis sie zu jedem Wallfahrtsfest pilgerten, von den Pilgern, wel- viele Länder umfasste. Dies ist an vielen Punkten der che die Stadt im weiten Umkreis erfüllten. Die Wallfahrt religiösen Rechtsetzung zu spüren. Ausser an den Bestim- wurde zum integralen Bestandteil des Jerusalemer Stadt- mungen, welche die Tätigkeit des Hohen Rats, seine Sor- lebens und ein wichtiges Mittel zur Festigung der Bezie- gewaltung für Instandsetzung der Wege, der Zisternen hung des Volks zu seiner Hauptstadt und seinem Tempel. und die Wasserversorgung unterwegs, die Ordnungen des Tempels an den Festen und die Beherbergung der Pilger Die Wallfahrt zu Fest- und anderer Zeit regeln, ist ihr Einfluss auch auf einige Verordnungen In den fünf Büchern Moses" ist die Wallfahrt zu den drei grundsätzlicher Art wahrzunehmen. Wallfahrtsfesten geboten: zu Pessach, zum Wochen- und Unter dem Eindruck der zahlreichen Wallfahrten zu den zum Laubhüttenfest. In der Ära des Zweiten Tempels Festen wurden etliche Vorschriften betreffs kultischer kamen noch mancherlei Formen der Wallfahrt hinzu. Zu- Reinheit und Schabbat erlassen, die sich etwa auf die Fort- nächst finden wir sie zu dem Fest, das in eben dieser Zeit bewegung und den Verbleib der Pilger in Jerusalem be- neu hinzutrat, dem Fest der Tempelweihe (Chanukka) 47 . ziehen. So wurde verordnet, dass Frauen, die nach glück- Aber am entscheidendsten waren Feste, die zur Zeit des licher Geburt ein Paar Tauben darzubringen hatten, sich Zweiten Tempels geschaffen oder jedenfalls fest etabliert mit einem einzigen für mehrere Geburten begnügen konn- wurden, deren Hauptbestandteil die öffentliche, gruppen- ten55 . Besonders deutlich ist der Einfluss der Wallfahrt weise Pilgerfahrt war. auf die Kriterien für die Einsetzung eines Schaltjahrs. Die Zum Wochenfest brachten die Wallfahrer ihre Erstlings- meisten Gründe, die die Meister als für Erklärung eines früchte mit, nur dass in den meisten Anbaugebieten die Jahres zum Schaltjahr ausreichend akzeptierten, hängen Früchte erst später reiften und daher nur wenige Land- mit der Wallfahrt zusammen: »Ein Jahr wird nur zum striche ihre Erstlinge am Fest selbst darbringen konnten. Schaltjahr erklärt wegen der Wege und Brücken, wegen Generell wurden Erstlingsfrüchte vom Wochen- bis zum der Pessach-Öfen und wegen der Diaspora-Juden, die Laubhüttenfest dargebracht". Die Überbringung der Erst- sich auf den Weg gemacht, aber noch nicht angekommen — lingsfrüchte war eine Art Wallfahrt zweiter Ordnung, nicht aber wegen Schnee und Kälte und nicht wegen organisiert wie die Haupt-Wallfahrt. Die Pilger zogen Diaspora-Juden, die sich nicht auf den Weg gemacht nach Bezirken gruppenweise hinauf nach Jerusalem", haben« 56 . Demnach wurde ein Schaltmonat eingeschoben, brachten Opfer mit und waren dazu verpflichtet, in der wenn rechtzeitiges Eintreffen und angemessene Versor- Stadt zu übernachten wie die Festpilger". Der Darbrin- gung der Pilger zum Pessach-Fest aus jahreszeitlichen Gründen nicht gewährleistet waren. tage, die sie zu begehen wünschten. Gegen Ende des Zweiten Tempels In direktem Zusammenhang mit dem Ausgreifen der weiss eine aggadische Quelle von einer Anzahl von Opfer-Schafen Wallfahrt steht die Erweiterung des Bereichs, in dem zu berichten, die doppelt soviel ausmacht wie die Zahl der Israeliten, Minder-Heiliges verzehrt werden durfte. Denn die alte die seinerzeit aus Ägypten zogen. 41 2. Chr 35, 7. Anordnung, die sich bei Hesekiel und in der Chronik u Jes 2, 3; Micha 4, 2; Jer 30, 1; Jona 3, 3-10; dazu H. Gunkels sowie in der älteren Mischna findet, verfügte, dass alles ausführliche Abhandlung in seinem Psalmen-Kommentar, 4. Auf- lage Göttingen 1926, 309 ff. 51 Dazu die Liste MTaanit IV, 5. " Klagelieder 1, 4. " Neh 10, 33-40. TBikkurim II 9; Sifre § 144, 150. " Vereinzelte Fälle von Wallfahrt aus der Diaspora gab es wohl 53 MTaanit IV, 2. schon immer, aber es lässt sich nachweisen, dass es sich um keinen 54 Dazu MSchekalim I 1. verbreiteten Brauch handelte. " Dazu 3. Mose 12 und MKeritut I 7. 46 2. Mose 23, 15; 34, 23; 5. Mose 16, 16. 56 bSanhedrin 11a; ähnlich TSanhedrin II 2-12 und jSanhedrin I Jo 10. 22. " Dazu MBikkurim I, 3. (18d), wo auch die als Opfertiere wichtigen Lämmer und Tauben mit 46 Mischna Bikkurim Kapitel III. 50 TBikkurim II, 8 f. in die Diskussion eingebracht werden.

IM 16 161 Heilige, wie Ganz- und Pessach-Opfer, Zweiter Zehnter, mud-Lehrer gehören in den Bereich der Sage, die nicht Frucht des vierten Jahres 57 und ähnliches, von dem ge- aus Überlieferung der Früheren, sondern aus ihrer Sehn- schrieben steht, es soll vor dem Herrn gegessen werden, sucht nach Wiederaufbau des Tempels und Restauration nur innerhalb des Tempelbezirks im Vorhof der Israeliten der ursprünglichen Herrlichkeit hervorging. verzehrt werden durfte; erst mit dem Steigen der Pilger- Jedoch beruht ein Grossteil der mischnischen sowie die zahlen wurde bestimmt, dass alles Heilige minderer Ord- überwiegende Mehrheit auch der talmudischen Traditio- nung im ganzen Stadtgebiet verzehrt werden durfte 58 . nen auf solider Überlieferung. Vieles von den Vorschrif- Diese Regelung sowie viele daraus abgeleitete Vorschrif- ten und Berichten in der Mischna ist von den Gelehrten ten finden sich in der talmudischen Literatur. der Generation unmittelbar nach der Tempelzerstörung oder ihren Schülern auf uns gekommen. Zwei Traktate Die Quellen der 5. Ordnung, Tamid und Middot, welche die Ordnung Die Hauptquelle, aus der uns das Bild der Wallfahrt er- des täglichen Opferdienstes bzw. die Masse des Tempels steht, ist die rabbinische Literatur aus der Epoche von und seiner Vorhöfe beschreiben und dabei nicht wenig Mischna und Talmud. Zahlreiche Kapitel der Mischna Informationen zur Wallfahrt bieten, gehören zu den sind Bestimmungen des Tempel-Lebens gewidmet: in der ältesten literarischen Schichten der Mischna. In der gan- 5. Ordnung die Traktate Tamid (tägliches Opfer), Middot zen Mischna Tamid ist die Meinung keines einzigen Leh- (Masse) und Menachot (Speiseopfer), in der 2. Ordnung rers aus der Epoche der Mischna zitiert, weder zustim- Pessachim (Pessach-Opfer), Joma (Versöhnungstag), mend noch ablehnend". Die Sprache dieses Traktats ist Schekalim (Tempelsteuer), Sukka (Laubhütte), Taanit archaisch und verwendet Ausdrücke, die im mischnischen (Fasten) und Chagiga (Fest) 59 . Auch in anderen Ord- Hebräisch selten sind, vielmehr der Sprache der jüngeren nungen stehen Kapitel oder einzelne Vorschriften, die biblischen Bücher nahestehen. Sein Schlussvers hat dich- diesen oder jenen Vorgang am Tempel regeln. In der terischen Klang: »Dies ist das Buch des täglichen Opfers ersten Ordnung ist der Traktat Bikkurim (Erstlings- im Dienst des Hauses unseres Gottes, möge es erbaut wer- früchte) zu nennen, insbesondere das 3. Kapitel, ferner den bald in unseren Tagen, Amen!« 64 Nach Auskunft Kapitel 4 und 5 von Maaser Scheni (Zweiter Zehnter) mischnischer Überlieferung sowie nach beiden Talmuden sowie weitere Bestimmungen über fast alle Traktate dieser gehen die Nachrichten über das tägliche Opfer (Tamid) Ordnung verstreut. Etliche Kapitel der 6. Ordnung be- auf Rabbi Schimon von Mizpa zurück"; noch zu Tempel- ziehen sich auf Reinheitsvorschriften für den Tempel, wie zeiten finden wir ihn als Fragesteller vor dem Hohen Rat etwa die Traktate Para (rote Kuh)", Toharot (Reini- in der Quaderhalle 66, aber offenbar lebte er noch lange gungszeremoniell) sowie das erste Kapitel von Kelim Zeit nach der Tempelzerstörung, denn mit seinem Namen (Geräte) und viele andere. Sogar in der dritten Ordnung ist immer der Titel »Rabbi« verbunden, der nur den findet sich einiges aus dem Leben am Tempel, insbesondere Mischna-Lehrern nach der Tempelzerstörung beigelegt Traktat Sota (Ehebruchsverdächtige) Kapitel 7, Nedarim wurde67 . Der Traktat Middot bildet nach Aussagen von (Gelübde) und Nasir (Geweihter) 61 . Selbst die 4. Ord- Schülern einen Teil der Mischna des Rabbi Elieser ben nung, deren Inhalt (Strafrecht) scheinbar nichts mit dem Jaakow". Auch dieser Gelehrte erlebte die Tempelzer- Tempel zu tun hat, enthält hier und da Angaben zu Vor- störung mit und bezeugt viele Gebote und Ordnungen schriften und Vorgängen am Tempel, besonders in den des Tempelkults aus eigener Anschauung. Er war aus Traktaten Horajot (Anweisungen) und Sanhedrin (Hoher priesterlichem oder levitischem Geschlecht, denn er be- Rat). Vereinzeltes findet sich eigentlich in jedem Traktat. richtet, was dem Bruder seiner Mutter widerfuhr, als Bezug auf die Äusserungen der Mischna nehmen tannaiti- dieser am Tempel Wache hielt". Gelegentlich sagt Rabbi sche Überlieferungen in der gesamten mischnischen und Elieser ben Jaakow, dieses oder jenes Detail sei ihm be- talmudischen Literatur, welche die Mischna zur Grund- reits entfallen: »Wozu die Holzhalle diente«, sagte Rabbi lage ihrer Diskussion und Rechtsetzung macht. Elieser ben Jaakow, »habe ich vergessen 70«. Anscheinend waren bereits den letzten Generationen der An Mischna-Lehrern, die zahlreiche Zeugnisse vom Tem- Mischna-Lehrer manche Kapitel und Vorschriften vom pel überliefern, sind zu nennen: Rabbi Zadok und sein Tempel-Leben nicht mehr klar; von einigen ihrer Aus- Sohn Rabbi Elieser, Rabbi Secharja ben Kewutal, Rabbi sagen ist zu bezweifeln, ob sie jemals so am Tempel be- Chananja, der Vorsteher der Priester, Rabbi Tarfon, folgt wurden, vielmehr gehören sie wohl eher zur Er- Rabbi Jochanan ben Gudgada, Rabbi Jehoschua ben weiterung der theoretischen Halacha 62. Unnötig darauf Chananja, Abba Schaul ben Batnit und Rabban Jochanan hinzuweisen, dass in den Lehren der Talmud-Lehrer man- ben Sakkai. Sie alle sind Zeitgenossen der Tempelzerstö- ches nur mehr Exegese und Legende ist, da sich dichterische rung, und die meisten von ihnen sind Priester oder Leviten, Ausschmückungen um die Berichte vom Tempel-Leben die am Tempel Dienst taten, sei es als Laien-Priester oder rankten, welches bereits im Schein des Wundersamen Leviten, sei es in den höheren Rängen der Priesterschaft, stand. Der Akt der Wallfahrt gehörte der idealen Ver- abgesehen vom Hochpriester-Amt. In der folgenden Ge- gangenheit an, da der Tempel bestand und Israel im eigenen Lande wohnte, und viele Erzählungen der Tal- 63 Die drei darin erwähnten Namen, Rabbi Elieser ben Jaakow (V 2), Rabbi Jehuda (VII 2) und Rabbi Elieser ben Diglai (III 8) gehören 57 Dazu 3. Mose 19, 24. nicht zum ursprünglichen Text; dazu L. Ginzberg, On Halacha and 58 MSewachim VIII und an vielen anderen Stellen. Aggada, 41 ff. 59 Die sechs Ordnungen, in die das reiche Material von Mischna, 64 So VII 3 Ende; die folgenden Angaben über die im Tempel ge- Tossefta und Talmud gegliedert ist, heissen: 1. Seraim (Saaten), sungenen Psalmen gehören nicht zum ursprünglichen Text; dazu 2. Moed (Festzeit), 3. Naschim (Frauen), 4. Nesikin (Schädigungen), J. N. Epstein, Einleitung in den Text der Mischna (hebr.), 2 Bände 5. Kodaschim (Heiliges), 6. Toharot (Reinigungszeremonien). 1948, 979 und derselbe, Einleitungen in die tannaitische Literatur 6° Dazu 4. Mose 19. (hebr.), Tel Aviv 1957, 27-31. 65 61 Zu Sota 4. Mose 5, 11-31; zu Nasir ebenda 6, 1-21. TSewachim VI 13; jSewachim II (39d); bSewajim 14b. 62 Hier soll ein Beispiel aus talmudischer Zeit genügen: Nach einer 66 MPea II 6. Baraita (Chagiga 6b und Parallel-Stellen) hat der Pilger ein Erschei- 67 Dazu Epstein an der zuletzt genannten Stelle. nungs-, ein Fest- und ein Freudenopfer darzubringen. Die biblischen 68 j Joma II (33d); bJoma 16a. und frühen mischnischen Quellen dagegen fordern nur zwei, das Er- 69 MMiddot I 2; die Vermutung liegt nahe, dass er Levit war, denn scheinungs- und das Festopfer, während das »Freudenopfer« als die meisten Wächter waren Leviten. Synonym für »Festopfer« gilt. 70 MMiddot II 5.

162 , IM 17 neration ragen als Tradenten priesterlichen Wissens her- baren Widerspruch zwischen Philon und der jüdischen vor Rabbi Jehuda ben Elai, Schüler von Rabbi Tarfon, Tradition die nicht-jüdische (nämlich griechische) Quelle und Rabbi Josi ben Chalafta aus Sepphoris, der auch seiner Schriften verantwortlich zu machen. Die im Talmud Überlieferungen über die Beziehung seiner Heimatstadt festgelegten Bestimmungen sind schliesslich mehrere Ge- zum Tempel weitergibt. nerationen später als Philon, und bei einem Vergleich Die meisten mischnischen Traditionen geben die Tempel- zwischen Philon und der talmudischen Tradition müssen Wirklichkeit in den letzten ein oder zwei Generationen wir sorgfältig prüfen, ob nicht Philons Äusserungen mit seines Bestehens wieder 71, aber sicherlich setzen ein gut einem früheren Stadium dieser Überlieferung zusammen- Teil davon direkt frühe Überlieferung fort, und einige gehen oder die jeweilige Bestimmung in einer Form wie- darunter reichen wohl bis in die Zeit des Ersten Tempels dergeben, wie sie von den Mischna-Lehrern vor oder nach zurück. Einstweilen wollen wir uns mit zwei Beispielen der Tempelzerstörung zurückgewiesen worden ist. In begnügen: Mischna Taanit nimmt das Holzopfer wieder vielen Fällen, wo die Gelehrten eine fremde Quelle bei auf, das bereits bei Nehemia erwähnt ist 72, und bei Mischna Philon vermuteten, handelt es sich um authentische Aus- Bikkurim ist von der Flöte die Rede, die schon bei Jesaja 73 sagen früherer Tannaiten, nur dass unsere Mischna anders die Pilger begleitet. entschied. Nach der Mischna stellen die Schriften des jüdischen Histo- Viele Nachrichten finden sich auch in der christlichen rikers Flavius Josephus eine wichtige Quelle dar. Neben Literatur, besonders in den Evangelien und in der den entsprechenden Kapiteln in seinen »Altertümern« Apostelgeschichte. Jesu grosse öffentliche Auftritte fanden und im » Jüdischen Krieg« 74, die Belange des Tempels in in Jerusalem anlässlich einer Wallfahrt statt, und aus den konzentrierter Form bieten, finden sich zahlreiche Infor- Berichten darüber ist viel zu lernen über die äusseren mationen in allen seinen Büchern, einschliesslich der Umstände seiner Wallfahrt, seinen Besuch im Tempel, das Autobiographie und der Streitschrift gegen Apion. Pessach-Mahl, seine Unterkunft in- und ausserhalb der In vielen Punkten ergänzen Mischna und Josephus ein- Stadt u. v. a. m. Nach den Synoptikern scheint es, dass ander, jedoch weichen sie in vielen Einzelheiten auch wie- die Wallfahrt zum Pessach-Fest, bei der er dann verurteilt der voneinander ab, und es ist nicht von vornherein fest- und hingerichtet wurde, auch seine erste war. zulegen, ob die Aussage der Mischna-Lehrer vorzuziehen Das Johannes-Evangelium dagegen berichtet von meh- ist, da sie sorgfältigst Augenzeugen-Berichte niederschrie- reren Wallfahrten Jesu auch zu anderen Festen. Lukas ben und zudem bestrebt waren, die Bestimmungen im erzählt auch von einer Wallfahrt seiner Eltern. Auch Hinblick auf das künftig wieder zu erbauende Heiligtum Paulus gehörte zu den Festpilgern, und mehrere Ereig- exakt festzuhalten, oder ob Josephus der Vorrang ge- nisse seines Lebens spielen sich bei solcher Gelegenheit in bührt, da er den Tempel mit eigenen Augen gesehen, viel- Jerusalem ab. leicht selbst dort Priesterdienst versehen hatte und im Nicht wenige Informationen sind auch über die christ- allgemeinen zuverlässig ist. Sowohl die Tannaiten als auch liche Literatur ausserhalb der kanonischen Evangelien Josephus schöpften aus — teils schriftlichen, teils münd- verstreut. Insbesondere ist auf den Papyrus Oxyrhynchosu lichen — Quellen literarischer Überlieferung. Diese stamm- hinzuweisen; dabei handelt es sich nur um ein Blatt, ein ten sicher aus den verschiedensten Epochen, und es ist Fragment eines im Stile der kanonischen verfassten Evan- schwer zu sagen, wieviel darin an Theorie und wieviel geliums. Das Fragment enthält 45 Zeilen; darin ist eine an konkreter Realität enthalten war; wir müssen jeden Diskussion zwischen Jesus, der mit seinen Jüngern ins einzelnen Fall gesondert prüfen und nach Möglichkeit Heiligtum kommt, und einem pharisäischen Hochpriester versuchen, zum Kern der Sache vorzudringen. vollständig erhalten. Bei dem Gespräch geht es um Jesu Berechtigung, ins Heiligtum einzutreten und die heiligen Etliche Bereiche des Tempel-Lebens sind auch bei Philon von Alexandria behandelt, in seinen Schriften »Über die Geräte zu schauen. Die Herausgeber haben — im Anschluss an E. Schürer — dem historischen Gehalt dieses Evangelien- Gesetze« und anderen. Philons Bedeutung für unseren Fragments keine Bedeutung zugemessen, aber andere Ge- Gegenstand beruht nicht darauf, dass er selbst eine Wall- lehrte haben wiederum auf die Parallelen zwischen diesem fahrt unternommen hat, denn wir wissen weder, wann und den talmudischen Quellen aufmerksam gemacht". das war, noch ob seine Schilderung des Tempels und seiner Auch lassen sich einige bisher unverständliche Stellen tal- Feste mit seinem Besuch in Jerusalem zusammenhängt 73 . mudischer Rand-Überlieferung aufgrund von Äusserun- Philons Wert als literarische Quelle für die Wallfahrt be- gen in diesem Gespräch zwischen Jesus und einem Priester steht in der guten jüdischen Tradition, die seinen Schrif- am Tempel erklären. ten zugrunde liegt. Aber es wäre voreilig, für jeden schein- Vereinzelte Nachrichten, die unseren Gesichtskreis in un- '' A. Büchler versucht (in: Die Priester und der Cultus, Wien 1895, serer Sache direkt oder indirekt erweitern, gehen aus al- so s%. ie in einigen später veröffentlichten Artikeln), alle Nachrichten len übrigen Geschichtsquellen dieser Epoche hervor, den über den Tempeldienst in der mischnischen Literatur auf die Zeit Apokryphen, griechischen, römischen und christlichen unmittelbar vor der Tempelzerstörung zu beziehen und mit der pharisäischen »Revolution« zusammenzubringen, die seiner Ansicht Schriftstellern. nach im Jahre 63 stattfand. Aber da diese These in den Quellen Einen gesonderten Komplex stellen die zahlreichen in keinerlei Anhaltspunkt findet, ist es auch nicht sinnvoll, die ver- Jerusalem gefundenen Grab-Inschriften dar. Im 19. und schiedenen Berichte auf eben diesen Zeitraum zusammenzudrängen. 20. Jahrhundert sind in der Stadt selbst und ihrer näheren 72 Neh 10, 35. 73 Jes 30, 29. 74 Antiquitates III 5 und XV 6-20; bellum V. Umgebung Grab-Inschriften in hebräischer, aramäischer 75 Natürlich ist es nicht auszuschliessen, dass Philon mehr als einmal und griechischer Sprache entdeckt worden, die aus der Zeit nach Jerusalem reiste. Wir wissen jedenfalls von einem Besuch dort, des Zweiten Tempels stammen 78. In einigen von ihnen denn er berichtet, was er in Aschkalon gesehen hat, als er zum Tem- pel unterwegs war, um dort zu beten und zu opfern (dazu die An- 76 Veröffentlicht in der Sammlung der Oxyrhynchos-Papyri Band V. merkung von F. H. Colson in seiner Edition Band VII S. 618). Die Nr. 840, S. 1 - 10. Behauptung von Isaak Heinemann (Philons griechische und jüdische 77 Einiges bei Blau, in: ZNTW 1908, 204-215; das Wichtigste bei Bildung, Breslau 1932, 16), Philons Schilderung des Tempels sei nicht A. Büchler, in: JQR 0. S 20 (1908), 346-350. exakt, ist unbegründet. Allerdings macht Philon keine so genauen 78 Eine zusammenfassende Übersicht in: Supplementum epigraph. Angaben wie Mischna Middot oder Josephus, so erlaubt er sich etwa, graecum VII (1937), 24 ff.; Thomsen, in: ZDPV 43 (1920), 138-158 den Tempel in die Mitte des Vorhofs zu verlegen, wo wir doch wis- und ebenda 64 (1941), 203-256; J. B. Frey, Corpus Inscriptionum sen, dass er nach Westen versetzt stand. Judaicarum II (1952), 244 ff.

IM 18 163 steht bei dem Namen des Verstorbenen bzw. des Ehe- Inschrift Nikanors des Tore-Machers". Zudem wissen wir paares, die in dem betreffenden Sarkophag beigesetzt aus dem Talmud, dass Nikanor nach Jerusalem kam, um waren, auch der Herkunftsort. Bei anderen Inschriften die von ihm hergestellten Tore an den Tempel zu brin- lässt sich aus Formulierung der Inschrift und Form ihrer gen. Vielleicht siedelte er mit seiner ganzen Familie nach Buchstaben entnehmen, woher die Besitzer kamen". So- Jerusalem über, und daher sind seine Söhne bei ihm im wohl einheimische als auch ausländische Ortsnamen kom- selben Grab beigesetzt, wie die Inschrift bezeugt, vielleicht men vor, von Jerusalem nahe gelegenen Städten wie Bet wurden aber auch erst die Leichen der Söhne zur Bestat- El bis Bet Schean und Galiläa. Ähnlich verhält es sich mit tung an der Seite ihres Vaters nach Jerusalem überführt. den Orten der Diaspora: von der benachbarten Chalkis Somit dienen die Grab-Inschriften als Quelle für die bis Palmyra, Ägypten, Griechenland, Italien und Afrika. Wallfahrt aus dem In- und Ausland. Im allgemeinen bie- Da ist in erster Linie zu fragen, ob diese Inschriften be- ten sie nicht den einzigen Beleg für Wallfahrt aus dem sagen, der in ihnen Genannte sei — entweder als Pilger betreffenden Land, sondern gehen mit zahlreichen litera- oder zum ständigen Wohnen — nach Jerusalem gezogen, rischen Zeugnissen zusammen. Ähnliche Information ist oder vielmehr den Brauch belegen, die Toten nach Jeru- aus der als Theodotos-Inschrift bekannten Synagogen-In- salem hinaufzubringen. schrift" zu gewinnen. Sie berichtet von der Errichtung In der wissenschaftlichen Literatur herrscht die Ansicht einer Synagoge mit zusätzlichen Räumen zur Beherber- vor, diese Inschriften bezeugten nur die Überführung von gung Bedürftiger von auswärts. Aus der Literatur wissen Verstorbenen zum Begräbnis in Jerusalem", gemäss den wir, dass sich in Jerusalem etliche Synagogen im Besitz talmudischen Äusserungen, die solchen Brauch rühmen — von Auswärtigen befanden, so dass dieser epigraphische sind uns doch viele Fälle der Beisetzung von auswärtigen Beleg die literarischen Quellen bestätigt. Tuden im Land Israel berichtet, ja sogar von ganzen Ko- Schliesslich sind noch die Psalmen heranzuziehen, die bis lonnen von Särgen, die ins Land zogen, erfahren wir. Be- zu einem gewissen Grade Fragen der Wallfahrt zur Zeit stätigt und erweitert wurden diese Nachrichten durch des Zweiten Tempels erhellen können. Wir wollen uns Funde von Grabschriften in Jafo und besonders durch hier nicht mit der Zeitstellung der Psalmen insgesamt die Ausgrabungen in Bet Schearim, die uns wissen liessen, beschäftigen, sondern nur auf diejenigen unter ihnen ein- dass diese Stadt, Sitz des Fürstenhauses zur Zeit Judas gehen, die Wallfahrt beschreiben, Lieder von Pilgern beim des Fürsten, als Begräbnisstätte für Juden des In- und Eintritt ins Heiligtum sind, Äusserungen von Sehnsucht Auslandes diente. nach dem Tempel, Dankeshymnen eines einzelnen oder Jedoch haben wir keine Quelle gefunden, die für die An- einer Gemeinschaft u. ä. nahme spricht, die Überführung von Toten ins Land Offenbar gehört ein beträchtlicher Teil dieser Psalmen Israel und nach Jerusalem sei zur Zeit des Zweiten Tem- in die Frühzeit des Zweiten Tempels, sei es von ihrer pels üblich gewesen. Alle Berichte über sie sowie die Stimmung und Geisteshaltung, sei es von ihrem sprach- Äusserungen zu ihrem Lob datieren erst aus der Zeit lichen Ausdruck her. »In der Menge walle ich zum Hause Judas des Fürsten, d. h. vom Ende des 2. Jahrhunderts. Gottes mit lautem Jubel und Dank einer festlichen Ge- Der erste Fall ist uns überliefert in der Überführung des meinde« — wir haben keinen Anhalt dafür, ob Psalm 42 Sarges des Exilarchen Raw Huna, einem Zeitgenossen und 43 von Wallfahrt zur Zeit des Ersten oder des Zwei- Judas des Fürsten 81 . Da sowohl die Überführungen selbst ten Tempels handelt. Genausowenig wissen wir, wer jener als auch ihre positive Bewertung in denselben Zeitraum »unholde Stamm«, »der Mann des Trugs und des Falschs« fallen, können wir annehmen, dass dies eine im damaligen ist, der es dem Frommen, dessen »Seele dürstet nach Judentum neue Einrichtung war, die wir nicht in die Gott, dem lebendigen Gott«, verwehrt, »zu kommen und Frühzeit vorverlegen dürfen. zu erscheinen vor dem Angesicht Gottes« 85 . Die Grabschriften von Verstorbenen aus der Diaspora Aber ein Psalm wie der 84., der Sehnsucht nach den sind so zu interpretieren, dass ihre Besitzer in Jerusalem »Wohnungen des Herrn« zum Ausdruck bringt und Eifer- gestorben waren, nachdem sie ihren Lebensabend dort ver- sucht auf diejenigen, »die in Seinem Haus wohnen«, passt bracht hatten. in die Epoche des Zweiten Tempels, denn der Psalm-Sän- Gewiss waren es nicht ausschliesslich ökonomische Motive, ger und die Gäste im Hause des Herrn sind nicht Prie- die viele Auswärtige zum Bleiben bewogene'. Der Auf- ster und Leviten, sondern Pilger, die »gehen von Macht enthalt eines Grossteils dieser Verstorbenen in Jerusalem zu Macht«, zu erscheinen vor dem Angesicht des Herrn. hängt doch mehr oder weniger mit Wallfahrt zusammen. Das Vorhandensein von Leuten, die es vorziehen, »an der Selbst wenn wir annehmen, dass diese Juden dort ihren Schwelle zu stehen im Hause meines Gottes, denn zu woh- festen Wohnsitz nahmen und ihren früheren aufgaben, nen in den Frevler-Zelten« spricht für die Zeit des Zwei- ten, nicht des Ersten Tempels so hat dieser Ortswechsel doch mit Wallfahrt an den Tem- 86 . Auch die Bilder von Scha- pel zu tun. Jedenfalls ist aus einer im Osten der Stadt, ren von Frommen, die am Tempel weilen, sich an den Opfermahlzeiten und Dankgesängen beteiligen, die uns auf dem Mt. Scopus, gefundenen Inschrift zu entnehmen, aus einigen Psalmen entgegentreten 87, passen hauptsäch- dass ihr Besitzer als Pilger an den Tempel kam, um seine lich in die Zeit des Zweiten Tempels 88. Die Hochschät- Gabe darzubringen. Es handelt sich um die 1902 entdeckte zung der Stadt Jerusalem und ihrer Heiligkeit und die " So etwa aus den aramäischen Inschriften, die in Sprache und Schrift Versenkung in Erinnerungen aus ihrer grossen Vergan- der Bev. ohner von Palmyra abgefasst sind; dazu S. Klein, Jüdisch- genheit -- »denn dort sassen Stühle zum Gericht, Stühle palästinensisches Corpus Inscriptionum (1920), 30 Nr. 81 und bei Frey, op. cit., S. 249 Nr. 1217 und 250 Nr. 1227. 83 Lesung vor Clermont-Ganneau, in: PEF 1903, 125 ff.; dazu auch " So schon Schulze in: ZDPV 4 (1881), 13 und viele nach ihm; dazu A. Sukenik, in: GS A. Gulak/S. Klein, Jerusalem 1942, 134 ff. Blcckman in: ZDPV 37 (1915), 239. 84 Gefunden bei der Grabung von R. Weill 1913; dazu S. Krauss, jKilajim IX (32b); jKetubbot XII (35a). Die in der Forschung Synagogale Altertümer, Wien 'Berlin 1922, 202. gelegentlich angeführte Tradition der Familie von Rabban Gamliel, " Dazu die Kommentare von R. Kittel, Leipzig 1914, 281, und von die ihre Toten zur Beisetzung nach Jerusalem zu bringen pflegte F. Baethgen, Göttingen 1892, 262. (Semachot X), gehört nicht in diesen Zusammenhang, denn die Fa- 86 Zum Gebrauch des Psalms durch Pilger ferner H. Gunkel in sei- milie , tammte aus Jerusalem und bestattete auch nach der Tempel- nem Kommentar 386. zerstörung weiterhin in ihrem Erb-Begräbnis. z. B. Psalm 22, 32-7; 30, 5; 76, 16; 69, 33; 118, 15; 107, 32 u. a. " Dazu J. Jeremias, Jerusalem zur Zeit Jesu, Leipzig 1923, 59 ff. 88 Dazu H. Gunkels Einleitung 265 ff.

164 IM 19 des Hauses David« —, die aus einigen Pilger-Psalmen auf- sich Parallelen in der tannaitischen Literatur, und wir klingen, können nur in die Welt des Zweiten Tempels ge- dürfen solches Brauchtum als Kontinuum von der Früh- hören89 . In zwei Psalmen ist neben Israeliten und Ahro- bis in die Spätzeit des Tempels betrachten. Selbst wenn niden auch die Gruppe der »Gottesfürchtigen« genannt 90 . wir annehmen wollen, dass ein Teil der Psalmen, die sich Die Gottesfürchtigen stellen in diesen Psalmen eine ge- auf unseren Gegenstand beziehen, früh ist und in die sonderte Bevölkerungsschicht dar. Mit Recht ging die Epoche des Ersten Tempels gehört, dürfen wir doch die Forschung davon aus, dass wir hier die erste Erwähnung näheren Umstände der Wallfahrt als eine durchgehende der »Frommen, Gottesfürchtigen« 94 vor uns haben, die Linie ansehen und folglich von Äusserungen der Psalmen wir aus der Literatur gegen Ende des Zweiten Tempels auf solche der Mischna schliessen und umgekehrt. kennen. Deren Nennung bezeugt gleichzeitig, dass diese Für viele Vorschriften und Vorgänge der jüdischen Wall- Psalmen nicht vor Ende der persischen Epoche zu datie- fahrt lassen sich Parallelen finden aus fremden Tempel- ren sind92. Auch Spracheigentümlichkeiten mancher Stu- kulten im alten Orient, aus Ägypten, Syrien, Mesopo- fenpsalmen, die ja eng mit der Wallfahrt verknüpft sind, tamien oder den hellenistischen Heiligtümern. Manchmal weisen auf späte Entstehung 93. Vermutlich ist die ganze liegt eine entfernte, häufiger jedoch eine sehr starke Ähn- Vorstellung vom »Stehen im Haus des Herrn in den lichkeit vor, nicht nur was Äusserlichkeiten wie Reini- Nächten« als eine Neuerung aus der Zeit des Zweiten gungszeremoniell, Pilgerzüge und Pflichtopfer betrifft, Tempels zu betrachten, denn nächtliche Preisgesänge auf sondern auch beim peinlichen Achten auf ethische Reinheit den Herrn in den Vorhöfen seines Tempels finden wir nur und reine Hände beim Betreten des Heiligtums 94. am Fest des Wasserschöpfens am letzten Tag des Laub- Solche Ähnlichkeiten mindern aber keineswegs den ho- hüttenfestes, eine Einrichtung erst des Zweiten Tempels. hen Rang der israelitischen Gottesverehrung in ihrer Rein- Zu einigen in den Psalmen angedeuteten Bräuchen finden heit, in der Aura von Heiligkeit, die sie umfängt, und in der Ehrfurcht vor dem Höchsten, die das Tun von Prie- 89 Besonders Ps 122 und 48; zur zeitlichen Ansetzung dieser beiden die Kommentare von H. Schmidt, Tübingen 1934, 48, und von R. Kit- stern wie Laien begleitet. Die ausgezeichnete Stellung der tel, 177. 90 Ps 115, 11 und 118, 4. Wallfahrt in Israel tritt in ihrer sozialen und nationalen 91 Griechisch: »phoboumenoi, seboumenoi ton theon«. Bedeutung deutlich zutage. 93 Zur Zeitstellung dieser beiden den Kommentar von Kittel 374, ferner Schmidt, in: ZAW 22 (1922), 6 ff. Baethgen in seinem Kom- 94 Auf einige Punkte verweist Kittel in seinem Kommentar zu Ps 15 mentar 351 f. 357 führt weitere Argumente für Spätdatierung an. (S. 43 ff.). Zuletzt zu unserem Thema S. Lieberman, Hellenism Schon in der Antike wurden unter den »Gottesfürchtigen« in diesem in Jewish Palestine, New York 1962, 164 ff. Zur ethischen Forderung Zusammenhang Proselyten verstanden. z. B. die Inschrift Inscriptiones Graecae, Supplement XII 23, wo 93 Etwa die Verwendung der späten Form der Konjunktion »schä« nicht nur rituelle Reinheit, sondern auch reine Gedanken verlangt (statt früher: »aschär«) Ps 122, 3 und 135, 2; in letzterem, Vers 20 werden. Dazu ferner die 59. Rede des Demosthenes sowie mannig- sind auch die »Gottesfürchtigen« genannt. fach in der hellenistischen Literatur.

V Der Sabbat im Staat Israel* Von Eliezer Schweid, Professor für jüdische Philosophie an der Universität Jerusalem

Folgende Abhandlung über die Gestalt des Sabbats im hier geht, ist die Frage, was zu tun ist, um diesen Zustand Staat Israel ergibt sich aus der Notwendigkeit, das Le- zu ändern und um die Gesellschaft zu bereichern um In- ben der jüdischen Gesellschaft innerhalb dieses Staates halte und Ausdrucksmittel aus ihrem eigenen geistigen in konkrete Bahnen zu lenken. Der politische Rahmen Erbe. Wie kann der Staat zum Rahmen einer schöpferi- dieser Gesellschaft war ursprünglich dazu bestimmt, ihr schen Gesellschaft werden, und wie kann eine solche auf die erfolgreiche Auseinandersetzung sowohl mit den Ge- die Erreichung dieses Zieles hinwirken? fahren, welche die Existenz des jüdischen Volkes bedroh- Jedoch stellt sich mit dieser Frage eine weitere, die auf ten, als auch mit den schöpferischen Aufgaben, welche die den Beziehungen von Teilen der israelischen Gesellschaft eigenen Kulturinhalte ihr stellten, zu ermöglichen. Aber untereinander hinsichtlich ihres Verhältnisses zu ihrem dadurch, dass sie sich auf diesen Rahmen stützt, als ob jüdischen Erbe beruht, nämlich die nach der richtigen Be- dessen blosses Vorhandensein die Erfüllung der Inhalte ziehung zwischen dem sogenannten »religiösen« und dem und deren spezifischen Wert garantiere, und dabei staat- sogenannten »säkularen« Teil der Bevölkerung. Gewöhn- lichen Institutionen die Verantwortung für all ihre Funk- lich wird diese Frage in politischem oder juristischem Zu- tionen überlässt, ist die israelische Gesellschaft dabei, ihre sammenhang behandelt, und im Brennpunkt stehen auf geistigen Werte, sowohl ihre ethischen Verhaltensnormen der einen Seite die Erhaltung der nationalen Einheit, auf als auch die Ausdrucksmöglichkeiten ihrer Erfahrungen der anderen die Grundsätze der Demokratie. Jedoch lässt einzubüssen. Das Leben der israelischen Gesellschaft geht sich leicht feststellen, dass auch diese Frage ursprünglich seines schöpferischen Gehalts verlustig. Es äussert sich im kulturellen Gehalt und im konkreten Lebensvollzug mehr und mehr in Bedarfsbefriedigung und Unterhal- wurzelt. Und das nicht nur, weil die Beziehungen zwi- tung; daher lässt sich schwer bestimmen, nicht nur, inwie- schen den beiden Lagern selbst einen gesellschaftlichen In- fern die Gesellschaft eine jüdische ist, sondern auch, in- halt darstellen, sondern auch weil die gegenseitigen Be- wiefern es sich um eine Kultur handelt. Worum es uns ziehungen bedingt sind von dem jeweils unterschiedlichen Verhältnis zum gemeinsamen kulturellen Erbe, sei es auch Vortrag, gehalten 1974 im Rahmen eines Seminars über aktuelle nur in historischer Hinsicht. Die derzeit vorherrschende Probleme des Judentums in Neve Schechter, Jerusalem (angegliedert Richtung beschränkt sich auf teilweise Behandlung prak- dem Jewish Theological Seminary, New York); hebräisch erschienen in Petachim 31 (Dezember 1974), 38-47. Aus dem Hebräischen über- tisch-religiöser bzw. nationaler Voraussetzungen und setzt von Dr. Angela D. von Kries, Jerusalem. stellt diese nicht als komplementäre, sondern als gegen-

IM 20 165 sätzliche Elemente dar; und solange diese Richtung do- stigen Erbe und zu den verschiedenen Lagern, die es in miniert, wird sich der polare Gegensatz weiter verschär- Anspruch nehmen, handelt. Der Gegensatz zwischen Re- fen. Dieser Vorgang lässt sich nur aufhalten und der ligiösen und Säkularen liegt nicht nur in den praktischen schliesslich drohende Bruch verhüten durch Anreicherung Konsequenzen, sondern in Prinzipien und Denkweisen, des Verhältnisses beider Lager zu ihrem Erbe in dessen er liegt in unterschiedlichen Einstellungen zur Verwirk- vollem Umfang und ihre gegenseitige Öffnung, sowohl lichung jüdischen Lebensvollzugs im privaten sowie im was weltanschauliche Fragen als auch was den konkreten öffentlichen Bereich. Jedoch hängt die gesuchte Lösung Lebensvollzug betrifft. Daraus folgt, dass das Verhält- ab von einer wie immer gearteten Übereinkunft der gan- nis der religiösen und der säkularen Bevölkerungsgruppe zen jüdischen Gemeinschaft als Gesamtheit — denn das untereinander auf den konkreten Lebensvollzug der jü- muss zu einem grundlegenden Wandel in der Einstellung dischen Gesellschaft in Israel sowohl einwirkt als auch und Denkweise über dieses Thema in seinem vollen Um- von ihm bestimmt wird, also diese beiden Fragen als die fang führen, und auf diesen Wandel haben wir in erster beiden Seiten einer einzigen zu betrachten sind. So lässt Linie hinzuarbeiten und auf Möglichkeiten seines Zu- sich auch die Frage, wie der Staat zum Rahmen eigenstän- standekommens hinzuweisen. Folgende Ausführungen er- diger gesellschaftlicher Kreativität werden kann, sachge- heben — bei aller thematischen Beschränkung — einigen mässer und schärfer definieren. Denn die Beziehungen Anspruch in bezug auf den gebotenen Denkansatz, und zwischen Religiösen und Säkularen innerhalb einer un- darin besteht auch ihr Hauptziel: hinzuweisen auf eine abhängigen jüdischen Gesellschaft zeitigen politische Aus- mögliche andere Denkweise, verschieden von derjenigen wirkungen, die nur der Staat erfolgreich bewältigen kann, sowohl der orthodoxen als auch der säkularen Seite, eine vorausgesetzt, wir scheiden nicht zwischen erzieherischer Denkweise, die vielleicht die Grundlage für eine Verstän- und politischer Fragestellung, sondern erkennen die er- digung bilden könnte; möge die Verständigung in unserem zieherische Bedeutung jeder politischen sowie die poli- Zusammenhang zu einer eingehenden Diskussion werden, tische jeder erzieherischen Lösung. sofern die Partner eine echte Diskussion aufnehmen, d. h. Die Sache lässt sich auf zwei Wegen angehen. Der eine das Gesagte verstehen und sachlich darauf reagieren. besteht in umfassender Untersuchung der Realität und Wie gesagt, wohl kein Jude wird völlig auf den Sabbat Analyse ihrer Elemente; der andere besteht darin, ein ein- verzichten wollen. Man darf schon sagen, dass der Sabbat zelnes zentrales Problem herauszugreifen, um von da aus im weiteren Sinne zum allgemeinen Kulturbesitz gewor- zu weiteren, damit zusammenhängenden fortzuschreiten. den ist, auf den die einzelnen Anspruch erheben und Akademische Abhandlungen bevorzugen ersteren. Er bie- nicht zu verzichten bereit sind. Aber das Verhältnis eines tet den Vorzug einer umfassenden Schau und den Nach- Teils der jüdischen Gesellschaft zum Sabbat spiegelt ein teil, dass er zu unverbindlichen Ergebnissen führt. Von grundsätzliches Dilemma wider. Zunächst lassen sich den zahlreichen akademischen Arbeiten über die Mängel, gewisse Gemeinsamkeiten aufweisen. Die Idee des Sabbats an denen die israelische Gesellschaft krankt, hat noch gilt jedem kultivierten Menschen als erhaben. Ja noch keine einen praktischen Erfolg gezeitigt. Vielleicht kom- mehr: Es herrscht Übereinstimmung in der Bevölkerung men wir daher besser auf dem zweiten Weg zum Ziel. darüber, dass Sabbat nicht Sache des einzelnen in seinen Der Sabbat ist ein Grundelement jüdischen Lebensvoll- privaten vier Wänden sein kann. Um ihn zu halten, ist zugs. Der Sabbat bestimmt seinen Rhythmus. Er setzt die ein gemeinsamer Rahmen erforderlich, der dem Sabbat Pole (Heilig und Profan, Werk- und Ruhetag), zwischen verbindliche Geltung in der Gesellschaft insgesamt ver- denen sich das alltägliche Leben abspielt. Er vereinigt alle leiht. Der Sabbat gehört der Öffentlichkeit als solcher. Beziehungen des einzelnen zu sich selbst, zu seiner Fa- Aber jenseits der Übereinstimmung enthüllt sich der Ge- milie, zu seiner Gemeinde, zu seinem Volk; er verleiht gensatz, der auf verschiedenen Ausgangspunkten bei der ihnen reichen und vitalen Ausdruck. Der Sabbat verwirk- Bestimmung des Verhältnisses zum Sabbat beruht. licht Erinnerung an die Vergangenheit und Ausblick auf Der Teil der Bevölkerung, der nicht im orthodoxen Sinn die Zukunft als gegenwärtiges Erleben. Andererseits ist die Gebote befolgt, geht aus von der Idee des Sabbats, um der Sabbat ein konstituierendes Element der jüdischen sie im Leben zu verwirklichen. Man könnte sagen: Er ge- Gesellschaft aller Lager und Gruppierungen in Israel. langt durch die Aggada zur Halachal; der Teil der Be- Nicht nur gebotstreue Vertreter der Orthodoxie halten an völkerung hingegen, der die Gebote im orthodoxen Sinn ihm fest, sondern sogar Juden, die sich vom Ritualgesetz befolgt, gelangt durch die Halacha zur Aggada, die Ver- völlig entfernt haben. Auch sie finden einen — wenn auch wirklichung im Leben führt ihn zur Idee. Das soll nicht unvollkommenen — Weg, den Sabbat zu bezeichnen. Fer- heissen, dass die nicht orthodoxe Gruppe die Halacha ner ist die Einhaltung des Sabbatgebots nicht dem einzel- ignoriert. Selbst Juden, die sich selbst als konsequente nen oder einer Gruppe von einzelnen anheimgestellt. Säkularisten bezeichnen, suchen die Wege zur Verwirk- Sein Bestand hängt ab von der Einigung auf einen umfas- lichung der Sabbatidee in der Halacha, erstens weil sie senden öffentlichen Rahmen, jedenfalls solange noch alle in der Regel die historische Kontinuität geistigen Erbes Mitglieder der aus verschiedenen Lagern zusammenge- und die Gemeinschaft nicht aufgeben wollen, und zwei- setzten Gesellschaft an deren Einheit festhalten. Auf- tens, weil ausserhalb der Halacha für sie so gut wie nichts grund all dieser Erwägungen ist der Sabbat ein geeig- zu finden ist. Die Sache ist die, dass die Haltung solcher neter Ausgangspunkt für eine grundsätzliche praxisbezo- Juden zur Halacha nicht nur eklektisch und minimalistisch gene Auseinandersetzung mit Fragen jüdischen Lebens- ist, sondern sie in den seltensten Fällen überhaupt als vollzugs im Staat Israel. Nun müssen wir allerdings be- Halacha, d. h. als verbindliche Norm auffasst. Man könn- tonen, dass eine Abhandlung über die Gestalt des Sabbats te sagen: Auch die Halacha ist ihnen Aggada. Und zwo.r nicht auf Lösung eines einzelnen, sei es noch so zentralen gibt eine solche Haltung eine Weltanschauung wieder, die Problems ausgeht. Der Sabbat bildet den Brennpunkt wiederum auf ein Verständnis der Sabbatidee einwirkt, eines ganzen Lebensvollzugs, er lässt sich nicht losgelöst das vermutlich nicht mit dem der Aggada übereinstimmt, betrachten aus dem Zusammenhang, der ihn ermöglicht die sich von der Halacha herleitet. und ihm seine Bedeutung verleiht. Darüber hinaus ergibt 1 Aggada heisst das erbauliche, Halacha das normative Element genaue Prüfung des oben Gesagten, dass es sich im Grunde innerhalb der mündlichen Lehre des Judentums, deren eindrucks- um eine Frage der grundsätzlichen Einstellung zum gei- vollstes Dokument der Talmud ist.

166 1 /M 21 Andererseits ignoriert die gebotbefolgende Gruppe ge- botsbefolger sind, zur positiven Lösung ihres Sabbatpro- wiss nicht die Sabbatidee nach dem Verständnis der- blems bieten kann. Und wohlgemerkt, wenn sie sich dar- jenigen, die es nicht befolgen, ebensowenig wie sie deren auf einlässt, wird sie mit Problemen konfrontiert werden, Kultur ignoriert. Denn sie lebt inmitten dieser Kultur die ihren eigenen Sabbat angehen, denn auch sie lebt ja und hat den Sabbat in ihr zu wahren. Die Sache ist die, inmitten der sie umgebenden Kultur und wird direkt dass die Haltung solcher Juden zur umgebenden Kultur oder indirekt von ihr beeinflusst. Die nicht orthodoxe nicht nur eklektisch und minimalistisch ist, sondern in den Gruppe dagegen darf sich nicht damit begnügen, zu klä- meisten Fällen aggressiv kritisch; beim Sabbat äussert sie ren, was die Tradition ihr zu geben vermag, sondern sie sich in dem angestrengten Versuch, die halachische Norm muss auch überlegen, welche Möglichkeiten sie den ge- in der gesamten jüdischen 'Öffentlichkeit wenigstens nach botsbefolgenden Juden anbieten kann, damit diese ihren aussen hin durchzusetzen. Das führt dazu, dass diejeni- Sabbat gemeinsam mit ihr halten können. Und wohlge- gen, die nicht im orthodoxen Sinn die Gebote befolgen, merkt, wenn sie sich darauf einlässt, wird sich vielleicht sich von der Halacha distanzieren, solange sie ihnen ge- herausstellen, dass eben ihre Vorschläge an die andern setzlich auferlegt wird, und sie sich in der Öffentlichkeit ihr bei der Lösung ihrer eigenen Probleme helfen. Davon nur notgedrungen aufoktroyieren lassen; die gebotbefol- jedenfalls wollen wir bei unseren folgenden Überlegun- gende Gruppe hingegen macht die öffentliche Befolgung gen ausgehen. Es geht uns um eine positive Gestaltung des der Halacha zur Bedingung für einen gemeinsamen Sabbats aus dem Bemühen heraus, die vorhandenen Ge- Sabbat und versucht gar nicht zu bedenken, was dies be- meinsamkeiten voll auszuschöpfen — nicht ausschliesslich deutet für diejenigen, die es als Vergewaltigung empfinden. und nicht hauptsächlich in der Absicht, Streit zu vermei- Noch weniger macht sie sich die Mühe, zu überlegen, was men, sondern um einen Weg zur Lösung des wesentlichen denjenigen, die in ihren Augen »das Joch der Gebote ab- Problems für beide Lager gemeinsam zu finden. werfen«, als positiver Inhalt des Sabbats zu bieten wäre. Was ist der Gruppe derjenigen anzubieten, die nicht im Somit entsteht eine Spannung, welche die Schwierigkeit, orthodoxen Sinn die Gebote befolgen, als Hilfe zum Ver- der sich beide Seiten bei der Verwirklichung ihrer Sabbat- ständnis des Sabbats und zu seiner Einhaltung? Gemäss idee ausgesetzt sehen, noch erhöht. Für die Gruppe der- dem oben Gesagten müssen wir vorausschicken, dass wir jenigen, die nicht im orthodoxen Sinn die Gebote befol- hier nicht vom halachischen Standpunkt ausgehen kön- gen, weil sie die Verwirklichung auf einem Gebiet suchen nen, denn er ist nicht derjenige der Gruppe, um deren muss, wo sie nicht kreativ ist und zu dem sie ein äusserst Sabbat es uns geht. Wenn wir diesen Leuten eine akzep- ambivalentes Verhältnis hat; und für die gebotbefolgende table Lösung anbieten wollen, müssen wir uns ihren Gruppe, die einen scheinbar klar umrissenen Sabbat hat, Standpunkt zu eigen machen — die Idee des Sabbats. Da- weil sie den Sabbat abgekapselt halten muss, inmitten bei erhebt sich natürlich die Frage, ob ein solcher Vor- einer von Juden getragenen Werktagsatmosphäre und schlag von der Halacha ausgehend überhaupt erreichbar unter Ignorierung vieler Probleme, die sie nicht ignorie- ist. Diese Frage ist unabdingbar auch von den Voraus- ren könnte, wenn da nicht Juden wären, die den Sabbat setzungen der Gruppe aus, welche die Gebote nicht im nicht nach ihrer Weise halten und die Probleme für sie orthodoxen Sinn befolgt, und darum dreht sich die gan- lösen — zu ihrer grossen Erbitterung. So gestaltet sich das ze Diskussion. Wenn wir an diesem Punkt zu einer posi- Sabbatproblem in unserem Land schon seit vielen Jahren tiven Antwort gelangen, so ist dies ein Zeichen, dass wir als ein Kampf zwischen zwei Lagern, wobei jedem von uns auf dem richtigen Weg befinden. beiden weniger eine positive Lösung seiner Probleme, als Das schlichte und allgemein übliche Verständnis der vielmehr die siegreiche Überwindung des gegnerischen Sabbatidee ist das eines Ruhetags, eines Tages in der Lagers am Herzen liegt. Wir wollen nicht behaupten, dass Woche, an dem der Mensch frei ist von der Pflicht, sei- gar keine Auseinandersetzung stattgefunden hätte um nen Lebensunterhalt zu verdienen. Ferner herrscht in der den Charakter des Sabbats im Staat Israel. Das Thema gesamten jüdischen Öffentlichkeit Übereinstimmung wird ständig behandelt, und hie und da sind auch posi- darüber, dass wiederum manche Arbeiten am Sabbat nicht tive Versuche unternommen worden. Aber im allgemei- unterlassen werden dürfen, und das israelische Gesetz er- nen hat sich die Auseinandersetzung auf der politischen laubt sie mit ausdrücklicher oder stillschweigender Zu- Ebene abgespielt, ohne tieferes Eingehen auf die Proble- stimmung von Meistern der Halacha. Umstritten ist beim matik, und das Ergebnis: Verschärfung der Gegensätze derzeitigen Stand der Dinge die Frage der exakten Defi- statt Verstärkung der Gemeinsamkeiten. nition: Welche Art von Arbeit ist lebensnotwendig, welche Anscheinend sind wir zur Zeit an einem entscheidenden nicht? Und sofern lebensnotwendig, bis zu welcher Gren- Punkt angelangt. Der vielberufene »status quo« kann ze und in welcher Weise darf sie am Sabbat verrichtet nicht mehr lange währen, in dieser Sache so wenig wie in werden? Verständlicherweise handelt es sich hier nicht manchen anderen, denn auf die Dauer lässt sich eine poli- nur um eine technische Frage. Die Feststellung, wieweit tische Täuschung, der die Realität täglich und stündlich eine Arbeit für den einzelnen oder die Gemeinschaft le- ins Gesicht schlägt, nicht aufrecht erhalten. Von nun an benswichtig ist, hängt ab von der Beurteilung des Lebens- geht es darum, wie die Entscheidung ausfallen wird. Wenn rahmens, der ihre notwendige Grundlage bildet. Wer den die Dinge weiterlaufen wie bisher, wird sie den gesell- Rahmen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Le- schaftlichen Bruch zwischen den beiden Lagern politisch bens, wie er sich in der modernen westlichen Zivilisation zementieren. Aber noch gibt es eine Alternative. Noch herausgebildet hat, bejaht, wird Arbeiten, deren Unter- besteht die Möglichkeit, dass beide Lager die positive Lö- brechung ein Unternehmen bzw. einen ganzen Wirt- sung ihres Problems suchen aus dem Bemühen heraus, die schaftszweig zum Erliegen brächte oder erheblichen ma- Position der anderen aus deren Sicht zu verstehen, und teriellen Schaden anrichtete, als lebenswichtig betrachten. sei es nur, weil keiner von beiden mit seinem eigenen Wer diesen Rahmen dagegen verneint, wird solche Arbei- Problem allein zurecht kommt. Die gebotbefolgende ten als grundsätzlich entbehrlich ansehen. Ja noch mehr: Gruppe darf nicht nur über die Mindestforderungen Eben die Einstellung zum Lebensrahmen, wie er sich in nachdenken, die sie an die Nichtorthodoxen zu stellen der modernen westlichen Zivilisation herausgebildet hat, hat, um den Sabbat gemeinsam zu begehen, sondern muss bestimmt, welches existentielle Bedürfnisse sind, sofern sich auch fragen, was sie Juden, die nicht orthodoxe Ge- der Sabbat ein Tag der Ruhe und Freude bleiben und

IM 221167 nicht zu einem Tag trübseliger Askese werden soll; dar- zusammen, was für den Sabbat selbst erforderlich ist. über hinaus wird sich in Bälde herausstellen, dass diese Ruhe besteht nicht nur in Untätigkeit. Sie äussert sich Festsetzung wiederum mit dem Verständnis des positiven auch positiv in anderer Art von Tätigkeit als denjenigen, Inhalts des Sabbats zusammenhängt, denn manche Arbei- mit denen sich der Mensch zum Erwerb seines Lebens- ten sind für ihn unentbehrlich. unterhalts oder in Erfüllung seiner Pflichten gegenüber Wenn wir vom Standpunkt derjenigen, die nicht im Familie und Gesellschaft beschäftigt; Tätigkeiten, denen orthodoxen Sinn die Gebote befolgen, ausgehen wollen, er aus freier Neigung nachgeht und die ihn befriedigen; dürfen wir wohl annehmen, dass ihr Verhältnis zum mo- damit ist nicht nur Zerstreuung gemeint, die hauptsäch- dernen Rahmen von Wirtschaft und Gesellschaft insge- lich passiv ist, sondern auch mancherlei schöpferische samt positiv ist, auch wenn sie nicht mit all seinen Aus- Betätigung. Erweitern wir den traditionellen Begriff der wirkungen zufrieden sind und wenigstens zum Teil eine Sabbatfreude, der in seinem engeren Sinn als positives kritische Haltung zu deren Ursachen einzunehmen ge- Gebot definiert ist und für den es eine klare halachische neigt sind. Daneben sind sie nicht willens, bzw. halten es Norm gibt, und wenden ihn hier auf die positiven Impli- für unmöglich, den bestehenden wirtschaftlichen und ge- kationen der Ruhe an. Am Sabbat ist der Mensch frei, sellschaftlichen Rahmen grundsätzlich aufzuheben. Ihre sich — unterhaltsamen oder schöpferischen — Beschäfti- \Torstellungen von Komfort und Vergnügen sowie an- gungen hinzugeben, zu denen er wochentags kaum oder deren Bedürfnissen, in denen sie wesentliche Bestandteile gar nicht kommt. Sabbatfreude in diesem Sinn ist selbst- ihres Sabbats sehen, basieren auf dieser Grundlage; daher verständlich etwas Zwangloses, wofür es keine halachische ist klar, dass in halachischer Sicht das Eingehen darauf Norm gibt, selbst wenn sie zweifelsohne auch unter den ein ziemliches Wagnis bedeutet, und eben dies verlangt treuen Anhängern der Halacha gepflegt wird und einen die Gruppe derer, die nicht im orthodoxen Sinn die Ge- integralen Bestandteil auch ihres Sabbats ausmacht. All- bote befolgen. Offenbar sind wir hier jedoch an einem gemein gilt also, dass der Sabbat gegeben ist, um sich an Punkt angelangt, wo sich unsere Aussage bestätigt, dass ihm zu freuen. Wie das konkret aussieht, hängt vom Auseinandersetzung mit den Forderungen der anderen kulturellen Rahmen des jeweiligen jüdischen Gemein- das orthodoxe Lager mit den Problemen seines eigenen wesens ab. Aber daneben steht die negative Einschrän- Sabbats konfrontiert. Letzten Endes lebt auch dieses La- kung. Das bedeutet, wenn irgendein Vergnügen mit einer ger innerhalb eines modernen wirtschaftlichen und gesell- Art von Tätigkeit verbunden ist, die am Sabbat nicht schaftlichen Rahmens und seinen Gegebenheiten, was sich erlaubt ist — dann ist auch dieses Vergnügen untersagt. nicht rückgängig machen lässt ohne völlige Umwälzung Darin liegt das Problem, dass eine solche Beschränkung der westlichen Zivilisation. verschiedene Vergnügungen ausschliesst, die im modernen Es gibt Arbeiten, deren Unterbrechung am Sabbat eine jüdischen Kulturleben verankert sind, Vergnügungen, die Katastrophe wäre, zum Beispiel die verschiedenen Kom- nach jedem anderen, geistigen oder ethischen Massstab ge- munikationsmittel. Ihre absolute Stillegung ist unter den messen auf hohem Niveau stehen, mitunter sogar höherem heutigen Bedingungen unvorstellbar; ausserdem wäre als die in der traditionellen jüdischen Gesellschaft völliger Verzicht auf ihren Gebrauch am Sabbat für am Sabbat gepflegten. Zum Beispiel: weite Spaziergänge, manche Leute eine Qual. Ist folglich die Halacha bereit, sportliche Betätigung, Musik, Aufführungen, auch Besu- aufgrund einer neuen Auffassung von Sabbatruhe die Be- che bei Verwandten und Freunden, deren Wohnort nicht nützung der Kommunikationsmittel zu gestatten? Unab- zu Fuss erreichbar ist, oder Schwimmen. hängig davon, wie die Antwort der Experten auf diese Mit Bedacht haben wir eben diese Tätigkeiten aufgezählt, Frage ausfallen mag, müssen die treuen Anhänger der denn sie überschreiten den Entscheidungsspielraum des Halacha sich darüber im klaren sein, dass sie keine abso- einzelnen, wie er seinen Sabbat gestalten will. Die Aus- lute Stillegung der Kommunikationsmittel am Sabbat übung dieser Tätigkeit greift unwillkürlich auf den verlangen können, wenn sie es mit Leuten zu tun haben, Bereich der Öffentlichkeit über, deshalb müssen sie für welche die Gebote nicht streng einhalten, denn für die ist die Aufstellung von öffentlich verbindlichen Richtlinien die Kommunikation eben unentbehrlich. Ein konstruktiver in Betracht gezogen werden. Die Frage, wie der einzelne Beitrag bestünde demnach darin, nicht gegen bestehende in seinem privaten Bereich zu verfahren hat, wird erst Tatsachen anzukämpfen, sondern Beschränkungen vorzu- aktuell, sobald er kommt und Rat sucht, und das ist ein schlagen, die sich aus der Idee des Sabbats ergeben, auch Kapitel für sich. wenn die treuen Anhänger der Halacha selbst die Kom- Andererseits wollen wir keineswegs den Meistern der munikationsmittel am Sabbat nicht gebrauchen wollen. Halacha ins Handwerk pfuschen: Darf man solche Tätig- Dazu dürfen wir vielleicht bemerken, dass persönlicher keiten am Sabbat gestatten oder nicht? Auch das ist eine Verzicht auf Benützung der Kommunikationsmittel dem gesonderte Frage, für die nur die Fachleute zuständig Problem nur ausweicht, es aber nicht löst. Letzten Endes sind. Nur das eine wollen wir festhalten: Es geht nicht sind auch diejenigen, welche die Kommunikationsmittel an, dass die Gruppe der orthodoxen Wächter der Gebote nicht gebrauchen, auf sie angewiesen, auf dem Umweg die Auffassung von Sabbatfreude, wie die anderen sie über diejenigen, die sie doch betätigen. Was am Versöh- hegen, bekämpfen, nicht nur, weil sie damit bei den nungstag 1973 geschah, ist ein eindrucksvolles Beispiel Betroffenen auf keinerlei Echo geschweige denn Zustim- dafür. Diejenigen, welche Radio bzw. Fernseher einschal- mung stossen, sondern in erster Linie, weil sie damit teten, haben denen, die es nicht taten, einen grossen deren Sabbat zunichte machen, ohne einen positiven Er- Dienst erwiesen. Aber das einmalige Ereignis steht für satz zu bieten. alltägliche Vorgänge, denn die Gesellschaft ist auf den Was ist zum Beispiel aus der Stillegung der öffentlichen Gebrauch dieser Geräte angewiesen und die einzelnen Transportmittel geworden? Hat sich dadurch der Verkehr wiederum auf die Gesellschaft. Etwas Mut ist folglich am Sabbat verringert, und wird dadurch die Sabbatruhe erforderlich, auch von seiten der treuen Anhänger der in der Öffentlichkeit gewahrt? Mitnichten. Ausgeschlossen Halacha. Andernfalls krankt ihr Sabbat daran, dass er werden dadurch nur eine Anzahl von Vergnügungen, auf Arbeit seiner Entweiher beruht. gegen die eigentlich auch in den Augen der treuen An- Wie gesagt hängt die Frage, was für den reibungslosen hänger der Halacha nichts einzuwenden ist und die für Ablauf des gesellschaftlichen Lebens wesentlich ist, damit die anderen einen wichtigen Bestandteil ihres Sabbats bil-

168 IM 23 den. Wäre deshalb nicht besser eine positive Neuregelung trotzdem an der Heiligung grundsätzlich festhalten. Ist zu überlegen, die den Vorstellungen von Sabbatfreude im auch in ihren Augen eine Übertretung der geltenden Rahmen eines allgemeinen Sabbatverständnisses ent- Halacha ein Sakrileg? Das ist bereits die Ansicht derer, spricht, die diesen Tag auszeichnet und ihm ihren Stempel die nicht bereit sind, die Idee des Sabbats auch einmal vom aufprägt? Zum Beispiel: Wäre es nicht angebrachter, Standpunkt Andersdenkender aus zu betrachten; wer sich öffentlichen Verkehr am Sabbat zuzulassen, aber ihn so- dagegen dieser geistigen Anstrengung unterzieht, wird wie den Privatverkehr auf die Hauptverkehrsadern zu erkennen, dass es auf die Frage nach dem Wesen der beschränken und damit Ruhestörung in den Wohnvierteln Heiligung und den Wegen zu ihrer Durchführung keine und in Synagogennähe zu vermeiden? Wäre es nicht eindeutige Antwort gibt. Das bedeutet, dass wir uns hier- sinnvoll, die öffentlichen Verkehrsmittel am Sabbat gratis mit jenseits der Zustimmung aller Lager befinden und zur Verfügung zu stellen, und den finanziellen Verlust wiederum keiner unserer Vorschläge Geltung als Gesetz durch eine geringe Erhöhung des Fahrpreises an Wochen- oder als Gewohnheitsrecht erlangen kann, die für die ganze tagen auszugleichen? Letzterer Vorschlag zielt auf einen jüdische Öffentlichkeit verbindlich wäre. Jeder Gemeinde grundsätzlichen, und zwar sehr wichtigen Punkt, der sich ihren Sabbat, jedem einzelnen seine Gemeinde. aus der Idee des Sabbats ergibt. Der Sabbat wäre dann Jedoch müssen diese Ausführungen sogleich nach zwei dadurch ausgezeichnet, dass die an ihm verrichteten Ar- Richtungen eingeschränkt werden, wodurch wir uns beiten nur ihm dienen, unter Ausschaltung ihres kommer- wieder auf den festen Grund allgemeiner Zustimmung ziellen Aspekts. Das wäre eine Dienstleistung zugunsten zurückbegeben. der Allgemeinheit, damit sie ihren Sabbat geniessen kann, Einerseits kann nicht jede einzelne Gemeinde ihren eige- nicht um Profit zu machen. Damit erhebt sich die Frage, nen Sabbat begehen ohne Rücksicht auf andere Gemein- ob sich dieser Grundsatz nicht auf andere gemeinnützige den. Wenn sie auch nicht auf Hilfe angewiesen sind, so Einrichtungen anwenden liesse, etwa Konzerte, Vorträge, bedürfen sie doch der abschirmenden Massnahmen. Daraus Führungen und sonstige Veranstaltungen. Auf diese Weise geht hervor, dass auch die Bevölkerungsgruppe, die der kämen eine Reihe von lohnenden Unternehmungen zu- Heiligung scheinbar gleichgültig gegenübersteht, um eine stande, die den Andrang nach minderwertigen Zerstreu- Stellungnahme nicht herumkommt, und sei es nur auf- ungen verringern und dem Sabbat einen erhebenden und grund des Respekts, den sie dem Sabbat der anderen erzieherischen Charakter verleihen könnten, der ihn sei- entgegenzubringen hat. Sie verlangt, dass andere ihren nem ursprünglichen Sinn erheblich näherbringen würde, Sabbat achten und sich nicht in ihre Angelegenheiten als er dies im Leben der meisten israelischen Bürger heut- einmischen mit Forderungen, die über das Mass ihrer zutage ist. Freilich stünden einige dieser Tätigkeiten im Kompromissbereitschaft hinausgehen. Die Grundlage der Widerspruch zur heute geltenden halachischen Norm, Toleranz zwischen den Lagern ergibt sich aus dem aber ihre Ausübung wäre nicht mehr dazu angetan, solche Vorigen; aber nun liegt der Schwerpunkt auf der von Erbitterung auszulösen, wie sie es unter den gegebenen beiden Lagern geforderten Bereitschaft, einander Zuge- Umständen tut; und ihr sabbatlicher Charakter bestünde ständnisse zu machen, deren Umfang jeweils wieder von im Fehlen des kommerziellen Aspekts. Wäre eine solche neuem überdacht werden kann. Ohnehin wird nicht alles, Regelung nicht auch vom halachischen Standpunkt her was diejenigen, die darin den Hauptinhalt ihres Sabbats vorzuziehen? sehen, als Ausdruck von Ruhe und Freude gilt, in den Soweit zum Sabbat als Tag der Ruhe und Freude. Aber Bereich des Erlaubten fallen. Eine gewisse Beschränkung die eigentliche Idee des Sabbats besteht in keinem von werden die Nichtorthodoxen auf sich zu nehmen haben, beiden. Ja noch mehr: Grundsätzlich betrachtet sind auch und sei es nur zur Erhaltung eines gemeinsamen gesell- Ruhe und Freude beschränkt und erhalten eine andere schaftlichen Rahmens; aber voraussichtlich werden auch Bedeutung als sie bei denjenigen haben, die darin den dadurch diejenigen, die zunächst keinen Heiligkeitsbegriff Hauptinhalt des Sabbats sehen. Vom wahren Hauptzug brauchen, in gewisser Weise zu einem solchen hingeleitet. des Sabbats her betrachtet — muss man sagen — gibt es Andererseits, gibt es denn wirklich Juden, deren Säku- keinerlei Übereinkunft. Und was ist der wahre Grund- larität dermassen ausgeprägt ist, dass sie keinerlei Bezie- zug des Sabbats? Heiligung. Der Sabbat ist ein Tag der hung zum Heiligen haben? Und gibt es wirklich eine Heiligung, und von diesem seinem Aspekt ausgehend Gruppe von Juden, die sich selbst als Juden verstehen beschränkt die Halacha die an ihm erlaubten Vergnü- und ihre Jüdischkeit annehmen, die sich von der in der gungen, so dass alles, was an ihm getan oder unterlassen Halacha verwurzelten Tradition so weit entfernt hätte, wird, von Heiligung zeugt. Bejahung der Aktivitäten dass sie keinerlei Beziehung zu deren Inhalten hätte? zur Unterhaltung oder Horizonterweiterung, die sich Wenn wir uns weder von abstrakten soziologischen Kate- über die Halacha hinwegsetzen, beraubt — so muss man gorien noch vom äusseren Eindruck vom Lebensstil der sagen — den Sabbat seines Grundelements, der Heiligung, grossen Masse leiten lassen, sondern die komplexen Vor- und Ruhe und Freude werden zum Selbstzweck herab- gänge in der Psyche jedes einzelnen Juden untersuchen, gewürdigt. Darin besteht nämlich die eigentliche Kontro- sind die beiden obigen Fragen negativ zu beantworten. verse zwischen denen, die treu an der heute normativen Tatsächlich ist der Anblick jüdischer Massen, wenn sie Halacha festhalten, und denen, die dies nicht tun. Aber sich zu leichter Unterhaltung zusammenfinden, ziemlich bevor wir ausführlicher auf den Kern der Auseinander- entmutigend; aber sobald man es mit einzelnen zu tun setzung eingehen, sollten wir zweierlei Fronten unter- hat in Situationen, wo sie Rechenschaft ablegen müssen scheiden. Eine zwischen denen, die an der Sabbatheili- über ihre Bemühungen als Eltern ihrer Kinder und An- gung grundsätzlich festhalten, und denen, die — jedenfalls gehörige ihrer Familien, sogar als Verantwortliche für ihr scheinbar — einen profanen Sabbat wollen. Die andere jeweils privates geistiges Leben, ergibt sich ein recht ande- innerhalb derer, welche die Sabbatheiligung festhalten, res Bild, eines von innerer Sorge und Not und Bedenken. um unterschiedliche Auffassungen vom Wesen der Heili- Bedenken allerdings, die selten über solche und über den gung und den Wegen zu ihrer Realisierung am Sabbat. Wunsch nach Hilfe von anderen hinausgehen. Es ist also Denn wenn das oben Gesagte auch auf die säkular Den- leider richtig, dass diese einzelnen meist nicht in der Lage kenden zutreffen mag, so doch nicht auf diejenigen, die sind, aus eigener Kraft gegen den gesellschaftlichen und zwar nicht im orthodoxen Sinn die Gebote halten, aber wirtschaftlichen Zwang anzukommen, der sie zum Glied

/M 24 , 169 einer Masse ohne Beziehung zum Heiligen macht. Jedoch sich aufschwingen — mit Hilfe dessen, was er durch seine glimmt der Funke in ihren Herzen, und er lässt sich zur Arbeit bereits erreicht hat — das Ziel seines Lebens als Glut entfachen, wenn nur ein Weg gefunden wird, das Mensch in den Blick zu bekommen. Das also ist der Gefälle der gesellschaftlichen Vermassung zu ändern, und erste Schritt zur Heiligung — Absonderung. Und bereits ein Ansatzpunkt für erzieherische Wirksamkeit. Ein ge- in diesem Stadium erkennt er, dass der Sabbat gegeben wichtiges Argument dafür ist die Tatsache, dass die ist nicht nur zum Ausruhen, um neue Kräfte für den Mehrheit der jüdischen Bevölkerung Israels vielen der Fortgang der Arbeit zu sammeln, und nicht nur, um ihre Beschränkungen, die sich aus der Schaffung eines gemein- Früchte zu geniessen, sondern um sich mit ihrer Hilfe auf- samen gesellschaftlichen Rahmens zusammen mit dem zuschwingen und zu dem Ziel zu gelangen, das jenseits der religiösen Lager ergeben, Verständnis entgegenbringt, und Arbeit und dem, was sie zu geben vermag, liegt. Verständnis ist nicht möglich ohne ein gewisses Mass an Der positive Aspekt bildet selbstverständlich die Ergän- Hochachtung für die Sache, um derentwillen man Zuge- zung zum negativen. Jedoch müssen wir gerade den ständnisse macht. Daher ist die Kompromissbereitschaft negativen Aspekt als gesondertes Moment hervorheben, möglicherweise nicht nur mit der Erwartung verbunden, denn über ihn gelangt die Gruppe derjenigen, die sich dass die treuen Anhänger der Halacha diejenigen achten, nicht für »religiös« halten, zu Idee und Aussage von die ihrerseits sie respektieren und in gleicher Weise auf Heiligkeit. Die moderne, vom Westen geschaffene Kultur, sie eingehen, sondern auch mit dem Wunsch, zu lernen in der wir leben, beschleunigt den Prozess der Verskla- und sich leiten zu lassen, sofern diese Anleitung auf ihre vung an die Arbeit, die eigentlich die Natur den Bedürf- Empfänger zugeschnitten ist. Der Gegensatz zwischen nissen des Menschen dienstbar machen sollte. Wahrschein- denen, die an der Halacha festhalten, und denjenigen, die lich war es nie so leicht wie heute, sich durch die Errungen- es nicht tun, ist erheblich, aber doch nicht so absolut, wie schaften der Technologie aus dieser Knechtschaft zu er- es zunächst den Anschein hatte, und er muss nicht zwangs- heben; aber noch nie war die Versuchung grösser, der läufig zum Abbruch der Beziehungen führen. Er gibt wohl Bedürfnisbefriedigung als Endziel zu verfallen. Allerdings Anlass zu Missverständnissen, Streitigkeiten und Ver- weicht der Gang des westlich zivilisierten Lebens immer bitterung, aber er lässt doch auch grossen Spielraum weiter von den beiden Polen Heilig und Profan ab. für schöpferische Einflussnahme, die ihre Spuren auch im Tatsächlich kann man ihn bereits nicht mehr profan öffentlichen Leben hinterlassen kann. nennen, denn Profan besteht nur in bezug auf ein Heiliges, Selbstverständlich handelt es sich hier um eine Sache der welches es definiert. Wenn dieser Bezug fehlt, spielt sich Erziehung und nicht der Gesetzgebung, selbst wenn das Leben ab zwischen den Polen von Anstrengung und der oben angesprochene juristische Rahmen ihre Grund- Zerstreuung, von Arbeit und Genuss ihrer Früchte. Aber lage bildet. Wenn ein verbindlicher und anerkannter sowohl die Arbeit als auch der Genuss ihrer Früchte ver- Rahmen gegenseitiger Achtung besteht, gibt es auch einen grössert die äussere und innere Verknechtung des Men- Weg zur Beeinflussung durch Erziehung, vorausgesetzt, schen: er lebt durch sie und für sie. Ob er dabei glücklich die Gruppe, welche den Einfluss ausüben will, masst sich wird, ist sehr zu bezweifeln. Jedenfalls verliert er dabei nicht an, »herabzusteigen« zu denen, die den Sabbat nicht sein kostbarstes Gut — das Bewusstsein, dass sein Leben gemäss der Halacha halten, und ihnen eine Gnade zu einen Sinn hat. erweisen, sondern geht eines ihrer eigenen inneren Pro- Der Mensch, der das Bewusstsein von Sinn und Wert bleme dadurch an, dass sie sich mit dem Sabbatproblem des Lebens zurückgewinnen will, muss also Arbeit und ihrer Mitmenschen konfrontiert. Eine Gemeinschaft, der Genuss ihrer Früchte als Profanbereich dem Heiligen als die Frage gleichgültig ist, wie sie den Sabbat halten kann, Ziel gegenüberstellen, dann wird er vor dem Sabbat ohne direkt oder indirekt die Dienste derer in Anspruch stehen als vor einem Tag nicht nur der Ruhe und nicht zu nehmen, deren Sabbat anders aussieht, eine Gemein- nur der Freude, sondern der Heiligung von der Arbeit schaft, die solche Leute schlicht als Sabbatschänder be- und durch die Ruhe auf sie hin. Selbstverständlich ist eine zeichnet und sie verurteilt, obwohl sie auf sie angewiesen solche Haltung Ausdruck von kritischer Distanz und Er- ist — eine solche Gemeinschaft wird niemals Einfluss aus- wachen aus der Trägheit, die in der modernen Zivilisation üben können; ebensowenig wie eine Gruppe, die keinen herrscht. Sie lehnt diese nicht völlig ab; aber sie lehnt die Respekt aufbringt für den Sabbat derjenigen, die ihn Tendenz zur Selbstaufgabe ab, die in ihr überhand gemäss der Halacha halten, für Beeinflussung offen ist. nimmt und sie von innen heraus zerstört. Dagegen befür- Welche Wegweisung gibt es für Leute, die nicht im ortho- wortet sie die Bereitschaft, Grenzen zu ziehen, sowohl doxen Sinn die Gebote halten, den Sabbat heilig zu gegenüber der Arbeit als auch gegenüber dem Jagen nach halten? Da es sich, wie gesagt, um Leute handelt, die über Genuss ihrer Früchte. Offenbar ist schon die Bereitschaft die Sabbatidee zu seiner Einhaltung gelangen, müssen sich aufzuraffen als solche der erste Ausdruck von Heili- wir zunächst die Idee der Heiligkeit in ihrem Verhältnis gung, für die wache und empfindsame Menschen — denn zum Sabbat definieren und dann für diese Leute gangbare nur solche sind zu Anleitung und Erziehung befähigt — Wege zur Verwirklichung der Idee suchen. bereit sind. Ein Leben ohne geistiges Ziel ist ihnen zur Die Heiligkeit des Sabbats hat zwei Aspekte, einen nega- Last geworden, und sie sind offen für die Idee des Sabbats: tiven und einen positiven. Gedenken an das Schöpfungswerk, welches dem Menschen Der negative besteht in Lockerung der Abhängigkeit des seine Aufgabe in der Welt zuweist, und Gedenken an den Menschen von der Arbeit, durch die er sich die Natur Auszug aus Ägypten, die Befreiung des Volks von der Ver- untertan macht. Diese Arbeit ist nicht nur eine Existenz- sklavung an dieArbeit, sowie an die FleischtöpfeAgyptens. notwendigkeit, sondern auch eine Aufgabe, die dem Men- Der positive Aspekt bei der Sabbatheiligung besteht in schen als Erdenbewohner auferlegt ist und durch deren der Selbstabsonderung zum Gottesdienst. Der Mensch Erfüllung er seine Begabungen und Fähigkeiten entfalten macht sich frei vom Joch seiner existentiellen Bedürfnisse, und verwirklichen kann. Aber gerade damit er lernt, die um seinem Schöpfer zu dienen. Er muss erkennen, dass Arbeit nicht nur als Versklavung an seine existentiellen der Schöpfer Herr ist über die Schöpfung und über ihn, Bedürfnisse und Sehnsüchte, auch nicht nur als Bemühen, damit er seinen Platz in der Welt und die Bedeutung der die Natur denselben dienstbar zu machen, zu begreifen, Arbeit, die er leistet, erkennen kann. Sind Leute, die muss er sich frei machen, sich absondern von der Arbeit, nicht im orthodoxen Sinn die Gebote befolgen, auch für

170 /M 25 diesen Aspekt zugänglich, ohne den die Idee der Heili- ten her bezieht, die dem Sabbat eignen. Diese Inhalte gung keinen Sinn hat? Verständlicherweise gibt es auf finden ihren Ausdruck in Gebet, Toralesung, Predigt diese Frage nicht nur eine Antwort, und zwar nicht nur, und Lernen in der Synagoge. Aber von den Juden, die weil die Gruppe, um die es geht, nicht einheitlich ist, son- nicht im orthodoxen Sinn die Gebote befolgen, findet dern auch, weil nicht alle unter dem Begriff »Gottes- nicht jeder ohne weiteres eine Synagogengemeinschaft, dienst« dasselbe verstehen. Daher wollen wir in unserem wo er sich zu Hause fühlt; und nicht jeder findet, jeden- Zusammenhang auf diesen Begriff nicht ausführlicher ein- falls auf Anhieb, überhaupt den Weg in eine Synagoge. gehen. Nur eine Sache können wir mit Bestimmtheit fest- Daher ist die Errichtung von Gebetsgemeinschaften nach halten: Sowie der Mensch sich den negativen Aspekt des unterschiedlichem Stil und Ritus sehr zu begrüssen. Aber Heiligkeitsgedankens zu eigen gemacht hat, befindet er auch diejenigen, die keine Synagoge haben, können sich sich auch schon auf dem Weg zu dessen positivem Aspekt. eine bestimmte Zeit am Sabbat vornehmen zum Studium Die — nicht unbedingt klar ausgesprochene — Vorausset- der Quellen, sei es allein, in Gemeinschaft mit Freunden zung, aufgrund deren der Mensch aus der sklavischen oder zusammen mit ihren Kindern. Studium der Quellen, Hingabe an die Arbeit und den Genuss ihrer Früchte er- sofern es in der Suche nach dem geschieht, was sie dem wacht, ist die, dass des Menschen Leben in der Welt einen Lernenden zu sagen haben, und in der Bereitschaft, sich Sinn hat, denn er hat eine Bestimmung in seiner Welt. damit zu konfrontieren, um seine Bedeutung und Ver- Auf das Erwachen muss der zweite Schritt folgen: innere bindlichkeit zu erfassen, ist ein Weg, den Lernenden der Einkehr, Suche nach dem Sinn, Rechenschaftsablegung. Weisung nahezubringen und die Weisung denen, die sie Anscheinend stellt schon die Suche, auf die sich jeder ein- lernen. Als solches fällt es unter die Erfahrung, die dem zelne in seiner Weise macht, auch wenn er aufgrund der Sabbat eignet als einem heiligen. Schwere rechten geistigen Lebens auf all die Quellen an- Aus dem zuletzt Gesagten geht hervor, dass es vollkom- gewiesen ist, welche die Kultur ihm zu bieten hat, eine menen Sabbat nur geben kann innerhalb einer jüdischen Form von Gottesdienst dar; und wenn der Sabbat zu Gemeinschaft. Sabbat findet statt in der Familie, in der einem Tag der Freiheit von Arbeit zum Zweck des Ler- Gemeinde und im Volk, und auf all seinen Ebenen nens, Denkens und Suchens wird, so ist die Idee der Heili- konkretisiert sich die organische Verbundenheit des ein- gung in ihren beiden Aspekten an ihm verwirklicht. zelnen mit seinem Volk. Das ist ein integraler Bestandteil Von der Idee auf zur Verwirklichung! Wie kann je- der Sabbatidee selbst und ihrer Ausdrucksformen. Aus- mand, der nicht im orthodoxen Sinn die Gebote befolgt, ruhen von der Arbeit gibt es nur innerhalb der Gesell- Sabbatheiligung konkret zum Ausdruck bringen? schaft und durch sie (daher gehört gesellschaft-erhaltende Zunächst ist die Verknechtung an die Arbeit zu lockern, Arbeit wesentlich zum Sabbat dazu); und nur innerhalb zumindest durch Unterlassung der Arbeit, von der er sich seines Volkes kann der einzelne Jude frei werden von der ernährt: Überhaupt sollte er keineArbeit verrichten, die mit Versklavung an die Arbeit. Sowohl als »Gedenken an das Erwerb oder Profit verbunden ist, sie sei denn ein wesent- Schöpfungswerk« als auch als »Gedenken an den Auszug licher Beitrag zum Wohl der Allgemeinheit. Am Sabbat aus Ägypten« gehört der Sabbat der Gesellschaft und hat er sich von all diesen Tätigkeiten freizuhalten, nicht dem Volk, nicht dem einzelnen für sich. Und wir haben nur zum Zweck des Ausruhens, sondern auch, um frei zu ja gesehen, dass selbst wer den Sabbat ausserhalb der sein für Dinge, die nicht unter den Begriff Arbeit fallen. Schranken der heutzutage gültigen Halacha begehen will, Zu diesen Dingen gehört auch die Sabbatfreude. dies im negativen wie im positiven Sinne nur inner- Allerdings sollte auch das Vergnügen deutlich vom halb von Familie und Gemeinde tun kann, aufgrund eines werktäglichen abgesetzt sein. Das Moment der Unterhal- verbindlichen Rahmens der jüdischen Öffentlichkeit im tung darf nicht zum Hauptstück werden; Unterhaltung, Gesamtsystem des Staates. Die Erkenntnis dieser Tatsa- die mit negativen Implikationen verbunden ist, hat che hebt wiederum das Problem hervor, auf das wir schon überhaupt zu unterbleiben, und auch solche positiver Art, am Anfang gestossen sind: Der Sabbat der Orthodoxen, die ein schöpferisches Element enthält (Wandern, Musik- die sich der vollen Gemeinsamkeit mit dem Volksganzen hören, künstlerische Betätigung u. ä.), ist auf ein solches entziehen, ist nur scheinbar vollkommen. Sie halten ihn Mass zu begrenzen, dass genügend Zeit bleibt für posi- wohl, ignorieren dabei aber die Voraussetzungen, die an- tive Aktivitäten, die dem Sabbat als solchem eignen. dere für ihn schaffen, indem sie ihn entweihen. Demge- Diese beiden Richtlinien, die zur negativen Seite der genüber sehen sich diejenigen, die nicht im orthodoxen Sabbatheiligung gehören, werfen die Frage nach der Sinn die Gebote befolgen, mit der Tatsache konfrontiert, Unentbehrlichkeit von Tätigkeiten auf, die mit Arbeit dass ihre direkten Beziehungen zur jüdischen Gemeinde zum Unterhalt anderer zusammenhängen. Wer seinen brüchig werden und manchmal sogar abreissen. Die ein- Sabbat halten will, muss dafür einen sehr wachen Sinn zelnen unter ihnen identifizieren sich mit ihrem Volk mit- haben. Es geht nicht an, dass sein Sabbat dadurch zu- tels des nationalen Rahmens, innerhalb dessen sie sich stande kommt, dass andere auf ihn verzichten, und sei es aber isoliert finden. Die Familie, deren Bedeutung ohne- freiwillig. Aber diese Frage ist offenbar nur innerhalb hin sinkt, bietet ihnen nur einen teilweisen Bezugsrah- des oben erwähnten öffentlich-rechtlichen Rahmens lös- men; Kontakte zu Freunden und Bekannten sind zufäl- bar. Jedem einzelnen wird ein vollständiger Sabbat nur lig und vorübergehend und erreichen nur selten den Rang zuteil, insofern die Gesellschaft als solche die nötigen einer Lebensgemeinschaft; und eine Gemeindebindung Vorkehrungen für seine Einhaltung trifft. existiert für sie nicht. Und nun zur positiven Seite der Sabbatheiligung: In der Rückschau auf den Beginn unserer Ausführungen Selbstverständlich ist der überkommene zeremonielle können wir feststellen, dass diese Tatsache zu den wich- Rahmen beizubehalten: Vorbereitungen am Sabbatvor- tigsten Faktoren bei der Gestaltung von Gepflogenheiten abend, Lichtzünden bei seinem Eintritt, sein Empfang in der Ruhe und Freude dieser Bevölkerungsgruppe gehört. der Synagoge, Kiddusch und Hawdala 2. Ebenso klar ist, Sowohl ihre Ruhe als auch ihre Vergnügungen sind die dass der zeremonielle Rahmen nur eine Art Symbol sein von einzelnen, bestenfalls Sache des mitten im Getriebe kann, welches seine Bedeutung von den geistigen Inhal- einsamen Zuschauers oder des Lesers oder Künstlers in

2 Häusliche Zeremonien, die den Eingang bzw. Ausgang des Sabbats seinem stillen Kämmerlein. Es ist ganz natürlich, dass sich bezeichnen. solche Einzelgänger in der Synagoge nicht wohl fühlen.

/M 26 171 Sie können das Gebet zwar aus ihrer Ecke beobachten, Die gemeinsamen Grundlagen sind zu finden, auf denen aber sich nicht eigentlich daran beteiligen, solange sie nicht sich ein verbindliches Rechtsgefüge errichten lässt. Ein ein Teil der Betergemeinschaft sind. Und solange dieser solches soll die Grundsätze der verschiedenen Lager nicht Zustand andauert, ist der Zugang versperrt zu einem verletzen, aber die beiderseitige Kompromissbereitschaft Sabbat, der nicht nur in Ruhe, nicht nur in Freude, son- voll ausnützen, damit sich alle zusammen am Leben des dern in Heiligung besteht. jüdischen Gemeinwesens im Staat Israel beteiligen kön- So stehen wir am Ende unserer Betrachtung vor demsel- nen. Ein solches Gefüge ist unentbehrlich, sowohl im Hin- ben Problem wie am Anfang, nur jetzt nicht auf der blick auf das Streben nach nationaler Einheit, als auch äusserlichen Ebene des gesetzgeberischen Rahmens, son- im Hinblick auf das Streben nach positiver Auseinander- dern auf der inneren des Zugehörigkeitsgefühls, wo ein- setzung mit den Inhalten des kulturellen Lebens der jü- zig und allein Erziehungsarbeit helfen kann. Das Sabbat- dischen Gesellschaft in Israel. Ohne das besteht keiner- problem ist unlösbar, sofern sich nicht die Vereinsamten lei Aussicht, gegen die wirtschaftliche und gesellschaftliche dazu erziehen lassen, ihre verschütteten Beziehungen zu Bedingtheit anzukommen, welche die gesellschaftlichen Familie, Gemeinde und Volk wieder aufzunehmen. Aber Zentren von Verantwortlichkeit und Kreativität zerstört andererseits vollzieht sich die Aufnahme und Wiederbe- und die Verwandlung der Gesellschaft in eine anonyme lebung dieser Beziehungen durch den Sabbat als solchen. Masse beschleunigt. Vielleicht könnte der Sabbat als Weg dazu dienen? Könn- Andererseits in erzieherischer Hinsicht: Konstruktive te etwa der Sabbat in erneuerter Gestalt ausstrahlen auf Wirksamkeit von einzelnen und Gruppen kann Einfluss das Familienleben, als Tag des Zusammenkommens zum ausüben mittels positiver Errungenschaften. Solche Wirk- gemeinsamen geistigen Erleben einer Veranstaltung, zu samkeit verhilft den verborgenen Kräften einer geistigen gemeinsamer Unterhaltung und zum gemeinsamen Ler- Elite zum Durchbruch, die in den verschiedenartigen nen von Eltern und Kindern? Könnte etwa der Sabbat Gruppierungen sowohl innerhalb des religiösen als auch zum Brennpunkt für die Erneuerung der Gemeinde wer- innerhalb des säkularen Lagers tätig wird. Vielgestaltige den, die sich zunächst zum Gebet zusammenfindet, dann Wirksamkeit mag wohl Rivalität und sogar Streitigkei- zum Lernen und zur Sabbatfreude? Vielleicht könnte der ten hervorrufen, aber diese sind als positive Erscheinun- Sabbat die einzelnen dazu bringen, sich in ihr geistiges gen zu betrachten. Allerdings ist die gewünschte Wir- Erbe zu versenken und die tiefe geistige Beziehung zu kung in zweierlei Richtung offenbar nicht zu erzielen spüren, die sie mit ihrem Volk verbindet? Wie dem auch ohne vorherigen Wandel in der Denkweise, die heutzuta- sei — wer immer einen Zugang zum Sabbat sucht, darf ge diese führende Schicht auszeichnet. Sie muss Bereit- sich sagen lassen, dass er sich um Verwirklichung der auf- schaft an den Tag legen, nicht nur vom Standpunkt eines gezählten Dinge bemühen sollte in seiner Familie und zu- der beiden Lager aus zu denken, sondern von einem sammen mit guten Freunden, aus dem Bewusstsein der übergeordneten aus, der auch den Standpunkt der an- Verantwortung für den Sabbat der gesamten Gemein- deren mit umfasst: Was ist den anderen wesentlich? Wel- schaft. Soll der Sabbat zur Gelegenheit für reichere und che Hilfestellung ist ihnen zu bieten, damit auch sie sich engere familiäre und freundschaftliche Beziehungen wer- erfolgreich mit ihren Problemen auseinandersetzen kön- den! Ja noch mehr: Sowenig der Sabbat eine Sache des nen? Das sind die Grundfragen, deren ernsthaftes und isolierten Individuums sein kann, ist er ein isolierter Mo- verantwortliches Stellen bereits einen gemeinsamen öffent- ment. Er bestimmt den Rhythmus der ganzen Lebens- lichen Rahmen schafft. Nur wenn beide Seiten also eine weise, und nur in solcher Verbindung ist er von Dauer solche Bereitschaft offenbaren — dann wird es möglich und Bedeutung. Und da der Sabbat den ganzen Lebens- sein, die Gemeinsamkeiten aufzufinden, den politisch- rhythmus bestimmt, kann er ausstrahlen vom Festtag in rechtlichen Rahmen zu bauen und Voraussetzungen für den Alltag. erzieherische Wirksamkeit zu schaffen. Umdenken — das Um das jüdische gesellschaftliche Leben in Israel wieder ist der erste und vielleicht auch der schwerste Schritt. So- voll funktionstüchtig zu machen und Brücken des Ver- bald der vollzogen ist, bleibt alles übrige gewissermassen stehens und der Gemeinsamkeit zwischen den verschiede- Interpretation, die dahin und dorthin, auch zu Unstim- nen Lagern zu schlagen, ist demnach zweierlei Tätigkeit migkeiten führen kann — aber ihr blosses Vorhandensein vonnöten. Einerseits in gesellschaftspolitischer Hinsicht: auf dieser Stufe stellt bereits den Beginn einer Lösung dar.

VI Mischna-Geniza-Fragmente Buchbericht über drei Texteditionen Von Dr. Michael Krupp, Jerusalem*

Geniza, ein aramäisches Wort, stammt aus dem Persi- sind. Solche Bücher dürfen nach jüdischer Tradition nicht schen und bedeutet so viel wie Schatzkammer, Platz des einfach vernichtet, verbraucht oder mit anderem Abfall Aufbewahrens und Verbergens. Es ist der Ort, an dem auf den Kehricht geschmissen werden, sondern sie müssen, man die verbotenen Bücher verbirgt, damit sie nicht in geheiligt durch den Gottesnamen, beerdigt werden wie ein unrechte Hände geraten. Die Geniza ist aber auch ein Ort Mensch in feierlicher Zeremonie. Zuvor aber werden die- des Verbergens für allerlei Bücher, heilige und profane, se Schriften gesammelt in der Geniza, bis dieser Raum die in der Heiligen Schrift geschrieben und durch Alter überquillt. Dieser Brauch ist daran schuld, dass so we- und Benutzung fehlerhaft und unbrauchbar geworden nige alte hebräische Handschriften die Jahrtausende "- Dr. Michael Krupp ist Beauftragter für das Ökumenische Gespräch überdauert haben. Abgesehen von dem glücklichen Fund zwischen Christen, Juden und Moslems in Jerusalem. der Handschriften von Qumran, stammen die ältesten

172 IM 27 hebräischen Handschriften der Bibel aus dem IX. nach- Zeit Jesu in Judäa noch in ländlichen, abgelegenen Ge- christlichen Jahrhundert, sind also um einige Jahrhun- bieten gesprochen wurde und sich vom biblischen He- derte später geschrieben als die Handschriften der griechi- bräisch als der klassischen und literarischen Sprache un- schen Bibel, der Septuaginta und des Neuen Testaments. terscheidet. Das Schicksal des mischnischen Hebräisch war Die Geniza füllte sich mit allem Material, das sich in den es nun, dass der Versuch durch die Jahrhunderte hindurch Gemeindearchiven angesammelt hatte, Briefen, Doku- unternommen wurde, dieses Vulgärhebräisch zu »verbes- menten, Abrechnungen etc., alles war ja in der Heiligen sern«, um es dem Standard, dem biblischen Hebräisch, an- Schrift geschrieben. Aber auch was die Familien an schrift- zugleichen. Die Eigenheiten dieser Sprache gingen also lichem Material entbehrten, brachten sie in die Geniza, immer mehr verloren und sind nur noch in den ältesten so dass der Inhalt einer Geniza getreulich das gesamte Handschriften, besonders aber in den Fragmenten der schriftliche Material einer Gemeinde und einer bestimm- Geniza, erhalten. Obwohl man auch von den Genizafrag- ten Zeit darstellt. menten sagen muss, dass der Verderbungsprozess sogar In der Regel war die Geniza auch nicht übermässig gross, hier schon angesetzt hat; die ältesten erhaltenen Mischna- so dass sie sich in wenigen Jahrhunderten oder in weniger fragmente sind immerhin zumindest 600 Jahre nach der als einem Jahrhundert füllte und die Beerdigung auf dem ersten Fixierung der Mischna geschrieben worden. Friedhof vorgenommen wurde, wo das Material schnell An den Ufern des Toten Meeres, besonders Wadi dem völligen Verfall anheimgegeben wurde. Muraba'at und in Nachal Heber sind in den letzten bei- Ein glücklicher Zufall wollte es, dass in der über tausend- den Jahrzehnten zum ersten Mal eine Reihe Original- jährigen Synagoge von Alt-Kairo, Fostat, die Sache anders dokumente aus der Zeit der Mischna in unverfälschtem verlief. Die Geniza lag in einem zugemauerten Treppen- mischnischem Hebräisch auf uns gekommen. Diese Frag- aufgang, in die man durch eine Öffnung von oben die zu mente aus der Kairoer Geniza haben aber nicht nur verwahrenden Schriften hineinwarf. Es war so viel Platz eine sehr viel getreuere sprachliche Form der Mischna in dieser Kammer, dass durch tausend Jahre hindurch erhalten, sie enthalten zum Teil auch Lesarten, die in den dieser Raum nicht geleert wurde, bis im vorigen Jahrhun- Handschriften nicht mehr vorhanden sind, zum Teil han- dert einzelnes Material aus dieser Geniza unter die Händ- delt es sich hier um Varianten desselben Sachverhaltes, ler kam. Ägyptenreisende brachten dann exotische Souve- zum Teil aber auch um abweichende, zum Teil gegentei- nirs mit in ihre Heimat, so die beiden englischen Damen lige Meinungen. Interessant ist auch, dass viele Zufügun- Mrs. Lewis und Mrs. Gibson einige hebräische Seiten, die gen aus späterer Zeit, die sich in den Handschriften und Prof. Schechter aus Cambridge als Seiten des verloren- Drucken finden, in diesen Genizafragmenten noch nicht gegangenen hebräischen Originals des apokryphen Buches enthalten sind. So stellen die Fragmente neben den drei Sira entzifferte. den ganzen Mischnatext enthaltenden alten Handschrif- Schechter gelang es dann 1896, den noch verbliebenen ten den wichtigsten Zeugen für die ursprüngliche Mischna Rest der Kairoer Geniza in Kisten nach Cambridge zu in Text und Sprache dar. Von grösster Wichtigkeit wäre bringen, ca. 250 000 Fragmente. Im Laufe der Zeit ka- es also für das Studium der Mischna, eine vollständige men dann noch eine ganze Reihe verlorengegangener Wer- Sammlung des gesamten Genizamaterials zur Mischna ke ans Tageslicht, u. a. die apokryphe Damaskusschrift, zu haben; 80 Jahre nach Entdeckung der Geniza steht die in Fragmenten über 50 Jahre später in Qumram zu- dieses Werk leider noch aus. sammen mit den berühmten Rollen entdeckt wurde. Das Genizamaterial ist durchaus nicht einheitlich, es gibt Natürlich haben diese Entdeckungen die Geniza von Mischnafragmente aus dem X. Jahrhundert (vielleicht Kairo berühmt gemacht, so dass man, wenn man von der auch aus dem IX.), die von grösster Wichtigkeit sind, und Geniza schlechthin spricht, die Geniza von Kairo meint. Fragmente aus dem XVII. Jahrhundert oder noch spä- Zu den Erstentdeckungen von verlorengegangenen Wer- terer Zeit, die von den Drucken abhängig sind und wis- ken kommt eine lange Reihe historischen Quellenmate- senschaftlich-praktisch keine Bedeutung haben. Hinzu rials, Geschichtsbücher, Listen, Archivmaterial, Dokumen- kommt, dass sich mehrere Rezensionen der Mischna nach- te, Verträge und Autographen berühmter Persönlichkei- weisen lassen, zumindest zwei Hauptrezensionen, eine in ten, das es notwendig gemacht hat, die frühmittelalterli- Palästina und eine in Babylonien. Die meisten Hand- che jüdische Geschichte im Orient, über die nur sehr we- schriften sind mehr oder weniger Mischtexte, einige ha- nig Material existierte, neu zu schreiben. ben aber noch deutlich die Characteristika ihrer Rezen- Von grosser Wichtigkeit ist aber auch das Material, das sionen erhalten. Handschrift ist also nicht gleich Hand- bereits vorher bekannt war, das aber in der Geniza in be- schrift und Genizafragment nicht gleich Genizafragment. sonders frühen Handschriftenfragmenten auf uns gekom- Die Zusammenstellung von Fragmenten, die Klassifizie- men ist und teilweise vier bis fünf Jahrhunderte früher rung von Alter, Herkunftsort und Rezension ist für die datiert werden muss als die bisher bekannten Handschrif- Textgeschichte der Mischna von grösster Wichtigkeit. Das ten. In diesem Zusammenhang interessiert uns besonders Wesen des Genizamaterials bringt es mit sich, dass die das gesamte halachische gesetzliche Material, die Mischna meisten abzulegenden Schriften nur noch aus losen Blät- und die Talmudim. tern bestanden. Die Aufbewahrungsbedingungen waren Die Mischna ist die erste systematische Sammlung allen auch nicht die besten, so zerfielen die verschiedenen gesetzlichen Materials im nachbiblischen Judentum. Man Handschriften noch mehr. Einiges Material wurde wei- könnte sie vielleicht am ehesten vergleichen mit dem bür- ter noch zerrissen, gelangte jedenfalls in zerrissenem Zu- gerlichen Gesetzbuch, ist aber mehr als das, weil sie auch stand in die Geniza. Bei dem Vertrieb des Materials ka- alle Regelungen des religiösen Lebens mit einschliesst. men Seiten eines einzelnen Traktates, geschweige einer Fixiert wurde sie um 200 n. Chr. durch den Patriarchen Handschrift, in vier, fünf verschiedene Bibliotheken, die Jehuda, sehr viel Material der Mischna stammt aber aus Weltteile voneinander getrennt sind. So liegen z. B. der Zeit Jesu, und die Mischna ist so mit anderen zeitge- 4 Seiten eines Traktates in New York, Oxford, Cam- nössischen Quellen des Frühjudentums die wichtigste zeit- bridge und Leningrad. Aber auch innerhalb der Bibliothe- genössische Quelle zum Verständnis des NT. ken ist das Material nicht geordnet, zusammenhängende Die Mischna ist in einem Vulgärhebräisch geschrie- Seiten sind weit voneinander getrennt und in völlig ver- ben, dem sogenannten mischnischen Hebräisch, das zur schiedenen Bänden zusammengebunden. Von den meisten

/M 28 173 Genizaschätzen gibt es bisher keine Verzeichnisse der ein- theken und eben gerade die Veröffentlichung diese: zelnen Schätze. Das Durcheinander hat sich in den letzten Fragmente, der weitere Veröffentlichungen folgen sollen 80 Jahren nicht verringert, vieles ist schon durch unsach- und mögen. Das hebräische Vorwort (ebenso 12 Seiten) gemässe Behandlung oder Krieg verlorengegangen. enthält ausser der Beschreibung der Antonin-Sammlung Um so begrüssenswerter ist die Absicht der Hebräischen eine ausführliche Liste von inhaltlichen Varianten der Universität von Jerusalem, einen solchen Corpus von Mischnageniza-Fragmente, die die Wichtigkeit der Frag- Mischnageniza-Fragmenten zumindest für den internen mente als Textzeugen veranschaulichen. Allerdings ist Bedarf zusammenzustellen. hier schon die erste Kritik anzubringen, denn aus der Die drei zu besprechenden Bücher stellen für dieses Vor- Gegenüberstellung des Genizatextes mit dem gedruckten haben immerhin eine gewisse Vorbereitung dar. Text geht nicht hervor, ob nur der Genizatext diese Va- rianten aufweist oder ob nicht auch andere Handschrif- 1) Abraham 1. Katsh: Ginze Mishna. Jerusalem, 1970. ten einen den Geniza-Fragmenten vergleichbaren Text Mossad Harav Kook. enthalten. Das Nachprüfen einiger Stellen ergab, dass Der Herausgeber hat es sich zur Aufgabe gemacht, alle tatsächlich häufig derselbe Text wie in den Geniza-Frag- Mischnageniza-Fragmente der Antonin-Sammlung in menten auch in den Handschriften nachzuweisen ist. Am Leningrad in Faksimile zu edieren. Die Antonin-Samm- Ende des Vorwortes findet sich eine Liste aller abgebilde- lung in Leningrad ist eine der kleineren Sammlungen von ten Seiten mit spezifizierter Inhaltsangabe. Die Inhaltsan- Geniza-Fragmenten, aber von ausgesuchtem Material. gabe ist an den betreffenden Seiten (in doppelter Ausfüh- Verantwortlich für die Qualität ist der Sammler dieser rung) wiederholt. Fragmente, der russische Archimandrite Antonin Ka- Leider fehlt an dieser Stelle jeglicher Hinweis auf die pustin, der von 1865 bis zu seinem Tod 1894 der russi- Bibliothekennummer des betreffenden Stückes, so dass schen Mission in Jerusalem vorstand. Auch auf anderen der Benutzer nicht automatisch in der Lage ist, ein betref- Gebieten der Archäologie war Archimandrite Antonin fendes Stück im Mikrofilm (Mikrofilme der gesamten Bahnbrecher, wovon die reiche Sammlung auf dem Öl- Antonin-Sammlung gibt es in der Jerusalemer Universi- berg noch heute Zeugnis ablegt. Damals wie heute war täts- und Nationalbibliothek und im Rabbinerseminar in Jerusalem ein hervorragender Umschlagplatz für jüdische New York) nachzusehen, wenn z. B. die Reproduktion Antiquitäten, und das erste Material aus der Kairoer unbefriedigend ist. Man wird auch bei Durchsicht des Geniza wurde in Jerusalem gehandelt, lange bevor Schech- Ganzen nicht den Verdacht los, als sei die Faksimile- ter nach Kairo kam. Der Archimandrite besass genügend Sammlung unvollständig. Kennerblick und wissenschaftliches Verständnis, um nur Es fehlt leider auch jede Beschreibung der Fragmente. das Beste des angebotenen Materials aufzukaufen, und so Es ist nicht deutlich, ob es sich um Pergament oder Pa- ist die Antonin-Sammlung, die nach dem Tode des Archi- pierhandschriften handelt, doppelt oder einseitig beschrie- mandriten nach Leningrad ging und heute in der Saltykov- bene Blätter, es werden auch keine Grössenangaben mit- Shchedrin-Bibliothek untergebracht ist, gleichberechtigt geteilt, die Fotografien sind mehr oder weniger alle unter den an Material viel grösseren Sammlungen in gleich gross, das wird aber kaum der Wirklichkeit ent- Cambridge, Oxford, London, Paris und New York. sprechen. Es sieht so aus, als sieht der Verfasser die Der besondere Wert der Mischna-Fragmente der Antonin- ganze Geniza als ein grosses Meer von Seiten an, die Sammlung liegt am hohen Alter der meisten Fragmente mehr oder weniger dieselbe Qualität aufweisen und wo- und ihrem, verglichen mit Geniza-Fragmenten, generell ta- bei es gilt, eine einzige Genizahandschrift wieder her- dellosen Erhaltungszustand. Mehrere Fragmente enthal- zustellen. Dies scheint jedenfalls seine Absicht in dieser ten Texte mit babylonischer supralinearer Punktation Ausgabe gewesen zu sein, nur beschränkt auf die Anto- (vgl. die nächste besprochene Textedition), deren Wert nin-Sammlung. Diese Absicht konnte er am besten ver- schon früher besonders von Kahle erkannt wurde und die wirklichen beim Traktat Avot, der eine der beliebtesten schon veröffentlicht wurden. Ein Fragment mit der sehr Mischnatraktate ist und zu dem es die meisten Hand- seltenen vortiberianischen palästinischen Punktation ist schriften gibt, so auch in der Geniza und so auch in ebenso dabei (vgl. das 3. hier besprochene Buch, Aloni der Antonin-Sammlung. In seinem Verzeichnis der An- Abb. 22 f., fehlt in der Ausgabe von Katsh). Das wert- tonin-Sammlung, das der Verfasser im Leo Jung Jubilee- vollste Fragment der Sammlung und eines der wertvoll- Volume New York 1962 veröffentlichte, zählt er auf sten Mischna-Fragmente überhaupt ist Antonin Nr. 262, S. 129 zum Traktat Avot 8 Fragmente auf (ohne die das im Verzeichnis von Katsh in der Jung-Festschrift noch Arabischen). In seiner Ausgabe erscheinen Fragmente aus als »unidentified part of Mishna« erscheint, aber durch- 4 bis 5 Handschriften (auf Grund der Fotografien allein gehend den grössten Teil der letzten Ordnung enthält, ist die Zuordnung der Handschriften schwer; Antonin von Negaim, Kap. II Mischna I an bis Zabim Kapitel V Nr. 853, in Aloni Abb. 22 f. wiedergegeben mit frühpalä- Mischna 9, mit Akzenten versehen und teilweiser tiberia- stinischer Punktation, ebenso verzeichnet im Verzeichnis nischer Punktation. Dem Faksimile-Material selbst, das von Katsh in der Jung-Festschrift, fehlt in dieser Aus- 159 Seiten enthält, sind 2 Vorworte beigegeben, eins in gabe nachweislich), aber mehr oder weniger anschliessend Englisch, eins in Hebräisch. Beide Vorworte enthalten und jedenfalls nach den Inhaltsangaben fortlaufend ist in ähnlicher Weise eine Beschreibung der Antonin-Samm- der ganze Traktat wiedergegeben. Dieser Tatsache hält lung (deswegen kann eine solche hier unterbleiben), sind aber einer Nachprüfung nicht stand, so endet Facsimile 52 aber abgesehen davon völlig verschieden. auf Seite 105 nach Inhaltsangabe Katsh mit Kapitel 2, Das englische Vorwort (12 Seiten) beschreibt zunächst Mischna 10, und Facsimile 53 auf Seite 107 setzt der ausführlich die drei anderen grossen Sammlungen he- Traktat mit Kapitel 2, Mischna 11 fort, lückenlos. Ein- bräischer Handschriften und Fragmente in Russland, die deutig gehört aber Facsimile 53 zu einer anderen Hand- Guenzburg-Collection, die Friedliana-Collection und die schrift wie Facsimile 52, und so ist der Übergang auch beiden Firkowitch-Sammlungen. Katsh hat sich in beson- nicht lückenlos, sondern Facsimile 53 setzt schon mit derer Weise um diese schwer zugänglichen Bibliotheken Mischna 9 (Mischna 13 der alten Mischnahandschriften) verdient gemacht. Sein höchstes Verdienst, das nicht zu ein. Diese Handschrift Facsimile 53 ist sicher vom selben schmälern ist, ist die Erforschung der russischen Biblio- Kopisten geschrieben, wie das Fragment a, in dem von

174 /M 29 mir veröffentlichten Mischnatraktat Arakin (Berlin—New »Masoreten des Ostens«, 1913, diese Punktation gründ- York 1971, S. 139). Diese Handschrift ist doppelseitig lich durchforscht hat. Aber auch in diesem Buch unter- beschrieben, wie auch alle Geniza-Fragmente. Katsh teilt suchte er nur biblische Texte und Targumim. Er war aber nur eine Seite dieses Blattes mit. Was ist aus der auch der erste, der begann, das ganze mischnische Mate- Rückseite geworden? War sie leer? Oder brauchte er sie rial systematisch zu sammeln. Seine Schüler Anton Rich- nicht, weil er für den fortlaufenden Text eine andere ter, C. B. Friedmann und Efraim Porat haben in Disser- Handschrift besass? So wird es sein, denn der Anschluss tationen und mühseliger Forschungsarbeit auch das zur nächsten Seite, Facsimile 54, ist nach Überschrift wie- mischnische Material erschlossen. Kahle selbst veröffent- der tadellos, Facsimile 53 endet mit Kapitel 3, Mischna 1, lichte im HUCA 10 (1935) S. 185-222 und HUCA 12/13 Facsimile 54, eindeutig wieder eine neue Handschrift, (1937 - 38) S. 275 - 325 die erste Zusammenstellung von beginnt mit Kapitel 3, Mischna 2, in Wirklichkeit aber 5 Handschriften mit supralinearer Punktation. Die letzte endet Facsimile 53 mit Kapitel 3, Mischna 5 und Facsi- ist eher eine Gruppe und besteht aus einer Reihe ver- mile 54 setzt mit Kapitel 3, Mischna 1 ein. Zumindest eine schiedener Handschriften. Von grösserem Umfang sind weitere Seite fehlt mit Sicherheit. Facsimile 5 hat auch die Handschriftenfragmente A—D, wobei A und B älter keine Rückseite, ein Stück mit babylonischer Punktation, sind als C und D. MS A umfasst die Ordnungen Naschim das auch in der nächsten zu besprechenden Lektion vor- bis Toharot im ganzen 28 Blatt; MS umfasst die ersten kommt, Yeivin S. 162: Auf S. 163 findet sich dort die 3 Sedarim Zeraim bis Naschim, 19 Blatt; MS C nur die Rückseite, die bei Katsh fehlt. Ordnung Zeraim, 7 Blatt und MS D die Ordnungen Fragmente sind nicht immer leicht zu lesen, weil sie z. T. Zeraim, Naschim und Kodaschim, 16 Blatt. sehr stark durch die Zeit gelitten haben. Ein Verlag, der In den beiden Aufsätzen in HUCA veröffentlichte Kahle solche Fragmente herausbringt, muss einen besonders gu- seinerzeit die Handschriften A und C. ten Druck wählen, um das Optimale an Leserlichkeit zu erreichen. Im allgemeinen ist das gewählte Rasterverfah- Die neue Ausgabe von Yeivin hält sich zum Glück an diesen ersten Versuch der Sichtung des Materials durch ren ausreichend, manchmal aber ist im Druck nichts mehr zu erkennen, was in Mikrofilm noch deutlich lesbar ist. Kahle und fügt wenig hinzu. Zur Handschrift A sind 2 Blatt hinzugekommen aus der Universitäts- und National- Ich habe den Text an manchen Stellen mit dem mir von Leningrad seinerzeit zur Verfügung gestellten Mikrofilm bibliothek Jerusalem und aus dem Dropsie College Phila- verglichen. Wenn dieses Problem technisch nicht zu be- delphia (letztere Bibliothek war von Kahle übersehen wältigen war, so hätte der Text auf der gegenüberlie- worden, ein Katalog von Philadelphia erschien schon genden Seite mitgeteilt werden müssen. Statt dessen fin- 1924). Zu MS B sind 2 Fragmente aus den New Series det sich hier mit wissenschaftlichem Anstrich ein kompli- aus Cambridge hinzugekommen und zu MS D 4 Blätter zierter Variantenapparat, der nicht nur ungenau die aus London, British Museum, aus Cambridge, T. S. Col- Handschriften zitiert, sondern auch willkürliche Hand- lection und dem Rabbiner Seminar New York. Zu den 3 schriftenauswahl aufweist. Es fehlt z. B. die wichtige verschiedenen Handschriften-Fragmenten der Gruppe E Mischna-Handschrift Parma 138 und vor allem alle Ge- sind zwei weitere Fragmente gefunden worden. Ausser- niza-Fragmente, die in einer Ausgabe von Geniza-Frag- dem sind noch 2 weitere zusätzliche Blätter von Mischna- menten besonders wichtig gewesen wären, statt dessen wird texten mit supralinearer Punktation hier veröffentlicht, der Mischnatext der Talmude nach völlig unzureichenden ein sehr altes Fragment zu Abot aus Cambridge und ein Drucken zitiert (was übrigens nirgendwo mitgeteilt wird). Fragment zu Edujot aus dem Jemen (das einzige nicht Die Variantenmitteilung an sich ist bei Fragmenten wenig aus der Geniza stammende Blatt). Ausserdem findet sich sinnvoll, besonders wenn jede Auswertung davon fehlt noch ein Vokabelverzeichnis zur Mischna mit supralinea- und wenn nicht einmal mitgeteilt wird, welche Fragmente rer Punktation, das hier veröffentlicht wurde. früher bereits veröffentlicht und wie sie beurteilt wurden. Da andere im mischnischen Hebräisch geschriebene nicht- Auch findet sich nichts über die verschiedenen Arten der biblische Texte äusserst selten sind, sind die bisher be- Punktation, die einige Fragmente aufweisen. Genug der kannt gewordenen Stücke als Anhang hier auch publiziert Kritik. Einer Neuauflage wären eine Reihe von Ver- worden. Es handelt sich um ein Stück aus dem babylo- besserungen zu wünschen, die wichtigsten sind hier nischen Talmud Baba Batra, ein Sifra-Fragment und angedeutet. Der Verlag ist zu rühmen, dass er ein auch für einen längeren Abschnitt aus einem aggadischen Midrasch. den Studenten erschwingliches Buch auf den Markt ge- Damit liegt der Wissenschaft das gesamte in mischnischem bracht hat, eine auch in Israel heute nicht mehr selbst- Hebräisch geschriebene Material mit babylonischer supra- verständliche Sache. Vergleicht man die Qualität der linearer Punktation in Faksimileausgaben vor, soweit es Bildwiedergabe mit vergleichbaren Textwiedergaben des bisher bekannt wurde und soweit es sich nicht um Texte weit teureren Makor-Verlages, der die beiden anderen zu handelt, in denen nur einzelne Worte vokalisiert wur- besprechenden Bücher herausgebracht hat, so schneidet den. Abgesehen von den hier veröffentlichten Fragmen- der Rab Kook Verlag bestens ab. Trotz aller Mängel ist ten gibt es nämlich nur noch 3 Handschriften mit der öst- dieses Buch für jeden unentbehrlich, der sich mit dem lichen Punktation, die alle in früheren Jahren als Faksi- Text der Mischna beschäftigen will. mileausgaben erschienen. a) Vatican MS 66, Sifra, veröffentlicht von L. Finken- 2) A collection of Mishnaic Geniza Fragments with Ba- stein. New York 1956; diese Handschrift enthält die bylonian Vocalisation. Jerusalem 1974. Ed. I. Yeivin. älteste Form von babylonischer Punktation und ist viel- Makor. leicht die älteste Handschrift überhaupt zur rabbinischen Das Buch hat es sich zur Aufgabe gesetzt, alle Mischna- Literatur (9. Jahrhund. ?). geniza-Fragmente mit babylonischer supralinearer Punk- b) MS Sassoon 263, Sefer Halachot Pesuqot, veröffent- tation zusammenzustellen und in Faksimile herauszuge- licht durch den Makor-Verlag, Jerusalem 1971, nur teil- ben. So häufig biblische und targumische Texte mit dieser weise vokalisiert. in Babylonien und später in Jemen üblichen Punktation c) MS. Paris, Bibliotheque Nationale, Heb. 1402, Sefer anzutreffen sind, so selten sind die Texte im mischnischen Halachot gedolot, ebenso 1971 von Makor-Verlag ver- Hebräisch. Paul Kahle war derjenige, der in seinem öffentlicht, teilweise vokalisiert.

IM 30 175 Sifra, Vatican 66 und die von Kahle und Yeivin ver- Das Buch macht es sich zur Aufgabe, alles nicht biblische öffentlichten Fragmente bilden so das wichtigste Material und nicht poetische Material mit palästinischer Punkta- der Mischnaüberlieferung in Babylonien. Die Textüber- tion zusammenzustellen und in Faksimile zu veröffent- lieferung, abgesehen von der Punktation dieser Frag- lichen. Die palästinische Punktation ist vermutlich das mente, ist meist allerdings palästinisch. älteste Punktationssystem unter den drei im Hebräi- Dem Buch ist eine hebräische Einleitung von I. Yeivin schen üblichen. Es wurde bald nach seiner Entstehung (19 Folioseiten) vorangestellt, die die 3 vollständigen durch das verfeinerte tiberianische ersetzt, das dann spä- Handschriften beschreibt, anschliessend eine kurze Ge- ter auch das babylonische verdrängte und das heute üb- schichte der Erforschung der babylonischen Punktation lich ist. Babylonisches und tiberianisches System haben bringt. Eine Erklärung des Systems selbst fehlt, es findet aber jahrhundertelang rivalisierend nebeneinander be- sich nur ein Hinweis auf andere Literatur zu dem Thema. standen, so sind verhältnismässig viele Texte mit baby- Dann folgt eine kurze Beschreibung des hier veröffent- lonischer Punktation auf uns gekommen (vgl. das 2. be- lichten Materials. sprochene Buch). Anders als das babylonische und tibe- Dann wird ein kurzer Oberblick über die Stadien der rianische System punktiert das palästinische System nur Punktation, eine Liste der Punktationszeichen und eine einzelne wenige Worte. Es gibt kein Fragment, das einen Aufteilung in Punktationsgruppen gegeben. Im Anschluss durchgehend palästinisch vokalisierten Text enthielte. In daran wird auf die hin und wieder vorkommenden Ak- der Regel sind es nur wenige Worte auf einer Seite, die zentzeichen verwiesen. Es folgt ein Abschnitt über die vokalisiert werden, und dann zumeist auch nur sehr un- arabischen Glossen am Rand einiger Fragmente und ein vollständig. Zur Erschliessung des Systems und der Aus- kurzer Überblick über die abweichende Reihenfolge der sprache in der früheren Zeit (wahrscheinlich im 7. oder Traktate untereinander gegenüber den Drucken und Handschriften. 8. Jh.) ist jeder punktierte Buchstabe von Wichtigkeit. Im Anschluss an die Einleitung findet sich eine Liste aller In der Festschrift für Hanoch Albeck, Jerusalem 1963 veröffentlichte veröffentlichten Fragmente mit Angabe des Herkunfts- N. Alloni auf den Seiten 30 bis 40 die ortes und Mischnastellenangabe. Geordnet sind die Frag- beiden bis dahin bekannten Mischnahandschriften mit mente nach Handschriften in der Reihenfolge der Ord- dieser frühen Form der Punktation und zugleich eine Li- nungen und Traktate. Am Ende einer jeden Handschrift ste aller sonst bekannten Fragmente der rabbinischen Li- findet sich eine sehr kurze Bewertung der Handschrift, teratur mit palästinischer Punktation. mit Angabe der Punktationsart und eine Liste früherer Dieser Artikel sei zugleich als Einleitung in das hier zu Veröffentlichungen der einzelnen Fragmente. beschreibende Buch empfohlen, denn der Verfasser setzt Diese Liste und Beschreibung findet sich auch in Englisch. voraus, dass sein gebildeter Leser die Methoden der pa- Auch die beiden folgenden Indizes sind im Buch in lästinischen Punktation beherrscht. Hebräisch und Englisch enthalten: ein Stellenverzeichnis Konnte der Verfasser 1963 nur eine Hand voll Fragmen- aller veröffentlichten Mischnafragmente, nach der Ord- te mit dieser seltenen Punktation aufführen, so ist es ihm nung der Mischnadrucke, sowie ein Verzeichnis der Biblio- 10 Jahre später möglich, eine Publikation von ca. 60 theken, in denen die Fragmente aufbewahrt werden. Fragmenten vorzulegen, 12 Mischna, 10 Jeruschalmi, 7 Zum Schluss soll noch ein Wort über die technische Ge- Babli, 27 Midrasch, 3 Halacha und 1 Philologie-Frag- staltung des Buches gesagt werden. Das Buch ist mehr als ment, im ganzen 219 Seiten. 5mal so teuer wie das zuvor besprochene. An Umfang Im Gegensatz zu den anderen hier besprochenen Bü- sind beide gleich stark. Das Buch des Makor Verlages ist chern nimmt die hebräische Einleitung zu dem Buch einen handgebunden in Halbleder, und der Preis dafür ent- beachtlichen Platz ein (90 Seiten) und ist ein bedeuten- spricht dem Kaufpreis des Buches aus dem Rav Kook der Teil des ganzen Werkes. Da nur sehr wenige Worte Verlag. Die drucktechnische Aufmachung, auf die es in vokalisiert sind, das meiste Material sehr alt, meist vor einer Faksimile-Ausgabe vor allem ankommt, ist aber dem 11. Jahrhundert, geschrieben ist, und da es sich dazu keineswegs besser. Vergleicht man die Fragmente, die in noch meist um Palimpsest handelt, sind die Faksimile- beiden Bänden vorkommen, so schneidet in der Regel an seiten völlig ungenügend, einen Eindruck von der Punk- Lesbarkeit die billige Ausgabe besser ab. tation zu geben. Um so lobenswerter ist es, dass der Her- Unverantwortlich für eine so teure Ausgabe sind aber ausgeber in seinem Vorwort alle punktierten und akzen- einige Seiten wie die Seiten 48 oder 64, wo so gut wie tuierten 'Worte, je voneinander getrennt, Seite für Seite nichts zu lesen ist. Beide Beispiele sind Seiten aus einem gesammelt und diskutiert hat. Für die Erschliessung der grösseren zusammenhängenden Fragment aus Oxford, früheren palästinischen Punktation ist so die Einleitung dessen Mikrofilm ich zufällig besitze, auf dem das ganze fast wichtiger als die folgende Faksimileausgabe. In der Fragment in gleicher Weise einwandfrei lesbar ist. Leider Einleitung findet sich auch eine genaue Beschreibung ist die wissenschaftliche Welt auf diese Ausgaben ange- eines jeden Fragments mit genauer Grössenangabe und wiesen. Das alte umständliche Mikrofilmlesen kommt da- einer Inhaltsübersicht. Im Anschluss an das Vorwort fin- durch aber nicht ausser Kraft. Auch in diesem Band sind den sich eine Reihe Indizes, der erste und wichtigste ent- keine Grössenangaben der Fragmente mitgeteilt, meistens hält in alphabetischer Reihenfolge eine Liste von meh- scheinen die Fragmente stark verkleinert worden zu sein, reren hundert Worten, die sich in den verschiedenen Frag- was ihre Lesbarkeit erschwert. Auch hier wäre eine Um- menten mit palästinischer Punktation haben finden las- schrift wünschenswert gewesen. Ärgerlich ist, wenn ein sen. Diese Liste ist die Ausbeute des Buches und wird für und dasselbe Fragment in völlig verschiedener Grösse, die Erschliessung und Bearbeitung der frühen Punkta- Seite neben Seite, wiedergegeben ist; vgl. Seite 44 mit tion von grosser Wichtigkeit sein. Es folgt ein Verzeichnis Seite 45, und viele andere Beispiele. aller Faksimileseiten mit der Bibliothek- und Stellenan- gabe, dann eine Übersicht über die verschiedenen Gattun- 3) Geniza Fragments of Rabbinical Literature; Mishna, gen der rabbinischen Literatur, die in diesem Buch be- Talmud and Midrash; with Palestinian Vocalisation. Je- handelt werden, ein Verzeichnis der Bibliotheken und ein rusalem 1973. Ed. N. Aloni. Makor. Abkürzungsverzeichnis.

176 1.1131 Standortsangabe zum Systematischen Register über den Inhalt Freiburger Rundbrief Jahrgang XXVIII

Seite Seite L Aufsätze und Berichte IV. Rundschau 1. Bibel und Theologie 141 1. Bibel und Theologie 142 2. Katechese 141 2. Katechese 3. Jüdische Geschichte und Judentum 141 3. Jüdische Geschichte und Judentum 4. Kirche und Synagoge 141 4. Kirche und Synagoge Ökumene 141 5. 5. Ökumene 142 6. Christen und Juden 141 6. Christen und Juden 142 7. Deutsche und Juden — Juden und Deutsche 7, Deutsche und 'Juden — Juden und Deutsche 8. Verfolgung und Widerstand 8. Verfolgung und Widerstand 142 9. Sühne und Wiedergutmachung 9. Sühne und Wiedergutmachung 10. Staat Israel 142 10. Staat Israel 11. Kirche und Christen in Israel — Kirche und Israel 11. Kirche und Christen in Israel — Kirche und Israel 142 12. Deutschland und Israel 12. Deutschland und Israel 13. Jerusalem und die Hl. Stätten 13. Jerusalem und die HI. Stätten 14. Juden und Araber 14. Juden und Araber 142 15. Erzählungen und erzählende Berichte 15. Erzählungen und erzählende Berichte VII. Tagungen 142 Tagungen III. Aussprache 142 V. Kleine Nachrichten VI. In memoriam 142 VII. Aus unserer Arbeit 142

Wir senden dieses Heft wiederum sämtlichen Religions- Eine etwa beiliegende Zahlkarte bedeutet keine Ver- lehrern an höheren und Mittelschulen und solchen Per- pflichtung: Sie ist nur eine technische Erleichterung für sönlichkeiten zu, bei denen wir ein besonderes Interesse solche, die durch einen Unkostenbeitrag unsere sich immer für die behandelten Themen annehmen. noch ausweitende, spendenbedürftige Arbeit schon unter- Allen Mitarbeitern, Helfern, Förderern und Interessierten stützt haben und weiterzufördern wünschen. sagen wir herzlichen Dank. Bitte beachten Sie den Hilferuf (s. oben Seite 2). Die Herausgeber