Blaue Reihe Band 4 Blaue Reihe Blaue Aussiedler inBerlin-Marienfelde Aufnahmestelle für Aufnahmestelle für Die Zentrale Die Zentrale Band 4 Wissenschaft und Praxis und Wissenschaft Schriftenreihe für für Schriftenreihe Herausgeber Redaktion

Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin V.i.S.d.P.: Turmstraße 21, Haus A Silvia Kostner 10559 Berlin Pressestelle LAGeSo

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© 2011 Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin Blaue Reihe - Band 04

Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin

Die Zentrale Aufnahmestelle für Aussiedler in Berlin-Marienfelde

14. April 1953 bis 31. Juli 2010

von David Skrabania

Seite 1 Inhalt

1. Vorwort (Präsident des LAGeSo, Herr Allert) 4

2. Einleitung 5

3. Historische Ausgangssituation 7

3.1 Die Russlanddeutschen 7 3.2 Die Deustchen in Polen 9 3.3 Die Oberschlesier zwischen Deutschland und Polen 10 3.4 Entstehung und Zusammenbruch der Wolgarepublik 11 3.5 Deportationen, Flucht und Vertreibung 13 3.6 Die Deutschen im kommunistischen Machtbereich 14

4. Aussiedler in Deutschland und Berlin - Zahlen und Fakten 15

4.1 Aussiedler in Deutschland 16 4.2 Aussiedler in Berlin 20 4.3 Organisation der Heimunterbringung in Berlin 26

5. Rechtliche Grundlage des Aussiedlerzuzugs 32

5.1 Aussiedlergesetzgebung - das Bundesvertriebenengesetz 32 5.2 Volkszugehörigkeit - Interpretationen des Verwaltungsapparats 35 5.3 Veränderungen der Regierungs- und Verwaltungspositionen im Kontext 36 steigender Aussiedlerzahlen - Kürzungen bei den Eingliederungsleistungen 5.4 Von der Antragsstellung bis zur Ankunft im Erstaufnahmelager 40 5.5 Jüdische Zuwanderung nach Deutschland - die Situation in Berlin 42 5.6 Umgang der Aussiedler mit dem eigenen Rechtsstatus 44

6. Wanderungsverhalten der Aussiedler 45

6.1 Ausreisemotive und Erwartungen an die neue Heimat 47 6.2 Realität im Ankunftsland 49 6.3 Reaktionen der Aussiedler auf Ablehnung und Diskriminierung 55 Inhalt

7. Zentrales Durchgangsheim des Bundes in Berlin-Marienfelde 59

7.1 Historische Entwicklung des Aussiedleraufnahmeverfahrens 61 7.2 Wohn- und Lebenssituation 67 7.3 Bedienstetenstruktur 73 7.4 Staatliche Beratungsstelle und nichtstaatliche Wohlfahrtsverbände auf dem 76 Gelände der Marienfelder Aufnahmestelle 7.5 Maßnahmen zur Integrationsförderung 82

8. Strukturelle und gesellschaftliche Integration in die Berliner Gesellschaft 86

8.1 Sprachliche Kompetenz als Grundlage gesellschaftlicher Integration 88 8.2 Zusammenhang von Eingliederung ins Arbeitsleben und sozialer Integration 91 8.3 Wohnsituation und Koloniebildung 100 8.4 Schulische Integration von Kindern und Jugendlichen 105 8.5 (Wieder-)Aufnahme des religiösen Lebens 112 8.6 Delinquenz bei Aussiedlern 115

9. Ausblicke 119

10. Literaturverzeichnis 122

11. Quellenverzeichnis 123

12. Verzeichnis der Fotographien 125 Vorwort

1. Vorwort

Die „Zentrale Aufnahmestelle des Landes Berlin für Aussiedler“, kurz: ZAB, ist ein Stück Berliner (Sozial-) Geschichte. 1953 als “Notaufnah- melager Marienfelde” für Flüchtlinge aus dem anderen Teil Deutsch- lands errichtet, spiegelt dieser Ort über die Zahlen der Zuflucht suchender Menschen die politische Lage in Deutschland und Europa wider. Nachdem der ursprüngliche Zweck der Einrichtung nach der Wiedervereinigung Deutschlands entfallen war, wurde “Marienfelde” als erste Anlaufstelle für Aussiedler genutzt. Aussiedler, oder - wie sie seit 1993 im amtlichen Sprachgebrauch bezeichnet werden - Spät- aussiedler, sind Migranten, die zumeist als deutsche Minderheit in Ost- und Südosteuropa, teilweise auch in Asien, gelebt haben und nach Deutschland gekommen sind. Für all diejenigen, die nach Berlin kamen, war “Marienfelde” der Ort, von dem aus der Grundstein für ein neues Leben in einer neuen Gesellschaft gelegt werden sollte. Rechtlich Deutsche, waren sie dennoch Fremde, die voll von Erwartungen, Hoffnungen und Wünschen konkrete Hilfe in der neuen Heimat benötigten. Die Mitar- beiterinnen und Mitarbeiter in „Marienfelde“ haben mit großem Engagement über viele Jahrzehnte von der Statusfeststellung bis hin zu praktischen Tipps im Alltag wichtige Entscheidungen getroffen und Hilfestellungen geleistet.

“Aussiedler in Berlin - die Zentrale Aufnahmestelle Marienfelde“ beschreibt aber nicht nur die Arbeit in der Einrichtung, sondern betrachtet auch die historischen Zusammenhänge, analysiert Hintergründe und geht wichtigen Fragen nach. Welche Beweggründe hatten die Aussiedler nach Deutschland beziehungsweise Berlin zu kommen? Wie reagierte die bundesdeutsche Bevölkerung auf die Aussiedler? Wie waren die Erwartungen der Menschen, die - als Deutsche - zu uns gekom- men sind? Wie gestaltete sich der Prozess der Eingliederung in die Gesellschaft?

Diese und viele andere Fragestellungen und Themen werden im vorliegenden Band 4 der „Blauen Reihe” beleuchtet. Die vorliegende Dokumentation gibt somit erstmals einen ausführlichen Über- und Einblick in die Arbeit der „ZAB“ und den Themenkomplex der Integration von Aussiedlern in unserer Stadt. Der Autor leistet damit nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Sozialgeschichte Berlins, sondern insgesamt zur Geschichte der Aussiedler in Deutschland, der äußert lesenswert ist.

Mit der Schließung der Zentralen Aufnahmestelle im Jahre 2010 ist auch für das Landesamt für Gesundheit und Soziales ein bedeutsames Kapitel sozialer Arbeit über fünf Jahrzehnte zu Ende gegangen. In einer Sonderausstellung “Alles auf Anfang - Aufnahme und Integration von Aussied- lern in Berlin” wurde die Aufgabenstellung und die Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der ZAB nochmals gewürdigt.

Franz Allert Präsident des Landesamtes für Gesundheit und Soziales Berlin

Seite 4 Einleitung

2. Einleitung

In den sechs Jahrzehnten zwischen 1950 und 2010 nahm die Bundesrepublik Deutschland etwa 4,5 Millionen Aussiedler aus Polen, Rumänien, der ehemaligen Tschechoslowakei, Ungarn, aus dem ehemaligen Jugoslawien, den baltischen Staaten und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion sowie einigen weiteren Staaten auf, wovon knapp 100.000 seit 1964 in West-Berlin und nach der Wiedervereinigung im geeinten Berlin eine neue Heimat fanden. Da Aussiedler grundsätzlich eine günstigere Altersstruktur und überdies über einen langen Zeitraum auch eine deutlich höhere Ge- burtenrate aufwiesen, die sich inzwischen allerdings dem Niveau der einheimischen deutschen Bevölkerung angepasst hat, hatten sie einerseits eine positive Wirkung auf die gesamtdeutsche Altersstruktur, andererseits ist anzunehmen, dass Aussiedler und ihre Nachfahren inzwischen ei- nen noch bedeutenderen Anteil an der Gesamtbevölkerung Deutschlands haben und somit einen wichtigen Teil der bundesdeutschen Gesellschaft darstellen.

Die Aussiedler kamen allesamt aus undemokratischen Staaten, in denen die gesellschaftspoliti- schen Verhältnisse die individuelle Freiheit und freie Meinungsäußerung stark einschränkt haben, in denen sich aber andererseits kollektive Modelle des Zusammenlebens erhalten konnten und sich damit auf die individuellen Auffassungen von Gemeinschaften niedergeschlagen haben, die Aussiedler in die deutsche Gesellschaft hineingetragen haben. Die Motive der Menschen für ihre Aussiedlung nach Deutschland waren äußerst vielfältig und lagen zwischen individuellen bzw. fa- miliären Kontexten, wie dem Wunsch nach Familienzusammenführung, dem Leben in einem freien Land, in dem es den Kindern besser ergehen sollte sowie Hoffnungen auf wirtschaftliche Verbes- serung, und kollektiven Kontexten, wie dem Leben innerhalb des Deutschen Kulturkreises, im Land der Vorfahren und fernab der Krisenprozesse in den Herkunftsländern.

Die Aufnahme von Aussiedlern in Berlin begann 1964, nachdem aufgrund des Mauerbaus der Zu- zug von Deutschen aus der Deutschen Demokratischen Republik 1961, der zuvor die Aufnahme von Aussiedlern in Berlin aus Kapazitätsgründen nicht erlaubte, abrupt einbrach. Seit 1964 begannen die Berliner Behörden auch Aussiedlern die Aufnahme in der Stadt zu ermöglichen und auf diese Weise die vorhandenen Wohn- und administrativen Kapazitäten zu nutzen. Zentraler Punkt der Aus- siedleraufnahme war das 1953 in Betrieb genommene Durchgangsheim Marienfelde im gleichna- migen Stadtteil. Dort fanden die ersten administrativen Schritte der Eingliederung der Menschen in Berlin statt und die meisten Aussiedler fanden dort Unterkunft und Verpflegung sowie eine Reihe von Unterstützungsmaßnahmen in den ersten Wochen und Monaten - manchmal sogar Jahren - ih- res Aufenthaltes in Berlin. Die Leitung des Durchgangsheimes, die dem in der Vergangenheit mehr- mals umbenannten und umstrukturierten Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) unter- stand, musste sich auf zweierlei Weise mit dem Aussiedlerzuzug auseinandersetzen. Einerseits mussten die Aussiedler registriert und administrativ betreut sowie ihre Unterkunft und Verpflegung sichergestellt werden, andererseits begann bereits bei der Ankunft der gesellschaftliche und struk- turelle Integrationsprozess der Menschen. Beruhte der erstgenannte Schritt auf einer insbesondere während der Hochphasen des Aussiedlerzuzugs nach Berlin Mitte der siebziger Jahre, um 1980, zwischen 1987 und 1990 und schließlich wieder seit 1992 arbeitsintensiven und organisationstech- nischen Leistung, so mussten die vielfältigen Integrationshilfen in Zusammenarbeit mit den freien Wohlfahrtsverbänden organisiert und immer auch im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang

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betrachtet werden. Mit dem Eintreffen im Marienfelder Durchgangsheim begann für die Menschen ein neuer Lebensabschnitt, voll von Hoffnungen und Erwartungen, aber auch Unsicherheiten und Zukunftsängsten. In dieser zentralen Aufnahmestelle fanden die ersten Eingliederungsschritte statt und hier trafen die Menschen auf Vereine, Beratungsstellen und Organisationen, die sich ihrer annahmen und ihnen in der ersten Zeit in einer vollkommen neuen und unbekannten Umgebung halfen, sich zurechtzufinden.

Die Besonderheit des Berliner Aussiedlerzuzugs lag in dem überproportional hohen Anteil des Familiennachzugs als Grundlage der Aussiedlung, insbesondere bis zur politischen Wendezeit um 1990. Das Einleben eines gro- ßen Teils der Aussiedler in Berlin konnte somit oftmals neben den Unterstützungsleistungen seitens freier Wohlfahrtsverbände und staatlicher Beratungsstellen oft- mals durch Hilfsangebote im Fami- lien- und Bekanntenkreis zusätz- lich erleichtert werden. Dennoch waren strukturelle Eingliederung und gesellschaftliche Integrati- on zu jeder Zeit des Zuzugs von Bild 1: Der Regierende Bürgermeister von Berlin Willy Brandt besucht das Bundesnotaufnahmelager Marienfelde (21.7.1961) den gesamtgesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zuständen in Ber- lin und in der Bundesrepublik Deutschland abhängig. Vollzogen sich sprachliche, berufliche und gesellschaftliche Eingliederung der Aussiedler bis zum Ende der 1980er Jahre relativ problemlos, rasch und fast unbemerkt, so änderte sich die Situation grundlegend mit der politischen Wende, der deutschen Widervereinigung und den zugleich einsetzenden wirtschaftlichen Krisenprozessen, die auch den Staat und die Kommunen vor große finanzielle Schwierigkeiten stellten und die sich u.a. auch in weitreichenden Kürzungen der Eingliederungsleistungen für Aussiedler zeigten, bei gleichzeitigem Anstieg der Aussiedlerzahlen seit 1991/92.

Trotz den in den letzten zwei Jahrzehnten schwieriger werdenden Voraussetzungen für die Inte- gration der Aussiedler in Berlin, und der Feststellung, dass der Integrationsprozess der in den letzten zwei Jahrzehnten nach Berlin eingereisten Aussiedler noch lange nicht abgeschlossen ist, und unbedingt einer entgegenkommenderen Haltung der einheimischen Berliner bedarf, kann man zweifelsohne von einem überaus erfolgreichen Eingliederungsprozess der Aussiedler in Berlin und in Deutschland sprechen, und zwar auf beiden Seiten. Die Aussiedler sind zu einem wichtigen Teil der bundesdeutschen Gesellschaft geworden und tragen nicht unerheblich zum gesellschaftlichen Wohlstand in der Bundesrepublik Deutschland bei.

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3. Historische Ausgangssituation

Der in der slawischen Welt als „Drang nach Osten“ negativ konnotierte deutsche Besiedlungs- prozess Ostmittel- und Südosteuropas sowie seit dem 18. Jahrhundert auch Osteuropas, setzte als weitestgehend friedlicher Kolonisierungsprozess unerschlossener oder nicht entwickelter Re- gionen bereits im 12. Jahrhundert ein. Könige, Fürsten und Herzöge warben um die deutschen Siedler, von denen sie sich die Urbarmachung des Bodens, Entwicklung des Städtewesens und Handels und somit kulturellen Fortschritt und wirtschaftlichen Aufschwung versprachen. Deutsche Bauern, Handwerker und Händler (seit dem 14. Jahrhundert verstärkt auch Juden aus den deut- schen Rheingebieten) siedelten sich zunächst in Pommern und Kujawien, Niederschlesien und Böhmen sowie in Siebenbürgen an, wo sie gegenüber den slawischen und magyarischen Bevölke- rungsgruppen privilegiert wurden, daher größere persönliche und steuerliche Freiheiten genossen. Zugleich wurde die deutsche Besiedlung seit dem 13. Jahrhundert aber auch mit dem Schwert vorangebracht, insbesondere in den Gebieten entlang der Ostsee bis tief ins Baltikum hinein, wo Schwertbrüderorden und der Deutsche Orden im Namen des Christentums bisweilen eine blutige Verdrängungspolitik baltischer und slawischer Stämme vornahmen, die jedoch Hand in Hand mit wirtschaftlichem Aufschwung und folgender Assimilation einher ging. Wichtig für die gesamtge- sellschaftliche Situation in diesen Regionen waren Städtegründungen auf Grundlage deutschen Rechts (u.a. Magdeburger und Culmer Recht). Sie bildeten die Voraussetzungen für wirtschaft- lichen und kulturellen Aufschwung. Mitte des 14. Jahrhunderts kam diese erste breite deutsche Ostsiedlungsbewegung zum Erliegen.

3.1 Die Russlanddeutschen

Die deutsche Siedlungsbewegung nach Russland kann grundsätzlich in zwei voneinander unab- hängige Kategorien unterteilt werden; einerseits die seit dem Ende des 15. Jahrhunderts nach Moskau und seit der Gründung St. Petersburgs 1703 auch auf diese Stadt gerichtete Ansiedlung deutscher Stadteliten, andererseits jene auf die Urbarmachung der weiten Gebiete an der Wolga, in der Ukraine („Neurußland“) und Wolhynien sowie dem Kaukasus zielende Besiedlung durch deutsche Bauern und Handwerker. Während erstere sich auf Fachleute, Techniker und Beamte konzentrierte und aufgrund der weitestgehenden Assimilation dieser Gruppen im 19. und 20. Jahr- hundert für die Aussiedler-Thematik keine Rolle spielt, bildet die zweite Gruppe der Siedler den ei- gentlichen Ursprung der deutschen Besiedlung weiter russischer Gebiete und den Ausgangspunkt für die seit 1950 und ganz besonders seit 1989 einsetzende Massenaussiedlung aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion und Russlands in die Bundesrepublik Deutschland.1

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzten zwei große Siedlungsbewegungen im Russi- schen Reich ein, die erste im Anschluss an den Siebenjährigen Krieg insbesondere an die Wolga, die zweite im Anschluss an die siegreichen Kriege gegen die Osmanen an die Schwarzmeerküste.

1 Vgl. Brandes, Detlef: Die Deutschen in Rußland und der Sowjetunion, in: Bade, Klaus J.: Deutsche im Ausland - Fremde in Deutsch- land. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992, S. 85-89.

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Nach ihrer Machtübernahme 1762 verabschiedete die Zarin Katharina II. ein Einladungsmanifest für deutsche Siedler mit der Zusage weitreichender Privilegien, wie Steuer- und Abgabenbefreiun- gen für bis zu 30 Jahre, teilweise Zoll-, Militär- und Frondienstbefreiung sowie die Garantie freier Religionsausübung und des Gebrauchs des Deutschen als Amts-, Umgangs- und Schulsprache.2 Grund und Boden wurden den Siedlern als erblicher Besitz übergeben, der an den jüngsten Sohn vererbt wurde.3 Allein in den ersten Jahren bis 1768 folgten knapp 30.000 Kolonisten dem Ruf der Zarin und siedelten sich beiderseits der Wolga um die Stadt Saratow an. Anfänglichen Schwierig- keiten aufgrund des unbekannten Steppenklimas, fehlender Infrastruktur, nicht vorhandenen Bau- materials, aber auch dem Fehlen von notwendigen landwirtschaftlichen Geräten, folgte seit den 1770ern eine Verbesserung der Lage mit der Stabilisierung der Einwohnerzahl in den über 100 Siedlungen bis zum Ende des Jahrhunderts auf etwa 40.000.4

Nach dem Friedensschluss von Jassy 1792 siedelten sich Deutsche auch in den weiten, fruchtba- ren Gebieten der Ukraine an. Um die Besiedlung und Nutzbarmachung dieser Gebiete sicherzu- stellen, wurden nun härtere Bedingungen an potenzielle Neusiedler gestellt. Zwar wurden auch dieses Mal nicht alle Kriterien streng eingehalten, dennoch folgten im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fähige Bauern und Handwerker aus dem Elsass und Lothringen, aus Schwaben und der Pfalz sowie aus Bayern und der Schweiz dem Ruf der Zarin, sodass die Zahl der Deut- schen in Südrußland um 1850 ca. 55.000 Personen betrug.5

Die Lebenssituation der deutschen Siedler im Süden des Zarenreiches entwickelte sich positiver als an der Wolga. Durch das strikte Einwanderungsregime kamen nun erheblich mehr fähige Bau- ern und Handwerker, die eigenes landwirtschaftliches Gerät mitbrachten oder sich den Kauf leisten konnten und denen fortschrittliche Produktionsmethoden bekannt waren. Zudem standen ihnen etwa doppelt so große Landflächen (65 Hektar) wie den Neusiedlern an der Wolga zur Verfügung. Das Land wurde ungeteilt an die nächste Generation vererbt, was zwar die Erweiterung des Land- besitzes durch Zukäufe, Pachtverträge sowie Gründungen von Tochterkolonien notwendig machte, jedoch die Ausbildung einer breiten Schicht von Landproletariat verhinderte.6

Die Deutschen lebten in ihren Kolonien relativ isoliert von ihrer Umgebung und der russischen Bevölkerung. Das gesellschaftliche Leben spielte sich in aller Regel innerhalb der konfessionell homogenen Dörfer ab. Es herrschte Endogamie, d.h., dass Ehen nur innerhalb der Eigengruppe geschlossen wurden, die Menschen verwalteten ihre Siedlungen untereinander solidarisch und musterhaft und gerieten mit den russischen Behörden nicht in Konflikt. Der Hang zur Isolation wur- de auch an die Tochterkolonien weitergegeben, die in enger Beziehung zu den Mutterkolonien standen. Ausgehend von der Bauernbefreiung in Russland im Jahre 1861 verkomplizierte sich die Lage der deutschen Siedler allmählich. Im Jahre 1871 wurden die Kolonistengesetze und mit ih- nen die örtliche Selbstverwaltung aufgehoben. Seit 1880 durfte auch an den Schulen nur noch im Deutsch- und Religionsunterricht Deutsch gesprochen werden. Zu weitreichenden Konsequenzen

2 Bade, Klaus J.: Deutsche im Ausland - Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992, S. 89-90. 3 Ingenhorst, Heinz: Die Rußlanddeutschen. Aussiedler zwischen Tradition und Moderne, Frankfurt 1997, S. 19-20. 4 Ebenda, S. 21-23. 5 Eisfeld, Alfred: Die Entwicklung in Russland und in der Sowjetunion, in: Informationen zur politischen Bildung, Nr. 267, 2. Quartal 2000, Aussiedler, S. 17. 6 Ingenhorst: Die Rußlanddeutschen, S. 25-26.

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führten zudem die Aufhebung der Militärdienstbefreiung 1874 und anderer Privilegien.

Nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 wurden die deutschen Siedler überdies mehr und mehr zur Zielscheibe panslawischer und russisch-nationaler Gruppierungen, deren Propa- ganda sich auch auf die Politik des Zarenreiches gegenüber den Deutschen auswirkte. Die „deut- sche Frage“ wurde initiiert und bezog sich insbesondere auf die deutsche Besiedlung westlicher Gebiete des Zarenreiches, die an das Deutsche Reich bzw. an Österreich grenzten. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts wurde die später unter Stalin aufgegriffene These von der potenziellen Ge- fährdung des Landes durch die Deutschen in ihren Grundzügen formuliert.7 Gleichwohl war es eine unhaltbare Zuspitzung. Weder interessierten sich die deutschen Siedler für das Geschehen im Deutschen Reich, noch stellten sie, mit Ausnahme der weiten Siedlungsgebiete an der Wolga und im Süden des Reiches, eine geschlossene Minderheit dar. Aufgrund dieser rechtlichen Einschrän- kungen wanderten bis 1912 etwa 400.000 deutsche Siedler aus Russland aus.8 Dennoch stieg die Bevölkerungszahl der Russlanddeutschen stetig an. Die allgemeine Volkszählung von 1897 ergab, dass im Russischen Reich knapp 1,8 Millionen Menschen mit deutscher Muttersprache lebten, was ca. 1,4% der Gesamtbevölkerung entsprach. davon lebten jeweils etwa 400.000 Deutsche an der Wolga und in der Schwarzmeerregion.9 Bis zum Beginn des 1. Weltkrieges erhöhte sich die Ge- samtzahl der Deutschen im Zarenreich auf etwa 2,4 Millionen Menschen.10

3.2 Die Deutschen in Polen

Die deutsche Besiedlung heutiger Gebiete des polnischen Staates setzte im 12. Jahrhundert ein. Die Neusiedler zogen in die slawisch besiedelten Territorien an der Ostsee, in die Lausitz, nach Niederschlesien und zum Teil auch nach Oberschlesien. Diese Siedlungsbewegung war, wie auch die gezielte Rodung weiter Waldflächen in den deutschen Landen unter den Staufern, eine Reakti- on auf die wachsende Bevölkerungsdichte. Die Menschen suchten in den dünner besiedelten Re- gionen Ostmitteleuropas nach Auskommen. Für die gezielten Siedlerwerbungen der schlesischen Piastenherzöge entlang der Oder bis nach Oberschlesien sowie die Eroberungen und Städtegrün- dungen entlang der Ostseeküste und von dort ins Landesinnere bis zur masowischen Grenze durch den Deutschen Orden, etablierte sich im 19. Jahrhundert in polnischen intellektuellen Kreisen der Begriff „Drang nach Osten“. Im Laufe der Jahrhunderte verschmolzen die deutschen Siedler mit der einheimischen Bevölkerung oder verdrängten sie - wie etwa im Falle der baltischen Pruzzen -, jedoch konnte sich insbesondere in Oberschlesien die slawische Bevölkerung behaupten.

Mit den Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts kamen u.a. Westpreußen, Ostpommern und Kujawien zu Preußen. Der ab 1871 unter Bismarck einsetzende Kulturkampf richtete sich auch offen gegen die polnische Minderheit in Preußen und gegen die Bestrebungen polnischer Nationa- listen, die autochthonen Bevölkerungsteile in diesen Gebieten für die nationale polnische Sache zu gewinnen. Die deutschen Behörden reagierten mit unverhältnismäßiger Germanisierungspolitik auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens, die die deutsch-polnischen Antagonismen nur ver-

7 Ebenda, S. 30-31. 8 Ebenda, S. 32. 9 Brandes: Die Deutschen in Russland, S. 85. 10 Ingenhorst: Die Rußlanddeutschen, S. 31-32.

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stärkte und bisweilen völliges Unverständnis für die Bevölkerungszusammensetzung in einzelnen Landkreisen und Städten offenbarte. Besonders brisant wurde die Situation aufgrund der schwie- rigen und teils nicht möglichen Unterscheidung nationaler Zugehörigkeit nach objektiven Kriterien, wie Sprache, Kultur, Religion oder ethnischer Abstammung. Zudem spielten nationale Merkmale für die Identität der Menschen um 1900 oftmals noch eine untergeordnete Rolle. Die abstrakte Zugehö- rigkeit zu einer Nation wirkte auf die Identitätsbildung weitaus geringer, als etwa die lokale Verbun- denheit mit dem Geburtsort als Lebensmittelpunkt oder die Zugehörigkeit zur Kirchengemeinde mitsamt der Einbettung in christliche Traditionen und Bräuche.

Mit dem Wiedererstehen des polnischen Staates nach dem 1. Weltkrieg kamen Westpreußen und Kujawien sowie östliche Teile Oberschlesiens als Folge der Volksabstimmung vom 20. März 1921 zu Polen. Ostpreußen, in dessen Teilgebieten Ermland und Masuren ebenfalls ein Plebiszit durch- geführt und eindeutig zu Gunsten des Verbleibes bei Deutschland ausgegangen war, wurde durch den sog. Korridor territorial von Deutschland getrennt. Der überwiegende Teil der in diesen Ge- bieten lebenden Deutschen verblieb und richtete sich im polnischen Staate ein, trotz Schikanen polnischer Behörden. Zum einen hoffte man auf die Revision der Grenzziehungen, zum anderen wollten viele Menschen den Verbleib in ihrer Heimat nicht von politischen Konstellationen abhängig machen. Der Beginn des 2. Weltkrieges veränderte abermals die Bevölkerungszusammensetzung in diesen Gebieten.

3.3 Die Oberschlesier zwischen Deutschland und Polen

Die bis zum Jahre 1990, auch in Bezug auf Berlin, zahlenmäßig größte Gruppe der Aussiedler aus Polen waren die Oberschlesier, die in ihrer ethnisch-kulturellen Herkunft und der geschichtlichen Prägung, von der Mentalität und vom Selbstverständnis her eine eigenständige Bevölkerungsgrup- pe darstellten, die als Kollektiv weder als deutsch noch als polnisch im nationalen Sinne bezeichnet werden kann.

Zweifellos wurde Oberschlesien seit Mitte des 18. Jahrhunderts preußisch geprägt, doch spiel- ten in vormoderner Zeit sprachlich-ethnische Differenzierungen im gesellschaftspolitischen Leben noch keine große Rolle. Aber selbst im 20. Jahrhundert konnte ein Oberschlesisch-Polnisch spre- chender und das eigene Brauchtum pflegender Oberschlesier zugleich ein loyaler Preuße sein. Mit dem einsetzenden Kulturkampf veränderte sich die Wahrnehmung der Oberschlesier durch die deutschen Behörden und die deutsche Bevölkerung Preußens nachhaltig, und es galt, Oberschle- sien und die Oberschlesier vollständig zu germanisieren. Im Zuge der Industrialisierung entsen- dete der preußische Staat zehntausende Beamte, Fachleute und Kolonisten nach Oberschlesien und begann mit der Bekämpfung der slawischen Mundart im öffentlichen Leben, bei gleichzeitiger Förderung der deutschen Sprache und Kultur. In den Städten und auf dem Lande entwickelte sich eine soziale Spaltung entlang ethnisch-sprachlicher Grenzen. Dem slawischen Bauern auf dem Lande und dem Gros der slawischen Arbeiterschaft stand eine deutsche städtische Elite in Ver- waltung und Handel, im Bergbau- und Hüttenwesen gegenüber. Jeglicher soziale Aufstieg war an das Deutschtum gebunden, und viele Landbewohner sahen in der sprachlichen und kulturellen Assimilation die Chance zum Ausbruch aus den patriarchalischen Abhängigkeitsverhältnissen und

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schlechten Lebensbedingungen.11

Infolge dessen wurde die Bevölkerungsstruktur in Oberschlesien nach 1900 immer komplexer und differenzierter. Das Plebiszit vom 20. März 1921 zeigte schließlich in aller Deutlichkeit auf, wie tief gespalten Oberschlesien in der Frage der nationalstaatlichen Zugehörigkeit war.12 Spätestens nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Deutschen Reich eskalierte der deutsch-polnische Gegensatz in Oberschlesien. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen und der Angliederung Ost-Oberschlesiens an das Deutsche Reich schuf die nationalsozialistische Administration die sog. Deutsche Volksliste. Die Oberschlesier wurden in vier Gruppen erfasst: Zur ersten Gruppe gehör- ten die in den deutschen Minderheitsorganisationen aktiven Personen; zur zweiten Gruppe dieje- nigen, die aufgrund ihres Selbstverständnisses und der Wahrnehmung der Nachbarn Deutsche waren - Angehörige beider Gruppen wurden zu deutschen Staatsbürgern erklärt; die dritte Gruppe bestand aus teilweise polonisierten Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit auf Widerruf erhielten; in der vierten Gruppe wurden Personen deutscher Herkunft eingestuft, die allerdings als vollständig polonisiert galten und denen nur eine Anwartschaft auf die deutsche Staatsangehörig- keit zugesprochen wurde.13 Diese Klassifikation höchst problematisch, dennoch wurden die Ober- schlesier in der deutschen Öffentlichkeit auch nach 1945 und entgegen der Ausführungen im § 1 des BVFG, das in der Zuerkennung des Aussiedlerstatus unzweideutig nach Staatsangehörigkeit und Volkszugehörigkeit unterscheidet, undifferenziert als deutsche Volksgruppe und nicht als kul- turelle Eigengruppe betrachtet, obgleich sie den Aussiedlerstatus rechtlich aufgrund ihrer - auch nach 1945 nicht verlorenen - Staatsangehörigkeit beanspruchten, nicht aufgrund ihrer Volkszuge- hörigkeit.

3.4 Entstehung und Zusammenbruch der Wolgarepublik

Der Eintritt Russlands in den Ersten Weltkrieg als Kriegsgegner Deutschlands hatte für die Deut- schen im Zarenreich weitreichende Konsequenzen. Das kollektive Misstrauen ihnen gegenüber, verstärkt durch die Propaganda des Alldeutschen Verbandes, und die Aktualität der bereits über dreißig Jahre zuvor aufgegriffenen „deutschen Frage“, zielte im Besonderen auf die Wolhynien- deutschen. Infolge der Liquidationsgesetze des Jahres 1915 wurden ca. 150.000 Deutsche aus dem 100 bis 150 Kilometer breiten westlichen Grenzstreifen Russlands enteignet bzw. zum Verkauf ihrer Höfe innerhalb kurzer Fristen gedrängt und nach Sibirien deportiert.14 Bis zu 75.000 Men- schen sollen den strapaziösen Transport nicht überlebt haben. Ein Jahr darauf dehnte man die Liquidationsgesetze auf das Wolgagebiet aus, allerdings blieben sie dort - wie auch in anderen deutschen Rayons - weitgehend ohne Folgen.15

11 Alexander: Oberschlesien, S. 471-473. 12 Die Interpretation der Abstimmungsergebnisse als eindeutiges Bekenntnis zum Deutschtum und zum Deutschen Reich durch viele zeitgenössische Historiker und aktuell publizierende Forscher ist höchst zweifelhaft und verfehlt. Über 40% der oberschlesischen Bevöl- kerung stimmte für einen Staat, von dessen sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Entwicklung sie über 600 Jahre lang abgeschnitten war und dessen Existenz bereits in seiner Entstehungszeit durch den Krieg gegen das bolschewistische Russland höchst gefährdet war. Die Erfahrung vieler Oberschlesier, in Preußen Bürger zweiter Klasse zu sein, dessen kulturelle Selbstständigkeit, Traditionen und seine kirchliche Verbundenheit in Frage gestellt wurden, näherte sie an die katholischen Polen an, die ihnen Autonomie und sozialen Aufstieg versprachen. 13 Rogall: Die Deutschen in Polen, S. 5. 14 Brandes: Die Deutschen in Russland, S. 123. 15 Ingenhorst: Die Rußlanddeutschen, S. 32-33.

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Die Februar- und Oktoberrevolution nahmen die Deutschen im Zarenreich mit Erleichterung auf. Bereits am 11. März 1917 setzte die liberale Provisorische Regierung die Liquidationsgesetze au- ßer Kraft und verkündete nur zehn Tage später den „Akt über die Gleichheit aller russischen Bür- ger ohne Ansehen der Nation und Religion“. Zwei im Oktober verabschiedete Dekrete bildeten schließlich die rechtliche Grundlage für den Beginn der Bemühungen wolgadeutscher Politiker um die Schaffung einer autonomen deutschen Wolgarepublik im Rahmen eines russischen Föderati- onsstaates mit deutscher Amts- und Schulsprache.16 Nach Abschluss der mehrjährigen adminis- trativen Vorbereitungsarbeiten wurde im Januar 1924 die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen (ASSR) mit einer Gesamtfläche von etwa 25.000 km² und zu rund zwei Dritteln aus deutscher Bevölkerung bestehend gegründet. Deutsch wurde zur Amts- und Schulsprache erhoben und ein deutsches Gerichtswesen sowie deutsche Presseorgane entstanden.17

Die sozialistische Politik der Wurzelbildung (Korenizacija) ermöglichte die Entstehung kultureller Einrichtungen und Gründungen nationaler Schulen, wovon die Deutschen auch außerhalb der Wol- garepublik regen Gebrauch machten. Allein in der Ukraine gab es 1926 über 600 deutsche Schu- len mit fast 39.000 Schülern und in der Wolgarepublik besuchten im Schuljahr 1931/32 etwa 54.000 Schüler deutsche Schulen.18

Seit 1928 bedrohte der erste Fünfjahresplan für die Entwicklung der sowjetischen Wirtschaft die Deutschen in ihrer Existenz. An erster Stelle traf die Zwangskollektivierung wohlhabendere Bau- ern (Kulaken) im Schwarzmeergebiet und im Kaukasus. Aber bereits Mitte des Jahres 1931 waren auch rund 95% der Bauerngehöfte in der Wolgarepublik kollektiviert worden, obgleich der Kollek- tivierungsgrad in den anderen Regionen der Sowjetunion im Durchschnitt erst bei 60% lag. Etwa 300.000 Deutsche von mindestens fünf Millionen Opfern insgesamt fanden im Zuge der durch die Zwangskollektivierung ausgelösten großen Hungersnot von 1932/33 den Tod.19

Der stalinistische Terror der Jahre 1936 bis 1938 traf die Deutschen als nationale Minderheit eben- falls überproportional stark. Man geht davon aus, dass um 1940 in jeder dritten deutschen Familie der Vater als Familienoberhaupt fehlte, da insbesondere Männer während der Phase des Terrors deportiert oder getötet wurden. Auch auf religiöser Ebene führte die brutale Vorgehensweise der Behörden zu einem Einschnitt im traditionellen Leben der deutschen Siedlungen. Viele Gemein- den verloren durch Deportation und Hinrichtungen ihre Geistlichen und die Religion wurde in den privaten Raum gedrängt.20 Ab November 1938 wurden nach und nach die deutschen Rayons in der Ukraine und im Altaigebiet aufgelöst, denen am 7. September 1941 die formelle Auflösung der Wolgarepublik folgte.

16 Ebenda, S. 34-35, 37. 17 Brandes: Die Deutschen in Russland, S. 125-126. 18 Pinkus, Benjamin: Das Bildungssystem der extraterritorialen nationalen Minderheiten in der Sowjetunion. Deutsche, Juden und Polen, 1917-1939, in: Fleischhauer, Ingeborg / Jedig, Hugo H. (Hgg.): Die Deutschen in der UdSSR in Geschichte und Gegenwart, Baden- Baden 1990, S. 195-196; ebenda, S. 196-197. 19 Ingenhorst: Die Rußlanddeutschen, S. 43-44. 20 Ebenda, S. 44-46.

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3.5 Deportationen, Flucht und Vertreibung

Noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges begannen die ersten Deportationen von Deutschen im Rahmen der stalinistischen Säuberungen. Zehntausende wurden aus der Ukraine deportiert, zu Lagerhaft oder zum Tode verurteilt. Mit dem Kriegsausbruch kam es auf Grundlage des Zusatz- protokolls des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes zu großangelegten Bevölkerungstrans- fers.21 Der schnelle und für die Rote Armee überraschende Einmarsch der Wehrmacht verschonte zunächst die rund 200.000 in der Ukraine noch verbliebenen Deutschen vor Enteignungen und Deportationen. Bereits im Sommer 1943 begannen jedoch die ersten Fluchtbewegungen aus der Ukraine und den Gebieten zwischen Dnjestr und Bug in westlicher Richtung. Insgesamt flohen etwa 350.000 Menschen auf direktem Wege oder über das Generalgouvernement und den Warthegau ins „Altreich“. Weit über die Hälfte dieser Menschen wurde von der schnell heranrückenden Roten Armee Ende 1944 eingeholt, erfasst und in die Sowjetunion repatriiert. Ein ähnliches Schicksal traf etwa 100.000 bereits in den Westzonen angekommene Menschen. Etwa 15% der Deportierten überlebten die Transporte in die sibirischen Sonderlager nicht.22

Ende August 1941 veröffentlichte die sowjetische Führung den „Erlass über die Übersiedlung der Deutschen, die in den Wolgarayons wohnen“. Begründet wurde das Dekret mit dem allgemeinen Vorwurf der Kollaboration. Unter den bis Ende 1941 insgesamt rund 800.000 aus verschiedenen Gebieten der Sowjetunion deportierten Deutschen, deren gesamtes Hab und Gut beschlagnahmt worden war, befanden sich etwa 400.000 Wolgadeutsche. Alle arbeitsfähigen Männer und ab 1942 zum Teil auch Frauen wurden in den Arbeitsarmeen (trudarmija) beim Bau von Industrieanlagen und Bahnlinien, in Rüstungs- und Industriebetrieben eingesetzt. An ihren Aufenthaltsorten standen die Menschen unter Aufsicht des Innenkommissariats und durften diese nur nach vorheriger Ge- nehmigung verlassen.23

Für die deutsche Bevölkerung diesseits des Bug und der Karpaten bahnte sich bereits mit der Kriegswende im Winter 1942/43 eine unmittelbare Bedrohung durch die Rote Armee an. Die Flucht- bewegungen und Vertreibungen aus diesen östlichen Gebieten des Deutschen Reiches setzten schließlich mit dem Durchbruch der Roten Armee auf breiter Front im Januar 1945 ein. Bis dahin verhielten sich die deutschen Behörden bewusst passiv, trafen keine Vorbereitungen zur Evaku- ierung und suggerierten der Bevölkerung, die Rote Armee würde aufgehalten werden. Die Folge waren Massenpanik und ungeordnete Fluchtbewegungen, die zehntausenden Menschen das Le- ben kosteten. Viele Flüchtende ertranken in der Ostsee, fanden den Kältetod auf ihrem Zug aus Ostpreußen, Pommern und Niederschlesien oder starben durch Beschuss von Rotarmisten.24 Ab März 1945 wurden die Aussiedlungs- und Vertreibungsmaßnahmen gegen die in diesen Gebieten verbliebene oder nach der Flucht vor der Roten Armee zurückgekehrte deutsche Bevölkerung von polnischen Behörden durchgeführt. Der Transfer der deutschen Bevölkerungsteile aus Polen, Un- garn und der Tschechoslowakei sollte unter geordneten und humanen Bedingungen stattfinden, allerdings sah die Realität bisweilen anders aus. Ziel war es, vollendete Tatsachen zu schaffen und Platz für die ihrerseits aus den polnischen Ostgebieten von der Roten Armee vertriebenen Polen

21 Ingenhorst: Die Rußlanddeutschen, S. 48. 22 Ebenda, S. 53-55. 23 Eisfeld: Die Entwicklung in Russland S. 21. 24 Urban, Thomas: Der Verlust. Die Vertreibung der Deutschen und Polen im 20. Jahrhundert, München 2004, S. 105-106.

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zu machen. Die Oder-Neiße-Linie sollte zur neuen polnischen Staatsgrenze erklärt werden, was Anfang August im Abschlussprotokoll der Potsdamer Konferenz auch festgehalten worden war, wenngleich ohne endgültige Anerkennung als Staatsgrenze durch die Westalliierten.25

Insgesamt flohen etwa 3,6 Millionen Deutsche vor der Roten Armee, wovon bis zu einer Million noch im Laufe des Jahres 1945 in ihre Heimatgebiete zurückkehrte. Etwa 4,4 Millionen Deutsche schaff- ten es nicht mehr rechtzeitig zu fliehen oder hatten keine Möglichkeit dazu. Als Folge der gezielten Vertreibungsmaßnahmen des polnischen Staates verließen bis 1950 etwa 3,5 Millionen Menschen ihre Heimat.26 Vor Beginn der Fluchtbewegungen und Zwangsaussiedlungen lebten in den oben genannten Ostprovinzen des Deutschen Reiches etwa 8,4 Millionen Deutsche. Die Zahlen über die in der Volksrepublik Polen verbliebenen Deutschen sind höchst unterschiedlich und schwanken je nach nationaler Zuordnung der jeweiligen autochthonen Bevölkerungen (Kaschuben, Oberschle- sier) in den betreffenden Gebieten stark. Aus der am 3. Dezember 1950 veröffentlichten Volks- zählung in der Volksrepublik Polen lässt sich jedoch eine Zahl rekonstruieren, die einer nationalen Zuordnung nicht bedarf. So lebten zum Zeitpunkt der Befragung insgesamt 1.123.589 Menschen in den zu Polen gekommenen ehemaligen Reichsgebieten, die bereits vor dem Krieg dort lebten.27 Diese Zahl kann somit als eine Ausgangszahl ehemaliger deutscher Staatsangehöriger interpre- tiert werden, die allerdings keine Mortalitäts- und Fertilitätsraten seit Kriegsbeginn einschließt. Zum Zeitpunkt der Volkszählung lag die Gesamtzahl dieser Personengruppe aufgrund des natürlichen Bevölkerungswachstums somit sicherlich höher.

3.6 Die Deutschen im kommunistischen Machtbereich

Für die nach Sibirien und Mittelasien deportierten Russlanddeutschen änderte sich die Lage in den nächsten Jahren kaum. Zwar wurden 1948 die Arbeitsarmeen aufgelöst, doch die mit der Be- wachung beauftragten Kommandanturen wurden erst im Dezember 1955 nach einem Erlass des Obersten Sowjets aufgehoben. Auf dessen Grundlage wurden die etwa 1,5 Millionen Deutschen zu Sowjetbürgern erklärt, allerdings durften sie nicht in die Vertreibungsgebiete zurückkehren und eine Rückgabe ihres konfiszierten Besitzes wurde ebenso ausgeschlossen. Die völlige Umgestal- tung ihrer regionalen Bevölkerungsstruktur wurde damit zementiert und das Ende der deutschen Siedlung in den historischen Ausgangsgebieten in Wolhynien, der Schwarzmeerregion und an der Wolga besiegelt. Die Volkszählung in der Sowjetunion von 1979 zeigte dies überdeutlich: Etwa die Hälfte der knapp zwei Millionen Deutschstämmigen lebte inzwischen in den Städten (in der Zwischenkriegszeit waren es etwa 15%) und die Siedlungsschwerpunkte verlagerten sich auf Ka- sachstan (46,5%) und Sibirien (23,8%).28 Im November 1964 nahm der Oberste Sowjet schließlich auch die kollektiven Spionage- und Diversionsvorwürfe gegen die deutsche Minderheit zurück. Diese beiden Entscheidungen von 1955 und 1964 führten zu einem Anschwellen der Ausreisean- träge aus der Sowjetunion nach Deutschland, die allerdings überaus selten und nur bei Familienzu-

25 Urban: Der Verlust, S. 109, 113-114. 26 Rogall: Die Deutschen in Polen, S. 5-6. 27 Stepien, Stanislaus: Jugendliche Umsiedler aus Schlesien. Eine empirische Untersuchung über Konsequenzen der Wanderung, Weinheim und Basel 1981, S. 7. 28 Ingenhorst: Die Rußlanddeutschen, S. 56-59.

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sammenführung genehmigt wurden.29 In den ersten Nachkriegsjahren verließen etwa 3,5 Millionen Deutsche infolge von Ausweisungen den entstandenen polnischen Staat. Hingegen ist die Zahl derjenigen ehemaligen deutschen Staatsbürger, die in Polen blieben, nur schwer zu beziffern. Die deutsche Volksliste war Ansatzpunkt für die nach Kriegsende eingesetzten Verifikationskommissio- nen, die bis April 1948 rund eine Million Menschen überprüften.30

Auch diejenigen, an deren deutscher Abstammung kein Zweifel bestand, machten in der Nach- kriegszeit Marginalisierungserfahrungen. Erst nach 1949 wurde eine deutsche Minderheit in Polen anerkannt, die Diskriminierungsmaßnahmen seitens der Behörden wurden eingestellt und ein deut- sches kulturelles Leben begann sich zu entwickeln.. Die Unterzeichnung der Warschauer Verträge im Jahre 1970 und der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 durch Bundeskanzler Helmut Schmidt und den polnischen Regierungschef Edward Gierek, bewirkte eine anhaltende Ausreisewelle in einem fünfstelligen Bereich.31

4. Aussiedler in Deutschland und Berlin - Zahlen und Fakten

Seit 1950 kamen etwa 4,5 Millionen Menschen mit dem Rechtsstatus eines Aussiedlers bzw. Spät- aussiedlers in die Bundesrepublik Deutschland. Ein riesiger Verwaltungsapparat auf Bundes-, Lan- des- und kommunaler Ebene war für den Ablauf der Aufnahme- und Eingliederungsverfahren von der Antragstellung über die Bearbeitung und Genehmigung, bis hin zur Einreise, Erstaufnahme und administrativen Versorgung auf Grundlage des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG), des Lasten- ausgleichsgesetzes (LAG) und weiterer die Aussiedler betreffender Verordnungen und Bestim- mungen zuständig. Die beteiligten Behörden führten genauestens Buch über die aufgenommenen Gruppen und erstellten auf Grundlage der über die Anträge ermittelten persönlichen Angaben regelmäßig Statistiken über die als Aussiedler aufgenommen Personengruppen. Neben zahlenmä- ßigen Erhebungen der Aussiedler, ihren Herkunftsorten, ihrer Altersstruktur und beruflichen Bildung sowie religiösen Zugehörigkeit wurden u.a. auch der Rechtsstatus nach BVFG, Unterbringungs- dauer in den einzelnen Durchgangsheimen und Daten in Zusammenhang mit der Wahrnehmung staatlicher Leistungen ermittelt. Die Erstaufnahmeeinrichtungen führten Tages-, Monats- und Jah- resstatistiken über die Aussiedler nach Herkunftsland, Alter, Beruf etc. und leiteten die angeforder- ten Angaben an das Bundesausgleichsamt in Bad Homburg weiter, wo die Einzelstatistiken erfasst und für das gesamte Bundesgebiet ausgewertet und veröffentlicht wurden. Mit der politischen Wende 1989/90 veränderten sich auch die Zuständigkeitsbereiche im Bezug auf die Aussiedler. Das Bundesverwaltungsamt übernahm allmählich alle auf Bundesebene liegenden Verwaltungstä- tigkeiten bei der Aufnahme von Aussiedlern, und so fiel zum 1. Januar 1992 auch die Führung der Statistiken vom Bundesausgleichsamt in das Aufgabengebiet des BVA in Köln.32 Das Führen der Statistiken diente der Optimierung des Eingliederungsprozesses und der Maßnahmen zur Integra-

29 Brandes: Die Deutschen in Russland, S. 131-132. 30 Ferstl / Hetzel: Wir sind immer die Fremden, S. 79-80. 31 Ferstl / Hetzel: Wir sind immer die Fremden, S. 81-83. 32 ndesarchiv Berlin (LAB), Sign. B Rep. 077, Nr. 1330, Der Präsident des Bundesausgleichsamtes in Bad Homburg an Verteiler K-Vt vom 4.12.1991.

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tion der Aussiedler. Grundlage hierzu war der § 97 des Bundesvertriebenengesetzes.33 Auch die Verteilung der Aussiedler auf die einzelnen Bundesländer in Anlehnung an den sog. Königsteiner Schlüssel34, setzte die genaue Kenntnis der Aussiedlerzahlen voraus.

Im Berliner Erstaufnahmelager in Marienfelde war zu jeder Zeit mindestens ein Mitarbeiter für die statistische Erfassung zuständig.35 Tagesaktuell wurden die Neuankömmlinge nach verschiedenen Kriterien erfasst, die im Laufe der Zeit allerdings Veränderungen oder Erweiterungen unterworfen waren. So wurden in den Jahren 1989 und 1998 Veränderungen bei den Rubriken zur Altersangabe und 1989 bei der Angabe zum Beruf durchgeführt und ab 1992 fielen Angaben zum unmittelbaren Einreiseort nach Berlin und über die Aufnahme in ein Durchgangsheim bzw. in eine private Un- terkunft weg. Dafür unterschied man seitdem in den Jahresstatistiken explizit nach Herkunftsland (zuvor lediglich Unterscheidung zwischen „Polen“ und „anderen Staaten des Warschauer Paktes“). Für bestimmte Zeiträume lassen sich aus den erhaltenen Dokumenten auch Angaben zur konfes- sionellen Zugehörigkeit oder Heimbelegung des Durchgangslagers machen, solche Rekonstrukti- onen sind allerdings nicht durchgehend möglich. Auf Weisung der Abteilung VI des Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben wurden die aufgenommenen Aussiedler seit 1997 zudem nach ihrem genauen Rechtsstatus erfasst.36 In den folgenden Kapiteln soll das Zahlenmaterial in den jeweiligen gesellschaftspolitischen Kontext mit besonderem Bezug zu Berlin eingeordnet werden.

4.1 Aussiedler in Deutschland

Spätestens seit 1950 galten die allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen gegen Deutsche als be- endet, wenngleich man sich allenthalben darüber im Klaren war, dass sich jenseits der Gren- zen der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik noch mehrere Millionen Deutschstämmige oder ehemalige deutsche Staatsangehörige befanden, denen die Einreise nach Deutschland grundsätzlich offen stehen sollte. Die Grundlage des Aussiedlerzuzugs bildete das Bundesvertriebenengesetz vom Mai 1953, das den Aussiedlern die rechtliche Gleichstellung und gezielte Maßnahmen zur beruflichen und sozialen Integration zusicherte.

Zwischen 1950 und 1987 kamen durchschnittlich rund 35.000 Aussiedler jährlich nach Deutsch- land, von denen allein etwa 848.000 Menschen bzw. 62% aus Polen kamen. Dem standen nur 206.000 bzw. 15% rumäniendeutsche und etwa 109.000 bzw. 8% russlanddeutsche Aussiedler ge- genüber. Die übrigen knapp über 200.000 Aussiedler stammten überwiegend aus der ehemaligen Tschechoslowakei und Jugoslawien sowie aus Ungarn und aus sonstigen Ländern.37

33 Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (BVFG), Bundesgesetzblatt Jahrgang 2007 Teil I Nr. 40, ausge- geben zu Bonn am 17. August 2007, S. 1910. 34 Ursprünglich ein Staatsabkommen der Länder von 1949 über die Finanzierung wissenschaftlicher Forschungseinrichtungen. Später u.a. auch als Verteilungsschlüssel für Zuwanderer auf Grundlage von Steueraufkommen (zwei Drittel) und Bevölkerungszahl (ein Drittel) verwendet. Die jährliche Neuberechnung erfolgt durch die Bund-Länder-Kommission. 35 LAB B Rep. 077, Nr. 738, 739, Geschäftsverteilungspläne der Senatsverwaltung für Arbeit und Soziales von 1962, 1970 und 1975; LAB B Rep. 077, Nr. 1323, Der Senator für Gesundheit, Soziales und Familie, Geschäftsverteilungsplan des Durchgangsheimes für Aus- siedler und Zuwanderer, Stand März 85; LAB Rep. 077, Nr. 1238, Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben, Aufstellung der Dienstposten Abteilung VI, Geschäftsverteilungsplan 1996. 36 LAB B Rep. 077, Nr. 1330, 1331. 37 Info-Dienst Deutsche Aussiedler. S. 10; Bade, Klaus J.: Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegen- wart, München 2000, S. 413-414.

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Tabelle 1: Entwicklung der Aussiedlerzahlen für Deutschland und Berlin38

Aufnahmen in Zuzug nach Deutsch- Aufnahmen in DAZ/ Jahr Zuzug nach Jahr DAZ/ZAB land ZAB 1950 47.497 - 1979 54.887 1.140 1951 24.762 - 1980 52.071 985 1952 13.369 - 1981 69.455 2.271 1953 15.410 - 1982 48.170 803 1954 15.424 - 1983 37.925 835 1955 15.788 - 1984 36.459 1.016 1956 31.345 - 1985 38.968 1.368 1957 113.946 - 1986 42.788 1.877 1958 132.228 - 1987 78.523 4.129 1959 28.450 - 1988 202.673 10.501 1960 19.169 - 1989 377.055 11.806 1961 17.161 - 1990 397.073 1.222 1962 16.415 - 1991 221.995 294 1963 15.483 - 1992 230.565 5.147 1964 20.842 232 1993 218.888 4.931 1965 24.342 402 1994 222.591 5.761 1966 28.193 578 1995 217.898 5.366 1967 26.475 331 1996 177.751 4.827 1968 23.397 310 1997 134.419 3.681 1969 30.039 364 1998 103.080 2.758 1970 19.444 244 1999 104.916 2.772 1971 33.637 617 2000 95.615 2.663 1972 23.895 728 2001 98.484 2.624 1973 23.063 573 2002 91.416 2.436 1974 24.507 551 2003 72.885 1.973 1975 19.657 364 2004 59.093 1.607 1976 44.402 839 2005 35.522 1.743 1977 54.251 1.015 2006 7.747 393 1978 58.123 923 2007 5.792 280

Während dieser Zeit gab es mehrere Hochphasen des Aussiedlerzuzugs, die als Folge politischer Ereignisse und bilateraler Verträge zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den jeweiligen Ausgangsländern zu verstehen sind. Durch die Vermittlung des Roten Kreuzes wurde zwischen 1955 und 1959 ca. 250.000 Deutschstämmigen aus Polen im Zuge der Familienzusammenführung die

38 Quellen: LAB B Rep. 077, Nr. 1331; Info-Dienst Deutsche Aussiedler. Zahlen. Daten. Fakten, Nr. 116 (BMI Bonn, September 2003), S. 10; LAGeSo, Übersicht über das Referat II D, Berlin 2007, S. 9.

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Einreise nach West-Deutschland ermöglicht. Danach bestritt die polnische Regierung die Existenz einer deutschen Minderheit im Lande, obgleich in den 1960er Jahren weiterhin jährlich zwischen 7.000 und 17.000 Menschen das Land verließen, die in Deutschland den Status des Aussiedlers zugesprochen bekamen.39 In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre wurde den Russlanddeutschen im Kontext des Adenauer-Besuchs in der Sowjetunion und der Aufhebung der Kommandanturen in geringem Ausmaß die Ausreise nach Deutschland ermöglicht. Mehr als 15.000 Menschen verließen die UdSSR, die Anzahl der Ausreiseanträge belief sich aber bereits 1957 auf über 100.000. Einzig zulässiger Ausreisegrund war die Familienzusammenführung nach Anforderung eines Verwandten ersten Grades aus der Bundesrepublik Deutschland. Da die Anträge oftmals publik gemacht wur- den und bisweilen im privaten und öffentlichen Leben zu Diskriminierungen führten, schreckten viele Russlanddeutsche von der Antragsstellung zurück, die darüber hinaus wenig Erfolg auf Ge- nehmigung der Ausreise versprach.40

Die zweite Hochphase des Aussiedlerzuzugs bahnte sich Ende der 1960er Jahre an. Neben den über 45.000 Sudetendeutschen, die zwischen 1967 und 1971 aus der Tschechoslowakei in die Bundesrepublik einreisten, stieg die Zahl der rumäniendeutschen Aussiedler kontinuierlich an. Reisten Mitte der 1960er Jahre jährlich nur wenige Hundert aus, so stieg diese Zahl von 1969 bis 1977 auf durchschnittlich über 5.800 Personen pro Jahr an.41 Vorausgegangen war im Jahre 1967 die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesregierung und der Regierung in Bukarest. Im Januar 1978 kam es dann zu einer Vereinbarung zwischen Bundeskanzler Helmut Schmidt und dem Generalsekretär der Rumänischen Kommunistischen Partei Nicolae Ceauşescu, die es jährlich 12.000 bis 16.000 Rumäniendeutschen ermöglichen sollte, in die Bundesrepublik Deutschland auszusiedeln. Im Gegenzug erklärte sich die Bundesregierung zu einer Zahlung von 5.000 DM pro Aussiedler an Rumänien bereit.42

Der am 7. Dezember 1970 während eines Polen-Besuchs von Bundeskanzler Willy Brandt im Rah- men der Ostverträge unterzeichnete Warschauer Vertrag, der in Deutschland u.a. aufgrund der fak- tischen Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als polnischer Westgrenze höchst umstritten, dennoch im Mai 1972 vom Bundestag ratifiziert worden war, bildete die Grundlage für den Anstieg der Zahl der Aussiedler aus Polen seit 1970. Im Jahre 1975 wurde das Ausreiseverfahren nach Verhand- lungen zwischen dem Ersten Sekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei Edward Gierek und Bundeskanzler Helmut Schmidt ausgedehnt, und sollte etwa 125.000 Personen pro Jahr die Ausreise nach Deutschland ermöglichen. Tatsächlich belief sich diese Zahl zwischen 1976 und 1982 im Schnitt auf rund 38.000 und fiel in den darauffolgenden Jahren bis 1986 um etwa 50%.43 Obgleich die erhoffte Zahl bei weitem verfehlt worden war, sorgte das Zustandekommen dieser Vereinbarung für mehr Gesprächsstoff als die Ursachen für das Nichterreichen des erhofften Aus- siedlerzustroms. Die Bundesregierung gewährte nämlich im Gegenzug dem finanziell angeschla- genen polnischen Staat einen Kredit in Höhe von 2,3 Milliarden DM. Wie auch bei den Zahlungen an den rumänischen Staat als Gegenleistung für jeden ausgesiedelten Deutschen, reagierte die breite Öffentlichkeit auch in diesem Zusammenhang empört und sprach von einem Kopfgeld, das

39 Info-Dienst Deutsche Aussiedler. S. 10; Rogall: Die Deutschen in Polen, S. 6-7. 40 Info-Dienst Deutsche Aussiedler. S. 10; Ingenhorst: Die Rußlanddeutschen, S. 59. 41 Info-Dienst Deutsche Aussiedler. S. 10. 42 Gabanyi: Geschichte der Deutschen in Rumänien, S. 13. 43 Info-Dienst Deutsche Aussiedler. S. 10; Rogall: Die Deutschen in Polen, S. 7.

Seite 18 Aussiedler in Deutschland und Berlin

man für jeden Aussiedler zahlen müsste, wenngleich es sich in diesem Falle um einen Kredit und nicht um eine Ablöse handelte.44

Der politische Umbruch in den sozialistischen Staaten Ostmittel-, Südost- und Osteuropas sorgte für ein in dieser Form nicht erwartetes Anschwellen des Aussiedlerzuzugs einerseits, und für nun einsetzende rechtliche Veränderungen im Kontext des Aussiedlerrechts von Seiten der Bundes- regierung andererseits. Betrachteten die gesellschaftspolitischen Eliten die Aussiedler bis in die 1980er Jahre hinein grundsätzlich mit Wohlwollen als eine relativ leicht zu integrierende Gruppe mit einer günstigen Alters- und Erwerbsstruktur, gegenüber der man darüber hinaus aufgrund ih- res Nachkriegsschicksals eine kollektive moralische Verpflichtung empfand, sie aber auch ger- ne als Beweis für die Unmenschlichkeit des sozialistischen Systems einsetzte, so bedeutete das Anschwellen des Zuzugs in den Jahren 1989 und 1990 auf fast 400.000 Menschen eine immens große Herausforderung für Politik und Gesellschaft. So meldeten sich zwischen 1988 und Sommer 1990 über 520.000 Personen aus Polen, sehr viele davon mit Touristenvisum eingereist, in den Erst- aufnahmelagern des Bundes. Aus Rumänien wiederum kamen im Zeitraum von 1989 bis 1991 fast 167.000 Rumäniendeutsche in die Bundesrepublik Deutschland, was einem Anteil von 39% aller aus Rumänien ausgesiedelten Deutschen seit 1950 entsprach. Insbesondere bei den Rumänien- deutschen zeigte sich eine Art Torschlusspanik, die durch die Wirren des Transformationsprozes- ses nach dem Niedergang des Ceauşescu-Regimes bedingt war, und das soziale und kulturelle deutsche Leben in Rumänien fast gänzlich beendete.45

Mit der Verabschiedung des Aussiedleraufnahmegesetzes im Jahre 1990 und der Begrenzung des Aussiedlerzuzugs auf 220.000 Personen pro Jahr, wirkte die Bundesregierung dem weiteren unkontrollierten Zuzug aus allen Ländern des zusammenbrechenden Ostblocks entgegen. Ein Ver- treibungsdruck gegenüber den Deutschstämmigen wurde für alle ehemaligen Staaten des Ost- blocks außerhalb der ehemaligen Sowjetunion nicht mehr pauschal angenommen. Freilich konnte der Aussiedlerstatus auch weiterhin beantragt werden, allerdings nur noch über die deutschen Konsulate im Heimatland. Zudem musste ein Vertreibungsdruck individuell glaubhaft gemacht wer- den.46 Als Ergebnis dieser Politik pendelte sich die Gesamtzahl der Aussiedler ab 1991 bis 1995 auf etwa 220.000 Personen jährlich ein, sank von 1996 bis 1998 um etwa 20% bis 25% und stag- nierte seit 1998 auf durchschnittlich rund 100.000 Personen pro Jahr. Seit 2003 ging die Zahl um bis zu 40% zurück und betrug 2006 nur noch etwa 20% des Vorjahreswertes (siehe Tabelle 1). Im Jahre 2009 kamen noch 3.360 Aussiedler bundesweit, und in den ersten sechs Monaten des Jahres 2010 wurden nur noch 949 Aussiedler registriert.47 Zudem veränderten sich nunmehr die Herkunftsstaaten der Aussiedler völlig. An die Stelle der polnischen Aussiedler traten russland- deutsche Aussiedler aus Russland, Kasachstan, der Ukraine, dem Kaukasus und den weiteren mittelasiatischen GUS-Staaten. Lag ihr Anteil 1990 noch bei rund 37%, betrug er ein Jahr darauf bereits über 66%, im Jahre 1992 fast 85% und seit 1993 lag er kontinuierlich bei 95% und mehr.48

44 Bade: Europa in Bewegung, S. 413. 45 Info-Dienst Deutsche Aussiedler. S. 10; Gabanyi: Geschichte der Deutschen in Rumänien, S. 13. 46 Klekowski von Koppenfels, Amanda: Willkommene Deutsche oder tolerierte Fremde? Aussiedlerpolitik und -verwaltung in der Bun- desrepublik Deutschland seit den 1950er Jahren, in: Oltmer, Jochen (Hg.): Migration steuern und verwalten. Deutschland vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Schriften des Instituts für Migrationsforschung und interkulturelle Studien der Universität Osnabrück, Bd. 12), Göttingen 2003, S. 409. 47 BVA Köln, Monatsstatistik Juni 2010. 48 Info-Dienst Deutsche Aussiedler. S. 10.

Seite 19 Aussiedler in Deutschland und Berlin

Insgesamt nahm die Bundesrepublik Deutschland zwischen 1950 und Juni 2010 summa summa- rum 4.504.092 Aussiedler auf.

4.2 Aussiedler in Berlin

Die gesetzlichen Rahmenbedingungen und bilateralen Verträge bzw. Vereinbarungen der Bun- desrepublik Deutschland mit den Ausgangsstaaten der deutschen Aussiedler bildeten auch die Grundlage für ihren Zuzug nach Berlin, wenngleich sich für die Stadt Berlin als Enklave umgeben vom Territorium der Deutschen Demokratischen Republik und damit innerhalb des sowjetischen Einflussbereichs einige besondere Situationen ergaben. Der Aussiedlerzuzug nach Berlin begann erst im Jahre 1964.49 Bis dahin kamen Aussiedler zwar auch nach Berlin, jedoch wurden sie direkt nach Westdeutschland weitergeleitet. Im Jahre 1958 betraf dies allein 4.869 Personen und zwi- schen 1959 und 1963 insgesamt 3.624 Personen. Auch im Jahre 1964 wurden noch mehr als 40% der in Berlin ankommenden Aussiedler in die Bundesrepublik Deutschland ausgeflogen, allerdings sank dieser Wert in den folgenden Jahren deutlich.50 Die wichtigste Ursache für die unmittelbare Weiterleitung der Aussiedler nach Westdeutschland war die Tatsache, dass die Berliner Behörden bis zum Mauerbau im Jahre 1961 im dramatischen Ausmaß DDR-Flüchtlinge und Übersiedler auf- nehmen mussten und deren administrative Ersterfassung durchzuführen hatten. Bis zum besagten Jahr durchliefen 1.159.203 Aufnahmesuchende aus der DDR das Notaufnahmelager in Marienfel- de, von wo aus der überwiegende Teil nach der Erfassung auf das Staatsgebiet der Bundesrepub- lik Deutschland ausgeflogen wurde. Nach dem Mauerbau brach diese Zahl drastisch ein, was die amtlichen Stellen dazu veranlasste, die zur Verfügung stehenden administrativen Ressourcen und Unterkünfte auch zur Aussiedleraufnahme zu nutzen, obgleich die DDR-Flüchtlinge und Übersiedler bis zur politischen Wende 1989/90 auch weiterhin die größte Aufnahmegruppe blieben.51 Die Ein- reise polnischer Staatsbürger nach Berlin wurde zudem bis zur Wiedervereinigung Deutschlands durch die bestehende Visumsfreiheit zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen begünstigt.52

Eine Besonderheit des Aussiedlerzuzugs nach Berlin war die Herkunft der Aussiedler und die Ab- lösung der Aussiedler aus Polen durch russlanddeutsche Aussiedler als größte Aufnahmegruppe zum Jahreswechsel 1991/92. Zwar ist davon auszugehen, dass bereits seit 1964 überwiegend polnische Aussiedler nach Berlin zuwanderten, jedoch lässt sich das anhand von Quellenmaterial erst ab 1972 sicher nachweisen. Demnach kamen zwischen 1972 und 1991 von insgesamt 43.240 Aussiedlern 41.431 aus Polen, was einem Anteil von 95,82% entspricht. Auch unter Einbezug der Aussiedlerzahlen seit 1964 dürfte sich dieser prozentuelle Anteil kaum ändern. Zieht man zum Ver- gleich die bundesdeutsche Verteilung heran, so wird die besondere Berliner Situation sehr deut- lich, denn zwischen 1950 und 1991 kamen bundesweit „lediglich“ etwa 54% aller Aussiedler aus Polen.53

49 Wendt, Gerd / Curth, Roland: Fluchtziel Berlin. Die Geschichte des Notaufnahmelagers Berlin-Marienfelde, Berlin 2000, S. 48. 50 LAB B Rep. 077, Nr. 1328, Schreiben VII C: Angekommene Aussiedler in Berlin. 51 Wendt / Curth: Fluchtziel Berlin, S. 21-22. 52 Köhler, Günter: Notaufnahme. Evangelische Flüchtlingsseelsorge. Vierzig Jahre im Dienst für Umsiedler, Aussiedler und Übersiedler in Berlin, Berlin 1991, S. 23. 53 zw

Seite 20 Aussiedler in Deutschland und Berlin

Der immens hohe Aussiedlerzustrom seit 1988 nötigte die Bundesregierung zum Handeln. Im März 1990 wurde das Aussiedleraufnahmegesetz verabschiedet und auch Berlin handelte im gleichen Jahr. Der Aussiedlerzuzug wurde kurzzeitig gestoppt und die sog. „Volksliste 3-Aussiedler“ wurden seit Februar 1990 in Berlin nicht mehr anerkannt. Zu einem großen Problem wurde die bereits er- wähnte Visumsbefreiung für die Einreise nach Ost-Berlin und die generell hohen Zahlen der ledig- lich mit Touristenvisa ausgestatteten Aussiedler. Vorausgegangen war im Jahre 1989 der vorläufige Höhepunkt des Aussiedlerzustroms.

Tabelle 2: Aussiedlerzuzug nach Berlin zwischen 1964 und 1991 54

Heim- Unter- Private Unter- Zuzug nach Direkt nach Über andere In die BRD Jahr Davon aus Polen bringung von bringung von Berlin Berlin Lager ausgeflogen Gesamt Gesamt 1964 232 k.A. - - - - - 1965 402 k.A. - - - - - 1966 578 k.A. - - - - - 1967 331 k.A. - - - - - 1968 310 k.A. - - - - - 1969 364 k.A. - - - - - 1970 244 143 - - - - 48 1971 617 560 - - - - 118 1972 728 606 594 134 646 82 72 1973 573 372 431 142 496 77 97 1974 551 418 439 112 423 128 59 1975 364 261 243 121 282 82 10 1976 839 739 707 132 734 105 74 1977 1.015 914 916 99 871 144 44 1978 923 874 850 73 848 75 65 1979 1.140 1.066 1.033 107 1.084 56 48 1980 985 910 902 83 935 50 18 1981 2.271 2.205 1.969 302 2.238 33 k.A. 1982 803 746 607 196 772 31 k.A. 1983 835 784 627 208 809 26 k.A. 1984 1.016 950 663 353 988 28 k.A. 1985 1.368 1.296 900 468 1.338 30 k.A. 1986 1.877 1.828 1. 143 734 1.855 22 k.A. 1987 4.129 4.045 2.732 1.397 4.062 67 k.A. 1988 10.501 10.436 6.384 4.117 10.400 101 k.A. 1989 11.806 11.726 10.017 1.789 11.729 77 3.642 1990 1.222 1.069 956 266 815 407 k.A. 1991 294 186 206 88 k.A. K.A. k.A. Gesamt 46.318 42.134 32.319 10.921 41.325 1.621 --

54 Quellen: LAB B Rep. 077, Nr. 1331, 1328

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Obgleich die Berliner Behörden in diesem Jahr über 11.800 Personen aufgenommen hatten, muss- ten sie weitere mehr als 3.600 Personen in das Erstaufnahmelager des Bundes nach Friedland in Niedersachsen weiterleiten, denn mit dem Mauerfall strömten zeitgleich Zehntausende DDR- Bürger nach West-Berlin.55

Nachdem sich die Lage in Berlin stabilisiert hatte und die Aussiedlerzahlen in den Jahren 1990 und 1991 stark rückläufig waren, begann der Zuzug ab 1992 wieder rapide anzusteigen und pendelte sich bis 1996 bei durchschnittlich rund 5.200 Neuzugängen jährlich ein. Bei ihnen handelte es sich nunmehr überwiegend um russlanddeutsche Aussiedler aus Russland und Kasachstan, der Ukraine sowie aus den mittelasiatischen Staaten der GUS und aus dem Kaukasus. Von den 44.939 Aussiedlern, die zwischen 1992 und 2003 in Berlin Aufnahme fanden, stammten 42.933 aus diesen Territorien der ehemaligen Sowjetunion. Die russlanddeutschen Aussiedler machten somit fast 96% aller in der Zentralen Aufnahmestelle des Bundes in Berlin-Marienfelde registrierten und aufgenom- menen Aussiedler aus. Anders als im Falle des Anteils der polnischen Aussiedler Berlins bis 1991 in Gegenüberstellung zu den bundesweiten Aussiedleranteilen nach Herkunftsländern, kommt dieser Wert dem bundesdeutschen Ergebnis sehr nahe.56 Zwischen 1964 und 2007 nahm Berlin insge- samt 95.379 Aussiedler auf, was einem Wert von 2,39% der bundesweit in diesem Zeitraum knapp vier Millionen aufgenommenen Aussiedler entspricht.

Tabelle 3: Aussiedlerzuzug nach Berlin zwischen 1992 und 2003 57

Baltische Jahr Russland Kasachstan Mittelasien* Polen Rumänien Ukraine Sonstige** Staaten 1992 1.759 2.086 388 550 255 27 68 14

1993 2.752 1.605 269 171 39 16 69 10

1994 3.457 1.831 240 69 25 35 91 13

1995 2.378 2.365 313 70 40 22 153 25

1996 2.264 2.024 281 40 12 49 131 26

1997 1.391 1.816 190 23 11 55 161 34

1998 1.449 968 164 10 2 32 126 7

1999 1.339 1.067 158 3 4 15 133 53

2000 1.376 1.034 113 6 8 13 82 31

2001 1.363 895 96 12 2 17 186 53

2002 1.428 747 67 17 4 44 110 19

2003 1.194 581 59 10 - 5 116 8

Gesamt 22.150 17.019 2.338 981 402 330 1.426 293

55 Ferstl / Hetzel: Wir sind immer die Fremden, S. 83-84. 56 Vgl. Tabelle 3; LAB B Rep. 077, Nr. 1331; Info-Dienst Deutsche Aussiedler. S. 10. 57 Quellen: LAB B Rep. 077, Nr. 1331. * Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Kirgisien, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan ** Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, China, Jugoslawien, Republik Moldau, Tschechien, Weißrussland

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Diagramm 1: Prozentuelle Aussiedlerverteilung nach Herkunft in Berlin 1992 bis 200358

Bereits in den 1970er Jahren wurde der demographische Wandel der bundesdeutschen Gesell- schaft thematisiert, was zu heftigen Debatten über Ursachen und Lösungsansätze in Wissenschaft und Politik führte. Diese Problematik ging auch an West-Berlin nicht vorbei. So konstatierte die Rhei- nische Post im April 1976: „Die Bevölkerungszahl Westberlins sinkt, zeigt in ihrer Struktur eine zu- nehmende Rentner-Lastigkeit.“59 Auf Grundlage der sog. Berliner Aussiedleraktion aus den 1970er Jahren soll an dieser Stelle die günstige Altersstruktur der Aussiedler insgesamt dargestellt und in den gesellschaftlichen Kontext gesetzt werden, der sich ohne Zweifel seit dem Ende der 1980er Jahre negativ veränderte.

Im November 1975 beschloss der Berliner Senat aus arbeitsmarkt- und bevölkerungspolitischen Gesichtspunkten den Zuzug von Aussiedlern aus Polen im Besonderen zu fördern.60 Grundlage dieses Beschlusses war zweifellos die günstige Altersstruktur der Aussiedler aus Polen und die damit in aller Regel einhergehende günstige Erwerbsstruktur. Fast 69% der zwischen 1972 und 1991 nach Berlin gekommenen Aussiedler waren im erwerbsfähigen Alter, also zwischen 16 bzw. 18 und 65 Jahren alt, 54% sogar zwischen 16 bzw. 18 und 45 Jahren alt.61 Hinzu kam der mit über 27% sehr hohe Anteil von Kindern und Jugendlichen, der sich positiv auf die immer älter werdende Berliner Gesellschaft auswirken sollte und dazu beitrug, die Aussiedler aus Polen zu einer begehr- ten Zuwanderergruppe zu machen.

58 Quellen: LAB B Rep. 077, Nr. 1331. 59 LAB B Rep. 077, Nr. 1167, Heinemann, Klaus: Westberlin wirbt um die Aussiedler aus Polen. Chancen für einen neuen Anfang an der Spree. Die Hintergründe, in: Rheinische Post vom 3.4.1976. 60 LAB B Rep. 077, Nr. 1165, SenArbSoz vom 25.3.1976, Politik und Regelungen...; LAB B Rep. 077, Nr. 1167, SenArbSoz VII C, Senats- vorlage zur Beschlussfassung, Berlin den 22.10.1975. 61 Die Rubriken zu den Altersangaben unterlagen im Laufe der Zeit Veränderungen (siehe Tabelle). Daher mussten minimale Abwei- chungen bzw. Ungenauigkeiten bei den prozentualen Angaben in Kauf genommen werden.

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Tabelle 4: Altersstruktur der Aussiedler in Berlin 1972 bis 200362

0 bis 18 18 bis 24 24 bis 45 45 bis 65 über 65 Jahr männlich weiblich männlich weiblich männlich weiblich männlich weiblich männlich weiblich

1972 96 101 31 29 101 121 67 98 33 47 1973 65 59 26 28 120 113 52 64 14 32 1974 87 71 29 39 81 91 43 63 16 31 1975 38 32 14 33 60 64 25 61 12 25 1976 118 128 39 59 143 136 71 96 15 34 1977 151 108 53 71 193 185 71 96 33 54 1978 114 104 41 67 167 167 89 113 19 42 1979 147 133 53 70 211 196 113 137 31 49 1980 104 98 51 81 222 183 87 94 26 39 1981 259 255 165 169 504 447 168 213 30 61 1982 84 86 34 29 94 129 108 153 41 45 1983 106 94 28 41 127 163 102 122 22 30 1984 111 93 31 45 254 207 103 119 19 24 1985 173 145 45 89 320 297 111 138 20 30 1986 259 219 69 102 470 396 138 159 25 40 1987 577 605 173 236 1.007 965 210 255 43 48 1988 1.732 1.538 463 557 2.591 2.253 580 575 95 117 0 bis 16 16 bis 24 24 bis 45 45 bis 65 über 65 1989 1.721 1.725 994 913 2.667 2.202 720 652 107 105 1990 147 157 96 99 233 235 107 114 17 17 1991 31 32 22 29 30 51 41 39 2 17 1992 843 865 311 283 953 936 312 366 110 163 1993 794 756 300 277 894 896 315 353 128 218 1994 884 802 378 373 976 1.053 387 454 147 307 1995 790 751 395 334 875 916 412 474 153 266 1996 671 632 373 365 810 813 373 435 129 226 1997 493 487 279 301 593 645 272 443 101 167 0 bis 16 16 bis 27 27 bis 45 56 bis 65 über 65 1998 357 338 270 257 401 424 205 271 96 139 1999 329 331 282 310 394 403 217 268 78 160 2000 321 312 285 290 354 388 236 274 69 134 2001 325 279 279 294 343 389 255 276 67 116 2002 274 281 271 297 342 308 209 274 67 113 2003 207 202 241 210 272 268 183 228 68 94

Gesamt 12.408 11.819 6.121 6.377 16.802 16.040 6.382 7.477 1.833 2.990

Anfang 1976 startete das Land Berlin die „Berlin-Bus-Werbeaktion“. Zwei Teams bereisten 18 bundesdeutsche Städte und sprachen bei Arbeitsämtern, Stadtverwaltungen und einer Reihe von Leitern von Durchgangsheimen vor. Zugleich wurde eine Werbekampagne in den Erstaufnahmela-

62 Quellen: LAB B Rep. 077, Nr. 1331.

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gern des Bundes mit deutsch-polnischen Plakaten, Informationsbroschüren und einem Werbefilm („Leben und Arbeiten - Berlin“) gestartet. Die Zahl der Teilnehmer an den Beratungsgesprächen, bei denen auch ein von der Caritas abgestellter polnisch sprechender Mitarbeiter anwesend war, blieb jedoch relativ gering. Die meisten angesprochenen Aussiedler äußerten Bedenken über die geopolitische Lage Berlins, konkret zur Nähe zum kommunistischen Einflussbereich, dem man ge- rade mit der Aussiedlung entfliehen wollte. Viele Aussiedler sahen zudem ihre Zukunft in der Nähe ihrer in Westdeutschland lebenden Familien.63 Darin sah auch der Berliner Senator für Arbeit und Soziales die Hauptursache für das geringe Interesse an einem Umzug nach Berlin.64 Tatsächlich blieben die Zahlen weit hinter den Erwartungen zurück. Der erhoffte Zuzug von 2.000 Aussiedlern jährlich wurde nicht einmal annähernd erreicht, und auch der bescheiden kalkulierte Jahreszu- gang von 1.000 Aussiedler blieb oft unerreicht. So kamen von den insgesamt 839 Aussiedlern des Jahres 1976 gerade einmal 105 über andere Erstaufnahmelager nach Berlin, 734 fanden den Weg direkt nach Berlin (vgl. Tabelle 2).65 Und das, obwohl die Berliner Wirtschaft in den 1970er Jahren insbesondere an Handwerkern und Facharbeitern sehr interessiert war, da die zumeist ungelernten Gastarbeiter diese Lücken nicht schließen konnten. Wer in dieser Zeit nach Berlin kam, fand in der Regel innerhalb weniger Wochen einen seiner Ausbildung entsprechenden Arbeitsplatz.66

Diagramm 2: Altersstruktur der Aussiedler 1972 bis 1991 in Prozent67

Insgesamt erleichterte die günstige Altersstruktur die Integration der Aussiedler in Berlin. Arbeits- fähige Erwachsene - insbesondere die Männer - kamen auch in den 1980ern noch sehr rasch an einen qualifizierten Arbeitsplatz und so konnten die Familien ihr Leben schnell von staatlicher Hilfe unabhängig gestalten. Die zügig eintretende finanzielle und soziale Sicherheit förderte zwangsläu- fig auch die Integration der Kinder und Jugendlichen. Die seit den 1980er Jahren immer spürbarer

63 LAB B Rep. 077, Nr. 1166, Bericht der Inspektionsfahrt 1976, Berlin den 25.2.1976. 64 „Die Bereitschaft der Aussiedler, ohne familiäre Bindungen nach Berlin zu kommen, ist äußerst gering.“ LAB B Rep. 077, Nr. 29 Zu- gang Juni 2010, SenArbSoz VII C an den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Berlin den 13.4.1976. 65 LAB B Rep. 077, Nr. 1227, Hat der Senat von Berlin die Rechnung ohne Polen gemacht?, Spandauer Volkszeitung vom 3.2.1977. 66 LAB B Rep. 077, Nr. 1165, SenArbSoz vom 25.3.1976, Politik und Regelungen...; LAB B Rep. 077, Nr. 1167, Heinemann: Westberlin wirbt, in: Rheinische Post vom 3.4.1976. 67 Quellen: LAB B Rep. 077, Nr. 1331.

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werdenden strukturellen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, die nach und nach einsetzenden finanziellen Kürzungen bei den Eingliederungsmaßnahmen für Aussiedler und die sich seit der Wendezeit verändernde gesellschaftliche Akzeptanz für die nun immer größer werdende und als Fremde wahrgenommene Gruppe der Aussiedler, wirkten sich sehr negativ auf die Ausgangssitu- ation der nunmehr zumeist russlanddeutschen Aussiedler aus.

Diagramm 3: Altersstruktur der Aussiedler 1992 bis 2003 in Prozent68

Der Kontrast der beiden Zuwanderungsphasen von Aussiedlern nach Berlin zeigt jedoch eindeutig, dass veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen die Integration in hohem Maße negativ beeinflussen können. Sich zu einer bestimmten Zeit überaus positiv auswirkende Eingliederungs- voraussetzungen, die von der zuwandernden Gruppe aus der Ausgangsgesellschaft in die Zielge- sellschaft mitgebracht werden, wie etwa eine günstige Alters- und Erwerbsstruktur (siehe Kapitel 9.3) der Gruppe als Ganzes, verpuffen bei sich verschlechternden Eingliederungsbedingungen nahezu wirkungslos.

4.3 Organisation der Heimunterbringung in Berlin

Die größte Herausforderung der Berliner Behörden im Zusammenhang mit dem Zuzug von Zu- wanderern war ihre Erstversorgung mitsamt administrativer Registrierung, Heimunterbringung und Verpflegung. Diese Problematik betraf sowohl Aussiedler und DDR-Flüchtlinge und Übersiedler als auch jüdische Kontingentflüchtlinge und Asylbewerber. Zwar war man stets bemüht, die notwen- digen Vorkehrungen gemäß der Veränderungen auf politischer und rechtlicher Ebene zu treffen, doch war es unmöglich vorherzusehen, wann genau sich eine Hochphase des Zuzugs auf Berlin auswirken wird und insbesondere welche konkreten Zahlen man zu erwarten hat. Seit den 1950er Jahren wurde auf einen starken Zuwachs der Zuwandererzahlen mit der Anmietung von Heimen bzw. Lagerräumen oder ehemaligen Fabrikgebäuden des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), der Caritas, der Arbeiterwohlfahrt (AWO) oder kommunaler Träger reagiert.69 Dieses Vorgehen war

68 Quellen: LAB B Rep. 077, Nr. 1331. 69 Köhler: Notaufnahme, S. 116-126

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zwar zum jeweiligen Zeitpunkt der Anmietung kostenintensiv, allerdings konnten nicht mehr benö- tigte Gebäude nach Abschluss einer Hochphase des Zuzugs relativ problemlos gekündigt werden, und sich so das Problem der Unterhaltung der Gebäude erübrigte. Der erste Einschnitt erfolgte im Jahre 1961 mit dem Mauerbau. Praktisch von einem auf den anderen Tag waren das zuvor vollkom- men überfüllte Marienfelder Notaufnahmelager und mehrere Nebenstellen nicht mehr annähernd ausgelastet. Ein Teil der Unterkünfte im westlichen Abschnitt des Geländes wurde der städtischen Wohnungsbaugesellschaft DEGEWO übergeben und zu Mietwohnungen umgewandelt. Drei Jahre später lief der Aussiedlerzuzug und -verbleib in Berlin an. Neben den Aussiedlern kamen aber auch weiterhin DDR-Flüchtlinge und von der Bundesregierung aus DDR-Gefängnissen freigekaufte Häftlinge. Die volle Auslastung wurde im Jahre 1971 erstmals wieder erreicht.70

Ab Mitte der 1970er Jahre und im Kontext des anwachsenden Aussiedlerzustroms, der auch Berlin betraf - wenn auch nicht in der erhofften Höhe -, musste die Weiterleitung der Neuankömmlinge in angemietete Gebäude in Betracht gezogen werden. Zu den DDR-Flüchtlingen und Aussiedlern kamen seit 1974 verstärkt Personen jüdischer Herkunft aus der Sowjetunion nach Berlin. Bis 1980 waren dies 2.482 Personen.71 Zwar war ihr rechtlicher Status nicht immer klar, aber zumindest bis zur Klärung der Einzelfälle fanden die Menschen ebenfalls eine Bleibe im Notaufnahmelager oder einem der angemieteten Heime, was allerdings mehrere Monate dauern konnte. Zudem lag in diesem Zeitraum die durchschnittliche Verweildauer im Durchgangsheim für Familien mit Kindern bei bis zu acht Monaten, bisweilen auch länger72, bei stetig abnehmender Zahl der Ausflüge nach Westdeutschland (siehe Tabelle 2). Die schwierige Lage erreichte im Jahre 1981 ihren vorläufigen Höhepunkt. In diesem Jahr kamen mehr als 3.200 Übersiedler und Flüchtlinge aus der DDR und fast 2.300 Aussiedler aus Polen. Das auf knapp 700 Personen angelegte Durchgangslager in Ma- rienfelde hatte für dieses Jahr eine durchschnittliche Auslastung von 798 Personen, zudem waren acht weitere Wohnheime voll ausgelastet.73 Zwischenzeitlich spitzte sich die Lage noch wesentlich stärker zu. So befanden sich Ende Oktober 1981 insgesamt 1.700 Personen im Marienfelder Durch- gangslager, was eine sehr angespannte soziale Situation unter den Bewohnern hervorrief. Selbst die Flure und der Speisesaal wurden zu Schlafplätzen umgewandelt und mehrere Familien muss- ten Wohnungen und sogar einzelne Zimmer teilen.74 Zugleich befanden sich in Berlin etwa 15.000 Asylbewerber, für die ebenfalls eine Unterbringung organisiert werden musste. Im August 1981 sah sich der Berliner Senat offenbar außerstande, die Heimunterbringung in städtischen und angemie- teten Heimen sicherzustellen, und beschloss den Bau weiterer Durchgangsheime in Fertigbau- weise auf geeigneten Grundstücken. Um die Situation in manchen Bezirken zu entspannen wurde zudem im November 1981 über einen Verteilungsschlüssel von Asylbewerbern auf die Bezirke beratschlagt.75 Offensichtlich war in diesem Zeitraum der immens hohe Zuzug von Asylbewerbern nach Berlin ausschlaggebend für die problematische Unterbringungssituation. Zwar waren auch

70 Wendt / Curth: Fluchtziel Berlin, S. 24-25. 71 LAB B Rep. 077, Nr. 1328, VII D 2 - 4664 - St vom 24.11.1980, Russische Zuwanderer im Lande Berlin. 72 LAB B Rep. 077, Nr. 1165, VIII C 31 vom 18.2.1976, Situationsbericht über Aussiedler im Durchgangsheim. 73 LAB B Rep. 077, Nr. 1328, SenGesFam DAZL 1, Berlin den 13.7.1983, Durchschnittsbelegung im DAZ in den Jahren 1973 bis 1983; Schreiben des Senats vom 11.4.1983, Zuzüge aus der DDR und Aussiedler; Schreiben o. A., Betr.: Freie Plätze in Wohnheimen, Stand: 22.6.1981. 74 LAB B Rep. 077, Nr. 1227, Das Lager platzt aus allen Nähten. Die Zahl der Aussiedler hat sich verdoppelt. In Marienfelde spürt man die Folgen, Berliner Zeitung vom 27.10.1981. 75 LAB B Rep. 077, Nr. 41, Ergebnisprotokoll der Abteilungsleiterbesprechung vom 6. 11.1981 [Der Senator für Gesundheit, Soziales und Familie, SenRef]; Ergebnisprotokoll der Sonder-Abteilungsleiterbesprechung vom 11.12.1981 [Der Senator für Gesundheit, Soziales und Familie, SenRef].

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die Zuwandererzahlen der Aussiedler und DDR-Flüchtlinge beachtlich, jedoch betrugen sie nur etwa ein Viertel des Gesamtzuzugs mitsamt den Asylbewerbern.

Die einsetzenden politischen Veränderungen in den Staaten des sowjetischen Einflussbe- reichs und die immer liberaler ausgelegten Ausreisebestimmungen sorgten seit 1987 für einen Aussiedlerzuzug ungeahnten Ausma- ßes. Für Berlin wurden die Jahre 1988 und 1989 zu Spitzenjahren des Zuzugs, was noch dadurch verstärkt wurde, dass nach dem Mau- erfall auch Zehntausende DDR-Bürger über den Westteil der Stadt in die Bundesrepublik gelangen wollten, und zumindest für einige Tage ebenfalls in Berlin untergebracht werden mussten, falls sie keine privaten Übernach- Bild 2: Durchgangsheim für Aussiedler und Zuwanderer 1989 tungsgelegenheiten fanden.

Bereits Ende Januar 1989 standen für die Aus- siedler und Zuwanderer insgesamt 11.003 Heimplätze in insgesamt 101 Wohnheimen zur Verfügung. Neben dem vollkommen überbeleg- ten Marienfelder Durchgangslager (Sollkapazität von 673 Plätzen in diesem Zeitraum zumeist um mehrere Hundert übertroffen) gab es eine Rei- he großer Wohnheime, u.a. die DRK-Wohnheime am Tempelhofer Ufer 11 (Sollkapazität: 200), in der Streitstraße 5 (330), in der Teilestraße 17 (232), in der Stresemannstraße 27 (280), dem Hubertusweg 60 (320), der Schlüterstraße 37 Bild 3: Durchgangsheim für Aussiedler und Zuwanderer 1989

(280), dem Schöneberger Ufer 75-77 (280) und in der Berliner Straße 27 in Reinickendorf (zunächst 347, später auf bis zu 600 Plätze er- weitert). Daneben wurden kleinere Wohnheime betrieben, deren Liste stetig erweitert wurde. Ende März 1989 standen bereits 12.651 Heim- plätze in insgesamt 102 Wohnheimen zuzüg- lich zwölf von Seiten der Bezirksämter Steglitz, Neukölln, Schöneberg, Wilmersdorf, Charlot- tenburg, Wedding, Reinickendorf, Zehlendorf, Tiergarten, Spandau, Kreuzberg und Tempel- hof zusätzlich bereitgestellten Wohngebäuden Bild 4: Durchgangsheim für Aussiedler und Zuwanderer 1989 bereit. Die Sollkapazitäten schwankten je nach

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Bezirk. Die meisten Aussiedler kamen in Reinickendorf (über 1700 Plätze), Kreuzberg (900), Neu- kölln (800) Wedding (700), Spandau (700), Charlottenburg (650), Wilmersdorf (600), Tiergarten (550), Tempelhof (530 ohne das Durchgangslager), Steglitz (460) und Zehlendorf (450) unter.76

Zum 1. Juli 1990 wurden die geltenden Aufnahme- und Eingliederungsbestimmungen für DDR- Flüchtlinge und Übersiedler außer Kraft gesetzt und im gleichen Jahr der Zuzug für Aussiedler aus den Staaten des sich auflösenden Ostblocks mit Ausnahme der Sowjetunion und der daraus hervorgehenden GUS-Staaten erheblich erschwert.77 Ab 1992 wurden russlanddeutsche Aussied- ler zur Hauptaufnahmegruppe. Das Höchstniveau dieses Zuzugs wurde im Jahre 1994 mit knapp 5.800 Personen erreicht, fiel danach allerdings stetig. Auch wenn die Aussiedlerzahl weiterhin die Aufnahmekapazität des Marienfelder Lagers um ein mehrfaches übertraf, und daher auch weiter- hin auf Nebenlager ausgewichen werden musste, so war deren Zahl in der Folge stark rückläufig. Außerdem wurde Berlin zum Asylbewerberabgabeland, da die Zahl der Antragsteller in Berlin die Aufnahmequote von 2,2% bei weitem überstieg Die Gesamtsituation entspannte sich außerdem aufgrund der Nivellierung des Asylgesetzes aus dem Jahre 1993. Mit ca. 5.000 Personen seit Anfang der 1990er Jahre waren jüdische Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion nun die größte Aufnahmegruppe neben den russlanddeutschen Aussiedlern.78 Mit dem stetigen Rückgang der Zahlen war nun der Abbau der Überkapazitäten ein zentrales Problem, dass auch den Bundesrechnungshof beschäftigte. Im Jahre 1999 plante das Bundesministerium des Innern daher, die Aufnahmekapazität aller Erstaufnahmelager von 8.000 auf 2.600 Plätze zu senken, was auch die Zukunft des Marienfelder Lagers bereits zu diesem Zeitpunkt in Frage stellte.79

Tabelle 5: Heimbelegung ZAB 1992 bis 2003 zum Stichtag 31. Dezember80

Stichtag Aussiedler Übersiedler Ausländer Sonstige Gesamt

31.12.1992 379 10 - - 389 31.12.1993 587 7 - 3 597 31.12.1994 434 4 - 6 444 31.12.1995 387 4 - 31 422 31.12.1996 485 - 37 12 534 31.12.1997 487 - 46 3 536 31.12.1998 329 - 47 6 382 31.12.1999 520 - 54 7 581 31.12.2000 661 - 74 12 747 31.12.2001 541 - 75 8 624 31.12.2002 488 - 87 1 576 31.12.2003 494 - 76 2 572

76 LAB B Rep. 077, Nr. 1194, Belegungsstatistiken Haupt- und Nebenlager Januar bis Februar 1989; LAB B Rep. 077, Nr. 1195, Bele- gungsstatistiken Haupt- und Nebenlager Januar bis Februar 1989. 77 Wendt / Curth: Fluchtziel Berlin, S. 30. 78 Beetz, Stephan / Kapphan, Andreas: Russischsprachige Zuwanderer in Berlin und Potsdam. Migrationsregime und ihr Einfluß auf die Wohnsituation von Zuwanderern, in: Owald, Ingrid / Voronkov, Viktor (Hgg.): Post-sowjetische Ethnizitäten. Ethnische Gemeinden in St. Petersburg und Berlin / Potsdam, Berlin 1997, S. 160-188. 79 LAB B Rep. 077, Nr. 1320, Informationsblatt des BMI, Bonn den 1.7.1999. 80 Quellen: LAB B Rep. 077, Nr. 1331.

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Im Zuge der Wiedervereinigung, die dem Zugang von DDR-Übersiedlern in das Marienfelder Lager endgültig die Grundlage entzog, wurden die Aussiedler in der seither als Zentrale Aufnahmestelle des Landes Berlin für Aussiedler (ZAB) betriebenen Einrichtung auch offiziell zur einzigen Aufnah- megruppe. Die letzten DDR-Übersiedler zogen bis 1995 aus, jedoch wurden seitdem auch Auslän- der im Durchgangslager untergebracht.

Tabelle 6: Unterbringungsleistung der ZAB im Vergleichszeitraum 1998 bis 200681

1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007

Zugänge / Aufnahmen 2.772 2.663 2.624 2.436 1.973 1.607 1.743 393 280

Prozentuale Wohnheim 84,0 96,6 100,4 91,8 85,2 60,15 72,6 32,9 48,2 (WH) - Auslastung

Durchschnittliche 6 3 2,7 2,74 3 3 3,5 4 4,3 Verweildauer im Monat

Tagesdurchschnittliche 556 600 665 585 543 431 520 162 130 WH-Belegung

Übernachtungen 16.926 18.296 20.227 17.170 16.488 13.136 15.848 4.933 3.974 pro Monat

Übernachtungen 203.113 219.554 242.718 213.358 197.853 157.636 190.173 59.199 47.688 pro Jahr

Bis einschließlich 2003 war die Aufnahmestelle ausgelastet, was sich mit dem starken Rückgang der Zuzüge in den folgenden Jahren änderte. Zudem ging die Verweildauer der Aussiedler zurück, da die Leitung der Aufnahmestelle große Bemühungen unternahm, die Neuankömmlinge bei der Wohnungssuche zu unterstützen, um ihnen auf diese Weise schnellstmöglich die soziale Eingliede- rung in der Stadt zu erleichtern.82

Im Hinblick auf die Unterbringungssituation in Berlin ergab sich während der 1970er und 1980er Jahre eine besondere Lage. Wie bereits erwähnt, machten viele Menschen den Zielort ihrer Aus- siedlung, den sie in dieser Zeit grundsätzlich frei wählen durften, von dem Wohnort der bereits in Deutschland lebenden Familienangehörigen abhängig. Diese als Familienzusammenführung be- zeichnete Form der Wanderungsbewegung, die sozialhistorisch innerhalb des Phänomens der Ket- tenwanderung zu positionieren ist, war für den Aussiedlerzuzug nach Berlin typisch. Obgleich sich die unmittelbare geographische Nähe West-Berlins zum kommunistischen System auf die Stadt als Zuzugsort für Aussiedler generell begrenzend auswirkte, waren Familienbande an sich und der durch die Wanderungstradition bedingte Informationsrückfluss aus der Zielregion offenbar stark und überzeugend genug, dass Tausende Aussiedler dem zum Trotze den direkten Weg nach Berlin fanden. Zahlenmäßig lässt sich das für die Jahre 1972 bis 1990 eindeutig belegen: 96,23% aller während dieses Zeitraums nach Berlin zugezogenen Aussiedler kamen auf direktem Wege in die alte preußische Hauptstadt. Dieser immens hohe prozentuelle Anteil zeugt von der Zielstrebigkeit der Zuwanderer, die durch die in den 1970ern stetig sinkende Zahl der Ausflüge aus Berlin auf das

81 aus: LAGeSo Berlin, Exposé 2007. 82 Interview mit der ehemaligen Leiterin der staatlichen Beratungsstelle auf dem ZAB-Gelände, Nelli Stanko, vom 11.10.2010.

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Gebiet der Bundesrepublik Deutschland noch untermauert wird. Besonders hoch war der direkte Zuzug nach Berlin in den 1980er Jahren, als sich sein Anteil auf teilweise über 99% belief. Dies ist ein Hinweis darauf, dass die in Berlin ankommenden Aussiedler auch weiterhin als Wegbereiter und Unterstützer für potenzielle Zuwanderungswillige bereitstanden. Zugleich war der Anteil der Men- schen, denen unmittelbar nach ihrer Ankunft in Berlin eine private Unterkunft zur Verfügung stand mit 25,26% bzw. insgesamt 10.921 Personen sehr hoch. Das heißt, dass etwas mehr als ein Viertel der zwischen 1972 und 1991 in Berlin angekommenen Aussiedler bei Verwandten oder Bekannten unterkamen bzw. auf deren Initiative hin bereits im Vorfeld eine Wohnung für die Neuankömmlinge angemietet wurde (vgl. Tabelle 2). Zwischen 1985 und 1988 lag der Wert der Privatwohnenden bei weit über 50%. Dies ist umso höher anzurechnen, als dass die Aufnahme von Menschen in den eigenen Haushalt mit Kosten für Verpflegung, Wasser, Strom etc. verbunden war, und bis zum Be- zug einer eigenen Wohnung mehrere Wochen oder gar Monate vergehen konnten, wohingegen die Unterkunft im Durchgangslager zwar beschwerlich und eng sein konnte, in den ersten Monaten al- lerdings kostenlos war. In den Spitzenjahren des Zuzugs 1989 und 1990 verringerte sich der Anteil der Privatwohnenden allerdings wieder drastisch auf entsprechend 17,86% und 27,82%, was die Anzahl der benötigten und zur Verfügung gestellten Heimplätze in diesen Jahren erklärt.

Eine beliebte Strategie auswanderungswilliger Aussiedler war, dass zunächst ein Elternteil (zumeist der Vater) in den Zielort ausreiste, Arbeit für sich und eine entsprechende Wohnung für die Familie suchte, und die Familienangehörigen erst danach hinzuholte, wobei dieses Vorgehen erst zum Ende der 1980er Jahre mit den Erleichterungen bei der Vergabe eines Touristenvisums in Polen ermöglicht wurde. Zuvor wäre man Gefahr gelaufen, für mehrere Jahre von seiner in der Ausgangs- region verbliebenen Familie getrennt zu werden. Im Übrigen wurde in der statistischen Erfassung ab 1989 die „Familienzusammenführung“ durch die „Ausreise mit Ausreisegenehmigung“ ersetzt.83 Dies definierte zwar den rechtlichen Einreisestatus genauer, verschleierte allerdings, dass es sich bei der Einreise nach Berlin mit Touristenvisum auch weiterhin oftmals um tatsächliche Familienzu- sammenführung handelte.

Im Zusammenhang mit den in privaten Unterkünften untergekommenen Aussiedlern ist auch ihre gleichmäßige Verteilung im Stadtgebiet erwähnenswert. Ein Beispiel soll dies veranschaulichen. Im Jahre 1973 fanden 19 Aussiedler eine private Unterkunft in Schöneberg, 17 in Charlottenburg, 14 in Reinickendorf, jeweils 13 in Steglitz, Tempelhof und Neukölln, 9 in Kreuzberg und weitere 15 in Spandau, Zehlendorf, Tiergarten und Wilmersdorf.84 Zwar existieren keine repräsentativen Zahlen für die Verteilung der Privatwohnenden für den gesamten Zeitraum der Siebziger- oder Achtziger- jahre, jedoch können diese Angaben zumindest ein Hinweis darauf sein, dass Unterstützung und strukturelle Eingliederungshilfen in der Anfangszeit des Aufenthaltes in der Aufnahmegesellschaft durch den Familien- und Bekanntenkreis auch ohne Koloniebildung (vgl. Kapitel 9.2) funktionierten, die wiederum nicht nur in Berlin seit 1990 zu einem Merkmal russlanddeutscher Siedlungspräfe- renz geworden ist.

83 LAB B Rep. 077, Nr. 1320, Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben - Landesversorgungsamt -, An die Empfänger der Statistik „Aussiedler und Zuwanderer“, vom 10.2.1989. 84 LAB B Rep. 077, Nr. 249, Statistik Aussiedler 1972 bis 1973, Verteilung der Privatwohnenden seit 1973, S. 148-149.

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5. Rechtliche Grundlagen des Aussiedlerzuzugs

Spätestens seit 1950 war für die deutsche Politik abzusehen, dass die hohe Zahl der außerhalb der Grenzen der Bundesrepublik Deutschland verbliebenen Deutschen, Deutschstämmigen und vor dem Kriegsende mit der deutschen Staatsbürgerschaft ausgestatteten Menschen für die Zukunft einen potenziellen Zuzug in nicht abzuschätzender Höhe und vorauszusehenden Hochphasen be- deuten könnte. Die moralische Verpflichtung gegenüber den Menschen, die sich nach Kriegsende innerhalb eines fremden und zudem undemokratischen Systems wiederfanden, welches sie über- dies für die Gräueltaten der Nationalsozialisten kollektiv zur Verantwortung zu ziehen trachtete, ist von der Politik angenommen worden und fand seinen rechtlichen Niederschlag im Bundesvertrie- benengesetz (BVFG, Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge) aus dem Jahre 1953. Das BVFG bildete die rechtlichen Rahmenbedingungen ab, unter denen Aussiedler nach Deutschland übersiedeln durften und in die bundesdeutsche Gesellschaft eingegliedert wur- den. Gleichwohl hing die Ausreise in hohem Maße von den Migrationsregimen in den Ausgangslän- dern ab und von in diesem Zusammenhang geschlossenen bilateralen Vereinbarungen durch die deutsche Regierung, von denen bereits die Rede war. Solange sich der Aussiedlerzuzug bis 1987 mit etwa 35.000 Personen jährlich in Grenzen hielt, für die Bundesrepublik Deutschland, als einem Vertreter der westlichen Welt, als Beleg für die Inhumanität kommunistischer Systeme diente85, die Aussiedleraufnahme allein schon unter dem humanitären Aspekt rechtfertigte und daher zumindest in der öffentlichen Meinung negative Stimmen unerwünscht waren, so änderte sich die Lage mit dem immensen Anstieg der Aussiedlerzahlen zum Ende der 1980er Jahre und den darüber hinaus auch mit der Wiedervereinigung zu tragenden finanziellen Lasten diametral. Das Aussiedleraufnah- megesetz und das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz leiteten eine Reihe den Aussiedlerzuzug und die Eingliederungsleistungen begrenzenden Regelungen ein, die in den folgenden Jahren etwa mit dem veränderten Wohnortzuweisungsgesetz oder den seit 1996 geforderten Sprachnachweis für Aussiedler nochmals verschärft wurden. Regierungs- und Verwaltungspositionen unterlagen somit je nach politischer Lage und Höhe des Aussiedlerzuzugs auch situativen wirtschaftlichen und administrativen Erwägungen, deren Sinnhaftigkeit in der zeitlichen Perspektive allerdings einer Neubewertung bedarf.

5.1 Aussiedlergesetzgebung - das Bundesvertriebenengesetz

Die grundsätzliche Problematik der Aussiedleraufnahme betraf die rechtliche Definition des „Deutschseins“ bzw. der juristischen Handhabe für die Anerkennung einer Person als Deutscher im Sinne des Art. 116 (1) des Grundgesetzes, auf dessen Grundlage die Zuerkennung der deut- schen Staatsbürgerschaft erfolgte, obgleich die Voraussetzungen dort in Bezug auf die Definition der Volkszugehörigkeit nur vage formuliert sind. Ein Deutscher im Sinne des Grundgesetzes ist demnach, „wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deut- scher Volkszugehöriger oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 gefunden hat.“86 Das Bundesvertriebenenge-

85 Klekowski von Koppenfels: Willkommene Deutsche oder tolerierte Fremde?, S. 399-400. 86 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Ausfertigungsdatum: 23.5.1949, zuletzt geändert durch: Art. 1 G v. 21.7.2010 I 944, S. 43.

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setz formuliert im § 6 (1) die Volkszugehörigkeit dagegen genauer: „Deutscher Volkszugehöriger im Sinne dieses Gesetzes ist, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung und Kultur bestätigt wird.“87 Gemäß § 1 des BVFG ist die Anerkennung als Vertriebene und der Statuserwerb als Aussiedler somit den Personen vorbehalten, die „als deutsche Staatsangehörige oder deutsche Volkszugehörige ihren Wohnsitz in den ehemals unter deutscher Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten oder in den Gebieten außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches nach dem Ge- bietsstande vom 31. Dezember 1937 hatten und diesen im Zusammenhang mit den Ereignissen des zweiten Weltkrieges infolge Vertreibung, insbesondere durch Ausweisung oder Flucht, verloren haben“ und, gemäß § 6 (3), „nach Abschluss der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen vor dem 1. Juli 1990 oder danach im Wege des Aufnahmeverfahrens vor dem 1. Januar 1993 die ehemals unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete [...] verlassen hat oder verlässt.“ Eben- so sind laut § 1 (3) auch die Ehegatten deutscher Staats- oder Volkszugehöriger, die selbst diese Voraussetzungen nicht erfüllen, als Vertriebene anzuerkennen.88

Die sich über die Jahrhunderte entwickelte historische Situation der deutschen Ostsiedlung mach- te es also notwendig, neben der Staatsangehörigkeit auch die Volkszugehörigkeit (Abstammung, Sprache, Kultur) als Grundlage für den Erwerb des Aussiedlerstatus gesetzlich zu verankern, an- dernfalls hätte es etwa für die Rumänien- und Russlanddeutschen, die selbst und deren Vorfahren seit der Auswanderung außerhalb der Grenzen eines deutschen Staatswesens gelebt hatten und seit dem 19. bzw. 20. Jahrhundert die rumänische bzw. russische Staatsbürgerschaft besaßen, keine Möglichkeit gegeben, den Aussiedlerstatus und somit die Einbürgerung in Deutschland zu erreichen. Anders sah die Situation etwa bei den Sudetendeutschen aus, die mit dem Anschluss des Sudetenlandes an das Deutsche Reich im Jahre 1938 die deutsche Staatsangehörigkeit erhiel- ten, oder bei den Oberschlesiern, die, zumindest was Deutsch-Oberschlesien anbetrifft, zu keiner Zeit bis 1945 eine andere als die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen, völlig unabhängig davon, ob sie anhand objektiver Kriterien, wie sie im § 6 (1) des BVFG formuliert sind, dem deutschen Kulturbereich zuzuordnen waren, oder sich subjektiv zum Deutschtum bekannten. Der formelle Nachweis für den Erwerb des Aussiedlerstatus gestaltete sich für einen Oberschlesier einfacher, da die Vorlage eines deutschen Ausweises, einer Meldebescheinigung oder eines standesamtlichen Registerauszugs bzw. der Erfassung in die nationalsozialistischen Volkslisten ausreichte, während ein auf den Nachweis der Volkszugehörigkeit angewiesener Antragsteller sein „Deutschtum“ per- sönlich nachweisen musste, im äußersten Fall sogar durch Zeugen. Diese formelle Unterscheidung in der Art der Erteilung des Aussiedlerstatus, aufgrund der Staatsangehörigkeit oder der Volks- zugehörigkeit, ist gleichwohl über die Jahrzehnte in der bundesdeutschen Gesellschaft unzurei- chend kommuniziert worden - selbst die zuständigen Behörden hatten offensichtlich Auslegungs- probleme bei Härtefällen, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird -, sodass sich bis in die heutige Zeit die Vorstellung gehalten hat, Aussiedler seien allesamt deutsche Volkszugehörige (im Sinne objektiver nationaler Merkmale), was auf das Gros der oberschlesischen Aussiedler in dieser Form nicht zutreffend war und selbst gegenüber den verstärkt seit 1990 auf Grundlage der deutschen Volkszugehörigkeit nach Deutschland eingewanderten Russlanddeutschen in der Realität immer weniger einen Niederschlag fand, sowohl was deutsche Sprachkenntnisse als auch Mentalität und Lebensformen anbelangte. Einerseits ermöglichte die rechtliche Fixierung der deutschen Volkszu-

87 BVFG vom 17. August 2007, S. 1904-1905. 88 Ebenda, S. 1903.

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gehörigkeit als Aufnahmeerfordernis die großzügige Einbürgerung von Personen, deren Vorfahren kulturell deutsch geprägt waren, aber über keine deutsche Staatsbürgerschaft verfügten. Anderer- seits übte sie einen immensen Legitimierungsdruck auf alle Personengruppen aus, die zwar alle juristischen Anforderungen erfüllten, jedoch den objektiven Nachweis ihres „Deutschtums“ nicht oder nur unzureichend erbringen konnten. Die kulturnationale Interpretation der nationalen Zuge- hörigkeit wird in Deutschland bis in die heutige Zeit über die staatsnationale erhoben, was der Wirklichkeit - das unter Bismarck gegründete Deutsche Reich war ein Mehrvölkerstaat und die Bundesrepublik Deutschland ist während ihrer Geschichte zweifellos zu einem Einwanderungsland geworden - nicht gerecht wird.89

Neben dem grundsätzlichen rechtlichen Rahmen, der den Aussiedlerzuzug regelte, formulierte das Bundesvertriebenengesetz im zweiten Abschnitt in den § 7 bis 20 die Verteilung der Aussiedler im Bundesgebiet, ihre Rechte und Pflichten sowie ihnen zustehende Vergünstigungen und sonstige formelle Rahmenbedingungen. Dieser zweite Abschnitt wurde mit einem Grundsatzparagraphen (§ 7 (1) BVFG) eingeleitet, der Aussiedlern auf beruflicher, kultureller und sozialer Ebene eine er- leichterte Eingliederung in die bundesdeutsche Gesellschaft und die Milderung etwaiger Nachteile zusicherte. Daraus ergaben sich beispielsweise Hilfen in Form von Integrations- und Sprachkursen, Überbrückungs- und Eingliederungshilfen (§ 9) sowie die Anerkennung von Prüfungen und Befä- higungsnachweisen, sofern sie mit hiesigen Berufsbildern und Schultypen in Einklang gebracht werden konnten (§ 10). Des Weiteren fielen auch Leistungen bei Krankheit (§ 11), die Absicherung in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung (§ 13 mit Verweis auf das Fremdrentengesetz) oder die Förderung einer selbstständigen Tätigkeit (§ 14) darunter.90 Diese grundlegenden Formu- lierungen wurden in weiteren Bestimmungstexten konkretisiert, jedoch mit der Tendenz, dass - vor allem zum Ende der 1980er Jahre - sowohl materielle als auch immaterielle Eingliederungshilfen, wie etwa Sprachkurse, gekürzt oder aufgehoben wurden (siehe 6.3).

Im § 8 des BVFG wurde auch auf die Verteilung der Aussiedler auf die einzelnen Bundesländer eingegangen. Damit sollte die gleichmäßige Verteilung der Aussiedler auf die Bundesländer nach Bevölkerungszahl und Landesfläche im Anschluss auf die mit der Aufnahme in einem Bundeserst- aufnahmelager durchgeführte administrative Registrierung sichergestellt werden. Das Bundesver- waltungsamt in Köln war daran gebunden, konnte somit aber auch entgegen den Wünschen eines Aussiedlers handeln und ihm ein Aufnahmeland zuweisen. Die Berechnung orientierte sich grund- sätzlich, wenn auch mit einigen Korrekturen, an dem bereits erwähnten Königssteiner Schlüssel, der einer jährlichen Neuberechnung unterliegt. Seit dem Inkrafttreten der sechsten Änderung des Bundesvertriebenengesetzes vom Dezember 2003 wurde der Königsteiner Schlüssel schließlich explizit als Berechnungsmodell im BVFG gesetzlich verankert.91 Die Berliner Quote änderte sich während der letzten gut vier Jahrzehnte ständig, lag aber zumeist zwischen 2,7% und 5,1%. Tat- sächlich ist die vorgegebene Quote für Berlin in den meisten Jahren nicht erreicht worden.

89 Anders als etwa in den USA, Großbritannien oder Frankreich, wo die Nation als Staatsnation bzw. „Willensgemeinschaft“ unabhängig ethnischer Grenzen verstanden wird, hat sich in Deutschland bereits im 19. Jahrhundert das Verständnis der Nation als einer Kulturnati- on durchgesetzt, obgleich seit der Gründung des Deutschen Reiches von einer ethnischen und kulturellen Einheit der Bevölkerung keine Rede sein konnte; vgl. dazu auch die Grundsatzprogramme von CSU („Die CSU bekennt sich zur deutschen Kulturnation“) und CDU („Deutschland ist eine europäische Kulturnation“) aus dem Jahre 2007. 90 BVFG vom 17. August 2007, S. 1905-1907. 91 BVFG vom 17. August 2007, S. 1905.

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5.2 Volkszugehörigkeit - Interpretationen des Verwaltungsapparats

Die oben angesprochene Problematik hinsichtlich der Definition der Volkszugehörigkeit und der Bedeutung der Staatsangehörigkeit in BVFG-Fällen soll an dieser Stelle anhand von drei konkreten Berliner Beispielen aus den Sechzigerjahren, die den Überlegungen vorangestellt sind, verdeut- licht werden, denn die rechtlichen Rahmenbedingungen waren offenbar alles andere als eindeutig in verwaltungstechnische Entscheidungen umzusetzen.

Im ersten Fall beantragte der 1940 in Repten, Kreis Tarnowitz (Repty, Tarnowskie Góry) in Ober- schlesien geborene Rudolf R. die Anerkennung als deutscher Volkszugehöriger und stieß beim Berliner Senat für Arbeit und Soziales zunächst auf Wohlwollen, da er sich in Beweisnot befand. Der Senator für Inneres sah den Sachverhalt aber anders. Da der Antragsteller die deutsche Sprache nicht beherrschte, obwohl er es nach Auffassung des Senators für Inneres hätte in der Familie er- lernen müssen, und auch keine Unterlagen über die von ihn behauptete Aufnahme in die deutsche Volksliste vorlagen, wurde sein Antrag abgelehnt, er selbst aber dennoch als Vertriebener aufgrund des Vertriebenenstatus der Ehefrau nach § 1 (3) BVFG anerkannt. Zu Ungunsten des Antragsstel- lers ist auch gewertet worden, dass er zeitgleich mit dem Antrag auf den Aussiedlerstatus um eine Prüfung seines staatsangehörigkeitsrechtlichen Status gebeten hatte.92 Zunächst einmal ist es richtig, dass sich der Betroffene auf eine mögliche deutsche Volkszugehörigkeit berief, da der Kreis Tarnowitz seit dem Plebiszit im Jahre 1921 zu Polen gehörte. Andererseits hätte in diesem Falle geprüft werden müssen, ob die Eltern, die sicherlich vor 1921, und damit im Deutschen Reich, geboren wurden und somit die deutsche Staatsangehörigkeit hatten, diese auch danach geltend machen konnten. Hingegen war der Verweis auf die fehlenden Sprachkenntnisse vollkommen ver- fehlt. Wie in Kapitel 3.3 dargestellt, war die vorherrschende Sprache im privaten und nicht selten auch im öffentlichen Leben Oberschlesiens die oberschlesische Mundart, zudem war die Sprache als Zuordnungsmerkmal über die nationale Identität höchst unzuverlässig. Hinzu kam, dass ein 1940 in Oberschlesien Geborener, ähnlich wie die Russlanddeutschen in Sibirien oder Mittelasien, keine deutsche Schule mehr besuchen konnte.

Im zweiten Fallbeispiel geht es um den 1931 geborenen Roman Bo., der mit seiner polnischen Frau im Februar 1966 nach West-Berlin übergesiedelt war und einen Antrag auf den Vertriebe- nenstatus gestellte hatte, der allerdings abgelehnt wurde. Der Status der 1900 geborenen Mutter des Antragstellers (selbst anerkannte Heimatvertriebene) spielte laut Begründung keine Rolle, da der Antragsteller ein Jahr nach seiner Geburt vom polnischen Vater adoptiert wurde - obgleich er selbst angab, bis zum 8. Lebensjahr bei der Mutter gelebt zu haben - und im ostpolnischen Lublin eine polnische Erziehung erhielt. Deutsche Sprachkenntnisse und ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum konnten nicht festgestellt werden. Das Kriterium der Abstammung von einer deutschen Volkszugehörigen als einziges Kriterium war für die zuständige Behörde nicht ausreichend.93 In diesem Fall wurde eine entscheidende Frage nicht beachtet: Sofern die Mutter ihren Heimatver- triebenenstatus über die deutsche Staatsangehörigkeit und nicht über die deutsche Volkszugehö- rigkeit geltend gemacht und zugesprochen bekommen hatte, so hätte auch ihrem leiblichen Sohn grundsätzlich die deutsche Staatsangehörigkeit erteilt werden müssen.

92 LAB B Rep. 077, Nr. 1162, Senator für Inneres an Senator für Arbeit und soziale Angelegenheiten vom 7.1.1966. 93 LAB B Rep. 077, Nr. 1161, Vertriebenenstelle an den Senator für Arbeit und soziale Angelegenheiten VIII C vom 28.2.1967.

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Im letzten Fallbeispiel geht es um den Opernsänger Roman Bu., geboren 1931 in Sagan im Le- buser Land und seit einer Gastspielreise im Mai 1964 in Deutschland. Bei der Durchführung des BVFG stellte sich für die Beamten der Vertriebenenstelle in Berlin-Wedding die Frage, inwieweit der Antragsteller, der 1950 sein Abitur in Polen machte, jahrelang im Chor der polnischen Armee sang und danach Mitglied der Warschauer Staatsoper war, noch zum deutschen Kulturkreis zuzurech- nen war, auch wenn er aus einer deutschen Familie stammte, Sagan vor dem Kriege deutsch war und er selbst über Deutschkenntnisse verfügte. Auf die Anfrage der Vertriebenenstelle antwortete der Berliner Senator für Inneres jedoch, dass sich die Frage nach der deutschen Volkszugehörig- keit in diesem Falle erübrige, da der Antragsteller die deutsche Staatsangehörigkeit in den einge- gliederten Ostgebieten über die Volksliste vom 4.3.1941 erworben habe und sie zum Zeitpunkt der Antragstellung auch weiterhin neben der polnischen Staatsangehörigkeit besäße.94 Zwar unterlief dem Senator für Inneres ein Fehler bei der Begründung - Sagan war bis 1945 deutsch, die Frage nach der Volkszugehörigkeit erübrigte sich aus diesem Grunde, und nicht aufgrund des vermeintli- chen Erwerbs der Volkszugehörigkeit über die Volksliste im Jahre 1941 -, im Grundsatz war sie aber rechtlich vollkommen zutreffend.

Gemäß einer Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 war die Bundesrepublik Deutschland identisch bzw. teilidentisch (aufgrund der damals bestehen- den faktischen territorialen Trennung zwischen der BRD und der DDR) mit dem Staat „Deutsches Reich“. Das Deutsche Reich war zwar institutionell zusammengebrochen, es bestand allerdings eine staatsrechtliche Kontinuität.95 Somit besaßen alle Staatsangehörigen des Deutschen Reiches bis 1945 sowie ihre Nachfahren auch weiterhin die deutsche Staatsangehörigkeit - außerhalb der Grenzen der Bundesrepublik Deutschland neben einer Staatsangehörigkeit eines anderen Staates. Grundsätzlich war die Staatsangehörigkeit auch höher zu bewerten als die Volkszugehörigkeit. Das heißt, dass einem Oberschlesier der Staatsangehörigkeitsnachweis völlig ausreichte, um die Einbürgerung zu erreichen. Seine Volkszugehörigkeit war unerheblich dafür. Konnte er aber die Staatsangehörigkeit aus irgendwelchen Gründen nicht nachweisen, so musste er zwingend seine deutsche Volkszugehörigkeit beweisen, ansonsten wurde ihm der Aussiedlerstatus folgerichtig ver- weigert. Für Rumänien- und Russlanddeutsche hingegen blieb nur der Weg über den Volkszugehö- rigkeitsnachweis. Die Fallbeispiele offenbaren den grundsätzlichen Zweifel, den man bereits in den Sechzigerjahren gegenüber dem Deutschtum von Menschen hatte, bei denen objektive Merkmale dieses Bekenntnisses nicht oder nur unzureichend festzustellen waren, was sich mit der Zeit und insbesondere mit der Einwanderung russlanddeutscher Aussiedler noch verstärkte.

5.3 Veränderungen der Regierungs- und Verwaltungspositionen im Kontext steigender Aussiedlerzahlen - Kürzungen bei den Eingliederungsleistungen

Neben dem Bundesvertriebenengesetz wurden auch im Lastenausgleichsgesetz (LAG, Gesetz über den Lastenausgleich), das im August 1952 in Kraft trat, finanzielle Leistungsansprüche für Aussiedler gesetzlich festgeschrieben, die sich im Rahmen von Entschädigungszahlungen für er-

94 LAB B Rep. 077, Nr. 1161, Schreiben des Bezirksamtes Wedding von Berlin, Abteilung Sozialwesen, Vertriebenenstelle an Sen.f.Arb. Soz. VIII vom 8.3.1966; Senator für Inneres an Sen.f.Arb.Soz. vom 6.4.1966. 95 Urteil Bundesverfassungsgericht vom 31. Juli 1973, 2 BvF 1/73; BVerfGE 36, 1.

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littene Verluste bewegten. Darunter fielen eine Hauptentschädigung für verlorenes oder zurückge- lassenes Immobilienvermögen, ein zinsvergünstigtes Darlehen als Eingliederungsdarlehen, eine Kriegsschadenrente, eine Hausratsentschädigung, Wohnraumhilfe zur erleichterten Anmietung einer Wohnung, ein Darlehen für den Hausbau oder Erwerb von Wohneigentum sowie weitere fi- nanzielle Leistungen und Förderungsmaßnahmen, die bei entsprechendem Nachweis in Anspruch genommen werden konnten.96 Die auf dem BVFG und LAG fußenden Eingliederungshilfen und Entschädigungszahlungen blieben seit ihrem gesetzlichen Inkrafttreten grundsätzlich bis ins Jahr 1989 erhalten. Seit dem politischen Umbruch, der mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der deutschen Wiedervereinigung einsetzte und dem zunehmende wirtschaftliche Schwierigkeiten so- wohl auf Bundes- und Länderebene als auch auf kommunaler Ebene folgten, veränderten sich die Regierungs- und Verwaltungspositionen im Hinblick auf die Eingliederungsmaßnahmen für Aus- siedler radikal.

Eine der ersten Maßnahmen war die Verabschiedung des Wohnortzuweisungsgesetzes im Jahre 1989. Da sich die Zahl der Aussiedler von einem auf das andere Jahr unkalkulierbar vervielfachte, sollte mit diesem Gesetz eine gleichmäßige Verteilung der Aussiedler auf die einzelnen Bundeslän- der unterstützt und die Konzentration des Zuzugs auf die Länder Nordrhein-Westfalen, Bayern, Nie- dersachsen und Baden-Württemberg eingeschränkt werden. Bund, Länder und Kommunen sollten allesamt entlastet werden.97 Bereits in den beiden darauffolgenden Jahren wurde die Erfahrung ge- macht, dass sich ein großer Teil der Aussiedler nicht an die Länderzuweisung hielt und in die Nähe von Verwandten und Bekannten weiterzog. Daher verschärfte man das Wohnortzuweisungsgesetz in den Jahren 1992 und 1995 und fasste es 1996 neu. Die Ansprüche auf soziale Leistungen, wie Sozialhilfe, Sprachkurse, Umschulungsmaßnahmen und Arbeitslosenunterstützung, wurden nun für zwei Jahre an den jeweiligen Zuweisungsort gebunden, und wer sich nicht daran hielt, dem drohte der Verlust der Leistungsansprüche.98 Mit der vierten Änderung des Gesetzes im Juli 2000 wurde die Wohnortbindung sogar auf drei Jahre erhöht. Die Möglichkeit der Abwesenheit zur Arbeitssu- che wurde auf drei Monate festgelegt.99 Auf Berlin wurde das Wohnortzuweisungsgesetz aller- dings nicht angewandt, was sich aus der vergleichsweise geringen Gesamtfläche des Landes und seiner administrativen Gliederung ergab. Das Inkrafttreten des Aussiedleraufnahmegesetzes zum Juli 1990 (zugleich wurde das Bundesnotaufnahmegesetz für DDR-Übersiedler außer Kraft ge- setzt) hatte direkte Auswirkungen auf die Aussiedlerzahlen und das Anerkennungsverfahren. Von diesem Zeitpunkt an mussten alle Anträge beim Bundesverwaltungsamt in Köln über die deutschen Konsulate oder Botschaften im Ausgangsland gestellt werden100, was sich insbesondere gegen die mit Touristenvisum einreisenden Aussiedler aus Polen richtete, deren Zahl seit 1987 stark zunahm, seit Mitte 1990 aber genauso stark zurückging. Bereits im Aussiedleraufnahmegesetz kam also die Annahme zum Tragen, dass von einem generellen Vertreibungsdruck nicht mehr die Rede sein konnte. Der Aussiedlerzuzug wurde zudem auf 220.000 Personen im Jahr begrenzt und er ging auch als Folge dieser Regelung von 1990 auf 1991 um fast 50% zurück.

96 Bundesgesetzblatt I, S. 842,846, Ausfertigungsdatum 14.8.1952, Neufassung vom 2.6.1993, ausgegeben zu Bonn am 16.5.2008. Gesetz über den Lastenausgleich (Lastenausgleichsgesetz - LAG). 97 Klekowski von Koppenfels: Willkommene Deutsche oder tolerierte Fremde?, S. 408-409. 98 Ebenda, S. 416. 99 Heinen, Ute: Zuwanderung und Integration in der Bundesrepublik Deutschland, in: Informationen zur politischen Bildung, Nr. 267, 2. Quartal 2000, Aussiedler, S. 39. 100 Ingenhorst: Die Rußlanddeutschen, S. 102.

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Antragsteller aus Polen bekamen zwar bei Nachweis der Staatsangehörigkeit der Vorfahren wei- terhin einen deutschen Pass, wurden allerdings seit der demokratischen Wende im Land nur noch dann als Aussiedler anerkannt, wenn sie persönlichen Vertreibungsdruck nachweisen konnten.101 Entscheidend auf die Aussiedlerpolitik wirkte sich allerdings erst das Kriegsfolgenbereinigungs- gesetz (Gesetz zur Bereinigung von Kriegsfolgengesetzen, KfbG), beschlossen am 22. Dezember 1992 und in Kraft getreten zum 1. Januar 1993, aus, das eine Neufassung des BVFG enthielt. Damit wurden die Herkunftsländer potenzieller Antragsteller faktisch auf die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion beschränkt, wo ein kollektiver Assimilationsdruck weiterhin angenommen wurde.102 Mit dem KfbG änderte sich auch die rechtliche Situation der Antragsteller grundlegend. Der Aussiedler aus den GUS-Staaten wurde nun offiziell zum „Spätaussiedler“ (deutscher Volkszu- gehöriger aus den Republiken der ehemaligen UdSSR stammend, § 4 BVFG). Sofern der Ehegatte oder Abkömmling des Antragstellers die Voraussetzungen eines Spätaussiedlers nicht erfüllt, kann er demnach über den §7 (2) des BVFG einbezogen werden, wenn er das Aussiedlungsgebiet auf dem Wege des Aufnahmeverfahrens verlassen hat. Sofern auch dies nicht zutrifft, der Ehegatte oder Abkömmling aber gemeinsam mit dem Spätaussiedler im Erstaufnahmelager eintrifft, kann er ebenfalls in das Verteilungsverfahren einbezogen werden (§ 8 (2) BVFG.103 Dies hatte eine rechtli- che Hierarchisierung zur Folge, die sich auch auf Berlin auswirkte. Bereits 1997 kamen 56,72% der Berliner Aussiedler als Familienangehörige, die bereits im Ausgangsgebiet in das Aufnahmeverfah- ren aufgenommen wurden, drei Jahre später waren es 62,90% und im Jahre 2003 stieg ihr Anteil nochmals auf 64,52%. Der Anteil der eigentlichen Spätaussiedler ging dagegen stetig zurück von 37,92% im Jahre 1997 auf 26,32% im Jahre 2000 und auf 21,39% drei weitere Jahre später. Im Zeitraum von 1997 bis 2003 waren über 70% der fast 19.000 über das Bundesvertriebenengesetz nach Berlin eingereisten Aussiedler Familienangehörige ohne nachgewiesene deutsche Volkszu- gehörigkeit (vgl. Tabelle 7 und Diagramm 4).

Mit der Beschränkung der Ausgangsgebiete potenzieller Antragsteller wurde die Erteilung des Aussiedlerstatus über die Staatsangehörigkeit nahezu gegenstandslos. Nur noch wenigen Hundert Menschen jährlich gelang es, von Polen, Rumänien, Ungarn, der Tschechischen Republik oder den jugoslawischen Nachfolgestaaten aus den Aussiedlerstatus erfolgreich zu beantragen. Für die sich auf die deutsche Volkszugehörigkeit berufenden Russlanddeutschen kam nun aber auch die Erschwernis hinzu, dass sie diese nachweisen mussten. Solange die vor 1924 geborene Erlebnis- generation das Bekenntnis zum Deutschtum bereits vor der Vertreibung geltend machen konnte, müssen sich die später Geborenen nach Abschluss der Vertreibungsmaßnahmen zum Deutschtum bekannt haben, was eine völlige Abkehr von der zu Zeiten des Kalten Krieges noch geltenden Annahme bedeutete, die besagte, dass ein Bekenntnis zum Deutschtum nach Kriegsende den Menschen aufgrund möglicher oder sogar wahrscheinlicher Repressionen nicht zuzumuten war.104

101 Thränhardt, Dietrich: Integration und Partizipation von Einwanderergruppen im lokalen Kontext, in: Bade, Klaus J. / Oltmer, Jochen: Aussiedler. Deutsche Einwanderer aus Osteuropa, 2. Aufl., Göttingen 2004, S. 231; laut Angaben des Bundesverwaltungsamtes in Köln sind zwischen 1991 und 2010 insgesamt 368.000 deutsche Staatsangehörigkeitsausweise für den Bereich Republik Polen ausgestellt worden. Diese Zahl ist sicherlich noch erheblich höher, da das BVA bis 1999 nur dann für die Ausstellung der Ausweise zuständig war, wenn weder der Antragsteller noch ein Elternteil je in der BRD gelebt haben (die Zuständigkeit lag bis dahin bei den Bundesländern, Zahlen liegen nicht vor), Mail von Frau Susanne Eckhardt, BVA Köln, Referat III B 4 - Feststellung der deutschen Staatsangehörigkeit, Bereich Polen, vom 24.02.2011; Wie viele dieser Menschen ohne den Aussiedlerstatus einen Erstwohnsitz in Deutschland anmeldeten lässt sich nicht feststellen. Man kann aber davon ausgehen, dass ein Großteil der Menschen die deutschen Ausweise dazu nutzte, in Deutschland oder der übrigen EU Arbeit aufzunehmen, in der Regel als Saisonarbeiter, bei bleibendem polnischen Wohnsitz.t 102 Klekowski von Koppenfels: Willkommene Deutsche oder tolerierte Fremde?, S. 411. 103 BVFG vom 17. August 2007, S. 1905-1907. 104 Ingenhorst: Die Rußlanddeutschen, S. 103.

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Tabelle 7: Rechtliche Grundlage des Aussiedlerzuzugs nach Berlin von 1997 bis 2003105

Jahr § 4 BVFG § 7 BVFG § 8 BVFG

1997 1.396 2.088 197

1998 947 1.642 169

1999 791 1.706 275

2000 701 1.675 287

2001 656 1.676 292

2002 520 1.581 335

2003 422 1.273 278

Gesamt 5.433 11.641 1.833

Diagramm 4: Rechtliche Grundlage des Aussiedlerzuzugs nach Berlin zwischen 1997 und 2003

Hinzu kam - nach lautstarken Forderungen aus der Politik - die Einführung einer detaillierten Sprachprüfung, die in einem deutschen Konsulat oder einer anderen deutschen Dienststelle im Herkunftsland durch den Antragsteller abzulegen war. Folge war, dass etwa 40% der potenziellen Antragsteller der Jahre 1996 und 1997 nicht zur Sprachprüfung erschienen und von den Geprüften 30% bis 40% scheiterten, mit steigender Tendenz in den folgenden Jahren. Eine Wiederholung einer nicht bestandenen Prüfung war nicht vorgesehen, die Sprachkenntnisse sollten ja familiär erworben sein. Bis 1990 wurden Sprachkenntnisse nicht explizit gefordert, sondern unterstellt bzw.

105 Quellen: LAB B Rep. 077, Nr. 1331.

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ihr Fehlen mit der politischen Situation im Ausgangsland entschuldigt.106 Bei Ablegen eines „quali- fizierten Sprachtests“ (fließendes Deutsch aller Familienangehörigen über zehn Jahre) wurde den Antragstellern eine Beschleunigung des Aufnahmeverfahrens in Aussicht gestellt.107

Diese rechtlichen Voraussetzungen der Aussiedleraufnahme in der Bundesrepublik Deutschland waren die eine Seite der Medaille, die andere waren die drastisch gekürzten Eingliederungsmaß- nahmen, die die chancengleiche gesellschaftliche Teilhabe der Aussiedler in ihrer neuen Heimat immens erschwerten. Mit Inkrafttreten des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes wurde u.a. das Las- tenausgleichsgesetz abgeschlossen und Leistungen wie die Haupt- und Hausratentschädigung sowie das Aufbaudarlehen entfielen komplett. Wesentlich schwerwiegender waren allerdings die Kürzungen sozialer Leistungen, die zum 1. Januar 1994 nochmals beschnitten wurden. So wurde das zwölf Monate gezahlte Eingliederungsgeld, das bei Sprachkursteilnahme oder beruflichen Umschulungsmaßnahmen noch um acht Monate verlängert werden konnte, durch eine sechsmo- natige, sich nach dem Sozialhilfesatz richtende und durch die Arbeitsverwaltungen ausbezahlte Eingliederungshilfe ersetzt. Fand der Betroffene bis dahin keine Anstellung, rutschte er in den Sozi- alhilfebezug, was zudem auch bedeutete, dass bei Zuteilung von Fortbildungs- und Umschulungs- maßnahmen des Arbeitsamtes keine privilegierte Behandlung vorgesehen war. Ebenso wurden die Sprachkurse von ehemals fünfzehn auf zwölf Monate und schließlich auf sechs Monate gekürzt108, was unter Berücksichtigung der immer größer werdenden Zahl der über die §§ 7 und 8 des BVFG einreisenden Aussiedler bzw. ihrer Angehörigen besonders negativ zu bewerten ist. Die finanziel- len Kürzungen trafen auch Rentner, denen seitdem nur noch 60% des Rentenanspruches gewährt werden. Dagegen erhalten Jugendliche und junge Erwachsene noch besondere Eingliederungshil- fen in Form von Umschulungen oder Weiterbildungen im beruflichen Bereich, u.a. im Rahmen des Garantiefonds.109 Politische Umwälzungen und wirtschaftliche Notwendigkeiten hatten seit 1990 unmittelbaren Einfluss auf die Verschlechterung der Eingliederungsbedingungen. Dennoch kamen trotz verschärfter Aufnahmebedingungen bis einschließlich 1999 jährlich über 100.000 Spätaus- siedler und auch danach blieb diese Zahl über Jahre auf hohem fünfstelligem Niveau.

5.4 Von der Antragsstellung bis zur Ankunft im Erstaufnahmelager

Die rechtlichen Rahmenbedingungen sahen auch einen konkreten Verwaltungsweg vor, den der Antragsteller von der Einreichung des Antrags im Herkunftsland bis zur Ankunft und Aufnahme im Erstaufnahmelager des Bundes in Berlin oder einem anderen Erstaufnahmelager nehmen musste. Das Verfahren konnte zum Teil sehr langwierig sein und bisweilen bis zu fünf Jahren dauern110, was bei einem Bearbeitungsrückstau von zwischenzeitlich bis zu 600.000 Anträgen auch nicht verwun- dern mag111 und wozu auch die Einführung der obligatorischen Sprachprüfungen im Herkunftsland beigetragen hat. In der Regel vergingen aber zwischen Einleitung des Aufnahmeverfahrens und

106 Klekowski von Koppenfels: Willkommene Deutsche oder tolerierte Fremde?, S. 413-415. 107 Heinen: Zuwanderung und Integration, S. 39.. 108 Ingenhorst: Die Rußlanddeutschen, S. 103-104. 109 Klekowski von Koppenfels: Willkommene Deutsche oder tolerierte Fremde?, S. 417. 110 Heinen: Zuwanderung und Integration, S. 38. 111 Harris, Paul A.: Russische Juden und Aussiedler. Integrationspolitik und lokale Verantwortung, in: Bade, Klaus J. / Oltmer, Jochen: Aussiedler. Deutsche Einwanderer aus Osteuropa, 2. Aufl., Göttingen 2004, S. 255-256.

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Erteilung eines positiven oder auch negativen Bescheides zwischen zwei und drei Jahre.112

Auch nach der Neuregulierung des Aufnahmeverfahrens mit Inkrafttreten des Aussiedleraufnah- megesetzes zum 1. Juli 1990 begann das Aufnahmeverfahren mit der Anforderung des 20-seiti- gen Antragsformulars (zum Vergleich: Das Formular für jüdische Kontingentflüchtlinge umfasste lediglich vier Seiten) über eine der deutschen Dienststellen in den Staaten der ehemaligen Sow- jetunion.113 Der ausgefüllte Antrag wurde vom deutschen Konsulat bzw. der deutschen Botschaft des Ausgangsstaates auf Vollständigkeit geprüft und auch die später erforderliche Sprachprüfung wurde dort von einem qualifizierten Beamten abgenommen. Danach erfolgte die Weiterleitung an das Bundesverwaltungsamt in Köln, wo der Antrag bearbeitet oder zur Bearbeitung an eine der Außenstellen weitergeleitet wurde. Zur Antragsbearbeitung gehörte die inhaltliche Überprüfung der eingereichten Nachweise über die deutsche Volkszugehörigkeit, der Personenstandsurkunden, weiterer persönlicher Dokumente und das Kriegsfolgeschicksal und die Staatsangehörigkeit (betraf seit Mitte 1990 im Grunde nur noch Antragsteller aus Polen oder der Tschechoslowakei) sowie eine Echtheitsprüfung der eingereichten Dokumente. Bei Unklarheiten mussten die Bearbeiter Erkundi- gungen bei der deutschen Botschaft oder der Wehrmachtsauskunftsstelle bzw. aus den Heimat- ortskarteien einholen. Im äußersten Fall konnten auch Zeugen hinzugezogen werden, die etwa das Bekenntnis einer Person oder Familie zum deutschen Volkstum bestätigen konnten. Waren die Vor- aussetzungen für die Erteilung des Aufnahmebescheides aus Sicht des BVA erfüllt, wurde nun das für die Aufnahme des Aussiedlers zuständige Bundesland beteiligt, dessen Zustimmung ebenfalls erforderlich war. Folgte dieses der Rechtsauffassung des BVA, so wurde der Aufnahmebescheid über die deutsche Botschaft bzw. das deutsche Konsulat des jeweiligen Herkunftslandes an den Antragsteller zugestellt. Eine negative Entscheidung konnte also sowohl auf der Ebene des BVA in Köln fallen als auch durch Ablehnung des Aufnahmeantrages durch das zuständige Bundesland. In einem solchen Falle konnte der Antragsteller Widerspruch einlegen oder Klage einreichen.114

Mit dem erteilten und zugestellten Aufnahmebescheid - vor dem 1. Juli 1990 wurden Übernahme- genehmigungen erteilt - kam der Aussiedler in eine der Erstaufnahmeeinrichtungen des Bundes. Dort wurde zunächst eine Identitäts- und Plausibilitätsprüfung mit den im Aufnahmebescheid aus- gewiesenen Personen durchgeführt. Wurde dabei festgestellt, dass die Aufnahmevoraussetzungen erfüllt waren, so wurde der Registrierschein erteilt und der Aussiedler einem Bundesland zugewie- sen, wo die weitere Unterbringung und Betreuung stattfand und Eingliederungshilfen gewährt wur- den. Handelte es sich beim Aufnahmeland um Berlin, so verblieb der Aussiedler in der Marienfelder Aufnahmestelle. Auch an diesem Punkt konnte der Aufnahmebescheid zurückgenommen werden, wenn sich herausstellte, dass die Aufnahmevoraussetzungen doch nicht erfüllt waren, was aber überaus selten vorkam. Kamen viele Antragsteller Ende der 1980er Jahre noch ohne einen erteilten Aufnahmebescheid mit einem Touristenvisum - insbesondere aus Polen - im Erstaufnahmelager an, so konnten sie den Antrag auf Aufnahme auch dort stellen. Dies war seit dem 1. Juli 1990 jedoch nicht mehr möglich. Die einzige Ausnahme bildete eine Härtefallregelung gemäß § 27 BVFG. Ein Härtefall lag beispielweise bei einer schweren Erkrankung, die einen stationären Aufenthalt in ei- nem Krankenhaus notwendig machte, oder bei kurz vor der Entbindung stehenden Schwangeren

112 Ködderitzsch, Peter: Zur Lage, Lebenssituation, Befindlichkeit und Integration der rußlanddeutschen Aussiedler in Berlin, Frankfurt am Main 1997, S.22. 113 Harris: Russische Juden und Aussiedler, S. 254-255. 114 Köhler: Notaufnahme, S. 44.

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vor. Auch bei sonstigen Gründen, aus denen es dem Betroffenen nicht zuzumuten war, den Antrag vom Herkunftsland aus zu stellen, konnte auf einen Härtefall entschieden werden. In einem solchen Fall erhielt der Betroffene Antragsformulare und Hilfestellung beim Ausfüllen. Bis zu einem mögli- chen positiven Bescheid des BVA wurde die betreffende Person allerdings als Ausländer behan- delt. Härtefälle wurden immer nur im Einzelfall geprüft.115

5.5 Jüdische Zuwanderung nach Deutschland - die Situation in Berlin

An dieser Stelle soll noch ein kurzer Blick auf russischsprachige Zuwanderer gerichtet werden, die über das „Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommenen Flüchtlinge“ (Kontingentflüchtlingsgesetz) vom November 1991 außerhalb des Asylverfahrens nach Deutschland eingewandert sind und eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis ohne den Nachweis persönlicher Verfolgung erhielten. Auch diese Personengruppe stellte ihre Einreiseanträge über die deutschen Auslandsvertretungen, wo sie den Nachweis ihrer jüdischen Abstammung erbringen musste. In Anlehnung zur Praxis gegenüber den Aussiedlern aus den ehemaligen Sowjetstaaten wurde eine reale oder potenzielle Diskriminierung auch hier angenommen und nicht im Einzelfall geprüft. Allerdings musste die Einreise dieser Personengruppe nach Deutschland innerhalb eines Jahres ab Zustellung des Aufnahmebescheides erfolgen.116 Ein exponentieller ausländerrechtli- cher Status für jüdische Kontingentflüchtlinge ergab sich zudem dadurch, dass ihnen nach einem siebenjährigen Aufenthalt in Deutschland die Ausstellung eines deutschen Passes rechtlich zuge- sichert wurde.117

Die Anwendung des Kontingentflüchtlingsgesetzes auch auf jüdische Zuwanderer aus der ehe- maligen Sowjetunion löste ein seit den 1960er Jahren latent bestehendes Legitimationsproblem des Aufenthaltes sowjetischer Juden in Deutschland. Eine große Anzahl von Personen aus dieser Gruppe, die Ausreisegenehmigungen für Israel erhielten und über die Durchgangslager Wien und Rom nach Israel ausgeflogen werden sollten, kamen nach Deutschland oder West-Berlin. Bis Mitte der siebziger Jahre stieg die Zahl der nicht nach Israel weiterreisenden Personen auf bis zu 50%, Ende der Achtzigerjahre reisten ca. 98% nicht nach Israel weiter.118 Auch in West-Berlin hatte man mit diesem Problem zu kämpfen und rang nach einer diplomatischen Lösung. Nicht selten kamen auch Menschen in die Stadt, die bereits in Israel waren, dort aber nicht verweilen wollten und auf ein zukünftiges Leben in Berlin hofften. Von diesen Menschen - die darüber hinaus unter Verletzung der West-Berliner Einreisevorschriften in die Stadt kamen - versuchten die meisten als Aussiedler anerkannt zu werden, obgleich bei den wenigsten die Aussicht auf Anerkennung als deutscher Volkszugehöriger gemäß § 6 BVFG bestand, eine Antragstellung aber zumindest einen vorläufigen Aufenthalts in Berlin sicherte, da jeder Antrag begutachtet werden musste. Bereits im Jahre 1973 hatten die Berliner Behörden Anhaltspunkte dafür, dass der verstärkte Zuzug dieses Personen- kreises nach West-Berlin durch organisierte Maßnahmen in Berlin ansässiger Personen ausgelöst wurde.119 Für die Berliner Behörden war es ein Drahtseilakt: Einerseits galt das Gleichbehandlungs-

115 Ebenda, S. 45. 116 Beetz / Kapphan: Russischsprachige Zuwanderer, S. 161-162. 117 Harris: Russische Juden und Aussiedler, S. 249. 118 Bade: Europa in Bewegung, S. 418. 119 LAB B Rep. 077, Senator für Arbeit und Soziales VII C an den Senator für Inneres, Berlin den 27. 8.1973.

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recht für alle illegal eingereisten Ausländer, andererseits war man sich der Tragweite dieses Prob- lems bewusst. Neben der moralischen Verpflichtung gegenüber Personen jüdischer Abstammung, musste auch eine Lösung gefunden werden, die die diplomatischen Beziehungen Deutschlands zu Israel und der übrigen westlichen Welt nicht verschlechterte.120

Ende 1975 wurde schließlich durch den Berliner Senat ein Beschluss gefasst, der sich in Berlin bereits befindenden jüdischen Zuwanderern aus der UdSSR die Ausstellung einer Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis sowie beschleunigter Hilfe zur Arbeitsplatz- und Wohnraumbeschaffung zusicher- te. Zugleich stellte man fest, dass der unkontrollierten Zuwanderung jüdischer Personen entgegen- gewirkt werden müsse.121 Trotz dieser Einschränkung wurde den jüdischen Zuwanderern gegen- über auch weiterhin wohlgesonnen verfahren und es kam zu keinen Zwangsausweisungen. Erst im September 1980 und mit Verweis auf die längst erreichte Belastungsgrenze Berlins wurde ein Zuzugsstopp beschlossen. Fortan erhielten jüdische Emigranten, denen die Ausreise nach Israel von sowjetischen Behörden gestattet wurde, in Berlin keine Aufenthaltserlaubnis mehr. An der Ent- scheidung wurde die Jüdische Gemeinde in Berlin beteiligt.122

Neben den finanziellen Belastungen für West-Berlin und der in der Regel illegalen Einreise der sowjetischen Juden, kam noch eines erschwerend hinzu. Die Antragstellung auf Aufnahme als Aussiedler, die den Aufenthalt zunächst ermöglichte, basierte in den meisten Fällen auf gefälschten Dokumenten, Pässen und Urkunden, die von in Berlin ansässigen Personen an die jüdischen Emi- granten ausgehändigt wurden, selbstverständlich gegen eine finanzielle Leistung. Beispielswei- se verurteilte die Große Strafkammer in Berlin-Moabit einen 43-jährigen ehemaligen sowjetischen Staatsangehörigen wegen Urkundenfälschung und Betrugs in 173 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren. Er versorgte ehemalige sowjetische und inzwischen israelische Staatsbürger mit gefälschten Papieren und eröffnete ihnen damit die Möglichkeit als „sowjetische Aussiedler“ illegal nach West-Berlin einzureisen und aufgrund des vermeintlichen Status unentgeltlich Unterkunft und Verpflegung im Marienfelder Durchgangslager zu erhalten. Der Verurteilte war eine zentrale Figur einer in Berlin ansässigen kriminellen Organisation, die in mehreren Hundert Fällen die illegale Einreise jüdisch-sowjetischer Emigranten, die sich in vielen Fällen bereits auf dem Territorium des israelischen Staates niedergelassen hatten, ermöglichte.123 Gegenüber den betroffenen Personen, deren Aufenthalt bereits rechtlich abgesichert war, sind freilich keine juristischen Schritte eingeleitet worden.

Mit der Anwendung des Kontingentflüchtlingsgesetzes auf jüdische Emigranten wurde jüdischen Ausreisewilligen aus den GUS-Staaten einerseits die Möglichkeit der legalen Einreise in die Bun- desrepublik Deutschland eingeräumt, andererseits herrschte in diesem Zusammenhang erstmals

120 Der Staatssekreter im Auswärtigen Amt formulierte es im Mai 1975 folgendermaßen: Unter außenpolitischen und humanitären Gesichtspunkten sollte von einer zwangsweisen Entfernung [die rechtlich nicht zu beanstanden wäre, Anm. des Autors] jüdischer Aus- wanderer aus der Sowjetunion, die in die Bundesrepublik Deutschland oder nach Berlin gelangt sind oder noch gelangen werden, ab- gesehen werden. Es bestehen keine außenpolitischen Bedenken, über Anträge jüdischer Auswanderer... wohlwollend zu entscheiden.“ LAB B Rep. 077, Nr. 1321, Staatssekretär im Auswärtigen Amt an den Senator für Bundesangelegenheiten, Bevollmächtigter des Landes Berlin beim Bund, Bonn den 27.5.1975. 121 LAB B Rep. 077, Nr. 1321, Senator für Arbeit und Soziales VII C an die Mitglieder des Senats. Ergänzung zur Senatsvorlage über Aussiedler, hier: Jüdische Zuwanderer aus der UdSSR, Berlin den 22.10.1975. 122 LAB B Rep. 077, Nr. 1227, Innensenator: Keine Aufenthaltserlaubnis für Illegale, Berliner Zeitung vom 23.9.1980.t 123 LAB B Rep. 077, Nr. 1227, Emigranten-Pässe gefälscht. Betrug in 173 Fällen - Sechs Jahre Freiheitsstrafe, Berliner Morgenpost vom 3.2.1982.

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Rechtssicherheit. Zwischen 1991 und 1998 wanderten auf diesem Wege fast 93.000 Personen nach Deutschland ein124, von denen bis 1995 allein etwa 5.000 in Berlin eine neue Heimat fanden. Zumeist handelte es sich bei diesen Menschen um gut ausgebildete Personen, von denen sich ein auffällig hoher Anteil in den Berliner Innenstadtbezirken in den gewerblichen Bereichen oder im Dienstleitungssektor selbstständig gemacht hat.125

5.6 Umgang der Aussiedler mit dem eigenen Rechtsstatus

In seiner 1994 veröffentlichten Dissertationsschrift über psychische Probleme von Zuwanderern aus ehemaligen Ostblockstaaten kommt der Psychologe Jean Rahind Masumbuku u.a. zum Ergebnis, dass Aussiedler herkömmlichen Fragebogenuntersuchungen nur teilweise zugänglich sind, und diese unbedingt durch weitere Erkenntnismethoden, beispielsweise durch explorative Gespräche zur Schaffung einer Vertrauensbasis, ergänzt werden müssten, was er folgendermaßen begründet: „Es besteht bei ihnen angesichts ihrer Erfahrungen, ihrer Unsicherheit und Eingliederungswünsche die Gefahr, daß bei einem solchen Vorgehen [herkömmliche Fragebogenuntersuchung, Anm. des Autors] die Antworten stark durch die Tendenz der sozialen Erwünschtheit geprägt sind.“126 Der Faktor „soziale Erwünschtheit“, der von der Aufnahmegesellschaft definiert wird, spielt offensicht- lich eine entscheidende Rolle bei der Ausprägung von Akkulturations- und Assimilationstendenzen bei den Aussiedlern und löst oftmals einen Hang zur Überanpassung aus.127

Diese Erscheinung hat ihren Ursprung im rechtlichen Status der Aussiedler. Während die Identität eines Gastarbeiters, Asylbewerbers oder Ausländers grundsätzlich nicht in Frage gestellt wird bzw. gestellt werden kann, und seine Anpassungsleistung nicht von einem auf den anderen Augenblick erwartet wird, führt der Rechtsstatus eines Aussiedler zu einer unmittelbaren Integrations- bzw. so- gar Assimilationserwartung der Aufnahmegesellschaft. Denn der Aussiedler erhält mit der Einreise nach Deutschland bzw. der Ausstellung des Registrierscheines den Rechtsstatus eines Deutschen, der ihn gegenüber allen anderen Zuwanderergruppen privilegiert und ihm darüber hinaus sogar manch eine staatliche Leistung zuerkennt, die einheimischen Deutschen vorenthalten wird. Dies führt gegenüber der eigenen Person oder Gruppe zum Legitimierungsdruck, der sich desto stärker auf die psychische Verfassung und das soziale Verhalten auswirkt, je mehr die tatsächliche Situ- ation und gesellschaftliche Erwartungshaltung auseinandergehen. Die Folgen sind vielschichtig und bewegen sich zwischen den zwei Extremen des lautlosen Rückzugs mit dem Anspruch nicht aufzufallen, solange den Erwartungen der Aufnahmegesellschaft nicht entsprochen werden kann einerseits128, und der Resignation in Hinblick auf Integrationsbemühungen in der neuen Umwelt und dem bewussten und dauerhaften Rückzug in die Eigengruppe andererseits. Obgleich diese extremen Pole bei den einzelnen Aussiedlergruppen höchst differenziert auftraten und zudem die Aussiedler nicht als Ganzes betrafen, so lässt sich durchaus feststellen, dass Aussiedler aus Polen dazu neigten, nicht aufzufallen, während beispielsweise russlanddeutsche Aussiedler häufiger mit

124 Bade: Europa in Bewegung, S. 419. 125 Kapphan, Andreas: Zuwanderung, Arbeitsmarkt und ethnisches Gewerbe. Selbstständige Gewerbetreibende aus der ehemaligen Sowjetunion in Berlin, in: Owald, Ingrid / Voronkov, Viktor (Hgg.): Post-sowjetische Ethnizitäten. Ethnische Gemeinden in St. Petersburg und Berlin / Potsdam, Berlin 1997, S. 189, 202-203. 126 Masumbuku, Jean Rahind: Psychische Schwierigkeiten von Zuwanderern aus den ehemaligen Ostblockländern, Hamburg 1994. 127 Vgl. ebenda, S. 114. 128 Stepien: Jugendliche Umsiedler, S. 21.

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dem Rückzug in die Eigengruppe reagierten. Hierbei spielte die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdzuschreibungen eine entscheidende Rolle. Zwar ging das Selbstverständnis der Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion, als Deutscher nach Deutschland gekommen zu sein, einher mit dem in der Bundesrepublik Deutschland erteilten rechtlichen Status des deutschen Staatsbürgers, doch entsprach es allzu oft nicht der Fremdwahrnehmung durch die einheimische Gesellschaft, die in den Aussiedlern Fremde oder Russen wahrnahm.129

Der Rechtsstatus eines Aussiedlers hatte also neben seinen unzweifelhaft positiven Elementen der unmittelbaren rechtlichen Sicherheit und Gleichstellung mit einheimischen Deutschen sowie der rechtlich zugesicherten materiellen und immateriellen Eingliederungshilfen auch eine sich negativ auf die Integration auswirkende Kehrseite der Medaille. Die fehlende Sensibilisierung der deut- schen Gesellschaft hinsichtlich Mentalität und Identität der Aussiedler sowie mangelnde Kommu- nikation ihrer historischen Entwicklung führten vielfach zu Unverständnis und Stigmatisierung. Die rechtliche Sonderstellung der Aussiedler verschleierte die Tatsache, dass Aussiedler, wie andere Migranten auch, einem Akkulturationsprozess in ihrer neuen Umgebung ausgesetzt waren.130

6. Wanderungsverhalten der Aussiedler

Der Wanderungsprozess der jeweiligen Aussiedlergruppen verlief - wie auch bei anderen Migran- ten - in einzelnen Phasen, von der Entscheidungsfindung über die Ausreise bis hin zur Eingliede- rung in die Aufnahmegesellschaft, die ein langwieriger und noch keinesfalls abgeschlossener Pro- zess ist, wenngleich der Aussiedlerzustrom in den letzten Jahren drastisch abgenommen hat und in naher Zukunft gänzlich versiegen wird. Jede Migrationsbewegung zielt auf die Eingliederung und Integration der Einwanderer in die Aufnahmegesellschaft, so zumindest ist der theoretische Anspruch sowohl der Aufnehmenden als auch der Aufgenommenen. Eine erfolgreiche Integrati- on bietet Vorteile für beide Seiten, hängt allerdings von etlichen Faktoren ab, die nicht erst nach Ankunft im Zielstaat generiert werden, sondern sich bereits im Ausgangsland entwickeln und in Form von Erwartungen und Hoffnungen Einfluss auf die Integrationsebene haben. In einem Drei- phasenmodell des Wanderungsverhaltens bildet die sich teilweise über Jahre hinziehende Phase der Entstehung der Wanderungsbereitschaft bis zur konkreten Entscheidung den Ausgangspunkt des Wanderungsprozesses. Ausschlaggebend dafür sind sog. push- (kulturelle, wirtschaftliche, politische, ethnische Rahmenbedingungen im Ausgangsstaat und Teilhabechancen innerhalb der Gesellschaft) und pull-Faktoren (erwartete bessere Lebensbedingungen im Zielstaat). Die Ent- scheidungsfindung vollzieht sich in der Familie (Mikro-Ebene), innerhalb sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Räume (Meso-Ebene) sowie über politische und wirtschaftliche Machtstrukturen und -hierarchien (Makro-Ebene).131 Der wichtigste Impuls zur Ausreise liegt bei allen Aussiedler- gruppen unzweifelhaft binnen der Familie als zentralem Ort der materiellen und emotionalen Re- produktion, in der die Entscheidung nach Abwägung der push- und pull-Faktoren gefällt wird. Was

129 Vgl. Bade, Klaus J.: Sozialhistorische Migrationsforschung, Göttingen 2004, 29-30. 130 Heinen: Zuwanderung und Integration, S. 45. 131 Hoerder, Dirk / Lucassen, Jan / Lucassen, Leo: Terminologien und Konzepte in der Migrationsforschung, in: Bade, Klaus J. / Emmer, Pieter C. / Lucassen, Leo / Oltmer, Jochen (Hgg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 28, 32-33.

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die Wanderungsbereitschaft der einzelnen Aussiedlergruppen anbetrifft, muss hingegen zwischen zwei historischen Erscheinungen unterschieden werden, die sich aufgrund von Grenzverschie- bungen in Folge des Zweiten Weltkrieges entwickelten. Zum Kriegsende hin bewegten sich nicht nur Menschen über Grenzen hinweg, sondern auch Grenzen über Menschen, wodurch wiederum Wanderungsbewegungen über neu gezogene Grenzen einsetzten.132 Der große Teil der Rumäni- endeutschen, der es nicht schaffte zu fliehen, fand sich in einem sozialistischen rumänischen Staat wieder und die im Osten des Deutschen Reiches beheimateten und während der letzten Kriegs- monate nicht geflohenen deutschen Staatsangehörigen lebten nach der Westverschiebung Polens innerhalb der Grenzen der Polnischen Volksrepublik. Diesen Menschen ist die Heimat im geogra- phischen und emotionalen Sinne nicht genommen worden, der Staat hatte sich aber geändert, was weitreichende Veränderungen auf kultureller und sozialer, wirtschaftlicher und politischer Ebene zur Folge hatte. Ganz im Gegenteil zu den Russlanddeutschen, die zwar weiterhin innerhalb der Sowjetunion lebten, allerdings zwangsweise ihre Heimatgebiete verlassen mussten und keine Hoff- nung auf Rückkehr hatten. Sie hatten alles verloren und mussten sich ein neues Leben aufbauen. Während die einen mit der Aussiedlung ihre angestammten Heimatgebiete verließen, spielte dies für die anderen - zumindest die älteren Generationen - keine Rolle, und die Aussiedlung wurde als Rückkehr in den vermeintlich bekannten Kulturkreis verstanden. Hatten die Aussiedler schließlich die mit der eigentlichen Ausreise zusammenhängenden Hindernisse in Form von staatlichen Aus- reisebestimmungen und Einreise- und Anerkennungsvoraussetzungen im Zielland erfüllt, begann für sie der Prozess der Eingliederung, der sich in der Regel von der Integration über die Akkultu- ration bis hin zur Assimilation über mehrere Generationen vollzieht, jedoch keineswegs einheitlich und zielgerichtet, sondern höchst differenziert ist. Dies steht einerseits mit den mitgebrachten In- tegrationsvoraussetzungen (Sprache, Kultur, Sozialisation etc.), andererseits mit der Aufnahmebe- reitschaft der Aufnahmegesellschaft, die sich je nach wirtschaftspolitischer Lage mal günstiger, mal ungünstiger darstellt, in Zusammenhang. Die Aufnahmebereitschaft wiederum korreliert mit der Zahl der Aufzunehmenden, was im Besonderen seit 1989/90 auch bei den Aussiedlern stark zu beobachten war. Je mehr Aussiedler kamen, und je schwieriger die wirtschaftliche Situation im Lande war, desto geringer war die Akzeptanz für den Zuzug von Zuwanderern.

Ein physischer Migrationsprozess bedingt die Trennung vom bisherigen sozialen Umfeld und den Abbruch von Kommunikationsbeziehungen und eingeübten sozialen Rollen. Der Auswanderer muss sich mitunter in einer vollkommen unbekannten Umgebung zurechtfinden, seine Unsicherheiten und Ängste überwinden, neue soziale Rollen und Verhaltensweisen einüben und Wertgefüge sowie kulturelle Formen im Aufnahmeland kennenlernen und annehmen. In der oftmals unstrukturierten und ungenügend definierten Anfangszeit gestaltet sich dieser Prozess besonders kompliziert.133

Die Absorption in das kulturelle und soziale System des Aufnahmelandes ist schließlich als lang- wierige Institutionalisierung des Verhaltens und der Rollenerwartungen (Spracherwerb, Einnahme neuer sozialer Rollen, Identifikation mit Wertvorstellungen der absorbierenden Gesellschaft), mit deren Zunahme sich auch die Partizipationsmöglichkeiten über die Eigengruppe hinaus erweitern, dem Zuwanderer das Eindringen in die Hauptsphären der absorbierenden Gesellschaft ermög- lichen und aus ihm bzw. seinen Nachkommen funktionsfähige, möglicherweise auch vollwertige Mitglieder der Aufnahmegesellschaft machen, zu verstehen. Der Prozess der Institutionalisierung

132 Bade: Sozialhistorische Migrationsforschung, S. 28-29. 133 Ebenda, S. 46-47.

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ist jedoch auch zwingend aus der Perspektive der aufnehmenden Gesellschaft zu betrachten, da auch sie durch Immigration verändert wird, wenn auch nicht in gleichem Maße, wie die Zuwanderer. Zur völligen Absorption ist die soziale Nähe zur Nehmergesellschaft unabdingbar.134

6.1 Ausreisemotive und Erwartungen an die neue Heimat

Die Ausreisemotive und Erwartungen der Aussiedler an die neue Heimat unterlagen mit der Zeit Veränderungen und Verschiebungen, je nachdem es sich bei den Aussiedlern um eine Erlebnis- generation oder nachfolgende Generationen handelte, und in Abhängigkeit vom Selbstverständnis und vermittelter kultureller Zugehörigkeit. Innerhalb der Erlebnisgeneration kamen mitunter persön- liche Erfahrungen mit Deutschland und den Deutschen sowie dem Staat und der Gesellschaft des Landes hinzu, in dem man vor der Aussiedlung lebte. Für die nachfolgenden Generationen spielte dies insofern eine Rolle, wie Diskriminierungen gegen die Eigengruppe auftraten, was allerdings sehr differenziert zu betrachten ist, da solche Erscheinungen mit der Zeit abnahmen, andererseits durch Eltern und Großeltern aus der Vergangenheit im Bewusstsein gehalten und an die Kinder und Kindeskinder vermittelt wurden, ohne dass diese selbst negative Erfahrungen machten. Eines haben aber alle Aussiedlergruppen gemeinsam: Die Vielschichtigkeit der Aussiedlungsmotive, was sich grundsätzlich positiv auf die Integration auswirken kann.

Bei repräsentativen Befragungen der letzten Jahre nannten Aussiedler im Schnitt drei Motive, die ähnlich stark ausgeprägt waren, neben weiteren weniger wichtigen Gründen für die Aussiedlung. Die mitunter für die Gesamtgruppe der Aussiedler als zentral angenommenen ökonomischen und politischen Motive, aus denen man auf eine persönliche Einschränkung im täglichen Leben schlie- ßen könnte, waren dabei wider Erwarten nicht vordergründig. Bei den Russlanddeutschen spielte der Wunsch „als Deutscher unter Deutschen zu leben“ die größte Rolle, gefolgt vom Wunsch nach Familienzusammenführung und besseren Zukunftschancen für die Kinder. Das wirtschaftliche Mo- tiv hingegen hatte seine größte Ausprägung bei den Aussiedlern aus Polen.135

Bereits Ende der 1960er Jahre war den polnischen Behörden bewusst, dass die Wirtschaftlichkeit eine exponierte Stelle in den Überlegungen der Aussiedlungswilligen einnahm. So wurde versucht Ausreisewillige mit höheren Gehältern und Neubauwohnungen sowie mit Argumenten, in Deutsch- land warte nach einem langen Aufenthalt im Erstaufnahmelager unter schlechten Lebensbedin- gungen die Arbeitslosigkeit oder eine minderwertige Tätigkeit auf sie, zum Verbleib in ihrer wahren Heimat zu bewegen.136

Die These der höherwertigen Bedeutung des wirtschaftlichen Motivs bei den Aussiedlern aus Polen lässt sich durch ein Befragungsergebnis mittelbar erhärten. Während 95% der Rumäniendeutschen und über 77% der Russlanddeutschen angeben, in den Herkunftsregionen deutsches Liedgut, deutsche Sitten und Bräuche gepflegt zu haben, so liegt der Vergleichswert der polnischen Aus-

134 Ebenda, S. 48-49. 135 Fuchs, Marek / Schwietring, Thomas / Weiß, Johannes: Alte und neue Umwelten, in: Lantermann, Ernst-Dieter / Schmitt-Rodermund, Eva / Silbereisen, Rainer K. (Hgg.): Aussiedler in Deutschland. Akkulturation von Persönlichkeit und Verhalten, Opladen 1999, S. 86-87. 136 LAB B Rep. 077, Nr. 1326, Berichte des Beauftragten der Bundesregierung für die Verteilung im Grenzdurchgangslager Friedland vom Februar bis Juli 1971.

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siedler lediglich bei 36,5%, im Kontext kirchlicher Anlässe sogar nur bei 26%.137 Gleichwohl kommt auch in Stepiens Vergleichsgruppe der Legitimierungsdruck gegenüber der Nehmergesellschaft deutlich zum Tragen. 82% der befragten Jugendlichen antworteten auf die Frage nach der Motiva- tion, sie seien Deutsche. Dabei muss bedacht werden, dass die Jugendlichen in der Gebergesell- schaft voll integriert waren, wohingegen die Kenntnisse deutscher Kultur und Sprache rudimentär waren. Darüber hinaus beantworteten 60% der Interviewten diese Frage mit der Familienzusam- menführung, 51% gaben das Verlassen des kommunistischen Systems an und je 48% versprachen sich bessere Zukunftschancen und größere Konsummöglichkeiten. Die befragten Jugendlichen ge- hörten allesamt zu einer Aussiedlergruppe, die während einer großen wirtschaftlichen Misere Polen verließ. Das kommunistische System trat für den Einzelnen jedoch kaum in Erscheinung, negative Erfahrungen wurden über die Eltern und Großeltern an die Kinder herangetragen.138

Anhand repräsentativer bundesweiter und Berliner Befragungen kann die Motivlage russlanddeut- scher Aussiedler im Bundesdurchschnitt mit der Situation in Berlin verglichen werden. Grundsätz- lich handelte es sich auch bei dieser Gruppe um Motivbündel, wobei die Nennungen in Abhän- gigkeit von Migrationsdruck und der Minderheitensituation im Ausgangsstaat standen. Neben dem Wunsch nach Familienzusammenführung und hinter der Hoffnung auf bessere Lebensbedingun- gen und eine sichere Zukunft für die Kinder verbargen sich nicht selten politische Gründe, die mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem aufkeimenden Nationalismus, insbesondere in den mittelasiatischen Staaten, zusammenhingen, beispielsweise mit der Einführung von Kirgisisch oder Kasachisch als Staatssprachen, die für die Russlanddeutschen fremd waren. Wissenschaft- liche Untersuchungen zeigten aber auch, dass sich die Motivlagen mit der Zeit von ideologischen zu wirtschaftlichen verschoben. Bei zwischen 37% und 40% lagen folgende Antworten: Bessere Zukunft für die Kinder, Familienzusammenführung, Rückkehr ins Abstammungsland, Hoffnung auf materielle Verbesserung. Dahinter folgten mit knapp 30% die Erwartung einer besseren Ausbil- dung, 26% wollten als Deutsche unter Deutschen leben, 22% hofften auf eine bessere ärztliche Versorgung, je etwa 20% antworteten, dass alle Deutschen ausreisten bzw. die Eltern ausreisen wollten und nur knapp 13% gaben an, innerhalb eines deutschen Kulturraumes leben zu wollen.139

Im Jahre 1995 wurden im Rahmen einer Vorfeldstudie „zur Lage der Aussiedler/Spätaussiedler im Land Berlin“ der Forschungsstelle Sozialanalysen Berlin e.V. mehr als 3000 Fragebögen an Aussiedler verteilt und 800 Interviews mit Aussiedlerfamilien geführt, anhand derer u.a. auch die Ausreisemotivation untersucht wurde. Peter Ködderitzsch ordnete die Motivlagen in seiner darauf aufbauenden Publikation sowohl einem nachwirkenden historischen (Deportationen, Zwangsum- siedlungen, Auflösung der Wolgarepublik, Restriktionen etc.) als auch einem aktuellen politischen Hintergrund (Zusammenbruch der Sowjetunion, aufkommender Nationalismus in den Nachfolge- staaten) zu. Die Rangfolge der meistgenannten Antworten stellte sich wie folgt dar: 68% wollten eine gesicherte Zukunft für die Kinder, 47% im Heimatland der Vorväter und 33% im deutschen Kultur- kreis leben, 30% verließen ihre Herkunftsregionen aufgrund der Krisenprozesse, 19% aufgrund des Wunsches nach Familienzusammenführung, 19% wegen besserer ökonomischer und beruflicher Perspektiven, 17% aufgrund der Freiheit und sozialen Ordnung in Deutschland und 15% gaben ein Verfolgungsschicksal als Deutscher als Aussiedlungsgrund an. Die ethnischen, kulturellen und fa-

137 Fuchs / Schwietring / Weiß: Alte und neue Umwelten, S. 79-80. 138 Stepien: Jugendliche Umsiedler, S. 55-56. 139 Vgl. Strobl/Kühnel 2000, Dietz/Roll 1998, zitiert nach: Heinen: Zuwanderung und Integration, S. 38.

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miliären Motive wogen somit stärker als soziostrukturelle und ökonomische Motive, wenngleich der Wunsch nach einer besseren Zukunft für die Kinder sicherlich auch in hohem Maße den materiellen Bereich betraf. Wie jedoch der Autor feststellt, darf der politische und wirtschaftliche Hintergrund in den Herkunftsländern, der zum Zeitpunkt der Aussiedlungen und Befragungen eine erhebliche Rolle gespielt hat, nicht außer Acht gelassen werden. Viele scheuten sich demnach wirtschaftliche Gründe für die Ausreise anzugeben und die Antworten lassen oftmals auf „Selbstdarstellungsef- fekte“ schließen.140 Auffällig ist auch die Verteilung der Antworten nach Altersgruppen. Ältere Per- sonen nannten ethnische Gründe bedeutend häufiger als jüngere. In der Heimat der Vorfahren und im deutschen Kulturkreis wollten insbesondere die über 55-jährigen leben. Dagegen spielte für die 35- bis 55-jährigen das Wohl der Kinder eine entscheidende Rolle bei der Entscheidung zur Ausrei- se, während für die unter 25-jährigen wirtschaftliche Verbesserung und berufliche Perspektiven die wichtigsten Faktoren für die Aussiedlung darstellten.141 Die Antworten der Berliner Spätaussiedler differieren von der bundesdeutschen Vergleichsgruppe vor allem bei der Antwort „bessere Zukunft für die Kinder“, die in Berlin ca. 30% höher lag, und der Antwort „Familienzusammenführung“, die in Berlin nur halb so oft genannt wurde wie im bundesweiten Vergleich. Allerdings sprach ein großer Teil der Berliner Aussiedler die wirtschaftspolitischen Krisensituationen in den Herkunftsländern als Aussiedlungsgrund offen an.

6.2 Realität im Ankunftsland

In einen Interviewausschnitt zu einer SWR-Fernsehdokumentation über Spätaussiedler in Berlin- Marzahn für das rbb-Fernsehen aus dem Jahre 2007 stellte der Russlanddeutsche Adolf R. nüch- tern fest: „Die Deutschen wollen mit uns Aussiedlern nichts zu tun haben […] Wir sind fremd hier in Deutschland.“142 Und während eines Interviews im Rahmen einer Studie über die Eingliede- rungssituation von Aussiedlern in Deutschland bezog der Rumäniendeutsche Rudolph E. ein altes Sprichwort über die Migration nach Siebenbürgen auf die der Aussiedler in die Bundesrepub- lik Deutschland: „Die erste Generation erntet den Tod, die zweite die Not und erst die dritte das Brot.“143 Die Enttäuschung des ersten Interviewpartners sowie die überspitzte und anachronisti- sche Formulierung des zweiten deuten zumindest in der Tendenz den Integrationsprozess völlig richtig an: Integration funktioniert nicht von einem auf den anderen Tag, sondern ist ein generati- onenübergreifender Prozess. Umso schwerwiegender scheinen sich Ablehnung und mangelnde Akzeptanz der Nehmergesellschaft gegenüber den Aussiedlern auf deren Integrationswillen und Eingliederungserfolg auszuwirken, gerade dann, wenn auch die wirtschaftliche Situation im Ziel- staat die Arbeitsplatz- und Wohnungssuche erschwert. Gerade diese Faktoren verzögern aber den Beginn eines selbstbestimmten und von staatlichen Leistungen unabhängigen Lebens mitunter stark. Die Ursachen dafür liegen allerdings sowohl auf Seiten der Aussiedler als auch auf Seiten der deutschen Gesellschaft. Anhand zweier historischer Beispiele lassen sich zwei grundlegende Tendenzen der Problematik herleiten. Bereits die deutschen Kolonisten im 18. und 19. Jahrhundert bildeten geschlossene Gesellschaften. So wurden die deutschen Siedler in Südrußland von ih-

140 Ködderitzsch: Zur Lage, S. 37-40,42. 141 Ebenda, S. 42-43. 142 Russland im Regal - Ein Supermarkt für Spätaussiedler in Marzahn (rbb-Fernsehen, aber: SWR-Dokumentation von 2007) - Film von Antje Boehmert und Jean Bouè, http://www.youtube.com/watch?v=3bmTc3wRjQU&NR=1, Filmabschnitt 2/3, Minute 7:10 bis 8:10, Aufruf am 23.11.2010. 143 Zitiert nach: Ferstl / Hetzel: Wir sind immer die Fremden, S. 174.

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ren ukrainischen und russischen Nachbarn um 1900 zwar als rechtschaffen und ordnungsliebend wahrgenommen, jedoch wurde stets auf den Grad der Isolation der deutschen Siedlungen verwie- sen. Die Welt außerhalb der Kolonie war den meisten völlig unbekannt oder zumindest ungenügend bekannt, der Lebensmittelpunkt war auf das eigene Dorf und die Dorfgemeinschaft, in der vor al- lem die Kirche und die Schule zentrale Punkte bildeten, gerichtet. Untereinander gab es eine große Solidarität, gegenüber der übrigen Bevölkerung sonderte man sich jedoch ab.144 Diese aus der Siedlungstradition erwachsene Tendenz zur Abschottung gegenüber anderen ethnischen Gruppen zog sich vor allem bei den Russlanddeutschen zum Teil bis in die 1990er Jahre hin und erhielt nach der Aussiedlung nach Deutschland durch die unerwartete ablehnende Haltung der Nehmergesell- schaft neue Nahrung, was sich besonders deutlich im Rückzug in die Eigengruppe zeigte.

In der bundesdeutschen Gesellschaft zeichnete sich nicht erst nach Kriegsende eine generell ne- gative Haltung gegenüber Zuwanderern ab. Bereits im 19. Jahrhundert hatten etwa die sog. Ruhr- polen mit gesellschaftlicher Ablehnung zu kämpfen. Und noch bevor die ersten Gastarbeiter nach Deutschland kamen, mussten mehrere Millionen Vertriebene integriert werden, was sich ebenfalls alles andere als einfach gestaltete, auch wenn das rasch einsetzende „Wirtschaftswunder“ viele Problembereiche entschärfte. Einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahre 1949 zufolge, begrün- deten 60% der Einheimischen das schlechte Verhältnis zu den Vertriebenen mit deren vermeintlich überzogenen Forderungen, ihrer Arroganz, Rückständigkeit und Unzuverlässigkeit. Besonders ne- gativ fielen den einheimischen Deutschen die unbekannten Lebens- und Denkweisen der Vertrie- benen, ihr Neid und ihre Unzufriedenheit auf. Auf die Gegenfrage antworteten 96% der Vertriebe- nen, die Eingesessenen seien egoistisch, herzlos, geizig, verständnislos gegenüber dem Schicksal der Vertriebenen und überheblich.145 Zwar waren die Integrationschancen der Nachkriegsvertrie- benen ungleich günstiger (Sprachkenntnisse, kulturelle Kompetenz, wirtschaftlicher Aufschwung) als der Aussiedler nach 1970 und im Besonderen seit 1990, dennoch zeigen die Antworten beider Gruppen zu allen Zeiten das gleiche Muster auf.

Auf besonders große Probleme trafen diejenigen Aussiedler, die sich von ihrem Selbstverständnis her als Deutsche bezeichneten. Dabei handelte es sich einerseits um den Teil der Aussiedler, der Sprache, Kultur und Brauchtum sowie das religiöse Bekenntnis als Merkmale des eigenen Deutsch- seins verinnerlicht hatte. Dieses von Generation zu Generation weitergegebene und identitätsstiften- de kulturelle und mentale Erbe der Vorfahren traf in der Bundesrepublik Deutschland auf eine sich rasch entwickelnde moderne Gesellschaft, die in den Orientierungsnormen und Wertvorstellungen der Aussiedler ein fremdes und zeitlich weit zurückliegendes Element, möglicherweise auch der eigenen und teils verdrängten Geschichte, erblickte. Die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremd- wahrnehmung wurde durch die sozialistische Prägung der Aussiedler, fremd wirkende Lebensfor- men und Kleidungsnormen sowie Sprachprobleme (unverständliche Akzente) noch verstärkt.146 Ein Beispiel verdeutlicht dies: Im Jahre 1991 wurden Russlanddeutsche in Kasachstan nach ihrer Muttersprache befragt, worauf 65% mit „Deutsch“ antworteten. Tatsächlich beherrschten aber nur

144 Brandes, Detlef: Zur „friedlichen Eroberung“ Südrußlands durch die deutschen Kolonisten, in: Fleischhauer, Ingeborg / Jedig, Hugo H. (Hgg.): Die Deutschen in der UdSSR in Geschichte und Gegenwart, Baden-Baden 1990, S. 131-132. 145 Ingenhorst: Die Rußlanddeutschen, S. 82-83. 146 Bade, Klaus J.: Fremde Deutsche. Republikflüchtlinge. Übersiedler. Aussiedler, in: Bade, Klaus J.: Deutsche im Ausland - Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992, S. 409-410.

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Ausreisemotive russlanddeutscher Aussiedler aus einer Berliner Perspektive

Andreas Techel (Diakon, geb. 1953 in Berlin-Wedding; Evangelische Flüchtlingsseelsorge, seit 1987 kontinu- ierlich in der ZAB in Berlin-Marienfelde tätig), Interview vom 12.10.2010:

„Kein einziger kam aus einem einzigen Grunde. Wirtschaftliche und politische Gründe waren Anfang der 1990er Jahre selbstverständlich vorherrschend. In Russland herrschte Inflation und die Renten gingen den Bach runter. Viele Menschen - insbesondere die älteren - hatten Angst, wieder verfolgt zu werden. Und ganz wichtig war die Zukunft der Kinder; die Kinder sollten es mal besser haben. Dahinter verbarg sich die Vorstel- lung, dass man es als Deutscher unter Deutschen leichter haben werde.“

Nelli Stanko (geb. 1959 in Nordkasachstan, 1992 nach Berlin ausgesiedelt; ehemalige Leiterin der Zentralen Beratungsstelle für Aussiedler in der ZAB in Berlin-Marienfelde), Interview vom 11.10.2010:

„Meine Lebens- und Berufserfahrung bestärken mich in der Meinung, dass ein Großteil der Russlanddeutschen auswanderte, weil sie sich als Deutsche gefühlt haben und unter Deutschen leben wollten. Der andere wichtige Grund war eindeutig die Familienzusammenführung. Sicher hat auch die Wirtschaftlichkeit eine gewisse Rolle gespielt, aber nicht die entscheidende. Die Ausreisewilligen haben ihre gesamte Existenz und ihre Jobs – nicht selten ihre guten Berufe – im Herkunftsland aufgegeben. Hier erwartete sie zunächst ein ungewisses Los. Die meisten waren im Vorfeld der Ausreise nicht ausreichend informiert, weder über das gesellschaftliche System an sich, noch über die konkrete Problematik bei der Anerkennung von Bildungs- und Berufsabschlüssen. Letz- teres erschwerte insbesondere den Akademikern die berufliche Integration. Viele nahmen dabei den sozialen Abstieg in Kauf – zumindest in der Anfangszeit - und waren sich nicht zu schade, schlecht bezahlte Jobs anzu- nehmen, um eine Abhängigkeit von den Sozialleistungen des Staates zu vermeiden bzw. zügig zu beenden.“

Lilli Selski (1993 aus Moskau nach Berlin ausgesiedelt; seit 1995 Leiterin der Beratungsstelle für Aussiedler im Bezirk Reinickendorf), Interview vom 27.10.2010:

„Die allermeisten sind gekommen, weil sie dort als Deutsche wirklich sehr viel durchgemacht hatten und nicht vergessen konnten, was der Familie früher angetan wurde. Sie wollten jetzt unter Ihresgleichen und den Menschen, mit denen sie zusammenleben, auch gleichgestellt sein. Natürlich hat sich die Situation seit Ende der 1980er Jahre in der UdSSR verschlechtert, andererseits war sie zu keiner Zeit besonders gut. Al- lerdings ist keiner nach Deutschland gekommen, weil er dort gehungert hat. Jedoch hatten die Leute keine Zweifel daran, dass das Leben hier besser sein würde. Und natürlich sind alle frustriert, die in Berlin keine Arbeit finden, denn keiner hat damit gerechnet. Sie waren allesamt davon überzeugt, dass sie hier eine Ar- beit bekommen würden, selbst dann noch, als sie von Bekannten hörten, dass es in Berlin an Arbeitsplätzen mangelte. Trotzdem hat jeder gedacht, ich bin fleißig, ich finde schon eine Arbeitsstelle. Und hier mussten sie dann feststellen, dass das mit Fleiß und Können überhaupt nichts zu tun hat.“

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ca. 3,5% die deutsche Sprache.147 Die Nennung der deutschen Sprache fand offensichtlich eine primordialistische Anwendung, in dem Sinne, dass die Muttersprache nicht diejenige ist, mit der man aufwächst und die man beherrscht, sondern die ursprüngliche Sprache der Väter, die man unverschuldet verloren hat, aber wiederfinden kann. Die fehlenden Kenntnisse der deutschen Spra- che bei gleichzeitiger Behauptung Deutscher zu sein, stießen in der Nehmergesellschaft allerdings auf Unverständnis. Dennoch war für viele russlanddeutsche Aussiedler die Abstammung aus einer deutschen Familie das entscheidende Kriterium des „Deutschseins“. Subjektives Zugehörigkeits- gefühl, Familientraditionen und auch das aktive Beherrschen der deutschen Sprache spielten eine untergeordnete Rolle.148

Die andere Gruppe der Aussiedler mit einem deutschen Selbstverständnis reduzierte das eigene Deutschtum - womöglich unbewusst - auf Stereotype (Fleiß, Sauberkeit, Ordnung etc.) und kon- struierte die eigene Identität zudem über das durch die Eltern und Großeltern weitergegebene Wissen, den deutschen Familiennamen und aus den Fremdzuschreibungen der Ausgangsgesell- schaft. Problematisch wurde dies mit der Aussiedlung nach Deutschland, wo dieses Selbstbild von den Einheimischen verifiziert wurde und sich nicht selten als inadäquat herausstellte. Jedwede Kommunikation mit einheimischen Deutschen war somit nicht selten allein schon dadurch belastet, dass sie eine latente Verteidigung des eigenen Selbstverständnisses und der eigenen Identität notwendig machte bzw. zu Selbstzweifeln und einer Umpolung der Identität führte.149

Noch in den Siebzigerjahren stand die deutsche Gesellschaft den zumeist aus Polen kommenden Aussiedlern weitestgehend aufgeschlossen gegenüber. Offensichtlich war einerseits das Verständ- nis für die Situation der Aussiedlungswilligen aufgrund der zeitlichen Nähe und im Kontext des Ost-West-Konflikts noch größer und in breiteren Bevölkerungsschichten vorhanden. Eine Umfrage aus dem Jahre 1976 ergab, dass 77% der Bundesbürger die Aussiedler aus Polen als willkommene Zuwanderer ansahen. Dies wurde mit dem schweren Schicksal der Menschen erklärt, die ein Recht auf Heimat hätten. Die Gegner machten weniger als ein Viertel aus und begründeten ihre negative Haltung mit der schwierigen Wirtschaftslage und der hohen Zahl von Arbeitslosen. Die Aussiedler hätten falsche und allzu positive Vorstellungen von der Realität in der Bundesrepublik Deutsch- land.150 In den folgenden Jahren veränderte sich die Situation merklich. Nach einer Umfrage des Allensbach-Instituts für Demoskopie 1988 setzte etwa ein Drittel der Befragten Aussiedler mit Asyl- bewerbern gleich. Bereits in dieser Untersuchung ging man davon aus, dass sich das negative Bild in den kommenden Jahren noch verstärken werde151, was sich sehr schnell mit dem starken Anstieg der Aussiedlerzahlen bewahrheiten sollte. Im Dezember 1991 forderte Gerhard Pieschl, Weihbi- schof von Limburg und seit 1983 Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz für die katholi- sche Vertriebenen- und Aussiedlerseelsorge, im Zusammenhang mit den Gewaltaktionen gegen Asylbewerber und Ausländer, infolge derer es auch zu Auseinandersetzungen um die als Fremde

147 Schütte, Georg: Identitätszweifel und Kontaktbarrieren. Russlanddeutsche in Berlin, in: Owald, Ingrid / Voronkov, Viktor (Hgg.): Post- sowjetische Ethnizitäten. Ethnische Gemeinden in St. Petersburg und Berlin / Potsdam, Berlin 1997, S. 225. 148 Dietz, Barbara: Jugendliche Aussiedler in Deutschland. Risiken und Chancen der Integration, in: Bade, Klaus J. / Oltmer, Jochen: Aussiedler. Deutsche Einwanderer aus Osteuropa, 2. Aufl., Göttingen 2004, S. 160-162. 149 Schütte: Identitätszweifel, S. 225-226. 150 LAB B Rep. 077, Nr. 1165, Polen-Aussiedler sind willkommen, Süddeutsche Zeitung vom 28./29.2.1976. 151 Lantermann, Ernst-Dieter / Schmitt-Rodermund, Eva / Silbereisen, Rainer K.: Aussiedler in Deutschland, in: Lantermann, Ernst-Die- ter / Schmitt-Rodermund, Eva / Silbereisen, Rainer K. (Hgg.): Aussiedler in Deutschland. Akkulturation von Persönlichkeit und Verhalten, Opladen 1999, S. 17.

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wahrgenommenen deutschen Aussiedler und ihre Familien gekommen war, dass Fremde, also Berliner Kontroverse Ausländer, Flüchtlinge oder Aussiedler, nicht als Lilli Selski: Sündenböcke für wirtschaftliche und politische Probleme herhalten dürften.152 Etwa zur glei- „Die Ablehnungshaltung der Einheimischen, die einem chen Zeit formulierte der über Jahrzehnte in der ja vorausläuft, noch bevor man überhaupt mit den Einhei- mischen Kontakt hat, ist für viele Aussiedler nach wie vor Evangelischen Flüchtlingsseelsorge in Berlin ak- schwer nachzuvollziehen. Damit hat keiner gerechnet. tive evangelische Pastor Dr. Günter Köhler in ei- Die Erfahrung, abgelehnt zu werden, noch bevor man nem offenen Brief an die Politik, die Gründe für mit jemandem gesprochen hat, haben viele Menschen die negative Einstellung gegenüber Aussiedlern zuvor nicht gemacht. Dort wurden wir früher von den Be- hörden schikaniert, aber nicht von der Bevölkerung. Hier in den neuen Bundesländern folgendermaßen: war es umgekehrt, die Behörden kümmerten sich um „Es mag mir nicht zustehen, dies zu beurteilen, uns, aber von Seiten der Bevölkerung hat man viel Ab- doch bin ich zu der Überzeugung gekommen, lehnung erfahren. Dies betraf insbesondere die Jugend- daß sich Politiker aller Parteien kaum Verdienste lichen, leider auch an den Schulen. Viele Lehrer haben sich keine Mühe gegeben, den einheimischen Schü- zur Förderung der Aufnahmebereitschaft in der lern zu erklären, wer da kommt und warum er anders Bevölkerung der neuen Bundesländer erworben ist. Da gab es viele Enttäuschungen bei den Jugendli- haben.“153 chen. Und gerade für sie ist die Akzeptanz ganz beson- ders wichtig ist, viel wichtiger als für die Erwachsenen.“ In Berlin kam es in diesem Kontext darüber hi- naus noch zu Spannungen aufgrund der zent- Rainer Bonne (seit 1979 Lehrer, seit Mitte 2009 Rektor ralen Unterbringung legal eingereister DDR- der Kiepert-Grundschule in Berlin-Marienfelde) Bürger und DDR-Flüchtlinge sowie Aussiedlern „Aus meiner langjährigen Erfahrung kann ich sagen, im Durchgangsheim Marienfelde. Die Konflikte dass die Kontakte zwischen den Aussiedlern in der ZAB, wurden durch Vorurteile, räumliche Enge und deren Kinder unsere Schule besuchten, und den einhei- verhaftete Stereotype ausgelöst. In den 1980er mischen Eltern und Kindern überwiegend positiv waren. Jahren wurden die Aussiedler insbesondere Es gab auch immer wieder Eltern, die diese Kinder zu sich eingeladen haben, was in der Anfangszeit gar nicht aufgrund ihrer geringen Deutschkenntnisse so leicht war, da in den ersten Jahren meiner Tätigkeit zum Objekt von Diskriminierungen und offener der Zugang zur ZAB nicht frei war und man sich zuvor Ablehnung, was insbesondere in den langen ausweisen musste, was sich erst Ende der 1980er Jah- Warteschlangen augenfällig war. Die Situation re und mit dem Mauerfall änderte. Die Kontaktaufnah- me war aber immer möglich, da sich auch die dortige verschärfte sich nochmals nach dem 9. Novem- Verwaltung stets hilfsbereit zeigte. Die meisten hiesigen ber 1989 als die Zahl der DDR-Bürger und der Eltern waren immer sehr zugetan, sehr offen und sehr Aussiedler in die Höhe schnellte, und mehrere unterstützend. Es gab nur sehr wenige Eltern, die Vor- Familien sich kurzzeitig Zimmer oder Wohnun- behalte gegenüber den Aussiedlern hatten.“ gen im Durchgangslager oder in den Außenhei- men teilen mussten.154 Wie auch bei den Ableh- nungsmotiven der einheimischen deutschen Bevölkerung spielte sicherlich auch hierbei, neben den offensichtlichen nationalen Motiven, auch Sozialneid eine Rolle, wie die Verweise auf die wirt- schaftliche Lage und die knappen Arbeitsplätze im Lande sowie die leerer werdenden Staatskas- sen zeigten. Allerdings muss dieses vielfach in den Medien ausgegriffene Motiv relativiert werden, da es beispielsweise keine aussagefähigen bundesweiten Statistiken gibt, die den Anteil der Aus-

152 LAB B Rep. 077, Nr. 1233, Pieschl fordert klare Perspektiven für Rußlanddeutsche, Katholische Nachrichtenagentur KANN, Aktueller Dienst Inland 286, 11.12.1991. 153 Köhler: Notaufnahme, S. 422. 154 Wendt / Curth: Fluchtziel Berlin, S. 48.

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siedler an den Sozialhilfeempfängern darstellen, weder in der Vergangenheit noch aktuell.155

Jugendliche traf die ablehnende Haltung vor allem in den Schulen hart. So berichteten russland- deutsche Schulkinder in Berlin in den 1990er Jahren besonders häufig von Diskriminierung oder Stigmatisierung als „Russen“ durch ihre Schulkameraden und von der Scheu der Benutzung der russischen Sprache in der Öffentlichkeit.156

Paradox an den durch die ablehnende Haltung der Nehmergesellschaft hervorgerufenen Margina- lisierungstendenzen der Aussiedler ist die Tatsache, dass nur etwa ein Drittel der bundesdeutschen Bevölkerung vor dem Ende der 1940er Jahre innerhalb des jetzigen Gebietes lebte. Anders gesagt, in bis zu zwei Dritteln der deutschen Familien sollten seit 1945 Wanderungserfahrungen gemacht worden sein. Die anzunehmende Sensibilität für dieses Thema und gegenüber den Sorgen und Nöten der Aussiedler fehlte beim Großteil der Bevölkerung dennoch. Stattdessen wurden Migranten vielfach als Gefahr für die soziale Sicherheit wahrgenommen, was auf ein lückenhaftes kollektives Gedächtnis hindeutet.157

Die Schwächen der Nehmergesellschaft wurden von den Aussiedlern ebenfalls sehr genau wahrge- nommen. Bereits Jugendlichen wurde sehr schnell das generell gespannte Verhältnis der Nehmer- gesellschaft zu Fremden bewusst158, ebenso wie die Unwissenheit der einheimischen Deutschen über die Geschichte der Aussiedler und ihr Unverständnis gegenüber der Aufnahme von „Russen“ in Deutschland den Aussiedlern nicht verborgen blieben.159 Befragungen in Berliner Jugendclubs im Rahmen einer Feldstudie ergaben, dass jugendliche russlanddeutsche Aussiedler die einheimi- schen Deutschen als verschlossen und kalt, zurückgezogen und oberflächlich bezeichneten und ihnen gegenüber zwischenmenschliche Distanz empfanden.160 Dieser Aspekt ist hochinteressant, denn die Aussiedler kommen in aller Regel mit einem überaus positiven Bild von Deutschland und den Deutschen in die Bundesrepublik. Je länger sie allerdings in Deutschland leben, sich mit der Gesellschaft langsam vertraut machen und das Sozialverhalten der einheimischen Deutschen und ihre Einstellung zu den Aussiedlern kennenlernen, umso negativer wird dieses Bild. Untersuchun- gen haben ergeben, dass sich die Aussiedler bereits nach zwei Jahren in Deutschland hinsichtlich des sozialen Verhaltens positiver bewerten, als sie die einheimischen Deutschen nach ihrer Ankunft selbst bewerteten. Enttäuschend und desillusionierend ist diese Erfahrung insbesondere für die Gruppe der Aussiedler, die im Herkunftsland das Deutschtum gepflegt hat, die einzelnen Baustei- ne dieses Deutschtums vor Ort aber nicht vorfindet.161 Diese anhand von Quellenmaterial belegte grundlegend ablehnende Haltung ist sicherlich nicht die ganze Wahrheit, wie die Erinnerung des Berliner Schulleiters Rainer Bonne andeutet. Wie auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen sind positive Beispiele immer selten, negative werden hingegen von Medien gerne aufgegriffen. Als

155 Dietz: Jugendliche Aussiedler, S. 167. 156 Alltagsprobleme in Berlin, Die Tageszeitung vom 22.1.1999, zitiert nach: Heinen: Zuwanderung und Integration, S. 37. 157 Lantermann / Schmitt-Rodermund / Silbereisen: Aussiedler in Deutschland, S. 19. 158 Stepien: Jugendliche Umsiedler, S. 55-56. 159 Eckert, Roland / Reis. Christa / Wetzstein, Thomas A.: Konflikte zwischen einheimischen und Aussiedlerjugendlichen, in: Bade, Klasu J. / Oltmer, Jochen: Aussiedler. Deutsche Einwanderer aus Osteuropa, 2. Aufl., Göttingen 2004, S. 196-197. 160 Baerwolf: Identitätsstrategien, S. 187. 161 Fuchs, Marek / Schwietring, Thomas / Weiß, Johannes: Integration und Akkulturation, in: Lantermann, Ernst-Dieter / Schmitt-Roder- mund, Eva / Silbereisen, Rainer K. (Hgg.): Aussiedler in Deutschland. Akkulturation von Persönlichkeit und Verhalten, Opladen 1999, S. 354-355.

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Gegenpol dazu ist Kapitel 7.6 dieser Arbeit zu betrachten. Dennoch lässt sich tendenziell festhal- ten, dass Eingliederung und Integration durch eine ablehnende Haltung der Nehmergesellschaft bereits zu Beginn unnötig erschwert wurden und die Aussiedler unter Legitimationsdruck standen, dem sie kaum ein Argument wirkungsvoll entgegenhalten konnten. Im Gegensatz dazu wirkte sich die organisierte Unterstützung der Behörden und Ämter positiv auf die Integration aus.

6.3 Reaktionen der Aussiedler auf Ablehnung und Diskriminierung

Der Prozess der Absorption in das neue soziale und kulturelle Umfeld gestaltete sich in zweifacher Weise schwierig. Einerseits war die Einstellung der Nehmergesellschaft gegenüber den Aussiedler einer raschen Integration und Institutionalisierung der Rollenerwartungen hinderlich, andererseits war eine Kontaktaufnahme zur einheimischen deutschen Bevölkerung durch die Schaffung institu- tionalisierter Räume (Übergangswohnheime, Sprachkurse, Integrationsveranstaltungen), in denen die Aussiedler bei langanhaltender Arbeitslosigkeit teils über Jahre isoliert blieben, fast unmög- lich.162 Die Einwanderungssituation und die Unterschiede im Habitus, in den tendenziell kollektiven Wert- und Moralvorstellungen, der Sozialisation und der Bedeutung der (Groß-)Familie als Mittel- punkt des sozialen Lebens gegenüber der hiesigen Gesellschaft, führten in Verbindung mit der innerhalb der Nehmergesellschaft nicht akzeptierten Form des „Deutschseins“ zu Unsicherheit und Ambivalenz, Verwirrung und Überlastung. Eingeübte Verhaltensstrategien scheiterten in der unbe- kannten Umgebung, was zum Rückzug in den familiären Bereich führte, was sich aber durchaus positiv auf den Integrationsprozess auswirken konnte, da emotionale Wärme, gegenseitiges Ver- ständnis für die Probleme des alltäglichen Lebens und Zusammenhalt insbesondere die schwie- rige Anfangszeit zu überwinden halfen.163 Zugleich gestaltete sich das traditionelle Familienleben mit der Zeit immer problematischer, und das bei allen Aussiedlergruppen. Nach und nach entwi- ckelten sich innerhalb der Familien Generationenkonflikte entlang von Werte- und Normgefügen. Ganz deutlich kam die Konsumorientierung der Aussiedlerjugendlichen in den ersten Monaten und Jahren zum Vorschein. Die Elterngeneration war mit den allmählichen Veränderungen im Verhalten und in den Wertorientierungen ihrer Kinder, die sich in Richtung Individualismus entwickelten, nicht selten überfordert, was zunehmend bis zu Entfremdungserscheinungen führen konnte.164

Diese Entwicklung ging allerdings nicht zwangsläufig mit verbesserten Integrationschancen einher. Wie Untersuchungen gezeigt haben, waren die Teilhabechancen von Aussiedlerjugendlichen, wie auch bei allen anderen jugendlichen Zuwanderern, abhängig von den Sprachkenntnissen, die wie- derum Voraussetzung für das Knüpfen von Kontakten zu Einheimischen waren, und der finanziellen Situation der Eltern, von der man zumindest zu Beginn ausgehen konnte, dass sie schlecht war. Zwar sind Aussiedler der in Deutschland verbreiteten organisierten Freizeitgestaltung wenig zuge- neigt gewesen165, allerdings scheint der weit wichtigere Grund dafür darin zu liegen, dass diese hierzulande fast ausnahmslos mit Kosten verbunden ist, was den Aussiedlern aus ihren Herkunfts-

162 Schütte: Identitätszweifel, S. 231. 163 Hänze, Martin / Lantermann, Ernst-Dieter: Familiäre, soziale und materielle Ressourcen bei Aussiedlern, in: Lantermann, Ernst-Die- ter / Schmitt-Rodermund, Eva / Silbereisen, Rainer K. (Hgg.): Aussiedler in Deutschland. Akkulturation von Persönlichkeit und Verhalten, Opladen 1999, S. 144-145. 164 LAB B Rep. 077, Nr. 1231, Schreiben des Internationalen Bundes Berlin - Konzeption für eine Jugendarbeit im LASOZ, Juni 1992; Stepien: Jugendliche Umsiedler, S. 21. 165 Heinen: Zuwanderung und Integration, S. 40, zitiert nach: Strobl/Kühnel 2000.

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ländern unbekannt war. Viele Negativerfahrungen der ersten Zeit nach der Ankunft in Deutschland wirkten sich bei einem nicht unerheblichen Teil der Aussiedler auf den psychischen Zustand aus. Das Gros der Aussiedler war in den Herkunftsregionen grundsätzlich akzeptiert und integriert, was ganz besonders für Kinder und Jugendliche galt. Auch der Lebensstandard der Menschen entsprach sowohl in Polen und Rumänien als auch in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten dem der übrigen Bevölkerung, und der Verweis auf die eingeschränkten politischen Freiheiten im Herkunftsland ist ebenso zu hinterfragen, da bei den Aussiedlern im Zuge des allmählichen Ken- nenlernens der deutschen Gesellschaft grundsätzlich der Ruf nach mehr Autorität und weniger Liberalismus erfolgte - die Aussagen zur sozialen Not und politischen Unfreiheit können ebenfalls unter dem Faktor der „sozialen Erwünschtheit“ betrachtet werden. Die Erfahrung des Lagerlebens in den Übergangswohnheimen und der Arbeitslosigkeit, die ganz besonders seit den 1990er Jah- ren zu einem ernsthaften Problem für die Menschen aus den ehemaligen sozialistischen Staaten wurde, wo Arbeitslosigkeit in Form von Erwerbslosigkeit bis zur gesellschaftspolitischen Wende fast etwas Unbekanntes war, führte oftmals zu depressiven Stimmungen, die allerdings nicht nach außen getragen wurden, was die vorangegangene Idealisierung des Zielstaates und der Wande- rungsentscheidung an sich und vor allem gegenüber den Kindern infrage gestellt hätte. Auch De- gradierungs- und Erniedrigungserfahrungen waren nicht selten und der Ausbruch aus der Isolation nur schwer möglich. Bei Jugendlichen kamen noch Identitätsstörungen hinzu, die sich beispiels- weise in Autoritätskonflikten äußerten oder in der Wendung zur ihnen durch die Nehmergesellschaft zugeschriebenen negativen Identität. Folge konnten übermäßiger Alkoholkonsum oder Delinquenz- verhalten, ausgelöst durch die Konsumorientierung, sein.166 Der Rückzug in die Eigengruppe be- traf hingegen fast alle Altersgruppen gleichermaßen, was sich an der Sprachverwendung auffällig zeigte. Nicht nur Jugendliche strukturierten ihre Identität um, verstanden sich nun als Russen und verwendeten innerhalb der Cliquen ausschließlich die Muttersprache, was auch bei älteren Men- schen aufgrund der hohen Erwartungen der Nehmergesellschaft an die deutsche Sprache nicht selten vorkam - beispielsweise sprachen ältere russlanddeutsche Aussiedler zumeist einen Dialekt. Die Kommunikation innerhalb der Eigengruppe in Russisch war und ist üblich.167

Aussiedler aus Oberschlesien wiederum zeigten in der Regel einen Hang zur Überanpassung, was sich auch in der Sprachverwendung zeigte. Oft übten Eltern Druck auf ihre Kinder aus, nur noch Deutsch zu sprechen, was bisweilen zu einer doppelten Sprachnot führte, da die Deutschkenntnis- se sowohl bei den Eltern als auch bei den Kindern zu Beginn noch nicht ausreichten, um auf allen relevanten Gebieten zu kommunizieren, wohingegen die Muttersprache nach und nach in Verges- senheit geriet.168 Dieses Problem veranschaulichte der Rektor der Berliner Kiepert-Grundschule in einem Interview: „Wenn jemand mal im Streit einen anderen als ´Polacke` beschimpft hat, haben wir in der Regel feststellen müssen, dass es meistens ein Schüler war, der die gleiche Herkunft hatte, aber drei oder vielleicht sechs Monate länger in Deutschland war.“169 Die Kinder hatten offen- sichtlich ein gespanntes Verhältnis zur Herkunftssprache und zum Herkunftsland, was ihnen zum großen Teil sicherlich auch zu Hause vermittelt wurde. Sehr schnell gingen Sprachkompetenzen im Zielland verloren, wie Rainer Bonne weiter feststellte: „Viele wollten das Polnische nach kurzer Zeit nicht mehr verstehen. Wenn ein Neuankömmling sich nicht verständlich machen konnte, ha-

166 Masumbuku: Psychische Schwierigkeiten, S. 139 ff. 167 Schütte: Identitätszweifel, S. 230. 168 Masumbuku: Psychische Schwierigkeiten, S. 123. 169 Interview mit Rainer Bonne vom 29.11.2010.

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ben meistens die Kinder geholfen, die noch weniger als ein halbes Jahr da waren. Diejenigen, die schon länger in Berlin waren, antworteten auf Anfrage der Lehrer, sie hätten schon alles vergessen und könnten das nicht mehr.“170 Der Wunsch nach Akzeptanz durch die Nehmergesellschaft, die Dankbarkeit für die Möglichkeit einer Zukunft in einem wohlhabenden und demokratischen Staat sowie die Identifikation mit dem eigenen Rechtsstatus bedingten diesen Hang zur Überanpassung, der sich im Ablegen der bisherigen kulturellen Identität offenbarte. Vor allem die Kinder sollten nicht mehr als Fremde auffallen. Leider ging damit auch der Verlust kultureller und sprachlicher Kompe- tenzen sowohl für die Betroffenen selbst als auch für die deutsche Gesellschaft verloren.

Gemeinsam war allen Aussiedlergruppen zu jeder Zeit eine überwiegend konservative Werthaltung, die sich in vielen Lebensbereichen in Deutschland mit liberalen Vorstellungen auseinandersetzen musste. Es kam aber auch durchaus vor, dass Aussiedler - wenn sie denn etwas zu bemängeln hatten - das fehlende Nationalbewusstsein der Deutschen kritisierten.171 Die langjährige Caritas- Mitarbeiterin im Durchgangslager Berlin-Marienfelde, Ursula Reishaus, erinnert sich: „Gerade mit der Mentalität der älteren Aussiedler hatte ich anfangs Probleme. Vor allem dieses überproduzierte Deutschsein war für mich nicht nachvollziehbar. Mit der Zeit lernte ich aber, dass da persönliche Schicksale und Ereignisse dahinter steckten und wurde demgegenüber nachsichtiger.“172 Die per- sönliche Erfahrung von Leid und Benachteiligung, die - bei vollem Bewusstsein der Unangemes- senheit einer Hierarchisierung von Leid - vor allem die Russlanddeutschen in der Nachkriegszeit machen mussten, und andererseits die Unkenntnis über den Aufarbeitungsprozess der Geschichte des Dritten Reiches in Deutschland, führten bei manch einem Aussiedler zu überzogenen nationa- len Ansichten. Die wohl radikalste Reaktion auf die vorgefundene Wirklichkeit in Deutschland war die Rückkehr in das Herkunftsland. Wie viele Menschen diesen Weg einschlugen ist nur in Bruch- stücken nachvollziehbar, da über die Rückkehrer grundsätzlich keine Statistiken geführt wurden (es erwies sich als überaus schwierig repräsentatives Zahlenmaterial zu sammeln, weil der Entschluss zur Rückkehr oftmals erst nach dem Aufenthalt in einem Übergangslager gefasst wurde). Ende der 1970er Jahre ging man davon aus, dass etwa 1,5% der Aussiedler aus Enttäuschung oder Unzufriedenheit in ihre Heimat zurückkehrten.173 Die Rückkehrbereitschaft hing aber hauptsächlich davon ab, inwiefern man im Herkunftsland wieder Fuß fassen, also etwa die Arbeitsstelle wieder antreten konnte, und möglicherweise ein Haus oder eine Wohnung besaß. Wider Erwarten gestalte- te sich dies für Aussiedler aus Polen sogar noch vor den Wendejahren 1989/90 einfacher, als etwa für Russlanddeutsche in der Zeit danach. Vielfach besaßen die Menschen in Polen noch Haus und Hof und teils vereinbarten sie vor der Ausreise mit ihren Chefs unbezahlten Urlaub. Viele Männer reisten zunächst allein nach Deutschland aus und holten die Familie erst nach, wenn Arbeitsstelle und Wohnung gefunden waren. Für die Russlanddeutschen war allein schon die Entfernung bei- spielsweise aus Sibirien, Kasachstan oder den anderen mittelasiatischen Nachfolgestaaten der UdSSR ein großes Hindernis für eine Rückkehr, nicht zuletzt aufgrund der noch vor einigen Jahren immens teuren Flugtickets. Zudem mussten viele Russlanddeutsche Haus und Hof verkaufen, um die Ausreise und mit ihr zusammenhängende Dinge finanzieren zu können.

170 Ebenda. 171 LAB B Rep. 077, Nr. 1227, Immer mehr Aussiedler aus Schlesien, Ostpreußen und Pommern wollen in Berlin eine neue Heimat finden, Berliner Morgenpost vom 19.3.1978. 172 Interview mit Ursula Reishaus vom 27.10.2010. 173 LAB B Rep. 077, Nr. 1165, Für Aussiedler gibt es Arbeitsplätze, FAZ vom 6.6.1978.

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Die fortschreitende Globalisierung und Vernetzung aller Lebensbereiche in den letzten zwei Jahr- zehnten hat nicht zuletzt auch Auswirkungen auf die Lebensprojekte von Menschen gehabt. Im- mer weniger ist die Zugehörigkeit eines Individuums zu einer sozialen, kulturellen oder ethnischen Gruppe von einem bestimmten Territorium abhängig. Die Verdichtung von Raum und Zeit und die Herauslösung sozialer Beziehungen aus lokalen und nationalen Kontexten ermöglichen Verge- sellschaftung oder Entstehung von Subkulturen abseits eines territorialen Verständnisses. Diese grenzüberschreitenden Prozesse werden als Transnationalität bzw. Translokalität bezeichnet.174 Die in den letzten Jahren zunehmende grenzüberschreitende Mobilität und multinationale Verortung verändert auch die Integrationsbemühungen von Migranten, so auch von Aussiedlern. Identitäts- bildung und Wertvorstellungen sind nicht mehr auf einen festen geographischen Punkt fixiert, son- dern erfahren eine Ausgestaltung durch die Verknüpfung von Migrations- und Herkunftsort sowie den einzelnen Lebensmittelpunkten, die inzwischen auch einem stetigen Wechsel unterworfen sind. Eine plurilokale Lebensführung wird zudem über Medien und die Möglichkeit zügiger Ortswechsel erleichtert.175 Die seit 1990 einwandernden Russlanddeutschen pflegen inzwischen immer inten- sivere Kontakte in die Herkunftsregionen176, die auch von den Aussiedlern aus Polen aufrechter- halten und sogar ausgebaut werden. Zum Teil führen polnische Aussiedler wie selbstverständlich ein Leben zwischen Oberschlesien und Berlin, zwischen Ruhrgebiet und Kattowitzer Industriere- vier. Selbst früher eingewanderte Aussiedler knüpfen neue und intensive Kontakte nach Schlesien, Pommern, Ermland und Masuren. Junge ambitionierte Menschen nutzen aktiv ihre kulturellen und sprachlichen Kompetenzen für den Beruf, die Karriere und in der Freizeit. Integration kann im 21. Jahrhundert unmöglich mehr innerhalb eines nationalstaatlichen Zusammenhanges gedacht wer- den. Das klassische Verständnis von Integration als einem einseitigen Prozess der unweigerlich zur Assimilation führt, muss ad acta gelegt und an translokale und transnationale Realitäten angepasst werden. Nur so können wirtschaftliche wie kulturelle Potenziale für Deutschland effektiv abgerufen und nutzbar gemacht werden. Auch die Vorstellung, dass möglichst viele Motive zur Aussiedlung nach Deutschland ein großer Vorteil für die Integration waren und vor allem ideelle Motive (als Deut- scher unter Deutschen leben, innerhalb des deutschen Kulturkreises leben etc.) die Integration er- leichterten177, muss inzwischen zweifelsohne relativiert werden. Vielfach scheiterte die Integration gerade derjenigen Aussiedler, die mit einem Bündel ideeller Motive und sehnsüchtiger Vorstellun- gen nach Deutschland kamen. Andererseits konnten ökonomische Motive als Hauptmotivation der Aussiedlung, so sehr sie in der Nehmergesellschaft negativ besetzt waren - was den Aussiedlern auch bewusst war -, bei der Eingliederung in eine fremde Umgebung hilfreich sein. Menschen mit klaren Zielvorstellungen und ohne ein verklärtes Bild des neuen Lebensmittelpunktes reagierten flexibel und offen gegenüber Neuem und waren bereit, sich den vorherrschenden Bedingungen anzupassen, die Sprache zu erlernen, sich weiterzubilden und im notwendigen Rahmen den Ver- haltensnormen und Rollenerwartungen der absorbierenden Gesellschaft zu entsprechen, ohne dabei die eigene Kultur und Identität sowie die Muttersprache beiseite zu legen. Eine solche Ein- stellung, die von Aussiedlern und ihren Nachkommen immer selbstbewusster vertreten wird, kann auch für die Nehmergesellschaft eine unverzichtbare Quelle wirtschaftlichen und zivilisatorischen Fortschritts darstellen, wohingegen das bewusste Ablegen von Fähigkeiten und Kompetenzen als Antwort auf gesellschaftlichen Druck im Grunde auf beiden Seiten von Rückständigkeit zeugt.

174 Baerwolf: Identitätsstrategien, S. 23-28. 175 Ebenda, S. 29-34. 176 Ebenda, S. 34. 177 Stepien: Jugendliche Umsiedler, S. 30.

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7. Zentrales Durchgangsheim des Bundes in Berlin-Marienfelde

Das von der Bundesregierung unter Bundeskanzler Konrad Adenauer verabschiedete Gesetz über die Notaufnahme der Deutschen in die Bundesrepublik Deutschland vom 22. August 1950 bildete die Grundlage für den Bau und Betrieb von Aufnahmelagern und anderen Unterkünften für die immens hohe Zahl der zu erwartenden Flüchtlinge aus der DDR und Aussiedler aus den Ostblock- staaten. Der Berliner Senat begann 1951 mit den Planungen für den Bau eines zentralen Notauf- nahmelagers. Um Bundesmittel zu erhalten, musste ein solches Aufnahmelager als Wohnanlage auf einem bundeseigenen Grundstück erfolgen. Die Wahl fiel auf ein Grundstück in Marienfelde im Bezirk Tempelhof, das an der Marienfelder Allee lag und später unter den Hausnummern 66 bis 80 bekannt wurde. Die zwei- bis vierstöckigen Bauten sollten in Ein- bis Dreizimmer-Wohnungen Platz für etwa 2.000 Menschen bieten und ca. 3.600 qm Bürofläche beinhalten. Ein späterer Umbau in Mietwohnungen war bereits in dieser Planungsphase vorgesehen. Der Gesamtetat für den Bau betrug 5,7 Millionen Mark, wovon 85% als Baukostenzuschuss aus Bundesmitteln bereitgestellt werden sollten. Im Mai 1952 stimmte die Bundesregierung dem grundsätzlich zu, jedoch verwei- gerte das Bundesfinanzministerium zunächst den Bundeszuschuss. Als sich seit dem 26. Mai 1952 infolge des Grenzsicherungsbeschlusses und der anschließenden Sperrmaßnahmen der DDR- Regierung die Fluchtbewegungen massiv verstärkten, mahnte der Regierende Bürgermeister von Berlin, Ernst Reuter, beim Bundeskanzler die sofortige Freigabe der Mittel an. Diese erfolgte zwei Monate später und am 30. Juli 1952 wurde der Grundstein für das Notaufnahmelager Berlin-Mari- enfelde gelegt.178 In der Grundsteinurkunde wurden die Bundesregierung und der Berliner Senat als Bauherren festgehalten, die Funktion des zu erbauenden Komplexes als „erster Sammelpunkt und Durchgangslager“ beschrieben.179

Bild 6: Richtfest - Zentrales Bundesnotaufnahmelager Bild 7: Luftaufnahme des Notaufnahmelager Marienfelde (um 1963) für 2000 Ostflüchtlinge in Marienfelde am 18.11.1952

Bereits am 18. November 1952 wurde Richtfest gefeiert und die offizielle Eröffnung des Notaufnah- melagers durch den Bundespräsidenten Theodor Heuss und den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Ernst Reuter, fand am 14. April 1953 statt, allerdings noch vor Abschluss der Baumaßnah- men. Ursächlich dafür war die hohe Zahl der Aufnahmeanträge für West-Berlin, die sich am Vorta-

178 Wendt / Curth: Fluchtziel Berlin, S. 9, 12-14. 179 Ebenda, S. 16.

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ge der Ereignisse vom 17. Juni 1953 in der DDR monatlich auf bis zu 49.000 Menschen belief. Ab dem 15. August 1953 begannen beteiligte Dienststellen und nichtstaatliche Organisationen mit der Arbeitsaufnahme auf dem Gelände des Notaufnahmelagers. Bis dahin waren sie über das gesam- te Stadtgebiet West-Berlins verteilt. So fand die polizeiliche Anmeldung in den Messehallen statt, die Alliierte Sichtungsstelle befand sich auf dem Kaiserdamm, wo auch die Bundesnotaufnahme durchgeführt wurde, und die Lagereinweisung erfolgte auf dem Fehrbelliner Platz.180 Symbolträch- tig für die Aufnahme von DDR-Flüchtlingen war vor der Eröffnung des Marienfelder Heimes jedoch insbesondere die Flüchtlingsstelle in der Kuno-Fischer-Straße, das sog. „Haus der Tränen“.181

Bei der Inbetriebnahme stellte sich heraus, dass die Dienststellen und Organisationen mit den zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten nicht auskamen und in der Praxis nur 1.200 Unterkünfte zur Verfügung standen. Auslöser dafür war eine Verfügung des Bundesinnenministeriums vom 24. Fe- bruar 1955, die „eine umgehende Verlegung der Bundesaufnahmedienststellen nach Marienfelde“ forderte, was bis Mitte Mai 1955 in die Tat umgesetzt wurde. Die Folge war, dass Verwaltungsräume und den Ärzten zur Verfügung stehende Räumlichkeiten ein Vielfaches der Fläche einnahmen, die für die eigentliche Unterbringung der Menschen zur Verfügung stand. Daher wurde am 16. August 1954 auf dem angrenzenden Gelände mit dem Bau weiterer Gebäude begonnen. Dieser zweite Bauabschnitt wurde im Sommer 1955 fertiggestellt und erhöhte die Kapazität der Unterkünfte um weitere 2.200 Plätze.182 Noch im Jahre 1960 meldete die zuständige Verwaltungsbehörde Mittel für das Haushaltsjahr 1962 für einen dritten Bauabschnitt an, jedoch wurden die Planungen dafür infolge des Mauerbaus im Jahr darauf mit sofortiger Wirkung eingestellt. Bis zum Mauerbau durch- liefen mehr als 1,15 Millionen Aufnahmesuchende, in der Regel aus der DDR, das Notaufnahmela- ger Marienfelde. Nachdem dieser Zustrom eingebrochen war, wurde der westliche Teil des Lager- geländes in Mietwohnungen umgewandelt. Die räumliche Gestalt des Notaufnahmelagers wurde seitdem nicht mehr verändert.183

Mit diesem Einschnitt wurde einerseits der Kreis der Aufnahmegruppen vielfältiger (DDR-Zuwan- derer, freigekaufte DDR-Häftlinge, Aussiedler, kurzzeitig jüdische Emigranten aus der UdSSR), an- dererseits verlängerte sich die durchschnittliche Aufenthaltsdauer, die bis zum Mauerbau in der Regel nicht länger als zwei Wochen - Dauer des Aufnahmeverfahrens, danach Überweisung in die BRD - betrug, teilweise beträchtlich und zog sich nicht selten über Monate, in einigen Fällen sogar Jahre hin. Mit der Veränderung der Aufnahmegruppen veränderte sich auch die offizielle Zweckbe- stimmung des Lagerkomplexes, die auch in der Bezeichnung ihren Widerhall fand, allerdings stark verspätet und unter großem Protest von Presse, Öffentlichkeit und politischer (konservativer) Oppo- sition. Seit der Eröffnung 1953 trug das Lager die Bezeichnung „Notaufnahmelager Marienfelde“ (NAL). Im Jahre 1977 beschloss die Berliner Senatsverwaltung für Arbeit und Soziales, das Notauf- nahmelager in das „Durchgangslager für Aussiedler und Zuwanderer“ (DAZ) umzubenennen, was schließlich 1980 offiziell vollzogen und mit der veränderten Funktion des Lagers begründet wur- de.184 Allen voran die Ersetzung der Bezeichnung „Flüchtling“ durch „Zuwanderer“ erzürnte Presse und Öffentlichkeit. Die mit den zuständigen Stellen in Bonn abgesprochene und nicht nur in Berlin

180 Ebenda, S. 17-18. 181 Köhler: Notaufnahme, S. 68. 182 Wendt / Curth: Fluchtziel Berlin, S. 19. 183 Ebenda, S. 21-24. 184 Wendt / Curth: Fluchtziel Berlin, S. 27.

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praktizierte Umbenennungsaktion wurde dem Bremer Bürgermeister und SPD-Politiker Hans Ko- schnick in die Schuhe geschoben185, und als Grund wurde angegeben, dass Bezeichnungen wie „Flüchtling“ zu Missklängen in den diplomatischen Beziehungen mit den Staaten des Warschauers Paktes führten. Der Autor der „Welt“ dazu wörtlich: „Auf die Dauer mögen dann die über die Mau- ern und Minenfelder Zugewanderten (Zugekletterten?) bei den Regierungen der Aussiedler-Staa- ten weniger politischen Anstoß erregen als ´Flüchtlinge`, von denen jeder schließlich das System, dem er entflieht, bloßstellt.“186 Doch selbst diese beißende Ironie und die an die zuständigen Stellen gerichtete Kritik von Presse und Öffentlichkeit, mit der Sprache eine unbequeme Wirklichkeit aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängen zu wollen, konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass kein Aussiedler über Minenfelder oder mit Stacheldraht gesicherte Zäune nach West-Berlin oder in die Bundesrepublik Deutschland fliehen musste, und selbst ein Großteil der DDR-Zuwanderer auf legale Weise nach Deutschland kam - bei vollem Verständnis für alle unter Einsatz der eige- nen Gesundheit und des eigenen Lebens über die innerdeutsche Grenze Geflohenen. Dies dürfte auch den Redakteuren der Zeitungen bewusst gewesen sein, allerdings zeigte sich im Zuge dieser Umbenennungs-Politik, dass die Annäherung sozialdemokratischer und liberaler Politikeliten an die Staaten des Warschauer Pakts seit dem Besuch Willy Brandts 1970 in Warschau in konser- vativen Kreisen weiterhin höchst umstritten war. Nur so lässt sich erklären, dass eine simple An- passung der Bezeichnungen von Aufnahmelagern an ihre Bestimmung (Aussiedler kamen bereits seit 1964 im Marienfelder Durchgangsheim unter, tauchten aber erst sechszehn Jahre später mit dieser Änderung in der Bezeichnung auf) oder die Liquidation von Behörden, die in den späten 1940er oder frühen 1950er Jahren sehr wohl ihre Berechtigung hatten, dreißig Jahre später aber in dieser Form nicht mehr notwendig waren187, zu einem Politikum werden konnten. Die letzte Bezeich- nungsänderung erfolgte im Zuge der Aussiedleraufnahmegesetzgebung 1990/91 und war erneut eine Reaktion auf die veränderten Rahmenbedingungen und die nun einzige Aufnahmegruppe in Berlin-Marienfelde, die Aussiedler. Fortan trug das Durchgangsheim die Bezeichnung „Zentrale Aufnahmestelle des Landes Berlin für Aussiedler“ (ZAB).188

7.1 Historische Entwicklung des Aussiedleraufnahmeverfahrens

Die Organisation des Marienfelder Durchgangsheimes entsprach grundsätzlich dem Modell der Durchgangsheime in der Bundesrepublik, sowohl was den Aufbau und die Gliederung als auch die Beteiligung administrativer Stellen anbetraf. Allerdings gab es drei Unterschiede: Zum einen wurden Aussiedler in West-Berlin erst seit 1964 aufgenommen - zuvor erfolgte die Weiterleitung nach West-Deutschland - was bedeutete, dass das Aufnahmeverfahren auf Grundlage der Erfah- rungen und Notwendigkeiten bezüglich der Aufnahme von DDR-Zuwanderern und Flüchtlingen beruhte und parallel dazu erfolgte. Zum anderen reiste bis zum Februar 1990 eine große Zahl der Aussiedler mit einem Touristenvisum nach Berlin ein und erbat teils ohne die notwendigen Papiere die Durchführung des Aufnahmeverfahrens. Dies führte dazu, dass sich auch die Alliierte Sich- tungsstelle mit den Aussiedlern bisweilen intensiver befasste, als ähnliche Befragungen in West-

185 LAB B Rep. 077, Nr. 1227, Umbenennung von Flüchtlingen in Zuwanderer war Koschnicks Idee, FAZ vom 4.8.1977. 186 LAB B Rep. 077, Nr. 1227, Begriffen, Welt vom 11.8.1977. 187 Mit der veränderten Situation wurde u.a. der Notaufnahmeausschuss in Berlin 1980 aufgelöst, in Bremen wiederum verschwand das Amt für Vertriebene, Flüchtlinge und Evakuierte. 188 LAB B Rep. 077, Nr. 1330, Schrieben LASoz VI A ZAB 1 an alle Mitarbeiter des Referats VI A vom 24. Januar 1991.

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Deutschland stattfanden. Dies wiederum konnte folgenreiche Konsequenzen haben. So erregte ein Vorfall in Berlin die Gemüter sogar über die Stadtgrenzen hinaus. Der Aussiedler Stanisław M., der zwischen 1954 und 1971 Soldat und Unteroffizier der polnischen Armee war und im Oktober 1976 zwecks Familienzusammenführung als Aussiedler nach Deutschland kam, wurde im April 1977 bei einem Besuchsaufenthalt in Polen verhaftet und wegen Spionage zu elf Jahren Haft verurteilt. Of- fenbar waren Aufzeichnungen seiner drei Tage andauernden Verhöre durch die Alliierte Sichtungs- stelle nach Polen gelangt und führten zu seiner Verhaftung und Verurteilung.189

Das Durchgangsheim in Berlin- Typischer Laufzettel eines Durch- gangslagers vom Ende der 80er Jahre, aus Unna-Massen, NRW. Marienfelde stellte eigentlich eine Kombination eines Durchgangs- heims und einer Wohnsiedlung dar, im Gegensatz zu den meisten bundesdeutschen Durchgangs- heimen, in denen die Menschen tatsächlich nur für die Zeit ein- quartiert wurden, die für die Be- arbeitung des Aufnahmeverfah- rens notwendig war, danach aber in Wohnheimen, bei Verwandten oder in eigenen Wohnungen un- terkamen. In Berlin wurde erst dann auf Wohnheime zurückge- griffen, wenn die Plätze im Mari- enfelder Durchgangsheim nicht ausreichten. Diese fehlende Spe- zialisierung noch bis in die 1970er Jahre hinein war möglicherweise ursächlich für gewisse Proble- me und zum Teil große Verzöge- rungen bei der Bearbeitung von Aufnahmeanträgen, obgleich die Aussiedler erst seit etwa Mitte der 1970er Jahre in größerer Zahl nach Berlin drängten. Dies ver- deutlicht ein Beispiel: Die Ehefrau eines bereits in Berlin lebenden Mannes - selbst anerkannter Aussiedler - kam im März 1971 nach Berlin. Obwohl sie die auf dem Laufzettel ausgewiesenen Dienststellen mehrmals abgelaufen hat- te, musste sie sich selbst fünf Jahre später noch mit einem Konsularpass ausweisen, weil ihr weder Vertriebenen- noch Personalausweis ausgestellt worden waren, ihr Status also selbst nach fünf Jahren noch nicht geklärt war und sie somit auch keinerlei Anspruch auf Eingliederungsleistungen oder Hilfen hatte und alle Unkosten selbst tragen musste. Nach mehrmaligen Kontaktaufnahmen mit den zuständigen Stellen und kritischer Nachfragen an den Leiter des Notaufnahmelagers in

189 LAB B Rep. 077, Nr. 1227, Berliner in Polen verurteilt. Aussagen von Alliierten in falsche Hände gelangt?, Berliner Morgenpost vom 19.10.1980.

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Marienfelde bekam ihr Ehemann schließlich zu hören, dass seine Frau ja in Polen hätte bleiben können. Die Ehefrau kehrte West-Berlin enttäuscht den Rücken.190 Auch wenn die genauen Um- stände dieses Falls nicht zu recherchieren sind, so zeigen die mehrfache Kritik kirchlicher Stellen und politischer Parteien an Zuständen und ungenügender Planung und Ausführung des Aufnahme- verfahrens für Aussiedler bundesweit und in West-Berlin, dass dies keine Ausnahmeerscheinung war. So kritisierte der Katholische Lagerdienst in seinem KLD-Brief vom Mai 1976 - insbesondere neben den Zuständen in den Durchgangsheimen, auch die nicht ausreichende Zahl an Beratern und für das Aufnahmeverfahren abgestellten Beamten und den langen Bearbeitungs- und damit auch Unterbringungszeitraum in den Heimen. Ebenso wurden fehlende Förderung, insbesondere für Kinder, und die ungenügende Anpassung der Sprachkurse an die Bedürfnisse der Aussiedler kritisiert.191 Zwei Monate später forderte die Junge Union in einem Maßnahmenpapier u.a. die be- schleunigte Bearbeitung der Aufnahmeanträge und die Begrenzung der Verweildauer in den Über- gangswohnheimen auf vier Monate.192

In Berlin machte man sich über das Aufnahmeverfahren, die Unterbringungsbedingungen und die notwendigen Maßnahmen zur Eingliederung der Aussiedler bereits einige Monate zuvor Gedanken, was offensichtlich mit den seit 1975 in Angriff genommenen Berlin-Werbeaktionen in Zusammen- hang stand. Wollte man Aussiedler, allen voran Facharbeiter, nach Berlin locken, musste man bes- sere Bedingungen bieten und eine schnellere Bearbeitung der Formalitäten sicherstellen. Im März 1976 formulierte der Senator für Arbeit und Soziales grundlegende Punkte zur Sicherstellung einer sachgerechten und zügigen Aufnahmepraxis. Die wichtigste Maßnahme war die Unterbringung und Sicherstellung des Lebensunterhaltes der Aussiedler im Notaufnahmelager Marienfelde bzw. in einem der Außenheime. Voraussetzung für die ersten Eingliederungsschritte in Berlin war die Anerkennung der aufgenommenen Aussiedler nach BVFG und die Feststellung der Staatsbürger- schaft. Dem sollten berufliche Erfassung, Beratung, Vermittlung und Gewährung aller Förderungs- maßnahmen nach dem Arbeitsförderungsgesetz folgen. Die Zuweisung zu einer familiengerechten Wohnung sollte zudem bevorzugt erfolgen. Weitere Hauptpunkte bildeten die Sicherung der schuli- schen Betreuung der Kinder und eine Intensivbetreuung aller Aussiedler in der deutschen Sprache sowie die Realisierung aller Ansprüche zur wirtschaftlichen Sicherung in Bezug auf das Lastenaus- gleichsgesetz, die Rente, Rückführungskosten u. ä. Grundsätzlich hielt der Senator fest, dass den Aussiedlern alle möglichen Hilfen durch Behörden und Verbände gewährt werden sollten. Bereits zu dieser Zeit hatte ein ständiger Vertreter des Arbeitsamtes seinen Sitz auf dem Gelände des Notaufnahmelagers.193

Auf die bundesweite Kritik an den herrschenden Zuständen in den Durchgangsheimen und Ver- zögerungen bei der Antragsbearbeitung antwortete das für den Betrieb des Durchgangsheimes und die Aufnahme der Aussiedler zuständige Berliner Landesamt für Arbeit und Soziales (Vorläufer des Landesamtes für Gesundheit und Soziales, LAGeSo) mit einem konkreten 21-Punkte-Maßnah- menkatalog im Januar 1977, der weitreichende positive Auswirkungen auf die Organisation und das Leben im Marienfelder Durchgangslager hatte. Die getroffenen und eingeleiteten Maßnahmen

190 LAB B Rep.077, Nr. 1166, Bein, Hans-Jürgen: Enttäuscht nach Polen zurück. Aussiedlerin fühlte sich im Lager ´behandelt wie der letzte Mist`, Spandauer Volkszeitung vom 4.5.1976. 191 LAB B Rep. 077, Nr. 1167, KLD-Brief - Nachrichten der Arbeitsgemeinschaft Katholischer Lagerdienst vom Mai 1976, S. 3-8. 192 LAB B Rep. 077, Nr. 1233, Forderungspapier: Junge Union hilft Aussiedlern vom 3.7.1976, Mappe: Junge Union, Bundesgeschäfts- stelle Bonn - Bad Godesberg. 193 LAB B Rep. 077, Nr. 1165, Schreiben SenArbSoz vom 25. März 1976: Politik und Regelungen in bezug auf Auswanderer aus Polen.

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zur Verbesserung der Übergangssituation der Heimbewohner betrafen alle wichtigen Bereiche. Zunächst wurde das vormals an die Aussiedler in Friedland gezahlte Überbrückungsgeld nun di- rekt nach der Ankunft in Berlin ausbezahlt. Die Beratungsstelle, die neu organisiert und mit einem zusätzlichen Mitarbeiter verstärkt wurde, erarbeitete auch einen neuen zweisprachigen Wegweiser für die Aussiedler in Berlin. Zudem eröffneten die Staatsangehörigkeitsbehörde sowie die Ren- tenberatungsstelle des Versicherungsamtes des Senators für Arbeit und Soziales eigene Büros auf dem Gelände des Durchgangsheimes, und die Kontakte zum Landesamt für Wohnungswesen wurden intensiviert. Auch die Formalitäten für das Einrichtungsdarlehen wurden seit dieser Zeit im Durchgangsheim erledigt, wie auch Krankenscheine an Hilfebedürftige im Lager übergeben wurden. Weitere Verbesserungen betrafen die noch zu thematisierenden Lebensbedingungen der Aussiedler im Durchgangsheim.194 Die Maßnahmen verbesserten und beschleunigten das Aufnah- meverfahren bedeutend, die Zentralisierung der wichtigsten Behörden und Dienststellen auf dem Gelände des Durchgangsheimes erleichterte den Aussiedlern die Erledigung der Formalitäten im- mens, da sie nunmehr nicht mehr gezwungen waren, wegen jedem auf dem Laufzettel ausgewie- senen Behördengang sich in der für sie noch unbekannten Metropole zurechtfinden zu müssen, was einen nicht unerheblichen Stressfaktor darstellte.

Mit den politischen Veränderungen im Ostblock im Zuge der Politik von Glasnost und Perestroika, die auch zu erleichterten Ausreisebestimmungen in vielen Staaten des Warschauer Paktes führten, stieg seit spätestens 1987 der Zulauf von Aussiedlern dramatisch an. Die Berliner Senatsverwal- tung reagierte darauf mit einem Maßnahmenkatalog und Organisationsvorschlägen zur Beschleu- nigung des Aufnahmeverfahrens, um allen voran einen schnelleren Durchlauf der Aussiedler zu erreichen. So erfolgte unmittelbar nach Ankunft eine Vorprüfung auf Vollzähligkeit der Dokumente, damit ein Sachbearbeiter - jedem Sachbearbeiter wurde auferlegt, pro Woche 50 Vorgänge zu be- arbeiten - am Tage darauf die Sach- und Rechtslage beurteilen und bereits bei einem Folgetermin dem Aussiedler den Registrierschein aushändigen konnte. Das Aufsuchen aller relevanten Dienst- stellen sollte für den Aussiedler nach drei bis vier Tagen abgeschlossen sein. Ziel war es, innerhalb dieses Zeitraumes vorläufige Bescheinigungen für bis zu 50% der Antragsteller auszustellen, was bei der Annahme von 30% abzulehnender Bescheide bedeutete, dass etwa zwei Drittel der An- träge abgearbeitet wären. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden den drei ganztags beschäftigten Sachbearbeitern Zuarbeiter für einfachere Tätigkeiten und drei Sprachmittler (Ende 1988 kamen zwei weitere hinzu) zur Seite gestellt. Auch für das folgende BVFG-Verfahren wurde eine personelle Verstärkung bewilligt und das Verfahren erleichtert. Konnte beispielsweise ein Aussiedler nach- weisen, dass Angehörige bereits den Aussiedlerstatus besaßen, bekam er in einem beschleunig- ten Verfahren eine vorläufige Bescheinigung. Eine Optimierung wurde auch auf arbeitstechnischer Ebene erreicht. Die Sachbearbeiter erhielten rechtliche Handreichungen, Arbeitsvorgänge wurden nach dem Vorbild der Ausländerbehörde automatisiert (IuK-Technik, Informations- und Kommuni- kationstechnologie) und eine Telefax-Verbindung mit der WASt (Wehrmachtsauskunftsstelle) er- möglichte bei Unklarheiten in Bezug auf vorgelegte Dokumente bzw. beim Fehlen von Dokumenten eine zügige Klärung des jeweiligen Sachverhaltes. Darüber hinaus standen den Mitarbeitern an den Durchgangsverkehr angepasste und inzwischen mit EDV-Anlagen195 ausgestattete Arbeitsräu-

194 LAB B Rep. 077, Nr. 1328, NAL 21-4660/01, Übersicht der im Durchgangsheim Marienfelde getroffenen und eingeleiteten Maßnah- men zur Verbesserung der Übergangssituation der Heimbewohner, Berlin den 6.1.1977. 195 Seit 1981 wurde die Einführung von Datenverarbeitungsanlagen mehrfach angeregt, zögerte sich aber u.a. durch das Fehlen von Beschreibungen der einzelnen Arbeitsabläufe durch das fachaufsichtsführende Referat hinaus, vgl. LAB B Rep. 077, Nr. 41, Ergebnis- protokoll der Abteilungsleitersitzung vom 9.6.1982 [Der Senator für Gesundheit, Soziales und Familie], Berlin, den 17.6.1982.

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me zur Verfügung. Außerdem beschleunigten ein zentrales Kopiergerät und ein Postsortiersystem die Bearbeitung der Aufnahmeanträge.196

Dieses Verfahren, was allen voran durch den Zwischenschritt der Vorprüfung bedeutend beschleu- nigt wurde, hatte auch Kritiker, die auf den humanen Aspekt nach einer negativ ausgefallenen Vorprüfung hinwiesen. Nach positiver Vorprüfung erfolgte der Einbezug in das Registrierverfahren, was eine vorläufige Aussage zur Anerkennung der Vertriebeneneigenschaft darstellte. Wurde je- doch jemand negativ vorgeprüft und war das Durchgangsheim überfüllt, erfolgten Beurlaubungen, Terminierungen oder schlichtweg Abweisungen. Den Abgewiesenen blieb vielfach nur die Mög- lichkeit, einen Asylantrag zu stellen, um den Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland bzw. West-Berlin vorläufig sicherzustellen und das Aufnahmeverfahren weiterhin vor Ort vorantreiben zu können. Das Asylverfahren bot den Antragstellern in der Regel jedoch keine reale Chance auf Erfolg, zudem wirkte sich die Einleitung eines Asylverfahrens wiederum negativ auf das Aussied- leraufnahmeverfahren aus.197 Maßnahmen zur Beschleunigung der Verfahren und der Durchlauf- geschwindigkeit wandten auch die Durchgangslager in Friedland, Unna-Massen, Nürnberg und Osnabrück an. Aufgrund der in die Höhe schießenden Aussiedlerzahlen seit 1987/88 existierte im Grunde auch keine andere Alternative, auch wenn man über die Methoden, die für einen Teil der Antragsteller mit Härten verbunden waren, sicherlich geteilter Meinung sein konnte.

Ausschnitt aus einem Laufzettel ZAB in deutscher Sprache (auch eine russische Version existierte), bis 2009 gebräuchlich.

Nach ihrer Ankunft im Durchgangsheim bzw. in der Zentralen Aufnahmestelle des Landes Berlin für Aussiedler mussten die Neuankömmlinge eine Reihe von Formalitäten und Behördengängen erledi- gen, die sie anhand eines Laufzettels und in einer festgelegten Reihenfolge abzulaufen hatten. Eine praktische Hilfe bot dabei auch der vom Landesamt für Gesundheit und Soziales herausgegebene Wegweiser, den es in Zeiten des jeweilig vorherrschenden Zulaufs auch in Polnisch und später Russisch gab. Laufzettel und Vordrucke zur Antragsstellung wurden den Aussiedlern in der ein- führenden Eingliederungsberatung ausgehändigt, bei der auch darauf hingewiesen wurde, dass offene oder spezifische Fragen in einem individuellen Beratungsgespräch erörtert werden konnten. Voraussetzung für die Spätaussiedlerbescheinigung war die Anmeldung bei der Meldebehörde -

196 LAB B Rep. 077, Nr. 1323, Senatsverwaltung für Inneres, Dezember 1988: Beschleunigung des Antragsverfahrens für Aussiedler und Zuwanderer, Organisationsvorschläge zur Änderung und Erweiterung des bestehenden Verfahrens, S. 4-29. 197 LAB B Rep. 077, Nr. 1233, KLD-Brief - Nachrichten der Arbeitsgemeinschaft Katholischer Lagerdienst vom Dezember 1988, Mappe: Katholischer Lagerdienst.

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für die Bewohner der ZAB war das Bürgerbüro Lichtenrade zuständig -, die darüber hinaus auch einen vorläufigen Personalausweis ausstellte, und bei der die Lohnsteuerkarte beantragt werden konnte. Die Spätaussiedlerbescheinigung wurde nach Zusendung der Meldebescheinigung und eines entsprechenden Schreibens aus Friedland vom Bundesverwaltungsamt ausgestellt. Erst die Spätaussiedlerbescheinigung ermöglichte die Geltendmachung der Ansprüche auf pauschale Eingliederungshilfe nach § 9 BVFG, Anerkennung der beruflichen Ausbildungs- und Arbeitszeiten im Herkunftsland für die Rentenversicherung, auf Leistungen der Agentur für Arbeit und der Ren- tenversicherung und mögliche Rückführungskosten sowie auf die Bearbeitung der Anerkennung von Schulzeugnissen und Berufsabschlüssen. Ausländische Familienangehörige der eigentlichen Aussiedler mussten seit 1993 und den veränderten Rahmenbedingungen infolge des Inkrafttretens des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes bei der Ausländerbehörde eine Aufenthaltserlaubnis bean- tragen.198

Nach diesen ersten grundlegenden formalen Schritten folgten weitere unerlässliche Anmeldungen und Beantragungen bei Ämtern, Behörden und Institutionen. Dazu gehörten u.a. die Wahl einer Krankenkasse und die Eröffnung eines Girokontos bei einer Bank, die Voraussetzung für die Bean- tragung und Auszahlung von Leistungen der Grundsicherung, wie dem Arbeitslosengeld (II) oder der Sozialhilfe, und ggf. dem Kindergeld, das bei der Familienkasse beantragt werden musste, wa- ren. Ebenso musste die unverzügliche Anmeldung schulpflichtiger Kinder in der Schule erfolgen, der jedoch eine medizinische Untersuchung der Kinder beim Jugendgesundheitsdienst voranging. Aussiedler mit einem Rentenanspruch mussten bei der Deutschen Rentenversicherung einen ggf. vorhandenen Rentenanspruch geltend machen, nichtdeutsche Ehegatten und Abkömmlinge von Spätaussiedlern hatten jedoch seit 1993 keinen Anspruch mehr auf Anrechnung von Rentenzeiten, die nicht in der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegt wurden. Aussiedler hingegen hatten Anspruch auf die Anrechnung von 60% ihrer im Herkunftsland erbrachten Rentenzeiten.199

Ein weiterer wichtiger Schritt für Aussiedler war die Beantragung eines Wohnberechtigungsschei- nes im Bürgerbüro des Bezirks, der die Suche nach einer eigenen Wohnung erleichterte, da er den Bezug einer Sozialwohnung ermöglichte. Hilfestellungen bei der Wohnungssuche gaben die Eingliederungsberatung in der ZAB sowie nichtstaatliche Wohlfahrtsverbände. Aussiedler und ihre Angehörigen hatten zudem Anspruch auf Sprachkurse und die Teilnahme an einem 30 Stunden umfassenden Integrationskurs, der vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge koordiniert und durchgeführt worden ist.200

Weitere zu erledigende Formalitäten waren u.a. die Antragsstellung zur Pflegeversicherung, die Umschreibung eines ggf. vorhandenen Führerscheins (Ausstellung erst nach Ablegen einer the- oretischen und praktischen Führerscheinprüfung!) und - bei Bedarf - die Änderung des Vor- und Zunamens in eine deutschsprachige Form. Für schwerbehinderte Aussiedler konnten sich überdies noch zusätzliche Amts- und Behördengänge ergeben.201

198 Beratungsstelle der Zentralen Aufnahmestelle des Landes Berlin für Aussiedler (ZAB): Wegweiser (Landesamt für Gesundheit und Soziales), Stand: 30.4.2007, S. 4-5. 199 Ebenda, S. 6-7, 10-11. 200 Beratungsstelle der Zentralen Aufnahmestelle des Landes Berlin für Aussiedler (ZAB): Wegweiser (Landesamt für Gesundheit und Soziales), Stand: 30.4.2007, S. 7-8. 201 Ebenda, S. 13-16.

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Die vielfach optimierten und in den Phasen des größten Aussiedlerzuzugs erprobten Verfahrensab- läufe konnten auch in den folgenden Jahren insbesondere auf der Ebene der Elektronischen Da- tenverarbeitung verbessert werden und erleichterten sowohl den Angestellten als auch den Aus- siedlern das Aufnahmeverfahren und den Alltag. Auf eine Begrenzung der Aufenthaltsdauer im Durchgangsheim auf drei bis vier Monate wurde allerdings erst nach 2000 wieder zielstrebiger hingearbeitet, insofern nahm die Zentrale Aufnahmestelle des Landes Berlin auch weiterhin eine Sonderstellung unter den Durchgangslagern des Bundes ein. Mit dem drastischen Rückgang der Aussiedlerzahlen verschwanden auch nach und nach Mitarbeiter anderer Dienststellen, die in der Vergangenheit von Büroräumen innerhalb des ZAB-Geländes aus ein beschleunigtes Antrags- und Bewilligungsverfahren in Bezug auf die Arbeitsvermittlung, Rentenversicherungsangelegenheiten und andere soziale Angelegenheiten durchführen konnten. In den letzten Jahren der Existenz der Zentralen Aufnahmestelle des Landes Berlin in Marienfelde mussten die Neuankömmlinge wieder verstärkt den Weg zu Behörden und Ämtern, die auf dem Laufzettel vermerkt waren, außerhalb des Lagergeländes antreten.

Bilder 8 bis 10: Ausstattung der Zimmer im Durchgangsheim Marienfelde

7.2 Wohn- und Lebensbedingungen

Die Lebensbedingungen in Durchgangsheimen unterscheiden sich allein schon aufgrund ihrer Definition als befristete, auf bestimmte Zwecke ausgerichtete - also Erledigung der grundsätzli- chen Formalitäten, Wohnungssuche - und die alltägliche Versorgung sicherstellende Unterbrin- gungsmöglichkeiten, grundsätzlich von Lebensbedingungen innerhalb von Wohnsiedlungen, in denen Entfaltungsmöglichkeiten gegeben sind und selbstverantwortliches Leben erforderlich ist. Für die Anfangszeit in einem neuen Land und innerhalb einer unbekannten Gesellschaft bieten Durchgangswohnheime eine Vielzahl von Vorteilen. Im Marienfelder Durchgangsheim befanden sich Büros aller wichtigen Behörden, was die Erledigungen der Formalitäten enorm erleichterte. Hilfestellungen boten die ebenfalls vor Ort eingerichteten Büros der Wohlfahrtsorganisationen und der staatlichen Beratungsstelle und das Knüpfen sozialer Kontakte wurde durch die Unterbrin-

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gung mit anderen Aussiedlern erleichtert. Problematisch konnte die Unterbringung in einem Durch- gangsheim allerdings dann werden, wenn sie sich allzu lange hinzog und darüber hinaus noch mit Arbeitslosigkeit und Misserfolgen bei der Wohnungssuche einherging. Allen voran die fehlenden Rückzugsmöglichkeiten, die Isolation von der einheimischen Bevölkerung und die Unterschied- lichkeit der Bewohner - im Durchgangsheim Marienfelde lebten bis Anfang der 1990er Jahre über- wiegend polnische Aussiedler mit Deutschen aus der DDR eng beieinander - konnten auf Dauer Probleme auslösen, die ein graues, wenig abwechslungsreiches und unstrukturiertes Leben mit sich brachte, und bisweilen zu Frustrationen oder Aggressionen führen.202 Auf eine möglichst kurze Verweildauer im Marienfelder Durchgangsheim wurde lange Zeit nicht geachtet, da einerseits keine Erfahrungen mit psychischen und sozialen Auswirkungen gemacht werden konnten - die meisten DDR-Flüchtlinge verließen das Lager nach wenigen Tagen oder Wochen wieder -, andererseits ein großer Teil der Aussiedler aus Polen, die bis 1990 nach Berlin einreisten, bereits Familienangehöri- ge in Berlin hatte und somit relativ schnell eine Bleibe oder Wohnung außerhalb des Durchgangs- heimes fand. Problematisch waren bis dahin lediglich die Stoßzeiträume Mitte und Ende der 1970er Jahre und wieder seit 1986/87, als der Zuzug zeitweilig immens in die Höhe stieg. Mit dem einset- zenden Zustrom russlanddeutscher Aussiedler, die insbesondere bis zur Mit- te der 1990er Jahre nicht über eine solche Basis Nelli Stanko in Form von Familienmitgliedern bzw. Bekannten zur Aufenthaltsdauer in der ZAB: in Berlin verfügten, wie die Aussiedler aus Po- „Bis Ende der 1990er Jahre wurde ein Konzept ver- len, und dem zugleich schwieriger werdenden folgt, dass einen längeren Aufenthalt in der ZAB nicht Arbeits- und Wohnungsmarkt, wurde auch die ausschloss. Etwa seit 2000 setzte sich die Beratungs- Durchlaufgeschwindigkeit im Durchgangslager stelle das Ziel, Aussiedler innerhalb der ersten drei bis Marienfelde und den Außenheimen immer ge- vier Monate in passenden Wohnraum zu vermitteln. Aus sozialpädagogischen Gründen haben wir die Meinung ringer. Etwa ein Drittel der zwischen 1992 und vertreten, dass die eigentliche Integration erst im Bezirk 1995 eingewanderten Russlanddeutschen lebte stattfinden kann. Wen konnten wir schneller vermitteln? 1996 immer noch in Berliner Durchgangsheimen Das hing von mehreren Faktoren ab: Von den Ansprü- und die durchschnittliche Aufenthaltsdauer stieg chen der Familie, von den Möglichkeiten, die sie selber 203 mitgebracht hatten, also sprachliche Fähigkeiten, soziale auf bis zu zwei Jahre an. Nicht nur die lan- Anpassungsleistung, Unterstützung innerhalb der Fami- gen Aufenthaltszeiten im Aufnahmelager konn- lie und nicht zuletzt von der Ermittlung einer adäquaten ten sich negativ auf die psychische Verfassung Wohnung. Wenn Aussiedler über ausreichende Sprach- der Bewohner, ihre institutionelle Eingliederung kenntnisse verfügten, oder in Berlin bereits Familienan- gehörige hatten, die sie unterstützten, dann gestaltete und ihre Integration in die Berliner Gesellschaft sich die Wohnungsvermittlung mitsamt unserer behörd- auswirken. Insbesondere schlechte Wohn- und lichen Unterstützung relativ schnell und unkompliziert. Lebensbedingungen im Durchgangsheim er- Schwierig wurde es, wenn ZAB-Bewohner auf zusätz- schwerten den Menschen den Alltag. Mitte der liche Begleitung angewiesen waren. Die Begleitung musste die Beratungsstelle organisieren, da wir diese 1970er Jahre setzte eine Welle der Kritik an den Leistung im Rahmen der Wohnraumvermittlung nicht er- Zuständen der bundesdeutschen Durchgangs- bringen konnten. Die Vermittlung einer Begleitung war heime an, wobei allen voran die Hauptaufnahme- allerdings sehr zeitintensiv für uns. Zu den schwierigen länder Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfa- Vermittlungsfällen zählten ebenfalls Familien mit schwer- kranken oder gehbehinderten Angehörigen. In diesen len, Bayern und auch Hessen und das Saarland Fällen stand die sozialpädagogische Betreuung im Vor- sich herbe Vorwürfe gefallen lassen mussten. So dergrund, was die Vermittlung verzögerte.“ berichtete der Katholische Lagerdienst im Mai 1976, dass in der Hälfte aller Wohnheime in den

202 Masumbuku: Psychische Schwierigkeiten, S. 118-119. 203 Beetz / Kapphan: Russischsprachige Zuwanderer, S. 168.t

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oben genannten Ländern ein ungenügender Zustand herrschte, Duschen und Sanitärräume sich teils in ungeheizten Kellerräumen befänden, teilweise Impressionen nur gegen Gebühr benutzbar seien oder eine Bademöglichkeit für die Men- schen nur einmal in der Woche bestanden habe und sich dabei mehrere Familien eine Waschgelegenheit hätten teilen müssen. Weiterhin wurde die oftmals mangelhafte Ausstattung der Schlafgelegenheiten (Fehlende Bettwä- sche, Etagenbetten auch für kranke und alte Menschen, keine Küchen, keine Waschmaschinen etc.) oder die unzureichende Beheizung der Räumlich- keiten, die nicht selten mit in den Zimmern aufgestellten Kohleöfen erfolgte, für die die Bewohner sich in vielen Fällen das Heizmaterial selbst besorgen müssten. Allen voran in Bayern und Nordrhein-Westfalen befanden sich laut diesem Bericht Teile der Unterkünfte in erschreckendem Zustand, waren alt, verwohnt, primitiv und seit Jahren nicht mehr renoviert worden.204 In Berlin sah die Situation etwa zur gleichen Zeit wesentlich besser aus, auch wenn kri- tische Stimmen nicht fehlten. Das Durchgangsheim vermittelte eher den Ein- druck einer normalen Stadtrandsiedlung - abgesehen vom Sicherheitszaun um das Lager herum. Insbesondere die (zumeist) Zweizimmerwohnungen mit Bad und Küche hoben das Marienfelder Heim von vielen bundesdeut- schen Durchgangsheimen ab.205 Bereits 1976 wurden Teile der Unterkünfte renoviert und großzügiger belegt. In jeder Wohnung sollte nunmehr möglichst nur noch eine Familie Unterkunft finden und auch die Etagenbetten sollten bei Möglichkeit abgebaut werden.206 Bereits zu dieser Zeit wurden in der späteren ZAB diverse, seit den 1950er Jahren nach und nach festgelegte Standards praktiziert. So sollten jedem Flüchtling/Aussiedler mindestens vier Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung stehen, Trennwände bei Unterbrin- gung von mehreren Menschen in einem großen Zimmer aufgestellt werden und 20 Personen Zugang zu je einer Waschgelegenheit bekommen. Zudem gab es Zugang zu Warmwasser, eine Waschküche und Trockenräume sowie Näh- und Bügelstuben. Des Weiteren wurden Beschäftigungsmöglichkeiten für Jugendliche eingerichtet und in den Aufenthaltsräumen Rundfunkgeräte aufgestellt. Für die Bewohner gab es Vollverpflegung inkl. einer Warmverpfle- gung zur Mittagszeit.207

Im Zuge der bundesweiten und zum Teil harschen Kritiken an den Zustän- den und Lebensbedingungen in Durchgangsheimen reagierte die Berliner Senatsverwaltung mit dem bereits erwähnten Maßnahmenkatalog zur Ver- besserung der Übergangssituation der Heimbewohner, in dem im Besonde- ren auf die allgemeine Wohnsituation im Durchgangsheim Bezug genom- men wurde und grundsätzlich eine großzügigere Belegung der einzelnen Wohnungen und Zimmer erfolgen sollte, die darüber hinaus nach und nach

204 LAB B Rep. 077, Nr. 1167 KLD-Brief - Nachrichten der Arbeitsgemeinschaft Katholischer Lagerdienst vom Mai 1976, S. 9-10. 205 LAB B Rep. 077, Nr. 1167, Westberlin wirbt…, in: Rheinische Post vom 3.4.1976. 206 LAB B Rep. 077, Nr. 1167, Zahl der Aussiedler mehr als verdoppelt. Die meisten von ihnen kamen aus Polen, Tagesspiegel vom 7.2.1977, Johs-Pk. 207 Köhler: Notaufnahme, S. 102-103.

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renoviert werden sollten. Die Lebensbedingun- Christoph Dabrowski gen wurden daraufhin in vielerlei Hinsicht ver- (geb. 1978, 1985 mit seiner Mutter aus Kattowitz bessert. Der etwa im Zentrum der Wohnanlage nach Berlin ausgesiedelt; Fußball-Profi, weit über 300 Bundesligaspiele für Werder Bremen, Arminia gelegene Spielplatz wurde ausgebaut, die Be- Bielefeld, und den VfL Bochum bei suchserlaubnis ausgedehnt (8:00 bis 22:00), denen er 30 Tore erzielte, aktuell Kapitän des VfL zwei Fernseher für die Aufenthaltsräume bereit- Bochum; neun Länderspiele für die deutsche U- gestellt, ein Fernwahlmünzsprecher in Betrieb 21-Nationalmannschaft, vier Länderspiele für das „Team 2006“; in der Jugend für den 1. FC Schö- genommen und ein zweiter Schalter für die Aus- neberg, BFC Preussen und Hertha BSC aktiv); gabe der Kaltverpflegung eingerichtet. Im Übri- Interview vom 3.2.2011: gen bestand seitdem auch die Möglichkeit aus der Gemeinschaftsverpflegung freiwillig auszu- „Ich kam als sechsjähriger Junge nach Berlin. Meine Mutter kannte die Stadt bereits und wusste, dass man scheiden. Ebenso wurden die Jugendarbeit und sich hier ein schönes Leben aufbauen konnte und für Informations-, Betreuungs-, Hilfs- und Unterhal- die Kinder eine bessere Zukunftsperspektive bestand, tungsprogramme ausgebaut. als damals in Polen. Wir haben es wahrscheinlich auch wie viele andere gemacht, einen Urlaub angemeldet und uns dann entschlossen, über das Lager Marienfel- Verstärkt wurden auch durch VHS-Dozenten ge- de in Berlin zu bleiben. Der Aufenthalt im Durchgangs- führte Sprachkurse angeboten (mit Sonderkur- lager war für mich wie ein kleines Abenteuer. Es waren sen für Kinder) und jeden zweiten Mittwoch im dort viele Menschen, viele Kinder und es lebten zum Teil Monat fuhr der Büchereibus des Bezirksamtes drei Familien in einer Wohnung, wo viele Betten, Hoch- betten standen, und zudem gab es draußen Spielplätze. Tempelhof das Lagergelände an, was auch sehr Das war wie ein kleines Dorf, wie so eine kleine Stadt rege angenommen wurde. Die Kostenbefreiung für sich, und für einen kleinen Jungen ist das natürlich für Unterkunft und Verpflegung wurde zudem aufregend, weil man viele neue Eindrücke bekommt. Im von zwei auf insgesamt vier Monate ausgedehnt Nachhinein betrachtet ist es - im Vergleich zum Leben in einer normalen Wohnung - Wahnsinn, was man dort er- und die Bewohner erhielten für insgesamt zwölf lebt hat. Drei Familien auf einem Fleck, das ist ja schon Wochen einen Freifahrschein für öffentliche Ver- extrem, aber es hat einfach dazu gehört. Das hat man kehrsmittel in der Stadt.208 Im April 1977 über- aber alles auf sich genommen, jedoch sollte man das zeugten sich Mitglieder des Sozialausschusses, nicht vergessen.“ die noch ein Jahr zuvor die Missstände kritisiert hatten, von den zahlreichen Maßnahmen zur Verbesserung der Wohnbedingungen im Marienfelder Heim. Die Renovierungsarbeiten gingen vor- an (Häuser B, D und H), das zweite Fernsehgerät (diesmal in Farbe) war eingetroffen und der Berli- ner Sozialsenator kündigte für absehbare Zeit die Ausstattung aller Wohnungen mit Kühlschränken an.209

Eine besondere Maßnahme stellte die Einrichtung einer Kinderbetreuungsstätte für ca. 30 Aus- siedler-Kinder dar, die im April 1977 eröffnet wurde, nachdem der Senator für Arbeit und Soziales einige Monate zuvor zwei zusätzliche Kindergärtnerinnenstellen genehmigt hatte. Dies war notwen- dig geworden, da infolge der Betreuungsvereinbarung mit dem Bezirksamt Tempelhof lediglich zehn Kita-Plätze in der Kindertagesstätte Stegerwaldstraße zur Verfügung standen, die Zahl der Aussiedler jedoch stetig anstieg. Die Betreuung für Kinder bis sieben Jahren wurde seit 1979 im

208 LAB B Rep. 077, Nr. 1328, NAL 21-4660/01, Übersicht der im Durchgangsheim …, Berlin den 6.1.1977.t 209 LAB B Rep. 077, Nr. 1166, Auch Kühlschränke für das Durchgangsheim angekündigt, Tagesspiegel vom 23.4.1977; ebenda, Der Senator für Arbeit und Soziales - Übersicht der seit Mai 1976 im Notaufnahmelager / Durchgangsheim Marienfelde getroffenen und eingeleiteten Maßnahmen… Berlin 30.8.1976.

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sog. „Trollhaus“, das sich auf dem Gelände des Durchgangsheimes befand, weiter intensiviert.210

Die Kritik an den Zuständen und Wohnbedingungen im Durchgangslager Marienfelde nahm infolge der zahlreichen Verbesserungsmaßnahmen ab, und wenn sie erfolgte, so zunächst auf einem an- deren Niveau. Wurden 1976 beispielsweise noch mit der zu engen Belegung der Wohnungen, den Schwierigkeiten beim Ausfüllen der Masse an Formularen oder den von den Alliierten vorgeschrie- benen Sicherheitsbedingungen (eingeschränkte Zugangsmöglichkeiten, Sperrzaun um das Lager herum) - der Berliner Senat machte darauf aufmerksam, dass er sich an die Bestimmungen halten müsse -, das Alltagsleben betreffende Punkte kritisiert, so zielte die Kritik danach allen voran auf die Höhe der Tagessätze für die Unterkunft im Durchgangsheim nach Ablauf der vier kostenfreien Monate, die für eine dreiköpfige Familie durchaus 470 DM und für Alleinstehende 270 DM betra- gen konnten.211 Als im April 1978 die Vorsitzende des Petitionsausschusses bei einer Sitzung des Petitionsausschusses des Bundestages in Berlin die Verhältnisse im Marienfelder Durchgangsla- ger scharf kritisierte und dabei u.a. sagte, dass solche Zustände im Strafvollzug zu einem Aufruhr führten, wies der Senator für Arbeit und Soziales diese Kritik energisch zurück und bezeichnete sie als „gleichermaßen gefährlich und skandalös“. Weder würden in einem Zimmer bis zu vier Personen untergebracht, noch sei es zutreffend, dass im Durchgangslager keine Fachberatung in Wohnungsfragen stattfände.212 Kritische Stimmen hinsichtlich der Wohnqualität wurden wieder im September 1981 laut, als im Haus E Schimmelbelag, bröckelnder Putz, blätternde Farbe an den Rohren und unzumutbare Zustände in den Sanitäranlagen entdeckt wurden. Nachdem sich dieses Bild auch bis Januar 1982 nicht gebessert hatte, wurde dem Senator für Gesundheit und Soziales eine fünfwöchige Frist zur Einleitung der Behebung der Mängel gesetzt, unter der Androhung einer vorübergehenden Schließung des Wohnblocks.213 Einschränkend ist hierbei allerdings zu sagen,

Bilder 11 bis 13: Zentrale Aufnahmestelle des Landes Berlin

210 LAB B Rep. 077, Nr. 1166, Kinderbetreuungsstätte für das Notaufnahmelager Marienfelde, Tagesspiegel vom 11.11.1976; Senats- vorlage Nr. 1103 zur Beschlussfassung vom 31.8.1976; Köhler: Notaufnahme, S. 389. 211 Ebenda, Wie im Gefängnis, Spandauer Volkszeitung vom 27.4.1976; PressRef vom 3.5.1976, betr. Kritik am Notaufnahmelager Mari- enfelde; LAB B Rep. 077, Nr. 1227, CDU-Abgeordneter kritisiert hohe Kosten im Durchgangslager, Berliner Morgenpost vom 20.4.1977.t 212 LAB B Rep. 077, Nr. 1165, Sozialsenator weist Kritik am Durchgangslager zurück, Tagesspiegel vom 26.4.1978. 213 LAB B Rep. 077, Nr. 1227, Gefahr durch Rost und Schimmel, Berliner Morgenpost vom 20.1.1982, M.J.t

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dass es sich beim Haus E um den Quarantäneblock des Durchgangslagers mit fünfzehn Wohnun- gen handelte, der nicht durchweg für die Unterbringung von Aussiedlern und DDR-Flüchtlingen und Zuwanderern bestimmt war, womit der schlechte Zustand zumindest erklärt werden kann, re- noviert wurden vor allem die ständig belegten Häuser.

Das Notaufnahmelager bzw. Durch- Lageplan der ZAB-Marienfelde gangsheim zur Unterbringung von DDR- Flüchtlingen, ehemaligen politischen Häftlingen und Übersiedlern aus der DDR sowie Aussiedlern aus den sozia- listischen europäischen Staaten bildete einen aus vierzehn zwei- und dreige- schossigen Häusern bestehenden Kom- plex auf einer Gesamtfläche von 21.998 qm, von denen 13.919 qm bebaut waren. Die Gesamtzahl der Wohnungen unterlag insofern Veränderungen, dass beispiels- weise nicht mehr genutzte Büroräumen von Behörden oder Wohlfahrtsverbänden in Wohnungen umgewandelt bzw. auch umgekehrt Wohnungen zu Büroräumen umfunktioniert wurden. Im Jahre 1976 standen für die Unterbringung der oben genannten Personengruppen insgesamt 119 Zweieinhalb-Zimmerwohnungen und 48 Einzimmerwohnungen jeweils mit Kü- che und Bad zur Verfügung. Seit etwa 1990 standen offiziell 168 Wohnungen mit insgesamt 662 Betten zur Verfügung, was in der größten Zulaufphase dennoch nicht ausreichte.214 Von dieser Gesamt- zahl handelte es sich bei 116 Wohnungen um Zweieinhalb-Zimmerwohnungen mit einer Wohnfläche von ca. 50 qm und um 44 Einzimmerwohnungen mit etwa 30 qm Wohnfläche. Hinzu kamen vier 39 qm große Zweizimmerwohnungen, zwei behindertengerechte Wohnungen mit zwei Zimmern und zwei weitere behindertengerechte Wohnungen mit je einem Zimmer. Die größten Unterbringungs- möglichkeiten boten Haus B mit 36 Wohnungen und die Häuser D, F und G mit je 18 Wohnungen. Im Haus H gab es sechs Wohnungen, im Haus C deren fünf und im Haus P standen drei Wohnungen zur Verfügung. Im bereits erwähnten Haus E, das lange Zeit als Quarantäneblock benutzt wurde, konnten 15 Wohnungen zur Unterbringung benutzt werden. Die Einzimmerwohnungen befanden sich in den Häusern K (zwölf Wohneinheiten) und L (36 Wohneinheiten). Zu Beginn der 1990er Jahre betrieben neben den direkt an der Aufnahme der Aussiedler und DDR-Bürger beteiligten Dienststellen noch die Bundesanstalt für Arbeit, die Evangelische Flüchtlingsseelsorge Berlin e.V.,

214 Als Beispiel dafür soll eine Tagesstatistik vom 19. Juni 1989 herangezogen werden. An diesem Tage befanden sich insgesamt 1.052 Personen, darunter 693 Aussiedler im Durchgangsheim, LAB B Rep. 077, Nr. 1329, LASoz VI A DAZL 1, Heimbelegung um DAZ Marienfelde, Berlin 19.6.1989.

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die Katholische Beratungsstelle, der Internationale Bund für Sozialarbeit e.V., der Berliner Verband der Vertriebenen e.V., die Kinderbetreuungsstätte, das Hilfswerk Schlesien e.V. und der Zentralver- band Politisch Ostgeschädigter e.V. Büroräume auf dem Lagergelände.215

Die Lebens- und Wohnbedingungen im Marienfelder Lager sind insgesamt positiv zu bewerten, sowohl was die Ausstattung als auch den Zustand der Gebäude angeht. Insbesondere die vor- handenen Küchen und Bäder in den Wohnungen hoben das zentrale Berliner Durchgangsheim von den meisten bundesdeutschen Wohnheimen und Aufnahmelagern ab. Auf Kritik reagierten die zuständigen Stellen sehr zügig und in aller Regel wurden Schäden oder schlechte Zustände inner- halb kurzer Zeit behoben. Die mit der Zeit entstehenden Einrichtungen und Maßnahmen zur sinn- vollen und integrationsfördernden Freizeitgestaltung und die unmittelbare Nähe und Erreichbarkeit der wichtigsten Behörden und Beratungsstellen sowie die Gründung der Kindertagesstätte waren weitere wichtige Aspekte, die das Leben im Durchgangslager erträglicher machten. Von diesem Gesamtbild zeugt nicht zuletzt die Tatsache, dass bis zur Einschränkung der Verweildauer in der ZAB um das Jahr 2000 herum, viele Menschen zum Teil noch Monate nachdem sie eine Arbeitsstel- le gefunden hatten, im Aufnahmelager verblieben. Einerseits konnte man auf diese Weise Geld zur Seite legen, andererseits waren die Lebensverhältnisse absolut akzeptabel.

7.3 Bedienstetenstruktur

Für den reibungslosen Ablauf der Aufnahme und Einweisung von Aussiedlern und anderen Zuwan- derern sowie des Lagerlebens waren die Mitarbeiter des Marienfelder Durchgangsheimes zustän- dig, die der mehrfach umbenannten und umstrukturierten Berliner Landesbehörde für Arbeit und Soziales bzw. Gesundheit und Soziales unterstanden, und die in Zusammenarbeit mit Mitarbeitern anderer Dienststellen und Behörden sowie der Wohlfahrtsverbände den nach Berlin einwandern- den Menschen Hilfestellungen bei den Erledigungen der Formalitäten und beim Zurechtfinden in der neuen Umgebung gaben. Die personelle Belegung des Heimes hing naturgemäß sehr eng an den Aussiedler- und Zuwandererzahlen in den jeweiligen Zeiträumen und stellte somit eine di- rekte Reaktion auf politische Geschehnisse dar, wie etwa den Mauerbau 1961, die Einleitung der Entspannungspolitik gegenüber den Staaten des Ostblocks im Anschluss an den Besuch Willy Brandts in Warschau seit 1970 oder die von Mikhail Gorbatschow eingeleitete Politik von Glasnost und Perestroika, die allesamt Einfluss auf die Zahl der DDR-Auswanderer bzw. Aussiedler nach Deutschland und West-Berlin hatten.

Noch im Jahr nach dem Mauerbau waren allein im Flüchtlings- und Lagerdienst 86 Personen auf dem Gelände des Notaufnahmelagers tätig. Die Arbeitsbereiche waren grundsätzlich in Büro- und Lagerdienst unterteilt, zusätzlich kamen noch die auf dem Lagergelände tätigen fünf Ärzte, fünf Krankenschwestern und eine Schreibkraft hinzu, die für die Eingangsuntersuchung der Neuan- kömmlinge zuständig waren. Im Bürodienst waren Mitarbeiter für die Beratung und Betreuung der Zuwanderer, für diverse Kanzleiarbeiten, Sach- und Rechnungsprüfungen, Antragsbearbeitung, personelle Angelegenheiten, die Ausstellung von behelfsmäßigen Personalausweisen und die sta-

215 LAB B Rep. 077, Nr. 1328, Schreiben VII C, Hinweis über den Charakter des Notaufnahmelagers und Belegungszahlen; Schreiben VII C, Veränderungen und Verbesserungen in Unterbringung und Betreuung; LAB B Rep. 077, Nr. 40 Zugang Juli 2010, Landesamt für Gesundheit und Soziales, Zentrale Aufnahmestelle des Landes Berlin für Aussiedler (ZAB) - Informationsblatt im Rahmen des Sommer- festes.

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tistische Auswertung zuständig. Hinzu kamen sieben Stenotypistinnen, zwei Bedienstete für die Fernsprechvermittlung, Beratung und Erteilung von Auskünften, zwei weitere Mitarbeiter für den Schriftwechsel und die Feststellung von Taschen- und Verpflegungsgeld sowie die Rechnungs- bearbeitung, ein Kassenbote sowie drei Karteiverwalter, die zugleich für die Verteilung der Post zuständig waren. Der Transportstellenleiter hatte auch die Aufsicht über die Zentralkartei, der Ex- peditionsleiter der Weisungsstelle war für die Einweisungen der Neuzugänge verantwortlich. Die Flugpläne (damals wurden DDR-Übersiedler oft und Aussiedler in der Regel in die BRD ausgeflo- gen) und die Einleitung des Abfluges wurden von drei weiteren Mitarbeitern vorbereitet. Darüber hinaus gab es zu jener Zeit noch je eine Planstelle für die Rechnungsstelle und Wirtschaftsbuch- führung als Verknüpfung zum zuständigen Referat im Landesamt. Unmittelbar für das Leben im Heim waren der vorgesetzte Mitarbeiter der Magazinangestellten, der auch für die Arbeitseinteilung zuständig war, der Hausmeister, der Wirtschaftsvorsteher und der Magazinverwalter verantwortlich. Ihnen unterstanden zwölf Pförtner und Aufseher sowie 18 Magazinangestellte, u.a. für die Ausgabe und Rücknahme von Material sowie die Einhaltung von Ruhe, Ordnung und Sauberkeit auf dem La- gergelände. Mit der Lagereinweisung und Personalfeststellung waren fünf Mitarbeiter befasst, die Raum-, Wäsche- und Gegenstandsdesinfektion übernahmen zwei weitere Mitarbeiter. Diese insge- samt 86 Dienstposten wurden noch durch weitere 29 Planstellen ergänzt, die von je einem Schlos- ser, Elektriker und Rohrleger, zwei Tischlern, drei Heizern und vier zusätzlichen Lagerarbeitern, einer Köchin und sechs Küchenarbeitern sowie insgesamt zehn Reinigungskräften besetzt waren. Je nach Bedarf konnten weitere 30 nichtplanmäßige Mitarbeiter, darunter zwölf Küchenarbeiter und 16 Reinigungskräfte zur Arbeit im Marienfelder Notaufnahmelager herangezogen werden.216

Durch den Einbruch der Zuwandererzahlen aus der DDR und die noch relativ übersichtliche Zahl der in Berlin eintreffenden und verbleibenden Aussiedler ging der Personalbedarf des Notaufnah- melagers stark zurück. Im Jahre 1970 wurden dem Notaufnahmelager nur noch 52 Planstellen zugestanden. In verschiedenen Bereichen fielen Stellen weg oder wurden zusammengelegt, be- troffen waren aber insbesondere Arbeiter im Lagerdienst. So fielen beispielsweise die Dienstposten des Kassierers bzw. Kassenboten ebenso weg, wie die drei Stellen im Zusammenhang mit der Abflugorganisation (die Aufgaben wurde auf andere Planstellen übertragen). Statt der fünf Ärzte arbeitete nur noch ein Arzt ganztags im Notaufnahmelager, statt sieben Stenotypistinnen waren nur noch drei Bürokräfte angestellt. Von den 18 festangestellten Magazinangestellten verblieben nur noch 13. In der Küche arbeiteten anstelle von sieben nur noch vier Mitarbeiter und von den neun Reinigungskräften verblieben fünf.217

Weitere fünf Jahre später und im Zuge der Werbekampagne für Berlin unter den Aussiedlern aus Polen, die in den bundesdeutschen Lagern ankamen, stieg die Anzahl der Mitarbeiter des Notauf- nahmelagers wieder an. Während aber bei höheren Dienstposten und innerhalb der Verwaltung Veränderungen lediglich in der Beschreibung bzw. Erweiterung des Aufgabengebietes eintraten, betrafen die Neueinstellungen abermals den Bereich Lagerdienst. So wurden u.a. zwei weitere Mitarbeiter für den Küchendienst eingestellt, vier Mitarbeiter verstärkten den Magazin- und Lager- bereich und auch drei zusätzliche Reinigungskräfte fanden eine Einstellung. Hinzu kamen noch

216 LAB B Rep. 077, Nr. 738-739, Geschäftsverteilungsplan der Senatsverwaltung für Arbeit und Soziales für das Jahr 1962 - Soz 4B, Notaufnahmelager Marienfelde. 217 Ebenda, Geschäftsverteilungsplan 1970 für NAL Marienfelde, aufgestellt durch Referat I A - Personalwirtschaft der Senatsverwal- tung für Arbeit und Soziales, Berlin den 24.6.1970.

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bereitgestellte Mittel für nichtplanmäßige Mitarbeiter für die Bereiche Desinfektion, Magazin und Lager, Erfassung der Zuwanderer und Aussiedler, Reinigung, Küchenarbeiten und Fernsprechan- gelegenheiten.218 Der Kernbereich der Administration im Durchgangsheim blieb auch in der Folge- zeit nahezu unverändert, lediglich die Aufgabenbereiche wurden erweitert, umformuliert oder neu verteilt, was einerseits mit den sich verändernden Aufnahmegruppen zusammenhing, andererseits auch der technische Fortschritt bestimmte Arbeitsschritte erleichterte bzw. neue Arbeitsgebiete schuf.

Nachdem der Aussiedlerzuzug nach Berlin im Anschluss an das Spitzenjahr 1981 wieder rapide zurückgegangen war und erst ab 1984/85 wieder anzusteigen begann, veränderte dies abermals die Personalbesetzung im Durchgangsheim. Im Jahre 1985 arbeiteten 56 Menschen ganztags im Marienfelder Durchgangsheim, wovon allein 36 Mitarbeiter im Lagerdienst tätig waren, die anderen 20 administrative Tätigkeiten ausführten, wobei bei dem ein oder anderen Dienstposten beide Ar- beitsbereiche ineinanderliefen.219

Als die Aussiedlerzahlen für Berlin im Jahre 1987 mit über 4.000 Neuankömmlingen einen neuen Rekord erreichten und sich bereits Mitte 1988 für dieses Jahr anbahnte, dass die 10.000-Marke zum Jahresende überschritten werden würde, wuchs der Druck auf den Berliner Senat für Gesund- heit und Soziales, dem in dieser Höhe nicht erwarteten Zustrom u.a. auch mit einer entsprechen- den Personalpolitik zu begegnen. In einer Senatssitzung im August 1988 wurde ein Beschluss zur weitreichenden Erweiterung des Personalbestandes für das Durchgangsheim und mit der Aussied- leraufnahme beteiligter Dienststellen gefasst. Demnach wurden zusätzliche 35 Dienstposten für die Antragsbearbeitung, 20 für die Wohnraumvermittlung und 24 zur Abrechnungsunterstützung der Gesundheitsdienstleistungen bewilligt. Hinzu kamen 36 Beraterstellen für die einzelnen Stadt- bezirke und elf zusätzliche Mitarbeiterstellen wurden für die Staatsangehörigkeitsprüfungen beim Senator für Inneres bewilligt.220

Nachdem dieser immense Zulauf der Aussiedler abgeebbt war und sich nach 1995 zunächst auf ca. 4.000 bis 5.000 Aussiedler jährlich einpendelte, wurden auch die zusätzlichen Dienstposten wieder gestrichen und die delegierten Mitarbeiter kehrten in ihre eigentlichen Aufgabengebiete zurück. Im Jahre 1996 arbeiteten 56 Personen in der Zentralen Aufnahmestelle des Landes Berlin für Aussiedler, hinzu kamen die Mitarbeiter der Beratungsstelle für Aussiedler/Spätaussiedler sowie jüdische Zuwanderer.221 Während die Anzahl der Mitarbeiter je nach Auslastung des Marienfelder Durchgangsheimes in den vergangenen Jahrzehnten ständigen Veränderungen unterworfen war, wurden die Aufgaben komplexer, insbesondere aufgrund der sich verändernden rechtlichen Rah- menbedingungen der Aussiedleraufnahme, was allen voran den Bereich der Verwaltung anbetraf.

218 Ebenda, Geschäftsverteilungsplan 1975 für NAL Marienfelde, aufgestellt durch Referat I A - Personalwirtschaft der Senatsverwal- tung für Arbeit und Soz, Der Senator für Arbeit und Soziales, Berlin den 1.7.1975. 219 LAB B Rep. 077, Nr. 1323, Der Senator für Gesundheit, Soziales und Familie, Geschäftsverteilungsplan des Durchgangsheimes für Aussiedler und Zuwanderer, Stand: 3.85. 220 LAB B Rep. 077, Nr. 1234, Antwort des Senators für Arbeit und Soziales an die Vorsitzende des Landesfrauenrates Berlin e.V. vom 15.11.1988 auf offenen Brief an den Herrn Regierenden Bürgermeister von Berlin über die Situation der Aus- und Übersiedler in Berlin (West). 221 LAB B Rep. 077, Nr. 1238, Aufstellung der Dienstposten Abteilung VI - Aussiedler, Zuwanderer, ausländische Flüchtlinge, Durch- gangsheim für Aussiedler und Zuwanderer; ebenda, Geschäftsverteilungsplan 1996, Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben - Lan- desversorgungsamt - Abteilung VI - Referat D - einschließlich Zentrale Aufnahmestelle des Landes Berlin für Aussiedler, Spätaussiedler und jüdische Zuwanderer (ZAB), 5.8.1996.

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Insgesamt reagierte das zuständige Landesamt flexibel und passte die Mitarbeiterzahl der jeweili- gen Auslastung des Durchgangsheimes an.

7.4 Staatliche Beratungsstelle und nichtstaatliche Wohlfahrtsverbände auf dem Gelände der Marienfelder Aufnahmestelle

Schon Mitte der 1970er Jahre und im Kontext Hilfe zur Selbsthilfe der Berlin-Werbeaktion formulierte der Berliner Nelli Stanko: Arbeits- und Sozialsenator die Notwendigkeit der Einführung zusätzlicher Service- und Infor- „Die Aufgaben der Zentralen Beratungsstelle waren vor- mationsveranstaltungen für die Gruppe der Aus- nehmlich Beratung und Unterstützung bei Behördengän- siedler. Sie sollten mit den gesellschaftlichen, gen – anhand eines Laufzettels. Um die Informationsflut verständlich und „verdaulich“ zu gestalten, war eine politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen enorme Aufklärungsarbeit notwendig. Obgleich das auf- in der Bundesrepublik vertraut gemacht sowie grund der spärlichen Informationen der Aussiedler über in Verbraucher- und Wohnungsfragen, zu The- das System insgesamt nur bedingt möglich war, habe men des Arbeitsmarktes und Arbeitsschutzes, ich es dennoch für sinnvoll erachtet, ZAB-Bewohnern während der ersten Wochen ihres Aufenthaltes in Ber- der Lohnsteuer und des Kindergeldes informiert lin die grundlegenden Unterschiede aufzuzeigen. Für werden.222 Dies war der Anstoß zur Professio- Zusatzinformationen über die Unterschiede im System nalisierung des Beratungsangebotes im Durch- (Bildungswesen, Gesundheitswesen, System der sozia- gangsheim. Die Einrichtung einer staatlichen len Sicherung) waren Neuankömmlinge außerordentlich dankbar, denn diese bildeten nicht nur eine gewisse Ori- Beratungsstelle, wie sie bis zuletzt im Durch- entierung, sondern zugleich die Entscheidungsbasis im gangsheim bestanden hat, war ein sich lang- konkreten Fall. Im Sinne der Hilfe zur Selbsthilfe habe ich sam vollziehender Prozess, der sich aus der Begrüßungsseminare für Neuankömmlinge ins Leben Überzeugung nährte, dass den Aussiedlern ge- gerufen sowie die monatliche Informationsveranstaltung „Sucht- und Kriminalitätsprävention“. Bei der Umsetzung zielte und fachmännische Hilfestellungen für die dieser Projekte der Beratungsstelle konnten externe Re- immer verwobener werdenden rechtlichen Be- ferenten beteiligt werden. stimmungen und notwendigen Behördengänge zuteilwerden mussten. Aus den auf dem Lager- Maria Lewandowski (1987 aus Zabrze nach Berlin aus- gesiedelt; seit 1991 Mitarbeiterin bei der Caritas): gelände bestehenden Beratungsmöglichkeiten entwickelte sich eine Zentrale Beratungsstelle, „Wichtig war es, den Menschen den Umgang mit der Flut die im Jahre 1985 sechs Mitarbeiter beschäf- an Schreiben, an Verwaltung und an Behördengängen, tigte.223 Diese Beratungsstelle wurde mit der mit denen die Aussiedler von Beginn an konfrontiert wur- den, zu erklären und zu erleichtern. Wir wollten ihnen Zeit mit weiteren Mitarbeitern verstärkt und be- grundsätzlich vermitteln, wie sie damit umgehen und auf schäftigte im Jahre 1996 fünf Mitarbeiter für die alles angemessen reagieren sollten. Zugleich vermittel- Einzelfallberatung, vier Sprachmittlerinnen (u.a. ten wir natürlich, dass sie jederzeit bei Verständnispro- polnisch, russisch), drei für die Erfassung der blemen zu uns in die Beratung kommen konnten. Ziel war es aber, die Menschen dabei zu unterstützen, ihr neues Aussiedler zuständige Bearbeiter, zwei separa- Leben Schritt für Schritt selbst in die Hand zu nehmen, te Berater für jüdische Zuwanderer, zwei weitere um sich nach und nach von den staatlichen und nicht- Berater für Wohnungsangelegenheiten und vier staatlichen Hilfsorganisationen lösen zu können.“ im Sozialdienst tätige Mitarbeiter. Mitsamt eines für die allgemeine Beratung und Betreuung zu-

222 LAB B Rep. 077, Nr. 1165, Bessere Informationen im Durchgangsheim Marienfelde, Tagesspiegel vom 22.12.1976 223 LAB B Rep. 077, Nr. 1323, Der Senator für Gesundheit, Soziales und Familie, Geschäftsverteilungsplan des Durchgangsheimes für Aussiedler und Zuwanderer, Stand: 3.85.

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ständigen Mitarbeiters und des Sachgebietsleiters dieser Beratungsstelle für Aussiedler/Spätaus- siedler sowie jüdische Flüchtlinge waren zu diesem Zeitpunkt 22 Mitarbeiter in der Beratungsstelle tätig.224 Der Rückgang des Aussiedlerzuzugs nach Berlin zum Ende der 1990er Jahre wirkte sich allerdings auch in diesem Bereich auf den Personalbestand negativ aus.

Der Auftrag der staatlichen Beratungsstelle bestand einerseits in der Beratung der Aussiedler in Fragen bezüglich der Erledigung von Formalitäten, andererseits in der Unterstützung bei den an- stehenden Behördengängen. Neben einer Eingliederungsberatung, die in den letzten Jahren in Gruppen durchgeführt wurde - da man feststellte, dass sich in den individuellen Beratungsgesprä- chen viele Fragen wiederholten -, stand die individuelle Beratung, in der anhand des Laufzettels spezielle Fragen zu Behördengängen in einem persönlichen Gespräch geklärt wurden. Diese sehr intensiv in Anspruch genommen Einführungsberatungen wurden durch die Wohnraumvermittlung ergänzt, die insbesondere infolge der Konzeptänderung im Kontext der Verkürzung der Aufent- haltsdauer in der ZAB auf vier Monate, an Bedeutung gewann. Die dritte Säule der staatlichen Beratungsstelle stellte der Sozialdienst dar, der Hilfestellungen in allen Lebenslagen bot, so bei fa- miliären Problemen, bei Schwierigkeiten mit Kindern oder Jugendlichen, bei Krankheit oder Behin- derung.225 Ein Vorteil der staatlichen Beratungs- stelle waren ihre guten Kontakte zu Behörden, Praktische Hilfe zu Beginn Vereinen, Verbänden und anderen Regeldiens- ten, von denen die Aussiedler unmittelbar profi- Maria Lewandowski tierten. Auch dies war wiederum aus dem Grun- „Ich kann es an meinem Beispiel schildern. Zuerst war de wichtig, da die Aussiedler möglichst nach alles Formelle zu erledigen. Mit dem ausgehändigten vier Monaten in eine eigene Wohnung ziehen, Laufzettel ist man die festgelegten Stellen durchlaufen. dort aber nicht ohne Ansprechpartner dastehen In der damaligen Zeit haben wir innerhalb von vier Wo- chen schon den A-Ausweis bekommen, es ging also sollten. Zudem konnten dadurch der Laufzettel ganz schnell. Dann folgte schon die Wohnungssuche, immer auf aktuellem Stand gehalten werden der Deutschkurs und die Arbeitssuche. Da wir ein be- (Adressen, Ansprechpartner, Telefonnummern, hindertes Familienmitglied haben, mussten wir Kontak- etc.) und bei Bedarf oder speziellen Problemen te zu Ärzten, zu entsprechenden spezialisierten Stellen aufnehmen und dabei habe ich von Seiten der Caritas auch direkt Terminvereinbarungen vorgenom- ganz viel Unterstützung erhalten. Sei es, dass mir ein 226 men werden. Wagen, eine Art Buggy für meinen Sohn besorgt oder eine Begleitung zu den Ärzten organisiert wurde, weil Eine besondere Leistung stellten die in den ich zwar Deutsch konnte, aber die spezifische medi- zinische Sprache sehr kompliziert ist. Hinzu kam Hilfe letzten Jahren des Bestehens der Zentralen bei relativ einfachen Dingen wie Terminvereinbarungen Aufnahmestelle in Marienfelde ins Leben geru- - damals gab es aufgrund des Aussiedlerandrangs fenen und u.a. in Zusammenarbeit mit der Evan- ellenlange Schlangen vor den zwei Telefonzellen auf gelischen Flüchtlingsseelsorge und der Caritas dem Gelände, sodass man manchmal bei einer der Beratungsstellen viel leichter ein Telefonat erledigen konzipierten Begrüßungsseminare, die über die konnte. Und als wir uns dann endlich für eine Wohnung grundsätzlichen formalen Aspekte hinaus den entschieden hatten, ist die Caritas-Mitarbeiterin mit Neuankömmlingen Orientierungshilfen im Alltag meinem Ehemann zur Wohnungsübergabe gegangen. boten. In diesen Seminaren wurden etwa Infor- Das war ganz wichtig, denn man hatte Angst davor, beim Übergabeprotokoll einen Fehler zu machen.“ mationen zum Schul- und Gesundheitssystem, Integrations- oder Sprachkursen vermittelt. Da-

224 LAB B Rep. 077, Nr. 1238, Geschäftsverteilungsplan 1996. 225 Interview mit Nelli Stanko vom 11.10. 2010. 226 Ebenda.

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rüber hinaus wurde auf Prävention gesetzt. In Zusammenarbeit mit der Polizei und dem Gesund- heitsamt wurden Themen wie Drogenbesitz bzw. -missbrauch oder Aids beleuchtet. Neben der Ver- mittlung institutioneller Strukturen sollten den Aussiedlern damit auch Orientierungshilfen in einer für sie unbekannten Umgebung und Gesellschaft vermittelt werden, die es ihnen ermöglichten sich zurechtzufinden und nach einiger Zeit auf eigenen Beinen zu stehen.227

Seit Eröffnung des Notaufnahmelagers Marienfelde im Jahre 1953 waren Organisationen freier Wohlfahrtsverbände oder kirchlicher Träger in die Beratungs- und Eingliederungsarbeit - neben der Zurverfügungstellung und Leitung von Wohnheimen, insbesondere während der Hochphasen des Übersiedler- und Aussiedlerzuzugs - der Zuwanderer und Aussiedler involviert, und einigen dieser Stellen wurden auf dem Gelände des Durchgangsheimes auch Büroräume zur Verfügung gestellt. Im Unterschied zu den meisten staatlichen Programmen konnten die freien bzw. konfessionellen Träger die Beratung und Hilfsstellung auf nahezu alle Lebensbereiche ausweiten. Zudem standen sie den Zuwanderern und Aussiedlern auch nach Verlassen des Marienfelder Durchgangsheimes bzw. der Außenwohnheime mit Rat und Tat zur Seite. Im Kontext des steigenden Aussiedlerzuzugs seit Mitte der 1970er Jahre hob auch der Berliner Senat die Bedeutung des Caritas-Verbandes bei der Eingliederung und Integration der zumeist katholischen Aussiedler aus Polen hervor, und er bediente sich auch im Rahmen der Berliner Werbeaktion in bundesdeutschen Durchgangslagern der Hilfe polnischsprachiger Caritas-Mitarbeiter.228

Auch die Arbeiterwohlfahrt (AWO) war fest in die Arbeit mit Aussiedlern integriert. Sozialarbeiter der AWO waren sowohl in Außenheimen als auch im Durchgangsheim tätig. Die Hauptaufgabe sah die Organisation aber allen voran in der Nachbetreuung der Aussiedler nach ihrem Auszug aus den Berliner Durchgangsheimen und in der Jugendarbeit, die sich sowohl auf diverse Schulangelegen- heiten und Maßnahmen zum Spracherwerb als auch auf die Freizeitgestaltung erstreckte.229

Einen immens wichtigen Beitrag zur Eingliederung von Zuwanderern und Flüchtlingen aus der DDR und später den Aussiedlern leistete die im Jahre 1952 gegründete Evangelische Flüchtlings- seelsorge Berlin e.V., die 1969 formell an das Diakonische Werk Berlin angeschlossen wurde, aber als Verein relativ selbstständig arbeitete und sich zu großen Teilen aus Spenden finanzierte.230 Im Marienfelder Durchgangsheim betrieb der Verein ein Büro, bot Neuankömmlingen auch materielle Hilfen an, arbeitete eng mit dem Katholischen Lagerdienst zusammen und seine ehrenamtlichen Mitarbeiter standen den DDR-Übersiedlern und Aussiedlern auch nach Verlassen der Durchgangs- heime zur Seite.231 Mitarbeiter des Vereins halfen den Hilfesuchenden bei Behördengängen, beim Abschluss von Versicherungs-, Miet- oder Kaufverträgen, bei der Wohnungs- und Arbeitssuche sowie bei Bewerbungen.232 Den Schwerpunkt legte die Evangelische Flüchtlingsseelsorge aber bewusst auf die Betreuung und die Arbeit mit Kindern. Dazu wurde im Anschluss an die Errichtung des „Trollhauses“ im Jahre 1979 das Vertiefungsgebiet „Jugendarbeit“ an der Evangelischen Fach- hochschule Berlin eingerichtet. Unter der Leitung des damaligen Leiters des Vereins, Dr. Günter

227 Ebenda. 228 LAB B Rep. 077, Nr. 1165, Senatsdirektor an Senator K., Berlin den 20. Oktober 1975. 229 LAB B Rep. 077, Nr. 1227, AWO hilft Aussiedlern, Berliner Stimme vom 8.9.1979. 230 Die Gesamtspenden zwischen 1952 und 1991 beliefen sich auf 11.498.639,00 DM, siehe: Köhler: Notaufnahme, S. 295-296. 231 LAB B Rep. 077, Nr. 1227, Die Evangelische Flüchtlingsseelsorge stellt sich vor, Gemeindereport Marienfelde vom März 1980. 232 Köhler: Notaufnahme, S. 391.

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Köhler, kümmerten sich jeweils drei Studenten über einige Wochen hinweg im Rahmen von Praktika um die Kinder im Durchgangsheim und ermöglichten ihnen so diverse Aktivitäten, wie z.B. Zoo-, Theater- oder Kinobesuche, sportliche Betätigungen, Sommerfeste oder Ausflüge.233 Neben der Freizeitbetreuung führten die Studenten auch Nachhilfeunterricht durch. Bis 1991 durchliefen über 150 Studenten als Betreuer das Marienfelder Durchgangsheim. Da die Evangelische Flüchtlings- seelsorge im Durchgangsheim auch als Ausbildungsstätte anerkannt wurde, konnten den Studen- ten darüber hinaus ausgebildete Sozialarbeiter im Anerkennungsjahr für jeweils ein halbes Jahr an die Seite gestellt werden.234

An der Jugendarbeit im Durchgangsheim beteiligte sich ebenso sehr intensiv das Jugendsozi- alwerk e.V. des Internationalen Bundes für Sozialarbeit. Ihre Zielgruppe stellten Kinder und Ju- gendliche zwischen 12 und 27 Jahren dar, somit reichten auch die Leistungen von sprachlichen und schulischen bis zu beruflichen und sozialen Maßnahmen. Mittel schöpfte der Verein aus dem Programm zur „Eingliederung junger Aussiedler“ des Bundesjugendplans. Neben der Hauptstelle betrieb das Jugendsozialwerk in Marzahn, Schöneberg und Lankwitz drei Außenstellen mit sechs Mitarbeitern. In den 1990ern wurden im Rahmen des oben genannten Programms wöchentlich zwischen zwei und vier Jugendfreizeitangebote durchgeführt, die vorwiegend - aber nicht nur - von männlichen polnischen Aussiedlerjugendlichen wahrgenommen wurden. Durch die Herkunft gegebene Gemeinsamkeiten waren also noch sehr präsent. Auch Teilnehmer, die bereits aus dem Durchgangslager und anderen Wohnheimen ausgezogen waren, wurden weiterhin betreut.235

Die Wohlfahrtsorganisationen und Vereine, von denen hier nur die wichtigsten benannt werden kön- nen, beteiligten sich aber nicht nur in den verschiedensten Bereichen mit diversen Hilfsangeboten bei der Eingliederung der Aussiedler in Berlin, sie traten auch als Mahner gegen die Begrenzung der Hilfsangebote und Eingliederungsmaßnahmen für Aussiedler auf. So protestierte die Liga der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege in Berlin 1980 erfolgreich gegen die Pläne des Ber- liner Senats, die Beratungs- und Betreuungsstellen aus dem Durchgangsheim Marienfelde in die nähere Umgebung zu verlegen236, was den Aussiedlern das Ersuchen um Hilfe unnötig verkompli- ziert und sich nur wenige Jahre später mit dem stetig steigenden Zulauf und den Spitzenjahren der Aussiedleraufnahme um 1990 fatal ausgewirkt hätte, da die staatliche Beratungsstelle vollkommen überfordert gewesen wäre, und das Christliche Bildungswerk (cbw) wandte sich Anfang der 1990er Jahre gegen die Sparmaßnahmen des Berliner Senats, die die notwendige Sprachförderung für Aussiedler stark begrenzten.237 Dies war allerdings nicht erfolgreich, da die Sparmaßnahmen die auf dem Gebiet der Eingliederungshilfen für Aussiedler nicht nur Berlin, sondern die gesamte Bun- desrepublik Deutschland betrafen.

Der Einsatz der Wohlfahrtsverbände und ihre Bedeutung für die Eingliederung der Aussiedler in die bundesdeutsche Gesellschaft blieben auch auf höchster Ebene nicht unbemerkt. Im Anschluss an ein dreieinhalbstündiges Gespräch mit Vertretern aus Wirtschaft, von Gewerkschaften und Kir-

233 Ebenda, S. 389. 234 Ebenda, S. 390. 235 LAB B Rep. 077, Nr. 1231, Mappen IB und Internationaler Bund für Sozialarbeit; Schreiben des IB Berlin an das Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben, Ref VI D 1, betreffs Anfrage zu Jugendfreizeitangeboten. 236 LAB B Rep. 077, Nr. 1234, Schreiben der Liga der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege in Berlin an den Senator für Arbeit und Soziales, Herrn Olaf S., vom 4. Januar 1980. 237 LAB B Rep. 077, Nr. 1266, Christliches Bildungswerk an das Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben vom 10.6.92.

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chen sowie Wohlfahrts- und Vertriebenenverbänden am 12. Dezember 1988 würdigte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl den engagierten, flexiblen und spontanen Einsatz der Verbände im Rahmen der Aussiedleraufnahme, insbesondere in der Zeit des in die Höhe schnellenden Aussied- lerzuzugs seit 1987.238

Die Arbeit der freien und konfessionellen Wohlfahrtsverbände im Rahmen der Beratung und Un- terstützung der Aussiedler erfolgte als wichtige Ergänzung zum staatlichen Angebot. Während die staatliche Beratungsstelle auf dem ZAB-Gelände eine Lotsenfunktion übernahm, Erstberatungen

Zusätzliche Angebote

Andreas Techel

„Die Beratung war das Standbein. Dann hatte ich ja noch ein „Spielbein“. Das waren dann die Ange- bote darüber hinaus. Zusammen mit der Kirchengemeinde Marienfelde hatte ich einen Gesprächskreis für Aussiedler ins Leben gerufen, zunächst einmal in der Woche, später zweimal im Monat. Dort haben wir auf die Angebote der Kirchengemeinde Marienfelde hingewiesen, Infoveranstaltungen durchge- führt, z.B. zum Thema Führerscheinumschreibung, Referate zur Geschichte Berlins gehalten, mal ei- nen Filmabend oder auch mal eine Stadtrundfahrt durch Berlin, einen Ausflug ins Umland oder eine Lichterfahrt zum Advent organisiert. Es gab auch geistliche Angebote. Hin und wieder kam noch ein russischsprachiger Pfarrer aus Neukölln hinzu, sodass wir zu Dritt waren und manche Veranstaltungen im Wechsel organisierten, was sehr gut klappte. Mal saßen fünf und mal siebzig Leute da. Zwischen 1995 und 2005 führten wir auch einmal die Woche eine Abendandacht in unserem Kinderspielhaus durch, was sehr unterschiedlich angenommen wurde. Mal haben ich oder meine Kollegen dort mit zweien, mal mit zehn Leuten da gesessen. Den Hauptanteil bildete aber eindeutig die simple Bera- tungssprechstunde.“

Lilli Selski

„Soweit ich weiß existiert eine solche Beratungsstelle bei einem Bezirksamt, in der Form wie wir sie hier haben, in Berlin nur einmalig hier in Reinickendorf. Wir bieten eine Beratung in der Muttersprache der Aussiedler und in allen Lebenslagen an. Für bedürftige Besucher haben wir hier die Möglichkeit, ihnen bei der Erweiterung ihrer Sprachkenntnisse zu helfen. Bei uns gibt es Deutsch-Nachhilfeunterricht für Anfänger und Fortgeschrittene. Wir bieten ebenso Computerkurse für Anfänger an, um ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen. In unserem Freizeitzentrum bieten wir ebenso eine sinnvolle Frei- zeitgestaltung für Kinder und Jugendliche an. Das alles wird vom Bezirksamt ganz gezielt gefördert, sogar unser Bezirksbürgermeister findet sehr oft Zeit, bei unseren Veranstaltungen dabei zu sein. Und wir sind immer bemüht die russlanddeutschen Aussiedler mit Einheimischen zusammenzubringen.“

durchführte und allen voran die ersten Behördengänge begleitete, so konnten die Beratungsstellen der Wohlfahrtsverbände nicht nur freier arbeiten, sondern die Menschen auch bei weiterführenden Fragen und Problemen begleiten. Während der Hochphasen des Aussiedlerzuzugs - allen voran seit 1987/88 - waren die nichtstaatlichen Beratungsstellen als Entlastung der staatlichen Stellen aus dem Gesamtkonzept nicht mehr wegzudenken.239 Im Übrigen arbeiteten sowohl die staatliche Beratungsstelle in der ZAB als auch viele Wohlfahrtsverbände und Migrationsvereine innerhalb der Migrations-Erstberatung (MEB) nach der Methode des Case-Management, was die Kompatibilität

238 LAB B Rep. 077, Nr. 1233, KLD-Brief - Nachrichten der Arbeitsgemeinschaft Katholischer Lagerdienst Nr. 10 vom Dezember 1988. 239 Interview mit Ursula Reishaus vom 27.10.2010; Interview mit Andreas Techel vom 12.10.2010.

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und gegenseitige Abstimmung der Beratungen optimierte.240

Über die grundlegenden Hilfsangebote hinaus förderten einige Wohlfahrtsverbände mit der Or- ganisation von Ausflügen, Referaten und Gesprächskreisen die Integration der Aussiedler in die deutsche Gesellschaft auf direkte Weise. So bot die Evangelische Flüchtlingsseelsorge über lange Jahre Reisen für Kinder aus dem Durchgangsheim in die Schweiz an und die Caritas führte sog. Aufbauwochen durch. Auf Reisen konnten die Menschen untereinander Kontakte knüpfen, ein Stück ihrer neuen Heimat kennenlernen und in Referaten, die auf diesen Reisen gehalten wurden, erfuh- ren die Menschen viel Wissenswertes zum deutschen Gesundheits- und Rentensystem, zur Kran- kenversicherung und anderen wichtigen Themen. Eine besonders intensive Hilfe erfuhren Kranke und Behinderte, und grundsätzlich wurden die Menschen auch in der ersten Zeit nach dem Auszug aus dem Durchgangsheim bei Bedarf begleitet. Ende der achtziger Jahre, als die Mittel knapper wurden, mussten die Wohlfahrtsverbände viele Maßnahmen streichen oder kürzen, um ihre Hilfe auch weiterhin anbieten zu können. Der Caritas fiel dies noch etwas leichter, als anderen kleineren Hilfsorganisationen, da viele weggefallene Maßnahmen durch das große Caritas-Netz kompensiert werden konnten, d.h., dass beispielsweise Ausflüge oder Kurse nicht mehr separat für Aussiedler angeboten werden konnten, aber Menschen bei Bedarf in andere Maßnahmen vermittelt wurden.241

Die Kontaktaufnahme der Neuankömmlinge zu den Wohlfahrtsorganisationen erfolgte im Grunde freiwillig und nach Bedarf, allerdings wurde sie bis in die 1980er Jahre durch die Tatsache erleich- tert, dass die an jeden Aussiedler ausgezahlte Friedlandhilfe (50 DM) in Berlin durch die Evangeli- sche Flüchtlingsseelsorge e.V. und die Caritas ausgezahlt wurde und diese Beratungsstellen somit auf dem Laufzettel vermerkt waren. Außerdem war Mundpropaganda nicht unerheblich für die Kontaktaufnahme der Aussiedler zu den Beratungsstellen der Wohlfahrtsverbände. Hatte jemand gute Erfahrungen mit der Caritas, der Evangelischen Flüchtlingsseelsorge oder anderen Vereinen oder Verbänden gemacht, so sprach sich das im Durchgangslager herum und die Menschen such- ten die Beratungsstellen auf. Dabei war auch die Tatsache mitentscheidend, dass den Aussiedlern im Durchgangsheim mit der Zeit bewusst wurde, dass sie die nichtstaatlichen Beratungsstellen auch mit Problemen abseits der grundsätzlichen Formalitäten aufsuchen konnten, die staatlichen Stellen hingegen setzte man eher mit Behördengängen in Verbindung. Zudem besaßen die kirch- lichen Hilfsorganisationen allen voran bei den katholischen Oberschlesiern, die eher den Weg zur Caritas einschlugen, und dem religiös geprägten Teil der Russland- und Rumäniendeutschen, die wiederum vor allem die Evangelische Flüchtlingsseelsorge aufsuchten, einen Vertrauensvorschuss. Aussiedler, die in ihrem Herkunftsland schlechte Erfahrungen mit Behörden und Ämtern gemacht hatten, reduzierten die Kontakte zu staatlichen Stellen in Deutschland auf das Nötigste, Hilfe such- ten sie dagegen bei den kirchlichen Vertretern. Dabei war hilfreich, dass viele Wohlfahrtsverbände die Beratung auch in der jeweiligen Muttersprache der Aussiedler durchführen konnten, weil ent- weder Dolmetscher zu den Gesprächen hinzugezogen werden konnten oder die Mitarbeiter in den Beratungsstellen Sprachkompetenzen in Polnisch oder Russisch mitbrachten, oftmals sogar selbst einen ähnlichen Migrationshintergrund hatten und dadurch die Schwierigkeiten der Neuankömm- linge aus eigener Erfahrung haben nachvollziehen können, was sich in der Qualität der Beratung positiv bemerkbar machte.242

240 Interview mit Nelli Stanko, Der Wille, sich zu integrieren, muss da sein, durchgeführt von Dr. Ingo Grabowsky. 241 Interview mit Ursula Reishaus vom 27.10.2010; Interview mit Frau Lewandowski vom 27.10.2010. 242 Ebenda; Interview mit Andreas Techel vom 12.10.2010; Zu Friedlandhilfe siehe: Köhler: Notaufnahme, S. 380-384.

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7.5 Maßnahmen zur Integrationsförderung

Ein stets aktuelles Anliegen seitens der Leitung des Durchgangsheimes, von Wohlfahrtsverbänden und politischen Parteien war es, die Aussiedler in Berlin willkommen zu heißen, ihnen Sicherheit zu vermitteln und sie an die Berliner Gesellschaft heranzuführen. Kontaktvermittlung zu Einheimi- schen, hiesigen Organisationen und Vereinen sowie die Organisation von Stadtteilfesten waren pro- bate Mittel, um die Aussiedler und die einheimische Bevölkerung zusammenzuführen. Nicht nur die Aussiedler sollten ihre neue Heimat, die Mentalität und den Habitus der einheimischen Deutschen kennenlernen, sondern auch die Berliner, und insbesondere diejenigen, die in der unmittelbaren Nähe zum Durchgangsheim wohnten, sollten ihre neuen Nachbarn besser kennenlernen. Ziel war es somit, die Geschichte der Aussiedler und ihre daraus erwachsene Verschiedenheit den Berli- nern näherzubringen und Vorurteile abzubauen. So leicht sich das in der Theorie anhören mag, so schwierig gestalteten sich solche Vorhaben zum Teil in der Vermittlung gegenüber beiden Grup- pen, da im Prozess des Kennenlernens der ein oder andere Mythos zu Fall gebracht und die ein oder andere Vorstellung von seinem Gegenüber relativiert bzw. korrigiert werden musste. Waren beispielsweise für die einheimischen Deutschen die Vielzahl der als russisch oder polnisch verstan- denen oder interpretierten Merkmale im Verhalten und den Norm- und Wertgefügen der deutschen Aussiedler nicht selten unverständlich, so war für die Aussiedler die als allzu liberal empfundene Gesellschaft, die sich so sehr von den alten deutschen Traditionen und Werthaltungen unterschied, oftmals fremd. Seit Mitte der 1970er Jahre wurden verstärkt Maßnahmen zur Förderung des Einle- bens der Aussiedler in West-Berlin von diversen Stellen durchgeführt. Sehr aktiv war in dieser Zeit der Tempelhofer CDU-Abgeordnete Peter Rzepka, der auch auf den ein oder anderen Missstand im Zusammenhang mit der Aufnahme und Unterbringung von Aussiedlern in Berlin aufmerksam machte. Der Berliner Politiker kritisierte allen voran die seiner Meinung nach nicht zu vertretende Isolation der Aussiedler, die noch dadurch verstärkt wurde, dass viele von ihnen in den ersten Monaten in West-Berlin aufgrund der ungewissen Zukunft Unsicherheit empfanden, nicht immer zügig einen Arbeitsplatz oder eine eigene Wohnung fanden, geschweige denn Kontakt zu Einhei- mischen aufnehmen konnten. Rzepka organisierte daraufhin ein Programm für die Aussiedler im

Bild 18: Flüchtlingslager Marienfelde, 1993 Bild 19: Flüchtlingslager Marienfelde, 1993

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Durchgangsheim, das sowohl auf das Kennenlernen der Stadt und seiner Menschen als auch des demokratischen Systems ausgerichtet war. So war neben Stadtrundfahrten und Dampferfahrten auch das Reichstagsgebäude Ziel der Besucher, die sich überdies auch ein Bild von einer Sitzung des Abgeordnetenhauses machen konnten. Finanziert wurde dieses Programm u.a. aus der Par- teikasse der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU), der Hermann-Ehlers-Stiftung und privater Mittel. Die Stadtkasse beteiligte sich nicht und auch das Landesamt für Gesundheit und Soziales bot zu diesem Zeitpunkt solche Aktionen nicht an.

Auch die Freie Demokratische Partei Deutschlands (FDP) bemühte sich ähnlich stark wie die Christ- demokraten um die Aussiedler und organisierte u.a. Berlin-Kennenlernfahrten für Bewohner des Durchgangsheimes in Marienfelde. Ein sehr prägnantes Beispiel für den Erfolg solcher Maßnahmen bietet ein Leserbrief aus der Berliner Liberalen Zeitung vom September 1979. Darin schildert ein Aussiedler, der aus der im Westen der Ukraine gelegenen Stadt Tschernowitz stammte, einen sol- chen Ausflug mit lobenden Worten. Für ihn habe sich mit dem Besuch im Reichstagsgebäude und im Olympiastadion, von wo aus die Aussiedler die Weite ihrer neuen Heimat bestaunen durften, ein lang gehegter Traum erfüllt. Weiterhin schreibt er: „Wir wissen, daß Berlin im Krieg eine Ruine wur- de und bewundern die Berliner, die diese Stadt wieder aufbauten. Unsere Kinder werden hier eine liberale Demokratie kennenlernen und gute Berliner werden.“243 Diese Aktionen förderten bei den Aussiedlern von Beginn ihres Aufenthalts in Berlin das Bewusstsein, dazuzugehören, ein Teil dieser Gesellschaft zu sein und damit die Identifikation mit ihr. Der Nutzen solcher Maßnahmen für eine erfolgreiche Integration kann sicherlich nicht hoch genug bewertet werden. Dass jedoch politische Parteien, insbesondere des konservativen Spektrums, in den Aussiedlern auch potenzielle Wähler sahen, war kein Geheimnis. Allerdings verhielt sich lange Zeit die SPD, die im Berliner Abgeordne- tenhaus regelmäßig die meisten politischen Vertreter stellte (bis 1975 sogar mit absoluter Mehrheit) und zwischen 1957 und 1981 alle Regierenden Bürgermeister Berlins aus ihren Reihen kamen, in dieser Frage lange Zeit relativ passiv.

Im Juni 1978 organisierte die Leitung des Durchgangsheimes gemeinsam mit der Arbeitsgemein- schaft Katholischer Lagerdienst, der Evangelischen Flüchtlingsseelsorge, der Deutschen Jugend in Europa und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband ein Kinderfest mit Wettkämpfen, Spielen und Ponyreiten. Die Einladung richtete sich dabei auch ganz bewusst an einheimische Kinder aus der Nachbarschaft und war rege besucht. Der Leiter der Betreuungsstelle der Senatsverwaltung für Arbeit und Soziales im Durchgangsheim Marienfelde, Peter H., formulierte die Intention dieser inte- grativen Maßnahme damit, dass den Aussiedlern das Gefühl vermittelt werden müsse, sie seien in Deutschland und Berlin keine Ausgestoßenen, sondern wie selbstverständlich ein Teil der Berliner Gesellschaft.244 Der Ansatz, die einheimische Bevölkerung aus der Nachbarschaft hinzuzuziehen, den Kontakt zwischen Aussiedlern und Hiesigen herzustellen und somit die Integration und Akzep- tanz der Aussiedler zu fördern, wurde seitdem bei der Planung von Festen und anderen Integrati- onsmaßnahmen weiterverfolgt. Dazu diente auch die nach den öffentlichen Kritiken an den zustän- digen Behörden stetig zunehmende Kontaktaufnahme zu Sportvereinen. Ein erstes und später als Vorbild dienendes Beispiel war die Aufnahme junger Aussiedler in den Tempelhofer Sportverein

243 LAB B Rep. 077, Nr. 1227, Unsere Kinder werden gute Berliner werden, Lesebrief von Emmanuil G., Friseurmeister aus Tscherno- witz/UdSSR, jetzt Übergangsheim Marienfelde, Berliner Liberale Zeitung Nr. 17 vom 14.9.1979. 244 Ebenda, Kinderfest im Durchgangsheim, Tagesspiegel vom 22.6.1978; ebenda, Menschlich gesehen, Berliner Morgenpost vom 20.5.1978.

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Blau-Weiß 90. Die zu jener Zeit vornehmlich aus Polen stammenden Kinder und Jugendlichen wur- den von der Beitragszahlung befreit und ihnen wurde sogar die Sportausrüstung gestellt. Der Ju- gendleiter des Vereins begründete dies damit, dass sich der Verein mit dieser Maßnahme aktiv an der Eingliederung der Aussiedler beteiligen wolle und Kontaktaufnahme und Spracherwerb ganz besonders gut im Sportverein gelingen könnten. Vor Aufnahme der neuen Vereinsmitglieder wur- den die einheimischen Sportkameraden sogar in einem Vortrag über die Herkunft und Geschichte der Aussieder auf ihre neuen Kameraden vorbereitet.245

Integrative Maßnahmen förderten auch das Jugenddorf Berlin des Offenen Jugendgemeinschafts- werkes Christliches Jugenddorf Deutschland e.V. und die Berliner Union der Vertriebenen und Flüchtlinge. Während die erstgenannte Einrichtung Kontakt- und Beratungsstellen für Jugendliche einrichtete, Englisch-Sprachkurse anbot, Berlin-Fahrten und Dampferfahrten, Zeltaufenthalte mit Kanufahrten und Exkursionen zur Wartburg oder nach Frankfurt am Main organisierte und insbe- sondere auf den Sport als pädagogisch eingesetztes Mittel zur Integration setzte, zielte die zweit- genannte Einrichtung eher auf eine ältere Gruppe unter den Aussiedlern im Marienfelder Durch- gangsheim und organisierte vor allem Stadtrundfahrten und Kaffeefahrten in Berlin.246

Seit den 1970er Jahren übernahm auch der international agierende Lions-Club247 eine wichtige Rolle bei der Integration von Aussiedlern. Von Beginn an zielte die Unterstützung auf die Vermitt- lung institutioneller Funktionsweisen in West-Berlin und den Umgang mit Behörden sowie die Ein- führung in das Berliner Schulwesen.248 In den folgenden Jahren war der Lions-Club sowohl in die Betreuungsarbeit im Durchgangsheim Marienfelde involviert als auch in diverse Spendenaktionen, die den Aussiedlern zu Gute kamen. Im Jahre 1988 spendete der Club beispielsweise mehrere fest installierte Tischtennisplatten in unmittelbarer Nähe zu Berliner Wohnheimen sowie 10.000 DM, die unterschiedlichen Integrationsmaßnahmen dienen sollten. Eine besonders hilfreiche und integrati- onsfördernde Maßnahme sollte allerdings das 1988 ins Leben gerufene Patenschaftsprojekt unter dem Motto „Alt-Berliner helfen Neu-Berlinern - Vermittlung von Patenschaften“ darstellen. Dabei konnten einheimische Familien Kontakte zu Aussiedlerfamilien aufnehmen, ihnen das Einleben in Berlin erleichtern, bei Behördengängen und Erledigungen von Formalitäten helfen, oder auch mit ihnen zusammen die Freizeit gestalten und ihnen die Stadt näher bringen.249 Nach einem diesbe- züglichen Hilfsangebot des Lions-Club leitete der Berliner Senat die Anfrage an die Evangelische Flüchtlingsseelsorge weiter. Obgleich die Motivation der Clubmitglieder sehr hoch war, wurde das Projekt bereits im darauf folgendem Jahr wieder eingestellt.250 Offenbar waren viele Aussiedler nicht empfänglich für diese Form der Kontaktaufnahme zu den Einheimischen, andererseits ver- hinderten Verständigungsschwierigkeiten den Erfolg dieser löblichen Maßnahme. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass ein großer Teil der in jener Zeit vor allem aus Polen stammenden Aussiedler zwecks Familienzusammenführung nach Berlin kam. Solange Hilfsangebote im Hinblick

245 LAB B Rep. 077, Nr. 1165, Bei Blau-Weiß 90 finden die polnischen Aussiedler schnell eine neue Heimat, Berliner Morgenpost vom 23.3.1977. 246 LAB B Rep. 077, Nr. 1233, Jugenddorf Berlin - Die Gilde I - Offenes Jugendgemeinschaftswerk Christliches Jugenddorf Deutsch- lands e.V., Mappe: Jugenddorf Berlin, Die Gilde I (CJD); LAB B Rep. 077, Nr. 1165, Eine Kaffeefahrt für 250 Aussiedler, Berliner Rund- schau vom 27.1.1977. 247 Eigentl. Lions-Clubs International, im Jahre 1917 in den USA gegründet, mit über 1,3 Mio. Mitgliedern, die in über 46.000 Clubs in über 200 Ländern organisiert sind, weltweit mitgliederstärkste Service-Cluborganisation. 248 AB B Rep. 077, Nr. 1165, Lions hilft den Aussiedlern, Berliner Morgenpost vom 7.2.1976. 249 LAB B Rep. 077, Nr. 1234, Mappe: Lions-Club. 250 Köhler: Notaufnahme, S. 390-391.

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auf die Erledigung von Formalitäten sehr gerne angenommen wurden, wurde die Freizeit im Fami- lien-, Freundes- und Bekanntenkreis verbracht.

Auch auf der Ebene der Beratungsangebote spielte der Lions-Club eine entscheidende Rolle. Ende der 1980er Jahre erklärten sich Mitglieder des Clubs bereit, Aussiedlern an mehreren Standorten in Berlin beratend zur Seite zu stehen. Die sog. „Aktion 5“ (zeitweise mit sechs Standorten), die nach Bemühungen der Evangelischen Flüchtlingsseelsorge entstanden war, zielte darauf, den Aussied- lern, die während der Hochphase des Aussiedlerzuzugs um 1990 in mehreren Stadtbezirken auf bis zu 240 Durchgangsheime, Pensionen, Hotels etc. verteilt waren, den Weg zur Beratungsstelle zu erleichtern. An fünf festen Anlaufpunkten in den Stadtteilen Marienfelde/Mariendorf, Charlotten- burg, Tiergarten, Wilmersdorf/Schöneberg boten jeweils zwei oder drei Mitglieder des Lions-Clubs Beratung, Hilfe und Vermittlung an. So mussten viele Aussiedler nicht immer notwendigerweise den Weg zu den Beratungseinrichtungen auf dem Gelände der Marienfelder Aufnahmestelle nehmen, was somit auch zu einer Entlastung des dortigen Personals führte. Diese unkomplizierte Hilfsbereit- schaft der Mitglieder des Lions-Clubs ist umso höher zu bewerten, da zur gleichen Zeit alle Bemü- hungen gescheitert waren, Kirchengemeinden für den Beratungsdienst zu gewinnen.251

Bild 20: Flüchtlingslager Marienfelde, 1993 Bild 21: Flüchtlingslager Marienfelde, 1993

Aus den ersten Festveranstaltungen im Durchgangsheim entwickelten sich in den 1990er Jahren die mehrfach durchgeführten Tage der offenen Tür. Ein herausgehobenes Ereignis dabei war die 40-Jahr-Feier des Marienfelder Durchgangslagers am 15. August 1993. Unter den rund 1.000 Be- suchern waren auch 145 geladene Gäste. Formeller Höhepunkt der Feierstunde war nach einer Begrüßung durch den Abteilungsdirektor des Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben, Harald Fiss, und der Aufführung des Films „Berlin - Insel der Hoffnung“, eine Podiumsdiskussion, an der u.a. der Bundesminister a.D. Wolfgang Mischnick (MdB) teilnahm und dabei die Tätigkeit der Ein- richtung würdigte. Insgesamt 51 Mitarbeiter der Abteilung VI A des Landesamtes für Zentrale Sozi- ale Aufgaben sorgten für einen reibungslosen Ablauf des lange vorbereiteten Programms. Neben den Musikgruppen „Queen’s Lancashire Regiment“ und „Polizeicombo“ traten auch der Kinderchor

251 Köhler: Notaufnahme, S. 399-400.

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der Russlanddeutschen, eine oberschlesische Trachtengruppe und die Band des Polizeiorchesters Berlin auf. Auf Führungen über das Gelände und in einige Gebäude der Zentralen Aufnahmestelle des Landes Berlin für Aussiedler konnten sich die Besucher ein Bild von den Wohn- und Lebensbe- dingungen der ZAB-Bewohner machen. Von dieser Feierstunde berichteten sowohl lokale als auch regionale und überregionale Zeitungen, darunter die Berliner Morgenpost, der Tagesspiegel und die Welt.252

Auch im Sommer 1999 wurde ein Tag der offenen Tür in der Aufnahmestelle mit einem ähnlichen Rahmenprogramm wie einige Jahre zuvor durchgeführt. Neben der Abteilung VI A des Landesam- tes für Gesundheit und Soziales, der Zentralen Aufnahmestelle sowie der staatlichen Beratungs- stelle beteiligten sich u.a. auch die Evangelische Flüchtlingsseelsorge, die Caritas und die KiTa des Bezirksamtes Tempelhof an der Organisation und Durchführung des Festes und hatten je einen Stand aufgebaut. Neben Musikgruppen, einem Seniorenchor, Auftritten der Kindertanzgruppe und der Artistengruppe Köpenick sowie der ZAB-Musikgruppe, gab es überdies zahlreiche kostenlose Aktionen für Kinder. Wie bei den Veranstaltungen in den Jahren zuvor und auch danach war ein entscheidendes Ziel möglicherweise bestehende Berührungsängste zwischen den einheimischen Bewohnern der umliegenden Viertel und Stadtteile auf der einen, und den Aussiedlern auf der an- deren Seite abzubauen.253 Zweifellos hatten Veranstaltungen wie diese positive Auswirkungen auf das Miteinander im Stadtteil, bauten auf beiden Seiten Vorurteile ab und förderten die Eingliede- rung der Aussiedler in ihrer neuen Umgebung. Sie zeigten aber auch, dass die mitgebrachte kultu- relle Identität eine Bereicherung für die Berliner Gesellschaft darstellte, die es wert war, zu pflegen.

8. Strukturelle und soziale Integration in die Berliner Gesellschaft

Seiner bereits zitierten Studie zur Lebenssituation, Befindlichkeit und Integration von Aussiedlern in Berlin hat Peter Ködderitzsch das Drei-Phasen-Modell von Alexander Saring zugrunde gelegt. Demnach verläuft die Integration von Zuwanderern grundsätzlich in drei zeitlichen Stufen, die der Autor in die Zeitabschnitte bis 14 Monate, zwischen 15 und 27 Monate und über 28 Monate un- terteilt. Die „primäre Integrationsphase“ ist in der Regel durch eine schwierige Wohnsituation, das Fehlen eigener materieller Mittel und die Arbeitssuche gekennzeichnet. Das bekannte Werte- und Normengefüge bricht zusammen bzw. kann nicht ohne weiteres auf die neue Umgebung übertra- gen werden, was im Zusammenspiel mit den vorgefundenen ideologischen und kulturellen Unter- schieden zu Desillusionierung führen kann. Der Zuwanderer, in diesem Falle der Aussiedler, muss sich kulturell neu orientieren und sozial zurechtfinden. In dieser Identitätsfindungsphase können negative Erfahrungen den Integrationsprozess behindern. In der „sekundären Integrationsphase“ bewegt sich der Aussiedler zwischen Arbeitsplatzsuche, Arbeitslosigkeit, Umschulung und der Auf-

252 LAB B Rep. 077, Zugang Juni 2010, Nr. 40, LASoz VI A ZAB L - Ablaufplanung zum Tag der offenen Tür am Sonntag d. 15.8.1993; ebenda, 40 Jahre Berlin Marienfelde: Programm der Feierstunde; Marienfelde: Das Lager der zweiten Geburt. Offene Tür erinnert an die Flüchtlingszeit, Berliner Morgenpost vom 15.8.1993, von Lutz-Peter Naumann; ebenda, Durchgangsstation in die Freiheit. 40 Jahre Notaufnahmelager Marienfelde: Hier begann für 1,5 Millionen Flüchtlinge ein neues Leben. Am Sonntag Tag der offenen Tür, Der Tages- spiegel vom 14.8.1993; ebenda, Feierstunde zum 40. Jahrestag des Lagers Marienfelde, Die Welt vom 16.8.1993. 253 Ebenda, LAGeSo VI A ZAB, Vorplanung zum ZAB-Sommerfest, Tag der offenen Tür, Berlin den 19.4.1999; Kartoffelsalat und Sol- janka im Lager. Sommerfest und Tag der offenen Tür, Berliner Abendblatt, Lokalausgabe Tempelhof, 4. Jahrgang, Nr. 27 vom 7.7.1999.

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nahme einer Arbeitsstelle. Die problematische Situation der Anfangsmonate führt zu einer Redu- zierung der Hoffnungen und Erwartungen im Zielland, aber auch zum kontinuierlichen Aufbau des eigenen Haushalts und einer materiellen Basis, dem Kennenlernen der Gesellschaftsstrukturen in der Nehmergesellschaft und zur Intensivierung von sozialen Kontakten. Dieser Zeitraum kann als Stabilisierungsphase der sozioökonomischen Lebensbedingungen, der Vergewisserung und Neuinterpretation von Werten und Normen als Ergebnis des Prozesses des Aufeinanderprallens selbiger sowie des Anpassungsprozesses an sich verstanden werden, wobei der Grad der Ei- geninitiative dabei eine wichtige Rolle für den individuellen Integrationserfolg spielt. In der „tertiä- ren Integrationsphase“ schließlich, für die es im Grunde kein absehbares oder prognostizierbares Ende gibt, verstärkt sich die Interaktion in der Aufnahmegesellschaft, der „Sozialisationsbruch“ wird allmählich überwunden, die materielle Basis ausgebaut und die Anpassung an die Kulturmuster der Nehmergesellschaft schreitet unter stärkerer oder schwächerer Beibehaltung hergebrachter Gewohnheiten, Haltungen sowie Norm- und Wertgefügen voran.254

Aus diesem Modell lassen sich die wichtigsten Voraussetzungen für eine gelungene Integration herausarbeiten, als da wären: Erlernen der deutschen Sprache, Bezug einer eigenen Wohnung, er- folgreiche Aufnahme einer Arbeit bzw. schulische Integration. Diese drei grundsätzlichen Faktoren für eine erfolgreiche Integration in die Nehmergesellschaft, die die Teilhabe überhaupt erst ermög- lichen und auch in andere Lebensbereiche übertragen können, fließen ineinander, wirken sich auch auf andere Bereiche aus (wie z.B. auf das religiöse Leben) und sind nicht separat zu betrachten (z.B. Notwendigkeit von Sprachkenntnissen für die Arbeitsaufnahme, aber ohne Arbeit auch kaum eine Möglichkeit des praktischen Spracherwerbs). Die Integration in Berlin begann für einen Aussiedler somit im Grunde schon bei der Ankunft im Durchgangsheim Marienfelde. Jedoch waren die Voraus- setzungen in den sechziger und siebziger Jahren andere, als in den Achtzigern, und seit den ge- setzlichen Veränderungen und Einschränkungen bei den Eingliederungsleistungen zu Beginn der neunziger Jahre waren sie nochmals einem starken Wandel unterworfen und die Integration wurde zu einem wahren Kraftakt für die Beteiligten. Die Erfahrung der letzten knapp fünfzig Jahre Aus- siedleraufnahme in Berlin hat gezeigt, dass die oben genannten Faktoren entscheidenden Einfluss auf die Integration nehmen, je besser also die sprachlichen Voraussetzungen sind bzw. je schneller die Sprache dank intensiver und langwieriger Sprachkurse erlernt werden kann, je zügiger die Ar- beitsaufnahme und somit das Knüpfen von Kontakten zu Einhei- mischen, was sich wiederum auf das Erlernen der Sprache aus- wirkt, und je rascher und unpro- blematischer der Aufbau eines eigenen Haushalts - und somit eines Lebensmittelpunkts - und einer eigenen materiellen Basis erfolgt, desto zügiger schreitet die Integration im Zielland voran Bild 22: Sonderausstellung “Alles auf Anfang” - wobei Ausnahmen die Regeln

254 Vgl. Ködderitzsch: Zur Lage, S. 23-24.

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bestätigen. Der Aussiedlerzuzug nach Berlin seit 1964 zeigt aber auch, dass sich die Probleme der Aussiedleraufnahme, mit denen so- wohl die Aussiedler selbst als auch die an der Aufnahme beteiligten staatlichen Stellen und freien Wohl- fahrtsverbände, trotz wachsender Erfahrung tendenziell steigerten. Als Ursachen lassen sich einerseits die immer schlechter werdenden Voraussetzungen anführen, die die Sonderausstellung “Alles auf Anfang” Aussiedler selbst mitbrachten, an- dererseits die drastischen Kürzun- gen der Eingliederungsleistungen, die zudem von einer mehr und mehr schwierigen wirtschaft- lichen und Arbeitsmarktsituation begleitet wurden. Trotz stetiger Professionalisierung stießen die Beratungs- und Integrationsangebote allmählich an die Grenzen des Machbaren.

8.1 Sprachliche Kompetenz als Grundlage gesellschaftlicher Integration

Die Sprachkenntnisse der Aussiedler unterschieden sich nach Zeitraum ihrer Aussiedlung nach Deutschland, ihrem Alter und ihrer Herkunft. Das galt mit einigen Besonderheiten sowohl bundes- weit als auch für Berlin. Bei der Gruppe der Aussiedler aus Polen gab es eine regionale Verteilung. So wurde bereits Anfang der siebziger Jahre festgestellt, dass diejenigen, die aus den Gebieten des ehemaligen Ostpreußen stammten, wesentlich besser Deutsch sprachen, als die Aussiedler aus Oberschlesien.255 Von den Ursachen dafür war bereits die Rede. Im Laufe der siebziger Jahre sank die Zahl der nach Berlin kommenden Aussiedler aus Pommern, Niederschlesien, Ost-Bran- denburg, West- und Ostpreußen stetig, wohingegen die Zahl der oberschlesischen Aussiedler, ins- besondere seit etwa 1980 nochmals stark zunahm. Es kamen immer weniger Menschen aus Polen nach Deutschland und Berlin, die aus Familien stammten, die das Deutschtum noch aktiv pflegten, weil es in Folge der Ausreisen auch immer weniger Deutsche in diesen Gebieten gab und viele Menschen ihre Heimat im Alter nicht mehr verlassen wollten. Hingegen kamen immer mehr Ober- schlesier, von denen in der Regel nur die Vorkriegs- und Kriegsgenerationen sowie noch ältere Kinder Deutsch sprachen bzw. Deutschkenntnisse besaßen. Dieses Generationenproblem konnte jedoch durch die bis zu Beginn der 1990er Jahre angebotenen fünfzehn- bzw. zwölfmonatigen Sprachkurse mit einer Unterrichtsdauer von mindestens 900 Stunden, die zudem durch das Erler- nen von „Sozialtechniken“ (Formulare ausfüllen, Bewerbungen schreiben, Verträge lesen und ver- stehen) ergänzt wurden, aufgefangen werden - für Jugendliche wurden bis zu Beginn der 1990er Jahre sogar mehrmonatige Internatsaufenthalte angeboten, die den Spracherwerb fördern sollten. Die Untersuchung von Stanislaus Stępien zeigt dies eindrucksvoll: Um 1980 hatten nach zwei Jah- ren in Deutschland nur noch 5,3% der repräsentativen Gruppe jugendlicher Aussiedler schlechte

255 Vgl. LAB B Rep. 077, Nr. 1326, Berichte des Beauftragten der Bundesregierung für die Verteilung im Grenzdurchgangslager Fried- land vom 14.2.1971, 23.2.1971, 23.3.1971, 6.5.1971, 2.6.1971, 2.7.1971.

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Deutschkenntnisse, aber bereits 80% sagten, sie hätten gute Kontakte zu Einheimischen. Dabei muss man noch bedenken, dass Kontakte phasenverschoben zu Sprachkenntnissen erfolgen, d.h., dass in der Regel der Spracherwerb vor der Kontaktaufnahme zu Einheimischen steht.256

Bei den Aussiedlern aus Oberschlesien ist noch eine Besonderheit erwähnenswert, die zumindest bis zum Beginn der achtziger Jahre symptomatisch war. Oftmals war neben der Großeltern- auch die Elterngeneration bilingual. Die Generation der Kinder und Jugendlichen war grundsätzlich mo- nolingual, wenngleich rudimentäre Deutschkenntnisse bei etwa einem Drittel von ihnen noch vor der Ausreise nach Deutschland vorhanden waren. Sprachen jedoch von der Vergleichsgruppe nahezu 78% in der Herkunftsregion im privaten Bereich Polnisch, und nur etwa 22% Deutsch, so hat sich dieses Bild innerhalb eines Zeitraumes von drei Jahren fast völlig verkehrt, denn plötzlich sprachen über 67% der Aussiedler in der Familie Deutsch und nur noch etwas mehr als 30% wei- terhin Polnisch.257 Ein Beispiel verdeutlicht dies: Der 37-jährige Herbert M., der 1975 aus Gleiwitz in Oberschlesien nach Berlin kam, erzählte in einem Interview stolz, dass seine achtjährige Tochter bereits nach eineinhalb Jahren fließend Deutsch sprach, die polnische Sprache hingegen wurde nicht weiter gepflegt. Dieser Wechsel hat sich zwar für die Integration in Deutschland zumindest bei den jüngeren Generationen auf den ersten Blick sprachlich durchaus positiv ausgewirkt, jedoch muss angemerkt werden, dass ein solches Vorgehen bei etwas älteren Kindern und Jugendlichen negative Auswirkungen auf den Identitätsfindungsprozess haben kann. Selbst bei dem Interview- ten zeigt sich dies. Stellte er zu Beginn des Interviews noch fest, dass die an ihn herangetragene Hilfe in Deutschland sehr wichtig war, da er kaum ein Wort Deutsch sprach, so behauptete er an späterer Stelle des Interviews, dass seine Zeit in der polnischen Schule schwer war, da er dort ge- zwungen war Polnisch zu sprechen, obgleich zu Hause - wie bei vielen seiner Freunde - nur Deutsch gesprochen worden sei.258 Selbst dem Journalisten war dieser offensichtliche Widerspruch nicht

Bilder 23 u. 24: Sonderausstellung „Alles auf Anfang“

256 Stepien: Jugendliche Umsiedler, S. 58, 62-63. 257 Ebenda, S. 72, 75. 258 LAB B Rep. 077, Nr. 1227, Immer mehr Aussiedler aus Schlesien, Ostpreußen und Pommern wollen in Berlin eine neue Heimat finden, Berliner Morgenpost vom 19.3.1978.

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aufgefallen. Die Aussagen zeigen aber nochmals auf, wie der gesellschaftliche, zumindest individu- ell angenommene Rechtfertigungsdruck, der durch die rechtliche Grundlage (BVFG) des Zuzugs nach Deutschland bedingt war, aber auch die Dankbarkeit der Menschen für die Möglichkeit, das eigene Leben in einem demokratischen Staat fortzusetzen, bisweilen zu Identitätszweifeln führten, was wiederum ein Zeichen von geringem Selbstbewusstsein ist. Das schloss indirekt auch Stanis- laus Stepien aus seiner repräsentativen Umfrage. Je höher nämlich der Bildungsgrad der Familie seiner Untersuchungsgruppe war, desto mehr pflegten weiterhin die polnische Sprache im priva- ten Bereich, ohne jedoch das Erlernen der deutschen Sprache zu vernachlässigen.259 Mit dem Abstreifen der persönlichen Geschichte und eines Teils der Identität sind auch Deutschland und Berlin über viele Jahre sprachliche und kulturelle Kompetenz verloren gegangen, die auch für die wirtschaftliche Annäherung der Bundesrepublik Deutschland an die Republik Polen nach der Wen- dezeit so bedeutend gewesen wären. Seit Mitte der achtziger Jahre änderte sich dieses Bild und immer mehr Aussiedler betrachteten die mitgebrachten Voraussetzungen als eine Fähigkeit, deren Pflege sich lohnte. Der 1985 als Sechsjähriger mit seiner Familie aus Kattowitz nach Berlin ausge- siedelte Fußballprofi Christoph Dabrowski erinnert sich: „Ich habe innerhalb von drei oder vier Mo- naten Deutsch gelernt. Das ging wirklich sehr schnell, da ich in der Schule und auf dem Spielplatz guten Kontakt zu anderen Kindern hatte. Irgendwann haben sich meine Eltern dann gewundert, dass ich schon fast perfekt Deutsch sprach. Aber in der Familie, mit meiner Oma und meiner Tante, da haben wir natürlich auch weiterhin Polnisch gesprochen.“260 Für Christoph Dabrowski, der fuß- ballerisch in Berliner Vereinen großgeworden ist, wäre auch beinahe der Traum einer Teilnahme an einer Fußball-Weltmeisterschaft in Erfüllung gegangen - allerdings im polnischen Trikot -, der leider an formellen Vorschriften der FIFA, die nur kurze Zeit nach der WM geändert wurden, scheiterte. Die Bindung an sein Heimatland, sprachliche Kompetenz und kulturelle Offenheit bildeten aber die Voraussetzungen, die das überhaupt erst möglich gemacht hätten.

Seit 1991/92 veränderten sich die Aufnahmegruppen bundesweit, wobei in Berlin in den darauf fol- genden Jahren weit über 90% aller Aufgenommenen Russlanddeutsche waren, mit steigender Ten- denz. Die Sprachproblematik blieb allerdings eine ähnliche, denn Deutsch sprachen wenn, dann zumeist nur die älteren Generationen, die zu Be- ginn der neunziger Jahre nach Deutschland und Berlin kamen (Andreas Techel: „Die ersten Russ- landdeutschen die kamen, da musste man noch kein Russisch können. Die sprachen zwar einen teils schwer verständlichen deutschen Dialekt, aber es war Deutsch.“).261 Die Angaben zur Mut- tersprache aus den Volkszählungen der Jahre seit 1926 lassen auf den Assimilierungsgrad der deutschen Minderheit zumindest schließen. Im genannten Jahr gaben 94% der Deutschen als ihre Muttersprache Deutsch an, im Jahre 1959 waren es 75%, 1970 noch 66,8%, neun Jahre Bild 25: Sonderausstellung “Alles auf Anfang” später 57% und im Jahre 1989 nur noch 48,7%.

259 Stepien: Jugendliche Umsiedler, S. 72. 260 Interview mit Christoph Dabrowski vom 3.2.2011. 261 Interview mit Andreas Techel vom 12.10.2010.

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Dabei muss bedacht werden, dass es sich bei den nach 1941 Geborenen in der Regel um Dia- lektsprecher handelte, die keine deutsche Schule besucht hatten.262 Im Jahre 1994 gaben in einer Repräsentativumfrage auf dem Staatsgebiet der Russischen Föderation nur noch 36% der Russ- landdeutschen Deutsch als Muttersprache an. Aktiv beherrschten allerdings nur noch 13% die deutsche Sprache. Zu dieser immer geringer werdenden Zahl der russlanddeutschen Aussiedler, die auch tatsächlich noch die deutsche Sprache beherrschten, kam überdies hinzu, dass 1997/98 bundesweit nur noch etwa 50% der Spätaussiedler „Statusträger“ waren - d.h. Menschen, die den Sprachtest im Herkunftsland ablegen mussten.263 In Berlin lag dieser Wert sogar noch niedriger, nämlich bei durchschnittlich weniger als 30% zwischen 1997 und 2003 (vgl. Tabelle 7).

Zu all diesen problematischen Voraussetzungen kamen die drastischen Kürzungen bei den Ein- gliederungsmaßnahmen hinzu, wobei sich die Kürzung der Sprachkurse auf sechs Monate für Er- wachsene und zehn Monate für Jugendliche am deutlichsten negativ auswirkte. Überdies reichten die in den angebotenen Sprachkursen erworbenen sprachlichen Fähigkeiten nicht aus - sie gingen kaum über ein umgangssprachliches Niveau hinaus -, um einen qualifizierten bzw. der mitgebrach- ten Qualifikation entsprechenden Arbeitsplatz aufzunehmen.264 Auf sprachlicher Ebene verkom- plizierte sich seit den achtziger Jahren die Situation in zweifacher Hinsicht. Einerseits verfügten die nach Deutschland kommenden Aussiedler über immer geringer werdende Deutschkenntnisse, andererseits wurden die staatlichen Leistungen und Unterstützungsmaßnahmen zum Erwerb von Kenntnissen der deutschen Sprache stetig gekürzt. Auch die Diskussionen um die Qualität, Dauer und Ziele der Sprachkurse änderten sich mit der Zeit. Noch in den siebziger Jahren forderte die Junge Union die Ausweitung der Sprachkurse über die berufliche Ebene hinaus, sodass etwa der Sprachförderung für Frauen eine besondere Bedeutung zugesprochen wurde, da den Verantwort- lichen bewusst war, dass Frauen mithelfen müssten, die Barrieren ihrer Kinder abzubauen.265 In den letzten beiden Jahrzehnten hingegen trieben die Diskussionen in Richtung der finanziellen Machbarkeit, Folgekosten einer verfehlten Integrationspolitik im Hinblick auf die Sprache rückten hingegen in den Hintergrund, wie auch die praktischen Unterstützungsmaßnahmen für Aussiedler.

8.2 Zusammenhang von beruflicher Eingliederung und sozialer Integration

Die vielleicht wichtigste und nachhaltigste Integrationsmaßnahme ist die berufliche Eingliederung. Bei der Gruppe der Erwerbstätigen ist sie überdies nicht separat zu betrachten, sondern im Kon- text des Spracherwerbs - seit den drastischen Kürzungen zu Beginn der 1990er Jahre in diesem Bereich vielleicht sogar noch enger daran geknüpft. Auch im Bereich der beruflichen Eingliede- rung stellten die Jahre der politischen Wende eine Zäsur dar. Bis zum Ende der achtziger Jah- re war die Wiederaufnahme einer beruflichen Tätigkeit grundsätzlich eine Frage weniger Monate,

262 Rösch, Olga: Deutsch-Deutsch-Deutsches. Rußlanddeutsche in Berlin, in: Scharnhorst, Jürgen (Hg.): Sprachsituation und Sprach- kultur im internationalen Vergleich. Aktuelle Sprachprobleme in Europa (Sprache, System und Tätigkeit, Bd. 18), Frankfurt 1995, S. 232. 263 Heinen: Zuwanderung und Integration, S. 42. 264 Masumbuku: Psychische Schwierigkeiten, S. 124; dazu Lilli Selski von der Beratungsstelle für Aussiedler des Bezirksamtes in Reini- ckendorf: „Die Frage ist doch, was für Sprachkenntnisse die Aussiedler nach einem sechsmonatigen Sprachkurs haben. Es ist doch so: Die Kurse müssen so günstig wie möglich sein, Aussiedler und andere Migranten werden zusammen unterrichtet, wobei es nicht selten vorkommt, dass gut ausgebildete Russlanddeutsche mit solchen Migranten in einem Sprachkurs sind, die in ihrer Muttersprache nicht oder nur schlecht lesen und schreiben können. Was kann man in einem solchen Sprachkurs in sechs Monaten lernen?“ 265 LAB B Rep. 077, Nr. 1233, Forderungspapier: Junge Union hilft…

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Langzeitarbeitslosigkeit betraf hingegen nur eine relativ kleine Gruppe der Aussiedler. Zu Beginn der siebziger Jahre, als der Aussiedlerzuzug nach Berlin noch relativ übersichtlich war, hatten die Aussiedler so gut wie keine Probleme auf dem Berliner Arbeitsmarkt und die Arbeitsplätze ent- sprachen in dieser Zeit in der Regel den mitgebrachten Fähigkeiten bzw. Qualifikationen. Sogar ca. 60% der Frauen nahmen eine Arbeit auf, was in Deutschland nicht so üblich war, wie in Polen. Nicht selten lag Neuankömmlingen bereits vor ihrer Ankunft in Berlin ein unterschriftsreifer Arbeits- vertrag vor, wenn sich bereits in Berlin lebende Verwandte erfolgreich um einen Arbeitsplatz für sie bemüht hatten.266 Im Zuge der Berlin-Werbeaktion Mitte der 1970er Jahre lag die Zeitspanne zwischen Ankunft in Berlin und Arbeitsaufnahme sogar bei nur vier bis sechs Wochen - gewisse Sprachkenntnisse und eine auf dem Arbeitsmarkt gefragte Berufsqualifikation vorausgesetzt -, die Aussiedler waren im Moment der Arbeitsaufnahme in den meisten Fällen also noch Bewohner des Marienfelder Durchgangsheimes. Dabei kam den Arbeitssuchenden auch zu Gute, dass das Ar- beitsamt einen ständigen Vertreter auf dem Gelände des Durchgangsheimes in Marienfelde hatte, was einen unmittelbaren Kontakt und eine relativ problemlose Vermittlung ermöglichte.267 Man kann für diese Zeit sogar sagen, dass sich Deutschland und insbesondere Berlin aufgrund der eingelei- teten Werbekampagne zur Gewinnung von Fachkräften für die Industrie und das Handwerk gewis- sermaßen in einer Konkurrenzsituation zu Polen und hier insbesondere zu Oberschlesien befand. Immer wieder berichteten Aussiedler nach ihrer Ankunft in Deutschland, dass vor allem Betriebe im Oppelner Schlesien ihre Arbeiter nicht ziehen ließen, da sie befürchteten, die Aufträge aus ihren vollen Auftragsbüchern nicht mehr erfüllen zu können.268

Deutschlandweit sah die Situation nicht so gut aus wie in Berlin. Weit über 40% der Männer und Frauen waren in anderen als den erlernten und zuvor ausgeübten Berufen tätig, von denen dies für die meisten mit einem sozialen Abstieg verbunden war.269 Dennoch lässt sich festhalten, dass allen voran männliche Aussiedler auch in den achtziger Jahren erstaunlich gut in den Arbeitsmarkt integriert werden konnten, auch wenn sie nicht immer in den erlernten Berufen tätig wurden.270

In den neunziger Jahren verschlechterte sich das Gesamtbild aufgrund der allgemeinen wirt- schaftlichen Lage und der gekürzten Eingliederungsmittel auch im Berufssektor zunehmend. Hin- zu kamen Sprach- und Technologiedefizite, die eine Umstellung auf den deutschen Arbeitsmarkt problematischer machten271. Grundsätzlich gestaltete sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt für Facharbeiter und Techniker nach wie vor am günstigsten. Nach etwa eineinhalb Jahren Aufenthalt und Arbeitssuche in Deutschland waren etwa 60% aus dieser Gruppe wieder in Lohn und Brot, nach zweieinhalb Jahren betrug der Wert gar 80%. Ungelernte brauchten durchschnittlich etwa jeweils ein halbes Jahr länger, um eine Arbeitsstelle zu finden.

266 LAB B Rep. 077, Zugang Juni 2010, Nr. 62, SenArbSoz VII C - Vermerk - Berlin den 1. November 1971. 267 LAB B Rep. 077, Nr. 1165, SenArbSoz vom 25. März 1976, Politik und Regelungen in bezug auf Auswanderer aus Polen. 268 LAB B Rep. 077, Nr. 1326, Berichte des Beauftragten… 269 LAB B Rep. 077, Nr. 1233, Junge Union, Bundesgeschäftsstelle Bonn - Bad Godesberg, Mappe Junge Union. 270 Westphal, Manuela: Familiäre und berufliche Orientierungen von Aussiedlerinnen, in: Bade, Klaus J. / Oltmer, Jochen: Aussiedler. Deutsche Einwanderer aus Osteuropa, 2. Aufl., Göttingen 2004, S. 137. 271 Ebenda, S. 138.

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Tabelle 8: Berufsstruktur der Aussiedler in Berlin 1972 bis 2003

Hand- Ange- Ingeni- Intellek- Selbst- Land- Haus- Kinder Jahr Arbeiter Lehrer Rentner Schüler werker stellte eure tuelle ständige wirte frauen bis 14. J.

1972 91 128 99 13 2 7 2 8 101 69 65 143 1973 83 98 103 19 8 13 2 4 62 39 56 86 1974 93 72 96 13 11 5 - 8 53 44 52 104 1975 75 49 75 5 4 5 - 3 48 27 24 49 1976 133 149 132 10 10 6 1 14 78 56 93 157 1977 143 213 194 10 9 5 - 3 121 47 75 195 1978 117 206 171 7 8 3 2 7 114 58 73 157 1979 138 282 207 17 15 7 1 4 120 55 89 205 1980 117 254 212 14 15 11 3 4 98 42 56 159 1981 396 513 474 23 37 32 5 8 180 52 141 410 1982 94 124 142 13 12 3 - - 213 26 43 133 1983 96 140 174 19 13 13 - 2 143 27 43 165 1984 154 250 204 29 18 14 2 2 105 26 36 176 1985 200 273 292 37 35 10 6 4 137 27 69 278 1986 256 427 364 39 43 27 3 3 180 30 93 412 1987 583 841 935 68 82 34 7 17 244 73 217 1.028 1988 1.549 2.120 2.088 175 249 82 3 50 537 237 520 2.891 1989 2.122 2.407 1.997 158 337 162 12 90 510 212 417 3.382 1990 238 246 199 25 21 15 6 9 72 47 44 300 1991 29 49 58 11 5 3 - 1 36 23 16 63 1992 1.011 459 825 96 142 47 2 29 537 99 193 1.707 1993 809 507 784 160 174 68 6 20 627 47 181 1.548 1994 964 619 886 215 173 111 2 41 786 32 251 1.681 1995 916 599 856 175 196 84 3 25 729 29 214 1.540 1996 1.015 471 715 140 184 68 10 24 635 27 246 1.292 1997 727 380 567 72 109 42 - 10 550 44 206 974 1998 527 268 472 53 93 37 1 - 419 42 155 691 1999 577 217 512 43 75 22 4 4 418 66 182 652 2000 561 215 469 34 74 32 3 5 388 58 183 637 2001 550 200 497 50 62 25 - 3 371 76 188 602 2002 630 177 388 35 57 27 1 - 325 73 177 546 2003 460 136 409 24 56 10 3 - 256 66 152 401

Gesamt 15.454 13.089 15.596 1.802 2.329 1.030 80 402 9.193 1.876 4.550 22.764

Hingegen hatten Akademiker die schlechtesten Chancen eine Arbeitsstelle aufzunehmen, und un- ter ihnen waren Frauen ganz besonders betroffen, was sich bis heute nicht verändert hat. Zudem unterlagen vor allem Frauen Dequalifizierungsprozessen am Arbeitsmarkt. Auch unter den einzel- nen Aussiedlergruppen ergeben sich deutliche Unterschiede. Bei den Männern sind bundesweit die Russlanddeutschen am stärksten von Arbeitslosigkeit betroffen. Das Arbeitslosigkeitsrisiko liegt bei ihnen fast dreimal so hoch, wie bei Aussiedlern aus Polen und Rumänien. Bei den Frauen gibt es kaum Unterschiede zwischen Aussiedlerinnen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und Polen. Bei beiden Gruppen liegt das Arbeitslosigkeitsrisiko hingegen etwa doppelt so hoch, wie

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bei rumäniendeutschen Frauen.272 Wie für Frauen so ein Weg aussehen kann, zeigt das Beispiel von Lida J., einer Ingenieurin aus Omsk, die in Berlin zunächst als Pflegekraft gearbeitet hat und danach einen Ein-Euro-Job annehmen musste, bei dem sie anderen Spätaussiedlern half, Hartz IV zu beantragen.273 Nicht nur für die Person ist das bitter, auch der deutschen Wirtschaft gehen auf diese Weise hoch qualifizierte potenzielle Arbeitskräfte verloren. Die statistische Auswertung der beruflichen Situation der Berliner Aussiedler seit 1972 hat eine überaus positive Berufsstruktur zu Tage gefördert. Über 60% der zwischen 1972 und 1991 überwiegend aus Polen nach Berlin ein- gewanderten Aussiedler zählte zu der Gruppe der Erwerbspersonen. Hinzu kam ein fast 30%iger Anteil von Kindern und Jugendlichen, also potenziellen Erwerbspersonen, wohingegen der Anteil der Rentner nur 7,3% betrug. Unter den Erwerbspersonen befanden sich insgesamt 36% Handwer- ker, Facharbeiter und Arbeiter, also beruflich in dieser Zeit leicht zu integrierende Gruppen. Nach 1991 und mit der Verlagerung der Aussiedlergruppe nach Herkunft von den Aussiedlern aus Polen zu russlanddeutschen Aussiedlern veränderte sich auch die Berufsstruktur in einigen Feldern. Der Anteil der Arbeiter und Facharbeiter nahm um mehr als 20% zu, wohingegen der Anteil der Hand- werker um mehr als die Hälfte geringer ausfiel. Zudem verdoppelte sich die Gruppe der Rentner, während bei Kindern und Jugendlichen ein leichter Anstieg zu verzeichnen war.

Diagramm 5: Berufsstruktur der Aussiedler 1972 bis 1991 in Prozent

Der Anteil aller Erwerbspersonen an der Gesamtgruppe fiel um etwa 8% und betrug nur noch ca. 52%. Im Bundesdurchschnitt lag dieser Wert Mitte der 1990er Jahre ähnlich hoch bei etwa 53%, jedoch viel höher als bei der einheimischen deutschen Bevölkerung, die nur etwa 38% Erwerbs- personen zählte274, was wiederum ein Beleg für die insgesamt wesentlich günstigere Altersstruk- tur der Aussiedler ist. Der Anteil der Intellektuellen (Lehrer, Ärzte, Wissenschaftler, Ingenieure) lag bei den Russlanddeutschen in Berlin mit knapp 7% höher als bei den Aussiedlern aus Polen mit unter 5%, was allerdings alles andere als vorteilhaft bei der Arbeitssuche war. Eine der Ursachen für die mehr und mehr kritische Situation auf dem Arbeitsmarkt für Aussiedler war u.a. auch der stetig steigende Anteil der Aussiedler an Berufen des Dienstleistungssektors. Noch in den neun-

272 Gediga, Günter / Greif, Siegfried / Janikowski, Andreas: Erwerbslosigkeit und beruflicher Abstieg von Aussiedlerinnen und Aussied- lern, in: Bade, Klaus J. / Oltmer, Jochen (Hgg.): Aussiedler. Deutsche Einwanderer aus Osteuropa, 2. Aufl., Göttingen 2004, S. 92-103. 273 Soboczynski, Adam: Fremde Heimat Deutschland, DIE ZEIT ONLINE vom 12. Oktober 2006. http://www.zeit.de/2006/42/Russland- deutsche, S. 7. 274 Ködderitzsch: Zur Lage, S. 32.

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ziger Jahren machte er allein bei den Frauen ca. 58% aus, allerdings war dieser Tätigkeitsbereich in vielen Feldern in Westeuropa bereits stark auf elektronische Datenverarbeitungssysteme umge- stellt, anders als noch in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, und viele Arbeitsbereiche unter- schieden sich grundsätzlich von denen in den Herkunftsländern der Aussiedler. Dies erschwerte die Arbeitsaufnahme immens bzw. setzte Zusatzqualifikationen in diesen und anderen Bereichen voraus.275

Diagramm 6: Berufsstruktur der Aussiedler 1992 bis 2003 in Prozent

Das Bildungs- und Ausbildungsniveau von Aussiedlern war grundsätzlich auf relativ hohem Niveau. Im Durchschnitt besuchten Aussiedler aus Polen im Vergleich zu Aussiedlern anderer Herkunft die Schule am längsten und verbrachten auch die längste Zeit mit der Berufsausbildung. So betrug die Schulzeit in der Regel mehr als zehn Jahre und die Zeit an Berufsschulen bzw. Technika oder an Universitäten vier Jahre und mehr, was im Schnitt ein bis zwei Jahre länger war, als in der So- wjetunion und ihren Nachfolgestaaten. Auch der Anteil von Menschen mit einem Technikum- oder Hochschulabschluss lag bei den Aussiedlern aus Polen wesentlich höher. Während nämlich 40% der Frauen und 50% der Männer einen solchen Schultyp besuchten, so waren es beispielsweise bei den rumäniendeutschen Aussiedlern entsprechend nur 28% und 23%. Trotz dieses vergleichs- weise niedrigeren Bildungsstandes war der Anteil der Facharbeiter unter den Russland- und Ru- mäniendeutschen etwa so hoch, wie der der Aussiedler aus Polen mit 63% bei den Männern und 44% bei den Frauen.276 Eine repräsentative Untersuchung im Berliner Bezirk Lichtenberg durch das Institut für Angewandte Demographie im Jahre 1997 bestätigte die bundesweiten Erhebungen zu dieser Frage auch für die deutsche Hauptstadt. Mehr als 40% der befragten Aussiedler schlos- sen in ihrem Herkunftsland mindestens zehn Schulklassen ab, 15% wiesen eine Hochschulreife auf. Zudem hatten insgesamt 64% der Berliner Vergleichsgruppe einen Facharbeiter- und sogar Meisterabschluss.277 Aus Gesamterhebungen des Lastenausgleichsamtes zu Beginn der achtziger Jahre ging überdies hervor, dass die Ausbildungssituation der jugendlichen Umsiedler aus der Volksrepublik Polen wesentlich besser war, als die der einheimischen Jugendlichen, da fast jeder

275 Heinen: Zuwanderung und Integration, S. 42. 276 Fuchs / Schwietring / Weiß: Alte und neue Umwelten, S. 73-74. 277 Michel, Harald / Finke, Robby: Aussiedler in Berlin, Berlin 2007, S. 7-8.

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Aussiedler, der in einem entsprechenden Alter war, auch bereits einen Berufsabschluss hatte.278 Diese gute Bildungssituation mit einem hohen Anteil an Facharbeitern und Technikern wirkte sich grundsätzlich positiv auf die berufliche Situation der Aussiedler aus. Paradox hingegen war und ist die Situation bei den hoch und gering Qualifizierten, wo nämlich die zweitgenannte Gruppe bessere Chancen auf eine Arbeitsaufnahme hatte, wenngleich auch bei allen Untergruppen die Wahrscheinlichkeit arbeitslos zu werden seit den Neunzigern linear ansteigend war. Eine Ausnah- me bildeten die Rumäniendeutschen, die unabhängig von der Bildungssituation die besten Einglie- derungschancen hatten, wobei das vorhandene Netzwerk und die breite Solidarität offensichtlich ungünstige individuelle Faktoren ausglichen.279

Diesen insgesamt guten Bildungsvo- raussetzungen stand mitunter eine restriktive Anerkennungspraxis der zuständigen Behörden gegenüber. Dies soll anhand von Zahlenmaterial aus einer Befragung unter 1.060 Ber- liner Aussiedlern illustriert werden: Mitte der neunziger Jahre antworteten nur 23,4% der befragten Aussiedler, dass ihr Berufsabschluss anerkannt wurde, aber 28,2% verneinten die- se Frage. Zudem beantwortete eine Bild 26: Ein Aussiedler im September 1989 vor dem vollen Mehrheit von 44,6% diese Frage nicht. Stellenanzeigenbrett des Arbeitsamtes im Durchgangslager Marienfelde Bei einem Großteil dieser Gruppe ist ebenfalls anzunehmen, dass vorhandene Abschlüsse nicht anerkannt wurden, dessen sich die Menschen durchaus auch bewusst waren. Bei einer späteren Befragung derselben repräsenta- tiven Aussiedlergruppe kam schließlich heraus, dass bei 43% von ihnen der Berufsabschluss im Herkunftsland eine Anerkennung fand, aber bei 51% die Anerkennung des Berufsabschlusses ver- wehrt wurde.280 Noch in den siebziger und achtziger Jahren war die Anerkennungspraxis eine an- dere. In Berlin war man geradezu angehalten, die Berufs- und Bildungsabschlüsse als gleichwertig mit den hiesigen zu setzen, da man auf die Fachkräfte angewiesen war. In ihrem Forderungspa- pier zur Aussiedlerproblematik aus dem Jahre 1976 forderte die Junge Union neben Fortbildungs- maßnahmen und der bevorzugten Vermittlung von Arbeitsplätzen an Aussiedler auch ein „groß- zügigeres Vorgehen bei der Anerkennung von Berufsabschlüssen und eine Koordinierung dieses Vorgehens durch Rechtsverordnungen der zuständigen Bundesministerien.“281 Die Durchsetzung dieser Forderung in allen Berufsfeldern gestaltete sich aber auch weiterhin nicht unproblematisch. Zum Teil erhielten Aussiedler von den Industrie- und Handelskammern statt der Anerkennung von Zeugnissen und Befähigungsnachweisen nur Bescheinigungen, in denen die Vergleichbarkeit ihrer Ausbildungen zu einer betrieblichen Ausbildung in Deutschland festgestellt wurde. Vielfach waren die Bildungs- und Ausbildungsgänge in den Herkunftsländern nicht ausreichend bekannt oder die

278 Stepien: Jugendliche Umsiedler, S. 42. 279 Janikowski, Andreas: Berufliche Integration der Aussiedler und Aussiedlerinnen, in: Lantermann, Ernst-Dieter / Schmitt-Rodermund, Eva / Silbereisen, Rainer K. (Hgg.): Aussiedler in Deutschland. Akkulturation von Persönlichkeit und Verhalten, Opladen 1999, S. 117, 123. 280 Ködderitzsch: Zur Lage, S. 33, 83. 281 LAB B Rep. 077, Nr. 1233, Forderungspapier: Junge Union hilft Aussiedlern…

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Erkenntnisse wurden nicht genügend umgesetzt.282 Das betraf aber insbesondere allgemeinbil- dende Schulabschlüsse und akademische Grade, also Bereiche, für die deutsche Kultusbehörden in Anspruch genommen werden mussten. In den folgenden Jahren vereinfachte sich die Prozedur hinsichtlich der Berufsabschlüsse, da es im Interesse der Bundesrepublik Deutschland und vor al- lem Berlins war, die zugewanderten Fachkräfte der Wirtschaft zügig zur Verfügung zu stellen. Daher wurden zumindest Berufsausbildungen relativ problemlos von den Industrie- und Handelskammern anerkannt. Dazu legte 1976 auch der Bundesminister für Wirtschaft den zuständigen Behörden nahe, die Anerkennungspraxis großzügig und in beschleunigten Verfahren durchzuführen. Darü- ber hinaus wurde die Empfehlung an die Kultusminister ausgesprochen, Grundsätze zur Führung akademischer Titel auszuarbeiten. Ein Jahr darauf beschloss die ständige Kultusministerkonferenz, den technischen Wissensstand der Umsiedler durch ein „Eingreifprogramm“ zu aktualisieren.283

Gravierend wurde das Problem der Anerkennung von Berufsabschlüssen erst in den 1990er Jah- ren. Viele Berufe entsprachen keinem Berufsbild in der BRD, Ausbildungen galten teils als einseitig oder zu kurz. Viele berufliche Erfahrungen waren zudem nicht verwertbar für den bundesdeutschen Arbeitsmarkt. Dienstleistungsberufe wurden generell seltener anerkannt als Facharbeiterabschlüs- se, zudem erforderten sie von den Menschen bessere Sprachkenntnisse. Da Frauen in diesem Sektor besonders stark vertreten waren und fehlende Kinderbetreuungsplätze die Arbeitssuche noch zusätzlich erschwerten, ist das Problem der Arbeitslosigkeit bei Frauen bis in die heutige Zeit besonders ausgeprägt. Aber auch für männliche Aussiedler verkomplizierte sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt seit 1990 zunehmend. So gingen Mitte der neunziger Jahre 44% der männlichen Aus- siedler in Berlin an- oder ungelernten Tätigkeiten nach. Je geringer der Bildungsstand dabei war, desto größer war das Arbeitslosigkeitsrisiko. 1990 waren 38% der Aussiedler ohne abgeschlossene Berufsausbildung arbeitslos, 1994 betrug ihr Anteil bereits 56%.284 Etwa zur gleichen Zeit war die berufliche Situation von Aussiedlern, die weniger als drei Jahre in Berlin lebten, sehr unbefriedigend, wie die bereits zitierte repräsentative Vorfeldstudie der Forschungsstelle Sozialanalysen Berlin e.V. zeigte. Etwa 27% der Aussiedler dieser Gruppe waren arbeitslos, 37% noch in den geförderten Sprachkursen, 21% befanden sich in Fortbildung oder Umschulung, 8% in schulischer oder beruf- licher Ausbildung und nur 7% waren erwerbstätig, von ihnen allerdings nur 39% vollbeschäftigt mit einem unbefristeten Arbeitsvertrag ausgestattet. Für ca. 40% der Berliner Aussiedler herrschten überdies aufgrund von nicht anerkannten Berufsabschlüssen, einem Überangebot im erlernten Be- ruf oder nicht selten auch aus Altersgründen schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Bezeich- nend für die schwierige Lage aus dem Arbeitsmarkt ist zudem, dass über 40% der erwerbstätigen Aussiedler unter den Befragten ihren Arbeitsplatz einer Empfehlung durch Verwandte, Bekannte oder Freunde zu verdanken hatten, 23% wurden vom Arbeitsamt vermittelt und nur je 15% bewar- ben sich erfolgreich auf Anzeigen bzw. unaufgefordert.285 Die Befragung des Instituts für Ange- wandte Demographie für den Bezirk Lichtenberg aus dem Jahre 1997, die keine Einschränkung in Bezug auf die Aufenthaltsdauer machte und einen repräsentativen Querschnitt der Lichtenberger Aussiedler abbildete, kam zum Ergebnis, dass 23% der befragten Aussiedler erwerbstätig waren, 44% hingegen arbeitslos, in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM), Umschulungsmaßnahmen oder im Vorruhestand. Zur gleichen Zeit waren im bundesdeutschen Durchschnitt jedoch etwa 50%

282 LAB B Rep. 077, Nr. 1167, KLD-Brief…, S. 11-12. 283 Stepien: Jugendliche Umsiedler, S. 17. 284 Kapphan, Andreas: Zuwanderung, Arbeitsmarkt und ethnisches Gewerbe…, S. 194-195. 285 Ködderitzsch: Zur Lage, S. 77-82.

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der Aussiedler erwerbstätig und nur 14% arbeitslos, in ABM, Umschulung oder Vorruhestand.286 Obgleich also die Altersstruktur der Berliner Aussiedler auch seit 1990 weiterhin günstig und das Ausbildungsniveau relativ hoch waren, gestaltete sich der berufliche Eingliederungsprozess sehr schwierig und schleppend, sodass selbst die hohe Arbeitsmotivation der Aussiedler - oftmals wur- den Stellen weit unter der individuellen Qualifikation angenommen - kaum Abhilfe schuf, auch wenn mit zunehmender Dauer des Aufenthalts in Berlin auch der Anteil der Erwerbstätigen stieg. Nahmen noch Ende der siebziger und achtziger Jahre viele Aussiedler bereits nach wenigen Wochen eine Arbeit auf, also parallel zum Leben im Marienfelder Durchgangsheim und zum Sprachkurs, so sind alle Erwerbstätigen der oben genannten befragten Aussiedlergruppe erst nach dem Sprachkurs eingestellt worden.287 Besonders prekär entwickelte sich die Lage in Berlin-Marzahn, einem Wohn- bezirk mit einem besonders hohen Anteil von Russlanddeutschen. Im Jahre 2006 lebten 64% der Spätaussiedler in diesem Bezirk von Hartz IV oder Sozialhilfe.288 Diese in der Tendenz seit dem Ende der 1980er Jahre immer schlechter werdende Situation auf dem Arbeitsmarkt wurde durch ein ablehnendes Verhalten in der Gesellschaft noch verschärft. Laut Dr. Tautz von der privaten Weiterbildungsakademie für Wirtschaft und Verwaltung GmbH Berlin/Nauen wären Effektivität und Nachhaltigkeit die wichtigsten Voraussetzungen für eine langfristige berufliche Integration der Aus- siedler, allerdings erforderte die Umsetzung längere Einarbeitungsphasen und geringeren Druck, auch auf sprachlicher Ebene, auf die Arbeitnehmer, worauf sich viele Arbeitgeber jedoch nicht einlassen wollen.289 Das traf auch auf jugendliche Aussiedler und insbesondere Aussiedlerinnen zu, die immer schwerer eine der begehrten Ausbildungsstellen bekamen. Den Mehraufwand an Zeit und Zuwendung wollten die wenigsten Arbeitgeber auf sich nehmen.290

Lilli Selski von der Beratungsstelle für Aussiedler des Bezirksamtes Reinickendorf verdeutlicht, dass selbst auf niedrigstem beruflichen Niveau die Bereitschaft der Gesellschaft sehr gering ist, Aussiedlern die berufliche und soziale Integration zu erleichtern: „Aber gegen mangelnde Akzep- tanz, da ist kein Kraut gewachsen und da helfen auch keine Integrationsgesetze. Es wird ihnen ja niemand ins Gesicht sagen, dass man sie als Arbeitnehmer nicht will, nur weil sie aus Russ- land kommen. Wenn ich zum Beispiel für die Leute auf eine Zeitungsanzeige wegen einer Arbeit, etwa als Reinigungskraft, angerufen habe und sagte, ich habe hier eine kompetente Frau für sie, dann war die erste Frage: Kann sie denn Deutsch sprechen? Dann habe ich gefragt: Ja soll sie denn Reden halten oder soll sie gründlich und sauber putzen? Also diese ganze Debatte mit der deutschen Sprache ist irreführend, aber offenbar ist es leicht für die Politik, alles auf die Sprache abzuwälzen.“291

Neben Frauen und der Gruppe der Ungelernten waren Akademiker und Jugendliche sowie junge Erwachsene von der schwierigen Arbeitsmarktsituation besonders betroffen. Für 30- bis 49-jährige Akademiker wurde ein Akademikerprogramm ins Leben gerufen, mit Orientierungsmaßnahmen, berufsorientierten Sprachkursen, Fortbildung und Anpassungsmaßnahmen. Für Ärzte war zudem

286 Finke / Michel: Aussiedler in Berlin, S. 9. 287 Ebenda, S. 77. 288 Soboczynski, Adam: Fremde Heimat Deutschland, S. 8. 289 Ködderitzsch: Zur Lage, S. 92. 290 Masumbuku: Psychische Schwierigkeiten, S. 124. 291 Interview mit Lilli Selski vom 27.10.2010.

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ein ärztliches Praktikum Voraussetzung zur Approbation.292 Die Forderung eines Praktikums für ei- nen beispielsweise 15 Jahre als Arzt tätigen Mediziner ist jedoch ein gutes Beispiel für eine gewisse Überheblichkeit und Unkenntnis über die Situation in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion der deutschen Behörden (Gesellschaft?). Die Synchronisation und die Anerkennung von Studienzu- gangsberechtigungen oder Diplomen war bereits in den siebziger Jahren ein Problem und Hinder- nis für viele studienwillige Aussiedler. Mit dem sog. Garantiefonds Hochschulbereich sollte die seit den 1990ern noch zunehmend schwieriger werdende Lage entlastet werden. Allein im Jahre 1998 wurden bundesweit über 57.000 Aussiedler unter 30 Jahren im Rahmen dieses Programms, zu dem u.a. Beihilfen, zusätzliche Sprachkurse oder Sonderlehrgänge zählten, gefördert. Die Förderungs- höchstdauer betrug 30 Monate. Jedoch wurden auch in diesem Bereich drastisch Mittel gekürzt, allein zwischen 1991 und 2000 von 510 Millionen DM auf 152 Millionen DM.293

In den vierzig Jahren der Aussiedlerzuwanderung nach Berlin hat sich im Hinblick auf die beruf- liche Integration Grundlegendes zum Negativen verändert. Der Zusammenhang zwischen einer raschen Arbeitsaufnahme und einer erfolgreichen gesellschaftlichen Integration auf allen Ebenen, wie sie sich in der Regel in den siebziger und achtziger Jahren in Berlin vollzog, auf der einen, und der ungenügenden Möglichkeit einer beruflichen Eingliederung aufgrund verschiedener wirt- schaftlicher und individueller Faktoren und der unzureichenden gesellschaftlichen Integration auf der anderen Seite sind unübersehbar. Die Aufnahme einer Arbeit ermöglicht erst die Teilhabe am öffentlichen Leben der Gesellschaft, den Aufbau eines eigenen Hausstandes und das Knüpfen von Kontakten zu Einheimischen. Arbeit schafft Selbstbewusstsein und stärkt das Selbstwertgefühl, vor allem dann, wenn sie nicht unter Niveau ist. Damit ist Arbeit auch wichtig für die Vermittlung von Werten und Normen an die kommenden Generationen innerhalb der Aussiedlerfamilien. Zwar ist der Spracherwerb nicht unabhängig von der beruflichen Eingliederung zu sehen, allerdings dürfte kein Zweifel an dem Primat der Arbeitsaufnahme vor der Bedeutung des Spracherwerbs bei der Integration bestehen. Für die Politik ist das Feld des Spracherwerbs allerdings leichter zu gestalten - obgleich dahingehend seit 1990 gravierende Fehler gemacht wurden - und kann bei nicht genü- gend positivem Effekt (also mangelndem Spracherwerb durch die betroffene Gruppe) populistisch gegen sie eingesetzt werden. Die These wird von dem Ergebnis der repräsentativen Befragung unter Berliner Aussiedlern untermauert. Gefragt nach Zufriedenheit in den verschiedenen Lebens- bereichen schnitt der Vergleichsbereich Arbeit und Beruf am schlechtesten ab. 31% antworteten mit schlecht oder sehr schlecht, 56% bewerteten diesen Bereich mit befriedigend.294 Bedenkt man jedoch, dass zum Befragungszeitpunkt nur 7% der Befragten eine Erwerbstätigkeit ausübte und insgesamt 85% in Ausbildung oder Umschulung, mitten im Sprachkurs oder arbeitslos waren, so wird deutlich, dass bei vielen Befragten, die mit befriedigend antworteten, diese Antwort mit einem Zukunftsbezug versehen war, nicht jedoch dem aktuellen Stand entsprach. Die in den siebziger und achtziger Jahren noch sehr gute Arbeitsmarktsituation für Aussiedler in Berlin hat sich seit der politischen Wende dramatisch verschlechtert.

292 Heinen: Zuwanderung und Integration, S. 41. 293 Ebenda. 294 Ködderitzsch: Zur Lage, S. 52-53.

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8.3 Wohnsituation und Koloniebildung

Koloniebildung ist eine Folge der Kettenwanderung, sie nimmt also Rückgriff auf bestehende Bin- dungen, wie verwandtschaftliche Verhältnisse oder den gemeinsamen Herkunftsort. Anders als im Entstehungsprozess eines Ghettos - der Begriff des Ghettos sollte in diesem Zusammenhang auch aufgrund seiner historischen Prägung nicht verwendet werden - beruht Koloniebildung nicht auf Zwang der Aufnahme bzw. Weiterführung innerethnischer Beziehungen, ebenso wie Strukturen aus dem Herkunftsland nicht einfach übernommen werden. Stattdessen findet eine modifizierte und an die vorgefundene Umgebung angepasste Übertragung bekannter Funktionen und Strukturen statt, Versorgungs- und Informationsnetze sowie Organisationen und Bekanntschaften entstehen neu. Der Entwicklung eines sozialen Netzwerkes und von Beziehungsgeflechten wird u.a. erkennbar an dem Aufbau einer ethnischen Ökonomie in Form von Läden, Werkstätten, Reise- und Überset- zungsbüros, Anwaltskanzleien etc.295 Eine solche Form der Koloniebildung, die von der Aufnahme- gesellschaft als bedrohend und integrationshemmend wahrgenommen und interpretiert wird, hat allerdings eine Reihe durchaus positiver Effekte, sowohl auf die emotionale Sphäre der Zuwanderer als auch auf ihre Integrationsbemühungen, insbesondere im Hinblick auf eine strukturelle bzw. administrative Eingliederung im Zielland. So mindert sie den Kulturschock durch praktische und emotionale Anpassungshilfen der bereits länger im Aufnahmeland lebenden Angehörigen der Ei- gengruppe, sorgt für Persönlichkeitsstabilisierung durch das Vorhandensein eigenkultureller Struk- turen, die sich entlastend auf Verunsicherungen, Lern- und Anpassungsdruck auswirken und sie bietet Hilfsleistungen innerhalb der näheren Eigengruppe (Familie, Freunde), beispielsweise bei der Familienarbeit, Kranken- und Kinderbetreuung, oder der weiteren Eigengruppe (Nachbarn), etwa durch Informationsaustausch zu Arbeitsplatz- oder Wohnungssuche und zu ähnlichen The- men oder der Vermittlung zu Vereinen, religiösen oder kulturellen Gruppen. Zweifellos kann Kolo- niebildung ein erster Integrationsschritt durch die Verbindung alter und neuer Lebensformen und Strukturen sein.296

Bilder 27 und 28: Tag der offenen Tür in Marienfelde 2009

295 Retterath, Hans-Werner: Chancen der Koloniebildung im Integrationsprozess russlanddeutscher Aussiedler?, in: Ipsen-Peitzmeier, Sabine / Kaiser, Marcus (Hgg.): Zuhause fremd. Russlanddeutsche zwischen Russland und Deutschland, Bielefeld 2006, S. 134-135. 296 Ebenda, S. 139-141.

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Koloniebildung ist erst zu Beginn der 1990er Jahre in Berlin zu einem Thema geworden und als bewusste Marginalisierung der russlanddeutschen Aussiedler interpretiert und somit in Verbindung zu der vermeintlich mangelnden Integrationsbereitschaft gebracht worden, die als Ursache für die Eingliederungsproblematik gesehen wurde. Obgleich gerade in den siebziger und achtziger Jah- ren die Familienzusammenführung womöglich der entscheidende Faktor für die Wahl Berlins als Wohnort vieler Aussiedler war, verlief die Integration wesentlich problemloser, auch auf dem Sektor des Wohnungswesens. Zwar wohnten viele Aussiedler zu dieser Zeit auch nicht selten ein Jahr und länger im Marienfelder Durchgangslager, was mitunter auch an der geltenden Anwesenheitszeit in Berlin lag, die es erst nach einem Jahr Aufenthalt in Berlin erlaubte, eine Sozialwohnung in An- spruch zu nehmen297, allerdings vollzog sich die Verteilung der Aussiedler auf die einzelnen Ber- liner Bezirke ohne größere Konzentrationen, wie das Beispiel in Kapitel 4.3 aus dem Jahre 1973 zeigt, wonach sich die 117 Privatwohnenden auf Hilfe der ZAB- Beratungsstelle bei der Wohnraumvermittlung insgesamt neun Bezirke verteilten. Das heißt im Umkehrschluss, dass Familienzusammenfüh- Nelli Stanko: rung zwar als Kettenwanderung einzuordnen ist, allerdings in Berlin nicht unmittelbar zu Kolo- „Nach den ersten Behördengängen wie polizeiliche Anmeldung, Beantragung der Leistungen der sozialen niebildung führte, möglicherweise aufgrund des Grundsicherung, Anmeldung schulpflichtiger Kinder, zahlenmäßig begrenzten, aber umso intensiver etc. hat die Beratungsstelle Aussiedlern im Familien- genutzten Netzwerkes Familie. In der Familie verband zunächst ein Beratungsgespräch zum Thema findet man verschiedene Hilfestellungen, die Wohnungsvermittlung angeboten. Neben der informati- ven Aufklärung wurden auch die einzelnen Schritte der Aussiedler ohne breitere Familienbande in Ber- Wohnungssuche erklärt: Beantragung eines Wohnungs- lin oder aufgrund des Zuzugs als Großfamilie in berechtigungsscheines, Ermittlung von Wohnungsange- den 1990er Jahren noch ohne bereits in Berlin boten, Beantragung der Kostenübernahme beim Job- ansässige Verwandte durch die Konzentration Center, usw. Anschließend an das Aufklärungsgespräch hat die Beratungsstelle ganz gezielt Wohnungsangebo- in Kolonien kompensieren konnten. Ein weiterer te ermittelt, entsprechend der Familienkonstellation und Aspekt scheint bis 1990 bei den oberschlesi- dem Wunschbezirk oder auch Ortsteil. Wenn Verwand- schen Aussiedlern eine Rolle gespielt zu haben: te dort bereits wohnhaft waren und sich gegenseitige Zwar wurden familiäre Bindungen gepflegt, je- Unterstützung versprachen, zum Beispiel Kinder in die Schule zu bringen, Ältere zu betreuen, versuchte die doch vermied es die Mehrheit der Oberschlesi- Beratungsstelle, nach Möglichkeiten diesem Wunsch er in Siedlungen mit hohem Anteil von Personen zu entsprechen. Es wurden Listen mit Kontaktdaten der der Eigengruppe zu ziehen bzw. über einen län- Wohnungsbaugesellschaften ausgehändigt, sodass die geren Zeitraum dort zu leben. Ursächlich waren Familie für sich entscheiden konnte, wie viel Beratung sie in Anspruch nimmt, ob sie selber aktiv wird und die dafür sowohl der Wille zu Anpassung als auch Wohnungsbaugesellschaften aufsucht, oder, ob sie sich die Vermeidung der Bildung einer Angriffsfläche von uns bis zum Abschluss des Mietvertrages intensiv für die einheimischen Deutschen samt Infrage- begleiten lässt. Selbstverständlich haben wir die Fort- stellung des Integrationswillens. schritte verfolgt, um zu verhindern, dass Aussiedler im ZAB-Übergangswohnheim zu Langzeitbewohnern wer- den. Die Vermittlung eines Wohnraums wurde nicht nur Eine weitere wichtige Ursache für die Heraus- sozialverträglich organisiert, sondern auch im Sinne ei- bildung russlanddeutscher Siedlungen in Berlin ner erfolgreicher Eingliederung gesteuert.“ lag in der fehlenden Durchlässigkeit des Woh-

297 Thränhardt: Integration und Partizipation, S. 237; 1971 wurden Aussiedler in den Personenkreis der Berechtigungsgruppe 6 für Wohnberechtigungsscheine aufgenommen, was die Vergabe von Wohnungen ermöglichte, die dem Besetzungsrecht des Landes Berlin unterlagen oder auch in Dringlichkeitsfällen. Wie lange diese Praxis weitergeführt wurde, ist nicht dokumentiert. Vgl. LAB B Rep. 077, Zugang Juni 2010, Nr. 62, VII C 4 (Mappe), darin: XI E, Berlin den 4.6.1971, für den Besprechungspunkt Aussiedler in der Senatssitzung am 8. 6.1971.t

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nungsmarkts. Seit dem Beginn des Aussiedlerzuzugs nach Berlin stellte die Vermittlung von Aus- siedlern auf dem freien Wohnungsmarkt ein nicht unerhebliches Problem dar. Bei einer vom Landes- verband Berlin der Union der Vertriebenen organisierten Aussprache im Februar 1977 zeigte sich, dass neben der Auszahlung von Renten die Wohnungsbeschaffung das drängendste Problem war. Vor allem wurde kritisiert, dass aus Westdeutschland angeworbene Arbeitnehmer im Gegensatz zu den Aussiedlern keine oder kaum Schwierigkeiten bei der Wohnraumsuche hätten, was allerdings auch zum Teil mit der Höhe der Mieten in anspruchsvolleren Wohngebieten zusammenhing.298 Zwar war es also auch in den zwei Jahrzehnten zuvor nicht immer einfach für die Aussiedler aus Polen, eine Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt zu bekommen, und Hilfsorganisationen wie die Ar- beiterwohlfahrt appellierten auch öffentlich an die Berliner Vermieter, dass sie im Interesse der gesellschaftlichen Eingliederung Aussiedlern einen leichteren Zugang zu Wohnungen verschaf- fen sollten299, doch war die Mobilität von Sozialwohnungen zu frei finanzierten Wohnungen in den siebziger und achtziger Jahren dennoch in hohem Maße gegeben, wohingegen sie sich Mitte der neunziger Jahre fast nicht mehr nachweisen ließ.300 Mit zunehmender Aufenthaltsdauer verbesserte sich während dieser Zeit auch der Wohnstandard stetig. Die Zimmeranzahl stieg im Durchschnitt innerhalb von vier Jahren von 2 auf 3,3 und die Wohnfläche von 43,4 qm auf 88,2 qm301, was eben- so für die rasch einsetzende finanzielle Unabhängigkeit der Mehrheit der Aussiedler spricht.

Selbstverständlich zeugt auch diese Erscheinung von der schnelleren und intensiveren Integration in die Berliner Gesellschaft bis zum Ende der 1980er Jahre und dem danach folgenden Bruch. Allerdings war es bis zum Ende der 1980er Jahre bedeutend einfacher, eine Wohnung zu bekom- men. Bundesweit hatten zwischen 1976 und 1979 fast 80% aller Aussiedler nach weniger als einem Jahr eine eigene Wohnung, nach zwei Jahren waren es bereits 92% und nach drei Jahren wohnten 99,4% aller Aussiedler in ihrer eigenen Wohnung. Der ersten sich auf so hohem Niveau zeigenden

Bilder 29 und 30: Tag der offenen Tür in Marienfelde 2009

298 LAB B Rep. 077, Nr. 1165, Wohnraumsorgen gehören zu den drängendsten, Berliner Rundschau vom 10.02.1977. 299 Ebenda, AWO hilft Aussiedlern, Berliner Stimme vom 8.9.1979. 300 Dietz: Jugendliche Aussiedler, S. 169. 301 Fuchs, Marek: Die Wohnungssituation der Aussiedler, in: Lantermann, Ernst-Dieter / Schmitt-Rodermund, Eva / Silbereisen, Rainer K. (Hgg.): Aussiedler in Deutschland. Akkulturation von Persönlichkeit und Verhalten, Opladen 1999, S. 98.

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Anspannung auf dem Wohnungsmarkt in den Jahren 1990 bis 1992 war im Jahr 1989 das Einglie- derungsanpassungsgesetz vorausgegangen, mit dem die bevorzugte Vergabe von Sozialwohnun- gen an Aussiedler aufgehoben wurde und damit auch die Wartezeiten auf eine Sozialwohnung ge- stiegen waren, da für die Aussiedler als in der Anfangszeit zumeist einkommensschwacher Gruppe auch kaum eine Möglichkeit bestand, auf dem freien Wohnungsmarkt fündig zu werden.302

Trotz der langen Wartezeiten auf eine Wohnung in Berlin war die soziale Situation dennoch relativ entspannt. Obwohl Mitte der 1990er Jahre ca. 57,5% der Aussiedler bis zu 15 Monaten und 39% aller Berliner Aussiedler sogar zwischen 15 und 28 Monaten im Marienfelder Durchgangsheim bzw. in einem der zu diesem Zeitpunkt etwa 50 Außenheime lebten, kam es kaum zu sozialen Proble- men. Einerseits war man sich bewusst, dass es in Berlin allgemein an Wohnraum mangelte, ande- rerseits waren die Bedingungen in der ZAB und den Außenheimen im Hinblick auf Ausstattung und die Hilfe durch vor Ort ansässige staatliche und paritätische Stellen relativ gut. So gaben auch 31% der in Berliner Wohnheimen untergebrachten Aussiedler an, sie seien mit den Lebensbedingungen zufrieden, 47% waren zumindest teilweise zufrieden. Viele Aussiedler hatten auch durchaus hohe Ansprüche an eine eigene Wohnung (Fernwärme, Neubau, billige und große Sozialwohnung, be- stimmter Wunschbezirk oder Wunschsiedlung), sodass sie bewusst längere Wartezeiten in Kauf nahmen. Zudem war seit einem Senatsbeschluss vom 1. Juli 1996 das Einkommen die Berech- nungsgrundlage für die Mieten in Durchgangsheimen303, was viele von denjenigen Aussiedlern davon abhielt, sich rasch eine Wohnung zu suchen, die arbeitslos waren.

Viele der Berliner Aussiedler wählten russlanddeutsche Kolonien nicht nur aufgrund des eigenen Wunsches, innerhalb der Eigengruppe zu leben. Die Wohnsegregation war auch eine indirekte Folge von Ausländerfeindlichkeit, da Menschen, die sich unerwünscht fühlen, sich lieber unter „Ih- resgleichen“ niederlassen. Russlanddeutsche Kolonien bildeten sich in Berlin zu Beginn der neun- ziger Jahre in Marzahn und den Neubaugebieten von Pankow aus, wo ca. 20% aller Aussiedler eine Sozialwohnung fanden. Beliebt waren zum Teil auch Innenstadtbezirke sowie Siedlungen in Tem- pelhof und Reinickendorf. Aussiedler, die in den Außenheimen wohnten, verblieben oft in den ihnen bekannten Wohnbezirken, also etwa in Teilgebieten von Charlottenburg, Wilmersdorf, Schöneberg, Kreuzberg, Tiergarten, Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Die Wohngebiete mit der höchsten Aussiedlerkonzentration lagen bereits in den neunziger Jahren in der Friedrichstraße, in Spandau- Siemenstadt, in der Herzbergstraße in Lichtenberg, in Köpenick-Forst-Rahnsdorf und weiteren Siedlungen der Stadtbezirke Reinickendorf, Mitte, Marzahn und Köpenick.304 Ein Teil der Aussiedler, die im Marienfelder Durchgangsheim wohnten, verblieb nach dem Auszug im Stadtteil Marienfelde oder in den nahe gelegenen Stadtbezirken Mariendorf oder Tempelhof.305 Problematisch wurde die Lage in bestimmten Siedlungen dadurch, dass der Zuzug in kompakte Siedlungsbereiche zum Teil überhandnahm, wie beispielsweise in Marzahn-Hellersdorf. Im Jahre 1999 lebten etwa 13.000 Aussiedler in diesem Stadtteil, 2006 sollen es sogar schon 25.000 Russlanddeutsche gewesen sein, die dort eine Wohnung hatten, obgleich die zweitgenannte Zahl unter Umständen zu hoch an- gesetzt wurde. Eine Arbeitslosenquote von ca. 20% (unter den Spätaussiedlern bis zu 64%), eine breite Alkoholproblematik und der Hang zu delinquentem Verhalten unter männlichen Jugendlichen

302 Ebenda, S. 93-94. 303 Ködderitzsch: Zur Lage, S. 72-74. 304 Beetz / Kapphan: Russischsprachige Zuwanderer, S. 176-178. 305 Interview mit Nelli Stanko vom 11.10.2010.

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sind die gewichtigsten Probleme, mit denen sich insgesamt 39 Projekte und Institutionen mit einem Gesamtjahresetat von 900.000 Euro (für das Jahr 2006) in diesem Stadtteil zu befassen haben.306 Andererseits darf man aber auch nicht vergessen, dass viele Wohnungsbaugesellschaften auf- grund jahrelanger positiver Erfahrungen ihre Wohnungen überaus gerne an Aussiedler vermieteten und sie gegenüber „normalen“ Ausländern bevorzugten307, was durchaus ein Hinweis darauf ist, dass viele Negativschlagzeilen und Berichte in Presse und Fernsehen keinen repräsentativen Cha- rakter haben.

Tabelle 9: Wohnungsvermittlung für Spätaussiedler nach Bezirken / Anzahl der Personen308

Bezirke Anzahl der Wohnungen Anzahl der Personen

2001 2002 2003 2004 2005 2006 2001 2002 2003 2004 2005 2006

Mitte-Tiergarten-Wedding 55 12 33 11 27 16 95 34 65 23 54 34

Friedrichshain-Kreuzberg 22 17 12 15 4 4 31 30 23 25 10 10

Prenzlauer Berg- 24 12 12 17 10 4 82 26 29 38 22 12 Weissensee-Pankow Charlottenburg-Wilmersdorf 9 13 13 7 14 1 12 26 18 12 23 1

Spandau 166 139 157 143 207 56 325 314 374 322 450 109

Zehlendorf-Steglitz 32 17 24 19 11 8 72 36 38 37 21 15

Tempelhof-Schöneberg 128 153 93 121 82 63 219 311 180 232 210 127

Neukölln 102 69 55 46 37 8 187 147 114 79 72 17

Treptow-Köpenick 48 14 9 10 31 1 120 36 28 23 74 1

Marzahn-Hellersdorf 160 172 158 177 205 55 295 412 335 402 466 108

Lichtenberg-Hohenschönhausen 126 96 54 94 94 25 228 238 124 233 241 64

Reinickendorf 60 59 64 48 28 14 112 134 135 107 63 22

Insgesamt 932 773 684 708 750 255 1778 1744 1463 1533 1706 520

306 Soboczynski, Adam: Fremde Heimat Deutschland, S. 1-2, 8-9. 307 Beetz / Kapphan: Russischsprachige Zuwanderer, S. 176. 308 LAGeSo-Statistik: Jahresvergleich 2001 bis 2006

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Die staatliche Beratungsstelle auf dem ZAB-Gelände versuchte den wohnungssuchenden Aus- siedlern die Vor- und Nachteile des Zuzugs in eine russlanddeutsche Siedlung objektiv aufzuzei- gen. Da das Wohnortzuweisungsgesetz in Berlin nicht angewandt wurde und auch der Senat keine diesbezüglichen Regelungen traf, hatten die Behörden auch keine rechtliche Handhabe, den Aus- siedlern den Zuzug in solche Siedlungen zu verbieten, sie konnten nur beratend tätig werden, und den Aussiedlern zumindest empfehlen, nicht in das gleiche Haus oder die gleiche Straße zu ziehen, wo bereits Bekannte oder Verwandte lebten, obgleich auch dabei die familiäre Unterstützung in der ersten Zeit des Aufenthaltes in Berlin positiv zu bewerten war. Da jedoch in den letzten zehn Jahren des Bestehens der ZAB der Großteil der Aussiedler bereits Verwandte in Berlin hatte, voll- zog sich der Zuzug in konzentrierte Siedlungen noch stärker als noch in den Jahren zuvor. Zudem mussten die Wohnungen bezahlbar sein, sodass die Auswahl von vorneherein eingegrenzt war.309 Das wird auch aus der Wohnvermittlungstabelle der Zentralen Beratungsstelle deutlich. Zwischen 2001 und 2006 bezogen 5.577 Aussiedler von insgesamt 8.744 vermittelten Aussiedlern die vier Siedlungsräume Spandau, Tempelhof-Schöneberg, Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg-Hohen- schönhausen, was einem Anteil von 63,78% entsprach. Fast ein Drittel aller Aussiedler wählte somit Schwerpunkte russlanddeutscher Siedlung als neuen Wohnort.

Obgleich sich also Koloniebildung in der ersten Zeit durchaus positiv auf die Integrationsbemü- hungen auswirkt, ist sie als Dauerzustand integrationshemmend, insbesondere dann, wenn weitere Faktoren wie Arbeitslosigkeit, familiäre Probleme (z.B. Generationenkonflikte), anhaltende Sprach- schwierigkeiten etc. hinzukommen und in ihrer gegenseitigen Beeinflussung zu einer Sogwirkung führen, aus der es im Laufe der Zeit immer schwieriger wird herauszukommen. Aufgrund der seit Jahren problematischen wirtschaftlichen Lage und der gesellschaftlichen Benachteiligung von Aussiedlern, etwa auf dem Arbeitsmarkt, ist es allerdings für das Gros der Aussiedler einfach nicht möglich, einen Umzug in bessere bzw. teurere Wohngegenden in Betracht zu ziehen, womit sich der Kreis schließt. Dazu wäre nämlich ein sozialer Aufstieg Voraussetzung, den (noch) nicht genü- gend Russlanddeutsche in Berlin aus den genannten Gründen schaffen können.

8.4 Schulische Integration von Kindern und Jugendlichen

War die berufliche Integration der erwachsenen Aussiedler die bedeutendste Eingliederungs- maßnahme, so galt das bei Kindern und Jugendlichen für die schulische Integration. Diese ver- lief grundsätzlich auf zwei Ebenen. Zunächst einmal mussten entsprechende Sprachkenntnisse vermittelt und verfestigt werden, danach konnte die Heranführung an den Regelunterricht in den Klassen erfolgen. In Berlin war man Mitte der 1970er Jahre auch im Bereich der schulischen Ein- gliederung aufgrund des erhofften Aussiedlerzuzugs im Rahmen der Berlin-Werbeaktion relativ gut vorbereitet. Bereits seit 1972 gab es in Berlin ein Sonderprogramm für Jugendliche, das ei- nen zusätzlichen Unterricht in deutscher Sprache, den Abschluss begonnener Ausbildungsgänge und die Ermöglichung weiterführender Schulabschlüsse für Aussiedler ohne Nachteile sicherstel- len sollte.310 Bis August 1976 wurde der Sprachunterricht für Kinder und Jugendliche in den um- liegenden Schulen des Durchgangsheimes Marienfelde organisiert. Diese Sonderkurse dauerten mindestens zwischen vier und sechs Wochen und wurden zumeist von Lehrern durchgeführt, die

309 Interview mit Nelli Stanko vom 11.10.2010. 310 LAB B Rep. 077, Nr. 1166, LPD vom 28.4.1976, aus den Senatsverwaltungen.

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der polnischen Sprache mächtig waren, also nicht selten einen ähnlichen Migrationshintergrund hatten, wie die Kinder. Nachdem die Kinder einigermaßen dem normalen Unterricht folgen konnten, wurden sie in Regelklassen umgesetzt.311

Noch im April 1976 besuchten lediglich 39 Aussiedler-Kinder Berliner Schulen, davon 20 die Kie- pert-Grundschule in Marienfelde, der in den folgenden mehr als drei Jahrzehnten eine entschei- dende Rolle bei der Integration von Kindern aus Aussiedlerfamilien zufallen sollte und die bereits zu dieser Zeit als die Zentrale Einrichtung für Grundschüler ausgelegt wurde. Die drei wichtigsten weiterführenden Schulen waren die Sophie-Scholl-, die Solling- und die Gustav-Heinemann-Ober- schule, an denen es bereits Mitte der siebziger Jahre möglich war, anstelle der Pflichtfremdsprache Polnisch-Kurse zu besuchen.312 An diesen Schulen war es darüber hinaus auch möglich, das Abitur in Polnisch oder Russisch abzulegen, da von Seiten der zuständigen Stellen und auch Lehrern In- teresse daran bestand, vorhandenes Wissen zu pflegen und zu fördern. Zudem waren die für den Nachhilfeunterricht und die Sonderklassen zuständigen Lehrkräfte über die schnellen Fortschritte ihrer Zöglinge überaus zufrieden, sodass auch kein diesbezüglicher Einwand gegen die Pflege der Muttersprache notwendig war.313 Im September 1976 wurde vier- bis achtwöchige Intensivsprach- kurse für die Kinder und Jugendlichen auf dem Gelände des Durchgangsheimes als Vorbereitung für den Regelunterricht in Grund- und Oberschulen eingeführt. In den folgenden Monaten kamen als Erweiterungen auch Sachkunde, Sportunterricht und Naturkunde hinzu. Im März 1978 wurden die sog. Sprachlabors der Gustav-Heinemann- und der Solling-Schule für die Intensivkurse mitbe- nutzt, und etwa zur selben Zeit kam ein vierter Lehrer hinzu. Die ersten Erfahrungen mit diesen In- tensivsprachkursen waren überaus positiv und haben die Aufnahmeschwierigkeiten in die Grund- und Oberschulen deutlich verringert. Man schätzte, dass seit Einführung der Intensivsprachkurse nur noch etwa zehn Prozent der Schüler mit lückenhaften Sprachkenntnissen an die Regelschulen überwiesen wurden.314

Diese Schule auf dem Gelände des Durchgangsheimes wurde für die 12- bis 19-jährigen im Au- gust 1981 und für die Grundschüler im Jahr darauf aufgelöst. Während die Grundschüler danach in der Regel von Beginn an in die Kiepert-Grundschule kamen, gingen die älteren zumeist in die Gustav-Heinemann-Oberschule oder die anderen beiden oben genannten Oberschulen, die sie oftmals nach einem Umzug in einen anderen Stadtbezirk auch weiterhin besuchten. Das bis dahin erfolgreiche Konzept sollte an der Ganztagsschule nochmals verbessert werden. Als Problem wur- de gesehen, dass die Schüler in den ersten Wochen in der Schule des Durchgangsheimes maximal fünf Stunden täglich unterrichtet wurden, den Rest der Zeit jedoch in ihrer Muttersprache kommuni- zierten. Dies sollte sich in den Ganztagsschule ändern, da die Kinder einerseits aus ihrem „Ghetto- Dasein“ herauskamen und durch Sport und andere schulische und außerschulische Aktivitäten einen engeren Kontakt zu einheimischen Kindern und Jugendlichen aufnehmen konnten.315 Sicher- lich war die Entscheidung über die Schließung der Lagerschule auch durch die seit 1980 wachsen- de Zahl der in Marienfelde ankommenden Aussiedler determiniert. Die Zahl der Kinder wuchs ste-

311 LAB B Rep. 077, Nr. 1165, SenArbSoz vom 25. 3.1976, Politik und Regelungen in bezug auf Auswanderer aus Polen. 312 LAB B Rep. 077, Nr. 1166, LPD… 313 LAB B Rep. 077, Nr. 1167, Heinemann: Westberlin wirbt, in: Rheinische Post vom 3.4.1976. 314 LAB B Rep. 077, Nr. 1227, Kinder aus Polen und Rußland lernen in Marienfelde nicht nur die deutsche Sprache, Berliner Morgenpost vom 11.2.1978. 315 Ebenda, Die Lagerschule Marienfelde wird aufgelöst. In einer Gesamtschule sollen 50 Aussiedlerkinder besser Deutsch lernen, Berliner Morgenpost vom 9.8.1981.

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tig und es war für die Berliner Senatsverwaltung für das Schulwesen absehbar, dass die Einstellung weiterer Lehr- kräfte in Zukunft unumgäng- lich wäre und man mit der Weiterführung dieser Schule faktisch eine parallele Schul- form etabliert hätte. Zudem wurden die Räumlichkeiten im Durchgangsheim für Ad- ministration, Versorgung und Unterbringung benötigt. So- wohl die Kindertagesstätte Bild 31: Schulkinder im Durchgangsheim Marienfelde, Aufnahme vom 8.9.1986. als auch der Kinderhort wur- den im Durchgangsheim je- doch weiterbetrieben. Vor allem der Kinderhort erwies sich nicht nur während der Hochphasen des Zuzugs, als sich bis zu drei Familien eine Wohnung teilen mussten, als Segen für die Kinder. Im Hort konnten die Hausaufgaben in Ruhe erledigt werden und bei eventuellen Nachfragen oder Verständ- nisproblemen zum Schulstoff wurden den Kindern Betreuer an die Seite gestellt. Auch von Seiten der Kiepert-Grundschule wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass es für die Kinder von Vor- teil sei, wenn sie ihre Nachmittage im Hort verbrächten, auch wenn die Eltern zu Hause waren.316

Die Förderung für Kinder und Jugendliche aus Aussiedlerfamilien umfasste drei grundsätzliche Bereiche. Zunächst einmal sollten die Kinder und Jugendlichen an das deutsche Schulsystem herangeführt werden, wozu Förderschulen, wie die Schule im Marienfelder Durchgangsheim, oder Integrationsklassen dienen sollten. Schüler, die ein Studium anstrebten, förderte die Otto-Benecke- Stiftung mit speziellen Förderprogrammen oder Stipendien zusätzlich. Den dritten Bereich stellte die erfolgreiche Vermittlung eines Ausbildungsplatzes dar. Für Jugendliche sind in vielen Regio- nen Deutschlands Internate eingerichtet worden, die aber problematisch waren, einmal wegen der Trennung von den Eltern nach nur kurzer Verweildauer in Deutschland, zum zweiten, da die Jugendlichen dort in der Eigengruppe unterrichtet wurden und der Kontakt zu Einheimischen be- grenzt war. Zudem war das Niveau der anderen Fächer oft niedrig.317

Ein weiterer grundsätzlicher Bereich der Eingliederung in das deutsche Schulsystem war die allzu oft vernachlässigte Beratung. Den meisten Eltern war das deutsche Schulsystem unbekannt und zudem kannten sie aus ihrer Heimat nur ein zentralisiertes Schulwesen, die Unterschiede je nach Bundesland waren ihnen fremd, ebenso wie die Trennung der Schüler nach der Grundschule in leistungsstärkere und leistungsschwächere, die beispielsweise in Polen eher an dem zukünftigen Berufswunsch und nicht nach offensichtlichen Unterschieden in den Schulleistungen einzelner Schüler erst nach der 8. Klasse erfolgte. Insofern war das Berliner Schulsystem mit seiner sechs- klassigen Grundschule näher dran an den Erfahrungen der Aussiedler, als Schulsysteme anderer Bundesländer. Mit der einsetzenden Hochphase des Zuzugs von Aussiedlern Ende der achtziger

316 Interview mit Rainer Bonne vom 29.11.2010. 317 Stepien: Jugendliche Umsiedler, S. 18.

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Jahre machte u.a. der Landesfrauenrat Berlin e.V. auf die Problematik der unzureichenden Be- ratung und Aufklärung zum Berliner Schulsystem aufmerksam. So schrieb die ehemalige Schul- leiterin des Robert-Blum-Gymnasiums und Vorsitzende des Landesfrauenrates Berlin e.V. an den zuständigen Senator für Gesundheit und Soziales im Dezember 1988, dass viele Mütter und Väter von Aussiedlerschülern absolut keine Ahnung vom deutschen und vom Berliner Schulwesen hätten und insbesondere mit der Fachterminologie nicht zurecht kämen. Diesem Zustand müsse dringend Abhilfe geschaffen werden, damit den Kindern und Jugendlichen keine Nachteile entstünden.318

Ein nicht unerhebliches Problem stellte für die Schüler aber auch für ihre Eltern die Umstellung vom Schulsystem im Herkunftsland aus das deutsche Schulsystem dar. Während in Polen oder Russland über die Jahrzehnte hinweg die kognitive Entwicklung des Kindes im Vordergrund stand, die Kinder mit Lernstoff ausgelastet waren, der Lehrer auch als Erzieher eine dominante Stellung innerhalb des Schulsystems einnahm und Disziplin ein wichtige vermittelte Eigenschaft war, trafen die Aus- siedler in Deutschland auf ein liberales Schulsystem mit Betonung der Freiheit des Individuums, in dem die Lehrer nur einen Bruchteil der Erziehungsaufgaben übernahmen. Insbesondere der liberale Gedanke des Schulsystems löste mitunter Generationenkonflikte in den Aussiedlerfamilien aus und schwächte die traditionellen und teils hierarchisch angeordneten Funktionen innerhalb der Familien. Eltern, die in der neuen und unbekannten Umgebung Identitätskrisen durchlebten oder aufgrund von Arbeitslosigkeit Minderwertigkeitsempfinden oder sogar Depressionen entwickelten, übertrugen ihre Unsicherheit auf die Kinder und büßten zugleich an Autorität ihnen gegenüber ein, die durch den zügigeren Spracherwerb der Kinder und Jugendlichen und ihr schneller fortschrei- tendes Zurechtfinden in der deutschen Gesellschaft noch verstärkt wurden. Bis zu 88% der Berliner Aussiedler äußerten in Befragungen, sie hätten zwischenmenschliche Konflikte mit ihren Kindern. Die Entwicklung der Kinder, ihr Auflehnen gegen die Elterngenerationen, ist für viele Eltern nicht nachvollziehbar und mit ihren eigenen Erfahrungen unvereinbar, wofür allen voran das Schulsystem verantwortlich gemacht wird. So äußerten 86% der Eltern ihre Unzufriedenheit mit dem deutschen Schulsystem.319

Überaus positiv, jedoch zu selten genutzt, wurde das Potenzial und der Wissensstand der Aussied- lerkinder. In der Regel lernten die Kinder in Polen oder Russland bereits vor der Einschulung Lesen, Schreiben und Rechnen, grundlegende Verhaltenstechniken waren eingeübt und in der Vorschu- le wurden Auswendiglernen, Zeitplanung und Gruppenarbeit vermittelt. In der Schule schließlich wurden naturwissenschaftliche Fächer sowie die polnische bzw. russische Literatur und Sprache mit besonderem Eifer gelehrt. Zudem waren die Eltern in den Schulen sehr aktiv, was das Gemein- schafts- und Verantwortungsgefühl stärkte.320 Die ungewöhnlich hohe Lernmotivation der Kinder aus Aussiedlerfamilien fiel vielen Lehrern auf. Die Kinder baten nicht selten um Zusatzstoff, lernten in der Schule überaus konzentriert321, wohingegen das selbstständige Lernen bei älteren Kindern

318 LAB B Rep. 077, Nr. 1234, Brief der Vorsitzenden des Landesfrauenrates Berlin e. V. an den Senator für Gesundheit und Soziales vom 12.12.1988. 319 Chrustaleva, Nelli: Die psycho-soziale Situation russischer Emigranten unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Spätaus- siedler, in: Weil, Gerhard / Meyer, Christian (Hgg.): Aussiedler in der Berliner Schule. Chancen und Probleme (Unterrichtsmaterialien und Handreichungen zur Interkulturellen Erziehung). Dokumentation einer Fachtagung, Berlin 2002, S. 30-32. 320 Köhler-Haering, Petra: Die aktuelle Bildungssituation in den Herkunftsstaaten der deutschen Spätaussiedler, in: Weil, Gerhard / Meyer, Christian (Hgg.): Aussiedler in der Berliner Schule. Chancen und Probleme (Unterrichtsmaterialien und Handreichungen zur Interkulturellen Erziehung). Dokumentation einer Fachtagung, Berlin 2002, S. 39-40. 321 Meyer, Christian / Weil, Gerhard (Hgg.): Aussiedler in der Berliner Schule. Chancen und Probleme (Unterrichtsmaterialien und Handreichungen zur Interkulturellen Erziehung). Dokumentation einer Fachtagung, Berlin 2002, S. 8-9.

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Integrationsverlauf von Aussiedlerkindern

Rainer Bonne:

„In der Regel brauchten die Kinder vier Wochen, um hier anzukommen. Viele Kinder haben in dieser Zeit die Mitarbeit fast verweigert, denn die Entscheidung für Deutschland haben in der Regel die Eltern getroffen, und die Kinder haben erst einmal alles verloren. Die Möglichkeit hier vielleicht später wirt- schaftlich und beruflich bessere Chancen zu haben, ist für ein Kind mit sechs, sieben oder acht Jahren überhaupt nichts, was in seinem Kopf eine Rolle spielt. Das Kind hat Freunde verloren, die alte Klasse verloren, die gewohnte Spielumgebung verloren und kam hierher. Viele Kinder haben erst einmal Zeit gebraucht, um anzukommen, um das anzunehmen und sich in diesem Umfeld, mit diesen Menschen auseinanderzusetzen. Im nächsten Schritt lernte das Kind, seine grundsätzlichsten Bedürfnisse - Hun- ger, Durst, Schmerz etc. - zu äußern, was etwa weitere vier Wochen dauerte. Dann ging es langsam aufwärts mit komplexeren Sätzen, anfangs Ein- und Zwei-Wort-Sätze - es ist im Prinzip das gleiche, wie bei den kleinen Kindern, wenn sie die Sprache lernen -, dann mit komplexeren Sätzen. Nach ungefähr einem halben Jahr ist bei den meisten Kindern der Punkt erreicht, dass sie in einer normalen Klasse am normalen Regelunterricht teilnehmen können, wenn auch mit Sprachschwierigkeiten in Erdkunde, Biologie oder Geschichte, weil dabei Fachwortschatz hinzukommt. Deutsch und Mathe war dann kein Problem mehr, aber die Fächer mit Fachwortschatz. Daher haben wir den Kindern immer gesagt, wenn sie soweit waren, dass sie immer ein Lexikon dabei haben sollten, um nachschlagen zu können. Der letzte Schritt, der bei den meisten Kindern insgesamt ungefähr ein Jahr dauerte, war die Beherrschung der Rechtschreibung in ausreichender Weise. Auch wenn es typische Fehler gab, die sich noch länger hinzogen, beherrschten sie nach ungefähr einem Jahr auch die Rechtschreibung so, dass wir sie nor- mal bewerten und benoten konnten. Nach ersten Anfangsproblemen waren Einsatz und Lernmotivati- on der Aussiedlerkinder aber sehr groß, das kann man über das durchschnittliche Kind ohne Zweifel sagen.“

Praktische integrative Maßnahmen im Schulleben

Rainer Bonne:

„Wir haben von Beginn an versucht, neue Schüler in verschiedenen Bereichen zu integrieren, aber das musste natürlich passen. In eine Fußball-AG konnte man Kinder nur dann hinschicken, wenn sie ein bisschen Fußball spielen konnten. Nur so wurden sie auch gleich angenommen und konnten Erfolge haben. Wenn einer aber kein Fußball spielen konnte, dann erschwerte das die Sache eher, als es dem Kind half, mit seinen neuen Schulkameraden Kontakte zu knüpfen. Wir haben die Kinder auch bei Auf- führungen prinzipiell gebeten, etwas aus Polen oder Russland aufzuführen, einen Tanz oder ein Lied. Wir haben also immer einen Block mit eingebracht, wo diese Kinder Lieder und Tänze aus ihrer Heimat aufgeführt haben. Bei Theaterstücken haben sie, auch wenn sie nicht unbedingt jeden Satz verstanden haben, ebenfalls mitgemacht. Sie mussten deutsche Texte lernen und wurden mit einbezogen. Und wenn sie noch nicht soweit waren, war das auch kein Problem, da es in jedem Stück Statistenrollen bzw. stumme Rollen gibt, die aber auch gespielt werden müssen durch Mimik, durch Gestik, durch Bewegung. Wir haben die Kinder bewusst je nach ihren Sprachkenntnissen immer mit eingebaut ins komplette Schulleben, zugleich aber immer wieder auch individuell geschaut, was kann der Einzelne, wo kann er auch bei den anderen, bei den einheimischen Kindern, Anklang finden. Und ganz wichtig waren Klassenfahrten. Nach einer Klassenfahrt waren die Kinder immer integriert. Wir haben diese Kinder prinzipiell mitgenommen, egal wie lange sie da waren. Es war ja bis zum Ende der achtziger Jahre so, dass es in einer Klasse nicht selten sechs bis acht in Polen geborene Kinder gab. Dann wurde aber immer versucht, die Kinder so auf die Zimmer zu verteilen, dass immer nur zwei polnische Kinder zusammen waren, denn wenn es ein reines polnisches Zimmer - sage ich jetzt mal – gegeben hätte, hätten sie abends nur noch Polnisch gesprochen, das wollte ich vermeiden. Sie mussten immer zu zweit in ein deutsches Zimmer mit rein. Obgleich wir natürlich grundsätzlich die Kinder immer be- stärkt haben, ihre Muttersprache zu pflegen und nicht zu vergessen.“

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und Jugendlichen sich anfangs teilweise problematisch gestaltete, und eher bei besseren Schülern funktionierte322, wobei dies bei deutschen Kindern sicherlich nicht anders ist.

Die Unterschiede im Schulsystem und in der Lerngeschwindigkeit wurden auch den betroffenen Kindern und Jugendlichen schnell bewusst. Einer der zwei Söhne der 1984 aus Kattowitz nach Ber- lin ausgesiedelten Familie W. formulierte das folgendermaßen: „Im schulischen Bereich gab’s auch riesengroße Unterschiede. In Polen hat man den Stoff viel schneller durchgenommen. Hier ist der Plan langfristiger ausgelegt.“323 Ähnlich sah es auch der Schulleiter der 1. Gesamtschule in Berlin- Marzahn, an der jeder fünfte der 870 Schüler Aussiedler war, als er feststellte, dass Aussiedlerkin- der ihren deutschen Schulkameraden beispielsweise in naturwissenschaftlichen Fächern teils um Längen voraus, ungewöhnlich viele Mädchen auffällig gut in Kunst waren und sich die Aussiedler insgesamt im oberen Leistungsspektrum der Schule bewegten.324

Am Beispiel der Tätigkeit der Kiepert-Grundschule in Berlin-Marienfelde, die mehr als 90% der im Durchgangsheim Marienfelde wohnenden schulpflichtigen Kinder bis zwölf Jahren zumindest zeitweise besucht haben, soll das erfolgreiche schulische Integrationsmodell vorgestellt werden. Lange Zeit wurde eine sofortige Integration der Kinder in eine Regelklasse vollzogen und durch einen zusätzlichen Deutsch-Sprachunterricht ergänzt, da der Aufenthalt der Familien im Durch- gangsheim nicht selten zwischen sechs und 24 Monaten dauerte. Die sprachliche Barriere zu Be- ginn konnte durch zwei Lehrerinnen, die selbst Aussiedlerinnen aus Polen waren, sowie durch bereits länger in Berlin weilende Schüler kompensiert werden.325 Grundlage dafür bildete der § 35 des Schulgesetzes, wonach Aussiedlerkinder in Regelklassen untergebracht und mit zusätzlichen Deutschkursen und dem Unterrichtsfach „Deutsch als Zweitsprache“ gefördert werden sollten. Als jedoch in den 1990er Jahren zwar nicht die Anzahl der Kinder stieg, aber der Durchlauf größer wurde, war eine Konzeptänderung unausweichlich. Das ständige Kommen und Gehen der Kinder störte die Integration und minderte das Engagement der einheimischen Kinder bei der Eingliede- rung der Aussiedlerkinder deutlich.

Auch für die Klassenlehrer war das Heranführen der Neuzugänge sprachlich und hinsichtlich des Unterrichtsstoffes höchst problematisch. Aus organisatorischen und pädagogischen Gründen wur- den ab Februar 2000 Förderklassen bzw. Integrationsklassen für die Jahrgangsstufen eins und zwei, drei und vier sowie fünf und sechs mit jeweils bis zu 15 Schülern pro Klasse eingerichtet. Vorteilhaft war sicherlich, dass sich die Kinder untereinander unterstützen konnten, mit einem ähn- lichen Erfahrungsschatz ausgestattet waren und sich daher auch emotional stützen konnten. In den Regelklassen dagegen waren die Kinder zumindest in den ersten Wochen oftmals in sich gekehrt und hatten vor allem aufgrund der fehlenden Sprachkenntnisse Probleme mit ihren Klas- senkameraden Kontakt zu knüpfen. Dass dieser Weg richtig war, verdeutlicht die Zahl der An- und Abmeldungen in den Integrationsklassen der Kiepert-Grundschule für das Schuljahr 2001/02, als 116 Anmeldungen, 115 Abmeldungen gegenüber standen.326 Aber auch dieses Konzept musste

322 Strahl, Ursula: Chancen und Probleme junger Spätaussiedler in der Grundschule, in: Weil, Gerhard / Meyer, Christian (Hgg.): Aussiedler in der Berliner Schule. Chancen und Probleme (Unterrichtsmaterialien und Handreichungen zur Interkulturellen Erziehung). Dokumentation einer Fachtagung, Berlin 2002, S. 45. 323 Zitiert nach: Ferstl / Hetzel: Wir sind immer die Fremden, S. 102. 324 Alltagsprobleme in Berlin, Die Tageszeitung vom 22.1.1999, zitiert nach: Heinen: Zuwanderung und Integration, S. 37. 325 Interview mit Rainer Bonne vom 29.11.2010. 326 Ebenda; Strahl: Chancen und Probleme, S. 43-44.

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optimiert werden, da man nach etwa jeweils drei Monaten feststellte, dass durch den ständigen Zu- und Abzug kein fordernder Unterricht mehr möglich war. Zunächst wurde der Kleingruppenun- terricht leistungsdifferenzierter durchgeführt, und es erfolgte eine schrittweise Eingliederung der Kinder in die Regelklassen. Dies geschah zunächst in sprachlich nicht allzu fordernden Fächern wie Sport oder Kunst, aber auch in Mathematik oder in diversen Arbeitsgemeinschaften, wo die Aussiedlerkinder sich langsam an die neuen Anforderungen anpassen konnten, zugleich aber der Rückzug in die bekannte Struktur der Integrationsklasse möglich war. Kinder die im Anschluss an den Besuch der Integrationsklasse schließlich in die Regelklassen wechselten, bekamen weiterhin zusätzlichen Unterricht in Deutsch als Zweitsprache. Sogenannte Kooperationslehrer betreuten die Schüler der Förderklassen zusätzlich und halfen ihnen beim Übergang in die Regelklassen. Für die Kinder der Jahrgangsstufen drei und vier sowie fünf und sechs gab es zusätzlich eine Stunde täglich einen Alphabetisierungs- bzw. Schreiblehrgang. Für die Jahrgangsstufen fünf und sechs wurde wiederum nach Bedarf zusätzlicher Englisch-Unterricht angeboten im Hinblick auf ihren baldigen Wechsel an Oberschulen.327

Neben der guten praktischen Zusammenarbeit mit der ZAB-Verwaltung funktionierte auch die pro- blemorientierte Verständigung mit dem Senat über die Jahrzehnte sehr gut. Finanzielle Mittel für Projekte im Zusammenhang mit der Integration von Aussiedlerkindern, Einstellung neuer Lehrkräfte für den Integrationsklassenbetrieb oder notwendige Räumlichkeiten - die Kiepert-Schule bekam sogar einen Anbau - wurden relativ zügig und unproblematisch bewilligt und in die Tat umgesetzt. Wichtig war dabei, dass von Seiten der Behörden die besondere Herausforderung der Kiepert- Grundschule als zentraler Punkt der schulischen Integration von Aussiedlerkindern ebenso wie die Expertise durch jahrzehntelange Erfahrungen sehr genau bekannt waren.328

In Berliner Oberschulen, wie beispielsweise in der Bettina-von-Armin-Gesamtschule, wurde das Konzept von Förder- bzw. Integrationsklassen teilweise schon vor 1990 eingeführt. Bereits polni- sche Aussiedler wurden an der besagten Schule in die Förderklassen A (Anfänger) und B (Fort- geschrittene) aufgenommen, in denen sie innerhalb von ein bis zwei Jahren auf den Unterricht in Regelklassen vorbereitet wurden. Zusätzlich wurde aus der Garantiefondsförderung ein außer- schulischer Nachhilfeunterricht organisiert. Befähigte Schüler der B-Klassen konnten jeweils etwa drei Monate vor Ablauf eines Schulhalbjahres nebenbei einige Fächer im Regelsystem besuchen. Die Integration der älteren Schüler, bei denen seit spätestens 1993 der Anteil der Russlanddeut- schen stark steigend war, vollzog sich insgesamt schwieriger, als bei Grundschülern, zum einen aufgrund des in diesem Alter schwierigeren Spracherwerbs, zum anderen aufgrund der größeren Skepsis und Vorsicht sowohl auf Seiten der einheimischen als auch der Aussiedlerschüler. So kam es auch durchaus vor, dass einige Schüler den Wechsel in das Regelklassensystem nicht schafften. Um das zu erleichtern, wurde eine spezielle Aussiedlernotenkonferenz im Vorfeld der allgemeinen Notenkonferenz eingeführt. Grundsätzlich zeigte sich aber in den Oberschulen, dass Aussiedler gute Schulergebnisse aufwiesen und ein außerordentlich hohes Potenzial besaßen. So hatten an der Bettina-von-Armin-Gesamtschule ehemalige B-Förderschüler im Jahre 2000 im Schnitt einen besseren Notendurchschnitt im Abitur als die Gesamtgruppe, wobei noch zu bedenken ist, dass nicht wenige bessere Schüler bereits zuvor an Gymnasien oder an Oberschulen mit Russisch als

327 Ebenda; Strahl: Chancen und Probleme, S. 43-44. 328 Interview mit Rainer Bonne vom 29.11.2010

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zweiter Fremdsprache gewechselt waren.329

Die Förderkonzepte der Schulen erwiesen sich insgesamt als erfolgreiche Modelle zur schulischen Integration, und das Groß der Kinder und Jugendlichen konnte sein Potenzial entfalten, wobei Aus- siedlerkinder ihren einheimischen Schulkameraden in Leistungsbereitschaft und Leistungsvermö- gen in nichts nachstanden, sie oft sogar überragten.

8.5 (Wieder-) Aufnahme des religiösen Lebens

Neben diesen Kernbereichen der Eingliederung in die Berliner Gesellschaft war das Anknüpfen an das religiöse Leben aus der Heimat bzw. die Wiederaufnahme des in der Sowjetunion unterdrückten religiösen Lebens ein wichtiger Schritt im Hinblick auf die emotionale Bindung an die neue Heimat. Das galt im Besonderen für die Gruppen der sehr religiösen Oberschlesier und der russlanddeut- schen Baptisten, aber auch für evangelisch-lutheranische und orthodoxe Christen sowie Angehöri- ge freikirchlicher Glaubensgemeinschaften. Bundesweit war für etwa 50% der russlanddeutschen Aussiedler aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion die Religion sehr wichtig, wobei sie für die Mennoniten und Baptisten eine zentrale Stellung im Leben einnahm. Bei den Aussiedlern aus Polen lag dieser Wert sogar bei 80%330, wobei man davon ausgehen kann, dass er bei den traditionell katholischen Oberschlesiern sicherlich über 95% ausmachte, während er bei den Aussiedlern aus Pommern, dem Ermland und Masuren, die häufig Protestanten waren, etwas niedriger ausfiel. Un- ter den Katholiken aus der Gesamtgruppe der Aussiedler befanden sich etwa 70% praktizierende Christen, während dieser Wert bei den Baptisten bei etwa 80%, bei den lutherisch-evangelischen Christen allerdings nur bei ca. 38% lag. Die Bedeutung der Religion im Alltag beschrieben 65% der Katholiken und 82% der Baptisten mit „sehr wichtig“, bei den Lutheranern waren es 50%.331

Die oberschlesischen Katholiken, die in den siebziger und achtziger Jahren die absolute Mehrheit aller Aussiedler aus Polen in Berlin ausmachten, gingen religiös drei Wege. Ein Teil der Ober- schlesier, vor allem diejenigen, die in den 1970er Jahren nach Berlin einreisten, schloss sich fast unbemerkt deutschen katholischen Gemeinden an. Ein anderer Teil der insbesondere seit 1980 einreisenden Oberschlesier, suchte aus traditionellen und liturgischen Gründen den kirchlichen Anschluss an polnische Gemeinden, um auch weiterhin an polnischen Gottesdiensten, religiösen Feiern und dem aus der Heimat bekannten religiösen Leben teilzunehmen. Der weitaus größte Teil der katholischen Aussiedler aus Polen ging jedoch eine Symbiose ein. Formell schloss man sich deutschen Kirchengemeinden an und nahm an den sonntäglichen Gottesdiensten in diesen Gemeinden teil. Zu Hochfesten suchte man jedoch in der Regel die polnische Kirche auf, um die speziellen Traditionen und die Besonderheit der liturgischen Feiern in altbekannter Weise und in der polnischen Sprache, die für die Oberschlesier Teil ihrer Religiosität war, zu erleben. Diese religiös verstandene Stellung der Sprache innerhalb der Gruppe der Oberschlesier ist zum Teil bis in die heutige Zeit erhalten geblieben, auch nach der Aussiedlung nach Deutschland. Die langjährige

329 Schmidt, Jutta / Wojtas-Purath, Stanislawa: Integrationsklassen in der Sekundarstufe der Bettina-von-Arnim-Oberschule, in: Weil, Gerhard / Meyer, Christian (Hgg.): Aussiedler in der Berliner Schule. Chancen und Probleme (Unterrichtsmaterialien und Handreichun- gen zur Interkulturellen Erziehung). Dokumentation einer Fachtagung, Berlin 2002, S. 48-51 330 Fuchs / Schwietring / Weiß: Alte und neue Umwelten, S. 82. 331 Fuchs, Marek / Schwietring, Thomas / Weiß, Johannes: Kulturelle Identität, in: Lantermann, Ernst-Dieter / Schmitt-Rodermund, Eva / Silbereisen, Rainer K. (Hgg.): Aussiedler in Deutschland. Akkulturation von Persönlichkeit und Verhalten, Opladen 1999, S. 228.

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Mitarbeiterin der Beratungsstelle der Caritas auf dem Lagergelände in Berlin-Marienfelde, Ursula Reishaus, erinnert sich an die achtziger Jahre:

„Wir organisierten damals noch Weihnachtsfeiern und sie [die oberschlesischen Aussiedler im Durchgangsheim Marienfelde, Anm. des Autors] fanden es alle ganz toll, deutsche Weihnachtslie- der zu singen. Wenn wir dann aber polnische Weihnachtslieder gespielt haben, dann boomte der Raum, da merkte man, gerade bei den älteren Menschen, die Verbundenheit dazu. Einige haben geweint, da waren noch ganz starke Emotionen dabei.“332

In der Zunahme der Bedeutung polnischer Gotteshäuser in Deutschland unterschieden sich die Berliner Aussiedler aus Polen nicht von denen aus dem Ruhrgebiet, dem Rheinland und anderen Teilen Deutschlands, in denen Polen und polnische Aussiedler eine neue Heimat gefunden haben. Mitunter war und ist dabei auch die Verbundenheit mit der inzwischen polnisch geprägten ober- schlesischen Heimat zu beobachten. Polnische Kirchengemeinden entstanden bereits im 19. Jahr- hundert in Berlin, verschwanden aber mit Hitlers Machtübernahme allmählich aus dem öffentlichen Leben. In der Nachkriegszeit gab es zumindest hie und da polnische Gottesdienste, aber erst seit 1982 hatte die Polnische Katholische Mission ihren festen Sitz in Berlin, also noch zu einem Zeit- punkt, als polnische Staatsbürger in West-Berlin eher die Ausnahme als die Regel waren und sich die seelsorgerische Arbeit vor allem auf die Aussiedler aus Polen richtete. Seit dem Jahre 2004 hat die Gemeinde der Polnischen Katholischen Mission ihren festen Standort in der Lilienthalstraße in Berlin-Kreuzberg, wo den Gläu- Tabelle 10: Wohnungsvermittlung für Spätaussiedler nach Bezirken / bigen die St- Johannes-Basilika Anzahl der Personen als Gotteshaus dient. Polnisch- sprachige Gottesdienste finden Jahr Evangelisch Katholisch Sonstige zudem in der St. Mariengemein- 1993 2.718 973 1.240 de in Spandau, der St. Marienge- 1994 3.071 1.184 1.506 meinde in Karlshorst und in der 1995 2.975 1.017 1.374 St. Josephsgemeinde in Wed- 333 1996 2.534 973 1.320 ding statt. 1997 1.751 806 1.124 1998 1.342 504 912 Mit dem Beginn des Zuzugs von 1999 1.273 459 1.040 russlanddeutschen Aussiedlern 2000 1.312 452 899 nach Deutschland wurden auch 2001 1.217 463 944 die mitgebrachten religiösen Vo- 2002 1.046 405 985 raussetzungen und die Zurech- 2003 872 256 845 nung zu hiesigen oder sogar neu gegründeten Glaubensgemein- Gesamt 20.111 / 50,54% 7.492 / 18,83% 12.189 / 30,63% schaften vielfältiger und biswei- len komplizierter. Die Auswertung und Verbildlichung von in der Zentralen Aufnahmestelle des Landes Berlin bei allen neu registrierten Aussiedlern erhobenen Angaben zur religiösen Zugehörigkeit (Kinder wurden gemäß der Angaben ihrer Eltern hinzugerechnet) ergaben, dass mehr als 50% der zumeist russlanddeutschen Aussied- ler protestantischen Kirchen oder Glaubensgemeinschaften angehörten, knapp 19% katholisch

332 Interview mit Ursula Reishaus vom 27.10.2010. 333 http://www.pmk-berlin.de/, Aufruf vom 25.3.2011.

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Diagramm 7: Wohnungsvermittlung waren und über 30% zu den für Spätaussiedler nach Bezirken / Anzahl der Personen Sonstigen gezählt wurden.

Da bei der Befragung in der ZAB keine Aufschlüsselung der dritten Kategorie „Sons- tige“ vorgenommen wurde, muss auf das repräsentative Zahlenmaterial von Ködde- ritzsch zurückgegriffen wer- den. Demnach gehörten etwa 12% von der russlanddeut- schen Gesamtgruppe keiner Konfession an und 6% äußer- ten sich nicht dazu. 14% der Befragten wurden hierbei unter der Kategorie „Sonstige“ geführt, wohingegen die Angaben „Ka- tholisch“ und „Evangelisch“ mit den ZAB-Erhebungen nahezu gänzlich übereinstimmen, was noch- mals ihre Glaubwürdigkeit unterstreicht. Die bundesweiten Zahlen für diesen Zeitraum stimmen mit dem Berliner Ergebnis weitestgehend überein.334 Eine Aufschlüsselung der Russlanddeutschen nach tatsächlicher Zugehörigkeit zu kirchlichen Gemeinden in Berlin ist nicht möglich. Interessant ist aber der Vergleich der Mitgliederstärke freikirchlicher Gemeinschaften mit der Mitgliederstärke der Russisch-Orthodoxen Kirche in Berlin. Während die erstgenannten Gemeinden insgesamt etwa 6.400 Mitglieder zählen, so gehören etwa 25.000 Berliner zur Russisch-Orthodoxen Kirche.

In Deutschland setzte man sich in kirchlichen Kreisen vereinzelt schon in den siebziger Jahren mit der religiösen Komponente des Aussiedlerzuzugs auseinander und stellte die Frage, wie die Aussiedler auf die liberalen Verhältnisse in den hiesigen Kirchengemeinden reagieren und an- dererseits die Kirchen mit der Aufnahme des östlichen Pietismus bzw. dem katholischen Tradi- tionalismus umgehen würden. Der Journalist und langjährige Präsident des Goethe-Instituts in München, Klaus von Bismarck, selbst aus Hinterpommern stammend, formulierte die Problematik folgendermaßen: Es sei „vorauszusehen, daß sie [die Aussiedler, Anm. d. Autors] in vielen unserer geordneten und nüchternen Gottesdienste frieren werden, wo selten jemand fragt, wer denn der unbekannte Nachbar in der Kirchenbank ist.“ Dieses „ungebrochene Verhältnis zum Gefühl“335, wie es von Bismarck nannte, traf auf die Protestanten ebenso zu, wie auf die Katholiken. Während sich jedoch die Katholiken zumindest in der Liturgie und der noch relativ traditionellen Gemeinde- ordnung zurecht fanden oder den Weg hin zu den polnischen Kirchengemeinden antraten, gestal- tete sich dies bei den Protestanten weitaus schwieriger. In Berlin kehrten dann auch tatsächlich viele evangelische Aussiedler der Kirche nach ersten Erfahrungen in deutschen Kirchengemein- den den Rücken. Geschminkte Frauen oder eine unangemessene Kleiderordnung empfanden sie als unanständig, insbesondere aber die Gottesdienste, die nicht im Entferntesten an traditionelle Formen protestantischer Gottesdienste erinnerten, verstörten die Menschen. Diese Enttäuschung wurde von freichristlichen Gemeinden bisweilen ausgenutzt, um die Menschen zu vereinnahmen,

334 Ködderitzsch: Zur Lage, S. 31. 335 LAB B Rep. 077, Nr. 1166, Was Umsiedlern in Deutschland schwerfällt, FAZ vom 9.11.1976.

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Lilli Selski - Kommunikationsprobleme mit Kirchen

„Hier im Bezirk war es sehr schwierig, Kontakte zu einzelnen Kirchengemeinden zu knüpfen. Ich war zuerst so blauäugig und habe gedacht, das wird von selbst gehen, aber schon den ersten Gesprä- chen mit Pfarrern konnte ich vorsichtige Ablehnung entnehmen. So hieß es beispielsweise, dass die Gemeinde ihren Handarbeitszirkel hatte, die Leute schon gut eingespielt waren und es daher schwie- rig sei, jemanden von außen zu integrieren. Es ist keiner zu uns gekommen und wir wurden auch nicht eingeladen. Das hat mich sehr gekränkt und ich habe mich auch sehr darüber gewundert, es war aber nichts zu machen. Aber als Landsmannschaft der Deutschen aus Russland haben wir mit der Evangelischen Kirche hier in Berlin sehr gute Kontakte geknüpft und wir haben zusammen - natürlich hat das die Kirche organisiert, aber wir haben da nach Kräften mitgewirkt - jedes Jahr in einem grö- ßeren Rahmen einen Kirchentag - so nannten wir das -, also einen Tag der Begegnung durchgeführt, manchmal auch mit der Katholischen Kirche zusammen. Die Leitung bei der Durchführung haben die Evangelische Kirche und die Diakonie inne gehabt, und damit haben wir sehr gute Erfahrungen gemacht. Es gibt auch einen Aussiedlerbeauftragten bei der Kirche, daher war die Zusammenarbeit recht gut. Aber angestoßen wurde das eigentlich von der Berliner Gruppe der Landsmannschaft der Russlanddeutschen, die diese Idee an den damaligen Bischof Huber herangetragen hat, der sofort zusagte und diese Kirchentage ins Leben rief. Das war immer ein Ereignis und die Leute kamen auch von außerhalb. Mal fand das in Brandenburg, mal in Neuruppin und mal in Berlin statt. Ungefähr 700 bis 800 Menschen waren jedes Mal dabei.“ was jedoch auch eine Abschottung verursachte, die alles andere als integrationsfördernd war.336 Zwar gründeten Spätaussiedler in Marzahn-Nord auch eine eigene evangelische Kirchengemein- de, doch fanden viele dennoch den Weg zu den Siebentageadventisten, der Neuapostolischen Kirche oder zu den Zeugen Jehovas. Auf die Gefahr für Aussiedler, die von Sekten, mitunter aber auch von solchen freikirchlichen Gemeinden aufgrund der Enttäuschung über das religiöse Leben in Deutschland ausging, wies bereits 1976 der oben zitierte Klaus von Bismarck hin.337

Eine andere Ursache für das verhaltene Zugehen auf Berliner Kirchen lag im unzureichenden Ent- gegenkommen der einzelnen Kirchengemeinden. So haben die Kirchen die Chance zum Gemein- deaufbau bzw. zur Gemeindeerweiterung allzu oft verstreichen lassen und die zugezogenen Aus- siedler nicht in größerem Umfang für ihre Gemeinden gewinnen können. Auch die Evangelische Landeskirche war offensichtlich lange Zeit nicht vorbereitet auf den Zustrom aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, da sie sich in der Vergangenheit zu wenig mit der Aussiedlerthematik beschäftigt und daher das Potenzial für die Kirche bis in die neunziger Jahre hinein nicht erkannt hatte.338

8.6 Delinquenz bei Aussiedlern

Im Wiederspruch zu den Bemühungen breiter gesellschaftlicher Gruppen die Akzeptanz von Aus- siedlern in der bundesdeutschen Gesellschaft zu fördern, steht das seit den neunziger Jahren medial vermittelte Bild des alkoholisierten und gewaltbereiten Aussiedlers, der den Sozialstaat Deutschland ausnutzt und keinerlei Motivation hat, eine Ausbildung zu beginnen oder eine Arbeit aufzunehmen. Diese medial aufgebauschten vermeintlichen Erkenntnisse zur Aussiedlerkriminali-

336 Köhler: Notaufnahme, S. 424; Interview mit Lilli Selski vom 27.10.2010. 337 LAB B Rep. 077, Nr. 1166, Was Umsiedlern… 338 Köhler: Notaufnahme, S. 408-409.

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tät durch Eindrücke von Polizeipraktikern aus Ballungsgebieten verzerren die Realität339 und sind insbesondere dann höchst problematisch, wenn sie mit vermeintlich wissenschaftlichen Metho- den eine besonders hohe Kriminalitätsbelastung von Aussiedlern suggerieren, ohne auf die Un- zulänglichkeiten solcher Untersuchungen hinzuweisen. So hat beispielsweise das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. unter seinem Leiter Christian Pfeiffer in den Jahren 1996 und 1997 in Niedersachsen und auch anderen Bundesländern die Kriminalitätsbelastung von Aus- siedlern untersucht und kam zu dem Schluss, dass in Ballungsräumen mit dichter Aussiedlerkon- zentration, sinkenden Eingliederungshilfen und einem hohen Anteil an Erwerbslosen die Krimina- litätsraten perspektivloser und desillusionierter Aussiedlerjugendlichen explodierten.340 Auf diese Untersuchungen beziehen sich sogar anerkannte Presseorgane wie beispielsweise „Die Zeit“, in der Adam Soboczynski in seinem Bericht zu den Berliner Aussiedlern ohne ein gesundes Maß an Skepsis den Kriminologen Pfeiffer zitiert und feststellt, dass Aussiedlerjugendliche Ende der neun- ziger Jahre eine ähnlich hohe Kriminalitätsbelastung gehabt hätten, wie türkische Jugendliche.341 Auf diese populistische Schiene sprangen selbst Politiker, wie der ehemalige bayerische Innenmi- nister Günther Beckstein auf, der öffentlich die Kriminalität der Russlanddeutschen beklagte und dies 1998 zu einem Wahlkampfthema machte.342 Dabei stellt sich zunächst einmal die Frage, wieso bei gleich schlechten Voraussetzungen in Ballungsgebieten angeblich nur die Kriminalitätsraten der Aussiedler und nicht die der einheimischen Jugendlichen explodieren sollten? Aber viel ge- wichtiger ist noch die Frage, ob überhaupt belastbares Zahlenmaterial diesen Schlussfolgerungen zu Grunde liegt? Aber gerade das muss man eindeutig und mit aller Vehemenz verneinen. In den offiziellen polizeilichen Kriminalstatistiken gibt es grundsätzlich nur die Unterscheidung zwischen „deutschen“ oder „nichtdeutschen“ Straftätern. Lediglich in Niedersachsen lässt sich seit 1998 sta- tistisch innerhalb des Feldes „Staatsangehörigkeit“ der entsprechenden Formulare ein möglicher Spätaussiedlerstatus feststellen, und in Bayern wurde 1997 das Feld „Geburtsland“ als Pflichtfeld abgefragt, durch das sich mithilfe eines Filters (vordefinierte „Aussiedlerstaaten“) feststellen lässt, ob ein Tatverdächtiger Spätaussiedler ist oder nicht.343

Auch in Berlin wurde bis Oktober 2008 nur zwischen „deutschen“ und „nichtdeutschen“ Straftätern unterschieden. Einzig über eine Geschäftsstatistik im Bereich Jugendgruppengewalt wurden Infor- mationen über den Migrationshintergrund erhoben, die sich nur auf Jugendliche und Heranwach- sende und Straftaten wie Rohheitsdelikte, Mord, Totschlag, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung bezogen. Darüber hinaus war dieses Angabenfeld kein Pflichtfeld und die Erfassungsquote lag bei deutlich unter 50%. Innerhalb dieser Altersgruppe lag der Anteil der Jugendlichen mit Migrations- hintergrund bei 33,6%, wobei sich darunter alle möglichen Herkunftsstaaten befanden. Jedoch zei- gen diese Geschäftsstatistiken keine nennenswerte Häufung russlanddeutscher Jugendbanden- kriminalität. Beispielsweise wurde von mehreren Dutzend in den sechs Polizeidirektionen erfassten Jugendgangs im Jahre 2003 nur eine einzige Jugendgang explizit als Spätaussiedler-Gang, die ihr Unwesen im Stadtteil Lichtenberg trieb, benannt.344

339 Luff, Johannes: Meinung. Lage. Wissenschaft. Zur Lage tatverdächtiger Aussiedler. Zwischen öffentlicher Meinung und empirischer Wissenschaft, o.J., S. 1-2. Texteinsicht über den Autor. 340 Bade, Klaus J. / Oltmer, Jochen (Hgg.): Aussiedler. Deutsche Einwanderer aus Osteuropa, 2. Aufl., Göttingen 2004, S. 38. 341 Soboczynski, Adam: Fremde Heimat Deutschland, S. 4. 342 Ebenda, S. 9-10. 343 Luff, Johannes: Migranten in der Kriminalstatistik, o.J., S. 6-7. Texteinsicht über den Autor. 344 Der Polizeipräsident in Berlin, Polizeiliche Kriminalstatistik Berlin 2009, S. 119-120; Der Polizeipräsident in Berlin, Jugenddelinquenz in Berlin, Jahresbericht 2003, S. 48.

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Dies zeigt, dass die Behauptung, Aussiedler seien krimineller als Einheimische, anhand nachprüf- baren Zahlenmaterials schlichtweg nicht belegbar ist. In repräsentativen Untersuchungen kommen dagegen mehrere unabhängig voneinander arbeitende Wissenschaftler zu dem Schluss, dass es bei der Kriminalität zwischen einheimischen Deutschen und Aussiedlern keine signifikanten Un- terschiede gibt und die in der öffentlichen Meinung kolportierte Intensität von Gewaltstraftaten von Aussiedlern stark überschätzt wird.345 Überdies konnte anhand repräsentativer Auswertun- gen festgestellt werden, dass Gewaltstraftaten von Aussiedlern nicht schwerwiegender sind, als die der einheimischen Vergleichsgruppe - die dabei sogar öfters Waffen einsetzt. Bei Aussiedlern spielt jedoch der Alkoholkonsum bei Straftaten eine größere Rolle, obgleich der Alkoholkonsum der Aussiedler als Gesamtgruppe geringer ausfällt als bei der Vergleichsgruppe der einheimischen Deutschen. Es stimmt jedoch auch, dass die Kriminalitätsbelastung von Aussiedlerjugendlichen seit Beginn der neunziger Jahre tendenziell zunahm. Als Ursachen gelten insbesondere fehlende gesellschaftliche Teilhabechancen.346 In Bayern erhobene Zahlen zeigen, dass die Aussiedlerkrimi- nalität zwischen 1998 und 2003 stetig von 5,4% auf 7,7% gestiegen ist, im Jahre 2004 jedoch auf 7,4% erstmals fiel.347

Gleichwohl haben längsschnittliche Untersuchungen (hier: viermalige Befragung von 300 jugend- lichen Aussiedlern im Abstand von jeweils sechs Monaten) gezeigt, dass die schwierige Einglie- derungssituation mit Arbeitslosigkeit in der Familie und Sprachschwierigkeiten zu depressiven Grundstimmungen, Schulproblemen, Alkoholkonsum und im äußersten Fall auch zu Kriminalität (Schlägereien, Drogenhandel, Eigentumsdelikte) führen kann.348 Wie realitätsnah die Antworten der Jugendlichen waren, darf allerdings in Zweifel gezogen werden, anhand von Zahlen aus den Kriminalitätsstatistiken lässt sich dies, wie bereits gesagt, nicht belegen.

Im Durchgangsheim Marienfelde kam es in der Vergangenheit kaum zu nennenswerten kriminellen Handlungen. Im Jahre 1977 trieb einige Zeit eine Taschendiebbande in den an das Durchgangs- heim angrenzenden Stadtteilen ihr Unwesen, allerdings eher schlecht als recht, da die im Durch- gangsheim wohnenden Bandenmitglieder nach kurzer Zeit allesamt von der Polizei festgenommen wurden.349 Das mit Abstand schwerste Verbrechen eines Bewohners des Durchgangsheimes fand zwei Jahre später statt, als es zu einem Mord kam. Offenbar erstach ein staatenloser 21-jähriger Bewohner des Durchgangsheimes einen 31-jährigen Bewohner auf dem Gelände der Technischen Universität an der Charlottenburger Hardenbergstraße im Streit. Beide Männer waren offensichtlich russlanddeutscher Abstammung und hatten sich gekannt.350 Darüber hinaus kam es im Durch- gangsheim über die Jahrzehnte gesehen nicht zu nennenswerten kriminellen Handlungen. Wenn es zu Delikten kam, so zumeist in der Umgebung des Durchgangsheimes. In Bezug auf die Wohn- anlage selber kam es allenfalls zu Lärmbelästigung infolge von Jugendpartys, bei denen man die auf engsten Raum lebenden Jugendlichen aber nicht zu stark einschränken wollte. Im Übrigen herrschte im Durchgangsheim Alkoholverbot, das in Verbindung mit dem bis zuletzt vorhandenen und von den Alliierten aufgrund durchaus realer Bedrohung durch Geheimdiensttätigkeiten der

345 Luff: Migranten, S. 7. 346 Luff, Johannes: Meinung. Lage. Wissenschaft, S. 2-5. 347 Ebenda, S. 20. 348 Heinen: Zuwanderung und Integration, S. 43. 349 LAB B Rep. 077, Nr. 1227, Taschendiebbande in Marienfelde, Welt am Sonntag vom 24.4.1977. 350 Ebenda, Täter festgenommen? 21-jähriger bestreitet Aussiedler getötet zu haben, Spandauer Volkszeitung vom 12.12.1979.

Seite 117 Strukturelle und soziale Integration

DDR während des Kalten Krieges installierten Zauns um das Durchgangsheim eine präventive Wir- kung hatte, da der Zutritt von außen lange Zeit nicht ohne weiteres möglich war.351

Im Jahre 2003 wurde in Berlin ein behördenübergreifendes Präventionsprojekt gestartet und im Zuge dessen pro Polizeiabschnitt ein Präventionsbeauftragter bzw. eine Präventionsbeauftragte bestimmt. Dieses Präventionsprojekt überschnitt sich mit dem Anliegen der ZAB-Leitung und der ZAB-Beratungsstelle, in ihren Informationsveranstaltungen für Neuankömmlinge in Marienfelde auch Sucht- und Drogenprävention zu betreiben. Daher war neben dem Gesundheitsamt (u.a. Aids-Prävention) auch die Polizei an den einmal im Monat stattfindenden Informationsveranstal- tungen beteiligt. Dabei ging es allen voran darum, der Elterngeneration auf für sie vielleicht aus der Heimat noch unbekannte Problemfelder von Jugendlichen aufmerksam zu machen und Infor- mationen zu vermitteln sowie Ansprechpartner zu benennen. Denn grundsätzlich waren weder der Stadtteil Marienfelde noch die ZAB Kriminalitätsschwerpunkte. Daher wurde das Gelände des Durchgangsheimes lediglich im Rahmen der auch für alle anderen unauffälligen Stadtbezirke und Örtlichkeiten geltenden Streifentätigkeit zu unregelmäßigen Zeiten von der Polizei angefahren.352

Auch in dieser Hinsicht verlief die Organisation und Leitung des Durchgangsheimes Marienfelde vorbildlich. Dabei muss bedacht werden, dass in den fast fünf Jahrzehnten der Aussiedlerauf- nahme fast 100.000 Aussiedler im Durchgangslager ihre Formalitäten zu erledigen hatten, dort einige Wochen oder auch Monate und Jahre lebten. Darüber hinaus waren dort in dieser Zeit auch mehrere zehntausend DDR-Flüchtlinge bzw. Umsiedler zeitweilig untergebracht. Dennoch war das Zusammenleben der Menschen untereinander stets friedlich und in aller Regel von Respekt dem anderen gegenüber geprägt.

ZAUN um die ZAB - Kontroverse

Andreas Techel:

„Dass es innerhalb der ZAB eigentlich keine Probleme gab, lag auch an dem von vielen so geschmäh- ten Zaun. Es war einfach zu teuer den Zaun abzubauen und zugleich bequemer ihn stehen zu las- sen. So hatte man den Eingangsbereich besser unter Kontrolle, es kamen also weniger Vertreter von Sekten, irgendwelche dubiosen Versicherungshaie oder sonstige Vertreter auf das Heimgelände, als wenn es den Zaun nicht gegeben hätte. Die Kinder konnten ungestört auf der Straße spielen, da keine Autos durchfuhren, obgleich es für manche Anwohner eine Abkürzung gewesen wäre. Für die Kinder war das Heim ein Paradies. Nicht in den ersten Jahren, wo es überfüllt war, aber ab 2002 oder 2003 war es für die Familien, die ins Heim kamen, fast schon wie ein heimatliches Dorf. Für die ersten Monate war es eine beschützende Insel und dieses Gefühl darf man nicht unterschätzen. Die Heimverwaltung wollte nun auch möglichst wenig Arbeit haben, wenn das Gelände offen gewesen wäre, hätte das ja noch mehr Sicherheitsdienste, Patrouillengänge und Reparaturen und vieles mögliche mehr bedeutet. Das hatte also schon Vorteile, auch wenn es optisch nicht sehr gelungen war.“

351 Interview mit Andreas Techel vom 12.10.2010. 352 Interview mit Roswitha Mroczynski (Präventionsbeauftragte für den Polizeiabschnitt 47) vom 29.11.2010.

Seite 118 Ausblicke

Ursula Reishaus:

„Ich fand den Zaun schrecklich! Wenn jemand auf das Gelände wollte, so kam er auch rein. Und mit Versicherungsvertretern oder Sekten kamen die Aussiedler sowieso spätestens in Kontakt, wenn sie in der eigenen Wohnung waren, und da mussten sie auch damit klarkommen. Ich fand es viel wichtiger, immer wieder Aufklärung zu betreiben. Und was die Kinder angeht und die Möglichkeit zum unge- störten und gefahrenlosen Spielen, natürlich ist das schön, aber dann kommen die Kinder raus und müssen sich auch im Stadtteil zurechtfinden und mit möglichen Gefahren auseinandersetzen. Das ist für mich nicht unbedingt ein Argument, sondern eine Art künstlich geschaffener Welt, die so nicht mit der Realität übereinstimmt.“

Maria Lewandowski:

„Der Zaun sollte irgendwann weg, aber das Empfinden war unterschiedlich, die Bewohner haben es als Sicherheit empfunden und manch eine Behörde hätte ihn gerne weggehabt, aber nicht das LAGe- So. Später hieß es dann auch, es sei zu teuer ihn wegzureißen. Also ich muss ehrlich sagen, dass ich mir da am Anfang gar keine Gedanken gemacht habe. Erst später, als es zur Diskussion stand, habe ich auch Klienten befragt, die bei mir zur Beratung waren, und die fanden das Wegreißen auch nicht unbedingt notwendig.“

9. Ausblicke

Die seit etwa 1950 bundesweit einsetzenden und in temporären Hochphasen mündenden Aus- siedlungswellen aus den Staaten des sowjetischen Einflussbereiches haben in den letzten Jahren sehr stark abgenommen und werden in absehbarer Zeit völlig zum Erliegen kommen, was in Berlin seit spätestens 2006 zu beobachten ist, als jährlich nur noch wenige Hundert Menschen mit dem Spätaussiedlerstatus in die bundesdeutsche Hauptstadt gekommen sind. Die Aussiedlung klingt als ein Modell des Zuzugs nach Deutschland auch daher allmählich ab, da nach dem 31.12.1992 geborene Kinder bei Volljährigkeit den Spätaussiedlerstatus und die damit verbundenen Leistun- gen nicht mehr beanspruchen können, auch wenn sie Deutsche im Sinne des Artikels 116 des Grundgesetzes sind. Zudem wird bereits seit den späten neunziger Jahren deutlich, dass immer weniger deutschstämmige Menschen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion gewillt sind, nach Deutschland auszureisen, entweder weil sie ihre Heimat nicht verlassen wollen und Meldungen über Integrationsprobleme oder sinkende Eingliederungsleistungen inzwischen ernst genommen und auf die eigene Situation bezogen werden, oder weil sie am wirtschaftlichen Aufschwung ihrer Heimatregionen partizipieren, was allen voran auf die jüngeren Generationen zutrifft.

Bis in die 1980er Jahre waren die gesellschaftlichen und rechtlichen Voraussetzungen sowie die wirtschaftlichen Bedingungen in Deutschland für eine zügige Integration in allen Lebensbereich relativ günstig, da sie von einem sehr hohen Integrationswillen seitens der Aussiedler begleitet und zügig Erfolge erzielt wurden. Erwartungen an die neue Heimat erfüllten sich in der Regel und Lebenschancen für jüngere und künftige Generationen standen den der einheimischen Deutschen fast in nichts nach. Mit der politischen Wende in Europa verschlechterten sich die Voraussetzungen und Bedingungen für die nun aus der ehemaligen UdSSR kommenden russlanddeutschen Aus- siedler einschneidend. Kürzungen bei den staatlichen Eingliederungsleistungen und wesentlich schwierigere Ausgangsvoraussetzungen hinsichtlich der Arbeitsaufnahme oder der schulischen Integration stellten viele Spätaussiedler vor eine ganze Reihe unerwarteter und nachhaltiger Prob-

Seite 119 Ausblicke

leme, und die in ihrer Tätigkeit stetig professionalisierten Beratungs- und Integrationsstellen staat- licherseits oder von Seiten der freien Wohlfahrtsverbände konnten trotz vielerlei Hilfestellungen an grundlegenden Problemen wie Arbeitslosigkeit nichts ändern. Dennoch stellte sich der Großteil der Menschen den Anfangsschwierigkeiten und fasste schließlich Fuß.

Gleichwohl ist die gesellschaftliche Integration und strukturelle Eingliederung insbesondere dieser in den letzten zwei Jahrzehnten nach Deutschland gekommenen russlanddeutschen Aussiedler noch lange nicht abgeschlossen und verlangt immer noch nach einer grundlegenden Wende hin- sichtlich des Umgangs und der Akzeptanz der Spätaussiedler durch die deutsche Aufnahmege- sellschaft, nicht zuletzt in ihrem eigenen Interesse. Obgleich die russlanddeutschen Aussiedler in Berlin weiterhin vor Problemen wie sozialer Randständigkeit, Arbeitslosigkeit und fehlenden Teilha- bechancen an der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Partizipation stehen, ist der Großteil die- ser Personengruppe zufrieden mit seiner Entscheidung über die Aussiedlung nach Deutschland. Für 69% der russlanddeutschen Berliner haben sich die Erwartungen an das Leben in Deutschland erfüllt, wobei der Wert bei jüngeren Altersgruppen noch höher liegt, und das, obwohl die oben be- schriebenen Schwierigkeiten im Alltag die Jugendlichen und Heranwachsenden ganz besonders betreffen. Diese insgesamt gesehen positiven Voraussetzungen sollten als Grundlage für weitere Integrationsbemühungen und Maßnahmen zur Verbesserung von Lebenschancen dienen, um bis- lang vernachlässigte Potenziale auch konsequent für das Gemeinwohl nutzen zu können und den einzelnen Menschen neue Lebensperspektiven zu eröffnen.

Als Folge des drastischen Rückgangs der Aussiedlerzahlen wurde auch die Schließung der Zen- tralen Aufnahmestelle des Landes Berlin für Aussiedler mit dem Stichtag 31. Dezember 2009 be- schlossen, jedoch erst nach erfolgter Räumung im Juni 2010 zum 30. August 2010 vollzogen. Ur- sächlich war nicht die Anwesenheit einiger Aussiedlerfamilien, sondern der Zuzug von irakischen Flüchtlingen, die seit Herbst 2009 in Berlin ankamen und eine entsprechende Unterkunft benötig- ten. Seit dem 1. Juli 2010 finden die wenigen noch nach Berlin einreisenden Aussiedler eine erste Unterkunft im Aufnahme- und Übergangswohnheim Trachenbergring, einer Einrichtung des Inter- nationalen Bundes, in der auch Obdachlose und Asylbewerber untergebracht werden. Die Grund- lage dazu bildet ein Vertrag des Internationalen Bundes mit dem Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin. Zwischen dem 15. April und dem 31. Juli 2010, also noch während des laufenden Betriebes, wurde auf dem Gelände des Durchgangsheimes eine Sonderausstellung unter dem Titel „Alles auf Anfang. Aufnahme und Integration von Aussiedlern in Berlin“ eröffnet. Interessierte Besucher konnten einen Einblick in das Leben der Aussiedler im Durchgangsheim bekommen. Neben einem geschichtlichen Abriss der deutschen Migration nach Russland und der Vermittlung des komplexen Heimatbegriffes von Aussiedlern, sollte den Besuchern der Ausstellung auch auf- gezeigt werden, auf welcher Grundlage Aussiedler nach Deutschland kamen, welche Schwierig- keiten sie zu Beginn ihres neuen Lebens in der Bundesrepublik bewältigen mussten, wie sich ihre Integration in Deutschland und explizit in Berlin seit den 1960er Jahre vollzog und welchen Anteil die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Landesamtes für Gesundheit und Soziales an der Aufnah- me und Integration von insgesamt über 100.000 Aussiedlern hatten. Anhand zahlreicher Objekte, angefangen von Fotos und Plakaten über Zeitungsauschnitte, Karikaturen und Urkunden bis hin zu Interviewausschnitten und Filmmaterial wurden den Besuchern der Umgang mit der Aussiedlerfra- ge in der Bundesrepublik Deutschland, die Mentalitäten der Zuwanderer und ihre Motivationen zur Ausreise nähergebracht. Ziel war es, den komplexen Integrationsprozess, den Aussiedler durch-

Seite 120 Ausblicke

liefen und immer noch durchlaufen für die Besucher plastisch zu machen, Hemmnisse abzubauen und Verständnis für die schwierige Situation der Aussiedler zu wecken, um auch auf diese Weise einen Beitrag zum Abbau weiterhin bestehender Kontaktbarrieren zu leisten.

Im Herbst 2010 wurde ein erneuter Überlassungsvertrag zwischen dem Bund und dem Land Berlin geschlossen und das Durchgangslager aufgrund der steigenden Zahl von Asylanträgen für Asyl- bewerber wiedereröffnet.

Bild 32: Sonderausstellung “Alles auf Anfang”

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LAB B Rep. 077, Nr. 1194 - Belegungsstatistiken Haupt- und Nebenlager Januar bis Februar 1989

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LAB B Rep. 077, Nr. 1321 - Jüdische Kontingentflüchtlinge

LAB B Rep. 077, Nr. 1323 - Statistik und Schriftverkehr

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LAB B Rep. 077, Nr. 1328 - Statistik und Schriftverkehr

LAB B Rep. 077, Nr. 1329 - Schriftverkehr und Statistik

LAB B Rep. 077, Nr. 1330 - Statistik Aussiedler ab 1964

LAB B Rep. 077, Nr. 1331 - Statistik Aussiedler ab 1964

LAB B Rep. 077, Zugang Juni 2010, Nr. 40 - Tag der offenen Tür 15.08.1993

LAB B Rep. 077, Zugang Juni 2010, Nr. 29 - Allgemeines über Aussiedleraktion ab Dezember 1970

LAB B Rep. 077, Zugang Juni 2010, Nr. 62 - Allgemeines über Aussiedleraktion ab Dezember 1970

Seite 124 Verzeichnis der Fotografien

12. Verzeichnis der Fotografien

Seite 6 / Bild 1 Aufnahmedatum: 21.7.1961 Der Regierende Bürgermeister von Berlin Willy Brandt besucht das Bundesnotaufnahmelager Marienfelde, Bezirk Tempelhof, Marienfelder Allee Landesarchiv Berlin / Willa, Johann

Seite 28 / Bild 2 Aufnahmedatum: 25.9.1989 Durchgangsheim für Aussiedler und Zuwanderer Bez. Tempelhof / Marienfelde, Marienfelder Allee, Tempelhof Landesarchiv Berlin / Kasperski, Edmund

Seite 28 / Bild 3 Aufnahmedatum: 25.9.1989 Durchgangsheim für Aussiedler und Zuwanderer Bez. Tempelhof / Marienfelde, Marienfelder Allee, Tempelhof Landesarchiv Berlin / Kasperski, Edmund

Seite 28 / Bild 4 Aufnahmedatum: 25.9.1989 Durchgangsheim für Aussiedler und Zuwanderer Bez. Tempelhof / Marienfelde, Marienfelder Allee, Tempelhof Landesarchiv Berlin / Kasperski, Edmund

Seite 51 / Bild 5 Sachgruppe: 1 Flüchtlingslager Aufnahmedatum: 15.08.2006 Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde, Marienfelder Allee, Tempelhof Bronzeabguß des Koffers, den das Ehepaar Dubrow bei der Flucht 1958 von Ost-Berlin nach West-Berlin bei sich hatte Landesarchiv Berlin / Platow, Thomas

Seite 59 / Bild 6 Aufnahmedatum: 18.11.1952 Zentrales Bundesnotaufnahmelager für 2000 Ostflüchtlinge in, Marienfelde, Richtfest Landesarchiv Berlin / Schütz, Gert

Seite 59 / Bild 7 Luftaufnahme Aufnahmedatum: um 1963 Notaufnahmelager Marienfelde (Durchgangslager) Bauherren: Senator für Bau- und Wohnungswesen und DeGeWo 1962 Umwandlung eines Teils des Lagers in Mietwohnungen Landesarchiv Berlin

Seite 67 / Bild 8, 9, 10 Flüchtlingslager Marienfelde Aufnahmedatum: Juli 2010 Zimmeraussttatung Marienfelder Allee 66 - 80 Skrabania, David

Seite 71 / Bild 11 Aufnahmedatum: 26.8.1996 Ausstellung im ehemaligen Notaufnahmelager Marienfelde Zentrale Aufnahmestelle für Aussiedler, Haus am Parkplatz 3 Bezirk Tempelhof / Marienfelde, Marienfelder Allee 66 - 80 Landesarchiv Berlin / Kasperski, Edmund

Seite 71 / Bild 12 Aufnahmedatum: 25.6.1990 Übersiedler-Heim, Marienfelde Bez. Tempelhof / Marienfelde, Marienfelder Allee 66 - 80 Landesarchiv Berlin / Platow, Thomas

Seite 125 Verzeichnis der Fotografien

Seite 71 / Bild 13 Aufnahmedatum: 15.8.1993 40 Jahre Zentrale Aufnahmestelle des Landes Berlin Bez. Tempelhof / Marienfelde, Marienfelder Allee, Tempelhof, Musterwohnung Landesarchiv Berlin / Esch-Marowski, Barbara

Seite 69 / Bild 14, 15, Zentrale Aufnahmestelle Berlin 16, 17 Aufnahmedatum: Juli 2010 Impressionen Skrabania, David

Seite 82 / Bild 18 Aufnahmedatum: 15.8.1993 40 Jahre Zentrale Aufnahmestelle des Landes Berlin Bez. Tempelhof / Marienfelde, Marienfelder Allee, Tempelhof Landesarchiv Berlin / Esch-Marowski, Barbara

Seite 82 / Bild 19 Aufnahmedatum: 15.8.1993 40 Jahre Zentrale Aufnahmestelle des Landes Berlin Bez. Tempelhof / Marienfelde, Marienfelder Allee, Tempelhof Landesarchiv Berlin / Esch-Marowski, Barbara

Seite 85 / Bild 20 Aufnahmedatum: 15.8.1993 40 Jahre Zentrale Aufnahmestelle des Landes Berlin Bez. Tempelhof / Marienfelde, Marienfelder Allee, Tempelhof Landesarchiv Berlin / Esch-Marowski, Barbara

Seite 85 / Bild 21 Aufnahmedatum: 15.8.1993 40 Jahre Zentrale Aufnahmestelle des Landes Berlin Bez. Tempelhof / Marienfelde, Marienfelder Allee, Tempelhof Landesarchiv Berlin / Esch-Marowski, Barbara

Seite 87, 88, 90 / Flüchtlingslager Marienfelde Bild 22, 23, 24, 25 Aufnahmedatum: Juli 2010 Sonderausstellung „Alles auf Anfang“ Skrabania, David

Seite 96 / Bild 26 Aufnahmedatum: 25.9.1989 Durchgangsheim für Aussiedler und Zuwanderer Bez. Tempelhof / Marienfelde, Marienfelder Allee 66 - 80 Landesarchiv Berlin / Kasperski, Edmund

Seite 100, 102 / Tag der offenen Tür Bild 27, 28, 29,30 Aufnahmedatum: 2009 Flüchtlingslager Marienfelde Silvia Kostner

Seite 107 / Bild 31: Aufnahmedatum: 8.9.1986 Durchgangsheim für Aussiedler und Zuwanderer Bez. Tempelhof / Marienfelde, Marienfelder Allee 66 - 80 Landesarchiv Berlin / Schneider, Günter

Seite 120 / Bild 32 Flüchtlingslager Marienfelde Aufnahmedatum: Juli 2010 Sonderausstellung „Alles auf Anfang“ Skrabania, David

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Kontakt Silvia Kostner Z Press Pressestelle / Öffentlichkeitsarbeit Tel.: 030 90229 - 1014 Email: [email protected]

Autor David Skrabania

Redaktion Silvia Kostner David Skrabania

Gestaltung & Satz Florian Kapfer

Druck FSE Lankwitzer Werkstätten

Seite 127

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© Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin Blaue Reihe Turmstraße 21, Haus A ISSN 1868-3185 10559 Berlin ISBN 978-3-941764-03-3 Alle Rechte vorbehalten Stand: November 2011 WWW.LAGESO.BERLIN.DE ISBN 978-3-941764-03-3 ISSN 1868-3185 Blaue Reihe

Blaue Reihe Band 4