Internationale Fachtagung zum Thema: „Die Ästhetik des Theaters mit Kindern: auf der Bühne und davor.“ Ein Perspektiven-Parcours im Rahmen des Welt-Kindertheater-Fest (WKT) 2014 in Lingen/Ems Vom 25.07. bis 01.08.2014 fi ndet das Welt-Kindertheater-Fest in Lingen statt. Teil- Zu Gast sind 18 Kindertheater-Produktionen nehmen werden ca. 360 Kinder aus aller Welt, um ihre Produktionen zu zeigen und u. a. aus: Uganda, Paraguay, Japan, Kanada, sich in Workshops zu mischen und auszutauschen. Spielleiter, Regisseure und Zu- Bangladesch, Dänemark und Russland. schauer werden die Gelegenheit nutzen, um sich fachlich auszutauschen über die Bausteine der Fachtagung: Philosophie, die Arbeitsweisen, die ästhetischen und pädagogischen Selbstverständ- Teilnahme am „Director´s Forum“ nisse sowie über den „Sitz im Leben“ des Theaters mit Kindern in den verschiedenen Eintrittskarten für alle Vorstellungen des WKT Kulturen und Gesellschaftsformen. Dies geschieht im sog. „Director‘s Forum“, das an vier Vormittagen während des WKT Weitere Informationen erhalten Sie in der Geschäfts- stattfi nden wird und inhaltlich und organisatorisch eng mit dem Festival und seinen stelle des Europäischen Theaterhauses e. V. Produktionen vernetzt ist. Im Mittelpunkt der Diskussionen steht die Frage: Welches unter Tel.: +49 (0) 591 662 26 oder E-Mail: Weltverständnis der Kinder spiegelt sich in ihrem Theaterspiel? [email protected]. Zu dieser Frage stellen sich stets jene Regisseure und Spielleiter dem Forum, deren Stücke am Vorabend zu sehen waren. Damit ist sichergestellt, dass im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen ein gemeinsam erlebtes Theater-Ereignis steht. Trotz der interna- tionalen Ausrichtung und der unterschiedlichen Sprachen (für Simultan-Übersetzung aus dem Englischen ist gesorgt!) bleibt so der Kern der Fragestellungen konkret und sinnlich. Zeitschrift für Theaterpädagogik 30. Jahrgang • Korrespondenzen • Heft 64

Theaterpädagogisches Wissen im gesellschaftlichen Kontext 1

Inhalt

Impressum ...... 2 Einiges zur Geschichte der Spiel- und Theaterpä- dagogik ...... 57 Editorial ...... 3 Hans-Wolfgang Nickel Ulrike Hentschel Stichworte zu einer basarischen Wissenskultur ...... 60 Gerd Koch Theaterpädagogisches Wissen im gesellschaft- lichen Kontext Magazin Theaterpädagogisches Wissen und gesellschaftliches Drei Theaterabende, drei aktuelle Theaterstücke – Handeln. Überlegungen zu einer reflexiven ein Ensemble! Publizistisches Theater im Chinesischen Theaterpädagogik ...... 4 Kulturzentrum 19.–21. November 2013 ...... 62 Ulrike Hentschel/Ute Pinkert Gerd Koch Kunst als Projekt und als Verschwendung. Dialog und Kritik: Anmerkungen zum palästinen- Zum Verhältnis von Theater und Ökonomie ...... 11 sisch-deutschen Dialog über Theater und Theaterpä- Barbara Gronau dagogik vom 28. Oktober bis 2. November 2013 in Sei kreativ! Biopolitische Verflechtungen zwischen Bethlehem, Dar al Kalima University College ...... 72 Kunst, Leben und Arbeit im Postfordismus. Herwig Lewy Ein Rückblick ...... 15 Was ist möglich am Stadttheater? Gabriele Klein „Kommt zusammen!“. Ein partizipatives Praxisbeispiel am Jungen Staatstheater Braunschweig ...... 73 Theaterpädagogisches Wissen. Angelika Andrzejewski/Christoph Macha Praxis – Projekte – Positionen Wie viel Stoff steckt in einem Kostüm? ...... 76 Orte der Versammlung. Junge Leute verhandeln Muriel Nestler ihre Angelegenheiten ...... 23 Wenn Leichtigkeit misslingt – Stolpersteine auf dem Hanne Seitz Weg zum Improvisationstheater ...... 78 Künstlerische Qualität = pädagogischer Gewinn? Wolfgang Wendlandt Plädoyer für ein erweitertes Verständnis von Wie wollen wir arbeiten (– und warum?). Eindrücke Pädagogik auf dem Theater ...... 26 von der Jahrestagung der Dramaturgischen Gesell- Dorothea Hilliger schaft in Mannheim vom 23.–26. Januar 2014 ...... 81 Von Beziehungskrisen, Beichtstühlen und Gewissens- Nelly Noack bissen. Zuschauer im Gespräch ...... 30 Mira Sack Aus dem Archiv ‚Antworten’ auf Aufführungen. Über den produk- Rezeptionsforschung im Kindertheater der DDR ...... 84 tiven Umgang mit Fremderfahrungen in Aufführun- Katharina Kolar gen zeitgenössischen experimentellen Theaters ...... 33 Zwei Erzählcafés der DTAP ...... 86 Virginia Thielicke Partizipatives Theater. Zur politischen Dimension Rezensionen ...... 87 ästhetischer Bildung ...... 35 Johannes Kup Autorinnen und Autoren ...... 98 Das Projekt Staging Myself und das Wissen über Ankündigungen ...... 99 Transkulturalität ...... 38 Marion Küster Theater und Schule: TUSCH. Ein KulturLernModell. Zentrale Merkmale am Beispiel von TUSCH Hamburg ..... 41 Wolfgang Sting Ankündigung Achtung: Erkenntnis! Ein Fortbildungs- und Theater- experiment ...... 45 zum nächsten Heft Volker Jurké Kunst zwischen Windel und Wagnis: Frühpädagogik Arbeitstitel der Herbstsausgabe Nr. 65/2014: und Theater im Praxistest bei TUKI Berlin ...... 49 „Theatre for Development“. Juliane Steinmann Redaktionsschluss für das Heft 65 Integrative Theater-Gruppen für Jugendliche mit ist der 01.07.2014. Asperger-Syndrom ...... 53 Ina Jahnke/Erzsébet Matthes Das Heft wird im Oktober 2014 erscheinen. Die Heft-Redaktion hat Ole Hruschka. Jonglieren mit alten Hüten ...... 54 Hans Martin Ritter Artikel dann bitte senden an: [email protected] 2 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Hinweise für Autorinnen und Autoren der Zeitschrift für Theaterpä da gogik – KORRESPONDENZEN –

* Eine Seite einschließlich der Leerzeichen enthält ca. 3.800 Zei- * Bitte keine Abbildungen in das Manuskript einbauen, sondern chen bei Verwendung der Schriftart Times New Roman mit Schrift - separat als Anhang senden. Bei übersandten Fotos bitte den grad 12 und eineinhalbfachem Zeilenabstand. Namen des Fotografen benennen. * Entsprechend der Anzahl eingesandter Fotos muss die Summe * Für die Wahrung der Persönlichkeitsrechte der auf Fotos abgebil- der Zeichen reduziert werden. deten Personen sind die Autorinnen und Autoren verantwortlich. * Bitte nichts layouten! * Bilder werden von uns i. d. R. nur verwendet, wenn sie eine aus- * Wir bitten, keinen Blocksatz, sondern Flattersatz zu verwenden reichende Druckqualität gewährleisten. Optimal sind 300-400 und keine festen Wort- oder Zeilentrennungen vorzunehmen. dpi. Kleine Bilder oder 9 x 6 cm-Bilder mit 72 dpi nur auf unsere * Zuerst kommt der Titel (evtl. mit Untertitel); darunter der Name von Zielgröße verändern (hochrechnen funktioniert nicht!) Generell Verfasserin bzw. Verfasser. Bitte die Titel möglichst kurz fassen! gilt: Letztes Auswahlkriterium ist aber immer eine ausreichende * Zwischenüberschriften sollen nicht besonders her vorgehoben, Bildschärfe (Kontrast). Dateiformat: jpg, pdf, eps oder tif. sondern frei eingesetzt werden (die Schriftgröße wählt der Verlag). * Extra sollen genannt werden: Autor/in-Name, Post-Adresse für * Fußnoten und Unterstreichungen sollten vermieden werden. den Versand des Belegexemplars und/oder E-Mail-Adresse für Sollten sie notwendig sein, dann bitte in Manuskripten keine das Autorinnen-/Autorenverzeichnis, was in jedem Heft erscheint. Fußnoten, sondern sog. Endnoten verwenden. * Honorar können wir leider nicht zahlen. Pro Beitrag wird ein Heft * Anmerkungen und Literaturangaben kommen an den Schluss an die Autorin/den Autor als ein bescheidenes Dankeschön des Beitrags. gesandt. Weitere Exemplare dieses Heftes können mit 30 % * Es wird gebeten, den Artikel als Word-Datei zu schicken. Preisnachlass bezogen werden. * Die Autorinnen und Autoren entscheiden sich bewusst für eine Form der gendergerechten Schreibweise. Diese Entscheidung muss im Text durchgehalten werden. Vielen Dank!

Impressum

Gründungsherausgeber: Prof. Dr. Gerd Koch, [email protected] Prof. Dr. Florian Vaßen, fl[email protected] Herausgeber: Prof. Dr. Ulrike Hentschel, [email protected] Dr. Ole Hruschka, [email protected] Prof. Dr. Norma Köhler, [email protected] Gunter Mieruch, [email protected] Andreas Poppe, [email protected] Friedhelm Roth-Lange, [email protected] Prof. Dr. Mira Sack, [email protected] Prof. Dr. Wolfgang Sting, [email protected] In Kooperation mit BAG Spiel + Theater e. V. (gefördert durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) [email protected] • www.bag-online.de Bundesverband Theater in Schulen e. V. (BV.TS) [email protected] • www.bv.ts.org Bundesverband Theaterpädagogik e. V. (BuT) [email protected] • http://www.butinfo.de Gesellschaft für Theaterpädagogik/Niedersachsen e. V. [email protected] • www.gesellschaftfuertheaterpaedagogik.net Heftredaktion: Ulrike Hentschel, Mitarbeit Johannes Kup Verlag: Schibri-Verlag, Dorfstraße 60, 17337 Uckerland, OT Milow Postanschrift: Schibri-Verlag, Am Markt 22, 17335 Strasburg/Um. Tel. 039753/22757, Fax 039753/22583, http://www.schibri.de E-Mail: [email protected] Grafische Gestaltung: Satz/Layout: Arite Nowak Cover: Arite Nowak, Grafik & Foto © Anita Fuchs 2014 Copyright: Alle Rechte bei den Autoren/all rights reserved Preis: Einzelheft: Euro 7,50 plus Porto. Jahresabonnement: Euro 13,– plus Porto. Studierendenabonnement: Euro 10,– plus Porto. Abonnements über den Verlag oder über Herausgeber-Verbände. Die Zeitschrift sowie alle in ihr enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbei- tungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Einige Bilder und/oder Fotos in dieser Ausgabe sind das urheberrechtlich geschützte Eigentum von 123 RF Limited oder Fotolia oder anderen autorisierten Lieferanten, die gemäß der Lizenzbedingungen genutzt wurden. Diese Bilder und/oder Fotos dürfen nicht ohne Erlaubnis von 123 RF Limited oder Fotolia oder anderen autorisierten Lieferanten kopiert oder herunter geladen werden. Für den Anzeigeninhalt sind alleinig die Inserenten verantwortlich. Bestelladresssen: Buchhandel • Schibri-Verlag • Herausgeber • Verbände (siehe oben) ISSN 1865-9756 Theaterpädagogisches Wissen im gesellschaftlichen Kontext 3

EDITORIAL

Mit dem vorliegenden Heft 64 der Zeitschrift für Theaterpädago- Mit dieser Form des Basars sollte die Pluralität und Heterogenität gik. Korrespondenzen beginnt der 30. Jahrgang dieser Publikation. theaterpädagogischen Wissens ausdrücklich betont und ihr Eigen- 30-Jährige sind nicht mehr ganz jung und können schon auf sinn hervorgehoben werden. Gleichzeitig diente der Basar auch einige Erfahrung zurückblicken. Aber sie sind natürlich jung als Weg zur Erkundung heterogener Wissensbestände, die sich genug, um mit Neugier, Offenheit und voller Pläne in die Zu- nicht einer Großtheorie bzw. einer Strategie unterordnen lassen. kunft zu blicken. Eine für 30-Jährige nicht ganz untypische Im Abschnitt Praxis. Projekte. Positionen sind zahlreiche Basarbei- Frage ist die nach den Bedingungen des eigenen Denkens und träge der Tagung versammelt, andere sind von Basarbesucherinnen Tuns. Was mache ich hier eigentlich – und warum mache ich später und ausdrücklich für diese Rubrik verfasst worden. Wie das so und nicht anders? auf dem Basar werden sie hier in einem eher lockeren Zusam- menhang präsentiert. Ihre Fragestellungen verweisen zum Teil Insofern scheint es durchaus altersadäquat, wenn sich der The- aufeinander oder lassen sich einem Wissensgebiet zuordnen. So menschwerpunkt dieses Heftes der Zeitschrift für Theaterpädagogik geht es um Formen der Partizipation und der Rezeption, um – aus einer reflexiven Haltung heraus – mit der Frage nach dem Modelle der Kooperation in unterschiedlichen institutionellen Wissen der Theaterpädagogik befasst. Unter dem Thema „The- und internationalen Feldern, um (vergessene) historische Fra- aterpädagogisches Wissen und gesellschaftliches Handeln“ hat gestellungen und schließlich – quasi aus einer Metaperspektive sich die Ständige Konferenz Spiel und Theater, die im Septem- – um die Frage nach einer ‚basarischen‘ Wissenskultur. ber 2013 am Institut für Theaterpädagogik der Universität der Künste Berlin stattfand, mit der Frage „wie wir wissen, was wir Im Magazin finden sich wie immer aktuelle Berichte und Refle- wissen“ (Knorr-Cetina, Wissenskulturen. Frankfurt/Main 2002, xionen aus der theaterpädagogischen Praxis, von internationalen S. 11) befasst. Der Thementeil dieses Heftes greift die Beiträge Begegnungen, eindrücklichen Theaterbesuchen und anregenden der Tagung auf. Zunächst wird ein wissenstheoretischer Ansatz Tagungen. einer reflexiven Theaterpädagogik vorgestellt und das Fachwis- sen wird in den Kontext gesellschaftlicher, ökonomischer und Abschließend noch eine Bemerkung in eigener Sache: historischer Zusammenhänge eingeordnet. Im 30. Jahrgang ihres Erscheinens hat sich der Herausgeberkreis der Zeitschrift für Theaterpädagogik. Korrespondenzen erweitert. Im Anschluss daran werden in Praxisbeispielen, Projekten und Zukünftig gehören Norma Köhler, Gunter Mieruch, Andreas Positionsbestimmungen unterschiedliche Wissensformen und Poppe, Mira Sack, Wolfgang Sting und Friedhelm Rott-Lange -inhalte der Theaterpädagogik vorgestellt. Was hat sich im Lau- mit zu den Herausgeberinnen und Herausgebern. Dass es sich fe der Fachgeschichte angesammelt? Was wurde vergessen, was dabei nicht lediglich um eine quantitative Ausweitung des He- gehütet? Und: Was sind die alten Hüte, die immer wieder gerne rausgeberkreises handelt, liegt auf der Hand. Vielmehr gewinnt aufgesetzt werden, ob sie noch passen oder nicht? In welchen die Zeitschrift mit den neuen Herausgeberinnen und Heraus- Formen liegt das theaterpädagogische Wissen vor und wie kann gebern weitere Expertise hinzu. Und ganz nebenbei wird das es vermittelt werden? Auf der Tagung der Ständigen Konferenz Blickfeld nicht nur fachlich sondern – durch die H erkunft der wurde dieses Fachwissen, auf einem Basar vorgestellt und aus- neu Hinzugekommenen – auch geografisch erweitert. getauscht. In kleinen Gruppen versammelten sich Interessenten Besonderer Dank geht an unseren Kollegen Bernd Ruping für um eine Expertin oder einen Experten, um sich über ausgewählte seine langjährige Mitarbeit. Er gehörte dem Herausgeberteam Fragestellungen aus der theaterpädagogischen Forschung oder 20 Jahre lang an. Praxis zu informieren. Da es mehrere Runden dieses Austauschs 30 Jahre sind übrigens auch der durchschnittliche Generatio- gab, wechselten die Rollen. Aus den Experten und Expertinnen nenabstand, von dem die Demographie ausgeht. Freuen sie sich wurden Interessenten, aus den Vermittlern wurden Lernende also auf die Zeitschrift für Theaterpädagogik. Korrespondenzen – aus den Anbietern Nachfragende. The Next Generation.

Ulrike Hentschel

Anzeigenschluss für das Heft 65 ist der 21.08.2014. Anzeigen-Annahme: Schibri-Verlag, Frau Nowak Telefon: 039753/22757 • Mail: [email protected] Bei rechtzeitiger telefonischer Absprache Ihrer geplanten Anzeigenschaltung können Sie die Anzeigendatei ggf. später als zum o. g. Anzeigenschlusstermin einsenden. 4 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

THEATERPÄGAGOGISCHES WISSEN IM GESELLSCHAFTLICHEN KONTEXT

Theaterpädagogisches Wissen und gesellschaftliches Handeln. Überlegungen zu einer reflexiven Theaterpädagogik Ulrike Hentschel/Ute Pinkert

Als angewandte Disziplin ist die Theaterpädagogik häufig mit einem adäquaten Lehr- Lernverständnis in der theaterpädagogi- wechselnden Konjunkturen konfrontiert, die in den unterschied- schen Ausbildung und Praxis. lichen Anwendungsfeldern zu verschiedenen Zielsetzungen und Praktiken führen. Die Fachwissenschaft kann diese Prozesse 1. Der Wissensbegriff begleiten, z. B. in Form einer Begleitforschung in der kulturel- len Bildung, als Entwicklung von didaktischen Überlegungen Den Ausgangspunkt bildet ein weiter Wissensbegriff, wie er in im Bereich des Schultheaters oder als Reflexion von Praxispro- Ansätzen der Wissenssoziologie zugrunde gelegt wird. Dort wird zessen. Wissen nicht im klassischen Sinne als „wahre, gerechtfertigte Über- Sie kann aber auch die Prozesse der Wissensgenerierung, -darstel- zeugung“ und im Kontrast zum Glauben und Meinen verstanden, lung und -vermittlung als solche thematisieren. Damit geraten sondern als Konstruktion von Sinn, die im Wesentlichen sozial auch die spezifischen Wissensformen in den Blick und es stellen vermittelt ist (vgl. Knoblauch 2005, S. 359 ff). Wissen kann da- sich beispielweise folgende Fragen: mit als ein Ergebnis sozialer Praxis angesehen werden. Das heißt auch, es geht nicht bzw. nicht in erster Linie um wissenschaftli- • Welche Diskurse leiten unser Handeln und in welchem ge- ches Wissen oder ausschließlich um kognitives Wissen. Wissen sellschaftlichen Kontext finden sie statt? wird vielmehr verstanden als ein Konglomerat aus vielfältigen • Welche Praktiken – konkret: welche theaterpädagogischen Wissensarten, die nicht in einer Hierarchie anzuordnen sind, zu Praktiken – sind mit diesen Diskursen verknüpft? dem Alltagswissen und wissenschaftliches Wissen gehören und • Welche Vorstellungen vom Subjekt und von wünschenswer- in dem verschiedene Wissensformen zusammenspielen: explizi- ten Prozessen der Subjektivierung liegen ihnen zugrunde? tes und implizites Wissen, diskursives und praktisches Wissen, • Welche Funktion haben diese Diskurse und Praktiken unter performatives Wissen oder ‘embodied knowlegde’. den aktuellen gesellschaftlichen, ökonomischen und politi- Im Zuge gesellschaftlicher Differenzierung bilden sich unter- schen Bedingungen? Wo verhalten sie sich funktional im schiedliche Bereiche heraus, die über Spezialwissen verfügen, das Rahmen dieser Bedingungen? Können Sie sich auch disfun- zwar auf vielfältige Weise mit dem Wissen anderer Bereiche inter- kional verhalten, wenn ja, wie? disziplinär vernetzt ist, aber sich auch von diesem unterscheidet. Mit diesen Fragen werden die Bedingungen und Voraussetzungen Das Anknüpfen an einen so gefassten weiten Wissensbegriff der Wissensbildung innerhalb der Theaterpädagogik mitgedacht, könnte zwei Perspektiven eröffnen: also die grundlegende Strategie einer reflexiven Fachwissenschaft 1. die Frage nach den verschiedenen Wissensformen innerhalb verfolgt. Im Folgenden sollen Elemente eines wissenstheore- der Theaterpädagogik, den besonderen Formen ihres Zusam- tischen Zugangs zur Theaterpädagogik aufgezeigt und darauf menwirkens, jenseits einer Hierarchisierung dieser Formen hin befragt werden, welchen Beitrag sie zur Entwicklung einer und reflexiven Theaterpädagogik leisten können. 2. die Bezugnahme auf Wissen als kulturelle Praxis und die damit verbundenen symbolischen Praktiken jenseits einer In einem ersten Schritt soll erläutert werden, was unter einem rein individualistischen Sicht auf das kompetente Subjekt. wissenstheoretischen Zugang verstanden werden kann und wel- che Implikationen er für theaterpädagogische Praxis und Theorie haben kann. Dazu werden der zugrundeliegende Wissensbegriff, 2. Die historische Bedingtheit von Wissen die kulturelle und historische Bedingtheit des Wissens und schließlich die Reflexivität des Wissens thematisiert. Mit einem wissenstheoretischen Zugang ist gleichzeitig auch die Ausgehend davon sollen im zweiten Schritt Elemente einer Di- Frage nach der Geschichtlichkeit und kulturellen Bedingtheit daktik aus wissenstheoretischer Perspektive angesprochen werden. des Wissens verbunden, die Frage danach unter welchen sozia- Gefragt wird zunächst nach den Bedingungen von Vermittlung len Bedingungen Sinn konstituiert wird und Wissen hergestellt, im theaterpädagogischen Kontext und daran anschließend nach dargestellt, vermittelt und angeeignet wird. Theaterpädagogisches Wissen im gesellschaftlichen Kontext 5

Theaterpädagogisches Wissen und gesellschaftliches Handeln. Überlegungen zu einer reflexiven Theaterpädagogik

In diesem Sinne wird nicht ontologisch nach dem „Wesen“ be- stimmter Tatsachen oder Erscheinungen gefragt um sie ‚dingfest‘ zu machen. Vielmehr stellt sich – diskurstheoretisch – die Frage nach dem historisch und kulturell wandelbaren Wissen um diese Erscheinungen und vermeintlichen Tatbestände, also die Frage, wie (theaterpädagogisches) Wissen produziert, vermittelt, dargestellt wird. Dieses – an Foucault (1973) anknüpfende – Verständnis von Wissen liegt auch den Forschungen zur „Archäologie der Theaterpädagogik“ zugrunde, wie sie durch Marianne Streisand vertreten wird (vgl. Streisand 2005). Angesichts der Tatsache, dass innerhalb der Theaterpädagogik häufig mit komplexen kul- turellen Deutungsmustern gearbeitet wird – wie Authentizität, Kreativität, Kompetenz (die Reihe ließe sich fortsetzen) – scheint ein solcher diskurstheoretischer Zugang sinnvoll zu sein. Damit verschiebt sich die Frage von der Wirkung bestimmter theaterpädagogischer Praktiken im Hinblick auf zu erreichende Ziele, hin zu einer Befragung der Strategien der Legitimation solcher wünschenswerter Ziele im kulturellen Kontext.

Im Sinne des Foucaultschen Projekts einer Analyse des Wissens liegt es nahe auch nach dem Zusammenhang von Wissen und Macht zu fragen. Unter welchen Bedingungen, durch welche Techniken (Foucault: „Machttechniken“) setzt sich ein bestimm- tes Wissen durch, ein anderes nicht. Wie wird es legitimiert, für wahr erklärt, mit welchen institutionalisierten Maßnahmen, Regeln, Ordnungen wird es gestützt und normiert? (vgl. Knob- lauch 2005, S. 214). Mit dieser Wendung zu den Institutionen ermöglicht ein wissens- theoretischer Zugang die Strukturen sozialer Ordnung im Prozess der Vermittlung mitzudenken und Fragen der Vermittlung oder didaktische Überlegungen nicht allein aus dem pädagogischen Verhältnis zu begründen (vgl. Höhne 2004, S. 8).

Wendet man diese Perspektive auf Forschungsprojekte innerhalb der Kulturellen Bildung an, kommen die programmatischen Setzungen und institutionellen Bedingungen der Wissenserzeu- gung und Wissenspräsentation in solchen Forschungen in den Blick: Von wem, in welchem Interesse, mit welchen Methoden wird in Forschungsprojekten Wissen erzeugt? Worauf richtet sich die Aufmerksamkeit, was bleibt unbeleuchtet? Welche For- schungen sind anerkannt, welche weniger? Von diesen Fragen ausgehend lässt sich feststellen, dass die Wissensgenerierung in der Kulturellen Bildung gegenwärtig stark auf die Erforschung der Wirkungen von Bildungsangeboten auf die beteiligten Kinder und Jugendlichen konzentriert ist, auf ein Wissen, dass… (vgl. Fink et. al.). Für diese Ausrichtung sind verschiedene Faktoren ausschlaggebend: Die Notwendigkeit der permanenten Legiti- mation und Qualitätssicherung kultureller Bildungsangebote innerhalb der Gegenwartsgesellschaft, die paradigmatische Domi- nanz von Ansätzen der quantitativen Sozial- und der qualitativen Bildungsforschung und anderes mehr. Forschung im Feld der kulturellen Bildung ist damit als ein Akteur zu betrachten, der auf der Grundlage bestimmter Voraus- setzungen agiert und an der Etablierung von Machtverhältnissen beteiligt ist.

Schließlich geraten aus wissenstheoretischer Perspektive die Techniken der Subjektivierung in den Blick, die mit einem bestimmten Wissen in einem konkreten historischen Kontext Fotos: Anita Fuchs 6 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Theaterpädagogisches Wissen und gesellschaftliches Handeln. Überlegungen zu einer reflexiven Theaterpädagogik verbunden sind. Welche konkreten Praktiken – beispielsweise Erlebnisgesellschaft – als ein Deutungsmuster unter anderen an- des Übens, des Probens, des Beobachtens und Beschreibens, gesehen werden. Als solches birgt es zahlreiche Konnotationen der Repräsentation – tragen im Feld der Theaterpädagogik zur und wird in verschiedenen Kontexten unterschiedlich verwen- Formation von Subjekten (im Foucaultschen Sinne als Unter- det. Im Kontext der oben angesprochenen Kommodifizierung worfenes und als Handelndes) bei? Welche Prozesse des Lehrens von Wissen ist beispielsweise die Rede vom „Wissen als huma- und Lernens laufen dabei ab? ne Ressource“ verbreitet. Ein Anknüpfen an diese Vorstellung überträgt solche Setzungen auch auf den Bildungsbereich und Ein wissenstheoretischer Zugang eröffnet hier eine Perspektive, lässt die Ökonomisierung dieses Bereichs unwidersprochen. die diese Prozesse weniger nur als individuelle, sondern auch als Schließlich gerät Wissen in Konzepten von Wissensgesellschaft, soziale, symbolische Praktiken der Konstitution von Subjekten die von einem aktuell unüberschaubaren Zuwachs, von der untersucht. Einerseits kann damit thematisiert werden, wie sich schnellen medialen Verbreitung und dem ebenso schnellen Verfall ein bestimmtes theaterpädagogisches Wissen funktional in den von Wissen ausgehen, vor allem als Produkt in den Blick (vgl. Kontext gesellschaftlichen Handelns einordnen lässt, anderer- Knorr-Cetina 2002, S. 17). seits aber auch, ob und unter welchen Bedingungen es innerhalb Von einem wissenstheoretischen Standpunkt aus interessiert aber dieser Ordnung disfunktional sein kann, eine kritische Distanz weniger die Ware oder das Produktionsmittel Wissen, sondern gegenüber den umfassenden Vereinnahmungen durch gesell- vielmehr, wie und warum Wissen produziert und legitimiert wird. schaftliche Anforderungen zu bewahren. Dadurch wird es möglich, sich zu seinen eigenen Erkenntnissen So stellt beispielsweise Christel Hafke, ausgehend vom Gouverne- und den Bedingungen ihres Entstehens zurückzubeugen und im mentalitätsansatz Foucaults fest: „Die Problematik ist also nicht, Sinne einer reflexiven Theaterpädagogik, ihre normativen Vor- wie ästhetische Praxis ihre Wirksamkeit beweisen kann, sondern aussetzungen, unbefragten Standards und präskriptiven Inhalte im Gegenteil: Wie kann sie sich der umgreifenden Funktionali- zu problematisieren.2 sierung entziehen“ (ZfTPäd., Heft 55, S. 17). Als „reflexive Theaterpädagogik“ soll hier aber auch das aufei- nander Beziehen von Praxis und Reflexion, der Versuch eines 3. Reflexivität des Wissens „praktischen Verstehens“ im Tun bezeichnet werden. Deshalb werden im folgenden Elemente einer Didaktik unter wissens- theoretischer Perspektive betrachtet. Zum einen geht es dabei Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen hat die um den Gegenstand und die sich daraus ergebenden Qualitä- Auseinandersetzung mit dem Verständnis von Wissen zwei Sei- ten von Vermittlung, zum anderen um die dem entsprechenden ten: Vorstellungen vom Lehr-/Lernprozess. Einerseits ist sie ein Ausdruck für einen sich gegenwärtig vollzie- henden tief greifenden Wandel unseres Weltverständnisses. Im Zuge der Entwicklung neuer Technologien und des Aufstiegs 4. Theater als Vermittlung der Kulturwissenschaft zum dominanten Paradigma in den Geistes- und Sozialwissenschaften sind gegenwärtig traditionelle Wenn man die historisch ausdifferenzierte kulturelle Praxis des Denkmuster einer kritischen Hinterfragung ausgesetzt. Wir erle- Theaters in ihren jeweiligen Bedingungen unter einer Perspektive ben eine Auflösung bipolarer und hierarchischer Gegensätze wie von Vermittlung betrachtet, bietet sich der Begriff der Wissens- zum Beispiel derjenigen zwischen Natur/Kultur, Körper/Geist, formation an. Der Begriff der Formation verweist dabei explizit Frauen/Männern und Subjektivität/Objektivität. Die Wahrneh- auf zwei Aspekte: mung und Aufwertung von Formen impliziten Wissens steht 1. dass Wissen nicht „an sich“ als eine objektive „Sache“ exis- damit in unmittelbarem Zusammenhang. tiert, sondern immer in einer bestimmten Weise konstruiert Doch die von theaterpädagogischer Seite sehr zu begrüßende wird; Wertschätzung von nicht-diskursiven Wissensformen birgt 2. dass Wissen nicht „an sich“ und unmittelbar von einem Kopf auch die Gefahr ihrer Kommodifizierung. In den neoliberalen oder Körper in einen anderen transportiert werden kann, son- Gesellschaften werden aufgrund der Verlagerung der Industriepro- dern „immer eine Form in einem Medium annehmen muss, duktion in die Schwellenländer Wissen und Bildung gegenwärtig damit es kommunizierbar wird“ (Meyer 2008, S. 119). als neue, kommerzialisierbare Werte entdeckt. So ist weltweit ein Prozess der Überführung von Wissen in Warenform im Gang, Wenn man die Wissensformation Theater zuerst unter einer der auch das implizite Wissen umfasst. Ein Beispiel dafür ist die verallgemeinerten, soziologischen Perspektive betrachtet, zeigt umstrittene Patentierung von Yoga Asanas, auf deren Grundlage sich hier eine Spezifik, wie sie alle künstlerischen Systeme aus- der Yoga Meister Bikram Choudhury seine weltweit kommerziell zeichnet, aber beim Theater in besonderer Weise sichtbar wird. betriebenen Bikram Yoga Studios betreibt. Zum einen greift Theater immer auf Material und Konstrukti- onsweisen, d. h. auf Wissenselemente und -formen aus anderen, Diese Ambivalenz des Wissensbegriffs ist auch der Grund da- nicht theatralen, Bereichen zurück. Insbesondere sind das Wis- für, diese Überlegungen nicht in die populäre Diagnose der senselemente des Alltagslebens, aber auch Elemente aus anderen Wissensgesellschaft einzuordnen und das Nachdenken über gesellschaftlichen Systemen wie z. B. Wissenschaft oder Religi- theaterpädagogisches Wissen vor dem Hintergrund dieser Dia- on. Dieses Wissen wird als gestisches Wissen, visuelles Wissen, gnose zu legitimieren.1 kommunikatives Wissen etc. im Theater verwendet. Unter einer Der Begriff der Wissensgesellschaft kann – ähnlich wie andere soziologischen Perspektive wird dem Theater deshalb in beson- Komposita soziologischer Herkunft, wie Risiko-, Informations-, derer Weise die Funktion zugeschrieben, „der Beobachtung des Theaterpädagogisches Wissen im gesellschaftlichen Kontext 7

Theaterpädagogisches Wissen und gesellschaftliches Handeln. Überlegungen zu einer reflexiven Theaterpädagogik

Menschen durch den Menschen selbst eine Form zu geben und diese Weise können gegenstandsbezogene Erkenntnisse über so die Beobachtung zweiter Ordnung in die Gesellschaft wieder Interpretationsmöglichkeiten didaktischer Situationen sowie einzuführen (…)“ (Baecker 2011, S. 10). über Formatierungen und Formate von Theatervermittlung Gleichzeitig ist Theater jedoch immer auch als ein System mit gewonnen werden. eigenen Formationsregeln zu betrachten, die sich historisch aus- Ausgehend von der eben beschriebenen Spezifik des Theaters gebildet haben: Die Kunstform Theater hat ihre eigenen Gesetze, lassen sich verschiedene übergreifende Prinzipien beschreiben, ihre Codes, ihre spezifischen Verfahren der Fiktionalisierung, nach denen das Wissen des Theaters formatiert werden kann. Dies ihre schauspielpädagogischen Methoden, usw. Diese Formati- sind beispielsweise: Theater als symbolische Handlung, Theater onsregeln des Theaters lassen sich nicht aus der Kenntnis der als Interaktion und Kommunikation, Theater als Spiel, Theater Wissenselemente und Formen anderer Systeme erschließen, son- als System von Zeichen, Theater als Aufführung. dern müssen in der Beschäftigung mit der Kunstform Theater Im Folgenden sollen zwei dieser Prinzipien modellhaft im Hin- eigens erlernt werden. blick auf aus ihnen ableitbare Formatierungen und Formate von Der spezifische Charakter der Wissensformation Theater lässt Vermittlung skizziert werden: sich damit als eine komplexe Wechselwirkung von kultureller und künstlerischer Dimension beschreiben. Wenn es die Auf- Die Formatierung von Theater als System von Zeichen konzen- gabe von Theaterpädagogik ist, die Wissensformation Theater triert sich auf die Vermittlung von semiotischem Wissen. Im entsprechend der Bedingungen verschiedener sozialer Kontexte Bezug auf die kulturelle und die künstlerische Dimension des zu vermitteln, müsste sich die Vermittlung dementsprechend Theaters werden Zusammenhänge und Unterschiede zwischen an diesem doppelten Charakter ausrichten. Das schließt nicht der Funktion von Zeichen im Alltag und der ästhetischen Funk- aus, das Schwerpunkte gesetzt werden – z. B. auf die kulturelle tion (Mukarovski) von Zeichen im Theater thematisiert, wobei Dimension wie in der Lehrstückarbeit oder auf die künstleri- besonders die Polyfunktionalität des Z eichengebrauchs in der sche wie in aktuellen Konzeptionen des Theaters in der Schule. Theaterkunst eine Rolle spielt. Didaktische Prinzipien einer auf Doch eine Negierung der Wechselwirkung und die Verabsolu- semiotisches Wissen ausgerichteten Theatervermittlung sind tierung einer Dimension, so die Behauptung, führen zu einer entsprechend des Charakters des Zeichens: Untergliederung in Nivellierung der Spezifik von Theaterpädagogik und zu einer einzelne Bausteine und Ebenen, stufenweiser Aufbau, Systema- Auflösung in andere Felder. Allein auf die kulturelle Funktion tisierung. Eine semiotisch formatierte Theatervermittlung zielt reduziert, wird Theaterpädagogik zum Sozialtraining, allein auf einerseits auf das Verständnis von Alltagssituationen durch deren die künstlerische reduziert, zur Formenspielerei. variierende Wiederholung und Bearbeitung im Theaterrahmen (kulturelle Dimension) und andererseits auf eine Einführung in Was lässt sich aus einem wissenstheoretischen Ansatz über diese den spezifischen Zeichengebrauch des Theaters (künstlerische allgemeine Aussage hinaus für die Erkenntnis von Theaterver- Dimension) im Sinne einer Alphabetisierung. Eine auf semi- mittlung gewinnen? otisches Wissen ausgerichtete Theatervermittlung zielt auf die Torsten Meyer hat darauf hingewiesen, dass Wissensformationen Fähigkeit, die Zeichen des Theaters lesen und im eigenen Interesse als Konstruktionen und Darstellungen von Wissen eine große produktiv anwenden zu können. – In der aktuellen Definition Nähe zur Didaktik aufweisen. Er stellt fest, dass die Qualität der kultureller Bildung gelten diese Fähigkeiten als Voraussetzung Vermittlung durch einen Lehrer, „direkt mit seinen Fähigkei- für kulturelle Teilhabe (vgl. Ermert 2009). ten zur Darstellung des Wissens in seinem eigenen Kopf [und Die Formatierung von Arbeitssituationen ist hier auf die Insze- Körper – U.P .] zusammenhäng(t)en“ (Meyer 2008, S. 118). nierung, d. h. die Bühnenhandlung konzentriert. Bezogen auf Dieses Zitat nimmt Bezug auf das didaktische Dreieck, das wir das Material steht dabei das Erproben verschiedener Bedeu- in der Theaterpädagogik im Anschluss an Wolfgang Nickel als tungsvarianten im Zentrum, bezogen auf die Spielerinnen und das Verhältnis zwischen Spielleitung, Spielregel und Spielgruppe Spieler geht es um das Bewusstmachen und das Einüben von kennen und betont die Bedeutung der Konstruktion der ‚Spiel- bewusst eingesetzten Strategien zur Erzeugung3 und Kombina- regeln‘ durch die Spielleiterin. tion von Sinneinheiten. In Anwendung dieser Perspektive auf die Theaterpädagogik ließe sich fragen: Die Formatierung von Theater als Aufführung konzentriert sich • Auf welche Wissensformation von Theater bezieht sich die auf die Vermittlung von performativem Wissen. „Mit seiner un- Spielleiterin und in welcher Weise wird die Wissensforma- endlichen Vielfalt an Transformationen, mit seiner Neuordnung tion durch sie didaktisch formatiert? der Sinne, seiner Schaffung energetischer Felder und anderer • Was bedeutet diese Spezifizierung des Gegenstandes für die ‚Zwischenräume‘ formuliert das Theater (…) ein performatives Vermittlung: Welche Ziele und Konstellationen, welche Wissen, das nicht sprachlich übermittelt, sondern nur am eigenen Praktiken des Lehrens und Lernens gehen damit einher? Leibe erfahren werden kann.“ (Fischer-Lichte 2004: 10). In Be- zug auf die kulturelle und künstlerische Dimension von Theater Die Konstruktion und Darstellung von Wissen ist für Spiel- werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede von kulturellen Auf- leiterinnen und -leiter „tägliches Brot“ und richtet sich nach führungen im Alltag und im Theater untersucht. Damit werden den Bedingungen des sozialen Kontextes und der konkreten die Beziehung zwischen Theater und Ritual ebenso interessant wie Vermittlungssituation. Doch unter einem wissenstheoretischen das Spiel mit kulturell verbindlichen Rahmungen. Entsprechend Zugriff werden Grundlagen dieser Situation sichtbar, wie sie dem Charakter von Performance und der Auffassung, dass sich in der Wechselwirkung zwischen der Formation von Wissen performatives Wissen „nur auf dem Wege über zutiefst irritieren- und den Formatierungen von Vermittlung begründet sind. Auf de und verstörende Erfahrungen erwerben lässt“ (Fischer-Lichte, 8 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Theaterpädagogisches Wissen und gesellschaftliches Handeln. Überlegungen zu einer reflexiven Theaterpädagogik ebd.) sind didaktische Prinzipien einer auf performatives Wissen Polanyi 1966). Die kognitive Psychologie – so Polanyi – gehe ausgerichteten Theatervermittlung: Orientiertheit auf Prozesse von einer Vorstellung aus, in der Handeln ausschließlich als an- und Wirkungen, Entwicklung von Aktionen bis an ihre Grenzen gewandtes Wissen erscheine. Es gebe aber neben einem verbal sowie die Konfrontation mit Fremdem. explizierbaren Wissen ein impliztes Wissen, eine Könnerschaft, Eine performativ ausgerichtete Theatervermittlung zielt einerseits die dem expliziten Wissen nicht nachgeordnet werden könne auf die Erkundung und die Möglichkeiten der Beeinflussung und die nicht darauf zu reduzieren sei. Polanyi bringt das auf von kulturellen Aufführungen im Alltag (kulturelle Dimension) den Punkt, „dass wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen“ (zit. andererseits auf die Erforschung der Wirkungen von rezipierten n. Neuweg 2002, S. 13). bzw. produzierten künstlerischen Aufführungen (künstlerische Diese hier nur kurz skizzierten erkenntnistheoretischen Annah- Dimension). Verallgemeinert geht es dabei um das Infragestellen men haben wesentliche Konsequenzen für didaktisches Denken und Verändern von Ordnungssystemen,4 die in der Verschränkung und die Vorstellung von Lehr-, Lernprozessen. von subjektiven und gesellschaftlichen Strukturen hervorgebracht werden. Innerhalb einer auf performatives Wissen ausgerichteten Der österreichische Erziehungswissenschaftler Georg Hans Theatervermittlung werden Arbeitssituationen wie z. B. Proben Neuweg hat der Ansatz Polanyis für das Lehren und Lernen als Aufführungen konzipiert. Auf das Material bezogen geht es in komplexen Praxiskontexten fruchtbar gemacht, und daraus damit um die Erprobung von Wirkungen von Aktionen und Konsequenzen für die Professionalisierung der Ausbildung von Handlungen; auf die Spielerinnen und Spieler bezogen geht es Lehrerinnen und Lehrern gezogen. Seine Überlegungen zum um das Training einer Erfahrungsweise, die Schwellensituationen intuitiv improvisierenden Handeln und zur Könnerschaft in aushält, Fremdes weder vereinnahmt noch abwehrt und die In- komplexen Lehr-, Lernsituationen bieten zahlreiche Anknüp- fragestellung des Eigenen genießen kann (vgl. Roselt 2008: 194). fungspunkte für didaktische Überlegungen im Arbeitsfeld der Theaterpädagogik. Prinzipien wie das Lernen am praktischen 5. Überlegungen zu einem Lehr-Lernverständ- Beispiel, das Ausbilden von Wahrnehmungsfähigkeit und Ur- teilskraft, die Teilhabe an einer Expertenkultur und damit das nis aus wissenstheoretischer Perspektive Kennenlernen des virtuosen Beispiels weisen auf die Nähe zur Vermittlung ästhetischer Praxis hin. Neben der Frage nach den spezifischen Formationen des Wis- Gleichzeitig verweist Neuweg auf die Grenzen der Didaktisierung sens des Theaters stellt sich auf der Seite des Subjekts die Frage eines solchen Wissens. So kennzeichnet er implizites Wissen als nach den Besonderheiten der Wissens- und Erkenntnisformen, erfahrungsgebunden und nicht formalisierbar, da es mit dem die diesem Gegenstand angemessen sind. Damit werden – aus Eigensinn und im Kontext eines konkreten Ereignisses arbeite. didaktischer Perspektive – gleichzeitig die besonderen Lehr- und Neuweg spricht hier in Anlehnung an Polanyi auch von „Kunst- Lernmodi angesprochen, die eine handlungsorientierte ästheti- fertigkeit“ (Neuweg 2002, S. 17 f.). sche Praxis wie die theaterpädagogische kennzeichnen. Ausgegangen wird dabei von dem eingangs erläuterten Begriff Im Hinblick auf didaktischen Überlegungen in der Ausbildung des Wissens als ein Ergebnis sozialer Praktiken, das in unter- und in der Praxis der Theaterpädagogik zeichnet sich damit schiedlichen Formen vorliegen kann. noch eine andere Problematik ab, die aus dem Spannungsfeld der verschiedenen Wissensformen resultiert: Hier ist eine Anmerkung Bourdieus aufschlussreich, die er im Lässt sich implizites Wissen explizit und damit lehr- und lern- Zusammenhang mit der Erforschung der praktischen Erkennt- bar machen? nis macht: Hier bietet es sich zum einen an, in didaktischem Interesse „Man sollte die hier und da, vor allem in der Didaktik der auf künstlerisches Erfahrungswissen zurückzugreifen, auf „Be- Körperpraktiken – des Sports natürlich und insbesondere der gleit-Texte“, wie es beispielsweise Mira Sack (2011), in ihren Kampfsportarten, aber auch des Theaterspieles und des Mu- fachdidaktischen Überlegungen ausgehend von Praxishaltungen sizierens – verstreuten Notizen und Beobachtungen einmal getan hat. Eine Analyse von Künstlertheorien und Probendoku- methodisch zusammenstellen; sie würden wertvolle Beiträge zu menten im Hinblick auf das darin enthaltene Erfahrungswissen einer Wissenschaft dieser Erkenntnisform liefern“ (Bourdieu und seine Übertragbarkeit auf die Lehr-Lernkontexte der The- 1980, S. 185). aterpädagogik können dabei Hinweise für die Planung und Diese Erkenntnisform, nämlich die der praktischen Erkenntnis, Realisation theaterpädagogischer Praxis liefern. ist sowohl körperlich bedingt als auch sozial, insofern die sozi- Als Begleit-Texte können auch die dichten Beschreibungen von ale Welt im Körper einverleibt ist (Bourdieus Schrift „Le sense Probenprozessen und -produkten innerhalb der theaterpäda- pratique“ ist im Deutschen mit „Der Soziale Sinn“ übersetzt). gogischen Praxis gelten, die im Arbeitsprozess von den daran Mit dem Konzept der praktischen Erkenntnis und eines kör- Beteiligten veröffentlicht und damit expliziert werden. perlich verankerten impliziten Wissens wendet sich Bourdieu Dieses Vorgehen nennt Neuweg – mit Bezug auf Donald Schön gegen mentalistische oder intellektualistische Handlungskon- – “reflection-in-action” und beschreibt es als eine experimentel- zepte, die von einem Körper-Geist-Dualismus ausgehen und das le Handlung, in der die Handelnden als Forschende in eigener Handeln des Subjekts als Folge eines vorab gefassten, geistigen Sache auftreten und Handeln, „um zu sehen, was folgt“ (Schön, Konzepts erklären. zit. n. Neuweg 2004, S. 359). Eine andere Form der Explikation von implizitem Wissen liegt Eine solche Kritik liegt auch Michael Polanyis Konzept des „Tacit beispielsweise mit den auf CD-Rom veröffentlichten „Improvisa- knowing“ (tacit: still; knowing statt knowledge) zugrunde (vgl. tion Technologies“ der Forsythe Company vor. Sie zeigen, dass es Theaterpädagogisches Wissen im gesellschaftlichen Kontext 9

Theaterpädagogisches Wissen und gesellschaftliches Handeln. Überlegungen zu einer reflexiven Theaterpädagogik auch Versuche gibt, implizites Wissen explizit und damit vermit- Literatur telbar und archivierbar zu machen, die über eine ausschließlich Baecker, Dirk (2011): Das Theater als Trope. In: Mackert, Josef, Goebbels, sprachliche Form hinausgehen. Durch graphische Animationen Heiner, Mundel, Barbara (Hg.): Heart of the city. Recherchen werden hier Bewegungsverläufe im Raum sichtbar gemacht und zum Stadttheater der Zukunft. Berlin. dadurch sonst unsichtbares Bewegungswissen vermittelt. Bourdieu, Pierre (1980): Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt/Main. Dabei geht es in allen Fällen nicht darum ein Modell praktischen Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Frankfurt/Main. Wissens zu präsentieren, das dann transferiert und imitiert wer- Ermert, Karl (2009): Was ist kulturelle Bildung? www.bpb.de/gesellschaft/ kultur/kulturelle-bildung/59910/was-ist-kulturelle-bildung, den kann. Der Versuch implizites Wissen explizit zu machen, letzter Zugriff: 18.2.2014. erfordert immer einen Wechsel des Mediums und damit der Fink, Tobias (et al.) (o. J.): Wirkungsforschung zwischen Erkennt- Formatierung von Wissen. Die damit verbundene Produktion nisinteresse und Legitimationsdruck. http://www.forschung- von neuen Zeichen beinhaltet zugleich einen hohen Anteil von kulturelle-bildung.de, letzter Zugriff 21.2.2014. Bedeutungsoffenheit und -überschuss, womit gleichzeitig auch Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen. Frankfurt/Main. die Komplexität des Wissens steigt. Lehren und Lernen stellt sich Foucault, Michel (1973): Archäologie des Wissens. Frankfurt/Main. dann als ein Vorgang der Bedeutungskonstruktion und Um- und Hafke, Christel: ZfTPäd, Heft 55, S. 17. Neukonstruktion heraus, an dem alle aktiv beteiligt sind. Eine Höhne, Thomas (2004), Pädagogik und das Wissen der Gesellschaft. vollständige Didaktisierbarkeit beruhend auf der Vorstellung von Erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf Wissen. Giessen. http://d-nb.info/97273645x/34/, letzter Zugriff 20.2.2014. Vereindeutigung und Komplexitätsreduktion zugunsten einer Knoblauch, Hubert (2005): Wissenssoziologie. Konstanz 2. Auflage. Funktionalität des Wissens im pädagogischen Zusammenhang Knorr-Cetina, Karin (2002): Wissenskulturen – Ein Vergleich natur- („didaktische Reduktion“) läuft dem zuwider. wissenschaftlicher Wissensformen. Frankfurt/Main. Matzke, Annemarie (2012): Arbeit am Theater. Diskursgeschichte der Ebenso wäre es allerdings ein Missverständnis, ausgehend von Probe. Bielefeld. der Vorstellung des impliziten Wissens eine rein praktizistische Meyer, Thorsten (2008): Wissensformation und -formatierung. In: Weitergabe von Wissen zu propagieren, wie Neuweg ausdrücklich Valk, Rüdiger (Hg.), Ordnungsbildung und Erkenntnisprozes- betont. Auch eine Nivellierung von Theorie und Praxis sei auf se. http://hup.sub.uni-hamburg.de/volltexte/2008/65/chapter/ dieser Basis nicht zu begründen. Es gehe ihm vielmehr um das HamburgUP_Ordnungsbildung_Meyer.pdf, letzter Zugriff 18.2.2014. Differenzieren von Theorie und Praxis als eine „Kultur der Dis- Neuweg, Georg Hans (2002): Lehrerhandeln und Lehrerbildung im tanz“ und eine „Kultur der Einlassung“ und um die Spannung, Lichte des Konzepts des impliziten Wissens. In: Zeitschrift für die zwischen Wissenschaft und Könnerschaft aufrechtzuerhal- Pädagogik, Jg. 48, Heft 1, S. 10–29. ten sei. An dieser Stelle zwischen Distanznahme und Einlassung Neuweg, Georg Hans (2004): Könnerschaft und implizites Wissen. lässt sich Neuweg zufolge „Bildung“ verorten und damit auch Zur lehr-lerntheoretischen Bedeutung der Erkenntnis- und der Anspruch der Universität an eine akademische Ausbildung Wissenstheorie Michael Pollanyis. 3. Auflage. Münster. festmachen. Neuweg, Georg Hans (2011): Distanz und Einlassung. Skeptische „Erst der Abschied von der Vorstellung, Wissen könne oder sol- Anmerkungen zum Ideal einer „Theorie-Praxis-Integration“ le unmittelbar handlungsleitend sein, bringt die Tätigkeit des in der Lehrerbildung. In: Erziehungswissenschaft 23 (2011) 43, S. 33–45. Studierens wieder als das in Stellung, was sie eigentlich ist: ein Polanyi, Michael (1966), Implizites Wissen. Frankfurt/Main. abständiges Betrachten, Sezieren und Verstehen, das am Maß- Roselt, Jens (2008): Phänomenologie des Theaters. München. stab des Nützlichen nicht abgetragen werden kann“ (Neuweg Sack, Mira (2011): spielend denken. Theaterpädagogische Zugänge zur 2011, S. 42). Dramaturgie des Probens. Bielefeld. Streisand, Marianne (2005): Für eine Archäologie der Theaterpädagogik. Anmerkungen In: Streisand/Hentschel/Poppe/Ruping (Hg.), Generationen im Gespräch. Archäologie der Theaterpädagogik I. Milow, 1 Von einem wissenssoziologischen Standpunkt aus, ist jede Gesellschaft S. 434–449. eine Wissensgesellschaft, insofern sie auf einem auf einem kulturellen Wis- Tänzler, Dirk/Knoblauch, Hubert/Söffler, Hans-Georg (Hg.) (2006): sensvorrat beruht, der produziert, gespeichert und weitergegeben wird (vgl. Zur Kritik der Wissensgesellschaft. Erfahrung –Wissen – Ima- Tänzler/Knoblauch/Söffler 2006, S. 8). gination. Konstanz. 2 Mit den Worten von Karin Knorr-Cetina geht es darum zu thematisieren „wie wir wissen, was wir wissen“ (Knorr-Cetina 2002, S. 11). 3 Inszenieren bezieht sich nach Annemarie Matzke „auf eine Außenposition mit der Funktion, die verschiedenen szenischen Elemente in ein Verhältnis zu setzen und Darstellungsstrategien zu erarbeiten.“ (Matzke 2012, S. 102) 4 Jens Roselt beschreibt dies als (allgemeine) Wirkungsstrategie von Auf- führungen: „Theaterwissenschaftlich kann man sagen, dass Aufführungen Krisensituationen etablieren, in denen ihre Ordnung destabilisiert wird, indem Konventionen und Erwartungen in Frage gestellt werden und die schließlich zur Bestätigung oder Erweiterung tradierter Normen führen“ (Roselt 2008, S. 134). 10 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Internationales JugendKunst- und Kulturhaus Schlesische27, Fotos: © Anita Fuchs Theaterpädagogisches Wissen im gesellschaftlichen Kontext 11

Kunst als Projekt und als Verschwendung – zum Verhältnis von Theater und Ökonomie Barbara Gronau

Wenn wir vom Theater sprechen, befinden wir uns mitten Ich möchte dies im Folgenden anhand von zwei Fragen ausfüh- im Feld des Ökonomischen. Auch wenn mit den Autono- ren, die mich in den letzten Jahren begleitet haben: miebestrebungen der Kunst seit 1800 eine Loslösung aus den 1. Wie kommt es, dass wir nicht mehr an Werken arbeiten, sondern direkten Abhängigkeiten des feudalen Mäzenatentums einsetzt, nur noch an Projekten? befreit sich die Kunst doch keineswegs daraus.1 Die Idee des 2. Warum ist die Verausgabung eines der zentralen künstlerischen Nationaltheaters im 18. Jahrhundert zielte gerade darauf, eine Ausdrucksmittel der Gegenwart? Kunstform zu institutionalisieren, die die Werte des Bürger- Während die erste Frage den Stellenwert des Ökonomischen tums verbreitet und „bewirbt“. Diese Investition in eine „gute für die Produktionsform Theater in den Blick nimmt, zielt die stehende Schaubühne“2 – so der Ausdruck Schillers – ist ei- zweite Frage auf die dem Darstellungsvorgang immanenten öko- ne Investition in die Moral und Bildung der Gesellschaft. Je nomischen Verhältnisse. klarer ein Haus heute die Fragen nach seinem Zweck, seinen Möglichkeiten und seiner Selbstdefinition beantworten kann, Logik des Projekts desto eher hat es die Chance, im allgemeinen Kampf um öf- fentliche Gelder bedacht zu werden. Die finanzökonomischen Am 21. Juni 1775 wandert Johann Wolfgang Goethe – das Investitionskriterien leiten sich heute vor allem aus dem wide- schweizerische Andermatt im Rücken – auf den Gotthardpass rerkennbarer Stil und der öffentlichen Wirkung eines Theaters zu. Zwischen engen Schluchten und nackten Felsen zückt der ab. Geld ist hier der Effekt einer „Ökonomie der Aufmerksam- junge Dichter sein Notizbuch und notiert darin den lakonisch keit“3. zu nennenden Satz: „Sauwohl u[nd] Projeckte.“7 Bis heute scheint Goethes emphatische Formel nichts von ihrer Eine weitere Feldmarke des Ökonomischen ist das Eintrittsgeld: Gültigkeit eingebüßt zu haben: Das Projekt ist das Glücksver- In dem Moment, da wir als Zuschauer ein Ticket erwerben, voll- sprechen des modernen Menschen. An Projekten zu arbeiten ziehen wir eine Geste des ökonomischen Tauschs. Diese besagt: und von ihnen zu erzählen, ist eine Wette auf die Zukunft, kein Erfahrungen kann man kaufen. Das Ticket markiert zugleich Werk sondern ein Werden, ein Tun im Zustand der Potentialität. den symbolischen Übertritt von der Alltags- zur Kunstwelt und Dieses In-der-Schwebe-Sein lädt das Projekt mit Sehnsüchten den darin geltenden Regeln. Zu den seltenen Fällen, in denen auf und rückt es in die Nähe des Utopischen. Künstler diesen Tauschakt reflektieren und zum Gegenstand Der Künstler Armin Chodzinski formuliert treffend: „Alle ar- ihrer Aufführung machen, gehört die slowenische Gruppe Via beiten an Projekten. Immer. Angestellte arbeiten an Projekten. Negativa in ihrer Inszenierung Incasso.4 Hier spielen die Perfor- Politiker auch. Straffällig gewordene Jugendliche arbeiten in Pro- mer mit dem an der Rampe eingesammelten Eintrittsgeld ihrer jekten. KulturproduzentInnen arbeiten immer und ausschließlich Zuschauer, indem sie es aufessen, mit ihrem Blut markieren oder an oder in Projekten. Manche meiner Freunde wohnen in Pro- zu Kunstwerken umgestalten, die wiederum vom Publikum er- jekten. Der Sozialismus ist ein Projekt. Bildung ist ein Projekt, steigert werden können. Ihr kompromissloser Umgang mit dem, Stadtentwicklung, Integration, die Spice Girls, die No Angels, was man die „Bedingungen des Spiels“ nennen kann, erinnert Take That auch. Britney Spears? Vielleicht! Alle, die nicht in nicht nur an die brechtsche Vorgabe, Theater als Kolloquium Projekten arbeiten, sind arbeitslos und asozial. Die sind nicht gesellschaftlicher Zustände zu begreifen, sondern spiegelt auch erwerbslos oder uninteressiert, die sind richtig arbeitslos – mit die zeitgenössische Abhängigkeit bzw. Prekarisierung der künst- sozialer Ausgrenzung, identitärer Dekonstruktion, Parasitensta- lerischen Theaterberufe wieder. tus und all dem – nicht beteiligt, das Gemeinwesen verachtend, problembesetzt [...] – oder sie sind Beamte, das geht auch, im Es wäre aber zu kurz gedacht, das Ökonomische nur auf die Moment noch. Was aber ist ein Projekt? Arbeitet man in oder finanzwirtschaftliche Dimension zu reduzieren. Denn „die Öko- an Projekten? Oder arbeitet man da gar nicht, braucht es da ein nomie handelt“ – wie wir von Marx und Engels wissen – „nicht anderes Verb, vielleicht: projekten?”8 von Dingen, sondern von Verhältnissen zwischen Personen“5. Sie beschreibt die Abhängigkeits- und Transformationsverhältnisse Der Begriff des Projekts leitet sich ab von dem lat. Partizip innerhalb einer Kultur. Das Ökonomische ist ein Regulierungs- projectus und bezeichnet ein „Vorhaben“ und dessen „Plan“ wissen – so Giorgio Agamben – dessen „Ziel es ist, das Verhalten, oder „Anschlag.“9 Seine Bedeutung umfasst jedoch sowohl das die Gesten und die Gedanken der Menschen zu verwalten, zu progressive Vorwerfen und Hervortreten lassen, als auch das regieren, zu kontrollieren und in vorgeblich nützliche Richtun- resignierende Hinwerfen in entsagender oder kapitulierender gen zu lenken.“6 Absicht. Man kann also sagen: „In der Bezeichnung ‚Projekt‘ Nach dem Ökonomischen im Theater zu fragen, heißt deshalb liegt das Scheitern bereits etymologisch verankert vor.“10 sowohl nach Arbeits- und Produktionsprozessen zu fragen, als Wie der Kulturwissenschaftler Markus Krajewski in seiner Studie auch den Umgang mit den dabei verwendeten Ressourcen zu über den Projektemacher gezeigt hat, erblüht das Projektwesen analysieren. stets aus wirtschaftlichen und epistemologischen Krisen.11 12 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Kunst als Projekt und als Verschwendung – zum Verhältnis von Theater und Ökonomie

Unter dem Motto: “Public Good, [...]Privat Advantage”12 gibt in geradezu symptomatischer Weise eine zeitgenössische künst- der Projektemacher vor, durch ungewöhnliche Strategien zu lerische Tendenz formuliert ist: die Sehnsucht nach radikaler neuen, der Wohlfahrt dienenden Lösungen zu kommen Der Verausgabung.19 Von den kompromisslosen Selbstkasteiungen Projektemacher so Krajewski, ist das „Symptom einer [...] he- Marina Abramovićs, über die stampfenden Chöre Einar Schleefs rannahenden new economy, dann ihr [...] Aushängeschild und bis hin zu den überbordenden Szenarien Christoph Schlingen- schließlich ihr Verweser.“13 siefs reicht die Palette theatraler Verausgabungsgesten in den Zur Finanzierung der Projekte werden bald nicht mehr bloß vergangenen Jahrzehnten. Sie umfasst finanzielle, materielle und Könige und Fürsten sondern mehrere investitionsfreudige Bür- physische Formen und trägt Züge eines Prozesses, den Georges ger herangezogen, denen man einen Teil der Idee in Form einer Bataille als „Schöpfung durch Verlust“ 20 bezeichnet hat. Aktie verkauft. Aber: Das Projekt ist mehr als eine ungewöhnli- So warf etwa Christoph Schlingensief bei seiner 1999 durchge- che Wirtschaftsstrategie. Es ist auch die Antwort auf ein instabil führter Aktion Rettet den Kapitalismus, schmeißt das Geld weg!, gewordenes Wissenssystem. Der Projektemacher ist ein „Anti- einen Teil seines Produktionsetats in Höhe von 1000,- DM aus Akademiker“14 der sich gegen die Institutionen stellt, um seinen einem Hubschrauber über der Stadt Graz in die Luft; 21 trieb Einar eigenen obskuren Plänen nachzugehen. Projekte operieren an Schleef im Sportstück seinen Sprechchor in ein neunundvierzig den Rändern des gesicherten, kanonisierten Wissens – und das Minuten anhaltendes rhythmisches Exerzitium der Stimmen macht sie zu offenen Erkenntnisformen. Ihre „selbstgewählte und Körper; 22 führte Hermann Nitsch im Prinzendorfer 6-Tage Aufgabe besteht darin, das Undenkbare zu behaupten, um das Spiel Akteure und Zuschauer „zu einem orgiastischen, sado- Unmögliche realisierbar zu machen.“15 Mir scheint, genau dar- masochistischen ausreagieren“23; trank sich die Darstellerin Ilia in liegt ihre Modellform für künstlerische Zusammenhänge: Im Papatheodorou in She She Pops Bad vor den Augen des Pub- Unterschied zum Plan oder zum Werk, steht das Projekt für eine likums in einen hemmungslosen Tequila-Rausch24 und fuhren noch ungewisse Form der Zukunft. Das genau ist das Merkmal Marina Abramović und Ulay in Relation in Movement sechzehn der Theaterarbeit, genauer gesagt der Probe, für die Annemarie Stunden mit einem leeren Kleinlaster im Kreis.25 Woher rührt Matzke treffend reklamiert: diese zeitgenössische Tendenz zur Verausgabung? „[D]ie Arbeit am Theater [ist] [...] immer auch eine Inves- Zunächst einmal ließe sich festhalten, dass jede Produktion oder tition in eine ungewisse Zukunft. Material und Arbeitskraft Arbeit – also auch die künstlerische Darstellung – Verausgabung müssen eingesetzt werden, ohne dass man weiß, wie das ist. Gelder und Materialien, aber auch physische, mentale und Ergebnis genau aussehen wird, und mit der Gefahr, die lebenszeitliche Ressourcen werden dabei verbraucht. Das Be- eingesetzten materiellen Aufwendungen zu verlieren. Die- sondere der ästhetischen Ökonomie liegt jedoch im prekären se Offenheit des [Theater-] Prozesses steht im Gegensatz Status des künstlerischen Produkts: Auch wenn sein Wert auf zu anderen Formen des Produzierens in der Arbeitswelt, dem Kunstmarkt hoch sein kann, wird doch sein Gebrauchswert in denen die Standardisierung der Arbeitsvorgänge die für die lebensweltliche Praxis als äußerst gering eingestuft. Jede Herstellung eines bestimmten Produktes garantiert [...] künstlerische Praxis trägt damit den Charakter der ‚unprodukti- Auch wenn jede Investition ein Risiko birgt, so potenziert ven Verausgabung‘. Dieser verstärkt sich in dem Maße, wie sein sich dieses Risiko am Theater [...] [weil es] immer auf das Produkt – das Werk – in den Hintergrund tritt. Was bis weit ins Publikum als Mitproduzenten angewiesen und diesem 20. Jahrhundert als ‚Schöpfung‘ oder ‚Meisterstück‘ am Ende der zugleich ausgesetzt [ist].“16 ästhetischen Selbstausbeutung stand, wird heute zusehends in performative Prozesse aufgelöst. Übrig bleibt – so meine These Im und an Projekten zu arbeiten, heißt also nicht nur neue, un- – die quasi ‚zwecklos‘ gewordene Verausgabung, die nun selbst gewisse Ökonomien zu erproben, sondern bedeutet auch, die als ästhetisches Potential fungiert. Mit investigativen, experi- Welt mit neuen Möglichkeiten aufzuladen. Beides ist Wesens- mentellen und spielerischen Verfahren suchen zeitgenössische kern des Theaters. Künstler dieses Potential zur Darstellung zu bringen.

Logik der Verausgabung Ich möchte dieses künstlerische Verfahren an einem Beispiel aus meiner kuratorischen Praxis erläutern, nämlich dem Stück Op Einhundertzwanzig kleine weiße Pappteller, wie sie zum Ser- eigen Kracht (Aus eigener Kraft) der niederländischen Gruppe vieren von Würstchen und Kuchen benutzt werden, hat Joseph Schwalbe, das 2010 im Rahmen des Festivals Entropia im Radi- Beuys im Jahr 1978 mit dem Satz beschriftet: „Ich ernähre mich alsystem gezeigt wurde. durch Kraftvergeudung.“17 Angesichts eines Œuvres, das mit In dieser – als CO2-neutrale Aufführung deklarierten Perfor- Hunderten von Plastiken, Zeichnungen, Wandtafeln etc. an Um- mance – betreten acht Darsteller die komplett verdunkelte, fang seinesgleichen sucht, liest sich der Satz wie das Bekenntnis kalte Bühne und ziehen sich dort bis auf ihre Second Hand eines notorischen workaholic. Auch wenn die hier formulierte erworbene Unterwäsche aus. Man hört das leise Surren von Idee des Perpetuum mobile als Sinnbild künstlerischer Arbeit Pedalen und einen Moment später flutet gleißendes Licht aus unter spätkapitalistischen Produktionsbedingungen taugen mag, einem starken Schweinwerfer auf die Darsteller. Acht Männer so wissen wir doch aus dem Physikunterricht, dass solche Ma- und Frauen sitzen auf Hometrainern verschiedener Größe und schinen zu den rein phantasmatischen Konstrukten ehrgeiziger Bauart und strampeln in atemberaubender Weise wortlos und Naturwissenschaftler zählen. Eine Ernährung qua Vergeudung mit fokussiertem Blick auf das Publikum was ihre Beinmuskeln ist schlichtweg unmöglich.18 hergeben. Die so erzeugte Kraft fließt aus den Sportgeräten di- Wenn ich trotzdem Beuys’ paradox anmutenden Satz zum Aus- rekt in den Schweinwerfer, der die Szenerie nicht nur erleuchtet, gangspunkt meiner folgenden Überlegungen wähle, so weil hier sondern herstellt. Zu hören ist nur das hohe Quietschen, Sur- Theaterpädagogisches Wissen im gesellschaftlichen Kontext 13

Kunst als Projekt und als Verschwendung – zum Verhältnis von Theater und Ökonomie ren und Scheppern der aufgereihten Fitnessgeräte. Wenn der „Entropie“ – bekannte Einsicht hat sowohl zu Phantasien über Voyeurismus auf die halbnackten Darsteller abgeebbt ist, wird den „Kältetod“ der Erde als auch zum zeitgenössischen Ruf nach schnell klar, dass hier nichts weiter zu sehen ist, als die kollektive Sparsamkeit und „Nachhaltigkeit“ geführt. Im Theater der Ge- Verausgabung von acht durchschnittlich trainierten Schauspie- genwart zeigt sich jedoch oft das genaue Gegenteil: Prozessualität, lerkörpern. „Niemand steigt vom Rad [...] und das Tempo bleibt Chaos und Verschwendung werden hier nicht als Bedrohung, hoch. Aus dem gemeinsamen Warmstrampeln [...] ist längst ein sondern als integrale Bestandteile von Produktivität verstanden. zäher Marathon geworden.“26 Ob es sich dabei um die Arbeit an einem „energetischen Tänzer- Je länger diese Szene anhält, desto unangenehmer wird einem körper“, um die Auflösung werkhafter Strukturen oder um die jedoch die eigene Position. Schon zeigen die Darsteller Anzeichen Inszenierung von chaotischen Zufällen handelt, stets eröffnet nachlassender Kräfte: rotglühende Oberschenkel, große Bäche das Energetische ein Spiel mit den Grenzen von Effizienz und von Schweiß, nach rechts und links taumelnde Oberkörper. Hier Kontrolle. Die Art der hier vorgeführten Handlungen lässt sich wird sich für unser Vergnügen buchstäblich ‚abgestrampelt‘ und als ‚hingebungsvolle Verausgabung‘ bezeichnen. Sie zeigt sich als das fast eine Stunde lang. Spätestens wenn der Standscheinwer- Verlust von Kraft oder Virtuosität. Sie ereignet sich, wie man mit fer eine Runde durch den Raum dreht und nunmehr gleißendes Georges Bataille sagen könnte, als „exzessive Lust am Verlust.“28 Licht auch auf die Zuschauer senkt, fühlt man sich selbst auf unangenehme Weise in den Fokus gerückt. Der Wegfall von Anmerkungen Narration, Figuren, Plot usw. wirft uns auf die nackte Ebene der theatralen Ökonomie zurück: Leistung gegen Geld zu tau- 1 Jedes Theater ist nicht nur ein künstlerisches, sondern auch ein schen. Mit jedem Darsteller, der am Ende seiner Kräfte seinen wirtschaftliches Unternehmen. Das gilt nicht nur bei glücklichen Spiel- Hometrainer verlässt, wird denn auch das Licht schwächer. Im stättenneugründungen, wie sie (ausgelöst durch die Einführung der quälenden Finale hält der/die letzte Darsteller/in den eigenen Gewerbefreiheit) um 1900 besonders zahlreich waren; sondern auch bei Körper wie einen Leuchtturm gegen die sich ausbreitende Dun- zahleichen Schließungen der Stadttheater, die unsere Kulturlandschaft seit den 1990er Jahren immer wieder erschüttern. kelheit – bis auch diese Energiequelle verlischt. 2 Friedrich Schiller: Werke, Nationalausgabe Band XX, 1, Weimar Das zeitgenössische Theater hat ein ganzes Arsenal von Gesten 1962, Seite 92–100. entwickelt, in denen der Körper sich durch exzessive Bewegun- 3 Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, Mün- gen sichtbar energetisch verausgabt: langes, ausdauerndes Stehen chen 2007. ohne sich zu rühren, das Halten des Körper im Ungleichgewicht, 4 Vgl. Adriana Ferfila: “Via Negativa – Experimental Performance” rhythmisches Stampfen und Schreien, aber auch Rennen, Klet- unter: http://vntheatre.com/en/via-negativa-experimental-performance/ tern, Rutschen oder Tanzen bis zur völligen Erschöpfung. (Zugriff. 2.1.2014). Damit bricht es mit der Handlungsökonomie des sogenannten 5 Friedrich Engels, „Karl Marx, ‚Zur Kritik der Politischen Ökonomie‘“, bürgerlichen Theaters, denn bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Erstes Heft, Berlin, Franz Duncker, 1859, in: Karl Marx/Friedrich Engels: war es verpönt, physische Anstrengung auf der Bühne sichtbar Werke, Band 13, Berlin 1961, S. 468–477, S. 476. werden zu lassen. Als bewunderungswürdig galt ein Stil der Mü- 6 Giorgio Agamben: Was ist ein Dispositiv?, Zürich 2008, S. 24. helosigkeit und der Kontrolle. Dagegen scheint es heute darum 7 Johann Wolfgang von Goethe: Tagebuch/Schweizerreise 1775, zit. n. zu gehen, dem Publikum zu zeigen, dass bei der Darstellung Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde. Landschaft, Ge- Energie umgewandelt, sprich dass hier gearbeitet wird. steine, Mineralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk, Weimar Mit dem Verschwinden der körperlichen Arbeit in der heuti- 2003, S. 12. gen Dienstleistungsgesellschaft wird – so meine These – die 8 Armin Chodzinski in: „Palast der Projekte. Zum Verhältnis von The- Anstrengung in den Bereich der Kunst übertragen. In der Sehn- ater und Ökonomie“, Zeitschrift des gleichnamigen Theaterfestivals im Hebbel-am-Ufer 2008, S. 3. URL: http://www.archiv.hebbel-am-ufer.de/ sucht nach radikaler Verausgabung liegt eine symptomatische media/TAZBeilage.pdf (Letzter Zugriff 01.09.2013). Verschiebung der Arbeitsgeste vom Sozialen ins Ästhetische. 9 Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Siebenter Band, Die künstlerische Funktion der Verausgabung scheint mir ei- Leipzig 1889, Sp. 2163, zit. n. Markus Krajewski: „Über Projektemache- ne doppelte zu sein: sie kehrt die Logik des homo oeconomicus rei. Eine Einleitung“, in: Ders. (Hg.): Projektemacher, Berlin 2004, S. 11. um, die auf „Knappheit, Mangel, ein unendliches Streben und 10 Krajewksi, ebd. produktive, konsumtive Arbeit“27 ausgerichtet ist, und hält ihr eine Feier des (Sich-)Verlierens und Verausgabens entgegen. 11 „Die Konjunktur der Projektemacherei ist eine Antwort auf die Kri- se des Staates und seiner unsicheren ökonomischen Situation.“, Krajewski, Darüber hinaus ist das Theater hier selbst ein Forschungslabor, ebd., S. 18. bei dem Verlauf und Grenzen der körperlichen Leistungs- und 12 Daniel Defoe: An Essay upon Projects, New York 1697, S. 15, zit. Leidensfähigkeit untersucht werden; die Materialität des Körpers n. Krajewski, ebd. oder der Stimme spielerisch erprobt und die Wirkungen auf das Publikum getestet werden. Dieses Theater evoziert ästhetische 13 Krajewski, ebd., S. 19. Erfahrungen, die über den Körper verlaufen. Man selbst ver- 14 Krajewski, ebd., S. 23. lässt die Vorstellung der Gruppe Schwalbe irgendwie erschöpft. 15 Krajewski, ebd., S. 24. 16 Annemarie Matzke: Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Damit ist die Frage nach der Ökonomie hier eine Frage nach Probe, Bielefeld 2012, S. 165. der Energie im Theater. Jede Verwertung von Energie geht zu- 17 Joseph Beuys: Ich ernähre mich durch Kraftvergeudung, (1978) gleich mit deren Entwertung einher, die Summe energetischer Pappteller, beschrift. 12 x 18 cm. Auflage: 120 + 10 a. p. Signiert und Quellen nimmt mit der Zeit ab. Diese – unter dem Schlagwort nummeriert, Werkverzeichnis der Galerie Multiple Box Hamburg: Nr. 284. 14 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Kunst als Projekt und als Verschwendung – zum Verhältnis von Theater und Ökonomie

18 Zur Geschichte und Problematik des Perpetuum mobile siehe Perti- gen, Eno: Der Teufel in der Physik. Eine Kulturgeschichte des Perpetuum mobile, Berlin 2000. 19 Der Text folgt hier in Teilen meinen Ausführungen in: Barbara Gro- nau „Ich ernähre mich durch Kraftvergeudung – künstlerische Strategien der Verausgabung“ in: Weiler, Roselt, Risi (Hg.): Strahlkräfte. Festschrift für Erika Fischer-Lichte, Berlin 2008, S. 149–164. 20 Georges Bataille: Die Aufhebung der Ökonomie, München 1985, S. 15. 21 Christoph Schlingensief und Johannes Stüttgen: Zum Kapital, Wan- gen/Allgäu 2000, S. 54 f. 22 Siehe dazu u. a. die Beiträge von Doris Kolesch und Ulrike Haß in: Transformationen. Theater der Neunziger Jahre, hrsg. v. Erika Fischer-Lich- te, Doris Kolesch, Christel Weiler (Recherchen 2), Berlin 1999, S. 57–82. 23 Hermann Nitsch: „text über das o. m. theater“, URL: http://www. nitsch.org/ (Letzter Zugriff 01.09.2013). 24 Siehe dazu: Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater, hg. v. Erika Fischer-Lichte, Barbara Gronau, Sabine Schouten, Christel Weiler (Recherchen 33), Ber- lin 2006, S. 24 f. 25 Marina Abramović: Artist body, hg. v. Toni Stooss, Kat. Ausst. Kunst- museum Bern, Milano 1998, S. 166 f. 26 Boris Alexander Knop, „CO2-neutral zur Erschöpfung“, URL: http:// www.labkultur.tv/blog/verdammter-warmstrampelmarathon-0 Oktober 2010 (Letzter Zugriff 01.09.2013). 27 Joseph Vogl: „Fausts Arbeit“, in: Anthropologie der Arbeit, hg. v. Ul- rich Bröckling, Eva Horn, Tübingen 2002, S. 17–34, S. 33. 28 Gerd Bergfleth: Theorie der Verschwendung. Einführung in Georges Batailles Antiökonomie, München 1985, S. 14. Theaterpädagogisches Wissen im gesellschaftlichen Kontext 15

Sei kreativ! Biopolitische Verflechtungen zwischen Kunst, Leben und Arbeit im Postfordismus. Ein Rückblick1 Gabriele Klein

“Perform Performing” heißt eine Trilogie, in der sich der Tänzer hinterlassen keine Nachhaltigkeit. Labor betreibt man, um das und Choreograf Jochen Roller mit der Frage auseinandersetzt, basale Leben zu ermöglichen. The Human Condition, zu der La- ob sich Tanz als Arbeit beschreiben lässt. Die Leitidee: Eine Per- bor in Beziehung steht, ist das schier biologische Dasein. Work, formance ist auch nur eine Ware. Im ersten – und wohl (auch die zweite Form der Arbeitsaktivität, hat einen Anfang und ein ökonomisch) erfolgreichsten Teil mit dem Titel “No Money, No Ende. Sie hinterlässt ein dauerhaftes Artefakt. Die spezifische Love” (Premiere November 2002, Podewil Berlin) thematisiert Human Condition, mit der work korrespondiert, ist die Welt. Roller das Verhältnis von Arbeit und Beruf. Angesichts unzurei- Im zweiten Teil der Trilogie, „Art Gigolo“ (Premiere April 2003, chender staatlicher Fördermittel, die ihm seine Existenzbasis als Kampnagel Hamburg), hinterfragt Roller die gesellschaftliche Künstler garantieren könnten, übernimmt er diverse Jobs. Nur Relevanz von Tanzkunst, die als Begründung staatlicher Kul- durch diese Arbeit kann er seinen Beruf als Tänzer ausüben. turförderung dient. Lohnt sich Kunst? Rollers Antwort lautet: Arbeit (eng. ‘labor’) definiert nach Zeiteinheiten, so zeigt Rol- nein. Zumindest nicht im Sinne ökonomischer Kapitalverwer- ler, produziert Ablenkung. Arbeitszeit definiert den Begriff der tung. Kunst, so sein Credo, lässt sich nicht ökonomisieren. Die Arbeit neu: Arbeitszeit ist das, was während der Arbeit passiert Konsequenz aus dieser Erkenntnis ist die Figur des Künstlers als – und dies kann auch mal, dem Job entfremdet, das Proben für ‚Art Gigolo‘, der das gesellschaftliche Bedürfnis nach Kunst nicht eine Performance sein. als Arbeit begreift sondern aus Liebhaberei befriedigt. Künstle- Roller thematisiert in dem Stück die prekären Lebensbedingun- rische Arbeit wird hier zur Nicht-Arbeit. Roller folgt mit dieser gen eines freischaffenden Künstlers, der sich den Tanz nur leisten Kunst-Figur des ‚Art Gigolo‘ den Pfaden historischer literarischer kann dank vieler anderer Jobs: als T-Shirt-Zusammenleger bei Figuren, die auf verschiedene Art und Weise das Verhältnis von H&M, als Callcenter-Agent bei der Deutschen Bahn, als Mit- Arbeit, Beruf und Leben gestalten: Romantische Taugenichtse arbeiter eines Escort-Service, als Fahrradkurier, Briefzukleber wie beispielsweise Oblomow oder Bartleby, Bohemiens wie Os- und Verkäufer von Bauchmuskeltrainern. Roller rechnet seinen car Wilde oder Müßiggänger wie in Marcel Prousts Romanen. Zuschauern ganz genau vor, was er mit all den Jobs verdient hat und was ihn sein Beruf, nämlich die Produktion von Tanz kostet; er überschlägt, wie viele Shirts er bei H&M falten muss, um sich eine Minute Tanz leisten zu können. Die Anregungen seines Tanzes stammen aus den Arbeitsabläufen seiner Jobs. Wie er während der Arbeitszeit für eine Tanzperformance proben kann, führt er dem Publikum vor: “No Money, No Love” ist eine Performance, in der ein Tänzer andere Berufe performt, er tanzt – mit Hannah Arendt gesprochen – das Verhältnis von Labor and Work. Labor beschreibt Arendt in The Human Condition 2 als eine der drei fundamentalen Formen von menschlicher Akti- vität, die das formen, was sie vita activa nennt: Labor, Work und Production. Labor ist repetitiv, niemals endend, ihre Produkte

Filmadaption ‚Oblomov‘ von Ivan Gontcharov durch Nikita Mikhalkov (1980). http://cf2.imgobject.com/t/p/original/4TAq9pSxzBdoJvpmC42T6aBnagC.jpg

Im dritten Teil der Trilogie, “That’s the way I like it” (Premiere Saarbrücken 2004), stellt Roller die Frage nach der Zukunft der Kunst in neoliberalen Gesellschaften. Welche „Technologien eines unternehmerischen Selbst“ braucht der Künstler, wenn er einer- seits den Produktionsverhältnissen des kapitalistischen Marktes ausgesetzt ist, andererseits aber die gesellschaftliche Nachfrage nach Kunst nachlässt? Rollers Antwort ist: Die künstlerische Ar- beit des Performers geht selbst in eine Work Performance über, bei der die Schaffung von Mehrwert an symbolischem Kapital entscheidend für die Existenz des Künstler-Subjekts ist. Das Jochen Roller mit Flipchartt. Aus der Performance No Money, No Love künstlerische Format dafür wird die Lecture Performance, die den (2002). www.jochenroller.de Prozess des künstlerischen Arbeitens selbst ausstellt und damit 16 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Sei kreativ! Biopolitische Verflechtungen zwischen Kunst, Leben und Arbeit im Postfordismus. Ein Rückblick das künstlerische Schaffen als Arbeitsprozess legitimiert. Der Künstler erscheint hier als eine alle Lebens- und Arbeitsbereiche umfassende Selbst-Schöpfungs- und Verwertungskette. Die zwischen 2002–2004 erarbeitete und in jener Zeit provokante Trilogie um die Frage nach einer Anthropologie der künstleri- schen Arbeit beerdigt Roller konsequent auf einem Kunstevent – der idealen Plattform zur Generierung symbolischen Kapitals – und nicht nur das. Nachdem er das Stück knapp 150 Mal in 12 Ländern gespielt und damit nicht nur symbolisches Kapital angehäuft hatte, das ihn zu einem international anerkannten Künstler machte, zeigt er es zur Eröffnung des Internationalen Sommerfestivals der Kulturfabrik Kampnagel im August 2009 das Stück “No Money, No Love” zum letzten Mal – und ‚ver- silbert‘ es danach. Roller versteigert die Performance an die zur Festivaleröffnung geladenen Ehrengäste in der noblen Hamburger Handelskammer, dem ökonomischen Machtzentrum der wohlha- benden Hansestadt Hamburg. Ein ideales Environment also für die Auktion: Eine geladene Auktionatorin von Sotheby ruft etwa Maarten van Heemskerck, Allegorie der Arbeit, 1571. zehn Gegenstände auf, darunter nichts, was materiell wertvoll ist. http://www.bilder-der-arbeit.de/Museum/Seiten/VM-HS2.html Versteigert wird z. B. ein Hello-Kitty-Koffer, der 147-Mal auf der Bühne war und, wie Roller sagt, „eine Performancegeschichte hat“. Dieser Text schlägt deshalb bei der Frage der Bindung von Kre- Diese kann man ersteigern, meint Roller. Ebenso im Angebot: ativität an Arbeit im Postfordismus eine historische Perspektive eine Tonbandaufnahme des Beifalls einer Aufführung, die alte ein. Er skizziert die Denkfiguren, die das Konzept der Arbeit an ausgebeulte grüne Adidashose, die er bei den Auftritten trug (sie die „Menschwerdung des Menschen“ binden. Sie werden damit wird für 500 Euro ersteigert) und ein Flipchart mit Flightcase, an jene Subjektivierungsprozesse der Moderne gekoppelt, die die vom Transport voller Dellen und Sticker von Fluggesellschaften, Vergesellschaftung des Subjekts als Individualisierung verstehen. die Roller zu den verschiedenen Aufführungsorten geflogen ha- Es sind Theoriefiguren, die den Diskurs über Arbeit auch im 21. ben. „Der sieht aus wie eine Skulptur“, heißt es. Ergattern lässt Jahrhundert bestimmen. Diese Beständigkeit des Diskurses über sich auch die Lizenz für Rollers einminütige Choreografie “being das Verhältnis von Arbeit, Leben und Kunst scheint im Wider- christina aguilera”: Der Höchstbietende erhält eine Videoauf- spruch zu stehen zu den Verlautbarungen, die seit dem Ende zeichnung und eine Unterrichtsstunde, in der Roller ihm die des 20. Jahrhunderts das Ende der Arbeit verkünden oder zu Bewegungen beibringt. Fortan darf der „neue Eigentümer“ der jenen Positionen, die Arbeit als zentrale gesellschaftliche Struk- Choreografie damit auftreten. Der Erlös der Auktion geht an einen turkategorie der Arbeitsgesellschaft durch Kommunikation, der jungen Künstler, damit dieser eine Performance für das nächste zentralen Strukturkategorie der Mediengesellschaft ersetzt sehen. Sommerfestival erarbeiten kann. Auflage: die Performance muss Es zeigt sich aber, dass die zeitgenössischen Deutungsmuster von sich zeitökonomisch in einem Satz beschreiben lassen. Arbeit, die sich seit dem 16. Jahrhundert entwickelt haben, nach Die Auktion markiert das Ende, den totalen Ausverkauf der Per- wie vor soziale Wirkmächtigkeit haben, insbesondere auch dort, formance. Gleichzeitig behauptet sie Performance als Werk. Und wo es um die Kreativität der Arbeit geht. schließlich stellt sie die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem wahren Charakter und dem Warencharakter, dem Gebrauchs- und dem Tauschwert einer Performance. Denn in Rollers Performance 16. Jahrhundert: geht es vor allem um die Konstitution des künstlerischen Subjekts Der (männliche) Körper der Arbeit in und durch die Verschränkung von Arbeit, Leben und Kunst. Die biopolitische Verzahnung von Arbeit, Leben und Kunst ist Bereits im 16. Jahrhundert, der Zeit großer Umwälzungen in aber kein spezifisches Kennzeichen des Künstlerdaseins. Auch ist den Denk- und Lebensformen, entwickeln vor dem Hintergrund es nicht charakteristisch allein für postfordistische Arbeitsbedin- von Kolonialpolitik, Reformation und Außenhandel Thomas gungen, wie manche Texte in der Nachfolge von Hardt, Negri, Morus, Francis Bacon und Tommaso Campanella große Uto- Virno und anderen postfordistischen Denkern3, die weniger eine pien gesellschaftlicher Organisation. Die Zentralisierung der historische Perspektive in den Blick nehmen, es vermuten lassen. Macht des Raumes und des Blicks und die Monetarisierung des So tauchen bereits im 16. Jahrhundert Allegorien und Embleme Güteraustausches provozieren neue Formen der Herrschaft, die der Arbeit auf. Die ästhetischen Debatten um 1800 thematisieren expansiven Prinzipien folgen. Das Tauschmedium Geld erhält dann den Zusammenhang zwischen Kunst und Arbeit als biopo- Kapitalfunktion. Zugleich wird Arbeit zu einer Kategorie der litisches Konzept. Wie Begemann/Wellbery 4 gezeigt haben, kann Organisation des Sozialen aufgewertet, die nunmehr den neuen sich beispielsweise die Genieästhetik (z. B. bei Herder oder Goethe) Prinzipien der Produktivität, Rationalität und Disziplin folgen und die mit ihr verbundene Idee der Autonomie des Kunstwerks, soll. Dazu wird Arbeit zunächst aus dem Lebens- und Repro- wie sie im 20. Jahrhundert beispielsweise durch Adorno formuliert duktionszusammenhang herausgelöst und einer eigenständigen wurde, als Gegenentwurf zum Begriff der arbeitsteiligen, disziplinie- Organisierung zugeführt. Im Zuge dieser Verschiebung wandelt renden Arbeit nur darüber behaupten, dass sie zum einen Arbeit als sich auch der Lohn der Arbeit: Nicht mehr die Befriedigung der Kulturbegriff etabliert und ihn an biologische Metaphern bindet. existentiellen Lebensbedürfnisse sondern – im Zuge der protes- Theaterpädagogisches Wissen im gesellschaftlichen Kontext 17

Sei kreativ! Biopolitische Verflechtungen zwischen Kunst, Leben und Arbeit im Postfordismus. Ein Rückblick tantischen Ethik – die innere Befriedigung durch die Arbeit selbst produktiv und unproduktiv Arbeitenden, den kreativ und re- rückt in den Vordergrund. Arbeit wird damit Bestandteil des produktiv Arbeitenden, dem entfremdet und nicht-entfremdet Subjektivierungsprozesses. Die Art der Arbeit bzw. das Verhältnis Arbeitenden oder zwischen den Arbeitenden und den Faulenzern von Arbeit und Nicht-Arbeit bestimmen fortan Subjektivität. oder Müßiggängern. Sie finden ihren semantischen Ausdruck in der Differenzierung zwischen ‘work’ und ‘labor’, ‘ouvrir’ Bilder der Arbeit in der Renaissance zeigen vor allem Arbeit als und ‘travailler’, Müßiggang und Faulheit, Muße und Freizeit, Körperkraft und hier einzig als die Kraft des männlichen Körpers. ‘idelness’ und ‘laziness’, ‘l’oisiveté’ und ‘paresse’, materielle und Sie sind eine Allegorie für das Konzept, dass körperliche Arbeit immaterielle Arbeit. mit männlicher Produktivität assoziiert und ein kräftiger männ- Aber auch diese Differenzierungen verfolgen ein Ziel: Einen licher Arbeitskörper als männliche Fruchtbarkeit fantasiert wird. Wahrheits-Wissens-Diskurs über gelungene oder verfehlte Subjektivierung zu führen. Es ist ein Diskurs, der im 20. Jahr- 17. Jahrhundert: hundert zum gesellschaftlichen Dispositiv wird. Hannah Arendt Menschlich werden durch Arbeit konstatiert: „Die Neuzeit hat im siebzehnten Jahrhundert damit begonnen, theoretisch die Arbeit zu verherrlichen, und sie hat zu Seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert entfaltet sich im Kontext Beginn unseres Jahrhunderts damit geendet, die Gesellschaft im eines frühen liberalen und aufklärerischen Denkens in Europa Ganzen in eine Arbeitsgesellschaft zu verwandeln.“ 5 nicht nur ein Diskurs um die Individualität, Originalität und Einzigartigkeit des Menschen, sondern, damit verbunden, auch um dessen individuelle Befähigung zur Arbeit. Letztere gilt als die den Menschen zum Menschen erst machende Eigenschaft. Sich zum Menschen machen bedeutet demnach nicht mehr, wie noch im Konzept der Antike, ein Frei-Sein von Arbeit, um auf diese Weise Kultur zu produzieren und dem Gemeinwesen zu dienen. Sich zum Menschen machen bedeutet nunmehr, die körperliche Physis durch Arbeit in Kultur zu transformieren und durch die téchne des menschlichen Arbeitens Kultur immer weiter zu entwickeln.

Die protestantische Ethik wird der Wegbereiter für diese historische und zunächst klassenspezifische Umdeutung des Arbeitsbegriffs. Denn indem der „Bürger“ arbeitet, positioniert er sein Konzept des Lebens in Gegensatz zu dem nicht-arbeitenden Adel. Es ist ein bürgerliches, männliches, europäisches und weißes, zunächst religiös unterfüttertes und dann aufklärerisch begründetes Arbeitsethos, das durch Kolonialismus und später Imperialismus global verbrei- tet wird und die ethische Basis des globalen Kapitalismus wird.

Durch Arbeit – so beschreibt es paradigmatisch John Locke in seiner Arbeitstheorie im 17. Jahrhundert – kann sich der Mensch die Dinge aneignen und sein „Naturrecht“ an ihnen behaupten. Bereits bei Locke verschiebt sich die Balance in der Doppeldeutigkeit, die dem Begriff Arbeit eingelagert ist: Arbeit meint einerseits aus dem biblischen Fluch abgeleiteter Verdruss oder Ungemach (d. h. molestia, labor) und andererseits Werk- produktion (opus, work). Locke verschiebt seine Aufmerksamkeit auf die Werkproduktion und beschreibt diese als Medium der Selbstproduktion. Das Subjekt muss sich also selbst hervorbrin- gen – und dies geschieht über Arbeit. Als Homo Faber rückt hier eine Subjektfigur in den Vordergrund, die menschliche Werke an sich als wertvoll betrachtet. Hannah Arendt stellt in The Hu- man Condition diese Figur, die bei Max Scheler 1928 erstmalig auftaucht, der Figur des animal laborans gegenüber, jenem Men- schen, der seine Arbeit alleinig als Mittel der Existenzsicherung begreift, von Menschen hergestellte Produkte nicht als Gut an sich ansieht sondern sie auf ihren praktischen Nutzen reduziert. Diese Antipoden in den Subjektfiguren der Arbeit provozieren his- torisch und systematisch eine Anzahl weiterer Differenzierungen: zwischen den mehr oder weniger Arbeitenden, den körperlich Fritz Kahn, Der Mensch als Industriepalast, 1930. und intellektuell oder künstlerisch Arbeitenden, zwischen den http://www.brainpickings.org/index.php/2012/02/03/the-art-ofmedicine/ 18 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Sei kreativ! Biopolitische Verflechtungen zwischen Kunst, Leben und Arbeit im Postfordismus. Ein Rückblick

18. Jahrhundert: Arbeit als Konzept des Lebens Ermüdung selbst zum zentralen Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Das 18. Jahrhundert markiert bekanntlich mit Aufklärung, fran- Diejenigen, die sich in dieses biopolitische Körperkonzept nicht zösischer Revolution und Frühformen der Industriearbeit den einfügen lassen, werden in die von Foucault beschriebenen Dis- Beginn der Moderne. Die sich mit ihr etablierende moderne ziplinarinstitutionen interniert, in denen die Ethik des Arbeitens Arbeitsgesellschaft beruht auf umfangreichen Neuerungen – sei geschult, Arbeitsmoral gelehrt und Faulheit quasi den Körpern es der Wirtschaftsliberalismus, die Etablierung der modernen ausgetrieben wird. Wissenschaften, die Erfindung beispielsweise von Dampfma- Mit dieser biopolitischen Strategie wird das Konzept des arbei- schinen, programmierbaren Webstühlen oder Chronometern, tenden Menschen gesellschaftlich institutionalisiert. Gefängnisse die Organisation von Arbeitsteilung, die Durchsetzung der In- sind Arbeitslager: Auf die Bestrafung folgt die Arbeit (labor), die dustriepädagogik oder die neuen Erkenntnisse der Physiologie der Formung zu einem arbeitswilligen und arbeitsfähigen Sub- und Medizin. Mit ihnen verändert sich der Begriff der Arbeit: jekt und wie es später heißt, zu ihrer Resozialisierung dient. Die Er wird ausdifferenziert und schillernd ausgedeutet. Arbeit wird nationalsozialistische Diktatur und der Sowjetkommunismus zugleich zu einem Wert an sich und zu einem Maßstab des sollten im 20. Jahrhundert diese Strategie perfide perfektionieren. gelungenen Lebens. Sie gilt zugleich als produktive Tätigkeit und als disziplinierende Kategorie, als anthropologischer und zugleich physikalischer Begriff und schließlich als dialektischer Gegenpart zum Kapital.

Die Figur des arbeitenden Menschen ist ebenso schillernd wie mehrdeutig: Als Homo Faber wird er zum Protagonisten techni- scher Naturbeherrschung, als Homo Oeconomicus erscheint er als eigennütziger, rational handelnder, Nutzen maximierender Akteur, als Warenproduzent wird er zum Gegenstand nationalökonomi- schen Denkens, als lebender Organismus gerät er in den Fokus biopolitischer Überlegungen, als fleißiges und selbstgenügsames Wesen avanciert er zum Vorbild von Erziehungsprogrammen, als Produktivkraft wird sein Körper zum Gegenstand von Ge- sundheitspolitik, als Allegorie des richtigen Lebens wird er zum Symbol totalitärer Herrschaftssysteme.

Zentrales Kennzeichen der Arbeit wird das Unabschließbare Arbeiter in einem russischen Gulag. http://ausstellung-gulag.org/en/491/ sowie die Grenzenlosigkeit der Arbeitsamkeit. Freilich gilt dies konzeptionell nicht für die fremdbestimmte labor sondern für Arbeit wird damit total. In seiner Habilitationsschrift beschreibt das schöpferische, kreative Produzieren. Martin Jörg Schäfer9 sehr überzeugend, wie Muße und Müßig- Selbst der menschliche Körper wird dazu analog gefasst: Nach dem gang im Laufe des 19. Jahrhunderts ihre Eigenlogik verlieren und Vorbild der Maschine entschlüsselt, wird ihm eine Kompetenz zur Negativfolie von Arbeit werden. Auch die Programme der zugeschrieben, sich selbst – wie einen Motor – nur im Modus aufklärerischen Erziehung propagieren die Austreibung der Faul- der Produktion, der permanenten Beschäftigung zu legitimieren. heit. Ihr Credo: Auf das Leben vorbereiten und dieses beginnt, „Die Arbeitsgesellschaft im 19. Jahrhundert“, schreibt Rabinbach, wenn man ‚selbstständig‘ – und das heißt ab einem bestimmten „war überwiegend ein Phänomen der Arbeitszentriertheit der Zeitpunkt auch immer „kreativ“ – zu arbeiten beginnt. Metapher vom Motor Mensch.“ Diese Metapher funktioniert gänzlich über den „arbeitenden Körper und die Arbeitskraft als Die Totalisierung der Arbeit als Leben findet auch ihren Nieder- Organisationsprinzip von Natur und Gesellschaft“. schlag in den modernen Konzepten der Kunst. Die Ästhetische Wenn selbst die Existenz des lebendigen Körpers als Arbeit gefasst Theorie des ausgehenden 18. Jahrhunderts beschreibt künst- wird, und nicht nur die zum Zwecke der Arbeit und Produktion lerische Produktivität als privilegierte, von äußeren Zwängen vollzogenen Tätigkeiten als Arbeit gelten, dann ist Arbeit mit befreite Arbeit. Es ist ein Erzählmuster, das den spezifischen Zu- Leben selbst verbunden. Joseph Vogl zieht daraus den Schluss: sammenhang zwischen Arbeit, Leben und Kunst festschreibt und „Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts … ist die Arbeit … mit in ‚westlichen‘ Kulturen bis zum beginnenden 21. Jahrhundert dem Konzept des Lebens selbst amalgamiert.“7 – wie auch Rollers Trilogie anschaulich macht – aktuell bleibt. Gerade in ihrer Definition als Nicht-Arbeit oder bessere Arbeit 19. Jahrhundert: Körper ohne Ermüdung soll es der Kunst gelingen, einen privilegierten Standpunkt ein- zunehmen und aus der Perspektive einer Entlassung aus der Der Effekt einer Verbindung von Arbeit und Leben ist die Vor- Arbeit Sinnkonstitution und Muster sozialer Wahrnehmung stellung eines nicht ermüdenden Körpers8, der im 19. Jahrhundert von Arbeit zu befragen. zur Körperutopie der sich etablierenden Industriegesellschaft wird. Arbeitskraft wird nun zur entscheidenden Variable des Die Aufklärung übernimmt damit die Vorstellung einer Selbst- ökonomischen Kalküls und mit ihr die geistige und körperliche vergewisserung durch Arbeit, die Max Weber bereits dem Theaterpädagogisches Wissen im gesellschaftlichen Kontext 19

Sei kreativ! Biopolitische Verflechtungen zwischen Kunst, Leben und Arbeit im Postfordismus. Ein Rückblick

Calvinismus des 17. Jahrhunderts zugeschrieben hatte. Das vor. Der Schauspieler der Moderne, geschult in Subjektivierungs- aufgeklärte Bürgertum des 19. Jahrhunderts formuliert dies zu und Authentizitätstechniken, ist die künstlerische Avantgarde, einer Arbeits- und Subjektkultur. Fortan stellt sich die Frage: die ein Subjektmodell kreiert, das im Postfordismus zur Leitfigur Kann der Mensch nicht nicht arbeiten? werden wird: der Performer, der in Alltag, bei der Arbeit oder in der Kunst sein Handeln nicht nur ausführt, sondern es immer Marx‘ Anthropologie der Arbeit auch glaubhaft in Szene setzt.

Die Selbsterzeugung des Menschen durch Arbeit findet im 19. 20. Jahrhundert: Jahrhundert in den Texten des jungen Marx ihre wohl prominen- Die Krise der Arbeit und der Kunst teste Ausprägung. Marx konzipiert Arbeit zwar auf ein Kollektiv bezogen, er fasst den Begriff aber als anthropologische Katego- Mit der Wende zum 20. Jahrhundert lassen imperialistische rie. Arbeit meint zunächst körperliche Anstrengung, der Begriff Politik, um politische und ökonomische Macht konkurrierende mischt sich aber auch mit dem Topos von der Selbsterzeugung Nationalstaaten, kapitalistische Produktionsweisen, technolo- des Menschen durch Arbeit sowie mit einer Fortpflanzungs- gisch vermittelte Naturaneignung, Arbeitskämpfe der erstarkten und einer Schöpfungsmetaphorik. Arbeit wird zum Medium, Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung und eine umfassende das den Menschen als Menschen erzeugt. Damit erzeugt der Kulturkrise die Gesellschaft erneut ins Wanken geraten. Mo- Arbeiter über seine Arbeit nicht nur Waren, sondern der Prozess bilisierung und Beschleunigung, Produktivitätssteigerung und läuft reziprok: die Arbeit erzeugt selbst den Arbeitenden. Arbeit Leistungsmaximierung sind die Stichworte der Zeit und Kraft wird damit zur Grundbedingung des Mensch-Seins und zur Ba- und Beherrschung das Credo des sich ausbreitenden Kapitalismus. sis jeder Form von menschlicher Produktivität. In der Praxis des Dies sind auch die Stichworte von Frederick Winslow Taylor und Arbeitens wird zugleich Arbeit als Arbeit und die Menschlichkeit seinem Schüler Frank Bunker Gilbreth, als sie Anfang des 20. des arbeitenden Menschen bestätigt. Er selbst wird damit zum Jahrhunderts die moderne Arbeitswissenschaft begründen. Ihre Herrn seiner Selbst ermächtigt. Prämisse lautet: „In jeder kleinsten Handlung, jedem Griff des Arbeiters (steckt) eine Wissenschaft11“ . Ihr Ziel: Arbeitsprozesse Marx’ aus dem deutschen Idealismus abgeleiteter Arbeitsbegriff optimieren. Sie untersuchen verschiedene Arbeitergruppen und weist eine Nähe zu den ästhetischen Konzepten des späten 18. verschriftlichen deren Arbeitsvorgänge. Ihre Ansätze sind allerdings Jahrhunderts auf. Auch hier finden sich Muster der In- und Ex- unterschiedlich: Während Taylor die Arbeitsabläufe des produk- klusion in Form der Abgrenzung des Ästhetischen und der Kunst, tivsten Arbeiters untersucht, um einen optimalen Arbeitsablauf des Kunstwerks und der künstlerischen Produktion gegenüber zu ergründen, widmet sich Gilbreth dem faulsten Arbeiter, da anderen Produktionsweisen. Hier zeigt sich: Die Eigenheit der dieser nur die notwendigsten Arbeitsschritte ausführt. Fleiß und Arbeit und des Arbeitens konstituiert sich nur im Verhältnis zu Faulheit werden somit beide in die organisationstheoretische und Alteritäten. Werner Hamacher versteht dies unter der „Minimal- arbeitswissenschaftliche Neubegründung des „Fabrikregimes“ struktur der Arbeit“, wenn er schreibt, dass Arbeit sich dadurch (Marx) integriert, das fortan zwischen der Arbeitsbewegung auszeichnet, „auf etwas anderes bezogen zu sein als sie selber je und dem Arbeitswissen, zwischen Körperarbeit und Kopfarbeit werden kann.“10 im industriellen Produktionsablauf selbst unterscheidet. Die

Subjektfiguren der Moderne: Arbeiter und Schauspieler/Performer

Und so ist es vielleicht auch nicht überraschend, dass die Sub- jektfiguren der Moderne eine charakteristische Form in der Figur des Arbeiters und des Schauspielers finden. Denn so un- terschiedlich sie auf den ersten Blick sein mögen, so sehr ähneln sie sich doch. Denn analog dazu, dass der arbeitende Mensch seine menschliche Natur erst in der Arbeit findet, zeichnet es den Schauspieler aus, sich in der ständigen Wandelbarkeit zu entäußern. Gerade diese Fähigkeit sei es, so die Forschungsprä- misse eines Projektes von Jörn Etzold, die den postmodernen Menschen kennzeichnet: der postmoderne Mensch, der zu allem werden kann, sich zu allem machen kann, der flexibel und wan- delbar ist – es ist eine Anthropologie, die dem Menschen diese Kompetenzen zur Selbsterzeugung zuschreibt, indem sie dessen Leben an sich keine Substanz beimisst. Erst die Arbeit verschafft dem Menschen Substanz. Der Schauspieler ist es, der diese Wan- delbarkeit zu seiner Profession gemacht hat. Er experimentiert mit dem Subjektmodell der Moderne und führt die Möglichkeit Fabrikarbeiter im Zeitalter des Taylorismus. http://www.sviokla.com/wp- der Veränderung und den Variantenreichtum der Wandelbarkeit content/uploads/2009/09/taylorism.jpg 20 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Sei kreativ! Biopolitische Verflechtungen zwischen Kunst, Leben und Arbeit im Postfordismus. Ein Rückblick

Eine Fotografie von Arbeitern von Étienne-Jules Marey, publiziert in Charles Frémont, Le marteau, le choc, le marteau pneumatique ..., Paris 1923. http://www.folkcollection.com/spip.php?article482 Still des 1895 veröffentlichten Film suer Brüder Lumière: La Sortie des Erkenntnisse der Kinematografie und die bewegungsphotogra- Ouviers de L‘Usine Lumière à Lyon. www.schirn-magazin.de, http://www.schirn-magazin.de/Munch_als_Cineast.html fischen Studien von Étienne-Jules Marey werden das technische Hilfsmittel der Aufzeichnung, das Arbeitsabläufe exakt messbar macht. Aber auch die Labannotation, die Rudolf von Laban 1928 unter dem Titel „Kinetografie“ publiziert, findet ihren Nutzen insbesondere auch in der Optimierung von Arbeitseffizienz und wird zu einem wichtigen Schriftsystem der Arbeitswissenschaft. Denn Verschriftlichung und Aufzeichnung sind die zentralen Mittel, um den beiden Aufgaben der Arbeitswissenschaft gerecht zu werden: der Anpassung der Arbeit an den Menschen und der Anpassung des Menschen an die Arbeit.

Visuelle Anthropologie der Arbeit: Der Film

Aber nicht nur die Kinematographie liefert die Grundlage für eine visuelle Anthropologie der Arbeit. Auch neue Formen der Unterhaltungskunst auf der Bühne sowie das neue Bildmedi- Louis-Lumiere-Sortie-dusine-Workers-Leaving-the-Lumière-Factory.-1895.- um Film erheben die Darstellung der Arbeit zum prominenten France.-35mm-print-black-and-white-silent-approx.-45-sec., http://www. Leitmotiv. Bilder der Arbeit werden die ersten, archetypischen metamute.org/editorial/articles/eliminating-labour-aesthetic-economy- Kinobilder. Bei der ersten öffentlichen Präsentation des Cinema- harun-farocki tographe 1895 zeigen die Gebrüder Lumière den 50 Sekunden dauernden Kurzfilm „La Sortie de L‘usine Lumière à Lyon“ (Ar- beiter, die die Fabrik verlassen). Sie etablieren damit nicht nur die die Auslagerung der verarbeitenden Industrie in sogenannte dokumentarische Methode in der frühen Filmgeschichte sondern „Billiglohnländer“ verschärfen den Diskurs um die Krise der platzieren auch ein Motiv – der Arbeiter nach „Feierabend“ – Arbeit. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts spannt sich der Diskurs 12 ein Motiv, dass viele Nachahmer findet, so etwa im Genre der um Arbeit auf in die Pole um die „Zukunft der Arbeit“ und 13 “Factory gate films” in England, in Michelangelo Antonionis das „Ende der Arbeit“ . “Blow Up” (1966), in Peter Tscherkasskys „Motion Picture“ In diesem Spannungsfeld changiert der Begriff der Arbeit als von 1984, in Hartmut Bitomskys „Der VW-Komplex“ (1989) offener und zugleich entleerter Begriff. Arbeit ist nunmehr als oder in Harun Farockis „Arbeiter verlassen die Fabrik“ von 1995. allumfassender Lebenszusammenhang bestimmt, der jegliche Form des produktiven Handelns umfasst. Nicht nur das gesamte Leben besteht aus Arbeit, sondern Arbeit hat den Lebensalltag Das Dispositiv der Kreativität: selbst durchdrungen. Arbeit und Kunst im frühen 21. Jahrhundert Nicht nur begrifflich findet sich Arbeit damit in allen Lebens- bereichen wieder: Arbeit an der Fitness, Beziehungsarbeit, Das Verlassen der Fabrik wird zum Bild der Krise der Arbeits- Begriffsarbeit, Trauerarbeit, alle Praktiken des alltäglichen Le- gesellschaft im 20. Jahrhundert. Die Automatisierung von bens sind mit dem Begriff der Arbeit belegt, alle Praktiken des Arbeitsabläufen, der Niedergang der Bergbau-, Stahl- und Au- Alltags gelten als Arbeit. Arbeit findet überall und zu jeder Zeit tomobilindustrie, die Globalisierung der Märkte und mit ihr statt. Mit der „Universalisierung … des Arbeitsbegriffs“14 ist Ar- Theaterpädagogisches Wissen im gesellschaftlichen Kontext 21

Sei kreativ! Biopolitische Verflechtungen zwischen Kunst, Leben und Arbeit im Postfordismus. Ein Rückblick beit eine allumfassende Operationsweise des Lebens geworden, die Kultur jene Prozesse nachholt, die die Landwirtschaft und in der selbst die Erholung von der Arbeit (ob beim Sport, im Wirtschaftszweige wie Bergbau, Stahl- und Automobilindustrie Theater, im Urlaub oder auf Partys) zu einer vermeintlich spie- bereits mit dem Fordismus umgesetzt hatten: die Entstehung lerischen Praxis einer Strategie der Selbstsorge des arbeitenden der Fabriken und der industriellen Produktion, die im 20. Menschen wird. Konrad Liessmann spricht von einer „Laborisie- Jahrhundert sich dann auch im Zeitungsgewerbe, im Kino, im rung“15 des Lebens, die selbst in jene Beschreibungen Eingang Fernsehen etc. etablierten. Demnach war die Kulturindustrie gefunden hat, die Ratgeber für ein zufriedenes Leben jenseits nach denselben Prinzipien gekennzeichnet wie die Fließband- der Fremdbestimmung durch Arbeit und der mit ihr verbun- produktion: durch Serialisierung, Standardisierung und totale denen Krankheiten (Depression, Burn-Out etc.) seien wollen. Beherrschung der Kreativität. Der Diskurs von Arbeit mündet am Ende des 20. Jahrhunderts damit in eine biopolitische Normalisierungsstrategie, in der der Begriff der Arbeit als Synonym für die als natürlich erscheinen- den Technologien des Selbst steht.

Die Krise der Arbeit korrespondiert mit einer Krise der Kunst. Auch das Feld der Kunst spannt sich auf zwischen der – seit Hegel immer wieder aktualisierten Rede – über das „Ende der Kunst“16 und ihres Fortlebens17. In diesem diskursiven Spannungsfeld wird die künstlerische Praxis über das Muster der allumfassenden und permanenten Produktivität transformiert. Die seit den 1980er Jahren konstatierte Ästhetisierung der Lebenswelt, die jenseits der Kunst alle Lebensbereiche umfasst, ist die Kehrseite einer Praxis, die künstlerisches Schaffen als spezifischen Beitrag zu einer zivilgesellschaftlichen Arbeit versteht. Die staatliche Basis dieser Zivilgesellschaft ist nicht mehr der Sozialstaat mit seinen wohlfahrtsstaatlichen Absicherungen und Subventionierungen sondern die neoliberale Kulturgesellschaft mit der sogenannten Unterhaltungsindustrie im Zeitalter des Taylorismus. ‚kreativen‘, nunmehr verstanden als eine dauerhaft produktiv, http://www.aadip9.net/graham/Fig-3%20Tiller%20Girls.png im Einsatz befindlichen, Klasse – der einzigen gesellschaftlichen Gruppe, für die der Begriff der Klasse noch Anwendung findet. Wie Arbeit wird damit auch Kunst zu einem substanzlosen und Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich der Blick auf Kulturin- gleichzeitig überladenen Begriff. dustrie geändert. Es geht nicht mehr darum, dass ein fordistisches Modell in die Kultur übertragen wird. Vielmehr stellt sich heu- Indem das Leben als Arbeit organisiert ist, ist die gesellschaft- te die Frage, welche Rolle Kunst und Kulturindustrie bei der liche und politische Bedingung dafür geschaffen, in das Leben Transformation des Fordismus spielen. Kulturindustrien sind selbst einzugreifen. Alltagspraxis und Diskurs gehen in dieser demnach heute als etwas zu begreifen, das nicht, wie Horkhei- biopolitischen Strategie einer Verflechtung von Arbeit, Leben mer und Adorno es formulierten, fordistische Produktionsweisen und Kunst eine enge Verbindung ein. Denn nicht nur kann der nachahmen (im Sinne einer großen einheitlichen ‚totalen‘ Un- Arbeitsbegriff aufgrund seiner Offenheit und Substanzlosigkeit terhaltungsindustrie oder im Sinne der Angestelltenkultur), zum biopolitischen Regulativ werden, auch die permanente Rede sondern postfordistische Produktionsweisen vorwegnehmen soll, über Arbeit gehört zum zentralen Bestandteil der Wirkmächtig- wie es sich z. B. in Ich-AGs und Selbstunternehmertum zeigt. keit der Biomacht. War im 19. Jahrhundert die Künstlerexistenz Mit ihnen ist Kreativität zum allgemeinen Lebensstilmuster, gerade in ihrer Distanz zur Arbeit definiert, ist mit dem 21. zum Grundprinzip von Arbeit und zum basalen Element von Jahrhundert dessen Existenzweise zum leitenden Dispositiv der Subjektivierung geworden. Gegenwartsgesellschaft geworden. Es ist in der Nachfolge von Der freischaffende – und das heißt im postfordistischen Denken Boltanski/Chiapello vielfach beschrieben worden, wie die noch auch der unternehmerische Künstler wird zum Modell. Damit im 19. Jahrhundert dem Künstler zugeschriebene Arbeits- und wird die Kunstproduktion selbst postfordistischen Mustern des Lebensweise wie kreative, projektorientierte, flexible Arbeit, Messens und Rasterns unterworfen: Künstlerranking, akademische Schaffung einer Arbeitsbiographie, Selbstpräsentation und Abschlüsse für Künstler, künstlerische Forschung, Einwerbezah- Selbststilisierung, Dokumentation des eigenen Schaffens zum len von Kunstinsitutitonen oder Kunstvermittlungsprojekte, Arbeitsethos des Postfordismus und zum politischen Imperativ durchgeführt von Künstlern werden zum Bestandteil der ge- des Neoliberalismus geworden ist. sellschaftlichen Legitimierung von Kunst und Künstlerdasein. Als Horkheimer und Adorno 1947 ihren Aufsatz „Kulturindustrie. Der vergleichweise hohen Qualifikation von Kunst- und Kulturar- Aufklärung als Massenbetrug“ veröffentlichten, nutzten sie den beitern stehen dabei bekanntlich niedrige, oft selbstausbeuterische Begriff der „Industrie“, um gegen den wachsenden Einfluss der Gehälter entgegen. Es gibt Lohndumping, aber keine Richtlinien Unterhaltungsbranche, gegen die Kommerzialisierung der Kunst, und Maßstäbe für Gehälter. Es ist ein Prekariat in der postfor- gegen die „totale Vereinheitlichung“ der Kultur, die die neuen distischen Dialektik von Freiheit und Selbstständigkeit auf der Medien Radio, TV, Film boten, zu argumentieren. Sie nutzten einen Seite und projektbedingter Abhängigkeit von Kulturins- deshalb den Begriff der Industrie, weil sie aufzeigen wollten, dass titutionen auf der anderen Seite. 22 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Sei kreativ! Biopolitische Verfl echtungen zwischen Kunst, Leben und Arbeit im Postfordismus. Ein Rückblick

Vor dem Hintergrund dieser engen Ver- fl echtung von Arbeit, Leben und Kunst ist vielleicht auch Jacques Derridas reduzierte Bestimmung der Arbeit lesbar: ‚Arbeit setzt einen lebenden Körper voraus. Sie nimmt ihn in Beschlag und situiert ihn‘.

Anmerkungen 1 Der Text ist eine überarbeitete erweiterte Fas- sung des englischsprachigen Textes: Labour, Life, Art: On the social anthropology of labour, in: Ga- briele Klein/Bojana Kunst (Hg.): On Labour and Performance. Performance Research, Vol. 17, No. 6, Routledge 2012, S. 4–15. 2 Hannah Arendt: The Human Condition. Uni- versity of Chicago Press 1958. 3 Antonio Negri/Maurizio Lazzarato/Paolo Vir- no: Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion, Berelin 1998; Michael Hardt/Antonio Negri: Empire. Cambridge 2000. 4 Christian Begemann/David E. Wellbery (Hg.): Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Me- taphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit. Freiburg 2002. 5 Hannah Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben. München/Zürich 1996, S. 12. 6 Anson Rabinbach: Motor Mensch. Kraft, Ermü- dung und die Ursprünge der Moderne, Wien 2001, S. 354 (engl. Org.: The Human Motor. Energy, Fa- tigue, and the Origins of Modernity, Berkeley 1992). 7 Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München 2002, S. 343. 8 Anson Rabinbach: Motor Mensch. Kraft, Ermü- dung und die Ursprünge der Moderne, Wien 2001. 9 Martin Jörg Schäfer: „Die Gewalt der Muße. Wechselverhältnisse von Arbeit, Nichtarbeit, Ästhetik, Diaphanes 2013. S. auch: Jörn Etzold/Martin Jörg Schäfer (Hg.): Nicht-Arbeit. Politiken, Konzepte, Ästhetiken, Weimar 2011. 10 Werner Hamacher: Arbeit Durcharbeiten. In: Dirk Baecker (Hg.): Archäologie der Arbeit. Berlin 2002, S. 155–200, S. 187. 11 Frederick Winslow Taylor: Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung. München/Ber- lin 1922, S. 67. 12 Ulrich Beck (Hg.): Die Zukunft von Arbeit und Demokratie. Frankfurt a. M. 2000. 13 Jeremy Rifkin: Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft. Frankfurt am Main 2001. 14 Dirk Baecker: Die gesellschaftliche Form der Arbeit, in: Ders.: Archäologie der Arbeit. Berlin 2002, S. 221. 15 Konrad Liessmann: Im Schweiße deines Angesichts. Zum Begriff der Arbeit in den anth- ropologischen Konzepten der Moderne, in: Beck, a. a. O., S. 85. 16 Eva Geulen: Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel, Frankfurt 2002. Anzeigen-Hotline 17 Arthur C. Danto: Das Fortleben der Kunst. Zeitschrift für Theaterpädagogik München 2000. Schibri-Verlag • Frau Nowak 039753/22757 • [email protected] Theaterpädagogisches Wissen. Praxis – Projekte – Positionen 23

THEATERPÄDAGOGISCHES WISSEN. PRAXIS – PROJEKTE – POSITIONEN

Orte der Versammlung Junge Leute verhandeln ihre Angelegenheiten Hanne Seitz

Darum ist die Erkundigung nach unserem Wo sinnvoller denn je, denn sie richtet sich auf den Ort, den Menschen erzeugen, um zu haben, worin sie vorkommen können als die, die sie sind. (Sloterdijk, Sphären)

Das „Space Shuffle“: Man betritt einen lichtdurchfluteten leeren Raum. Die Besucher, die der Einladung zu „Inwhitetion“ gefolgt und im Eingangsbereich in weiße Maleranzüge geschlüpft sind, klatschen mit den selbstgenähten, plüschigen Handschuhen die in einem großen Bottich befindliche weiße Farbe reichlich an die ro- hen Wände und verstreichen sie sorgfältig. Ein emsiges Treiben in feuchtwarmer, geruchsintensiver Atmosphäre. Jemand spielt auf einem selbstgebauten Didgeridoo. Der tiefe Ton durchströmt den Raum. Farbe bekommt hier alles und jeder. Nur die Flucht in Neuköllns Nacht macht möglich, nicht Teil der Performance zu werden. Der Name Space Shuffle ist zugleich Programm: Raum für Durchmi- schung. Der leere, nunmehr weiße Raum erfährt in den kommenden sechs Monaten durch wechselnde Events – Aktionen, Performances, Ausstellungen, Diskussionsforen – eine je besondere Rolle und wird immer wieder in seinen Urzustand zurückgeführt.

Das Space Shuffle ist einer der sogenannten Pächterräume, die Modellbau, Pächterschmiede ©Hanne Seitz jungen Berlinern Gelegenheit bietet, sich zu versammeln und ihr kreatives Potenzial zu entfalten. Für einen begrenzten Zeit- raum erhalten sie ein verwaistes Ladenlokal, eine leer stehende Vorstellung ihrer Projekte ein anregungsreiches Ideenspektrum Kneipe o. ä., wo sie ihre Angelegenheiten verhandeln und ein bieten. In Workshops werden erste „Heißschmiedepläne“ konzi- selbst konzipiertes künstlerisch-kulturelles Bespielungs- und piert, Raummodelle entworfen, und phantasievolle Namen wie Raumprogramm auf die Beine stellen können – kleine, eher club- MachWerk, Heim(e)lich, Photosphaere, Space Shuffle etc. lassen ähnliche Veranstaltungsformate, auch Workshops für Freunde, erahnen, was in den sechs Räumen geschehen wird. Kieznachbarn und andere Pächterteams. Mit der Schlüsselübergabe beginnen die z. T. aufwendigen Reno- Angesprochen werden junge Menschen, die sich von den offiziel- vierungs- und Gestaltungsarbeiten. Die Schlesische27 überträgt len Angeboten der Jugendkultur- und Freizeiteinrichtungen nicht den Gruppen die komplette Verantwortung – die einzige Erwar- (mehr) angezogen fühlen und in einer Peer-to-peer-Umfrage1 tung ist, dass sie sich ein öffentlichkeitswirksames Profil geben, beklagen, dass ihnen kaum mehr als der digitale Raum geblieben eine Art Hausordnung aufstellen und das zur Verfügung gestellte sei. Sie fordern selbstbestimmte und selbstorganisierte Räume, kleine Budget ordentlich abrechnen. Die Schlesische27 gibt zu in denen sie sich austauschen, ihr Wissen und Können und ihre Beginn Einblicke in organisatorische, technische und rechtli- Kreativität im wirklichen Leben unter Beweis stellen können. Auf che Fragestellungen und steht ansonsten nur auf Anfrage zu diesen Bedarf hat das Internationale JugendKunst- und Kultur- Verfügung. Im Bedarfsfall können auch sogenannte Mentoren haus Schlesische27 mit dem Projekt „Junge Pächter“ reagiert.2 aus Berliner Kunst- und Kultureinrichtungen angefragt werden, Der Startschuss fällt im September 2011 mit der „Projektschmie- die dem Projekt zu Seite stehen und dabei auch Einblick in pro- de“, in der etwa achtzig Jugendliche und junge Erwachsene aus fessionelle Bedingungen und künstlerische Berufsprofile geben. ganz Berlin aufeinander treffen und Künstlerkollektive (etwa Das Fehlen einer Kontrolle birgt zwar Risiken – bezogen auf die das Raumlabor Berlin oder die Prinzessinnengärten) mit der Einhaltung des Jugendschutzes oder den angemessenen Umgang 24 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Orte der Versammlung mit fremdem Besitz etc. –, aber die Pächter und Pächterinnen enttäuschen keineswegs das in sie gesetzte Vertrauen, sind vielmehr bereit, bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten Verantwortung zu übernehmen. Die Aktivitäten reichen von handwerklichen Tüfteleien über Möbel- und Instrumentenbau bis hin zu perfor- mativen, theatralen oder musikalischen Darbietungen – selbst eine temporäre Lebenskunsterprobung mitsamt fotografischer Dokumentation ist dabei. Durch die programmatische Vernet- zung aller Pächterräume werden verschiedene Communities und Jugendkulturen, Freunde und Kiezbewohner miteinander in Kontakt gebracht und mit kreativen Angeboten zur Partizi- pation animiert. Zwar sind die Pächterteams weitgehend sich selbst überlassen. Doch sogenannte PAC-Treffen (ein Akronym aus Pächter, Ak- tion und Vitamin C, das für die eingesetzte Energie steht),3 zu denen in vier- bis sechswöchigem Abstand alle Gruppen ge- meinsam eingeladen werden, erlauben, die Prozesse nach Art des Action-Research zusammen mit der Schlesischen27 und ei- nem Forscherteam der Fachhochschule Potsdam zu reflektieren.4 Den jungen Leuten wird auf Augenhöhe begegnet. Sie werden als Forscher in eigener Sache angesehen, sind sie doch mit ihrem Dorfplatz unter Tage, Neukölln_Schesische27 Handeln und Herstellen immer wieder damit befasst, Probleme zu lösen und (kleine) Theorien zur Erreichung ihrer Ziele aufzu- stellen – z. B. wie man Gruppenprozesse steuert, Öffentlichkeit herstellt und auf demokratische Weise Partizipation übt, wie man Musikinstrumente aus recycelten Materialien baut oder Fahrräder zu fahrbaren Lärmmaschinen umrüstet. Die PAC- Treffen beanspruchen, das eher implizite und im Handeln und Herstellen liegende Wissen auf eine bewusste Reflexionsebene zu heben und die Aktivitäten weiterzutreiben. Darüber hinaus geben kleinere künstlerische Interventionen oder eingeladene Künstler ungefragt Impulse. Solcherart (im doppel- ten Wortsinn) ‚Einfälle‘ von außen wollen die Aktivitäten nicht in eine bestimmte Richtung lenken, sondern Reibungsflächen bieten, die das mitunter selbstgefällige Tun der jungen Leute irri- tieren, den Horizont erweitern und andere Möglichkeiten zeigen. Ob aufgegriffen oder nicht, sie werden Spuren hinterlassen und auf die eine oder andere Weise das Denken und Tun anspornen.

Das „Heim(e)lich“: Der Blick durch das große Schaufenster fällt Schlesi19, Kreuzberg_©Schlesische27 auf Teppiche, Sofas, massenhaft Kissen und altmodische Lampen. Ein Raum für Aktionen, aber auch für Rückzug, wo man die Seele baumeln, neue Kontakte knüpfen oder Veranstaltungen besuchen kann. Was in Köpenick an Angeboten fehlt oder dem Rotstift zum Opfer gefallen ist, machen die jungen Leute selbst: Eine Art öffent- liches Wohnzimmer, das dank reger Nutzung von Social Networks inzwischen weit über die Grenzen Köpenicks hinaus bekannt gewor- den ist. Vorbei an der selbstgebauten und knallrot angestrichenen, sogenannten Wunderbar wird man durch einen unübersehbaren Schriftzug am Boden gestoppt: Schuhe aus! Ein Regal mit selbstge- strickten, ordentlich aufgereihten, sogenannten Plüschen macht die Auswahl schwer. Die ersten Töne vom Klavier erklingen schon, der Poetry Slam beginnt.

Die Pächterräume sind Orte der Versammlung im ganz klassi- schen Sinne: Man stellt Dinge zur Diskussion, die alle angehen, zu denen es aber unterschiedliche Zugänge, Meinungen und Lösungen gibt. Die jungen Leute bilden eine „assembly“ und machen ihre „assemblage“ öffentlich, Präsentationen, die – Heim(e)lich, Köpenick ©Schlesische27 Theaterpädagogisches Wissen. Praxis – Projekte – Positionen 25

Orte der Versammlung buchstäblich Kraft der Sache – stark genug sind, Menschen zu versammeln. Unser heutiges Wort Ding kennzeichnet einen unbelebten Gegenstand und lässt kaum noch erahnen, dass Thing (oder Ting) ursprünglich Versammlungsort bedeutet und zugleich auch die zu verhandelnde Sache meint.5 Sich auf etwas zu beziehen lässt Menschen überhaupt erst Gemeinschaft und zugleich Unterschiedenheit erfahren – sieht und hört doch jeder den Sachverhalt von seiner eigenen Position aus und gilt es diese (mitunter auch streitbar) zu verhandeln. Schon Hannah Arendt hat beklagt, dass die Menschen heutzutage die Kraft verloren hätten, sich öffentlich zu versammeln, weil die Dinge fehlen, die sie vereinen und zugleich die notwendige Distanz schaffen – „in dem gleichen Sinne, in dem etwa ein Tisch zwischen denen steht, die um ihn herum sitzen [und sie] verbindet und trennt“.6 Die jungen Pächter begegnen diesem Verlust einer politischen Sphäre – noch dazu mit Dingen, die ihre Anliegen fassbar ma- chen. Der spielerische Umgang leistet womöglich sogar jene von Georgio Agamben als dringlich erachtete Profanierungsar- 7 beit: Statt des konsumorientierten Verbrauchs gebrauchen sie Space Shuffle, Neukölln ©Hanne Seitz (oben und unten) die Dinge, nehmen sie buchstäblich in die Hand – besorgen den ‚Tisch‘, damit daraus ein Ting werde und am Ende noch (so suchte Brecht das Theater verstehen) ein „Kolloquium über gesellschaftliche Zustände“. Junge Leute wissen, worauf es heutzutage ankommt: Sie verstehen sich als semiprofessionelle Macher, die um die Macht der Selbst- regulierung und Selbstdarstellung wissen – selbst wenn manche schon jetzt ahnen, dass sie womöglich zu den Verlierern gehören werden. Die Performance ist zum Maß aller Dinge geworden. Das ist Fluch und Segen zugleich – Segen, weil es ungeahnte Möglichkeiten eröffnet, Fluch, weil im gesellschaftlichen Wett- bewerb allein das Potenzial, die Kompetenz, das Können zählt. Mit Blick auf die angebotsorientierte kulturelle Bildungspraxis, die mit Hilfe der Kunst soziale Integration leisten, Kompetenzen fördern und junge Menschen befähigen will, am gesellschaftli- chen Leben zu partizipieren,8 zeigt das hier skizzierte Projekt in eine andere Richtung: Es ist kein Bildungsangebot, sondern eine Praxis der Selbstbildung.

Das „MachWerk“: Vor dem Pächterraum steht ein selbstgebautes Lastenrad, das Schaufenster ist ideenreich gestaltet und der Blick hinein macht klar, dass hier vor allem eines getan, nämlich kreativ gewerkelt wird: Fahrradwerkstatt, Fotolabor, Objektbauecke, Sieb- druckwerkstatt, eine sogenannte Elektrohöhle und nicht zu vergessen: die Küche. Es knattert und quietscht – aus Blechen, Dynamos und selbst hergestellten Platinen entsteht ein tönendes Gerät, das einen klapprigen Drahtesel in eine fahrbare Maschine verwandelt, die tut, was sie soll, nämlich auf Demos Lärm machen. Im Nebenraum tüfteln zwei an einer alten Waschmaschine herum, die (mit Mus- kelkraft angetrieben) demnächst Strom sparen soll. Zudem dröhnt gerade ein Kompressor – ein Gewirr von Schläuchen pustet die Luft an der Küche vorbei in den Hinterhof. Auf dem Bürgersteig vor dem Laden reparieren Kinder aus dem Kiez unter Anleitung eines Pächters ihre Fahrräder.

Ob der forschende Blick womöglich letzte Bastionen jugend- kultureller Aktivität erhellt und einem neoliberalen Anliegen zuträgt, sei vorerst dahingestellt. Was die jungen Leute tun, verdient jedenfalls den Namen Selbstbildung – die Einbil- dungskräfte bemühen und sich ein Bild von der Welt machen, MachWerk, Wedding – Auf zur Demo_©Schlesische27 26 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Künstlerische Qualität = pädagogischer Gewinn? auf die subversive Kraft des künstlerischen Eigensinns und auf 2 Siehe http://junge-paechter.de; darüber hinaus Hanne Seitz/Nils ihr Nicht-Wissens bauen, etwas wirklich wollen und im Aus- Steinkrauss (2013): Machwerk, Heim(e)lich & Co. Urbane Spiel-Räume tausch (und in Reibung) mit anderen realisieren. Damit birgt das für junge Leute. In: B. Jörissen/K. Westphal (Hg.): Mediale Erfahrungen: Pächterprojekt auch „einigen Sprengstoff“9, zeigt es doch, dass Vom Straßenkind zum Medienkind. Raum- und Medienforschung im 21. Jahrhundert. Weinheim. kulturelle Bildung auch außerhalb des formalisierten Bildungs- zusammenhanges möglich ist – womöglich sogar wirksamer. 3 Mit der Umbenennung der von uns zu Beginn Pärflexion (Wortmi- schung aus Pächter, Reflexion und Perzeption) genannten Treffen in den Doch Selbstbestimmung und Selbstorganisation fallen nicht griffigeren Ausdruck PAC haben die jungen Leute einmal mehr ihrem vom Himmel. Sie benötigen geeignete Räume, unterstützende Wunsch nach Eigenmächtigkeit Ausdruck verliehen. Mentoren, hin und wieder nachdenklich machende Interventi- 4 Das Pächterprojekt ist innerhalb des EU-Projekts “E-TFU. Empowering onen und vor allem eine Förderpolitik, die solchen Aktivitäten the Future. Youth, Arts & Media” wissenschaftlich begleitet und weiter- wohlwollend gegenübersteht. entwickelt worden: u. a. durch einen Action-Research-Prozess (angestoßen Nach dreijähriger Laufzeit wird das Projekt im Sommer 2014 zu durch die PAC-Treffen und eine teilnehmende Beobachtung in den Räumen. Ende gehen. Die Pächterteams werden dann auf dem in Berlin (Vgl. http://sozialwesen.fh-potsdam.de/fb1seitz.html) Aus den insgesamt vier stattfindenden Jugendhilfetag ihrer Forderung nach selbstor- europäischen Best-Practice-Projekten ist u. a. ein öffentlich zugängliches ganisierten Räumen (vermutlich mit einem Containerprojekt) Train-the Trainer-Programm entwickelt worden. (Vgl. http://www.etfu.eu) nochmals Nachdruck verleihen. Ihrem eigenen Anspruch gerecht 5 Vgl. hierzu auch Bruno Latour (2005): Von der Realpolitik zur Ding- werdend, durchforsten sie derzeit die immer komplizierter wer- politik. Berlin. S. 29 f. denden Antragsverfahren und haben (etwa beim Europäischen 6 Hannah Arendt (2002) [1958]: Vita activa oder Vom tätigen Leben. Sozialfonds und beim Quartiersmanagement) auch schon Zu- München/Zürich. S. 66. wendungen erhalten. Vermutlich nicht mehr als Pächter, aber 7 Vgl Giorgio Agamben (2005): Profanierungen. Frankfurt/Main. S. 74. sie werden ihren Weg gehen. 8 Vgl. Hanne Seitz (2014): Zuschauer bleiben, Publikum werden, Performer sein. Modi der Partizipation. In: U. Pinkert/M. Sack (Hg.): Anmerkungen TheaterPädagogik am Theater. Kontexte und Konzepte von Theaterver- mittlung. Milow/Strasburg/Berlin (in Vorbereitung). 1 Vgl. Kulturprojekte Berlin (2010): Jugendliche befragen Jugendliche: 9 So Hortensia Völkers, künstlerische Leiterin der Bundeskulturstiftung, Kunst und Kultur in Berlin – was geht mich das an? Berlin. (Vgl. http:// in ihrer Laudatio zum „BKM-Preis Kulturelle Bildung“, den das Pächter- kulturvermittlung-online.de/kategorie.php?id=4&start=2) projekt im September 2013 erhalten hat.

Künstlerische Qualität = pädagogischer Gewinn? Plädoyer für ein erweitertes Verständnis von Pädagogik auf dem Theater Dorothea Hilliger

Die Tanzproduktion GIRLS – Dehaes 2011 große Erfolge feierte. Acht Tänzerinnen im Alter ein theaterpädagogisches No-Go? von 34 bis 56 Jahren verhandelten ihre Position in der Gruppe und reflektieren die Frage, ob auch im zeitgenössischen Tanz ein ideales Körperbild gilt. Ihr Bewegungsmaterial reicht Dehaes mit Acht Mädchen in farbenfrohen, kindlich anmutenden Klei- GIRLS an acht Mädchen im Alter von 10 bis 14 Jahren weiter.“3 dern betreten die Bühne, füllen sie für eine Stunde mit ihrem Atem und ihren Stimmen, ihren Körpern und Bewegungen. Diese Arbeitsweise bricht mit einem Credo der Theaterpädago- Sie tanzen ohne Musik, geben sich stimmlich Rhythmus und gik. Bei aller Unterschiedlichkeit der Positionen besteht hierüber Einsätze. Ihr Tanz ist hoch artifiziell und gleichzeitig spielerisch. Einigkeit: Die aktive Beteiligung Jugendlicher an der Erarbeitung Zu sehen ist die konzentrierte, gleichwohl heitere Erforschung und Präsentation einer Aufführung soll Erfahrungen ermöglichen, des Mädchenseins in seiner ganz eigenen Körperlichkeit.1 „Es die sich nicht nur auf den Umgang mit dem eigenen Körper, entsteht eine feinsinnige und spielfreudige Inszenierung um Zu- mit anderen Menschen, mit fremden und eigenen Themen und sammengehörigkeit und Freundschaft, die getragen wird durch Stoffen, sondern auch auf Formfindung und Strukturierung, die die Ungezwungenheit der Mädchen in ihrer Kraft, aber auch in Reflexion sowie das Aushandeln der als ‚richtig‘ erachteten Lösung ihrer Verletzbarkeit.“2 beziehen. Die Arbeit der performativen Künste im theaterpäda- Wer es nicht weiß, würde nicht ahnen, dass hier das Ergebnis gogischen Kontext liegt in dem Prozess, Bedeutungen gemeinsam einer Übernahme von Bewegungsmaterial zu sehen ist, das mit zu entdecken, zu befragen, zu verhandeln und neu zu gestalten. erwachsenen Tänzerinnen entwickelt wurde. „GIRLS ist das Ge- In der Erarbeitung einer Inszenierung, so das Ideal, entwerfen genstück zu WOMEN, mit dem der belgische Choreograph Ugo Kinder und Jugendliche Bilder, Figuren und Bedeutungen in Theaterpädagogisches Wissen. Praxis – Projekte – Positionen 27

Künstlerische Qualität = pädagogischer Gewinn?

„Girls“, Fotos: Clara Hermans einen offenen Raum hinein und treffen dabei ständig eine Aus- gramminformationen legen aber dar, dass es sich um eine Re- wahl unter mehreren Möglichkeiten. In diesem Prozess wird auf Erarbeitung des Stücks WOMEN handelt.5 Dies geschieht verschiedenen Ebenen theaterpädagogisches Wissen generiert. weder entschuldigend noch offensiv, sondern in einem Ist also die Arbeit GIRLS, wenn auch aufgrund ihrer künstleri- der Selbstverständlichkeit. schen Qualität zu Recht gefeiert, aus theaterpädagogischer Sicht Damit bewegen sich die jungen Tänzerinnen und die Choreo- ein absolutes No-Go?4 graphen innerhalb eines künstlerischen Formats, das sie für ihre Arbeit nutzen: Es handelt sich um eine Spielart des Reenactments, Der Anspruch, Kinder und Jugendliche am Entstehungsprozess das Eingang in die Performance- und Theaterkunst gefunden einer Aufführung möglichst umfassend zu beteiligen, ist selbst- hat. „So wiederholte Marina Abramovic 2005 mit Seven easy verständlich berechtigt. Offen aber ist die Frage, ob Beteiligung pieces Klassiker der Performance-Art, das Living Theatre nahm im Einzelfall nicht auch heißen kann, das Eigene im künstlerisch 2007 mit The Brig seine legendäre Inszenierung aus dem Jahr Fremden zu finden. Bildungs- und Selbstbildungsmöglichkeiten 1963 wieder auf, die Wooster Group brachte im gleichen Jahr von Kindern und Jugendlichen korrelieren, so meine These, mit mit Hamlet die Aufzeichnung einer Inszenierung aus dem Jahr der Qualität des künstlerischen Selbstausdrucks und damit auch 1964 auf die Bühne und die Performancegruppe Gob Squad mit der künstlerischen Qualität einer Aufführung. So ließe sich reinszenierte mit Kitchen 2008 an der Volksbühne die frühen der Bildungswert einer Arbeit über eine Aufführungsanalyse er- Filme Andy Wahrhols – um nur einige Beispiele zu nennen. mitteln – auch ohne genaue Kenntnis des Erarbeitungsprozesses. Diese Aktionen haben sich selbst als Reenactment annonciert 6 Diese These möchte ich in der Analyse von GIRLS nachgehen und sind von Interpreten als solche tituliert worden.“ und trete dabei, analog zur Rede von einem erweiterten The- Das Reenactment im Theater vollzieht keinen interpretativen aterbegriff, für ein erweitertes Verständnis von Pädagogik auf Vorgang wie das Literaturtheater, sondern den handelnden Nach- dem Theater ein. vollzug eines künstlerischen Ereignisses. Insofern gibt es eine Nähe zum Reeanactment historischer Ereignisse wie der Völker- schlacht von Leipzig. Der Verband ‚Jahrfeier Völkerschlacht bei Freundliche künstlerische Übernahme Leipzig 1813’ hat für sein Jubiläum mit dem Slogan geworben: „HISTORISCHES GEFECHT am 20. Oktober 2013“ und In der Tanzproduktion GIRLS wird nicht unmittelbar sicht- spricht von „historischer Zeitreise“ und „erlebbarer Geschich- bar, dass sie einem Aneignungsprozess fremden Materials durch te“.7 Aus der historischen Schlacht ist ein ästhetisches Ereignis junge Mädchen entsprungen ist. Ankündigungstexte und Pro - geworden, bei dem es um Genauigkeit geht. 28 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Künstlerische Qualität = pädagogischer Gewinn?

Dies trifft für das theatrale Reenactment durchaus auch zu. Man Von der pädagogischen Notwendigkeit eines kann das in der Arbeit GILRS nachweisen: Die jungen Mäd- künstlerischen Ereignisses chen haben die Choreografien von den Frauen buchstäblich ‚abgenommen‘. Es hat aber dennoch eine wichtige Verschiebung In der Brüchigkeit der Aneignung sehe ich, was die jungen Tänze- stattgefunden: Wir sehen der lustvollen Aneignung eines von er- rinnen machen, ich sehe aber auch gleichzeitig, wie sie es machen. wachsenen Frauen entwickelten Materials durch junge Mädchen Die Verweise auf ihre eigene Körperlichkeit liegen auf der Hand. zu, mit der diese sich der Erfahrungsdimensionen einer (noch) Damit steht diese Arbeit in einem engen Bezug zu einem zeitge- fremden Welt körperlich-handelnd öffnen. Dabei entwickeln sie nössischen Theaterverständnis, das den Fokus nicht so sehr auf ihren eigenen Zugriff, der das Brüchige, Unfertige, manchmal die Darstellung von Wirklichkeit, sondern auf deren Konstruk- auch das Ungelenke eines im Wachstum befindlichen Körpers tion im Moment des theatralen Handelns legt. Im Fokus steht zeigt, der aber immer durch eine erarbeitete Form geschützt wird. die Konstruktion einer eigenen, einer theatralen Wirklichkeit, Man könnte die Erarbeitung und die Präsentationen als ‚Herein- die in vielfältigen Bezügen zu außertheatraler Wirklichkeit steht, wachsen‘ in diese Form charakterisieren, der wir zusehen dürfen aber als Kunstform eine Eigenheit behauptet. – oder auch als Aneignung der fremden Form in einem Akt der Die Aufführung, die ich hier beispielhaft heranziehe, inszeniert Enteignung eines Materials, bei der hier auf Basis identischen die Brüchigkeit und Fragilität, aber auch die Lust des Erwach- Bewegungsmaterials etwas völlig Neues entsteht. senwerdens. Das ist es, was zumindest mich zutiefst berührt hat Insofern sich etwas Neues im Vorgefunden, etwas Eigenes im – und, wie an der Konzentration während der Aufführung zu Fremden entwickelt, findet in der Arbeit GIRLS doch etwas merken war, auch den Rest des Publikums. ganz anderes statt als im Reenactment zur Völkerschlacht von Die Arbeit enthält einen Entwurf in Richtung auf Zukunft, das Leipzig. Dort versucht man die Empirie in die Darstellung hi- Werden von Frauen. neinzuholen: Man versucht in der freien Natur ein Experiment Wie sie das macht, in diesem Fall ohne Sprache, nur über den in- zu Laborbedingungen. In der entsprechenden Erinnerungskul- dividuellen Atem und den Atemrhythmus in der Gruppe, über die tur geht es um Beweise: Diese Kleidung wurde getragen. So und Bewegung und Anordnung der Körper im Raum, eröffnet sie eine nicht anders ist es gewesen. So und so viele Tote hat es gegeben Fülle an Assoziationsmöglichkeiten, aus denen für den Zuschau- … all das enthält der spielerische Nachvollzug von 2013. er eine ganze eigene Wirklichkeit im Moment der Aufführung In der Arbeit GIRLS hingegen liegt der Fokus auf der Frage, wel- entsteht. Das unterscheidet sie von einem rein pädagogischen che neue künstlerische Qualität entsteht, wenn ein künstlerisches Anliegen und macht sie zu einem künstlerischen Ereignis. Ereignis unter Bedingungen neu gewagt wird, die Vergangen- heit, Gegenwart und Zukunft miteinander verbindet. Kinder Aufführungen von Kindern und Jugendlichen werden noch eignen sich ein Bewegungsmaterial von Erwachsenen an, in das immer mit der als Lob gemeinten Einschätzung, „Das war ja so wiederum deren vergangene Erfahrung eingelagert ist, welche authentisch“, belegt. Und das, obgleich es Authentizität auf der auf eine mögliche Zukunft der jungen Mädchen verweisen kann. Bühne gar nicht gibt. Theatrale Authentizität ist immer kon- Diese verschiedenen Ebenen verdichten sich im Moment der Per- struiert, darüber sind sich nicht nur Theaterwissenschaft und formance. Hier wird ein Aneignungsprozess für den Zuschauer -pädagogik einig. Theaterpraktiker wissen, wie viel Scheitern, sichtbar, auch wenn man die spezielle Geschichte dieser Arbeit wie viele Erprobungen und Verwerfungen, wie viel Arbeit an nicht kennt. Denn das fremde Bewegungsmaterial, in dem die Genauigkeit, Stimmigkeit, Künstlichkeit der Entwicklung von jungen Künstlerinnen sich erproben, bewahrt – neben und in Bühnensituationen vorausgegangen ist und sie noch im Moment den Bezügen zu Tänzerinnenbiografien – kulturelle Codes und der Aufführung begleitet. Das ‚Mehr‘, das sich daraus für die Muster. Pädagogik in der Theaterkunst ergibt, ist das Changieren zwi- Theaterpädagogisches Wissen. Praxis – Projekte – Positionen 29

Künstlerische Qualität = pädagogischer Gewinn? schen Fremdem und Eigenem, zwischen Figur und Spielerselbst von Welt wiederum, die das Reeanactment von WOMEN als in einem aktiven, gestaltenden Aneignungsprozess.8 GIRLS beispielhaft sichtbar macht, kann den Zuschauer auf je Die Herausforderung in der Arbeit mit Amateuren ist es, je spezifische Weise berühren. eigene künstlerische Formen und Formate zu finden, die für Die künstlerische Form, die gefunden wird, ist der Zugewinn Spieler und Zuschauer sichtbar machen, dass in der theatralen für die „Selbstbildung“ der Spieler, aber auch für das Publikum, Gestaltung eine gruppen- bzw. altersspezifische Aneignung von denn hier wird im besten Fall sichtbar, wie sich junge Menschen ‚Welt‘ als Konstruktion von Wirklichkeit stattgefunden hat, die in im künstlerischen Gestalten ‚selbst auf die Spur kommen‘. der Präsentation immer wieder neu verhandelt wird. Dies ist das zentrale künstlerische Qualitätskriterium, das einen spezifischen Anmerkungen pädagogischen Gewinn verspricht. Diese Zusammenhänge sollen 1 GIRLS ist eine Produktion von fABULEUS, choreografiert von Ugo in einem letzten Gedankenschritt erläutert werden Dehaes und Natascha Pire. Ein Ausschnitt ist zu sehen auf: http://www. youtube.com/watch?v=ok7BVWbMdDc ’Doing art – doing pedagogic’ 2 Tanzhaus nrw anlässlich des Gastspiels von GIRLS am 26. 1. 1014. https:// www.facebook.com/events/386887308112973, eingesehen am 1.2.14. 3 Text anlässlich des Gastspiels zum Tanz im August Berlin 2013. GIRLS Nicht nur theatrale Wirklichkeit wird konstruiert, auch aktuelle wurde am 24. und 29. 8. 2013 im Theater an der Parkaue gezeigt. http:// Subjekttheorien gehen von einem komplexen Konstruktions- www.tanzimaugust.de/programm/festivalplan/dehaes-girls/506/, eingesehen prozess in der Bildung von Subjektivität aus. Die vielschichtige am 2.11.2013. Identität des Individuums bildet sich in einem ständigen Prozess, 4 Entsprechend der Entwicklungen im zeitgenössischen Theater und im der von performativen Akten getragen wird – Foucault spricht Sinne eines erweiterten Theaterbegriffs wird hier der Tanz unter die per- von ‚Techniken des Selbst‘, die analysiert und in gewissen Gren- formativen Künste gefasst. zen auch erlernt werden können.9 5 Der Teaser von WOMEN ist einzusehen unter: http://www.youtube. Der Philosoph Wolfgang Welsch beschreibt die damit verbunde- com/watch?v=ZZCoj-0DIKk nen Anforderung, mit denen wir uns auch in unserem pädago- 6 Roselt, Jens / Otto, Ulf (Hg.): Theater als Zeitmaschine. Zur perfor- gischen Handeln konfrontiert sehen: „Das Leben der Subjekte mativen Praxis des Reeanactments. Bielefeld 2012, S. 8. wird (…) heute in zweifachem Sinn zu einem ‚Leben im Plural‘. 7 http://www.leipzig1813.com/de/home.html, eingesehen am 13.11.13. Erstens im Außenbezug: Man lebt innerhalb eines durch Plu- 8 Schon 1996 weist Ulrike Hentschel darauf hin, dass eine szenische ralität geprägten Feldes sozialer und kultureller Möglichkeiten Gestaltung nur dann gelingen kann, wenn „die Wirklichkeiten von Spie- und muss sich in dieser Pluralität bewegen und zurechtfinden. ler und Figur ‚oszillieren‘, das heißt, solange sie in der Schwebe gehalten Zweitens im Innenbezug: Das Subjekt verfügt in sich über meh- werden“. Hentschel, Ulrike: Theaterspielen als ästhetische Bildung. Wein- rere Entwürfe, die es gleichzeitig oder nacheinander durchlaufen heim 1996. S. 244. kann. Sowohl jene äußere wie diese innere Pluralität erfordern 9 Vgl. Butler, Judith: Performative Akte und Geschlechterkonstitution. einen hohen Grad an Übergangsfähigkeit.“10 Welsch spricht in Phänomenologische und feministische Theorie. In: Wirth, Uwe (Hg.): diesem Zusammenhang von ‚Pluralitätskompetenz‘, die sich im Performanz, Frankfurt/M. 2002; Foucault, Michel: Ästhetik der Existenz. Besonderen aus der Fähigkeit zur Durchlässigkeit zwischen den Frankfurt/M. 2007; Nancy, Jean-Luc: Singulär plural sein, Berlin 2004; Subjektanteilen ergebe. 11 Sloterdijk, Peter: Du musst Dein Leben ändern. Frankfurt/M. 2009. Auch wenn wir noch immer nicht genau wissen, was das Theater- 10 Welsch, Wolfgang: Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und spielen bewirkt, es hält ganz offensichtlich zahlreiche Methoden das Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt/M. 1996, S. 831. sowie ein Experimentierfeld zum Erproben von Subjektentwür- 11 Ebd. S. 850/851. fen bereit. 12 Stallknecht, Michael: Auch Ich-Sein muss geübt werden. Süddeutsche „Auch Ich-Sein muss geübt werden“ betitelt die Süddeutsche Zeitung Nr. 228, 2./3. Oktober 2013. Zeitung ihren Bericht über ein philosophisches Colloquium zum 13 Vgl. DFG Graduiertenkolleg „Selbst-Bildungen. Praktiken der Verständnis des „Ich“12. In welche Begrifflichkeit der zeitgenös- Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive“. Carl sische Mensch sich selbst auch immer fasst, ob beispielsweise von Ossietzky Universität Oldenburg. http://www.uni-oldenburg.de/ von Subjekt oder Selbst gesprochen wird, es besteht heute Ei- graduiertenkolleg-selbst-bildungen, eingesehen am 29.12.13. nigkeit darüber, dass sich die Persönlichkeit des Menschen in Literatur: seinen sozialen Bezügen herausbildet. Wissenschaftler sprechen Butler, Judith: Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phä- von einem Wechselspiel von doing subject und doing culture: nomenologische und feministische Theorie. In: Wirth, Uwe Subjekte bilden sich in sozialen Praktiken und das Soziale wird (Hg.): Performanz, Frankfurt/M. 2002. als ein zu beobachtendes Geschehen miteinander verflochtener Foucault, Michel : Ästhetik der Existenz. Frankfurt/M. 2007. Handlungsträger gesehen.13 Hentschel, Ulrike: Theaterspielen als ästhetische Bildung. Weinheim Das Wechselspiel von doing subject und doing culture findet in 1996. der Theaterpädagogik im besten Fall in einem Wechselspiel von Nancy, Jean-Luc: Singulär plural sein, Berlin 2004. doing pedagogic und doing art statt. Dieses kann junge Menschen Roselt, Jens/Otto, Ulf (Hg.): Theater als Zeitmaschine. Zur performa- tiven Praxis des Reeanactments. Bielefeld 2012. dazu befähigen, einen wie immer gearteten Ausgangspunkt, sei Sloterdijk, Peter: Du musst Dein Leben ändern. Frankfurt/M. 2009. es ein Stück von Shakespeare, ein fremder tänzerischer Aus- Stallknecht, Michael: Auch Ich-Sein muss geübt werden. Süddeutsche druck, eine eigene Erfahrung, zu einem künstlerisch gestalteten Zeitung Nr. 228, 2./3. Oktober 2013. und verdichteten Weltentwurf zu machen. Die je altersbeding- Welsch, Wolfgang: Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und te Spezifik in der künstlerischen Aneignung und Verhandlung das Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt/M. 1996. 30 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Von Beziehungskrisen, Beichtstühlen und Gewissensbissen. Zuschauer im Gespräch Mira Sack

„Der Zuschauer ist praktisch, mehr aber noch ästhetisch die zentrale Frage des Theaters, seiner Praxis und Theorie geworden.“ (Lehmann 2008; 26//Paradoxien des Zuschauers)

Ausgangslage vorzunehmen. Solange die Bestrebungen dahin gehen, dem be- stehenden Angebot eine neue Verpackung zukommen zu lassen, Das Jahrbuch für Kulturmanagement 2012 trägt den Titel um wieder mehr Nutzer in die Theaterhäuser zu holen, bleibt „zukunft publikum“. Auf der gleichnamigen Tagung werden, die innere Verfassung der Theater hinsichtlich der Bereitschaft, „zukunftsgerichtete Möglichkeiten zur Erschließung eines wach- durch den Kontakt mit einem potenziellen Publikum Verände- senden Kulturpublikums“ untersucht.1 „Wie gelingt der Dialog rungsprozesse vorzunehmen, unangetastet. mit dem Publikum?“, frage die Dramaturgische Gesellschaft auf ihrer Jahreskonferenz 2013 und verweist auf das Potenzial der Beziehungskrise Stadttheater, unterschiedliche Communities miteinander ins Gespräch zu bringen2 und der Bundesverband Theaterpädagogik Jenseits von einzelnen alternativen Theaterprogrammatiken und stellt seine Bundestagung im Herbst 2012 unter die Überschrift Wiederaufforstungsüberlegungen zur Publikumsakquise zeichnet „Das aktive Publikum – Theatervermittlung als künstlerische sich ab, dass die Beziehung zwischen den Theatern und ihren Praxis“. Neben den Auseinandersetzungen um performative, kol- Zuschauern kriselt. Die Impulse aus Management, Dramatur- lektive und partizipative Theateransätze ist die Aufmerksamkeit gie und Theaterpädagogik könnten aber etwas in Bewegung an unterschiedlichen Stellen etwa zeitgleich auf das Publikum bringen, durch das ein erweitertes Selbstverständnis in der insti- übergesprungen. Parallel findet in den wissenschaftlichen Dis- tutionellen Theaterpraxis verankert wird. Wenn auf diesem Weg kussionen die „Sache mit den Zuschauern“ ebenfalls immer die Kommunikation und Reflexion auf inhaltlicher Ebene die deutlicher Gehör3. Der Zuschauer ist wieder ein wesentlicher Theaterdiskussion bereichert, könnte es sich womöglich sogar Dreh- und Angelpunkt des Theaterdispositivs geworden und aus eigener Kraft weiter entwickeln und die produktive Bezie- verlangt von den Theatern eine Aktualisierung der Selbstveror- hung zwischen Akteuren und Publikum reanimieren. Das Ziel, tung in Bezug auf seine gesellschaftliche Strahlkraft. eine andere Praxis des Miteinanders am Theater zu kultivieren, bedingt aber ein exploratives Verhalten seitens der Theater – mit Die Debatte um das gegenwärtige Verhältnis und zukunftsträch- der Bereitschaft, aus der Krise verändert hervorzugehen. tige Verhaltensstrategien zwischen der Institution Theater und den (potenziellen) Zuschauern weckt häufig den Eindruck, als sei Ich möchte im Folgenden auf ein gängiges Format des gegen- die Hochkultur etwas ratlos, wie sie aus der Einbahnstraße ihrer seitigen Austauschs näher eingehen: das Publikumsgespräch. hegemonialen Kunstproduktion wieder herauskommt und in ein Publikumsgespräche im Anschluss an eine Aufführung fristen anderes Fahrwasser wechseln kann. Analyseversuche vor dem eher ein Mauerblümchen-Dasein. Sie werden zwar seit langem Hintergrund eines demographischen Wandels der Bevölkerung, sehr selbstverständlich in fast allen Theater angeboten und fun- veränderten Lebensstilen und der expandierenden Angebotspa- gieren als Kontakt- und Kommunikationsfläche zwischen den lette diverser Kultur- und Freizeitaktivitäten dominieren die jeweiligen Theatermachern einer Inszenierung und den Zu- Suche nach einer veränderten Partnerschaft. Sie befragen aber in schauern. Eine differenzierte Auseinandersetzung und praktische der Regel kaum, wie eine qualitativ andere Beziehung zwischen Weiterentwicklung steht aber bislang aus – kaum ein Theater Theaterschaffenden und Zuschauern erzeugt werden kann. Die widmet diesem Format Aufmerksamkeit. Meist liegen sie in der Suche nach einer Intensivierung und Erweiterung der Begegnung Verantwortung des federführenden Dramaturgen. Die Spieler mit der Bevölkerung rutscht tendenziell in die Abteilung Marke- sind aufgefordert, sich möglichst schnell nach der Vorstellung ting und Öffentlichkeitsarbeit, Dramaturgie und künstlerische begleitend an dessen Seite zu gesellen und den Fragen aus dem Leitung bleiben von inhaltlichen Auseinandersetzungen damit Publikum Rede und Antwort zu stehen. In der Regel stellt sich weitgehend unbeeinflusst. Die gesellschaftspolitischen Entwick- dabei schnell ein Gesprächsmuster ein, bei dem Theatermacher lungen erfordern jedoch von den Theatern, dass sie sich „über und Zuschauer sich wie Aliens gegenüberstehen: Ein Ausfragen die konkreten Formen der Praxis, über ihren jeweiligen Kontext beginnt, als lebten die Menschen aus Theater- und Zuschauer- und über ihre Art, im Prozess von Produktion und Rezeption raum auf unterschiedlichen Planeten und verfügten nicht über Beziehungen (neu) zu organisieren“ Gedanken machen.4 Eine gemeinsame Erfahrungen und eine miteinander geteilte Sprache. Gefahr in dieser erforderlichen Neuausrichtung liegt u. a. darin, Auf beiden Seiten wird in Folge gerne mal monologisiert, oh- die Zuschauer zu Konsumenten zu machen und unter dem Label ne den Kontaktverlust zum Gegenüber zu bemerken und man eines „Theater für alle“ eher einen überholten Autoritätsanspruch fragt sich, für wen oder was das Publikumsgespräch eigentlich nutzbringend weiter vermarkten zu wollen, als institutionelle gemacht ist. Dabei könnte, so meine These, genau hier eine von Transformationsprozesse entlang einer kritischen Praxisreflexion vielen Kontaktinseln sein, die der Beziehungskrise ihre Sinnhaf- und dem damit verbundenen Legitimationsstrategien der Arbeit tigkeit vor Augen führt. Theaterpädagogisches Wissen. Praxis – Projekte – Positionen 31

Von Beziehungskrisen, Beichtstühlen und Gewissensbissen. Zuschauer im Gespräch

Der Beichtstuhl ters und dem Angebot an den Zuschauer, sich aus einem Glas ein kleines zusammengerolltes Zettelchen (auf jedem steht ein anderer Neugierig auf mögliche Weiterentwicklungen des Formats Pu- Satz aus der Inszenierung) und eine Süßigkeit zu nehmen, um blikumsgespräche haben Theaterpädagogik-Studierende der die Beichte zu beenden. Zürcher Hochschule der Künste in der Spielzeit 2011/12 Ver- In der Durchführung war für uns alle erstaunlich, wie persönlich suchsanordnungen entwickelt, die in Kooperation mit dem die Beichten waren und dass sich innerhalb von fünf bis zehn Mi- Theater Basel bei vier sehr unterschiedlichen Inszenierungen5 nuten eine intensive Verbindung zu einem Gegenüber herstellen realisiert wurden. Immer wurde dabei nach Kommunikati- lässt, obwohl ja fast ausschließlich der Zuschauer spricht. Dabei onssituationen gesucht, die inhaltlich und ästhetisch mit den war jedes Gespräch anders, überraschend und voller Wendun- Inszenierungen korrespondieren, aber auch eigenständig Be- gen, die nie vorauszusehen waren. Der Beichtstuhl fokussiert die standteil eines erweiterten Repertoires von Gesprächssettings Wahrnehmung so gezielt auf das Selbst, dass ein aufmerksames für Nachgespräche sein können. Gleichzeitig sollten gegenüber Zuhören wie ein Katalysator für dichte Beschreibungen und Re- der üblichen Ping-Pong-Dramaturgie von Publikumsgesprächen flexionen zu sein scheint. Es erfordert unserer Erfahrung nach andere Kommunikationswege erprobt werden: Mal stand der vom Beichtvater eine absolute Hinwendung zum Gegenüber, in Aspekt „Zuschauer sprechen mit Zuschauern“ im Vordergrund, der risikobereit und ergebnisoffen über kleinste Interventionen mal themenbezogene Kleingruppen oder 1:1-Situatonen, mal ins Gespräch eine quasi-therapeutische Situation erzeugt wird. nicht-sprachfixierte Vorgehensweisen. Mit einem Format sind Die Gegenüberstellung des Zuschauers mit sich selbst muss vom wir gescheitert: Die Variante “Actor to go”, bei der sich eine Beichtvater dabei aber immer über die Inszenierung initiiert Besuchergruppe einen Darsteller in eine benachbarte Kneipe werden, also eine dritte Sache, die das eigentliche Subjekt des einladen darf, um dort für die Dauer eines Getränks miteinan- Gespräches ist und bleibt. der ins Gespräch über den Abend zu kommen, wurde von den Die Kombination aus frei schwebender Aufmerksamkeit für das Schauspielern als zu gewagt abgelehnt.6 Gegenüber, eindeutigem Bezug auf eine Inszenierung und offenem inhaltlichen Verlauf war auch in den anderen Formaten immer Anhand eines Beispiels, dem Gesprächsformat „Beichtstuhl“, wieder entscheidend für einen zufriedenstellenden Austausch. versuche ich das Potenzial solcher Gesprächsrahmungen exem- plarisch sichtbar zu machen. Für Gespräche im Anschluss an die Gewissensbisse Vorstellung „Wir sind nochmal davongekommen“ (Text: Thornton Wilder, Regie: Amélie Niermeyer) wurden im Foyer des Schau- spiel Basel drei Beichtstühle aufgebaut. Nach der Vorstellung Die verschiedenen Gesprächsrahmungen für einen anderen bekamen interessierte Zuschauer im Foyer einen Beichtspiegel Austausch über Aufführungen hatten eine große Gemeinsam- ausgehändigt und wurden in das Format eingeführt. Auf dem keit: Sie erzeugten nicht-alltägliche Situationen des Sprechens. Beichtspiegel waren Anregungen für die Vorbereitung auf das Durch unkonventionelle Gesprächsregeln und überraschende Beichtgespräch mit der einleitenden Bemerkung notiert: „Dieser Denkangebote mäanderten die Gespräche entlang einer Grenze Beichtspiegel soll dir als Leitfaden für deine Beichte dienen. Die zwischen Alltag und Spiel. Dabei gingen sie immer von einer Fragen sollen dir helfen, dich auf deine Beichte vorzubereiten. gemeinsam geteilten Aufführung aus, die bis zum Gesprächsende Deine Antworten kannst du beim Beichtvater des Theater Basel den inhaltlichen Reibungspunkt bildeten. Gerade die singulären loswerden.“ Fragen waren u. a. „Schwirrt mir ein Moment der Erfahrungen jedes Einzelnen im Bezug auf das Gesehene waren Inszenierung noch im Kopf herum?“, „Fand ich etwas grandios die zentrale Quelle für einen Austausch. oder total bescheuert?“, „Hat mich etwas erregt?“, „Lässt mich Das gemeinsame Nachdenken über Kunst als Erfahrungsraum ein Satz nicht mehr los?“, „Habe ich unschamhaft gedacht?“, anhand einer konkreten Inszenierung bringt die Gespräche in eine „Habe ich Reden gegen das Stück geführt?“, „Trage ich der In- Nähe zum Philosophieren. Es kommen also Erkenntnisse in die szenierung etwas nach?“ Schwebe, die eigenen Wahrnehmungen werden Referenzpunkt Tritt ein Besucher in den Beichtstuhl, sitzt er in einem kleinen des Dialogs und das gemeinsame Nachdenken „von Kunst aus“7 dunklen Raum vor einer schwarzen Stellwand. Mit einer ritua- führt zu einer intensivierten Begegnung mit dem Verhältnis zum lisierten Begrüßung („Hallo Mensch. Du bist nochmal davon eigenen Selbst, dem Anderen und der Welt. Jens Roselt beschreibt gekommen. Was möchtest du loswerden?“) durch den Beichtvater, einen Allgemeinplatz unseres gängigen Theaterverständnisses in der unsichtbar auf der anderen Seite des Beichtstuhls sitzt, wird Bezug auf den Zuschauer und das Drama der Wahrnehmung: das Gespräch eröffnet. Die beiden Rollen bleiben die ganze Zeit „Theater findet seinen Zweck demnach nicht nur darin, die Zu- über klar verteilt: Der Zuschauer spricht, der Beichtvater hört zu schauer zu befriedigen, indem ihren Erwartungen entsprochen und fragt nach. Unterstützt und geschützt durch die Anonymität wird, sondern auch darin, sie Krisensituationen auszusetzen, die der beiden Personen soll das Gespräch im Verlauf einen Zwischen- sie und ihre Erwartungen infrage stellen.“8 In der Konsequenz raum öffnen, der eine intensive Selbst-Reflexion des Sprechenden macht er sich stark für ein Theater, das tradierte Rezeptionsregis- provoziert. Der Fokus für den Beichtvater in der Gesprächsführung ter irritiert und dem Zuschauer zumutet, sich in ungewohnten liegt ganz auf dem Erleben der Vorstellung und der Verknüpfung und unerwarteten Situationen zurechtzufinden. Er begründet von Spüren und Denken. In der Durchführung erfordert dies dies so: „Dieser reflektierte Umgang mit der eigenen Erfahrung meist nur wenige, gezielte Nachfragen oder das Aushalten eines wird notwendig in einem kulturellen Umfeld, das verstärkt auf Schweigens, das länger andauert als in alltäglichen Dialogsitua- Event, Erlebnis und Attraktion setzt, neben dem flotten Konsum tionen. Nach einem vorgegebenen Zeitraum wird das Gespräch von Ereignissen aber kein Modell zu Auseinandersetzung anbie- abgeschlossen, wiederum mit einer Redewendung des Beichtva- tet.“9 32 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Von Beziehungskrisen, Beichtstühlen und Gewissensbissen. Zuschauer im Gespräch

Wenn Zuschauer mit Zuschauern sprechen und Theatermacher 3 Vgl. u. a. http://www.uni-hildesheim.de/media/presse/Zugangsbarrieren mit ihrem Publikum, so dass in diesen Gesprächen die Sicht auf _Kultur_Uni_Hildesheim_und_Kulturloge.pdf und dazu auch http://www. Theater in eine Kontingenz gerät und anders gesehen und Anderes nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=8952: gesehen werden kann, könnte eine Transformation des Verhältnis- mind-the-gap-in-berlin-diskutierten-vertreter-der-hochkultur-darueber -wie-die-kunst-zum-volk-kommen-kann-ohne-die-zielgruppe-zu-fragen& ses zwischen Theater und Zuschauern beginnen. Was aber bieten catid=101:debatte&Itemid=84. wir im Theater augenblicklich für Modelle an? Was tun wir, um 4 Vgl. Primavesi: Theater/Politik – Kontexte und Beziehungen. In: Jan Irritationen produktiv zu machen? Entsteht nicht erst dann die Deck, Angelika Sieburg (Hg.) Politisch Theater machen. Neue Artikulations- von Roselt geforderte „Kultur des Zuschauens“ durch eine an- formen des Politischen in den darstellenden Künsten, 2011, 41-71; hier 57. 10 dere „Qualität des Blicks“ , wenn auch auf Seiten der Theater 5 Eine ausführliche pdf-Dokumentation der Studierenden kann über die eine Kultur mit Zuschauern durch eine verbindliche Begegnung Autorin bezogen werden. mit deren Blick und Blickwinkeln entsteht? Wie interessiert sind 6 Die ungewohnte Situation, nicht den Begleitschutz eines Dramaturgen wir an den anderen Perspektiven auf die von uns inszenierten zu haben, wäre vermutlich am Ende der Versuchsreihe leichter angenom- Geschichten? Welche Verbindung zu unserem Publikum wollen men worden. wir und welche will denn ein potenzieller Zuschauer? Hat eine 7 Vgl. Eva Sturm: Von Kunst aus. 2011. Wahrnehmung davon überhaupt schon begonnen? Was wollen 8 Jens Roselt „Drama der Wahrnehmung“ in ZfTP; Heft 59; 27. wir eigentlich? Und wie gehen wir damit um, dass unser Wille 9 Ebd. hier nicht letztes Gebot sein kann? 10 Vgl. ebd. 28.Fic tet, corpore rerum rehendebitas eum as aut rem. Ita Anmerkungen veliquunt alit min rae volupiditem sitatum as nis dolest, exceatque pos mos autem ium is debis sin corende licium ad maximinctem volores sitiumet et 1 Vgl. http://www.fachverband-kulturmanagement.org/6-jahrestagung-des- ium labo. Pudaers peliberum as aspe perferovid exerspiet estrunt voluptae fachverbands-fur-kulturmanagement/. nonsequam quo culparitaquo iniae quo optae re pa as ad expersperum no- 2 Vgl. http://www.dramaturgische-gesellschaft.de/jahreskonferenz/archiv/ bis ne volorem eaquat et hiciliti net et autaquunt, quidia accum alici core muenchen-2013/ quat mo comnis derio. Nam audipis ent.

Ständige Konferenz Spiel und Theater an Hochschulen 2013: Basar des Wissens. Foto: Ute Pinkert Theaterpädagogisches Wissen. Praxis – Projekte – Positionen 33

‚Antworten’ auf Aufführungen. Über den produktiven Umgang mit Fremder- fahrungen in Aufführungen zeitgenössischen experimentellen Theaters. Virginia Thielicke

Zeitgenössisches experimentelles Theater und Bei letzterer unterscheidet er zwischen reproduktiven und pro- sein Irritationspotenzial duktiven bzw. kreativen Antworten, bei denen Neuschöpfungen zwischen Subjekt und Fremden hervorgebracht werden können (vgl. Waldenfels 1997). Unter dem Sammelbegriff des ‚zeitgenössischen experimentel- len Theaters‘ lassen sich all diejenigen aktuellen Theaterformen subsumieren, die sich vom Literaturtheater und seinen Bedeu- ‚Antworten’ auf Aufführungen tungsvorgaben lösen und sich zum Beispiel anderen Erzählformen und Inszenierungsformaten wie Collagen, Assoziationen und Das theaterpädagogische Vermittlungskonzept zur erfahrungsori- Bilder, Spielweisen wie Handeln statt „Als-ob-Spielen“ sowie entierten Aufführungsrezeption ‚Antworten‘ auf Aufführungen neuen Aufführungsorten wie z. B. verlassenen Gebäuden zu- lehnt sich, wie der Titel schon andeutet, an Waldenfels Konzept wenden (vgl. Lehmann 1999). eines kreativen ‚Antwortens‘ auf den Anspruch des Fremden Dies hat für die Zuschauer zur Konsequenz, dass die herkömmli- an. chen Wahrnehmungs- und Rezeptionsdispositionen häufig nicht Beim pädagogisch initiierten und begleiteten ‚Antworten‘ auf mehr greifen und sich bei ihnen große Befremdung einstellt. Bei Aufführungen ‚antworten‘ die Rezipienten schreibend, zeichnend, meiner Arbeit als Seminarleiterin im Lernbereich Theaterpädago- Klänge erzeugend und künstlerisch handelnd auf ihre eigenen gik an der Universität Hamburg und in meinem Bekanntenkreis Wahrnehmungen und Aufmerksamkeiten, das heißt auf eben konnte ich dies vielfach beobachten. Viele Studierende und Freun- jenes, was in der Aufführung möglicherweise als Fremdanspruch de reagierten auf die erstmalige Konfrontation mit aktuellem an sie herantritt und in Unruhe versetzt. Die Rezipienten sind Theater mit großer Irritation, was dazu führte, dass sie nach dem ihren Erfahrungen und den damit verbundenen Emotionen wie Aufführungsbesuch entweder gleich wieder zum Tagesgeschäft z. B. Verwirrung oder Wut folglich nicht einfach hilflos ausge- übergingen oder versuchten, ihre aufschäumenden Emotionen liefert, sondern verwandeln sich in aktiv antwortende Subjekte, wie Wut mit einem Glas Wein in der Kantine zu ‚betäuben‘. die in neue Sinnstiftungsprozesse verwickelt werden. Die Studierenden umschiffen die Auseinandersetzung mit ihren Das Vorgehen des ‚Antwortens‘ auf Aufführungen umfasst eine eigenen Wahrnehmungen, Erfahrungen und Deutungsansätzen Reihe von Impulsen in Form unterschiedlicher Aufgaben, die den außerdem, indem sie auf das vermeintlich gesicherte Wissen von Studierenden zur Unterstützung vorgelegt werden. Die Aufgaben Sekundärliteratur zurückgriffen. wurden ausgehend von meinen praktischen Lehrerfahrungen Folglich musste ich für die Seminararbeit eine Form der Ausei- und in Anlehnung an das kunstpädagogische Vermittlungspra- nandersetzung finden, die einerseits bei den Wahrnehmungen, xis der kartierenden Auseinandersetzung mit aktueller Kunst Erfahrungen und Deutungen der Rezipienten ansetzt, ihnen nach Christine Heil entwickelt (vgl. Heil 2007) und umfasst Bedeutung und Gewicht verleiht und andererseits, die sich im folgende Schritte: Aufführungsbesuch produzierenden Fremderfahrungen der Stu- • den zweimaligen Aufführungsbesuch, dierenden in irgendeiner Form produktiv werden lässt. • das Führen eines Werktagebuchs, der den gesamten ‚Ant- wortprozess‘ dokumentiert, Irritation und Beunruhigung als ein Anzeichen • das Anfertigen von zwei Erinnerungsprotokollen pro Auf- von Fremderfahrung führung, • das Erfinden und Durchführen einer weiteren Form der me- dialen Übersetzung von Wahrnehmungen oder Erinnerungen Der Philosoph und Phänomenologe Bernhard Waldenfels hat in an die Aufführung, seinen Studien zur Phänomenologie des Fremden ein Konzept • Selbst- und Fremdreflexionen der Erinnerungsprotokolle zur Beschreibung von Fremderfahrung entwickelt, in dem die und des ‚Antwortprozesses‘, Begrifflichkeit der ‚Responsivität‘ von zentraler Bedeutung ist. • Entwicklung einer performativen Aktion oder angeleiteten Waldenfels geht davon aus, dass das radikal Fremde weder ein Übung ausgehend von der eigenen ‚Antwort‘. bloßes Objekt unserer Wahrnehmung noch ein Konstrukt un- serer kognitiven Tätigkeit ist, sondern ein Phänomen eigener Qualität, von dem besondere Wirkungen ausgehen. Das Frem- Ein Blick in die ‚Antwortpraxis’ de zeigt sich uns, indem es sich einer uns gegebenen Ordnung entzieht und als ein Anspruch an uns herantritt, der uns trifft Im Folgenden sollen drei Einträge aus dem Werktagebuch ei- oder widerfährt. Die Wirkung dieser Erfahrung kann uns in ner Studierenden zitiert werden, das im Rahmen des Seminars Unruhe versetzen und wiederum verschiedene Reaktionsfor- ‚Antworten‘ auf Aufführungen entstanden ist und den Ausein- men hervorrufen. Waldenfels beschreibt sie wie folgt: 1. die adersetzungsprozess der Studierenden mit der zeitgenössischen Gleichsetzung von Fremden und Feind, 2. die Aneignung des experimentellen Theateraufführung GAP FEELING des russi- Fremden und 3. das Antworten auf den Anspruch des Fremden. schen Künstlerkollektivs AKHE dokumentiert. 34 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

‚Antworten’ auf Aufführungen. Über den produktiven Umgang mit Fremderfahrungen in Aufführungen zeitgenössischen experimentellen Theaters.

Erster Eintrag nach dem ersten Aufführungsbesuch von GAP eigene performative Aktion entwickeln sollten. In Anlehnung an FEELING die rezipierte Aufführung baute Monika mehrere Stationen auf, an denen ihre Kommilitonen unterschiedliche SINNeserfahrun- „1. Reaktion gen machen können. Das waren unter anderem eine Wand, an GAP FEELING: 1 1/2 Std. Sinn und Unsinn. Mehr Un- die ein Youtube-Video mit „sinnlosem Scheiß“ projiziert wurde, sinn als Sinn, oder? ein Stuhl mit gelben Luftballons und Nadeln, eine Kiste mit Schöne Klänge, schöne Bilder. verschiedenen persönlichen Gegenständen und ein großes Blatt Zwischendurch habe ich mich gefragt, wann ich endlich Papier, auf welches in großen Lettern das Wort Sinn geschrieben gehen kann. stand und neben dem Stifte für eigene Assoziationen bereit la- (...) gen. Die Bewegungen der Spieler, der Rauminhalte waren wunder- voll. Fließend, beinahe synchron. Abgehackt. Beeindruckend. „Nach der Aktion: Ich mag rote Kleider ... Ich bin positiv überrascht von meiner ‚Aktion‘. Viele Gedan- Ich habe mich gefragt, ob der gelbe Ballon/Luftballon für ken, die ich bei der Planung hatte, wurden wiedergegeben. Alkohol oder andere Drogen steht?“ Und einige neue, oder interessante Ansätze kamen dazu. Ich hätte absolut nicht erwartet, dass sich aus so viel ge- Monika (personenbezogene Daten sind anonymisiert) scheint fühlter Sinnlosigkeit Sinn entwickelt. Sinn, den ich dann verunsichert und irritiert, weil das Gesehene wenig Sinn macht. auch noch vermitteln kann. Ich habe gemerkt, dass man Es entzieht sich ihrer Ordnung, d. h. ihrer Rezeptionshaltung, selbst vielleicht erst abstrakte Darstellungen/Handlungen einen vom Regisseur vorgegebenen Sinn zu rekonstruieren (ein vollziehen muss, um die Darstellung anderer zu verste- Gegenstand „steht“ für etwas). Trotzdem versucht die Studie- hen. rende immer wieder die Verwendung einzelner Requisiten zu Aber auch der Positionswechsel hat mir geholfen. Ich habe deuten (Ballon/Luftballon = Drogen). mir zwar zu allem meine Gedanken gemacht, habe mich aber auch über neue Ideen und Interpretationen gefreut, weil sie neuen Input für mich bedeuten.“ Erster Eintrag nach dem 2. Aufführungsbesuch von GAP FEE- LING Das eigene künstlerische Tun, der Perspektivwechsel vom Zu- „Diesen geistigen Müll ein zweites Mal anzuschauen war schauer zum Akteur und die Rückmeldung und Kommunikation ein riesiger Fehler. mit den Zuschauern haben die intensive Fremdheitserfahrung Die Bilder, die mich beim ersten Ansehen noch beeindruckten, der Studentin scheinbar produktiv werden lassen. Vieles deutet empfand ich diesmal als lächerlich. Was will performatives darüber hinaus darauf hin, dass im Rahmen ihrer intensiven und Theater von mir? Was will ich von ihm? Es ist so sinnvoll produktiven Auseinandersetzung mit den in der Aufführung mög- wie eine Ampelanlage im Kreisverkehr. Wofür auch immer licherweise erlittenen Fremderfahrungen – um mit Waldenfels eine Handlung, ein Bild, ein Geräusch symbolisch stehen zu sprechen – Neues entstanden ist. Neues, im Sinne von einer soll, eröffnet sich mir einfach nicht. (...) Wenn jemand et- neuen Ordnung oder neuen Disposition der Wahrnehmung, was zu sagen hat, dann sollte er es tun. Klar, deutlich, ohne Deutung und Bearbeitung von experimentellem, oder wie sie Schnörkel. (...) Jetzt macht mich dieses Scheiß-Theaterstück sagt „abstrakte[m]“ Theater, die es ihr erlaubt, dieser Theater- nur noch wütend. So wahnsinnig wütend.“ form besser als zuvor gerecht zu werden. Monika scheint nach der Erfindung und Durchführung ihrer performativen Aktion Der erste Seheindruck („Schöne Klänge, schöne Bilder“) wird Sinnbildung als einen prozessual sich vollziehenden, aktiv kon- nach dem zweiten Aufführungsbesuch durch sehr emotionale und struierenden Vorgang zu verstehen, der neue, nicht intendierte bewertende Äußerungen („lächerlich“) revidiert. Der ästhetische „Ideen und Interpretationen“ nicht nur zulässt, sondern sogar Genuss weicht der Wut über die subjektiv empfundene Sinn- wertschätzt. losigkeit. Monika stößt mit ihrer Rezeptionshaltung, einen in Der Bildungstheoretiker Hans-Christoph Koller spricht im das Stück hineingelegten Sinn rekonstruieren zu wollen, erneut Zusammenhang von solch tiefgreifenden Veränderungen von an ihre Grenzen: „Wofür auch immer eine Handlung, ein Bild, transformatorischen Bildungsprozessen: „Bildungsprozesse be- ein Geräusch symbolisch stehen soll, eröffnet sich mir einfach stehen [...] darin, dass Menschen in der Auseinandersetzung mit nicht.“ Die Studierende fordert von den Theatermachern eine neuen Problemlagen neue Dispositionen der Wahrnehmung, klar vermittelte Botschaft. Deutung und Bearbeitung von Problemen hervorbringen, die Irritierung und Wut können als eine Reaktion auf Fremderfahrung, es ihnen erlauben, diesen Problemen besser als bisher gerecht zu als etwas, das sich unserer Ordnung entzieht, gedeutet werden. werden“ (vgl. Koller 2012, S. 16). Waldenfels spricht auch von der Gleichsetzung von Fremden und Feind als einer möglichen Reaktionsform auf Fremderfah- Das Beispiel aus der Praxis des ‚Antwortens‘ auf Aufführungen rung. hat gezeigt, wie Irritation und Fremderfahrungen von Studieren- den bei der Rezeption zeitgenössischen experimentellen Theaters produktiv gemacht werden können und welche potentiellen Erster Eintrag nach der performativen Aktion Räume für Bildungsprozesse sich dabei eröffnen. Die intensi- Zwei Wochen später folgte eine Seminaraufgabe für die Studieren- ve Auseinandersetzung mit den eigenen Wahrnehmungen und den, bei der sie auf der Basis des Gesehenen und Erlebten eine Erfahrungen hat darüber hinaus den Vorteil, dass das eigene Theaterpädagogisches Wissen. Praxis – Projekte – Positionen 35

Partizipatives Theater. Zur politischen Dimension ästhetischer Bildung

Erleben nicht durch eine vorschnelle Wissensvermittlung oder Analysetätigkeit verloren oder ‚gezüchtigt‘ wird.

Literatur

Heil, Christine (2007): Kartierende Auseinandersetzung mit aktueller Kunst. Erfinden und Erforschen von Vermittlungssituationen, München: kopaed. Koller, Hans-Christoph (2012): Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Stuttgart: Kohlhammer. Lehmann, Hans Thies (1999): Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren. Waldenfels, Bernhard (1997): Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden I, Berlin: Suhrkamp.

Partizipatives Theater. Zur politischen Dimension ästhetischer Bildung Johannes Kup

„Die gesellschaftliche Funktion, die das Theater erfüllt, erfüllt es als Kunst.“ (Dirk Baecker)

Die folgenden Überlegungen schließen an meinen Beitrag auf ethisch-politische Potential ästhetischer Erfahrung „gerade aus dem „Basar theaterpädagogischen Wissens“ an und verstehen der Eigenlogik des Ästhetischen, der ästhetischen Differenz zu sich als erste Hypothesen im Zusammenhang mit meinem Dis- bestimmen“ versuchen (Rebentisch 2013, 72). sertationsvorhaben. Ausgangspunkt dieses Forschungsprojekts Den Versuch einer (Re-)Formulierung der politischen Dimen- waren Fragen, die ich mir in meiner Praxis als Theaterpädago- sion ästhetischer Bildung möchte ich am Beispiel jener Form ge immer wieder gestellt habe: Wie lässt sich heute noch oder zeitgenössischer Theaterpraxis unternehmen, deren politischer wieder politisch Theater machen? Was ist unter einer kritischen Charakter auf den ersten Blick geradezu evident erscheint: dem theaterpädagogischen Praxis zu verstehen? Wie verortet sich die partizipativen Theater. Hierunter verstehe ich Theaterformen, Theaterpädagogik im gesellschaftlichen Kontext angesichts einer die sich durch eine verstärkte Beteiligung der Rezipienten sowie Repolitisierung des zeitgenössischen Theaters, aber auch inner- durch die Betonung ihrer Rolle für das Theaterereignis aus- halb des Feldes der kulturellen Bildung, die gegenwärtig durch zeichnen. Worin das politische Potential dieser partizipativen eine Konjunktur politisch besetzter Begriffe, wie z. B. Partizi- Formate genau besteht, bleibt in der theoretischen Diskussion pation, bestimmt wird? allerdings umstritten (vgl. Rebentisch 2013, 60 ff.). Gerade Weit davon entfernt, ein politisches Programm der Theaterpäda- deshalb lassen sich aber, so meine Hypothese, die politischen gogik entwerfen zu wollen, scheint es mir vielmehr entscheidend, Potentiale von Theater und Theaterpädagogik besonders gut sich zunächst der politischen Potentiale theaterpädagogischer am Beispiel partizipativer Formen untersuchen. Praxis unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen Einer ersten Position zufolge ist das Politische partizipativer For- neu zu vergewissern. Ich gehe davon aus, dass Theaterpädago- mate in Theater und auch bildender Kunst darin zu sehen, dass sie gik diese Potentiale dann am besten entfalten kann, wenn sie der aktuellen Forderung nach mehr Teilhabe (vgl. „S. 21“, „Occu- an ihrem Selbstverständnis als ästhetischer Bildung (Hentschel py“) nicht nur Ausdruck verleihen, sondern sie ihrer Form nach 1996) und einer primär künstlerischen Praxis festhält – nämlich zugleich ‚verwirklichen‘. Kunst kann dieser Argumentation zufolge aufgrund der Überzeugung, dass Theater gerade durch seine spe- nicht nur soziale Gemeinschaften herstellen (vgl. z. B. Bourriaud zifische ästhetische Differenz politisch wirksam werden kann. 2002), sondern dank ihrer vermeintlich integrativen Kraft sogar Mein Forschungsvorhaben versteht sich somit in erster Linie zur Lösung gesellschaftlicher Konflikte beitragen. Aus dieser Sicht als eine Weiterentwicklung des Modells ästhetischer Bildung ist partizipatives Theater durch eine Aufhebung der Hierarchie hinsichtlich seiner politischen Dimension. Zu diesem Zweck zwischen Produzenten und Rezipienten auch demokratischer als scheint mir vor allem eine Befragung ästhetischer Erfahrung in traditionelles Theater. Denn es emanzipiert den Zuschauer aus Bezug auf ihre möglichen politischen Wirkungen von zentraler seiner angeblich passiven Haltung und macht ihn zu einem gleich- Bedeutung. Dazu werde ich meine Überlegungen auf aktuel- berechtigen und aktiven Teilnehmer an einem Theatergeschehen, lere kunstphilosophische Ansätze, wie z. B. Jacques Rancières das gleichsam den Charakter einer politischen Versammlung erhält. (2008, 2009), Alexander García Düttmanns (2011) und ins- Ein solches Verständnis von Partizipation in Theater und Kunst besondere Juliane Rebentischs (2012, 2013) stützen, die das ist vielfach kritisiert worden (vgl. vor allem Rancière 2008, 2009). 36 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Partizipatives Theater. Zur politischen Dimension ästhetischer Bildung

So arbeitet ein Theater, das es sich zum Ziel macht, soziale Si- Subjekt „seine eigenen kulturellen und sozialen Prägungen im tuationen im Sinne unmittelbarer Begegnungen herzustellen, Modus des ästhetischen Scheins“ so entgegen, „dass es sich re- nicht nur problematischen Vorstellungen von authentischer Ge- flexiv fremd wird“ (ebd., 71 f.). meinschaft zu. Indem es „direkt Beziehungsformen“ erschaffen Vor diesem Hintergrund scheint partizipatives Theater, das die will, dabei jedoch seine eigene Theatralität unterdrückt, läuft Frage nach Nähe und Distanz bereits in seiner Form angelegt es zudem Gefahr, sich auch als „vorweggenommene Verwirk- hat, besonders geeignet, ästhetische Erfahrung als Distanzerfah- lichung seiner Wirkung“ darzustellen (Rancière 2009, 87). Als rung nicht nur zu ermöglichen, sondern auch zu thematisieren. eine Art ‚Politikersatz‘ riskiert es außerdem, auf „Aufgaben von Denn indem partizipative Verfahren die paradoxe Grundstruk- Nachbarschaftspolitik und eines sozialen Heilmittels“ (Rancière tur aller auf Kunst bezogenen Formen von „Teilnahme“ (García 2008, 96) reduziert zu werden. Damit verfehlt es im Kern jedoch Düttmann 2011), nämlich die „unauflösbare Spannung“ zwi- „das Politische“. Dessen Charakter wird nämlich in der neue- schen dem „So-ist-es und dem Als-ob, zwischen Bewusstsein und ren politischen Theorie weniger als Konsens, denn als Dissens Schein“ (ebd., 87) betonen, machen sie ästhetische Erfahrung (vgl. z. B. Mouffe 2007) gefasst. Gerade vor dem Hintergrund gleichsam explizit. aktueller soziologischer Zeitdiagnosen, die z. B. für unsere Ge- Das politische Potential des partizipativen Theaters liegt somit sellschaft einen „Partizipationsimperativ“ (Bröckling 2005, 22) zuvorderst in seinen Möglichkeiten, mit der im Theater „fort- konstatieren oder den Charakter von „Bürgerbeteiligung als während ‚mitspielenden‘ Ebene des Realen“ (Lehmann 2008, Herrschaftsinstrument“ (Wagner 2013) herausstellen, wirkt ei- 171) auf theatrale Weise umzugehen. Dabei besteht dieses ‚Re- ne politisch-emphatisch verstandene Zuschauerbeteiligung eher ale‘ weniger in der unmittelbaren ‚leiblichen‘ Anwesenheit aller fragwürdig. Sie basiert überdies auf dem Missverständnis, das Teilnehmenden, sondern ist als immer schon ästhetisierte soziale Zuschauen mit Passivität und Konsum sowie Handeln mit Ak- Wirklichkeit zu verstehen (vgl. Rebentisch 2012). Das Theater tivität und Emanzipation gleichsetzt (vgl. Rancière 2009, 11 ff.). muss daher seine eigene Ästhetizität genauso anerkennen, wie die Auch führt Partizipation im Theater zu keiner Demokratisierung Tatsache, dass auch Demokratie notwendigerweise inszeniert und der Theaterproduktion, denn sie bleibt immer „Teil des künst- theatral ist, da es keinen demos „jenseits seiner Repräsentation“ lerischen Kalküls“, auch dort noch, wo „der Rahmen zwischen und auch „nie jenseits von Macht- und Herrschaftsverhältnis- Kunst und Nichtkunst selbst zum Gegenstand der Auseinander- sen“ geben kann (ebd., 362). Das Theater hat jedoch, gerade setzung wird“ (Rebentisch 2013, 36). indem es Formen politischer Repräsentation „als Repräsentation Aus dieser Kritik an einem solch verkürzten Verständnis von Par- zu exponieren vermag, eine potentiell denaturierende, das heißt tizipation im Theater leitet sich eine zweite Position ab, der ich kritische Pointe“ (ebd., 366). Daher kann es auch die Frage nach mich im Wesentlichen anschließen möchte. Partizipatives Theater den jeweiligen Formen von Repräsentation und damit nach der stellt sich dieser Argumentation zufolge nicht in den Dienst poli- Art der Machtverhältnisse stellen. tischer oder sozialer Ziele, sondern macht das Politische und das Partizipatives Theater löst somit die Trennung zwischen Ak- Soziale vielmehr zum Gegenstand seiner Operationen (vgl. ebd., teuren und Zuschauern nicht einfach auf, sondern macht seine 72). Danach verwirklicht Theater weder ‚echte‘ Teilhabe, noch eigene theatrale Struktur auf selbstreflexive Weise zum Thema. bringt es soziale Gemeinschaften hervor. Es stellt eher gängige Dadurch trägt es nicht nur dazu bei, Vorstellungen von vorpo- Vorstellungen von Gemeinschaft oder Teilhabe infrage. Die ge- litischen Gemeinschaften zu hinterfragen, sondern es kann auch sellschaftliche Funktion von Theater und Kunst im Allgemeinen Probleme demokratischer Repräsentation thematisieren sowie besteht dabei in einem „Bruch mit allen Formen der Gestaltung politische Repräsentationsstrategien kritisieren (vgl. ebd.). Sol- des Lebens“ (Seel 2008, 277 f.) und damit auch in einer „Unter- che Formen der Beteiligung scheinen geeignet, die Ambivalenz brechung“ (Lehmann 2002) des politischen und gesellschaftlichen von Partizipation in Politik und Gesellschaft zu problematisie- Diskurses. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass das Theater ren und z. B. eine Kritik an möglichen Versuchen politischer an seiner relativen Autonomie gegenüber anderen sozialen und Vereinnahmung zu leisten. politischen Praxen und damit an seinem spezifischen Als-Ob, Indem die Ebene des ‚Realen‘ im partizipativen Theater nie allein seinem ästhetischen Schein, festhält. Gegenstand von Reflexion bleibt, wie noch in der Romantik, Die politischen – und das sind vor allem die potentiell kritischen sondern auch einer theatralen Gestaltung (Lehmann 2008, 171) Wirkungen von partizipativem Theater – liegen demnach in erster unterliegt, kann Theater durchaus auch zur symbolischen und Linie in seinen besonderen Möglichkeiten ästhetischer Reflexion materiellen „Neugestaltung“ jenes Terrains beitragen, „auf dem auf Gesellschaft und Politik begründet. Diese Form von Refle- Formen der politischen Subjektwerdung entstehen können“ xion ist dabei Ergebnis eines spezifischen Modus ästhetischer (Rancière 2008, 90). Entscheidend ist jedoch, dass Theater diese Erfahrung, die den an Kunst Partizipierenden in eine reflexive politischen Effekte nie kontrollieren kann, ohne gleichzeitig sein Distanz sowohl sich selbst gegenüber als auch gegenüber dem spezifisches Als-Ob zu verlieren (vgl. Sonderegger 2008). Nur Sozialen rückt (vgl. Rebentisch 2013, 70). Ästhetische Erfahrung über das spielerische Als-Ob können erst Formen entstehen, die ist somit weder Selbsterfahrung noch Gemeinschaftserfahrung. eine Differenz zur sozialen Wirklichkeit darstellen und potentiell Sie ereignet sich weder in mir selbst, noch zwischen mir und den über diese hinausweisen. anderen, sondern „zwischen Subjekt und Objekt“ (ebd., 51), Diese theoretischen Überlegungen bilden den Ausgangspunkt d. h. der symbolischen Ordnung des Werks oder Ereignisses als für meine weitere Forschungsarbeit, bei der ich, im Lichte des etwas Drittem. Kunst macht damit die immer schon vorhandene gegenwärtigen Partizipationsdiskurses, ausgewählte Beispiele symbolische Vermitteltheit jeder sozialen Beziehung, ja generell partizipativer Theaterpraxis im Hinblick auf ihr politisches Po- jedes Selbst- und Weltverhältnisses erfahrbar. Dabei treten dem tential untersuchen möchte. Wie jedoch bereits jetzt deutlich Theaterpädagogisches Wissen. Praxis – Projekte – Positionen 37

Partizipatives Theater. Zur politischen Dimension ästhetischer Bildung geworden ist, kann eine (Re-)Formulierung der politischen darin, dass sie uns daran erinnert, dass das, was ist, nicht alles Dimension ästhetischer Bildung nie in einer Suspendierung ist“ (Rebentisch 2013, 68). ästhetischer Bildungsprozesse zugunsten sozialen Lernens oder gar politischer Bildung bestehen, sondern es muss immer an der Literatur Eigenlogik des Ästhetischen festgehalten werden: „Die ethisch- Bourriaud, Nicolas (2002): Relational Aesthetics. Paris. politische Funktion der Kunst bestünde dann nicht zuletzt Bröckling, Ulrich (2005): Gleichgewichtsübungen. Die Mobilisierung des Bürgers zwischen Markt, Zivilgesellschaft und aktivie- rendem Staat. In: SPW – Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft, H.2/2005, Jg.142, S.19–22., https://www. soziologie.uni-freiburg.de/personen/broeckling/dokumente/9- gleichgewichtsubungen-spw142.pdf. García Düttmann, Alexander (2011): Teilnahme. Bewusstsein des Scheins. Konstanz. Hentschel, Ulrike (1996): Theaterspielen als ästhetische Bildung. Über einen Beitrag produktiven künstlerischen Gestaltens zur Selbst- bildung. Berlin/Milow/Strasburg. Lehmann, Hans-Thies (2002): Das politische Schreiben. Essays zu Theatertexten. Sophokles, Shakespeare, Kleist, Büchner, Jahnn, Bataille, Brecht, Benjamin, Müller, Schleef. Berlin. Lehmann, Hans-Thies (2008): Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main. Mouffe, Chantal (2007): Über das Politische. Wider die kosmopoliti- sche Illusion. Frankfurt am Main. Rancière, Jacques (2008): Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Berlin. Rancière, Jacques (2009): Der emanzipierte Zuschauer. Wien. Ständige Konferenz Spiel und Theater an Hochschulen 2013: Basar thea- Rebentisch, Juliane (2012): Die Kunst der Freiheit: zur Dialektik de- terpädagogischen Wissens. Fotos: Ursula Rogg mokratischer Existenz. Berlin. Rebentisch, Juliane (2013): Theorien der Gegenwartskunst. Zur Ein- führung. Hamburg. Seel, Martin (2008): Intensivierung und Distanzierung. Zum Verhältnis von Kunst und Bildung. In: Jurké, Volker; Linck, Dieter; Reiss, Joachim (Hg.) (2008): Zukunft Schultheater: Das Fach Theater in der Bildungsdebatte. Hamburg. S. 277–281. Sonderegger, Ruth (2008): Institutionskritik? Zum politischen Alltag der Kunst und zur alltäglichen Politik ästhetischer Praktiken, www.dgae.de/downloads/Ruth_Sonderegger.pd>, letzter Zu- griff: 17.10.2013. Wagner, Thomas (2013): Die Mitmachfalle: Bürgerbeteiligung als Herrschaftsinstrument. Köln. 38 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Das Projekt Staging Myself und das Wissen über Transkulturalität Marion Küster

„Vielleicht brauchen wir eine Verortung, eine Heimat. Aber Heimat muss nicht die Gegend sein, in der man aufwuchs [...] In gewissem Sinn ist die erste Heimat nur als zweite Heimat wirkliche Heimat, erst dann nämlich, wenn man sich (angesichts auch anderer Möglichkeiten) bewusst zu ihr entschieden, sie nachträglich eigens gewählt und bejaht hat. Nur dann ist ‚Heimat‘ keine naturwüchsige, sondern eine kulturelle und humane Kategorie.“ (W. Welsch 2009, 15)

“Staging Myself” ist ein über IDEA (International Drama and Werkstätten, in denen verschiedene Ansätze in gemischten Theatre Education Association) initiiertes Projekt, das 2013 Gruppen von Studierenden erlebbar wurden. Der gemeinsame zum 8. Weltkongress in Paris vorgestellt wurde. Ihm liegt der Beitrag zum Kongress wurde vorbereitet. Wunsch zu Grunde junge Theaterpädagogen, Studierende und Eine dreistündige Präsentation vor und mit internationalem Absolventen stärker in die Organisation einzubeziehen, um ak- Publikum bildete den Projekthöhepunkt. Sie vereinte in sich: tuelle künstlerisch basierte Lern- und Theaterformen aus der Performance, Stückaufführung, Dokumentarfilm, Übungen, Kurz- Sicht junger Menschen zu beleuchten. vorträge sowie einen Gesprächsteil. Im Jardin du Luxembourg Ziel von “Staging Myself” 2013 war es die Begegnung von fand eine öffentliche Performance und in einem französischen Studierenden zu initiieren, um daraus für den Kongress eine Theaterzentrum ein dreitägiger Workshop mit belgischen Ju- Präsentation zu erarbeiten, die die Methodenvielfalt in der Lehre gendlichen zum Projektthema statt. zum Ausdruck bringen sollte. Es war beabsichtigt Werkstattpro- gramme zu erarbeiten und sowohl im Gastgeberland als auch mit Transkulturalität internationalen Konferenzteilnehmern zu erproben. Es beteiligten sich theaterpädagogische Fachbereiche von vier In den folgenden Ausführungen orientiere ich mich an Wolf- Hochschulen (NTNU Trondheim-Norwegen, HMT Rostock, gang Welschs Vortrag „Was ist eigentlich Transkulturalität“3. Sie PH Ludwigsburg, HBK Braunschweig) mit insgesamt circa 50 sind ein Versuch, seine Theorie auf das Projekt “Staging Myself” Teilnehmern, davon 7 Lehrende. anzuwenden. Die Begegnungen umfassten Leitungs-, Werkstatt-, Teil-, und Der Begriff der Transkulturalität wurde von Welsch in den 1990er Gesamtgruppentreffen und den Austausch von Lehre. Das Lei- Jahren geprägt. Er geht von zwei Dimensionen des Kulturbegriffs tungsteam entschied sich, ohne Fremdförderung auszukommen. aus. Die inhaltliche einerseits und andererseits die geographische, Für die letzte Phase wurden Anteile privat oder durch Eigenfi- nationale und ethnische Extension sind präzise voneinander zu nanzierung der Hochschulen getragen. Das Deutsch-Französische unterscheiden. Während die inhaltliche Bedeutung „[...] als Sam- Jugendwerk, der DAAD, ANRAT1 und das Goethe Institut Paris melbegriff für all diejenigen Praktiken, durch welche Menschen unterstützen mit Förderungen. ein menschentypisches Leben herstellen“ (Welsch 2009, S. 1) dient, bezieht sich die zweite Dimension auf die Ausdehnung Projektverlauf

Durch Veränderungen in der Kongressplanung, finanzielle Eng- pässe, örtliche Distanzen, damit verbundene Informationsverluste sowie differente Sichtweisen unterlag das Projekt häufigen Mo- difikationen in Zielsetzung, Umsetzung und Beteiligung. Prinzip der Projektentwicklung war die konstruktive Konsens- herstellung zwischen den Beteiligten und eine Rahmenschaffung, die sowohl individuellen als auch Gruppenbedürfnissen ent- sprach. Darüber war das Vorhaben immer wieder von Fragilität gekennzeichnet. Das Zentrum bildete zwei Treffen: Das Herbstcamp 2012 an der HMT Rostock und die 10-tägige Kongressteilnahme 2013 in Paris. Das Team der Lehrenden einigte sich, in Anlehnung an die Kon- ferenz „Theater Mit Mir?! – Children and Adolescents at Risk“2, auf den Titel “Staging Myself”, der das Anliegen hatte, Menschen als sich im Spiel entdeckende und dadurch wachsende Subjekte auf die (Lebens)Bühne und zueinander in Beziehung zu setzen. Unter diesem Titel sollten Unterschiede in der Lehre betrachtet werden. Während des Herbstcamps gestalteten die Lehrenden Theaterpädagogisches Wissen. Praxis – Projekte – Positionen 39

Das Projekt Staging Myself und das Wissen über Transkulturalität der kulturellen Praktiken auf eine bestimmte Gruppe, Gesell- aus Unsicherheit gegenüber dem Fremden dazu zu dienen, das schaft oder Zivilisation. Eigene zu schützen. Welsch schreibt: „Die begriffliche Revision, die das Konzept der Entsprechend Welschs Position können weder Modelle von Transkulturalität vorschlägt, [...] rät, diese Extension anders zu Multi- noch von Interkulturalität derzeitigen Gegebenheiten verstehen als traditionell, nämlich nicht mehr nach dem alten zukunftsweisend gerecht werden, da beide von bestehenden ‚Leit- Modell klar gegeneinander abgegrenzter Kulturen zu sehen, son- kulturen‘ ausgehen. Während Erstere das Fremde in die eigene dern nach dem Modell der Durchdringung und Verflechtung“ Kultur integriert, treten bei Letzterer zwei homogene Kulturen (ebd.). Mit dem alten Modell beruft er sich auf das Kugelmo- in Austausch. Das entspricht aber nicht gegenwärtiger Realität: dell Herders (18. Jh.), das beinhaltet, dass jedes Volk eine eigene Allein die deutschen Hochschulgruppen waren mit Studien- Kultur besitzt, die von anderen Völkern spezifisch unterschieden teilnehmern verschiedener Nationen von kultureller Vielfalt wird. Dieses Modell wirkt bis in die Gegenwart nach. Welsch gekennzeichnet. Es trafen Gruppen aufeinander, deren Teil- setzt dem entgegen: „Kulturen, die wie Kugeln aufgefasst sind, nehmer nicht unbedingt feste Studienverbände einigten. In den können nicht wirklich miteinander kommunizieren, etwa ein- Begegnungen bildeten die Studierenden sofort neue, gemischte ander durchdringen, sondern [...] müssen einander abstoßen Arbeitsgruppen. Alle außer drei Teilnehmern verfügten über und bekämpfen [...]. Das Kugelideal verfügt also im gleichen Deutschkenntnisse. Doch gab es die gemeinsame Entscheidung Zug inneren Homogenisierungsdruck und äußere Abgrenzung Englisch als Projektsprache zu wählen. Das geschah einerseits im (bis hin zu expliziten Formen der Feindseligkeit)“ (ebd., S. 2). Hinblick auf den beabsichtigten Kongressbesuch, andererseits als Gegenwärtige Kulturen haben – nach Welsch – vor allem durch Regel, die von allen Beteiligten als Herausforderung angenommen die Züge der Globalisierung nicht mehr die Form der Homoge- wurde und eine zu meisternde Gemeinsamkeit herausbildete. nität und Separiertheit, sondern sind durch Verflechtungen und Keiner der Teilnehmer war Englisch-Muttersprachler. Darüber Gemeinsamkeiten gekennzeichnet. Transkulturalität stellt sich stellte sich eine Art der Verfremdung her, eigene Gedanken und also als ein Modell von Durchdringungen und Verflechtungen eigenes Spiel in der Fremdsprache auszudrücken. Was zum ei- dar, das neue Kulturgebilde hervorbringt. nen als Verlust gegenüber der differenzierteren Muttersprache empfunden werden konnte, provozierte zum anderen konkrete Haltungen im Spiel, in der Darstellung, ferner im Gesprächs- Transkulturelle Aspekte im Projekt austausch. Die Fremdsprache trug zu einer Reduzierung im Sinn von ‚verwesentlichtem‘ Spiel bei. Nonverbale Kommunikation Der Gedanke der Transkultur war nicht explizit Projektziel, bewirkte die Rückbesinnung auf Wahrnehmung von Körper, sondern entstand im Prozess der Bewusstwerdung und als Ver- Gestik, Mimik, Stimme, Lautstärke, Rhythmus, Handlungs- stehensprinzip. Da letztlich ‚nur‘ deutsche Hochschulen und strukturen, Ritualen und Beziehungsmustern. Einander in der eine norwegische Universität beteiligt waren, gingen wir eher Real- und Spielebene zu beobachten, zu erleben und sich darüber von einer interkulturellen und deutschen Kooperation aus. Doch auszutauschen, rief zu konkretem Verhalten auf. mit der ersten konzeptionellen Begegnung der Lehrenden, die Die Werkstätten der Lehrenden waren in ihren methodischen aus Norwegen, Dänemark, Schottland, den alten wie den neuen Ansätzen Zeugnis von Verwebungen unterschiedlicher kultureller Bundesländern kamen, wurde sehr schnell deutlich, dass wir es Wurzeln und Spiegel persönlicher Biografien, die pädagogische, hier mit tiefergehenden und komplexen Prozessen zu tun hatten. therapeutische, bildnerisch-, darstellerisch- oder musikalisch- Neben Neugier, Interessensbekundung und Handlungsbereit- künstlerische Prägungen aufzeigten. Sie waren Ausdruck ost- und schaft prägten Vorsichts-, Abwehr- und Verteidigungsverhalten westdeutscher sowie nordischer Kulturzugänge und wiesen über zunächst den Umgang miteinander. Gewohnte Bewertungs- die Hinzunahme international-theaterpädagogischer Arbeitser- strukturen und die Bestätigung von Vorannahmen schienen fahrungen ebenso kulturelle Vielfalt auf.

Basar theaterpädagogischen Wissens. Fotos: Ursula Rogg 40 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Das Projekt Staging Myself und das Wissen über Transkulturalität

Transkulturelle Kompetenz

Wie auf gesellschaftlicher Ebene erwächst Transkulturalität ebenso in individuellen Persönlichkeitsstrukturen. In den bei- den Gruppen, der Lehrenden wie der Studierenden, konnte diese Art Zuwachs erlebt werden: Gegenüber den Lehrenden gelang den Studierenden der Umgang mit transkultureller Viel- falt bereits müheloser. Gewiss war die Projektverantwortung der Lehrenden ungleich höher und stellte so eine andere Form der Herausforderung dar. Für die Fortführung des Projekts ist an- gedacht, Studierenden und jungen Absolventen Projektleitung und Organisation stärker zu übertragen, während dann Lehrende begleitende, supervidierende Positionen übernehmen. „Transkulturelle Kompetenz“, ein von uns so benannter Begriff, könnte ein Ergebnis der Prozesserfahrung sein. Transkulturelle Kompetenz zielt darauf ab, einen gleichberechtigten Umgang mit einem von sich selbst verschiedenen Gegenüber herzustellen. Foto: Ursula Rogg Sie umfasst die Position des Verstehens und schließt den Willen ein, Beziehungen zum gegenseitigen Wohl und Wachstum ein- zugehen und aufrecht halten zu wollen. Die Begegnung mit der Vieldimensionalität wird als Bereicherung des Selbst erfahren. Inhaltlich wurde auf den Titel “Staging Myself”, entsprechend der Basierend auf Partizipation anstelle von hierarchischem Den- Ausbildungskonzepte, unterschiedlich zugegriffen. Dies brach- ken und Handeln, ist sie von innerer und äußerer Flexibilität te ebensolche Ergebnisse hervor, die einander gegenübergestellt gekennzeichnet. Transkulturelle Prozesse bedürfen vor allem und gegenseitig durchdrungen wurden: Während die Studien- eines hohen Maßes an Respekt, Wertschätzung und Geduld so- gruppe der HBK Braunschweig den performativen Zugang zum wohl mit sich selbst als auch gegenüber dem Anderen und den Thema wählte, entwickelten die HMT Rostock und die NTNU sich ständig verändernden Gefügen. Sie brauchen auch Zeiten Trondheim einen Weg über den sibirischen Mythos „Akanidi“. der Ruhe und des Rückzugs, um Neues integrieren zu kön- Transkulturelles Durchdringen stellte sich auch beim Kongress nen. selbst, im Aufeinandertreffen mit belgischen Werkstattteilneh- Um diese Kompetenz zu gewinnen, bedürfen diese Prozesse der mern sowie den internationalen Kongressteilnehmern und über umfassenden, ständig begleitenden Reflexion auf allen Ebenen, die öffentliche Performance mit den Zuschauenden her. Über damit die hohe Herausforderung nicht zu anhaltender Überfor- die Vieldimensionalität von Formaten sowie die Partizipation derung wird und so feindseligen Rückzug provoziert. und Spielinteraktion mit einem Publikum gestaltete sich die Besonnenes Wachsen gewinnt gegenüber schnellem Produzie- Projektpräsentation ‚transdisziplinär‘. Zudem waren alle – Leh- ren den Vorzug. rende und Studierende – gleichermaßen darin eingebunden und „Und die Überführung kultureller Differenz in eine Form, die wechselten ständig zwischen einer anleitenden, spielenden und der Gemeinsamkeit der Menschen nicht widerstreitet, sondern beobachtenden, zuschauenden Position. Die Gesamtheit der zuarbeitet, könnte durchaus als lohnende Aufgabe für die Ge- Begegnungen involvierte alle Generationen. genwart und Zukunft begriffen werden. [...] [Dabei] arbeitet Während des gesamten Projektverlaufs wurden für die Treffen Transkulturalität der Bildung einer Weltinnengemeinschaft, und zwischen den Beteiligten wechselnde Orte gewählt, so dass prin- einer friedlichen Weltgesellschaft zu“ (Welsch 2009, S. 14 f.). zipiell jeder Teilnehmer sowohl Gast als auch Gastgeber war. Durch die Verquickung dieser benannten Ebenen waren die Literatur: Projektbeteiligten in hohem Maß in transkulturellen Zusam- Welsch, Wolfgang: „Was ist eigentlich Transkulturalität?“ In: Lucyna menhängen gefordert. Um jederzeit konstruktiven Fortgang zu Darowska, Thomas Lüttenberg, Claudia Machold (Hg.): ermöglichen, galt es eine Haltung zu gewinnen, die uns lehrte Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und einander zuzuhören, zu beobachten sowie gesprächs- und hand- Differenz in der Universität. Bielefeld: Transcript Verlag. 2009. lungsaktive Spielformen herzustellen. Sie dienten dazu, einander in verschiedenen Situationen, Räumen und Augenblicken des Anmerkungen Miteinanders kennen zu lernen und sich gemeinsam weiterzu- 1 IDEA Weltkongress Paris 2013 (www.idea-paris-2013.org). entwickeln. 2 Theaterpädagogik Organisation Frankreichs: L‘Association nationale Welsch formuliert: „Die kulturellen Determinanten [gehen] heu- de Recherche et d‘Action théâtrale (ANRAT). te quer durch die Kulturen hindurch“ (Welsch 2009, S. 3) und 3 Theaterpädagogische Konferenz 17.–25. Mai 2009 in Kooperation spricht von einer „Vieldimensionalität des Wandels“ (ebd., S. 4). von HMT & Universität Rostock. Transkulturalität ist Realität und somit Prozess der Bewusstwer- 4 Welsch, Wolfgang: „Was ist eigentlich Transkulturalität?“ In: Lucyna dung. Im Akzeptieren des vielfältig Gegebenen als Ausgangslage Darowska, Thomas Lüttenberg, Claudia Machold (Hg.): Hochschule als gemeinsamen Denkens und Handelns, in der Mikro- wie Ma- transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität. kroebene, liegt die besondere Chance. Bielefeld: Transcript Verlag. 2009. Theaterpädagogisches Wissen. Praxis – Projekte – Positionen 41

Theater und Schule: TUSCH. Ein KulturLernModell Zentrale Merkmale am Beispiel von TUSCH Hamburg Wolfgang Sting

TUSCH, das Kooperationsmodell der beiden Kultur- und Bildungs- Kick − nicht immer die Aula! Wir werden nicht benotet! orte Theater und Schule, hat seinen Ursprung in Berlin (1998). Wir sind freiwillig dabei, und deshalb wissen wir, warum Für einen Zeitraum von zwei Jahren arbeiten ausgewählte Theater wir es machen. Dieses Theater braucht sehr viel Zeit und ist und Schulen als Projektpartner zur Vermittlung ästhetischer Praxis auch anstrengend.“ und kultureller Bildung zusammen. TUSCH Hamburg existiert mittlerweile seit 2002 und es schließen sich immer mehr Städte Lehrer: „Es muss Schulleitungen klar sein, wenn sie TUSCH und Regionen dieser Modellidee an wie Sachsen-Anhalt, Frank- initiieren, dass zu dieser Art von Arbeit Mut gehört, weil das furt, München, Stuttgart. Die organisatorischen und inhaltlichen Eingeschliffene verlassen werden muss, weil man nicht wie Besonderheiten der unterschiedlichen TUSCH Modelle variieren in Schule üblich ergebnis-, sondern prozessorientiert arbei- nach den jeweiligen lokalen Gegebenheiten und Kooperationspart- ten muss. Darauf muss man sich einlassen, weil nicht immer nern. Durch seine ständige Weiterentwicklung hat sich TUSCH sofort tolle Ergebnisse da sind. Denn es gibt auch Projekte, Hamburg von einem Pilotprojekt zu einem festen Programmpunkt bei denen man nach drei Wochen feststellt: das haben wir und Modell für Kulturelle Bildung in der Hamburger Schul- und gemacht, aber das ist nichts.“ Theaterlandschaft etabliert. Träger von TUSCH Hamburg sind aktuell die Schulbehörde und seit Sommer 2012 die BürgerStiftung Künstlerin: „TUSCH ist für uns wichtig, um überhaupt Hamburg (davor die Körber-Stiftung). Zudem wird TUSCH Ham- Modelle für neue Projekte entwickeln zu können. Eine so burg gefördert durch die Stiftung Mercator und die Kulturbehörde. enge Kooperation mit einer Schule, wie sie im Rahmen von Die Trägerschaft durch einen öffentlichen und Stiftungs-Partner, TUSCH möglich ist, können wir sonst nicht erreichen. Im wie auch die Unterstützung der beiden Behörden für Schule und Vordergrund unserer Theater-Modelle stehen immer die Kultur markieren das stabile strukturelle Fundament von TUSCH Teilhabe der Schüler, ihre Ideen und Ansätze. Sie sind Teil Hamburg. Nähere Informationen zur Geschichte, Organisation der öffentlichen Gesellschaft und sollen sich durch unsere und aktuellen Projektarbeit von TUSCH Hamburg finden sich Projekte als solcher wahrgenommen und bestärkt fühlen. Je unter: www.tusch-hamburg.de. näher wir an sie herankommen, je mehr Zeit wir mit ihnen verbringen, desto besser für das Ergebnis.“ Im Folgenden wird das Hamburger TUSCH Modell in seinen grundlegenden Zielsetzungen und Strukturen überblicksartig in Die Ziele der Programmarbeit lassen sich auf drei Ebenen verorten: vier Schritten charakterisiert. 1. Engagierte und professionelle Theaterarbeit mit Schülerinnen I. Was soll’s: Programmatische Ziele und Schülern zu initiieren unter Einbeziehung von Künst- II. Wie geht’s: Strukturelle und organisatorische Prinzipien lern, Theaterpädagogen, Lehrern, Eltern (Theaterproduktion III. Wo knallt’s: Problemfelder in der Zusammenarbeit und -rezeption), IV. Was bringt’s: Neue Perspektiven, Innovationspotenzial und 2. Künstlerische, ästhetische und kulturelle Bildung zu vermit- Lernmodell. teln (Bildung), 3. Neues und anderes Lernen in die Schule zu tragen (Schul- Um einen kleinen Einblick in die vielfältigen Lernerfahrungen entwicklung). und Einschätzungen bei und nach dieser kollektiven Projektar- beit zu vermitteln, sind ausgewählte Äußerungen von beteiligten Inhaltlich geht es darum, ästhetische Wahrnehmung und Aus- Schülerinnen, Schülern, Lehrkräften und Theatermachern den druck zu vermitteln, d. h. Theaterkunst durch eigene Spielpraxis einzelnen Abschnitten vorangestellt (alle Zitate sind aus der zu erfahren, zu erleben, zu erproben und zu reflektieren. TUSCH Publikation: „TUSCH: Poetiken des Theatermachens. Werk- stellt sich die Aufgabe, in variierenden Projektformen spannendes buch Theater und Schule“, hrsg. von Sting/Mieruch/Klinge/ Theater in einem heterogenen Team aus Akteuren von Theater Stüting 2012). und Schule zu realisieren, um vertiefende Einblicke in Theater als Kunst- und Lern- und Wissensform zu verschaffen. I. Was soll’s: Programmatische Ziele II. Wie geht’s: Strukturelle und organisatorische Schüler: „TUSCH – eine großartige Chance! Wir werden Prinzipien ernst genommen! Nicht nur von dem Künstler, sondern von dem ganzem Organisationsteam. Das Projekt hat meine Theaterpädagogin: „Wir erleben, die Arbeit lebt davon, dass Lust am Theater verdoppelt und meine Pläne für die Zu- die Schulleitung 100-prozentig hinter dem TUSCH-Projekt kunft verändert. Ein berühmter Künstler kann mich anders steht. (...) Denn zur Bildung kreativer Gemeinschaften braucht motivieren als ein Lehrer. Lehrer haben keine künstlerische man Zeit, Muße, Ruhe, das ist sehr wichtig. Wobei die Ar- Ausbildung. Wir werden ermutigt, bestärkt, dass wir etwas beit mit den Lehrerinnen noch viel wichtiger ist als mit den können! Im professionellen Theater aufzuführen: Großer Schülern, um neue Strukturen zu erarbeiten.“ 42 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Theater und Schule: TUSCH. Ein KulturLernModell

Basar theaterpädagogischen Wissens. Foto: Ute Pinkert

Künstlerin: „Der Enthusiasmus, den das Kollegium an den Honorarkräften zusammen. Dieses TUSCH Leitungsteam ver- Tag legte, war für uns der entscheidende Anstoß, uns auf diese bindet und regelt die vielfältigen Abläufe, die vor, während und Herausforderung einzulassen, denn mit 200 Schülern und 20 nach der konkreten Projektarbeit konstitutiv nötig sind: Hier Lehrern haben wir noch nie gleichzeitig zusammengearbei- kommen Entwicklung, Schulung, Beratung, Service, Öffent- tet.“ lichkeitsarbeit und Qualitätskontrolle zusammen. Mit dem Bild einer Tankstelle lassen sich Charakter und Aufgaben Als zentrales Element der erfolgreichen Hamburger TUSCH Ar- der TUSCH Projektleitung als zentraler Schaltstelle aufzeigen: beit, sozusagen als Geheimnis des Erfolges, ist die innere Konzept-, Hier können die Projektpartner auftanken. Organisations- und Kommunikationsarbeit einzuschätzen. Die Hier gibt es Sprit und Spirit, Zündstoff und Motivation. Koordinationsstelle beinhaltet personale, lokale und sächliche Hier gibt es Service und Pflege, damit alles optimal läuft. Ressourcen: Projektleitung, Büro und Etat. In der Projektlei- Hier gibt es die neuesten Produkt- und Projektinformationen. tung arbeiten auf Seite der Schulbehörde zwei teilabgeordnete Hier bekommt man Fahrstunden und Betriebsanleitung. Lehrer mit einem Theaterpädagogen des Schauspielhauses und Hier wird man angeschoben, wenn das Projekt ins Stottern einer Mitarbeiterin der BürgerStiftung Hamburg sowie freien kommt oder liegen bleibt. Theaterpädagogisches Wissen. Praxis – Projekte – Positionen 43

Theater und Schule: TUSCH. Ein KulturLernModell

Hier gibt es zur Not Ersatzteile vom Scheinwerfer bis zum Aus- dann bretter ich da durch. Jetzt musste ich mich mit Zeiten tauschmotor (neuer Partner). beschäftigen, und wann was möglich ist. Ich habe der Schu- le ziemlich viel aufgezwungen. Auch musste ich umdenken So gibt es regelmäßige Treffen (viermal im Jahr mindestens) auf Schüler und mit entsprechenden Sicherheitsaspekten, was zur Information, zur Schulung, zum Austausch unter den Part- kann man im Rahmen Schule machen.“ nern, zur Vorstellung der aktuellen Arbeitsschritte und zu den abschließenden Projektaufführungen mit Evaluation. Die Pro- Im Schnittfeld der ganz unterschiedlichen Wissens- und Orga- jektleitung gewährleistet somit durch Information, Schulung nisationsformen der Institutionen Theater und Schule und im und Qualitätskontrolle auch die Nachhaltigkeit des TUSCH Wechselspiel der beteiligten Akteure – Schüler, Künstler, Lehrer, Modells. Nachhaltigkeit heißt dann eine verlässliche Basis in Theaterpädagogen und Organisatoren – kann und muss es ab und Finanzen und Organisation bereitzustellen, langfristige Planung zu Konflikte geben. Die unterschiedlichen Arbeitsrhythmen, Ar- mit Kooperationsvereinbarung (2 Jahre), Vernetzung mit ver- beits- und Selbstverständnisse der Beteiligten prallen aufeinander. lässlichen Partnern und eine permanente Evaluation zu sichern. Wenn aber eine positive Grundhaltung zu dieser Projektarbeit und Rückhalt in der jeweiligen Institution besteht, können Die mittlerweile ausdifferenzierte Hamburger TUSCH Land- Konflikte, Störfälle und Irritationen durchaus eine produktive schaft – in der aktuellen Runde 2012–2014 mit Partnerschaften Qualität haben, indem Lern-, Arbeits- und Verhaltensformen von 13 Theatern mit 20 Schulen – erfordert eine sehr aufwän- kritisch überprüft und bei Bedarf modifiziert werden. Hierbei dige und erfahrene Koordinations- und Auswahlarbeit. Die ist der distanzierende Außenblick der begleitenden Projektlei- jeweiligen Partner-Theater und -Schulen treffen dann ganz tung und gegebenenfalls Beratung und Intervention sicherlich konkrete Kooperationsvereinbarungen, die aufgrund von Hand- immer wieder notwendig. reichungen vorbereitet und schriftlich fixiert werden. Basis der Zusammenarbeit ist immer die grundlegende Zustimmung und IV. Was bringt’s: Neue Perspektiven, Innovati- Unterstützung der Projektarbeit durch die Leitung und das Kol- onspotenzial und Lernmodell legium bzw. Ensemble der Institutionen. Nur auf der Grundlage dieser breiten Akzeptanz und eindeutigen Verankerung im Pro- fil von Theater und Schule kann die konkrete Projektarbeit, die Schüler: „Das war eine schöne Erfahrung. Was Neues. Nicht dann immer Höhen und Tiefen, Krisen und Schwierigkeiten nur den Lehrplan durchdrücken. Ich habe viel dazu gelernt. mitbringt, gelingen. In der Bearbeitung von Film, aber auch mit den Leuten. Wie man am besten zusammenarbeitet. Bei 20−30 Leuten versteht man sich ja nicht mit allen, aber man lernt, wie III. Wo knallt’s: Problemfelder in der Zusammen- man mit denen kooperiert, dass man sich nicht andauernd arbeit streitet, das lernt man auch.“

Künstler: „Der Theatermensch möchte seine Geschichten Künstler: „Ich finde das Projekt großartig. Ich habe auch machen, mit Schule eigentlich nicht so viel zu tun haben. einiges dazugelernt. Es geht immer um den Perspektivwech- Das funktioniert wunderbar, wenn der Lehrer den Thea- sel: Wir machen das hier für das Publikum. Ich kann etwas termenschen machen lässt – du machst die Kunst, ich mach meinen, solange es nicht gesehen wird, ist es nicht da. Meine die Organisation.“ Rolle ist hier die eines Zirkusdirektors. Es geht darum, den Jugendlichen in Erinnerung zu bringen, dass man nur mit Lehrerin: „Es gibt natürlich auch Negatives, Erschöpfungs- Disziplin, Eifer und Begeisterung etwas erreichen kann. Ich tendenzen. Es gibt auch Probleme in der Zusammenarbeit, mache das hier zum allerersten Mal: ganz vorne stehen im weil Schule und Theater sehr unterschiedliche Welten sind. Auge des Orkans.“ Dass auch die Theaterleute nicht unbedingt verstehen, wie Lehrer funktionieren und andersrum auch nicht. Dass zum Lehrer: „Unser eingefahrener Schulalltag, unsere Strukturen Beispiel Spontaneität und kurzfristige Ansagen in der Schule wurden von den Künstlern aufgebrochen: das war belebend. schwer zu erfüllen sind.“ Das ist Theater? Das hätten wir erst mal so nicht gedacht – aber dann haben wir gesehen, dass all das, was wir hier Theaterpädagogin: „Sie dürfen nicht mit Vorurteilen in die gemacht haben, Teil der Aufführung war. So haben die Lehrer Projekte reingehen: Lehrer sind so und so, Künstler sind so. und die Schüler gelernt, was Theater bedeuten kann – da es Oft wird nicht gesehen, was Lehrer leisten. Die kennen die nah an dem dran ist, wie wir leben, was wir jeden Tag ma- Schüler einfach. Andersrum dürfen auch die Künstler nicht chen.“ überfrachtet werden. Oft sollen sie unheimlich viel zurecht- rücken, was man mit einem Projekt auch nicht schaffen Theaterpädagogin: „Die TUSCH Arbeit wird im Theater kann.“ oft nicht gebührend wahrgenommen und wertgeschätzt. Das ist schade und sollte sich ändern. Die Arbeitsbelastung Künstlerin: „Für mich war es sehr schwierig, mich in das ist enorm. Wie gehen von beiden Seiten ans Limit. Aber es System Schule, mit seinem 45-Minutentakt, einzuklinken kommt auch was dabei heraus. Für mich ist es interessant, – was die Schule ein wenig ausbaden musste. Normalerwei- über einen langen Zeitraum in eine Schule reinzugehen. Das se, wenn ich ein Projekt habe, Fühlung aufgenommen habe, ist das Besondere an TUSCH. “ 44 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Theater und Schule: TUSCH. Ein KulturLernModell

Lehrer: „Die Künstler kitzeln Dinge aus den Kindern heraus, TUSCH Hamburg als dynamisches und sich mit jeder Partner- die im außerschulischen Bereich liegen. Hier gibt es die große schaft fortschreibendes Modell hat sich bewährt und etabliert. Chance, sich als Lehrer die Lebenswelt seines Schülers zeigen Dennoch gibt es genug Entwicklungsbedarf und Desiderate, um zu lassen und sich auf sie einzulassen. Das kann ein ganz nur zwei zu benennen: 1. die personelle und finanzielle Ausstat- neues Bild vom Schüler erzeugen. (...) Bei der Entwicklung tung gilt es langfristig zu etatisieren, 2. die kreative Kooperation des Projektes weiß der Lehrer nicht mehr als die Schüler, sie und gegenseitige Wertschätzung von Lehrern und Künstlern gilt haben also einmal eine gemeinsame Ausgangsbasis. Sie kön- es zu unterstützen. Hierbei können Theaterpädagogen mit ihren nen versuchen, Dinge gemeinsam herauszufinden, aber es künstlerischen und pädagogischen Kompetenzen eine entschei- ist auch möglich, dass ein Schüler dem Lehrer voraus ist.“ dende Rolle spielen.

Lehrer: „Die Schüler erhalten von den Künstlern eine Art Die Qualität, die TUSCH als KulturLernModell auszeichnet, „Anleitung zum Selbermachen“, sie befassen sich mit Dingen, lässt sich abschließend an dem aktuellen Stichwort Partizipation die ihnen wichtig sind und können sich daher ungehindert festmachen: TUSCH schafft kulturelle, soziale und politische entfalten. Das erzeugte bei einigen Schülern eine dermaßen Teilhabe, denn es ermöglicht es den Jugendlichen an ihren und positive Lernerfahrung, dass sich ihr Verhalten sowohl im anderen Orten (Schule, Theater, Stadtteil) mit ihren (eingebrach- sozialen als auch im schulischen Bereich nachhaltig positiv ten und neu entwickelten) künstlerischen Ausdrucksformen verändert hat.“ öffentlich zu „sprechen“ und wahrgenommen zu werden.

TUSCH bringt erst einmal für alle Beteiligten ein Mehr an Schulleitung: „Die Schule wird durch solche Aktionen belebt Arbeit mit sich. Dabei und darüber hinaus ergeben sich aber und Kinder nehmen durch dieses Konzept an Kultur teil, produktive Effekte mit Modellcharakter auf mehreren Ebenen: was sie sonst aufgrund ihres soziokulturellen Hintergrundes 1. Als Kunstpraxis entwickelt sich ein Modell künstlerischer in der Regel nicht tun.“ und ästhetischer Theaterarbeit mit Jugendlichen. 2. Als Lernform entwickelt sich ein Modell projektorientierten Schülerin: „Ich würde es sehr gut finden, wenn auch andere Lernens, das beide Orte, Schule und Theater, in ihren Ver- Schulen oder unsere Schule auch im nächsten Jahr an so einem mittlungsformen wechselseitig befruchtet und übersteigt. Theaterprojekt teilnehmen. Es bietet einfach die Perspektive, 3. Als Öffnung von Schule ergeben sich Anregungen für ein zu zeigen, was man hat und was man kann! Der ausschlagge- Modell von Schulentwicklung und Schulkultur. bende Punkt für das Projekt ist, dass Schüler am Ende etwas 4. Als bildungs- und kulturpolitischer Impuls zeigt sich ein haben, worauf sie besonders stolz sein können. Schließlich Modell von kultureller Bildung mit Bezug Schule. werden die Schüler auf einer Bühne vor vielen bekannten und nicht bekannten Zuschauern stehen und ihre Stücke TUSCH als Kulturelle Bildung schafft also Räume und Situationen, spielen. Allein der Gedanke daran ist ein schönes Gefühl.“ Rahmen- und Gelingensbedingungen für ambitionierte künst- lerische Projektarbeit mit Kindern und Jugendlichen. TUSCH Literatur versteht sich somit bei der gegebenen inhaltlichen und ästheti- Sting, W./Mieruch, G./Klinge, A. K./Stüting, E. M. (Hg.) (2012) schen Offenheit primär als ein kooperatives Produktions- und TUSCH: Poetiken des Theatermachens. Werkbuch für Theater Lernmodell. und Schule. München: kopaed. Theaterpädagogisches Wissen. Praxis – Projekte – Positionen 45

Achtung: Erkenntnis! Ein Fortbildungs- und Theaterexperiment Volker Jurké

Im Folgenden wird ein schulinternes Lehrerfortbildungsprojekt zur Verantwortungsübernahme seitens der Schüler und für ein vorgestellt, das sich in vier Phasen gliedert: gutes Klassenklima in dieser Phase zu erreichen ist. So werden intensive Kontaktmöglichkeiten zwischen Lehrern und Schülern 1. Phase: Vorbereitung und Konzeptionierung der Fortbildung frühzeitig möglich und das gegenseitige Kennenlernen erleich- „Professionelle Lerngemeinschaft Theater macht Schule“ tert. Wir hoffen, dass die Schüler in der 7. Klasse neugieriger, (2011/12) offener für Neues sind als später in höheren Klassen mit bereits 2. Phase: Durchführung der Fortbildung mit den Lehrern und ein- oder festgefahrenen Klassenstrukturen und Hierarchien. Künstlern (2012/13) Dadurch wird die Chance zur Verringerung des Mobbing- 3. Phase: Durchführung des Schulprojekts Risikos oder sogar seiner generellen Verhinderung größer. Die 4. Phase: Evaluation (2013/14) Bereitschaft und Begeisterungsfähigkeit für Theater/Aktion/ Film u. ä. ist in der 7. Kl. erfahrungsgemäß höher als in der 8. 1. Rahmenbedingungen Klasse. Schüler kommen schneller aus der Anonymität, zeigen sich von verschiedenen Seiten. Eine differenziertere Wahrneh- Im März 2011 gründet sich eine Planungsgruppe als Kompe- mung der Schüler durch ihre Lehrer soll so ermöglicht werden. tenzteam1 der Regionalen Fortbildung Friedrichshain-Kreuzberg, Die Schüler erhalten Möglichkeiten, sich in ihrer Vielfältigkeit um ein Pilotprojekt anzuschieben: Schule macht Theater – The- positiv zu erleben und gewinnen frühzeitiger Selbstvertrauen als ater macht Schule! beste Basis für das Lernen. Ein zu erwartender Effekt könnte sein, Nach diesem Motto soll eine Kreuzberger Schule gesucht wer- dass Selbstwirksamkeitserfahrung („Ich kann …“) auf andere den, die das Kompetenzteam beauftragt eine Schulinterne Kompetenzbereiche ausstrahlt. Nicht zuletzt ist die Anbindung Lehrerfortbildung (SchiLf) durchzuführen. Nach einigen Anlauf- an das Sprachbildungskonzept der Schule ein wichtiger Grund schwierigkeiten findet sich im August 2012 eine Professionelle für diese zeitliche Positionierung. Lerngemeinschaft2 (PLG) von Lehrerinnen und Lehrern in einer sogenannten Brennpunktschule, der Hector-Peterson-Schule3. 2. Das Kompetenzteam: Fortbilder bilden sich fort Das Lehrerteam setzt sich als Schulentwicklungsvorhaben zum Ziel, im Jahr 2013 über mehrere Wochen eine Theaterproduk- Sechs Fortbilder stemmen Freitag und Samstag Stühle und Tische, tion in den 7. Klassen, also am Übergang von der Grundschule springen lachend durch einen frei geräumten Seminarraum der zur weiterführenden Schule, gemeinsam mit Künstlern und „Werkstatt zur Integration durch Bildung“ (WIB) in Friedrichshain Theaterpädagogen der Region, zu initiieren und zu realisieren. Kreuzberg, in einem Teilgebäude des ehemaligen Krankenhauses und Vielfältig, differenziert und nachhaltig soll es sein. Die integra- heutigen Kulturzentrums Bethanien in der Adalbertstraße. Nebenan: tive Sprech- und Sprachbildung als Fortbildungsschwerpunkt betreutes Wohnen für Jugendliche und Familienzentrum; gegenüber der Stadt Berlin im Rahmen ästhetischer Bildung soll im Mit- ein kleiner Tierpark; um die Ecke das Georg-Rauch-Haus, nicht telpunkt stehen. weit der Mariannenplatz ... Einordnung Sie lachen viel, präsentieren sich in kleinen Szenen unter Anleitung Anders als in den prominent gewordenen Projekten mit Prota- einer Schauspielerin und einer Theaterpädagogin. Sie erfahren gonisten wie Royston Maldoom und Simon Rattle4 oder großen Theater am eigenen Leib. Die Türen stehen offen: Kolleginnen erfolgreichen Einrichtungen wie TUSCH, wollen wir „im Klei- und Kollegen schauen entweder etwas irritiert oder solidarisch nen“, pragmatisch auf eine Schule und ihren 7. Jahrgang bezogen, in den Seminarraum: Das soll Fortbildung sein? Oder: Toll, durch eine Fortbildung der Lehrer eine innovative und nachhalti- diese lebendige Körperlichkeit in einer „seriösen“ Fortbildungs- ge Lernkultur im Übergang von der Grund- zur Sekundarschule Tagungsstätte. initiieren. Das geschieht auf der Basis einer Zusammenarbeit Die großzügige Unterstützung (Ressourcen, Abordnung) durch und eines Austauschs zwischen Künstlern, Theaterpädagogen, die zuständige Leitung der Regionalen Fortbildung, einer Außen- den Lehrern, Sozialpädagogen und später dann im Schulprojekt stelle des Berliner Senats, ist ein absolutes Muss bzw. konstitutive mit den Schülern.5 Gelingensbedingung. Im Kompetenzteam sind daher folgende Damit ist die Hoffnung verbunden, dass es neben der vorbe- Fortbildungsbereiche repräsentiert und Kollegen zusammen- reitenden Fortbildung, gerade an dieser Schnittstelle, nämlich geführt: Deutsch, Musik, Schulpsychologie, Duales Lernen, der Schuleingangsphase in die weiterführende Schule, eine Schulentwicklungsberatung und Theater (Darstellendes Spiel). besondere pädagogische Relevanz haben kann, ein solches Die Beteiligten erleben von innen, was sie ihren demnächst ästhetisch-künstlerisches Projekt zu installieren. Als Fortbilder fortzubildenden Lehrerkollegen zumuten wollen und sie be- halten wir es für günstig, diesen neuen Lebensabschnitt – den kommen eine sinnlich angebundene Ahnung davon, was auf Übergang von einer Schulform in die andere – mit etwas Be- die Schüler des Projekts zukommen wird. Sie können erahnen, sonderem und positiv Besetztem einzuleiten. Wir glauben, dass welche Erfahrungen diese Schüler im Prozess künstlerischer Ge- der größte Nutzen für die Gruppenfindung, die Bereitschaft staltung machen werden, anders gesagt, welche ästhetische und 46 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Achtung: Erkenntnis! Ein Fortbildungs- und Theaterexperiment

„Deschawü-Raumschiff“. Fotograf: Volker Jurké

soziale Kompetenzentwicklung sie (hoffentlich) durchlaufen wer- zur Kooperation mit außerschulischen Partnern sollte ebenfalls den! gegeben sein bzw. geweckt werden. Theater hat auch hier – auf dieser Ebene der Fortbilder – team- In der Fortbildung soll den Kollegen Raum gegeben werden, bildende Wirkung. Die Fortbilder werden zu einer Gruppe, eine teambildende, nachhaltige Erfahrung im Ernstfall (Theater deren einzelne Mitglieder sich gut verstehen. Das trägt bis heute mit Publikum) zu erleben und in der Folge dann auch für die (2014). Lehrer und Schüler im Schulprojekt. Dabei soll die produktive Das Konzept lässt sich auf einen schlichten Nenner bringen, der Verzahnung der inhaltlichen Bereiche der Fortbildung (Duales alle weiteren Maßnahmen strukturiert. Alle Beteiligten, Fortbil- Lernen, Sprachbildung, Theater, Projektmanagment/Schulent- der, Lehrer und Schüler sollen die gleiche Erfahrungsgrundlage wicklung ...) erlebbar gemacht und verdeutlicht werden. Das haben, nämlich zunächst ganz praktisch Theaterspielerfahrun- Know-how „Projektvorbereitung-Durchführung-Auswertung“ gen sammeln, um auf je spezifische Weise deren soziale und soll also angewandt vermittelt werden. Ein weiteres wichtiges ästhetische Wertigkeit im pädagogischen Kontext zu erken- Ziel besteht in der Vermittlung des durchgehenden Prinzips nen. „fächerübergreifendes Lernen“. Im Idealfall soll die Präsentati- onskompetenz (Selbstkompetenz) der Lehrer als Voraussetzung Ziele der Fortbildung – Hoffnungen der Fortbilder für deren Vermittlung an die Schüler gestärkt werden. Schü- lerfähigkeiten, z. B. im Hinblick auf ihre häufig anzutreffende In der Konzeption des Pilotprojekts und der vorbereitenden Fort- Mehrsprachigkeit sollen vermehrt erkannt und gefördert werden, bildung kristallisieren sich die Zielschwerpunkte heraus. Es geht verbunden mit der Hoffnung auf eine langfristige Kom- zunächst und grundsätzlich darum, die Bereitschaft der Lehrer petenzvernetzung (Gestaltungskompetenz, Selbststärkung, zur Verantwortungsübernahme eines entsprechenden Schul- Teamfähigkeit usw.) mit positiven Auswirkungen auf alle Fä- entwicklungsvorhabens „PLG“ zu entwickeln. Die Bereitschaft cher. Theaterpädagogisches Wissen. Praxis – Projekte – Positionen 47

Achtung: Erkenntnis! Ein Fortbildungs- und Theaterexperiment

Pilot heißt Risiko! Nachdem sich die Multiplikatoren fortgebildet haben, startet nun die 2. Phase. Pilotcharakter heißt, dass ein möglichst richtungsweisender Ver- Jetzt beleben 16 Fortzubildende aller Fächer (Sprachen, Mathema- such gewagt wird, bevor ein Projekt allgemein akzeptiert und tik, künstlerische Fächer u. a.), darunter 2 Sonderpädagoginnen, in diesem Fall als Standard in der Schule implementiert wird. ein Sozialpädagoge und eine Theaterpädagogin samt der Kul- Im Erfolgsfall sollen alle zukünftigen 7. Klassen in den Genuss turbeauftragten der Schule die Seminarräume der Werkstatt zur kommen, mit einem fünfwöchigen Theaterprojekt in die neue Integration durch Bildung WIB in Friedrichshain-Kreuzberg. In weiterführende Schule zu starten. Dafür gilt es, dass möglichst 8 Modulen schreiben, filmen, singen sie drei Tage lang, produzie- viele Beteiligte das Projekt als sinnvoll erachten und akzeptieren, ren Klanggebilde mit verschiedenen Instrumenten, bespielen die am besten mit entsprechender Begleitforschung. Fortbildungsstätte ortsspezifisch mit Geschichte(n) des Hauses, Zunächst ist ein solches Pilotprojekt auch risikobehaftet. Zweifel dem ehemaligen Schwesternheim des Krankenhauses Bethanien. sind angebracht, ob so etwas überhaupt im normalen Schulbetrieb Sie probieren sich im Sprechen vor Publikum, im Geschichten funktionieren kann oder ob die Eltern bei der Anmeldung eher erfinden, in Körper-, Raum- und Stimmerfahrung, im Spiel! abgeschreckt werden. Nicht zuletzt stellt sich die Frage, warum Die Schulentwicklungsberaterin, gleichzeitig federführend für eine solche experimentelle Vorgehensweise in einer Brennpunkt- die Evaluation, zeigt auf, welche möglichen Klippen zu nehmen Schule überhaupt angenommen wird. bzw. zu umschiffen sind und worauf in der Planung und Durch- Das Lehrerteam entscheidet sich nach mehreren Beratungs- führung zu achten ist (Projektmanagement). Eine Spezialistin terminen und in Abstimmung mit der Schulleiterin und der für Sprachbildung der Universität Potsdam arbeitet mit der Schulrätin, das Multiplikatorenteam zu beauftragen, sie mit Gruppe zur Vielseitigkeit der deutschen Sprache, zu Sprachre- einer dreitägigen Fortbildung und weiteren Modulen während gistern, Dialekten, Stilen. Die Expertin für Duales Lernen zeigt und nach dem Schulprojekt auf ein solches Wagnis vorzubreiten. Möglichkeiten der Verknüpfung von Sprachbildung und hand- lungsorientiertem, praktischem Lernen auf (Theaterlogbuch). 3. Das Lehrerteam mit den Künstlerduos: Wissensaustausch Unter Anleitung der Fortbilder und „temporärer Komplizen“ (vgl. Seitz 2009), der sechs, zeitweise sieben ausgewählten Künstler (zum Teil vermittelt über den Kooperationspartner, das Theater Hebbel am Ufer, HAU Berlin), macht die Gruppe gemeinsame künstlerische Gestaltungserfahrungen. Diese Künstler – und das ist die Besonderheit dieses Fortbildungsprojekts – werden auch mit den Schülern in ihrem fünfwöchigen Schulprojekt künstle- risch arbeiten. Sie werden gemeinsam im Team mit zwei Lehrern, die sie schon aus der Fortbildung als Spieler und „Performer“ kennen, eine Klasse begleiten. Die Schule stellt aus ihrem Bud- get die Honorare für diese externen Experten zur Verfügung. Wissensgenerierung

Es geht um nichts Geringeres als durch eine Gruppe von Künst- lern an die Kollegen auf experimentellem Weg ein praktisches Wissen über Künste und das Lehren der Künste heranzutragen, in einem weiteren Schritt um den Austausch von Wissen über unterschiedliche Praxisbereiche und Arbeitsweisen: Kunst und Schule.

Erst auf der Basis dieses Erfahrungswissens sind die Lehrer in der Lage einzuschätzen, was sie ihren Schülern zumuten bzw. ange- deihen lassen und wie sie sich möglicherweise selbst auf einen künstlerischen Produktionsprozess, auch später im Schulprojekt, einlassen können. Umgekehrt wird auch auf Seiten der Künstler Wissen erzeugt bzw. werden Fragen aufgeworfen: Wie reagieren Lehrer auf künstlerische Denk- und Vorgehenswei- sen (und später auch die Schüler)? Wie lassen sich Widerstände durch die Institution Schule abbauen, die sich einem künst- lerischen Prozess in den Weg stellen? Welche methodischen Vorgehensweisen muss ich in der Arbeit mit den Lehrern bzw. Schülern bedenken? Welches pädagogische Wissen kann ich möglicherweise erlernen, übernehmen und nutzen? „Achtung Erkenntnis: Fortbildung für Lehrerinnen und Lehrer“ Um es vorwegzunehmen und gleichzeitig einen Ausblick auf Fotograf: Volker Jurké den Text im Folgeheft zu wagen: dieses Aufeinandertreffen 48 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Achtung: Erkenntnis! Ein Fortbildungs- und Theaterexperiment

„Déjà-Vu: Wenn die Realität eine andere wird.“ Ein Mensch betritt zum ersten Mal einen Ort. Oder vielleicht auch nicht. Dann verschwindet er. Auf einem aufgefunde- nen Tonband hört man seine Stimme und den Gang seiner Gedanken. Bleibende Bilder zeigen eine Reihe von Einstel- lungen seiner letzten Visionen. Welche Spuren kann der Mensch an einem Ort hinterlassen, wenn er nicht an jenem Ort physisch anwesend ist? Agathe Chion und Sébastien Alazet interessieren sich für dissozi- ierte Praxen oder verschiedene Spuren, die später übereinander gelegt werden. D. h., zu einer gemeinsam zu bearbeitenden szenischen Idee (z. B. eine Reinigungskraft irrt durch die Gänge des Hauses) wird zunächst in unabhängig voneinander agierenden Kleingruppen mit unterschiedlichen Schwerpunkten, wie: a) Sprechen-schreiben-aufzeichnen (Mikrophonaufnahmen), b) Beobachten-spielen-inszenieren, „Achtung Erkenntnis: Fortbildung für Lehrerinnen und Lehrer“ c) Filmen-fotografieren-digital bearbeiten/schneiden Fotos: Volker Jurké künstlerisch gearbeitet. Anschließend werden die Arbeitsergebnisse und Skizzen in einem Video-Foto-Roman zusammengeführt. Dieses Workshopkon- zept wird im Schulprojekt modifiziert wieder auftauchen, im „Deschawü-Raumschiff“ einer 7. Klasse ...

Im 2. Teil dieses Artikels wird neben der 3. Phase – der Durch- führung des Projekts in der Schule – die 4. Phase, mit ihren Ergebnissen aus der Evaluation (Film, Umfragen, Interviews) im Mittelpunkt stehen. Schulleitung, Künstler, Lehrer und Schüler kommen auf unterschiedliche Weise zu Wort. Wird es eine Fort- setzung des Projekts im Schuljahr 2014/15 geben?

Fortsetzung folgt!

Anmerkungen Die Fortbildung wurde von dem Filmemacher Detlef Fluch dokumentiert und ist als DVD beim Autor erhältlich. unterschiedlicher Praxen und Wissensorte birgt Konflikte und 1 5 Multiplikatorinnen, 1 Multiplikator. Im Folgenden wird dennoch Reibungspunkte, aber auch Chancen und durchaus produktive aus Gründen der Lesbarkeit die männliche Form gewählt. Erkenntnisse. 2 Vgl. Green, Norm: Professionelle Lerngemeinschaften, 2002. Lehrerin A: Ich hatte eine große Angst, wie es wohl werden Vgl. Rolff, Hans-Günter: Unterrichtsentwicklung etablieren und leben. In: wird in der Fortbildung, sich zeigen vor den Kollegen, obwohl Berkemeyer, N./Bos, W./Manitius, V./Müthing, K. (Hrsg.): Unterrichtsent- wir ein funktionierendes Team sind und uns grundsätzlich wicklung in Netzwerken. Münster/New York: Waxmann, 2008. gut verstehen. 3 Mittlerweile Schule mit künstlerisch-ästhetischem Profil und turnaround- Lehrer B: ... ist sonst nicht so mein Fall, mit Künstlern zu Schule, vgl. http://www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/45326.asp arbeiten – viele Ideen aufgenommen – tausend Fragen ent- Die Schule kooperiert intensiv mit dem HAU. Bereits im Jahre 2010 fand standen, wie das mit Schülern zu realisieren ist (aber guter in der Hector-Peterson-Schule nach einer Idee von Matthias Lilienthal das Hoffnung). Projekt X-Schulen statt, in dem Künstler des HAU mit den Schülern auf verschiedenen Parcouren in der ganzen Schule künstlerisch über Schule Lehrerin C: Bei aller Komplexität ein Super-Projekt – auf nachdachten. S. hierzu das Programmheft X-Schulen, Redaktion: D. Hil- etwas vertrauen können, was beim Theater immer passiert: liger und K. Hetmeyer am Ende sind alle sehr froh, erzeugt eine bestimmte Art von 4 Vgl. die ausgezeichnete Kritik im Hinblick auf ein anderes Verständ- Dynamik, auf die man sich verlassen kann. nis von Kunst, Pädagogik und Partizipation von Hanne Seitz: Kunst in Lehrer D: Toll zu sehen, wie ihr/wie wir als Team zusammen Aktion. Bildungsanspruch mit Sturm und Drang. Plädoyer für eine per- gearbeitet haben; macht Lust, Schule zu verändern. formative Handlungsforschung. In: Ute Pinkert (Hg.): Körper im Spiel. Wege zur Erforschung theaterpädagogischer Praxen. Schibri: Berlin/Milow/ Die Workshops Strasburg 2008, S. 28-45; siehe auch dies.: Kultur macht Schule, aber wie!? Zeitschrift für Theaterpädagogik Okt. 2011, S. 49–51. Als Beispiel der verschiedenen Module sei hier ein künstlerisches 5 Vgl. hierzu z. B. das umfangreich und vorbildlich dokumentierte Projekt Workshopkonzept in aller Kürze dargestellt. ARTuS! Kunst unseren Schulen, Schibri-Verlag Berlin 2009. Theaterpädagogisches Wissen. Praxis – Projekte – Positionen 49

Kunst zwischen Windel und Wagnis: Frühpädagogik und Theater im Praxistest bei TUKI Berlin

Achtung Erkenntnis: „Deschawü-Raumschiff“. Fotos: David Reuter

Kunst zwischen Windel und Wagnis: Frühpädagogik und Theater im Praxistest bei TUKI Berlin Juliane Steinmann

Theater mit den Allerkleinsten wirft viele Fragen auf. Allein und Eigeninteressen beteiligt1. Die Einschätzung seitens der Er- die stark differierenden Entwicklungsstände in der Altersklasse wachsenen, was als passendes Theaterangebot beurteilt wird, und der Ein- bis Fünfjährigen führen zu einer breiten Palette an In- die darauf aufbauenden Entscheidungen haben Konsequenzen teressen und Fähigkeiten der Kinder selbst. Daraus ergibt sich für die Auswahl und Gestaltung methodisch-didaktischer und die Schwierigkeit in der Einschätzung, was hier ein passendes auch künstlerischer Herangehensweisen sowie des gesamten Theaterangebot sein kann oder welche Angebote etwa Über- Rahmens. Theaterspielen mit kleinen Kindern ist angesiedelt in oder Unterforderung auslösen könnten. Im Zusammenhang einem pädagogischen Spannungsfeld, das die ganze Bandbreite Theater mit kleinen Kindern sind auf Erwachsenenseite ver- zwischen kindlichen Grundbedürfnissen und Abhängigkeiten schiedene Professionen und Einzelpersonen mit ihren jeweils bis hin zu kindlicher Eigenständigkeit und individueller Selbst- unterschiedlichen Theorien, Funktionen, Erfahrungshorizonten bildung enthält.2 50 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Kunst zwischen Windel und Wagnis: Frühpädagogik und Theater im Praxistest bei TUKI Berlin

Experimentelle Herangehensweisen und kind- schen Vorprägungen ausgegangen werden, was die Bedeutung licher Forschungsdrang und damit die ganz besondere Verantwortung für diese frühe Beschäftigung mit Theater hervorhebt. Theater und Theaterpädagogik treffen in der Zusammenarbeit mit Kitas auf Wissenschaft und Praxis aktueller Frühpädagogik Spiel und Kunst, Theaterbegriffe bei TUKI sowie ihre rechtlichen und bildungspolitischen Bedingungen. Ein Menschenbild, das die kindliche Expertise und den For- In diesem Kurzbericht werden Ansätze aus der Praxis vorgestellt, scherdrang in den Vordergrund stellt, das Selbstbestimmung und die bei „TUKI – Theater und Kita in Berlin“11 als Antworten auf die eigenzeitliche wie eigenwillige Entwicklung betont und auch diese komplexe Gemengelage erprobt wurden. TUKI umfasst die fordert3, konkurriert hier mit faktisch vorhandenen Kompetenz- Zusammenarbeit von 10 Berliner Theatern mit 10 Kindertages- hierarchien, strukturellen und finanziellen Vorgaben wie auch stätten. Ziele von TUKI sind die Etablierung theaterpädagogischer körperlichen, geistigen und emotionalen Unterschieden zwischen Angebote in Kindertagesstätten sowie die Sammlung, Reflexion Kindern und Erwachsenen. Dem gegenüber stehen besondere und Evaluation von praktischen Erfahrungen in diesem Bereich, Potenziale der Zielgruppe, an die das künstlerische Arbeiten deren konzeptionelle Weiterentwicklung und kulturpolitische anknüpfen kann: So lässt sich ein hohes Lerntempo und Lernin- Vertretung. In Bezug auf TUKI soll exemplarisch der Umgang teresse, große Offenheit und Neugierde voraussetzen. Es besteht mit dem Problem der Reproduzierbarkeit künstlerischer Prozesse ein natürlicher Bewegungs- und Erkundungsdrang. Sinnlich dargestellt werden12. „Kunst ist immer öffentlich“ – mit diesem orientiertes Ausprobieren ist vorherrschend vor anderen Strate- Statement eröffnete die TUKI-Leitung, bestehend aus Renate 4 gien der Wissensaneignung. Experimentelle Herangehensweisen Breitig und Charlotte Baumgart, das zweite Projektjahr. Als zent- werden von kleinen Kindern favorisiert, wie neuere Erkenntnisse rales theaterspezifisches Problem wird hier die Reproduzierbarkeit 5 der Frühpädagogik zeigen. Alle Materialien und Wesen in der szenischer Prozesse, Texte, Haltungen und Rollen in künstleri- Umgebung erscheinen kleinen Kindern gleichermaßen interes- schen Präsentationen mit kleinen Kindern benannt. Imitation sant. Ihre besondere Qualität, ihre Eigenschaften werden über und Reproduzieren sind zunächst Elemente einer bestimmten bewertungsfreies Probieren herausgefunden. Handlungsbezoge- Theaterauffassung, die einen besonderen Rahmen impliziert und ne Aktivitäten überwiegen, Konzepte von richtig und falsch sind besondere künstlerische Ziele verfolgt. Das Problem der Repro- nur ansatzweise bekannt und werden für die von den Kindern duzierbarkeit künstlerischer Prozesse ist also auch eine Frage der favorisierten explorativen Lernstrategien nicht eingesetzt, da sie Definition von Kunst und Spiel, vom Verhältnis zwischen Prozess 6 hinderlich wären. Hier ergeben sich deutliche Überschneidun- und Produkt. Daraus ergibt sich die Frage, welcher Theaterbegriff gen mit Haltungen und Strategien einer explorativ-künstlerisch für TUKI grundlegend ist. Die im Rahmen der wissenschaftlichen 7 ausgerichteten Theaterpädagogik. Begleitung des zweiten TUKI-Projektjahres unter den beteiligten Erwachsenen aufgespürten Theaterbegriffe variieren stark13. Es kann Verantwortung der künstlerischen Praxis in der verkürzend von drei Perspektiven bei TUKI gesprochen werden: Frühpädagogik Häufig anzutreffen ist ein Theaterbegriff, der produktorientiert von einem schönen Ereignis, einer Unterhaltungseinheit im Rahmen Auf der anderen Seite müssen die grundlegenden emotionalen einer Kindergartenveranstaltung ausgeht. Hier wird impliziert, und körperlichen Grundbedürfnisse gestillt sein. Sind diese dass Theater einen festen Rahmen hat und bestimmte Attribute Grundbedürfnisse nicht gestillt, können wir davon ausgehen, aufweist: Ein klarer Anfang und eine Auflösung am Ende gehören dass konstruktives Tun, Spielen und Lernen und somit auch dazu sowie eine Abgrenzung der Bühne und dort anzutreffender jede künstlerische Tätigkeit nur eingeschränkt oder gar nicht Rollen, die entlang einer Geschichte auftreten. Die Darbietung möglich ist.8 Andere Faktoren in der Arbeit mit kleinen Kindern enthält klar unterscheidbare Szenen, Tänze, Lieder oder Erzähl- in der Kita sind ebenfalls nicht voraussehbar, wie zum Beispiel parts. Eine zweite, fast gegensätzliche Sichtweise vertritt die Idee die jeweils aktuelle Gruppenzusammensetzung, die von spon- des offenen Experiments. Der äußere Rahmen wird gedacht als taner Zustimmung oder Ablehnung, Wohlbefinden, Wachheit „Werkstatt“. Sie bietet durch Material, Licht und Anordnung etc. abhängt. Je nach Alter ist Gruppenarbeit als solche noch Anreize und Orientierung für ergebnisoffene Prozesse. Hier steht gar nicht bekannt und eingeübt. Diese Faktoren bedingen eine die Gruppe mit ihren momentanen spielerischen und ästhetischen offene Gruppendynamik, die nicht vergleichbar ist mit anderen Interessen im Mittelpunkt. Die Bedürfnisse eines Publikums Altersgruppen.9 Eine verlässliche Wiederholbarkeit von künstleri- werden nicht vorrangig mitgedacht. „Die spielen ja schon“ ist schen Aktionen und Vorgängen in Gruppen erscheint in diesem die Aussage einer Künstlerin, die das kindliche (Rollen-)Spiel in Rahmen und unter diesen Voraussetzungen nicht denkbar und diesem Sinne als Ausgangspunkt der Arbeit definiert und wert- – je nach Theaterbegriff (siehe unten) – auch nicht unbedingt schätzt. Eine dritte Perspektive setzt Aufführungen vor Publikum erstrebenswert. Die kognitiven und koordinativen Fähigkeiten voraus und betont dabei gleichzeitig die Wichtigkeit des Prozesses um Handlungsabläufe gezielt zu wiederholen, reifen erst im Vor- und der Mitgestaltung durch die Kinder, indem unterschiedliche schulalter. Die Herstellung und bewusste Gestaltung beispielsweise Theater- und Kunstformen experimentell miteinander verbunden einer Bühnensituation inklusive der Antizipation möglicher Zu- werden. In diesem halb-offenen Setting wird die Entwicklung schauerinnen und Zuschauer und deren Sehinteressen müsste neuer Arbeitsformen und ästhetischer Produkte möglich. Die ebenfalls erst trainiert werden, was frühestens im Vorschulalter TUKI-Leitung favorisiert diese Haltung, welche Zufälligkeiten beginnen kann. Dasselbe gilt für die Gleichzeitigkeit von Rolle und Überraschungen ermöglicht, Prozesshaftigkeit und Im- und ich.10 Insgesamt kann von geringen künstlerisch-ästheti- provisation einbindet und diese auch im ästhetischen Ergebnis Theaterpädagogisches Wissen. Praxis – Projekte – Positionen 51

Kunst zwischen Windel und Wagnis: Frühpädagogik und Theater im Praxistest bei TUKI Berlin abbildet. Charlotte Baumgart wünscht sich „Präsentationsformen Armin (1991): Der „Situationsorientierte Ansatz“ im Kindergarten. für dieses laborhafte Arbeiten“. Grundlagen und Praxis. Freiburg, Basel, Wien: Herder. 4 Schäfer, Gerd E. (2005): Bildungsprozesse im Kindesalter. Selbstbildung, Altersgemässe Präsentationsformen Erfahrung und Lernen in der frühen Kindheit. Weinheim, München: Ju- venta. 5 Vgl. Laewen, Hans-Joachim; Andres, Beate (2007): Forscher, Künstler, Im Rahmen von TUKI werden von den Beteiligten unterschied- Konstrukteure. Werkstattbuch zum Bildungsauftrag von Kindertagesein- liche Abschlussformen für die Projekte diskutiert. Einig sind richtungen. Berlin, Düsseldorf, Mannheim: Cornelsen. sich Erzieherinnen wie Künstlerinnen, dass es wichtig sei, die 6 Vgl. Liegle, Ludwig (2010), 11–22. Kinder nicht zu Es werden insgesamt zwölf instrumentalisieren. 7 Vgl. Sack, Mira (2011): spielend denken. Theaterpädagogische Zugänge Vorschläge formuliert, die sowohl interaktive als auch prozess- zur Dramaturgie des Probens. Bielefeld: Transcript. hafte Formen, Ausschnitthaftes, Szenisches und diverse andere 14 8 Vgl. Spindler, Anna (2010): Bildung für Kinder unter 3 Jahren – Darstellungsmodi enthalten. Renate Breitig fasst zusammen: was bedeutet das? In: Frühkindliche Bildung. Von der Notwendigkeit „Es ist anders als im Profitheater, denn es ist eine Mischung zwischen frühkindliche Bildung zum Thema zu machen, Hrsg. v. Gunter Geiger; Gelenkt- und Offenheit und Zufälligkeit.“ 15 Eine dem wertungs- Anna Spindler. S. 93–107. Opladen und Farmington Hills, MI: Verlag freien Probieren kleiner Kinder entsprechende Haltung findet Barbara Budrich; Horacek, Ulrike (2009) Das Wohlbefinden unserer Kin- sich in der Aussage einer Theaterpädagogin wieder: „Es gibt kein der aus kinderärztlicher Sicht: Gesundheit umfassend betrachtet. In: Die Richtig und kein Falsch. Es geht ... darum, dass du es machst. (...) Jüngsten kommen, Hrsg. v. Christian Bethke/Sonja Adelheid Schreiner, Es geht ... darum, zu suchen.“ 16 Das steht nicht im Widerspruch S. 111–114. Berlin und Weimar: verlag das netz. zu dem Training theaterspezifischer Grundelemente. Es ist nicht 9 Vgl. Spindler, Anna (2010), S. 102. beliebig, was in den Proben passiert und später gezeigt wird.17 10 Ebenda: S. 105 ff. Mangelnde Reproduzierbarkeit kann – so die Erfahrungen im 11 Siehe http://www.tuki-berlin.de TUKI-Projekt – ausgeglichen werden durch die Präsenz eines/r 12 Weitere Informationen sowie die wissenschaftlichen Berichte zum ers- Erwachsenen, der/die die Funktion übernimmt, über Stichworte, ten und zweiten Projektjahr stehen zum Download zur Verfügung unter: Fragen, szenisches Anspiel, Materialien oder Musik die verab- http://www.tuki-berlin.de/ueber-tuki/fachbeitraege redete Geschichte oder Szenenfolge inhaltlich voranzubringen 13 Ergänzend hierzu: Pinkert, Ute (2010): Der Theaterbegriff in der und zu strukturieren. Dies ermögliche es den Kindern ihrerseits Theaterpädagogik. In: Brandstätter, Ursula; Dimke, Anna; Hentschel, verabredungsgemäß und emotional sicher auf der Bühne zu agie- Ulrike: Szenenwechsel. Vermittlung von Bildender Kunst, Musik und ren und ihren Teil an der Präsentation erfolgreich umzusetzen. Theater, 173–180. Schibri, Uckerland. Im hier dargestellten favorisierten TUKI-Modell geht es weder 14 „Aufführungen in Theater oder Kita; Video-Sequenzen zeigen: z. B. um auswendig gelernte Texte noch um festgelegte Bewegungs- Zusammenschnitt verschiedener Arbeitsschritte; Einblick in exemplari- abläufe. Alle Beteiligten sind in einem gemeinsamen Spiel auf sche Theaterstunde; „Schatzbücher“ oder gemalte Regieanweisungen/ der Bühne. Das, was passiert, passiert in diesem Moment und ist Szenenfolgen; Einblick in das interaktive Theatercafé (...): Zusammen- arbeit mit den Eltern; Einblick in einen gemeinsamen Theaterbesuch auch für kleine Kinder nachvollziehbar und spielbar.18 Es muss (Foto-Film-Text-Ton Zusammenschnitt); Theaterlabor; „Blitzlichter“ aus betont werden, dass bei den hier erwähnten Beispielen stets ein der Perspektive verschiedener Protagonisten; „Pecha Kuscha“ – Format klarer Handlungsrahmen und ein emotional wertschätzendes (20 Fotos in 6 Minuten, die mündlich kommentiert werden); „Dia- Umfeld Voraussetzung für das Gelingen ist.19 show“ – Standbilder, die Einblick geben und von außen kommentiert werden; zwei Tandems begegnen sich regelmäßig, besuchen gegenseitig Anmerkungen Proben und finden Dialogformen, die präsentabel sind; Besucherpro- gramm: spielerische Nachbereitung eines Theaterstücks für Publikum Juliane Steinmann ist Diplom Kulturwissenschaftlerin und Theaterpä- sichtbar machen; Ungewöhnliche Orte für die Präsentation einbeziehen dagogin. Sie unterrichtet an der HAWK Hochschule für Angewandte – Treppenhaus, Eingangshallen, Nischen; Installationen mit Theater- Wissenschaft und Kunst in Hildesheim und forscht derzeit zu dem Thema material schaffen und ggf. kommentieren (akustisch oder schriftlich).“ Theater mit den Allerkleinsten. Vorgeschlagen werden außerdem Installationen, die Figuren und Kostüme 1 Da Theater mit kleinen Kindern aus organisatorischen Gründen meist zeigen oder mit Musik-, Geräusch- und anderen Audioaufnahmen aus den institutionell angebunden ist – zum Beispiel an Kindertagesstätten – ist Proben bestückt sein könnten. das Team multidisziplinär besetzt: Erzieher_innen, Kita-Leitungen, andere 15 Vgl. Audiodatei TUKI-AG29-10-12-7 Zeitmarke 31 pädagogische Mitarbeiter_innen, Künstler_innen, Theaterpädagog_innen, andere Theaterberufe sowie Eltern und Wissenschaftler_innen arbeiten 16 Vgl. Audiodatei TUKI-B1-7-11-12-17 hier ggf. zusammen. 17 Hierzu ergänzend: Hentschel, Ulrike (2010): Theaterspielen als 2 Der grundsätzlichen Frage danach, ob und inwiefern es überhaupt ästhetische Bildung. Schibri. Uckerland. 122–132. sinnvoll ist, mit kleinen Kindern Theater zu spielen, wird nicht themati- 18 Diese ästhetische Form entspricht auf pädagogischer Ebene einer siert, sondern quasi im Voraus beantwortet mit dem Recht von Kindern konstruktivistischen Herangehensweise: „Das Konzept der ‚gemeinsam auf Kunst und dem Recht von Kindern auf Partizipation an Kultur. Vgl. geteilten Denkprozesse‘ beschreibt eine Verbindung von indirekter und den Schlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ unter direkter Erziehung, eine dialogische Gestaltung der Erziehung. Dabei http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/070/1607000.pd geht die Initiative (z.B. in Gestalt von Fragen) von beiden Seiten – Er- 3 Vgl. Liegle, Ludwig: Didaktik der indirekten Erziehung. In: Schäfer, zieherin (hier auch Künstler_in) und Kind – aus, und Initiative und die Gerd E.; Stenger, Ursula; Meiners, Kathrin (2010) Kinderwelten – Bil- Aktivität der Kinder werden von der Erzieherin (Künstler_in) gezielt dungswelten. Unterwegs zur Frühpädagogik. 11–22. Berlin: Cornelsen herausgefordert.“ ebenda S. 14. Scriptor; Ftenakis, Wassilios E. (2009): Ko-Konstruktion: Lernen durch 19 Der komplette wissenschaftliche Bericht ist als download verfügbar Zusammenarbeit. Zeitschrift für Pädagogik und Bildung, 3,9; Krenz, unter: http://www.tuki-berlin.de/ueber-tuki/fachbeitraege 52 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Fotos: © Anita Fuchs Theaterpädagogisches Wissen. Praxis – Projekte – Positionen 53

Integrative Theater-Gruppen für Jugendliche mit Asperger-Syndrom Ina Jahnke/Erzsébet Matthes

Die Störung des Asperger Syndroms wird in die Autismus Spek- barkeit aller Probanden (z. B. Geschlecht, Alter, Störungsbild) trum Störung (ASS) eingeordnet und unter dem Oberbegriff als Modalität von Bedeutung, um kausale Zusammenhänge „tiefgreifende Entwicklungsstörungen“ zusammengefasst. Dabei erschließen zu können. An der Studie nahmen 3 Jungen im manifestiert sich das Störungsbild im sozialen und kommuni- Alter von 11 Jahren mit der Diagnose Asperger-Syndrom teil. kativen sowie im repetitiven Verhalten. Alle Probanden besuchten den gleichen Jahrgang einer Schule, Kinder und Jugendliche mit Asperger-Syndrom zeigen meistens aber in verschiedenen Klassen. Die Mitarbeit mit ihren eigenen eine gute oder überdurchschnittliche Intelligenz. Oft werden sie Klassenkameraden war in den ITG freiwillig. Die Gruppen be- erst auffällig, wenn besondere, unvorhergesehene Anforderungen standen aus 6–8 Teilnehmern. Sie fanden im selben Raum und an ihre Sozialkompetenz gestellt werden, z. B. im Kindergarten mit demselben Spielleiter statt. Das Ziel, ein Theaterstück zu oder in der Schule. erarbeiten, wurde für alle festgelegt. Mit diesen Kriterien konnte Klassische Therapieansätze verfolgen ein Face-to-Face-Setting die Vergleichbarkeit der Probanden sichergestellt werden. Die mit einem Therapeuten, dabei ist es für Betroffene schwer das 12 Interventionen fanden einmal wöchentlich für 60 Minuten Besprochene in den Alltag zu adaptieren und in sozialen Grup- statt. Das „Theaterspiel“ wurde in den Stundenplan der Schüler pen auszuprobieren. Ein zusätzliches Problem ist, dass Angebote eingebaut. Die Intervention erfolgte in 4 Phasen: Übungspha- von Gruppentherapien für autistische Kinder und Jugendliche se, teilgeleitete Improvisation, zielgeleitete Improvisation und keine integrative Funktionen aufweisen. Der Kontakt zu typisch Stückfestigung. entwickelten Kindern fehlt hierbei völlig. Auch den Peers von In der Übungsphase lernen sich die Gruppe und der Spiellei- Kindern im ASS sollte die Möglichkeit gegeben werden, die ter kennen. Alle fangen neu an. Da Situation, Umgebung und autistische Störung besser kennen und verstehen zu lernen, da Aufgaben ungewohnt sind, können vorhandene Strukturen aus Integration sonst nicht gelingen kann. dem Klassenzimmer neu gebildet werden. In dieser Phase müssen Das Fazit ist: integrative Therapieansätze werden benötigt, von Übungen durchgeführt werden, die als Grundlage für Improvi- denen autistische und typisch entwickelte Kinder profitieren. sation dienen und die – je nach Fortschritt der Teilnehmer – im Vor ca. 20 Jahren wurden die “Integrated Play Groups” (IPG) Verlauf der Intervention abnehmen sollten. von Schuler und Wolfberg an der San Francisco State University Während der teilgeleiteten Improvisation liegt der Fokus auf (SFSU) entwickelt, um Kinder mit ASS möglichst früh in eine dem freien Spiel. Der Spielleiter führt die Improvisation ein Peer-Group integrieren zu können. Dabei spielen 3–4 typisch und gibt minimale Vorgaben (z. B. Ort, Emotionen). Die Spie- entwickelte Kinder (Spielexperten) gemeinsam mit einem autisti- ler erarbeiten die Geschichten selbständig. Wichtig ist, dass die schen Kind (Spielanfänger). Ein Spielleiter begleitet die Situation, Spieler aufmerksam zuhören, Handlungen und Emotionen er- ein Weiterer beobachtet das Geschehen. Dieses Spiel erfolgt zwei- kennen, auf eine Aktion reagieren, selber Aktion initiieren und mal in der Woche für ca. 30 Minuten. Das Ziel ist Situationen ihre Vorstellungskraft benutzen. zu schaffen, in denen alle Kinder gemeinsam spielen, um die In der zielgeleiteten Improvisation wird ein Stück selbst ent- soziale und emotionale Entwicklung des autistischen Kindes zu wickelt. Die Gruppe erarbeitet, welche Figuren sich treffen, an fördern. Diese Intervention wurde bereits vielfach evaluiert. Es welchem Ort, welche Konflikte entstehen und wie diese Kon- wurde festgestellt, dass die Spielanfänger deutliche Fortschritte flikte gelöst werden. Es müssen also 6 W-Fragen beantwortet im Bereich der sozialen Interaktion, emotionalen Entwicklung, werden. Jeder Teilnehmer spielt eine oder mehrere Rollen in Kommunikation zu Gleichaltrigen und im Spiel machten. Leider unterschiedlichen Szenen. sind die Möglichkeiten der IPG begrenzt, da sich das kindliche Die Stückfestigung ist eine Probezeit, in der die Gruppe wie ein Spiel ab dem 11. Lebensjahr verändert. Allerdings können die Ensemble zusammenarbeitet. Jedem Spieler muss bewusst sein: Möglichkeiten der IPG auf das Darstellende Spiel übertragen was auf der Bühne passiert, welche Aufgaben man hat, wie lang werden. Die Integrativen Theatergruppen (ITG) können so ein eine Szene dauert, welche Kostüme & Requisiten gebraucht weiterführendes Angebot für die betroffenen Jugendlichen sein. werden und wie man sich während der Vorstellung verhält. Die Im Juli ’07 wurde die Pilotstudie „ITG“ an der Universität Phasen können während der Intervention nicht übersprungen Rostock durchgeführt und von Schuler, Julius und Küster ge- und sollten möglichst gleich eingehalten werden. Alle Settings leitet. Positive Entwicklungen in der kommunikativen, sozialen wurden gefilmt und es wurde darauf geachtet, dass Körper und Interaktion, im Rollenspiel und Rollenverständnis und eine ver- Gesicht der Probanden gut erkennbar sind. Die Auswertung der besserte Partizipation am Umfeld der Probanden konnten dabei Aufnahmen erfolgte über das Solomon-Programm, ein Kodier- beobachtet werden. programm zur Verhaltensbeobachtung. Die Folgestudie wurde als transkooperatives Projekt der Universität Aus theaterpädagogischer Sicht sind für die Planung Spiele wich- Rostock und SFSU durchgeführt und von Julius und Wolfberg tig, welche die sozialen, kommunikativen Kompetenzen und die geleitet. Finanziert wurde die Studie (2009) auf deutscher Seite Selbst- und Fremdwahrnehmung bei allen Teilnehmern fördern. durch die Alexander-von-Humboldt-Stiftung. Für die Studie Die Intervention wurde von Sitzung zu Sitzung geplant. Zu- wurde aus dem Bereich der kontrollierten Einzelfallforschung nächst mit einem groben Plan aus theaterpädagogischer Sicht, das Multiple-Baseline-Design (MBD) gewählt (Julius, Schlosser der in einer Teamsitzung therapeutisch bewertet und bei Bedarf & Goetze 2000). Für die MBD-Studie der ITG ist die Vergleich- umgearbeitet wurde. Im Fokus stand folgende Frage: „Was kann 54 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Integrative Theater-Gruppen für Jugendliche mit Asperger-Syndrom

dem Probanden zugetraut werden und wie groß darf die Her- konnten, dass auch Mitspieler beim Erkennen und Darstellen ausforderung sein?“. Vor den Interventionen musste klar sein, bestimmter Gefühlszustände Schwierigkeiten hatten. welche Spiele die Probanden überfordern und wie der Spielleiter In allen 3 Gruppen wurde das Ziel, ein Theaterstück zu er- während der Sitzung intervenieren kann. Somit war die Heraus- arbeiten, erreicht. Alle 3 Probanden erhielten eine tragende forderung zu meistern, die theaterpädagogischen Methoden mit Rolle und wurden akzeptiert und integriert. Sie nahmen an den dem Wesen sonderpädagogischer Förderung zu verknüpfen. Die „Thea terstunden“ gern teil und arbeiteten aktiv mit. Das Ziel, Übungen wurden neu nach ihrer Wirkung bewertet und bewusst dass Jugendliche mit und ohne Asperger-Syndrom gemeinsam in den Ablauf eingebaut. Das Spezielle an den ITG ist, dass der spielen, wurde erreicht. Proband mit ASS im Fokus steht. Trotzdem dürfen die anderen Nach der Auswertung der gewonnen Daten konnten folgende Mitglieder nicht benachteiligt werden. Alle Aufgaben müssen Ergebnisse aufgezeigt und Rückschlüsse gezogen werden: Zu- auch für andere Teilnehmer der Sitzung interessant und heraus- nahme der prosozialen Verhaltensweisen, Steigerung prosozialer fordernd sein. So wie in der IPG war es auch in den ITG nötig Interaktionen, Abnahme von Isolation, Anstieg des kognitiven einen Beobachter (Therapeut) als Begleitperson in die Interven- Spiels, Abnahme der Häufigkeit von Objektmanipulationen tionen mit einzubeziehen. Diese Person übernimmt ähnliche (Julius, 2013). Aufgaben wie in den Spielgruppen. Nach der Sitzung können Somit konnte die Forschungsgruppe eindeutig beweisen, dass die die Beobachtungen von außen, therapeutisch und von innen, Integrativen Theatergruppen für Jugendliche mit Asperger-Syn- theaterpädagogisch ausgewertet werden. Diese Teamarbeit war für drom nicht nur die Integration in ihre Peer-Groups ermöglichen, die Entwicklung und Durchführung der Intervention essentiell. sondern auch die sozialen und kommunikativen Kompetenzen Aber auch aus Sicherheitsgründen ist die Anwesenheit des Be- stärken. Nach Beendigung der Folgestudie können nach jetzi- obachters unerlässlich. Autistische Jugendliche überschreiten oft gem Stand der Forschung die Veränderungen im Verhalten des die Grenzen und reagieren aggressiv. Der Beobachter unterstützt Probanden empirisch bewiesen werden. den Spielleiter in solchen Fällen, um die Konfliktsituationen schneller aufzulösen. Als weitere Erneuerung in der Folgestudie Literatur: wurden die Emotionskarten eingeführt. Bei den Aufgaben, in Julius, H., Schlosser R.W. & Goetze H. (2000). Kontrollierte Einzel- denen die Schüler selbst Emotionen darstellen mussten, wurde fallstudien. Eine Alternative für die sonderpädagogische und deutlich, dass nicht nur der Proband, sondern auch die Mitspie- klinische Forschung. Göttingen: Hogrefe, Verlag für Psycho - ler Probleme haben, Emotionen zu erkennen, zu benennen und logie. darzustellen. Auf den Karten ist ein Gesicht in verschiedenen Julius, H. (2013). Integrative Spiel- und Schauspielgruppen für Kinder Gefühlszuständen zu sehen. Den Teilnehmern wurden 50 Bilder und Jugendliche mit Störungen im autistischen Spektrum: in 4 Sitzungen vorgestellt. Erst wurde eine Anzahl von Bildern Abschlussbericht. in der Gruppe besprochen und im weiteren Spielverlauf einge- Wolfberg, P. J. (2003). Peer Play and the autism Spectrum. The art baut. Positiv für die Spieler im ASS war, dass sie in der Gruppe of guiding children´s Socialization and Imagination. Kan- die Emotionen erlernen konnten und die Erfahrung machen sas: Autism Asperger Publishing Co.

Jonglieren mit alten Hüten Hans Martin Ritter

Prozesse – Produkte. Anknüpfungspunkte Der Aufsatz von 1990 verwirbelte die Begrifflichkeiten in mehr- facher Hinsicht: er verwies auf produktorientierte soziale Prozesse und prozessgebundene ästhetische Produkte, auf die Tatsache, dass 1990 publizierte ich in der Broschüre Spiel- und Theaterpädago- das – ästhetische wie soziale – Produkt einer Aufführung wie- gik als Modell, in der das Institut an der damaligen Hochschule derum nur als sozialer und ästhetischer Prozess in Erscheinung der Künste seine theoretischen Konzeptionen und seine Praxis tritt oder generell: als Prozess zum Ereignis wird. Prinzipiell vorstellte, den Aufsatz Prozesse – Produkte. Eine Frühfassung führen in der Theaterarbeit ästhetische Prozesse zu ästhetischen war bereits 1988 in der Zeitschrift Korrespondenzen erschienen, und sozialen Produkten, ebenso soziale Prozesse zu ästhetischen im Grunde griff der Aufsatz aber auf Diskussionen und Thesen Prozessen und Produkten. Grundsätzlicher gesagt: die doppelte zurück, die 1978 auf dem Internationalen Kongress Spielpäd- Erscheinung des Menschen im Theater als Mensch und Figur – agogik auf dem Scheersberg eine Rolle spielten und eigentlich oder offener: als theatrales Subjekt – setzt einen Wechselprozess in auch dort schon „alte Hüte“ waren (vgl. Krambrich u. a. 1979). Gang: soziale Erfahrung gewinnt im Ästhetischen Form, zugleich Die damalige Fachdiskussion unterschied ziemlich einhellig löst sich ästhetische Form in soziale Erfahrung auf. Arbeitsansätze, ausgerichtet auf soziale Prozesse, von Arbeitsan- Diese Thesen gingen zurück auf meine Beschäftigung mit dem sätzen, die Aufführungen anstrebten, also: ästhetische Produkte. Brechtschen Lehrstück. Für mich spielte da vor allem eine Rolle, Theaterpädagogisches Wissen. Praxis – Projekte – Positionen 55

Jonglieren mit alten Hüten dass dieses Theatermodell feste Formen – das Stück, den Text, HMR). Ein prägnantes Beispiel Benjamins ist ein heftiger Fa- das „Produkt“ des Autors – nicht unmittelbar zur Aufführung milienstreit, der durch das plötzliche Eintreten eines „Fremden“ bringt, sondern in einem Prozess der Untersuchung mit Rol- zum Fotoschuss erstarrt, zum Bild, zum „Tableau“ wird, das die lenwechseln und Spiel-Varianten, durchsetzt von szenischen gestische Pointe dieser Situation festhält (ebd., 26). In der Tat sind Assoziationen, Kommentaren und Parallelszenen, fragmentiert es, wenn wir uns an Theaterereignisse erinnern, nicht in erster und auflöst und so einen Prozess in Gang setzt, in dem produkt- Linie fließende Prozesse, die im Gedächtnis bleiben, sondern hafte und prozessuale Momente und ästhetische wie soziale oder tableauartige Bilder, in denen prozesshafte Momente pointiert vielmehr politische Tendenzen sich wechselseitig durchwuchern in einem Eindruck oder ihrem emotionalen Nachhall zusam- (vgl. Ritter 1980, auch Ritter 2010). menfließen, wie sie vorab in einem Ausdruck zusammengeflossen Die derzeit vordringliche Aufmerksamkeit für Aspekte des De- sind. Das „unterbrechende“ Auge gibt ihnen einen „Rahmen“. konstruktiven im Theater, für die „Auflösung der Werke in Die traditionelle Guckkastenbühne könnte man als eine Art performative Prozesse“, wie es Barbara Gronau auf der diesjäh- Modell für diese Art des Sehens betrachten. Mit einem solchen rigen Ständigen Konferenz sinngemäß formulierte, auch das rahmenden Blick geht auch Brecht im Lied des Stückeschreibers forschende Interesse an Probenprozessen im Theater (Jens Roselt/ über die „Menschenmärkte“, auf der Suche nach Verhaltens- Annemarie Matzke, Universität Hildesheim), zeigen mir, dass die bildern: „Wie sie zueinander ins Zimmer treten mit Plänen / Frage nach Prozess und Produkt und ihrer Opposition doch wohl Oder mit Gummiknüppeln oder mit Geld / Wie sie auf den nicht nur ein alter Hut aus dem theaterpädagogischen Fundus Straßen stehen und warten / Wie sie einander Fallen ber eiten ist, den man unschlüssig und mit einem „Ausdruck von Qual“ / Voller Hoffnung“ usw. – auf der Suche nach Bildern also, in betrachten mag (vgl. dazu die kleine Abhandlung Brechts: 17, denen gesellschaftliche Momente deutlich werden. Durch ihre 1001 ff.), sondern durchaus schon wieder ein aktuell tragbares Ab- oder Ausschnitthaftigkeit, ihre Rahmenhaftigkeit, verwan- Modell für den theoretischen Kopf. Aber auch aktuell scheint deln sich Vorgänge in Bilder menschlichen Verhaltens und des mir, dass die beiden Begriffe noch immer in ihrer Gegensätz- gesellschaftlichen Zusammenlebens und von dort her in Vorla- lichkeit betrachtet werden, anstatt in ihrem dialektischen Bezug. gen für ästhetische Produkte. Bei Michael Tschechow kann man einen ähnlich dialektischen Prozesse – Produkte. Wechselbezüge Bezug zwischen Prozessen und Produkten in der elementaren schauspielerischen Arbeit entdecken. Tschechow beschäftigt sich mit den performativen Momenten von Vorgängen, etwa der Wie verhalten sich prozessuale und produkthafte Phänomene Entstehung einer Form aus dem Aktionsprozess heraus, dem Mo- zueinander? Die Frage ist für mich aktuell geblieben, sie hat al- dellieren des Raums durch Gesten und „ausladende Bewegungen“: lerdings eine sehr viel grundlegendere Bedeutung bekommen. „Die Bewegungen des Körpers schaffen Formen“ (Tschechow, Denn die Begriffe unterscheiden sich – gerade in den Zeitküns- 21 f.). Dabei spielt der Aspekt einer Dreiteiligkeit der Aktion ten – nur scheinbar durch den Fluss der Dinge einerseits oder eine Rolle: das Ansetzen einer Aktion, die Aktion selbst und ihre Gegenständlichkeit andererseits. Sobald man auf der Büh- das Innehalten danach in einer Art Fermate. Der Ansatz fügt ne agiert, zu sprechen oder zu singen, auf Partner oder auf das das Moment des vorläufigen, die Fermate das des rückläufigen Publikum zu reagieren anfängt, sobald man sich in Emotionen Betrachtens ein. Beides bewirkt im Agierenden das Bewusstsein bewegt oder zu denken beginnt – sei es als Figur oder über sie der Form einer Aktion. In diesem Sinn lassen sich auch gewisse hinaus, erfährt man sich offensichtlich in einem Prozess. Ande- Schauspielübungen Brechts verstehen, die mit der Ungleich- rerseits ist die Szenerie, sind die Aktionsräume, die Einsätze der zeitigkeit der Aktion und ihrer Wahrnehmung operieren: Der Musik, ihr Ablauf, sind mehrheitlich die Vorgänge, die Gesten, Zwischen-Blick des Spielers auf den Zuschauer vor einer Aktion die Worte festgelegt, sind zurechtgemachte und -gedachte aus- oder Äußerung lenkt die Aufmerksamkeit des Spielers wie des geformte Produktelemente. Aber wie sich da etwas ereignet, wie Zuschauers gezielt auf einen Vorgang: „so als wolltet ihr sagen: Worte zur Stimme oder zur Sprache kommen oder die Blicke / Jetzt gib acht, jetzt verrät dieser Mensch, und so macht er es, / zum Partner, ist wiederum ein immer neu ansetzender Prozess. So wird er, wenn ihn die Eifersucht faßt“ (Brecht 9, 778). Der Dies festzustellen, ist einesteils trivial, verwischt aber auch die „Nachschlag“ verlangt ein minimales Abwarten nach einer Äuße- klare Opposition der Begriffe. Die Produkthaftigkeit ästhetischer rung, bis „das Wort, das die Lippe verläßt“, das Ohr des Hörers wie sozialer Prozesse ist – ebenso wie ihr Gegenteil – insofern erreicht hat: „ich warte und höre/ Wie es aufschlägt“ (9, 787). nicht leicht in Begriffe zu fassen und anschaulich zu machen. Der Akteur nimmt also für sich vorweg, was er vom Zuschauer Ansatzweise lässt sich beides mit Brechts Begriff des Gestischen um- erwartet: die Aufmerksamkeit für die Aktion. schreiben. Walter Benjamin etwa entdeckt das gestische Moment Diese bewusste Rahmung einer Aktion und ihre Ausstellung im Anhalten, Trennen und Ausstellen von Ab- oder Ausschnit- durch Verzögerung, ähnlich wie die Dreiteiligkeit einer Aktion ten sozialer Prozesse – ob nun in den Proben, der Aufführung bei Tschechow, setzt im Akteur einen Wechselbezug von Handeln oder in der sozialen Wirklichkeit: „Gesten erhalten wir umso und Betrachten frei – im zeitlichen Nacheinander oder letztlich mehr, je häufiger wir einen Handelnden unterbrechen.“ (Benja- auch in der Gleichzeitigkeit. Beides erhöht den Öffentlichkeits- min, 9 f., Hervorhbg. HMR). In der Rahmung eines Vorgangs grad einer Aktion und fordert die Verantwortung des Agierenden entdeckt er das dialektische Moment der Geste, in der Prozess vor dem „Augenblick“ heraus – im doppelten Sinn: zeitlich in und Produkt gleichsam zusammentreffen: „Diese strenge rah- der Genauigkeit des Vollzugs und kommunikativ in Bezug auf menhafte Geschlossenheit jedes Elements einer Haltung, die doch den Zuschauer: „Immer vollführe ich/ Jede Bewegung wie vor als Ganze in einem lebendigen Fluss sich befindet, ist eines der der Versammlung/ Die darüber befinden wird“ (Brecht, 9, 788). dialektischen Grundphänomene der Geste“ (ebd., Hervorhbg. Auf diese Weise entsteht im performativen Prozess das Produkt 56 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Jonglieren mit alten Hüten oder auch: die Form im Fluss der Ereignisse. Zugleich löst das Elementen oder Fremdbestandteilen, die ihrerseits bruchstück- Produkthafte, die „Form im Augenblick“ sich fortlaufend im haft bleiben, formiert sich das aktuelle „Werk“ als Material der Fluss der Ereignisse, im Prozess neuer Ansätze und Handlungs- Aufführung gleichsam neu. Auf der Ebene des Performativen impulse auf: „Die Aufführung ist in diesem Sinn der immer erscheinen die Umrisse von Figuren aufgelöst oder fragmentiert wiederkehrende Augenblick, in dem Struktur und Form eines oder sind gar nicht angedacht, das agierende Subjekt wechselt Theaterereignisses sich auflösen und sogleich neu entstehen“ von der Aktions- auf die Meta-Ebene, erscheint mehrfach oder (Ritter 1990, 43). Auch mit Brechts Begriffen des „Überdenfluß- formiert sich in kommentierenden oder eingreifenden Chören. denkens“ und des „Imflußdenkens“ (17, 992) – entwickelt aus Selbst Raumstrukturen geraten in Fluss – in der Durchsetzung dem Doppelcharakter des schauspielerischen Handelns – lässt der Live-Aktionen mit Videos und Musikeinlagen etwa, die sich die Opposition von Prozess und Produkt dialektisch fassen: frontale Bespielung der Bühne zerfällt wie die Kontinuität von das Fließende wird zum „Gegenstand“ der Aufmerksamkeit und Geschichten oder Bildfolgen (vgl. Ritter, 2013). Im Ergebnis der Aktion – und beides löst sich wieder im Fluss des Geschehens entsteht ein unruhiger Fluss von bruchstückhaften Formen in (vgl. Ritter, 2009, 217 ff.). Der Wechselbezug von Handeln und freier nicht-narrativer zeitlicher Fügung. Diese performativen Betrachten zielt jedoch über die Ausstellung und Wahrnehmung Prozesse enthalten zwar immer auch produkthafte Momente ästhetischer Formen hinaus vor allem auf die sozialen Momente – diese gehören, wie oben ausgeführt, zum Kernbestand schau- in ihnen und den Prozess des Austausches oder der „Vibration“ spielerischen Handelns. Sie sind allerdings in fließenden Räumen zwischen ästhetischer und sozialer Wirklichkeit. und einem offenen Aufmerksamkeitsfokus schwerer zu erfassen und aufeinander zu beziehen. Was hat das mit heutigem Theater zu tun? Ihrer Funktion nach – sowohl von den Agierenden als auch von den Zuschauenden her gesehen – sind diese produkthaften Momente die Orte des Denkens und der Sinn-Assoziation. An Hans-Thies Lehmann verortet das von ihm so benannte post- den inneren „Tableaus“ setzt, eben weil sie den Fluss der Er- dramatische Theater in einem „post-brechtschen Raum“, der die eignisse gleichsam anhalten oder verzögern, immer wieder die Brechtsche „Dogmatisierung“ und die „Emphase des Rationalen“ Sinnsuche der Zuschauenden an und die Prozesse des Deutens ausspart (Lehmann 2001, 48), aber die Brüchigkeit, die Störung und des Austausches oder der „Vibration“ zwischen ästhetischen der dramatischen Kontinuität, den unvermittelten Schwenk auf und sozialen Wirklichkeiten – wie irritiert, schockiert, verführt Metaebenen beibehält: „Es situiert sich in einem Raum, den oder irregeleitet auch immer. Schon minimalste Angebote um- die Brechtschen Fragen nach Präsenz und Bewußtheit des Vor- risshafter Formen auf der Bühne korrespondieren da mit dem gangs und seine Frage nach einer neuen ‚Zuschaukunst‘ eröffnet Verlangen nach Sinn im Parkett. Hans-Thies Lehmann verweist haben“ (ebd.). Brechts Theaterentwurf (weniger seine Theater- allerdings auf mögliche, „affektiv“ bedingte Abwege des Denkens praxis) ist so gesehen eine Quelle postdramatischer Strömungen bei Theaterformen, in denen sich das Performative vordrängt: – insbesondere sein Lehrstück-Entwurf. Dort kündigt sich das „Da indessen die Wahrnehmung nicht aufhört, nach Sinn im Fragmentarische der Textelemente wie der theatralen Produkte, Sinne von Verknüpfungen und Assoziationen an Realitäten zu das Ausschnitthafte, der Wechsel ästhetischer wie kommunika- fahnden, wird der sinnlichen Wahrnehmung die Erfahrung un- tiver Ebenen, das chorische Element, anders gesagt: die aktuelle umgänglich, dass sie in Akten letztlich unbegründbarer Willkür Diskontinuität der Abläufe schon an. Nicht nur die späten Stücke den Daten subjektiv determinierte Bedeutungen zuschreibt“ Heiner Müllers wie Hamletmaschine oder Verkommenes Ufer – (2001, 193). Das ist wohl wahr und könnte im Theaterereignis aber gerade auch sie – knüpfen daran an, man denke weiter an zu einem Prozess wechselseitigen Verfehlens führen – allerdings die Berliner Volksbühne der 90er Jahre, an , an Die wieder nur scheinbar. Denn es geht im Ästhetischen – auf beiden Kontrakte des Kaufmanns von Elfriede Jelinek in der Stemannschen Seiten – immer und mit vollem Recht um subjektive Wirklich- Inszenierung. Eine Vielzahl von Aufführungen des diesjährigen keiten: eben um subjektive „Verknüpfungen und Assoziationen Treffens deutschsprachiger Schauspielschulen orientierte sich – an Realitäten“ und von daher immer um die je eigenen „Vibra- gerade auch in klassischen Vorlagen – an diesen Mustern. Und tionen“ zwischen ästhetischen und sozialen Wirklichkeiten. Von auch in Brechts Modell der Straßenszene – ursprünglich die szeni- daher müsste auch ein Missverstehen nicht notwendig in Oppo- sche Recherche zu einem Un-Fall und seine Erörterung – könnte sition zum Verstehen gedacht werden, sondern eher als dessen man den Schwenk von der Narration zum Diskurs-Theater bereits konstituierendes Teilelement (vgl. dazu meine Korrespondenzen erkennen, den Brecht als Schritt vom epischen zum dialektischen mit Hans-Thies Lehmann, Ritter 2009, 225 f., auch ebd., 43 ff.). Theater schon vorgedacht hat (vgl. Ritter, 2009, 221). Für meine Wahrnehmung schimmert dies Modell – z. B. mit Auftritten von Nicht-Professionellen oder „Experten“ (im Brechtschen Modell Literatur „Zeugen“ des Unfalls) – in den Produktionen von Rimini Pro- Benjamin, Walter (1971): Versuche über Brecht, Frankfurt/M (3. A.). tokoll durch. Auch hier werden soziale Erfahrungen aktualisiert Brecht, Bertolt (1967): Gesammelte Werke 1–20, Frankfurt/Main. und in produkthaften ästhetischen Fragmenten ausgestellt, in Krambrich, Volker/Kühl, Hannes/Nickel, Hans-Wolfgang/Ytteborg, denen diese Erfahrungen sich sammeln (im Brechtschen Origi- John (Hrsg.) (1979): Prozeß und Produkt / The Educational nal als „Beweismittel“). Function of Drama Process and Dramatic Performance. Hamburg Die Auflösung der „Werke“ in „performative Prozesse“ (Barbara Lehmann, Hans-Thies (2001): Postdramatisches Theater, Frankfurt/M. Gronau) ist dabei auf zwei Ebenen wahrzunehmen – einmal auf (2. A.). der Werk-Ebene selbst. In der Dekonstruktion der Vorlagen zu Ritter, Hans Martin (1980): Ausgangspunkt: Brecht. Versuche zum einer Folge bruchstückhafter Werkteile, durchsetzt mit aktuellen Lehrstück. Recklinghausen. Theaterpädagogisches Wissen. Praxis – Projekte – Positionen 57

Einiges zur Geschichte der Spiel- und Theaterpädagogik

Ders. (1990): Prozesse – Produkte. In: H. M. Ritter (Hrsg.): Spiel- und Theaterpädagogik als Modell. Berlin. Ders. (2009): ZwischenRäume: Theater – Sprache – Musik. Grenz- gänge zwischen Kunst und Wissenschaft. Milow-Berlin. Darin: Zwischen Worten und Gefühlen. Überlegungen zu einem schauspielerischen Grundkonflikt, S. 42–52, und: Theater und Denken. Kleine Korrespondenzen mit Hans-Thies Leh- mann, S. 200–226. Ders. (2010): Das Lehrstück als Entwurf: Brecht auf! Kleine Re-Lektüre der Lehrstücktheorie. In: Zeitschrift für Theaterpädagogik. Heft 57. Ders. (2013): Schwesterliche Zuneigung – Schwesterliches Fremdeln. Theater und Musik und das Moment der Verfremdung: eine Spurensuche mit Blick auf aktuelle Aufführungen. In: Jürgen Hillesheim (Hrsg.): Verfremdungen. Ein Phänomen Bertolt Brechts in der Musik. Freiburg Tschechow, Michael (1979): Werkgeheimnisse der Schauspielkunst. Zürich.

Einiges zur Geschichte der Spiel- und Theaterpädagogik Hans-Wolfgang Nickel

Spiel- und Theaterpädagogik bringt sich als kreativ-innovative Deshalb sollten Tragödien in Platons Idealstaat von der staat- Praxis wie als eine immer wieder neu formulierte Theorie in die lichen Zensur überprüft und nur zugelassen werden, wenn sie Gefahr, zu schnell wechselnden Moden zu folgen und dabei die den Grundsätzen des Idealstaates nicht widersprachen (vergl. eigene Fachgeschichte zu vergessen. Deshalb hatte ich unter der Gesetze – Nomoi 817 a – d). Überschrift „Vergessenes frisch aufgetischt“ den Zuhörerinnen „... aber die Nachbildungen hässlicher Gestalten und Gesinnungen und Zuhörern auf dem Basar der Ständigen Konferenz vier „his- und die Scherzgebilde solcher, welche Lachen zu erregen bemüht torische“ Themen aus der (weit zurückreichenden!) Geschichte sind, die in Worten, Gesang und Tanz und allen derartigen der Theaterpädagogik auf einer Menükarte zur Wahl gestellt Nachbildungen das Lustspiel darstellen, diese mit anzuschauen – sie alle mehr oder weniger vergessen (verkannt, missdeutet, und kennenzulernen ist notwendig; ... muss man jedoch beides zugedeckt von Missverständnissen). kennenlernen (das Ernste und das Lächerliche), um niemals, aus Unbekanntschaft damit, Lächerliches zu tun oder zu sagen, Bei Platon und seiner (positiven!) Stellung zum Theater ging obwohl man es nicht darf.“ es, kurz gesagt, um die Widerlegung der überall zitierten, weit Auch beim Lächerlichen gab es eine Einschränkung: weil Nachah- verbreiteten, aber falschen Meinung, er sei „gegen das Theater“, mungen so wirkungsvoll sind, „muss man Sklaven und um Lohn habe es sogar in seinem Idealstaat „verbieten“ wollen. Richtig gedungenen Fremdlingen die Nachbildung desselben übertragen, aber ist: Platon war nicht gegen das Theater. Er war auch nicht und nie darf ein Freier, weder Frau noch Mann, ernstlich sich gegen die Tragödie. damit beschäftigen ...“ (Gesetze - Nomoi 816 d, e)1. Die Fehlinterpretationen basieren vielfach auf einer verengten Übersetzung von musike techne – das eben nicht bzw. nicht nur Menü-Angebot zwei: Bei meinen Hinweisen auf die protes- „Musik“ meint, sondern „Musenkünste“ (zu denen das Theater, tantischen Schulmeister und ihre Didaktik ging es weniger aber auch die Astronomie gehörte). um die von Luther sehr klar in seinen Tischreden aufgeführten Platon hielt die Nachahmung, ähnlich wie Aristoteles, für ein fast Lehrziele (Sprachübung; soziales Lernen – sowohl bezogen auf automatisch und ‚total‘, jedenfalls überaus wirksames Bildungs- das öffentlich-berufliche wie auf das familiäre Leben, darunter mittel. Wenn Menschen also etwas „... darstellen, dann mögen auch Sexualerziehung)2, sondern vor allem um die didaktische sie nur, was dahin gehört, gleich von Kindheit an nachahmen, Virtuosität der Schulmeister. Als Beispiel diente Christian Weise tapfere Männer, besonnene, fromme, edelmütige und anderes der (1642–1708) und sein „Trauer-Spiel von dem neapolitanischen Art, Unedles aber weder verrichten noch auch es nachzuahmen Haupt-Rebellen Masaniello“3, uraufgeführt 1682 auf der Schul- geschickt sein, noch sonst etwas Schändliches, damit sie nicht bühne des Zittauer Gymnasiums, das Weise seit 1678 als Rektor von der Nachahmung das Sein davontragen. Oder hast du nicht leitete. Als Rektor schrieb er für seine Schüler mehr als 50 Dra- bemerkt, dass die Nachahmungen, wenn man es von Jugend an men und inszenierte sie mit ihnen. stark damit treibt, in Gewöhnungen und in Natur übergehen, Masaniello, fast ein Zeitstück, behandelt den Aufstand von 1647 es betreffe nun den Leib oder die Töne oder das Gemüt? – Al- in Neapel: das Volk revoltiert gegen den spanischen Vizekönig, lerdings, sprach er“ (Der Staat – Politeia, 395 c, d). den Adel und die drückenden Steuern, erfolgreich angeführt 58 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Einiges zur Geschichte der Spiel- und Theaterpädagogik von dem Fischer Masaniello. Nach dem Erfolg der Revolte will Spiel gleich als zum Confecte mit zunehmen.“ Vorangegangen er wieder als Fischer arbeiten; interne Intrigen und ein perfider bei dem kleinen Schultheaterfestival, das der ‚Theaterdirektor’ Gift-Anschlag führen zu seinem Zusammenbruch; der Adel über- Weise, wie üblich, „in drey unterschiedenen Spielen“ anrichtete, nimmt wieder die Macht. Weise geht es in seinem Stück primär war ein biblisches S piel „Von Jacobs doppelter Heyrath“; nach um die politische, die weltmännische Erziehung, um Prinzipien dem politischen „Von dem Neapolitanischen Rebellen Masani- von, modern formuliert, „good government“; bei aller Sympa- ello“ folgte ein komödiantisches „In einer Parodie eines neuen thie des Dramatikers für Masaniello lässt der Pädagoge letztlich Peter Sqvenzes von lautern Absurdis Comicis“; dabei dauerte die alte Ordnung dominieren. allein die Masaniello-Aufführung etwa 5 Stunden. Mich interessiert an dem Stück jedoch weniger dessen Position in der Geschichte der politischen Bildung; ich wollte hinweisen „Kurtzweil“ aber auch schon im Masaniello. Als „Theaterdirek- auf didaktische Qualitäten der protestantischen Schulmeister, auf tor“ kennt Weise sein Publikum; auch im politischen Lehrstück die Spielleiterkompetenz des Autors Christian Weise. darf die Unterhaltung nicht zu kurz kommen. Deshalb gibt es Nota bene: all diese Schulmeister-Stücke wurden bisher niemals drastische Szenen. Da suchen adlige Frauen in Angst vor dem theaterpädagogisch analysiert; wenn überhaupt, dann wurden revoltierenden Volk Zuflucht in den Zellen der Mönche – teils sie theaterwissenschaftlich eingeordnet oder als „Literatur“ inter- gelüstig, teils geniert; da versteckt sich Herzog Caraffa im Bett pretiert. Das liest sich dann in Bezug auf Masaniello so: „... ist der gemeinen Dirne Bardassa. die Form des Dramas noch zu uneinheitlich, ein Eindruck, der Kurzweil aber vor allem durch Allegro, den Pickelhäring – sehr vor allem durch die Vielzahl der Personen und die Pickelhäring- zum Missvergnügen von Literatur- und Theaterwissenschaft. Szenen entsteht“4. „Vielzahl der Personen“ – das stimmt schon: Allegro, sicherlich gespielt von einem komödiantisch begabten Neben zwei Prolog-Sängern gibt es 77 namentlich aufgeführte Burschen, bringt in seinen Bemerkungen („auff der Seite“, d. h. Rollen, aufgelistet genau nach ihrer sozialen Stellung: von Rhode- direkt ins Publikum, „Ad Spectatores“) die Ereignisse auf kurze, rigo, Herzog von Arcos und Vize-König von Neapel, über Adlige, treffende Formeln: „was die mit dem Degen verderben / das sol- Geistliche, Bürger, Handwerker bis herab zu Banditen, einer len die mit der Feder wieder gut machen“; oder: „Du hast die „gemeinen Dirne“, Bauern, Knechten, endend mit Allegro, „des Sache ... in den Quarck hinein geführet: nun wollen wir sehen / Vize-Roy kurtzweiliger Diener“. Dazu kommen stumme Bürger, wer sie wird wieder heraus führen.“ Sein großer Auftritt erfolgt, stumme Bauern, kleine neapolitanische Kinder und „Kleine Nar- als die Revolte siegreich und er des Dienstes quitt ist: „Hey sa! ren in Allegro Compagnie“; insgesamt also etwa 100 spielende nun bin ich ein ehrlicher Kerl / und wer mich vor des Vice-Roy Mitwirkende. Diese Vielzahl ist jedoch mehrfach motiviert: Sie seinen Diener ansieht / den heiß ich einen Schelm. Nun will ich ermöglicht zum einen eine umfassende Darstellung des sozialen helfen rauben / brennen / todschlagen / und was sonst vor sieben Aufbaus eines Kleinstaates (am Beispiel der Stadt Neapel); sie gibt freye Künste in der Welt mehr sind. Aber einen Mangel habe ich vielen Schülern die Chance, sich sehen zu lassen (und ihren Eltern, noch ...“. Allegro fühlt sich allein. Mehrfach bittet er das Pub- sie zu sehen); nicht zuletzt entspricht die Rollenbesetzung bis herab likum, in seine Narren-Compagnie einzutreten. Ohne Erfolg. zu Bürgern und Handwerkern der sozialen Schicht der Schüler: „Ho / ho / ich weiß ein ander Mittel! da hab ich den Samen von die beiden Söhne seines „Patronen ... Herren von Schweinitz“ einem ... Narren-Kraut. ... (Er säet und singet). Ich streue mei- spielen den Vizekönig und Leonisse, dessen Gemahlin; Adlige nen Samen aus / Viel Glücks zu dieser Müh! Jhr jungen Narren agieren in Rollen des Adels, die Bürgersöhne spielen Bürger. Das komt heraus / In meine Compagnie. ... (Hier kucken allenthal- ist nicht nur Tradierung und Zementierung einer etablierten so- ben kleine Narren aus dem Boden herfür / und weil Allegro redet zialen Ordnung, sondern zugleich Lebens- und Berufstraining. / so kommen sie allmählig in die Höhe.) ... Ich ... wil den Acker In einer der Druckausgabe vorangestellten Widmung an seine mit den besten Weine begiessen / so hab ich einen doppelten „Patronen“ diskutiert Weise selbst diese Problematik: „Endlich bin Vorthel. Vor eines gedeyet mir die Frucht besser; und vor das ich in dem versichert / daß Gelehrte und Adelichen Qvalitäten andere kriegen mir die Schelmen besser Courage. (Er wendet sich zugethane Personen / dieses Werck allerdings nicht verwerffen kön- um / da fangen die kleinen Narren alle an zulachen / Allegro lacht nen / darbey die Adeliche Jugend zu einer geziemenden hardiesse dazu / und fängt mit jhnen an poßierlich herum zu springen / biß aufgemuntert / hiernebenst auch zu einer curieusen Betrachtung er mit jhnen hinein tantzt.)“ Menschlicher und Politischer Begebenheiten angeführet wird“. Dann folgen Sätze, die auf den Zusammenhang von Schule und Ende des ersten Aktes. Realität anspielen. Schule wird bezeichnet als „schattichter Ort“, Allegro ist also zugleich eine Art „Regieassistent“ – zu seiner noch getrennt von „dem rechten Lichte“, der Realität. Das Thea- Compagnie gehören die jüngsten Schüler. Das ist wiederum ter in der Schule jedoch kann als speculum vitae, als Spiegel des theaterpädagogisch/didaktisch gedacht: die Bühnenneulinge Lebens, „mit einigen Vorspielen belustigen“, dabei „des Lichtes ... können sich pantomimisch, ohne Text, eingebunden in einer gewohnen“, kann das Rollengefüge der Realität für die Bühne und Gruppe, angeleitet von einem erfahrenen Spieler auf der Büh- auf der Bühne probeweise herstellen und durchsichtig machen; ne erproben und an Theater gewöhnen. Und ihre erste Aufgabe Schüler können soziale Rollen („die Partheyen“, also die Partien, kommt uns recht bekannt vor: vom Boden empor zu wachsen, die Rollen) üben (vollkörperlich mit „Zunge“, „Gesichte“ und wie eine Blume, ein Strauchwerk, ein Mensch. „Leib“), darin heimisch werden. Erproben und Üben geschieht Soweit also ein paar kleine Beispiele für das, was ich die Didaktik jedoch „in kurtzweil“, Lernen also mit Lust und Spaß. Das kün- der protestantischen Schulmeister nenne. digt auch der „Nachredner“ an „auf den Morgenden Tag / beliebts GOtt / an statt einer Heroischen und grausamen Invention etwas Menü-Angebot drei: Luserkes Agitur – eine frühe Theorie der von einer annehmlichen und von einem kurtzweiligen Lust- Performativität (?). Martin Luserke 5, bekannt durch seine Shakes- Theaterpädagogisches Wissen. Praxis – Projekte – Positionen 59

Einiges zur Geschichte der Spiel- und Theaterpädagogik peare-Inszenierungen mit Schülern in der Schule am Meer, durch Gewünscht von allen Zuhörergruppen aber wurde das „Dessert“: Bauhütten-Stil, musikalisch-szenische Aufzüge, wurde insbeson- ein historisch-ironisches Schmankerl. Unter der Überschrift dere von Herbert Giffei weiter tradiert und nach 1945 vor allem „Performativität und Präsenz, Pose und Prahlerei“ hatte ich eine in der gymnasialen Theaterarbeit rezipiert und weitergeführt. Verordnung des Königs Friederich Wilhelm I. von Preußen aus Mir ging es jedoch um den Theoretiker Luserke und seine Frag- dem Jahre 1718 zitiert, dass „Comödien und Actus dramatici, ment gebliebenen Überlegungen zum Agitur6. Eine Warnung wodurch nur Kosten verursacht und die Gemüther vereitelt vorweg: Luserke schreibt in seinen theoretischen Arbeiten, gelinde werden, in den Schulen gänzlich abgeschafft seyn“ – und daran gesagt, eigenwillig. Also zunächst nur einige Luserke-Zitate zum die Frage angeschlossen: wie sehr „vereiteln“ wir heute unsere Eingewöhnen: „Agitur ergo sum – es wird dramatisch veranstaltet, Spieler, unsere Spielerinnen? und daher stammt unser Bewusstsein – ist entwicklungsgeschicht- lich gemeint: Erlebnisse künstlich wieder heraufzubeschwören Anmerkungen oder Wunschträume magisch zur Verwirklichung zu locken, ist 1 Eine ausführliche Diskussion der Position Platons erscheint 2014 in eine urzeitliche Erfindung. ... In Wechselwirkung mit der drei- der Zeitschrift „Spiel und Theater“. dimensionalen äußeren Erfahrungswelt entwickeln sich in dem inneren Raum zwischen Erdichtung, Spiel und beglaubigenden 2 „Comödien zu spielen soll man um der Knaben in der Schule willen nicht wehren, sondern gestatten und zulassen, erstlich dass sie sich üben Zuschauern Gestalten. Könnte das etwa zu der geheimnisvollen in der lateinischen Sprache, zum andern, dass in Comödien fein künstlich Wendung des Lebens gegen sich selber geführt haben, die wir erdichtet, abgemalet und fürgestellet werden solche Personen, dadurch die Bewusstsein nennen?“ (Aus einem Exposé vom 18.12.1958). Leute unterrichtet und ein Jeglicher seines Amts und Standes erinnert und „Freilich spielen auch schon die unvernünftigen Kinder ganz vermahnet werde, was einem Knecht, Herrn, jungen Gesellen und Alten echtes Theater in seinen drei naturnotwendigen Dimensionen gebühre, wol anstehe, und was er thun soll; ... Zudem werden darinnen von Sinn, Darstellen und Zuschauen“ (ebd., S. 21). „Entwick- beschrieben und angezeigt die listigen Anschläge und Betrug der bösen lung zur innerlich und äußerlich einheitlichen Gestalt hat schon Bälge, desgleichen was der Eltern und jungen Knaben Amt sey, wie sie ih- vorlogisch mit der Kunst begonnen, Evidenzerlebnisse gesell- re Kinder und jungen Leute zum Ehestande zu ziehen und halten, wenn schaftlich im voraus oder hinterher zu veranstalten. Die spätere es Zeit mit ihnen ist, und wie die Kinder den Eltern gehorsam seyn und freien sollen etc. Solches wird in Comödien furgehalten, welches denn sehr Vernunftsprache ist eine Steigerung der Veranstaltung. ... D. h., nütz und wol zu wissen ist.“ dass jeder Erlebnisvorgang zur dramatischen Veranstaltung wer- 3 Christian Weise: Masaniello, hg. und mit einem Nachwort von Fritz den muss oder Ersatz bleibt“ (ebd., 72). Martini, Reclam 1972 (Zittau 1683). Vergl. Heinz Ottto Burger: Dasein Was Luserke hier zu formulieren versucht, geht zurück auf ein heißt eine Rolle spielen. Studien zur deutschen Literaturgeschichte, 1963; 7 eigenes Evidenzerlebnis während seiner Wanderungen in Frank- Walther Eggert: Christian Weise und seine Bühne, 1935. reich: die Begegnung mit den Menhiren der Megalithkultur, 4 Kindlers Literatur Lexikon 1986, 11. Bd., S. 9520. den aufrecht stehenden bis 20 m hohen Hünensteinen: etwas 5 Vergl. Martin Luserke: Shakespeare-Aufführungen als Bewegungsspiele, Großes, Besonderes, Sichtbares, von daher Einsichtiges, Einsicht 1921; Schule am Meer, 1925; Pan – Apollon – Prospero. Zur Dramatur- Schaffendes von (einstmals kultischer) Bedeutung. Ein „Über- gie von Shakespeare-Spielen, 1957. gangsobjekt“, ließe sich mit Winnicott formulieren. Dazu ein 6 Agitur ergo sum?, hg. von Herbert Giffei 1974. Satz von Winnicott, den Richard Schechner in seiner ‚Thea- 7 Evidenz zu lateinisch videre: sehen; evidens: augenscheinlich, einleuch- teranthropologie‘ zitiert: „Das Wesentliche an diesem Konzept tend, offenbar; evidentia: Veranschaulichung, Ersichtlichkeit, Klarheit, ist folgendes: Während die innerpsychische Realität irgendwo Sichtbarkeit. im Bereich des Geistes oder im Leib, im Kopf oder sonstwo 8 Richard Schechner: Theateranthropologie, 1990, 215. Der Satz findet innerhalb der individuellen Persönlichkeit und die sog. äußere sich bei Winnicott 1973, 65. Ich zitiere noch zusätzlich aus den Haupt- Realität außerhalb des Individuums lokalisiert wird, ergibt sich thesen Winnicotts: eine Lokalisation für Spiel und kulturelles Erleben, wenn man „1. Kulturelles Erleben ist lokalisiert in einem schöpferischen Spannungs- vom Konzept des potentiellen Raumes zwischen Mutter und bereich zwischen Individuum und Umwelt (anfänglich: dem Objekt). 8 Kleinkind ausgeht“ . Dasselbe gilt für das Spielen. Kulturelles Erleben beginnt mit dem kreativen „Evidentia“: Wir zeigen etwas (und zeigen uns dabei); ich doku- Leben, das sich zuerst als Spiel manifestiert. mentiere etwas (und dokumentiere dabei mich); ich präsentiere 2. Für den einzelnen Menschen ist die Möglichkeit, sich dieses Bereiches etwas (und mich) – ist das nicht wesentlich präziser, konkreter zu bedienen, durch Lebenserfahrungen in den allerersten Phasen seiner als die Allerweltsvokabel vom Performativen? Und dabei kultur- Existenz vorgegeben. anthropologisch wie entwicklungsgeschichtlich fundiert? 3. Die Erfahrungen im potentiellen Bereich zwischen subjektivem Objekt und objektiv wahrgenommenem Objekt, zwischen Ich und ‚Nicht-ich’ sind Gewählt von meinen vier Gesprächsangeboten wurden vor allem für das Kind von Anfang an äußerst intensiv. Dieser Spannungsbereich Platon und Luserke, auch das protestantische Schultheater; nicht entsteht in der Wechselwirkung zwischen dem ausschließlichen Erleben gewählt wurde „Musisches Leben nach 1945 – wider die Urzeu- des eigenen Ich (‚es gibt nichts außer mir’) und dem Erleben von Objekten gungstheorie“. Dabei hätte ich zeigen wollen, wie viel nach dem und Phänomenen außerhalb des Selbst und dessen omnipotenter Kontrolle“ Ende des Zweiten Weltkriegs als „musisches Leben“, als Spiel (Winnicott 1973, 116). und Laienspiel noch lebendig war oder wieder auftauchte – wir haben also Schulspiel und Theaterpädagogik in den 60er Jahren durchaus nicht neu erfunden. 60 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Stichworte zu einer basarischen Wissenskultur Gerd Koch

„Demokratie ist nichts anderes als ein ursprünglich griechisches Theaterstück, das im Laufe der Zeit immer trivialer wurde. Demokratie ist damit nichts weniger als eine Erfindung der Kunst, eine Bühnenveranstaltung, die dem Topos vom theatrum mundi untersteht und in dieser Tradition eher despektierlich, bestenfalls milder ironisch betrachtet wird.“1

1 eines „basarisches Wissens“ – es soll Orientierungen (Plural) er- möglichen – und ich erinnere gerne daran, dass sich der Begriff Eine „Utopie der Zivilgesellschaft“2 und „Bürgermacht“3 gilt es herleitet von „Orient“ (Kirchenbauten werden „orientiert“, d. anzusteuern. „Auf die Einsicht der Bürger lässt sich nicht ver- h. der Altar weist nach Osten; denn von dort soll wohl das Licht zichten“4 bei einer Transformation „from subject to citizen“.5 / die Erleuchtung kommen: ex oriente lux … die Erde ist rund und der Osten ist überall ein anderer …). Dass mir das Wort vom „basarischen Wissen“ während der „Stän- 2 digen Konferenz“ einfiel, lag wohl – mindestens – an dreierlei: a) Das gebotene Lehr-Lern-Format trug schon das mich verlo- Nach Pierre Rosanvallon muss der produktive Akzent auf eine ckende code word „Basar“ in sich; b) im kleinen Kreis, fast wie Beteiligung am (Entwicklungs-)Prozess des Politischen6 gelegt wer- an einem Marktstand, handelten wir unsere Erkenntnisse wie den, an dessen aktiver, kreativer Entfaltung.7 Das Objekt Politik in einem vorkapitalistischen und zugleich konkret-utopischen ist wegen seiner gering entwickelten Prozessualisierung defizitär, „Modus der Gabe“12 aus und nicht im Modus des rabiaten, steht in der Gefahr der Formalisierung / Erstarrung und verliert kapitalistischen business; c) und last but not least eine berufsbio- seine Verhaltensqualität als auf Demokratie zielend. „Demokrat grafische Vermutung: Meine erste berufliche Ausbildung war sein hieße, handeln unter der Prämisse, dass wir niemals in einer die zum Groß- und Außenhandelskaufmann (vulgo: Export- ausreichend demokratischen Gesellschaft leben“ (Jacques Der- Kaufmann) – da liegt das Basarische nahe.13 rida)8 – und Pierre Rosanvallon postuliert: Das Überleben der Demokratie als „politischer Form“ ist an einen Vergesellschaf- Anmerkungen tungsmodus, an eine „soziale Form“ gebunden, in der sich Gleiche als Freie und Freie als Gleiche begegnen können.“9 1 Ursula Franke, Josef Früchtl: Kunst und Demokratie. Hamburg 2003, S. V. 3 2 Vgl. Francesca Vidal: Utopie der Zivilgesellschaft, in: Dies. (Hg.): Uto- pien von Zivilgesellschaft. Mössingen-Talheim 2011, S. 60 ff. 3 Vgl. Roland Roth: Bürgermacht. Eine Streitschrift für mehr Partizi- Hermann Pfütze sieht eine Strukturähnlichkeit zwischen Kunst pation. Hamburg 2011. und Demokratie: Beide müssen sich immer neu bewähren, kön- 4 So ist die Rezension des Buches von Daniel Hildebrand: „Rationalisierung nen nicht unbefragt, wie in einem feudalen System, Erbschaft durch Kollektivierung“ (Berlin 2011) durch Michael Pawlik überschrieben, und Sicherheiten antreten. Beide müssen um Anerkennung rin- in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.5.2012, S. 26. gen und sie öffentlich, diskursiv gestalten. Demokratie ist nach 5 Vgl. Györgi Csepeli u. a. (Hg.): From Subject to Citizen. Budapest 1994. Pfütze ein nicht vollständiges, ein nicht totalitäres Verfahren und 6 Vgl. Gerd Koch: Heimat, in: Beat Dietschy, Doris Zeilinger, Rainer er versteht ‚Kunst als Spielraum der Demokratie‘.10 E. Zimmermann (Hg.): Bloch-Wörterbuch. Leitbegriffe der Philosophie Ernst Blochs. Berlin, Boston 2012, S. 187: Seyla Benhabib macht den 4 konzeptionellen Vorschlag einer demokratischen Iteration (Benhabib 2009), die gezielt Schritt für Schritt, wiederholend/wieder-holend – besser noch: voraus-schreitend – Wege in neue dialogische, interaktionelle Situationen Ich hatte das Vergnügen, meine „Stichworte“ fünfmal nachei- und rechtliche Verfahrensweisen mit Wahrung des Rechtes des Anderen ein- nander in einem wechselnden kleinen, produktiven Kreis von schlägt. Die Weg- und Reise-Metapher (iterationelle Demokratie) eröffnet Zuhörenden und Mitarbeitenden zu entfalten – während eines den Blick auf Heimat als ein raum-zeitliches Phänomen, als eine Freiheit fachlichen Kommunikationsangebotes, das die Organisatorinnen des Handelnd-sich-Bewegens, als Konstituenz von Demokratie (Arendt und Organisatoren der „Ständigen Konferenz Spiel und Theater 1993) und als eine prospektive, experimentelle Handlungsorientierung an Hochschulen“ so benannten: „Basar theaterpädagogischen hin auf Gelingendes, zu Schaffendes in der Welt und aus dem Material Wissens“. Ein Kollege (Friedhelm Roth-Lange) nannte meine Art der Welt selbst. Und es wird eine Methode (von méthodos – Nachgehen, solches zu tun, ein „wildes Denken“. Mit dieser Charakterisie- einem Weg folgen) nahegelegt; mit Ernst Bloch (Tübinger Einleitung in rung kann ich mich gut einverstanden erklären und gebe gerne die Philosophie, Frankfurt am Main 1970, S. 61) „Methode haben heißt den Hinweis auf ein hierzu sehr passendes Buch weiter11. Die mit dem Weg der Sache gehen, und der Weg der Sache verlangt universitas, genetisch gegliederte Totalität des Blicks. Steht doch das Totum selber, jenes Kollegin R. nannte mein mäanderndes, assoziatives Argumen- Ganze, das wirklich die Wahrheit wäre, erst sehr latenzhaft im Begriffe, tieren – nicht unkritisch – ein „nomadisierendes“. Ich nun (er-) hier zu sein, im realutopischen Begriff. Das ist der Sinn der merkwürdig fand während meiner Tätigkeit auf dem „Basar theaterpädagogi- überlieferten Reiseform des Wissens, ein unstatischer Sinn, gerade auch im schen Wissens“ diese Kennzeichnung meiner Kommunikation: Reiseobjekt selber.“ Auch der Gestus des Erzählens hat gegenüber der Rede Ich verstehe mich als Vertreter (Handlungsreisender) der Form oder des (bestimmenden) Sagens etwas Unstatisches, Reisehaftes … Theaterpädagogisches Wissen. Praxis – Projekte – Positionen 61

Stichworte zu einer basarischen Wissenskultur

7 Vgl. Pierre Rosanvallon: Für eine Begriffs- und Problemgeschichte des 12 Ingrid Hentschel, Una H. Moehrke, Klaus Hoffman (Hg.): Im Mo- Politischen. Antrittsvorlesung am Collège de France, in: Mittelweg 36, dus der Gabe / In the Mode of Giving. Theater, Kunst, Performance in der Beilage zu Heft 6 (2011/12), S. 43 ff. Vgl. auch Gerd Koch (Hg.): Experi- Gegenwart / Theater, Art, Performance in the Present. Bielefeld, New York ment: Politische Kultur. Berichte aus einem neuen gesellschaftlichen Alltag. 2011. Zwei Rezensionen des Buches erschienen in dieser Zeitschrift: Gerd Frankfurt am Main 1985. Koch in Heft 59 und Hans Wolfgang Nickel in Heft 63. 8 Zitiert nach Rudolf Walther: „Langweilig wird sie nie – Volksabstim- 13 Siehe das schöne Begleitbuch zur Konferenz im Haus der Kulturen mung“, in: die tageszeitung, 15.3.2013, S. 12. der Welt Berlin (11. – 15. August 2005) herausgegeben von Angelika Fitz, 9 Vgl. Pierre Rosanvallon: Die Gesellschaft der Gleichen. Hamburg 2013. Merle Kröger, Alexandra Schneider, Dorothee Wenner: IMPORT EXPORT / cultural transfer / India, , Austria. Berlin, New Dehli 2005. 10 Vgl. Hermann Pfütze: Form, Ursprung und Gegenwart der Kunst. Ferner exemplarisch: Regina Bittner, Kathrin Rhomberg (Hg.): Das Bau- Frankfurt am Main 1999. haus in Kalkutta. Eine Begegnung kosmopolitischer Avantgarden (1922!, 11 G.-A. Mies, P.-J. Sommer: Über das Theater-Machen. Reflexionen Anm. gk). Ostfildern 2013. über das wild Ästhetische & wild Pädagogische. Beiträge zur bedeutungs- offenen Sozialen Arbeit. Mönchengladbach 1999. 62 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

MAGAZIN

Drei Theaterabende, drei aktuelle Theaterstücke – ein Ensemble! Publizistisches Theater im Chinesischen Kulturzentrum Berlin 19.–21. November 2013

Gerd Koch

Das 1949 gegründete Zhejiang Ensemble aus – „Frauen ab 30“ (hier war man sich in der der Bänkelsänger, in die west-afrikanische Tra- der südöstlichen Provinz Chinas gastierte im Übersetzung nicht einig; gemeint war wohl dition und Aktualität der Griots (männlich) / Chinesischen Kulturinstitut in Berlin. An drei auch, dass Frauen früher reif im Sinne von klug Griottes (weiblich). Abenden wurde „3*3 Junge Theaterkunst aus werden als Männer …) – „Leichtfertige Liebe“. China“ gezeigt – so der Festival-Titel – eine sehr Ich zitiere jeweils den Anfang und den Schluss Theater-spiel-methodische Aufmerk- gute Chance, sich kompakt mit Thematiken der kurzen Information, die dem nicht chinesisch samkeitsrichtung vertraut zu machen und Spielformen wahr- sprechenden Publikum zur Verfügung gestellt zunehmen sowie ein und dasselbe Ensemble wurde, um so einen Eindruck von (banaler) Die Spielfläche während der drei Tage bestand und seine Schauspielerinnen und Schauspieler Brisanz und (brisanter) Banalität der jeweiligen aus Podesten in einem Mehrzweck-Vortragssaal. bei ihrer Arbeit in verschiedenen Rollen und Thematik zu bekommen: Die war weitgehend offen und brauchte kei- Stücken zu sehen. „Glück.com“: GAO Tian verliert seinen nen Vorhang. Die Rückwand wurde sparsam Job in einer Immobilienfirma und trifft für Projektionen genutzt. Die Bühnenseiten Aus der (übersetzten) Begrüßung seitens der eines Tages seine alten Schulfreunde wieder rechts und links waren offen, so dass von dort Veranstalter erfuhr ich diese Absichtserklärun- … Am Ende versteht er, dass die verlorene Requisiten, die nötig waren, von den Spielerin- gen für das Festival: Zeit nicht mit Geld zurückzukaufen ist und nen und Spielern auf die Spielfläche platziert Inhaltlich-thematisch solle sichtbar werden, startet ein neues Leben als Dorfschullehrer und wieder abgeräumt werden konnten. War welche Probleme junge Menschen heutzutage in auf dem Land. es Zufall oder Absicht: Schaute man durch die China haben – oder: Wie sie lachen und wie sie „Frauen ab 30“: Die erfolgreiche Mitdrei- offene linke Seite der Bühne, dann konnte man weinen. Die Stücke sind 2010 –2012 entstanden ßigerin ZHAO Xiaonan hält sich einen viel dort einen rot lackierten Paravent sehen, wie während der schnellen Entwicklung in China, jüngeren Freund, in der Hoffnung, aus ihm er etwa in China-Restaurants zu finden ist, und sie zeigen den psychischen Druck, den die einen gehörigen, perfekten Ehemann zu ma- um das „Chinesische“ anzudeuten. Schaute jungen Leute bei dem schnellen Wandel erleben. chen … ZHAO Xiaonans Freund findet das man durch die offene rechte Seite der Bühne, Theater-spiel-methodisch wurde diese Blick- Verhalten von ihr kindisch und YE Xixins da konnte man dort einen schwarz lackierten richtung nahegelegt – mit einem Hinweis auf Zukünftiger befürchtet, dass die Liebe von Flügel stehen sehen, wie er nicht nur bürgerlich- Oscar Wilde: Theater ist fast wie ein Spiegel der Ehe erstickt wird. europäische Konzertsäle schmückt. Weder der des aktuellen Lebens; wie in einem Spiegel wird “Leichtfertige Liebe“: Direktor HU überlegt, Paravent noch das Musikinstrument spielten es reflektiert und – so setzte ich hinzu – ein welches Auto er der hübschen und erfolgrei- eine Rolle in den drei Aufführungen. Aber Spiegel transformiert das Zu-Spiegelnde in ein chen ZHAO Sihan kaufen soll, damit sie ihn sie waren immer zu sehen. 1955 sagte Bertolt seitenverkehrtes Bild: eine gute Methode für heiratet ... Da kommt ihnen plötzlich die Brecht im einem Gespräch mit einem chinesi- Stückentwicklung und Inszenierungshaltung schöne QIANG Qiang in die Quere, wel- schen Studenten: „Wir gehen beim Bühnenbild und eine passende, dialektische Metapher che gerade von ihrem reichen, ausländischen davon aus, nicht nur den momentanen Ort für künstlerische Wissens-Produktion; denn Freund betrogen wurde. darzustellen, sondern auch immer einen Teil Spiegeln ist nicht ein Abbild-Erstellen. In der des Milieus, das heißt auch etwas von außen Begrüßung hieß es dann auch folgerichtig: Man kann die Thematiken der Szenen etwa hereindringen zu lassen.“ 1 Theater sei realistischer als das Leben. so typisieren: Betriebsklima, sozialer Aufstieg, Daraus will ich diesen Schluss ziehen: Hier Für den Regisseur aller drei Stücke, LI Bonan, betriebs- und finanzwirtschaftliches Denken, wurde kein chinesisches Theater gespielt, hier war es theatergeschichtlich nicht gleichgültig, Geld und Familien-Traditionen, Freundschaft wurde kein europäisches Theater gespielt, son- in Berlin zu sein; denn Brechts Heimat ist nun und soziale Situationen, Liebe und / versus Ehe, dern hier wurde Theater gespielt, hier wurde auch einmal Berlin … Frauen- und Männer-Rollen-Konflikte, neue mittels der „Weltsprache Theater“, also einer Ich greife die drei in der Begrüßung genannten Bli- Geschlechterrollen, akademischer Status und/ ästhetischen Verkehrssprache, gestaltet. cke für die Gliederung meiner Argumentationen versus ökonomischer Standard. Im einzelnen dazu: Es spielte ein elfköpfiges, auf: Inhaltlich-thematische Aufmerksam- Mit anderen Worten: Junge Themen und jun- junges Ensemble, das in der Stadt Zhejiang keitsrichtung – theater-spiel-methodische ges Theater – keine Chinoiserie! beheimatet ist. Die Spielerinnen und Spieler, Aufmerksamkeitsrichtung – theatergeschicht- Und: Themen, die aus dem Alltag genommen alle um die 30 Jahre alt, kamen aus verschiede- liche Aufmerksamkeitsrichtung. wurden, über die bei Betriebsfesten und den nen Provinzen des Landes. Das Zhejian Drama Mittagspausen gesprochen wird, die in Klatsch- Ensemble arbeitet auch speziell fürs Kinder- Inhaltlich-thematische Aufmerksam- und-Tratsch- Blättern zu finden sind. In den theater; es hat aber auch Wolfgang Borcherts keitsrichtung 1920er Jahre wurden solche Text-Sorten von Heimkehrerdrama von 1947 „Draußen vor Paul Hindemith oder vertont der Tür“ in China zur Aufführung gebracht. Die Titel der gezeigten Stücke lauteten (jeweils – Stichworte: Neues vom Tage, Zeitungs-An- Dessen Untertitel lautet „Ein Stück, das kein nach den Übersetzungen zitiert): „glück.com“ noncen – und man blicke zurück in die Zeit Theater spielen und kein Publikum sehen will“. Magazin 63

Die Bühnenausstattung war sparsam: Tische, maßen in dieser Haltung: Hören Sie nun, was le, körperliche, emotionale, vokale, melodiöse Stühle, Sitzgarnitur, Garderobenständer, Trink- Sie gleich sehen werden, dessen verbale Sprache und kognitive Klang der Geste(n)“ – das wäre gläser, Tassen, Bücher, Zeitschriften, Fernseher, Sie nicht verstehen ... Der Reporter war sowohl eine passende Charakterisierung. Dabei kamen Mobiltelefone – alles beweglich und alles sichtbar einer von uns (dem Publikum; man merkte es sicher Traditionsbestandteile der chinesischen am Bühnenrand deponiert. Die Beleuchtung am Benutzen der Umgangssprache) wie auch Zeigekunst (und seines langdauernden Kör- war sichtbar. einer, der von etwas berichtete, was er schon pertrainings) auf der Bühne mit Formen des Im Stück „Frauen ab 30“ waren die drei Schau- kennt, wir aber noch nicht. Das erinnerte demonstrierenden Spielens zusammen. spielerinnen sowie die drei Stühle auf der Bühne mich an Bertolt Brechts „Die Straßenszene als uni-farben in blau, rot und gelb ‚gewandet‘; die Grundmodell für episches Theater“ von 1938: Bemerkenswert auch die Ausdrucksstärke der Stühle hatten einen Überzug (wie ein Kleid), Ein Straßenunfall war geschehen, jemand, der Gesichtsoberfläche der Schauspielerinnen und der ihre innere Struktur ‚verkleidete‘. In einem das gesehen hat, erzählt und demonstriert eini- Schauspieler – ich sage bewusst nicht Mimik, Gespräch nach der Aufführung äußerten sich ges davon denen, die nicht dabei waren … Bei denn ich möchte die Beherrschung, besser: Ge- die Schauspielerinnen JIANG Ning, GAO Brecht heißt es zum berichteten Gegenstand staltung der Dynamik der Gesichtsmuskulatur als Weiwei und ZHANG Kangnan zu den Farben: und zur Funktion des Berichterstatters: „Man Ganzes, die in Sekundenschnelle Veränderungen Sie hatten die Kleider-Kleidung selbst gewählt bedenke: Der Vorgang ist offenbar keineswegs ermöglicht, hervorheben: wie ein Ballett, wie und das aus solchen Gründen: Gelb soll Sonne, das, was wir unter einem Kunstvorgang ver- eine Choreografie der Muskeln, des Gesichts: Hitze, pure Liebe bedeuten. Blau soll mensch- stehen. Der Demonstrierende braucht kein bewegliche, zeigende, körpersprachliche Plas- liche Kühle signalisieren, Kühle bricht in das Künstler zu sein. Was er können muß, um sei- tizität, vitales Antlitz (dieses Wort umgreift die Gefühl der Liebe als einer Gefühlswallung ein: nen Zweck zu erreichen, kann praktisch jeder. Wechselseitigkeit und die Möglichkeit eines das ist „die Rolle, die ich repräsentiere“, sagte Angenommen, er ist nicht imstande, eine so Zugleich von Blick und Gegenblick: ansehen die Schauspielerin in Blau (Repräsentieren als schnelle Bewegung auszuführen, wie der Ver- und gesehen werden). ein Zeigen, nicht als Identifikation verstanden, unglückte, den er nachahmt, so braucht er nur Und es wurde das Dialogische, was ja eine denn wir sind ja im Theater!). Rot soll Herzlich- erläuternd zu sagen: der bewegt sich dreimal an- und gegen-sprechende Logik zwischen keit, Wärme und auch die Zeitdimension der so schnell, und seine Demonstration ist nicht verschiedenen Menschen herstellen will, zur Zukunft signalisieren; etwa in der Weise, dass wesentlich geschädigt oder entwertet. Eher ist Theater-Spiel-Maxime. Dazu wird – auch – die man etwas hinter sich lassen kann und nach seiner Perfektion eine Grenze gesetzt. Seine imaginierte vierte Wand durchbrochen; etwa, vorne blickt, neu blicken kann … Demonstration würde gestört, wenn den Um- wenn der Schluss einer Szene außerhalb der Als Liebhaber des traditionellen chinesischen stehenden seine Verwandlungsfähigkeit auffiele. Bühne gespielt wird, ohne sich dem Publikum Theaters, namentlich in seiner Operntradi- Er hat es zu vermeiden, sich so aufzuführen, anzubiedern: Die veränderte Spielplatz-Höhe tion, ist man geneigt, bei so deutlicher be- daß jemand ausruft: ‚Wie lebenswahr stellt er reicht schon als Theatermittel, etwa um dahin ziehungsweise eindeutiger Farbgebung auf der doch einen Chauffeur dar!‘ Er hat niemanden zurückzukommen, woher das Material der Szene Bühne nach deren traditionellem Sinn, also ‚in seinen Bann zu ziehen‘. Er soll niemanden stammt – aus dem Alltagsgeschehen nämlich, einer chinesischen Farbenlehre zu suchen. aus dem Alltag in ‚eine höhere Sphäre‘ locken“2. dorthin (stellvertretend: ins Publikum) wird es Die hier auf der Bühne dominierenden Far- Das gelang dem berichtenden Übersetzer her- nun zurückgegeben, aber nicht ohne es mehr- ben gelb, blau und rot wären dann Chiffren vorragend und beispielgebend: Er drängte sich fach verändert zu haben durch Theater-Spiel- für etwa dies: Glück, Wärme, Feuer, Ruhm, nicht auf, er drängte dem Publikum keine / Kraft. Kraft, Leben (symbolisiert durch die Farbe seine Bedeutungen auf, er wünschte viel Ver- Die Spielerinnen und Spieler nehmen / geben Rot); Toleranz, Geduld, Weisheit, Erfah- gnügen an dem, was (uns) nun gleich auf der sich Zeit zum Zeigen, agieren taktgenau wie in rungen, Macht, Kontrolle, Energie (gleich Bühne geschehen würde … ein Grundmodell einem Musikstück. Und sind sparsam zugleich: symbolisiert durch die Farbe Gelb); Spiri- für ein episches Theater (um Brecht zu para- So etwa, wenn eine Schauspielerin in wenigen tualität, Sorgfalt, Umsicht, Glaube, Treue, phrasieren). Nebenbei: In der Ankündigung Sekunden nur aus einer naturalistischen Wohn- Hoffnung, Frühling, Wachstum (symbolisiert zum Theaterfestival hieß es noch: „Die Vor- zimmer-Streit-Szene kurzzeitig – ausbricht? – in durch die Farbe Blau). Man sieht: Reflektier- stellungen sind auf Mandarin mit deutschen eine Figuration der „Carmen“ kommt. Einge- ter Eigensinn der Schauspielerin dominiert Untertiteln“ – wie gut, dass das nicht der Fall spielt wird Georges Bizets so beliebte Arie, der farbsymbolische Traditionen – und steht zu- war! Eine viel bessere Lösung für das Theater- im Deutschen dieser romantisch-kitschige Text gleich in einigen Dimensionen solcher Tradi- Spiel und -Betrachten war: Ein leibhaftiger unterlegt wird: „Die Liebe vom Zigeuner stammt“ tion. Erzähler / Berichterstatter stand zur Verfügung! unterlegt wird. Der Originaltext sagt es besser Zur Übereinkunft des Kommunikationsmodells Zusätzlich zur personalen Berichterstattung und passt für diese chinesische Beziehungs-Sze- Theater gehört die Anwesenheit des Publi- gab es handouts mit Kurzinformationen zum ne: »L´amour est un oiseau rebelle« also: „Die kums. Im hiesigen Fall war es zahlreich und Inhalt eines Stückes. Liebe ist ein rebellischer Vogel“! Wer möchte, sehr interessiert teilnehmend, wie aus seinen kann an dieser Stelle über Transkulturalität / Reaktionen zu bemerken war. Die allermeis- Und ein zweites kam hinzu: Die Spielweise Welt-Theater nachdenken. ten konnten den Dialogen, die in Mandarin der Schauspielerinnen und Schauspieler er- Auch in einer weiteren Szene Ähnliches: Spar- gesprochen wurden, folgen – sei es, weil sie leichterte die Rezeption. Es war eine zeigende, sames Interieur auf der Bühne: nur eine kleine Chinesen waren oder Chinesisch-Kenntnisse gestische Spielweise, die mich an den Titel in rot gepolsterte Liege. Die Freundin des später hatten. Für diejenigen, die des Chinesischen eines internationalen Symposiums erinnerte hinzukommenden Freundes zeigt stumm, dass nicht mächtig waren, lieferten Inszenierung (1990 im Berliner Planetarium an der Prenz- es ihr so gut nicht geht. Der Freund kommt wie Arrangements des Theaterabends gute lauer Allee vom Mime Centrum Berlin und von einem akademischen Fortbildungskurs Chancen, dem Bühnengeschehen zu folgen. anderen durchgeführt): “Der soziale Klang in die Wohnung zurück, bemerkt den wenig Denn: Jedes der kurzen Stücke (etwa eine der Geste. Theoretische und praktische Di- zufriedenstellenden Zustand seiner Freundin. Dreiviertelstunde Spieldauer!), aus denen die mensionen menschlicher Körpererfahrung in Bisher ist kein Wort gefallen. Er nimmt ein abendliche Aufführung bestand, wurde von ei- Kunst und Alltag“. Für die uns hier gezeigte Buch aus seiner College-Mappe, besteigt ei- nem Übersetzer, der nicht zum Theaterensemble Bühnenkunst der chinesischen Schauspielerin- nen Stuhl, schlägt das Buch auf. Er liest seiner gehörte, in deutscher Sprache, beschreibend, wie nen und Schauspieler wäre meines Erachtens Freundin daraus Ratschläge vor, wie ein Leben ein Reporter berichtend, vorgestellt – gewisser- solche Erweiterung nötig gewesen: „Der sozia- gut gelingen könne. Die Freundin quält sich 64 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

ohne Worte von der Liege und liegt nun am alltagsorientierte Thematiken, personenarme sozialen, emotionalen, Beziehungs-Wirklichkeit Boden. Der Freund packt sein Buch ein und Stücke, auf Entscheidung drängende Szenen, schon auf der Bühne hochartistisch zur Dispo- steigt vom Stuhl. Er hat aus Platons Werken Regel und Ausnahme, alte und neue Bräuche sition gestellt – und ist nicht die Fragestellung, vorgelesen. Jetzt kommt ein – erster und zu- thematisierend, clowneske Szenen, Kom- die das Programmblatt des Festivals der „Jun- gleich letzter – Satz der Freundin. Sie sagt: mentare, songs … alles materialreich aus den gen Theaterkunst aus China“ zierte, gar nicht Ich habe Hunger (was mir zum Glück meine Wirklichkeiten gespeist und Konflikte, Wider- so weit von Brechtschen Thematiken entfernt: Chinesisch verstehende Nachbarin übersetzen sprüchlichkeiten nicht ausklammert, sondern „Wie ist das mit der Liebe und gibt‘s das Glück konnte). Das Stück ist zu Ende. sie gerade benötigend. auch für Geld?“ – man denke an Brechts „Auf- Besonders deutlich wird mir dies, wenn ich in stieg und Fall der Stadt Mahagonny“, an den Theatergeschichtliche Aufmerksam- Brechts Fragmente von „Bösen Baal dem asozi- „Guten Menschen von Sezuan“, an Passagen keitsrichtung alen“ schaue; denn gerade das Fragmentarische aus dem „Kaukasischen Kreidekreis“ – ja auch stellt ja eine freiheitliche Aufforderung dar, an die eben genannte Fragmente-Sammlung Am Beginn des Festivals hatte der Regisseur bietet im Falle einer dichterischen Formung um den „Bösen Baal“. Dazu dieser Ent- der drei Aufführungen seiner Freude darüber Impulse, die ein So-und-anders-Weiterspielen wurf: Ausdruck gegeben, dass das Ensemble in Ber- unter Wahrung der Interesse und Bedürfnis- lin, der Stadt Bertolt Brechts, auftreten könne. se der Spielenden ermöglicht (Brecht schrieb „Baal bei den Verwertern Am Ende des Festivals gab es ein Gespräch mit einmal, dass er die Lehrstücke als Lernstücke Sie verwerten alles: die frau, das tischtuch, dem Ensemble. Darin zeigten sich die jungen gerade offen konstruiert habe, damit Teile ei- das essen, sich selber. Spielerinnen und Spieler nicht nur in ihrer gener Erfindung seitens der Spieler, sie sich die nicht eßbare Pflaume kommt zum Fressen. Spielmethodik versiert, sondern sie waren es als Mit-Autoren wünschend, hineinkommen Durch vorsichtiges fragen versuchen die auch in dramaturgischen und zeit-politischen könnten). Ich gebe im Folgenden zwei Szenen- Verwerter festzustellen, was an Baal ver- Dingen. So sagten sie etwa, dass die Stücke, die Entwürfe aus Brechts „Bösem Baal“ wieder: wertbar sei. Rollen sich erweitern und bereichern ließen. Zuerst etwas sehr Fragmentarisches, Re- Baal siegt über die Verwerter.“7 Die Produktion sei mit den Aufführungen Konstruktionen Herausforderndes; danach nicht zu Ende – im Hinblick auf szenische ein verwunderlicher, personenarmer ‚Ein- Publizistisches Theater Gestaltung und thematische Erweiterung. akter‘ (jeweils in der Original-Schreibweise Und auch das Chinesische Kulturzentrum Brechts): Die Theaterabende im Chinesischen Kultur- Berlin als Festival-Veranstalter ging in diese zentrum waren Zeugnisse eines „Theaters der kommunikative Richtung, indem es gleich zu „DER BÖSE BAAL Gegenwärtigkeit“8, eines Theaters, das öffent- Anfang der Ankündigung des Festivals Fragen als paßbeamter. eine frau kämpft um das lich wirkende, publizistische Zeitgenossenschaft formulierte: „Aber kann dieser Lebensentwurf leben ihres bruders. der beamte erfüllt in Szene setzt. wirklich funktionieren? … Finden Sie es heraus sämtliche formalitäten. eile ist alles. (ka- Im Frühjahr 2011 benutzte ich zum ersten und seien Sie eingeladen …!“ nonendonner, uhr)“ 5 Mal das Wort vom „publizistischen Theater“ Schon in ihren Produktionen, die sie an den (http://www.spielart-berlin.de/2011/02/22/ drei Tagen gezeigt hatten, war sichtbar, dass sie „Ein Mann ist eingetreten. publizistisches-theater/). Den Begriff verdanke Fragmente auf die Bühne gebracht haben, dass DER MANN Herr Inzipient (ein Lehr- ich Dieter Winkler (Berlin), der sich erinnerte, sie Stücke und Gegenstücke inszeniert hatten, ling, Anfänger, Anm., gk). Sie brauchen dass Mikhail Shatrows (auch: Shatrov; Schatrow) dass Kontroverses, Unkonventionelles (wie es heute nicht ins Büro zu kommen. Er hält historische Theaterstücke in deutscher Sprache im Flyer des Chinesischen Kulturinstituts hieß) ihm einen blauen Brief hin. Ich bekomme so bezeichnet wurden; der englische Begriff, der im Mittelpunkt standen und nicht das Zeigen 20 Pfennig. Gibt ihm den Brief. sich an Shatrovs eigenen anlehnt, lautet „drama von Lösungen. Aussagen und Beobachtungen BAAL legt sich aufs Bett: Was steht drin, of fact“. Stephen F. Cohen (Professor für Rus- führten mich – natürlich – in ein Denken in Baumann? sische Studien und Geschichte in New York) Richtung Bertolt Brechts Lehrstückproduk- DER AMTSDIENER liest: Werter Herr kennzeichnet Shatrow als beharrlichen Forscher, tionen. Ein Lehrstück lehrt dadurch, dass es Baal! Da für Genies Ihrer Sorte eine so er- der historische Einzelheiten (‚Schmerzpunkte‘) gespielt wird und weiter gespielt wird, nicht müdende Arbeit wie die eines Schreibers, unter die Lupe nahm und auf die Tribüne des in der Weise, wie der Autor es sich vielleicht der Sie sich ja selbst tagelang entziehen, Theaters stellte, z. B. mittels Wort-Protokol- gedacht hätte, sondern wie die Spielerinnen nicht mit dem Verantwortungsgefühl der len von Parteisitzungen, unveröffentlichten und Spieler es sich wünschen. Behörde vereinbar ist, sind Sie ab 1. Juni Memoiren und eigenen Interviews mit Betei- Ein Rückblick in deutsche Theater-Spiel-Ge- aus den städtischen Diensten entlassen. ligten.9 Seine so recherchierten Stücke wurden schichte: Karl August Wittfogel 3 leitete „1930 Unterschrift: der Chef selbst. Es tut mir breit diskutiert …weitgehend unzensiert erst die Diskussion nach Brechts Lehrstück ‚Die leid, Herr Inzipient. in der Glasnost-Phase. 1987 sagte er in einem Maßnahme‘“, das im chinesisch-russischen BAAL Baumann, manchmal träume ich Interview: Wir sollten studieren, was war, und Politikfeld spielt. Für ein Kabarett entwickelte von einem See, der ist tief und dunkel und warum aus einer Million Möglichkeiten diese oder er 1922 dieses Konzept: „Mehrere (personenar- zwischen die Fische lege ich mich und jene gewählt wurde …10 Nicht unähnlich der me) Einakter, unterbrochen durch Rezitationen schaue den Himmel an. Tag und Nacht, Poetologie eines Georg Büchner, der „im Dra- und Musik“4 sollten der Bildung, der (Selbst-) bis ich verfault bin. mentext („Dantons Tod“, Anm. gk) ausführlich Aufklärung in Gruppen und der Lebensbeglei- DER AMTSDIENER Unter diesen Um- und teilweise wortgetreu aus den historischen tung (Agogik; Sozialisation) als Impulsgeber, ständen verzichte ich auf die 20 Pfennig, Werken zitierte, (das) war unüblich, verpönt nicht als Antwortgeber dienen. obwohl ich auch leben muß. Habe die und geradezu revolutionär. Büchner ließ seine Ich greife die Stichworte ‚personenarme Ehre! Ab. Figuren ‚für sich‘ sprechen, d. h. zum Teil in Einakter‘, ‚Rezitation‘, ‚Musik‘ und auch BAAL lacht.“6 historisch verbürgten Worten, in einem aus ‚Unterbrechung‘ auf … und sehe Ähnlichkei- heutiger Sicht fast dokumentarischen Verfahren. ten in der zugespitzten Prägnanz des Baus der Ich kann mir das Zhejiang Drama Ensemble Er folgte damit seinem eigenen poetologischen Stücke des chinesischen Ensembles mit denen sehr gut als Bearbeiter solcher Szenen vorstellen Programm, der Dichter solle nichts anderes als des Lehrstück-Brecht: Zuspitzung, Musik, – hatten sie doch selber ähnlich gebaute aus der ‚ein Geschichtsschreiber‘ sein und sein ‚Buch‘ Magazin 65

dürfe ‚weder sittlicher noch unsittlicher sein als die Geschichte.‘“ 11 2013 verwendeten Stephan Weßeling und ich den Begriff „publizistisches Theater“ in unserem Vorwort zum Buch von Jens Lassak „Das The- aterfeature“12. Im selben Jahr fand ich diesen Begriff in der Nachricht über eine Preisver- leihung an ein Theater in Bremen als „Bestes Publizistisches Theater“ beim Theaterfestival „KoT“ an „Integration durch Kunst e.V.“ (http:// www.bremen.de/tourismus/theater-387121/ integration-durch-kunst-ev-37641749. Weitere Erwähnungen gab es nicht bei google. Personale Präsenz und Schrift machen Theater auch zu einem publizistischen Unternehmen13 – zu einer speziellen Art von Zeitung, wobei Zeitung nicht nur Tagespresse, sondern auch Zeitschriften und aktuelle Mitteilungen / Nachrichten / Kommentare schlechthin meinen kann – auch novelas, Novitäten (wie es bei den Madrigalisten des 16. Jh. hieß: audite nova!). Auch ein Roman wie Cervantes‘ Don Quijote kann wegen seiner stilistischen und themati- schen Variationsbreite als eine großangelegte, Die Fotos wurden uns vom Chinesischen Kulturzentrum Berlin freundlicherweise zur Verfügung gestellt. fast enzyklopädische, Novitäten-Sammlung / Publizistik verstanden werden14. Und ich verstehe Publizistik im Sinne von Brechts „Keuner“: „Herr Keuner sagte: ‚Ich bin ein größerer Gegner der Zeitungen: ich will andere Zeitungen‘“15 … oder wie es der Presse-Wis- senschaftler Lutz Hachmeister in der taz vom 19.11.2012 emphatisch skizzierte: „Eine der größten Errungenschaften der bürgerlichen Aufklärung ist der Journalismus, der sich durch redaktionelle Kommunikation stimuliert und gegenseitig überprüft.“ Im Folgenden will ich ausführlich einen Autor sprechen lassen, der sich vor 230 Jahren kon- zeptionelle Gedanken zu einer vollkommenen Publizistik in Form einer Zeitung machte. Er scheiterte mit diesem seinem Konzept von schrift- stellerischer Öffentlichkeitsarbeit, namentlich auch wegen seiner Theaterkritiken. Eine solche Zeitung war Teil des Konzepts von sinnlich- kognitiver Aufklärung durch den Druck von Zeitungen (deren „Ehrenname verbreitete Kultur gebühre“) und kein Werbeträger-business-Pro- dukt wie etwa ein Boulevard-Blatt – obwohl es auch dorthin zielte, nämlich als „eine öffentliche Zeitung oder Volksblatt“. Ich spreche vom Kon- zept Karl Philipp Moritz‘ (1756 – 1793), dem Konzept, das sichtbar machen soll, dass es „klern“ für „denken“) und Kommentierung Entwickler und Herausgeber des ersten empiri- vielleicht als Theater-Konzept nicht schei- (also eigen-sinnige Äußerung) – und: Es bleibt schen, fall-orientierten, sozialpsychologischen tern muss. Wir haben schon Beispiele, die künstlerische Gestaltung: die Schaubühne als „Magazins zur Erfahrungsseelenkunde“ (1783 meine Vermutung erhärten, siehe z. B. die Veröffentlichungs- und Zeige-Maschinerie. bis 1793) und namentlich Autor des theater- hier vorgestellte Arbeit des Zhejiang Dra- Das szenische Modell der Oper macht das Ge- affizierten Entwicklungsromans „Anton Reiser“ ma Ensemble als ein „Real Time Acting“, meinte manchmal deutlicher, ist eine Oper doch und zeitweiligen (und erfolglosen) Leiter der als ein „Theater der Gegenwärtigkeit“16, eine Verrichtung, ein Werk-Zusammenhang von berühmten Berliner „Vossischen Zeitung“, die z. T. Anregungen aufnehmend wie die „Lebende Verschiedenem, eine Mixtur von Gewerken, ein 1934 auf Druck der Nationalsozialisten einge- Zeitung“, als eine informative Revue, in den Kraftwerk – nicht nur der Gefühle, wie Alex- stellt werden musste. 1920er Jahren, oder das „Zeitungstheater“ ander Kluge sagt. Kluge bezeichnete übrigens Das, was Moritz zu Sinn und Zweck einer nach dem Vorschlag von Augusto Boal oder seine ästhetischen Produktionen, namentlich Zeitung sagt, will ich – cum grano salis – auf neuerlich das Modell eines „Theater-Features“. seine Erzählungen, mit dem publizistischen ein Konzept eines Theaters übertragen, das In allen Fällen: Es ist Publizistik als Veröffent- Terminus Kommentare zur (immer schon er- sich als ästhetischer, publizistischer Zeitge- lichung, Öffentlichkeitsarbeit, ganz sinnlich: zählten) Welt (siehe seine Poetik-Vorlesungen nosse versteht. Ich zitiere einiges aus Moritz‘ Erhellung, Aufklärung (siehe auch das jiddische 2012 zur „Theorie der Erzählung“). Als Jurist, 66 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

• … so können wir auch mit einem so vielköpfigen zusammengesetzten Dinge, als irgendeine menschliche Gesellschaft ist, sie heiße nun Staat oder wie sie wolle, im eigent- lichen Verstande nicht sympathisieren, wenn wir sie nicht wieder bis auf das Individuum vereinzeln. Abstrakte Begriffe können ja die Seele nicht erwärmen. • Ist es also nicht wichtiger, einzelne Fakta von einzelnen Menschen zu sammlen, wo- raus einmal künftig große Begebenheiten entstehen können … Denn, ein Vergleich zwischen zwei Sackträgern, die sich auf der Straße gezankt haben, kann, insofern er den Charakter der Nation bezeichnet, für den Menschenbeobachter wichtiger sein, als ein Vergleich zwischen Rußland und der otto- manischen Pforte, wo es größtenteils bloß auf die stärkere Macht an Soldaten, Schiffen, oder festen Plätzen ankömmt, wohin sich das Übergewicht lenken wird; wo man die geheimen Triebfedern … wenig erfährt … • … in die verborgensten Winkel kommen, wo das Edelste und Vortrefflichste sowohl, als das Häßlichste und Verabscheuungswürdigste, sehr oft versteckt zu sein pflegt. • Er muß sich aber auch selber unter das Volk mischen, um seine Urteile, seine Gesinnun- gen zu hören, und seine Sprache zu lernen. • Er muß die gegenwärtige Welt vorzüglich kennen lernen, und von der alten, so viel als Medientheoretiker wie -praktiker und Künst- tenteils unterdrückten und tyrannisch nötig ist, um das Gegenwärtige daraus zu ler (Film, Geschichtenerzähler) weiß er von behandelten Lehrburschen des gemei- erklären. Und was noch das allerwichtigste der Vielfalt dessen, was Kommentare sind: Es nen Handwerkers nicht unwichtig sein. ist, er muß sich eines unbescholtnen Cha- können Sentenzen innerhalb von Filmen (aus • Weder die Privaterziehung noch die öffent- rakters befleißigen … dem Off gesprochen) oder Theaterstücken (bei- liche in den Schulen und die Belehrung der • Ich erwarte nun über meine Vorschläge seite gesprochen) sein; es können namentlich Erwachsenen in den Kirchen müßte ihrem das Urteil des Publikums, mit welchem ich gekennzeichnete Beiträge zur Meinungsbildung spähenden Blick entgehen. Sie müßte die mich … noch einmal über diese Angelegen- in der Presse oder in religiösen, wissenschaftli- Mängel derselben rügen, wo sie nur irgend heit zu unterreden gedenke, um zu erfahren, chen, philosophischen Abhandlungen sein; es dürfte und könnte. inwieweit ich mich, mit der Zufriedenheit können Hilfen zur Auslegung von einzelnen • Aber auch das Elend und die Armut in desselben, meinem Ideale nähern darf.17 Gesetzes-Paragraphen sein (die entsprechende den verborgnen Winkeln muß aufgedeckt, Literatur und die jeweilige Rechtsprechung und nicht aus einer falschen Empfindsam- Conclusio berücksichtigend); es können ganze Romane keit vor unserm Blick in Dunkel eingehüllt sein: als Kommentare zur Zeit, aus der Zeit, werden. Das Elend, wenns einmal da ist, Ich hatte das defizitäre Glück / das glückliche in der Zeit; es können reflexive Momente in muß unter uns zur Sprache kommen, und Defizit, ein Glück des Nicht-ganz-Verstehens: / zu sinnlich, körperlichen und bildnerischen auf Mittel gedacht werden, wie man dem- Ich spreche und verstehe nicht Mandarin (also: Gestaltungen sein. selben abhelfen kann! Defizit), so dass ich auf die theatralen Mittel mein Wenn ich nun einige Zitate aus Karl Philipp • Und wie viel mehrere lassen sich nicht Sinnesvermögen richten musste, nein: durfte Moritz‘ Überlegungen zu einer neuen Art doch denken, als: Volksvorurteile; Volksirr- (also: Glück). So entstand aus Defizit Glück! von Publizistik, in seinem Fall: einer Zeitung, tümer; religiöse Schwärmerei; unerkanntes Dieser Theater-Abend war ein hoch-artisti- zusammenstelle, dann gebe ich meinen Kom- Verdienst, und so weiter. scher Welttheater-Abend. Besser vielleicht so mentar dazu: Bitte zu lesen und zu verwandeln • Wahrlich es ist zu verwundern, da man gesagt: Ein Abend, auf dem die lingua franca als / in Überlegungen zu einem publizistischen bisher so viel von Aufklärung geredet und ‚Theater‘ sich ausdrücken durfte und dank Theater. Also hier nun Moritz – gekürzt zitiert geschrieben hat, daß man noch nicht auf ein der Spielenden auch konnte! Es war auch ein – im würzigen Original-Ton vom Ende des 18. so simples Mittel, als eine Zeitung, gefallen Aufenthalt in einem Reich der Zeichen, Gesten Jahrhunderts, und ich halte die Reihenfolge der ist, um sie in der Tat zu verbreiten. und sprachlich-verbalen Klänge, die wie abs- Argumentationsschritte des Autors ein: • Die Aufmerksamkeit müßte daher vor- trakte und körperliche Musik wahrgenommen • eine öffentliche Zeitung … ist der Mund, züglich auf den einzelnen Menschen geheftet werden konnte .18 wodurch zu dem Volke gepredigt, und die werden: denn nur da ist die wahre Quelle Stimme der Wahrheit, so wohl in die Paläste der großen Begebenheiten zu suchen, nicht der Großen, als in die Hütten der Niedrigen in Kriegsheeren und Flotten, die oft nur wie dringen kann. zwei entgegengesetzte Elemente gegeneinander • Ihr sollte kein Gewerbe, kein Stand, wirken, worunter das Stärkere allemal über selbst der Stand des verachteten und größ- das Schwächere den Sieg behält. Magazin 67

Anmerkungen Stück: „Büchner: Danton, freies Feld“, Premiere zwischen den Kulturen. Berlin 2009; Michael am 29. August 2014. Kahn-Ackermann: China – Drinnen vor der Tür. 1 Werner Hecht (Hg.): Brecht im Gespräch. 12 Berlin, Milow, Strasburg 2013. Frankfurt am Main 1988 (7. Aufl.); Gerd Koch: Diskussionen, Dialoge, Interviews. Frankfurt Ortswechsel des Denkens und Umwege. François 13 Siehe Helmut Schanze (Hg.): Handbuch der am Main 1975, S. 163; der chinesische Student, Jullien und , in: Kristin Westphal Mediengeschichte des Theaters. Stuttgart 2001, der am Germanistischen Institut der Karl-Marx- (Hg.): Räume der Unterbrechung. Theater/Per- Universität Leipzig studierte, hatte richtig be- S. 220 ff., S. 316 ff. formance/Pädagogik. Oberhausen 2012, S. 69 obachtet: „Bei bestimmten Szenen werden Wände 14 Siehe Gerd Koch (2013, unveröffentlicht): ff.; Joseph Needham: Wissenschaftlicher Univer- (des Bühnenhauses, Anm. gk) als Kulissen be- Bertolt Brecht: „Prüfend die jeweilige Technik und salismus. Über Bedeutung und Besonderheit der nutzt.“ mir einprägend / Das, was mir zustatten kommt chinesischen Wissenschaft. Frankfurt am Main 2 Brecht: BFA, Bd. 22.1, S. 372. …“. Auf dem Weg zu einer poeto science, zu 1979; Antony Tatlow: Brechts Ostasien. Berlin 3 Wittfogel schrieb „Das erwachende China. einer „epischen Wissenschaft“ (Brecht 1948). 1998. Ein Abriß der Geschichte und der gegenwärtigen Eine Kurzfassung erscheint 2014 im brasilia- Probleme Chinas“ (1926); seine Dissertation war nischen Portugiesisch in der Zeitschrift „Revista zu „Wirtschaft und Gesellschaft Chinas“ (1931); Alberto“ (São Paulo) unter dem Titel „NO CA- sein Hauptwerk „Die orientalische Despotie“ kam MINHO DE UMA POETO SCIENCE PARA 1957 als „Oriental Despotism“ heraus. UMA CIENCIA ÉPICA“ (übersetzt von Ingrid Dormien Koudela). 4 Zit. nach Jost Hermand / Frank Trommler: Die Kultur der Weimarer Republik. Frankfurt 15 Brecht: BFA, Bd. 18, S. 30. am Main 1988, S. 222. 16 Vgl. Paul Binnerts: REAL TIME ACTING für 5 Bertolt Brecht: Baal. Der böse Baal der aso- ein Theater der Gegenwärtigkeit SPIEL ZEIT ziale, ed. Dieter Schmidt. Frankfurt am Main RAUM. Berlin, Milow, Strasburg 2014 (i. E.). 1968, S. 81. 17 Der Moritz-Text wurde – stark gekürzt – 6 Ebd., S. 90 f. – diese Szene schrieb Brecht im wiedergegeben nach dem Abdruck in „Die Zeit“ Sommer 1954. vom 1. 1. 1988. Im Rahmen der Moritz-Editon der Berlin-Brandenburgischen Akademie der 7 Ebd., S. 83 f. Wissenschaften ist dieser Text in der Original- 8 Ich bediene mich hier nur des Terminus’ Orthographie veröffentlicht worden unter < „Theater der Gegenwärtigkeit“ und nicht des http://www.hs-augsburg.de/~harsch/germanica/ Konzepts „REAL TIME ACTING für ein The- Chronologie/18Jh/Moritz/mor_zeit.html > ater der Gegenwärtigkeit SPIEL ZEIT RAUM“, 18 Vgl. zu seinen (Sinnes-)Erfahrungen in Japan: das Paul Binnerts entwickelt hat (Berlin, Milow, Roland Barthes: Im Reich der Zeichen. Frankfurt Strasburg 2014). am Main 1981. Weiteres zur Wahrnehmung – nicht 9 Vgl. die Publikationen im Verlag Volk und nur Chinas, des Chinesischen: Akademie der Künste Welt, Berlin: „Sowjetische Zeitstücke“ (1975) und (Hg.): „… Ich werde Deinen Schatten essen“. Das „Der Polyp. Sowjetische Satiren und Grotesken“ Theater des Fernen Ostens. Berlin 1985; Brecht- (1978). Jahrbuch 36: Brecht in/und Asien. Madison 2011; 10 Nach William Grimes: Mikhail Shatrov, Sabine Dabringhaus: Geschichte Chinas im 20. Outspoken Soviet Playwright, Dies at 78, In: Jahrhundert. München 2009; François Jullien: The New York Times, 27.5.2010. Der Umweg über China: Ein Ortswechsel des 11 Martin Jürgens: „Dantons Tod“ entstand, in: Denkens. Berlin 2002; Ders.: Das Universelle, Faltblatt der Vagantenbühne Berlin zu Jürgens‘ das Einförmige, das Gemeinsame und der Dialog 68 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014 Anzeigen 69

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Dialog und Kritik: Anmerkungen zum palästinensisch-deutschen Dialog über Theater und Theaterpädagogik vom 28. Oktober bis 2. November 2013 in Bethlehem, Dar al Kalima University College

Von Herwig Lewy

In Kooperation mit der Kunsthochschule Dar Hintergrund ist der im Rahmen des paläs- Ausdruck zu bringen. Zu den Erfolgsgeschichten al Kalima in Bethlehem ruft Klaus Hoffmann teninsisch-deutschen Dialoges ausgearbeitete vom Al-Harah-Theater gehört die Geschichte vom Arbeitskreis Kirche und Theater zusammen Curriculum für einen B.A.-Studiengang Thea- einer Studentin in Kanada, die nun Pläne für mit Andreas Poppe vom Institut für Theater- terpädagogik, der nicht nur eine transkulturelle ihre Rückkehr und den weiteren Aufbau des pädagogik der Hochschule Osnabrück seit Vernetzung zwischen Lingen und Bethlehem Landes schmiedet. Barham, die selbst zwei 2011 einen deutsch-palästinensischen Dialog zum Ziel hat, sondern in erster Linie den von Master-Abschlüsse in Theaterregie und Thea- für Theater und Theaterpädagogik ins Leben. Eid aufgezählten Mängeln nachzukommen termanagement aus Großbritannien vorweisen Dem Grundsatz folgend, Theater als Medium sucht. In medias res gingen die Streitpunkte kann, hat einen Namen für dieses Ziel: Empower- des Wandels und der Entwicklung zu begreifen, zwischen den kulturpolitischen Playern um die ment. gilt es, an neuen Curricula für Theaterpädagogik Anzahl der Mathematik- und Physikstunden zu arbeiten, die insbesondere für interkulturelle im Verhältnis zur Relevanz eines Schulfaches Eine dritte Dialogebene ergab sich aus den the- Zusammenhänge mit sozialen und entwick- Theater. Zentral aber wurde auch die Frage aterpraktischen Debatten. Auch hier griff man lungsbezogenen Aufgaben gemacht sind. nach einem Stipendienprogramm für Studie- auf die diskursiv-politische Ebene zurück. Jona- Problematisch ist dabei allerdings das erklärte rende und das damit verbundene Problem des tan Stanczak vom Freedom Theater Jenin stellte Ziel einer „zivilgesellschaftlichen Einmischung“ Aufenthalts zu Studienzwecken im Ausland in seinem Workshop etwa Theater als Tool zur auf der Ebene „künstlerischer und transkultu- (z.B. Tunesien) diskutiert. Als großes Problem Hervorbringung kulturellen Widerstandes dar. reller Intervention“. Diese Schwierigkeit wurde hatte man dabei die Abwanderung junger Leute Auch wenn man seine Sympathie für Juliano beim dritten Netzwerktreffen zwischen dem längst erkannt. Von Seiten des Dar al Kalima Mer-Khamis und dessen Engagement sicherlich 28. Oktober und dem 2. November 2013 in Colleges ging es um die Verteidigung eigener teilen mag, bleibt dennoch zu fragen, warum Bethlehem deutlich. Ausbildungsstrukturen im Land. Mit Blick auf er einen so einseitigen Theaterbegriff vertritt. das Bild vom Schneeballeffekt sollte es gelin- Nadine Giese spürte in ihrem Workshop hin- Mit einer Bestandsaufnahme aus Sicht der pa- gen Absolventen den beruflichen Anschluss gegen dem Trend nach Spielformen ohne Rolle lästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah zu ermöglichen. und Text im Gegenwartstheater nach. Andere haben Mahmoud Eid (Bildungsministerium) Themen betrafen die Publikumsentwicklung und Ma‘moun al Sheikh (Ministerium für Doch nicht nur von Seiten der Regierungsver- im Stadttheater, unternehmerische Aspekte in Kultur) die Konferenz eingeleitet. In seinem treter erntete man eine zurückhaltend-skeptische den darstellenden Künsten, aber auch Thea- Referat über das Schultheater zwischen Rea- Haltung. Viele palästinensische Studierende ter für Auszubildende. Weitere thematische lität und Erwartungen machte Eid zunächst trauten sich anfangs kaum in den Saal. Als zu Schwerpunkte galten der Kooperation zwischen die israelische Besatzung seit 1967 für dessen sperrig erwies sich der Fachausdruck „Theaterpä- Kindergärten, Schulen und Institutionen sowie Unterdrückung verantwortlich. Analog sah dagogik“. Eine Reihe von Vorträgen seitens der der theaterpädagogischen Ausbildung außerhalb al Sheikh den Grund für die erst allmähliche deutschen Delegation sollten diese Skrupel aus der Hochschulen. Entwicklung des Theaters in Palästina in der der Welt zu schaffen helfen. Um die Anfangs- Katastrophe der Vertreibung und der Landnah- gründe des Faches bemühte sich Andreas Poppe. Nachdem eine Woche des Erfahrungsaustausches me durch den Zionismus und Imperialismus Marianne Streisand gab Einblick in Ansätze und auf den genannten Dialogebenen zu Ende ging, seit 1948. Dass es sich hierbei offenkundig um Forschungsmethoden des Studienfaches The- bleibt die Abschlussdiskussion allen Beteiligten einen - oft als bloßes Narrativ missverstande- aterpädagogik. Und welche hermeneutischen in Erinnerung. Von deutscher Seite brachten die nen - Topos der Suche nach Verantwortung für Konsequenzen theaterpraktisches Denken auch Theaterpraktiker den Wunsch zum Ausdruck, die palästinensische Misere auf Seiten Israels zu für eine gewöhnliche Unterrichtsstunde haben ob man beim nächsten Mal vielleicht mehr Gunsten der eigenen gesellschaftlichen Kohärenz kann, erklärte Florian Vaßen im Rückgriff auf als zwei Inszenierungen sehen könne. Zu viel handelt, wurde in Eids Analyse der Gegenwart Brecht und das Konzept der Zuschauerkunst. der Worte seien gewechselt worden, ohne dass relevant. Als man 1994 das Heft in die Hand Romi Domkowsky dagegen legte Datenma- man sich im künstlerischen Schaffen wirklich bekam, wurden Veränderungen geplant, doch terial in erheblichem Umfang vor, um den näher gekommen sei. Dabei könne man doch musste Eid eingestehen, dass sich die Lage ge- gesellschaftlichen Nutzen theaterpädagogischen ohne politisch-diskursive Implikationen viel- genwärtig noch immer schwierig gestalte: Es Arbeitens in Schulen zu begründen. Dies kam leicht einfach direkt die praktisch-ästhetischen fehle an qualifizierten Lehrkräften, die den der Strukturdebatte zugute. Marina Barham, Probleme der alltäglichen Probenarbeit gemein- Lernenden die einfachsten Theaterfähigkeiten Generaldirektorin des Al-Harah-Theaters in sam ergründen. Die anwesenden Praktiker der vermitteln. Im Curriculum sei nicht genügend Beet Jala, unterstrich die dringende Notwen- diversen palästinensischen Theater griffen die Zeit vorgesehen, um theaterpraktisch zu ar- digkeit solcher Erhebungen auch für Palästina. Idee auf und schlugen Kleingruppen vor, die beiten. Ferner fehle es an Bewusstsein für die Man könne so auch nachweislich über den getrennt voneinander in die Theaterorte Paläs- Wichtigkeit von Theater zur Ausprägung der eigenen (Existenz-)Zweck aufklären. Diesen tinas reisen sollten, um vor Ort einen solchen Persönlichkeit. Die anschließende Diskussion brachte Barham in ihrem eigenen Beitrag auf Arbeitsprozess erleben zu können. Dazu würde hob deshalb gleich auf die theaterpädagogisch- den Punkt. Sie suchte nach Antworten auf die es sich anbieten, bei einheimischen Familien strukturelle Dialogebene ab. Frage, warum darstellendes Spiel in Palästina zu übernachten. von Bedeutung sein könne. Mit Hilfe des dar- Von Seiten der Kunsthochschule Dar al Kali- stellenden Spiels, so Barham, erhalten Kinder Am Ende sprach Marina Barham stellvertretend ma erkundigte man sich nach der angefragten und Jugendliche eine Bühne um ihre Meinung, für ihre Kolleginnen und Kollegen aus, dass Kooperation mit dem Bildungsministerium. Gedanken, Sorgen, Ideen, Pläne, Träume zum sie an Partnerschaft glaube. Sie gab Einblick Magazin 73

Foto: Herwig Lewy

in die Entwicklungen, welche sich in Schwe- ständnis des Nahostkonfliktes sein. Einen ersten den dank ihrer Bemühungen im Zugang zu Einstieg ins Thema leistet der Streitschriftband den arabischen, türkischen oder iranischen von Georg Meggle „Deutschland, Israel, Paläs- Communities nunmehr entfalten. Damit un- tina“ (Hamburg, 2007). terstrich Barham das von den Veranstaltern als Anmerkung: notwendig erachtete Anliegen, Interkulturalität als ein Praxisfeld in der theaterpädagogischen Der “Palästinensische Deutsche Dialog über Thea- Ausbildung zu etablieren. Von dem einwöchi- ter und Theaterpädagogik” hat ein Internet Portal gen Know-how-Transfer konnten ohne Frage eingerichtet: http://www.masrah-theater.net, beide Seiten profitieren. Und diesem Vorhaben in dem ein ausführliches Dossier über die 3. Kon- kann man nur Erfolg wünschen. ferenz in Bethlehem abgedruckt wird. Außerdem sind aktuelle Nachrichten sowie Berichte zu den Offen bleibt allerdings, wie man mit den vorangegangenen Tagungen und Presseberichte dort Schwierigkeiten der Grenzen des erklärten Zieles zu finden. Der nächste Palästinensische Deutsche einer „zivilgesellschaftlichen Einmischung“ vor Dialog findet während des 13. Weltkindertheater allem auf der politisch-diskursiven Dialogebe- Fests vom 25. Juli bis 1. August 2014 in Lingen ne zurecht kommen möchte. Die Geschichte zum Thema „Theater mit Kindern“ statt. des deutsch-palästinensischen Verhältnisses zu Weitere Informationen: eruieren, könnte dabei ein Schlüssel im Ver- [email protected]

Was ist möglich am Stadttheater? „Kommt zusammen!“, ein partizipatives Praxisbeispiel am Jungen Staatstheater Braunschweig

Angelika Andrzejewski/ Christoph Macha

Im Sommer 2013 erarbeitete das Ensemble tigt. Ein halbes Jahr später trafen sich die Ein Auszug aus ihrem Gespräch: des Jungen Staatstheaters (Schauspiel, Dra- Theaterpädagogin Angelika Andrzejewski maturgie, Theaterpädagogik und Leitung) und der Dramaturg Christoph Macha zum Angelika Andrzejewski: Wie kam es zu dem kollektiv den theatralen Parcours „Kommt zu- gemeinsamen Austausch über das Erlebte, Er- Projekt? sammen!“. In dem Parcours hat sich das Junge arbeitete und die besonderen Chancen dieses Staatstheater mit den Themen „Freundschaft Projekts innerhalb des „deutschen Stadtthea- Christoph Macha: Seit dem Neubeginn und Liebe“ für alle ab 12 Jahren beschäf- ters“. des Jungen Staatstheaters 2010, unter der 74 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Generalintendanz von Joachim Klement, terformen gesucht. Bisher gab es jedoch, Sparte Junges Staatstheater, keine theatra- haben wir das „Junge“ im „Jungen Staats- abgesehen von den Produktionen der le Untersuchung in der Stadt. Es war ein theater“ nicht nur über unser Zielpublikum Bürgerbühne des Braunschweiger Thea- Wunsch von uns als Junges Staatstheater, definiert, sondern immer „junge“ Thea- ters, kein Rausgehen aus dem Haus in der dass man ein Theaterprodukt schafft, wel- ches nicht auf einem Text beruht, welches in die Stadt raus geht und welches keine Regie hat, sondern eine kollektive Thea- terarbeit, wie wir es aus der freien Szene kennen, auszuprobieren. – Du, Angelika, arbeitest nicht in erster Linie fürs Junge Staatstheater, sondern bist Theaterpä- dagogin der Sparte Schauspiel, was hat dich an dem gemeinsamen Vorhaben ge- reizt? Dass wir von Anfang an in einem in- terdisziplinären Team auf Augenhöhe zusammengearbeitet haben, hat mich an- gesprochen. Es ist mein Anliegen in der Entwicklung meiner theaterpädagogischen Arbeit, dass es eine Anbindung gibt an die Künstler und an die Dramaturgie des Hauses und dass man gemeinsam denkt und entwickelt. Das Projekt war kein Projekt, das wir nebenbei gemacht haben; sondern eines, das wir als eine Inszenierung gedacht haben und das auch das Budget einer Inszenierung hatte. Aus dem Spielplan für die Saison 2012/2013 hatte sich ein Themenwunsch um Liebe und Freund- schaft ergeben. Außerdem wussten wir, dass wir noch etwas für alle ab 12 Jahren brauchten. Im Verlauf der Spielzeitplanung haben wir immer wieder Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Bereichen an Bord genommen. Es waren am Anfang Ideen von „Lasst uns ein Forumtheater machen“, „Lasst uns einen Live-Film produzieren“, „Lasst uns vielleicht doch wieder ein klassisches Stück daraus machen“. Dabei fand ich es interessant mit- zubekommen, wie man als „klassisches Staatstheaterteam“ in einen kollektiven Denk-, Entscheidungs- und Schaffenspro- zess kommt und theoretisch den Freiraum hat individuelle Ideen einfließen zu las- sen. Fotos: Karl-Bernd Karwasz Als dann klar war, dass wir in die Stadt gehen, wollten wir was wirklich Großes machen und über die ganze Stadt verteilt arbeiten. Allerdings haben wir das dann doch aus logistischen Gründen wieder schnell aufgegeben. Aber unser Anspruch mit den Zuschauenden etwas „gemeinsam zu ma- chen“, stand nie außer Frage. Wir entschieden uns dafür einen drama- turgischen roten Faden zu „Liebe und Freundschaft“, unserem anvisierten The- men, zu bestimmen. ... und dann haben wir „Romeo und Julia“ als unsere Kronzeugen für das Projekt gefun- den. Magazin 75

Es ist die größte Liebesgeschichte der Welt, Tisch, dass es einen Notfall gibt und dass Arbeitsergebnisse der anderen anschau- haben wir auf den Proben behauptet. Dann etwas nicht so läuft, wie man das vielleicht en. waren wir uns aber doch unsicher und sind sonst von einer Hochzeit erwartet. Die Zum Abschluss habe ich hier noch ein deswegen noch mal auf die Straße raus, erste Gruppe wurde in die Stadt geschickt paar Zitate von den Schülern, denn viele haben Kinder und Jugendliche nach ih- um Romeo und Julia zu suchen, es wurde Klassen haben im Blog über ihre Erlebnisse rem größten Liebespaar gefragt und diese nämlich ein blutiger Schleier gefunden und geschrieben: „Das Theater allgemein war haben uns unsere Idee bestätigt. die beiden sind verschwunden. Die zwei sehr schön.“ „Man konnte theoretisch selbst anderen Gruppen schnippelten weiter und den Verlauf des Theaters entscheiden.“ „Es Lass uns aber noch einmal über die Produk- wurden nach je 7 Minuten in den Par- war mal etwas anderes.“ „Dass wir mit- tionsbedingungen sprechen, schließlich sind cours geschickt. Da trafen sie verschiedene denken und mitten im Schauspiel etwas wir ein Repertoirehaus und haben mit der Figuren aus Shakespeares Drama, diese sagen, einbringen konnten, das fand ich Produktion einige Probleme verursacht ... erzählten oder spielten ihnen etwas über gut und dass die Schauspieler nicht alles Beziehungsmodelle und Beziehungsbedin- Das Haus hat die Arbeit wie eine Insze- auswendig gesagt haben, sondern auch im- gungen vor. Das geschah in Interaktion mit nierung behandelt, das war einerseits provisierten.“ „Es war der Hammer anfangs dem Publikum. super, weil uns die Gewerke zur Verfü- mit dem Kochen.“ „Ich fand’s gut, dass sich gung standen. Andererseits wollten die Drei Sachen waren für die Zuschauenden die Schauspieler zu uns gesetzt haben und natürlich auch ihre Bauprobe drei Monate interessant: Erstens die Figuren, die etwas auch mit uns geredet haben!“. vor Premiere und ihre Kostümentwürfe; über Liebe und Freundschaft berichten. Dann steuere ich noch ein paar Meinun- aber das hatten wir ja nicht. Dies war der Zweitens: die Verfolgung der Geschichte gen von den Spielern bei, denn die haben Grund, weshalb es manchmal ziemlich von Romeo und Julia. Drittens: der Kri- es – trotz anfänglicher Skepsis – auch Ärger gab, wir haben eben alle kollektiv mi – die Suche. gearbeitet und plötzlich stand auch mal sehr gemocht. „Natürlich ist es ein gro- ein Schauspieler in der Tonabteilung und Jede Figur hat eine eigene Definition von ßer Kraftakt alle Meinungen, Gedanken, wollte etwas... Wir waren dann insgesamt Liebe und Freundschaft. Zum Beispiel Ideen unter einen Hut zu bringen, aber 14 Leute, die alle gleichberechtigt und Pater Lorenzo, der die Ehe rühmte oder es hat sich gelohnt, dieser Kampf.“ „Mit ohne Hierarchie gearbeitet haben: vier Romeos Ex-Geliebte Rosalinde, die über dem Publikum auf eine wirkliche Augen- Schauspielerinnen und Schauspieler, ein ihr Verlassensein klagte, … höhe zu kommen, das war interessant.“ Spartenleiter, ein Dramaturg, ein Re- „Theater als ganzheitliches Programm, Später im Parcours sind sich Tybalt und gieassistent, zwei Theaterpädagoginnen, nicht nur in die Maske gehen, dann auf Rosalinde begegnet und wollten ein Haus Praktikanten und ein Videodesigner. Die die Bühne und dann wieder weg. Dieses kaufen. strömten in alle Richtungen des Hauses. Mal sich direkter mit den Zuschauern zu Sie standen dann vor einem Maklerbüro Manchmal war das wirklich sehr chaotisch beschäftigen, war großartig.“ und haben sich ihre Zukunft vorgestellt von uns. – Wie ging es dir mit unserer und darüber gestritten. Arbeitsweise? Zum Schluss gab es eine Wahrsagerin, die Ich fand das gut, ich bin es gewohnt in einer das klassische Dramenende geweissagt hat. Gruppe zu agieren, alle können theoretisch Und plötzlich mussten alle wieder zurück alles machen und das fand ich super. Aller- ins Theater, dort gab es eine Videobot- dings wurde man manchmal doch wieder in schaft aus der Zukunft. Romeo und Julia seine eigene Profession zurückgedrängt, da waren vor ihrem Schicksal geflohen und konnte man dann aber sofort widersprechen sind noch am Leben. Sie forderten die und hat doch etwas ganz anderes gemacht. Zuschauenden außerdem auf, selbst über Ich habe mich zum Beispiel um Kostüme Liebe und Freundschaft nachzudenken. gekümmert, das muss ich als Theaterpäd- agogin ohne Kostümbildner auch oft über- In der gemeinsamen Pause zwischen Thea- nehmen. terstück und Workshop-Arbeit haben wir alle zum Essen eingeladen. Die Hochzeits- Es gab einen Audiowalk innerhalb die- suppe mit den selbstgeschnittenen Zutaten ses theatralen Parcours, den haben die wurde nun an einer langen Tafel im Garten Schauspieler mit dem Regieassistenten gegessen. Und nach der gemeinsamen Stär- aufgenommen und produziert. Ein Spieler kung ging der zweite Teil der fünfstündigen wollte unbedingt einen Videoclip fürs Ende Aufführung los, der Workshop-Teil. Alle produzieren, also hatte er die Regie dafür Beteiligten des Parcours boten jetzt Work- übernommen. Und wir haben ja auch ... shops an, es gab eine Schreib-Gruppe, eine Bildende Kunst-Gruppe, eine Video-Gruppe, … gespielt. eine Foto-Gruppe und eine Podcast-Gruppe. Themensprung! Wir sollten kurz den Ab- Die Zuschauenden wurden selbst zu Ak- lauf unseres Parcours skizzieren. teuren. Sie haben nun ihre Botschaften Die Schülerinnen und Schüler kamen im zu Liebe und Freundschaft erarbeitet. Theater an. Dort wurde ihnen gesagt, dass Der Tag fing um 10.00 Uhr an und um sie zur Hochzeit von Romeo und Julia ge- 15.00 Uhr haben dann alle ihre Arbeits- laden sind. Sie haben das Gemüse für die ergebnisse vorgestellt. Abends haben wir Hochzeitssuppe in einer Küche geschnit- noch die Beiträge für den Blog bearbeitet, ten. Es wurde in drei Gruppen gearbeitet, so konnten sich alle neun Klassen, die dann kam die Informationen für den ersten unsere Inszenierung gesehen haben, die 76 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Wie viel Stoff steckt in einem Kostüm?

Muriel Nestler

Schulvorplatz seiner Kindheit, flog dann über sein freiwilliges soziales Jahr in Thailand, um schließlich das Publikum, so wie damals seine thailändischen Schüler, singend in Englisch zu unterrichten. Inspiration für den Zeitreisenden war eine Kombination aus einem futuristisch anmutenden Torso mit Öffnungen auf der Brust, um (was auch immer) zu tanken, einer mittelalterlichen Damen-Kopfbedeckung in Hörnchen-Form und einem weiten Umhang aus leichter Fallschirmseide. Der Akteur blühte beim Auftritt in diesem Kostüm geradezu auf und verströmte eine Kraft wie vorher nicht. In Kostümen steckt einfach sehr viel mehr Stoff, als der in freien Projekten übliche Einsatz - erst zu den Endproben und Aufführungen - zu entfalten vermag. Fangen wir also mal anders herum an: Kostüme und Kleidung vermitteln kulturge- schichtliche Epochen, Modegeschichte und Design. Sie sind Zeugnis und Mittel von Kul- turen, von gesellschaftlichen Strukturen und Rollen und nicht zuletzt erzählen sie von The- aterhistorie, -genres und -formen. So eröffnet sich in der Auseinandersetzung mit Kostümbild eine Menge an Kontexten und Arbeitsfeldern. Warming Up Probe Maskenzeiten Interdisziplinäre Werkstatt „Kostüm + ...“ Fundus für Inspiration ren mit Kostümen einen großen Schritt, zum Beispiel bei der Ausarbeitung einer Figur aus- Regelmäßig untersuche ich dieses Potential Der Verein Kostümkollektiv hat im Kunst- lösen. Der leitende Gedanke ist, das Potential zusammen mit Partnern aus unterschiedli- quartier Bethanien am Mariannenplatz einen Kostüm ganz früh in den Probenraum zu holen. chen Fächern der darstellenden Kunst in der Kostüm-Fundus gegründet und aufgebaut, interdisziplinären Werkstatt „Kostüm +... “. In welcher den nicht-institutionell arbeitenden Ein Probenraum wird zur Ideenwerk- die Leerstelle nach dem „Kostüm+ “ wird ein Künstlern der darstellenden Kunst und den statt Aspekt eingefügt, unter dem eine Auswahl an Vermittlern von Kunst und Kultur sowie Schü- Kostümen erforscht wird, wie „Körper“, „Text“ lern und Studierenden zur Verfügung steht. Ein Beispiel aus der frühen Probenphase des oder „Bewegung“. An den bisherigen Werk- Die Kostümsammlung ist für diese Projektar- Projektes „Maskenzeiten“ am Jungen DT mit stätten nahmen Künstler und Künstlerinnen beiter eine bisher in Berlin nicht da gewesene jungen Erwachsenen: Thema war die ausge- aus verschiedenen Fächern der darstellenden Strukturverbesserung. Es ist ein Arbeitsort, an sprochene Sehnsucht auf der Bühne echter sein Kunst teil, unter anderem Regie, Theaterpäd- dem Inspiration und Probe stattfindet: Beim zu können als im realen Leben. Ich erfragte agogik, Tanz und Kostümbild. Die Werkstatt Durchspielen der Verwandlungsmöglichkei- die „Traumrollen“ der Teilnehmenden, suchte wird jeden ersten Samstag im Monat außer ten und der Begegnung mit Stilepochen und dann mit dieser Liste Kostüme aus dem Fun- in den Ferien angeboten. Sie dauert ca. fünf Materialien nimmt manch unklare Idee eine dus und ließ zwei Kleiderstangen auf die Probe Stunden und findet in einem Probenraum im konkrete Gestalt an. Ein Entwurf verändert transportieren. Eine Stange mit Kostümen für Kunstquartier Bethanien statt. Der Ablauf sieht seine Richtung und Fragen werden beant- die „Traumrollen“ und eine Stange mit Kostü- folgendermaßen aus: wortet, die noch nicht gestellt wurden. Geht men, die ich inspirations-verdächtig fand. Die Nach einem Kennenlernen und einer Einführung man zum Beispiel wegen eines Zylinders in Akteure wurden aufgefordert, sich ein Kostüm in das Thema folgt ein künstlerisches und kör- den Fundus, nimmt sich aber die Zeit zu stö- zusammenzustellen. So „verkleidet“ wurden sie perliches Auflockern. In ein bis zwei Übungen bern, kommt man vielleicht mit einer neuen von der Regisseurin Gudrun Herrbold in einer gehen wir untersuchend mit dem titelgebenden dramaturgischen Idee oder einer Idee für eine Improvisation mit biografischem Thema ange- Aspekt um und arbeiten Parameter heraus, die Handlung wieder raus. leitet. Die so entstandenen Kostüme blieben bei der Weiterarbeit als Werkzeug dienen. Dann Dem Kind ist das Kleidungsstück der Anlass, teilweise bis in die Endproben Arbeitsgrund- werden die Kostüme in Partnerarbeit erprobt. eine Figur zu erfinden und für die Figur eine lage und wurden Bestandteil des Kostümbildes Die Partnerarbeit ist wichtig, weil die Figur von Geschichte. Dieser spiel- und fantasieantrei- in der Aufführung. Sie waren Mit-Auslöser innen und außen anders erlebt wird. Deshalb bende Effekt der Verkleidungskiste aus unserer für ganze Szenen, wie zum Beispiel diese: Ein versuchen wir einen Dialog zwischen Draußen Kindheit funktioniert auch für Erwachsene. Für 19-jähriger Akteur näherte sich aus der Vogelper- und Drinnen zu initiieren. Beim anschließenden Jugendliche und Erwachsene kann das Probie- spektive eines Zeitreisenden beschreibend dem „Showing“ der Einzelergebnisse werden Verän- Magazin 77

Showing „Pullover“ (1–3)

derungen vorgenommen, wie z.B. Hinzufügen von Musik oder anderen Figuren, um Neues herauszukitzeln oder durch Wegnahme z. B. von Kostümteilen, um einen Fokus auf etwas Vorhandenes zu schaffen. Im Tagesablauf ist immer Zeit für den Austausch unter allen Beteiligten um Ziele, Erfahrungen und Vorschläge zu besprechen. Die Werkstatt versteht sich als ein Forschungslaboratorium für eigens zum Thema Kostüm entworfene oder umgewandelte Methoden der Vermittlung und des künstlerischen Prozesses. Hier ein paar Beispiele für in den Werkstätten angewandte Methoden: Ein sich erfolgreich wiederholender Bestand- teil ist eine Auflockerungs-Übung, inspiriert von der Improvisations-Übung „Ein Stock ist kein Stock“ und Erwin Wurms One Minute Sculptures. Sie heißt „Ein Pullover ist kein Pullo- ver“. Ein Kleidungsstück wird als bewegtes, skulp- turales Textil erforscht. Ein Beispiel für die Partnerarbeit in der Werkstatt „Kostüm + Bewegung“ war folgendermaßen: A nahm eine Haltung und eine Position im Raum ein. B wählte ein Kostümteil und gab es A an den Körper und stellte gleichzeitig die Aufgabe, das Kostüm und zwei Bewegungs- Parameter zu untersuchen, wie z.B. „Tempo“ und „Raumebenen“ (die Parameter sind sind vorher durch Übung bekannt geworden). Es entwickelte sich ein Dialog zwischen Aktion und Betrachtung. Eine Übung in der Werkstatt „Kostüm + Text“ basierte auf einer im Schulprojekt spontan entwickelten Methode, um Schülerinnen und Schüler von der Verantwortung für eine „un- terhaltsame“ Figur zu entlasten. Teilt man die Aufgaben, die eine Figur leistet, einfach auf, Für die Werkstatt erweiterte ich die Aufgaben kleinen Änderungen passiert, wie ein anderes wie z.B. Pose und Stimme, können vier Akteu- um das Kostüm. Nach erster Betrachtung ei- Kostümteil, Haltung, Geräusch oder Sprache re zwei Figuren in einer Situation erschaffen. nes Ergebnisses wurde ausprobiert, was bei und räumliche Position zusammenwirken. Da- 78 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

bei sensibilisierten wir uns für die Trennung der Zeichen, die von Bild (Kostüm und Pose) bzw. von Sprache und Geräusch ausgingen und für ihr Zusammenspiel. Bei dieser zuletzt beschriebenen Vorgehenswei- se erschließen sich spielerisch die Kontexte, in denen sich Kostüm und Kleidung immer be- finden. Und so ließe sich auch herausarbeiten, welche davon für das aktuelle Projekt wichtig sind. Am Konzept orientierte Fragestellungen und entsprechende Kostümauswahl können dieser spielerischen Untersuchung zugrunde liegen. Braucht es zum Beispiel soziale Rollen (oder andere Verhältnisse zwischen den Figu- ren)? Soll das Kostüm die Körper der Akteure/ Tänzer physisch beeinflussen? Braucht die Aus- einandersetzung mit den dokumentarischen Texten vielleicht eine Verfremdung durch ein nicht naheliegendes Genre (z.B. Revuekostü- me)? Welche Rolle spielt die Historie? Sollte das Kostüm eine Situation skizzieren oder sei- nen Beitrag leisten zur Erschaffung der dem Partnerarbeit, Fotos: Muriel Nestler Projekt eigenen Welt?

Wenn Leichtigkeit misslingt – Stolpersteine auf dem Weg zum Improvisationstheater

Wolfgang Wendlandt

1. Improvisationstheater beflügelt die Krisen und Krankheiten zu bewältigen haben formuliert und sie einer Kursteilnehmerin (ich Lebensgeister (Wendlandt, 2013). nenne sie Janin) und einem Kursteilnehmer (er soll Marc heißen) „in den Mund gelegt“. Ausgelassenheit und Lachen sind typisch für 2. Schattenseiten benennen Exemplarisch verdeutlichen diese Äußerun- das Impro-Theater. Schauspieler, Schauspie- gen typische Gedanken und Gefühle, die lerinnen und Publikum lieben gleichermaßen Für Anfängerinnen und Anfänger, die das Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Auswer- das Spiel mit dem Ungewissen, die unvor- Improvisieren in einem Workshop erlernen tungsgesprächen während oder am Ende von hersehbaren Wendungen, die Kreativität, die möchten, gibt es allerdings eine ganze Reihe Workshops mitgeteilt haben. Dabei habe ich unmittelbar sichtbar wird und von Moment an Hürden, die überwunden werden müssen die Mitteilungen in 10 Problembereiche un- zu Moment immer wieder neu Rollen schafft und die mit den spezifischen Anforderungen tergliedert und jeweils mit einem Kommentar und Szenenabfolgen entwirft. Leicht kommt zusammenhängen, die die szenische Impro- versehen. Der Kommentar nimmt einerseits das Bühnengeschehen daher – so scheint es visation den Kursteilnehmenden abverlangt. Stellung zum subjektiven Erleben von Janin jedenfalls. Hier ist Theater eine ausgesprochen Welches diese Anforderungen im Einzelnen und Marc und gibt andererseits Hinweise, wie amüsante und unterhaltsame Angelegenheit. sind, habe ich an anderer Stelle ausführlich mit den aufgezeigten Stolpersteinen umgegan- Auftritte guter Impro-Ensembles sind meist dargelegt (Wendlandt, 2005). Über Schwie- gen werden kann. rigkeiten, die Teilnehmende beim Erlernen ausverkauft – und immer mehr Fans besuchen Problembereich 1: Schnupperkurse und Workshops zur szenischen der notwendigen Impro-Fähigkeiten haben, Gute Atmosphäre schaffen Improvisation. wird allerdings in der Regel nicht berichtet. In diesem Artikel soll deswegen bewusst der Blick Marc: Gute Stimmung soll ich haben, Wer sich genauer mit den Effekten des Impro- auf die negativen Empfindungen im persön- fröhlich soll ich sein, ein glückliches Ge- Theaters auf die Spielenden beschäftigt hat, lichen Erleben der Kursteilnehmerinnen und sicht schon zur Begrüßung machen, immer weiß, wie hilfreich sich das Improvisationsspiel -teilnehmer gerichtet werden, ohne relativierend freundlich lächeln, egal wie es mir gerade auswirkt in Hinblick auf die Verbesserung der auf die bekannten und hinlänglich dargelegten geht. Soll mich dem Gegenüber konzent- sozialen Wahrnehmung, die Erweiterung sozialer amüsanten Aspekte und den Lustfaktor des riert zuwenden, ja nichts krumm nehmen, Fähigkeiten und die Stärkung von Selbstsi- Impro-Spiels zu verweisen. auch die eigenen Fehler nicht. Fehler gibt cherheit und Selbstvertrauen (vgl.: Dörger, es angeblich gar nicht, Scheitern sei Chance 1997; Wendlandt, 2009). Der Nutzen eines 3. Zehn typische Problembereiche und Wendepunkt. Na prächtig! Auf Befehl Improvisationstrainings für die persönliche locker und lustig. Immer dieser Druck … Entwicklung der Akteure ist immer wieder Um die Verunsicherungen zu verdeutlichen, die beeindruckend – dies zeigt sich nicht nur bei Anfänger und Anfängerinnen beim Erlernen der Es ist nicht einfach, die eigenen Empfindungen, „Otto Normalverbraucher“, sondern in besonde- szenischen Improvisation ins Schwitzen brin- mit denen wir zum Gruppentreffen kommen, rem Maße auch bei Menschen, die persönliche gen, habe ich im Folgenden typische Aussagen beiseitezulegen, sich präsent zu zeigen und sich Magazin 79

auf das Aktuelle zu beziehen. Die Anforderung, Umgang mit Versagensgefühlen und verändern Für das Improvisieren gilt: Wer sich anstrengt dem Gegenüber mit freundlicher Zugewandt- starre Qualitätsstandards bzw. unrealistische und um Ideen ringt, wer verzweifelt spontan heit, mit einer positiven Erwartungshaltung Leistungsnormen! sein möchte, ist in seiner Wahrnehmung ein- und mit Offenheit gegenüberzutreten, wird als geschränkt. Oft reagiert aber unser Körper Fazit: Achtsamkeit bringt Lernforschritte – anspruchsvolle „Leistung“ erlebt. Kein Wun- schneller und deutlicher als unser zensierender Scheitern fördert Gelassenheit! der: Nicht selten fehlen diese Qualitäten in der Verstand. Da ist die eigene Faust plötzlich geballt, Alltagskommunikation. Wie sollten sie da in Problembereich 3: oder der Atem geht schneller, ein Stöhnen ent- ausreichendem Maße angeeignet worden sein? Annehmen und JA-sagen schlüpft der eigenen Kehle. Wir können lernen die Signale des Körpers für das Weiterspielen zu Freundlichkeit steckt an – freundliche Zuwen- Marc: Zu allem Ja und Amen sagen. Alle nutzen, statt unseren Verstand „auf Suche“ zu dung schafft Vertrauen. Für die Atmosphäre in Impulse annehmen. Ich habe schon zu Hause schicken. Warum nicht das „Schwitzen“ direkt der Gruppe ist nicht nur der Leiter/die Leiterin keine Lust mehr, mich ständig anzupassen. als Impuls für das Spiel aufgreifen, die Faust verantwortlich, sondern jede/r Einzelne. Denn Immer Rücksicht nehmen. Der eigene Kopf oder das Stöhnen? Warum nicht die Assoziation Improvisation ist Teamarbeit. Erst wenn sich zählt nicht. Auch wenn meine Ideen bes- nehmen, die das eigene Ärgergefühl ausgelöst die Akteure gegenseitig angenommen und wert- ser sind. Eigenständigkeit ist nicht gefragt. hat, z.B. den Gedanken an die heftigen Aus- geschätzt fühlen, kann ihr Spiel unverkrampft Das würde nur zum „Blockieren“ führen, einandersetzungen mit dem eigenen Bruder? und kreativ verlaufen. Dabei schafft nicht nur wie es hier heißt. Nee, ich will mich nicht Das kann allerdings nur gelingen, wenn unsere das Lächeln eine positive Atmosphäre. Genauso unterordnen, will nicht das tun, was der Gedanken nicht mehr um die eigene Wirkung wichtig sind positives Feedback, Interesse anei- andere will, vor allem nicht, wenn seine kreisen, nicht mehr um die Zuschauer, wenn nander, Offenheit für individuelle Unterschiede Spielideen blöd sind. jeder Wunsch nach Akzeptanz verschwunden und Akzeptanz der Verschiedenartigkeit jeder/ ist. Dann befinden sich die Akteure in einem jedes Einzelnen. Persönliches Wachstum verlangt die Fähigkeit sich abgrenzen zu können, NEIN zu sagen. Die Zustand durchlässiger Gegenwärtigkeit, sie Fazit: Eine positive Atmosphäre ist das Produkt Person nimmt sich selbst mit ihren Empfindun- sind offen für äußere Impulse aus der Szene jedes einzelnen Gruppenmitglieds! gen und Bedürfnissen ernst und vermag dies und innere Impulse aus dem eigenen Erleben auszudrücken. Dies stärkt die soziale Entwick- (vgl. „absichtslos“ bei Lösl, 2004). Problembereich 2: lung einer Person. Beim Improvisieren muss Achtsamkeit und Konzentration Fazit: Gegenwärtigkeit im Moment und Ab- man sich diesen Aspekt der Selbstsicherheit sichtslosigkeit erlauben Signale des eigenen Janin: Der arme Kerl in unserer Gruppe, allerdings nicht beweisen. Improvisation ver- Körpers zu nutzen und Handlungsblockaden der Ältere, völlig konfus beim Warming-up langt vielmehr das Annehmen der Impulse der zu überwinden! mit drei Bällen. Hat in seinem Leben wohl Mitspielenden, das innere JA-Sagen zu den ak- noch nie drei Sachen gleichzeitig gemacht. tuellen Spielangeboten. Ohne das JA-Sagen gibt Problembereich 5: Zu jedem Ball ein Wort aus einem anderen es keinen Spielfluss. Das Annehmen garantiert Unterstützen und Verantwortung Bereich rufen. Und jeden Ball einer anderen eine Handlung, die von den Spielenden Zug übernehmen Person zuwerfen. Na, das ist doch läppisch. um Zug entwickelt werden kann, ohne dass es Marc: Manchmal will keiner auf die Büh- Und dann beschwert er sich, wenn Mitspie- einen Kampf um die besseren Ideen gibt. Dies ne. Zwei strampeln sich dort ab und hängen ler den Ball nicht fangen können. Weil er verlangt, die Kontrolle über die Spielhandlung fest. Es wird sich schon jemand finden, der bescheuert wirft. Und dann womöglich noch abgeben zu können und sich frei zu machen von sie erlöst. Warum denn gerade ich? Ich war das ganze Spiel in der Hocke durchführen – vergleichenden Bewertungen, welche Spielein- schon dran. Außerdem will ich mich nicht muss das denn sein? Aber wir sollen uns ja fälle „besser“ und welche „schlechter“ seien. vordrängeln. Bin doch kein Streber. nicht ärgern! Immer schön entspannt bleiben. Fazit: Kooperation und Zusammenspiel sind Es fällt schwer, zu Hilfe zu kommen oder ein- Oft beobachten wir zuerst bei Mitspielern und wichtiger als gute Ideen! zugreifen, wenn man selbst keine Idee für den Mitspielerinnen, dass sie nicht achtsam und Problembereich 4: Fortgang einer Szene hat. Oder es herrscht noch konzentriert genug bei den Übungen sind, Gegenwärtigkeit und Spontaneität eine gewisse Scheu, sich mutig in den Mittel- wir registrieren beispielsweise ihre anfängliche punkt der Beachtung zu begeben. Manchmal Überforderung bei komplexen Aufgabenstellun- Janin: Manchmal weiß ich nicht weiter. wird auch befürchtet Fehler zu machen. Diese gen. Mit zunehmender Spielerfahrung gelangen Nichts fällt mir ein. Wo nichts ist, kann auch Vermeidungsstrategien sind typisch für den wir selbst zu einer immer besseren Selbstwahr- nichts werden. Ich soll mich aber nicht an- zwischenmenschlichen Umgang in unserer nehmung und spüren, ob es uns selbst gelingt strengen, soll gelassen bleiben, die Signale des Gesellschaft – Kinder lernen sie als sinnvolle achtsam und konzentriert im Spielgeschehen Körpers beachten, sie als Impulse nutzen. So, Überlebensstrategien. Kein Wunder, dass sie zu sein. Und wir beginnen offen – uns selbst ein Quatsch – ich schwitze, könnte kotzen. sich auch auf der Bühne zeigen. und unseren Mitspielern gegenüber – das ei- Das sind meine Signale. Und die anderen gene Verhalten zu thematisieren. grinsen sicherlich wieder. Bei einer kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Improvisationshandeln gilt es, die Mit der Zeit wissen die Spielenden, dass unbe- Blockaden gehören dazu. Das Gehirn erscheint eigene Tendenz zum Vermeiden wahrzunehmen wältigbar erscheinende Improvisationsübungen, dann wie leergefegt, die Gewissheit wird über- und das eigene „Kneifen“ konsequent abzubau- die beispielsweise ein hohes Tempo und gute mächtig, nichts, absolut nichts Spieldienliches en. Nur so können Vertrauen und Kooperation Körperkoordination verlangen, durch wiederhol- wird jetzt ins Bewusstsein treten. Dieser Zu- in der Gruppe entstehen. Wer Verantwortung te Übung und mit Hilfe von Zwischenschritten stand geht mit Anspannung, vielleicht Unruhe, übernimmt, kann auch darauf vertrauen, dass doch zu bewältigen sind. Andererseits lernen vielleicht ärgerlichen Gefühlen einher. Diese die Mitspielenden zur Verfügung stehen und die Akteure auch, dass „Fehlermachen“ und Zustände werden von unserer Zensur blitz- eingreifen, wenn man selbst „hängt“ oder das „Scheitern“ besonders bedeutsam für die Ent- schnell als „Störenfriede“ ausgeblendet. Und eigene Spiel zäh wird. wicklung einer Spielerin, eines Spielers sind: wir suchen verzweifelt nach Ideen zum Wei- Unlösbar erscheinende Aufgaben trainieren terspielen. Dabei fragen wir uns gleichzeitig, Fazit: Vertrauen entsteht durch Übernahme die Fehlertoleranz, fördern den gelassenen wie wir wohl auf unsere Mitspieler wirken. von Verantwortung in brenzligen Situationen! 80 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Problembereich 6: ein bisschen Kontrolle ist besser. Der eige- gezielt mit der eigenen Person und ihrer Wirkung Ohne Ziel und Planung sein ne Schweinehund gehört an die Leine – ist auseinandersetzen. Wer seine Grenzen spürt, doch wahr, oder? kann auch die Herausforderung annehmen, Janin: Wir zögern zu lange, sagt der Leh- an der Weiterentwicklung der eignen Selbst- Wir können stolz sein auf die Selbsttätigkeit rer. Einfach los! Auf die Bühne! Der hat gut sicherheit in sozialen Beziehungen und in der und Geschwindigkeit unserer kleinen grauen Reden. Muss doch alles gut durchdacht sein. öffentlichen Selbstpräsentation zu arbeiten. In Zellen: Noch bevor wir es so richtig begreifen, Ein bisschen Abwägen kann nicht schaden. diesem Sinne lockt Impro-Theater zur Selbstver- springt eine Assoziation ins Bewusstsein und Planen ist das halbe Leben. Ich kann doch änderung. Ein wichtiges Nebenprodukt dabei gibt uns einen Impuls für’s Weiterspielen (vgl. nicht meinen Kopf abschrauben, die Vernunft ist: Akteure entdecken bei der Analyse ihres Lösel, 2004). Genauso flink wie die hilfreichen beiseitelegen und ins Nichts rennen. Doch, Spiels auch die eigenen Stärken, die deutlich Gedankenblitze sind auch die Stör-Signale, die sagt er. Handeln aus dem Moment heraus. hervortreten und an die sie beginnen zu glau- in Form eigener negativer Gedanken unser Kein Ziel im Auge haben! Genau darauf ben. komme es an. Nein, nein, ich bin doch nicht Handeln begleiten und dazwischen funken: lebensmüde und mache mich zum Horst. „Das sagt man nicht!“, „Das sieht bescheuert Fazit: Wahrgenommene Grenzen führen zur aus!“, „Ich wirke bestimmt lächerlich!“. Dann persönlichen Entfaltung! Seit frühesten Kindertagen lernen Menschen, stehen wir „neben uns“, beäugen uns selbstkri- sich „vernünftig“ durch die Welt zu bewegen tisch, vielleicht schämen wir uns auch wegen Problembereich 9: und „wohlüberlegt“ zu sprechen. Janin drückt (eingebildeter) Schwächen und „unangepasster“ Authentisch aus, was gesellschaftliche Erziehungspraktiken Assoziationen: Die Zensur wird übermächtig, Marc: Laut sein und schreien, das macht „verlangen“: Erst überlegen – dann handeln. hält „Ungebührliches“ unter Verschluss. richtig Spaß, irren Spaß. Aber auch still- Wir haben jahrelang in der Schule erfahren, verklemmt, wahnsinnig gehemmt. Oder dass spontane Äußerungen oft als schlechte Kontrolle unterbricht den Fluss der Assoziati- irre happy. Oder wütend wie Sau. Mal so Äußerungen galten. Und dass Planen und onen und das spontane Spiel. Aber Kontrolle richtig auf den Putz hauen. Aber nein, wir Abwägen das Ergebnis unserer Bemühungen macht eben auch sicher, ist wie ein hilfreicher sollen hier immer authentisch sein. Also ganz verbessert haben. Auch das Festlegen von Zie- Schutzschild, der die eigene Empfindsamkeit echt, nicht so übertrieben. Und auch nicht len hat es uns im Alltag leichter gemacht, mit schützt und Schamgefühle verbirgt. Denn immer ‚entweder - oder’, sondern eben ganz anstehenden Belastungen besser umgehen zu im Spiel können sehr persönliche Wünsche, natürlich. Weil, sagt der Lehrer, „Echtsein können. Ziele haben uns Orientierung gegeben, Erinnerungen und Kränkungen aus der eige- berührt“. Nicht gefallen wollen (zum Bei- eine Richtung für unser Handeln gewiesen. So nen Lebensgeschichte auftauchen. Je größer spiel Janin). Nicht aufdrehen. Nicht noch haben das Planen und Zielsetzen auch dafür das Vertrauen der Spielenden untereinander einen Zahn zulegen. Dabei habe ich immer gesorgt, dass wir der Gefahr der Abwertung wird, desto mehr Offenheit kann zugelassen gedacht, Schauspielen bedeutet, sich in eine durch andere entgehen und die Überzeugung und die schützende Kontrolle aufgegeben wer- Rolle richtig rein steigern. gewinnen konnten, auf diese Weise eigenes den. Versagen und Fehler minimieren zu können. Fazit: Kontrolle unterbricht den Fluss der As- Übertreibungen und Kontraste in der Darstel- lung von Rollen lassen sich vielfach leichter Beim Impro-Spiel geht es aber gerade nicht um soziationen. Vertrauen in der Gruppe ermutigt darstellen als der ungekünstelte Ausdruck des ein Vorausplanen und um das Festlegen von zu unbefangener Offenheit. eigenen Empfindens und Erlebens. Anfänge- Zielen. Vorgehensweisen, die sich an einem Problembereich 8: rinnen und Anfänger neigen dazu, die eigene festgelegten Ablauf orientieren, grenzen eine Unsicherheiten und Ängste Gefühlszustände, die sie bei sich wahrnehmen Vielzahl an Spielweisen und Handlungsabfol- nicht einfach auszudrücken, sondern sie begin- gen auf der Bühne aus. Planungen grenzen die Janin: Manchmal komme ich mir richtig nen sie zu „spielen“. Chancen für Überraschungen ein, vertreiben klein vor, wie ich da im Mittelpunkt stehe das Unvorhersehbare. Wer frei von Zielen ist, und mich alle angucken. Meine Sätze ver- Szenische Improvisationen nutzen sehr unter- vermag die Impulse der Mitspielerinnen und heddern sich, mein Kopf ist leer. Rote Flecken schiedliches Material: Alltagsrealität, fiktive Mitspieler leichter aufzunehmen (s. o., Pkt. 3). am Hals. Schrecklich! Ungelenk hampele ich Handlungen, Phantasiegeschichten, innere Hier liegt das lebendige Potential der szenischen herum, ich glaube, ich mache mich lächer- Bilder und Gefühlszustände, Traumproduk- Improvisation: Spannend kann es erst werden, lich. Alle kriegen das mit, bestimmt. Am te. Egal wie realitätsnah das Spiel auch ist, die wenn sich das Nicht-Vorstellbare ereignen darf liebsten würde ich manchmal eine Auszeit Figuren auf der Bühne sollten nicht aufgesetzt (vgl. Johnstone, 2004), wenn immer wieder nehmen, wenn ich mich so armselig und und künstlich erscheinen. Geschichten, Szenen Wechsel vom Vorhersehbaren ins Unvorherseh- phantasielos fühle. und Darstellungen sollten von den Empfin- bare erfolgen. Und wenn sich, wie ein Wunder, dungen der Akteure getragen werden, die sie „Schisshaben“ gehört zum Auftritt dazu. Auf aus der Intensität des gemeinsamen Spiels ohne Scheu zulassen und dann ungekünstelt der Bühne präsentieren sich die Akteure mit z.B. das Ende einer Szene wie von selbst er- ausdrücken. Wer eine verklemmte Person Ihrer Stimme, ihrem Verhalten, ihren Ideen, gibt. spielt, muss das Gefühl des Verklemmtseins sie sind der Wahrnehmung durch die ande- in sich aktivieren, es spüren und mit Leben Fazit: Überraschungen erwachsen aus dem ren und ggf. durch das Publikum ausgesetzt. erfüllen können. Sobald wir uns vom eigenen Ungeplanten! Lebendigkeit entsteht, wo starre So kommt es, oft deutlicher als im Alltag, zur Erleben entfernen und unser Bühnenhandeln Zielvorgaben fehlen! Konfrontation mit den eigenen Unsicher- „wirkungsvoll“ gestalten oder nach den (vermu- heiten und Ängsten. Auch Konkurrenz kann teten) Erwartungen anderer ausrichten wollen, Problembereich 7: sich regen, Neid aufkommen, Minderwertig- verlieren wir den Kontakt zu uns selbst – der Zensur keitsgefühle können sichtbar werden. Unsere (Selbst-)Ausdruck ist nicht mehr authentisch. Gefühlszustände werden präsent – das gehört Marc: Wenn ich nicht aufpasse, geht mir (Diesem Gesichtspunkt kommt eine große zum Bühnenspiel dazu, das geht, mehr oder meine Phantasie durch. Liebe, Sex und wilde Bedeutung im Playbacktheater zu [vgl. Fox, weniger, jeder/jedem so. Sachen. Kann ich doch nicht machen. Ich 1996; Sales, 1998], einer – zwischen Publikum bin wirklich ein umgänglicher Mensch, alle Weil das so ist, erhöht sich mit dem Improvi- und Spielenden – besonders interaktiven Im- sollen das wissen. Spontansein ist gut, aber sieren die Chance, dass sich die Akteure nun provisationsform.) Magazin 81

Fazit: Stimmigkeit berührt – sie zeigt sich es den Akteuren noch schwer fällt, individuelle Literatur als Übereinstimmung von Empfinden und Erfahrungen für Spielimpulse zu nutzen und Verhalten! verborgene oder weniger angepasste Erlebens- Fox, J. (1996): Renaissance einer alten Tradi- weisen und „Phantasiekisten“ in das gemeinsame tion. Playback-Theater. Köln: inScenario Problembereich 10: Improvisationshandeln aufzunehmen. Hieran Dörger, D. (1997): Improvisationstheater und Klischees kann gearbeitet werden. mögliche Wirkungen. In: Kruse, O. (Hg.): Kreativität als Ressource für Veränderung Janin: Was spielt man bloß für einen Blöd- Fazit: Individuelle Erfahrungen stellen span- und Wachstum. Tübingen: dgvt-Verlag, sinn, ständig nur Klischees im Kopf. Reicher nendere Spielvorlagen dar als Klischees und S. 75–88 Manager – arme Studentin. Tatkräftige berühren das Publikum nachhaltig! Johnstone, K. (2004): Theaterspiele. Sponta- Klofrau – verwirrter Professor. Glück im neität, Improvisation und die Kunst des Spiel – Pech in der Liebe. Autoritärer Vater 4. Schlussgedanken Geschichtenerzählens. Berlin: Alexander – unterdrückter Sohn. Friede, Freude, Eier- Verlag kuchen. Kannste vergessen. Nicht besonders Stolpersteine liegen auf der ganzen Welt herum, Lösel, G. (2004): Theater ohne Absicht. Impulse originell. Wir sind in unserer Gruppe alle besonders auf Feldern, die noch unbeackert zu Weiterentwicklung des Improvisations- Einfaltspinsel. Ich auch. sind. Steine lassen sich beiseite räumen. Aber theaters. Ein Herz-, Hand- und Hirnbuch. die Belastungen, die vom Schleppen entste- Die Phase der Klischees will durchlaufen Planegg: Impuls/Buschfunk hen, müssen ausgehalten werden. Nur so sein. Szenen, die Klischees abbilden, spiegeln Salas, J. (1998): Playback-Theater. Berlin: wachsen neue Kräfte. Das gilt nicht nur für gesellschaftliche Handlungsmuster oder „Be- Alexander Anfängerinnen und Anfänger. Alle Akteure der ziehungskisten“ wider. Sie konfrontieren uns Wendlandt, W. (2005): Grundhaltungen und Improvisation, die mit den im Text beschrie- mit eigenen Denk- und Verhaltensgewohnhei- Handlungsstrategien für das szenische Im- benen Problembereichen konfrontiert sind, ten und stellen Vorurteile in den Raum, die provisieren – Orientierungspunkte für die erfahren – so wie Janin und Marc – dass sie sich befragen lassen. Es ist nahe liegend, dass Akteure. Korrespondenzen: Zeitschrift für die ihnen bekannten Wege verlassen und nach Spielerinnen und Spieler auf diese Muster zu- Theaterpädagogik 21; 21–25 neuen Ausdrucksformen und Handlungsmög- rückgreifen. Manchmal kann es ausgesprochen Wendlandt, W. (2009): Die Kunst des Scheiterns. lichkeiten Ausschau halten müssen. So stellt amüsant sein, deutlich ausgeformte Klischees Improvisation als Lernziel. In: Stotterthera- das Scheitern – für die Spielerinnen und Spie- vorgeführt zu bekommen. pie im Erwachsenenalter. Grundlagenwissen ler, die nicht fliehen – eine fruchtbare Quelle und Handlungshilfen für die Therapie und Wenn eine Gruppe immer wieder nur an Kli- für die Weiterentwicklung eigener kreativer Selbsthilfe. Stuttgart: Thieme, S. 166 –174 schees kleben bleibt, macht das deutlich, dass Improvisationsfähigkeiten dar. Wendlandt, W. (2013): Selbsthilfegruppe Improvisationstheater und Krebs – Vom Auftreten auf der Bühne und im Leben. Selbsthilfejahrbuch 2013, Hrsg. Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V., Gießen, S. 37–42

Wie wollen wir arbeiten (– und warum?) Eindrücke von der Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft in Mannheim vom 23.-26. Januar 2014

Nelly Noack

Diesen Beitrag schreibe ich aus eigenem Gegenteil von Arbeit? Können die Kreativen keine Autonomie. Die Grenzen zwischen Leben Antrieb, nicht etwa, weil ich einen Auftrag überhaupt Zeitverschwenden? Was ist Work- und Arbeit sind vage, Leben und Kunst ver- erfülle. Warum also arbeite ich? Nehmen wir Life-Balance (Work-Life-Bullshit)? schmelzen zu einem irrsinnigen Konglomerat. an, ich arbeite nicht. Dann ist das Schrei- Die realen Lebens- und Arbeitsverhältnisse der ben reine Selbsterfüllung und damit mein Wie will ich arbeiten ohne auszustei- Kunst- und Kulturschaffenden sind individuell, persönlicher Luxus? gen aus meinem Hamsterrad, ohne genauso vielfältig wie die Erwartungen an die die Schlaflosigkeit, ohne das Espresso- Kunst. Diese Erwartungen gibt es spürbar: In Willkommen in Mannheim. In der Theater- Kribbeln und Hummeln im Hintern, Mannheim setzt man auf die Förderung von hauptstadt. Ein Sauna-Gang gefällig? Yoga ohne ohne etwas zu verpassen auf meinem Stadtentwicklung im Quadrat, die Kultur-Raum- Umziehen? Zeit für power napping im Liegestuhl Karriere-Ast. Wo kann man Vitalität Stadt-Identität soll gefördert werden und zum am Pool? Gleich im Foyer wird der Besucher Erwerb des Titels Kulturhauptstadt führen. Im kaufen? eingeladen, sich in der Work-Life-Oase des Allgemeinen erwartet man von den Kreativen, Alltags-Stress zu entledigen und abzuschalten. Auf ihrer Jahreskonferenz öffnet die Dramatur- die Kultur impulskräftig voranzutreiben, die Wer auf dieser Tagung nicht die nötige Rege- gische Gesellschaft einen Raum für die Suche Energie und der Elan der Kreativen soll Trends nerationspause findet, wendet sich einfach an nach Formen künstlerischer Arbeitsmodelle. Die setzen, Kreativität als Schlüsselqualifikationen die Agentur für Zeitverschwendung, die sich Art und Weise unseres Arbeitens zu reflektieren soll sich wirtschaftlich niederschlagen – wobei zwischen Pool, Schlafbereich und Bar im Fo- ist Luxus, aber das Wie steht für die Kreativen die Wirtschaftlichkeit der „Kreativ-Wirtschaft“ yer des Nationaltheaters Mannheim installiert nun einmal im Vordergrund. Ohne das Wie infrage gestellt werden darf. Außerdem stellt hat. Ist Zeitverschwenden erholsam? Ist es das gibt es kein künstlerisches Selbstverständnis, sich am Beispiel Theater immer die Frage 82 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Wie wollen wir arbeiten? Am Rande der Katastrophe inmitten persönlicher Dra- men? Als Held mit einem Maximum an Aufträgen? Unter dem Schutzmantel „Kunst darf alles“? Gelassen wie im Süden? Am Fließband oder im flow? Man könnte meinen, die propagierte Work- Life-Balance tauge nicht dazu, Veränderung herbeizuführen. Geht es nicht um Gegenge- wichte oder Beweglichkeit statt Gleichgewichte? Wenn wir gute Arbeit machen können, muss sie doch stimmig für uns sein. Wir arbeiten, weil Arbeit ein Teil des Lebens und Entfaltung ist. Ist trotzdem unser Rezept: man nehme 1 Freizeitprogramm, das uns arbeitsfähig hält und wie ein immerwährendes Trostbonbon über die Missstände der Arbeit hinwegtröstet. Zucker …

Wie wollen wir arbeiten? Als einer, der Interesse weckt, Originalität garantiert, Fotos: Andreas Naumann den Horizont erweitert, eine Sogwirkung ausübt, Anerkennung erhält, Missach- tung fürchtet und Zukunft entwirft? nach dem gesellschaftlichen (Mehr-)Wert der en“ und der „institutionellen“ Theatermacher Ist es fair, wenn wir gute Arbeit machen? Kunst/Kultur. Rechtfertigen wir unsere Arbeit aufeinander – mit dem Versuch, sich aneinan- Kommen wir mit unserer Finanzausstattung durch Unterhaltung und Kurzweil, oder sind der zu orientieren, auszurichten und ähnliche zurecht oder gehen wir bald Geld drucken wie wir (wie schon 1784) mit Schiller einig, dass Forderungen zu stellen, ohne unbedingt An- die findigen Geister in Hamburg? Verschont Theater auch oder vor allem auf sittliche Ein- laufstellen für diese gemeinsamen Forderungen uns von Kürzungen! Planungssicherheit gibt es stellungen der Besucher intellektuell, moralisch zu finden. Die Rollenmuster scheinen starr zu lange nicht für jedes Projekt. Die Tarifverträge und emotional Einfluss hat? Wie verstehen wir sein und bestätigen sich bedauerlicherweise in müssen unter die Lupe genommen werden. So den Bildungsauftrag des Theaters? Ist er Kern- einem Differenzempfinden, das mit der Frage wie die Arbeit, die Mühsal im Kreativsektor oder Randgeschäft? Oder fühlen wir uns nicht „Wie wollen wir arbeiten?“ wenig zu tun hat. häufig verschleiert wird, so bleibt auch die berufen uns im Bereich kultureller Bildung zu Zur Diagnose führt hier: Möchten wir anders Bezahlung oft im Nebulösen. Wie hat sich engagieren und zu verkaufen? Welche Erwar- sein? Wie heben wir uns ab? die Erwerbstätigkeit in den letzten 10 Jahren tungen stellen wir unter Theatermachern an verändert? Die Arbeitswissenschaft verfolgt unsere Arbeit, an den Prozess, an das Ergebnis? Wie will ich arbeiten? Im Namen von die Entwicklungen genau. Statistiken geben Die Sinnfragen bleiben nicht aus. oder vogelfrei? Als Künstlerunterneh- Auskunft. Die Begriffe werden englischer und mer oder Unternehmerkünstler? Webe grenzenloser. „You’re only as good as your last Wie will ich arbeiten? Effizient wie ein ich eine Ermöglichungsstruktur oder job“ hält uns auf Trab, und „Doing the work Energiesparprogramm, explosiv wie ei- bestell ich ein Unmöglichkeits-Feld? is fun. Finding the work is the Job“ beschreibt ne Zündstofflieferantin und weise wie Bin ich Sklave oder Tyrann? Gibt es nicht weniger gut den Druck, dem wir aus- nach einer Burnout-Katharsis? Zwischenräume? geliefert sind. Wie sind die Arbeitsstrukturen der Drama- Unsere Fähigkeit Neues zu erfinden, schöpferisch Wie wollen wir arbeiten? Freiheitlich, turgen, wie waren sie einmal und wie können gemeinschaftlich, gerecht? sie sich noch entwickeln? Wie verorten sich zu sein ist ein kostbares Gut. Sie ist positiv, Dramaturgen zwischen der Arbeit nach innen setzt Neues in die Welt, gebiert Hoffnung Medien wurden konsumiert und Theatervor- und nach außen? Ich finde es interessant, dass und entwirft Entwicklung. Die schöpferische stellungen besucht. Das Konferenzkino war ihr verantwortungsbewusster Blick auf die Ar- Fähigkeit ist uns so eigen, dass ein Verzicht gut besucht und das Programm des NTM und beitsstrukturen am Theater fällt, um Barrieren darauf nicht vorstellbar ist. Genauso wenig war für viele eine willkommene Be- und Chancen aufzutun und im Wandel der wie der Verzicht auf Arbeit. Wir wollen anders reicherung. Ein Höhepunkt mit Tradition fand Zeit adäquate Anpassungen der Arbeit zu ent- sein und mal was Neues machen, die Welt am Freitag im Studio Werkhaus statt. In einer decken. umkrempeln oder hochwerfen. Erfrischend. szenischen Lesung wurde das Kleist-Förderpreis- Ein anderer Verzicht wäre der auf Privatle- Gewinnerstück 2014 „Jenny Jannowitz“ von Wie will ich arbeiten? Nachhaltig und ben – nicht vorstellbar? Dennoch gibt es eine Michael Decar präsentiert. Am Samstag wurde kontinuierlich? Saisonal und friktio- deutliche Tendenz der Verbetrieblichung der der Blick ins Ausland geöffnet und Sarah Murray, nell? Solo oder in der Crowd? Transparent Lebensführung. Wenn sich Anforderungen Erwin Jans und Ed Collier gaben neue Impul- oder heimlich? Gut oder schlecht? Be- und Möglichkeiten entkoppeln, entstehen un- se in die Diskussionsrunden. Durch zahlreiche zahlt oder unbezahlt? Normal oder gesunde Verhältnisse. Das Leben voll im Griff Keynotes aus den Bereichen Arbeitswissenschaft, zu haben und permanent kreativ zu sein, würde unangepasst? Psychologie, Sozialwissenschaften, Theaterwis- nicht nur ein hohes Maß an Selbstkontrolle senschaft u. a. war es möglich, das Röntgenbild In den Gesprächen, Workshops und open spaces erfordern, sondern auch eine Ökonomisierung auf unsere Gesellschaft scharf zu stellen und treffen auffällig oft die Arbeitsmodelle der „frei- des Selbst bewirken. sich selbst im Kontext Arbeit wieder zuerken- Magazin 83

nen. Wir wollen arbeiten. Die Antwort auf die Eingangsfrage ist die Ausgangsfrage. Auch eine Podiumsdiskussion hat keinen Punkt. Aber mit der Tagung der Dramaturgischen Gesellschaft machen wir uns vielleicht auf den Weg zum nächsten Meilenstein.

Wie wollen wir arbeiten? Mit Unter- brechungen? Ungestört? Störend? Diszipliniert? Glücklich, dass wir Ar- beit haben? Mit Sicherheit? Gewagt?

Zum Weiterlesen:

Torsten Bewernitz: Die neuen Streiks, Müns- ter 2008 Helen Blair: ‘You‘re Only as Good as Your Last Job’. The Relationship Between Labour Market and Labour Process in the British Film Industry, Herfordshire 2000 Ulrich Bröckling: Jeder Mensch ein Künstler, jeder Mensch ein Unternehmer. Reso- nanzen zwischen künstlerischem und ökonomischem Feld. In: Zeitschrift der Dramaturgischen Gesellschaft 01/14, S. 15 „Work in Progress/Arbeit im Wandel“ von Torsten Bewernitz, ad hoc illustriert von Parastu Karimi Ulrich Bröckling: Gouvernementalität der Ge- und Ansgar Lorenz genwart: Studien zur Ökonomisierung des Sozialen (Hrsg. zus. mit Susanne Krasmann und Thomas Lemke), Frankfurt a. M., 2000 Ursula Karven: Yoga für dich und überall: Julian Pörksen: Sometimes we sit and think Heinz Bude: Die Ausgeschlossenen, Mün- 60 unglaublich nützliche Übungen – für and sometimes we just sit. Kurzspielfilm chen 2008 jedermann und jeden Tag, München 2013, 32 Minuten. Byung-Chul Han: Im Schwarm. Ansichten des 2007. Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kre- Digitalen, Berlin 2013. Jürgen Kocka und Claus Offe: Geschichte ativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Byung-Chul Han: Transparenzgesellschaft, und Zukunft der Arbeit, Frankfurt a. M. Ästhetisierung, Berlin 2012. Berlin 2012. 2000. Daniel Ris: Unternehmensethik für das Theater, Diedrich Diederichsen: Eigenblutdoping. Katja Kullmann: Echtleben, Frankfurt a. M. http://www.theater-unternehmensethik. Selbstverwertung, Künstlerromantik, Par- 2011. de/Januar 2014. tizipation, Köln 2008. Stefan Kuntz: Survival Kit- freies Theater und Franziska Schößler, Christine Bähr (Hrsg.): Svenja Flaspöhler: Wir Genußarbeiter, Mün- freier Tanz, Hannover 2010. Ökonomie im Theater der Gegenwart chen 2011. Sophie-Therese Krempl: Paradoxien der Arbeit, – Ästhetik, Produktion, Institution, Bie- Holm Friebe/Sascha Lobo (Hrsg.): Wir nen- Bielefeld 2011. lefeld 2009. nen es Arbeit – Die digitale Boheme oder: Tilla Lingenberg: Der Optimierte. Berlin Stadler, P. & Spieß, E.: Arbeit – Psyche – Rü- Intelligentes Leben jenseits der Festanstel- 2013. ckenschmerzen: Einflussfaktoren auf die lung, München 2006. Carmen Losmann: Work hard/Play hard. Do- Beschäftigungsfähigkeit und betriebli- Adrienne Goehler: Verflüssigungen. Wege und kumentarfilm 2011, 90 Minuten . che Präventionsstrategien. Zeitschrift für Umwege vom Sozialstaat zur Kulturgesell- Corinne Maier: Die Entdeckung der Faulheit. Arbeitswissenschaft, 63 (4), 331–338, schaft, Frankfurt 2006 Von der Kunst, bei der Arbeit möglichst Stuttgart 2009. Rainald Goetz: Johann Holtrop. Roman, Ber- wenig zu tun, München 2005. Thomas Vašek: Work-Life-Bullshit, Warum die lin 2012. Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hrsg.): Trennung von Arbeit und Leben in die Irre Tom Hodgkinson: Anleitung zum Müßiggang, Kreation und Depression. Freiheit im ge- führt, München 2013. Berlin 2005. genwärtigen Kapitalismus, Berlin 2011. 84 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

AUS DEM ARCHIV

Rezeptionsforschung im Kindertheater der DDR Von Katharina Kolar (DATP)

Der Griff in den Archivkarton war diesmal wie ein aufregender Besuch in einer Kindertheateraufführung. Wo sonst oft nur Manuskripte, unlesbar anmutende handschriftliche Notizen, Konzepte oder vergilbte Zeitungsartikel darauf warten, entzif- fert und in Zusammenhang gebracht zu werden, kam in diesem Fall zunächst ein Stapel bunter, von Kinderhand mit Filz- oder Bleistift gefertigter lebendiger Zeichnungen zum Vorschein.1 Sie sind mit Genuss und Bewunderung zu betrachten und sie sind zugleich Ergebnisse im Rahmen eines Forschungsprojektes zur Rezeption von jungen Zuschauern, das Kristin Wardetzky gemeinsam mit Karola Keller 1984 als Mitarbeiterinnen der theaterpädagogischen Abteilung am Theater der Freundschaft in Berlin zur Inszenierung „Das tapfere Schneiderlein“ (Regie: Hans Ostarek) durchführte. Konkreter Gegenstand der Ver- gleichsuntersuchung waren „ausgewählte Aspekte der Wirkung der epischen Vorlage (vorgelesen von einer Schauspielerin) und der Theateraufführung“2 des Märchens. Die Rezipienten waren 106 Schüler und Schülerinnen der ersten Klasse. Genutzt wurde eine Kombination verschiedener Untersuchungsmethoden, die Der Riese und das tapfere Schneiderlein – Zeichnung eines Erstklässlers aus der Soziologie und Psychologie entlehnt und teilweise – der entstanden im Rahmen der Rezeptionsforschung zu „Das tapfere Schnei- Altersgruppe entsprechend – adaptiert wurden. Die teilneh- derlein“ 1984 am Theater der Freundschaft in Berlin menden Erstklässler wurden unter anderem zunächst während des Zuhörens und Zuschauens beobachtet, ein bis drei Tage später einzeln mit sogenannten „Satzergänzungstests“ befragt und gebeten jene „Stellen“ zu zeichnen, die ihnen am besten ge- Das Projekt – als Beispiel für die als Unikat im deutschsprachi- fallen haben. Nach vier Wochen wurden die Befragungen und gen Raum fast 20 Jahre lang betriebene Rezeptionsforschung Zeichnungen wiederholt. Verblüffend sind neben dem enormen – kann stellvertretend als Beleg für den Übergang in der Praxis Umfang der Untersuchung und der Präzision in der Arbeitswei- des Kindertheaters vom bürgerlichen (Weihnachts-)Märchen se des Projektes natürlich vor allem die Ergebnisse. Zunächst hin zum kritisch-emanzipatorischem Kindertheater gesehen wurden geschlechtsspezifische Unterschiede im Verhältnis zu werden.6 Im Kontext der Geschichte der Theaterpädagogik den Figuren als Identifikationsfiguren deutlich, insbesondere ist es aber besonders interessant, dass die theaterpädagogische nach dem Vorlesen des Märchens, aber auch noch nach dem Rezeptionsforschung im Kindertheater der DDR klar im Auf- Anschauen der Inszenierung. „Mädchen bevorzugen weibliche gabenbereich der Theaterpädagogik lag und mit der Wende (in Figuren, die Schönheit, Reichtum, Harmonie verkörpern, die diesem Umfang) wieder verschwand. Reichweite und Potentiale Jungen hingegen männliche Figuren, die sich durch körperliche solcher Untersuchungen waren sehr klar an die Strukturen und Überlegenheit, soziales Prestige und Angriffslust auszeichnen“3. Produktionsbedingungen im DDR-Kindertheater gekoppelt, Zudem wurden im Vergleich der beiden Präsentationsformen die auch Langzeitstudien ermöglichten, wie Wardetzky betont.7 auch „gattungsspezifische Rezeptions- und Wirkungsprozesse Theaterpädagogische Rezeptionsforschung wird zwar immer noch nachgewiesen, insbesondere im Bereich des emotionalen Ange- oder wieder vereinzelt betrieben, ist am Theater aber aufgrund sprochenseins“4 als auch wie das jeweils Erlebte im Gedächtnis der aktuellen Produktionsbedingungen in diesem Umfang nicht fixiert wird. Aber auch wie Gedächtnis funktioniert, erzählt die leistbar bzw. erscheint ohne zeitnahe Ergebnisse nicht effizient Studie: Vier Wochen nach dem Theatererlebnis geben „über genug. Schade eigentlich – bedenkt man das Vergnügen, das es die Hälfte weniger Kinder als bei der 1. Befragung […] an, vor einem bereitet Kindern beim Theatersehen zuzuschauen! diesen Riesen Angst gehabt zu haben.“5 Jetzt leugnen sehr viele „Ausgegraben“ wurde dieses Mal die laufende Nr. 30, der ins- Kinder überhaupt das Gefühl der Furcht, die sie anfangs noch gesamt bisher fünf Archivkartons umfassenden Teilsammlung, eingestanden hatten. die 2012 vom DATP als Vorlass von Prof. Dr. Kristin Wardetzky Aus dem Archiv 85

übernommen wurde und derzeit verzeichnet wird. Die Samm- Pieck-Universität Rostock. 35. Jahrgang 1986. Gesellschaftswissenschaft- lung enthält neben Archivalien zu Rezeptionsforschungsprojekten liche Reine, Heft 3, S. 61. u. a. auch Materialien zum Erzähltheater „fabula drama“ und zu 3 Ebd. S. 63. den von Kristin Wardetzky initiierten Erzählprogrammen und 4 Ebd. -projekten (mehr dazu siehe S. 86). 5 Ebd. S. 62. 6 Vgl. Wardetzky, Kristin (o.A.): Nie sollst du mich befragen. Methodologische Anmerkungen Probleme der Rezeptionsforschung. Aufsatz-Typoskript mit handschriftlichen 1 Vgl. DATP-20, lfd. Nr. 30. Anmerkungen. DATP-20, lfd. Nr. 30, S. 2. 2 Wardetzky, Kristin & Keller, Karola (1986): Rezeptionspsychologische 7 Wardetzky, Kristin (2003): Rezeptionsforschung. In: Koch, G. & M. Untersuchung zu der Inszenierung „Das tapfere Schneiderlein“ am Theater Streisand (Hrsg.) (2003): Wörterbuch der Theaterpädagogik. Berlin Milow: der Freundschaft, Berlin. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Wilhelm- Schibri-Verlag, S. 249–250. 86 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Zwei Erzählcafes des DATP im Wintersemester 2013/14

Prof. Dr. Kristin Wardetzky – Die große Erzählerin –

Am darauffolgenden Dienstag war Kristin Wardetzky, Erzähle- rin und Professorin für Theaterpädagogik aus Berlin, bei uns zu Gast. Für uns Moderatorinnen war der Abend ein Spaziergang durch Kristin Wardetzkys langjährige Erfahrung und Praxis im Erzähltheater und in der Kunst des Erzählens. So waren wir nur Impulsgeber. Ebenso wie das Publikum hingen auch wir an ihren Lippen und folgten ihren interessanten Ausführungen. Sie berichtete von ihren Forschungen zur kindlichen Rezeption von Theaterinszenierungen aus den 80er Jahren am „Theater der Freundschaft“ in Berlin und von ihren Studien zu Lesarten von Märchen durch Kinder. Sie erzählte von der Gründung des „Erzählcafé mit Hans Hoppe am 19.11.2013“ Erzähltheaters „FabulaDrama“, von der „Offenen Erzählbühne“ seit 2007 in Berlin und insbesondere von dem Erzähl-Projekt „Sprachlos?“, einem Sprachförderprojekt an einer Berliner Brenn- Prof. Dr. Hans Hoppe – punktschule, sowie dem Projekt „ErzählZeit“, das inzwischen in Grenzgänger zwischen Theorie und Praxis – die Regelförderung des Berliner Senats für Bildung, Jugend und Familie übernommen wurden. Kristin Wardetzky initiierte und Es ist der 19. November 2013, ein Dienstag, als Hans Hoppe konzipierte auch den Studiengang „Künstlerisches Erzählen – im Lingener erscheint. Mit uns erwarten ihn ge- Storytelling in Art and Education“, der seit dem Studienjahr spannt Studierende, Dozentinnen und Dozenten des Instituts 2010/11 an der Universität der Künste, Berlin, existiert. Ihre für Theaterpädagogik sowie weitere Neugierige aus der Hoch- Berichte waren nicht nur durch ihre fachlichen und persönli- schule und der Stadt Lingen. Schon im Vorfeld haben wir uns chen Ausführungen anschaulich, sondern auch durch die Fülle als Verantwortliche für das 11. Erzählcafé mit Hoppes Leben an Materialien, aus denen sie vorlas und uns direkte Einblicke beschäftigt anhand von Aufzeichnungen, Dokumenten und ermöglichte. Wie sehr sie dieses Material auch nach Jahrzehnten Videomaterial, das er dem DATP überlassen hatte. Zu Beginn bewegte, war unübersehbar und machte uns umso deutlicher, der Veranstaltung überraschten wir ihn - in guter alter Tradition wie viel Herzblut in ihrer Arbeit steckt. Bei einem Blick durch des Erzählcafés - mit seinem eigenen, aber von uns verfassten das Publikum wurde deutlich, dass nicht nur wir Interview- Lebenslauf. Anhand dessen hat er die schwierige Aufgabe 40 erinnen, sondern auch die Besucher des Erzählcafés sichtlich Jahre Theorie und Praxis Revue passieren zu lassen. Besonderes beeindruckt waren. Als Abschluss und wunderbare Rahmung Interesse weckte dabei das von ihm entwickelte Konzept des gab Kristin Wardetzky eine kurze Geschichte zum Besten. Die „Kooperativen Theaters“. Die Frage nach Möglichkeiten der Bildergewalt, die sie dabei erzeugte war beeindruckend. So hat- gemeinsamen Gestaltung von Gesellschaft und ihren Diskursen ten wir zum Beispiel das Gefühl, das Kästchen, welches in der sowie die Aufhebung der strikten Trennung zwischen Bühne und Erzählung vorkam, wirklich dort in ihren Händen zu sehen. Zuschauerraum, zwischen Akteur und Rezipient, waren lange Zeit zentrale Themen seiner Arbeit und Forschung. Bernardette Wildegger und Lisa Krischker, Studierende des 5. Se- mesters im Studiengang Theaterpädagogik der HS Osnabrück/ Diese Aufhebung gelang uns gemeinsam an diesem Abend. Der Campus Lingen Generationsaustausch und der gemeinsame Rückblick auf die Wurzeln der Theaterpädagogik boten Anlass für aktuelle Dis- kurse bei den Zuschauenden. Ein mitgebrachter Videoausschnitt offenbarte Hans’ Steckenpferd: Kabarett bzw. Stegreiftheater. Angefangen in seiner Kieler Zeit gründete und betreute Hans Hoppe unterschiedliche Kabarett-Gruppen, wie z.B. „Die Ka- rikieler“ oder die „Widerhaken“ aus Siegen. Daneben leitete er das „Spielleiterseminar“ in Kiel und wechselte im Jahre 1979 an die Siegener Universität, wo er als Professor für Ästhetik und Kommunikation tätig war.

Jelka Likus und Sarah Kramer, Studierende des 5. Semesters im Studiengang Theaterpädagogik der HS Osnabrück/Campus Lingen

„Erzählcafé mit Kristin Wardetzky am 26.11.2013“ Rezensionen 87

Rezensionen REZENSIONEN

Sandra Anklam, Verena Meyer: Life.On Bezug zu jedem Individuum und der Gruppe. Und lese ich den Titel unter spiel- und thea- Stage., Handbuch Theatertherapie, Schibri So gehen sie auch auf die Selbstwirksamkeits- terpädagogischen Aspekten, dann akzentuiere Verlag 2013/14, ISBN 978-3-86863-117-3 kräfte individueller und kollektiver Art ein. ich natürlich das zweite Wort im Titel, näm- Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer treten lich „Spielen“. „Helden spielen“: Das kann so Zum Glück ist die Theatertherapie wieder um jeweils auf die Bühne, lassen sich öffentlich gelesen werden: Ich spiele (nur) den Helden / eine Publikation reicher! Es liegt ein praktisches sehen und setzten sich dem kritischen Blick die Heldin. Oder aber: Hier spielen Helden / Arbeitsbuch, das sich durch Literaturverweise des Publikums aus. In allen vier Fällen wer- Heldinnen. Wie heißt ist im „Wilhelm Meister“ auf die bestehende Tradition der Theaterthe- den sie und damit auch ihre Regisseurinnen von Johann Wolfgang von Goethe? „Wenn wir rapie bezieht, im Buchhandel vor. Und dies und gleichzeitig Theatertherapeutinnen sehr … die Menschen nur nehmen, wie sie sind, so sogar in deutscher Sprache. Hierin zeigt sich zu Recht beklatscht und gefeiert. machen wir sie schlechter. Wenn wir sie be- die fruchtbare Arbeit der Deutschen Gesell- Dieses Buch ist eine echte Bereicherung für handeln, als wären sie, was sie sein sollten, so schaft für Theatertherapie, die nun schon in die Theatertherapie. Der Mut, die Ausdauer, bringen wir sie dahin, wohin sie zu bringen einer fast zehnjährigen Tradition Theaterthe- die Kunst und die Kunde der beiden Autorin- sind“. Mit anderen Worten: Nehmen wir die rapeutinnen und -therapeuten in Deutschland nen diese Projekt nicht alleine durchzuführen, Kinder, die in einer kinder- und / oder theater- ausbildet. Die aus dieser Tradition kommenden sondern auch zu verschriftlichen und damit therapeutische Behandlung schon als Helden, Autorinnen Verena Meyer und Sandra Anklam einem größeren Publikum zur Verfügung zu also als vortreffliche Persönlichkeiten, dann wird greifen einen Teilbereich der jungen Disziplin stellen, verdient einen weiteren ganz beson- sich Glück als Heilung einstellen. der Theatertherapie auf, der sich nahe an der deren Applaus. Das Buch versammelt eine Reihe von Im- Theaterpädagogik bewegt. Johannes Junker puls-(Tier-)Kurzgeschichten, die zu Zuhören, Dieses Handbuch fächert die verschiedenar- Mit-Empfinden (auch ein stilles, gar ein verstei- tigsten Seiten eines Theatertherapieprojektes nertes Empfinden, ist eines), Nach-Empfinden auf: die theoretischen Grundzüge, die Ziele, die Norbert Knitsch, Sarah H. Kirsch: Helden und zu szenischem Spiel in der Kinder- und persönlichen Kompetenzen der Therapeutin- spielen. Theater-Therapeutische Kurzge- Jugendpsychiatrie anregen: Der Autor Norbert nen, die verschiedenen Phasen eines Projektes, schichten für Kinder. Leer 2013, 35 S., Knitsch nennt das Verfahren in Zusammenar- sowie gruppendynamische Aspekte. Diese Großformat, stark bebildert beit mit der Therapeutin Françoise Thierfelder Vielseitigkeit macht das Buch so lesenswert. (Hamburg) eine „Tiefendynamische Theater- Es ist nicht alleine eine Beschreibung von vier Eine kritische Bemerkung zuerst – m/eine zum therapie“ und die ärztliche Praxis ein kleines sehr interessanten und herausragenden und Titel „Helden spielen“. Ich bin mit dem Wort „Praxistheater“ – wobei der Begriff Theater an zum Teil prämierten Projekten, sondern auch „Held“ in nicht guter, nämlich kriegerischer seinen Ursprung als teatron und skene (Schau- deren Einbettung in das Gesamtkonzept der Bedeutung großgeworden, so dass ich den platz, [Be-]Handlungsplatz) zurückgeführt wird. Theatertherapie mit all ihren theoretischen und Begriff lieber vermeide als ihn – positiv – an- Die Kurzgeschichten, die dialogisch-szenisch, praktischen Bedingungen. Die schematischen zuwenden. Schaue ich aber nun in das Buch, auch entscheidungs-orientiert, zugespitzt ge- Zusammenfassungen der unterschiedlichen As- das den Begriff „Helden“ im Titel trägt, dann staltet sind, stammen aus der Praxis und aus pekte macht es auch in seinem theoretischen Teil kommt mir etwas sehr Ziviles und Humanes dem kindlichen Erzählschatz, denn „eigentlich sehr anschaulich und greifbar, die Autorinnen entgegen. Ja. Entgegen: als auf mich zu gehend. haben die Kinder die Geschichten geschrieben“. beschenken die Leser gar mit einem Manual Denn: In diesem Buch und in seinen metho- Ich fühlte mich erinnert an Fragestellungen, mit Übungen, Interventionen und Methoden dische Grundempfehlungen kommt mir eine die sich etwa Anna Freud in Bezug auf die am Ende ihres Buches. ursprüngliche und auch theatral-literarische – Möglichkeit der Begründung einer Kinder- Somit wird der Leser an die Hand genommen, positive – Bedeutung entgegen: Ein Held ist Psychoanalyse stellte: Mit den Empfehlungen um in einem bunten Streifzug durch die Land- jemand, der Glück hat (das Wort „heil“ steckt dieses Buches wird gewissermaßen im Vor- schaft der Theatertherapieprojekte zu machen. darin), der ein soziales, kulturelles Muster ist, Feld (bewusst auseinander geschrieben) der Dies mit all ihren Klippen und Gefahren, Po- der selbstbestimmt und vortrefflich ist. Und in (traditionellen) Kinder- und Jugendpsychiatrie tentialen, Chancen und Möglichkeiten. Ein der Theater-Literatur ist er eine Hauptperson, gearbeitet: Szenisches Erinnern beginnt, Selbst- Handbuch, das es einem als theatertherapeu- etwa ein Titelheld – also jemand, den besonde- Heilungskräfte werden im Spiel mit anderen tischen Leser in den Händen juckt, um es dem re Fähigkeiten auszeichnen (bis hin zum sog. erprobt, Ent-Eisungen / Verflüssigungen entste- gleich zu tun. Gleichzeitig wird auch deutlich „Anti-Helden“). Zugleich: Bei aller Wertschät- hen und machen zugänglich. Zugänglich vom welche Kunst und Kunde dahinter steckt, um zung des Begriffs in solchem Verständnis: Ich Ich zum Ich, vom Du zum Du, von du und ich. solche Projekte zu initiieren, zu konzeptiona- verwendete eben nur die männliche Form und Das therapeutische setting wird schon gestiftet lisieren, konkret zu planen, zu finanzieren, schrieb nicht: Heldinnen! Das ist eine Tradi- durch die Heldenhaftigkeit im kindlichen und durchzuführen und zu evaluieren. tion, die zu verändern wäre – möglich auch jugendlichen Spiel, das durch Kurzgeschichten Den beiden Autorinnen gelingt es eben- mit dem hier vorliegenden Buch; denn seine (s)eine Strukturierungen bekommt und auch so darzustellen in welchem Verhältnis diese Absicht ist, die Selbst-Bestärkung von Kindern eine öffnende Entdeckungs-und Entfaltungs- Herangehensweise im Ensemble der theater- zu fördern, sie als Hauptperson so schätzen, leistung sein kann. Der Verfasser findet dafür therapeutischen und theaterpädagogischen ihnen ihre Vortrefflichkeit zu geben – auch den Begriff „Selbstaktualisierung“. Methoden steht. Sie beschreiben die besondere wiederzugeben. An den Begriffshintergrund 1992 überreichte mir mein Kollege Kurt Eber- Art der Außenwirkung dieser Methode sehr an- von Glück und Heil wird durch das methodi- hard (ein Kinder- und Jugendpsychologie) sein schaulich und deren Wirkungen nach innen im sche Arrangement durch dieses Buch erinnert. Büchlein mit dem Titel „Fabeln statt Pillen“. 88 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Rezensionen

nämlich von 1948-1956 (ich benutze bewusst der Berichterstatter, der Erzähler stellt zur Ver- nicht die auch mögliche Redeweise: er lebte fügung, was er gesehen hat, was er recherchiert gut ein Zehntel dort; den so gut erging es ihm hat, was er weiß (und er zeigt sich als jemand, wahrlich nicht). Es sind außerordentlich pro- der berichtet und erzählt). duktive Jahre, und ich schreibe bewusst das Die Mühen der Ebene: Gemeinhin heißt es ja, Wort „produktiv“ im Zusammenhang von dass ein Sich-Bewegen auf der Ebene ein Leichtes Brechts Aktivitäten innerhalb der DDR; denn: sei. Da hat man die Rechnung ohne den Wirt „Produktion muß natürlich im weitesten Sinne gemacht bzw. ohne den Dialektiker Brecht. In genommen werden, und der Kampf gilt der Be- seinem Gedicht von 1949 „Wahrnehmung“ freiung der Produktivität aller Menschen von kontrastiert bzw. verbindet er „Mühen der allen Fesseln.“ Und: „Die Produkte können sein Gebirge“ und „Mühen der Ebene „. Also: Es Brot, Lampen, Hüte, Musikstücke, Schachzüge, gibt Mühen verschiedener Art. Auch das Flache Wässerung, Teint, Charakter, Spiele usw. usw.“ (doppelsinnig) hat seine Mühen, macht Mühe. (Brecht: BFA, Bd. 26, S. 468) Brecht zeigt Bertolt Brecht muss sich durch das Geröll der sich in diesen Jahren als ein kulturpolitischer Ebene quälen. Das wäre ein Bild für die „Mü- Akteur, der sich nicht scheut, intensiv etwa an hen der Ebene“. Und dadurch, dass Brecht auf der Kärrnerarbeit der Sitzungen der Akademie der Zweidimensionalität einer Ebene aktiv wird, der Künste teilzunehmen und mühsamen und bekommt sie eine dritte Dimension: Brecht als Wie der Titel schon anzeigt: Verschonen wir zugespitzten Schriftwechsel mit Funktionären, der Berg in dieser Planarität, diesem Flachland! Kinder mit Psychopharmaka, erzählen wir Regierungsstellen und Kulturkommissionen Alle Achtung! Sehr viel, sehr Einfallsreiches, ihnen (wieder) etwas! Auch sein Buch enthält verschiedener Art zu führen. Und natürlich: sehr Artistisches, sehr Kulturpolitisches, sehr literarische Muster – Fabeln – aber sie sollten er ist Autor, er ist Regisseur. Organisatorisches (nicht denkbar ohne die Prin- eher im Gestus des Erzählens verbleiben (Mo- Brecht in der DDR: produktiv zu sein, ist nicht zipalin des Berliner Ensembles: ) dell: Gute-Nacht-Geschichten …). Ein Spiel gemütlich. Werner Hecht liefert in seinem Buch innerhalb der wenigen Jahre, die Brecht in Ber- war nicht unbedingt intendiert. Das Stichwort kompakte Fallanalysen zum sozialen, kulturel- lin arbeitet! Und: Er muss Hierarchie-Ebenen „Fabel“ in seinen Buch-Titel verwies mich an len, politischen und künstlerischen Akteur BB beachten – ein schwieriges Unterfangen, auch den Philosophen Ernst Bloch, der empfahl, in einem Staat, in einer Gesellschaft, die sich für den gewieften Rhetoriker Brecht, so dass fabelnd, erzählend zu philosophieren, denn: gerade gründet. Brecht mischt sich ein in der ihm der befreundete Literaturhistoriker Hans „Sagen lassen sich die Menschen nichts, aber Form eingreifenden Denkens und denkenden Mayer (Leipzig) Christian Fürchtegott Gellerts erzählen lassen sie sich alles“ (so der Dramatiker Eingreifens. Wir erfahren in diesem Buch die „Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von Bernhard von Brentano und auch ein Buchtitel Gründungsgeschichten (ja, Plural!) eines eige- dem guten Geschmack in Briefen“ von 1763 von Richard Faber: Würzburg 2002): fabeln nen Theaters, Berichte zu Skandalen um die zukommen lässt: „Dort steht auch ausführlich und erzählen und spielen als Erkenntnisweisen, Oper „Lukullus“, um den „Urfaust“ und „Faus- geschrieben: ‚Man soll mit großen Herren in denen die Person eine wichtige Rolle spielt! tus“, von Streitigkeiten zu „Stanislawski oder nicht frey reden.‘“ – durchaus „demüthig und Das Buch „Fabeln statt Pillen“ von Kurt Eber- Brecht?“, zu Kontroversen über einen Auftritt ehrerbietig“ zwar, aber nicht „kriechend und hard hatte eher naturalistische Zeichnen zu des Sängers und Schauspielers sklavisch“. (S. 78) den Fabel-Texten. Das Buch „Helden spie- und die Herausgabe der „Kriegsfibel“. Das Werner Hecht beendet seine, wie er schreibt, len“ hat außerordentlich gelungene Bilder: Sie sind nur im engeren Sinne allein künstlerische „ungewöhnliche (Literatur-) Reise“ in die sind deutlich / undeutlich und ergänzen die Themen – es sind immer auch kulturpolitische „Beschaffenheit der ‚Ebenen‘„ so: „Nicht al- Kurzgeschichten … besser: Sie sind eigenstän- Auseinandersetzungen, die durchgestanden le Exempel, die uns vor die Augen kamen, diges spiel-generierendes, Entdeckungen und werden müssen. Und Brecht greift offensiv ein. waren Sehenswürdigkeiten, aber alle auf eine Phantasie förderndes Material: Die Künstlerin Die stärker politischen Vorfälle betreffen: Wie peinliche, mitunter fatale Art bemerkenswerte „Sarah M. Kirsch hat die Tier-Illustrationen wird ein Staatenloser, der Brecht war, wieder Vorkommnisse. Die Ebenen waren nicht leicht dieses Buchs zuerst malerisch skizziert. Dazu zu einem Bürger eines Staates (ein Staatenloser passierbar.“ (S. 304) verwendete sie fantasievoll Feststoffe aus Filz, wird Doppelstaatler)? Was bedeutet es, wenn Aus der Fülle des Materials, das Werner Hecht Papier und Pappe und kreierte aus diesen Mate- Arbeiter in einem ‚Arbeiter- und Bauernstaat‘ mit seinem Buch vorlegt, einige akzentsetzende, rialien kleine Kunstwerke. Dieser künstlerische protestieren und revoltieren, wie um den 17. sehenswürdige Vorkommnisse: Gestaltungsprozess erschuf die geforderte Tiefe Juni 1953? Was geschieht kulturpolitisch, sozi- 1948, im Dezember, entsteht das sogenannte für den therapeutischen Kontext, um den kom- alpolitisch, ökonomisch und im Kalten Krieg? „Theaterprojekt B.“ als Brechts Vorschlag für munikativen Transfer für die jungen Zuhörer Und welche eigensinnige Rolle kann eine Aka- ein neues Theater [verfasst unter Mitwirkung und Theaterspieler lebendig werden zu lassen.“ demie der Künste gegenüber der staatlichen und von , dem Intendanten des Bildende Kunst- und Theater-Spiel-Therapie parteipolitischen Administration spielen? Was Deutschen Theaters (S. 21)]. kommen mittels dieses Buchs und im Rahmen ist eine „Stakuko“ und wie wirkt/würgt sie? Erst 2005 wird diese frühe Konzeption eines des Arzt-Praxis-Theaters sensibel-produktiv Zu all diesen Fällen liefert der Autor Werner eigenen Brecht-Ensembles im Landesarchiv zusammen. Hecht ausführliches dokumentarisches Materi- Berlin in den Akten des Berliner Magistrats al, was z. T. erst neuerlich aus Archiven heraus in Schreibmaschinenschrift gefunden (S. 316): Gerd Koch gekommen ist. Es handelt sich um Briefe, Wort- „In einem nicht zu großen, verkehrstechnisch protokolle, Verfälschungen von Protokollen, günstig gelegenen Theater sollen eine Saison Abkanzelungen, Verdächtigungen, Rand-und lang Gastspiele stattfinden, und zwar solche Werner Hecht: Brecht und die DDR. Die Aktennotizen – also: Originalton. Man kann ausgezeichneter russischer, tschechischer, polni- Mühen der Ebenen. Berlin 2014 (Aufbau), sagen, dass durch den Verfasser Werner Hecht scher (usw.) Theater sowie Gastspiele emigrierter 362 S. (bebildert). eine Art Feature in Buchform vorgelegt wird; denn großer Schauspieler. Es hat sich gezeigt, daß Brecht und die DDR: Bertolt Brecht lebte nur der Autor ist als Erzähler, als Berichterstatter z. B. die Sowjetdramatik ohne die hoch ent- etwas mehr als ein Zehntel seiner Lebenszeit anwesend, getreu der brechtschen Straßenszene wickelte Spielweise des Sowjettheaters nicht in der DDR respektive sowjetischen Zone, (einer Ursprungsszene des epischen Theaters): adäquat dargestellt werden kann ... Für solche Rezensionen 89

Rezensionen

Gastspiele muß das Theater im Stande sein, en am Ende öffneten die französischen Bühnen- weiter, und zwar vornehmlich in so unterschied- suite zu spielen. Geplant sind 3-4 Stücke wie techniker über ihr ein Netz, aus dem Hunderte lichen Bereichen wie der freien experimentellen Gorkis Schelesnowa, ein Stück von Lorca, eines von Rosenblüten auf die Bühne fielen. Eine Theaterszene und der theater- und literatur- von O‘Casey, eines von Brecht. Nötig ist ein Schauspielerin am Ende ihrer Laufbahn inmit- wissenschaftlichen Forschung. Zu letzterem ständiges Ensemble von 20-25 Schauspielern, ten von Rosen!“ (S. 273). Einen Monat später gehören die drei hier rezensierten Publikationen in dem ebenfalls einige Schauspieler aus der stirbt Helene Weigel. Am 12. Mai, ihrem 71. auf sehr unterschiedliche Weise. Schweiz und den USA … sein sollten ... Das Geburtstag, findet die Beerdigung statt. „Eine Fischborns Essay ist eigentlich ein Hacks- und Ensemble soll aber von Anfang an auch allein Kolonne des Ministeriums für Staatssicherheit Müller-Buch, und die Kontrastierung und spielen, indem es Kindertheater macht ... das fotografiert Hunderte von Pkws, die in der Nähe Parallelisierung dieser beiden Protagonisten Ensemble (soll) an modernen Stücken eine re- des Friedhofs parken. Aufgrund der Autokenn- des DDR-Dramas führt auch zu einigen neu- alistische neue Spielweise ausbilden, mit der es zeichen werden die Besitzer ermittelt“ (S. 274). en interessanten Sichtweisen, insgesamt aber im zweiten Jahr … Modellaufführung herstellen 1955: Als Student in Leipzig hat der Autor scheinen mir persönlich die Müller-Passagen kann, mit denen es selber in Deutschland gas- Werner Hecht in Berlin an einem Gespräch im relevanter. Fischborns Collage-Essay steht für tieren kann. Die Arbeiten des Theaters sollen Berliner Ensemble mit Brecht teilgenommen. eine moderne Schreibweise, aber letztlich ist von Anfang an von einem kleinen Archivbüro Ein Student fragt Brecht: „Meinen Sie, daß das der Wissenschaftsdialog (siehe Galilei, Brecht rekordiert, publiziert und den Provinzbühnen epische Theater auch in der Zukunft möglich etc.) doch eine altbekannte Form und auch die zugänglich gemacht werden ... Vorträge von sein wird?“. Die Frage schien Brecht zu gefal- (sprechenden?) antiken Namen Procedio und Marxisten, sowie eine Theaterbibliothek und len: „Seine Antwort bereitete ihn sichtliches Oppolonius der Protagonisten weisen weit in Abonnements ausländischer Theaterzeitschrif- Vergnügen. Er sprach leise und freundlich, for- die Vergangenheit zurück. In Procedio vor allem ten …. Das Theater sollte administrativ einem mulierte mit Bedacht, mitunter etwas spitz: ‚Ob lässt sich dabei unschwer der Autor Fischborn großen Theater wie dem Deutschen Theater das epische Theater das Theater der Zukunft selbst mit seinen persönlichen Erfahrungen und angeschlossen sein, damit ein Austausch von sein wird, weiß ich nicht. Es gibt meines Wis- theoretischen Positionen erkennen: „Das hier Schauspielern möglich ist ... Entscheidende sens keine genaue Beschreibung der Zukunft. soll ein persönliches Büchlein werden“ (S. 10). Vorarbeit muß getan werden zur Gewinnung Auf keinen Fall ist das epische Theater eine In zehn Dialogen mit einigen eingeschobenen eines Arbeiterpublikums, besonders der Ju- Übergangserscheinung, denn vollkommene Fragmenten entwickelt der Autor zum Teil gendlichen. (Nötig: ein kleines Werbebüro mit Beziehungen zwischen den Menschen kön- sehr anschaulich die differierenden Haltungen einem Publizisten ...)“ (S. 20/21). nen nie eintreten, weder im Kommunismus von Müller und Hacks und schüttet auch die Hier haben wir einen sehr frühen Vorschlag noch in den darauf folgenden Phasen. Sonst „Schützengräben“ nicht zu, in denen der „’Hacks- aus Brechts Schaffen in Ost-Berlin, der davon müßte man jede Entwicklung leugnen. Auch Clan’“ und die „’Müller-Mafia’“ seit den 1970er zeugt, dass konzeptionell und pragmatisch im Theater muß das Prinzip der Entwicklung Jahren und heute immer noch „sitzen“ (S. 11). zugleich gedacht wird in dieser Zeit. Anfor- angewendet werden‘„ (S. 307). Inhaltlich geht es in den Gesprächen um die derungen der „Berge“ und „Ebenen“ werden Werner Hecht hat ein dokumentarisch belegtes DDR, den Kommunismus und „möglichst kurz“ gleichermaßen bedient. Geschichtsbuch vorgelegt – natürlich eines für um den Stalinismus, um die „Intellektuellen“, 1954: Premiere des „Kaukasischen Kreide- Theaterleute – und auch eines für die, die sich um das Menschen- und Geschichtsbild von kreis“ mit dem Berliner Ensemble im Theater so sehr fürs Theater nicht interessieren; denn Müller und Hacks sowie schließlich um ihre am Schiffbauerdamm in der Regie von Bertolt wir erfahren Geschichte(n) aus der Mitte des Arbeitsweise und um Gattungsfragen. Dabei Brecht. Brechts Stück und seine Inszenierungen 20. Jahrhunderts – exemplarisch im doppelten erfahren die Leser und Leserinnen Interessan- entsprechen nicht dem kulturpolitisch vor- Sinne: als typische Abläufe und als beispielhafte tes über die (frühe) Müller-Rezeption in der herrschenden Theateransatz – benannt nach Abläufe, Vorkommnisse um eine faszinieren- DDR und finden viele konzentrierte Kurzin- Stanislawski. Folge: Diffamierung des Brechts- de und nicht gleichgültige Persönlichkeit des terpretationen und Kommentare zu Texten und chen Theaterschaffens [siehe sehr kompakt, zwanzigsten Jahrhunderts. Textstellen von Müller und Hacks. Hacks’ Sta- materialreich und zeitgeschichtlich eingebettet linismus und Müllers Auseinandersetzung mit die Dokumentation des produktiven Umgangs Gerd Koch der RAF und dem Terrorismus, mit „Selektion“ Brecht mit der Methode Stanislawskis (S. 147 und „Gnade“ (6. Dialog), Tod und Revoluti- ff.)]. Brecht beteiligt sich nicht öffentlich an on in „Mauser“ (7. Dialog) werden dargestellt den Diskussionen. Er notiert sich aber: „Wie Es müllert weiter – drei unterschiedliche und ausführlich wird über die Umstände des soll eine Linde mit jemandem diskutieren, der Sichtweisen Biermann-Protestes und die Reaktionen der ihr vorwirft, sie sei keine Eiche“ (Brecht: BFA, SED berichtet. Auch überrascht die gewagte Bd. 23, S. 314). Gottfried Fischborn: Peter Hacks und Heiner These, Müller „sei vor allem ein Dichter der 1955: Das Berliner Ensemble gastiert in Paris Müller. Essay-Collage. Mainz: VAT 2012. deutschen Arbeiterklasse“ (S. 118). Schließlich und bekommt für Stück und Inszenierung 181 S. (ISBN 978-3-940884-72-5) wird Hacks Klassik-Position und sein Komödien- den 1. Festivalpreis. Mit dem großen inter- Konzept sowie Heiner Müllers „romantisches“ nationalen Erfolg geschieht der Durchbruch Bernd Maubach: Auskältung. Zur Hörspieläs- (?) Doppelgänger-Motiv etwa im Fahrstuhltext dieser neuen Art, Theater zu machen, und thetik Heiner Müllers. Frankfurt a. M.: Lang („Der Auftrag“), das Verhältnis von Lehrstück Brecht gewinnt Reputation in der DDR (ein 2012 (=Medien – Literaturen – Sprachen in und proletarischer Tragödie im Rahmen von Ge- Jahr vor seinem Tod). Anglistik/Amerikanistik, Germanistik und schichtsphilosophie und Gattungsentwicklung Wer über „Brecht und die DDR“ und über Romanistik, Bd. 13). 367 S. + CD (ISBN diskutiert. Auch Müllers Stellung im Kontext „Die Mühen der Ebenen“ schreibt, muss über 978-3-631-62096-0) des angeblich unpolitischen postdramatischen Helene Weigel schreiben! Und Werner Hecht Uwe Schütte: Urzeit, Traumzeit, Endzeit. Theaters wird kritisch beleuchtet, was zum tut das in aller Deutlichkeit und mit begrün- Versuch über Heiner Müller. Wien: Passagen Widerspruch herausfordert: Trotz mancher deter Hochachtung! 2012. 195 S. (ISBN 978-3-7092-0057-5) Beliebigkeit hat sich inzwischen gezeigt, dass 1971: Wieder Paris, im Vorort Nanterre: Helene das postdramatische Theater im Sinne Jean-Luc Weigel in der Rolle der Pelagea Wlassowa in Heiner Müllers Stücke werden zurzeit zwar Godards sicherlich keine traditionelle politische Brechts Stück „Die Mutter“: „Der Auftritt … kaum noch in deutschen Stadt- und Staats- Kunst ist, wohl aber radikale Kunst auf politi- bleibt unvergessen: 20 Minuten Beifall, und theatern gespielt, aber dennoch „müllert“ es sche Weise macht. 90 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Rezensionen

So gibt es viele anregende und manche zum stein einer integrierte[n] Mediengeschichte“! (S. führen in der Tat zu neuen Sichtweisen, aber Widerspruch herausfordernde Dialog-Passagen; 25) Unter „einem medienspezifisch justierten sie ‚huschen’ zum Teil auch über die Texte weg insgesamt stellt sich allerdings die Frage, wer Blickwinkel“ werden deutlich „neue Aspekte“ (nicht bei Mauser und der Bildbeschreibung). dieses „Büchlein“ lesen wird: Vermutlich doch (S. 338) herausgearbeitet, etwa „Der Lohn- Bisweilen hätte ich mir ein Verweilen bei einem nur die, die wirklich Interesse an Heiner Müller drücker“ als „Hybridtext“ von „Drama und Text, einen ‚längeren Atem’ bei einer Interpre- und Peter Hacks im Kontext von DDR und Hörspiel“ (S. 338). Sowohl Brecht als wichti- tation gewünscht und nicht die schnelle Folge ihrem Scheitern haben. ger Anknüpfungspunkt als auch die politischen einer Assoziation nach der anderen. Manche Konflikte in der DDR werden dabei ebenso mit- neue Kombination zeigt sich dabei in der Tat „Auskältung“, der Titel von Maubachs Publi- einbezogen wie die Analyse der Differenz von produktiv, bei anderen Wechseln von Thema kation, ist ein befremdlicher Begriff von Heiner Hörspieltext und Theaterstück. Vor allem wird und Text hatte ich allerdings mehr den Ein- Müller und doch bezeichnet er sehr genau eines die Geringschätzung von Müllers Hörspielarbei- druck eines Zettelkastens. Auf jeden Fall wird der spezifischen Verfahren, das auch grund- ten in der bisherigen Forschung überwunden. der Rezipient im Lesestrom mitgerissen und sätzlich für das postdramatische Theater von Müllers „Dramaturgie der Überschwemmung“ würde doch gern mal eine Pause machen, ei- einiger Bedeutung ist. Die vorliegende Unter- (S. 299) nicht als eine Theater-Ästhetik des ne „Lücke“ im Sinne Müllers finden, um in suchung der Hörspielästhetik Heiner Müllers Rauschs, sondern als produktive Störung der der Unterbrechung Distanz zu gewinnen und ist einerseits eine typische, allerdings sehr gute Erwartungshaltung der Zuschauer im Sinne Zeit zur Reflexion zu erhalten. ‚Wildwüchsig’, Dissertation (Kiel 2011) und so auch vor allem von Auswahl und Entscheidung, von Neugier interessegeleitet und innovativ in seinem „Blick- für Müller-Experten und Hörspiel-Interessierte und Distanz steht für zentrale Aspekte des winkel“ ist dieser Essay aber allemal. von Interesse. Andererseits geht diese Publi- postdramatischen Theaters. kation insofern über diesen speziellen Bereich Florian Vaßen hinaus, als sie auch grundlegende Fragen der Einen dritten Ansatz präsentiert Schütte mit Intermedialität von Hörspiel und Theater so- seinem kulturanthropologischen Essay, ein wie Aspekte des postdramatischen Theaters „Versuch über Heiner Müller“, geschrieben Anja Klöck (Hg.): The Politics of Being on genauer betrachtet. parallel zu seiner Dissertation, sozusagen als Stage. Hildesheim/Zürich/New York: Olms In den ersten drei Kapiteln beschäftigt sich der „wildwüchsiges Pendant“. Um Müllers Texte 2012 (= ”Felix Mendelsohn Bartholdy“ Verfasser mit der Literaturgeschichte des Radios nicht „einer interessenlosen Literaturwissen- Leipzig – Schriften, Bd. 4) [293 S. ISBN und mit Intermedialität (Kap 1), mit Heiner schaft zu überlassen“ (S. 171), wählt Schütte 978-3-487-14805-5] Müllers „Radiotheorie und Hörspielästhetik“ – „abseits gängiger Interpretationsansätze“ (S. (Kap. 2) und mit dem „Hörspiel als dramatische 4) – einen „bisher vernachlässigten Blickwin- „The Politics of Being on Stage“ – was für ein Kunstform“ (Kap. 3). Im Folgenden werden die kel“ (S. 171). Er nähert sich Müllers Texten in vielversprechender Titel! Aber ich muss geste- drei Etappen der Hörspiel-Arbeit von Müller einer „assoziativ vorgehende(n) Analyse“, die hen, ich hatte einige Mühe bei der Lektüre und genauer untersucht: zunächst auf fast 100 Seiten „um Stichworte wie Mantik und Kannibalismus bin letztlich mit diesem Sammelband von 12 die frühen Texte „Der Lohndrücker“, Korrek- oder Opfer und Verausgabung, sowie um das Beiträgen, einem Gespräch und einer längeren tur“ und „Klettwitzer Bericht 1958“ in ihren Traumzeitdenken der Australischen Aborigines“ Einführung der Herausgeberin, fußend auf verschiedenen Hörspiel- und Theater-Fassungen, – in Bezug auf Müllers Bildbeschreibung – und dem Symposium „The Politics Being on Sta- deren „Materialstudium“, „Medienwechsel“, „Re- „das Schweigen als Urgrund des Theaters, das ge“ an der Hochschule für Musik und Theater alisierung“ und Rezeption (Kap. 4). Die zweite Kainsmal als Urschrift“ „kreist“ (S. 4). Der “Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig 2010, Phase, die Kinder- und Kriminal-Hörspiele Aspekt des Todes und der Blick zurück, „die nur punktuell zufrieden. Die mir unbekann- von 1962/1963 des inzwischen in der DDR anatomische Obsession“ „die Wiederkehr des te Theaterinszenierungen etwa aus Schweden „verfemte[n] Autor[s]“ Heiner Müller (S. 187), Gleichen als eines Anderen“ (Müller: Werke Bd. (Texte von Brigitta Johansson, Tiina Rosenberg, wird in ihrer unterschiedlichen Relevanz etwa 10, S. 335), Schrei und Schrecken, aber auch Rikard Hoogland) oder Litauen (Ruta Maze- in ihrem Verhältnis zum „Philoktet“-Modell Erfahrung als Gegenbegriff zum Verstehen bei ikiene) blieben für mich schwer zugänglich, oder zu Brechts Radio-Lehrstücken sehr genau Müller, seine ‚andere’ (?), surreale Tragödien- und Heide Lazarus’ Spurensuche in Bezug analysiert, womit der Verfasser wissenschaftli- konzeption und der Mythos als Prozess sowie auf Rudolf Penka, Schauspiellehrer und von ches Neuland betritt (Kap. 5). Die letzte Phase Topologie und Rhythmus werden in vielen Ein- 1962-1975 stellvertretender Leiter der Hoch- schließlich beinhaltet Heiner Müllers Regiear- zelinterpretationen von Müllers Theatertexten, schule für Schauspielkunst in Ostberlin, oder beit bei den Hörspiel-Produktionen von „Die Prosa und Lyrik sichtbar und neu akzentuiert. nochmals ein Aufsatz von Michal Kobialka zu Hamletmaschine“ und „Fatzer“ (Kap. 6). Hier Die rituelle Sprachstruktur von Mauser wird Tadeusz Kantor haben allenfalls mein histori- wird insbesondere die „Auskältung (S. 53), die ebenso hervorgehoben wie Traum und Trance, sches Interesse geweckt. Die Heterogenität der radikale Trennung der Elemente in Weiterent- Tiermetaphern und -vergleiche und damit das Themenwahl, die z. T. hohe theoretische Ver- wicklung von Brechts epischem Theater, die Schamanentum in seiner „Nähe zur künstle- dichtung und das Ganze in englischer Sprache ‚kalte’ Sprechweise und Fremdheit der Texte, rischen Performance“ (S. 133). Besonders die ohne deutsch-englische Abstracts haben mir den deren „Widerstandspotential“ (S. 309) gegen umfangreiche Interpretation der Bildbeschreibung Zugang zudem erschwert. Also konzentrierte Theater und Rundfunk und damit die „Störung mit ihrer „Bewegung einer Dezentrierung“ (S. ich mich bei der Lektüre auf einzelne Beiträge. der gängigen Rezeptionsmuster“ (S. 311) im 144) und ihrer Verbindung von Mensch und In dem ersten Abschnitt „Acting and Beeing: Rahmen der Ästhetik des postdramatischen Landschaft, Tod und Schuld sowie ihrer spe- Politics of Theories and Practices“ hat mich Theaters diskutiert. Müller baut „Widerstände ziellen Opfer- und Täter-Konstellation zeigt besonders Kati Röttgers Text „The Actor in the gegen einen gar zu einfachen Transformations- Bezüge zu vorindustriellen oralen Kulturen Age of Cloning“ interessiert, weil die Spannung prozess auf die Bühne in den Text“ (S. 304) ein. etwa den australischen Aborigines. zwischen Darsteller und Figur, besonders in den Damit schließt Maubach, auch wenn er die Schütte basiert seine Müller-Lektüre auf Nietz- Überlegungen in Denis Diderots „Das Paradox vielen bedeutenden Hörspiel-Adaption von sche, Spengler, Freud, Brecht, T.S. Eliot, auf des Schauspielers“, in Zusammenhang gebracht Müllers Theatertexten unter fremder Regie, Blumenberg und Bohrer, aber auch auf ethno- wird mit der Technologie der technischen Re- etwa von Heiner Goebbels, ausklammert, eine logische und kulturanthropologische Autoren produzierbarkeit des Menschen, des Klonens. erhebliche Lücke in der Forschung zu Heiner und entschlüsselt derart viele intertextuelle Be- Das Paradox des Bildes („fact and fiction“ S. 38) Müller und präsentiert einen wichtigen „Bau- züge in Müllers Texten. Schüttes Assoziationen sowie – noch stärker – das Paradox des Körpers, Rezensionen 91

Rezensionen the „fast and fiction […] in the same ‚body’“ ral part of the cognitive life of the university“ Drama und Theater – zwei Einführungen (S. 42) eröffnen neue Dimensionen: Es geht werden. „It will mean forging new, producti- auch für die Theaterpädagogik nicht mehr um die Darstellung des Menschen ve relations between artistic creativity and the „representing a human Being“, sondern um das creative work of the sciences and engineering“ Michael Hofmann: Drama. Grundlagen – „Being a human Being“, „the Being of the actor (S. 116). Sie zeigt nicht nur, dass “practice as Gattungsgeschichte – Perspektiven. Unter in terms of theatricality.“ (S. 45) research (PAR)” zumindest in England zuneh- Mitarbeit von Miriam Esau und Julian Kan- Der Text von Willmar Sauter „Roles and Selves: mend wahrgenommen und akzeptiert wird, ning. Paderborn: Fink 2013 (= UTB 3864). Actorship in Need of Acting Theories“ knüpft indem „the range of means of expression“ (S. [207 S. ISBN: 978-3-8252-3864-3] hier an, indem er deutlich macht, dass Theater 131) zunimmt, sondern dass es so auch mög- Andreas Kotte: Theatergeschichte. Eine heute zunehmend nichts anderes als sich selbst lich ist, gegen „the dominant social and cultural Einführung. Köln/Weimar/Wien: Böhlau repräsentiert, „theatre presents his own world“ systems“ des Kapitalismus „alternative realities 2013 (=UTB 3871). [434 S. ISBN: 978-3- (S. 47); an die Stelle von „Als-ob“ tritt „Als“. and futures“ (S. 132) zu schaffen. 8252-3871-1] Nachahmung und Verdopplung sind nicht mehr Wolf-Dieter Ernsts beschließt mit seinem Bei- von Bedeutung, und der Begriff „actorship“ trag „“Actor’s Training, Rehearsal Practice and Im letzten Jahr sind zwei neue Einführungen bezieht sich nicht mehr auf die „traditional ac- Body Politics in Postdramatic Theatre. The Case in das Drama bzw. in die Theatergeschich- tors“, sondern „to all kind of agents Being on of René Pollesch’s Ping Pong d’Amour (2009)” te erschienen, die sich – dem Gegenstand stage“ (S. 17), das sind Schauspieler, Performer, den zweiten Abschnitt. Er untersucht, die not- entsprechend je unterschiedlich – mit dem politische Sprecher, Geistliche, Pressesprecher, wendigen Kompetenzen des Schauspielers im Bereich Drama/Theater in neuer Weise ausei- Richter etc. (vgl. S. 57). Er spricht von „players“, postdramatischen Theater und zeigt, dass die nandersetzen. Studierende der Germanistik, d.h. „(Schau-)Spieler[n]“, und „role-playing“ Schauspielausbildung und ihre Methoden stark der Theaterwissenschaft und des Darstellen- und stellt die Frage: „Can we think of an ov- im 19. Jahrhundert verwurzelt sind, geprägt vor den Spiels/Theaters, aber auch Lehrerinnen erarching theory that covers these deverging allem durch Julius Heys Sprach-Lehrbuch und und Lehrer, theaterpädagogisch Tätige und aspects of presenting, imitating, playing, or ac- die daraus folgende Publikation „Der kleine Theater-Praktikerinnen und -Praktiker sollten ting?“ (S. 50) Theatralität und Performativität, Hey“. Selbstdisziplin, im Sinne von „discipli- diese beiden Publikationen unbedingt in ihre vom Verfasser kurz in ihrer Genese dargestellt, ning the body in terms of speech-gymnastics“ Handbibliothek aufnehmen. charakterisiert und verglichen, sind für ihn als (S. 20), dominiert, so die These von Ernst, Michael Hofmann gelingt es in seiner Unter- Begriffe nicht mehr hinreichend, und statt die weiterhin die Schauspielausbildung, obwohl suchung, gegliedert in drei Basismodule, sechs verschiedenen Arten von Spielen („playing“) zu “the exemplary dramatic dialogue, which con- Aufbaumodule und zwei Erweiterungsmodule, unterscheiden, plädiert er für die Betonung ihrer tinuously advances the action on stage as well den komplexen Bereich Drama als Gattung, Ähnlichkeiten. Er betont: “A role is created as a as the narration, is no longer considered the in seiner Historizität und seiner Perspektive collaborative effort of those participating in an dominant dramatic form” (S. 185). Der Autor klar, übersichtlich und verständlich darzustel- act of playing – the player and the spectator“ fragt deshalb, wie muss ein Schauspieler einen len. Sicherlich kann man über die Gliederung (S. 55). Dazu kreiert er den neuen Begriff „ac- “’non-conversional dramatic discours’” sprechen, nach Modulen streiten und auch die Fragen tatorship“ (S. 47). Zusammen bilden „agents“ und beobachtet eine bewusste Hinwendung am Ende der Module und deren Beantwortung und „beholders“ einen „cultural event“ (S. 57), des postdramatischen Theaters zu „a certain im „Antwortteil“ sind gewöhnungsbedürf- eine Erweiterung von „theatrical event“ (S. 58), dilettantismus“, d.h. zu nichtprofessionellen tig. und Teil des Spielens („playing“), innerhalb Spielern: „these ‚actors’ do things they were Abbildungen, Register und Literaturhinweise dessen verschiedene Formen von Kommuni- not trained for” (S. 186). (jeweils nach den Kapiteln) sind dagegen sehr kation stattfinden können: „sensory, aesthetic Kurz erwähnt sei noch der Text “De-Sultifying hilfreich, auch wenn es gut gewesen wäre, and symbolic levels“ (S. 63) und „differences Spectatorship in the Theatre of the Oppressed” wenn die Handbücher etwa zu Goethe, Schil- between full awareness and accidental contacts“ von Sruti Bala, in dem die Aktivierung des ler, Kleist, Büchner, Brecht, Müller, gesondert (S. 62). Sauters Schlussfolgerung lautet: “Acting Zuschauers im Forumtheater hin zum „spec- auf einer Seite aufgeführt, etwas mehr Platz für theories for the twenty-first century will require tactor“ mit Rancière als eine Reduzierung der spezifische Forschungsliteratur gelassen hätten. a flexibility that surpasses by far the assump- Aktivitäten des Zuschauers verstanden werden. Inhaltlich sind die einzelnen Kapitel (Module) tion of mimesis, representation, or pretense. Vielmehr sei die Haltung des Zuschauers an auf der Grundlage der aktuellen Forschung sehr The cultural event is the modest suggestion of sich schon eine sehr vielschichtig aktive und differenziert und überzeugend in ihrer Dar- a future of theorizing actatorship” (S. 63). Die die Trennung in passive Zuschauer und aktive stellung und Argumentation. Die Leserinnen Erweiterung des Schauspielers zum Agierenden Schauspieler von Grund auf problematisch. und Leser erfahren wirklich das Wichtigste der auf der Bühne ist ein interessanter Versuch, Sehr Lesenswert ist schließlich das Gespräch Gattung Drama, die „Grundzüge der Dramen- neue Theater- und Performance-Formen des mit dem 2011 ermordeten Regisseur Juliano analyse“ und der „Dramentheorie“. Ausgehend 21. Jahrhunderts bei der Analyse zu berücksich- Mer Khamis des Freedom Theaters im paläs- von Aristoteles werden Tragödie und Komödie, tigen, ob damit aber die spezifische ästhetische tinensischen Flüchtlingslager Jenin. geschlossene und offene Form, dramatisches Qualität theatraler Ereignisse angemessen erfasst Obwohl es bei diesem Sammelband nicht um und postdramatisches Theater ebenso über- wird, muss sicherlich noch genauer untersucht politisches Theater geht – was immer das ist zeugend analysiert wie Struktur, Figurenrede, werden – Zweifel sind angebracht. – die politische Dimension ist doch allgegen- Figuren und Handlung sowie die verschiedenen Aus dem zweiten Abschnitt “Politics of Training: wärtig, wenn auch differenziert, teilweise sehr Aspekte der Tragödien- und Komödientheorie Traditions, Institutions, Promises” scheinen mir heterogen oder sogar unpraktikabel erweitert, und deren Entwicklung. Dabei bilden Struk- Elaine Astons Überlegungen in ihrem Text „Crea- denn natürlich sind „all moments of someone turanalyse, historische Darstellungen und tive Futures/Creating Futures: Close Encounters being on stage within and together with a specific exemplarische Interpretationen in der Regel of the Practice Kind” wichtig, in dem sie über community […] potentially political” (S. eine sehr gelungene Einheit. die enge Zusammenarbeit von Künstlern und 10). Aber was heißt das? Erst konkretisiert wird Die sechs Aufbaumodule bieten einen Wissenschaftlern nachdenkt, die Probleme und das Politische greifbar und dafür bietet dieser „intensive[n] Überblick über die Geschichte Möglichkeiten, auch im Sinne der Ausbildung Sammelband immerhin einige gute Ansätze. des Dramas“, vermeiden dabei jeden Anschein von „practitioner-scholars“ (S. 127), aufzeigt und eines „überhistorische[n] Modell[s]“ und vermit- mit Rokem fordert, dass die Künste „an integ- Florian Vaßen teln so „die heute nicht mehr selbstverständliche 92 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

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Kenntnis wesentlicher Beispiele der deutschen Theatergeschichte von Andreas Kotte. War- Verhältnis von Theater und Medien. Während und europäischen Dramengeschichte“. Die um anders? Nun, der erste Satz gibt Auskunft: die beiden ersteren aus veränderter Sichtweise Gliederung „Antike Tragödie und Klassizis- „Dieses Buch widmet sich den Problemen (Her- zu wirklich neuen Ergebnissen und Perspektiven mus“, „Shakespeare“, „Komödie“, „Bürgerliches vorhebung F.V.) der Theatergeschichte und der führen, die ich sehr anregend und lesenswert Trauerspiel und soziales Drama“, „Geschichts- Theatergeschichtsschreibung.“ (13), d.h. auch fand, scheint mir letztere doch etwas marginal drama“, „Drama der Moderne: Brecht, Beckett, und vor allem dem „Widerspruch und der zu bleiben, was für die heutige Diskussion be- Weiss“, berücksichtigt die wichtigsten, auch „Reibung zwischen Realprozess und Reflexion“ sonders bedauerlich ist. Gleiches gilt leider auch nicht deutschsprachigen europäischen Bereiche, (16). Da aus „Datenmangel“ über die vergange- für das Kapitel über das 20. Jahrhundert, das auch wenn hier – wie zumeist bei Kategorisie- nen Jahrhunderte im 20. und 21. Jahrhundert nicht nur mit Abstand das kürzeste ist, sondern rungen – einige Kompromisse nötig sind, bzw. „Datenüberfluss“ wurde, kann es nicht mehr sich trotz wichtiger Aspekte (Theatralisierung ‚weiße Flecken’ entstehen. So fehlt das wichtige um „Theatergeschichte als Ereigniskette“ ge- der Gesellschaft, Regieoffensive, kollektive Drama des Sturm und Drang mit Lenz, Klinger, hen, sondern um eine „Theaterhistoriographie, Experimente, Theater als Störung, multiple dem jungen Goethe und dem jungen Schiller; die Lesarten der Probleme sowie Anstöße zu Räume) auch auf punktuelle Darstellungen im Kleist passt mal wieder in keine ‚Schublade’ überfälliger Forschung bietet“ (19). Rahmen der Frage nach der „Ausdifferenzierung und erscheint mit seinem „’Antiklassizismus’“ Im Gegensatz zu den bisher vorliegenden zehn- von Theater“ (373) reduziert. (S. 74) unter „Klassizismus“ bei Ausblendung bändigen oder den sehr kurzen, nicht einmal 200 Die Theaterwissenschaft ist im Laufe des 20. des „Prinz von Homburg“; bei Goethe fehlt Seiten umfassenden Publikationen, handelt es Jahrhunderts eine eigene Wissenschaft geworden, „Faust I“ und „Faust II“, der allerdings als mul- sich bei Kottes Theatergeschichte auch um eine sie hat sich als eine der drei Kunstwissenschaften timediales und ‚prämodernes’ Alterswerk auch Auseinandersetzung mit den „Diskursen über fest etabliert, ja sie erfreut sich besonders großer zu keiner Kategorie gehört und vermutlich den Theater“ als Grundlage der Theaterhistoriografie, Beliebtheit. Das Theater ist im Zusammenspiel Rahmen dieser Einführung gesprengt hätte. geprägt vor allem „aus zwei Forschungsrichtun- von „Akteuren und Schauenden“ gleichwohl Das erste Erweiterungsmodul „Vom Drama zur gen, aus der Literaturwissenschaft sowie aus immer noch „Handarbeit“, es „ist nach wie Aufführung“ setzt sich vor allem am Beispiel der Architekturgeschichte“ und gebündelt in vor nicht reproduzierbar, nicht speicherbar, „der Aufführungs-, das heißt der theatrali- einem unproduktiven „Mainstream“ der letz- arg begrenzt wirksam, zuweilen nicht mehr- schen Wirkungsgeschichte Schillers“ mit dem ten Jahrzehnte (14). heitsfähig, fortschrittsresistent und vor allem zentralen Aspekt des Verhältnisses von Drama Hinzu kommt – wie in vielen historischen nicht in Informationen beziehungsweise Daten und Theater auseinander (Schauspieltheorien Wissenschaften – die ungelöste Frage der Peri- wandelbar“ (403). von Diderot, Stanislawski und Brecht). Die odisierung: Kotte wählt die „zurückhaltendste“ Theaterwissenschaftlerinnen und -wissen- Relevanz dieses Abschnitts hätte jedoch noch Form, „jene nach Jahrhunderten“, verstärkt schaftler und ebenso Theaterpädagoginnen und gesteigert werden können, wenn die traditio- durch „Titel mit Orientierungscharakter“ (19f.). -pädagogen sollten beides berücksichtigen und nelle Rezeptionstheorie erweitert worden wäre In sieben etwa gleich umfangreichen Kapiteln dabei auch die historische Komponente, etwa um die „Zuschaukunst“, wie Brecht es nennt, vom „Theater vor dem 5. Jahrhundert“ über Mimus und Narren, Guilleria und Commedia um den Zuschauer als Ko-Produzenten, so „Christentum und Theater vom 5. bis 16. dell’arte, nicht außer Acht lassen. In der Aus- wie Heiner Müller es darlegt: Das „Drama Jahrhundert“, „Humanismus und Commedia einandersetzung mit Theatergeschichte wird entsteht nur zwischen Bühne und Zuschauer- im 15. und 16. Jahrhundert“, „Die Welt als besonders klar ersichtlich, „dass weder die Welt raum, und nicht auf der Bühne.“ Das zweite (k)eine Bühne – das 17. Jahrhundert“, „Na- eine Bühne ist noch alle Theater spielen, und Erweiterungsmodul „Das Drama des Anderen“ tionaltheater und Hoftheaterpraxis – das 18. schon gar nicht immer.“ Denn: „Es gibt ers- greift am Beispiel der Medea-Dramen (Heiner Jahrhundert“ und „Theaterreformen und -re- tens Vorgänge ohne einen spielerischen Anteil, Müllers Medea-Texte fehlen leider) die zuneh- former – das 19. Jahrhundert“ bis zum „Mythos zweitens solche, die keineswegs hervorgehoben mend wichtige Frage des Eurozentrismus und Ausdifferenzierung – das 20. Jahrhundert“, ein sind, und drittens solche, denen beides fehlt“ des Postkolonialismus auf; hier hätte unter deutlich kürzeres Kapitel, beschreibt, reflektiert, (374) – und nur die „Kombination von hervor- Umständen das interkulturelle oder – wie es problematisiert Kotte den „Wandel“, nicht die gehoben und konsequenzvermindert generiert neuerdings heißt – das postmigrantische The- „Entwicklung“ des Theaters und zeigt, „wie szenische Vorgänge“ (28). ater ebenso wie die Genderperspektive etwa in Theaterformen synchron und diachron inei- Elfriede Jelineks Theatertexten Erwähnung fin- nander übergehen“ (18). Florian Vaßen den können. Vielleicht aber wäre statt dessen Kotte bezieht sich in der Binnenstruktur der auch ein drittes Erweiterungsmoduls sinnvoll Kapitel explizit auf Rudolf Münz’ immer noch gewesen, in dem mit Beispielen von Müller, nicht genug bekanntes und deshalb wenig ver- Leopold Klepacki / Jörg Zirfas: Theatrale Jelinek, Pollesch (die beiden letzteren fehlen wendetes Theatralitätskonzept (S. 21), d.i. in Didaktik. Ein pädagogischer Grundriss des ganz, Müller taucht verteilt an verschiedenen der Terminologie von Hulfeld Lebenstheater, also schulischen Theaterunterrichts. Weinheim Stellen auf) und anderen performativen, post- „Darstellungen im außerkünstlerischen Bereich“, / Basel: Beltz / Juventa 2013 [209 S. ISBN dramatischen, postmigrantischen Theatertexten Kunsttheater, Theaterspiel als „Gegenströmun- 978-3-7799-1271-2] (nicht Dramen) die wichtigen neuen Tenden- gen“, die Lebens- und Kunsttheater in Frage zen der letzten Jahre konzentriert vorgestellt stellen, und Nichttheater in Form von Theater- „Theatrale Didaktik” lautet der viel verspre- worden wären. ablehnung. Als Ergänzung fügt der Autor noch chende Titel dieser handlichen (gar nicht so All diese ergänzenden und zum Teil auch kriti- das „Nebeneinander von Theaterformen’“ und umfangreichen) Neuerscheinung; sie nimmt schen Hinweise hätten sicherlich den Umfang der die „äußeren Aufführungsbedingungen“ (22) als ihren Ausgang u.a. in der sicherlich richtigen Publikation um vielleicht 30 Seiten vergrößert, fünften und sechsten Abschnitt hinzu. Derart These, dass es einen „strukturelle(n) Unter- was bei gut 200 Seiten aber nicht bedeutsam wird sowohl „das exemplarische Herangehen“ schied“ gibt „zwischen ‚dem’ Theater und gewesen wäre, und es hätte trotz der jetzt schon als auch eine Vergleichbarkeit der jeweiligen Theater als Unterricht“ (106). Um es gleich gegebenen großen Qualität die Brauchbarkeit Jahrhunderte ermöglicht. vorweg zu nehmen, die Lektüre wirft dazu ei- dieser Einführung noch etwas erhöht. Kottes „Überblick befragender Art“ konzentriert ne Reihe wichtiger Fragen auf, etwa wie weit sich vor allem auf drei Fragen: die nach dem die Didaktisierung von Theater gehen kann „Dieses Buch ist der Neugier gewidmet.“ So Ursprung des Theater, die nach dem Theater- bzw. soll und wie verhindert wird, dass damit lautet der letzte Satz dieser etwas anderen vakuum von 530 bis 930 und die nach dem die Komplexität und Vielfalt der Kunstform Rezensionen 93

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Theater verloren geht oder zu weit reduziert formelhaften Beschreibung vom Kompetenzen Musikunterricht mit Schulliteratur, Schulkunst wird bzw. ihre nicht systematisierbaren Anteile soll das Theater als Lern-, Bildungs-, Unter- oder Schulmusik beschäftigt. ausgegrenzt werden. Welche Beziehung sollten richtsprinzip, -medium und -gegenstand ganz Gleichwohl sind die Fragen wichtig: „Was also Didaktik und Theater in der schulischen besonders in den Blick kommen, damit die ist, worin besteht, wie ereignet sich und was Bildung miteinander eingehen? Inwieweit ist die didaktische Perspektive auf den Gegenstand behandelt Theaterunterricht und zu welchem Kunstform Theater überhaupt ‚didaktisierbar’? prägnant zum Ausdruck gebracht wird“ (38). Zweck wird er vollzogen?“ (85). Im Zentrum Was unterscheidet diese „Theatrale Didaktik“ So weit, so gut - oder doch nicht!? stehen „(t)heatrales Wissen-Lernen, theatrales von einer Dramen- und Theaterdidaktik sowie Die „Didaktischen Selbstverständlichkeiten“ in Wahrnehmen-Lernen und theatrales Können- einer performativen Didaktik? In welchem Kapitel I (40-47) sind durchaus von grundle- Lernen (also Theaterspielen-Lernen)“ (89), mit Verhältnis stehen dabei Theorie und Praxis gender Bedeutung, vor allem „das Lernen über, Helmar Schramm: Semiosis, Aisthesis und Ki- zueinander? Welche der spezifischen Chancen das Lernen für bzw. zum, das Lernen im und nesis (vgl. 87). Weder die banale Feststellung, und Möglichkeiten theatraler Bildung sind auch das Lernen durch Theater“ (44), was in Ab- dass „es ’das Theater’ nicht gibt“ (92), noch auf andere Fächer übertragbar? schnitt fünf von Kapitel III (111-120) noch der Rekurs auf Erika Fischer-Lichte und An- Aber der Reihe nach. Die Studie ist in sechs weiter ausgeführt wird. Hier wären allerdings dreas Kotte, zwei der wichtigsten Vertreter der Kapitel gegliedert, plus Einleitung und um- konkrete Überlegungen hilfreich gewesen, wie derzeitigen Theaterwissenschaft, helfen jedoch fangreichem Literaturteil. Die 33-seitige diese Lernbereiche sich zueinander verhalten, bei der Erörterung „des Theater(spiel(s)) als „Einleitung“ (7-39) ist nach meiner Meinung respektive ob es in Bezug darauf nicht unter- theoretisch-systematisch und historisch zu behan- keine ‚Einführung’, die dem Leser den Zugang schiedliche Aspekte und sogar Gewichtungen delnde Kunstform“ (91) wirklich weiter. Über das zum Thema erleichtert. Stattdessen werden recht gibt. Ist das Lernen im Theater nicht von be- „Problem der Stofffülle“ und das „Prinzip des abstrakt zunächst eine ganze Reihe theoretischer sonderer Bedeutung, das Lernen durch Theater Exemplarischen“ (95) muss sicherlich gesprochen ‚Fallstricke’ beiseite geräumt. So konstatieren dagegen ein zusätzlicher Gesichtspunkt und werden – wie in jedem Deutsch-, Kunst- oder die Autoren gleich zu Beginn, dass sie „unter besteht das Lernen über, für und zum Theater Musikunterricht, aber muss deshalb wirklich Didaktik nicht die paradoxale Idee einer prak- nicht eher in Grundlagenarbeit? eine „Reduktion“ und „Restrukturierung“ (94), tischen Wissenschaft“ verstehen und dass das Weiterhin von Bedeutung in Kapitel I sind Segmentierung (vgl. 102) und „Sequenzierung“ „theatrale didaktische Wissen (…) ein Refle- die Leiblichkeit (41), der nicht vorhersehbare (107) stattfinden? Und muss die „Vermittlung xions-, Beurteilungs- und Risikowissen, kein und planbare „Eigensinn“ des „Theatrale(n) theoretischen Wissens“ (88) als „erste mögliche Handlungswissen“ sei (7). Das ist eine überra- Lernen(s)“ (45), die „liminalen Differenzsitu- Artikulationsvariante des Gegenstandes“ (91) schende Eingrenzung, zumal es eine Seite weiter ationen“ und „Übergangsfigurationen“(46); wirklich von der zweiten, den „subjektive(n) heißt: „Erst die Trias von didaktischem Wissen, ebenso wichtig sind „Pädagogische Bezugs- kunstförmige(n) Aisthesis-Vorgänge(n)“, dem didaktischer Wahrnehmungsfähigkeit und di- horizonte des Theaterunterrichts“ in Kapitel „Thematisch-Werden der Sinne“ bei der „Auf- daktischer Performanz […] spiegelt das gesamte II (48-78), wie die „Habitustransformation“ führungsanalyse“ (96), getrennt werden? Und didaktische Anforderungsprofil an den Lehren- (48). Aber die ausführlichen Anmerkungen zu wird schließlich „die Form des produktiv ori- den wider“ (8). Hier wäre sicherlich genauer „Erziehung, Entfaltung, Lernen und Bildung“ entierten Theaterunterrichts“ (101), ob nun in zu klären gewesen, was für ein Wissenschafts- führen erneut sehr weit weg vom eigentlichen Form von „Grundlagenarbeit“ oder als „Arbeit begriff dieser widersprüchlichen Trennung von Theaterunterricht. an der Aufführung“ (101) nicht entscheidend Theorie und Praxis zu Grunde liegt. Wenn im Berliner Rahmenlehrplan von von den – im übrigen ebenfalls produktiven - Im Folgenden finden sich dann die ver- „’lebenslange(m) Lernen’“ und von „’durch Neu- Erfahrungen des Theatersehens geprägt? schiedensten Erklärungen von Didaktik gier und Interesse geprägte(m) Handeln’“ die Die Diskussion über „Mimesis“ und über „the- und „Bindestrich-Didaktiken“ (9), von Rede ist - „’Fehler und Umwege werden dabei atrale Authentizität“ als eine immer ästhetisch „pädagogische(r) Grundlegung“ (12) und als bedeutsame Bestandteile von Erfahrungs- produzierte, über „schwellenhafte Existenz“ und „Funktionen der Didaktik“ (12), von „Allge- und Lernprozessen angesehen’“ -, dann hat das Erfahrungen des Fremden, über Kontingenz meiner Didaktik und Fachdidaktik“ (15), von nichts mit „Optimismus“ oder gar „unendliche(r) und die „Kunstform der Probe“ sowie schließ- Dramen- und Theaterdidaktik, theatraler und Naivität“ (78) zu tun. Es verweist vielmehr auf lich über „Krisen“ im Theaterspielen, in dem performativer Didaktik. Letztlich hat sich mir eben jenen offenen, experimentellen Charak- „Menschenbilder ausprobiert und aufs Spiel hier nicht erschlossen, warum die Autoren zum ter von Probenprozessen, den die Autoren an gesetzt werden“ (vgl. 122-128f.), im Abschnitt einen nicht präzise von einer Theaterdidaktik, anderer Stelle selbst als Mehrwert gegenüber „Spezifika der didaktischen Artikulation von vergleichbar etwa mit der Deutschdidaktik oder anderen Lernformen hervorheben. Theater“ ist dagegen sehr sinnvoll. Am Ende der Musik- und Kunstdidaktik, von denen Etwa in der Mitte der Publikation befindet sich des Kapitels geht es schließlich um die „Mög- sicherlich manches zu ‚lernen’ gewesen wäre, das Kapitel III „Theater als Unterrichtsgegen- lichkeit einer allgemeinen Struktur prozessualer und zum anderen nicht von einer performati- stand“ (79-135). Es ist am umfangreichsten und Ausgestaltung praktischen Theaterunterrichts“ ven Didaktik für alle Fächer sprechen. Was ist konzentriert sich auf den eigentlichen Gegen- (130), speziell um Projektunterricht und mög- das für „eine spezifische Mittlerposition“ der stand, Theater als „dritte Seite des Didaktischen liche „Grenzen der Didaktisierbarkeit der „Theatralen Didaktik“ (22)? Dreiecks“ (79). Dabei geht es den Autoren um Kunstform Theater“ (134). Die Aufteilung in drei „Gegenstandsebenen: „Verfachlichung“ (79) und „Überführung der Bei Kapitel IV „Theaterunterricht im Blickwin- Theaterspiel in der Schule, Theaterunter- Kunst des Theaters in den ästhetischen Un- kel der Allgemeinen Didaktik“ (136-165) ha- richt, Theater als Unterrichtsmethode“ (24) terrichtsgegenstand Theater“ (81). Die Frage be ich mich erneut gefragt, was die sicher- ist sinnvoll, der relativ lange Abschnitt über ist auch hier: Was wird wie ‚überführt’? Un- lich zutreffende Differenzierung in eine das „Verhältnis von Didaktik und Methodik“ terwirft sich das Theater bedingungslos und „Bildungstheoretische Didaktik“, eine „Lehr- verkompliziert allerdings erneut den Zugang uneingeschränkt den ‚Zwängen’ der Schule, und Lerntheoretische Didaktik“, eine „Kom- zur eigentlichen Thematik. wie groß ist der (künstlerische) Freiraum und munikative Didaktik“, eine „Konstruktivis- Wohl gemerkt, wir sind noch immer in der kann sich nicht auch die Schule durch das tische Didaktik“, eine „Neurodidaktik“, eine „Einleitung“, die nicht nur wegen ihres Um- Theater verändern? Für problematisch halte „Bildungsgangsdidaktik“ und eine „Erfahrungs- fangs eher wie ein ‚Hindernis’ am Anfang steht! ich zudem die Rede vom „Unterrichtsgegen- didaktik“ zu der Diskussion einer „Theatralen Immerhin endet sie mit dem Ausblick, „gegen- stand Schultheater“ (83), den es wohl ebenso Didaktik“ bzw. für das Verhältnis „Theater über der derzeit vorherrschenden Tendenz zur wenig gibt, wie sich der Literatur-, Kunst- und und Didaktik“ (165) beiträgt. 94 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Rezensionen

Im Kapitel V „Pädagogische Perspektiven des die männliche Form gemeinsam; Seite 37 z. Hingreifen oder gar zum Kauf entscheiden, da Theaterunterrichts“ (166-180) wählen die B. schreiben die Autoren „Schülerinnen und ich mein Rezensionsexemplar frei Haus geliefert Autoren aus gutem Grund die drei Bereiche Schüler“, eine Seite weiter sprechen sie dann nur bekommen und sogleich erwartungsvoll das In- Reflexivität, Erfahrung und Präsentation aus. noch von „Schüler(n)“ (vgl. besonders S. 120f). haltsverzeichnis aufgeschlagen hatte. Und um Bei ersterem konzentrieren sie sich auf die So weit, so gut? Ich denke, die Autoren wol- den Inhalt soll es im Folgenden ausschließlich spezifische „Verschränkung von Realität und len zu viel auf einmal, deshalb die eigenartige gehen, denn dieser quasi zweite Blick macht Fiktionalität“ (174), auf den daraus folgenden Verschränkung von einer Theaterdidaktik für wirklich neugierig. „konsequenzverminderten Raum des (Schul-) den Theaterunterricht und einer performativen Der Herausgeberin Almut Küppers und den Theaters“ (176) und die „Inszenierungen, in den Didaktik allgemein für die Lehrerbildung zu Herausgebern Torben Schmidt und Maik Wal- Ego sich als Alter – ggf. mit anderen – vor ande- einer „Theatralen Didaktik“. Der Bezug zur ter ist es gelungen, mit ihrer Auswahl von sehr ren und für andere darstellt“ (176). Erfahrung Allgemeinen Didaktik und ihren verschiede- vielgestaltigen, anschaulichen und gut nach- (der zweite Bereich) entsteht als „Gestaltung nen theoretischen Ansätzen ist dabei für die vollziehbaren Beiträgen zu aktuellen Studien, und (...) Transformation von Ich und Welt in konkrete Fragestellung nur bedingt hilfreich; neuen Konzepten und Forschungsprojekten ihrer gerade nicht kalkulierbaren, kontingen- die von den Autoren betonte Trennung von einen exemplarischen und differenzierten ten und dadurch bildenden Wechselwirkung“ Theorie und Praxis basiert auf einem spezi- Überblick zu geben, wer, wo, was, wie an (177). In „Differenzsituationen und -prozes- fischen Wissenschaftsverständnis und führt szenischen, performativen und anderen Akti- sen“ entstehen „Irritationen und Formen von insbesondere im Kontext von Pädagogik als vitäten zur Förderung des interkulturellen und bewältigbaren fremden Erfahrungen“ (178). Erfahrungswissenschaft und Theater als Erfah- ästhetischen Lernens in der aktuellen Fremd- Schließlich die Präsentation „gegenüber anderen rungskunst in eine problematische Richtung. sprachenvermittlung existiert. Darstellern im Kontext einer Bühnensozialität Vielleicht wären auch einige anschauliche Bei- Das Herausgebertrio eröffnet seinen Band mit und (…) mit anderen Darstellern gegenüber spiele hilfreich gewesen, anstatt in immer neuen einer bemerkenswerten und Lust auf mehr einer Zuschauersozialität.“ (180). Formulierungen, zumeist eingeleitet durch das machenden Einleitung, in der zum aufregend Als Schlusskapitel geben die Autoren in Kapi- stereotype „Anders formuliert: (…)“, theoreti- changierenden Begriff Inszenierung im Wandel tel VI einen „Ausblick: Auf dem Weg zu einer sche Überlegungen vorzutragen. der letzten vier Jahrzehnte knapp und kompe- performativen Didaktik“ (181-198), in dem Mit großen, vielleicht zu großen Erwartungen tent informiert wird. Besonders leserfreundlich, sie ausdrücklich auf die „leibliche Gebunden- bin ich an die Lektüre dieser Didaktik heran- weil hervorragende Orientierung bietend, ist heit von Unterricht“ (183) „als performatives gegangen, musste mich aber im Folgenden aus die als Fließtext formulierte Vorstellung aller Handlungssystem“ (190) mit „mimetischen und mancherlei Gründen mühsam durch den Text Beiträge. Auch am Ende des Bandes wird diese performativen Elemente(n)“ (195) in einem kämpfen. Die Autoren haben viele wichtige As- gute Idee mit einer Ratschlags- und Übungs- „inszenatorischen Rahmen“ (193) hinweisen pekte dargestellt und gute Anregungen gegeben, fundgrube für eigene Inszenierungsvorhaben und damit völlig zu Recht eine grundlegende aber insgesamt scheint mir diese „Theatrale fortgesetzt: den Stepping Stones der Theater- Veränderung der Lehrerbildung in allen Fä- Didaktik“ in die falsche Richtung zu gehen, methoden und Dramapädagogik. Bereichert chern einfordern. „Für das Verständnis von da sie mit ihrem Beschreibungsmodell den und ergänzt wird all das noch durch die spe- Unterricht sind deshalb seine soziale Ereignis- Theaterunterricht eher begrenzt und reduziert zifischen Literaturverzeichnisse der einzelnen haftigkeit, seine kulturelle Bedeutsamkeit und als ihn zu öffnen und produktiv zu machen. Autorinnen und Autoren. seine Performanzbezogenheit von elementarer Was diese Didaktik dennoch bewirken wird, ist Der mit Grundlagen überschriebene erste Wichtigkeit“ (190). Diesem „Ausblick“ auf ei- eine intensive Diskussion um den Theaterun- Buchabschnitt untermauert mit drei theoretisch ne grundlegende „performative Didaktik“ in terricht, seine Theorie und Praxis – und seine fundierten Aufsätzen zu Anforderungen, die an der Lehrerbildung kann ich in jeder Hinsicht Didaktik, eine hiermit eröffnete kontroverse eine performative (Fremdsprachen)-Didaktik zustimmen. Diskussion, die ganz sicher zur weiteren Klä- in Unterricht und Lehrerausbildung zu stel- Soweit der Versuch einer Präsentation der vor- rung grundsätzlicher Fragen beitragen wird. len sind, die unter Formen und Perspektiven liegenden Studie zur „Theatralen Didaktik“. laufenden Beiträge. Den Anfang macht zur Darüber hinaus gibt es jedoch noch ein paar Florian Vaßen Freude der Rezensentin das Oldenburg-Cor- ärgerliche Kleinigkeiten, Wort- und Sprachun- ker „dramapädagogische Urgestein“ Manfred geheuer wie Kontingenzformungskompetenz“ Schewe mit seinem Plädoyer für eine per- (127) oder „Vermittlungsleiblichkeit“ (196), Almut Küppers, Torben Schmidt, Maik formative Lehr- und Lernkultur. Vom sehr drei aufeinander folgende Genetive in einem Walter (Hrsg.), Inszenierungen im Fremd- Persönlichen, über die Bestandsaufnahme des Titel (130), Sätze, die z.B. über 17 Zeilen gehen sprachenunterricht. Grundlagen, Formen, Konkreten hin zum Grundsätzlichen kommt (86f.) und dabei nicht nur wegen ihrer Län- Perpektiven. Bad Heilbrunn: Klinkhardt er in seinem Appell zu einem überraschenden ge schwer verständlich sind, unterschiedliche 2011. 232 S. (ISBN 978-3-7815-1788-2) Begriff, der in der aktuellen Bildungsdebatte Schreibweisen, man findet „theatrale Didaktik“ bislang keine Erwähnung fand: Verzauberung und „Theatrale Didaktik“ im Wechsel (siehe „Körperlose Kinderbeine werfen grüne Schat- – verzaubern - das durfte bislang nur der u.a. 20 und 22), außerdem Unklarheiten. Wa- ten“, hätte einer der 15 viel versprechenden Cirque du Soleil. Schewes Bezug ist dann rum ein einziges Mal ein zusammenfassender Titel des Bandes „Inszenierungen im Fremd- auch nicht in der fremdsprachendidaktischen grau unterlegter Kasten? (102). Und: Hilft sprachenunterricht“ lauten können. Tatsächlich Fachwissenschaft zu finden, sondern bei Erika uns Victor Turners kulturanthropologische war es jedoch lediglich der trockene Kommentar Fischer-Lichte, der Grande Dame der Theaterwissen- Differenzierung zwischen „Liminoidität“ und eines Kollegen zur Optik des Bucheinbandes. schaft. „Liminalität“ (125) in der theaterpädagogischen Ja, warum eine Rezension zu ganzheitlichem, All jene, denen es schon gelungen ist durch Diskussion wirklich weiter? Schließlich das lei- möglichst viele Sinne einbeziehenden Unterricht szenisches Arbeiten die Magie des Theaters in dige Gender-Problem: Zugegeben, es gibt damit nicht einmal mit dem ersten Blick beginnen. Klassen- oder Seminarraum zu locken, werden immer wieder Schwierigkeiten, aber so willkür- Ehrlich gesagt, hatte ich nicht einmal erkannt, ihm ohne Einschränkungen zustimmen, dass lich, wie in diesem Buch damit umgegangen dass auf dem blau-grünen Einband ein Vo- ein durch die Kunstform Theater inspirierter wird, habe ich es selten erlebt – in der Regel gelperspektivenfoto verwandt worden war, Unterricht in der Lage ist, Glücksmomente wird hier nur die männliche Form verwendet, das Teilansichten von kurzbehosten Kindern oder gar Sternstunden zu bescheren, die „die aber manchmal eben auch die weibliche und zeigt. Aber ich musste mich auch nicht zum (eigene) Welt wieder neu verzaubern.“ Die Rezensionen 95

Rezensionen vorerst nur Interessierten möge es zum Aus- des SecondLife und last but not least Flippin wie jedes andere Theater und zusätzlich noch probieren anregen. In - ein multimediales Gesamtkunstwerk im weitere. Es gibt den Wunsch, Stimmen zu Andreas Bonnet und Almut Küppers schließen Rahmen einer Mixed Method Design Studie. Gehör zu bringen, die im konventionellen passgenau mit ihrem detaillierten Tauglich- Susanne Evens exemplarisch ausgewählter Theater nicht zu hören sind, Themen zu ver- keitsvergleich von Kooperativem Lernen und Beitrag zeigt wie facettenreich und motivati- handeln, die selten behandelt werden. Und Dramapädagogik an. Ihr schlüssig und fak- onsstiftend eine dramatische Umsetzung von es gibt den Wunsch, dass durch interaktive tenreich hergeleitetes Fazit: Beide sind keine Wissenserarbeitung im Grammatikunterricht Forumtheaterprozesse die Gemeinschaft einen „Feiertagsmethoden“, sondern bieten auf alltags- gestaltet werden kann. Auf zehn Seiten gelingt Dialog über Lösungskonzepte für schwieri- tauglichen Wegen „ein enormes Potenzial zur es ihr, flott formuliert und gut nachvollzieh- ge Themen, mit denen sie zu kämpfen hat, Entwicklung interkultureller Handlungskom- bar am Beispiel von Wechselpräpositionen im führen wird. Wie eine Produktion von Ro- petenzen“ in der Fremdsprache und überhaupt. Deutsch-als–Fremdsprache-Unterricht ihre meo und Julia ist es dennoch Theater. Wie Abgerundet wird der Grundlagenabschnitt von Dramagrammatik in einem 6-Phasenmodell jedes gute Theater hat es therapeutische Adrian Haack und Carola Suhrkamp, die auf die darzustellen und spritzig zu veranschaulichen, Wirkung“ (S. 81). Bedeutung dramapädagogischer Methoden in wie Lernende einzeln und im Gruppenprozess David Diamond, 1981 Mitbegründer und der Lehrerausbildung verweisen und folgerich- erleben, dass Denken und Spielen das Ying seit 1984 künstlerischer Leiter von Headlines tig dafür plädieren, dass “kreative Spontaneität und Yang des Lernens sind. Und was Schafe, Theatre, das sich seit 2012 nach der Methode auch im Lehramtsstudium trainierbar“ sei, Böcke, Käfer und Kafka damit zu tun haben, Theatre for Living nennt, leitete mehr als 400 da nur so angehende Pädagogen in die Lage wird an dieser Stelle nicht verraten. gemeinwesenspezifische Theaterprojekte zu versetzt würden, die erworbene reflektieren- Mit Ingrid Stritzelbergers Beitrag Dreams and Themen wie Rassismus, Bürgerbeteiligung, de Methodenkenntnis in der eigenständigen Reality möchte ich mottostiftend abschließen. Gewalt, Sucht, Generationskonflikte, Globa- Durchführung von dramapädagogischen Sie erzählt, wie in einer Stuttgarter Oberstu- lisierung und Obdachlosigkeit. Seine Arbeit Projekten produktiv und für die Lernenden fenklasse aus der Frage “What do you need führte ihn durch Nordamerika und Europa, stimulierend anzuwenden. to be happy?” ein Projekt zu Lebensträumen aber auch nach Namibia, Ruanda, Australien, Die dann folgenden Beiträge zum konkre- entsteht, das nach einem halbjährigen pro- Brasilien und Singapur. Diamond zählt zu ten Arbeiten im Englisch- oder Deutsch- als jektartigen Unterricht unter Einbeziehung von denjenigen, die mit Forumtheaterprodukti- Fremdsprache-Unterricht an der Schule oder 7 Kurzgeschichten aus dem Abiturkanon, au- onen renommierte Preise gewinnen konnte, in der Lehrerausbildung an der Universität - sei tobiografischen Statements, Elterninterviews, darunter den City of Vancouver‘s Cultural es als alltägliche Praxis oder im Rahmen von Recherchen zur Entwicklung englischer wie Harmony Award, die Ehrendoktorwürde des Projekten - zeigen, dass die im Grundlagenteil außereuropäischer Identitäten und Einbin- University College of the Fraser Valley sowie aufgeführten Erfordernisse - trotz wenig för- dung von außerschulischen Partnern in eine den Otto René Castillo Award für politisches derlicher Rahmenbedingungen innerhalb der multimediale Inszenierung in englischer Spra- Theater. Diamond hat seine Erfahrungen und Bildungsinstitutionen - auch heute schon auf che mündet, die im ebenfalls mitbeteiligten seine speziell entwickelten Zugänge, Leit- vielfältigste Art umgesetzt werden können. Das ethnologischen Museum vor vielköpfigem motive und Methoden in seinem 2007 bei sollte den Zurückhaltenden Mut machen. Ein Schüler- und Elternpublikum aufgeführt wird. Trafford Publishing erschienen Buch Theatre Aspekt, der dabei besonders ins Auge fällt und Besonders hervorzuheben für den gesamten for Living dargestellt. Der Theaterpädagoge über das Immanente des kooperativen Lernens Arbeitsprozess sind einerseits die aufgezeigten und Politologe Armin Staffler hat das Buch hinausgeht ist: die Kooperation mit und Öff- Möglichkeiten, sich neue, andere Lernorte au- ins Deutsche übersetzt und damit ermöglicht, nung hin zu Partnerinnen und Partnern auch ßerhalb des Klassenraums zu erschließen und dass es einer breiteren Leserschaft zugänglich und gerade außerhalb der eigenen Institution. andererseits die gewandelte Lehrerrolle, indem wird – und das aus gutem Grund, verbindet Genannt werden zum Beispiel Lehrer verschie- Schüler selbst bestimmt Verantwortung für In- das Theater zum Leben doch die theatrale Kunst dener Fächer einer Schule, Schüler desselben halt und Gestaltung übernehmen und aus dem des Geschichtenerzählens mit dem Potenzial Jahrgangs in verschiedenen Ländern, Lehrer ehemaligen „Kontrollturm“ Lehrer „je nach für soziale und politische Veränderungen. und Hochschullehrer, Schüler und Studenten, Phase Experte, Moderator oder Coach“ wird. Diamond adaptiert mit dem Theater zum Hochschullehrerin und Regisseurin, Schule/ Dieses Mutmachbuch regt immer wieder zu Leben die Methoden Augusto Boals für die Universität und Theater, Schule/Universität leisem oder lautem Lachen an, erzeugt ein war- Herausforderungen heutiger Gesellschaften und Museum. Allein diese Aufzählung lässt mes Gefühl ums Herz, inspiriert zu eigenen und orientiert sich dabei besonders an der gleich andere neue Kooperationsideen im Ideen und stärkt die Überzeugung, sich noch Systemtheorie Fritjof Capras, der einer me- Kopf entstehen. selbstbewusster Theater verhindernden Sach- chanistischen Weltsicht jene eines lebendigen, Über den Tellerrand schauen, Perspektiven zwängen entgegenzustellen. Es gehört auf den sich selbstregulierenden Systems gegenüber- wechseln, miteinander arbeiten, voneinander Schreibtisch sowohl der „Frischlinge“ als auch stellt. Diamond bezieht seine partizipative lernen, gemeinsam zum Ziel gelangen, sich an der „alten Hasen“ eines Theater inspirierten und prozessorientierte Theaterarbeit in viel- kollektiven Erfolgen freuen: das ist mehr als ei- Unterrichtes – nicht nur in der Fremdsprache. fältigen Communities auf diese Perspektive ne Subbotschaft dieses Buches. Jeder einzelne Capras, indem er „Gemeinschaften bestärkt Beitrag hätte es verdient, gesondert vorgestellt Doris Krohn und darin befähigt“, die „Sprache des Thea- zu werden, was aus Platzgründen aber leider ters (…) zu verwenden, um ihre Geschichten unterbleiben muss. zu erzählen, um neue Kommunikationswege Neugierig möchte ich aber machen auf David Diamond, Theater zum Leben. Über zu eröffnen und sich schwierigen Problemen Sprachstadtgründer, Handpuppe Timmy aus die Kunst und die Wissenschaft des Dialogs zu stellen“ (S. 28 f.). Denn für Diamond sind der Wohnkiste, die aufeinander treffenden in Gemeinwesen. Übersetzt von Armin Staff- Gemeinwesen lebendige Organismen, die sich Generationen X und Harry Potter, Schüler ler. Mit einem Vorwort von Fritjof Capra. Ausdruck verschaffen, die aber es aber ‚verlernt’ motivierende schauspielernde Studenten, den Stuttgart: ibidem-Verlag 2013. 400 S., ISBN haben, ihre kollektiven Geschichten zu erzählen. doppelten Shakespeare mit einem gymnasialen 978-3-8382-0255-6. Umso mehr kann das Theater als symbolische Fighting Hamlet und einem Realschul-Othello, und ursprüngliche Sprache eine Bühne für das Improvisationen zu IKK mit Bend it like Beck- „Theater, das aus Themen und einem Prozess Gemeinwesen werden, um dessen Geschichten ham, scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten der Gemeinschaft erwächst, hat dieselben Ziele wertzuschätzen und zu erzählen, 96 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Rezensionen

„Geschichten des lebendigen Gemeinwesens, Dualität von Unterdrücker und Unterdrücktem ff.), der das jeweilige Ensemble aus der Com- die uns helfen zu erkennen, dass es auf un- überwunden werden soll: munity dabei unterstützt, die für sie wirklich serem kleinen Planeten kein ‚wir’ und keine „Die Figuren sind nicht länger Unterdrü- relevanten Themen und Anliegen in kunstvolles, ‚anderen’ gibt. Wie es im Forumtheater der cker und Unterdrückte. Die Figuren sind zu bedeutsames, emotional berührendes Theater Fall ist, müssen wir zur Einsicht gelangen, Mitgliedern der Gemeinschaft geworden, die zu transformieren, mit dem der Dialog in der dass unsere Geschichten auf komplexe Art in unterschiedlichen Auseinandersetzungen jeweiligen Communities eröffnet und ermöglicht mit den Geschichten anderer verknüpft sind. verstrickt sind, sich anstrengen, bemühen und werden kann. Zwei Fallstudien zu Projekten Wir müssen begreifen, dass die Entscheidun- miteinander oder mit sich selbst kämpfen. in First Nation Communities illustrieren in gen, die wir treffen und die Taten, die wir (…) Die Einladung im Theater zum Leben der Folge diesen Prozess vom Workshop zu setzen, die öffentlichen und die privaten, lautet, sich an den Auseinandersetzungen zu den Aufführungen auf eindrucksvolle Weise. nicht nur uns und unser engstes Umfeld beteiligen, die wir auch als unsere eigenen Sie sind auch Beleg dafür, dass Diamond zu betreffen, sondern Menschen, Situationen Auseinandersetzungen erkennen, nicht um einer Vielzahl von Erkenntnissen durch die und Orte jenseits der von uns angenomme- die Unterdrückung zu durchbrechen (das Zusammenarbeit mit First Nations gelangt nen Grenzen. Wir alle sind Handelnde (und loszuwerden, was wir nicht wollen), sondern ist, mit denen ein großer Teil seiner Projekte Schauspieler/innen) in unserer universellen um ein gesundes Gemeinwesen zu gestalten konzipiert und realisiert wurde. Dies wird aus- kollektiven Geschichte“ (S. 337). oder Sicherheit oder Respekt zu erlangen (das führlich anhand der Projekte Out of Silence (S. Diese Prozesse bewusstzumachen und zu verste- zu erreichen, was wir wollen)“ (S. 62 f). 165 ff.) und Reclaiming our Spirits (S. 186 ff.), hen und dabei eigene Handlungsmöglichkeiten Die Idee des lebendigen Gemeinwesen wird bei denen Zusammenhänge von (familiärer) wahrzunehmen, ermöglicht das Theater zum in der Folge mit den Begriffen der Autopoesis Gewalt mit Erfahrungen in den kanadischen Leben auf vielschichtige Weise. Diamond zeigt (S. 64 ff.), dem Zusammenhang von Mustern Residential Schools thematisiert werden, in de- sich in diesem Buch als Lernender, der die Kon- und Strukturen (S. 66f.) untermauert und mit nen Generationen von First-Nation-Kinder zeption des Theaters zum Leben fortwährend der spezifischen Herangehensweise an Com- und -Jugendliche auf brutale und gewaltsame modifiziert, adaptiert und weiterentwickelt ohne munities erläutert, die für die Theater zum Weise von ihren familiären und kulturellen den Kern und das Wesentliche seiner Theater- Leben Arbeit kennzeichnend ist (S.68 ff.) Und Wurzeln getrennt wurden. arbeit aus den Augen zu verlieren. schließlich geht es um die systemische Idee der Weitere methodische Anregungen betreffen Vieles davon wird den Lesern und Leserinnen Rückkopplungsschleifen (S. 85 ff.), die zum die Weckung des Gruppenbewusstseins (S. aus dem Arsenal des Theaters der Unterdrückten einen dazu beitragen können, dass sich dys- 203), sowie den Einsatz von introspektiven vertraut sein, allerdings hat Diamond oft seine funktionale Muster reproduzieren oder dass Techniken wie Regenbogen der Wünsche (S. eigene Version der Übungen und Techniken sich neue Kommunikations- und Verhaltens- 223 ff.), Polizisten im Kopf (S. 236 ff.) und entwickelt. So würdigt er an vielen Stellen die weisen etablieren können. deren Weiterentwicklung im Zuge des Projekts Arbeit Boals, mit dem er bis zu dessen Tod Ein eigener Abschnitt ist der Kunst des inter- Corporations in Our Heads (Firmen in unserem kollegial und freundschaftlich verbunden war, aktiven Theaters gewidmet (S. 96ff), in dem Köpfen, S. 242 ff.) sowie die von Diamond und den Einfluss, den sie auf die Entwicklung Diamond wesentliche Aspekte von Theaterkunst entwickelte Bildertheater und Polaroidbilder des Theaters zum Leben gehabt hat. Er zeigt im Zusammenhang mit der Entwicklung von beinhaltende Technik Your Wildest Dream (S. aber auch sehr klar, wohin sich diese in den Forumtheaterstücken beschreibt, wozu für ihn 248ff.), die auch von Freires Pedagogy of Hope letzten Jahrzehnten weiterentwickelt hat. Ein die Klarheit der Handlung, die Klarheit der inspiriert wurde (S. 246 ff.). Kapitel (S. 57 ff.) gibt darüber Auskunft, in Motivation der Figuren, deren Wünsche und Diamond geht noch auf den Begriff der Emer- dem Diamond seiner Überzeugung Ausdruck Befürchtungen, d.h. die Schichten des unter genz (S. 206), der die Schöpfung von Neuem verleiht, dass die im klassischen Theater der dem Gesagten liegenden Subtextes zählen (S. bezeichnet sowie auf die Idee der Epoché (S. Unterdrückten entgegen gesetzten Pole „in 99). Er beschreibt in der Folge wesentliche 212 ff.) ein: Damit ist in Anlehnung an Vare- Wirklichkeit Teil desselben großen Organis- Schritte zu kunstvollen Forumtheaterstücken, la – ein Akt der Bewusstwerdung gemeint, der mus sind, der irgendwie nicht im Einklang mit wozu dramaturgische Überlegungen (S. 100 mit der Aufhebung des gewohnten Denkens sich lebt“ (S. 57) Und so beschäftigt sich das und auch S. 146) genauso zählen wie Authen- und Urteilens, der Umkehrung der Aufmerk- Theater zum Leben mit den Unterdrückten, tizität (S. 102 ff.) und der beim Forumtheater samkeit und der Phase des Loslassens bzw. „schafft aber genauso den Raum für die auf- besonders wichtige reaktive Modus der Schau- der Aufnahme der Erfahrung beschrieben richtige Untersuchung der Ängste, Wünsche spielerinnen und -spieler (S.105 ff.). Wie dieser wird. Diamond widmet sich auch dem Pra- und Beweggründe der Unterdrücker. … Die erzeugt werden kann, zeigen die Hinweis auf xiskonzept von Gramsci (S. 216 f.), dem der klaren Grenzen, von denen wir allzu gerne grundlegende Übungen und Techniken auf dem Kreislauf von Planung, Aktion und Reflexion denken, dass sie zwischen Unterdrückern und Weg zu einem Forumtheater. Und so beginnt in Entwicklungsprozessen notwendig erscheint, Unterdrückten existieren, sind of alles andere jedes Forumtheaterstück im Workshopraum (S. was Diamond auf die Konzeption von Theater als klar“ (S. 57). In diesem Sinn plädiert Dia- 114), wozu Diamond seine Erfahrungen und zum Leben-Projekten insgesamt, aber auch für mond dafür, Menschen nicht als Gefangene Überlegungen zum Umfeld und zum Beginn die Arbeit in Workshops bezieht. der Strukturen, die uns umgeben, zu begrei- eines Workshops, zur Gruppenbildung (S. Besonderes Augenmerk widmet Diamond der fen: 119 ff.), zur Entwicklung von Bildern und Rolle des Jokers, der in Theater zum Leben Pro- „Weil das Theater zum Leben jede Gemein- Vorstellungen (S. 121ff.), zur Aktivierung der zessen unter anderem als Workshopleiter, als schaft als lebendiges Gemeinwesen betrachtet Bilder (S. 130 ff.), der Kraft der Gesten (S. 135 Regisseur und bei interaktiven Aufführungen und diesem dementsprechend … begegnet, ff.) etc. weitergibt. In diesem Abschnitt wird als Vermittler zwischen Bühne und Publikum wenn es an die Erarbeitung von Stücken nicht nur deutlich, welche Übungen, Spiele arbeitet. Im Zusammenhang mit dem systemi- geht, dienen diese Stücke dazu, Wege zu und Techniken Diamond verwendet, um den schen Verständnis wird der Joker von Diamond entdecken, die die strukturerzeugenden Ver- künstlerischen wie sozialen Prozess zu aktivie- als „Störfaktor“ bezeichnet, der mit seiner Ar- haltensweisen verändern, und nicht nur die ren und zu begleiten, es werden dazu immer beit in Communities dazu beiträgt, dass diese Strukturen selbst“ (S. 57). wieder spannende Erfahrungen aus vielfältigen in ein Ungleichgewicht geraten können. Dies Dieser Auffassung folgend widmet sich Diamond Workshops wiedergegeben. Beschrieben wird wird als Voraussetzung dafür gesehen, damit der „neuen Einladung“ beim Forumtheater (S. der Prozess, wenn sich der Joker als Workshop- sich neue Lösungen entwickeln können – gera- 58 ff.), bei dem nicht nur die Polarisierung bzw. begleiter zum Theaterregisseur wandelt (S. 155 de auch dadurch, dass Menschen eine Stimme Rezensionen 97

Rezensionen verliehen wird, die normalerweise nicht gehört zahlreiche Spiele und Übungen, Aktivierungs- erfolgreichen Reihe. Der dritte Band erhielt ein werden (S. 30). Die Aufgabe des Jokers ist es, techniken im Bildertheater und Probetechniken frisches Layout, das in der aktuellen Auflage „kollektive Kreativität zu entwickeln, indem vorgestellt und beschrieben werden. auf den ersten Band übertragen wurde. Es ist Rahmenbedingungen geschaffen werden, unter Diamonds Buch – so der Klappentext – „unter- anzunehmen, dass auch der zweite Band bald denen Emergenz von Neuem aller Voraussicht streicht den Wert des Theaters für einen Dialog folgen wird. Alle drei Bände können sowohl nach auftreten kann“ (S. 32), was den Aufbau zwischen Individuen, zwischen Gruppen und in Form eines Buches als auch einer Kartei und die Förderung aktiver Kommunikations- Gemeinschaften aller Art sowie zwischen Kunst verwendet werden. Von praktischem Nutzen netzwerke bedeutet. Diamond nennt es „Praxis und Wissenschaft, und es stellt ein flammendes ist überdies die getrennte Katalogisierung von im Sinne der absichtlichen Erzeugung von Plädoyer dar für ein Theater, das nach immer Spielkategorien und -zielen, die die konkrete Rückkopplungsschleifen“ (S. 32) neuen Wegen für ein gelungenes Zusammen- Auswahl erleichtert. Die Kategorien stimmen Theater zum Leben ist eine der wenigen Pu- leben sucht“ – dem ist nichts hinzuzufügen. in den Bänden weitestgehend überein: Wahr- blikationen, in denen viele Beispiele und nehmungsspiele, Darstellende Spiele, Malspiele, Anregungen gegeben werden, auf welche Weise Michael Wrentschur Interaktionsspiele, Gruppendynamische Übungen, Forumtheaterszenen entwickelt werden. Selbst Sprach-, Schreib- und Diskussionsspiele, Spiele bei Boal finden sich zwar reichlich dramatur- zur Wissensvermittlung, Bewegungs- (und Auf- gische Anregungen für die Gestaltung von Axel Rachow (Hrsg.) (2012): Spielbar. 51 lockerungs)spiele, Ulk-, Theken- und Partyspiele, Forumtheaterszenen und damit verbunden eine Trainer präsentieren 77 Top-Spiele aus ihrer Ratespiele, Quizformen, Rollen- und Entschei- Vielzahl von Probetechniken, aber mir ist keine Seminarpraxis. Edition Training aktuell. 4., dungsspiele sowie Outdoor-Übungen. Neben Fallstudie bekannt, in der die Umsetzung von überarbeitete Auflage. ISBN 978-3-941965- den beiden Zielen Aktivieren und Energien ihm exemplarisch beschrieben wird. Darin liegt 35-5 (230 Seiten). freisetzen sowie Sprechen und ausdrücken, die meines Erachtens eine besondere Qualität des erst ab dem zweiten Band aufgelistet werden, Buches. Besonders ausführlich wird die Fallstu- (2010) Spielbar II. 66 Trainer präsentieren werden 13 weitere angeführt: Kontakte aufbau- die über das Projekt Here and Now dargestellt 88 neue Top-Spiele aus ihrer Seminarpra- en, Kommunikation verbessern, Kreative Prozesse (S. 271–334), einem Forumtheaterprojekt zur xis. 4. Auflage. ISBN 978-3-931488-63-5 anregen, Emphatisch vorgehen, Spontan handeln, Thematik von gewalttätigen Banden in Van- (265 Seiten). Kooperation einüben, Strukturiert vorgehen, Ver- couver. Alle Phasen des Projekts, von der Idee, trauen entwickeln, Sich selbst entdecken, Themen (2012) Spielbar III. 62 Trainer präsentieren Vorbereitung und Vernetzung zur Workshopar- klären, Konflikte verdeutlichen, Harmonisierung 83 frische Top-Spiele aus ihrer Seminar- beit in der Community, der Stückentwicklung und Ruhe sowie Standpunkte vertreten. In den praxis. Edition Traning aktuell.2. Auflage. bis hin zu den Forumtheateraufführungen wer- ersten beiden Bänden finden sich die Spiele ISBN 978-3-936075-88-5 (271 Seiten). Als den auf spannende und nachvollziehbare Weise in sieben Rubriken: Warming up; Motivation Dreierpack beim managerSeminare Verlags beschrieben und machen die Vielschichtigkeit mit den Schwerpunkten Aktivierung und The- GmbH Bonn bestellbar. des Prozessen deutlich, in dem die kollektiven menbezug; Information; Interaktion; Evaluation Geschichten der beteiligten Menschen genauso Der Psychologe Jean Piaget hat in den 40er des sowie Präsentation. Die Namen der Rubriken eine Rolle spielen, wie künstlerische, soziale, letzten Jahrhunderts beschrieben, wie Kinder im sprechen bis auf die Präsentation für sich. Dort politische und öffentlich-mediale Prozesse. Die Murmelspiel ihre sozialen Regeln entwickeln. werden größere Spiele mit zum Teil sehr auf- Fallstudie ist zudem ein gutes Beispiel dafür, Komplexe Zusammenhänge können im Spiel wendigen Materialien präsentiert. Anders als wie die in den vorderen Teilen des Buches ent- entdeckt und ggf. bewusst gemacht werden, in den restlichen Rubriken ist man als Leser wickelten Grundprinzipien des Theaters zum und das auch noch im Erwachsenenalter. Dies nicht in der Lage, diese 11 Spiele anzuleiten Leben und die theatral-ästhetischen wie sozialen gilt sowohl in der Theaterpädagogik als auch in und erfreulicherweise wurde im dritten Band Arbeitsweisen realisiert werden und auf welche Teilen der Erwachsenbildung als gesichert, in auf eine solche Werbemaßnahme für die be- Weise sie wirken. Und es zeigt sich, wie eng die der Wirtschaft hingegen besteht beim Spielen teiligten Trainerinnen und Trainer verzichtet. Theaterarbeit von Diamond an den Themen, nach wie vor Aufklärungsbedarf und genau Dort gibt es die folgenden sechs Rubriken: Anliegen und Prozessen vielfältiger Commu- hier setzen die drei zu besprechenden Bände Effekte einsetzen; Mit Metaphern verdeutlichen; nities und Gemeinwesen orientiert ist: Der aus dem Managerseminare-Verlag an. Gruppen aktivieren; Teams fordern; Zum Thema Theaterarbeit gehen ausführliche Vorarbeiten Zehn Glasmurmeln auf den Titeln laden Trai- arbeiten und Zwischendurch auflockern. voraus, um mit den Menschen und Anliegen ner und Spielleiter ein, spielerische Prozesse Die Spielbeschreibungen wecken in den drei einer Community in einen wirklichen Dialog in Gang zu setzen. Doch welche Spiele sind Bänden Lust, diese auch sogleich auszuprobieren. zu treten. Die besondere Herausforderung des mit Erwachsenen spielbar? Der Herausgeber Natürlich gibt es viele – gerade in der Theater- Theaters zum Leben besteht vor allem darin, Axel Rachow, einer der bekannten deutschen pädagogik – bekannte Spiele. Trotzdem wird Vielschichtigkeit, Reichhaltigkeit und Kom- Spielgurus, versteckt im Wortspiel SPIEL- man die Sammlung auch als Theaterpädagoge plexität zu suchen und BAR zwei Ansprüche: Im Adjektiv verbirgt mit Gewinn lesen, denn zeigen die Schweizer „über das Individuelle hinaus zu gelangen sich die Aussage, „erprobt, brauchbar, nütz- doch sehr unterhaltsam, wie theaterpädagogische und mit dem Gemeinwesen zu arbeiten. … lich, von Trainingspraktikern beschrieben“ zu Klassiker eben auch eingesetzt werden können. Wir schaffen kein therapeutisches Setting für sein (I, 1). Mit dem Substantiv hingegen wird Exemplarisch sei hier die Einwortgeschichte er- den Einzelnen. Wir machen das Theater, die Thekenmetapher aktiviert und die Spiele wähnt: Eine Gruppe erzählt gemeinsam eine das ein Ausdruck der erweiterten Gemein- als „à la carte wählbar, zuträglich und nicht Geschichte, aber jeder Spieler darf hierbei nur schaft ist, indem wir mit mikroskopischen belastend“ bezeichnet (ebd.). Um es gleich ein Wort sagen. Dieses kooperative Erzählen Repräsentanzen des Ganzen, nämlich mit vorwegzunehmen, dieser doppelte Anspruch kann auch auf das Programm eines Kommu- den Teilnehmern des Workshops, arbeiten“ wird vollends erfüllt. Es liegt eine persönli- nikationstrainings gesetzt werden (I, 179f). (S. 220). che und inspirierende Sammlung vor, bei der Diese Verwendungsmöglichkeiten zu sehen, Abgeschlossen wird das lesenswerte Buch mit jeweils mehr als 50 Trainerinnen und Trainer dies kann man in den drei Bänden lernen. Die einem umfangreichen Anhang, in dem zum einen ihre ca. 80 Favoriten beschreiben. Der Heraus- Anleitungen sind in den meisten Fällen kurz die Erfahrungen und Rahmenbedingungen für geber trägt zwar kein eigenes Spiel bei, bringt und prägnant. Für den begrenzten Raum ei- Forumtheateraufführungen in TV und Internet aber Ordnung in das Chaos und entwickelte ner Karteikarte im Format DIN A5 ist diese (S. 344 ff.) und in der Folge (S. 353 ff.) noch damit sein Unterfangen zu einer eigenen, sehr Herausforderung von fast allen Beteiligten aus- 98 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Rezensionen gesprochen gut bewältigt worden. Nur selten verbleiben die Beschreibungen im Zustand eines Appetizers. Dies ist beispielsweise der Fall in der – gewöhn- AUTORINNEN UND AUTOREN lich dem NLP-Umfeld zugeschriebenen – Koordinationsübung für Körper und Geist, bei der mit zwei Buchstabenreihen Angelika Andrzejewski Erzsébet Matthes gespielt wird. Während der Buchstabe [email protected] [email protected] der ersten Reihe laut gelesen wird, gibt Barbara Gronau Muriel Nestler ein zweiter Buchstabe eine bestimm- [email protected] [email protected] te Bewegung an, die gleichzeitig vom Ulrike Hentschel Wolfgang Nickel Lesenden auszuführen ist. Die Quelle [email protected] [email protected] „Entdeckt in einem Seminar beim Bil- Dorothea Hilliger Nelly Noack dungswerk Stefanus in Heiligkreuztal“ [email protected] [email protected] (II, 89f.) ist irrelevant, die Auswertung „Input über die beiden Gehirnhälften Ina Jahnke Ute Pinkert [email protected] [email protected] und die Effektivitätssteigerung durch Koordinationsübungen“ in dieser Kür- Johannes Junker Hans Martin Ritter ze unbrauchbar. Zamyat Klein zeigt im [email protected] [email protected] „Das tanzende Kamel“ (2008 im gleichen Volker Jurké Mira Sack Verlag erschienen), wie man diese Übung [email protected] [email protected] auch angemessen aufbereiten kann (23- Gabriele Klein Hanne Seitz 28). Für eine Neuauflage hätte ich mir [email protected] [email protected] gewünscht, dass der Herausgeber noch Johannes Kup Julia Steinmann stärker strukturiert und Verbindungen [email protected] [email protected] zwischen den drei Bänden herstellt. So Gerd Koch Wolfgang Sting sind auf der einen Seite einige Spielna- [email protected] [email protected] men unglücklich gewählt: Beispielsweise macht ein Spielname „Warming up“ in der Katharina Kolar Virginia Thielicke [email protected] [email protected] Kategorie der „Warming ups“ (II, 71 f.) nur wenig Sinn. Hinter dem doppelt Doris Krohn Florian Vaßen vergebenen Team-Puzzle (III, 57f. sowie [email protected][email protected] II, 187 f.) verstecken sich zwei unter- Marion Küster Maik Walter schiedliche Spiele. Und auf der anderen [email protected] [email protected] Seite gibt es in der Struktur identische Herwig Lewy Wolfgang Wendlandt Spiele wie das Vampir- (I, 61 f.) und [email protected] [email protected] das Mörderspiel (III, 115 f.), ohne dass Christoph Macha Michael Wrentschur darauf verwiesen wird. [email protected] [email protected] Aber das sind Kleinigkeiten am Rande der Beckmesserei und sie sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die drei Bände eine sehr schön gestaltete und informative Reihe sind, die mit großem Spaß und Gewinn gelesen werden kann. Die eingangs erwähnten Murmeln geben Impulse weiter, wenn sie aufeinander treffen. Und genau dies wünsche ich den drei Bänden. Ein Zusammentreffen mit vielen Spielleitern, die die im Buch eingefangene Energie an ihre Spieler wei- tergeben. Um es mit Dieter Roth auf den Punkt zu bringen „Murmel, murmel.“

Hinweis: Mit der jüngst erschienenen Swiss Edition liegen nunmehr vier Bände der Spielbar-Reihe von Axel Rachow vor: Axel Rachow & Johannes Sauer (Hrsg.) (2012): Spielbar Swiss Edition: Schweizer Trainerinnen und Trainer präsentieren ihre Top-Spiele aus der Seminarpraxis. Edition Traning aktuell. managerSeminare Verlags GmbH Bonn, ISBN 3941965417 (239 Sei- ten).

Maik Walter Ankündigungen 99 ANKÜNDIGUNGEN

TEILNAHMEBEDINGUNGEN Bewerben können sich Schultheaterensembles, die nicht mehr als 25 Teilnehmer/innen umfassen und deren Aufführung nichtlänger als 60 Minuten dauert, damit das Festival angesichts der Pro- duktionen aus 16 Bundesländern überschaubar bleibt. Für die eingeladenen Schülergruppen sind Unterkunft, Verpflegung und alle Veranstaltungen des Festivals bis auf einen Eigenbetrag von 60 Euro pro Teilnehmer/in kostenfrei. Im Bedarfsfall kann der BV.TS auf Antrag für einzelne Schüle- rinnen und Schüler einen Zuschuss gewähren. Bewerbungen können bis zum 30. April 2014 aus- AUSSCHREIBUNG schließlich beim Landesverband für Schultheater/ Darstellendes Spiel des jeweiligen Bundeslandes Der Bundesverband Theater in Schulen (BV.TS), die Stiftung Mercator eingereicht werden. und das Theaterpädagogische Zentrum Saarbrücken laden zum 30. Schul- theater der Länder vom 14. bis 20. September 2014 in Saarbrücken ein. Zur Bewerbung gehören neben dem Formular • Vier DVDs der Aufführung, die einen Durchlauf zeigen (Originalaufzeichnung aus der Totalen, THEMA : GRENZGÄNGE unbearbeitet) • Erläuterung zur DVD (was zeigt sie, z. B. Premiere, Für das Schultheater der Länder 2014 in Saarbrücken (Saarland) wer- Aufführung, Probenstand etc., bzw. was zeigt sie den Theaterproduktionen gesucht, die sich künstlerisch mit Situationen nicht) an Grenzen und über Grenzen hinweg beschäftigen, die insbesondere • Erläuterungen und Material zu der Produktion — Grenzen des Körpers und der Stimme, der Bewegung im Raum sowie sowie zu den Arbeitsbedingungen des Ensembles des Umgangs mit Zeit beim einzelnen Spieler und beim Ensemble • Übersichtsartiger Bühnen- und Beleuchtungsplan theatral ausloten (kann nachgereicht werden) — ästhetische Grenzgänge wagen, z. B. zwischen Theater und anderen Die Adressen der Landesverbände finden sich unter Künsten/Disziplinen oder zwischen Performance und Repräsentati- www.bvts.org oder bei der Geschäftsstelle des BV.TS. on, Spieler und Zuschauer, Drama und Szenischem Schreiben, Trash Dort können auch weitere Informationen, Doku- und Collage, Mainstream und Underground mentationen und Fachpublikationen der bisherigen — individuelle und gesellschaftspolitische Grenzen, Mauern und Zäu- Schultheater der Länder seit 1985 erfragt werden. ne thematisieren und dafür geeignete Gestaltungsformen finden, z. B. Grenzgänge zwischen dem Eigenen und dem Fremden, Ost DAS FESTIVAL und West, verschiedenen Nationen und Kulturen, dem Einzelnen • Das Schultheater der Länder ist ein bundesweites und der Masse Festival für Schultheatergruppen aller Jahrgangs- stufen und Schulformen, das jährlich in einem Die begleitende Fachtagung (in der Hochschule für Musik Saar, Bismarck- anderen Bundesland stattfindet. str. 1, 66111 Saarbrücken) wird sich mit ästhetischen • Das Schultheater der Länder ist Mitglied in der Grenzgängen des Theaters beschäftigen. Arbeitsgemeinschaft bundesweiter Schülerwett- bewerbe, die von der Kultusministerkonferenz empfohlen werden, und hat sich zum Einhalten der dort verabschiedeten Qualitätsstandards verpflichtet. • Das Schultheater der Länder wird von der Stif- tung Mercator und den Kultusministerien der Länder gefördert. Die zum Thema des Festivals ausgewählten Gruppen stellen ihre Produktionen öffentlich vor, diskutieren darüber und erweitern ihre Spielpraxis in Workshops. Theaterlehrern, Theaterpädagogen, Theaterwissenschaftlern und anderen Interessierten wird eine begleitende Fachtagung geboten. Weitere Informationen unter www.bvts.org und in der Geschäftsstelle des BV.TS: c/o Tanja Klepacki Schwalbenweg 2 90552 Röthenbach / Renzenhof Tel. +499120183074 @ [email protected] 100 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

Ständige Konferenz Spiel und Theater Einladung

31.10.– 02.11.2014 Tanz-Theater-Pädagogik hmt Rostock MA Theaterpädagogik Eine offene Werkstatt-Fachtagung am Institut für Schauspiel vom 14. bis 16. November 2014 „Im Spinnenweb im Tagungshaus Himbergen, von Gegen-,Neben-,und Miteinander veranstaltet von der Gesellschaft für The- Formate theaterpädagogischer Zusammenarbeit!“ aterpädagogik / Niedersachsen e. V.

Anmeldung unter: [email protected] Die für alle Interessierten offene Werkstatt- Ansprechpartnerin: Aline Menz Fachtagung konzentriert sich auf das Teilnehmerbeitrag: 50,00 Euro Tanztheater, vor allem auf die Entwicklung 30,00 Euro (Arbeitslose & Hartz IV Empfänger) von Choreografien, Arbeiten an Bühnen- präsenz, Erarbeiten von individuellen 20,00 Euro (Studierende) und kollektiven Bewegungsabläufen im Am Vortag der Ständigen Konferenz (30.10.2014, 11.00-16.00 Uhr) musikalischen Kontext. Unterschiedliche Musiken und Bewegungsformen sollen Diplom Vorspiel des 4. Studienjahres Schauspiel selbstentworfene Improvisationen beglei- an der Hochschule für Musik und Theater Rostock ten. Für die unmittelbare – etwa schulische Wir bitten um Anmeldung hierfür unter angegebener Adresse. und außerschulische – methodische Praxis ist die tanztheatrale Vorgehensweise sehr Mit freundlichen Grüßen geeignet für größere Gruppen. Das Tanz- Prof. Marion Küster theater ist getragen von der Körperlichkeit Studiengangsleitung/Prorektorin der Agierenden, der gegenseitigen Wahr- hmt III Hochschule für Musik und Theater Rostock nehmung der Tanz- und Spielpartner, von Institut Schauspiel, Fach Darstellendes Spiel/ Master of Arts der Bereitschaft sich zurückzunehmen und Theaterpädagogik einzubringen. Im Zentrum des Workshops Beim St.-Katharinenstift 8 steht die gemeinsame Suche nach einer 18055 Rostock tanztheatralen Choreografie, nach einer fon +49 (0)381 5108-131 fax +49 (0)381-5108-101 wirkungsvollen Abfolge theatraler Ereignis- www.hmt-rostock.de se – nach jenem Mit- und Gegeneinander, das die Spannung ausmacht zwischen dem Einzelnen und den Vielen.

Tagungshaus Himbergen (Niedersach- „50 Jahre Schulspiel/Theaterpädagogik“ sen), 29584 Himbergen, Bahnhofstr. 4, [email protected], zwischen Uelzen Ein Symposion und Lüneburg gelegen, DB-Anschluss in Bad Bevensen (plus Bus, Taxe oder Abhol- am 20. und am 22. Juni 2014 Absprachen); siehe auch: www.tagungshaushimbergen.de Ort: Für (ehemals) Lehrende, Berufskollegen, Anmeldung bei Florian Vaßen, Immen- Universität der Künste, 10709 Berlin, Bundes- Interessenten usw.: garten 5, 30177 Hannover, allee, Foyer [email protected][email protected] Thematische Schwerpunkte: Angebote für Programmbei- Teilnahmekosten (einschließlich Über- 1. Das wechselnde Gesicht des Spiel- und träge nachtung, Verpflegung, Workshop-Leitung; Theaterpädagogen: Häutungen, Trans- • Beiträge für den thematischen Schwer- Bettwäsche ist mitzubringen oder gegen Ent- formationen, Metamorphosen punkt 2 sammelt und moderiert Mar- gelt zu entleihen): e140,-- für Berufstätige, 2. Erfahrungen: Was haben Spiel und The- lies Krause: e100,-- für Mitglieder der Gesellschaft für ater mit mir gemacht? Was habe ich mit [email protected] Theaterpädagogik/Niedersachsen, e 70,-- Spiel und Theater gemacht? • Vorschläge/Angebote für den the- für Studierende, Arbeitslose usw. Bitte die 3. Spiel und Theater und politisch-gesell- matischen Schwerpunkt 3 gehen an Summe bis 1. November 2012 unter dem schaftliche Probleme: Gegenwärtige und Aline Menz: Stichwort „Himbergen“ auf das Konto der zukünftige Herausforderungen [email protected] Gesellschaft für Theaterpädagogik, Spar- kasse Hannover, BLZ 250 50 180, Kto.-Nr. Anmeldung zur Teilnahme • Den Schwerpunkt 1 koordiniert Hans- 556106, überweisen. Für ehemalige Studierende der PH, bzw. Martin Ritter: der HdK/UdK Berlin: [email protected] Weitere Informationen: [email protected][email protected] [email protected] Ankündigungen 101

1st International Conference: Performative Teaching, Learning and Research (University College Cork, 29 May – 1 June 2014)

This conference aims to pave the way towards a new, performative teaching and learning culture. Building on a recent symposium at University College Cork which centred on performative practices across different disciplines, this conference will have a special focus on the areas of

LANGUAGE • LITERATURE • CULTURE

The conference is organised by SCENARIO FORUM, in close collaboration with UCC’s School of Languages, Literatures and Cultures, UCC’s Centre for Interdisciplinary Research in Performance Practices and Ionad Bairre, UCC’s Teaching and Learning Centre.

Organising Team: Manfred Schewe/Micha Fleiner/Stefan Kriechbaumer/Niko Preuschoff (University College Cork); Susanne Even (Indiana University, Bloomington)

For further details please see the following link: http://www.ucc.ie/en/scenario/scenarioforum/scenarioforum-conference2014/ 102 Zeitschrift für Theaterpädagogik / April 2014

NEUIGKEITEN AUS DER ACHTEN KLASSE ren die Spielerinnen und Spieler auf die non-verbalen Ausdrucks- Maskenbau und Maskenspiel möglichkeiten zurückgeworfen bzw. angewiesen. Das ganze Spektrum Im Kunstunterricht beschäftigte sich die Klasse 8 Ende 2013 mit dieser Möglichkeiten gehört zu den Maskenbau. Die Schülerinnen und Schüler stellten in mehreren wichtigsten Grundlagen der Schau- Arbeitsschritten Masken her, beschäftigten sich mit den Tempe- spielkunst. ramenten, mit der Farben-Lehre und der ästhetischen Wirkung von Formen und Materialien. Materialtheater – Manche Figur wurde da zum Leben erweckt und fabelhafte Wesen eine (Plastik-)Folie bekamen ein Gesicht. Die Maske, die Gesichtsbedeckung, ken- nen wir aus unterschiedlichen Kontexten aus der Kulturgeschichte Womit würden Sie beginnen? Wir rund um den Globus. Das Gesicht zu verkleiden hat in vielen Kul- tun so „als ob“. Manchmal will es turen und zu verschiedensten Anlässen eine Tradition. Wir denken der Zufall, dass uns ein Material in Europa meist zuerst an den Karneval in Venedig oder die Commedia dell‘ arte, an anguckt wie ein Gulli-Deckel, dass die Brauchtümer zu Halloween, Silvester oder Fasnacht. Beeindruckende und besonders sich ein Wasserfl eck auf dem Tisch ausdrucksstarke Masken fi nden wir aber auch bei den Schamanen, in den Königreichen zu einem Gespenst verwandelt, oder Afrikas, im antiken griechischen Theater und im traditionellen japanischen und chinesi- etwa ein ausgequetschter Teebeutel schen Theater. Sehr anregende Beispiele für Masken fi nden wir auch in der Ritterzeit, wo uns zum Spielen einlädt. Aber wenn sich die mutigsten Helden hinter Helm und Visier verhüllen und schützen. wir uns selber auf den Weg machen Bevor die selbstgemachten Masken auf der Bühne eingesetzt werden können, dient in die Welt der Dinge? Die Schülerin- ein Intensivworkshop „Maskenspiel“ mit Nelly Noack der Vorbereitung. Gelernt wird nen und Schüler der achten Klasse anhand von Neutralmasken. Au- haben sich mit zwei prominenten genfällig wurde schnell, wie stark Materialien auseinandergesetzt: Mit die Körpersprache in den Fokus dem omnipräsenten Material Plastik tritt, wenn die Mimik durch die (in Form von großen, transparen- Maske eingefroren ist. Wir wurden ten Folien) und mit einem täglichen plötzlich der kleinsten Bewegung Begleiter in unterschiedlichsten Aus- gewahr, erlebten die Grundspan- fertigungen: die Handtasche. Das nung der Körperhaltung und die Gewöhnliche, Bekannte, Tote, ja Atembewegungen als Ausdruck. das Selbstverständliche, das bei- Da unter der Vollmaske im Ge- den Spiel-Gegenständen anhaftet, gensatz zur Halbmaske nicht galt es auffällig, interessant und gesprochen werden kann, wa- überraschend zu machen. Wie würden Sie ihre Handtasche er- Projektförderer kunden? Was kann ihre Handtasche alles? Welche Varianten können Sie Wir sind sehr dankbar für die zugesicherte Unterstützung von Text-, Team- & Theaterspiel fi nden? Kennen Sie sie wirklich in- durch folgende Partner und Sponsoren, ohne deren Zutun unser Projekt nicht denkbar wäre: und auswendig? Wir haben ein und die selbe Sache aus mindes- tens zehn Blickwinkeln betrachtet. Langweilig? Keineswegs! Brenda Ueland würde sagen: „Die Imagination braucht das Umherschweifen, den langen, in- effi zienten Müßiggang, das fröhliche Zeitverplempern und Herumtrödeln.“ Hatte man sich eine Weile mit einer Sache beschäftigt so wurde aus dem neugierig Improvisierenden ein Experte, ein Virtuose auf seinem Gebiet. Allerdings gab es nur wenig Mutige, die versuchten, Objekttheater wiederhol- bar zu machen. Man hält die Gegenstände im Allgemeinen für leblos, aber wer weiß schon, wie sich so eine Plastikfo- lie beim nächsten Luftzug verhält? Spielerisch interessant wurde auch die Umgebung: Das Außengelände der Schule, die Sporthalle oder der Bühnenraum haben unterschiedli- che Qualitäten und trugen zur Atmosphäre bei. Einzeln, zu zweit und in kleinen Gruppen sind Spielsequenzen entstan- den, die wir zunächst fotographisch festgehalten haben. Mit der Verwandlung des Materials wurde die Wirklichkeit sicht- lich zum Stolpern gebracht.

11. Januar 2014