B6897F Informationen zur politischen Bildung / izpb
3–4/2019 Parlamentarische 341 Demokratie Parlamentarische Demokratie
Inhalt
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4 Die Logik der parlamentarischen Demokratie 50 Funktionserfüllung im Fraktionenparlament 6 Was unterscheidet das parlamentarische vom 51 Wahl- und Rekrutierungsfunktion präsidentiellen Regierungssystem? 53 Kontrollfunktion 11 Die Bedeutung der Gewaltenteilung 57 Rolle in der Gesetzgebung 13 Parlamentsfunktionen 62 Wahrnehmung der Öffentlichkeitsfunktion 16 Parlamentstypen 66 Artikulationsfunktion – das Parlament als Bindeglied von Politik und Gesellschaft
18 Der Deutsche Bundestag und seine Akteure 19 Die Ausgestaltung des Bundestages nach 70 Herausforderungen für den Parlamentarismus dem Grundgesetz 70 Auswirkungen der europäischen Integration 20 Wahl der Abgeordneten 75 Folgen der Globalisierung 23 Bedeutung und Aufgaben der Fraktionen 76 Entparlamentarisierung durch Verhandeln? 29 Herstellung der parlamentarischen Arbeitsfähigkeit 80 Fazit 34 Arbeitsalltag der Abgeordneten
81 Literaturhinweise 82 Online-Ressourcen 83 Autorin 83 Impressum
2 Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 Zu diesem Heft
Folgt man den aktuellen Diskussionen, so könnte sich der Ein- druck verdichten, dass das parlamentarische System der Bun- desrepublik Deutschland 70 Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes in einer veritablen Krise steckt. Die Volkspartei- en leiden unter Mitgliederschwund und haben ihre bisherige, weitgehend unangefochtene Machtstellung verloren. Das Par- teiensystem ist in Bewegung geraten, parlamentarische Mehr- heiten sind schwerer zu erreichen, während populistische Stimmen an Einfluss gewinnen. Bürgerinnen und Bürger be- trachten Parlamente und Regierung mit größerem Misstrauen. Im Netz und auch offline werden Politikerinnen und Politiker attackiert. Kritik gegenüber dem Parlamentarismus und der repräsen- tativen Demokratie hat es immer schon gegeben, aber in den vergangenen Jahren hat sich diese verschärft. Vielen scheint das Gefühl dafür verloren zu gehen, dass gerade in Zeiten einer 67 zunehmend ausdifferenzierten, zu Emotionen und Polarisie- rungen neigenden, diversen Gesellschaft eine parlamentari- sche Demokratie an Konsens und Gemeinwohl orientierte Ent- scheidungen treffen muss, um den sozialen Frieden zu wahren, Fortschritt zu garantieren und zukunftsfähig zu bleiben. Ent- scheidungen über immer komplexere Sachverhalte können in einer globalisierten Welt oftmals nur durch Kompromisse ge- troffen werden. Dieses Heft liefert einen umfassenden Überblick zu Grund- lagen und Funktionsbedingungen der parlamentarischen De- mokratie in der Bundesrepublik Deutschland. Es vermittelt zu- nächst wesentliche Kenntnisse, um Handlungsmöglichkeiten und -grenzen der Akteurinnen und Akteure in einer parlamen- tarischen Demokratie besser beurteilen zu können. Mit Blick auf den Arbeitsalltag der Bundestagsabgeordneten 72 (MdBs) werden diese Maßstäbe anschließend an das deutsche Parlament angelegt. Es wird systematisch untersucht, wie die MdBs ihre Wahl-, Kontroll-, Gesetzgebungs-, Öffentlichkeits- und Artikulationsfunktionen erfüllen. Abschließend werden die Herausforderungen skizziert, vor die sich Parlamente durch die europäische Integration, die Globalisierung und den Trend zur Problemlösung durch Expertengremien gestellt sehen. Die Analyse macht deutlich, dass sich das politische System in Deutschland im Vergleich zu anderen Staaten trotz manch berechtigter Kritik bisher als überaus stabil erwiesen hat. Staatliche Institutionen und Verwaltungen funktionieren. Die Machtwechsel zwischen Regierung und Opposition vollziehen sich ebenso wie die Kontroversen der Parteien unter den Au- gen unabhängiger Medien gewaltfrei und unter Einhaltung der demokratischen Regeln. „Die vielbeschworene Krise des Parlamentarismus ist zuvorderst eine Krise des Verständnisses von Parlamenten“, so formuliert es der Politikwissenschaftler Michael Koß. Dem entspricht das Fazit der Autorin: Gerade wenn Freiheit und Gerechtigkeit durch globale Entwicklungen in Gefahr ge- raten, stellt eine Demokratie mit voll handlungsfähigen und rechenschaftspflichtigen Parlamenten die beste Alternative dar: Keine andere politische Ordnung ermöglicht wie diese Responsivität und Führung durch verantwortliches, gemein- wohlorientiertes Entscheiden.
Jutta Klaeren
Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 3 Parlamentarische Demokratie
SUZANNE S. SCHÜTTEMEYER Die Logik der parlamen- tarischen Demokratie
Parlamentarische und präsidentielle Systeme unterscheiden sich durch eine Reihe systematisch bestimmbarer und plausibel begründbarer Kriterien. Zentral dafür ist das Verhältnis von Parlament und Regierung.
leicht der Eindruck, dass grundlegende Zweifel an parlamen- tarischer Demokratie und demokratischer Repräsentation gewachsen sind. Ein genauer Blick und eine nüchterne Ana- lyse solcher Daten (siehe S. 5) offenbaren hingegen, dass es in Deutschland keinen Rückgang – und schon gar nicht einen dra- matischen – des politischen Vertrauens in die Demokratie als grundsätzliche Staatsform gibt. Das bedeutet aber keineswegs, dass die parlamentarische Demokratie ungefährdet ist. Sie steht heute vor erheblichen Herausforderungen, die das Ergebnis gesellschaftlichen und (welt)politischen Wandels ebenso wie ökonomischer und öko- logischer Entwicklungen sind. Um sicherzustellen, dass das politische System dadurch nicht in seinem Bestand gefähr- det wird, müssen Parlamente und politische Repräsentanten lernfähig sein, also vor allem in lebendigem Austausch mit
© Kai Felmy © Kai der Gesellschaft bleiben. Und die Repräsentierten, die Bürge- rinnen und Bürger, müssen über Maßstäbe für ihre politische Urteilsbildung verfügen, die der Wirklichkeit der Institutionen Demokratie beruht darauf, dass die Bürgerinnen und Bürger, angemessen sind und deren Handlungsmöglichkeiten und die in ihr leben, sie anerkennen und unterstützen. Das heißt Handlungsgrenzen berücksichtigen. Denn wenn gravierende nicht, dass sie alles, was die politischen Institutionen und Ak- Missverständnisse vorliegen oder Kenntnisse über Grundla- teure tun, gutheißen müssen – im Gegenteil: Demokratische gen und Funktionsbedingungen der politischen Ordnung feh- Ordnungen werden nur dann stabil und erfolgreich sein, wenn len, wird entweder die nötige Kritikfähigkeit leiden, oder es sie lernfähig bleiben, also Kritik am Bestehenden offen und werden Idealvorstellungen und Stereotype entwickelt, denen produktiv verarbeiten. Diese Kritik im Einzelnen ist genauso die politische Realität nicht entsprechen kann. Lebenselixier von Demokratie wie die Anerkennung und Un- Für ein wirklichkeitsgerechtes Bild parlamentarischer De- terstützung ihrer Prinzipien seitens der Bürgerinnen und Bür- mokratie als politischer Ordnungsform sind vier Faktoren von ger. Unbehagen, Unzufriedenheit, ja sogar Verdrossenheit über entscheidender Bedeutung: aktuelle Leistungen von Parteien und Politikern sind folglich ¬ die Abgrenzung vom Präsidentialismus; solange unschädlich oder können sogar zu Verbesserung und ¬ eine spezifische Form der Gewaltenteilung; Fortschritt in der Politik beitragen, wie sie nicht umschlagen in ¬ die Gewichtung von Parlamentsfunktionen und eine grundsätzliche Ablehnung der Werte, Normen und Spiel- ¬ das der parlamentarischen Repräsentation innewohnende regeln der Demokratie. Spannungsverhältnis zwischen der Bereitschaft der Politiker, Immer wieder werden in den letzten Jahren aber Befürch- den Interessen und Einstellungen der Bürgerinnen und Bür- tungen laut, dass genau dies in zunehmendem Maße geschieht. ger entsprechend zu handeln (Responsivität), und der Not- Schaut man sich die zahlreichen Bevölkerungsumfragen und wendigkeit, sich gelegentlich im Interesse des Gemeinwohls ihre Interpretationen an, die sich in der veröffentlichten Mei- mit politischen Entscheidungen darüber hinwegzusetzen nung wie auch in der Politikwissenschaft finden, entsteht und inhaltlich voranzugehen (politische Führung).
4 Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 Die Logik der parlamentarischen Demokratie
Einverstanden mit der Demokratie, unzufrieden mit den Leistungen der Politik
Die repräsentative Demokratie, ihre Institutionen und Akteure nicht einmal mehr 16 Prozent im Osten waren sehr oder ziem- sind unter massivem Druck – jedenfalls, wenn man den man- lich zufrieden. nigfachen Daten beziehungsweise ihren gängigen Interpreta- Der Rückgang von 92 über 60 auf 22 Prozent in den alten tionen Glauben schenkt, die in der veröffentlichten Meinung Bundesländern und von 87 auf 36 und 16 Prozent in den neu- und der sich mit diesen Themen befassenden Politikwissen- en zum selben Zeitpunkt beweist offenkundig, dass mit den schaft kursieren. unterschiedlich formulierten Fragen unterschiedliche Ebenen Anfang 2019 wurden in vielen deutschen Zeitungen die Er- in den Auffassungen der Bürger angesprochen werden. Auch gebnisse einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allens- wenn diese nicht in aller Trennschärfe ermittelt werden kön- bach zitiert. Die Überschrift in der ZEIT lautete: „Ostdeutsche nen, dürfte deutlich sein, dass die oben zitierten Allensbacher vertrauen der Demokratie weniger als Westdeutsche“, im Ta- Daten nicht erlauben, den Ostdeutschen „Zweifel an der De- gesspiegel hieß es fast wortgleich: „Ostdeutsche vertrauen mokratie als Staatsform“ zu attestieren, weil „nur“ 42 Prozent Demokratie weniger als Westdeutsche“, der Münchner Merkur „die Demokratie, die wir in der Bundesrepublik haben“, für titelte: „Zweifel an der Demokratie als Staatsform“, in der FAZ, die beste Staatsform halten. Vielmehr ist anzunehmen, dass die die Studie in Auftrag gegeben hatte, überschrieb Renate in Antworten auf derlei Frageformulierungen ein gutes Stück Köcher ihren Beitrag am 23. Januar 2019 mit: „Ostdeutsche ha- einfließt, wie zufrieden oder unzufrieden jemand mit der kon- ben wenig Vertrauen in Staat und Demokratie“. kreten Leistung des politischen Systems ist. Die repräsentative Bevölkerungsumfrage hatte folgende So können mit Fug und Recht die 36 Prozent im Osten des Frage eingeschlossen: „Glauben Sie, die Demokratie, die wir Landes, die mit der Demokratie, „so wie sie in Deutschland be- in der Bundesrepublik haben, ist die beste Staatsform, oder steht“, im Sommer 2018 zufrieden waren, mit den 42 Prozent gibt es eine andere Staatsform, die besser ist?“ 77 Prozent der aus der Allensbacher Umfrage vom Januar 2019 verglichen Westdeutschen und 42 Prozent der Ostdeutschen hatten sich und plausibel festgestellt werden, dass der wohl hauptsäch- für „die beste Staatsform“ entschieden, dass es „bessere“ gäbe, lich durch die Flüchtlingsproblematik im Herbst 2015 ent- meinten zehn Prozent der Westdeutschen und 23 Prozent der standene Verdruss sich mittlerweile verringert, die Besorgnis Ostdeutschen; und letztere waren zu 35 Prozent unentschieden über dieses Thema abgenommen und die Zufriedenheit mit oder wollten sich nicht äußern. der gegenwärtigen Leistung des politischen Systems wieder Ähnliche zu Sorge um die Demokratie im Lande Anlass ge- zugenommen hat. bende Befunde sind schon seit Jahren immer wieder zu lesen. Von einer schwerwiegenden Vertrauenskrise – und die läge Erheblich weniger Beachtung finden Aussagen, die auf die vor, wenn die entsprechenden Werte sich in Ostdeutschland zentrale Bedeutung unterschiedlicher Frageformate wie auf innerhalb eines halben Jahres tatsächlich von 87 auf 42 Pro- die Notwendigkeit des Zeitvergleichs hinweisen und zu dem zent mehr als halbiert hätten und im Westen von 92 auf 77 Pro- Schluss kommen, dass die Bundesbürger ein positives Verhält- zent gefallen wären – kann also keine Rede sein. Ohnehin ist nis zur Idee und Praxis der Demokratie aufweisen.1 Vertrauen ein komplexes Konstrukt, das sich aus verschiede- In der Tat: Es macht einen großen Unterschied, ob danach ge- nen Einstellungen zusammensetzt, deren Ausprägungen und fragt wird, ob die Bürger Demokratie als Idee beziehungsweise Mischung aus Umfragen zum Institutionen- bzw. Demokra- als grundsätzliche Staatsform unterstützen, ob sie sich für ihre tievertrauen in der Regel nicht ersichtlich sind. Entsprechend spezifische Ausprägung in der Bundesrepublik aussprechen schwierig ist eine genaue Interpretation. oder ob sie zufrieden sind mit den konkreten Leistungen dieser Was genau meint jemand, der auf die Frage nach seinem Demokratie zu einem gegebenen Zeitpunkt.2 Dies zeigen – im Vertrauen in die Demokratie negativ geantwortet hat: Ist er Kontrast zu den Interpretationen der Allensbacher Studie – verdrossen, weil die amtierende Regierung nicht seiner Partei- Ergebnisse anderer Bevölkerungsumfragen. präferenz entspricht? Oder weil die Hartz-IV-Sätze zu niedrig Dem jüngst erschienenen ALLBUS für das Jahr 20183 ist zu oder zu hoch sind, die Migrationspolitik ihm missfällt oder entnehmen, dass knapp 87 Prozent der Ostdeutschen und 92,5 die Kohlekraftwerke noch zu lange am Netz sein sollen? Ist Prozent der Westdeutschen bekundeten, dass sie grundsätzlich mangelndes Vertrauen also aktuell begründet durch Akteure für die „Idee der Demokratie“ seien (Werte für die Antwortvor- oder Politikinhalte? Oder ist das Motiv einer Negativ-Antwort gaben „sehr dafür“ und „ziemlich dafür“). grundsätzliches Misstrauen in die Mechanismen der Demokra- In derselben Umfrage wurde die Zufriedenheit mit der „De- tie und ihrer Institutionen? mokratie, so wie sie in Deutschland besteht“, erhoben, also 1 Vgl. Oscar W. Gabriel, Repräsentationsschwächen und die zweite Transformation der klar auf die konkrete Verwirklichung der Demokratie und die Demokratie: Wer will in Deutschland direkte Demokratie?, in: ZParl, 44. Jg. (2013), Heft 3, Zufriedenheit damit abgestellt; und hierbei antwortete ein S. 592 – 612, S. 600 f. 2 deutlich geringerer Anteil der Befragten positiv: 60 Prozent der Vgl. zu diesen Zusammenhängen schon Suzanne S. Schüttemeyer, Bundestag und Bürger im Spiegel der Demoskopie. Eine Sekundäranalyse zur Parlamentarismusperzeption in der Westdeutschen und knapp 36 Prozent der Ostdeutschen zeig- Bundesrepublik, Opladen 1986 ten sich „sehr zufrieden“ oder „ziemlich zufrieden“. 3 GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften, Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften ALLBUS 2018, GESIS Datenarchiv, Köln 2019. ZA5270 Datenfile Nimmt man noch die Frage nach der Zufriedenheit „mit den Version 2.0.0 gegenwärtigen Leistungen der Bundesregierung“ hinzu, wird Suzanne S. Schüttemeyer, „Repräsentative Demokratie und politische Partizipation“, in: das Bild hinsichtlich aller drei oben genannten Einstellungs- Astrid Lorenz, Christian Pieter Hoffmann und Uwe Hitschfeld (Hg.), Partizipation für alle und dimensionen komplett: Nur noch 22,5 Prozent im Westen und alles? Fallstricke, Grenzen und Möglichkeiten, © Springer VS, Wiesbaden 2019, Kapitel 11
Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 5 Parlamentarische Demokratie
Was unterscheidet das parlamentarische Unterstützung durch „ihre“ Parlamentsmehrheit vergewissern, vom präsidentiellen Regierungssystem? darf deren Folgebereitschaft nicht überstrapazieren und sollte sich höchstens gelegentlich über deren Willen hinwegsetzen, will sie nicht ihren eigenen Fortbestand gefährden. Die Entwicklung der Parlamente in Großbritannien seit dem Mit diesem Recht der Parlamentsmehrheit geht die Aufga- 15. Jahrhundert und in den Vereinigten Staaten von Amerika be einher, ständig über die Funktionsfähigkeit der Regierung seit dem 18. Jahrhundert bildet die Grundlage für die historische zu wachen. Scheint diese nicht mehr gewährleistet, obliegt Differenzierung von politischen Systemtypen. Danach sind in es der Parlamentsmehrheit, die Exekutive ganz oder teilwei- London und in Washington, D. C., Institutionen entstanden, die se auszutauschen. Es ist das Parlament – und nur das Parla- als Musterbeispiele für zwei ganz unterschiedliche Arten gel- ment –, das den Wählerinnen und Wählern direkte politische ten können, ein demokratisches politisches System zu gestal- Rechenschaft schuldet – auch und gerade für die Qualität der ten: das Westminster-Modell des Parlamentarismus (benannt Regierung. nach dem Westminster Palace, dem Sitz der beiden britischen Wie zentral dieses Strukturprinzip ist, wird besonders deut- Parlamentskammern im gleichnamigen Stadtteil) und der Prä- lich in der Unterscheidung zum präsidentiellen Regierungs- sidentialismus. Zu dieser Unterscheidung kann man auch aber system. Dort bestehen Exekutive und Legislative unabhängig auf systematische Weise gelangen, indem Kriterien bestimmt voneinander. Der Präsident bedarf nicht des Vertrauens der und plausibel begründet werden. Diese Kriterien sollen in den Mehrheit, um für eine volle Wahlperiode im Amt zu bleiben (Es Folgeabschnitten näher betrachtet werden. Zentral für die Un- sei denn, es ergeht ein Amtsenthebungsverfahren wegen straf- terscheidung zwischen Parlamentarismus und Präsidentialis- rechtlich relevanten Verhaltens, was allerdings nicht in diesen mus ist das Verhältnis von Legislative und Exekutive, also von – Zusammenhang gehört.). im klassischen Verständnis – gesetzgebender und ausführen- Als Konsequenz kann oder muss sich die Exekutive im Prä- der Gewalt. sidentialismus nicht auf eine feste Mehrheit stützen, sie kann oder muss sich vielmehr von Fall zu Fall Abstimmungsmehr- Die Abberufbarkeit der Regierung heiten für ihre Vorhaben besorgen. Entsprechend steht die Im parlamentarischen Regierungssystem hat das Parlament Legislative gegenüber den Wählenden nicht in der Verantwor- das Recht und die Pflicht, für eine handlungsfähige Regierung tung für die Exekutive, denn sie hat schließlich keine Macht zu sorgen. Diese Verantwortung begründet im Kern die Funk- über deren Amtsdauer. tionsweise dieses Regierungssystems, erklärt etliche Hand- Diese existenzielle Unabhängigkeit der beiden Gewalten lungsformen seiner Akteure und bestimmt seine Logik. Die voneinander wird in der Regel dadurch verstärkt, dass die Be- Regierung ist demnach abhängig vom Parlament – und zwar völkerung im Präsidentialismus selbst entscheidet, wer die nicht nur für die Inkraftsetzung ihrer Vorhaben, sondern in ih- Exekutive bilden soll. Die demokratische Legitimität der Regie- rer schieren Existenz. Ohne das fortgesetzte Vertrauen der Par- rung entsteht hier durch die direkte Wahl des Staatschefs, die lamentsmehrheit, ausgedrückt in ihrer Bereitschaft, die amtie- rechtlich geregelt ist oder faktisch so erscheint (wie etwa in rende Regierung nicht abzusetzen oder durch eine andere zu den USA, wo formell ein Wahlmännergremium den Präsiden- ersetzen, gibt es im parlamentarischen Regierungssystem gar ten wählt). Ebensolche Legitimität kann das Parlament für sich keine Regierung. beanspruchen, denn auch seine Abgeordneten werden direkt Die Tatsache, dass das Parlament, genauer: die Parlaments- vom Volk gewählt. mehrheit, den Premierminister oder Kanzler und faktisch zu- Die Tatsache, ob ein Parlament die Regierung abberufen kann meist indirekt auch sein Kabinett abberufen kann, schafft eine oder nicht, setzt grundlegende Bedingungen dafür, welche Ak- besondere Beziehung zwischen Regierung (Exekutive) und teure welchen Einfluss haben und wie sie im alltäglichen politi- Parlament (Legislative). Die Regierung muss sich ständig der schen Geschäft miteinander umgehen. Die Abberufbarkeit der
6 Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 Die Logik der parlamentarischen Demokratie
Zur Geschichte eines faszinierenden Institutionentyps
Parlamente haben sich inzwischen über die ganze Erde verbrei- stimmte Zeit eine Art Bestandsgarantie genossen [...]. Ferner tet. Man findet sie in unzweifelhaft demokratischen Staaten wurde folgenreich, ob eine Ständeversammlung dem Landes- wie Deutschland und den USA ebenso wie in jenen autoritä- herrn körperschaftlich gegenüberstand, was in der deutschen ren islamischen bzw. anti-islamistischen Regimen, die es zwi- Verfassungsgeschichte als „dualistischer Ständestaat“ bezeich- schen dem Maghreb und dem Indischen Ozean gibt, ja sogar net wird, oder ob sich – wie in England – die Vorstellung durch- in Diktaturen wie Weißrussland oder China. Blickt man zurück setzte, Monarch und Ständeversammlung repräsentierten ge- in die Geschichte, so lichten sich die Reihen parlamentarischer meinsam den „body politic“ des Landes oder Reiches, also ein Institutionen allerdings aus: Parlamentarische Körperschaften, der gemeinsamen Leitung anvertrautes politisches System. die wir auf den ersten Blick als solche identifizieren und die Aus dieser Idee, in England auf die Formel „king in parliament“ nicht föderativen Ursprungs sind, wird man in Asien und Af- gebracht, konnte sich später vergleichsweise leicht das parla- rika wohl kaum vor dem 20. Jahrhundert finden, in Amerika mentarische Regierungssystem entwickeln. schwerlich vor dem 17. Jahrhundert. Viel weiter in die Vergan- In Europa wurde seit dem 13. Jahrhundert das Zusammen- genheit reicht die gut erkennbare parlamentarische Tradition wirken von Monarchen oder Landesherrn mit Ständen zur Europas: Vor dem demokratischen Parlamentarismus des – vor Normalform politischer Organisation. Unter dem Namen allem – 20. Jahrhunderts findet sich der „Frühparlamentaris- von Landständen und Landtagen, von Provinzial- und Reichs- mus“ der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und ihm geht die ständen, von Generalständen und Generalstaaten, nicht nur bis ins Spätmittelalter währende Zeit ständischer Repräsenta- im deutschen Reich auch unter dem Namen Reichstag, präg- tion voraus. [...] ten ständische Vertretungskörperschaften jedenfalls bis zum Konkret entstanden sie [Ständeversammlungen] aus zu- 17. Jahrhundert die abendländische Geschichte des Regierens. nächst oft impliziten, später meist auch beurkundeten Verein- [...] Wo immer es den Monarchen gelang, durch Erschließung barungen zwischen ständischen Führern und einem von ih- eigener Steuerquellen, durch die Errichtung einer wirksamen nen anerkannten Landesherrn, in denen wechselseitige Rechte Zentralverwaltung sowie durch den Aufbau einer dem Mo- und Pflichten festgelegt wurden. [...] Der Landesherr sorgte [...] narchen persönlich unterstehenden Armee ihre Machtstel- für kollektiven Schutz nach außen und untereinander sowie, lung auszubauen, konnte die politische Rolle der Ständever- nach Maßgabe seiner Möglichkeiten, für die Aufrechterhal- sammlungen eben dadurch reduziert werden. In Frankreich tung der ständischen Ordnung überhaupt; und umgekehrt schaffte es die Krone, von 1614 bis 1789 auf die Einberufung konnte der Landesherr, bei gedeihlichem Zusammenwirken einer Versammlung der Stände des Reiches ganz zu verzichten. mit der Versammlung seiner Stände, über seine eigenen Per- Aufgrund öffentlicher Finanznot nach so langer Zeit dann doch sonal-, Material- und Finanzressourcen hinaus nötigenfalls auf wieder zusammengerufen, erklärte sich die Kammer des Bür- jene Ressourcen zugreifen, über welche die Stände bzw. deren gertums alsbald zur Nationalversammlung und entzog – auf Führer verfügten. Für den Landesherrn war es also ratsam, oft Rousseau’sches Demokratiedenken gestützt – nicht nur der gar unverzichtbar, ein gutes Auskommen mit den Ständen zu institutionellen Form ständischer Repräsentation die Legiti- suchen; und diese wiederum konnten, als Gegenleistung des mationsgrundlage, sondern auch dem König ganz real seine Landesherrn für die ihm von Fall zu Fall zur Verfügung gestell- Macht. In England hingegen wandelte sich die Ständevertre- ten Personal-, Material- und Finanzressourcen, Einfluss auf tung der „Houses of Parliament“ ziemlich bruchlos zum heute seine politischen und rechtsetzenden Maßnahmen gewinnen. weitestgehend demokratisch legitimierten Träger eines parla- Als institutionelle Form dessen entstanden Körperschaf- mentarischen Regierungssystems. Allerdings trug hierzu die ten, in denen Monarchen oder im Rang unter ihnen stehende militärische Durchsetzung der Parlamentsmacht im Bürger- Landesherren mit den Führern der wichtigsten Stände bzw. krieg und bei der Glorreichen Revolution ganz wesentlich bei. mit solchen Vertretern zusammenwirkten, die von den Stän- In Deutschland wiederum bestanden Ständeversammlungen, den als mehr oder minder weisungsgebundene Vertreter be- etwa in den beiden mecklenburgischen Herzogtümern, noch stellt waren. Auf den Ständeversammlungen konnten diese bis zur Revolution von 1918 weiter, wenn auch hinsichtlich der einesteils als Vertreter von Korporationen auftreten wie der sie tragenden Ordnungsvorstellungen recht isoliert inmitten Ritterschaft oder der Universitäten, andernteils aber auch als eines nunmehr auch demokratischen, vom Reichstag verkör- Vertreter von Territorien. [...] Im übrigen unterschieden sich perten Parlamentarismus. die Ständeversammlungen danach, ob sie fallweise bzw. nach
eigenem Ermessen des Monarchen einberufen und entlassen Werner J. Patzelt, „Grundriss einer Morphologie der Parlamente“, in: ders. (Hg.), Evolutori- werden konnten, oder ob sie – einmal einberufen – für eine be- scher Institutionalismus, Ergon-Verlag, Würzburg 2007, S. 483–564, hier S. 483 u. 526 f.
Regierung durch das Parlament schafft die besondere Abhän- Die Bestellung der Regierung gigkeit, die im parlamentarischen System zwischen Exekutive Demgegenüber tritt die Frage, ob das Parlament die Exekutive, und Legislative besteht und ist nach dem Politologen Winfried insbesondere den Premierminister, nicht nur absetzen, son- Steffani das wichtigste Kriterium für die Unterscheidung zwi- dern auch wählen kann, an Bedeutung zurück. So gibt es durch- schen parlamentarischem und präsidentiellem Regierungssys- aus auch präsidentielle Systeme, in denen die Regierung vom tem. Auf der Basis dieses einen vorrangigen Kriteriums werden Parlament gewählt wird. Beispielhaft wäre die Schweiz zu nen- sofort wesentliche Eigenschaften des politischen Prozesses in nen. Dort wählen die beiden Kammern des Bundesparlaments, einem Land deutlich. Nationalrat und Ständerat, auf vier Jahre eine siebenköpfige
Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 7 Parlamentarische Demokratie
Exekutive nach der sogenannten Zauberformel, die den spezi- von Problemen gewinnen kann. Für diese Leistungen setzt sie fischen Schweizer Parteienproporz sichert. Diese Exekutive be- ihre Führungsmannschaft als Regierung ein. Diese kann ihrer- steht aus mehreren gleichrangigen Personen und wird deshalb seits nur erfolgreich sein, wenn sie sich die Gefolgschaft der als Kollegialregierung bezeichnet. Sie kann nicht abgewählt Parlamentsmehrheit bewahrt. werden, sodass in der Schweiz die oben geschilderte Logik des Letztlich dasselbe Ziel, nämlich die Regierungs- und damit Präsidentialismus die Beziehungen zwischen Legislative und die politische Gestaltungsmacht, verfolgt die Opposition. Im Exekutive bestimmt: existenzielle Unabhängigkeit voneinan- klassischen Westminster-Modell des Parlamentarismus fun- der, keine Verantwortung füreinander. Hinzu kommen im Fall giert sie als „fleet in being“, als Regierung im Wartestand, und der Schweiz spezifische Mechanismen direkter Demokratie. arbeitet darauf hin, durch ständige Verdeutlichung von perso- In den USA wiederum bestimmt die Verfassung für den Fall, nellen wie politisch-inhaltlichen Alternativen bei der nächsten dass kein Präsidentschaftskandidat im Wahlmännerkollegium Wahl selbst zur Regierungsmehrheit zu werden. die absolute Mehrheit der Stimmen erhält, dass das Repräsen- Auch dort, wo dieses Konkurrenzverhältnis traditionell nicht tantenhaus aus den drei Kandidaten mit der höchsten Stim- so stark ausgeprägt ist, im politischen Tagesgeschäft ein eher menzahl einen Präsidenten wählt. Dies ist jedoch nur einmal kooperativer Umgang gepflegt wird und Minderheitsregie- (1825) vorgekommen. rungen häufig vorkommen, wie zum Beispiel in Skandinavien, In der politischen Praxis parlamentarischer Regierungssys- verfügen Regierungen über „ihre“ Parteien im Parlament, und teme tritt neben die Abberufbarkeit der Regierung oft auch es trachtet mindestens eine andere (große) Partei nach Über- deren Bestellung durch das Parlament. Dies geschieht entwe- nahme der Regierungsverantwortung. der durch eine förmliche Wahl, die sich in der Regel nur auf den Premierminister bezieht, oder indem das Parlament über Die Auflösung des Parlaments das politische Programm des Premiers bzw. über seine Regie- Als Gegenmaßnahme zur Befugnis des Parlaments, die Regie- rungserklärung abstimmt. Auch informelle Regeln können die rung abzuberufen, räumen viele Verfassungen parlamenta- Regierungsbildung sowie die Rekrutierung und Auswahl des rischer Regierungssysteme der Regierung das Recht ein, das Regierungspersonals aus den Parlamentsfraktionen steuern. Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszurufen. Dies mag Die Mechanismen von Abberufung und Bestellung bringen auf den ersten Blick als schematische Ausbalancierung der Ge- zwei den Parlamentarismus prägende Handlungseinheiten walten Exekutive und Legislative erscheinen. Schon aus dieser hervor: die Regierungsmehrheit und die Opposition. Erstere Perspektive ist es nur folgerichtig, dass im Präsidentialismus besteht aus der Parlamentsmehrheit, die entweder von einer die – nicht abberufbare – Exekutive das Parlament auch nicht Fraktion allein oder durch die Koalition mehrerer Fraktionen auflösen kann. gestellt werden kann, sowie der von ihr gestützten Regierung, Bei näherem Hinsehen ist das Recht der Regierung, das Par- letztere aus den Fraktionen, die diese Regierung nicht tragen. lament aufzulösen, vor allem die konsequente Fortführung des Der Kitt, der die Regierungsmehrheit im Innersten zusam- Strukturprinzips, das Parlament für die Handlungsfähigkeit der menhält, ist das Interesse am politischen Erfolg – und Erfolg Regierung verantwortlich zu machen. Kann es diese Leistung heißt hier letztlich: Erhalt der Regierungsmacht. Dazu sind die nicht erbringen, also weder eine Mehrheit zur Unterstützung Mehrheit und ihr Kabinett unverzichtbar aufeinander ange- der amtierenden Regierung mobilisieren, noch eine Mehrheit wiesen. Denn die Mehrheit bleibt nur Mehrheit, solange sie die für eine neue Regierung herstellen, so muss die Regierung han- Wählerschaft durch überzeugende Leistungen bei der Lösung deln können: Den Ausweg aus einer solchen Krise eröffnen die
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Auflösung des Parlaments und Neuwahlen, um wieder eine Die Vereinbarkeit von Amt und Mandat handlungsfähige Regierungsmehrheit herzustellen. Auch die Frage, ob ein Abgeordneter gleichzeitig Mitglied der Das Ende der ersten sozialliberalen Regierung unter dem Regierung sein darf, kann als Kriterium für die Unterschei- Kanzler Willy Brandt in der Bundesrepublik Deutschland im dung zwischen parlamentarischem und präsidentiellem Re- Jahre 1972 liefert dafür ein anschauliches Beispiel: Die Koali- gierungssystem herangezogen werden. Sie bezeichnet aber – tion aus SPD und FDP hatte im Zuge ihrer neuen Ostpolitik genauso wie die Bestellung der Regierung durch das Parlament durch Fraktionsaustritte nach und nach ihre Mehrheit im Bun- oder die Auflösung des Parlaments durch die Regierung – nur destag verloren. Das Konstruktive Misstrauensvotum, mit dem ein ergänzendes, kein unabdingbares Merkmal des Parlamen- der Oppositionsführer, der Vorsitzende der Unionsfraktion und tarismus. CDU-Parteivorsitzende Rainer Barzel, Bundeskanzler Brandt Im Präsidentialismus herrscht in der Regel die Unvereinbar- ablösen wollte, scheiterte zwar äußerst knapp, die Koalition keit von Abgeordnetenmandat und Regierungsamt, die soge- verfügte aber nicht mehr über die nötigen Stimmen, um Geset- nannte Inkompatibilität. So darf der Präsident in den USA nicht ze und insbesondere den Haushalt zu verabschieden. In dieser dem Repräsentantenhaus oder dem Senat angehören. Umge- Situation politischer Handlungsunfähigkeit machte Kanzler kehrt gilt, dass in den meisten parlamentarischen Demokra- Brandt von der im Grundgesetz (Art. 68) vorgesehenen Mög- tien Europas Amt und Mandat vereinbar sind. Im Vereinigten lichkeit Gebrauch, über die Vertrauensfrage zu einer Auflösung Königreich muss der Premierminister sogar Member of Parlia- des Bundestages durch den Bundespräsidenten zu kommen. ment, Parlamentsmitglied, sein. Andrea Hanks
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Im Präsidentialismus sind Abgeordneten- mandat und Regierungsamt nicht miteinander vereinbar. Der US-Präsident betritt den Kongress in der Regel nur für seine jährliche Rede zur Lage der Nation (State of the Union Address), wie hier Donald Trump auf der gemeinsamen Sitzung von Senat und Reprä- sentantenhaus am 5. Februar 2019.
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Es gibt aber auch Ausnahmen: In Frankreich, in den Nieder- spiel des siebenköpfigen Bundesrates, der Regierung in der landen und in Norwegen beispielsweise müssen Abgeordnete Schweiz) wahrgenommen, wie dies im Präsidentialismus der ihr Mandat niederlegen, wenn sie ein Regierungsamt über- Fall ist, spricht man von einer geschlossenen Exekutive. So ist nehmen. Darin spiegelt sich noch die Tradition klassischer Ge- etwa auch der Präsident der USA gleichzeitig Regierungschef waltenteilung wider – die dualistische Frontstellung von Parla- und oberster Repräsentant seines Landes. ment und Regierung („alter Dualismus“). Sind es dagegen zwei Organe, die sich diese Aufgaben teilen, Dagegen verdeutlicht die Grundregel der Vereinbarkeit von etwa ein Kanzler und ein Bundespräsident wie in Deutschland Amt und Mandat im Parlamentarismus die strukturell beab- oder ein Premierminister und eine Königin wie in Großbritan- sichtigte und funktionale, enge Verknüpfung von Parlaments- nien, so handelt es sich um eine doppelte Exekutive. Diese ist mehrheit und Regierung, der die parlamentarische Opposition typisch für parlamentarische Regierungssysteme, die historisch gegenübersteht („neuer Dualismus“). Sind Premierminister aus Monarchien entstanden sind, in denen allmählich oder bzw. Kanzler und Minister „Fleisch vom Fleische“ des Parla- durch revolutionäre Akte die politische Führung auf bürgerliche, ments, bleiben sie also Mitglieder der sie als Regierung tragen- später auch noch demokratisch legitimierte Kräfte überging. den Fraktion(en), so ist die Gleichzeitigkeit von politischer Dass eine solche doppelte Exekutive das Problem der Kon- Kooperation und gegenseitiger Kontrolle viel besser gewähr- kurrenz in sich birgt, liegt auf der Hand. Dies ist insbesondere leistet als im Präsidentialismus. dann der Fall, wenn die jeweilige Verfassung das Staatsober- haupt mit Kompetenzen ausstattet, bei denen die Abgrenzung Das Kriterium der Ausgestaltung der Exekutive zur politischen Sphäre der Regierung schwierig und interpre- Eine weitere Unterscheidung zwischen den Typen des parla- tationsbedürftig ist. Ein aktuelles Beispiel hierfür bietet das mentarischen und des präsidentiellen Regierungssystems politische System Frankreichs, ein historisches die Weimarer ergibt sich aus der Frage, ob die Exekutive „geschlossen“ oder Republik. „doppelt“ ausgestaltet ist. Diese Unterscheidung geht auf zwei Wird die Ausgestaltung der Exekutive als Merkmal mit dem grundsätzlich verschiedene Funktionen der Exekutive zurück: primären Kriterium der Abberufbarkeit der Regierung kombi- Erstens hat sie die Aufgaben des (partei-)politischen Regierens niert, ergeben sich vier Untertypen, denen Länder mit ihren po- zu erfüllen, zweitens soll sie den gesamten Staat nach innen litischen Systemen und in bestimmten Phasen ihrer Entwick- wie nach außen repräsentieren. Staatsrechtlich und personell lung zugeordnet werden können. Mit Hilfe solcher Typologien ist dies gleichbedeutend mit der Differenzierung zwischen Re- lässt sich rasch erschließen, nach welcher Logik, nach welchen gierungschef und Staatsoberhaupt. Grundmustern die politischen Akteure eines Landes handeln, Werden beide Funktionen von einem einzigen Organ (nicht und wie das Zusammenspiel zwischen den Institutionen dort notwendigerweise von einer einzigen Person, siehe das Bei- funktioniert.
Mischsysteme von Parlamentarismus und Präsidentialismus
Die Beobachtung, dass bestimmte Elemente, die für den Par- nister. Daher handelt es sich beim Semi-Präsidentialismus le- lamentarismus typisch sind, in einem politischen System mit diglich um die gelegentlichen Wechseln unterliegende Ausprä- solchen kombiniert sind, die in der Regel den Präsidentialis- gung der (französischen) parlamentarischen Demokratie unter mus kennzeichnen, veranlasste Politikwissenschaftler zur Kon- den wandelbaren Bedingungen von Parteimehrheiten. struktion sogenannter Mischtypen. Zu nennen ist hier vor al- Der niederländische Politologe Arend Lijphart kombiniert lem der „Semi-Präsidentialismus“ (Maurice Duverger), der vor das Kriterium der Abberufbarkeit der Regierung mit den Fra- dem Hintergrund französischer Regierungspraxis konzipiert gen, ob sie aus einer oder mehreren Personen besteht und ob wurde. Im Zuge der demokratischen Transformationsprozesse ihre Wahl durch die Legislative oder die Bevölkerung erfolgt. So in Ostmittel- und Osteuropa orientierten sich einige Staaten erhält er acht Merkmalskombinationen, von denen zwei die (zunächst) an diesem Vorbild. reinen Formen des Parlamentarismus und Präsidentialismus Semi-Präsidentialismus bezeichnet ein politisches System, darstellen und sechs als Mischtypen erscheinen. Dabei kann er in dem die Verfassung vorsieht, dass das Staatsoberhaupt di- allerdings drei nicht mit empirischen Beispielen füllen und die rekt vom Volk gewählt wird und über erhebliche Kompetenzen weiteren drei mit nur jeweils einem. verfügt, während gleichzeitig ein vom parlamentarischen Ver- Auch andere Politikwissenschaftler wie Matthew Soberg trauen abhängiger Premierminister (mit seinem Kabinett) die Shugart und John M. Carey oder Wolfgang Merkel bestimmen Regierungsgewalt innehat. Mochte noch General Charles de nicht ein Entweder-Oder-Kriterium, das die sofortige eindeuti- Gaulles Amtsführung es nahe legen, das französische System ge Zuordnung eines Falles erlaubt, sondern Merkmale werden als „beinah präsidentiell“ anzusehen, so wurde mit dem ersten kombiniert und in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen Auftreten von cohabitation in den 1980er-Jahren, also dem Auf- zu Typen konstruiert. Diese können notwendigerweise nicht einandertreffen eines Präsidenten und eines Regierungschefs dieselbe Trennschärfe aufweisen. Zudem sind sie mit dem unterschiedlicher Parteizugehörigkeit, klar, dass auch der Ver- Nachteil behaftet, dass für ihre Anwendung nicht Grundstruk- fassungskonstruktion des Semi-Präsidentialismus die Logik des turen eines politischen Systems, sondern oft erst dessen kon- Parlamentarismus innewohnt: Ohne bzw. gegen das Vertrauen krete Praxis zum jeweiligen Zeitpunkt ermittelt werden muss, der Parlamentsmehrheit ist politische Handlungsfähigkeit nicht wenn man substanzielle Informationen über die Handlungs- zu sichern. Das Schwergewicht dieser Handlungsfähigkeit liegt logik der Akteure und Institutionen erhalten will. im Semi-Präsidentialismus – je nach Rahmenbedingungen – einmal mehr beim Präsidenten, einmal mehr beim Premiermi- Suzanne S. Schüttemeyer
10 Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 Die Logik der parlamentarischen Demokratie Bundesregierung, B145 Bild-00400584, Foto: Jesco Denzel B145 Bild-00400584, Bundesregierung, Foto: Jones Victoria
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REUTERS
Typisch für parlamentarische Regierungssysteme ist eine doppelte Exekutive: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier überreicht Angela Merkel am 14. März 2018 die Ernennungsurkunde als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, der britische Premierminister Boris Johnson auf Antrittsbesuch bei Queen Elizabeth II. im Buckingham-Palast am 24. Juli 2019.
Die Bedeutung der Gewaltenteilung
„Richtige“ Gewaltenteilung herrscht in einem Staat, wenn es eine klare Trennung und Gegenüberstellung „der Legislative“ und „der Exekutive“ gibt – so lautet ein häufig anzutreffendes Missverständnis über ein zentrales Gestaltungsprinzip rechts- staatlich-demokratischer Ordnung. Um die Mechanismen der parlamentarischen Demokratie richtig verstehen zu können, muss Gewaltenteilung wesentlich grundlegender und diffe- renzierter aufgefasst werden.
Historische Ansätze zur Eindämmung von Machtmiss- brauch Der französische Staatstheoretiker Montesquieu (Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu, 1689–1755), der als „Vater der Gewaltenteilungslehre“ gilt, schrieb sein Werk „Vom Geist der Gesetze“ angesichts des Absolutismus im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Im Absolutismus regierte ein durch Gottesgnadentum legitimierter Monarch allein, ohne ständische oder gar demokratische Mitbestimmung. Montesquieus Grundgedanke war deshalb darauf gerichtet, den Missbrauch von (staatlicher) Macht zu verhindern. Da er nicht nur einen theoretischen Beitrag leisten, sondern durchaus konkret politisch wirken wollte, entwarf er eine knappe Funk- tionenlehre. Nach ihr sollte der Staat Gesetze erlassen, ihre An- wendung gewährleisten und – falls darüber Streitigkeiten ent- stünden oder die Gesetze nicht befolgt würden – für Schlichtung bzw. Erzwingung sorgen. Anders ausgedrückt: Es müsse eine Legislative, eine Exekutive und eine Judikative geben. Diese teilte er nun aber keineswegs, wie immer wieder be- hauptet, den genannten drei „Gewalten“ im Staate zu. Statt-
Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 11 Parlamentarische Demokratie
Eine moderne Gewaltenteilungslehre Dietmar Katz
/ Mit der politologischen Gewaltenteilungslehre soll eine bpk Möglichkeit erschlossen werden, ein politisches Gemein- wesen daraufhin zu erforschen, wieweit in ihm die äuße- ren Voraussetzungen politischer Freiheit formell gegeben und die darauf beruhenden Rechte und Gestaltungschan- cen praktisch wahrnehmbar sind sowie tatsächlich wahr- genommen werden. Die politologische Gewaltenteilungs- lehre umgreift und verbindet sechs fundamentale Tei- lungslehren, die zueinander in engster Beziehung stehen und erst zusammengenommen einen brauchbaren Aussa- gewert ermöglichen: 1. Die staatsrechtliche („horizontale“) Teilungslehre, 2. die temporale Teilungslehre, 3. die föderative („vertikale“) Teilungslehre, 4. die konstitutionelle Teilungslehre, Im 18. Jahrhundert entwickelte der französische Staatstheoretiker 5. die dezisive Teilungslehre und Charles de Montesquieu die Lehre von der Gewaltenteilung. 6. die soziale Teilungslehre. [...] dessen verankerte er die Rechtsprechung (Judikative) in einem Mit der staatsrechtlichen („horizontalen“), temporalen, nicht ständigen Gremium, also einer fallweise einzusetzenden föderativen und konstitutionellen Teilungslehre, die weit- Gerichtsbarkeit, deren Mitglieder demselben Stand wie die An- gehend normbestimmt sind, bilden die dezisive und die so- geklagten bzw. Streitparteien angehören sollten. Die übrigen ziale Teilungslehre eine wesensbezogene Einheit. Anhand beiden Aufgaben übertrug Montesquieu drei sozialen Kräften, der dezisiven Teilungslehre – die als das Herzstück der po- deren Einbindung er für unerlässlich hielt, um seinem „Reform- litologischen Gewaltenteilungslehre bezeichnet werden konzept“ eine Chance auf Verwirklichung zu geben: König, Adel kann – läßt sich der politische Willensbildungs- und Ent- und Bürgertum sollten sich die Macht teilen, wobei der König scheidungsprozeß (der politische Gestaltungsprozeß) ver- allein die Regierung (Exekutive) stellen sollte, während Adel und folgen. Durch sie wird das pluralistische Gruppengeflecht Bürgertum ihrerseits in einem Zweikammerparlament die Ge- in all seinen politischen Gestaltungsformen und Wirksam- setzgebung (Legislative) übernehmen sollten. Dessen Gesetzes- keiten mit den staatsrechtlich fixierbaren Kompetenz- beschlüsse unterstellte er einem Vetorecht des Monarchen, der bereichen in Beziehung gesetzt. Zusammengenommen seinerseits nichts ohne Parlamentsbeschluss bewirken konnte. bilden sie das politische System. Hier können fünf auto- Prägend wirkte Montesquieus Lehre auf die US-amerika- nome, jedoch stets in innigster Interdependenz zueinander nischen Verfassungsväter. Dies brachte der Politikwissen- stehende Diskussions- und Entscheidungsebenen unter- schaftler Richard E. Neustadt zwei Jahrhunderte später auf schieden werden: die prägnante Formel: „separated institutions sharing powers“ 1. Regierung (getrennte Institutionen teilen sich die Machtbefugnisse) und 2. Parlament charakterisierte damit treffend das präsidentielle Regierungs- 3. Parteien system der USA. 4. Interessengruppen 5. Öffentliche Meinung. Die machthemmende Wirkung des „neuen Dualismus“ [...] Aufbauend auf Montesquieus Grundkonzept der Verhinde- rung von Machtmissbrauch hat die moderne Politikwissen- Mit der Gewaltenteilung wird in der pluralistischen Demo- schaft ein differenziertes Verständnis von Gewaltenteilung kratie ein Prinzip benannt, mit dessen Hilfe konzentrierte entwickelt. Damit lassen sich erstens etliche anders gelagerte Minderheitsdiktaturen ausgeschlossen, Mehrheitsdikta- Formen der Verteilung staatlicher Macht begründen, und zwei- turen verhindert und im politischen wie wirtschaftlich- tens ermöglicht es, die vielfältigen machthemmenden Aspek- sozialen Machtkampf benachteiligten oder unterlegenen te demokratisch-pluralistischer Gesellschaften, insbesondere Minderheiten eine mitwirkende Teilhabe bzw. gesicherte von Parteien und Interessengruppen, Medien und Öffentlich- Freiheitssphäre eröffnet werden soll. [...] keit, einzubeziehen. Im Rahmen der politologischen Gewaltenteilungslehre Für die Entwicklung der parlamentarischen Demokratie war kann ein Herrschaftssystem an Hand der sozialen und de- es entscheidend, dass die historisch gewachsene Frontstellung zisiven Teilungslehre nach seinem demokratisch-pluralis- zwischen der (monarchisch dominierten) Exekutive und der tischen Charakter befragt und zugleich in Verbindung mit zunächst vom Adel, später vom Bürgertum erkämpften legis- der staatsrechtlichen, temporalen, föderativen und konsti- lativen Gewalt – der sogenannte alte Dualismus – abgelöst, tutionellen Teilungslehre die Zusammensicht der staatli- zumindest weitgehend überlagert wurde von einem „neuen chen und sozialen „Gewalten“ vollzogen werden. Dualismus“. Dieser entstand im englischen Parlamentaris- Winfried Steffani, Grundzüge einer politologischen Gewaltenteilungslehre, in: ders., mus, der im Laufe des 19. Jahrhunderts die Abhängigkeit der Gewaltenteilung und Parteien im Wandel, Springer VS, Wiesbaden 1997, S. 27–55, S. 38, Regierung von der Parlamentsmehrheit und das Prinzip insti- 48 f. und 55. tutionalisierter Opposition begründete. Seither bilden im par-
12 Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 Die Logik der parlamentarischen Demokratie
lamentarischen Regierungssystem die Parlamentsmehrheit Constitution“ vorlegte. Er analysierte das politische System sei- und die von ihr getragene Regierung eine Handlungseinheit, nes Landes zu einem Zeitpunkt, als sich die Glanzzeit des bürger- der die Opposition gegenübersteht. lich-liberalen, also noch nicht durch allgemeines und gleiches Die machthemmende Wirkung dieses neuen Dualismus er- Wahlrecht demokratisierten Parlamentarismus des 19. Jahrhun- gibt sich erstens aus der ausdrücklich anerkannten Stellung derts dem Ende zuneigte. Er unterschied die „elective“, „expressive“, der Opposition und den (Kontroll-)Rechten, die ihr speziell ga- „teaching“, „informing“ und „legislative function“. rantiert werden. In den parlamentarischen Demokratien des Auch auf die Bestimmung „Of the proper functions of re- europäischen Kontinents ist dies oft sogar in den geschriebenen presentative bodies“, die der engliche Philosoph John Stuart Verfassungen verankert, in Großbritannien ist die Oppositions- Mill 1861 in seinem Werk „Considerations on Representative führerschaft ein bezahltes Amt wie das des Premierministers. Government“ vornahm, wird noch heute Bezug genommen, Zweitens ginge die Annahme an der politischen Realität vor- allerdings deutlich seltener als auf Bagehot. Dies dürfte im bei, dass die Parlamentsmehrheit die Regierung unkontrolliert Wesentlichen daran liegen, dass Mill Parlamente für unge- gewähren ließe. Die oben erläuterte Übereinstimmung der In- eignet hielt, Gesetze zu machen. Sie seien zu groß, ihre Bera- teressen von Mehrheit und Kabinett resultiert aus der ständi- tungs- und Abstimmungsformen stünden der Notwendigkeit gen Kommunikation zwischen den Abgeordneten und ihren präziser, langfristiger und miteinander verbundener Problem- Ministern und führt nur dann zum nächsten Wahlsieg, wenn lösungen entgegen. man sich gegenseitig immer wieder daraufhin überprüft, ob Seine vor inzwischen über 150 Jahren geäußerte Kritik, Par- die richtigen Entscheidungen getroffen, die geeigneten und von lamente widmeten sich zu sehr gesetzgeberischen Einzelhei- der Wählerschaft akzeptierten Maßnahmen ergriffen werden. ten, gehört zwar immer noch zum Standardrepertoire von Es liegt auf der Hand, dass die Opposition die Regierung auf Parlamentskritikern und -skeptikern. Doch damals wie heute anderen Wegen und mit anderen Zielen kontrolliert, als es durch die Parlamentsmehrheit geschieht. Oppositionelle Kritik ist auf öffentliche Wirksamkeit gerichtet. Sie soll den Wähle- rinnen und Wählern Alternativen zu den Amtsinhabern und zu den Sachfragen anbieten sowie die eigene Fähigkeit zur Regierungsübernahme unter Beweis stellen; ihr Ziel ist prinzi- piell nicht, die Regierung konkret und aktuell zu unterstützen. Dagegen wird die Kontrolle innerhalb der Regierungsmehr- heit durch interne Initiativen geübt. Detail- und wenn nötig auch Richtungskorrekturen erfolgen möglichst geräuschlos und unter Ausschluss der Öffentlichkeit, um den Eindruck mangelnder Geschlossenheit oder ungenügender Handlungs- fähigkeit zu vermeiden. Süddeutsche Zeitung Photo
Die Behauptung, in der parlamentarischen Demokratie gäbe /
es keine Gewaltenteilung, weil es keine Trennung von Amt und TopFoto
Mandat gibt, weil die Mehrheit „sklavisch“ ihrer Regierung fol- /
ge und die Opposition letztlich auf verlorenem Posten stünde, greift also viel zu kurz. Ein institutionalisiertes Gegenüber von Gesamtparlament und Regierung ist keine unabdingbare Vo- raussetzung für wirksame politische Kontrolle. Diese wird im United Archives neuen Dualismus ebenso realisiert wie im alten, auf vielfältige, allerdings weniger offensichtliche und stärker erklärungsbe- dürftige Weise.
Parlamentsfunktionen
Soll eine Institution in der Sache angemessen und im An- spruch gerecht beurteilt werden, bedarf es eines analytischen Rasters ihrer Aufgaben. Dazu sollte ein Parlament über einen längeren Zeitraum und im Vergleich zu anderen Parlamenten betrachtet werden. Notwendig ist des Weiteren, Rechtsnormen, ideengeschichtliche Zusammenhänge und theoretische Erwä- gungen heranzuziehen. Auf dieser Grundlage sind im Laufe der Zeit verschiedene Funktionskataloge erstellt worden, mit denen versucht wird, Aufgaben und Leistungen von Parlamen- ten zu untersuchen und zu beurteilen. Bridgeman Images Klassische Funktionskataloge Klassischer Ausgangspunkt der meisten Funktionskataloge ist Der Journalist Walter Bagehot und der Philosoph John Stuart Mill die Analyse des britischen House of Commons, die der britische veröffentlichten im England des 19. Jahrhunderts grundlegende Werke Journalist Walter Bagehot 1867 in seinem Werk „The English zu den Funktionen von Parlamenten.
Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 13 Parlamentarische Demokratie lassen sich Parlamente in repräsentativen Demokratien auch reich, sich die Unterschiede zwischen einzelnen Funktionen im 21. Jahrhundert weder in ihrem Selbstverständnis auf die systematisch zu vergegenwärtigen, um ein Parlament als Ge- Rolle reduzieren, bloß Notare anderweitig getroffener Ent- samtinstitution zu begreifen. scheidungen zu sein, noch lassen sie es sich nehmen, an der Herstellung von Gesetzen in irgendeiner Weise mitzuwir- Das Modell der Dreiteilung von Funktionen ken, und sei es nur mithilfe ihres „Rechts des letzten Wortes“, Neben der Unterscheidung in rechtlich stärker, gar nicht oder also dem Verweis darauf, dass ohne sie kein Gesetz zustande wenig geregelte Funktionen verdeutlicht zum Beispiel der Politik- kommt. wissenschaftler Werner Patzelt die große Bandbreite parlamenta- rischer Aufgaben anhand einer Dreiteilung: Er unterscheidet auf Moderne Funktionskataloge das Parlament selbst bezogene, auf die Regierung bezogene und So enthalten alle modernen Kataloge von Parlamentsfunk- auf die Repräsentierten, also die Bevölkerung bezogene Aufgaben. tionen die Gesetzgebung; und die Kontrolle der Regierung Auf das Parlament bezogene Aufgaben: Wenngleich die gehört ebenso dazu. Sie ergibt sich nicht nur aus den theoreti- Aufgaben, die das Parlament zu seiner Selbsterhaltung erbrin- schen Anforderungen der Gewaltenteilung, sondern geradezu gen muss, nicht unmittelbar Leistungen für seine Umwelt (und zwangsläufig aus der historischen Entwicklung der Parlamen- insofern keine Funktionen im engeren Sinne) darstellen, sind te. Denn diese entstanden aus Körperschaften, die einst von sie ein wichtiger Bestandteil für die Analyse und das Verständ- den Herrschern zur Beschaffung und Bewilligung ihrer Aus- nis der Institution. Patzelt unterscheidet „Selbstorganisation“ gaben benötigt wurden. Die Wahlfunktion, also die Aufgabe von „normativer“ und „personeller Selbstreproduktion“. Mit der des Parlaments, andere Gremien und Amtsinhaber förmlich Kategorie „Selbstorganisation“ wird danach gefragt, wie sich zu bestellen oder zu rekrutieren, ist ebenfalls Bestandteil aller Parlamente in ihren Binnenstrukturen organisieren, um die Kataloge. ihnen aufgegebenen Funktionen zu erfüllen. Unter „personelle Funktionskataloge schreiben nicht Maßstäbe für „richtige“ Selbstreproduktion“ fallen die Rekrutierung und Sozialisation oder „falsche“, für „minimale“ oder „maximale“ parlamentari- von politischem (und auch administrativem) Nachwuchs und sche Leistungen vor, sondern sollen in ihrer jeweiligen Summe unter „normativer Selbstreproduktion“ wird die Aufrechterhal- eine komplette Checkliste möglicher Parlamentsfunktionen tung von internen Regeln und Normen verstanden. bieten, mit der eine konkrete Institution untersucht werden Auf die Regierung bezogene Aufgaben: Zu den regierungs- kann. So besteht in der Parlamentarismusforschung auch Ei- bezogenen Funktionen gehören die schon erwähnte Wahl- nigkeit darüber, dass sich die Parlamentsfunktionen überlap- bzw. Kreationsfunktion, die Gesetzgebung und die Kontrolle. pen und oft mit einer Handlung der Institution oder ihrer An- Auf die Repräsentierten (Bevölkerung) bezogene Aufgaben: gehörigen mehrere Funktionen gleichzeitig wahrgenommen Die Beziehungen zwischen Repräsentanten und Repräsentier- werden. ten nehmen folgende Zusammenhänge in den Blick: Komplexe Zum Beispiel erfüllt die Opposition, wenn sie einen Gesetz- demokratische Gesellschaften, in denen eine große Fülle von entwurf einbringt, nicht nur einen Teil der Gesetzgebungs- Meinungen, Positionen und Interessen vorhanden sind, bedür- funktion, sondern ebenfalls ihre Kontrollfunktion gegenüber fen für ihren Zusammenhalt des Ausgleichs dieser Interessen, der Regierung. Auch wenn es also nicht auf analytische Trenn- der Herstellung und der Vergegenwärtigung ihres Grundkon- schärfe bei den Funktionskatalogen ankommt, ist es doch hilf- senses und Gemeinwohls wie ihrer Differenzierung.
14 Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 Die Logik der parlamentarischen Demokratie
Neue Erfordernisse für Responsivität und politische Führung Edmund Burke zur Rolle politischer Umstandslos von einer einmal in Wahlen errungenen Mehrheit Repräsentation, 1774 Gebrauch zu machen reicht in der Regel nicht mehr aus, um die Bürgerinnen und Bürger hinreichend zu integrieren. Dafür sind (Auszug) (post-)moderne Gesellschaften nicht mehr homogen genug. „[…] es sollte die Freude und der Stolz eines jeden Reprä- Außerdem ist inzwischen ein leicht möglicher und regelmä- sentanten sein, mit seinen Wählern in der innigsten Ein- ßig stattfindender Mehrheitswechsel zwischen zwei Parteien, tracht, der engsten Übereinstimmung und der freimütigs- wie ihn das Westminster-Modell des Parlamentarismus zur ten Verbindung zu leben. Deren Wünsche sollten für ihn Grundlage hat, nicht mehr ohne weiteres möglich. Vielmehr größtes Gewicht haben, deren Meinung in hohem Respekt haben das Schrumpfen der großen Volksparteien und der Erfolg stehen, deren Geschäfte uneingeschränkte Aufmerksam- neu gegründeter, insbesondere populistischer Parteien in vielen keit verdienen. Es ist seine Pflicht, Ihnen seine Muße, sei- europäischen Ländern es schwieriger gemacht, nach Wahlen ne Vergnügungen, seine Zufriedenheit zu opfern. Und vor handlungsfähige und stabile Regierungsmehrheiten zu bilden. allem hat er stets und in allen Fällen deren Interessen den Hinzu kommt, dass viele Entscheidungen in ihren Folgen so seinen vorzuziehen. fortwirken, dass sie auch bei einem Regierungswechsel nicht Aber seine unvoreingenommene Meinung, sein reifes mehr rückgängig gemacht werden können, was ebenfalls als Urteil, sein erleuchtetes Gewissen, die darf er Ihnen nicht Vorbedingung für die Legitimität demokratischer Mehrheits- opfern – einem einzelnen ebenso wenig wie irgendeinem herrschaft galt. Kreis existierender Menschen (any set of men living). Die- Unter diesen Umständen bedeutet demokratisches Entschei- se verdankt er nicht Ihrer Gunst, noch dem Gesetz oder der den kompromissorientiertes Aushandeln. Sollen damit an- Verfassung. Sie sind vielmehr ein Vertrauenspfand Gottes gemessene Problemlösungen sowie die Folgebereitschaft der (a trust from providence), für dessen Missbrauch er zutiefst Bürgerinnen und Bürger erzielt werden, müssen die politischen verantwortlich ist. Ihr Repräsentant schuldet Ihnen nicht Repräsentanten, also in erster Linie Parlamente und ihre Abge- nur seinen Fleiß, sondern sein Urteilsvermögen. Und er ordneten, vier Anforderungen erfüllen: verrät Sie, anstatt Ihnen zu dienen, wenn er es Ihrer Mei- ¬ Sie müssen die Meinungen, Positionen und Interessen der nung zuliebe aufopfern würde. […] Repräsentierten kennen und in den politischen Willensbil- Ein gutes Parlamentsmitglied zu sein, ist […] keine leichte dungs- und Entscheidungsprozess einbringen, also Responsi- Aufgabe. Insbesondere in dieser Zeit, wo die Neigung, in vität zeigen. Dafür bedarf es der lebendigen Beziehung zwi- die gefahrvollen Extreme serviler Willfährigkeit oder un- schen Gesellschaft und Politik, der vielfältigen Vernetzung gestümer Popularitätssucht zu verfallen, so deutlich aus- zwischen Parlamentsabgeordneten und Bürgerinnen und geprägt ist.“ Bürgern in Parteien, Vereinen, Verbänden, Verwaltungen und anderen Organisationen, national wie international. Edmund Burke, „Speech to the Electors of Bristol. On his being declared by the Sheriffs, duly elected one of the Representatives in Parliament for that city. On Thursday, the 3rd of ¬ Um den Erfordernissen des Interessenausgleichs, der Pro- November, 1774“. Entnommen aus dem Aufsatz von Winfried Steffani, „Edmund Burke: Zur blemlösung und der Herstellung von Gemeinwohl durch Vereinbarkeit von freiem Mandat und Fraktionsdisziplin“, in: ZParl, 12. Jg. (1981), S. 109–122. Konflikt und Kompromiss gerecht zu werden, genügt aber Responsivität nicht allein: Erstens äußern viele Menschen ihre Wünsche und Interessen nicht oder nicht in einer poli- tisch umsetzbaren Weise. Zweitens entstehen häufig Situa- Parlamente dürfen also nicht nur darauf verwiesen werden, tionen, in denen Meinungen noch gar nicht gebildet worden Politik kommunikativ darzustellen, sondern müssen sich an sind, aber dennoch Entscheidungen getroffen werden müs- ihrer Gestaltung aktiv beteiligen (können), wollen sie nicht sen. Drittens kann oft nur gegen Teile der Bevölkerung das ihren Status als zentrale Legitimationsinstanz verlieren. Da- Bewährte bewahrt und der nötige Wandel gestaltet werden. her sollten die Funktionen der Kreation, Gesetzgebung und All dies verlangt politische Führung seitens der Parlamente Kontrolle, die das Parlament ausübt, nicht auf „die Regierung“, und ihrer Abgeordneten. Sie müssen voranschreiten, nicht sondern auf „das Regieren“ bezogen werden. Dann liegt das nur folgen. Weder dürfen sie lediglich Sendboten und Voll- Augenmerk auf dem Potenzial des Parlaments, auch das ope- zugsorgan der Wählerwünsche sein, noch dürfen sie sich zu rative Geschäft der Politik selbstständig zu betreiben bzw. an weit von diesen entfernen. Die Kunst demokratisch legiti- ihm mitzuwirken. So verstanden gehört zum Aufgabenspek- mierter Politik liegt demzufolge darin, jeweils die rechte Ba- trum demokratischer Parlamente, Transparenz und Effizienz lance zwischen Führung und Gefolgschaft zu finden, so der zu gewährleisten – also das kommunikative „Öffentlichma- Politikwissenschaftler Uwe Thaysen. chen“ von Politik ebenso wie die aktive Regelung gesellschaft- ¬ Das Gelingen dieses Balanceaktes hängt wiederum davon licher Probleme. ab, ob die Repräsentierten sich von der Legitimität der Ent- Aus dieser Funktionenbeschreibung von Parlamenten lässt scheidungen zu überzeugen vermögen, diesen also, nach sich als deren Gesamtaufgabe fassen, Legitimität durch Reprä- einer Formulierung des Politikwissenschaftlers Peter Graf sentation zu erzeugen. Denn die Funktion, die das Parlament Kielmansegg, „soziale Geltung als rechtens“ verleihen. Dafür von allen anderen Interessenvertretungen unterscheidet, ist müssen Parlamente erklären, was sie warum und auf welche die Repräsentation – und zwar verstanden im Sinne des Polito- Weise getan haben. Waren sie schon entstehungsgeschicht- logen Ernst Fraenkel als das Recht und die Pflicht zur (auch für lich dazu geschaffen, Politik öffentlich zu machen und aus andere) verbindlichen Entscheidung – einer Entscheidung, die dem Geheimbereich der Herrschenden herauszulösen, so im Namen des Volkes geschieht, aber doch oder gerade des- gilt diese Funktion umso mehr für den demokratisierten, wegen frei getroffen wird; die Einzel- und Gruppeninteressen also an den Wählerwillen zurückgebundenen Parlamenta- aufnimmt und doch oder gerade deswegen gemeinwohlorien- rismus seit dem späten 19. bzw. frühen 20. Jahrhundert. tiert und allgemeinverbindlich sein kann.
Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 15 Parlamentarische Demokratie
Parlamentstypen so wenig in die Detailarbeit an Gesetzen einzutreten wie die Opposition, der die Rolle der grundsätzlichen Alternative und Parlamente haben in ihrer historischen Entwicklung ganz un- Kritik zufällt. So streben beide danach, der Öffentlichkeit ihre terschiedliche Gewichtungen von Funktionen vorgenommen jeweilige Politik – erstere ihre Entscheidungen, letztere ihre beziehungsweise vornehmen müssen. Auch im internationa- Standpunkte dazu – zu erklären. Es wird also primär „geredet“. len Vergleich zeigen sich vielfältige Muster parlamentarischer Das wohl beste Beispiel hierfür ist das britische Parlament: Praxis. Zum besseren Verständnis der Institutionen und ihrer Hier treffen, schon durch die einander gegenüberliegenden Wirkungsweisen lag es daher nahe, zwischen verschiedenen Bankreihen verdeutlicht, Regierungsmehrheit und Opposition Typen von Parlamenten zu unterscheiden. aufeinander. Die jeweilige „frontbench“, die erste Sitzreihe, be- stückt mit Premierminister und Ministern auf der einen, dem Rede- und Arbeitsparlament Oppositionsführer und seinem Schattenkabinett auf der ande- Im Kontext seines Vergleichs der Regierungssysteme der USA, ren Seite, wird beim öffentlichen Schlagabtausch im Plenum Großbritanniens und der Bundesrepublik Deutschland ent- von ihren jeweiligen „backbenchers“, den Abgeordneten ohne wickelte der Politikwissenschaftler Winfried Steffani im An- hervorgehobene Position, nach Kräften, oft auch lautstark, un- schluss an den Soziologen Max Weber die wohl gebräuch- terstützt. Bis 1979 gab es im britischen Unterhaus auch keine lichste Parlamentstypologie von Rede- und Arbeitsparlament. Fachausschüsse, und bis heute existieren dort keine parlamen- Dabei fußt er auf der systemprägenden empirischen Differenz tarischen Gremien, die von vornherein dauerhaft für die Ge- zwischen dem Parlamentarismus, in dem die Regierung vom setzgebungsarbeit eingesetzt werden. Parlament abhängig ist und entsprechend als der wichtigste Im präsidentiellen Regierungssystem hat die Volksvertre- Ausschuss der Parlamentsmehrheit bezeichnet wurde (Bage- tung keinen Zugriff auf die Regierung. Sie wirkt daher selbst hot), und dem Präsidentialismus mit seiner deutlichen Front- politikgestaltend, indem sie Gesetze entwirft und durch den stellung von Exekutive und Legislative. parlamentarischen Prozess steuert. Hier wird also primär „ge- Aus dieser systemischen Differenz ergeben sich unterschied- arbeitet“. Der Kongress der Vereinigten Staaten von Amerika liche Prioritäten bei der Funktionserfüllung: Im Parlamentaris- gilt daher als Prototyp eines Arbeitsparlaments. Jedes Kon- mus hat die Parlamentsmehrheit „ihre“ Regierung gerade für gressmitglied, jedes Mitglied des Senats führt ein eigenes den Zweck der gesetzgeberischen Initiative, Planung und weit- Politikunternehmen mit einem großen Mitarbeiterstab, mit gehenden Vorbereitung gebildet. Deshalb braucht sie eben- dessen Hilfe er oder sie gesetzgeberische Initiativen ergreift
Unterschiede zwischen Rede- und Arbeitsparlament
Ein Redeparlament ist ein eminent politisches Parlament. Es er- wacher Resonanz in der öffentlichen Meinung rechnen kön- hebt den Anspruch, das wichtigste Forum der öffentlichen Mei- nen; in einem derartigen Parlament wird das Zusammenspiel nung, die offizielle Bühne aller großen, die Nation bewegenden zwischen einer glaubwürdigen, systematischen und überzeu- politischen Diskussionen zu sein. Die parlamentarischen Aus- genden Opposition und einer kritischen öffentlichen Meinung schüsse steigen nicht über den Rang mehr zweitrangiger Hilfs- zum wichtigsten Element wirksamer politischer Kontrolle. organe, das Plenum bleibt das entscheidende Aktionsforum. Während im Redeparlament das Plenum die wesentliche Die Parlamentsrede hat dabei verschiedene grundlegende Rolle spielt, sind im Arbeitsparlament Macht und Arbeit in ent- Funktionen zu erfüllen: Rechtfertigung eigener Entscheidun- scheidender Weise in die Ausschüsse verlagert. Nicht der Red- gen, Kritik an der Haltung anderer, öffentlich-wirksame Kon- ner, sondern der kenntnisreiche Detailexperte, der unermüd- trolle, Information und Meinungsbekundung sowie politische liche, bestens informierte Sachbearbeiter wird zur wichtigsten Bildung im weitesten Sinne. Im Plenum wird nicht primär dis- Parlamentsfigur. Der Machteinfluss des einzelnen Abgeordne- kutiert, um sich gegenseitig zu überzeugen. Derartige „Über- ten hängt jetzt vor allem von seiner Position im parlamenta- zeugungs-Gespräche“ finden auf anderen Ebenen in größeren rischen Ausschusssystem ab. Im Arbeitsparlament findet die und kleineren Gruppen sowie in vielerlei Form und Weise statt. Regierungskontrolle nicht primär dadurch statt, dass die Re- Die parlamentarische Plenarrede zielt in wesentlichem Maße gierung und Verwaltung sowie deren politische Apologeten auf die öffentliche Meinung, die Presse, den Wähler ab. Die im Plenum von opponierenden Kritikern öffentlich zur Rede Plenarrede ist von allen anderen politischen Reden dadurch gestellt werden. Hier besteht weit mehr die Tendenz, dass das unterschieden, dass sie öffentlich in einem höchsten staatli- Parlament den Charakter einer betont politisch interessierten chen Entscheidungsorgan im Beisein des politischen Gegners Spezialbürokratie gewinnt. Die Macht des Arbeitsparlaments erfolgt, der über das Recht zur Gegenrede verfügt. [...] beruht im Wesentlichen darauf, dass in ihm parlamentarische Ein Redeparlament lebt davon, dass die wichtigsten Rede- Experten die Experten der Exekutive in höchst intensiver und partner entscheidende politische Macht repräsentieren. Daher kenntnisreicher Weise um Rede und Auskunft ersuchen, deren steht im Zentrum die Debatte zwischen Regierungschef und Tätigkeiten und Vorhaben bis zu Detailfragen und Einzelpos- Oppositionsführer, zwischen Minister und „Schattenminis- ten hin überprüfen sowie gegebenenfalls durch Bestimmun- ter“. Das Redeparlament hat folglich nur dort eine Chance, wo gen im Vorhinein die Aktionsmöglichkeiten der Exekutive ein- Regierungschef und Oppositionsführer Mitglieder des Parla- zuengen wissen. [...] ments sind oder zumindest in ihm ein Rederecht und eine Aus-
kunftspflicht haben. Ein Redeparlament kann nur dort seinen Winfried Steffani, Parlamentarische und präsidentielle Demokratie, Springer VS, Wiesbaden Funktionen sinnvoll nachkommen, wo Parlamentsreden mit 1979, S. 96 f.
16 Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 Die Logik der parlamentarischen Demokratie
und sich auf die Detailarbeit in den Ausschüssen vorbereitet. europäischen verwendet wird, hebt noch einmal den engen Diese Ausschüsse sind auch ein wichtiger Ort, um die notwen- Zusammenhang dieser Parlamentstypen mit dem jeweiligen digen sachpolitischen Koalitionen zu schmieden, da es den Typus des Regierungssystems hervor. gleichsam „automatischen“ Zusammenhalt von Regierungs- Steffanis Typologie entwirft jeweils reine Parlamentstypen, mehrheit auf der einen und Opposition auf der anderen Seite zwischen denen Mischformen möglich sind. Sie schärft damit ja nicht gibt. den Blick für die Erfassung vielfältiger parlamentarischer Rea- Das unterschiedliche Gewicht, das in beiden Parlamentsty- litäten im Vergleich über die Zeit und zwischen den Ländern. pen auf die Funktionen der Gesetzgebung und der Herstellung So galt der Deutsche Bundestag lange Zeit als ein „redendes von Öffentlichkeit gelegt wird, wird auch sprachlich deutlich Arbeitsparlament“, in dem sich Mehrheit und Opposition den in der Unterscheidung zwischen den Begriffen Legislative (her- öffentlichen Schlagabtausch lieferten, aber auch Wert auf ef- geleitet aus dem lateinischen „gesetzgebend“) und Parlament fiziente Gesetzgebungsarbeit gelegt wurde und ein entspre- (vom lateinischen „parlare“, reden), im Englischen zwischen chend ausdifferenziertes Ausschusssystem anzutreffen war. „legislature“ und „parliament“. Dass der erste Begriff für die Ob dieses Mischungsverhältnis immer noch stimmt, wird im Volksvertretungen in den USA, der Begriff „Parlament“ für die Folgenden zu prüfen sein. empics
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Die wohl gebräuchlichste Parlamentstypologie unter- scheidet zwischen Rede- und Arbeitsparlament. Im
britischen Unterhaus, das am meisten einem typischen picture alliance „Redeparlament“ entspricht, streben die Parlaments- mehrheit und die Opposition vornehmlich danach, der Öffentlichkeit konfrontativ ihre jeweiligen politischen Standpunkte deutlich zu machen, wie hier bei einer Sitzung am 21. November 2018. Demgegenüber gilt der US-Kongress als Prototyp eines „Arbeitsparlaments“, dessen Mitglieder selbst gesetzgeberische Initiativen ergreifen, in den Ausschüssen Details erarbeiten und sach- politische Koalitionen schmieden. Der Justizausschuss des US-Repräsentantenhauses am 24. Juli 2019 CQ CQ Roll Call
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Tom Williams
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AP
Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 17 Parlamentarische Demokratie Bundesregierung, B145 Bild-00398130, Foto: Sandra Steins Sandra Foto: B145 Bild-00398130, Bundesregierung,
Seit 1999 ist das Reichstagsgebäude am Berliner Spreeufer Sitz des Deutschen Bundes- tages. Dafür wurde das Bauwerk aus dem Ende des 19. Jahrhunderts grundlegend umgestaltet und modernisiert. Im Plenarsaal unter der Glaskuppel erinnern im Januar 2018 die Abgeordneten des Deutschen Bundestages und der Französischen National- versammlung an die Unterzeichnung des Elyséevertrages.
SUZANNE S. SCHÜTTEMEYER Der Deutsche Bundestag und seine Akteure
Der Bundestag ist das Herzstück des deutschen Parlamentarismus. Er wird geprägt durch die Fraktionen, seine verschiedenen Ausschüsse und Gremien sowie nicht zuletzt durch die Mandatsträger selbst.
18 Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 Der Deutsche Bundestag und seine Akteure
Verfassungspolitische Konsequenzen aus dem Scheitern der Weimarer Republik
Der Parlamentarische Rat suchte […] verfassungspolitische und mit der Wahl des ehemaligen Generalfeldmarschalls von Konsequenzen aus dem Scheitern der Weimarer Republik zu Hindenburg zum Reichspräsidenten begründet. […] Die Tatsa- ziehen. Dies wird sichtbar, wenn man die Konkretisierung der che, dass die Landesverfassungen überwiegend durch Volks- zentralen Prinzipien des Grundgesetzes – Demokratie, Födera- entscheide bestätigt wurden und die Möglichkeit von Volks- lismus, Rechts- und Sozialstaat – betrachtet. entscheiden enthalten, zeigt jedoch, dass diese Folgerung des Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 vollzog zwar den Grundgesetzes aus den Erfahrungen der Vergangenheit kei- Übergang zur parlamentarischen Regierung, blieb hierbei je- neswegs allgemein als zwingend betrachtet worden ist. doch inkonsequent: Sie stellte neben den Reichstag einen di- 2) „Konsequente Einführung des parlamentarischen Regie- rekt gewählten Reichspräsidenten, führte darüber hinaus den rungssystems“: Das Grundgesetz sucht allein von parlamen- Volksentscheid ein und schuf damit drei konkurrierende demo- tarischen Mehrheiten getragene Regierungen zu ermöglichen kratische Legitimationen. Auch wurde dem Reichstage (infolge und diese zu stabilisieren. Dem dient, dass der Bundeskanzler des nur negativen Misstrauensvotums, der präsidialen Kanzler- sein Amt einer Wahl durch das Parlament verdankt; er es nur ernennung und der präsidialen Notstandsrechte nach Art. 48 durch ein „konstruktives Misstrauensvotum“, d. h. Wahl eines WRV) die Flucht aus der Verantwortung ermöglicht – Regelun- neuen Amtsinhabers verlieren kann; ein Verordnungsrecht des gen, die 1930 die Selbstabdankung des Parlaments und einen Präsidenten gänzlich entfallen und das der Bundesregierung scheinbar „legalen“ Übergang in die Diktatur erleichtern sollten. eng begrenzt worden ist; selbst im Notstandsfalle parlamenta- Im Sinne moderner Staatsformenlehre war die Weimarer Repu- rische Entscheidungsrechte und Kontrollen bestehen bleiben. blik eine semipräsidentielle Demokratie – wie heute Frankreich 3) „Anerkennung der verfassungspolitischen Funktion der Par- oder Russland –, nicht eine parlamentarische Demokratie. teien“: Während die Weimarer Verfassung die Parteien igno- Das Grundgesetz hat demgegenüber drei Folgerungen ge- rierte, sie lediglich einmal abwehrend mit der Formulierung, zogen: die Beamten seien „Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei“ 1) „Zuweisung des Legitimationsmonopols an das Parlament“: (Art. 130 WRV), erwähnte und darin anderen älteren demokra- Das Grundgesetz sieht nur eine einzige unmittelbar demo- tischen Verfassungen ähnelte, hat das Grundgesetz der zen- kratische Legitimation vor: die der Wahl des Parlaments. Alle tralen Rolle politischer Parteien durch ihre Einbeziehung in die anderen Staatsorgane leiten sich vom Bundestag bzw. den Verfassung (Art. 21 GG) Rechnung getragen. […] Landtagen ab und sind entsprechend minder legitimiert. Auch Zusammenfassend ist daher das heutige Deutschland als fö- kennt das Grundgesetz – außer bei der Revision von Länder- derale, parlamentarische Demokratie mit parteienstaatlichen grenzen – keine plebiszitären Entscheidungen. Diese antiple- Zügen zu bezeichnen.
biszitäre Haltung wurde mit emotionalisierenden Kampag- Wolfgang Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, 10., aktual. u. erw. nen bei Volksentscheiden bzw. -begehren der Weimarer Zeit Aufl., © Springer VS, Wiesbaden 2019, S. 33 f.
Die Ausgestaltung des Bundestages Auch auf eine starke Exekutive war das Interesse des Parlamen- nach dem Grundgesetz tarischen Rates gerichtet, denn die Erfahrungen der 1920er-Jah- re hatten gezeigt, wie verheerend sich der häufige Wechsel der Regierungen zunächst auf die Handlungsfähigkeit der Politik Der Parlamentarische Rat, der 1948/49 das Grundgesetz für die und schließlich auf den Fortbestand der Republik ausgewirkt Bundesrepublik Deutschland entwarf, schuf damit auch die hatte. Gleichzeitig sollten aber die Parteien in die Verantwor- Basis für ein parlamentarisches Regierungssystem. Die Rats- tung genommen werden, für stabile Mehrheiten im Parlament mitglieder, 61 Verfassungsväter und vier Verfassungsmütter, zu sorgen. So wurde mit Artikel 63 des neuen Grundgesetzes hatten das Scheitern der Weimarer Republik vor Augen und (GG) die Kanzlerwahl durch den Deutschen Bundestag mit dem suchten nun daraus Lehren für die Ausgestaltung des neuen Erfordernis der absoluten Mehrheit im ersten Wahlgang veran- politischen Systems zu ziehen. Dies galt besonders für das Ver- kert; und Art. 67 GG sieht vor, dass der Kanzler nur abgesetzt hältnis von Legislative und Exekutive sowie für die Ausgestal- werden kann, indem ein neuer gewählt wird. tung ihrer Kompetenzen. Dieses sogenannte Konstruktive Misstrauensvotum soll ver- Besonders hervorzuheben ist die Entscheidung, den Bundes- hindern, dass es ausreicht, im Parlament Einigkeit über die tag zum einzigen direkt vom Volk gewählten Verfassungsor- Ablehnung eines Amtsinhabers herzustellen, ohne dass es gan zu machen und ihm damit die zentrale Stellung im demo- mehrheitliche Unterstützung für einen Nachfolger gibt. Damit kratischen Verfassungsgefüge zu geben. Zwar war auch schon haben es der Bundestag und die in ihm wirkenden Parteien al- die Weimarer Republik „parlamentarisiert“, da die Regierung lein in der Hand, welcher Kanzler wie lange im Amt bleibt. Bei dem Reichstag gegenüber verantwortlich war und von ihm ihnen liegen die Verantwortung und die tatsächliche Hand- abgewählt werden konnte – eine Abhängigkeit, die es im Kai- lungsmacht, eine effiziente Regierung zu garantieren. Der Bun- serreich unter Geltung der Bismarck-Verfassung von 1871 noch despräsident hat dagegen nur noch Reserverechte für den Fall nicht gegeben hatte. Doch dem auf sieben Jahre vom Volk di- eines dritten Wahlgangs nach Art. 63 Abs. 4 GG und kann auch rekt gewählten Reichspräsidenten hatte die Verfassung erheb- nur auf Vorschlag des Kanzlers nach einer gescheiterten Ver- liche Machtbefugnisse eingeräumt. So konnte er in faktischer trauensfrage den Bundestag auflösen (Art. 68 GG). Konkurrenz zum Parlament den Reichskanzler ernennen und Den ersten Rang des Bundestages unter den Verfassungs- entlassen sowie den Reichstag jederzeit auflösen. organen verdeutlicht des Weiteren sein Recht auf Selbstorga-
Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 19 Parlamentarische Demokratie
Der Bundestag im Grundgesetz
Art 38 [Wahl] nehmenden Wahlen kann die Geschäftsordnung Ausnahmen (1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden zulassen. […] in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträ- Art 43 [Anwesenheit der Bundesregierung] ge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen (1) Der Bundestag und seine Ausschüsse können die Anwesen- unterworfen. heit jedes Mitgliedes der Bundesregierung verlangen. […] (2) Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr voll- endet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Art 44 [Untersuchungsausschüsse] Volljährigkeit eintritt. […] (1) Der Bundestag hat das Recht und auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder die Pflicht, einen Untersuchungsausschuss Art 39 [Zusammentritt und Wahlperiode] einzusetzen, der in öffentlicher Verhandlung die erforderli- (1) Der Bundestag wird vorbehaltlich der nachfolgenden Be- chen Beweise erhebt. Die Öffentlichkeit kann ausgeschlossen stimmungen auf vier Jahre gewählt. Seine Wahlperiode endet werden. […] mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages. […] Art 45 und Art. 45a bis 45d [Ausschüsse; Wehrbeauftragter; Art 40 [Präsident; Geschäftsordnung] Kontrollgremium] (1) Der Bundestag wählt seinen Präsidenten, dessen Stellver- […] treter und die Schriftführer. Er gibt sich eine Geschäftsordnung. […] Art 46 [Indemnität und Immunität der Abgeordneten] […] Art 41 [Wahlprüfung] (1) Die Wahlprüfung ist Sache des Bundestages. Er entscheidet Art 47 [Zeugnisverweigerungsrecht der Abgeordneten] auch, ob ein Abgeordneter des Bundestages die Mitgliedschaft […] verloren hat. […] Art 48 [Ansprüche der Abgeordneten] Art 42 [Öffentlichkeit der Sitzungen; Mehrheitsprinzip] (1) Wer sich um einen Sitz im Bundestage bewirbt, hat An- (1) Der Bundestag verhandelt öffentlich. Auf Antrag eines spruch auf den zur Vorbereitung seiner Wahl erforderlichen Zehntels seiner Mitglieder oder auf Antrag der Bundesregie- Urlaub. rung kann mit Zweidrittelmehrheit die Öffentlichkeit ausge- (2) Niemand darf gehindert werden, das Amt eines Abgeord- schlossen werden. […] neten zu übernehmen und auszuüben. Eine Kündigung oder (2) Zu einem Beschlusse des Bundestages ist die Mehrheit der Entlassung aus diesem Grunde ist unzulässig. abgegebenen Stimmen erforderlich, soweit dieses Grundge- (3) Die Abgeordneten haben Anspruch auf eine angemessene, setz nichts anderes bestimmt. Für die vom Bundestage vorzu- ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung. […].
nisation. Dies schließt die eigenständige Einberufung der Sit- Wahl der Abgeordneten zungen und die Geschäftsordnungsautonomie ebenso ein, wie die Möglichkeit, Zahl und Art seiner Ausschüsse sowie anderer Der Bundestag wird in allgemeiner, unmittelbarer, freier, Gremien weitestgehend selbst zu bestimmen. Nur die Aus- gleicher und geheimer Wahl auf vier Jahre gewählt. Seit der schüsse für auswärtige Angelegenheiten, Verteidigung und 15. Wahlperiode (2002 bis 2005) besteht er nach BWahlG. aus Angelegenheiten der Europäischen Union sowie der Petitions- 598 Mitgliedern. Auf diese Anzahl wurde das Parlament ver- ausschuss, an den sich die Bürgerinnen und Bürger direkt mit kleinert, nachdem die deutsche Einheit – und damit das An- ihren Bitten oder Beschwerden richten können, sind im Grund- wachsen der zu repräsentierenden Bevölkerung um etwa ein gesetz vorgeschrieben (Art. 45, 45a und 45c GG). Ansonsten ent- Viertel – es vorübergehend erfordert hatte, den Bundestag von scheidet der Bundestag allein über Organisation und Ablauf 518 (inklusive 22 Abgeordneten aus West-Berlin) auf 656 Sit- seines Alltags. ze zu vergrößern. Die seit 2002 geltende Regelgröße von 598 Dies ist keineswegs selbstverständlich, wie sich am Beispiel wurde jedoch stets überschritten – bis 2009 durch Überhang- zweier anderer großer Parlamente in Europa zeigt: So begrenzt mandate und seit 2013 durch Ausgleichsmandate (siehe unten). die französische Verfassung die Zahl der ständigen Ausschüsse Nach dem aktuellen Bundeswahlgesetz werden die 598 Ab- der Assemblée nationale auf acht, und im britischen Parlamen- geordneten wie bisher in 299 Wahlkreisen sowie über Landes- tarismus liegt die Gestaltung der Tagesordnung im Unterhaus listen gewählt. In der Bundesrepublik gilt das personalisierte faktisch bei der Regierung – ein Zeichen dafür, wie konsequent Verhältniswahlrecht. Jede Wählerin bzw. jeder Wähler hat zwei dort die Vorstellung verwirklicht ist, dass Mehrheit und Regie- Stimmen: Die erste ist für eine Kandidatin bzw. Kandidaten im rung eine Handlungseinheit bilden und wie konsequent auch eigenen Wahlkreis bestimmt, die zweite geht an die Landeslis- das Prinzip der Handlungsfähigkeit beachtet ist. te einer zur Wahl stehenden Partei. Die Zusammensetzung des
20 Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 Der Deutsche Bundestag und seine Akteure
Das Auftreten sogenannter negativer Stimmengewichte und die wachsende Zahl der Überhangmandate bewogen das Bundes- verfassungsgericht 2009, das geltende Wahlrecht für verfas- sungswidrig zu erklären, weil es die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der politischen Parteien gefährdet sah. Um den Forderungen des Bundesverfassungsgerichts nach- zukommen, sieht das neue Wahlgesetz nun vor, dass für die Überhangmandate Ausgleichsmandate an die anderen Par- teien verteilt werden. Dazu werden die in den Ländern ge- wonnenen Sitze jeder Partei bundesweit addiert und überpro- portionale Direktmandatsgewinne ausgeglichen, indem die Sitzzahl des Bundestages erhöht und den übrigen Parteien ihr proportionaler Anteil an dieser vergrößerten Anzahl zugewie- sen wird. Durch diese Ausgestaltung des Wahlrechts wuchs der Bun- destag 2013 trotz lediglich vier Überhangmandaten um 33 Sitze, und 2017 entstanden 46 Überhangmandate, die 65 Ausgleichs- mandate und damit insgesamt 709 Sitze zur Folge hatten. So ist der Deutsche Bundestag – wie schon in den 1990ern – das bei Weitem größte demokratisch gewählte Nationalparlament der Welt. So verwundert es nicht, dass die Rechtsprechung des Bundes- verfassungsgerichts, die dieser Entwicklung zugrunde liegt, umgehend auf heftige Kritik stieß. Versuche, insbesondere der Bundestagspräsidenten, das Wahlrecht erneut zu refor- mieren, um eine Vereinfachung des Verfahrens und eine Ver- kleinerung des Bundestages zu erreichen, haben bislang zu
Bundestages ist das Ergebnis des Stärkeverhältnisses der Par- teien zueinander, das sich aus den Zweitstimmen ergibt. Ver- einfacht gesagt: Erzielt eine Partei 30 Prozent der Zweitstim- men, hat sie Anspruch auf 30 Prozent der Sitze im Bundestag. Dies wird nach einem speziellen mathematischen Verfahren (dem Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren) für jedes Bundesland einzeln errechnet auf der Basis eines Kontingents von doppelt so vielen Sitzen, wie das jeweilige Land Wahlkreise hat. An diesem Verrechnungsverfahren nehmen nur jene Partei- en teil, die mindestens fünf Prozent der Zweitstimmen bun- desweit oder drei Direktmandate errungen haben. Mit der seit 1953 geltenden, nicht mehr nur auf die einzelnen Bundesländer bezogenen Sperrklausel, auch Fünf-Prozent-Hürde genannt, sollte der Einzug von Splitterparteien ins Parlament verhindert und damit einer erheblichen Erschwerung der Mehrheitsbil- dung vorgebeugt werden.
Das Problem der Überhang- und Ausgleichsmandate Von dem mit dem Saint-Laguë/Schepers-Verfahren ermittel- ten Mandatsanteil für jede Partei wird die Zahl der Sitze ab- gezogen, die Kandidaten der Partei bereits über die Wahlkreise errungen haben. Die verbleibenden Sitze werden aus den Lan- deslisten nach Reihenfolge der dort aufgestellten Kandidaten aufgefüllt. Hat eine Partei mit ihren Wahlkreiskandidaten mehr Sitze gewonnen, als ihr nach ihrem Zweitstimmenanteil zustehen, werden sogenannte Überhangmandate verteilt. Bis 2013 wurde der Bundestag dann in der fraglichen Wahl- periode – und nur in dieser – um die entsprechende Sitzzahl vergrößert. So kam es, dass in der Regel nicht nur die gesetzlich festgelegte Anzahl von Abgeordneten in den Bundestag ein- zog: Nach der Bundestagswahl 2005 waren 16 Überhangman- date, 2009 waren 24, in früheren Bundestagen meist zwischen zwei und sechs zu verzeichnen (Ausnahmen bilden die Jahre 1994 und 1998 mit 16 bzw. 13 Überhangmandaten).
Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 21 Parlamentarische Demokratie keinem Erfolg geführt – zu unterschiedlich sind die Interes- Bündnis 90/Die Grünen 1994 in Fraktionsstärke in den Bun- sen der Parteien, und es ist guter demokratischer Brauch, das destag einziehen und sich seither mit einer stabilen Stamm- Wahlrecht im Einvernehmen zu reformieren. Hinzu kommt, wählerschaft als dauerhafter Bestandteil des deutschen Par- dass die Auffassung, der Bundestag sei zu groß, bisher eher teiensystems etablieren. einem Gefühl entspringt als sachlichen Kriterien. So wird Dies gilt ebenso für die nach zeitlicher Reihenfolge sechste sich wohl in absehbarer Zeit nichts am Grundcharakter des Partei, die im aktuellen Bundestag vertreten ist, die Partei Die deutschen Wahlsystems als „personalisiertes Verhältniswahl- Linke, die sich im Juni 2007 gründete. Sie war Ergebnis eines recht“ ändern. Zusammenschlusses der „Wahlalternative Arbeit und Soziale Allerdings ist diese gängige Bezeichnung eher irreführend. Gerechtigkeit“ (WASG), einer Abspaltung der SPD, mit der Par- Die Kandidaten in den Wahlkreisen werden nämlich nicht – tei des Demokratischen Sozialismus (PDS), die ihrerseits wiede- jedenfalls nicht in erster Linie – als Personen gewählt, sondern rum aus der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED, als Mitglieder ihrer Partei. An dieser Zugehörigkeit orientiert der Staatspartei der ehemaligen DDR) hervorgegangen war. sich, wie Studien ergeben, die große Mehrheit der Wählerin- Mit Wahlergebnissen um die zehn Prozent in den letzten drei nen und Wähler bei ihrer Entscheidung. Auch die gängige An- Bundestagswahlen und parlamentarischer Präsenz in zehn der nahme, es sei vor allem der Sperrklausel zu verdanken, dass sechzehn Bundesländer – bis hin zur Stellung des Minister- der Bundestag schon nach der zweiten Bundestagswahl nur präsidenten in Thüringen – ist Die Linke inzwischen eine seit noch aus fünf gegenüber zuvor neun Fraktionen bzw. Gruppen zwanzig Jahren etablierte Kraft im Bundestag. und von 1961 bis 1983 aus lediglich drei Fraktionen bestand, Der rechtspopulistischen, in Teilen als rechtsextrem ein- greift zu kurz. Vielmehr konnten die Parteien schon in den gestuften „Alternative für Deutschland“ (AfD) gelang es 2017 1950er-Jahren ihrer Wählerschaft politische Erfolge bzw. über- zum ersten Mal, Sitze zu gewinnen, und zwar sogar mit dem zeugende Angebote vorweisen, die dem Bundestag das Schick- besten Ergebnis unter den kleinen Parteien, sodass sie im Bun- sal des Weimarer Reichstages mit Abgeordneten aus bis zu 14 destag die drittgrößte Fraktion stellt. Auch wenn damit noch Parteien ersparten. nicht von einer „Zersplitterung“ des Parlaments, gar von „Wei- marer Verhältnissen“ gesprochen werden kann, ist unüber- Die im 19. Bundestag vertretenen Parteien sehbar, dass sich das Parteiensystem ausdifferenziert und die Seit der Wahl 2017 besteht der Bundestag aus sechs Fraktionen politische Bandbreite der parlamentarisch repräsentierten In- (CDU/CSU, SPD, FPD, Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke, AfD). teressen zugenommen hat. Als Folge ist die Regierungsbildung Ende der 1970er-Jahre verbreiterten zunächst die Grünen im Bundestag schwieriger geworden und dauerte 2017/2018 so das Parteienspektrum, das bis dahin aus CDU/CSU, SPD und lange wie nie zuvor in der Bundesrepublik. Künftig müssen die FDP bestanden hatte. 1983 schafften sie erstmals den Einzug demokratischen Fraktionen und ihre Parteien noch deutlicher in den Bundestag, 1990 scheitern sie an der Sperrklausel. Nach als bisher unter Beweis stellen, dass sie die politische Verant- dem Zusammenschluss 1993 mit Bündnis 90, das 1990 in den wortung, die in Wahlen konkretisiert wird, übernehmen wol- neuen Bundesländern noch separat kandidiert hatte, konnte len und können.
22 Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 Der Deutsche Bundestag und seine Akteure
wollen, ohne Fraktionsmindeststärke von fünf Prozent zu er- reichen. So wurde etwa 1990, als für die Bundestagswahl die Sperrklausel separat für das ost- und westdeutsche Wahlgebiet galt, den acht Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen und den 17 von der PDS/Linke Liste dieser Status zuerkannt. Damit erhielten sie fraktionsähnliche Rechte sowie eine angemesse- ne Finanzierung. Auch 1994 wurde mit den Abgeordneten der PDS so verfahren, die wiederum nicht in Fraktionsstärke im Bundestag vertreten war, aber vier Direktmandate in Berlin und damit insgesamt 30 Sitze errungen hatte.
Hierarchisierung und Arbeitsteilung in den Fraktionen Hierarchisierung und Arbeitsteilung sind die Prinzipien, die die Fraktionsentwicklung schon seit dem Ersten Bundestag geprägt haben. Dass man ein Gremium brauchte, das die Füh- rung der Geschäfte und die Außenvertretung wahrnahm, hat- te sich schon aus früheren Erfahrungen etlicher Abgeordneter der ersten Stunde des westdeutschen Parlamentarismus erge- ben. Ganz selbstverständlich also wählten sich die Fraktionen bereits 1949 Vorstände. Arbeitsteilige Strukturen fanden hingegen erst einige Jahre später Eingang in die Organisation der Fraktionen. Schon im Ersten Bundestag hatte sich ein System von fachlich speziali- sierten Ausschüssen entwickelt, um die Kriegsfolgen gesetzge- berisch zu bewältigen. Nie wieder hat es auch nur annähernd so viele Ausschuss- und Unterausschusssitzungen gegeben wie in der ersten Wahlperiode von 1949 bis 1953: 5111 gegenüber zum Beispiel 3096 in der 18. Wahlperiode von 2013 bis 2017. So ließ der westdeutsche Nachkriegsparlamentarismus gar keinen Raum für das aus dem 19. Jahrhundert überkomme- ne Trugbild: Danach gelten – in Verkennung der tatsächli- chen Praxis des ersten gesamtdeutschen Parlaments, der in der Frankfurter Paulskirche 1848/49 tagenden Nationalver-
Bedeutung und Aufgaben der Fraktionen
Die Fraktionen sind die Parteien im Parlament. Ihre Bedeutung im deutschen Parlamentarismus zeigt sich schon darin, dass sie es sind, die sich nach der Wahl, aber noch vor der konsti- tuierenden Sitzung des neuen Bundestages versammeln und die ersten politischen Entscheidungen treffen bzw. vorberei- ten. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit vor allem auf die Aktivitäten, die für die Bildung einer neuen Regierung entfaltet werden. Doch für den bald darauf einset- zenden Arbeitsalltag des Parlaments ist es genauso wichtig, wie sich seine Fraktionen darauf organisatorisch und personell einstellen. In den meisten Ländern wird eine bestimmte Mindestgröße vorgeschrieben, damit sich Abgeordnete zu einer Fraktion zu- sammenschließen können. Im Bundestag beträgt diese fünf Prozent, analog zur Sperrklausel im Wahlgesetz. Außerdem bestimmt die Geschäftsordnung, dass nur Abgeordnete einer Partei eine Fraktion bilden können. Als Sonderregel für CDU und CSU wurde 1969 der Passus in die Geschäftsordnung auf- genommen, dass eine Fraktionsgemeinschaft auch für Abge- ordnete solcher Parteien möglich ist, die in keinem Bundesland in Wettbewerb zueinander stehen. Weiteren Ausnahmen von der Regel „Fraktion = Abgeordnete aus derselben Partei“ muss der Bundestag im Einzelfall zustimmen. Ein spezieller Beschluss des Parlaments ist auch erforderlich, um sogenannte Gruppen anzuerkennen. Dabei handelt es sich um Abgeordnete einer Partei, die sich zusammenschließen
Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 23 Parlamentarische Demokratie sammlung – als ideale Abgeordnete die im Plenum freihän- spiegelbildlich zu den Ausschüssen geschnitten sind, nennt dig beratenden und sich spontan gegenseitig überzeugenden diese aber Arbeitskreise. politischen Generalisten. Selbst bei gutem Willen: Zu vielfältig In den AGs leisten die Abgeordneten die gesetzgeberische und alltäglich waren die Probleme, die Lösungen erforderten, Detailarbeit, dort konkretisieren oder korrigieren sie oft die zu groß war der Entscheidungsdruck, um diesem Trugbild in Führungsvorgaben, im Falle der regierungstragenden Frak- der Praxis zu folgen. Die Abgeordneten lernten rasch, dass der tionen auch die Entwürfe der Ministerien. Viele der AG- und Einzelne ohne die fraktionsinternen arbeitsteiligen Strukturen AK-Mitglieder sind für das jeweilige Sachgebiet schon durch gar nicht verantwortungsvoll entscheidungsfähig ist. Ebenso ihre vorangegangene Berufstätigkeit ausgewiesen oder haben schnell machten sie die Erfahrung, dass die Ausschüsse umso sich – zum Teil über mehrere Wahlperioden – auf bestimmte effektiver arbeiten konnten, je besser der Sachverstand in den Materien spezialisiert. Insofern lassen sich die AGs bzw. AK als Fraktionen bereits organisiert und gebündelt, je präziser politi- Instanz zur Sozialisation und Einarbeitung der Bundestagsab- sche Positionen schon vorgeklärt waren. Unter diesen Voraus- geordneten begreifen. Hier können diese ihre Kenntnisse und setzungen wurden die Entscheidungen außerdem verbindlich Fähigkeiten, ihre Nützlichkeit für die eigene Fraktion unter und verlässlich kalkulierbar hinsichtlich der parlamentari- Beweis stellen, sich für Führungsaufgaben empfehlen, gewis- schen Zustimmung im Plenum. se Eigenständigkeit sowie sachpolitischen Einfluss gewinnen Ein weiterer Faktor beschleunigte die Arbeitsteilung im Bun- und Wählerinteressen zur Durchsetzung verhelfen. Die Ar- destag: das Wachsen der großen Fraktionen. Mit 250 bzw. 162 beitsgruppen bzw. Arbeitskreise eröffnen damit den Parlamen- Mitgliedern konnten die Union aus CDU und CSU sowie die SPD tariern auch ein Potenzial zur inhaltlich-politischen Kontrolle im Zweiten Bundestag die Positionen ihrer Fraktionen nicht der eigenen Regierung bzw. Fraktionsführung, das im Normal- mehr in Vollversammlungen detailliert diskutieren und heraus- fall hinter verschlossenen Türen, als letztes Mittel aber auch arbeiten. Deshalb bildeten sie ab 1953 innerhalb ihrer Fraktionen öffentlich genutzt werden kann. fachlich spezialisierte Arbeitskreise – ein Beispiel, dem die FDP 1957 folgte. Damit war eine parlamentarische Arbeitsebene ge- Fraktionsführungen schaffen, auf der Abgeordnete ohne hervorgehobene Stellung Die zunehmende Ausdifferenzierung und Professionalisierung besser als in den Fraktionsversammlungen ihre Positionen zur der Arbeitsteilung erforderte weitere innerfraktionelle Koordi- Geltung bringen konnten und der Sachverstand dieser „einfa- nation und Integration, was wiederum den Bedarf an Führung chen“ Parlamentarier besser für die Fraktion zu nutzen war. steigerte. Diese Führung wurde auch dadurch notwendiger, Solche Ebenen können nur in die Fraktionsorganisationen dass schon in den 1950er-Jahren in der noch jungen Bundes- eingezogen werden, wenn zwischen den Abgeordneten gegen- republik Mehrheitsregierungen auf der Basis von Koalitionen seitiges Vertrauen in die Übereinstimmung ihrer grundlegen- zum Muster wurden. Solche Mehrheitsregierungen sind nur den politischen Überzeugungen herrscht. Erst auf dieser Basis dann stabil und zuverlässig handlungsfähig, wenn die sie tra- entwickelt sich die Bereitschaft, dem Kollegen aus der eigenen genden Fraktionen prinzipiell geschlossen agieren – und zwar Fraktion die Entscheidungen auf seinem Fachgebiet zumindest nicht nur einmal bei der Kanzlerwahl, sondern für die Durch- im Detail weitgehend zu überlassen und im Gegenzug dafür setzung eines Gesetzgebungsprogramms über eine ganze dasselbe zu erwarten. Dieses Vertrauen wuchs im Bundestag Wahlperiode hinweg. mit der Dauer des Zusammenwirkens heran und ermöglichte Für die Oppositionsfraktionen gilt prinzipiell dasselbe, da sie die zunehmende Arbeitsteilung in den Fraktionen. schließlich der Öffentlichkeit beweisen wollen, dass sie eine bessere und ständig bereite Alternative zur amtierenden Re- Arbeitsgruppen und Arbeitskreise gierung und ihrer Mehrheit sind. Diese Geschlossenheit erwar- Aus diesen Organisationsanforderungen sind in den Fraktio- ten im Übrigen auch die Bürgerinnen und Bürger; sie scheint nen des Bundestages weitgehend identische Strukturen ent- nach wie vor in der öffentlichen Wahrnehmung und der Poli- standen. Union und SPD richten seit Jahren regelmäßig je gut tischen Kultur der Bundesrepublik das wichtigste Merkmal für zwanzig hochspezialisierte Arbeitsgruppen (AGs) ein, die in Kompetenz und Entscheidungskraft zu sein. ihrem thematischen Zuschnitt den Bundestagsausschüssen Solche Geschlossenheit ist nur durch Führung zu erreichen. wie ein Spiegelbild entsprechen. Sie hat (neben der organisatorisch-praktischen Leitung) die Die Mitglieder einer AG vertreten ihre Fraktion im korres- politische Richtung vorzugeben. Sie muss dafür Sorge tragen, pondierenden Ausschuss. In der SPD ist der oder die AG-Vor- dass die in der Fraktion formulierten Interessen und heraus- sitzende gleichzeitig Sprecher bzw. Sprecherin der Fraktion im gearbeiteten Einzelpolitiken inhaltlich stimmig sind, dass die Ausschuss (Inzwischen nennt die Fraktion die Inhaber dieser Gesamtfraktion und ihre Experten ineinander greifen und Position gar nicht mehr AG-Vorsitzende, sondern gleich Spre- dass die Leitlinien der Partei berücksichtigt werden. Im Falle cher.). In der Unionsfraktion hat dagegen oft der oder die stell- der Parlamentsmehrheit müssen die Fraktionsführungen zu- vertretende AG-Vorsitzende das Sprecheramt inne, während sätzlich sicherstellen, dass ihre Fraktionen und die Regierung die Vorsitzenden von Amts wegen Mitglieder im erweiterten an einem Strang ziehen, also abgestimmt reden und handeln. Fraktionsvorstand sind. Diese personellen Verknüpfungen Für diese Lenkungsfunktionen wählen die beiden großen garantieren den Informationsfluss zwischen Parlament und Bundestagsfraktionen seit 1975 (SPD) bzw. 1980 (CDU/CSU) Fraktionen in der sachpolitischen Arbeit und ihre organisato- Geschäftsführende Vorstände. Dieser besteht im 19. Bundes- rische Verzahnung im Gesetzgebungsprozess. tag bei der Union aus einem Vorsitzenden, mittlerweile zwölf Die kleineren Fraktionen verfügen über sogenannte Arbeits- Stellvertretern und fünf Parlamentarischen Geschäftsführern. kreise (AK), die größere Themengebiete abdecken, zumeist Hinzu kommen noch die beiden Justiziare und ein Sprecher fünf oder sechs, denn ihre geringere Mitgliederzahl erlaubt der CDU-Landesgruppen. Der ersten weiblichen Vorsitzenden ihnen keine tiefere Binnendifferenzierung. Die AfD entschied einer der großen Fraktionen im Bundestag, Andrea Nahles, tra- sich hingegen nach ihrem erstmaligen Einzug in den Bundes- ten in der SPD bis Juni 2019 sieben Stellvertreter und vier Parla- tag 2017 25 Arbeitsgruppen einzusetzen, die im Wesentlichen mentarische Geschäftsführer zur Seite.
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Seit der Bildung des ersten Bundestages 1949 wählen die Fraktionen Vorstände. Diese sorgen für die Integration der Abgeordneten wie für die Geschlossenheit bei Abstimmungen, sie vertreten die Fraktionen nach außen und geben die politische Richtung vor. Die Fraktionsvorsitzenden des 19. Deutschen Bundestages (v. li. oben nach re. unten: Ralph Brinkhaus (CDU/CSU), Anton Hofreiter und Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen), Amira Mohamed Ali und Dietmar Bartsch (Die Linke), Rolf Mützenich (SPD), Christian Lindner (FDP), Alice Weidel und Alexander Gauland (AfD)
Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 25 Parlamentarische Demokratie Roland Witschel
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Fraktionsvorsitzende können unterschiedliche Rollen einnehmen: Herbert Wehner (oben li.) agierte als Bindeglied zwischen der Fraktion und den Kanzlern Willy Brandt (selbes Bild, Mitte) und Helmut Schmidt (selbes Bild, re.) – hier gemeinsam im Mai 1970. Wolfgang Schäuble (im Bild darunter re. mit Helmut Kohl 1999) trat eher als voraussichtlicher Nachfolger und innerparteilicher Rivale des amtierenden Kanzlers Helmut Kohl auf. Angela Merkel forderte als Fraktionsvorsitzende und Oppositionsführerin Kanzler Gerhard Schröder heraus, hier im rechten Bild bei einer Bundestagsdebatte 2004.
Die Aufgaben des Vorsitzenden sind beispielhaft in der Ar- rer, die als Fraktionsvorsitzende auch Herausforderer des am- beitsordnung der CDU/CSU-Fraktion (§ 7) festgehalten: „Der tierenden Kanzlers waren – so etwa Helmut Kohl und Angela Vorsitzende führt die Fraktion und vertritt sie nach innen und Merkel; die Fraktionsvorsitzenden Helmut Schmidt und Wolf- nach außen. Er beruft die Fraktions- und Vorstandssitzungen gang Schäuble traten eher als innerparteiliche Rivalen und/oder ein und schlägt ihre Tagesordnungen vor. Er leitet die Fraktion prospektive Nachfolger des amtierenden Kanzlers auf. Die in im Plenum des Bundestages.“ Aus dieser nüchternen Beschrei- den Statuten und Organisationsstrukturen der Fraktionen im bung ist der politische Rang dieses Amtes kaum erkennbar. Grundsatz angelegte Arbeitsteilung und Hierarchisierung er- Was „führen“ und „leiten“ tatsächlich bedeutet, ergibt sich erst lauben die ganze Bandbreite dieser Vorsitzendenrollen. aus der Organisationswirklichkeit und aus den unterschiedli- Die Stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden fungieren vor chen politischen Zielen, Persönlichkeiten und Führungsstilen allem als inhaltliche Koordinatoren größerer Sachgebiete und der konkreten Amtsinhaber. sind für die in diesen Sachgebieten angesiedelten Arbeitsgrup- Die „Administratoren“ („Verwalter“) unter den Fraktionsvorsit- pen jeweils „zuständig“. Sie ähneln insofern Abteilungsleitern zenden, die sich eher als „ehrliche Makler“ denn als Initiatoren in großen Firmen oder Verwaltungen. Die Parlamentarischen von Politik verstanden, bezogen ihre herausragende Stellung Geschäftsführer organisieren die Arbeitsabläufe im Alltag des entweder daraus, dass sie ihrer Fraktion als Bindeglied zur Regie- Bundestages. Für die Außendarstellung besonders wichtig ist rung, zuweilen auch als deren verlängerter Arm erschienen oder ihre Funktion, bei Abstimmungen die Präsenz der Abgeordne- parlamentarische Statthalter von Kanzlerkandidaten ohne Bun- ten und ihr geschlossenes Auftreten zu erreichen. Keineswegs destagsmandat waren. Herbert Wehner, der fast 14 Jahre das Amt steuern die Parlamentarischen Geschäftsführer aber nur den des Fraktionsvorsitzenden bekleidete, „diente“ so „seinen“ sozial- technisch-prozeduralen Teil des Bundestagsbetriebes. Durch demokratischen Kanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt. ihre Mitgliedschaft im Geschäftsführenden Vorstand wirken Karl Carstens „hielt drei Jahre lang die Stellung“ für Helmut Kohl, sie auch wesentlich an der Auswahl und Koordination politi- bis dieser vom Ministerpräsidentensessel in Rheinland-Pfalz in scher Inhalte für gesetzgeberische Vorhaben mit. die Oppositionsführerschaft im Bundestag wechselte. Diese engsten Führungszirkel der beiden großen Fraktionen Die „Politiker“ unter den Fraktionsvorsitzenden bezogen ihre werden ergänzt durch die erweiterten Vorstände. Die in der Re- Autorität aus ihrer Rolle als gleichsam „echte“ Oppositionsfüh- gel über 200 Mitglieder umfassenden Fraktionen sind – bei aller
26 Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 Der Deutsche Bundestag und seine Akteure
Übereinstimmung in ihren jeweiligen politischen Grundsätzen rigkeiten, alle Bundestagsausschüsse hinreichend zu besetzen. und zentralen Zielen – heterogene Gebilde. Die Abgeordneten Am Beispiel: Selbst bei 50 Mitgliedern ergibt sich folgende der SPD wie der Union unterscheiden sich regional, konfessio- Rechnung: Da die Angehörigen der Fraktionsführung in der nell, sozialstrukturell und durchaus auch in ihren politischen Regel keine Ausschusspositionen übernehmen, stehen gut und ideologischen Positionen. Um den Zusammenhalt in der 40 Personen für diese Aufgaben bereit. Bei über 20 Bundes- Fraktion zu gewährleisten, müssen diese Unterschiede in tagsausschüssen könnten also jeweils höchstens zwei Mit- den Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen repräsen- glieder entsandt werden. tiert werden. Zu diesem Zweck gibt es im 19. Bundestag in der Da für eine Reihe von Ausschüssen den kleineren Fraktion SPD-Fraktion 25, in der Unionsfraktion 47 weitere Vorstands- mehrere Sitze zur Verfügung stehen, muss auf Doppelmit- mitglieder. Sie fungieren als Mittlerinstanz zwischen Gesamt- gliedschaften zurückgegriffen werden, die eine erhebliche fraktion und Leitungsebene. Dies zeigt sich besonders deutlich Arbeits- und Zeitbelastung der Abgeordneten darstellen. Dass bei der CDU/CSU, deren erweiterter Vorstand aus den Vorsitzen- angesichts solcher Zahlen die Einrichtung von thematisch den der Arbeitsgruppen (gegenwärtig 23), den Vorsitzenden der spiegelbildlich zu den Bundestagsausschüssen geschnittenen sechs sogenannten Soziologischen Gruppen (siehe Schaubild) Arbeitsgruppen nicht in Frage kommt, ist offenkundig. Statt- und 18 sonstigen gewählten Mitgliedern besteht. dessen werden Arbeitskreise eingerichtet, die größere The- Die kleineren Fraktionen, die in der Vergangenheit oft nur mengebiete umfassen (siehe oben Seite 29). Während deren 30 bis 50 Mitglieder zählten, im 19. Bundestag zwischen 67 Vorsitzende in der FDP nicht kraft Amtes dem Fraktionsvor- und 91, können mit weniger differenzierten Binnenstruktu- stand angehören (aber die Vorsitzenden der Bundestagsaus- ren auskommen (siehe Schaubild zu Bündnis 90/Die Grünen). schüsse, die die Freidemokraten stellen), gingen Bündnis 90/ Ihre Vorstände entsprechen hinsichtlich Größe und Funk- Die Grünen 1994 den Weg der Unionsfraktion und nahmen die tionen den Geschäftsführenden Vorständen der großen Frak- Arbeitskreisvorsitzenden (sogenannte Koordinatoren) zur bes- tionen; faktisch entfällt bei ihnen die Ebene des erweiterten seren sachpolitischen Verzahnung in den Vorstand auf. Seit der Vorstandes. Auch die Feingliederung in Arbeitsgruppen muss, 15. Wahlperiode sind die Koordinatoren die Stellvertretenden wie gezeigt, in den kleineren Fraktionen unterbleiben. In den Fraktionsvorsitzenden. Dieselbe Konstruktion findet sich bei vergangenen Wahlperioden hatten sie schon häufig Schwie- der Linken und bei der AfD.
Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 27 Parlamentarische Demokratie
Ausstattung und Finanzen der Fraktionen
Die hervorgehobene Stellung der (engeren) Fraktionsvorstän- de wurde im Laufe der Zeit weiter ausgebaut durch die finan- zielle und personelle Ausstattung der Fraktionen. Mittler- weile sind die ursprünglich als Sekretariatshilfen angelegten Stäbe zu politischen Dienstleistungsunternehmen mittlerer Betriebsgröße geworden. Bei SPD und CDU/CSU waren im 18. Bundestag 225 bzw. 328, bei den kleinen Fraktionen um die 130 Mitarbeiter beschäftigt. Zur Finanzierung dieses Personals und anderer Ausgaben erhalten die Fraktionen staatliche Zu- schüsse. Um ihre auch verfassungsgerichtlich anerkannte Rol- le als maßgebliche Akteure im demokratischen Willensbil- dungs- und Entscheidungsprozess angemessen erfüllen zu können, werden ihnen aus dem Bundeshaushalt jährlich Mit- tel zugewiesen, über die sie nach dem 1995 in Kraft getretenen Fraktionsgesetz öffentlich Rechnung legen müssen. Seit Ende der 1990er-Jahre betrugen diese Zuschüsse um die 60 Millio- nen Euro jährlich; vor allem durch Veränderungen in der Zahl der Fraktionen und die Vergrößerung des Bundestages sind sie seither auf 88 Millionen (2017) gestiegen. Ohne Zweifel sind diese materiellen Entwicklungen den Arbeitsmöglichkeiten der Fraktionen insgesamt und damit auch den Abgeordneten als Angehörigen ihrer Fraktion zugute gekommen. Die weitge- hende Finanzhoheit und Verfügung über das Fraktionsperso- nal in Händen der (engeren) Vorstände erhöht aber vor allem deren Führungspotenzial.
Suzanne S. Schüttemeyer
Mit einer Glocke eröffnet der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag traditionell die Sitzungen im Jakob-Kaiser-Haus. Ute Grabowsky
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28 Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 Der Deutsche Bundestag und seine Akteure Metodi Popow
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Die Regierungsbildung dauert zunehmend länger. So konnte der im September 2017 gewählte 19. Bundestag erst am 14. März 2018 die Wahl der Kanzlerin durchführen. Das Präsidium des Deutschen Bundestages wurde dagegen bereits am 24. Oktober 2017 in der konstituierenden Sitzung des neuen Parlaments gewählt. Im Bild oben die Regierungsbank bei der Aussprache zur Regierungserklärung am 21. März 2018., im Bild rechts: Bundestags- präsident Wolfgang Schäuble (3. v. re) mit seinen Stellvertreterinnen und Stellvertretern. Achim Melde Herstellung der parlamentarischen /
Arbeitsfähigkeit
Angesichts der Bedeutung der Fraktionen und ihrer meist schon vor dem Wahltag einsetzenden Aktivitäten zur Bildung späterer Koalitionen nimmt die Öffentlichkeit die förmlichen © Deutscher Bundestag Akte zur Konstituierung des Bundestages meistens gar nicht als Beginn einer neuen Wahlperiode, sondern eher als einen Abschnitt im Prozess der Regierungsbildung wahr. es zu langwierigen Vorsondierungen, bevor überhaupt – dann In der Tat erscheint es realitätsgerecht und zum Verständnis allerdings schnelle – Koalitionsverhandlungen aufgenommen der parlamentarischen Demokratie und ihrer Wirkungswei- werden konnten. Zudem band die SPD – wie schon 2013 – die end- se nötig, den gesamten Prozess in den Blick zu nehmen: von gültige Entscheidung über eine Fortführung des Bündnisses mit der Organisation der neuen Bundestagsfraktionen, ihren Vor- der Union an ein Votum ihrer Mitglieder, was den Zeitraum bis standswahlen, Ausschuss- und Arbeitsgruppenbesetzungen zur Kanzlerwahl weiter verlängerte. über die Wahlen des ganzen Bundestages für seine Leitungs- gremien und die Schaffung seiner Arbeitsebene bis hin zur Die erste Parlamentssitzung: Geschäftsordnung und Wahl des Kanzlers und damit der Regierungsorganisation. Wahl des Bundestagspräsidiums Rechnet man die Zeit, die vom Tag der Bundestagswahl bis Das Grundgesetz bestimmt, dass das Parlament spätestens zur Vereidigung des neuen Bundeskabinetts verstreicht, so dreißig Tage nach der Wahl zusammentreten muss (Art. 39 dauerte es von 1949 bis 2009 im Durchschnitt knapp sechs Wo- Abs. 2 GG). Auf dieser Sitzung beschließt es seine Geschäfts- chen (zwischen 24 und 65 Tagen), bis die politische Arbeitsfä- ordnung. Werden größere Reformen an diesem Regelwerk für higkeit vollständig hergestellt war. die parlamentarische Arbeit für nötig gehalten, werden sie im Schon 2013 gestaltete sich die Regierungsbildung schwieriger Laufe einer Wahlperiode nach ausführlichen Beratungen zwi- als gewöhnlich, und es verstrichen 86 Tage, bevor Angela Merkel schen den Fraktionen vorgenommen. Daher übernimmt das nach 2005 zum zweiten Mal zur Kanzlerin einer Großen Koalition neue Parlament zu Beginn in der Regel die Ordnung des voran- gewählt werden konnte. Und 2017 brachte die Bundestagswahl gegangenen Bundestages oder modifiziert diese nur leicht. ein Ergebnis hervor, das es noch schwerer machte, eine Regie- Außerdem werden der Bundestagspräsident und seine rungsmehrheit zu finden: Die beiden traditionellen Volksparteien Stellvertreter gewählt. Sie haben vor allem die Aufgabe, die CDU/CSU und SPD konnten zusammen nur noch 53,5 Prozent der Sitzungen des Bundestages zu leiten; der Bundestagspräsi- Stimmen gewinnen, und mit der AfD zog eine sechste Partei in dent vertritt das Parlament nach außen und steht protokol- den Bundestag ein. Da sie allen anderen als nicht koalitionsfähig larisch nach dem Bundespräsidenten an zweiter Stelle der galt, blieben als rechnerisch und politisch mögliche Bündnisse le- Ämterordnung. Bundestagspräsident und Vizepräsidenten diglich die sogenannte Jamaika-Koalition aus Union, Grünen und bilden das Präsidium, das die internen Angelegenheiten des FDP oder eine Fortsetzung der Großen Koalition übrig. Daher kam Hauses regelt.
Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 29 Parlamentarische Demokratie
Ihre Wahl wird keineswegs spontan vorgenommen, sondern Fraktion mindestens einen Vizepräsidenten stellt, wurde eine im Vorfeld von den Fraktionen geklärt. Es ist bereits seit den allseits befriedigende Lösung gefunden. Ihr Funktionieren 1950er-Jahren zur parlamentarischen Tradition geworden, dass setzt aber voraus, dass die Akteure nur solche Kandidaten prä- das Vorschlagsrecht für das Amt des Bundestagspräsidenten sentieren, die für die anderen Fraktionen auch wählbar sind. bei der größten Fraktion des Bundestages liegt. Ist diese an der Die Missachtung dieser stillschweigenden Übereinkunft durch Bildung der Bundesregierung beteiligt, so gehört die Position die PDS (Vorgängerin der Partei Die Linke) führte 2005 dazu, dass des Bundestagspräsidenten zum Personaltableau der Regie- die ihr zustehende Position eines Vizepräsidenten erst nach ei- rungsbildung. Ihre Besetzung wird von denselben personaltak- nem halben Jahr besetzt werden konnte. 2017 scheiterte der von tischen und politisch-strategischen Erwägungen geleitet wie der AfD aufgestellte Kandidat wegen islamfeindlicher Aussagen die Auswahl der Kabinettsmitglieder. in drei Wahlgängen im Bundestag. Der Ältestenrat (siehe unten) Fraktionsspitzen und Kanzler waren bislang in aller Regel entschied daraufhin, dass er wegen des offenkundigen Mangels darauf bedacht, mit dem Amtsinhaber einen möglichst zuver- einer Mehrheit nicht ein weiteres Mal kandidieren könne. Da lässigen Verbündeten an der Spitze der parlamentarischen auch die folgenden Kandidaten der AfD die erforderliche Stim- Alltagsarbeit zu bekommen oder wenigstens einen, der nicht menmehrheit verfehlten, ist/war die AfD mit Stand November allzu viel politische Eigenständigkeit zu entfalten versprach. 2019 nicht im Präsidium des Bundestages vertreten. Da mit dem Präsidentenamt die Vertretung des ganzen Par- laments nach außen und die unparteiische Sitzungsleitung Ältestenrat und Parlamentarische Geschäftsführer verbunden sind, obliegt es der vorschlagenden Fraktion aber Wichtiger für den politischen Alltag des Bundestages als das auch, die gebotene parteipolitische Neutralität im Auge zu Präsidium ist der Ältestenrat. Er besteht aus dem Präsidenten, behalten und einen für die anderen Fraktionen akzeptablen den Vizepräsidenten und gegenwärtig (im 19. Bundestag) 23 Kandidaten zu präsentieren. Dass dies bisher gelungen ist, weiteren Abgeordneten, die von den Fraktionen gemäß ihrer zeigt die Tatsache, dass es seit 1954 keine Gegenkandidaturen Mitgliederzahl benannt werden. Die Bedeutung des Ältes- mehr gab. tenrats für die Binnenorganisation des Parlaments kann da- Weniger einvernehmlich hat sich rückblickend die Wahl der ran abgelesen werden, dass ihm alle Parlamentarischen Ge- Vizepräsidenten gestaltet. Zunächst wurde es auch hier rasch schäftsführer der beiden großen Fraktionen angehören und zum Brauch, dass jede Fraktion im Präsidium vertreten sein die kleineren Fraktionen die ihnen jeweils zustehenden Sitze sollte, um an der Leitung des Bundestages teilzunehmen. Im (FDP und AfD je 3, Grüne und Linke je 2) ebenfalls mit ihren Drei-Fraktionen-Parlament der 1970er- und 1980er-Jahre ver- Parlamentarischen Geschäftsführern besetzen. ständigte man sich auf einen Proporz (Präsident und ein Vize Die Geschäftsführer sind die zentrale Schaltstelle für die für die stärkste, zwei Vizepräsidenten für die zweite große und Steuerung der politischen Arbeitsabläufe in ihren Fraktionen. ein Vizepräsident für die kleine Fraktion). Sie verständigen sich im Ältestenrat – und häufiger noch in Vor- Der Einzug von Bündnis 90/Die Grünen, später der PDS bzw. besprechungen und anderen informellen Zusammenkünften – der Linken führte zu etlichen Auseinandersetzungen über die über den Terminplan des Hohen Hauses, die Sitzungswochen, Vertretung der kleineren Fraktionen im Präsidium. Mit der die Tagesordnung der Plenarsitzungen, zumeist auch über Rede- 1994 in die Geschäftsordnung eingefügten Regel, wonach jede zeiten und Zahl der Redner, über Zahl und Größe sowie Vorsit-
Parlamentarische Geschäftsführer
Ob förmlich im Ältestenrat oder informell in Gesprächsrunden, tenrat vereinbaren, korrigiert.“ (Will Rasner) [...] Was zu Recht mit der Erfüllung dieser Funktionen prägen die Parlamenta- als Verfahrenshoheit der Parlamentarischen Geschäftsführer rischen Geschäftsführer das Parlamentsgeschehen. Welches bezeichnet wird, darf also nicht als einsame Entscheidungs- Thema wann behandelt wird, wer wie lange wozu reden darf, macht interpretiert werden. Vielmehr stehen sie in einem in welchen Strukturen das Parlament seine Arbeit erledigt, Beziehungsgeflecht, in dem sie die Interessen einzelner Abge- welcher Ausschuss in der Hand welcher Fraktion liegt, wird ordneter, ihrer jeweiligen Fraktion als Ganzes, ihres Fraktions- von ihnen entschieden. Selbstverständlich sind sie in diesen vorstandes und des Bundestages als Gesamtparlament austa- Entscheidungen nicht frei: Sie agieren als Repräsentanten rieren müssen. Hinzu kommt ein traditionell gewachsenes, die ihrer Fraktion, und das heißt, sie müssen den Interessen und Fraktionszugehörigkeit übergreifendes Selbstverständnis der Bedürfnissen ihrer Fraktion ebenso folgen, wie sie in der Sache Geschäftsführer. Die Äußerung „Wir sind ja eine Gewerkschaft, diese führen, ihr vorangehen müssen. Mit den Worten eines wir Parlamentarischen Geschäftsführer“ verweist auf einen langjährigen Ersten Parlamentarischen Geschäftsführers der Bestand an gemeinsamen Orientierungen der Amtsinhaber Unionsfraktion, der zusammen mit seinem SPD-Kollegen in ungeachtet ihrer Parteizugehörigkeit. Diese Orientierungen den fünfziger und sechziger Jahren Standards und Konventio- liegen vor allem im Bereich organisatorischer Effizienz und nen für die parlamentarische (Zusammen-)Arbeit setzte, die Reibungslosigkeit in den technischen Abläufen parlamentari- bis heute Gültigkeit haben: „Die Parlamentarischen Geschäfts- scher Verfahren. Dies findet auch seinen Niederschlag in dem – führer gehen selten mit vorgefassten Beschlüssen irgendeines zumeist – erfolgreichen Bemühen, im Ältestenrat konsensuale Gremiums, aber gelegentlich doch mit Beschlüssen des Vor- Entscheidungen zur Organisation des Parlamentsbetriebes zu standes oder der Fraktion in den Ältestenrat. Sie müssen fast treffen. [...] immer ‚wissen‘ oder ‚fühlen‘, was ihre Fraktion will. Sie werden Suzanne S. Schüttemeyer, „Manager des Parlaments zwischen Effizienz und Offenheit. sehr selten von ihren Fraktionen nachträglich desavouiert, und Parlamentarische Geschäftsführer im Deutschen Bundestag“, in: Aus Politik und Zeitge- sie werden sehr selten vom Plenum in dem, was sie im Ältes- schichte B 36–37/97, S. 12 f.
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zende und Stellvertreter der Ausschüsse, deren Zeitplanung und Überweisungen von Gesetzentwürfen an die Ausschüsse. Wenngleich es sich bei den Übereinkommen der Geschäfts- führer und den Vereinbarungen des Ältestenrates förmlich um Vorschläge an das Plenum des Bundestages handelt, so sind diese faktisch doch gleichbedeutend mit der Entscheidung des Parlaments. Haben sich die Fraktionen, vertreten durch ihre Geschäftsführer, geeinigt, muss das gesamte Plenum nicht mehr mit diesen Gegenständen befasst werden – ein Zeichen für die pragmatische, effizienzorientierte Handhabung der par- lamentarischen Arbeit.
Einrichtung und thematischer Zuschnitt der Ausschüsse Bevor der Ältestenrat förmlich eingesetzt ist, trifft sich bereits ein Vor-Ältestenrat, der insbesondere über die Struktur und Be- setzung der Ausschüsse des neuen Bundestages berät. Grund- sätzlich gilt für die Einsetzung von Ausschüssen das Prinzip der Spiegelbildlichkeit, das heißt, der Bundestag richtet für jedes Ministerium einen Ausschuss ein, um so die fachlich-politi- sche Kontrolle besser organisieren und leisten zu können. Ausgenommen vom Prinzip der Spiegelbildlichkeit sind die grundgesetzlich vorgeschriebenen Ausschüsse – weder der Petitionsausschuss noch der EU-Ausschuss haben ein Gegen- stück in der Bundesregierung. Das Gleiche gilt für die beiden in jeder Wahlperiode eingesetzten Ausschüsse für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung sowie für den Haushalt. Sie dienen der Selbstorganisation des Parlaments beziehungswei- se seiner klassischen Querschnittsaufgabe, die Haushaltspoli- tik und -führung der Bundesregierung zu überwachen. Im 19. Bundestag finden sich fünf weitere Ausschüsse, die nicht auf ein bestimmtes Ressort der Exekutive bezogen sind: der Sportausschuss, der Tourismusausschuss, der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, der Ausschuss Di- gitale Agenda sowie der Ausschuss für Kultur und Medien. Außerdem gibt es im 19. Bundestag nicht nur einen, sondern zwei Ausschüsse, die das Bundesinnenministerium kontrollie- ren. Als dieses Ressort mit der Regierungsbildung 2018 für die CSU um die Bereiche Bau und Heimat erweitert wurde, rich- tete der Bundestag gemäß dem Prinzip der Spiegelbildlichkeit
Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 31 Parlamentarische Demokratie zusätzlich den Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung Angehöriger einer Mehrheitsfraktion den Vorsitz innehat und und Kommunen ein. ebenso andersherum. Unter den Zahlenverhältnissen der Gro- Der thematische Zuschnitt der Ausschüsse spiegelt also zum ßen Koalition ist dieser Brauch allerdings nicht durchgängig einen politische Schwerpunktsetzungen wider, mit denen der aufrechtzuerhalten. Bundestag deutlich machen will, dass die entsprechenden ge- Um dem Demokratieprinzip zu genügen – die Wählerinnen sellschaftlichen Belange vom Parlament aufgegriffen werden. und Wähler haben schließlich eine Partei bzw. Koalition mit Zum anderen kann er das Ergebnis geänderter Strukturen der der Mehrheit ausgestattet und damit zur Entscheidung legi- Regierungsorganisation sein, die ihrerseits sowohl von inhalt- timiert – müssen sich die parlamentarischen Mehrheitsver- lichen als auch von personal- und parteipolitischen Erwägun- hältnisse auch in den Gremien des Bundestages wiederfinden. gen bestimmt werden. Deshalb wird, ebenfalls nach dem Sainte-Laguë/Schepers-Ver- fahren, entsprechend dem Stärkeverhältnis der Fraktionen im Besetzung der Ausschüsse Bundestag errechnet, wie viele Mitglieder jede Fraktion in die Besteht Klarheit über Zahl und Geschäftsbereiche sowie Größe verschiedenen Ausschüsse entsenden kann. Zum Beispiel ver- der Ausschüsse, so wird versucht, Einvernehmen darüber her- teilen sich im Haushaltsausschuss, der mit 44 Mitgliedern zu zustellen, welche Fraktion welchen Ausschussvorsitz und wel- den größten Ausschüssen des Bundestages gehört, die Sitze che Stellvertreterpositionen besetzen darf. Zwischen 1949 und wie folgt: 15 CDU/CSU, 10 SPD, 6 AfD, 5 FDP, 4 Linke, 4 Bünd- 1994 ist es nur einmal misslungen, diese Verteilungsfragen nis 90/Grüne. Im 21 Mitglieder zählenden Ausschuss Digitale durch Verhandeln zwischen den Geschäftsführern im Ältes- Agenda stellen CDU/CSU 7, SPD 5, AfD 3 und die drei weiteren tenrat zu regeln. Doch seither musste immer das sogenannte Fraktionen je zwei Vertreter. Zugreifverfahren angewendet werden. Dabei wird mit Hilfe Jeder Abgeordnete hat das Recht, einem Ausschuss anzu- einer mathematischen Methode, dem Proportionalverfahren gehören; ist er fraktionslos (was nur noch äußerst selten vor- von Sainte-Laguë/Schepers, nach der Stärke der Fraktionen er- kommt), wird ihm vom Bundestagspräsidenten eine Mitglied- mittelt, in welcher Reihenfolge sie auf einen Ausschussvorsitz bzw. Stellvertreterposten zugreifen dürfen. Diese Form der Be- setzung ist sehr viel zufallsabhängiger und erlaubt den Frak- tionen deutlich weniger als der Versuch der einvernehmlichen Bedeutung der Ausschüsse Regelung, bestimmte Präferenzen zum Tragen zu bringen. Diese Präferenzen ergeben sich aus sachpolitischen und Für viele Parlamentsfunktionen ist der Ausschuss weniger personellen Erwägungen, auch aus Traditionen. So hat sich im wichtig als angenommen, wenn auch nicht verzichtbar. Bundestag als guter parlamentarischer Brauch herausgebildet, Von der Regierungskontrolle geschieht hier nur der nicht-öf- den Vorsitz im Haushaltsausschuss, einem höchst wichtigen fentliche Teil der oppositionellen Kontrolle, die ansonsten Instrument zur Kontrolle der Regierung, einem Mitglied der öffentlichkeitsorientiert in Plenum und Medien ihren Ort Opposition zu überlassen. Will eine Fraktion sich einem poli- hat, während das interne Controlling der Regierungsmehr- tischen Themenbereich besonders widmen, hat sie dies in der heit in den Arbeitskreisen und der Fraktionsführung statt- Vergangenheit schon getan oder setzt sie aufgrund ihres par- findet. Die Ausschüsse sind bei der Gesetzgebung meist teipolitischen Programms bestimmte (neue) sachpolitische nur als „Notar“ für das Parlament tätig; Vorlagen werden Schwerpunkte, so wird sich dies auch in den Ausschussprä- stattdessen in den Ministerien und den Arbeitskreisen der ferenzen niederschlagen. Ein klassisches Beispiel ist hier die Fraktionen erarbeitet. Die Repräsentationsfunktion findet SPD, die traditionell den Vorsitz im Ausschuss für Arbeit und/ auf ihrer Input-Seite ebenfalls schwerpunktmäßig in den oder Soziales führt. Auch Seniorität oder personelle Kontinui- Arbeitskreisen statt, die Outputseite im Plenum oder in tät spielen gelegentlich eine Rolle beim Zugriff auf einen Aus- direkten Medienkontakten. Der Ausschuss leistet jedoch schuss, wenn eine Fraktion einen erfahrenen Vorsitzenden einige Arbeit, die innerparlamentarisch von Bedeutung ist, wieder nominieren möchte. insbesondere mit seiner notariellen Funktion, als letzte in- Außerdem gilt im Bundestag, dass nach Möglichkeit ein Mit- haltliche Überprüfung von Vorlagen vor der Plenumsphase glied der Opposition die Stellvertretung übernimmt, wenn ein und als „Plenum in Testphase“. [...] Mit der Argumentation im Ausschuss kann weder das Gegenüber noch wie im Plenum eine Zuhörerschaft über- zeugt werden; daraus erklärt sich auch die – im Vergleich zum Plenum – relativ gelassene, oft freundliche Stimmung. Der Ausschuss hat seine Funktion darin, die Meinungsbil- dung der Fraktionen zu prüfen, die „Frontlinien“ zwischen dpa
/ ihnen zu klären und Bereiche von Gemeinsamkeiten aus- zuloten sowie ihre Stellungnahmen quasi notariell zur Kenntnis zu nehmen. Dafür wären wohl gelegentlich auch weniger ausführliche Diskussionen ausreichend. Den ein- zelnen Abgeordneten kann die Auseinandersetzung aller- Bernd von Jutrczenka
/ dings als Übung und Test für die anschließende Rede im Plenum dienen, weil im Ausschuss meist eine höhere Ver- traulichkeit und bessere Stimmung herrscht als in der öf-
picture alliance fentlichen Auseinandersetzung.
Vorsitzender des Haushaltsausschusses, einer wichtigen Institution zur Kontrolle der Jürgen von Oertzen, Das Expertenparlament, Nomos Verlagsgesellschaft, Regierung, ist in der Regel ein Mitglied der größten Oppositionspartei. Konstituierende Baden-Baden 2006, S. 247 und 272 Sitzung unter Peter Boehringer (AfD) am 31. Januar 2018
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Langer Donnerstag
[21:03] Es ist Donnerstag. Der stellvertretende Bundestags- Übereinkunft, dass die Koalitionsfraktionen, obwohl sie mehr präsident Thomas Oppermann von der SPD übernimmt das als die Hälfte aller Wählerstimmen haben, nur die Hälfte der Tagungspräsidium. Er löst Hans-Peter Friedrich ab, den Stell- Gesamtredezeit für sich in Anspruch nehmen. Die andere Hälf- vertreter von der CSU. […] te steht der Opposition zu. Die Oppositionsfraktionen müssen Jetzt […] sind noch achtzig Abgeordnete im Saal. Auf den sich freilich einigen, wie sie das unter sich aufteilen. […] Jeder Rängen sitzen sogar noch Besuchergruppen. Oppermann er- bekommt mal die beste Sendezeit, es geht reihum. […] laubt sich ein kurzes Wort: „Mit Rücksicht auf die Mitarbeiter [23:24] Im Plenum geht es jetzt um das Zensusgesetz zur des Hauses“ werde er von jetzt an die Redezeit streng über- Vorbereitung der nächsten Volkszählung. Die Bundesregierung wachen. Je länger das Plenum tagt, desto später ist auch Feier- hat dazu einen Gesetzentwurf eingebracht. Günter Krings, Par- abend für all jene, die im Hintergrund den Parlamentsbetrieb lamentarischer Staatssekretär im Innenministerium, spricht am Laufen halten: die Protokollanten, die Saalordner, die Mit- dazu. Dann die AfD. Auch die Grünen reden, weil sie gegen arbeiter in den Fraktionen, das Bundestagsrestaurant. Opper- Volkszählungen sind und das auch unbedingt laut sagen wol- mann kündigt an, wer überziehe, dem werde sogleich das Mi- len. Die anderen Fraktionen geben ihre Reden zu Protokoll. […] kro abgestellt. Zwischenfragen seien nicht mehr zugelassen. Früher war es üblich, „zu Protokoll zu reden“, wie es offiziell Und im Übrigen bitte er darum, von der Möglichkeit Gebrauch heißt. „Reden wir zu Protokoll“ war eine vielgebrauchte Wen- zu machen, Reden zu Protokoll zu geben. Würden alle geplan- dung: Die Reden wurden nicht gehalten, sondern das Manu- ten Reden gehalten, müsse man noch lange nach Mitternacht skript den Protokollführern übergeben. Manchmal wurden hier sitzen. ganze Tagesordnungspunkte zu Protokoll geredet. […] Sitzungswochen sind für die Bundestagsabgeordneten harte Lange Sitzungen des Bundestages hat es schon immer gege- Arbeit, nicht nur donnerstags am Hauptkampftag. Es geht los ben, mit dem Einzug der AfD aber wird es regelmäßig sehr spät. am Montag, wenn die Parteigremien tagen. Am Dienstag sind Die mit Abstand längste Sitzung überhaupt war am 24. Novem- die Fraktionssitzungen, am Mittwoch tagt das Bundestags- ber 1949: Sie begann um 10 Uhr 30 und endete am nächsten plenum, vergleichsweise kurz und mit stets gleicher Tagesord- Tag um 6 Uhr 23. Im Plenum ging es damals hoch her, weil der nung: Die Regierung wird befragt, danach wird eine Aktuelle SPD-Fraktionsvorsitzende Kurt Schumacher Regierungschef Stunde zu einem Thema aufgerufen, das eine der Fraktionen Konrad Adenauer als „Kanzler der Alliierten“ beleidigt hatte eingebracht hat. Den Rest des Tages verbringen die Abgeord- und nun ausgeschlossen werden sollte. neten in der nicht minder wichtigen Ausschussarbeit, auch Einer der längsten Donnerstage seit Beginn dieser Wahlpe- das kann bis tief in die Nacht dauern. Am Donnerstag geht es riode war der 14. Juni des vergangenen Jahres [2018] […]. Am im Plenum morgens um 9 los und dauert oft bis Mitternacht Ende musste das Plenum bis 2 Uhr 03 nachsitzen. und darüber hinaus. Am Freitag trifft sich alles noch einmal [23:50] Das Präsidium hat unterdessen abermals gewechselt, im Plenum, bis zum Nachmittag, dann eilen die Abgeordneten Friedrich ist wieder da. Die letzten Besuchergruppen haben die zurück in ihre Wahlkreise. Tribüne verlassen, eine Schulklasse aus Hamburg darunter. Sie [21:50] Gerade wird Tagesordnungspunkt 14 aufgerufen, 21 wirkte schon sehr müde. Jetzt sind alle Ränge leer. Und unten sind es heute insgesamt. […] Tagesordnungen […] sind Sache hat Oppermanns Mahnung gewirkt. Die diensthabenden Par- des Ältestenrates, nachdem zuvor die Fraktionen ihre Ansprü- lamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen haben viel zu che angemeldet haben. Dem Ältestenrat gehören das Präsidi- tun, dem Tagungspräsidium mitzuteilen, wer alles seine Rede um des Bundestages und 23 weitere Abgeordnete an. Es sind zu Protokoll gibt. […] Jetzt ist das Plenum beim vorletzten Ta- nicht unbedingt die ältesten Parlamentarier, wohl aber erfah- gesordnungspunkt, es geht um Agrarökologie. […] rene. Sie tagen in einem speziellen Saal im Reichstagsgebäude, [23:59] Im Plenum sitzen jetzt noch etwa sechzig Abgeord- jedes hier gesprochene Wort wird mitgeschnitten. Donners- nete. Der letzte Tagesordnungspunkt wird aufgerufen. Es geht tags wird die Tagesordnung für die nächste Sitzungswoche um Anerkennung der damals sogenannten Asozialen und festgelegt, im Groben jedenfalls. Die genaue Abstimmung ist Berufsverbrecher als Opfergruppen des Nationalsozialismus. dann Sache der Parlamentarischen Geschäftsführer aus den Grüne und FDP haben dazu Anträge vorgelegt. Thomas Hacker Fraktionen, die sich dienstags in einer etwas kleineren Runde von der FDP sagt: „Zu später Stunde ein ernstes Thema.“ Und treffen, traditionell koordiniert durch die stärkste Fraktion, also tatsächlich sind alle noch einmal aufmerksam, und es gibt eine die Union. […] leise Debatte, bei der sich einiges über deutsche Geschichte [22:27] Im Plenum versucht gerade der junge Unionsabge- und Gedenkkultur lernen lässt. […] ordnete Christoph Bernstiel auf seine Weise, die Sitzung zu ver- [00:29] Friedrich verkündet: „Die Sitzung ist geschlossen.“ kürzen. Er ist mit seiner Rede zur Enquetekommission früher Der Grüne Konstantin von Notz macht noch ein Selfie mit den fertig als geplant: „Die unverbrauchte Redezeit widme ich den Leuten aus seiner Fraktion, die jetzt noch da sind. Die Saaldie- Mitarbeitern des Hauses.“ Da wird gelacht, aber Oppermann ner eilen, alles aufzuräumen. Der Bildschirm vor dem Tagungs- setzt noch eins drauf: „Lieber Kollege, es sind gerade mal 25 Se- präsidium wird geputzt. Draußen rollt eine lange Schlange kunden.“ von Taxis an, welche die Abgeordneten zu ihren Quartieren Überhaupt der Zeitplan. Donnerstagvormittag und Freitag- bringen. Einmal brauchte der Bundestag für eine Sitzung nur vormittag gelten im Bundestag als Kernzeiten, weil da die eine Minute. Das war am 13. März 1974. Der Abgeordnete Becker öffentliche, sprich mediale Aufmerksamkeit am größten ist. wurde in den Vermittlungsausschuss gewählt. Dahin möchten am liebsten alle Fraktionen ihre Tagesord- Frank Pergande, „Nachts ist aller Beifall lau“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung nungspunkte legen. Das geht nicht, aber wenigstens soll jeder vom 7. April 2019, © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frank- mal dran sein. Bislang war es eine per Handschlag getroffene furt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv
Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 33 Parlamentarische Demokratie schaft, allerdings nur mit Rede- und Antrags-, jedoch ohne Vertreter ihrer jeweiligen Partei gewählt. Sie sind aber nicht Stimmrecht, zugewiesen. Im Normalfall sind die Fraktionen an Aufträge und Weisungen gebunden – weder von einzelnen Herren des Verfahrens zur Ausschussbesetzung. Sie benennen Bürgerinnen und Bürgern noch von Parteien, Verbänden, Inte- ihre Mitglieder, und sie haben auch das Recht, diese wieder zu- ressengruppen oder Unternehmen. rückzurufen. Art. 38 GG garantiert ihnen das sogenannte Freie Mandat. Die Praxis der Ausschussbesetzung gestaltet sich in allen Darin findet sich auch die Formulierung, die Abgeordneten Fraktionen nach ähnlichem Muster. Zu Beginn einer Wahl- seien „nur ihrem Gewissen unterworfen“, die zu vielen Miss- periode werden die Abgeordneten schriftlich oder in persön- verständnissen Anlass gegeben hat und seither in mancher lichen Gesprächen von einem Parlamentarischen Geschäfts- öffentlichen Debatte emotional überhöht wird. Doch die Väter führer nach ihren Ausschusspräferenzen befragt. In der CDU und Mütter des Grundgesetzes wussten, dass bei den wenigs- gibt es einen „Ausschuss zur Besetzung der Ausschüsse“, im ten Entscheidungen im Parlament das Gewissen als mora- Jargon „Teppichhändlergremium“ genannt, in dem die Parla- lisch-sittliche Kategorie ins Spiel kommt. Sie wollten mit der mentarischen Geschäftsführer und die Vorsitzenden der Lan- Formulierung lediglich die Weisungsfreiheit der Abgeordne- desgruppen aushandeln, wer in welchen Ausschuss geht. Ob ten noch klarer zum Ausdruck bringen und deutlich machen, Ausschuss oder einzelner Parlamentarischer Geschäftsführer: dass diese sich bei ihren Entscheidungen auf das eigene, allein In allen Fraktionen muss versucht werden, die Wünsche der zu verantwortende Urteil stützen müssen. Abgeordneten mit den Erfordernissen der Gesamtfraktion in Seit den frühesten Anfängen des modernen Parlamentaris- Einklang zu bringen: mus gibt es eine Debatte um die Frage, in welchem Ausmaß ¬ Einerseits ist Sachverstand für die Ausschussarbeit gefragt, die Repräsentanten an den Willen der zu Repräsentierenden andererseits müssen die Fachleute auch in der Lage sein, gebunden sind. Aus einer Rede des englischen Politikers und „über den eigenen Tellerrand“ hinauszublicken. Staatstheoretikers Edmund Burke an seine Wähler in Bristol ¬ Einerseits sollen langjährige Erfahrungen honoriert und ge- 1774 bezog die Parlamentsforschung 200 Jahre später die Un- nutzt werden, andererseits können „Erbhöfe“ das Risiko der terscheidung zwischen zwei Typen von Abgeordneten: dem Erstarrung und Abschottung gegen neue Ideen und neue trustee und dem delegate. Unter einem trustee wird dabei der Leute bergen. in seiner politischen Urteilsbildung freie, der Wählerschaft ge- ¬ Die besondere Nähe einer Fraktion zu gesellschaftlichen In- nerell rechenschaftspflichtige Treuhänder verstanden, unter teressen soll in der Ausschussbesetzung zum Ausdruck kom- einem delegate der an die Positionen der Wählerinnen und men, darf aber nicht in Abhängigkeit zu einem Verband oder Wähler zwingend gebundene, gleichsam als Sendbote fungie- einer Interessengruppe umschlagen. rende Beauftragte. ¬ Die gemeinsame politische Linie einer Fraktion muss zum Umfragen belegen, dass deutsche Abgeordnete in diesen Ent- Tragen kommen, aber auch die innerfraktionellen Unter- weder-oder-Kategorien anscheinend weder denken noch han- schiede sind hinreichend zu berücksichtigen. deln. Selbstverständlich wollen sie im Regelfall die Interessen Gelingt der Führung die Ausbalancierung dieser widerstrei- ihrer Wählerinnen und Wähler – bzw. der Gruppen, denen sie tenden Anforderungen nicht oder nicht gut genug, drohen Ge- nach ihrer Annahme ihre Wahl verdanken –, vertreten, denn fahren: Unzufriedene Mitglieder und die mangelhafte Nutzung sie haben diese Interessen als berechtigt erkannt, glauben, ih- vorhandener Kenntnisse und Fähigkeiten sind keine guten Vo- nen jeweils ein besserer Anwalt sein zu können als andere, und raussetzungen für eine erfolgreiche Arbeit. Deshalb wird gro- wollen schließlich auch wiedergewählt werden. Genauso sind ße Mühe darauf verwandt, die Fraktionsangehörigen in ihre sich die Parlamentarier aber auch über folgende Gegebenhei- „Wunschausschüsse“ zu entsenden, wenigstens als stellvertre- ten im Klaren: tende Mitglieder oder über Nachrücklisten zu einem späteren ¬ Erstens kennen sie „ihre“ Wählerinnen und Wähler gar nicht, Zeitpunkt. und selbst wenn sie darunter ihren Wahlkreis verstehen, so Dass in Fraktionsversammlungen nur gelegentlich Kampf- sind dort nur in den seltensten Fällen einhellige politische abstimmungen über die Zuteilung von Ausschusssitzen statt- Positionen anzutreffen, und zu den meisten Gegenständen, finden, belegt, dass dieses Bemühen in der Regel zum Erfolg über die im Bundestag zu entscheiden ist, gibt es gar keine führt. Es zeigt aber auch, dass die Fraktionsführungen bei ihren Positionen. Entscheidungen über die wichtige Ausschussmitgliedschaft ¬ Zweitens kommunizieren nur wenige Bürgerinnen und Bür- im Parlament keineswegs frei sind: Sie müssen die individuel- ger direkt mit ihren Abgeordneten und teilen diesen ihre len Interessen der Abgeordneten einbeziehen und mit dem – ja politischen Meinungen zu konkret anstehenden Entschei- auch von den einzelnen Abgeordneten geteilten – Interesse am dungen mit. Erfolg der gemeinsamen Arbeit abgleichen. Von einer „Unter- ¬ Drittens gibt es nicht nur so gut wie immer einander wider- werfung“ der Fraktionsmitglieder unter ihre Führung kann streitende Interessen, sondern auch die Prioritäten, die die- somit keine Rede sein. sen jeweils zugemessen werden, überlagern sich vielfach und ändern sich zudem bei den Wählerinnen und Wählern im Laufe der Zeit. ¬ Viertens ist in den parlamentarischen Parteiendemokratien Arbeitsalltag der Abgeordneten Europas noch in starkem Maße die Vorstellung verbreitet, dass Repräsentation auch dem Gemeinwohl verpflichtet ist. Das Freie Mandat All dies erfordert von den Abgeordneten eigenständige Mei- Die Mitglieder des Deutschen Bundestages (MdB) sind kei- nungsbildung und politische Führung in der Sache sowie kom- ne Einzelkämpfer. Anders als zum Beispiel die Abgeordneten promissorientiertes Verhandeln und Vermitteln. Pragmatisch und Senatoren des US-Kongresses, aber genauso wie die Ab- verbinden sie deshalb die Rollen als Treuhänder und als Send- geordneten in den parlamentarischen Demokratien Europas, bote, handeln so, wie es oben für parlamentarische Funktionen werden sie von den Bürgerinnen und Bürgern vor allem als dargelegt wurde: responsiv und politisch führend.
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Die Beziehung der Abgeordneten zu Fraktion und Partei die Repräsentationsaufgabe der MdBs ebenso unverzichtbar wie für ihre Wiederwahl. Politische Sozialisation: Ebenso pragmatisch wie ihre Bezie- So ist für die 1990er-Jahre ermittelt worden, dass 35 Prozent hung zur Wählerschaft verstehen die Bundestagsmitglieder der deutschen Bundes- und Landesparlamentarier Vorstands- die Einbindung in ihre politische Gruppe, die Fraktion. Lange funktionen auf Ortsebene wahrnahmen (darunter 16 Prozent bevor sie Abgeordnete wurden, haben sie sich auf der Basis als Vorsitzende), 60 Prozent Vorstandsfunktionen auf Kreis- bzw. politischer Grundüberzeugungen einer Partei angeschlossen, Unterbezirksebene erfüllten (darunter 22 Prozent als Vorsitzen- haben dort Erfahrungen gesammelt und in der Regel etliche de), 26 Prozent Vorstandsfunktionen auf Bezirksebene (darunter Positionen und Ämter bekleidet. Sie haben damit selbst die Po- vier Prozent als Vorsitzende) und 24 Prozent Vorstandsfunktio- litik dieser Partei geprägt und ihre Programmatik beeinflusst. nen auf Landesebene innehatten. Lediglich 13 Prozent der Bun- Dies endet keinesfalls mit der Mandatsübernahme, denn die des- und Landesparlamentarier bekleideten keine Führungsäm- enge Verbindung zur Basis von Partei und Wählerschaft ist für ter in ihrer Partei, und nur ein verschwindend kleiner Anteil von
Repräsentation: unverzichtbar und doch oft unverstanden
Aus Umfragen ist abzulesen: Parlamentarier genießen keinen ¬ Einerseits wird Professionalisierung der Politik, also Politik guten Ruf mehr, Parlamente verlieren an Ansehen bei Bürge- als Beruf, mit äußerster Skepsis betrachtet, insbesondere rinnen und Bürgern. Die Wahlbeteiligung sinkt, ebenso die die finanziellen Begleitumstände dieser Entwicklung. Oft Zufriedenheit mit dem Funktionieren des politischen Systems. wird der Amateur- und Gelegenheitspolitiker als der erstre- Prüft man die Vorwürfe und Urteile im Einzelnen, so wird aber benswerte Typus schlechthin dargestellt. Andererseits wird deutlich, wie widersprüchlich sie sind und auf welchen oft irri- höchste Professionalität von Parlamenten und Regierungen gen Ansprüchen und Maßstäben sie beruhen, aber auch, welch bei ihrer Aufgabenerfüllung verlangt, werden strenge Maß- schwierige – gleichwohl für moderne komplexe Gesellschaften stäbe an Kompetenz, Leistungsfähigkeit und Einsatzbereit- unabweisbar vernünftige – Regierungsform die repräsentative schaft der Politiker angelegt. Demokratie darstellt. Im Populärverständnis erscheint direkte Demokratie als die ¬ Einerseits sollen Politiker Führung ausüben, sollen – auch „eigentliche“ Form, die repräsentative Demokratie dagegen als und gerade – „unpopuläre“ Entscheidungen treffen. Anderer- Notlösung, weil Bevölkerungszahl und Großräumigkeit die all- seits wird von ihnen erwartet, dass sie ihren Wählerinnen zuständige Versammlung aller auf dem Marktplatz nicht mehr und Wählern folgen, vor allem nicht in deren Privilegien und zulassen. Dahinter steht die Illusion, es gebe herrschaftsfreie Positionen einschneiden. Selbstregierung. Doch die immer wieder vorgetragene Behaup- ¬ Einerseits wird angemahnt, Politik müsse sich am Gemein- tung, die Beteiligung jedes einzelnen an den täglichen Entschei- wohl ausrichten. Andererseits wird jede Chance genutzt, mit dungen des Gemeinwesens würde ihm seine ursprüngliche der Veto-Macht von Einzelinteressen zu drohen. Freiheit zurückgeben, kann nicht als überzeugende Argumenta- ¬ Einerseits wird schnelle, pragmatische Entscheidung von tion für die Überlegenheit direkter Demokratie dienen. Parlamenten und Regierungen gefordert, andererseits die Ein möglichst großes Maß an politischer Freiheit wird in Kurzatmigkeit der Politik kritisiert und langfristig-konzep- (post-)modernen Gesellschaften vielmehr dadurch hergestellt, tionelles Denken vermisst. dass die Universalität von Herrschaft anerkannt und sodann ¬ Einerseits lautet die Forderung, dem Kompromiss den Vor- nach Wegen gesucht wird, ihr Grenzen zu setzen und ihre Aus- rang vor der als „Parteiengezänk“ verunglimpften kontro- übung an Regeln zu binden. Schon der Verweis darauf, dass Ent- versen Diskussion zu geben. Andererseits gerät die Glaub- scheidungen getroffen werden (müssen) für Nicht-Anwesende würdigkeit von Politikern in Zweifel, wenn diese um einer und Nicht-Zuständige (zum Beispiel Kinder, Ausländer), für nötigen Entscheidung willen von ursprünglichen Positionen nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich Auseinanderliegendes abgehen. Teilweise werden sogar Verhandlung und Kompro- (heute wird die Klimasituation künftiger Generationen besie- miss als solche diskreditiert und als Zeichen von Schwäche gelt), belegt, dass repräsentative Demokratie keine Notlösung ist. interpretiert. Im Gegenteil: Erst parlamentarische Repräsentation ermög- ¬ Einerseits wird das Freie Mandat der Abgeordneten histo- licht es, von der Entweder-oder-Entscheidung durch Mehrheit risch überhöht, der „unabhängige“ Abgeordnete idealisiert. abzugehen und einen Kompromiss zu suchen, der die wider- Andererseits wird mehr oder minder ausdrücklich das im- streitenden Interessen integriert und damit friedenstiftend perative Mandat favorisiert, bei dem ein Abgeordneter an wirkt. Dabei müssen Repräsentanten stets den Spagat leisten inhaltliche Vorgaben der von ihm Vertretenen gebunden ist, zwischen politischer Führung und Gefolgschaft. Sie müssen sowie die Unterwerfung der Abgeordneten unter den plebis- die Positionen der zu Repräsentierenden hören, ihnen nach zitär ermittelten Bürgerwillen. eigener Abwägung und Urteilsbildung folgen, sie modifizieren ¬ Einerseits lautet die Mehrheitsmeinung, Politiker kümmer- oder ihnen widersprechen – und dafür wiederum Folgebereit- ten sich nicht um den Wählerwillen, orientierten sich nicht schaft bei den Repräsentierten suchen. genügend an der „normalen“ Alltagswelt und den Interessen So erweist sich Repräsentation als die ebenso notwendige der sogenannten Durchschnittsbürger. Andererseits ist der wie einzig mögliche Form, Herrschaft demokratisch zu organi- Vorwurf gängig, dem Volk werde nur „aufs Maul geschaut“, sieren. die Politiker hängten ihr Mäntelchen opportunistisch in den Wind der demoskopisch ermittelten Stimmungen. Suzanne S. Schüttemeyer
Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 35 Parlamentarische Demokratie
Eine typische Sitzungswoche
Mo / Di / Mi / Do / Fr / Sa / So gen bevorzugen, die gemeinsame Anliegen quer zu den einzel- Die Zeiten sind lange vorbei, als ein Abgeordneter am Montag- nen Fachgebieten verfolgen. Und das alles wird in regelmäßigen morgen in den Zug steigen konnte, unterwegs die Zeitungen und Treffen im Auge behalten. [...] Briefe aus dem Wahlkreis durcharbeitete und am Nachmittag in Als zentraler Punkt der Sitzungswoche stellen sich dienstags Bonn die Sitzungswoche mehr oder weniger gemächlich einläu- am frühen Nachmittag die Fraktionssitzungen dar. Hier wird tete. Viele verabschieden sich heute bereits sonntags nach dem alles gebündelt, was in den vielen Dutzend anderen Fachgre- Kaffeetrinken von ihrer Familie und setzen sich in den Flieger. mien vorgeklärt worden ist. Hier geben die Vorsitzenden einen Und nicht wenige gehen am Abend noch einmal in ihr Büro, be- Überblick über die aktuelle Lage und erläutern die Strategie. Hier sonders wenn Termine schon am frühen Montagmorgen warten erläutern in den Regierungsfraktionen unter anderem auch der und noch ein wenig vorzubereiten sind. [...] Die Terminkalender Bundeskanzler und seine Minister die Hintergründe und Zusam- der Abgeordneten sind derart aus den Nähten geplatzt, dass im- menhänge der jüngsten Initiativen. Und hier fallen die heraus- mer mehr Sitzungen von ihren „klassischen“ Tageszuteilungen ragenden Vorentscheidungen: Stimmt die Fraktion als Ganzes auf den Montag gelegt werden. [...] einem Gesetzesvorhaben zu? [...] Zu den festen Montagsterminen gehören die Sitzungen der Die Fraktionssitzungen sind damit der Ort der Vorentschei- Fraktionsvorstände. Sie bereiten die Abläufe der Woche vor, be- dung. So wie die Mehrheitsfraktionen sich entscheiden, so soll sprechen also beispielsweise die Punkte, die noch von den eige- es – von Korrekturen im Detail abgesehen – später auch Gesetz nen Fachleuten der Fraktion eingehender behandelt werden werden. Deshalb halten sich vor allem die Koalitionsfraktionen müssen. Auch strategische Angelegenheiten werden hier erör- über den Stand ihrer internen Beratungen oft gegenseitig auf tert: Welches Thema kann im Laufe der Woche wichtig werden? dem Laufenden. Und deshalb richtet sich auch das Interesse der Wie sollte es im Bundestag am besten aufgegriffen werden? Ist Medien auf diese Sitzungen. [...] das ein Feld, auf dem man die Regierung oder die Opposition öf- fentlich „stellen“ könnte? Und vor allem: Wo lauern in der schon Mo / Di / Mi / Do / Fr / Sa / So besprochenen Themenabfolge in Ausschüssen und Plenum Fall- Der Ausschusstag fängt früh an. Morgens um acht, spätestens stricke? Wo kann die eigene Fraktion besonders wirkungsvoll um neun Uhr füllen sich Dutzende von Sitzungssälen mit Leben. punkten? [...] Damit sich die Regierungsmitglieder unbeschwert von mög- Die Fraktionen sind auch operative Teile der Parteien im Parla- lichen Reaktionen in der deutschen und internationalen Öffent- ment. Deshalb stehen die Fraktionsvorstandssitzungen am Mon- lichkeit umfassend informieren können, tagen die Ausschüsse tagnachmittag immer wieder auch unter dem Eindruck der Prä- in der Regel nicht öffentlich. [...] sidiums- und Vorstandssitzungen der Bundesparteien, die zuvor am Montagmorgen in Berlin getagt haben. [...] Zahlreiche Arbeitskreise, Arbeitsgruppen und Arbeitsgemein- schaften tagen schon am Montag, um die laufenden Gesetzes- beratungen, den Stand von Initiativen und Antragsvorhaben Christian Thiel
/ durchzusprechen – und zwar jeweils fraktionsintern. [...] An anderer Stelle treffen sich auch montags bereits so genannte Berichterstatter aus den verschiedenen Fraktionen zum ge- meinsamen Ausloten, wie die Einigungschancen bei einem Ge- imago images setzesvorhaben sind. [...] Der Montag dient jedoch nicht nur dem internen In-Schwung- Bringen der Parlamentsabläufe. Er ist auch geschätzt als Mög- lichkeit, Parlament und Öffentlichkeit zu verknüpfen, ohne dass sich hinziehende Sitzungen alle Planungen über den Haufen werfen. Es geht vor allem um den Kontakt zwischen Fachpolitik und Fachöffentlichkeit. [...]
Mo / Di / Mi / Do / Fr / Sa / So Der Dienstag ist der Hauptentscheidungstag im parlamenta- rischen Geschehen – auch wenn davon nach außen hin direkt wenig sichtbar wird. Denn der Dienstag dient der internen Mei- nungsfindung innerhalb der einzelnen Fraktionen. Das beginnt schon früh am Morgen. Denn alle Politikfelder, die in dieser Wo- che gefragt sind, müssen an diesem Tag beackert werden. [...] Ganz gleich, ob ein „kleines“ oder „großes“ Zuständigkeitsterrain zu überblicken ist – in allen Fraktionsgremien werden die anste- henden Fachberatungen detailliert vorberaten. [...] Es geht über die Mittagszeit weiter mit Vorbesprechungen. Denn jede Fraktion ist im Grunde ein Parlament im Parlament:
Jede Fraktion gliedert sich in Gruppen von Abgeordneten, die aus Im Jakob-Kaiser-Haus in Berlin befinden sich Abgeordnetenbüros, Besprechungsräume, verschiedenen Regionen kommen, die politische Grundströmun- Sitzungssäle und das Pressezentrum des Bundestages.
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Dagegen sind die Expertenanhörungen durch die Ausschüsse Mancher rollt den Koffer mit ins Reichstagsgebäude, um von der in der Regel öffentlich. So kann – etwa durch Übertragungen im Sitzung schnell aufbrechen und den gebuchten Flieger kriegen Parlamentsfernsehen unter www.bundestag.de – dem Eindruck zu können. Denn auch im Heimatwahlkreis ist der Freitag tra- entgegengetreten werden, dass das Wirken des Bundestages ditioneller Sitzungstag – örtliche Stadt- oder Kreisparteitage er- sich im Wesentlichen auf die Reden im Plenum beschränkt. [...] warten die Anwesenheit und aktuelle Vorträge von „ihrer“ Frau Zwischen, vor und nach den Ausschusssitzungen nutzen wei- oder „ihrem“ Mann in Berlin. Doch davor steht noch einmal ein tere Gremien die verbleibende Zeit, um in ihrer Arbeit weiterzu- Sitzungstag mit einigen zeitlichen Unwägbarkeiten. [...] kommen. So etwa die Parlamentariergruppen, die sich für ein- Stellt die Länderkammer dann die Gesetzesampel erst ein- zelne Länder oder Regionen auf der Welt intensiver interessieren mal auf Rot, gibt es die Möglichkeit, im Vermittlungsausschuss und den Kontakt zu den dortigen Parlamentskollegen und Regie- mit Vertretern aus Bundestag und Bundesrat zu einem Kom- rungsvertretern pflegen. promiss zu kommen, mit dem beide Seiten leben können. Dann Der Mittwoch ist zudem regelmäßig der erste Plenarsitzungs- muss das Ergebnis des Vermittlungsausschusses erst ein weite- tag der Woche. Es geht los mit der Regierungsbefragung im An- res Mal durch beide Kammern. Oft am Freitag, weil der Vermitt- schluss an die Kabinettsitzung. Ein oder mehrere Bundesminister lungsausschuss häufig am Mittwoch bis in die späten Abend- oder Staatssekretäre unterrichten das Hohe Haus am Mittag über stunden tagt. die Beschlüsse, die von der Bundesregierung am Vormittag ge- Ist hingegen nur die Beteiligung des Bundesrates notwendig troffen worden sind. Dabei können die Abgeordneten auch gezielt und reagiert dieser nach Anrufung des Vermittlungsausschus- nachfragen – deshalb die Bezeichnung „Regierungsbefragung“. ses mit einem Einspruch, so kann diese Hürde durch erneute Ab- Es folgt zumeist die Fragestunde, bei der schriftliche Anfragen stimmung im Bundestag beiseite geräumt werden. Allerdings ist der Abgeordneten von Regierungsvertretern beantwortet werden zum Zurückweisen dieses Einspruchs eine Mehrheit der Mitglie- und ebenfalls Nachfragen möglich sind – für rund zwei Stunden. der des Bundestages notwendig. Die Mehrheit der anwesenden An jedem Sitzungstag gibt es sodann die Möglichkeit, eine Aktuel- Abgeordneten reicht nicht. Und das bedeutet, dass angesichts le Stunde in den Sitzungsablauf einzubauen und die ersten regu- der knappen Stimmenverhältnisse auch am Freitag häufig die lären Tagesordnungspunkte aufzurufen, also gewissermaßen das vollständige Präsenz im Regierungslager erreicht werden muss. Routine-Geschäft der öffentlichen Debatten zu starten. [...] Einen der Schlusspunkte des Tages setzen die Obleute, also die für jedes Arbeitsgebiet von den Fraktionen benannten Verant- Mo / Di / Mi / Do / Fr / Sa / So wortlichen, die untereinander besprechen, wie weit Gesetzes- Wer Volksvertreter ist, der ist es rund um die Uhr. Auch am Wo- vorhaben gediehen sind. [...] chenende. [...] Denn hier ist die Gelegenheit der direkten Be- gegnung, die Verpflichtung zu ständiger Rechenschaft. Was für Mo / Di / Mi / Do / Fr / Sa / So andere pures Vergnügen ist, kommt beim Abgeordneten in den Ganz im Zeichen des Plenums steht in Sitzungswochen der Don- offiziellen Terminkalender. nerstag. In der Frühe gibt es noch die Gelegenheit zu einer Mor- [...] Wer nach der Wahl zu seinen Wählern auf Distanz geht, genandacht, dann eröffnet der Bundestagspräsident oder einer hat kaum Chancen auf eine Wiederwahl oder darauf, von den seiner Stellvertreterinnen und Stellvertreter um Punkt neun Uhr örtlichen Parteigremien nach vier Jahren wieder aufgestellt zu die Plenarsitzung. In der Regel wird sie frühestens zwölf Stunden werden. später wieder geschlossen, häufig genug aber erst nach 14 oder Besonders zwischen zwei Sitzungswochen bildet das Wochen- gar 16 Stunden. [...] ende auch die einzige Möglichkeit, die während des Aufenthal- Es gibt donnerstags von 9 bis 14 Uhr zunächst die so genann- tes in Berlin angefallenen Dinge im Wahlkreisbüro zu erledigen. te Kernzeit. Dafür werden Themen vorgesehen, die von breitem [...] Zudem haben die Abgeordneten bereits auf dem Weg ins öffentlichem Interesse sind und die deshalb auch vor vielen Ab- Parlament oft in der Region Verantwortung für ihre Partei über- geordneten behandelt werden sollen. [...] nommen, sind Mitglieder im Orts- oder Kreisvorstand oder sogar Der Ältestenrat nutzt die frühen Nachmittagsstunden, um Vorsitzende dieser Gremien. Da ist es ganz besonders wichtig, die über die Themen der folgenden Sitzungswoche zu beraten, Par- örtlichen Parteiangelegenheiten durch Treffen mit Kolleginnen lamentariergruppen stimmen sich ab, und immer wieder treffen und Kollegen aus Orts- und Kreisparteivorständen in der Hand Abgeordnete auch mit Besuchergruppen aus ihren Wahlkreisen zu behalten. [...] zusammen. Nur Ausschusssitzungen dürfen an Donnerstagen Regelmäßig ist das Wochenende auch willkommene Gelegen- gewöhnlich nicht stattfinden, um Kollisionen mit dem Plenar- heit, Initiativen zu mehr öffentlicher Wirksamkeit zu verhelfen, geschehen von vornherein zu vermeiden. [...] die unter der Woche in der Fülle der Themen untergegangen Die Redebeiträge werden grundsätzlich so platziert, dass mög- sind. Für Interviews und Hinweise am Samstag oder Sonntag lichst Regierung und Opposition im Wechsel zu Wort kommen. sind die Medien in nachrichtenarmen Zeiten besonders dankbar. Die Großen mehr, die Kleinen weniger. Dafür gibt es die „Berliner Und so können Abgeordnete die nächste Sitzungswoche auch Stunde“ […]; dabei werden die Reden der Bundes- und Landesmi- schon publizistisch vorbereiten und selbst aus der zweiten oder nister ihren Bundestagsparteien zumeist zugerechnet. [...] dritten Reihe heraus neue Themen setzen – und so vielleicht den Boden für Ideen bereiten, die dann auch in den eigenen Reihen Mo / Di / Mi / Do / Fr / Sa / So in der folgenden Sitzungswoche größere Chancen haben. Freitagmorgen – Moment der Vorfreude. Viele Abgeordnete freu-
en sich, heute nach fünf langen Tagen ihre Familie wiedersehen Gregor Mayntz, „Eine lange Woche mit langen Tagen“, in: Blickpunkt Bundestag Nr. 5 vom Juli zu können. 2004, S. 19–30 f.
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Thomas Koehler
In ihrer Fraktion fühlen sich die Abgeordneten politisch „zuhause“. Auf den Fraktionssitzungen beraten sie gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen über aktuelle Fragen, Gesetzesbeschlüsse und -initiativen sowie über die Redner- listen für die Plenardebatten. Fraktionssitzung der Partei Die Linke in Berlin am 26. September 2017
zwei Prozent war ohne jegliche Parteifunktionen. Eine Umfra- gesamten Bevölkerung vertreten sie gleichzeitig Individual-, ge von 2016/2017 unter knapp einem Viertel der Bundestags- Gruppen- und Gemeinwohlinteressen, müssen zu einer Fülle abgeordneten ergab ähnliche Werte (Positionen auf Ortsebene: von Themen Position beziehen und an einer Vielzahl von Rege- 25,9 Prozent, im Kreis/Unterbezirk: 46,8 Prozent, im Bezirk: lungen mitwirken. 20,1 Prozent, auf Landesebene: 25,1 Prozent). Dies ist leichter möglich, wenn der Abgeordnete sich auf die Diese Herkunft und Vernetzung der Abgeordneten bewirken, jeweilige Spezialisierung, die „Zuständigkeit“ seiner Kollegin- dass sie sich in ihrer Fraktion grundsätzlich politisch „zuhause“ nen und Kollegen ebenso verlassen kann, wie diese auf seine fühlen und wie ihre Fraktionskollegen überzeugt sind, bessere bauen werden. Damit geht er – so der Rechtswissenschaftler Problemlösungen und Politikkonzepte als andere anbieten zu Horst Sendler – ein „Geschäft auf Gegenseitigkeit“ ein. Und können. diese Gegenseitigkeit funktioniert auf Dauer nur, wenn die da- Bemühung um Geschlossenheit: Vor allem wegen dieser mit einhergehenden gegenseitigen Erwartungen auch erfüllt Überzeugung gibt es die Übereinstimmung in dem Ziel, ent- werden: Jeder versucht um des gemeinsamen Erfolges wie weder die Regierungsmehrheit zu erhalten oder aus der Oppo- seiner eigenen Profilierung willen, seinen Kolleginnen und sition heraus zu erringen, denn es ist für die Gruppe wie für Kollegen überzeugende Lösungen auf seinem Sachgebiet zu den einzelnen Abgeordneten erstrebenswerter, die Macht zur unterbreiten. Gestaltung, möglicherweise sogar ein hervorgehobenes Amt Auch wird man der eigenen Gruppe nicht schaden wollen, dafür zu besitzen als die harten Bänke der in diesem Punkt indem man – leichtfertig oder aus egoistischen Motiven – die machtlosen Opposition zu drücken. Auf diesen Zusammen- gemeinsam gefundene Linie verlässt. Sollte dies aus guten hängen, die letztlich der Logik der parlamentarischen Par- Gründen und nach reiflicher Abwägung doch einmal nötig teiendemokratie entspringen, beruht die Geschlossenheit des werden, verhält man sich in der Form loyal, das heißt, die beab- Redens und Handelns der Fraktion. Diese Geschlossenheit ent- sichtigte „Abweichung“ wird den Kollegen vorher angekündigt scheidet über Erfolg oder Misserfolg, schon weil ihr Fehlen von und begründet. der Öffentlichkeit als Zeichen der Schwäche gedeutet wird und Fraktionsdisziplin: Demokratische Politik ist ein „Mann- die parlaments- oder koalitionsinterne Verhandlungsposition schaftsspiel“, und damit das „Mannschaftsziel“ erreicht wird, einer Fraktion beeinträchtigt. braucht es im Regelfall keinen „Druck von oben“, höchstens Vorteile der Arbeitsteilung: In der Alltagsarbeit erkennen gelegentlich die Erinnerung oder den Ansporn durch die Team- die Abgeordneten zudem schnell, dass sie Wirkung nur ge- kollegen oder den Trainer. „Fraktionszwang“ ist also der fal- meinsam mit Kolleginnen und Kollegen erzielen können, mehr sche Begriff, um den Grund für die Einigkeit der politischen noch: Dass sie nur dann ihr Mandat verantwortungsvoll aus- Mannschaften im Bundestag zu beschreiben. Es handelt sich üben können, wenn sie sich der Arbeitsteilung in der Fraktion um das Interesse, die selbst gesteckten Ziele zu erreichen, um stellen und sich diese zunutze machen. Als Repräsentan- die Einsicht, dass dies nur zusammen möglich ist, um gegen- ten nicht nur „der eigenen“ Wählerschaft, sondern auch der seitige Loyalität und das Einhalten gemeinsam ausgeprägter
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Gruppennormen. Dies ist nicht ohne Kosten, Konflikte und woche stattfindenden Fragestunde mündlich oder schriftlich Kompromisse zu erlangen. Innerfraktionelle Einigkeit steht vom fachlich jeweils zuständigen Minister beantwortet wer- also jeweils am Ende eines Prozesses, der allerlei – keinesfalls den müssen. Dies wird ebenfalls innerfraktionell durch eine immer einfache – Abwägungen von den einzelnen Abgeord- Art Vorprüfung koordiniert: Parlamentarische Geschäftsführer neten verlangt. Dies ist kein Zwang, sondern selbst auferlegte bringen die Fragen der Abgeordneten untereinander und mit und den Mitstreitern ebenso abverlangte Disziplin – „Frak- anderen Vorhaben der Gesamtfraktion in Einklang, bitten den tionsdisziplin“. Antragsteller gelegentlich auch um Änderung oder Zurückstel- Unter Berücksichtigung dieser Anforderungen und Verhal- lung. Wie schon dargestellt, liegt zudem die Ausschussbeset- tensmuster, die aus den politischen Strukturen der parlamen- zung in den Händen der Fraktionen. tarischen Demokratie erwachsen, wird verständlich, warum Rede- und Stimmrecht schließlich sind unentziehbare Be- die Bundestagsmitglieder Regeln, die ihre Rechte als Einzelne standteile des Abgeordnetenstatus. Aber auch diese bleiben einschränken, schufen bzw. ihnen einhellig zustimmten. Die nicht ohne Regelung und Kanalisierung seitens der Fraktionen: überwiegende Orientierung der Abgeordneten an effizienter Die Dauer der Plenardebatten und die Aufteilung der Redezeit Arbeit, an parlamentarischer Mitgestaltung und aktiver Teilha- auf die Fraktionen werden im Ältestenrat, vor allem durch die be am Gesetzgebungsprozess begünstigte diese Entwicklung. dort versammelten Parlamentarischen Geschäftsführer, ver- Die Parlamentarier wollen nicht (nur) die typischen Rollen der einbart; die Rednerinnen und Redner für die von Fachthemen Abgeordneten von Mehrheit und Opposition im Redeparla- geprägten Plenarsitzungen werden fraktionsintern aus den ment einnehmen und die Politik der Regierung nach außen Mitgliedern der thematisch befassten Arbeitsgruppen bzw. darstellen, verteidigen oder kritisieren, sondern sachkundig Arbeitskreise ausgewählt. mitentscheiden. Auch deshalb fügen sie sich in die Funktions- Steuerungsrolle der Fraktionsführung: Bei politisch brisan- mechanismen des vom Politikwissenschaftler Uwe Thaysen so ten und polarisierten Debatten trifft die Fraktionsführung die genannten „Fraktionenparlaments“ ein. Entscheidung über die Rednerliste. Mehr oder weniger explizit Dementsprechend hat der Bundestag im Laufe der Jahrzehn- werden die Redner dazu verpflichtet, die Meinung der Frak- te Änderungen seiner Geschäftsordnung zumeist einstimmig tion, also bei intern kontrovers gebliebenen Fragen jene der beschlossen, haben seine Mitglieder Fraktionsstatuten erlas- Fraktionsmehrheit, darzustellen. Wollen sie darüber hinaus- sen, die zum Zwecke reibungsloser und effizienter Geschäfts- gehen oder davon abweichen, sind sie gehalten, dies, wie die abläufe die meisten Abgeordnetenrechte zu Kollektivrechten Geschäftsordnung der SPD-Bundestagsfraktion beispielhaft ausgestalten oder Individualrechte zugunsten der Fraktion formuliert, „der Fraktion rechtzeitig mitzuteilen und mit dem und ihrer Funktionstüchtigkeit einschränken. Fraktionsvorstand zu besprechen“. Antragsrechte, die für den Gesetzgebungsprozess relevant Letzteres gilt auch für die Abstimmungen im Plenum. Beab- sind, sind so fast vollständig auf die Fraktion bzw. auf Abge- sichtigt ein Abgeordneter, von der in der Fraktionsversamm- ordnetengruppen in Fraktionsmindeststärke übergegangen. lung vereinbarten Linie abzuweichen, muss er dies dort oder Anders als in den meisten anderen europäischen Ländern hat gegenüber dem Fraktionsvorstand mitteilen. Bei knappen das einzelne Bundestagsmitglied nicht das Initiativrecht, darf Mehrheitsverhältnissen wird die regierungstragende Fraktion also nicht allein einen Gesetzentwurf ins Parlament einbrin- bzw. Koalition das Risiko einer Niederlage vermeiden wollen. gen. Erst in der zweiten Lesung eines Gesetzentwurfs kann Deshalb muss sie versuchen, die Kolleginnen oder Kollegen, die jeder bzw. jede Abgeordnete Änderungen beantragen. Solche abweichende Meinungen vertreten, zu überzeugen. Anträge müssen allerdings in der Regel zuvor dem Fraktions- Gelingt dies nicht, wird sie Veränderungen an Inhalten oder vorstand vorgelegt werden. Verfahren des jeweiligen Vorhabens erwägen oder es gar ver- Bei den Fragerechten sind (im Abschnitt über die Kontroll- tagen. Aber auch bei soliden Mehrheiten und für die Opposi- funktion näher erläuterte) Große und Kleine Anfragen den tion gilt, dass möglichst alles vermieden wird, um ein Ausei- Fraktionen bzw. Abgeordnetengruppen in Fraktionsmindest- nanderfallen der Fraktion über Sachfragen öffentlich deutlich stärke vorbehalten. Jedes Bundestagsmitglied kann aber „kurze werden zu lassen. Daher ist es durchaus gängig, Abgeordneten, Einzelfragen“ (§105 GO-BT) einreichen, die in der jede Sitzungs- die etwa wegen spezifischer Wahlkreis- oder Gruppeninteres- sen nicht mit ihrer Fraktion stimmen wollen, das Fernbleiben von der Abstimmung zu ermöglichen. Die solchermaßen straff durchgeplanten Debatten und Abstimmungen sind weitere Indizien für die überwiegende Orientierung der Abgeordneten an Effizienz und Reibungslosigkeit. Aber nicht nur insofern ist der Bundestag ein professionelles Parlament geworden. Monika Monika Skolimowska
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dpa
/ Berufsstruktur der Abgeordneten Schon 1988 belegten Untersuchungen einen gestiegenen Bil- dungsgrad des Bundestages: Hatten Anfang der 1950er-Jah-
picture alliance re 40 Prozent der MdBs über die Hochschulreife verfügt, war dieser Anteil 30 Jahre später auf zwei Drittel gestiegen und erreichte seit den 1990er-Jahren fast drei Viertel. Knapp 80 Prozent der Abgeordneten des 19. Bundestages gaben an, einen Abschluss an einer Universität, einer Fachhochschule oder Pädagogischen Hochschule gemacht zu haben. Die im- mer komplexeren Materien, die in einer zunehmend ausdif- Das Rederecht ist ein unentziehbarer Bestandteil des Abgeordnetenstatus. Britta Haßelmann, Erste Parlamentarische Geschäftsführerin von Bündnis 90/Die Grünen, ferenzierten, mehr Transparenz und politische Mitwirkung am Rednerpult im Bundestag am 29. September 2016 fordernden Gesellschaft bearbeitet werden müssen, spiegeln
Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 39 Parlamentarische Demokratie
Zusammensetzung der politischen Elite
Die folgenden Ausführungen […] unterscheiden eine politi- Vergleicht man die politische Elite Deutschlands mit der au- sche Elite im engeren Sinne (etwa Kabinettsmitglieder, Par- ßereuropäischer Demokratien […], so fällt zweierlei ins Auge: lamentarische Staatssekretäre, Fraktionsvorsitzende, Vorsit- der hohe Juristenanteil bei den engeren Spitzen der Politik zende von Parlamentsausschüssen und Parteivorsitzende auf auch in anderen Ländern einerseits und der in Deutschland Bundes- wie Landesebene) von einer administrativen Elite geringere Anteil der Oberschicht-Abkömmlinge andererseits. (Staatssekretäre, Abteilungsleiter in Ministerien ect.), einer Manche Ausführungen zu Verbürgerlichung und zum Juris- Gewerkschafts- (Vorsitzende auf Bundes- und Landesebene), ten-Anteil bei der deutschen politischen Elite relativieren Medien-, Wirtschafts-, Kulturelite u. a. m. […] sich daher. […] Man kann die hauptsächlich von der Politik lebenden Per- Angesichts dessen, dass […] die soziale und demographi- sonen als „politische Klasse“ bezeichnen […]. […] Wie auch im- sche Zusammensetzung der politischen Elite und der Parla- mer „politische Klasse“ [so auch nach Hans Herbert von Arnim mentarier ganz erheblich von der der Bürger abweicht, stellt Abgeordnete, Regierungsmitglieder, Politische Beamte, kom- sich die Frage, ob dies nicht einen Mangel der bundesdeut- munale Wahlbeamte, Bundesverfassungsrichter, Mitarbeiter schen Demokratie darstellt. In der Tat mag es zutreffen, dass der Fraktionen, Abgeordneten und parteinahen Stiftungen] die Zusammensetzung den Stil der Politik prägt und emotio- abgegrenzt wird – deren Mehrheit gehört sicherlich nicht zur nale Identifikationen für unterrepräsentierte Bevölkerungs- einflussreichen politischen Elite. Sie arbeitet dieser jedoch zu, gruppen erschwert. Repräsentationsdefizite haben aber nicht kommuniziert mit ihr und fungiert als Rekrutierungsreservoir zwangsläufig zur Folge, dass auch die Interessen unterreprä- für sie. Mutterboden und Handlungsraum der politischen Eli- sentierter Gruppen zu kurz kommen. Der Berufspolitiker fun- te, so ließe sich ihre Rolle umreißen. […] giert zumeist nicht als Vertreter seiner sozialen Herkunfts- Steigt man auf das Oberdeck der eigentlichen politischen gruppe. […] Elite, so wiesen Untersuchungen über Jahrzehnte hinweg Welche Prägungen erfahren diejenigen, die das Land poli- nach, dass die politische Elite überwiegend aus der Mittel- tisch führen werden? Bedeutsam für Eliteneinstellungen schicht bzw. „kleinbürgerlichen Verhältnissen“ stammte – an- scheint der Sozialisationsfaktor „Elternhaus“. Dies gilt bereits ders als alle anderen Teileliten (außer der gewerkschaftlichen), für den Eintritt in die Politik, kamen doch nach der Elitenunter- deren Herkunft stärker von Oberschicht/oberer Mittelschicht suchung von 1972 nicht weniger als 71 % der Angehörigen der bzw. Bürgertum geprägt war. Politische und wirtschaftliche politischen Elite aus politisch engagierten Elternhäusern, die Elite der Bundesrepublik wiesen somit „eine höchst unter- nur 23 % der Bevölkerung ausmachten. Ebenso sprechen auch schiedliche soziale Rekrutierung“ auf. Deutschland war an- Übereinstimmungen mit den politischen Orientierungen der ders als Großbritannien, Frankreich oder Spanien, wo die Teil- Eltern für eine Tradierung politischer Grundeinstellungen. eliten einen gemeinsamen bürgerlichen Hintergrund haben. Gegenwärtig geben 71,5 % aller Eliteangehörigen (wohl mehr Ihm fehlen auch die „ausgesprochenen Elitebildungseinrich- noch der politischen Elite) an, dass politische Diskussionen in tungen“, wie sie in anderen führenden westlichen Industrie- ihrem Elternhaus eine große Rolle spielten. ländern bestehen (z. B. die Grandes Écoles in Frankreich, Elite- Hinzu kommen dann prägende eigene Erfahrungen. Vor universitäten in den USA und Großbritannien) und dort ein allem während der langen, im frühen Erwachsenenalter be- kohärentes Establishment mit gemeinsamem sozialen Hin- ginnenden und von politischer Kommunikation erfüllten tergrund, Habitus und Einstellungen hervorbringen. Für die Karrierewege, die vor dem Aufstieg zur politischen Spitze zu alte Bundesrepublik hingegen waren segregierte Teileliten bewältigen sind, formen sich Einstellungen weiter. Der Mei- charakteristisch. nungsaustausch im Sondermilieu einer politischen Partei Betrachtet man die heutigen Eliten anhand ihrer Väterbe- dürfte im Sinne parteipolitischer Integration wirken, die de- rufe […], so erscheint jene Mittelschichtthese für die politi- mokratische Selektion mag darüber hinaus auch „überaus an- sche Elite nicht mehr überzeugend. Jedenfalls liefert das Bür- passungsfähige und flexible Menschen“ produzieren bzw. an gertum den relativ größten Anteil Spitzenpolitiker. Innerhalb die Spitze befördern. Freundlicher formuliert, Menschen, die der politischen Elite lässt sich zudem eine stärker bürgerliche gelernt haben, mit unterschiedlichen Interessen umzugehen Herkunft der Regierungsmitglieder im Vergleich zu den An- und mehrheitsgetragene Entscheidungen zu suchen. gehörigen von Partei- und Parlamentsspitzen ausmachen. Schon ältere Studien ergaben, dass Neuparlamentarier eine Ein analoger Wandel wird für die Regierungschefs der deut- Sozialisation in eine parlamentarische „Subkultur“ durchma- schen Länder und die Parteispitzen von SPD und CDU/CSU chen. In signifikanter Weise nämlich vollzogen sich binnen behauptet. dreijähriger Bundestagserfahrung Einstellungsveränderungen: Aufgrund dessen konstatiert der Elitensoziologe Michael so u. a. zur Notwendigkeit öffentlicher Ausschusssitzungen, Hartmann, es vollziehe sich in den letzten Jahrzehnten in zum Einfluss der Ministerialbürokratie, zur Informiertheit der Deutschland und Italien eine „Verbürgerlichung der politi- Presse, zu Reformblockierungen durch Interessengruppen, zur schen Eliten“. Diese erkläre sich aus der Mitgliederschrump- Wünschbarkeit von Volksentscheiden und zum Vorhandensein fung der Volksparteien und aus veränderten Karrierewegen von Klassenunterschieden – Vorstellungen, die nach Ablauf fort von der innerparteilichen „Ochsentour“. Trifft dies zu, so einer Legislaturperiode allesamt sehr viel weniger häufig als bei ist eine tiefgreifende Veränderung, eine Annäherung an anglo- Eintritt ins Parlament geteilt wurden. französische Establishmentstrukturen festzustellen. […] Ähnliche Einstellungswandel kann man auch in neuerer Die politische Elite weist mit fast 90 Prozent Hochschulab- Zeit erkennen. […]
solventen einen ähnlich hohen Bildungsgrad wie die meisten Wolfgang Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, 10., aktual. u. erw. anderen Teileliten auf. […] Aufl., © Springer VS, Wiesbaden 2019, S. 442 ff.
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Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 41 Parlamentarische Demokratie sich wider in der Zusammensetzung der Parlamente. Offen- bar können auf der politischen Bühne heute fast nur noch Menschen Erfolg haben, die über gehobene Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen. Ein entsprechendes Profil weist auch die Berufsstruktur des Bundestages auf. Diesen Daten zufolge ist das Urteil, der Bundestag sei ein „Beamtenparlament“, auf den ersten Blick durchaus zutreffend, denn diese Berufsgruppe ist mit 23,6 Pro- zent die stärkste im 19. Bundestag. Die Schlussfolgerung, dem Bundestag sei die gemeinhin unterstellte Unbeweglichkeit zu eigen, er sei zu bürokratisch und wahre besonders die Interes- sen dieser Statusgruppe, erweist sich bei genauerem Hinsehen allerdings als fragwürdig. Die Gruppe der Beamten umfasst nämlich eine große Band- breite an Berufen und Tätigkeitsfeldern. Nur 30 Prozent von ihnen sind in der klassischen Verwaltung tätig. Weitere 23 Pro- zent üben kommunale Wahlämter aus, sind also zwar in einer Verwaltung beschäftigt, haben aber nicht die typische Lauf-
Frauen im Deutschen Bundestag
Das in den 1960er-Jahren einsetzende Umdenken in der Gesell- 39 Frauen unter 67 Abgeordneten (58 Prozent) Spitzenreiter. schaft hinsichtlich der Rolle der Frauen – verstärkt durch die Weit abgeschlagen landet die AfD mit nicht einmal elf Prozent. Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er-Jahre – führte auch zu Im europäischen Vergleich liegt der Bundestag heute mit einer drastischen Steigerung des Anteils weiblicher Abgeordne- einem knappen Drittel weiblicher Abgeordneter im mittleren ter im Bundestag. Zunächst lebten die Grünen die Praxis gleicher Bereich. Insbesondere die skandinavischen Staaten weisen politischer Teilhabe von Frauen vor, indem sie mittels Quotie- traditionell sehr hohe Frauenanteile auf; Anfang 2018 betru- rung gleich bei ihrem ersten Einzug in den Bundestag 1983 mit gen diese zwischen 37,4 und 43,5 Prozent. Auch Spanien (39,1), 35,7 Prozent Frauen in ihren Reihen aufwarteten – zum Ver- Frankreich (39,0), Belgien (38,0), Slowenien (36,7) und die Nie- gleich die anderen Fraktionen in der 10. Wahlperiode: CDU/CSU – derlande (36,0 Prozent) weisen vergleichsweise hohe Werte 6,7 Prozent, SPD – 10,4 Prozent, FDP – 8,6 Prozent. Es dauerte nicht auf. Erst auf Platz 13 der EU-Länder rangiert Deutschland mit lange, bis die Grünen – mit über der Hälfte weiblicher Abgeord- aktuell 30,7 Prozent Frauen im Bundestag. Die meisten süd- neter im 11. Bundestag – die anderen Parteien unter erheblichen und osteuropäischen Länder kommen auf 10 bis 20 Prozent Zugzwang brachten. Per Quote steigerte die SPD ihren Frauenan- Frauenanteil in ihren Parlamenten, und die USA nehmen im teil in der Bundestagsfraktion sukzessive auf knapp 42 Prozent internationalen Vergleich mit 19,4 Prozent nur Rang 100 ein. im 19. Bundestag; CDU, CSU und FDP konnten sich zwar inner- Die Tatsache, dass Ruanda den Spitzenplatz innehat und Costa parteilich nicht auf Quoten einigen, rekrutierten in der Folgezeit Rica Nummer drei ist, verweist aber auch darauf, solche Daten aber auch mehr Frauen, die zu Beginn der 19. WP 2017 in der Uni- nur nach Kenntnis weiterer Details des jeweiligen politischen onsfraktion knapp 20 Prozent, in der FDP knapp 23 Prozent aus- Systems, der gesellschaftlichen Situation und der Politischen machen. Die PDS bzw. Linke war seit 1990, sofern sie eine Grup- Kultur zu interpretieren. pe oder Fraktion bilden konnte, mit 43 bis 59 Prozent Frauen im Bundestag vertreten (aktuell: 54 Prozent). Die Grünen sind mit Suzanne S. Schüttemeyer Bernd von Jutrczenka
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Festakt 100 Jahre Frauenwahlrecht am 12. November 2018 im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Mit knapp einem Drittel weiblicher Abgeordneter seit 2017 belegt der Bundestag im europäischen Vergleich einen mittleren Rang.
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bahn absolviert. Außerdem gibt es 15 Prozent Lehrkräfte aus tungsfähigkeit – ist die Spiegelbildlichkeit von sozialer Zusam- dem schulischen Bereich und gut 18 Prozent Professoren und mensetzung der Bevölkerung und ihrer politischen Vertretung Wissenschaftler. Hinzu kommen Richter, Staatsanwälte und eine zählebige Wunschvorstellung der öffentlichen Meinung Politische Beamte. in allen westlichen Demokratien. Diese Tätigkeiten sind bei Weitem zu unterschiedlich, um Ohne Zweifel fühlen sich die Angehörigen einer Gruppe sie über einen Kamm scheren und daraus Rückschlüsse auf grundsätzlich mit ihren Interessen am besten aufgehoben, Kompetenz und Leistungsfähigkeit des Parlaments ziehen zu wenn einer oder eine der Ihren sie bei Entscheidungen ver- können. Dem Vorwurf, der Bundestag wahre vorrangig die Be- treten kann. Doch die Menschen in modernen Gesellschaften amteninteressen, lässt sich aus der Langzeitbeobachtung ent- werden nicht nur von einem alleinigen Interesse geleitet, ge- gegenhalten, dass das politische Entscheidungsverhalten der hören nicht nur zu einer einzigen Gruppe. Abgeordneten von ihrer Fraktionszugehörigkeit, nicht ihrer Früher entschied in allererster Linie die Herkunft, etwa aus sozialstrukturellen Herkunft geprägt wird. Koalitionen aller einer Arbeiterfamilie oder aus dem katholischen Milieu, über Beamten über die Fraktionsgrenzen hinweg hat es noch nie die sozialen und ökonomischen Lebenschancen eines Indivi- gegeben – nicht einmal, wenn es um ihre Statusrechte ging. duums und prägte damit seine grundlegenden wie meist auch Dagegen ist es eher vorteilhaft für die Tätigkeit im Parlament, tagespolitischen Ansichten. Heute sind die Individuen geleitet dass sich Abgeordnete im Beamtenstatus wegen der Möglich- von mannigfaltigen Interessen, deren Wertigkeit sich über die keit ihrer Rückkehr in den zuvor ausgeübten Beruf besonderer Jahre und Lebensstationen verändern kann und die zuweilen existenzieller Unabhängigkeit erfreuen. in Widerspruch zueinander stehen, ausgeglichen oder in eine Insgesamt lässt sich sagen, dass Angehörige politiknaher Prioritätenfolge gebracht werden müssen. Berufe auffällig stark im Bundestag vertreten sind. Personen, Eine Frau mittleren Alters mit halbwüchsigen Kindern, die die gelernt haben, Zusammenhänge darzustellen und zu ver- sich zum Wiedereinstieg ins Berufsleben entscheidet, gar eine mitteln, die kommunizieren können, mit Gesetzen und deren kleine Firma zu gründen beabsichtigt, kirchengebunden ist Anwendung zu tun haben – sie sind es, die besonders leicht und sich um die Qualität der Umwelt für die nächste Genera- den Weg in die Politik finden und den Anforderungen derer tion wie um ihre eigene Rente sorgt – welches ist ihre Gruppe, entsprechen, die Kandidaten in den Parteien aussuchen und wer ist die Person, von der sie sich am liebsten bei politischen aufstellen. Es sollen Menschen sein, deren Talente, Fähigkeiten Entscheidungen vertreten sähe? Mit anderen Worten: Welches und Persönlichkeit die Wählerschaft und die Parteien erwar- ist das Bild, das im Parlament zu spiegeln wäre? ten lassen, dass sie die im Parlament gestellten Aufgaben gut Soziale Repräsentativität ist also nur um den Preis völlig un- und erfolgreich erfüllen können. angemessener Vereinfachungen zu erreichen. Entsprechende Vorstellungen vernachlässigen zudem, dass das Parlament den Professionalisierung Ausgleich von Interessen zu leisten hat. Verstünden sich sei- Diese funktionale Ausrichtung der Abgeordnetenauslese zu- ne Mitglieder lediglich als Sendboten ihrer jeweiligen sozialen sammen mit den oben skizzierten Arbeitsstrukturen des Bun- Gruppe, würden Verhandlungen und Kompromisse schwierig, destages und den Orientierungen seiner Mitglieder sind we- und das Gemeinwohl geriete aus dem Blick. sentliche Ursachen für die Professionalisierung des Parlaments. Normativ angemessener und empirisch erfolgversprechen- Hinzu kommt der Aspekt der Mandatsdauer: Zweieinhalb der ist folgende Konstellation: Die Repräsentanten sind mit Wahlperioden verbleiben die Abgeordneten durchschnittlich den Lebensbedingungen, den Interessen und Positionen der im Bundestag. Zu Beginn der 19. Wahlperiode, also 2017/2018, Bürgerinnen und Bürger vertraut, sei es durch ihre eigene Her- gehörten ihm fast zehn Prozent der MdBs schon 20 Jahre und kunft, sei es durch enge Kontakte und ständige Kommunika- länger an; 55 (7,6 Prozent) sind bereits zum fünften Mal, 53 tion. Mit ihren Kenntnissen, Fähigkeiten und Erfahrungen im (7,5 Prozent) zum vierten Mal MdB. politisch-parlamentarischen Betrieb treffen sie die Entschei- Das Ideal der Spiegelbildlichkeit: Trotz der unübersehbaren dungen durch Konflikt, Verhandeln und Kompromiss. Dafür Professionalisierung der Parlamente – und auch entsprechen- sind sie den Repräsentierten rechenschaftspflichtig und von der Anforderungen der Bürgerinnen und Bürger an deren Leis- ihnen abwählbar. dpa-Zentralbild/dpa
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Um die Bevölkerung angemessen zu repräsentieren, ist es wichtig, dass die Mitglieder des Bundestages mit Jens Büttner den Lebensbedingungen, den Interessen und Positionen /
ihrer Wahlkreise vertraut sind. Die CDU-Bundestags- abgeordneten aus Mecklenburg-Vorpommern, Karin Strenz und Eckhardt Rehberg (M.), lassen sich am 6. April 2017 das Biodieselwerk in Sternberg, Kreis Ludwigslust- picture alliance Parchim, erläutern.
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Die Arbeit im Wahlkreis – Voraussetzung für Repräsentation
Im Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung stehen meist Immer wieder wird Hilfe im Einzelfall geleistet, teils mit einer die sehr repräsentativen Tätigkeiten von Abgeordneten: Reden erstaunlichen Intensität. […] Aber auch um Hilfe in kleineren im Parlament, Vorfahrten mit großen Dienstlimousinen, lan- Dingen wie Anträgen für Arbeitslosenunterstützung oder ge Ausschusssitzungen, internationale Kontakte, Interviews in Rentenpapieren werden die Abgeordneten immer wieder ge- den Medien. Doch die Tätigkeit im und um den Sitz des Bun- beten. […] destages im Berliner Regierungsviertel ist nur die eine Seite Repräsentation bedeutet allerdings nicht nur, Meinungen des Daseins als Parlamentarier. Mindestens ebenso wichtig und Stimmungen aufzunehmen, sondern umgekehrt auch die ist die vielfältige Aufgabenwahrnehmung in den Wahlkreisen eigene Politik, den als richtig erkannten Weg, zu erklären und „zu Hause“. Schätzungen ergaben, dass Abgeordnete dort rund um Unterstützung dafür zu werben. Die Abgeordneten stellen 40 Prozent ihrer Arbeitszeit verbringen. Jeder Abgeordnete in ihrem realen Verhalten die Informationsaufnahme im Wahl- kann eindeutig einem Wahlkreis zugeordnet werden. Denn kreis deutlich in den Vordergrund, ohne aber die Darstellung obgleich nur knapp die Hälfte der MdB direkt gewählt wer- und Vermittlung der eigenen Position gänzlich zu vernachläs- den, sind die allermeisten in einem Wahlkreis angetreten und sigen. Dennoch ist zu fragen, ob die angetroffene Balance dieser verstehen sich später auch als dessen Vertreter im Parlament, beiden Tätigkeiten richtig ist oder ob nicht etwas mehr Erklä- selbst wenn sie tatsächlich über die Landesliste eingezogen ren und etwas weniger Zuhören insgesamt förderlich wären. sind. So gibt es Wahlkreise mit bis zu sechs Abgeordneten der Auch wurde deutlich, dass die Rückspiegelung von Erkennt- unterschiedlichen Fraktionen. nissen aus der Wahlkreisarbeit in die Parlamentstätigkeit kaum Die Tätigkeit im Wahlkreis stellt eine wichtige Grundlage von strukturiert und damit sehr abhängig vom individuellen Ge- Repräsentation dar, denn so wird bei den Menschen vor Ort auf- schick des Abgeordneten ist. Insofern können im Wahlkreis auf- genommen, wie die Stimmung zu aktuellen politischen Themen genommene Einschätzungen auch irgendwo „versanden“. Bei ist, wo konkreter Handlungsbedarf gesehen wird oder an welcher großen, aktuellen Themen hingegen kann es für die Mitglieder Stelle vorhandene Regelungen Lücken haben oder sogar unge- der Bundesregierung und insbesondere für die Regierungschefs wünschte Nebenwirkungen hervorbringen. In einem großen recht unangenehm in einer Fraktionssitzung werden, wenn Ab- vergleichend angelegten Forschungsprojekt, „Citizens and Repre- geordnete nach einer Wahlkreiswoche dort den gesammelten sentatives in France and Germany“ (CITREP), wurde die Wahlkreis- Frust aus der Bevölkerung ablassen – dies wurde für die „Agen- arbeit von Abgeordneten des Bundestages und der Französischen da 2010“-Reformen unter Gerhard Schröder berichtet und für Nationalversammlung vergleichend untersucht. Begleitet wur- die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel. den insgesamt 64 MdB für jeweils drei Tage bei den unterschied- Übrigens zeigen die Beobachtungen keine grundsätzlichen lichsten Veranstaltungen, um festzustellen, was sie dort tun, wie Unterschiede im Verhalten von direkt und über die Liste ge- sie es tun, und mit wem sie in Kontakt treten. wählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages, anders als Die Abgeordneten nehmen im Wahlkreis eine außerordent- es in verschiedenen Studien vermutet wurde. Auch steht in der liche Vielfalt an Terminen wahr. Anders als vermutet stehen Wahlkreispraxis weiterhin der persönliche individuelle Kontakt hierbei weniger die gesellschaftlichen und damit publikums- der Abgeordneten mit Bürgerinnen und Bürgern im Vorder- wirksamen Veranstaltungen im Vordergrund, sondern vor al- grund, während die klassischen und neuen Medien eine nach- lem werden Behörden und Unternehmen besucht und lokale rangige Bedeutung haben. Natürlich kann es den Abgeordneten Parteiarbeit betrieben. Überhaupt beschränken sich die Abge- nicht gelingen, alle Menschen in ihrem Wahlkreis einzeln zu ordneten in ihrer Wahlkreisarbeit keineswegs auf ihre formale erreichen, aber umgekehrt zeigt sich: Wer in Kontakt mit „sei- Zuständigkeit der Bundespolitik: Oft geht es um lokale Themen, nem“ Abgeordneten treten möchte, hat dazu im Wahlkreis gute aber auch die Landespolitik wird von ihnen im Wahlkreis re- Möglichkeiten. Denn Repräsentation lebt von einer lebendigen gelmäßig behandelt. Offenbar sind sie dort also nicht nur als Beziehung zwischen Repräsentierten und Repräsentanten. Vertreter „des Bundes“, sondern „der Politik“ insgesamt – und nehmen diese umfassende Rolle in der Regel auch selbst an. Sven T. Siefken
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Die Bibliothek des Deutschen Bundestages im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus umfasst mehr als 1,5 Millionen Bücher. Inspiriert durch einen Text von Hannah Arendt verweist die Inschrift des „Blauen Rings“ von Maurizio Nannucci in der Bibliotheksrotunde auf das Spannungsverhältnis zwischen den Grundrechten Freiheit und Gleichheit: „Freiheit ist denkbar als Möglichkeit des Handelns unter Gleichen / Gleichheit ist denkbar als Möglichkeit des Handelns für die Freiheit“.
Das Mandat als Beruf: Es kommt also darauf an, dass die Ab- gehobene Ämter in Fraktion oder Parlament keine nennens- geordneten in der Lage sind, ihre Aufgaben im Parlament und werte Ausstattung und mussten einen guten Teil ihrer Zeit für als Bindeglied zu den Bürgerinnen und Bürgern so effektiv wie Büroarbeiten aufwenden. 1969 wurden Zahlungen für Persön- möglich zu erfüllen. Im Deutschen Bundestag hat dafür – frü- liche Mitarbeiter eingeführt. her und intensiver als in anderen europäischen Parlamenten – Heute kann jeder Abgeordnete über circa 21 000 Euro monat- eine Entwicklung eingesetzt, in deren Verlauf die Arbeitsbe- lich aus dem Bundeshaushalt verfügen, um einen Mitarbeiter- dingungen stetig verbessert wurden. stab zu beschäftigen. Deren Zahl stieg von 398 im ersten Jahr auf Der Weg zu einem professionellen Parlament war schon in circa 1000 Ende der 1970er-Jahre und betrug im 18. Bundestag den Anfangsjahren des Bundestages vorgezeichnet worden. knapp 4800. Zwei Drittel von ihnen arbeiteten in Teilzeit; die In der ersten Wahlperiode waren die Abgeordneten noch da- Hälfte war für ihre Abgeordneten im Wahlkreis tätig. Welche von ausgegangen, dass sie nach etwa zwei Jahren die Kriegs- Bedeutung die Mitarbeiter inzwischen für die Parlamentsarbeit folgen gesetzgeberisch bewältigt haben und die parlamenta- der MdBs haben und wie sich das Profil ihrer Tätigkeit gewan- rische Arbeit dann in der Regel in einem halben Jahr schaffen delt hat, zeigt sich schon daran, dass in den 1990er-Jahren ledig- würden, um sich die andere Hälfte des Jahres ihrem „norma- lich ein Fünftel bis ein Viertel von ihnen als Wissenschaftliche len“ Beruf widmen zu können. Mitarbeiter eingestuft waren: Heute sind es 42 Prozent. Diese Annahme bewahrheitete sich jedoch nicht. Rasch ent- Wissenschaftliche Dienste: Ein weiteres Ergebnis der Par- wickelte sich das Mandat zu einer vollen Berufstätigkeit. Die lamentsreform von 1969 war die Einrichtung der Hauptab- im Parlament anfallenden Aufgaben und die aus der Gesell- teilung „Wissenschaftliche Dienste“ in der Verwaltung des schaft gestellten Anforderungen hinsichtlich Umfang, Art Bundestages. Die Abgeordneten verlangten für ihre Arbeit und Qualität der Entscheidungen und Regelungen ließen bald bessere Informationsgrundlagen, auch was die wissenschaft- nur noch im Ausnahmefall den „Feierabendpolitiker“ zu. Diese liche Qualität betraf. Um dem zu entsprechen, wurden Aus- Tendenzen erhielten weitere Schubkraft, als in den 1960er-Jah- schusssekretariate und andere Unterabteilungen eingerichtet, ren eine Planungseuphorie einsetzte und man hoffte, Politik die Abgeordnete zum Beispiel mit Gutachten versorgen. Au- durch wissenschaftliche Methoden besser steuern zu können. ßerdem wurden die technisch-organisatorischen Kapazitäten Mitarbeiterstäbe: Mit der Parlamentsreform von 1969 verbessert und eine mittlerweile über 1,5 Millionen Bände um- wurden insbesondere die Rahmenbedingungen für die Man- fassende Bibliothek aufgebaut – deutliche Schritte in Richtung datsausübung verbessert. Bis dahin hatten MdBs ohne heraus- auf die Professionalisierung des Parlaments.
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Alleskönner mit Instinkt und Fingerspitzengefühl
Sie wurden nicht gewählt, sitzen aber dennoch im Bundes- sein, fügt Wierer hinzu: „Ohne den Instinkt, welches Thema für tag: Wissenschaftliche Mitarbeiter unterstützen die Mitglie- den Abgeordneten wichtig werden könnte, geht es nicht.“ Das der des Bundestages bei der Wahrnehmung ihres Mandats. gelte auch für Fingerspitzengefühl im Umgang mit Menschen. Konnten Abgeordnete noch bis in die 1960er-Jahre ihre Bü- Ganz wichtig auch: Flexibilität. Sich schnell in Themen ein- roarbeit selbst oder allenfalls mithilfe einer Schreibkraft aus arbeiten oder sich auf neue Situationen einstellen zu können, der Bundestagsverwaltung bewältigen, ist heute die parla- gehöre zu den Grundvoraussetzungen für den Job. „Will man mentarische Tätigkeit eines MdB ohne eigene Mitarbeiter gerade einen ruhigeren Nachmittag in der sitzungsfreien Wo- kaum mehr denkbar. che nutzen, um etwas inhaltlich zu arbeiten – dann klingelt Allein schon die Korrespondenz: Wenn Thomas Wierer mor- das Telefon und es kommt eine Presseanfrage: Bitte Stellung- gens gegen acht Uhr zur Arbeit kommt, dann warten nicht nahme zur Cyberattacke im Bundestag, bitte in zwei Stunden selten 300 E-Mails, ein dicker Stapel Post und mehrere Presse- ein Statement“, sagt Alexandrakis und lacht. „Dann war’s das schauen auf ihn. Diese gilt es zu sichten und zu ordnen, bevor mit der Planung.“ Eigentlich lasse sich kaum etwas sicher pla- sein Chef, […] im Büro erscheint. „Aus der Flut an Informatio- nen, jeder Tag sei anders. nen das Wichtige herauszufiltern gehört zu den Fähigkeiten, Doch genau diese Abwechslung schätzt sie: „Es wird nie die ein Abgeordnetenmitarbeiter unbedingt benötigt“, sagt langweilig. Es gibt immer wieder neue Themen, die man be- Wierer, der seit über 20 Jahren zusammen mit einer Kollegin arbeitet, man lernt jeden Tag dazu. Das ist der große Reiz.“ Na- das Bundestagsbüro […] [seines Abgeordneten] leitet. türlich sei ein Interesse an Politik für den Job elementar. Poli- Damit ist Wierer einer von rund 1700 wissenschaftlichen tik studiert zu haben dagegen nicht: Auch wenn Politologen Mitarbeitern, die laut Statistik der Bundestagsverwaltung in neben Juristen unter den wissenschaftlichen Mitarbeiter stark den Büros der Parlamentarier in Berlin und im Wahlkreis tä- vertreten sind – das Studienfach sei nicht das Entscheidende, tig sind. „Mit wissenschaftlicher Arbeit wie an einer Universi- haben Wierer und Alexandrakis beobachtet. tät ist die Tätigkeit im Abgeordnetenbüro nicht vergleichbar“, Ohnehin steigen die meisten über ein Praktikum oder als sagt Anna Alexandrakis. Die Bezeichnung sei deshalb etwas studentischer Mitarbeiter ein. „In überregionalen Medien aus- irreführend. Die Diplom-Pädagogin muss es wissen: Seit fast geschrieben werden Jobs als wissenschaftlicher Mitarbeiter 25 Jahren ist sie in diesem Job, leitet seit 17 Jahren das Büro […] bei Abgeordneten selten“, sagt Alexandrakis. Die Büros scheu- [ihres Abgeordneten]. Doch auch der Begriff „Büroleiter“ de- ten die Flut der Bewerbungen. „Sie haben ja keine Personal- cke das Tätigkeitsprofil eines Abgeordnetenmitarbeiters nicht abteilung und kein Assessment-Center.“ Ihre Mitarbeiter fän- vollständig ab – unterschlage er doch die fachlichen Kompe- den Parlamentarier daher eher unter den Engagierten an der tenzen. Parteibasis, über Empfehlungen sowie fraktionsinterne Aus- Tatsächlich lassen sich inhaltliche und organisatorische schreibungen und Jobbörsen. Arbeit im Abgeordnetenbüro kaum voneinander trennen: Die Erfahrene Mitarbeiter sind für Abgeordnete – insbesondere Aufgaben von Referenten wie Wierer und Alexandrakis rei- für Parlamentsneulinge – unbezahlbar. Sie sind mit den Me- chen von der Vorbereitung der Ausschuss- und Arbeitsgrup- chanismen des Parlamentsbetriebs vertraut und auch als Be- pensitzungen bis zu normalen Bürotätigkeiten. Bei Bürgeran- rater bei der Entscheidungsfindung gefragt: […] fragen aus dem Wahlkreis erledigen sie die Korrespondenz. Diese Besonderheit des Arbeitsverhältnisses erfordere zwar Sie betreuen Besuchergruppen, schreiben Pressemitteilungen, nicht unbedingt die gleiche Parteizugehörigkeit, aber zumin- pflegen Webseiten und Facebookprofile. Bei Bedarf wird auch dest ein hohes Maß an politischer Nähe zwischen dem Abge- getwittert. ordneten und seinen wissenschaftlichen Mitarbeitern: „Man Kommt eine Interviewanfrage zu einem fachfremden The- sollte schon auf Parteilinie sein – sonst ist die Arbeit für bei- ma, recherchieren sie den Sachverhalt und verfassen „Sprech- de Seiten unbefriedigend und das Vertrauen leidet darunter“, zettel“. „Der Chef muss sprechfähig sein – jederzeit, in jeder stellt Alexandrakis klar. Situation“, bringt Wierer die Aufgabe auf den Punkt. Für […] So entwickelt sich zwischen Abgeordneten und Mitarbei- [seinen Abgeordneten] besorgt er Material, holt Stellung- tern meist ein enges Vertrauensverhältnis. Sie beraten ihn, nahmen von Experten und Interessenverbänden ein. Meist halten ihm den Rücken frei, schirmen ihn wenn nötig auch schreibt er auch Reden, Anträge und Ausschussvorlagen für nach außen ab. […] Diese politische Nähe und Loyalität jedoch seinen Chef. erschweren einen Jobwechsel. Für einen Abgeordneten einer Ein erhebliches Arbeitspensum: „Ein normaler Acht- oder anderen Partei zu arbeiten – undenkbar […]. Neun-Stunden-Tag reicht meist nicht aus“, sagt Thomas Wierer Als Angestellte des Abgeordneten endet das befristete Ar- […]. Gerade in Sitzungswochen sind es sogar Zehn- bis Zwölf- beitsverhältnis, wenn dessen Mandat endet: Das kann alle vier Stunden-Tage, die Mitarbeiter eines Abgeordnetenbüros ab- Jahre nach der Wahl sein – zudem wenn der Abgeordnete sein solvieren. Und trotzdem finden Abgeordnetenmitarbeiter wie Mandat vorzeitig zurückgibt oder verstirbt. Aufgrund dieser Wierer und Alexandrakis oft nur in sitzungsfreien Wochen die Unsicherheit ist für manche die Tätigkeit nur ein Job auf Zeit. Zeit, Liegengebliebenes aufzuarbeiten. Die dabei erworbenen Kenntnisse gelten als gutes Sprungbrett Fachlich versierter Referent und gut organisierter Büroleiter, für eine Karriere in größeren Unternehmen, Verbänden oder gewiefter Netzwerker und erfahren im Umgang mit Presse Politikberatungen. […] und Social Media: Die Arbeit im Abgeordnetenbüro erfordert
Alleskönner. „Wir sind Allrounder“, bestätigt Alexandrakis. www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2016/kw34-mitarbeiter/436372 Wer den Job mache, müsse stets politisch auf dem Laufenden (Abruf am 27.08.2019) (sas/22.08.2016)
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Die Abgeordneten verfügen jeweils über einen eigenen Mitarbeiterstab. Annalena Baerbock, Parteivorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, bespricht am 7. November 2016 mit einem Mitarbeiter in ihrem Bundestagsbüro die Aufgaben für die nächsten Tage.
Diäten: Diese Entwicklung zur weiteren Professionalisierung Auf dieser Grundlage verabschiedete der Bundestag 1976 mit verstärkte im Jahr 1975 ein Urteil des Bundesverfassungsge- nur wenigen Gegenstimmen und Enthaltungen das sogenann- richts zur finanziellen Stellung der Abgeordneten. Das Gericht te Abgeordnetengesetz. Es begründete die Steuerpflichtigkeit befand, dass das Mandat eine Vollzeittätigkeit geworden sei – der Diäten, führte eine steuerfreie Kostenpauschale für man- mit Folgen für die Diäten: „Aus der Entschädigung des Inha- datsbedingte Ausgaben, zum Beispiel für die Unterhaltung von bers eines Ehrenamtes ist die Bezahlung für die im Parlament Büros, einer Wohnung und für die Lebenshaltung am Parla- geleistete Tätigkeit geworden. Der Abgeordnete [...] erhält nicht mentssitz sowie für Reisekosten, ein und regelte die Altersver- mehr bloß eine echte Aufwandsentschädigung, er bezieht aus sorgung der MdBs ähnlich den Beamtenpensionen. Nicht über der Staatskasse ein Einkommen.“ Und dieses Einkommen müs- diese Grundstruktur, sehr wohl aber über ihre Ausgestaltung se, wie im Grundsatz schon in Art. 48 Abs. 3 GG verankert, den im Einzelnen wurden seither zahlreiche, teilweise hitzige De- Parlamentariern eine ausreichende Existenzgrundlage geben batten in Parlament und Öffentlichkeit geführt. und ihre Unabhängigkeit sichern, zudem der Bedeutung des Besonders strittig gestaltete sich immer wieder die Frage, ob Amtes, der damit verbundenen Verantwortung und den Belas- und um wie viel die Diäten angehoben werden sollten, um sie tungen gerecht werden. Ausdrücklich wurde vom BVerfG ver- der allgemeinen Einkommensentwicklung anzupassen. Dabei fügt, dass die Höhe der Diäten den Abgeordneten die Möglich- standen regelmäßig auch der Vergleichsmaßstab zur Diskus- keit eröffnen müsse, ihre bisherigen Berufe aufzugeben und sion sowie das Problem der „Entscheidung in eigener Sache“. sich voll und ganz dem Mandat zu widmen. Nicht selten wurde in diesem Zusammenhang der Vorwurf der „Selbstbedienung“ laut, denn die Abgeordneten müssen ja über ihre eigene Bezahlung befinden. Die Auslagerung in eine externe Kommission ist nur auf den ersten Blick ein Ausweg aus diesem Dilemma. Das zentrale Problem ist erfahrungsgemäß die Transparenz, die öffentliche Sichtbarkeit der Entscheidungsfindung in dieser Sache. In der Vergangenheit haben einzelne Abgeordnete und Fraktionen versucht, die Diätendiskussion populistisch zu nutzen. Sie stell- ten sich als „Sparer am eigenen Leib“ dar und lehnten jegliche Erhöhung ab, auch wenn die Einkünfte der Abgeordneten nach- weislich hinter der allgemeinen Einkommensentwicklung zu- rückgeblieben waren. Oder sie wollten den leidigen, oft aus allgemeiner Politikverdrossenheit gespeisten Vorwürfen ent- gehen, indem sie automatische Kopplungen der Diäten etwa an Richtergehälter und ihre Anhebung durch Indexierung der
Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 47 Parlamentarische Demokratie ullsteinbild – globalmoments
In der Verfassung der DDR war zwar die geheime Wahl vorgeschrieben, in der Regel war sie jedoch offen; die Abgabe des Stimm- zettels galt als Vertrauensbeweis für die Kandidaten der Einheitsliste. Auch das Fern- bleiben war schwierig, wenn – wie hier am 14. Juni 1981 im thüringischen Bad Loben- stein – eine Hausgemeinschaft geschlossen das Haus verließ, um wählen zu gehen.
„Parlamentarismus“ in der DDR vor 1989 …
Die Deutsche Demokratische Republik ist bis 1989/90 eine eine absolute Mehrheit in der Volkskammer hatte. Das Macht- kommunistische Diktatur gewesen. Insofern kann die Volks- monopol der SED war damit auf mehrfache Weise gesichert. [...] kammer nicht auf eine Stufe mit dem Deutschen Bundestag Die geringe Bedeutung der Volkskammer zeigte sich allein gestellt werden. Erst in ihrer letzten Phase, nachdem die Sozia- darin, dass sie nur selten zusammentrat. Auf die siebziger Jah- listische Einheitspartei Deutschlands (SED) ihr Machtmonopol re beispielsweise entfielen ganze 34 Sitzungstage. In einem verloren hatte, sollte die Volkskammer zu einem demokrati- bemerkenswerten Kontrast zur Ohnmacht der Volkskammer schen Parlament werden, zu einem Parlament auf Abruf aller- stand der Sachverhalt, dass ihre Abgeordneten immer voll- dings. Als die am 18. März 1990 gewählte Volkskammer zusam- zählig erschienen waren. Lediglich ein einziges Mal wurde mentrat, war klar, dass die Einheit und damit ihre Auflösung in der Geschichte der nicht frei gewählten Volkskammer das nur wenige Monate bevorstand. [...] Prinzip der Einmütigkeit durchbrochen. Im März 1972 gab es im Die sowjetische Besatzungszone entwickelte sich nach 1945 „Ja-Sager“-Parlament bei dem Gesetz zur Schwangerschafts- anders als die amerikanische, britische und französische. Die unterbrechung aus den Reihen der CDU 14 Gegenstimmen und sowjetische Besatzungsmacht ließ keinen Zweifel daran auf- acht Enthaltungen. kommen, dass sie nicht gewillt war, ein pluralistisches poli- Nach der DDR-Verfassung war der Volkskammer eine Reihe tisches System entwickeln zu lassen. Die Vorherrschaft der von Verfassungsorganen untergeordnet – der Staatsrat, der Kommunisten wurde immer deutlicher. Im April 1946 kam es Nationale Verteidigungsrat, der Ministerrat, das Oberste Ge- zur Zwangsvereinigung von KPD und SPD. Eine neue „Sozia- richt sowie der Generalstaatsanwalt. All diese Organe wurden listische Einheitspartei Deutschlands“ (SED) errang dank der von der Volkskammer gewählt. Allerdings konnte keine Rede sowjetischen Besatzungsmacht allmählich ein Machtmonopol. davon sein, dass sich in der Praxis etwa der Staatsrat der Volks- Die beiden anderen Parteien – die CDU und die LDPD – verloren kammer „unterordnete“. Der Vorsitzende des Staatsrates war ihre Eigenständigkeit. [...] zugleich der Generalsekretär des ZK der SED – und damit der In der „Nationalen Front der Deutschen Demokratischen Re- mächtigste Mann im Staate. publik“, die jeweils eine Einheitsliste für die Wahlen aufstellte, [...] Dem Wahlakt war bereits Genüge getan, wenn der waren die Parteien (SED, CDU, LDPD, DBD, NDPD) zusammen Stimmzettel in die Wahlurne geworfen wurde. Der Bürger hat- mit den Massenorganisationen vereint. Zu ihnen gehörte der te keine Entscheidung. Obwohl die Verfassung geheime Wahl Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB), die Freie Deut- vorschrieb, stellte offene Wahl die Regel dar. [...] Offene Wahl sche Jugend (FDJ), der Demokratische Frauenbund Deutsch- galt als Zeichen des Vertrauensbeweises für die Kandidaten der lands, der Kulturbund der DDR (KB) sowie die Vereinigung der „Nationalen Front“. Wer nichts zu verbergen habe, könne sein gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB). [...] Die Mandate der Volks- Vertrauen offen bekunden. kammer, der obersten Volksvertretung der DDR, wurden nach Die Wahlbeteiligung lag bei allen Wahlen über 98 Prozent, einem vorher festgelegten Schlüssel vergeben. Die SED erhielt die Zahl der Ja-Stimmen betrug jedes Mal deutlich über 99 Pro- 24,5 Prozent der 500 Mandate, die vier Blockparteien bekamen zent. Nichts erhellte offenkundiger den Versuch der SED, gesell- je 10,4 Prozent. Dem FDGB standen 12,2 Prozent zu, der FDJ schaftliche Harmonie vorzutäuschen. [...] 7,4, dem DFD 6,4, dem Kulturbund der DDR 4,2 und der VdgB
2,8 Prozent. Die meisten Repräsentanten der Massenorganisa- Eckhard Jesse, in: Parlamentarische Demokratie 1, Informationen zur politischen Bildung tionen gehörten zugleich der SED an, so dass diese auch formell Nr. 227, 3. Aufl., Bonn 2000, S. 20 ff.
48 Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 Der Deutsche Bundestag und seine Akteure
Lebenshaltungskosten vorschlugen. Ersteres dient nicht der folgen. Als Vergleichsmaßstab hierfür empfahl die Kommis- sachlichen Klärung des Problems, letzteres verfehlt den demo- sion den vom Statistischen Bundesamt jährlich ermittelten kratischen Anspruch auf möglichst große Transparenz. Nominallohnindex, der die Verdienstentwicklung von fast Vor diesem Hintergrund und angesichts neuerlicher massi- 90 Prozent der Erwerbstätigen erfasst. Um dem Gebot mög- ver öffentlicher Kritik an der Anpassung der Abgeordnetenent- lichst großer Transparenz weiter Rechnung zu tragen, sollte schädigung im Jahre 2011 setzte der Bundestag eine Unabhän- diese Anpassung aber nicht automatisch erfolgen. Vielmehr gige Kommission zu Fragen des Abgeordnetenrechts ein. Sie müsse der Bundestag zu Beginn jeder Wahlperiode einen neuen bekam den Auftrag, Empfehlungen für die Abgeordnetenent- Beschluss dazu fassen und der Bundestagspräsident jedes Jahr schädigung und das Verfahren zu ihrer künftigen Anpassung die entsprechenden Zahlen veröffentlichen. sowie für die Altersversorgung der Abgeordneten vorzulegen. 2014 folgte der Bundestag durch eine Änderung des Abge- Die Kommission entwarf ein Leitbild für Parlament und Ab- ordnetengesetzes den zentralen Vorschlägen der Kommission. geordnete unter dem Grundgesetz und begründete fundiert, Damit ist nun gewährleistet, dass die Abgeordneten so bezahlt warum Status, Tätigkeit und Verantwortung von Mitgliedern werden, wie es der Bedeutung des Parlamentsmandats ange- des Bundestages am ehesten mit denjenigen von Richtern an messen ist und auch die Transparenz des Verfahrens ist dauer- obersten Bundesgerichten vergleichbar seien: Beiden wird von haft gesichert. Gängigen Vorurteilen, die Abgeordneten wür- der Verfassung Weisungsfreiheit garantiert, beide entscheiden den sich selbst zu viel Geld bewilligen, lässt sich mit folgender mit Wirkung für das gesamte Bundesgebiet. Folglich seien Ab- Berechnung begegnen: 2018 kostete der Bundestag in Summe geordnete wie oberste Bundesrichter zu besolden. sämtlicher Zahlungen an Abgeordnete, Mitarbeitergehälter, Anpassungen, also in der Regel Erhöhungen der Bezüge soll- Sach- und Fraktionsausgaben jeden Einwohner Deutschlands ten der allgemeinen Entwicklung der Löhne in Deutschland gerade einmal 50 Cent pro Monat.
... und 1989/90
Ein besonderes Kapitel des Parlamentarismus in Deutsch- land wurde 1989/90 geschrieben. Der Zusammenbruch der SED-Diktatur brachte in der DDR allenthalben „Runde Tische“ hervor, darunter auch den Zentralen Runden Tisch der DDR (ZRT), der den Anspruch erhob, freie Wahlen in der DDR herbei- zuführen, um die DDR schließlich in ein freiheitlich demokrati- sches Gemeinwesen zu überführen. Der ZRT war nicht gewählt worden. Daher war es nur kon- sequent, dass seine Mitglieder für den ZRT nicht den Status eines Parlamentes reklamierten. Wohl aber beanspruchten sie, zusammen mit der Volkskammer der DDR die Politik die- ser Republik so lange zu kontrollieren, bis auch für diesen Staat ein demokratisches Parlament seine Arbeit aufnehmen werde. Durch die Übernahme dieser Kontroll- und Öffentlichkeits- ullsteinbild – Ulrich Baumgarten
funktion wuchs der ZRT aber obendrein und mindestens vor- Von 1976 bis 1990 residierte die Volkskammer der DDR im Palast der Republik, hier übergehend ebenfalls in die Funktion eines Gesetzgebers der im April 1990. Auch die erste frei gewählte Volkskammer tagte dort noch bis zu ihrer DDR hinein – dies umso mehr, als sich die (alte) Volkskammer Auflösung am 2. Oktober 1990. Das Gebäude wurde 2006 bis 2008 abgerissen. im Winter 1989/90 mehr und mehr selbst auflöste. Für die Par- lamentarismusforschung war es verblüffend zu beobachten, rismus als „government by discussion“, also Partizipation und mit welcher Geschwindigkeit und Zielgenauigkeit sich der ZRT Transparenz. Sehr schnell allerdings wurde ihnen die ebenso in seiner Organisation und in seinem Verfahren in die Zwangs- zutreffende Fortsetzung dieses englischen Satzes zur Gewiss- läufigkeiten klassischer Parlamente hinein bewegte. heit: „… but it only works if you can stop people talking“. Der Nicht anders die erste und einzig frei gewählte Volkskam- Vorsitzende der SPD-Volkskammerfraktion, Richard Schröder, mer (vom 5. April 1990 bis 2. Oktober 1990): Nur für die 38 Sit- unterstrich die Dringlichkeit dieser Weisheit mit dem lako- zungen dieser Volkskammer ist es erlaubt, im hier argumen- nischen Bonmot, es gäbe so etwas, wie das „Menschenrecht tierten Sinne von Parlamentarismus auch in der DDR zu reden auf handlungsfähige Regierung“. Deutlicher kann nicht zum (Patzelt/Schirmer). Ausdruck gebracht werden, wie sehr die demokratische Regie- Die Erfahrung mit und in der ersten frei gewählten Volks- rungsweise von der Leistungsfähigkeit ihrer Parlamentsfrak- kammer der DDR war ein Lehrstück über den Zusammenhang tionen, ihrer Funktionstüchtigkeit insgesamt also abhängig ist. von Partizipation, Transparenz und Effizienz. Die im Sommer Mit spektakulären, aber leerlaufenden Parlamentsaktivitäten – 1990 immer aufs Neue improvisierende Volkskammer der von Fraktionsdisziplin freigestellter Partizipation – ist nämlich DDR war zwar emotional „aufregend“; sie beflügelte jedoch am Ende für die Bürgerinnen und Bürger nichts zu gewinnen. zunehmend den gegenläufigen Ruf nach Ruhe und den An- Deren Wohlergehen verlangt ein effizientes, das heißt ent- spruch (nicht nur) der dortigen Bürgerinnen und Bürger auf scheidungsfähiges Regierungssystem. ein schließlich routinemäßig funktionierendes Parlament. Tat- sächlich erfuhren die Bürger dieser Übergangszeit Parlamenta- Uwe Thaysen
Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 49 Parlamentarische Demokratie picture alliance / dpa / dpaweb / picture alliance / dpa/dpawebdpa
SUZANNE S. SCHÜTTEMEYER Funktionserf llung im Fraktionenparlament
Der Parlamentarismus der Bundesrepublik hat sich als durchweg stabil erwiesen. Das ist das Verdienst der Fraktionen, deren Arbeit in Regierung und Opposition zur Festigung und Leistungsfähigkeit der parlamentarischen Strukturen wesentlich beigetragen hat.
Mit ihren arbeitsteiligen und hierarchischen Strukturen nigen Institute, die realiter die materiellen verfassungsrecht- schafen die Fraktionen die Voraussetzungen daf r, dass die lichen Aufgaben des Parlaments wahrnehmen“ (Wolf-Dieter einzelnen Abgeordneten ihren Aufgaben nachkommen k n- Hauenschild). nen. Es sind die Parteien im Bundestag, die die Handlungs- Diese Einschätzungen trefen voll und ganz auf die Funk- und Steuerungsfähigkeit des großen und als Gesamtheit tionen der Wahl und Rekrutierung, der Gesetzgebung und schwerfälligen Parlaments erst herzustellen verm gen. Sie Kontrolle zu. Auch die Öfentlichkeits- und die Artikulations- sind es, die Politik b ndeln und Arbeitsteilung organisieren. funktion werden durch die Organisations- und B ndelungs- Damit k nnen Parlamentsfunktionen in der Praxis weitest- leistungen der Fraktionen erf llt. Hier teilen sie sich aber die gehend als Funktionen der Fraktionen betrachtet werden. Aufgaben mit den einzelnen Abgeordneten, die als Vermittler Auch in der Rechtswissenschaft ist dies erkannt worden: von Politik und als Bindeglied zu den Wählerinnen und Wäh- Staatsrechtler bezeichneten die Fraktionen als die „zentralen lern ihrerseits die Voraussetzungen daf r schafen, dass die Aktivitätsträger des Parlaments“ (Klaus Stern) und als „dieje- Fraktionen die Repräsentationsfunktion wahrnehmen k nnen.
50 Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 Funktionserfüllung im Fraktionenparlament
In der Geschichte der bundesdeutschen Demokratie haben nur wenige Regierungs- wechsel stattgefunden. In den 70 Jahren ihres Bestehens gab es bislang nur acht Regie- rungschefs. In eine Galerie mit Bildern der Bundeskanzler wird am 23. November 2005 das Portrait der damals neu gewählten Bundeskanzlerin Angela Merkel gehängt.
Wahl- und Rekrutierungsfunktion
Personelle Kontinuitäten: Als Angela Merkel im November Und dass es die „richtige“ Wahl war, kann man an dem länger 2005 zur ersten Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland als eine Wahlperiode dauernden Verbleib fast aller Regierungs- gewählt wurde, hatte sie lediglich sieben Vorgänger: Helmut chefs im Amt ablesen. Daran wird auch deutlich, dass die Frak- Kohl hatte sechzehn Jahre lang regiert, Konrad Adenauer vier- tionen, die sie ins Amt hoben, ber den Tag der Kanzlerwahl zehn und Helmut Schmidt acht. Gerhard Schr der hatte es auf hinaus dachten: Nicht nur dieses eine Mal waren sie zur Unter- sieben, der erste sozialdemokratische Kanzler Willy Brandt auf st tzung bereit, sondern sie legten ofenbar ihre Entscheidung f nf Amtsjahre gebracht. Ludwig Erhard und Kurt Georg Kie- so an, dass damit auch die während der Wahlperiode n tigen singer hatten jeweils drei Jahre an der Spitze der Regierung ge- parlamentarischen Mehrheiten in der Regel sicher waren. standen. Und mittlerweile (Stand 2019) ist Angela Merkel vier- Verhandlungs- und Kompromissfähigkeit: Damit ist den zehn Jahre lang Regierungschefn. Fraktionen gleichzeitig demokratische Verhandlungs- und Kom- Dementsprechend regierten die Bundeskanzler (ebenfalls promissfähigkeit bescheinigt, denn nur einmal, 1957, konnte mit Stand 2019) im Durchschnitt gut achteinhalb Jahre. Sieben eine Partei die absolute Mehrheit an Stimmen und Sitzen im der nunmehr acht wurden mindestens einmal, einer davon Bundestag erringen. Danach bedurfte es zur Regierungsbildung sogar viermal wiedergewählt. Diese beachtliche Kontinuität und -f hrung immer einer Koalition, also der Einigung und im Amt nimmt sich noch beeindruckender aus, wenn sie mit Zusammenarbeit unterschiedlicher Parteien. der Situation in der ersten deutschen Republik verglichen wird. In den 14 Jahren der Weimarer Republik amtierten dreizehn Kanzler in zwanzig Koalitionsregierungen beziehungsweise Präsidialkabinetten; am längsten mit gut drei Jahren Wilhelm Marx, allerdings auf vier Kabinette verteilt, nicht einmal acht Rohwedder
Wochen Kurt von Schleicher, bevor die Nationalsozialisten die Macht ergrifen. bpk / Kurt Stabilität der Regierungen: In der Bundesrepublik kam es indessen nur 1972, 1983 und 2005 zu vorgezogenen Neuwahlen des Bundestages, wobei lediglich 2005 Regierungschef und Koalition ausgetauscht wurden. Die Wähler bestätigten also die amtierenden Regierungschefs und damit die Leistungen des Parlaments bei der Wahrnehmung seiner Wahlfunktion. Kanzlerwechsel während der Wahlperiode fanden 1963, 1966, 1974 und 1982 statt. In den ersten drei Fällen handelte es sich jeweils um den Austausch von Personen in derselben Fraktion, 1966 auch um den Beginn einer neuen (der ersten Großen) Ko- alition. Nur 1982 kam es zum „Machtwechsel“, als das sozial- liberale B ndnis zerbrach und Helmut Kohl durch eine neue Mehrheit aus Union und FDP mittels des Konstruktiven Miss-
trauensvotums zum Kanzler gewählt wurde. Und dass es fast Bergmann f nfzig Jahre dauerte, bis 1998 zum ersten Mal in der Geschich- te der Bundesrepublik ein kompletter Austausch der regierenP - A Guido den Parteien stattfand (von einer CDU/CSU-FDP- zu einer SPD/ GRÜNEN-Koalition) ist ein weiteres eindr ckliches Zeichen der Kontinuität.
Die große Stabilität, die diese Zahlen ausdr cken, ist das Ver- dienst der Parteien im Parlament. Sie schaften es jedes Mal, sei alliance / dpa dpaweb B es nach Bundestagswahlen, sei es während einer Wahlperiode,
einen Kanzlerkandidaten zu präsentieren, der auf Anhieb im picture ersten Wahlgang die n tige absolute Mehrheit der Stimmen im Bundestag erhielt. Damit war der Eingangstest auf die Zu- Ein weiteres Zeichen von Stabilität: Alle Kanzlerkandidaten erreichten bisher im ersten Wahlgang die erforderliche Parlamentsmehrheit. Hier gratuliert Willy Brandt seinem Nach- verlässigkeit einer Koalition, den die Kanzlerwahl darstellt, je- folger Helmut Schmidt am 16. Mai 1974 und Angela Merkel wird am 22. November 2005 weils bestanden. von ihrem Vorgänger Gerhard Schr der zur Wahl zur Bundeskanzlerin begl ckw nscht.
Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 51 Parlamentarische Demokratie
Auf sung des Bundestages 2005
[...] Sonntag, 22. Mai 2005: Die CDU geht aus der Landtagswahl Dienstag, 28. Juni 2005: Tageszeitungen berichten, dass das in Nordrhein-Westfalen erstmals nach 39 Jahren als stärkste BVerfG Neuwahlen auf der Basis einer absichtlich herbeige- politische Kraft hervor. [...] Mit dem bevorstehenden Regie- f hrten Abstimmungsniederlage bei der Vertrauensfrage rungswechsel in D sseldorf bauen CDU/CSU ihre Dominanz ablehnen k nnte, denn es st nde ein Teil der Karlsruher Rich- im Bundesrat auf 43 von insgesamt 69 Stimmen, nicht jedoch ter diesem Vorhaben äußerst kritisch gegen ber. Das Gericht auf eine Zweidrittelmehrheit aus. [...] Um 20.00 Uhr gibt Bun- weist am Mittag die Behauptung zur ck, einige Richter hätten deskanzler Schr der gegen ber der Presse im Bundeskanzler- bereits eine vorgefasste Meinung zur Berechtigung der Ver- amt folgende Erklärung ab: „Deutschland befndet sich in ei- trauensfrage. [...] nem tiefgreifenden Veränderungsprozess. [...] Mit der Agenda Donnerstag, 30. Juni 2005: Nach Meinung der innenpoli- 2010 haben wir dazu entscheidende Weichen gestellt. [...] Bis tischen Sprecherin von B ndnis 90/Die Gr nen Silke Stokar sich aber die Reformen auf die konkreten Lebensverhältnisse w chse in der Regierungskoalition die Zahl der Abgeordneten, aller Menschen in unserem Land positiv auswirken, braucht die wegen der Vertrauensfrage von Bundeskanzler Schr der es Zeit. Vor allem aber braucht es die Unterst tzung der B r- eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht unterst tzen. [...] gerinnen und B rger f r eine solche Politik. Mit dem bitteren Freitag, 1. Juli 2005: Bundeskanzler Schr der informiert Wahlergebnis f r meine Partei in Nordrhein-Westfalen ist die morgens die SPD-Fraktion ber die genaue Begr ndung f r politische Grundlage f r die Fortsetzung unserer Arbeit in seinen Antrag auf Vertrauen. [...] Anschließend unterrichtet Frage gestellt. [...] Deshalb betrachte ich es als Bundeskanzler Schr der auch die Fraktion B ndnis 90/Die Gr nen ber die der Bundesrepublik Deutschland als meine Pficht und Verant- weitere Vorgehensweise. [...] Der Bundestag zählt bei der Ab- wortung, darauf hinzuwirken, dass der Herr Bundespräsident stimmung ber die Vertrauensfrage 600 Abgeordnete. [...] Die von den M glichkeiten des Grundgesetzes Gebrauch machen notwendige Stimmenzahl f r die so genannte Kanzlermehr- kann, um so rasch wie m glich, also realistischerweise f r den heit beträgt [...] 301. [...] (Abgegebene Stimmen 595, davon Ja 151, Herbst dieses Jahres, Neuwahlen zum Deutschen Bundestag Nein 296 und Enthaltungen 148 – Anm.d.Red.) Damit erreicht herbeizuf hren.“ der Antrag des Bundeskanzlers nicht die erforderliche Zustim- Montag, 23. Mai 2005: Regierungssprecher Bèla Anda erklärt mung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages. am Vormittag, die Neuwahl zum Bundestag soll ber eine ge- Montag, 18. Juli 2005: Regierungssprecher Anda erklärt, scheiterte Vertrauensfrage und eine darauf folgende Auf sung dass die Bundesregierung davon ausgeht, dass Bundespräsi- des Parlaments eingeleitet werden. [...] Bundeskanzler Schr der dent K hler am Donnerstag oder Freitag seine Entscheidung unterrichtet in einem circa 20-min tigen Gespräch am Nach- ber Neuwahlen bekannt geben werde. Das ergebe sich aus der mittag Bundespräsident K hler ber diese Absicht. [...] Drei-Wochen-Frist. K hler habe bereits angek ndigt, die Frist Samstag, 28. Mai 2005: Der Abgeordnete Werner Schulz von 21 Tagen nach der Vertrauensabstimmung m glicherweise (B ndnis 90/Die Gr nen) k ndigt erstmals in einem Gespräch voll auszunutzen. mit der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ eine Ver- Donnerstag, 21 Juli 2005: [...] Um 20.15 Uhr f hrt K hler in fassungsklage an, sollte Schr der in einer Sachfrage k nstlich einer Fernsehansprache [...] unter anderem aus: „[...] ich habe das Misstrauen herbeif hren. [...] heute den 15. Deutschen Bundestag aufgel st und Neuwahlen Sonntag, 29. Mai 2005: Bundespräsident K hler erklärt, die f r den 18. September angesetzt. [...] Ich habe die Beurteilung Ank ndigung von Neuwahlen durch M ntefering habe auch des Bundeskanzlers eingehend gepr ft. [...] Doch ich sehe kei- ihn berrascht. Er teilt w rtlich mit:„Dass der Bundespräsident ne andere Lagebeurteilung, die der Einschätzung des Bundes- in einer so wichtigen Frage berrascht wird, ist schon bemer- kanzlers eindeutig vorzuziehen ist. Ich bin davon berzeugt, kenswert. […]“ dass damit die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen f r Donnerstag, 16. Juni 2005: Der Staatsminister im Kanzler- die Auf sung des Bundestages gegeben sind. [...] “ [...] amt Rolf Schwanitz informiert den Ältestenrat des Bundes- Freitag, 22. Juli 2005: Beim Bundesverfassungsgericht in tages, dass der Bundeskanzler am 1. Juli die Vertrauensfrage Karlsruhe gehen die ersten Klagen gegen die Auf sung des stellen wird. Der Kanzler werde dar ber Bundestagspräsident Bundestages durch den Bundespräsidenten ein. [...] Wolfgang Thierse (SPD) am 27. Juni in einem Schreiben infor- Donnerstag, 25. August 2005: Der Zweite Senat des BVerG mieren. Schr der wolle die Vertrauensfrage, wie angek ndigt, weist die Organklage der Bundestagsabgeordneten Hofmann ohne Verkn pfung mit einer inhaltlichen Frage stellen. und Schulz als unbegr ndet zur ck. Die angegrifenen Ent- Dienstag, 21. Juni 2005: Bundespräsident K hler berät mit scheidungen des Bundespräsidenten seien mit dem Grund- den Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen und den Partei- gesetz vereinbar. Ein dem Zweck des Artikel 68 GG widerspre- vorsitzenden die angestrebte Vertrauensfrage und die damit chender Gebrauch der Vertrauensfrage, um zur Auf sung des beabsichtigte Herbeif hrung von Neuwahlen des Bundesta- Bundestages und zu einer vorgezogenen Neuwahl zu gelangen, ges. [...] lasse sich nicht feststellen. Der Einschätzung des Bundeskanz- Montag, 27. Juni 2005: Der stellvertretende Regierungsspre- lers, er k nne bei den bestehenden Kräfteverhältnissen im cher Steg teilt mit, dass Bundeskanzler Schr der seinen Antrag Bundestag k nftig keine vom Vertrauen der Parlamentsmehr- auf Vertrauensfrage bei Bundestagspräsident Thierse einge- heit getragene Politik mehr verfolgen, sei keine andere Ein- reicht hat. Das Schreiben lautet: „Sehr geehrter Herr Bundes- schätzung eindeutig vorzuziehen. [...] tagspräsident, gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes stelle ich den Antrag, mir das Vertrauen auszusprechen. Ich beabsich- Michael F. Feldkamp, „Chronik der Vertrauensfrage des Bundeskanzlers am 1. Juli 2005 und tige, vor der Abstimmung am Freitag, dem 1. Juli 2005, hierzu der Auf sung des Deutschen Bundestages am 21. Juli 2005“, in: ZParl, 37. Jg. (2006) Heft 1, eine Erklärung abzugeben.“ [...] S. 19 f.
52 Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 Funktionserfüllung im Fraktionenparlament
Die im Bundestag vertretenen Parteien und ihre Fraktionen Parteien im Auge zu behalten. So war kein Kanzler der Bundes- ben tigten zwischen 1949 und 2013 im Durchschnitt nicht ein- republik autonom in der Komposition seines Kabinetts; die mal 41 Tage, um eine handlungsfähige Regierung ins Amt zu Rolle der Fraktionen reichte dabei vom negativen Druck- und bringen. Das Parteiensystem mit Union und SPD als großen Verhinderungspotenzial bis zur positiven Gestaltung. Volksparteien und der FDP als kleiner in der Mitte, das etwa Je besser dem designierten Kanzler zusammen mit den F h- ein Vierteljahrhundert Bestand hatte, reduzierte die B ndnis- rungspersonen des Koalitionspartners dieser Akt der Reprä- optionen und erleichterte programmatisch und strategisch die sentation ihrer Fraktionen und Parteien gelingt, desto besser Koalitionsbildung. ist gewährleistet, dass die Regierung und die sie tragenden Seit Anfang der 1980er-Jahre fächerte sich das Parteien- Fraktionen bei allen Entscheidungen während der folgenden system schließlich zunehmend auf, und seit 2017 besteht der Wahlperiode zusammenhalten und eng zusammenarbeiten. Bundestag aus sechs Fraktionen. Diese Vielfalt, ihrerseits Aus- Bleibt die erste Wahlperiode außer Acht, als sich die parla- druck eines Wandels und wachsender Diferenzierung in der mentarischen Strukturen und Verfahren erst herausbilden Gesellschaft, ist nicht der einzige, aber letztlich der entschei- mussten, so ist f r die Unionsfraktion festzuhalten, dass in dende Grund, warum es 171 Tage brauchte, bevor die Kanzlerin den nachfolgenden 65 Jahren ihrer Parlamentsgeschichte von gewählt und das Kabinett vereidigt werden konnte. Auch in 1953 bis 2018 (in denen sie 45 Jahre lang den Kanzler stellte) Zukunft d rfte es dem Bundestag schwerfallen, an die Zeiten von 93 Ministern 55 dem Fraktionsvorstand entstammten. In anzukn pfen, in denen z gig handlungsfähige Regierungs- der SPD kamen in der Zeit ihrer Regierungsverantwortung b ndnisse geschmiedet werden konnten. von 1966 bis 1982, 1998 bis 2009 und wieder seit 2013 von Bislang kann jedenfalls dem Parlament und seinen Fraktio- 71 Ministern 31 aus dem Fraktionsvorstand. nen bescheinigt werden, dass sie sogar in Krisensituationen Wird nur die „einfache“ parlamentarische Erfahrung in Be- ihre Wahlfunktion erf llen konnten. Als in den 1960er-Jahren tracht gezogen, so hatte lediglich etwa jeder zehnte christ- zweimal in der CDU/CSU- und 1974 in der SPD-Fraktion deut- demokratische und sozialdemokratische Minister diese nicht lich wurde, dass – bei unverändert vorhandenen parlamentari- aufzuweisen, war also vor Übernahme eines Regierungsamtes schen Mehrheiten – ein amtierender Kanzler seinen Aufgaben nicht Mitglied des Bundestages gewesen. Eine ungew hnlich nicht mehr gerecht wurde und Wählerverluste zu bef rchten hohe Zahl von Personen ohne Bundestagsmandat berief Ger- waren, suchte und fand man erfolgreich Ersatz: 1963 und 1974 hard Schr der 1998 in sein erstes Kabinett: Sechs der zw lf von stand in Union wie SPD umgehend ein Kandidat bereit, der die der SPD zu besetzenden Ressorts wurden von Nicht-MdBs ge- Unterst tzung der jeweiligen Koalitionsfraktionen fand. Bei- leitet. Der Kanzler selbst war zwar von 1980 bis 1986 Abgeord- de, Ludwig Erhard und Helmut Schmidt, entstammten zudem neter in Bonn gewesen, seither aber Landespolitiker. Kritische ihren Fraktionen und hatten dort bzw. in der Regierung lange Stimmen werteten es im Nachhinein als Versäumnis, nicht Jahre F hrungsfunktionen innegehabt. Als 1966 und 1982 die gen gend Mitglieder der Fraktion ins Kabinett berufen zu ha- regierenden Koalitionen auseinanderbrachen, schaften es die ben, und machten dies wesentlich f r die Startschwierigkeiten Parteien im Parlament, neue B ndnisse zu schmieden und in verantwortlich, die der ersten Regierung Schr der bescheinigt kurzer Frist wieder handlungsfähige Kanzler und Kabinette zu wurden. installieren. Als Angela Merkel 2005 ihr erstes Kabinett als Kanzlerin einer Großen Koalition zusammenstellte, hatten f nf der f nf- Rekrutierung der Regierungsmitglieder zehn Minister kein Bundestagsmandat; alle f nf strebten aber Ähnlich erfolgreich ist die Bilanz bei der Rekrutierung der Mi- sofort erfolgreich einen Sitz im 17. Bundestag an. 2009 waren nister. Eindeutig sind es vor allem die Fraktionen, in denen die nur noch zwei Ressortinhaber nicht gleichzeitig Parlamenta- Abgeordneten gleichsam ihre Lehrzeit f r Kabinettspositionen rier, in Merkels viertem Kabinett seit Fr hjahr 2018 zwei. absolvieren und sich proflieren m ssen. Bei Regierungsbil- Hier zeigt sich noch einmal deutlich die Logik des parlamen- dungen stellen sie das nat rliche Personalreservoir. Wie dies tarischen Regierungssystems: Die enge, eben auch personelle ausgesch pft wird, liegt aber keineswegs in der alleinigen Verkn pfung von Parlamentsmehrheit und Regierung sichert Entscheidung des designierten Kanzlers. Dass dieser große die Funktionsfähigkeit. Stammen die Minister aus dem Par- Macht bei der Zusammenstellung des Kabinetts besitzt, gilt als lament, verf gen sie dort ber ihre „Hausmacht“, so verlau- „Legende der Kanzlerdemokratie“, so der Politikwissenschaft- fen Kommunikation und Kooperation reibungsloser, und die ler Klaus von Beyme. Vielmehr m ssen der Kanzlerkandidat Mehrheit kann „ihre“ Regierung besser kontrollieren. und die Verhandlungsf hrer der Koalitionspartner, die selbst fast alle F hrungspositionen in ihren Fraktionen bekleiden, sorgsam darauf achten, dass sie m glichst die fachlich und politisch besonders qualifzierten Mitglieder ihrer jeweiligen Kontrollfunktion Fraktion in das Kabinett einbinden. Vor allem grundsätzliche Richtungs-, aber durchaus auch detaillierte Sachentscheidun- Die Logik des parlamentarischen Regierungssystems ist auch gen k nnen in der (gemeinsamen) Regierungszeit nur erfolg- die Ursache daf r, dass die Kontrollfunktion nicht vom Ge- reich durchgesetzt werden, wenn diese von den Fraktionen samtparlament wahrgenommen wird, sondern – mit je eige- durchgängig akzeptiert werden. Daher liegt es im dringenden nen Zielen und eigenen Instrumenten – von der Mehrheit ei- Interesse der F hrungsgruppen, die die Koalitions- und Kabi- nerseits und der Opposition andererseits ausge bt wird. nettsbildung in Händen halten, die Standpunkte, Str mungen Im Bundestag steht den Abgeordneten bzw. den Fraktionen und Stimmungen ihrer Fraktionen richtig einzuschätzen. Dazu ein umfangreiches Arsenal an Kontrollinstrumenten zur Verf - geh rt auch, bei der Auswahl des Regierungspersonals gen - gung. Sie reichen vom Konstruktiven Misstrauensvotum ber gend Ministerinnen vorzusehen, Vertreter einfussreicher poli- Frage- und Informationsrechte sowie das Budgetrecht bis hin tischer Fl gel zu ber cksichtigen und einen gewissen regiona- zu Untersuchungsaussch ssen und Normenkontrollverfahren len Proporz großer und kleiner Landesverbände der beteiligten beim Bundesverfassungsgericht. Viele dieser Instrumente sind
Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 53 Parlamentarische Demokratie ausdr cklich als Minderheitsrechte ausgestaltet, um der Oppo- sition faire Chancen zu geben, das Handeln der Regierung und ihrer Mehrheit im Parlament zu berpr fen.
Fragerechte So gibt es zum Beispiel f r das Alltagsgeschäft der Informati- onsbeschafung im Bundestag eine ganze Palette von M glich- keiten, Anfragen an die Bundesregierung zu richten. Jeder bzw. jede Abgeordnete kann die schon erwähnten kurzen Fragen zur m ndlichen oder schriftlichen Beantwortung durch die
Regierung einreichen. Weitere Fragerechte stehen Fraktionen bzw. Abgeordneten in Fraktionsstärke zu: Große Anfragen sind auf umfangreichere Themenkomplexe gerichtet, zum Beispiel auf die „Klimadiplomatie der Bundes- picture alliance / pa Christoph Soeder republik Deutschland“, die „Altersarmut in Deutschland“, die „Zukunft der deutschen Sprache“ oder die „Vereinfachung des Kontrolle und Herstellung von Öfentlichkeit im Bundestag: Bei einer Aktuellen Stunde zu Maßnahmen gegen Hass und rechtsextreme Gewalt zeigt Michael Brand (CDU) am Steuerrechts“. Da sie neben der schriftlichen Antwort der Re- 27. Juni 2019 im Deutschen Bundestag ein Bild des ermordeten Kasseler Regierungspräsi- gierung auch zur Debatte auf die Tagesordnung des Bundes- denten Walter L bcke, ... tages gesetzt werden k nnen (§§ 100, 101 GO-BT), dienen Große Anfragen nicht nur der sachlichen Information, sondern auch der fentlichen Auseinandersetzung mit der Politik der jewei- So brachten zur Zeit der sozial-liberalen Koalition die SPD- und ligen Regierungskoalition. die FDP-Fraktion keine einzige Große Anfrage ein. Gelegentlich Kleine Anfragen, mit denen „Auskunft ber bestimmt be- nutzen aber auch die Fraktionen der Mehrheit Große Anfragen. zeichnete Bereiche“ (§ 104 GO-BT) von der Regierung verlangt Dann handelt es sich in aller Regel um abgesprochene Aktio- werden kann, werden nur schriftlich beantwortet. nen, mit denen der Regierung die B hne geboten wird, ihre Aktuelle Stunden sind wie die Großen Anfragen auch ein Politik fentlich zu präsentieren oder zu verteidigen. Die Sta- wichtiges Mittel, Öfentlichkeit herzustellen. Sie k nnen von tistik spiegelt diese Motive: Seit 35 Jahren, also seitdem immer einer Fraktion zur Aussprache „ ber ein bestimmt bezeichne- mindestens zwei Oppositionsfraktionen im Bundestag vertre- tes Thema von allgemeinem aktuellen Interesse“ (§ 106 GO-BT) ten waren, stammen zwischen 85 und 100 Prozent der Großen beantragt werden. Beide Instrumente werden vornehmlich Anfragen von Oppositionsfraktionen, seit der 13. Wahlperiode von der Opposition eingesetzt, um der Regierung vor den Au- (1994 bis 1998) sind es 90 bis 100 Prozent. Gleiches gilt f r die gen der Wählerschaft Versäumnisse vorzuwerfen und sich Kleinen Anfragen: In den letzten f nf Wahlperioden lag der selbst als die bessere Alternative darzustellen. Anteil der Oppositionsfraktionen bei 99,1 bis 100 Prozent.
picture alliance/Wolfgang Minich
… bei einer Fragestunde der Regierung im Deutschen Bundestag am 12. Dezember 2018 wird die Bundeskanzlerin vom Stellvertretenden Vorsitzenden der FDP-Fraktion Alexander Graf Lambsdorf befragt.
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Diese Kontrollaktivitäten im Bundestag erfuhren einen „Entwicklungsstand und Umsetzung des Inklusionsgebotes sprunghaften Anstieg mit dem Einzug der Gr nen 1983. Hatte in der Bundesrepublik Deutschland“ (Die LINKE), „20-Jahres- die christdemokratische Opposition in den vier Wahlperioden Bilanz der Bahnreform 1994 bis 2014“ (Die LINKE). zuvor zwischen 24 und 47 Große Anfragen an die sozial-liberale Regierung gerichtet, so machte die neue gr ne Fraktion erheb- Budgetrecht lich mehr Gebrauch von diesem Mittel: Ihre 87 Großen Anfra- Der Haushaltsausschuss: Ein f r die Entstehungsgeschichte gen veranlassten auch die auf die Oppositionsbänke verwiese- des Parlamentarismus konstitutiver und insofern geradezu ne SPD zu aktiverem fentlichkeitswirksamem Verhalten und klassischer Bestandteil der Kontrollaktivitäten ist das Budget- 61 solcher Anfragen. Seither gab es immer mehr als eine Op- recht. Im Bundestag wird die Bedeutung dieses Instruments positionsfraktion im Bundestag und somit Wettbewerb unter f r die Kontrolle der Regierung schon dadurch deutlich, dass ihnen – mit der Folge, dass sich die Zahl der Großen Anfragen der Haushaltsausschuss – nicht rechtlich fxiert, aber aus Tra- auf hohem Niveau einpendelte. Seit 2005 ist allerdings ein kon- dition – immer von einem Mitglied der Opposition geleitet tinuierlicher R ckgang zu verzeichnen mit dem Tiefpunkt in wird. Dieser Ausschuss ist das parlamentarische Zentrum zur der 18. Wahlperiode, als nur noch 15 Große Anfragen von den Befassung mit dem Bundeshaushalt, der als Gesetz verabschie- beiden Oppositionsfraktionen, den Gr nen und der Linken, ge- det wird. Bei der Erstellung des Haushalts ist die Regierung die stellt wurden. Gleichzeitig stieg die Zahl der Kleinen Anfragen dominante Akteurin: Nur sie kann Haushaltsplan und -ent- deutlich an. Auch die schriftlichen und m ndlichen Anfragen, wurf einbringen. Dabei hat insbesondere der Bundesfnanz- die einzelne Abgeordnete an die Regierung richten k nnen, minister eine Reihe von speziellen Kompetenzen zum kon- nahmen zu, erreichten einen H hepunkt zur Zeit der christ- junkturpolitischen Handeln. demokratisch-liberalen Koalition, um drastisch zu sinken, als Nichtsdestoweniger ist der Haushaltsausschuss ein ernst zu 2013 bis 2017 der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD nur nehmender Wächter ber die Bundesfnanzen. Er wirkt an der noch die Gr nen und die Linken gegen berstanden. Ob in die- Aufstellung des Budgets, am Vollzug und an der nachträglichen ser besonderen Konstellation der Grund f r das wechselvolle Kontrolle mit; auch an allen ausgabewirksamen Entscheidun- Oppositionsverhalten liegt, d rfte nach Ende der gegenwärti- gen des Bundestages muss er beteiligt werden. Die Arbeit im gen Großen Koalition mit doppelt so vielen parlamentarischen Ausschuss ist berwiegend durch Kollegialität und Kooperati- Gegenspielern genauer zu beurteilen sein. on geprägt. Seine Mitglieder sehen sich fraktions bergreifend Die Reichweite Großer Anfragen lässt sich mit verschiede- einem gemeinsamen Ziel verpfichtet: Sie wollen sparsam nen Themen veranschaulichen, zu denen die Regierung in der haushalten. Deshalb werden sie im Bundestagsjargon – unab- 18. Wahlperiode Auskunft geben sollte: „Stärkung der Men- hängig davon, ob sie aus Mehrheit oder Opposition stammen – schenrechte in Deutschland“ (B ndnis 90/Die Gr nen), „Sozia- „die Haushälter“ genannt. ler Wohnungsbau in Deutschland – Entwicklung, Bestand, Per- Viele von ihnen sind langjährige, mit dem speziellen Haus- spektive“ (Die LINKE), „Schl ssel f r eine globale, kologische haltsverfahren vertraute und erfahrene Parlamentarier, die und gerechte Energieaußenpolitik“ (B ndnis 90/Die Gr nen), sich zudem gut untereinander kennen. So ist der Einfuss des
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Fischer / dpa
alliance / Gregor picture
Untersuchungsaussch sse sind ein Hilse wichtiges Kontrollinstrument der Opposi- tion und fnden ein großes Medienecho. Im Abgas-Untersuchungsausschuss zum
Diesel-Skandal wird am 8. März 2017
Simon / Annegret Bundeskanzlerin Merkel als Zeugin geh rt, um zu ermitteln, wann und wie sie sich
in die Aufklärung einschaltete.
Der Vorsitzende des Abgas-Untersuchungs- alliance / Sven ausschusses, Herbert Behrens (Die Linke), berichtet den Journalisten am 19. Januar 2017 picture im Marie-Elisabeth-L ders-Haus in Berlin.
Ausschusses nicht zu unterschätzen; insbesondere bei der Kon- Nicht zuletzt durch die Anlehnung des Verfahrens an den Straf- trolle von Details in den Einzelplänen der Ressorts kann ihm prozess ist aber der Eindruck in der Öfentlichkeit entstanden, versiertes Arbeiten bescheinigt werden. Geht es um grundle- es handele sich bei diesen Aussch ssen um gerichtsähnliche gende Prioritätenentscheidungen oder dr cken sich Konfikte Gremien, die der Wahrheitsfndung dienen. zwischen Regierungsmehrheit und Opposition in den Zahlen Dazu sind sie als Institutionen, die der Logik des Parlamen- des Budgets aus, so kommt die dem Parlamentarismus eigene tarismus folgen, aber nur sehr begrenzt in der Lage. Vor allem Frontstellung zum Tragen: Letztlich werden die regierungs- in den Abschlussberichten kommen die je unterschiedlichen tragenden Fraktionen ihre Prioritäten gegen die Opposition Einschätzungen von Mehrheits- und Oppositionsfraktionen durchsetzen. Daf r hat sie schließlich auch die Wählerschaft zum Ausdruck und erf llen damit den zentralen Zweck der legitimiert, indem sie sie zur Mehrheit machte. Untersuchungsaussch sse: Die Wählerinnen und Wähler sollen sich aus den kontroversen Interpretationen der Betei- Parlamentarische Untersuchungsaussch sse ligten ein Urteil bilden k nnen ber die in Rede stehenden Ein besonders scharfes Schwert der Opposition, um die Re- Vorkommnisse und die Verantwortung der politischen Akteu- gierung fentlichkeitswirksam zur Rede zu stellen, sind Par- re. Somit f rdern die Untersuchungsaussch sse die „Parteien- lamentarische Untersuchungsaussch sse. In der Verfassung wahrheit“ zutage und sind deshalb keineswegs die fruchtlo- sind sie sogar als Minderheitsrecht verankert (Art. 44 GG). Auf sen Scheinveranstaltungen, als die sie oft kritisiert werden, Antrag eines Viertels der Mitglieder des Bundestages muss ein weil fälschlicherweise „Tatsachenwahrheiten“ von ihnen er- solcher Ausschuss vom Bundestag eingesetzt werden. Zwei bis wartet werden. drei Untersuchungsaussch sse pro Wahlperiode sind der Nor- Das große Medienecho, das Untersuchungsaussch sse fn- malfall; insgesamt hat der Bundestag bis 2018 44-mal von die- den – mittlerweile werden Zeugenanh rungen live im Fernse- sem Kontrollinstrument Gebrauch gemacht. hen bertragen –, birgt die Gefahr, dass dieses Instrument f r Häufg auch als „Skandalenqueten“ bezeichnet, sollen die Showefekte eingesetzt wird. Um aber die fentliche Wirkung Untersuchungsaussch sse Fehlverhalten bzw. Fehlentschei- als intensive, ernst zu nehmende Kontrolle der Regierung zu dungen vor allem der Regierung aufdecken und anprangern. erhalten, ist vor leichtfertiger und bertrieben häufger Nut-
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zung gewarnt worden. Bisher sind die Fraktionen des Bundes- heit Minister oder – aus ihrer Sicht schlimmstenfalls – den tages dieser Versuchung allerdings nicht erlegen. Kanzler austauschen. Da dies aber Mittel sind, die der Öfent- lichkeit Defzite in der Regierungsmehrheit aufzeigen, werden Konstruktives Misstrauensvotum zuvor alle M glichkeiten der internen und bewusst nicht nach Kontrovers hinsichtlich seiner Wirkung wird das Konstruktive außen sichtbaren Richtungskontrolle ausgesch pft. Die Wech- Misstrauensvotum eingeschätzt. In fast sechzig Jahren bundes- sel von Konrad Adenauer zu Ludwig Erhard oder von Willy republikanischer Geschichte kam es lediglich zweimal zur An- Brandt zu Helmut Schmidt verdeutlichen exemplarisch diese wendung: 1972 versuchte der damalige Oppositionsf hrer Rainer Kontrollmacht der Fraktionen, die sich im Übrigen auch schon Barzel (CDU) vergebens, den sozialdemokratischen Kanzler Willy auf Landesebene bei Wechseln im Ministerpräsidentenamt ge- Brandt auf diese Weise abzusetzen; 1982 gelang es Helmut Kohl zeigt hat. (ebenfalls CDU), die FDP aus der Koalition mit der SPD heraus- zul sen und am 1. Oktober jenes Jahres das Konstruktive Miss- trauensvotum gegen Helmut Schmidt zu gewinnen. Trotz der soliden Mehrheit, die mit der neuen Koalition aus Union und FDP Rolle in der Gesetzgebung im Bundestag vorhanden war, und der somit ohne Zweifel ge- gebenen Handlungsfähigkeit der Regierung strengte Kohl aber Ausgangspunkte gesetzgeberischer Initiativen anschließend – wie vorab versprochen – die Neuwahl des Bun- F r die parlamentarische Demokratie ist es strukturtypisch, destages vor Ablauf der regulären Wahlperiode an. Zu massiv dass die Regierung die dominante Rolle in der Gesetzgebung wurde in der fentlichen Diskussion ein solcher Kanzlersturz spielt. Dies gilt auch f r den Bundestag. Im Durchschnitt wer- ohne Wählervotum f r illegitim gehalten – ganz entgegen der den dort zwei Drittel der Gesetzentw rfe von der Regierung Verfassungsrechtslage. eingebracht oder von den Fraktionen, die die Regierungskoali- Zahlenmäßig spielt also dieses wohl spektakulärste Kon- tion tragen. Der politisch-inhaltliche Ursprung dieser Initiati- trollinstrument im Bundestag eine geringe Rolle. Auch zum ven liegt oft in den Koalitionsvereinbarungen, die zu Beginn Schutze der Regierung vor destruktiven Mehrheiten, die selbst einer Wahlperiode getrofen werden. Darin legen die Koali- nicht bereit sind zur Übernahme von Regierungsverantwor- tionspartner die wichtigsten Vorhaben ihrer gemeinsamen tung – der Zweck, f r den es der Parlamentarische Rat vor al- Regierungszeit fest – teilweise schon recht detailliert, teilwei- lem ins Grundgesetz aufgenommen hatte – musste das Kon- se noch eher vage, je nachdem, wie viel Einvernehmen in den struktive Misstrauensvotum noch nicht in Anspruch genom- Verhandlungen zwischen den Parteien bzw. Fraktionen zu er- men werden. Bisher erwiesen sich die Parteien bzw. Fraktionen zielen war und wie viel Konfiktstof „ausgeklammert“ werden im Bundestag stets als hinreichend kompromissfähig und ver- musste, um das geplante B ndnis nicht zu gefährden. antwortungsbewusst, sodass die Bundesrepublik Deutschland Aus den im Koalitionsvertrag festgehaltenen Regierungsvor- geradezu zum Musterbeispiel stabilen Regierens wurde. Aller- haben ergeben sich bereits etliche Pr f- und Vorbereitungsauf- dings darf die Wirkung des Konstruktiven Misstrauensvotums träge an die zuständigen Abteilungen der Bundesministerien. f r die Beziehungen zwischen Regierung und Mehrheit nicht Doch dar ber hinaus k nnen auch etliche andere Akteure An- unterschätzt werden: Die Regierung muss sich h ten, die Fol- st ße zu Gesetzesinitiativen geben: Abgeordnete nehmen Im- gebereitschaft der eigenen Fraktion(en) oder zu vieler ihrer pulse aus ihren Kontakten zu B rgerinnen und B rgern sowie Abgeordneter so zu strapazieren, dass diese ihr das Vertrauen Interessengruppen auf; Verwaltungsbeh rden stellen bei der entziehen. Solch ein „antizipativer Efekt“ in Gestalt einer ge- Anwendung von Gesetzen Defzite fest; Urteile des Bundesver- danklichen Vorwegnahme m glicher Auswirkungen des Miss- fassungsgerichts und anderer Gerichte erfordern – teilweise trauensvotums kann plausibel vermutet, aber nat rlich kaum zwingend – Gesetzesänderungen; Verbände artikulieren ihre gemessen werden. Interessen; in den Medien wird Regelungsbedarf diskutiert. Die „klassischen“ Kontrollrechte sind im Bundestag zwar in Oder aber innerhalb der Mehrheitsfraktionen ergreifen Ar- erster Linie die Domäne der Opposition; f r ein wirklichkeits- beitsgruppen die Initiative. Oft ergänzen sich diese verschiede- gerechtes Verständnis des Bundestages darf jedoch nicht der nen Quellen f r gesetzgeberische Aktivitäten. Eindruck entstehen, als ersch pfe sich hierin die parlamentari- sche Kontrolle. Ebenso bedeutend sind die entsprechenden Ak- tivitäten der Mehrheit. Auch sie kontrolliert „ihre“ Regierung – allerdings auf anderen Wegen und mit anderen Zielen als die Opposition. So hat die Mehrheit naturgemäß kein Interesse da- / Achim Melde ran, der Öfentlichkeit Fehler oder Mängel „der eigenen Leute“ vorzuf hren. Vielmehr werden die Abgeordneten der Parla- mentsmehrheit alles daran setzen, in den Augen der Wählerin- nen und Wähler als erfolgreich zu erscheinen – und das ist nun einmal nur mit einer Regierung m glich, die in diesem Sinne © Deutscher Bundestag gute Leistungen erbringt. Also wird intern sichergestellt, dass die Gesetzentw rfe und andere politische Vorhaben den Anforderungen entsprechen. Dies geschieht durch ständige Kommunikation und gegensei- tige Überzeugungsarbeit auf informellen und nicht-institutio- nalisierten Wegen sowie in den daf r eingerichteten Gremien, vor allem in den Arbeitsgruppen und -kreisen. Wird hinter den Verbände artikulieren ihre Interessen und k nnen damit Gesetzesinitiativen anstoßen: Matthias Bartke (SPD, 2.v.li.),Vorsitzender des Bundestagsausschusses f r Arbeit und verschlossenen T ren von Koalitionsfraktionen und Regierung Soziales, empfängt am 12. Dezember 2018 im Namen des Ausschusses die Gesamt- und nicht das gew nschte Politikergebnis erzielt, kann die Mehr- Hauptschwerbehindertenvertreter der Polizei.
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Stationen der Gesetzgebung Kabinettstisch sitzen oder mit der Regierung in ständigem Aus- Erarbeitung des ersten Entwurfs in Ministerien, Kabinett tausch ber den sachpolitischen Willen ihrer Fraktionen stehen. und Mehrheitsfraktionen: Der Standardweg der weiteren Be- Ungleich schwieriger sind die Erarbeitung und Überpr - arbeitung f hrt die Gesetzentw rfe in die fachlich spezialisier- fung der inhaltlichen Details sowie der Abgleich der parla- te Ministerialb rokratie. Beauftragt vom jeweiligen Minister mentarischen Entscheidung mit Positionen von Partei und liefert diese zumeist den ersten Entwurf, der sodann im Kabi- Wählerschaft im Einzelnen. Hier bedarf es einer Vielzahl von nett beraten wird. Doch selbst wenn sich die Regierungsmit- Fraktionsexperten, die auf der Arbeitsebene der Fraktionen die glieder einig sind, ist der nächste Schritt keineswegs die Über- inhaltliche Feinabstimmung leisten. weisung an den Bundestag bzw. Bundesrat. Ihre Arbeitsgruppen sind der Filter f r das konkret Mach- Zuallererst muss sichergestellt werden, dass die Mehrheits- bare und politisch Annehmbare – und zwar in erster Linie un- fraktionen die Regierungsvorlage mittragen. Problematisch sind terhalb von Grundsatz- und Richtungsentscheidungen – und dabei weniger die grundsätzliche Richtungsgebung und die Ko- damit – angesichts der Komplexität und Technizität der meis- ordination von Politiken, denn sie liegen in den Händen derjeni- ten zu regelnden Materien – die Gremien, in denen ber die gen, die die Koalitionsfraktionen f hren und entweder mit am große Masse der Gesetzentw rfe beraten wird. In den Arbeits-
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gruppen bzw. Arbeitskreisen der Mehrheitsfraktionen fndet hen und welche Aktivitäten die Regierung und die Fraktionen die sachpolitische Kommunikation der Fraktionsexperten mit bzw. Parteien dazu entfalten. Diese Herstellung politischer Öf- Regierung und Ministerialb rokratie sowie zuweilen auch der fentlichkeit dient des Weiteren dazu, dass Diskussionen statt- Koalitionspartner untereinander statt. Hier wird die gegen- fnden, dass sich Betrofene zu Wort melden k nnen und ins- seitige Bereitschaft zu Widerstand oder Unterst tzung der gesamt ein ofener Prozess der Meinungs- und Urteilsbildung Gesetzesvorhaben sondiert; hier werden Ausschusssitzungen, in Gang gesetzt wird. Fragestunden und Plenardebatten konkret inhaltlich vorberei- Diskussion des Entwurfs in den Aussch ssen: Im Bundes- tet. Prinzipiell dasselbe gilt f r die Fraktionen der Opposition, tag erfolgt die weitere Bearbeitung des Gesetzentwurfs in den nur dass hier die Verzahnung mit der Regierung entfällt. Statt- Fraktionen und Aussch ssen. Auf Vorschlag der Fraktionen dessen bedient sich die Opposition des Öfteren der Ministerial- werden in den Aussch ssen sogenannte Berichterstatter be- beamten aus jenen Bundesländern, in denen sich die eigene nannt, die sich detailliert mit den Inhalten des Entwurfs aus- Partei in der Regierungsverantwortung befndet. einandersetzen, als Bindeglieder zwischen dem Ausschuss und Es kann also keine Rede davon sein, dass Kanzler und Kabi- ihrer jeweiligen Fraktion fungieren und zusammen mit dem nett mithilfe ihres Beamtenapparats dem Parlament, und das oder der Ausschussvorsitzenden f r den Abschlussbericht ans heißt in diesem Zusammenhang: ihrer eigenen Mehrheit, Ge- Plenum des Bundestages verantwortlich sind. setze präsentieren, die dieses dann nur noch „abnickt“. Ohne Da die Fraktionen der Mehrheit in der Regel bereits im Vor- Zweifel entstammt der erste Entwurf und damit gewiss auch bereitungsstadium von ihrer Regierung in die Beratungen ein- schon viel Richtungsweisung meistens der Regierung. Aber bezogen worden sind, wird der Ausschuss faktisch vor allem schon dabei muss im Vorwege ausgelotet werden, was die Ko- dazu genutzt, die Argumente der Opposition zu diskutieren alitionsfraktionen mitzutragen bereit sind. Und spätestens f r und Informationen zu erhalten, die in die Fraktionen einge- die Einzelheiten sehen sich die jeweils spezialisierten Abgeord- speist werden, um dort die Willensbildung f r die abschließen- neten sehr wohl zuständig. de Abstimmung im Plenum vorzunehmen. So haben Minister immer wieder bekundet, dass die Exper- Neuere Ergebnisse der Parlamentsforschung zeigen, dass die tinnen und Experten in den regierungstragenden Fraktionen Bundestagsaussch sse nicht – wie landläufg vermutet – im ihre „wichtigsten Verb ndeten“ seien und sie deren Sachver- Zentrum der Sacharbeit stehen. Schon seit langem werden stand wie ihre politische Vermittlerrolle produktiv nutzen. Gesetze nicht mehr einstimmig oder mit nur wenigen Gegen- Außerdem m ssten sie durch enge Kontakte zur Fraktion ver- stimmen im Plenum verabschiedet, weil in den Aussch ssen hindern, dass dort Gegenpositionen aufgebaut werden oder Konsens hergestellt werden konnte. Vielmehr spiegelt sich in die Öfentlichkeit mobilisiert wird, weil sich die Fraktionsmit- den Auseinandersetzungen dort die bekannte Frontstellung glieder in den Entw rfen der Regierung nicht hinreichend re- von Regierungsmehrheit und Opposition wider, erf llen die präsentiert sehen. Im schlimmsten Fall drohe die Gefahr von Ausschussberatungen inzwischen in erster Linie die Funktion Abstimmungsniederlagen, wenn solche Unzufriedenheiten einer „Generalprobe“ f r die Plenardebatte. nicht aufgegrifen und bearbeitet w rden. Der erste Kanzler Nur wenn es sich ausnahmsweise um interfraktionelle, also der Bundesrepublik, Konrad Adenauer, wahrlich eine souve- von allen Fraktionen eingebrachte Gesetzentw rfe und eilige räne Pers nlichkeit, beschrieb Zusammenk nfte mit „seiner“ Vorlagen handelt, werden diese in den Aussch ssen eher er- Fraktion bei einer Gelegenheit als „Fegefeuer“. gebnisofen und detailliert verhandelt. Der Schwerpunkt der Weitergabe an Bundesrat und Bundestagsplenum: Erst gesetzgeberischen Sacharbeit liegt in den Arbeitsgruppen bzw. wenn gesichert ist, dass sich Regierung und Mehrheit, zumin- Arbeitskreisen der Fraktionen. Deshalb bezeichnet sie der Poli- dest im Großen und Ganzen, einig sind, wird ein Entwurf in tikwissenschaftler J rgen von Oertzen als „Kern der parlamen- den f rmlichen Gang der Gesetzgebung eingespeist. Die Kabi- tarischen Willensbildung“. nettsvorlage wird dem Bundesrat, der Länderkammer, f r eine Im Laufe der Ausschussarbeit k nnen die Abgeordneten von erste Stellungnahme zugeleitet, die auch erster Durchgang ge- der M glichkeit Gebrauch machen, in fentlichen Anh run- nannt wird. Liegt diese nach spätestens sechs Wochen vor, f gt gen, sogenannten Hearings, externen Sachverstand einzuho- die Regierung sie samt ihrer Gegenäußerung dem urspr ng- len und die Positionen von Interessengruppen und Betrofenen lichen Entwurf hinzu und bringt die Vorlage beim Bundestag in Erfahrung zu bringen. Mittlerweile fndet zu jedem Gesetz- ein. Damit ist das Parlament bereits ber m gliche Kritikpunk- entwurf von politischer Bedeutung mindestens eine solche te der Länder informiert, die im weiteren Verlauf des Verfah- Anh rung statt, im Schnitt 300 bis 500 pro Wahlperiode. Wich- rens gegebenenfalls zu Einspr chen oder gar zu einer endg l- tigste Ziele sind dabei, die Akzeptanz der geplanten Maßnah- tigen Ablehnung der Gesetzesinitiative f hren k nnen. me auszuloten und im Widerstreit der Experten Öfentlichkeit Erste Lesung: Nachdem der Entwurf als Drucksache an alle f r die eigenen Positionen herzustellen. Bundestagsabgeordneten verteilt wurde, befassen sich zu- Zweite Lesung: Am Ende der Arbeit steht der Bericht ans nächst die Fraktionen damit, und das heißt in erster Linie de- Plenum. Er enthält die Empfehlung, den Gesetzentwurf in der ren „zuständige“ Arbeitsgruppen bzw. -kreise. Ist eine erste vom Ausschuss verabschiedeten Fassung zu beschließen, des Meinungsbildung erfolgt, einigt man sich im Ältestenrat ber Weiteren die Gr nde, wenn der Ausschuss von der Regierungs- den weiteren zeitlichen wie organisatorischen Ablauf, insbe- vorlage abgewichen ist, sowie gegebenenfalls die Ansichten sondere ber die zu beteiligenden Aussch sse, die federf h- berstimmter Minderheiten. Auch das Abstimmungsverhalten rend und mitberatend die Vorlage bearbeiten sollen. F rmlich wird mitgeteilt. Der Bericht bildet die Grundlage f r die Zweite wird dieses Verfahren in der sogenannten Ersten Lesung des Lesung im Plenum des Bundestages. Dies ist der Zeitpunkt f r Gesetzes vom Plenum des Bundestages beschlossen. die politisch-inhaltliche Debatte zwischen Regierungsmehrheit Diese Lesung dient nicht dazu, sich mit der Initiative sach- und Opposition. Dabei geht es nach all den Beratungen in Frak- politisch zu befassen, sondern soll demokratische Transparenz tionen und Aussch ssen nicht mehr darum, die jeweils andere herstellen: Die B rgerinnen und B rger k nnen so Kenntnis er- Seite zu berzeugen; vielmehr soll hier der Öfentlichkeit ge- halten, welche Themen auf der politischen Tagesordnung ste- zeigt werden, wer aus welchen Gr nden wof r steht.
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Jeder bzw. jede Abgeordnete hat in dieser Zweiten Lesung das Demokratie mit ihrer Handlungseinheit aus Parlamentsmehr- Recht, Änderungsanträge einzubringen. Theoretisch ist dies heit und Regierung auch genauso beabsichtigt, und zweitens vor allem wichtig f r fraktionslose MdBs, die es allerdings bleiben deshalb Minister und Beamte letztlich immer von der nur selten gibt. Aber auch f r die fraktionsgebundenen Ab- Kooperations- und Zustimmungsbereitschaft der Abgeordne- geordneten ist dieses Recht bedeutsam: Es verpfichtet näm- ten abhängig. Auch die Orientierung der Bundestagsmitglie- lich die Fraktionsf hrung dazu, abweichende Positionen ihrer der an efektiver Erledigung ihrer Aufgaben und ihr Interesse, Angeh rigen ernst zu nehmen, Zweifelnde argumentativ zu ber Spezialisierung und Teamgeist im Parlament pers nlich berzeugen oder durch Kompromisse einzubinden. Sonst ris- wirkungsmächtig zu sein, sind weitere Gegengewichte zu ei- kiert sie, dass in der Debatte ber das Gesetz der Mangel an ner insofern nur auf den ersten Blick als bermächtig erschei- Geschlossenheit durch Einbringung von Änderungsanträgen nenden Exekutive. aus den eigenen Reihen fentlich wird und bei der Wähler- Beteiligung des Bundesrates: Mit der Behandlung im Bun- schaft den Eindruck der Schwäche erweckt. Weil die Fraktio- destag ist der Gesetzgebungsprozess in der f deral geglieder- nen sich des Drohpotenzials solcher Änderungsanträge be- ten Bundesrepublik Deutschland noch nicht abgeschlossen. wusst sind, verhalten sie sich entsprechend, und es kommt Die Länderkammer, der Bundesrat, hat ein gewichtiges Wort nur selten zu Anträgen einzelner Abgeordneter in der Zwei- mitzusprechen, denn es sind die Länder, die den gr ßten Teil ten Lesung. der Bundesgesetze vollziehen. So liegt es nahe, ihre adminis- Die Opposition bringt naturgemäß häufger Änderungsan- trativen Kenntnisse und Erfahrungen schon fr hzeitig in die träge ein, um ihre Gegenpositionen der Öfentlichkeit begr n- Gesetzgebungsverfahren einzubeziehen. det zu präsentieren. Damit verfolgt sie vor allem das Ziel, nicht Jeder Gesetzesbeschluss des Bundestages muss darum dem nur als bloße Neinsagerin zu erscheinen, sondern konstruktiv Bundesrat zugeleitet werden. Handelt es sich um Materien, die zu wirken – eine unverzichtbare Orientierung angesichts einer auch Belange der Bundesländer betrefen, insbesondere in de- in Deutschland vorherrschenden Politischen Kultur, die die Op- ren Verwaltungsverfahren oder Finanzen eingreifen, ist die Zu- position eher als Kooperationspartner denn als Gegenspieler stimmung des Bundesrates zwingend erforderlich, damit ein der Regierung verstehen m chte. Daraus erklärt sich im Übri- Gesetz zustande kommt. In allen anderen Fällen hat der Bun- gen auch, warum im Bundestag regelmäßig (außer zu Zeiten desrat das Recht, Einspruch einzulegen, der aber vom Bundes- Großer Koalitionen) zwischen 15 und 20 Prozent der Gesetzes- tag wiederum berstimmt werden kann. initiativen von der Opposition ausgehen, obwohl diese keine Vermittlungsausschuss: Es besteht die M glichkeit, einen Chance auf eine Mehrheit f r ihre Vorlagen hat. Vermittlungsausschuss anzurufen, um Meinungsverschieden- Das Gegenbeispiel fnden wir im House of Commons, dem heiten ber eine Gesetzesvorlage zu beseitigen. Dieser setzt britischen Unterhaus. Dort agiert die Opposition klassisch sich aus 16 nach Fraktionsstärke berufenen Abgeordneten kompetitiv, also wettbewerbsorientiert, und beschränkt sich des Bundestages und 16 Vertretern des Bundesrates, je einem strikt darauf, den B rgerinnen und B rgern in fentlicher De- pro Bundesland, zusammen. Existieren parteipolitisch unter- batte ihre Kritik an der Regierung zu vermitteln. schiedliche Mehrheiten in den beiden Kammern, hat der Ver- Dritte Lesung: In aller Regel schließt sich an die Zweite Le- mittlungsausschuss besonders viel zu tun, denn die im Bun- sung umgehend die Dritte Lesung, die Schlussabstimmung, an. destag mit ihren Vorstellungen unterlegene Opposition wird Dabei ermittelt der Bundestagspräsident die Ja- und Neinstim- nat rlich versuchen, ihre Mehrheit im Bundesrat daf r zu nut- men sowie die Enthaltungen. Die Abgeordneten erheben sich zen, Korrekturen am Gesetz vorzunehmen. dazu von ihren Plätzen oder geben Handzeichen. Ist der Sit- So musste die Kohl-Regierung in der 12. und 13. Wahlperiode, zungsvorstand sich nicht ber das Ergebnis einig oder muss bei als die SPD-gef hrten Landesregierungen im Bundesrat ber bestimmten Beschl ssen festgestellt werden, ob die erforder- die Mehrheit verf gten, 166-mal hinnehmen, dass ihre Vor- liche qualifzierte Mehrheit erreicht ist, ordnet der amtierende haben im Vermittlungsausschuss verhandelt wurden; und die Präsident den sogenannten Hammelsprung an, das heißt die rot-gr ne Regierungsmehrheit unter Kanzler Schr der hatte genaue Auszählung der Stimmen. zwischen 1998 und 2005 in 175 Fällen mit der unionsgef hrten Namentliche Abstimmungen sind die große Ausnahme. Sie Bundesratsmehrheit im Vermittlungsausschuss nach Kompro- k nnen von einer Fraktion (bzw. Abgeordneten in Fraktions- missen f r ihre Gesetzesbeschl sse zu suchen. Nur 73 dieser stärke) beantragt werden und dienen dazu, das individuelle insgesamt 341 Vermittlungsverfahren blieben erfolglos, sodass Abstimmungsverhalten der Abgeordneten transparent zu ma- dem Ausschuss viel Respekt gezollt, er allerdings auch gele- chen und im Protokoll zu dokumentieren. Dies wird von den gentlich als „heimlicher Gesetzgeber“ etikettiert wurde. Fraktionen entweder als Methode benutzt, um den Wählerin- In den nachfolgenden drei Wahlperioden während der Kanz- nen und Wählern eindrucksvoll ihr Engagement zu beweisen lerschaft Merkels kam es weit seltener zur Anrufung des Ver- oder um den politischen Gegner bei Uneinigkeit in dessen La- mittlungsausschusses. In der 16. Wahlperiode, als die CDU mit ger strategisch zu trefen: So kann die mangelnde Geschlossen- der SPD regierte, wurde der Vermittlungsausschuss 18-mal an- heit der Gegenseite vorgef hrt werden, oder man kann politi- gerufen, in nur einem Fall versagte der Bundesrat dennoch die sche Positionen auf diese Weise besonders anprangern. Zustimmung. Während der daraufolgenden schwarz-gelben Im Saldo lässt sich dem Bundestag bescheinigen, dass er Koalition musste der Ausschuss bei 44 Gesetzesbeschl ssen im Sinne der Typologie als feißiges Arbeitsparlament gelten tätig werden, zw lf davon scheiterten am Widerstand der Län- kann. In den arbeitsteiligen Strukturen ihrer Fraktionen legen derkammer. In der dritten Großen Koalition von 2013 bis 2017 die Abgeordneten erhebliche Efzienz an den Tag und k nnen – wurde der Vermittlungsausschuss dagegen nur dreimal zu entgegen einer gängigen populistischen Behauptung – keines- Rate gezogen, war aber in zwei Fällen nicht erfolgreich. wegs als Spielbälle von Regierung und Ministerialb rokratie Stellt man in Rechnung, dass der Bundestag pro Jahr zwischen abgetan werden. Diese haben zwar den Vorteil der Initiative 170 und 200 Gesetzesvorlagen behandelt, spiegeln diese Zahlen und der personellen sowie materiellen Ressourcen zu ihrer zum einen die erhebliche Kompromissfähigkeit und Repräsen- Ausarbeitung. Doch erstens ist dies in der parlamentarischen tationsleistung des Parlaments wider. Zum anderen sind sie al-
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alliance / dpa Bernd picture
Rudoph / StadtLandMensch-Fotografe Rudoph / StadtLandMensch-Fotografe äuer ank Br | Fr ank Br äuer Daniel © Daniel © Bundesrat
Neben Handzeichen gibt es weitere Formen, um im Bundestag ber Gesetzesvorhaben abzustimmen: den „Hammelsprung“ oben, am 28. Juni 2018 im Bundestag oder die namentliche Abstimmung, wie unten links zum Etat des Bundeskanzleramts im Rahmen des Bundeshaushalts 2019, am 2. November 2018. Kann ber einen Gesetzesbeschluss keine Einigung zwischen Bundestag und Bundesrat erzielt werden, wird der Vermittlungsausschuss eingeschaltet, Tagung am 9. September 2015.
lerdings auch das Resultat eines drastischen Wandels der Mehr- desregierungen ihre Stimmen im Bundesrat nur einheitlich heitsverhältnisse im Bundesrat. Zwar waren schon seit 1969 abgeben k nnen, f hrt diese Vielfalt dazu, dass Mehrheiten in gleichgerichtete parteipolitische Mehrheiten in Bundestag und der Länderkammer schwerer zu erreichen sind und kaum im Bundesrat die Ausnahme, aber es waren eben nur vier Parteien – Vorwege kalkuliert werden k nnen. CDU/CSU, SPD und FDP –, die sich in unterschiedlichen Koali- Dies d rfte den Gesetzgebungsprozess im Bund durchaus tionskonstellationen in Bundestag und Bundesrat gegen ber- erschweren. Seit der zweiten Wahlperiode bedurften regelmä- standen und gesetzgeberische Konfikte l sen mussten. ßig zwischen 50 und 60 Prozent aller Gesetzesvorlagen, die der Mittlerweile werden in den Bundesländern aber die poli- Bundestag verabschiedete, der Zustimmung durch den Bun- tischen Lager bergreifende Regierungsb ndnisse gebildet, desrat. Damit erh hte sich dessen Einfusspotenzial erheblich. sodass gegenwärtig nicht weniger als elf verschiedene Par- Zwar scheiterten letztlich nur wenige Gesetze an einer opposi- teikombinationen die Landesregierungen stellen. Sie reichen tionellen Mehrheit in der Länderkammer – von 1949 bis 2005 von den „klassischen“ Formaten der Großen (CDU/SPD) und h chstens ein Dutzend pro Wahlperiode, was durchschnittlich kleinen Koalitionen (SPD/Gr ne und CDU/FDP) ber B nd- nur gut einem Prozent aller vom Bundestag verabschiedeten nisse aus Gr nen und Christdemokraten bis zu „Jamaika“ und Gesetze entsprach; aber darunter befanden sich zentrale Re- „Kenia“, also CDU/Gr ne/FDP und CDU/SPD/Gr ne. Da die Lan- formvorhaben der jeweiligen Regierungskoalition.
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Außerdem darf die antizipierende Wirkung nicht unterschätzt ge fnet. Die Gr nen sorgten kurzzeitig f r einen Anstieg der werden, die im Vorhinein von der Kenntnis dieses Sachverhalts fentlichen Sitzungen, indem sie die Versammlungen ihrer ausgeht: Weiß die Bundestagsmehrheit, dass ihre Gesetze auf Fraktion f r das allgemeine Publikum zugänglich machten. eine gegnerische Parteienmehrheit im Bundesrat trefen, wird Die Erfahrung, wie gnadenlos negativ anschließend mit den sie oft schon im Vorwege Kompromisse schließen (m ssen). dort ausgetragenen Kontroversen in den Medien umgegangen Die massiven Blockadevorw rfe, die aus diesen Zusammen- wurde, veranlasste die Fraktion jedoch rasch, diesen Versuch zu hängen heraus wiederholt an den Bundesrat und die dort ver- beenden. Denn sie hatte nicht das erhofte bessere Verständnis tretenen Landesregierungen gerichtet wurden, erschienen oft f r die politischen Willensbildungsprozesse erreicht, sondern aus taktischen Gr nden bertrieben und vernachlässigten zu- die bekannte Kritik, teilweise auch Abstrafung f r „mangelnde meist die positiven Efekte, die jahrzehntelang von der Aufga- Geschlossenheit“ geerntet. Seit 1990 tagen die B ndnisgr nen benzuweisung im deutschen Bundesstaat ausgingen. wieder in nicht- fentlichen Sitzungen und präsentieren nach Im Kern war die Kritik aber nicht von der Hand zu weisen M glichkeit, wie die anderen Fraktionen auch, erst dann ihre und trug mit dazu bei, dass es im Sommer 2006 schließlich Positionen der Öfentlichkeit, wenn nicht mehr der Vorwurf nach etlichen Anläufen gelang, eine F deralismusreform auf der Zerstrittenheit, der F hrungs- und Handlungsunfähigkeit den Weg zu bringen. Die Grundgesetzänderungen, die in die- erhoben werden kann. sem Zusammenhang verabschiedet wurden, sollten eine Ent- Ofenbar erweist sich also immer noch als zutrefend, was fechtung der Aufgaben von Bund und Ländern bewirken. Die Otto von Bismarck, deutscher Reichskanzler von 1871 bis 1890, Hofnung, dass damit auch die Zahl der zustimmungsbed rfti- behauptet hatte: Die Herstellung von W rsten und das Gesetze gen Gesetze sinken w rde, scheint sich zu erf llen: Bereits in machen hätten gemeinsam, dass man schlecht schlafe, wenn der 16. Wahlperiode reduzierte sich ihr Anteil an der Gesetz- man sähe, wie es geschieht. Dennoch werden immer wieder gebung auf 41,8 Prozent und im 17. Bundestag auf 38,3 Prozent. Forderungen nach mehr Transparenz an die politischen In- Auch die Einspr che des Bundesrates gegen jene Gesetzesvor- stitutionen herangetragen und dies aus guten Gr nden: Nur lagen, die nicht seiner Zustimmung bed rfen, bewegen sich in wenn sich die B rgerinnen und B rger ein realistisches Bild aller Regel im einstelligen Bereich. von den Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen ma- So gelang es dem Deutschen Bundestag, die Gesetzgebungs- chen k nnen, sind sie auch zu einem angemessenen Urteil funktion in den fast siebzig Jahren seines Bestehens durch fähig. Nur wenn ihnen verschiedene Problemsichten und L - sachpolitische Expertise und Verhandlungen im Bundesstaat, sungsalternativen von den Politikern präsentiert werden, k n- durch Repräsentation der vielfältigen Interessen in der Gesell- nen sie eine Wahl trefen, wird Wahl im pluralistisch-demokra- schaft und deren Ausgleich zu erf llen. tischen Sinne sogar erst m glich. Mit der parlamentarischen Letztentscheidung erfährt das Ge- setz schließlich seine demokratische Legitimation. Nur durch sie Die Plenardebatte wird Allgemeinverbindlichkeit erreicht, also die Verpfichtung Genau diesem Zweck dient die parlamentarische Debatte. Im aller B rgerinnen und B rger, dem Gesetz Folge zu leisten. Die Bundestag fnden pro Jahr etwa sechzig Plenarsitzungen statt. formellen Schlusspunkte im Gesetzgebungsverfahren setzen Die dort gehaltenen Reden sollen den B rgerinnen und B r- die Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler oder den zustän- gern die unterschiedlichen Standpunkte der Fraktionen von digen Bundesminister, die Ausfertigung durch den Bundesprä- Regierungsmehrheit und Opposition darstellen und begr n- sidenten und die Verk ndung im Bundesgesetzblatt. den. Das Ringen um die beste L sung bei komplexen Sach- fragen, die gegenseitige Überzeugung und das Aushandeln von Kompromissen f r die „gerechte“, die gemeinverträgliche Entscheidung kann naturgemäß nicht in einer Versammlung Wahrnehmung der Öfentlichkeitsfunktion mit hunderten von spontan diskutierenden Personen gesche- hen. Wichtiger noch: Die oben beschriebene Logik des parla- Vor- und Nachteile der Transparenz mentarischen Regierungssystems verlangt die – vom Wähler Wird dem Bundestag in wissenschaftlichen Untersuchungen so gewollte und legitimierte – F hrung durch die Mehrheit bescheinigt, seine Gesetzgebungsfunktion weit berwiegend einerseits und ofene Kritik durch die Opposition andererseits. gut wahrgenommen zu haben, so fällt das Urteil hinsicht- Entsprechend sind die geschilderten Arbeitsstrukturen des lich der Erf llung seiner Öfentlichkeitsfunktion weniger g ns- Bundestages angelegt. In ihnen werden die Positionen geklärt tig aus. und die Entscheidungen vorbereitet. In der Plenardebatte wird Der Bundestag hat sich nicht, wie anfänglich erwartet, zu daf r dann fentlich die Verantwortung bernommen – von einer Mischform von Arbeits- und Redeparlament entwickelt. der Mehrheit f r die von ihr durchgesetzte Politik, von der Op- Schon bald lautete die Kritik, es werde im Bonner Parlament position f r deren Kritik und Ablehnung. zu viel hinter verschlossenen T ren verhandelt. In den ersten Deshalb ist es sachlich auch nicht erforderlich, dass alle Abge- drei Wahlperioden kamen auf eine fentliche Sitzung fast ordneten an der Plenardebatte teilnehmen, wie es angesichts zwanzig nicht- fentliche. Dieses Verhältnis verbesserte sich „leerer Bänke“ im Bundestag immer wieder gefordert wird. zwar in den Folgejahren, doch geschah dies vor allem, weil die Das oft wie eine Entschuldigung angef hrte Argument, dass Anzahl der Ausschusssitzungen drastisch abnahm. Einen ge- die Parlamentarier gleichzeitig etwa in Aussch ssen arbeiten wissen fentlichen „Lichtblick“ stellte die vermehrte Nutzung m ssten, trift ohnehin nicht zu, denn solche Überschneidun- der Hearings seit 1961 dar; aber auch noch zum 40. Jubiläum gen sieht der Terminplan des Bundestages nur in seltenen Aus- des Bundestages 1989 gab es genug Grund, das Parlament an nahmefällen vor. Betrachtet man diese Frage allerdings unter seinen Verfassungsauftrag zu erinnern: Artikel 42 GG fordert, der Perspektive efektiver Zeitnutzung der Abgeordneten, m s- dass der Bundestag fentlich verhandelt. sen sich im Plenum tatsächlich nur jene einfnden, die das je- Erst seit Mitte der 1990er-Jahre werden in der Praxis häuf- weils anstehende Thema auch behandelt haben und folglich ger die T ren von Aussch ssen und Enquete-Kommissionen zu seiner fentlichen Darstellung inhaltlich etwas beitragen
62 Informationen zur politischen Bildung Nr. 341/2019 Funktionserfüllung im Fraktionenparlament
k nnen. So verhalten sich in der Regel auch die Bundestagsab- geordneten und gehen, wenn sie nicht mit ihrem Sachverstand f r ihre Fraktion gefordert sind, vern nftigerweise anderen Aufgaben nach. Der Bundestag hat auf die anhaltende Kritik an der nicht be- friedigenden Erf llung seiner Öfentlichkeitsfunktion reagiert. Inzwischen werden häufger Sitzungen von Aussch ssen und Enquete-Kommissionen ge fnet und auch vom Parlaments- fernsehen bertragen. Seit drei Wahlperioden stehen einer fentlichen Sitzung nur noch zwischen drei und vier nicht- fentliche gegen ber. Weitere Bem hungen, zum Beispiel durch Öfentlichkeitsarbeit, Besucherprogramme, durch Ausstellun- M ller gen und Publikationen realitätsgerecht ber die Arbeit des J rg F.
Parlaments zu informieren, treten hinzu. Allerdings haben sich die Bedingungen f r die Vermittlung von Politik, die Formen, in denen ber politische Inhalte infor- miert und diskutiert wird, ber die letzten Jahrzehnte deutlich verändert. Im Vordergrund steht nicht mehr der pers nliche © Deutscher Bundestag/J rg M ller F. Kontakt zwischen Abgeordneten und Wählerschaft, etwa bei / © Deutscher Bundestag Veranstaltungen oder B rgersprechstunden im Wahlkreis, oder aber das geschriebene Wort, etwa in der Presse sowie in Ver-