Plenarprotokoll 12/21

Deutscher

Stenographischer Bericht

21. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Inhalt:

Begrüßung des Präsidenten der Föderalver- I. Gesetzliche Regelungen für die Lage- sammlung der Tschechischen und Slowaki- rung, Verwaltung, Sicherung und schen Föderativen Republik, Herrn Dub- Nutzung von Unterlagen und Daten cek 1305A - des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit Begrüßung des Vizepräsidenten des litaui schen Parlaments und einer Delegation 1305 B II. Gesetzliche Regelungen für die Lage- rung, Verwaltung, Sicherung und Nutzung staatsbezogener Parteiakten Erweiterung der Tagesordnung 1305 C der SED, der Blockparteien und von Massenorganisationen in der ehema- ligen DDR Tagesordnungspunkt 4: — Drucksache 12/283 — Überweisung im vereinfachten Verfahren c) Beratung des Antrags der Abgeordneten a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Ingrid Köppe und der Gruppe BÜNDNIS rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- 90/DIE GRÜNEN: Gesetzliche Regelung setzes zu der Dritten Änderung des Über- von Sicherheitsüberprüfungen sowie einkommens über den Internationalen künftiger beruflicher Einsatzmöglich- Währungsfonds (Drucksache 12/336) keiten von ehemaligen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit b) Erste Beratung des von der Bundesregie- (Drucksache 12/284) rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Änderung von Vorschriften Johannes Gerster (Mainz) CDU/CSU . . . 1306 C über das Schuldnerverzeichnis (Druck- sache 12/193) 1305 D Dr. Willfried Penner SPD 1307 C Gerhard Reddemann CDU/CSU 1308B, 1314 B Tagesordnungspunkt 5: Gerd Wartenberg () SPD 1310 C a) Erste Beratung des von dem Abgeordne- Dr. Jürgen Schmieder FDP 1312 A ten Johannes Gerster (Mainz), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste . 1313 C CSU sowie dem Abgeordneten Dr. Burk- hard Hirsch, weiterer Abgeordneter und Ingrid Köppe Bündnis 90/GRÜNE . . 1314 A der Fraktion der FDP eingebrachten Ingrid Köppe Bündnis 90/GRÜNE . . . 1315B Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesarchivgesetzes (Drucksache Hartmut Büttner (Schönebeck) CDU/CSU 1316D 12/288) Dr. Eberhard Brecht SPD 1317 B b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste 1317 C Ingrid Köppe und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Johannes Gerster CDU/CSU 1317 D II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Rolf Schwanitz SPD 1319C Zusatztagesordnungspunkt 3: Dr. Burkhard Hirsch FDP 1321 C Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses zu . . . 1322 C Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste der dem Deutschen Bundestag zugeleite- Dr. Rudolf Krause (Bonese) CDU/CSU 1323 A ten Streitsache vor dem Bundesverfas- Dorle Marx SPD 1324 C sungsgericht 2 BvE 3/91 (Drucksache 12/378) 1348A Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMI 1326A Zusatztagesordnungspunkt 4: Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste . . . 1327 D Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 7 Tagesordnungspunkt 6: zu Petitionen (Drucksache 12/173) . . 1348A a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesre- Tagesordnungspunkt 3 (Fortsetzung) : gierung an den Deutschen Bundestag Fragestunde die Gleichstellungsstellen in Bund, über — Drucksache 12/351 vom 12. April Ländern und Gemeinden (Drucksache 1991 — 11/4893) b) Beratung der Unterrichtung durch die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung Bundesregierung: Bericht der Bundesre- im Zusammenhang mit dem Lebensrecht un- gierung zur Umsetzung der „Richtlinie geborener Kinder und den Gesundheitsge- zur beruflichen Förderung von Frauen in fahren bei Abtreibungen der Bundesverwaltung" — Berichtszeit- MdlAnfr 7, 8 raum 1986 bis 1988 — Claus Jäger CDU/CSU Anlage: Neufassung der Richtlinie zur beruflichen Förderung von Antw PStSn Roswitha Verhülsdonk BMFuS 1348 D Frauen in der Bundesverwal- ZusFr Claus Jäger CDU/CSU 1349 A tung vom 24. Februar 1986 — Frauenförderungs-Richtli- ZusFr Hubert Wilhelm Hüppe CDU/CSU . 1349 D nie ZusFr Uta Würfel FDP 1350B —- Kabinettsbeschluß vom 25. September 1990 (Drucksa- Konsequenzen aus der Ankündigung deut- che 11/8129) scher Ärzte zur Verweigerung der Behand- Dr. , Bundesministerin lung amerikanischer Soldaten im Zusam- BMFJ 1328D menhang mit dem Golfkrieg Dr. Marliese Dobberthien SPD 1331 A MdlAnfr 9 Ilse Falk CDU/CSU Ilse Frank CDU/CSU 1333 B Antw PStSn Dr. Sabine Bergmann-Pohl Petra Bläss PDS/Linke Liste 1335 A BMG 1350D Christina Schenk Bündnis 90/GRÜNE . 1336 B Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink FDP . 1337 D Schicksal der bisherigen Mitarbeiter der Herder-Institute der früheren DDR Dr. Konrad Elmer SPD 1340 C MdlAnfr 14 Hanna Wolf SPD 1340 D Gerhard Reddemann CDU/CSU Dr. Maria Böhmer CDU/CSU 1342 B Antw StMn Ursula Seiler-Albring AA . . 1351A 1344 A Renate Rennebach SPD ZusFr Gerhard Reddemann CDU/CSU . . 1351 B Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast SPD . . . 1344 C Susanne Rahardt-Vahldieck CDU/CSU . . 1346A, Entscheidung des BMV gegen die Einfüh- 1347 C rung des Halbpreispasses bei der Bundes- bahn Elke Ferner SPD 1347 C MdlAnfr 40 Tagesordnungspunkt 7: Ulrike Mehl SPD Beratung ohne Aussprache Antw PStSekr Dr. Dieter Schulte BMV . . 1351 C Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses zu Vorgaben der Bundesregierung für die Tarif- der Unterrichtung durch die Bundesre- gestaltung der Bundesbahn gierung MdlAnfr 41 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates Lydia Westrich SPD über die Einrichtung eines Versiche- Antw PStSekr Dr. Dieter Schulte BMV . 1351 D rungsausschusses (Drucksachen 12/152 Nr. 1, 12/270) 1348A ZusFr Lydia Westrich SPD 1351 D Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 III

Auftragsstopp für die Bundesbahn-Ausbes- Tagesordnungspunkt 8: serungswerke Saarbrücken und Kaiserslau- Erste Beratung des von der Bundesregie- tern; Vergabe der Aufträge an die Ausbesse- rung eingebrachten Entwurfs eines ... rungswerke der Reichsbahn; Beurteilung der Strafrechtsänderungsgesetzes — Zwei- Vorteile der Standorte im Saarland gegen- tes Gesetz zur Bekämpfung der Umwelt- über Standorten in Ballungsgebieten kriminalität (Drucksache 12/192) MdlAnfr 42, 43 Elke Ferner SPD in Verbindung mit Antw PStSekr Dr. Dieter Schulte BMV 1352A, C Zusatztagesordnungspunkt 5: ZusFr Elke Ferner SPD 1352A, C Erste Beratung des von dem Abgeordne- ten Hermann Bachmaier, weiterer Abge- Vereinbarkeit des beschleunigten Ausbaus ordneter und der Fraktion der SPD einge- des Straßenverkehrsnetzes in den neuen brachten Entwurfs eines Strafrechtsän- Bundesländern mit den Zielen des Klima- derungsgesetzes — Zweites Gesetz zur schutzprogramms; Schutz der Straßen- Bekämpfung der Umweltkriminalität alleen (Drucksache 12/376) MdlAnfr 44, 45 Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister BMJ . 1369 C Dr. Klaus-Dieter Feige Bündnis 90/GRÜNE Hermann Bachmaier SPD 1371 B Antw PStSekr Dr. Dieter Schulte BMV . . 1352D, Cornelia Yzer CDU/CSU 1373 A 1354 A Jörg van Essen FDP 1375 B ZusFr Dr. Klaus-Dieter Feige Bündnis 90/ Jutta Braband PDS/Linke GRÜNE 1353A, 1354 A Liste 1376 B Dietmar Schütz SPD 1377 A ZusFr Ernst Schwanhold SPD 1353 C Tagesordnungspunkt 9: Einfuhrgenehmigung für den Handel mit geschützten Tierarten Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines MdlAnfr 46 Gesetzes über Gruppenbetriebe in Ulrike Mehl SPD der Landwirtschaft (GBLG) (Drucksache 12/314) Antw PStSekr Bernd Schmidbauer BMU 1354 B Karl-Heinz Schröter SPD 1379 C ZusFr Ulrike Mehl SPD 1354 C Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/ Zusatztagesordnungspunkt 2: CSU 1381 D Aktuelle Stunde betr. Geheime Einstu- Jan Oostergetelo SPD . . . . 1383D, 1386A fung des Berichts der Bundesregierung Dr. Fri zu den Irak-Rüstungsexportgeschäften tz Schumann (Kroppenstedt) PDS/ Linke Liste unter Berücksichtigung der Erforder- 1384 B nisse der Waffenstillstandsbedingungen Detlef Kleinert (Hannover) FDP 1385 D im Irak Rainer Funke, Parl. Staatssekretär BMJ . 1387 C Vera Wollenberger Bündnis 90/GRÜNE 1355 A Gudrun Weyel SPD 1389 A Peter Kittelmann CDU/CSU 1356 B Dr. Gerald Thalheim SPD . . 1389 C Hermann Bachmaier SPD 1357 B Detlef Kleinert (Hannover) FDP . . . . 1390A Dr. Heinrich Kolb FDP 1358 A Joachim Graf von Schönburg-Glauchau Ursula Jelpke PDS/Linke Liste 1359 A CDU/CSU 1391 B Jürgen W. Möllemann, Bundesminister Ulrich Junghanns CDU/CSU 1392 C BMWi 1360A Horst Sielaff SPD 1393 A Horst Eylmann CDU/CSU 1362 B Gottfried Haschke (Großhennersdorf) CDU/ Uta Zapf SPD 1363 B CSU 1394 D Ernst Hinsken CDU/CSU 1364 A Tagesordnungspunkt 10: Ernst Schwanhold SPD 1365 B Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- Reinhard Freiherr von Schorlemer CDU/ setzes über die zwanzigste Anpassung CSU 1366B der Leistungen nach dem Bundesversor- Günter Verheugen SPD 1367 A gungsgesetz (KOV-Anpassungsgesetz 1991 — KOVAnpG 1991) (Drucksache Rainer Haungs CDU/CSU 1368 A 12/335)

IV Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Horst Günther, Parl. Staatssekretär BMA 1395 D Anlage 2 Barbara Weiler SPD 1396 B Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesord- Dr. Eva Pohl FDP 1397 D nungspunkt 12 (Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. Dezember 1990 zwi- Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste 1398 B schen der Bundesrepublik Deutschland und Heinz-Jürgen Kronberg CDU/CSU . . . 1398 D der Republik Polen über Soziale Sicherheit) 1417* B Dieter Heistermann SPD 1399 B Anlage 3 Tagesordnungspunkt 11: Betreibung eines Geheimdienstes in Angola Beratung des Antrags des Abgeordneten mit Hilfe von Staatsangehörigen der ehema- Achim Großmann, weiterer Abgeordne- ligen DDR ter und der Fraktion der SPD: Belebung

des Neubaues und der Modernisierung MdlAnfr 13 — Drs 12/351 — von Wohnungen in den alten und neuen Ortwin Lowack CDU/CSU Bundesländern (Drucksache 12/338) SchrAntw StMn Ursula Seiler - Albring AA 1417* C Achim Großmann SPD 1399D Dr.-Ing. Dietmar Kansy CDU/CSU . . . 1401 C Anlage 4 Christina Schenk Bündnis 90/GRÜNE . . 1403 B Intervention zum Schutz der von der iraki- Dr. Walter Hitschler FDP 1404 B schen Soldateska verfolgten Kurden; huma- Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste 1405 B nitäre Hilfe für die aus dem Irak in die Türkei flüchtenden Kurden Dr. Walter Hitschler FDP 1405 C

MdlAnfr 15, 16 — Drs 12/351 — Joachim Günther, Parl. Staatssekretär Rudolf Bindig SPD BMBau 1406A Siegfried Scheffler SPD 1407 B SchrAntw StMn Ursula Seiler -Albring AA 1417* D Peter Götz CDU/CSU 1409 D Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . . 1411B Anlage 5 Korrektur des Truppenstatuts zur Herstel- Tagesordnungspunkt 12: lung der Gleichbehandlung der deutschen Erste Beratung des von den Fraktionen Zivilbeschäftigten bei den verbündeten der CDU/CSU und FDP eingebrachten Streitkräften mit den Bediensteten der Bun- Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkom- deswehr men vom 8. Dezember 1990 zwischen der MdlAnfr 17 — Drs 12/351 — Bundesrepublik Deutschland und der Albrecht Müller (Pleisweiler) SPD Republik Polen über Soziale Sicherheit (Drucksache 12/303) SchrAntw StMn Ursula Seiler-Albring AA 1418* D Gerhard Scheu CDU/CSU 1411D

Günther Heyenn SPD 1412 D Anlage 6 Dr. Gisela Babel FDP 1414 B Einrichtung einer Untertagedeponie in den Horst Günther, Parl. Staatssekretär BMA . 1415B Kali-Stollen bei Bernburg (Sachsen-Anhalt); alternative Standorte Nächste Sitzung 1416C MdlAnfr 47, 48 — Drs 12/351 — Dr. Eberhard Brecht SPD Anlage 1 SchrAntw PStSekr Bernd Schmidbauer Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 1417* A BMU 1419* A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1305

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Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich eröffne die Sit- Ich wünsche Ihnen in der Bundesrepublik gute Ge- zung. spräche. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir in die (Beifall im ganzen Hause) Tagesordnung eintreten, möchte ich auf der Ehrentri- Nun komme ich zu amtlichen Mitteilungen. Nach büne den Präsidenten der Föderalversammlung der einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbun- Tschechischen und Slowakischen Föderativen Repu- dene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte blik, Herrn Dubcek, ganz herzlich im Deutschen Bun- sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste auf- destag willkommen heißen. geführt: (Lebhafter Beifall im ganzen Hause) 1. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zu den Aus- wirkungen des vom Ministerpräsidenten des Freistaates Sie haben in diesen Tagen Ihren Besuch in der Bun- Sachsen für die nächsten Jahre dargestellten Finanzbedarfs desrepublik mit einer parlamentarischen Delegation für die neuen Bundesländern im Zusammenhang mit den wahr gemacht und uns in eindrucksvoller Weise be- von der Bundesregierung geplanten Steuerabschaffungen kundet, was es bedeutet, über Jahrzehnte für Men- und Steuersenkungen (In der 20. Sitzung bereits erledigt.) schenrechte , Demokratie und soziale Gerechtigkeit 2. Aktuelle Stunde: Geheime Einstufung des Berichts der Bun- gekämpft zu haben und trotz des bitteren Rückschlags desregierung zu den Irak-Rüstungsexportgeschäften unter Berücksichtigung der Erfordernisse der Waffenstillstands- 1968 und in den folgenden Jahren und trotz der Erfah- bedingungen im Irak rung von militärischer Gewalt und politischer Ohn- macht nicht aufgegeben .zu haben. 3. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses zu der dem Deutschen Bundestag zuge- Mir ist aus vielen Gesprächen und aus der eigenen leiteten Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 3/91 — Drucksache 12/378 — Erfahrung dieser Tage deutlich geworden, wie wich- tig es ist, daß wir unsere parlamentarischen Beziehun- Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: gen ausbauen und festigen und Sie auf dem Weg in Sammelübersicht 7 zu Petitionen — Drucksache 12/173 — ein geeintes Europa unterstützen. Mit der Aussage Erste Beratung des von den Abgeordneten Hermann Bach- „Wir wollen am Ende dieses Jahrhunderts nicht die maier, Dr. Herta Däubler-Gmelin, Harald B. Schäfer, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD eingebrachten Chance verpassen, die uns gegeben ist." nehmen Sie Entwurfs eines Strafrechtsänderungsgesetzes — Zweites uns alle in die Pflicht, erst recht mit Ihren mahnenden Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität — Druck- Worten zu einem Europa der Demokratie und der re- sache 12/376 — gionalen Vielfalt, nicht des Nationalismus, sondern Sind Sie damit einverstanden? — Ich sehe keinen der nationalen Identitäten. Widerspruch. Es ist so vereinbart. Ich glaube, wir haben allen Grund, mit Ihnen zuver- sichtlich zu sein, Sie auf Ihrem Weg kräftig zu unter- stützen und Ihnen nochmals für die nachdrückliche Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 a und b auf: Unterstützung auf unserem Weg zur deutschen Ein- heit zu danken. Herzlichen Dank. Überweisung im vereinfachten Verfahren (Beifall im ganzen Hause) a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Ich denke, es ist ein gutes historisches Zusammen- Dritten Änderung des Übereinkommens über treffen, daß gleichzeitig mit Ihnen im Deutschen Bun- den Internationalen Währungsfonds destag eine parlamentarische Delegation aus Litauen auf der Tribüne Platz genommen hat. Auch Sie — Drucksache 12/336 — möchte ich ganz herzlich begrüßen. Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß (federführend) (Beifall im ganzen Hause) Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Wirtschaft Sie steht unter der Leitung des Vizepräsidenten des Haushaltsausschuß litauischen Parlaments, Herrn Bronius Kuzmickas. Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit 1306 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth b) Erste Beratung des von der Bundesregierung Im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung zwei eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ä n- Stunden vereinbart worden. — Ich sehe keinen Wi- derung von Vorschriften über das Schuldner- derspruch. verzeichnis Das Wort hat der Abgeordnete Herr Gerster. — Drucksache 12/193 — Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß (federführend) Johannes Gerster (Mainz) (CDU/CSU): Frau Präsi- Innenausschuß dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit Finanzausschuß dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Überführung Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Gesetzent- der SED-Unterlagen und der Unterlagen der Massen- würfe an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- organisationen in der ehemaligen DDR in die staatli- schüsse zu überweisen. Der Gesetzentwurf auf der che Verwaltung des Bundesarchivs machen wir heute Drucksache 12/336 soll zusätzlich zur Mitberatung an einen wichtigen, längst fälligen Schritt in Richtung auf den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit die dringend notwendige Aufarbeitung der SED-Ver- überwiesen werden. Sind Sie auch damit einverstan- gangenheit. Wir kommen damit zu einem Thema, das den. — Dann ist das so beschlossen. die Öffentlichkeit in besonderer Weise berührt, insbe- sondere aber diejenigen berühren muß, die über Jahr- zehnte durch das SED-Regime unterdrückt, gequält Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 a bis c auf: und wund geschlagen worden sind. a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Aktenbestände des SED-Parteiarchivs und der Johannes Gerster (Mainz), Wolfgang Zeitl- Massenorganisationen gehören in staatliche Hand. In mann, Dr. Paul Laufs, weiterer Abgeordneter der früheren DDR waren SED und Staat identisch. So und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab- stand es in Art. 1 der Verfassung der ehemaligen geordneten Dr. Burkhard Hirsch, Dr. Jürgen DDR. Der Staatsapparat war komplett unter die Be- Schmieder, Heinz-Dieter Hackel, weiterer Ab- schlüsse und Weisungen des SED-Politbüros unterge- geordneter und der Fraktion der FDP einge- ordnet. brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Bundesarchivgesetzes - Wegen der engen Verflechtung von SED und Staat sind grundsätzlich alle Unterlagen, die hier angefal- — Drucksache 12/288 — len sind, in Wahrnehmung staatlicher Aufgaben ent- Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: standen. Damit sind sie staatliche Unterlagen. Innenausschuß (federführend) Rechtsausschuß Durch das Bundesarchivgesetz muß sichergestellt werden, daß diese Unterlagen auf Dauer gesichert, b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid nutzbar gemacht und zu wissenschaftlichen Zwecken Köppe und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE verwertet werden können. Durch die von den Koali- GRÜNEN tionsfraktionen CDU/CSU und FDP vorgeschlagene I. Gesetzliche Regelungen für die Lagerung, Änderung des Bundesarchivgesetzes soll hierfür nun- Verwaltung, Sicherung und Nutzung von mehr eine eindeutige Rechtsgrundlage geschaffen Unterlagen und Daten des ehemaligen Mi- werden. nisteriums für Staatssicherheit/Amt für Na- Die Unrechtstaten unter der Verantwortung der tionale Sicherheit SED müssen rasch und umfassend aufgeklärt werden. Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezo- Innenausschuß (federführend) gen werden. Unrecht müssen wir beim Namen nen- Rechtsausschuß nen. Straftäter müssen verurteilt werden. Die für frü- II. Gesetzliche Regelungen für die Lagerung, heres Unrecht Verantwortlichen müssen aus Schlüs- Verwaltung, Sicherung und Nutzung selpositionen von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft staatsbezogener Parteiakten der SED, der entfernt werden können. Blockparteien und von Massenorganisatio- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nen in der ehemaligen DDR Für den Gesetzgeber ergibt sich daraus die Not- — Drucksache 12/283 — wendigkeit, Art und Weise der Nutzung von Stasi Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Akten, von SED-Akten und auch von Akten der Mas- Innenausschuß (federführend) senorganisationen umfassend zu regeln. Alle verfüg- Rechtsausschuß baren Aktenbestände und Bibliotheken müssen „zen- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid tral verwaltet" werden. Das heißt nicht — ich sage Köppe und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE dies, um Mißverständnissen vorzubeugen — , daß sie GRÜNEN auch „zentral gelagert" werden müssen. Schon gar Gesetzliche Regelung von Sicherheitsüber- nicht ist daran gedacht, das genannte Material nach prüfungen sowie künftiger beruflicher Ein- Koblenz zu fahren und dort zu lagern. Der günstigste satzmöglichkeiten von ehemaligen Mitarbei- Ort für eine Lagerung der SED-Akten bleibt Berlin, tern des Ministeriums für Staatssicherheit wo sich die Unterlagen zur Zeit auch weitgehend be- finden. — Drucksache 12/284 — Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Neben den Regelungen für SED-Akten und für Ak- Innenausschuß (federführend) ten der Massenorganisationen ist es nötig, die Nut- Rechtsausschuß zung der Stasi-Unterlagen möglichst rasch gesetzlich Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ril 1991 1307

Johannes Gerster (Mainz) zu fixieren. Die Behandlung der Stasi-Problematik, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordenter vor allem ihre strafrechtliche Dimension, aber auch Gerster, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge- sonst die politische, historische und juristische Aufar- ordenten Penner? beitung, ist gegenüber der Behandlung der SED-Ak- ten gesondert zu regeln. Wir brauchen hierfür ein eigenes Gesetz. Johannes Gerster (Mainz) (CDU/CSU) : Dem Kolle- gen Penner immer. Zur Erarbeitung eines Gesetzentwurfs über die Nut- zung von Stasi-Akten haben wir, wie Sie wissen, erste Dr. Wilfried Penner (SPD): Herr Kollege Gerster, Sie Gespräche geführt. Kollege Penner, Kollege Hirsch haben vorhin, wie ich meine, zu Recht ausgeführt, daß und auch Vertreter vom Bündnis 90/GRÜNE sind die Unterlagen der SED weitestgehend staatlichen daran zusammen mit anderen Kollegen beteiligt. Bei Charakter hätten und deshalb auch unter staatliches diesen ersten Gesprächen deutete sich erfreulicher- Regime gehörten. Sie haben sich nicht darüber geäu- weise, wie ich meine, in den Grundfragen ein breiter ßert, wie es mit den Unterlagen der Blockparteien ist, Konsens zwischen der Unionsfraktion, der FDP, der beispielsweise der CDU. SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE an, obwohl wir na- türlich wissen, daß auch hier der Teufel im Detail stek- (Gerhard Reddemann [CDU/CSU]: Und des ken kann. FDGB!) — Einen Augenblick bitte. Die Unterschiede in Einzelpositionen ergeben sich (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Und des FDGB!) aber weniger — auch das finde ich sehr bemerkens- — Einstweilen habe ich das Wort, Herr Kollege. wert — aus Differenzen in Grundsatzfragen oder gar ideologischen Fragen, sondern mehr aus den Aspek- (Gerhard Reddemann [CDU/CSU]: Aber ten der Praktikabilität. Ich bin sicher, daß wir in den Zwischenrufe sind erlaubt!) laufenden Gesprächen hierzu in Kürze weitere Annä- Da auch das in unseren Beratungen eine Rolle ge- herungen der Standpunkte möglich machen. Ich sage spielt hat, hätte ich gerne von Ihnen gehört, wie Sie mit aller Deutlichkeit: Die CDU/CSU-Fraktion wird sich das weitere Schicksal der Unterlagen der Block- das ihr Mögliche unternehmen, um mit breiten Teilen parteien einschließlich der Massenorganisationen dieses Hohen Hauses, mit der FDP, mit der SPD und vorstellen. mit dem Bündnis 90, eine Einigung zu finden. Selbst- verständlich sind die Kollegen der PDS für uns in die- sem Punkt mehr Sachverständige und weniger ge- Johannes Gerster (Mainz) (CDU/CSU): Herr Kol- fragt, an der Gesetzesarbeit mitzuwirken. lege Penner, ich wäre zu diesem Punkt noch gekom- men; aber ich kann das jetzt vorziehen. Für uns ist (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- klar, daß die Akten der SED, der Massenorganisatio- ordneten der FDP) nen wie FDGB und FDJ und der Blockparteien gleich zu behandeln sind, soweit sie staatliche Aufgaben Ich habe in der letzten Runde vorgeschlagen, daß betreffen. sich die bevorstehende parlamentarische Beratung (Beifall bei der CDU/CSU) über dieses Gesetz weitgehend an Eckpunkten orien- Das heißt, für uns ist der Maßstab die Wahrnehmung tieren muß, die zur Zeit von den Fraktionen — morgen staatlicher Aufgaben. Für uns ist nicht Sympathie oder ist der nächste Termin — beraten und formuliert wer- Antipathie zu einzelnen Organisationen der Maßstab. den. Sie können davon ausgehen, daß unsere Fraktion Das ist selbstverständlich. So wollen wir es in diesem diesen breiten Konsens bei der Formulierung des Ge- Gesetz halten, und so wollen wir verfahren. setzentwurfes auch in Zukunft anstrebt.

Eine Reihe von Gedanken, die auch in den Konzep- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Gestatten Sie eine ten der Oppositionsfraktion und der Oppositions- weitere Zusatzfrage, Herr Gerster? gruppe formuliert sind, werden sich in den Eckwerten wiederfinden. Die Erarbeitung einer einvernehmli- Johannes Gerster (Mainz) (CDU/CSU): Bitte sehr. chen vernünftigen Regelung zum Umgang mit den Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes wird gerade von uns mit größtem Nachdruck und gro- Dr. Wilfried Penner (SPD): Herr Kollege Gerster, ßer Priorität betrieben. dann habe ich Sie also richtig verstanden, daß Sie dafür eintreten, daß die Unterlagen der alten Ost- Wir werden uns im Eifer um die Aufarbeitung der CDU, die schon im Gewahrsam des Konrad-Ade- Stasi-Vergangenheit von keinem übertreffen lassen. nauer-Hauses sind, einem — wie auch immer be- Ermittlungen der Verantwortlichen und Aufarbeitung schaffenen — staatlichen Regime zugeführt werden der Vergangenheit stehen bei der Zielsetzung ebenso sollen? im Vordergrund wie der Schutz und die Rehabilitie- (Zurufe von der CDU/CSU: Einschließlich rung der Opfer des SED-Unrechtssystems. der SPD-Akten!) Wir brauchen Regelungen, die den effektiven Schutz der Opfer und deren Persönlichkeitsrechte si- Johannes Gerster (Mainz) (CDU/CSU) : Ich will das chern. noch einmal wie folgt beschreiben, Herr Kollege Pen- (Beifall bei der CDU/CSU) ner: Die SED war der Staat; Art. 1 der alten DDR-Ver- 1308 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Johannes Gerster (Mainz) fassung. Wir wissen sehr genau, daß das, was in der SPD, an die SED-Akten heranzukommen, ist bedeu- SED beschlossen worden ist, von der Regierung prak- tend größer als unser Eifer. tisch zwangsläufig vollzogen wurde. Das heißt, an er- ster Stelle war die SED-Parteiführung, und darunter (Gerhard Reddemann [CDU/CSU]: Aus ver stand praktisch die Regierung. Es ist selbstverständ- ständlichen Gründen!) lich, daß das alles staatliches Handeln war. Dabei ist Wir brauchen uns ja nur die Pressekonferenz des Pres- auch klar, daß es innerhalb der SED-Akten sicherlich sesprechers von gestern anzugucken, in der ein maß- Akten über Vorgänge gibt, die nicht staatliches Han- geblicher Mann der Friedrich-Ebert-Stiftung und ein deln betreffen. Diese wollen wir nicht beiziehen. Vertreter der PDS Hand in Hand — ich will es einmal Insoweit waren also die Massenorganisationen und so sagen — versucht haben, eine Front gegen unser auch die Blockparteien nachgeordnet, wobei klar ist, Gesetzesvorhaben aufzubauen, das wir heute bera- daß sie, soweit sie staatliches Handeln repräsentiert ten. Ich bin sehr gespannt, ob sich nachher der Spre- haben, ebenfalls in diesen Teil einbezogen werden, cher der SPD von dieser Pressekonferenz distanzieren der übernommen werden muß. Wenn Sie so wollen: wird. hier die SED, dort die Massenorganisationen. Die SED war immer ein Stück vorgelagert, übergelagert. Des- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wegen werden wir von der SED mit Sicherheit bedeu- tend mehr Akten herbeiziehen müssen, da sie prak- Wir werden mit großer Aufmerksamkeit zuhören. tisch der Staat war, während von den anderen Orga- Ich habe gesagt, wir brauchen Regelungen, die den nisationen sicherlich weniger Akten herbeizuziehen effektiven Schutz der Opfer und deren Persönlich- sind. Das muß im Gesetz geregelt werden und an keitsrechte sichern. Dazu gehört, daß wir in großzügi- Hand dieses Gesetzes praktisch vollzogen werden. ger Weise die offene Information der Stasi-Opfer über Dabei verstehe ich das Bedürfnis der SPD, Herr Kol- die sie betreffenden Unterlagen ermöglichen. Die lege Penner, die SED mit den Blockparteien gleichzu- Opfer des Stasi-Terrors müssen erfahren — soweit sie stellen. Aber Sie wissen sehr genau, daß das den Rea- dies wollen — , was die Bespitzelungsorgane über sie litäten nicht entspricht. zusammengetragen haben. (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord- Wenn wir uns dabei angewöhnen, auf die Opferda- neten der FDP) - ten und nicht immer wieder nur auf den technischen Wir sollten bei der Aufarbeitung dieses wichtigen Begriff der Opferakten abzustellen, wird deutlich, Themas aufhören, Aufrechnungen zu machen; worauf es bei den zu treffenden Unterscheidungen (Dr. Willfried Penner [SPD]: Das tut kei- ankommt. Nicht die formale Zuordnung zu einem be- ner!) stimmten Aktenordner, nicht bestimmte Aktenzei- sonst zwingen Sie uns, das Verhalten der SPD bei der chen oder farbliche Kennzeichnungen der Akten dür- Gründung der SED zu untersuchen, was wir nicht fen für die Rechtsfolgen ausschlaggebend sein. Wich- unbedingt möchten. tig ist, ob Persönlichkeitsrechte von Betroffenen in- haltlich berührt sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der SPD: Das sollten Sie einmal! Diese Rechte von Opfern haben Vorrang vor ande- Tun Sie das einmal!) ren, noch so berechtigten Interessen. Wer durch Stasi Machenschaften zum Opfer wurde, darf nicht durch die Auswertung der Stasi-Akten zum zweiten Mal Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter Opfer werden. Gerster, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge- ordneten Reddemann? (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

Johannes Gerster (Mainz) (CDU/CSU): Bitte Nicht betroffen sind diese Persönlichkeitsrechte al- schön. lerdings, wenn sich in einer sogenannten Opferakte Hinweise auf Mordtaten und andere Verbrechen ge- gen die Menschlichkeit, gegenüber Dritten finden las- Gerhard Reddemann (CDU/CSU): Herr Kollege sen. Diese stellen dann keine schützenswerten Opfer- Gerster, kann ich davon ausgehen, daß nach Ihren daten im vorgenannten Sinne dar. Mörder verdienen Vorstellungen auch die Gründungsgeschichte der keinen staatlichen Schutz vor Strafverfolgung. Mit DDR mit ihren Akten — und das bedeutet vor allem uns wird es kein Gesetz geben, das Mörder und Stasi die Entwicklung zum gemeinsamen Antifa-Block, Verbrecher dadurch schützt, daß den Sicherheitsbe- und das bedeutet, wie Sie eben schon sagten, auch die hörden der notwendige Zugang zu den Unterlagen Rolle der SPD — mit aufgearbeitet werden muß und verwehrt wird. daß deswegen die Akten aus der ersten Nachkriegs- zeit ebenso unter das Gesetz fallen wie diejenigen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — nach der Gründung der DDR? Dr. Willfried Penner [SPD]: Das ist doch schon heute nicht der Fall!)

Johannes Gerster (Mainz) (CDU/CSU): Selbstver- — Herr Kollege Penner, Ihr Zwischenruf, das sei schon ständlich. Wenn hier die Akten der CDU der früheren heute nicht der Fall, trifft nur zum Teil zu. Das, was DDR angesprochen werden, muß man auch einmal immer wieder — auch von dem Kollegen Hirsch — sagen: Der Eifer der Friedrich-Ebert-Stiftung und der angesprochen wird, daß z. B. die Polizeibehörden Zu- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1309

Johannes Gerster (Mainz) gang zu den Akten hätten, trifft nur zu, wenn ein Tat- würden wir, glaube ich, nicht nur einen wichtigen Bei- verdacht vorliegt. trag zu dieser Aufarbeitung, sondern auch zur Akzep- tanz der Politik insgesamt und der Politiker leisten. (Dr. Willfried Penner [SPD]: Nein, wenn zu- reichende Anhaltspunkte vorliegen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir wollen, daß, wenn staatliche Behörden Hinweise Lassen Sie es uns doch wirklich gemeinsam versu- auf Verbrechen bekommen, auch diese Akten ver- chen. Wir alle werden dabei gewinnen. wertet werden. Das heißt, wir wollen nicht nur eine Anlaßkontrolle durch Nachfragen oder bei konkretem Was den von uns nunmehr vorgelegten Entwurf ei- Tatverdacht, sondern wir wollen, wenn die Behörden nes Gesetzes zur Änderung des Bundesarchivgeset- von sich aus auf derartige Verbrechen stoßen, daß zes anlangt, so betone ich, daß mit dem heute vorlie- diese Verbrechen auch strafrechtlich verfolgt werden genden Entwurf unsere Positionen keinesfalls endgül- können. tig festgeschrieben sind. Wichtig war für die FDP und uns allein, daß wir die parlamentarische Diskussion (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dieses Bereiches beschleunigen. Natürlich ist es das Normalste von der Welt, daß ein Gesetzentwurf das Was notwendig ist, um Sicherheitslücken zu schlie- Parlament in einer anderen Fassung verläßt, als er ein- ßen, muß getan werden. Keiner wird es verstehen, gebracht worden ist. Wir sind bereit, über diesen Ent- wenn wegen eines leichtfertigen Vorurteils gegen- wurf ohne jegliche Vorbehalte zu reden. Wir werden über nach Recht und Gesetz handelnden Sicherheits- uns auch selbst noch um weitere Verbesserungen im behörden — dies gilt auch für den Verfasssungsschutz parlamentarischen Verfahren bemühen. — Mörder und Stasi-Verbrecher frei herumlaufen und gegebenenfalls weitere schwere Straftaten planen Die Akten des SED-Systems müssen für eine politi- könnten. Die jüngsten Erkenntnisse über das enge sche, juristische und historische Aufarbeitung zur Zusammenwirken von RAF und Stasi sollten uns hier Verfügung stehen. Wir werden deshalb bei den parla- eine deutliche Mahnung sein. mentarischen Beratungen der Frage der Sperrfristen nach dem Bundesarchivgesetz noch besondere Auf- (Dr. Willfried Penner [SPD]: Eben!) merksamkeit widmen. Es ist klar, daß keiner in der - CDU/CSU-Fraktion will, daß diese Unterlagen Ich bin sicher, daß es uns bis zur Sommerpause 30 Jahre und länger in der Versenkung verschwin- möglich sein kann und — wenn es nach uns geht — den. Schon jetzt gibt es im Bundesarchivgesetz von auch möglich sein wird, die Vorstellungen in Geset- der grundsätzlich geltenden 30-Jahres-Frist Ausnah- zesformulierungen zu konkretisieren und diese einge- men. Im Einzelfall ist es möglich, Fristen bis auf Null hend in den Ausschüssen zu beraten. zu verkürzen. Gerade weil unser gemeinsames Bemühen darauf Die Frage, wie der besonderen historischen Situa- gerichtet sein sollte, bei den Regelungen zur Nutzung tion gegebenenfalls durch besondere — kürzere — von Stasi-Akten und auch der SED-Akten einen mög- Fristen und durch weitere Ausnahmeregelungen herzustellen, halte ich persön- lichst breiten Konsens Rechnung getragen werden kann, werden wir im In- lich es für sehr schädlich, wenn Positionen vorab for- nenausschuß eingehend zu prüfen und zu erörtern muliert vorgelegt werden. Das von uns vorgesehene haben. Es darf hier nicht engherzig verfahren werden. Verfahren ist schon in der Koalitionsvereinbarung Ich bitte jedenfalls die Bürgerkomitees und alle, die verankert und ist den Kundigen in diesem Hause auch zum Teil über Jahrzehnte in der früherenDDR in gei- weitgehend bekannt. Eine frühe Fixierung bewirkt in stiger Emigration gelebt haben, uns abzunehmen: Wir der Regel die Errichtung von Tabuzonen. Sie er- wollen auch mit diesem Gesetz begangenes Unrecht schweren das Aufeinander-Zugehen und notwendige nicht vergraben, sondern aufhellen und aufklären. Kompromisse. Wir wollen diese Kompromisse. Wir wollen mit den Kollegen der Opposition gemeinsam Wir werden uns auch mit der Frage befassen, wie es zu einem Gesetz kommen. kommen kann, daß nach eigenen Angaben der Wo- chenzeitung „Die Zeit" rund 10 000 Seiten b risantes (Dr. Willfried Penner [SPD]: Danke für die Aktenmaterial über den Devisenbeschaffer Schalck Vergönnung!) Golodkowski in mehreren Koffern dort liegen, ohne — Herr Kollege Penner, ich will einmal folgendes sa- daß diese den staatlichen Behörden herausgegeben gen: Wir haben genug Felder, über die wir uns strei- werden. Auch für solche Fälle brauchen wir ein ten können. rechtsstaatliches Instrumentarium, das verhindert, auf solch eine Weise den Zugriff des Staates — insbeson- (Dr. Peter Struck [SPD]: Es war ehrlich ge- dere im Hinblick auf Ermittlungen wegen Straftaten meint!) — zu vereiteln. Wenn wir die schwierige Aufarbeitung der DDR-Ver- Selbstverständlich würde es schon nach geltendem gangenheit, der SED-Vergangenheit, der Stasi-Ver- Recht möglich sein, solche Unterlagen aus Gründen gangenheit gemeinsam bewältigen könnten, ohne der „Hygiene" an den Staat herauszugeben. So for- daß wir uns ständig durch Unterstellungen die Arbeit dere ich „Die Zeit" hiermit auf, dieses brisante Akten- erschweren, material dorthin zu geben, wo es hingehört, nämlich in staatliche Hand. (Gerd Wartenberg [Berlin] [SPD]: Aber Sie haben es doch gerade gemacht!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 1310 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Johannes Gerster (Mainz) Wer Woche für Woche moralisches Handeln der Poli- Unrechtssystems bleibt und letztlich auch bleiben tik zu Recht einfordert, sollte durch eigenes unmorali- will. sches Verhalten nicht abschrecken. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Soweit diese Voraussetzungen auch für die Unterla- Aus dieser Erkenntnis heraus werden wir die PDS bei gen von Massenorganisationen und Blockparteien der Aufarbeitung des SED-Unrechtssystems eben als vorliegen — Herr Kollege Penner, ich komme jetzt zu Sachverständige hören, aber auf ihre Zustimmung dem Punkt, den ich angekündigt habe —, muß das und Mitwirkung verzichten müssen. gleiche gelten. Auch dort sind Unterlagen während Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. des SED-Regimes auf Grund der Wahrnehmung staat- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) licher Aufgaben entstanden. Mit dem Ende des SED- Regimes stehen diese jetzt dem Bund zu. Inwieweit wir bei den Massenorganisationen differenzierte Re- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der gelungen brauchen, z. B. bei den Unterlagen des Abgeordnete Gerd Wartenberg (Berlin). FDGB oder der FDJ, werden wir in den parlamentari- schen Beratungen noch eingehend zu erörtern ha- ben. Gerd Wartenberg (Berlin) (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Thema, mit dem wir Es kann keinen Zweifel daran geben, daß die FDJ uns heute morgen beschäftigen, ist eines, das immer von den Machthabern der SED zu einer staatlichen wieder zwiespältige Gefühle hervorruft. Es ist ein SED-Organisation umfunktioniert worden ist. Die FDJ Thema von großer Bedeutung für sehr viele Men- hatte die Parteiziele der SED zu vermitteln. Sie hatte schen, ein Thema, bei dem Polemik möglichst heraus- für Loyalität gegenüber dem damaligen SED-Staat zu gehalten werden sollte. Denn die Interessenlage ist, so sorgen. Ohne die FDJ konnten Führungspositionen im glaube ich, bei allen Parteien gleich: Es soll eine Rege- SED-System oft nicht erreicht werden. lung sowohl für die Aktenbestände als auch für die Aufarbeitung und Nutzung dieser Akten geschaffen Das Archiv des ehemaligen FDGB enthält u. a. die werden, die in erster Linie den Betroffenen nutzt, aber gesamte zentrale schriftliche Überlieferung des ehe- gleichzeitig der historischen Aufarbeitung dient. Ich maligen Gewerkschaftsbundes der DDR von 1945 bis glaube, daß die Positionen gar nicht so unterschiedlich zur Auflösung im September/Oktober 1990. Hinzu sind. Wir haben das in verschiedenen Vorgesprächen kommt Schriftgut der verschiedenen Vorstände des im Innenausschuß festgestellt. FDGB sowie Akten der insgesamt 46 Einzelgewerk- Deswegen muß man immer wieder versuchen, auf schaften. Diese und andere wertvolle Unterlagen la- den Kern der Dinge zurückzukommen, und daraus gern in Kellerräumen eines früheren Bankgebäudes Schlüsse ziehen. Man darf nicht mit vordergründiger in Berlin, Unter den Linden 15. Selbstverständlich Polemik Wege verschütten, die wir brauchen, um das müssen auch diese Archivbestände des FDGB erhal- Aktenmaterial zu sichern. Das wäre für eine Konsens- ten bleiben. Der Quellenwert dieses Archivs für die lösung notwendig. Sonst werden die Aktenbestände allgemeine sozialgeschichtliche Forschung ist sehr wahrscheinlich nicht zusammenbleiben können. hoch. Insbesondere sind die Unterlagen zur Erfor- schung über die dort erfolgte Deformierung der ge- Herr Gerster, Sie haben das auch gesagt. Aber Sie werkschaftlichen Idee unverzichtbar. Soweit hier dif- sind der Mensch, der immer wieder dazu neigt, durch ferenzierende archivrechtliche Regelungen nötig nicht sehr qualifizierte Äußerungen einen Ton hinein- sind, werden wir versuchen, dem Rechnung zu tra- zubringen, der gerade bei diesem Thema unangemes- gen. sen ist. (Ingrid Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Auf keinen Fall dürfen wir zulassen, daß Schriftgut Sie machen das wie Ihr Vorsitzender Vogel: und andere Unterlagen aus ehemaligen SED-Archi- Zensuren verteilen!) ven oder aus Archiven der Massenorganisationen ver- schwinden. Die Gefahr, daß sie zerstreut oder vernich- Wir sollten uns hier alle ein bißchen zusammenneh- tet werden, ist immer noch groß. Unersetzliche histo- men. Das haben Sie selbst gesagt. Aber dann sollten Sie — Herr Gerster — es auch machen. rische Quellen gingen dann verloren. Die Menschen wollen, daß die Strukturen der SED-Diktatur offenge- Die Hinterlassenschaften des SED-Staates sind sehr legt werden. Sie wollen, daß Täter bestraft werden vielfältig. Ein Aspekt ist die Hinterlassenschaft im und daß den Opfern, soweit dies heute noch möglich ökonomischen und sozialen Bereich, die uns bei der ist, wenigstens im nachhinein zum Recht verholfen deutschen Einheit vor schwere Herausforderungen wird. Die Unterlagen der SED und der heutigen PDS stellt. Eine weitere Hinterlassenschaft sind die kilo- sind in diesem Zusammenhang von ganz besonderer meterlangen Aktenbestände der Parteien, Massenor- Bedeutung. Die politische Verantwortlichkeit für die ganisationen, der staatlichen Behörden, der Ministe- Vergangenheit muß aufgeklärt werden. Hierauf ha- rien etc. Akribisch genau lassen sich in diesen Akten- ben die Menschen einen Rechtsanspruch. beständen die Verhältnisse in der ehemaligen DDR nachvollziehen. Opfer und Täter sind zu identifizie- Mit unserem Gesetzentwurf schaffen wir dazu eine ren, Machenschaften, aber auch Alltagskultur. Diese wichtige Grundlage. Dieser Entwurf hätte eigentlich Aktenbestände sind von unterschiedlicher Bedeutung von der PDS kommen müssen, die ständig vorgibt, und müssen auch sehr unterschiedlich genutzt wer- sich von der eigenen Vergangenheit lösen zu wollen. den. Sie sind deswegen sehr differenziert zu betrach- Daß die PDS unseren Entwurf bekämpft, zeigt, daß sie ten. Das heißt, für die Nutzung und Archivierung müs- eine Partei der unseligen Vergangenheit des SED- sen unterschiedliche Lösungen angestrebt werden. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1311

Gerd Wartenberg (Berlin) Ich will hier nicht über die Aktenbestände der Ich will das einmal am SED-Archiv darstellen. Bis Gauck-Behörde reden. Das machen andere Kollegin- 1946 sind es überwiegend Zeugnisse und kulturell nen und Kollegen meiner Fraktion. Ich möchte mich wichtiges Erbe der Arbeiterbewegung, d. h. Aktenbe- mit den Aktenbeständen der SED, der Blockparteien stände der ehemaligen KPD und historische Unterla- und Massenorganisationen auseinandersetzen. Dafür gen der SPD, die in diesem Archiv gelandet sind. müssen wir eine andere Lösung finden als die, die wir (Dr. Heribert Blens [CDU/CSU]: Aber 1946 jetzt vorläufig für die Akten der Gauck-Behörde, die bei der Vereinigung übergeben worden Stasi-Akten, gefunden haben. sind!) Die Frage, wie wir mit den zuletzt genannten Akten — Das ist sehr unterschiedlich. Aber auf jeden Fall umgehen, hat zwei Aspekte. Der eine ist die Sicher- sind Archivbestände der SPD bis 1946 dabei. Es sind stellung, der zweite ist die Zugänglichkeit für die zeit- zum Teil sehr wertvolle Sachen. — Unter den SED- geschichtliche Forschung. Wichtig ist, daß die Akten Akten gibt es weiter eine sehr große Bibliothek und bis jetzt insgesamt nicht sichergestellt sind, weder die eben sehr viele Nachlässe von Politikern. Wir wissen der Massenorganisationen noch die der SED bei der heute, daß Nachlässe von Politikern im Einzelfall PDS noch die der Blockparteien. Denn im formalen wichtiger und interessanter sind als Beschlußakten Sinne sichergestellt sind sie auch nicht, wenn sie — so von irgendwelchen Gremien. Der erste Teil, nämlich ehrenwert das sein mag — bei der Konrad-Adenauer- der Teil bis 1946, könnte, wenn das Archiv aufgelöst Stiftung oder sonstwo sind. Die Akten sind im weite- würde, nicht ins Bundesarchiv überführt werden, sten Sinne den Nachfolgeorganisationen — wie im- Nachlässe könnten zurückgezogen werden. Ich mer man diese bewerten will; man muß sie natürlich denke, dieses Risiko darf man nicht eingehen. Man sehr unterschiedlich bewerten — zur freien Verfü- muß versuchen, eine Lösung zu finden, daß diese Be- gung zugeführt worden. Das ist kein guter Zustand. stände zusammenbleiben. Dies fordern außerordent- Handlungsbedarf besteht also. Die Frage ist natür- lich viele Historiker und Wissenschaftler, die zeitge- lich, warum die Regierung beim Einigungsvertrag schichtliche Forschung betreiben. Deswegen müssen nicht darauf geachtet hat. Manchmal hat man das wir eine Lösung finden. Gefühl, daß einige als Erben ihre Aktenbestände zu- Ich möchte einen Vorschlag machen, über den man nächst selbst sichten wollten und erst hinterher bereit diskutieren sollte. Wenn er nicht funktionieren sollte, sind, zu sagen: Nun kann der Staat, kann die Öffent- wird man das Bundesarchivgesetz anwenden müssen; lichkeit darüber verfügen. Wenn das Thema so drin- dann gibt es keine andere Möglichkeit. Dieser Vor- gend war, ist nicht verständlich, wieso im Rahmen des schlag sieht so aus, daß man alle diese Aktenbestände Einigungsvertrages kein Sicherstellungsgesetz ge- — die Akten von Blockparteien, Massenorganisatio- macht worden ist, was möglich gewesen wäre. Hier nen, SED — in Berlin zusammenführt, dort eine For- muß man nach der Interessenlage fragen. Ich glaube schungsstelle angliedert, entsprechend dem Institut nicht, daß es einfach Schlamperei war. für Zeitgeschichte in München für die NS-Zeit, das (Dr. Willfried Penner [SPD]: Sehr wahr!) sich außerordentlich bewährt hat, die NS-Vergangen- heit aufzuarbeiten und historisch verfügbar zu ma- Nicht alle Akten sind mehr auf dem Gebiet der ehe- chen. Ein vergleichbares Institut wäre deswegen so maligen DDR. Ein großer Teil ist hier in Bonn bei den notwendig, weil die Geschichte der DDR erst noch Nachfolgeorganisationen der Blockparteien. Das Pro- geschrieben werden muß. Es gibt sie nicht. Das, was blem dieser Aktenbestände liegt darin, daß nach un- an Hagiographie bis jetzt besteht, ist eher peinlich serem Verständnis ein großer Teil dieser Aktenbe- und hat mit der Wahrheit sehr wenig zu tun. stände Staatsakten sind. Staatsakten gehören nach unserem Verständnis wiederum in ein Staatsarchiv Wenn man alle diese Archive in solch einem Institut bzw. ins Bundesarchiv. Deswegen gibt es die Überle- zusammenfassen und es öffentlich-rechtlich oder als gung, das Bundesarchivgesetz zu erweitern, um diese Stiftung organisieren würde, wäre man einen großen Akten sicherzustellen und auch einer qualifizierten Schritt weiter und müßte nicht in Sorge sein, daß diese Institution zuzuführen. wertvollen Aktenbestände auseinanderfliegen. Aber auch diese Lösung setzt das Einvernehmen aller vor- Dies mag ein Weg sein, aber ich glaube, man muß aus. Natürlich können auch dann immer noch ein- auch andere Wege prüfen, und zwar aus folgendem zelne Erben von Nachlässen sagen: Wir wollen unsere Grund: Wenn man nicht nur die Sicherstellung im Sachen wieder herausnehmen. — Diese Lösung hat Auge hat, sondern auch die Frage der historischen nur dann einen Sinn, wenn alle bereit sind, ihre Be- muß man darauf achten, daß diese Ak- Aufarbeitung, stände dort hineinzugeben, sie wissenschaftlicher und tenbestände nicht auseinandergerissen werden. öffentlicher Kontrolle zu unterwerfen. Wenn diese Lö- (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) sung zustande käme, hätten wir für die DDR-Bestände aus 40 Jahren eine angemessene Lösung gefunden, Es gibt viele Möglichkeiten, daß diese Aktenbestände aber auch für unsere zeitgeschichtliche und histori- auseinandergerissen werden. Wenn eine Überstel- sche Forschung eine einmalige Chance genutzt, die lung und eine Sicherstellung nach dem Bundesarchiv- nie wiederkommt. gesetz erfolgen, haben diejenigen, die als Nachfolge- organisationen diese Aktenbestände jetzt haben, na- Deswegen bitte ich alle darum, zu versuchen, auf türlich den Anspruch, daß geprüft wird: Welches sind dieser Basis eine Lösung anzustreben. Ob sie gelingt, Staatsakten, welches sind allgemein historische Ak- ist eine andere Sache. Sonst müssen wir auf das Bun- ten, die in dem Privatbesitz bleiben können, und wel- desarchivgesetz zurückgreifen oder sogar noch ein ches sind Nachlässe, die herausgegeben werden kön- Sicherstellungsgesetz dazwischenschalten, bis man nen? eine Lösung gefunden hat, die von allen getragen 1312 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ril 1991

Gerd Wartenberg (Berlin) werden könnte. Es wäre also eine dritte Möglichkeit, Bestand aus dem Archiv herauszunehmen. Das Par- ein zeitlich begrenztes Sicherstellungsgesetz zu ver- teiarchiv befindet sich zur Zeit im sogenannten Insti- abschieden. Während der Geltung des Sicherstel- tut für die Geschichte der Arbeiterbewegung in Berlin lungsgesetzes müßte dann eine gemeinsame Lösung und versteht sich kurioserweise als Privatarchiv. Auf erarbeitet werden, um die Verfügbarkeit dieser histo- Grund der Tatsache, daß die SED die staatstragende rischen Akten zu gewährleisten. Partei war und die politische Hauptverantwortung für Vielen Dank. die letzten 40 Jahre trägt, sind es Staatsakten, die in diesem Archiv lagern. Deshalb kann es nicht bei der (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Nachfolgepartei oder deren Vertreter liegen, zu ent- GRÜNE — Dr. Willfried Penner [SPD]: Aus- scheiden, welche Teile des Archivs relevant sind. gezeichnet! Das war eine Rede!) Gleiches gilt natürlich auch für die FDJ. Aus meiner Sicht liegt ein Widerspruch bei der PDS Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der vor: Einerseits versteht sie sich als Nachfolgepartei Abgeordnete Jürgen Schmieder. der SED, wenn es um Vermögensansprüche und um Eigentumsrechte bzw. um Materialien geht, die Auf- klärung bringen könnten und auch die geliebte Mut- (FDP) : Frau Präsidentin! Dr. Jürgen Schmieder terpartei belasten würden. Andererseits betont sie im- Meine Damen und Herren! Noch am Sterbebett des mer wieder, daß sie etwas vollkommen Neues sei. Auf kommunistischen Regimes in der DDR hat der große Grund der Tatsache, daß sie sich so nachhaltig daran Konduktor aus dem Wandlitzer Forst damit gedroht, klammert, kann man der PDS jeglichen Willen ab- daß er die Berliner Mauer in den nächsten hundert sprechen, außer an einer von der SED/PDS schönge- Jahren nicht abreißen werde. Seine Botschaft lautete färbten Geschichtsvariante an einer Aufarbeitung der sinngemäß: Der Geschichte Lauf hält weder Ochs Geschichte überhaupt interessiert zu sein. noch Esel auf. Das Rad der Geschichte hat sich weitergedreht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Nun ist es zweifellos so gekommen, daß nicht der alte Mann die Mauer abreißen mußte; das haben junge, Natürlich sind wir nicht blauäugig, sondern wir sind engagierte Leute für ihn getan. Damit ist die Ge-- uns bewußt, daß dem SED-Archiv unter Honecker schichte über den Esel hinweggegangen. Der Esel hat Gewalt angetan worden ist und daß Unterlagen ver- sein Heil in der Flucht gesucht. nichtet worden sind. Sicherlich wurden auch in der Regierungszeit Modrows Gelegenheiten zur Bereini- — Was jedoch die Ochsen bet rifft — gung des Archivs genutzt. Ja selbst im letzten Jahr, als (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Wel- für dieses Archiv leider ein rechtloser Zustand che von den vielen?) herrschte, sind mit Sicherheit Unterlagen bereinigt — Ich gebe Ihrer Phantasie freien Lauf. worden. Das Gezänk, das die PDS veranstaltet, ist aus mei- (Zuruf von der PDS/Linke Liste: Alles Be ner Sicht lediglich ein Versuch, den Sachzusammen- hauptungen, die nicht bewiesen worden hang zu zerreißen. Bei der Bewertung des Unrechts, sind!) das sich in den letzten 40 Jahren ereignet hat, kommt es vorrangig darauf an, die Unterlagen des eigentli- — Ich freue mich, daß Sie mir so erfolgreich zustim- chen Unterdrückungsapparates, also der Staatssicher- men. Danke schön. heit, historisch, politisch, juristisch und persönlich auf- zuarbeiten oder einer Aufarbeitung zugänglich zu (Beifall bei der FDP) machen. Es besteht absolut dringender Handlungsbedarf. Gleichzeitig geht es darum, die Archivunterlagen Jeder Tag kann genutzt werden, um sensible Sachen der für dieses Unrecht hauptverantwortlichen politi- fortzutragen. Das sogenannte Privatarchiv der SED schen Kräften einzubeziehen. Dabei verfolgen wir hat begonnen, sich plötzlich in einzelne Privatarchive zwei Ziele: Erstens die Sicherung bzw. Einziehung aufzulösen. Einige tragen sich mit dem Gedanken, ihr der Unterlagen, zweitens die Einrichtung eines Son- Privatarchiv auszugliedern. Damit wird aus dem Sam- derbestandes in öffentlicher Hand. Denkbar wäre melsurium von Dokumenten der Zeitgeschichte ein eine Eingliederung im Bundesarchiv, wobei für den für die Geschichtsneuschreibung unbedingt benötig- Sonderbestand die Schutzklausel des Bundesarchiv- tes Material auseinandergerissen. gesetzes, die eine Schutzfrist von 30 Jahren vorsieht, nicht angewendet werden kann, da es primär um eine (Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Echte Krenz Aufarbeitung der jüngsten Geschehnisse und um eine chen!) Neuschreibung der DDR-Geschichte geht. Gleichfalls wäre ein gangbarer Weg, für den Sonderbestand eine — Genau. Anstalt öffentlichen Rechts zu schaffen, wie das ge- Dem Außenstehenden fällt es schwer, zu glauben, rade eben vom Kollegen Wartenberg vorgeschlagen daß es Modrow mit der Aufarbeitung der Geschichte wurde. ernst meint, wenn er, der selber Leiter der SED-Be- Wer sich dagegen sperrt, daß staatliche Stellen Zu- zirksleitung war, auf der einen Seite mit den Unterla- gang zu den Unterlagen bekommen, will die reelle gen der Bezirkseinsatzleitung Handlungsbelege aus Aufarbeitung der Geschichte verhindern. Auf Grund seinem Machtbereich vernichtet der Diskussion über die Zuordnung des Archivs haben verschiedene Personen aus der SED versucht, ihren (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ril 1991 1313

Dr. Jürgen Schmieder und auf der anderen Seite den fiktiven Besitz an Tei- Danke. len des SED-Archivs einfordert, damit sogar die Her- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie ausgabe eines Buches verhindern wollte. bei Abgeordneten der SPD) (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Er weiß, warum! — Zuruf von der PDS/Linke Präsidentin Dr. Das Wort hat der Liste: Das müssen Sie mal lesen!) Rita Süssmuth: Herr Abgeordnete Professor Heuer. — Ich habe es mir besorgt, ich werde es lesen. Ganz (Dr. Willfried Penner [SPD]: Jetzt bin ich ge hervorragend: Man findet dort sehr schöne Bezüge, spannt!) die für den Sachverhalt absolut deckungsrelevant sind. (PDS/Linke Liste): Frau Präsi- Die Leitungsstrukturen und die Hauptverbin- Dr. Uwe-Jens Heuer dentin! Meine Damen und Herren! Die Abgeordne- dungsleitungen zwischen der SED und dem Staatssi- tengruppe der PDS/Linke Liste unterstützt das Anlie- cherheitsdienst müssen aufgeklärt werden. Die erste gen des Antrags 12/283. Es geht um zweierlei: erstens Leitungsebene der SED in den Kreisen und Bezirken darum, Unrecht wiedergutzumachen, und zweitens hatte Entscheidungs- und Weisungsbefugnis. Be- darum, die Tätigkeit des MfS wissenschaftlich-poli- kanntermaßen war der Erste Sekretär der SED-Be- tisch aufzuarbeiten. Ich bin mir zum dritten der Not- zirksleitung gleichzeitig Leiter der Bezirkseinsatzlei- wendigkeit gerade für die PDS bewußt, Verantwor- tung. tung und Schuld gegenüber der Sache des Sozialis- (Dr. Rudolf Krause [Bonese] [CDU/CSU]: mus zu analysieren. Das ist allerdings wohl nicht Ge- Richtig!) genstand der Debatte im Deutschen Bundestag. Damit unterstand er dem Nationalen Verteidigungs- (Dr. Heribert Biens [CDU/CSU]: Wie macht rat der DDR, blieb aber gleichzeitig in die Leitungs- man das: Schuld organisieren?) hierarchie der SED eingebunden. Erstens. Beim Unrecht geht es um die Aufarbeitung der Geheimdienstexzesse gegen oppositionelle Nun ist es leider in einigen Bezirken gelungen, fast Kräfte, um unrechtmäßiges Abhören, rechtswidrige die gesamten Bestände der Einsatzleitungen zu ver- Inhaftierung- und Mißhandlung von Inhaftierten. Wir nichten. Glücklicherweise sind aber nicht alle weg. verurteilen ganz entschieden dieses und anderes Un- Um für meine Person zu sprechen: Ich habe diesbe- recht. Wo sich Mitarbeiter des MfS schuldig gemacht zügliche Materialien von der Bezirkseinsatzleitung in haben, ist Sühne erforderlich. Ausgangspunkt für die Erfurt gesehen. Dort sind Weisungen des Ersten Se- Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht kann kretärs der SED-Bezirksleitung im Befehlston festge- dabei nur das Recht der Ex-DDR sein. Die DDR war halten. Es finden sich Schreiben und Protokolle, die von der UNO als vollwertiges Mitglied anerkannt und mit den Worten „Ich befehle" eingeleitet sind und die kein von Aufständischen vorübergehend besetztes Vollzugsmeldungen bzw. auch wieder Handlungsbe- Territorium des Deutschen Reiches, in dem eigentlich fehle der Leiter der Staatssicherheit, der Armee, der das Recht der alten Bundesrepublik galt. Man darf Zivilverteidigung und der Polizei zur Folge hatten. auch weder die Verstrickung in den Kalten Krieg noch Damit sind wir eigentlich an einer ganz sensiblen den Umstand außer acht lassen, daß das MfS wie der Stelle angelangt. Wenn wir hauptamtliche und inoffi- Staat der DDR überhaupt ohne Einsatz von Waffenge- zielle Mitarbeiter der Stasi verdammen, meinen wir walt und ohne Blutvergießen abgetreten ist. nicht etwa die technischen Kräfte, nicht die Soldaten (Dr. Rudolf Krause [Bonese] [CDU/CSU]: des Wachregimentes mit dem rosa Streifen oder die Aber nicht angetreten!) kleinen, miesen Zuträger. Die PDS stimmt der Auffassung des Antrages zu, daß (Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!) es an der Zeit ist, klare Regelungen für Auskunft und Herausgabe zu treffen, die zugleich einen Mißbrauch Es geht vielmehr ganz eindeutig um die politischen der Unterlagen des MfS auch durch Geheimdienste Hintermänner, die Offiziere der Führungsebenen, die ausschließen. Für die Aufdeckung von Straftaten rei- Offiziere im besonderen Einsatz und um die Stasi-chen die Befugnisse der Staatsanwaltschaft völlig Mitarbeiter, die sich im strafrechtlichen Sinne schul- aus. dig gemacht haben. Ein weiteres Problem: Die notwendige juristische (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD Aufarbeitung der Tätigkeit des MfS kann nicht darin und dem Bündnis 90/GRÜNE — Johannes bestehen, durch Bundestagsbeschluß ein Pauschalur- Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Auch wenn sie teil vorzugeben, das jede weitere Aufarbeitung ei- im Bundestag sitzen!) gentlich überflüssig macht. Man sollte mit Beg riffen, die in der Rechtsgeschichte und Rechtspraxis einen — Zum Beispiel. ganz bestimmten Sinn haben, sorgsamer umgehen. Die politischen Hintermänner sind nicht in der Ich meine die Formulierung im Antrag, das MfS sei Stasi-Kartei. Über sie sind bisher keine Akten gefun- eine verbrecherische Organisation. den worden. Um an sie heranzukommen, müssen der (Gerhard Reddemann [CDU/CSU]: Er ent Sonderbeauftragte Gauck und auch der Staat die schuldigt eine verbrecherische Organisation! Möglichkeit zum Zugriff auf die Unterlagen der SED, — Weitere Zurufe von der CDU/CSU — der anderen politischen Parteien des demokratischen Dieter Wiefelspütz [SPD]: Es war ein Wohl Blocks und der FDJ haben. fahrtsverband!) 1314 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Dr. Uwe-Jens Heuer Der Begriff der verbrecherischen Organisation ist zogen. Ich habe eindeutig gesagt: Was Unrecht war, nun einmal in den Art. 6 und 9 der Satzung des Inter- muß bestraft werden. nationalen Militärgerichtshofs von Nürnberg und im Urteil selbst eindeutig definiert und an den Zweck der (Gerhard Reddemann [CDU/CSU]: Dann ist das meiste, was Sie gesagt haben, im Augen Verbrechen gegen den Frieden, Ausrottung, Verskla- blick überflüssig! — Zuruf von der CDU/ vung, Deportation gebunden. CSU: Er hat die Stasi ganz verschwiegen! — (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Da hat er Probleme!) Herr Abgeordneter Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Eine Heuer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abge- Bagatellisierung der faschistischen Verbre- ordneten Köppe? chen sehe ich auch darin, daß über 5 000 ungesühnte Todesurteile des Volksgerichtshofs des Dritten Rei- (Zuruf von der CDU/CSU: Schild- und ches durch die „rechtzeitige" Abrechnung mit der Schwerterpartei!) Hinterlassenschaft der DDR-Justiz bewältigt und da- mit zum zweitenmal und endgültig verdrängt werden Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Ja, bitte sollen. Leider fanden sich solche Töne auch in einer schön. Rede des Bundesjustizministers vom 12. April 1991. Zweitens. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der (Bündnis 90/GRÜNE): Stimmen Sie Ingrid Köppe Geschichte der DDR und damit auch der Geschichte mir zu, Herr Heuer, daß die Staatssicherheit sogar des MfS ist unzweifelhaft ein dringendes Bedürfnis; gegen die Verfassung der DDR verstoßen hat, die gerade wir sehen uns in der Pflicht dazu. Die Debatte nicht vorgesehen hat, daß Telefonüberwachung, Post- über diesen Komplex entbehrt allerdings nicht eines kontrolle und z. B. auch Zwangspsychiatrisierung vor- Zuges der Unaufrichtigkeit, solange die Geschichte genommen werden dürfen? Stimmen Sie mir weiter seit 1945 nur als Geschichte eines deutschen Ge- zu, daß das dann auch Verbrechen sind, wenn eine heimdienstes behandelt wird. Der Kalte Krieg in Organisation insgesamt gegen die damals geltende Deutschland war eine Auseinandersetzung zweier DDR-Verfassung verstößt? Staaten und auch zweier Geheimdienste. (Zuruf von der CDU/CSU: RAF-Unterstüt-- zung, Schießbefehl!) Geheimdienste — auch das zeigen die Erfahrungen beider deutschen Staaten in den letzten 41 Jahren — gehören nun einmal zu den unangenehmsten Seiten Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Ich habe des Staates. Als Apparate zur Bespitzelung der Bürger ausdrücklich gesagt, daß ich das, was Unrecht war, und zur Unterwanderung politischer Organisationen verurteile, und das, was gegen die Verfassung der sind sie auch in der parlamentarischen Demokratie DDR verstoßen hat, ebenfalls. etwas Kontrademokratisches. (Zuruf von der CDU/CSU: Was bleibt da noch übrig?) (Dr. Heribert Blens [CDU/CSU]: Sie sind ja Fachmann für diese Fragen! Das ist unerhört, Das berechtigt aber nach meiner Ansicht nicht zur was der Mensch hier von sich gibt!) Charakterisierung als verbrecherische Organisation im Sinne des Nürnberger Urteils. Nachdrücklich unterstützen wir den Antrag hinsicht- (Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Das war doch lich einer gesetzlichen Regelung von Fragen, die die eine Versklavung, die da stattgefunden hat! berufliche Zukunft der Mitarbeiter des MfS betreffen. — Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Orga- Der gesellschaftliche Konsens über die Resozialisie- nisiertes Verbrechen! — Weißwaschen wol- rung der Angehörigen des MfS, von dem im Antrag len!) gesprochen wird, ist unbedingt notwendig, aber auch wohl sehr schwierig. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Gestatten Sie eine Bedenklich erscheint uns, daß es gar nicht mehr Zusatzfrage der Abgeordneten Köppe? darum geht, ob jemand als Mitarbeiter oder Informant des MfS Menschenrechtsverletzungen begangen Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Nein. oder befördert hat. (Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Stellen Sie bitte Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Gestatten Sie eine diese Demokratie nicht auf eine Stufe mit weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Redde- Ihrem Verbrecherstaat!) mann? Seine tatsächliche oder angebliche Arbeit für das MfS reicht aus, um ihn in die Arbeitslosigkeit und das ge- Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Ja. sellschaftliche Abseits zu drängen. Dutzende von Selbstmorden waren bereits die Folge. Gerhard Reddemann (CDU/CSU): Darf ich Sie fra- gen, Herr Heuer, ob die DDR dem UNO-Pakt für Men- (Gerhard Reddemann [CDU/CSU]: Lauter schenrechte beigetreten ist und mit der Tätigkeit des harmlose Leute! — Weiterer Zuruf von der MfS permanent gegen diesen Pakt verstoßen hat? CDU/CSU: Diese Fürsorge!) Nichts ist gefährlicher, als wenn, wie gerade jetzt, Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Natürlich politische Ziele wie das der Resozialisierung der An- stimme ich Ihnen zu, daß die DDR diesem Pakt beige- gehörigen des MfS unter den Druck von Kampagnen treten ist. Ich haben eben eindeutig dazu Position be der Sensationspresse geraten. Da werden vage Ver- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1315

Dr. Uwe-Jens Heuer mutungen als so gut wie gesicherte Tatsachen darge- lung künftiger beruflicher Einsatzmöglichkeiten von stellt. Es drängt sich die Frage auf: Soll hier gezielt von ehemaligen Mitarbeitern des MfS müssen die Grund- den sich verschärfenden Konflikten in Ostdeutsch- satzentscheidung, in welchen Tätigkeitsbereichen land abgelenkt werden? und Berufszweigen ehemalige Stasi-Mitarbeiter kei- Meine Damen und Herren, der Kalte Krieg in nen Zugang finden sollen, und Einzelfallprüfungen im Deutschland ist beendet. Es erfordert nicht nur große Hinblick auf den nachgewiesenen Umfang der Betei- ökonomische, sondern auch große seelische Anstren- ligungen an Menschenrechtsverletzungen miteinan- gungen von Siegern und Besiegten, seine Folgen so zu der verbunden werden. bewältigen, daß ein gemeinsamer guter Weg in die Die im Westen Deutschlands bislang allenfalls in Zukunft möglich ist. Im Umgang miteinander hier im Richtlinien normierten Sicherheitsüberprüfungen be- Hause wie in allen Bereichen unserer heutigen ge- dürfen einer gesetzlichen Grundlage. Viele der bisher samtdeutschen Wirklichkeit sollten wir die Aussage zugrunde gelegten Risikoindikatoren sind angesichts von Alexander und Margarete Mitscherlich beherzi- der Veränderungen untauglich geworden. Ich nenne gen, „daß Toleranz das höhere Rechtsgut einer Ge- dafür stellvertretend ein Beispiel: Mitarbeiter unserer sellschaft ist Bundestagsgruppe, die hier eine Sicherheitsüberprü- (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das fung über sich ergehen lassen müssen, werden in den sagen Sie! — Joachim Clemens [CDU/CSU]: Fragebögen immer noch danach gefragt, ob und wann Das ist doch unglaublich! — Weitere Zurufe sie Ostblockstaaten besucht haben. von der CDU/CSU) (Dr. Heribert Blens [CDU/CSU]: Die alten als die Intoleranz, welche die Freiheit anderer zu ver- Papierbestände sind noch nicht aufge nichten sucht". „Praktizierte Toleranz ist ... nicht un- braucht!) vernünftige Duldung, sondern die Vereinigung von Scharfsinn und Großmut." (Die Unfähigkeit zu trau- Ich denke, da ist noch nicht begriffen worden, daß sich ern, Leipzig 1990, S. 295, S. 300). die Situation mit der Vereinigung verändert hat. Ich danke Ihnen. Zum Umgang mit den Stasi-Unterlagen: Wie Sie (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Johannes sich sicherlich denken können, wären wir durchaus in der Lage gewesen, zu dieser Thematik einen Gesetz- Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das war entlar-- vend! Diese Rede war entlarvend!) entwurf einzubringen. Wir haben darauf aber bisher bewußt verzichtet und lediglich einen unsere Grund- sätze formulierenden Antrag zum Thema einge- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat die bracht. Ich denke, auch das ist ein Zeichen für unsere Abgeordnete Ingrid Köppe. Gesprächsbereitschaft. Unsere Grundsätze zu dieser Thematik gründen Ingrid Köppe (Bündnis 90/GRÜNE) : Frau Präsiden- sich auf das Volkskammergesetz vom 24. August tin! Meine Damen und Herren! Es ist jetzt schon mehr- 1990, das nicht in den Einigungsvertrag übernommen fach erwähnt worden: Für die Aufarbeitung der Ge- wurde, aber auch darauf, daß dem gesamtdeutschen schichte der SED-Herrschaft haben jene Unterlagen Gesetzgeber empfohlen wird, bei der Erarbeitung ei- der SED, der Blockparteien und Massenorganisatio- ner neuen Regelung dieses Volkskammergesetz um- nen, die im Hinblick auf staatliche Aufgaben erstellt fassend zu berücksichtigen. wurden, eine ganz besondere Bedeutung. Sie müssen Nun zu den Grundsätzen des Bündnisses 90/ deswegen gesichert, aufbewahrt, vor allem aber nutz- GRÜNE für ein zu schaffendes Stasi-Unterlagen-Ge- bar gemacht werden. Eine Sicherung bei gleichzeiti- setz: Zweck eines solchen Gesetzes muß die politi- ger Beerdigung der Unterlagen im Bundesarchiv sche, historische, juristische und auch persönliche — eine Unterstellung dieser Unterlagen unter das Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit sein. Nicht Bundesarchivgesetz — , wie sie im Gesetzentwurf von personenbezogene Unterlagen — etwa Richtlinien, den Koalitionsfraktionen vorgesehen ist, steht der Dienstanweisungen, Organisationspläne und weite- Aufgabe der Nutzbarmachung dieser Unterlagen ent- res — sollen ab sofort und uneingeschränkt zugäng- gegen. lich sein. Betroffene sollen grundsätzlich ein Akten- Ich möchte denjenigen, die sich in nächster Zeit mit einsichtsrecht für die zu ihrer Person gesammelten der Ausarbeitung einer Regelung über den Umgang Unterlagen erhalten. Diese Forderung vertreten die mit diesen Partei- und Organisationsakten beschäfti- Bürgerbewegungen seit der Besetzung von Stasi-Be- gen werden, empfehlen, sich zuvor sachkundig zu hörden und der Gründung von Bürgerkomitees im machen Dezember 1989 und Januar 1990. (Beifall bei Abgeordneten der PDS/Linke Heute können wir feststellen, daß sich dieser Forde- Liste) rung endlich auch andere anschließen. Es scheint, daß und dafür z. B. das Archiv und die Bibliothek des Insti- sie inzwischen auch hier im Haus mehrheitlich unter- tutes für die Geschichte der Arbeiterbewegung in Ost-stützt wird. Es fehlt bisher nur an einer wirklich zwei- Berlin, wo das SED-Parteiarchiv gelagert ist, zu besu- felsfreien Formulierung, die wir aber gerne liefern chen. wollen. Zu unserem Antrag „Gesetzliche Regelung von Si- Diejenigen Politiker aus Ost und West, die noch im cherheitsüberprüfungen sowie künftiger beruflicher vergangenen Jahr mit dem Argument der Sicherung Einsatzmöglichkeiten von ehemaligen Mitarbeitern des inneren Friedens die Stasi-Aktenbestände für im- des Ministeriums für Staatssicherheit" : Bei der Rege mer verschließen oder sogar vernichten wollten, die 1316 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Ingrid Köppe den Bürgerinnen und Bürgern der DDR die Zustän- walts haben sie alles notwendige Mate rial zum Terro digkeit, vor allem aber die Mündigkeit für die Ausein- rismusbereich erhalten bzw. ist es ihnen zugänglich. andersetzung mit ihren persönlichen Stasi-Erlebnis- (Dr. Burkhard Hirsch [FDP]: Sehr wahr!) sen und ihrer Vergangenheit absprechen wollten, die Mord und Totschlag prophezeiten, müssen jetzt end- Insofern ist es unverständlich, daß immer wieder lautstark gefordert wird, daß der Zugriff auf diese lich begriffen haben: Es geht uns nicht um Rache. Und: Einen inneren Frieden wird es nicht geben, Unterlagen erweitert werden müsse. wenn wir die Vergangenheit verdrängen. Zum Verfassungsschutz. Die Aufgaben des Verfas- sungsschutzes sind gesetzlich geregelt. Diesen Rege- Die in den Stasi-Akten gesammelten und von der lungen entsprechend darf er nicht strafverfolgend tä- Stasi aus Observierung, Telefonüberwachung, Post- tig sein; dafür haben wir andere Behörden. Es ist seine kontrolle und Bespitzelung gewonnenen Informatio- Aufgabe, Informationen präventiv — u. a. bezüglich nen über Bürgerinnen und Bürger gehören nur den extremistischer Bestrebungen — zu sammeln und aus- Betroffenen und niemandem sonst. zuwerten. (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE) Die gesetzliche Aufgabe des Verfassungsschutzes ist auch nicht die historische Forschung. Wir sollten Ich denke, jede Behörde sollte sich davor hüten, Nut- zungswünsche und -ansprüche auf dieses widerrecht- die Diskussion, wie ich schon sagte, versachlichen und dabei auch von der gesetzlichen Aufgabenstel- lich gesammelte Mate rial anzumelden. Eine Nutzung dieser Betroffenenunterlagen durch Behörden würde lung des Verfassungsschutzes ausgehen. Ich meine, die Menschenwürde der Stasi-Opfer erneut verletzen. daß die Behörden jetzt aufgefordert sind, den Beweis zu erbringen, für welche Zwecke die Nutzung der Stasi-Opfer würden erneut zu Opfern von staatlichen Unterlagen nicht nur wünschenswert, sondern auch Begehrlichkeiten gemacht. Eine behördliche Nutzung unerläßlich ist und auf welche rechtlichen Grundla- dieser Betroffenenunterlagen sollte lediglich auf An- trag der Betroffenen und nur in ihrem Interesse, etwa gen sie sich dabei berufen. zu Zwecken der Rehabilitierung, der Strafverfolgung Im übrigen hoffe ich, daß wir die Diskussion um ein und der Forschung, möglich sein. Stasi-Unterlagen-Gesetz möglichst bald nicht mehr - nur in einem sehr kleinen parlamentarischen Gre- In einem zu schaffenden Stasi-Unterlagen-Gesetz mium führen, sondern vor allem auch die neuen Län- muß ein Verwendungsverbot dieser Unterlagen über der einbeziehen und eine Anhörung zum Thema ver- Betroffene für Behörden, also auch gegenüber Nach- anstalten, um eine möglichst breite Verständigung zu richtendiensten und Strafverfolgungsbehörden, for- erzielen. muliert sein. Ich danke Ihnen. (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der Abgeordneten der PDS/Linke Liste) SPD und der PDS/Linke Liste — Dr. Willfried Ehemalige Mitarbeiter des MfS sollen auf Antrag Penner [SPD]: Das war eine sehr gute Auskunft über die zu ihrer Person gesammelten Un- Rede!) terlagen und Daten erhalten. Ein Akteneinsichtsrecht für ehemalige Mitarbeiter in die von ihnen gefertigten Berichte über Betroffene ist auszuschließen. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der Abgeordnete Hartmut Büttner (Schönebeck). Zur Organisation und Verwaltung der Behörde. Entsprechend den Vorgaben im Einigungsvertrag und insbesondere des Volkskammergesetzes sollten Hartmut Büttner (Schönebeck) (CDU/CSU): Frau eine möglichst dezentrale Verwaltung und Organisa- Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Parla- tion erreicht werden. Wir geben dabei einem Bund- mentarier des ersten gesamtdeutschen Bundestages Länder-Modell Priorität. Es gibt inzwischen verschie- stehen in der Tat vor einer der schwersten Aufgaben dene Vorschläge zur Organisation und Verwaltung. dieser Legislaturpe riode. Wir versuchen mit rechts- Wir sollten dabei die Vor- und Nachteile der einzelnen staatlichen Mitteln, die übelriechende Eiterblase des Varianten prüfen, um sie dann abwägend beurteilen Staatssicherheitssystems der ehemaligen SED-Dikta- zu können. tur nun auszutrocknen. Was in den letzten Monaten ums für Lassen Sie mich abschließend etwas zu der gerade aus der Tätigkeit des ehemaligen Ministe ri in den letzten Tagen sehr heftig und, wie ich denke, Staatssicherheit an das Licht der Öffentlichkeit ge- kommen ist, sprengt alle Vorstellungen. Ich will ei- hysterisch geführten Diskussion um Stasi-RAF-Ver- bindungen und damit in Zusammenhang stehende nige Beispiele geben: mögliche bzw. notwendige Zugriffsmöglichkeiten von Es gab nicht nur eine operative Zusammenarbeit Behörden auf Stasi-Akten sagen. Ich denke, wir soll- mit der Rote Armee Fraktion, sondern beispielsweise ten diese Diskussion versachlichen. Dabei sollten wir auch Kontakte zu Westberliner Terrorgruppen wie der davon ausgehen, daß im Haus VIII der ehemaligen Roten Zora oder Kreuzberger Autonomen. Nach Infor- Stasi-Zentrale in der Normannenstraße seit längerer mationen des „ZDF" und der „Rheinischen Post" ist Zeit das BKA sitzt und die Unterlagen der Abtei- die Zusammenarbeit der Stasi mit ausländischen Ex- lung XXII, Terrorabwehr der Stasi, durchforstet. Au- tremistenorganisationen aber noch weitergegangen. ßerdem wurden bereits im Sommer 1990 umfangrei- Arafats Leibgarde, arabische Terrorgruppen, die spa- che Unterlagen zum Terrorismusbereich an den Ge- nische ETA sind hier nur einige Stichworte. Das ge- neralbundesanwalt übergeben. Laut Aussage der Be- meinsame Landeskriminalamt der fünf neuen Bun- hördenspitze von BKA und des Generalbundesan desländer berichtet sogar über eine Zusammenarbeit Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1317

Hartmut Büttner (Schönebeck) mit Rechtsradikalen wie der Wehrsportgruppe Hoff- Hartmut Büttner (Schönebeck) (CDU/CSU): Bitte mann und anderen. schön. (Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!) Die Spezialisten für die Unterstützung des deut- Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste) : Sie haben schen und internationalen Terrorismus hatten jedoch eben noch einmal den Vorwurf der verbrecherischen ihren Hauptauftrag, wie das hier schon sehr ein- Organisation erhoben. Sie sind sich bewußt, daß diese drucksvoll dargestellt worden ist, in der Beispitzelung Feststellung bedeutet, daß die Schuld der Einzelper- der eigenen Bevölkerung. Das Ausmaß dieses Über- sonen nicht mehr geprüft wird? wachungssystems läßt uns auch heute noch den Atem (Zuruf des Abg. Dr. Wilfried Penner [SPD]) stocken. Die Staatssicherheit — das will ich hier sehr — Das steht im Nürnberger Urteil. klar sagen — war kein aus der Kontrolle geratener Sind Sie sich bewußt, daß sich der Ausdruck „ver- Wildwuchs. Als Schild und Schwert der SED war die brecherische Organisation" auf eine Organisation be- Stasi das innenpolitische Machtinstrument zur Absi- zog, die an der Auslösung des Zeiten Weltkrieges teil- cherung der Diktatur. nahm, die verantwortlich ist für die Ermordung von (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD 6 Millionen, für den Holocaust? und dem Bündnis 90/GRÜNE) (Zuruf von der CDU/CSU: Unsinn, eine sol Ich will das auch in Anbetracht der Rede von Herrn che Verknüpfung!) Heuer hier sehr deutlich sagen: Es fällt mir und vielen Sind Sie sich bewußt, daß das gleichzusetzen mit dem, anderen Abgeordneten in diesem Zusammenhang was an Unrecht in der DDR geschah, eine Bagatelli- schon sehr schwer, mit ehemaligen Kommandanten sierung des Faschismus ist? der Staatssicherheit in einem Parlament sitzen zu müssen. (Widerspruch bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Im Interesse einer neuen demokratischen Kultur wäre Hartmut Büttner (Schönebeck) (CDU/CSU): Lieber es besser gewesen, lieber Herr Modrow, Sie hätten Ihr Kollege — wenn ich antworten darf — , Ihre perma- Mandat im Deutschen Bundestag gar nicht erst ange- nente Verteidigungsrede der Tätigkeit des MfS und treten. seiner verbrecherischen Tätigkeit hat sich hier, glaube- ich, deutlich entlarvt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Sie sollten auch eines zur Kenntnis nehmen: Wir haben in der Tat Übereinstimmungen in den Berei- Soweit, meine Damen und Herren, der Staatssicher- chen der Deportation, der Verurteilung und der Äch- heitsdienst den Terrorismus gefördert, die Men- tung von Menschenrechten auch zwischen dem Sy- schenrechte verletzt und ein System von Dauerüber- stem des Dritten Reiches und dem System, das Sie wachung, Bespitzelung, Zwangstrennung von Fami- bisher vertreten haben, zu verzeichnen. lien, Berufsverboten und auch Pressionen ausgeübt hat, denke ich, ist es auch unsere Aufgabe, deutlich zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) machen, daß wir die Stasi als verbrecherische Organi- sation zu brandmarken haben. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Büttner, ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) statten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeord- neten Gerster? Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter Büttner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Hartmut Büttner (Schönebeck) (CDU/CSU): Bitte Abgeordneten Brecht? schön.

Hartmut Büttner (Schönebeck) (CDU/CSU): Ja. Johannes Gerster (Mainz) (CDU/CSU) : Herr Kol- lege Büttner, können Sie mir bestätigen, daß die Ein- Dr. Eberhard Brecht (SPD): Herr Abgeordneter, stufung als verbrecherische Organisation ja nicht be- wenn Sie hier einige Kollegen des Hauses in Frage deutet, daß das einzelne Mitglied der Organisation stellen, möchte ich Sie noch einmal fragen, wie Sie als damit als Verbrecher bezeichnet wird, sondern daß Abgeordneter der CDU zu der Tatsache stehen, daß die Taten dieser Organisation verbrecherisch sind, noch im Frühjahr 1989 die Bezirksvorstände der CDU was allerdings dazu führen soll, daß Menschen, die in einer engen Zusammenarbeit mit dem Staatssicher- dieser Organisation dann an verbrecherischen Taten heitsdienst zur Enttarnung von sogenannten staats- beteiligt waren, für diese Tätigkeit z. B. nicht noch feindlichen Elementen zustimmten. Renten bekommen? (Beifall bei CDU/CSU) Hartmut Büttner (Schönebeck) (CDU/CSU): Ich denke, jeder der in diesem Zusammenhang gefehlt Hartmut Büttner (Schönebeck) (CDU/CSU): Lieber hat, muß sich seiner persönlichen Verantwortung stel- Herr Kollege Gerster, ich will Ihnen das gerne bestä- len. Das gilt für alle Parteien. tigen, und ich will darauf hinweisen, daß ich es gerade (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) auch im Interesse der Hunderttausende zählenden Opfer für gerechtfertigt halte, die Unterdrückung des Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Büttner, ge- eigenen Volkes jetzt am Ende nicht noch finanziell zu statten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeord- belohnen.. Die vorgesehene Rentenbegrenzung für neten Heuer? Stasi-Mitarbeiter auf 600 DM bzw. 65 % der Durch- 1318 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Hartmut Büttner (Schönebeck) schnittsrente eines Normalbürgers in den neuen Län- 30 Jahre warten. Ich denke, wir sollten in den entspre- dern wird von mir nachdrücklich unterstützt. chenden Gremien nach Mitteln suchen, um diesen 30 Jahren begegnen zu können. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich meine, man sollte auch Ihren Vorschlag, Herr Meine Damen und Herren, Stasi-Opfer mit Berufs- Wartenberg, überprüfen, ob man hier auf wissen- einschränkungen, Ausbildungsverboten und Haftzei- schaftlicher Ebene ein Institut einrichten kann. Das ten dürfen nicht schlechter gestellt werden als ihre wird natürlich nur dann gehen, wenn die Daten, die ehemaligen Peiniger. nicht Staatsdaten sind, ebenfalls freiwillig zur Verfü- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie gung gestellt werden. bei Abgeordneten der SPD) (Zustimmung des Abg. Johannes Gerster Die Sicherung, Aufbereitung, Aufbewahrung und [Mainz] [CDU/CSU]) Nutzung der vielfältigen Unterlagen des Staatssicher- Meine Damen und Herren, auch bei der Nutzung heitsdienstes sind — das haben die Vorredner hier von allgemeinen und personenbezogenen Daten zum sehr deutlich gemacht — ein wesentlicher Kernpunkt Zwecke der Verfolgung von Straftaten sowie der einer notwendigen Vergangenheitsbewältigung. Da- Überprüfung von Abgeordneten, von Mitarbeitern bei ist uns bewußt, daß ein großer Teil des Mate rials des öffentlichen Dienstes oder von Führungskräften in heute leider nicht mehr vorhanden ist. Personalakten der Wirtschaft liegen die Vorstellungen des Bündnis- wurden bereinigt, Lebensläufe korrigiert und bela- ses 90/GRÜNE und der Union nicht weit auseinander. stende Unterlagen vernichtet. Gerade unter Ihrer Die Frage wird sein, meine Damen und Herren, ob wir Ägide, Herr Modrow, ist es fast zu flächendeckenden — neben der Beratung von Gemeinsamkeiten — auch Aktenkorrekturen gekommen, wie wir heute wis- wechselseitig die Kraft aufbringen, die strittigen De- sen. tails der Gesetzentwürfe so zu beraten, daß am Ende (Zustimmung bei der CDU/CSU) wirklich ein von der breiten Mehrheit dieses Hauses getragener Beschluß stehen kann. Die totale Bürokratie eines Überwachungsstaates — das ist ein Stück Hoffnung — läßt allerdings auf viel- Als Vertreter des Bereichs einer deutlichen Sprache schichtige Aufzeichnungen in den unterschiedlich- will ich allerdings auch erklären, daß wir auf die Stim- sten Bereichen der ehemaligen DDR hoffen. Hierzu- men der SED-Nachfolgepartei PDS gern verzichten. zählen auch die Akten der ehemaligen SED. Die PDS hat sich ausdrücklich als Nachfolgerin der ehemaligen Staatspartei bezeichnet. Den mutigen Die enge Verzahnung zwischen der marxistisch Schritt einer Auflösung der alten SED hat man bewußt leninistischen Partei der Arbeiterklasse und dem Staat nicht getan. Die PDS steht damit in der Kontinuität berechtigen zur Überführung der Unterlagen in die und Verantwortung der Täter von gestern. Verantwortung des Bundesarchivs. Art. 1 der DDR- Verfassung und die Wahrnehmung von Staatsaufga- (Beifall bei der CDU/CSU und dem Bünd ben durch die unterschiedlichsten Ebenen der SED- nis 90/GRÜNE) Hierarchie belegen deutlich die staatsbeherrschende Die Mitglieder der PDS rekrutieren sich immer noch Funktion der Einheitspartei. Es gibt hier keinen Zwei- hauptsächlich aus der Mitgliedschaft der SED; für die fel: Die SED verstand sich als Weisungsgeber des Führungsspitze gilt das im übrigen auch. Staates. Aber — das ist angesprochen worden, und da gibt es keinen Dissens, Herr Penner — auch die Akten Um so peinlicher ist der Versuch der PDS, im neuen der Massenorganisationen und der anderen Parteien Unterausschuß zur Aufarbeitung der Akten der deut- müssen in ähnlicher Weise behandelt werden. Dort, schen Securitate als unbefangene Unschuldslämmer wo FDGB, FDJ oder Blockparteien staatliche Funktio- mitwirken zu wollen. nen ausgeübt haben, sind diese Unterlagen in der Art Jetzt muß ich allerdings auch etwas an die Adresse und Weise, wie ich es beschrieben habe, ebenfalls der SPD sagen. Die Peinlichkeit dieses Ansinnens nutzbar zu machen. wurde von Ihnen in dieser Frage leider etwas übertrof- Meine Damen und Herren, die heute zu beratenden fen, weil Sie der PDS eine Mitberatungsmöglichkeit in Gesetzentwürfe der Fraktionen der CDU/CSU und diesem Gremium einräumen wollten. Wenn dieser im FDP sowie der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE bilden, Innenausschuß vorgetragene Vorschlag wirklich ernst denke ich, eine gute Basis für eine sachbezogene Dis- gemeint war, hätten Sie ja durchaus einen Ihrer Sitze kussion in den Gremien dieses Parlaments. Es gibt dafür zur Verfügung stellen können. Wir haben dem auch eine Reihe von Berührungspunkten zwischen Bündnis 90 die Möglichkeit zur Mitberatung einge- dem Antrag von Bündnis 90/GRÜNE und unseren räumt, indem wir auf einen unserer Sitze im Unteraus- Vorstellungen. Frau Köppe ist jetzt leider nicht im schuß verzichtet haben. Denn ich denke, es ist ver- Raum. Ich hätte ihr gerne gesagt, daß ich Übereinstim- nünftig, die Bürgerrechtsgruppen bei dieser Frage in- mungen in Fragen der politischen, historischen, juri- tensiv zu beteiligen. stischen oder auch persönlichen Aufarbeitung der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) MfS-Tätigkeit sehe. Ohne SED hätte es auch keine Stasi gegeben. Wir Ebenso, denke ich, sollte es keine Differenzen in sollten die Grenzen zwischen Tätern und Opfern nicht bezug auf einen umfassenden Anspruch von Opfern mutwillig verwischen. des Staatssicherheitsdienstes auf Auskunft, Rehabili- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tierung und Akteneinsicht geben. Das schließt auch die Suche nach Möglichkeiten der wissenschaftlichen Meine Damen und Herren, wir sollten hier auf jeden Aufarbeitung nicht aus. Auch wir wollen keine Fall die noch zu bewältigenden Schwierigkeiten an- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1319

Hartmut Büttner (Schönebeck) sprechen. Sie betreffen zum einen die Zersplitterung Rolf Schwanitz (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr des Aktenbestands. Gute Argumente, wie sie bei- verehrten Damen und Herren! Als im Dezember 1979 spielsweise vom Bundesfachausschuß Richter und das Politbüromitglied Kurt Hager auf Vorschlag von Staatsanwälte in der Gewerkschaft ÖTV vorgetragen Herrn Höpcke, der damals stellvertretender Kulturmi- worden sind, sprechen für eine zentrale Aufbewah- nister in der DDR war und heute bekanntlich als PDS- rung und Auswertung der Unterlagen. Sie betreffen Abgeordneter im thüringischen Landtag sitzt, ent- aber auch — das sage ich im Nachgang zu dem Red- schied, daß der Leipziger Schriftsteller E rich Loest ner, der vor mir sprach — den fast zur Glaubensfrage keine Reisegenehmigung mehr für die Bundesrepu- hochgeputschten Punkt eines Zugangs des Verfas- blik erhält, begann ein ausgeklügeltes Zersetzungs- sungsschutzes zu den operativen Stasi-Akten. Dabei gefüge des damaligen Ministe riums für Staatssicher- geht es uns ausdrücklich um einen Ausschluß des heit gegenüber Loest, das Loest zwei Jahre später ver- Zugangs zu den Opferdaten; Herr Gerster hat darauf anlaßte, die ständige Ausreise aus der DDR zu bean- hingewiesen. Diese müssen für jede Behörde tabu tragen. sein. Bei dem, was wir heute besprechen, geht es nicht Wer aber eine wirksame Terrorbekämpfung will, um Prominentenfälle. Es geht vielmehr um die Offen- muß auch den Mut haben, die hierfür nötigen Unter- legung und die Aufarbeitung jenes SED-Unterdrük- lagen dem Bundesamt für Verfassungsschutz zur Ver- kungssystems, dessen bedrückendster Auswuchs das fügung zu stellen, und zwar nicht selektiert, sondern Ministerium für Staatssicherheit darstellte und dessen komplett. Wirkung von schlimmsten politischen Verfolgungs- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) maßnahmen bis hin zur Deformation zwischen- menschlicher Beziehungen sowie zur Angst der Men- Dabei ist es wichtig, den Bürgern in den neuen Län- schen voreinander geführt hat. dern ausdrücklich sagen zu können: Der Verfassungs- schutz hat nichts gemein mit dem unseligen Staatssi- Die Fraktion der SPD begrüßt es ausdrücklich, daß cherheitsdienst. durch die vorliegenden Anträge die parlamentarische Diskussion darüber, wie mit dieser Hinterlassenschaft (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) umgegangen werden muß, eröffnet wird. Dabei ist Der Verfassungsschutz dient ausschließlich der Siche- Eile geboten. rung der Freiheit unseres Rechtsstaats und seiner Bür- Wir begrüßen auch, daß sich nun auf der Grundlage ger. Dieses Selbstverteidigungsinstrument der Demo- eines sich doch abzeichnenden breiten Konsenses kratie mit der Stasi auf eine Stufe zu stellen ist böswil- dieses Vorhaben bet rieben werden kann. lig und soll die Bürger der neuen Länder verunsi- Die Opfer — davon bin ich überzeugt — wollen chern. nicht Rache oder Vergeltung, sondern eine Aufarbei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie tung jenes tausendfach erlebten und erlittenen Re- bei Abgeordneten der SPD — Dr. Heribert pressionsapparats, ohne dessen Aufhellung demokra- Blens [CDU/CSU]: Böswillig oder dumm!) tischer Neubeginn in den neuen Bundesländern von Die Bürger in den neuen Bundesländern haben weiten Teilen der Bevölkerung nur unvollkommen viele Hoffnungen in die Arbeit des ersten gesamtdeut- verarbeitet werden wird. schen Parlaments gesetzt. Sie erwarten zu Recht, daß (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP neben einer Regelung über die Unterlagen des alten und dem Bündnis 90/GRÜNE) Systems die Verantwortlichen für Schießbefehl, für die Mauer, für Korruption, für Mißwirtschaft und Will- Die Kenntnis des Zusammenhangs der diktatorischen kür zur Rechenschaft gezogen werden. Vergangenheit ist für die demokratische Zukunft un- abdingbar. Hier kann es keine elitär wissenschaftliche Ich will auch hier vor dem Deutschen Bundestag Aufarbeitung geben, sondern das muß auf die breite- sagen: Es erfüllt mich persönlich mit Schmerz, daß es ste Grundlage gestellt werden. bisher nicht gelungen ist, die Verantwortlichen des Regimes einem gerechten Verfahren zuzuführen. Wir Wir versprechen uns von dieser Offenlegung auch müssen deutlich machen, daß dies eine Aufgabe der eine Versachlichung der MfS-Debatte. Dies betrifft Strafverfolgungsbehörden und nicht der Politik ist. zum einen die Frage der künftig zu akzeptierenden Aber auch die zuständigen Staatsanwaltschaften soll- beruflichen Einsatzmöglichkeiten ehemaliger MfS- ten sich ihrer großen Verantwortung in dieser Frage Mitarbeiter. Ich begrüße es ausdrücklich, daß diese bewußt sein. Frage durch den Antrag des Bündnisses 90/GRÜNE hier hineingetragen wird. Aber wir erwarten auch Meine Damen und Herren, die Bürger werden den eine neue Bewertung der tatsächlichen Täterkatego- Rechtsstaat letztlich nur dann als ihren Staat akzeptie- rien. Es geht nicht nur um die offizielle oder inoffizielle ren, wenn sie Gerechtigkeit auch erleben können. Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit, Durch eine breite Mehrheit für die vorliegenden Ge- sondern auch um jene Personen, die Auftraggeber setzentwürfe können wir eine gute Voraussetzung gegenüber dem Ministerium für Staatssicherheit wa- hierfür schaffen. ren. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und dem Bündnis 90/GRÜNE) Wir gingen an der Realität vorbei, richteten wir den Blick nur auf die Spitze, die Führungsoffiziere und Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der deren Vorgesetzte und ließen wir jene Parteigrößen Abgeordnete Rolf Schwanitz. außen vor, die mit lockeren Randnotizen an den MfS 1320 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Rolf Schwanitz — Parteiinformationen — diesen ganzen Apparat ziel- fixiert sind, beinhaltet der vorgelegte Antrag — Frau gerichtet in Bewegung gebracht haben. Köppe hat darauf noch einmal hingewiesen — die Variante, daß die Aufgabe des Sonderbeauftragten als (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern und dem Bündnis 90/GRÜNE) ausgestaltet werden kann. Ich glaube, wir alle werden Hier hilft kein Sichverstecken hinter biederen Mienen hierüber — dies auch kritisch — noch einmal nach- und kein Betonen von Verdiensten in der jüngsten denken müssen. Vergangenheit, sondern hier muß aufgeklärt und mit Die sozialdemokratische Fraktion betont — ich gleichem Maß gemessen werden. glaube, auch darin sind wir uns einig — , daß es vor Auch deshalb sind umfangreiche Zugangsrechte allen Dingen darum gehen muß, daß die vorhandene des Sonderbeauftragten zu den Archiven der ehema- Aktensubstanz nach einheitlichen Kriterien genutzt ligen Parteien und Massenorganisationen für uns un- und ausgewertet wird. Wir plädieren dafür, daß das abdingbar. Eine erste Voraussetzung dafür, daß der Amt des Sonderbeauftragten als obere Bundesbe- Sonderbeauftragte diese umfassende Aufgabe wahr- hörde auszugestalten ist, ohne daß er einer speziellen nehmen kann, ist, daß er über das noch existierende Fachaufsicht unterworfen wird. Der Sonderbeauf- Aktenmaterial verfügen darf. Alle MfS-Aktenbe- tragte muß in inhaltlichen Fragen lediglich dem Ge- stände, die auf den verschiedensten — merkwürdigen setz unterworfen sein. und weniger merkwürdigen — Wegen aus dem Be- Neben dem zentralen Beirat schlagen wir dezen- stand des MfS herausgetragen worden sind und sich vor und hoffen, daß derzeit bei Organisationen, Einzelpersonen oder Be- trale Beiräte auf Länderebene dadurch regionale Anliegen, die hier tatsächlich be- hörden befinden, müssen in den Einzugsbereich des rechtigt existieren, besser durchgesetzt werden kön- Sonderbeauftragten gelangen. nen. (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Ich will an der Stelle aber gern bekennen, daß auch GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ wir in diesem Punkt mit der Diskussion noch nicht CSU) fertig sind. Ich glaube, wir müssen in den Ausschüs- Wir brauchen eine Anzeigepflicht derer, die heute sen auch darüber reden, ob der Sonderbeauftragte über derartiges Mate rial verfügen, und wir brauchen nicht auch als ein Organ des Bundestages denkbar die Befugnis, die Herausgabe zu fordern. Nur so ist wäre — beispielsweise ähnlich dem Wehrbeauftrag- dieses leidige Problem der kursierenden Akten und ten. Dies könnte entscheidende und wichtige Vorteile der damit verbundenen Unklarheiten in den Griff zu haben hinsichtlich der doch wohl zu erwartenden bekommen. zahlreichen Konfliktfälle, die auftauchen werden, und den parlamentarisch notwendigen Kontroll- und Be- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ gleitungsvorgängen. GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Ein wesentlicher Teil der für unsere Beratungen GRÜNE) aufzubringenden Zeit wird auf die Frage verwendet Eine entscheidende Voraussetzung für die eingangs werden müssen, wie künftig die Behördenstruktur bereits erwähnte wissenschaftliche, politische und des Sonderbeauftragten auszusehen hat. Dabei persönliche Aufarbeitung dieses Unrechtssystems in glaube ich, daß es nun glücklicherweise unstrittig ist der ehemaligen DDR ist die Ausgestaltung der Rechte — das entnehme ich auch den Worten von Herrn Ger- der Betroffenen. Die Hinterlassenschaft des ehemali- ster — , daß die Aktenbestände in den neuen Bundes- gen Ministeriums für Staatssicherheit setzt sich sozu- ländern verbleiben und daß hierfür auch die archiv- sagen aus über 100 Kilometer langem Aktenmaterial seitigen Voraussetzungen, die sich in den neuen Bun- zusammen, das in den allermeisten Fällen die Qualität desländern einschließlich ergeben, nun ge- von personenbezogenen Mate rialien besitzt. nutzt werden können. Die von der Tätigkeit dieses Überwachungssystems (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten betroffenen Bürger müssen die Möglichkeit erhalten, der CDU/CSU) sich über die zu ihrer Person gesammelten Daten zu Aber dies ist nur ein Problem. Die andere Frage lau- informieren. tet: Wie soll jene Behörde, die sich mit der Verwaltung (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ derart sensiblen Unrechtsmaterials beschäftigen muß, GRÜNE) in das System der legislativen und exekutiven Struk- turen in der Bundesrepublik eingebaut werden? Jedem Bürger muß ein Auskunftsrecht eingeräumt werden. Jedem steht der Anspruch zu, vom Sonderbe- Zum einen brauchen wir eine leistungsfähige und auftragten darüber in Kenntnis gesetzt zu werden, ob bürgernahe Behördenstruktur. Dies setzt allgemein beim MfS Informationen zu seiner Person gesammelt hohe Erwartungen an die finanziellen und personel- worden sind. len Ausstattungen des Amtes des Sonderbeauftrag- ten. Zum anderen rückt die Tatsache, daß es hier um Neben diesem Auskunftsrecht muß der Betroffene brisante Arbeitsfelder, um sensible Bereiche geht, das das Recht auf Einsichtnahme in die zu seiner Person besondere Augenmerk auf die Unabhängigkeit dieser gesammelten Akten erhalten. Das muß im Gesetz ge- Behörde. regelt werden. Wenngleich Bündnis 90/GRÜNE im allgemeinen (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP sehr stark auf die Intentionen der Bürgerkomitees und dem Bündnis 90/GRÜNE) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ril 1991 1321

Rolf Schwanitz Dabei ist es sicherlich richtig, daß in den Aktenbestän- Nur dann ist eine Aufhellung dieses unseligen Ver- den neben den Informationen über den Betroffenen dächtigungs- und Mißtrauenssystems möglich, wel- zufälligerweise auch Informationen über Dritte ge- ches wir immer noch mit uns herumschleppen und sammelt worden sein können, die wir hier nicht außer welchem in einem sicherlich langwierigen Prozeß ein acht lassen dürfen. Ende bereitet werden muß. (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Danke schön. Richtig!) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Jene zufälligerweise durch beispielsweise Abhörak- und beim Bündnis 90/GRÜNE — Johannes tionen, durch die Brechung des Postgeheimnisses Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das können wir oder durch den Spitzeleinsatz erlangten Informatio- alles unterschreiben! — Weiterer Zuruf von nen über Dritte sind ebenfalls schutzbedürftige Infor- der CDU/CSU: Gute Rede!) mationen und müssen vor unbefugter Nutzung ge- schützt werden. Deshalb muß das Einsichtsrecht der Betroffenen in seine Akten dort seine Grenzen finden, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der wo die Rechte unbeteiligter Dritter als schutzbedürftig Abgeordnete Dr. Burkhard Hirsch. eingeschätzt werden. (Dr. Willfried Penner [SPD]: Herr Burkhard (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist auf jeder Hirsch [Halle]!) Seite!) Vollkommen anders — darüber gibt es, glaube ich, Dr. Burkhard Hirsch (FDP): Düsseldorf, Herr Kol- bei uns Konsens — verhält sich dies in der Tat bei lege. — Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Da- inoffiziellen, bei offiziellen Mitarbeitern und — um men und Herren! Ich kann mich am Ende dieser De- das eingangs Erwähnte noch einmal mit einzuflech- batte auf wenige Bemerkungen beschränken. ten — bei der Kategorie der Auftraggeber des Mf S. Es ist völlig richtig, Herr Gerster, wenn Sie eben (Zustimmung bei der CDU/CSU) gerufen haben: Das können wir mit unterschreiben. Informationen über Mitarbeiter des MIS und Auf- Diese Debatte hat mehr Gemeinsamkeiten gezeigt, traggeber, die zwangsläufig in diesen personenbezo- als man am Anfang erwarten konnte. genen Materialien der Betroffenen vorhanden sind, Ich habe den Eindruck, daß wir uns völlig einig müssen als nicht schutzwürdig eingestuft werden. darin sind, daß wir die dokumentarische Hinterlas- Dies kann die Einsichtsrechte der Betroffenen nicht senschaft des SED-Regimes erfassen wollen, und einschränken. zwar nicht nur die staatlichen Akten, sondern auch die (Zustimmung des Abg. Johannes Gerster Akten der Parteien und Massenorganisationen, soweit in ihnen staatliche Aufgaben ausgeübt wurden, und [Mainz] [CDU/CSU]) das ist ja geschehen. Vieles ist inzwischen bekanntge- Ich möchte an dieser Stelle extra darauf verweisen, worden, mit welcher lockerer Hand auch in Partei- daß meiner Meinung nach eine Fristsetzung für die organisationen unmittelbar in strafrechtliche Urteile Auskunfts- und Einsichtsrechte der Betroffenen in und Strafverfahren bis hin zur Verfügung von Todes- ihre Akten äußerst kritisch anzugehen ist. Es wäre ein strafen eingegriffen wurde. Es sind unglaubliche Vor- falsches Signal, wenn man dieses Instrument der Be- gänge, die nicht verdeckt bleiben dürfen. troffenen zeitlich limitieren würde. Dies könnte von Zum Archivgesetz: Natürlich kann man sich dar- den Bürgern in den neuen Bundesländern nur falsch über streiten. Wir wollen nichts zerreißen. Wir wollen verstanden werden. zusammenführen und diese staatliche Tätigkeit (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Wol-durchsichtig machen. Das Archivgesetz hat gegen- len wir auch gar nicht!) über den anderen Konstruktionen einen wesentlichen Dabei wissen wir sehr wohl, daß der Prozeß der poli- Vorteil, nämlich daß in der Tat jedermann in gleicher tischen, aber auch der persönlichen Aufarbeitung der Weise der Zugang zu den Akten eröffnet wird und daß Vergangenheit erneut mit Schmerz und bitterer Er- keine Abschichtung erfolgen kann, wer Zugang be- kenntnis verbunden sein wird, im Kollegenkreis, in kommen soll oder nicht. Das ist eine unabdingbare langjährigen freundschaftlichen Beziehungen, bis Voraussetzung, glaube ich, für jede archivarische und hinein in die engsten Familienstrukturen. Ich bin si- dokumentarische Nutzung. cher, daß es nicht jeder Betroffene, obwohl er jahre- Zu den Stasi-Akten: Es ist eines der schwierigsten lang unter Repressalien gelitten hat, darauf ankom- Gesetzgebungsvorhaben, die ich in diesem Hause er- men lassen wird, diese Mate rialien zu sehen. Unab- lebt habe, hier etwas Richtiges zu entscheiden. Ich dingbar ist jedoch, daß der Gesetzgeber dem Betrof- halte die Diskussion darüber, ob der Staatssicherheits- fenen die Möglichkeit zur Aufarbeitung der Vergan- dienst eine verbrecherische Organisation war. für mü- genheit im engsten persönlichen Umfeld gibt, wenn er ßig. Es war eine Organisation, die Verbrechen began- dies will. Der Staat darf sich an dieser Stelle nicht gen hat. erneut vormundschaftlich vor die Betroffenen stel- Es stockt einem der Atem, wenn man die Akten len. sieht, wenn man sieht, mit welchem Perfektionismus Diese Aufarbeitung ist nur dann möglich, wenn der Menschen mit einer perfiden Bosheit unterdrückt, Sonderbeauftragte bei der Einsichtnahme durch den schikaniert, ausgespitzelt worden sind. Es ist völlig Betroffenen das entsprechende Aktenmaterial mit richtig, wenn gesagt worden ist, daß die strafrechtli- Klarnamen versieht, also mit den tatsächlichen Na- che Aufarbeitung dieser Vorgänge leider auf sich war- men derer, die diese Spitzelarbeit geleistet haben. ten lasse und daß hier mehr geschehen sollte. 1322 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Dr. Burkhard Hirsch Alle Parteien haben ihre Punktationen darüber vor- jenigen, die diese Verflechtung haben und wissen, gelegt, wie diese Akten behandelt werden sollten. daß sie sie haben, ihre eigene Lage beurteilen. Ich sehe weite Übereinstimmung in der Frage des Man muß auf der anderen Seite aber auch eines Einblicks der Opfer in ihre Akten, auch der Nutzung sagen: Wir werden dieses Problem, das das Schicksal der Täterakten, auch der Verpflichtung, Akten der von vielen Tausenden von Menschen berührt, nicht Sonderbehörde zuzuführen, also nicht etwa privat Ak- ohne Toleranz lösen können. Die Frage ist nur, wer die ten zu besitzen, sich sozusagen den Giftpfeil auf Vor- Toleranz einfordern darf. Ich denke, daß jemand, der rat zu halten, bis er nach Opportunität benutzt werden zu der Nachfolgeorganisation dieses Unterdrük- darf. Alles das darf nicht stattfinden. kungsregimes gehört, wohl als Letzter hierher gehen und Toleranz fordern sollte. Zum Einblick des Bundeskriminalamtes und des (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Generalbundesanwalts: Frau Köppe, Sie haben recht. bei Abgeordneten des Bündnisses 90/ Ich habe mich in gleicher Weise vergewissert. Es ist GRÜNE) nicht nur eine Rechtslage, sondern es entspricht der Wirklichkeit, daß im Zusammenhang mit der Terroris- Richtig ist es: Keine hastigen Entscheidungen in die- musbekämpfung, also der konkreten Verfolgung von sen schwierigen Fragen, enge Zusammenarbeit auch Straftaten, das Bundeskriminalamt und der General- mit den Landesregierungen der sechs neuen Bundes- bundesanwalt jede Akteneinsicht bekommen hat, die länder in diesen Fragen und, meine Kollegen, Tole- es oder er haben wollte. Hier kann nicht und sollte ranz gegenüber den Menschen, die in Versuchung nicht der Eindruck geschaffen werden, daß durch un- geführt worden sind und die dieser Versuchung erle- sere Diskussion darüber, wie bestimmte Akten einge- gen sind! sehen werden dürfen, etwa die Straftatenverfolgung (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD leidet. Das ist nicht der Fall. Wir stehen zweierlei Pro- und dem Bündnis 90/GRÜNE) blemen gegenüber. Wenn die Akten und insbeson- dere die Informationen über Opfer in diesen Akten in einer so miesen Weise zustande gekommen sind, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der nämlich so, daß nach unserem Rechtssystem ein abso- Abgeordnete Dr. Gregor Gysi. lutes Verwertungsverbot bestehen würde, ist zu fra-- gen, ob die Akten, zu welchem Zweck auch immer, genutzt werden können. Ich denke, daß das nicht der Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Frau Präsiden- Fall sein darf. tin! Meine Damen und Herren! Zur Frage der Stasi Akten ist vielfach gesprochen worden. Ich habe dazu Wir haben ein zweites Problem, das wichtig ist. Ak- eine ziemlich lange Erklärung abgegeben, weil ich ten, die als lose Blätter herumliegen oder teilvernich- wußte, daß die Zeit hier knapp ist. Ich selbst will hier tet sind, sprechen nicht mehr. Herr Modrow hat eine zum Parteiarchiv sprechen. schwere Verantwortung auf sich geladen, als er die Akten der Hauptverwaltung Aufklärung vernichten Herr Schmieder, das ganze Problem besteht darin: ließ und damit die Verbrecher schützte, die mit der Wenn Sie sich hier hinstellen und genau das machen, RAF zusammengearbeitet haben. was ich kritisiere, wenn Sie nämlich, obwohl Sie selbst einer Blockpartei in der früheren DDR angehörten, so (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) tun, als ob Sie mit all dem überhaupt nichts zu tun hätten und lediglich auf andere verweisen, dann wer- Darum ist es im Augenblick vorrangig, daß alles den wir aus dem Zug der Verdrängung der Ge- Denkbare getan wird, um wenigstens die Restbe- schichte nicht herauskommen. Wir müssen also auch stände zu erschließen, und zwar nicht erst in vielen selbstkritisch sein. Nur so, glaube ich, können wir Monaten, sondern jetzt und sofort. Wir bitten den Bun- diese schwierigen Fragen lösen. Ich habe das im Zu- desinnenminister, wirklich alles nur Denkbare zu tun, sammenhang in der Erklärung darzustellen ver- um zu einer schnellen Erschließung dieser Akten zu sucht. kommen. Was die Frage des Parteiarchivs betrifft, so ist dieser (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) Bundestag, glaube ich, dabei, einen großen Fehler zu begehen, wenn er diesen Gesetzentwurf annehmen Ich will hier, weil meine Zeit abläuft, nichts mehr würde. Es wäre ein Kulturfrevel. Das würde nämlich sagen über die Sicherheitsprüfung oder über die sehr bedeuten, Teile des Parteiarchivs herauszulösen und schwierige Frage, die Sie in Ihrem Antrag als Grund- damit eine einzigartige historische Dokumentation zu satz behandeln, nämlich welche berufliche Zukunft zerstören. Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes haben soll- ten oder haben könnten. Wir sind der Überzeugung, (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: daß diejenigen, die im Staatssicherheitsdienst tätig Dann stellen Sie es doch ganz zur Verfü waren oder ihm Aufträge erteilt haben, mit ihm ver- gung!) bunden waren, im öffentlichen Leben nichts zu su- — Das kriegen Sie auch nicht mehr hin. Sie wissen chen haben, auch sehr genau, daß es eine Reihe von Dispositärver- trägen gibt. Auch diese Teile des Archivs wären dann (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie für immer verloren. bei Abgeordneten der SPD) (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: und zwar auch nicht im politischen öffentlichen Le Dann geben Sie es doch ganz heraus! Dazu ben. Es bedrückt mich, mit wie wenig Selbstkritik die sagt er nichts!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ril 1991 1323

Dr. Gregor Gysi Es geht also darum, sicherzustellen, daß es geschlos- Sie dürfen es nicht sagen; das ist das Problem, weil Sie sen erhalten bleibt ja keine Ahnung haben. Sie haben ja auch nicht dort (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Also gelebt. wird es ganz herausgegeben!) (Gerhard Reddemann [CDU/CSU]: Sie sind und daß es für wissenschaftliche, historische und an- ein Scherzbold!) dere Zwecke nutzbar wird. Dazu gibt es auch Vorstel- lungen. Ich will noch ein zweites zum Parteiarchiv sagen. Namen wie Hermann Weber, Wolfgang Leonhard, Harold Hurwitz, Narihiko Ito und andere sind Ihnen ja Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter sicherlich bekannt. Alle sind sehr bedeutende Histori- Gysi, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Ab- ker, denen man vieles nachsagen kann, aber nicht geordneten Dr. Krause (Bonese)? gerade PDS-Nähe oder SED-Nähe oder irgend so et- was. Es hat vielleicht einen Wert, daß diese sagen, daß das Archiv geschlossen erhalten bleiben muß und daß Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Bitte schön. sie jetzt Möglichkeiten der Nutzung haben, wie sie sie in keinem anderen Archiv haben, auch nicht im Bun- Dr. Rudolf Krause (Bonese) (CDU/CSU) : Herr Dr. desarchiv. Gysi, die umfangreichen Kenntnisse, über die dieses — von Ihnen so bezeichnete — kulturhistorische Ar- Die Öffentlichkeit wird nämlich durch die Über- chiv verfügt, und die umfangreichen Kenntnisse über nahme in das Bundesarchiv auf Grund der im Bundes- personelle Verstrickungen, die aktive Mitglieder ihrer archivgesetz geregelten Sperrfristen praktisch ausge- Partei in den Verwaltungen und anderswo noch ha- schlossen. ben, veranlassen mich zu der Frage: Ist Ihnen be- (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: kannt, in wie vielen Fällen ehemalige SED-Genossen Nein!) von sich aus ihre Kenntnissse zur Offenlegung und Aufarbeitung von Verbrechen, die innerhalb der — Sie legen ja einen Gesetzentwurf vor. Sie haben in Staatssicherheit, der Kriminalpolizei usw. aus politi- diesem Gesetzentwurf die Sperrfristen nicht geändert. schen Gründen begangen wurden, preisgegeben ha- Sie haben einfach gesagt: Das sind Staatsakten, ben? - Schluß! Die gehören uns. — In diesem Entwurf ist von Sperrfristen oder anderen Dingen nicht die Rede. Das ist eine klare Tatsache. Das heißt: Das ist auch nicht Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Das hat jetzt zwar nichts mit dem Parteiarchiv zu tun, aber ich will Ihr Ziel. Ihnen trotzdem antworten: In ziemlich vielen Fällen (Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Was ist denn mit und zum Teil sogar in unangenehmer Weise, indem dem Tatort Politbüro?) sie nämlich das Ganze kommerzialisieren. Es sind kei- nesfalls nur positive Elemente dabei, sondern auch Im übrigen ist die juristische Argumentation sehr ausgesprochen unangenehme. Dafür kann ich Ihnen zweifelhaft. Sie stützen sich z. B. auf Art. 1 der Verf as viele Beispiele nennen. Sie dürfen nicht vergessen: sung der DDR von 1968 und vergessen, daß das vorher Diese SED hatte 2,3 Millionen Mitglieder. 2 Millionen nicht geregelt war. Sie vergessen das Provenienzprin- davon sind in verschiedensten Parteien unterge- zip, daß also in den Archiven nach dem Entstehungs- taucht, oder sie sind parteilos. Etwa 280 000 oder et- ort und nicht nach dem Inhalt eingeordnet wird. Sie was weniger — es waren ja nicht alle in der SED — wissen ganz genau, daß, wenn es allein um die Fragen sind bei uns. Das ist ein Bruchteil der ehemaligen der staatlichen Aufgaben oder des staatlichen Bezugs SED-Mitglieder. Sie müssen sich auch einmal in den geht, auch riesige Teile der Parteiarchive von CDU anderen Parteien umschauen und gucken, wo sie alle und FDP und SPD in das Staatsarchiv müßten; denn geblieben sind. keine Partei beschäftigt sich nicht mit staatlichen An- (Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Oder der harte gelegenheiten. Die ungeheure Verstrickung, die es Kern! — Johannes Gerster [Mainz] [CDU/ auf diesem Gebiet gab, hat dazu geführt, daß diese CSU]: Die Betonköpfe! Vorsitzender des Unterlagen alle zusätzlich ins Staatsarchiv gekommen Vereins der Betonköpfe! — Weitere Zurufe sind — dann als staatliche Beschlüsse. von der CDU/CSU) Ich will noch etwas hinzufügen. Sie führen eine —Ich kann Ihnen die Kreissekretäre, die die DSU auf- Ungleichbehandlung durch und verdrehen die Ge- gebaut haben, oder diejenigen, die jetzt bei der CDU schichte. Sie tun so, als ob die SED im Auftrag des sind, zeigen. Sie müssen sowieso ein bißchen aufpas- Staates handelte, obwohl es genau umgekehrt war: sen. Die CDU war nun zweifellos ein Mittäter der SED. Der Staat handelte im Auftrag der SED. Wenn man mit Mittätern fusioniert, kommt man selbst natürlich in schwierige Situationen, wie das an Hand (Zurufe von der CDU/CSU) des Schicksals der CDU ja leicht festzustellen ist. Diesen juristischen Trick müssen Sie aber einführen, (Zustimmung bei der PDS/Linke Liste — weil sonst auch Ihre Akten weg sind. Gerhard Reddemann [CDU/CSU]: Das darf jeder sagen, nur nicht Sie!) (Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Was ist mit dem — Doch, doch, das darf ich sagen, gerade ich. Tatort Politbüro? Erzählen Sie dazu etwas!) (Gerhard Reddemann [CDU/CSU]: Sie ver- — Wenn Sie eine Zwischenfrage haben, stehen Sie treten eine verbrecherische Organisation!) auf, Herr Bohl. Reden Sie nicht immer hintenherum; 1324 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ril 1991

Dr. Gregor Gysi Sie müssen sich auch offen zu Ihren Fragen beken- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Jetzt ist die Redezeit nen. beendet. (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das (PDS/Linke Liste): Beschäftigen Sie ist eine Unverschämtheit!) Dr. Gregor Gysi sich doch einmal mit den Sachfragen. Dann werden Ich will Ihnen noch sagen — das halte ich für wich- Sie dies hoffentlich nicht tun. tig —, daß Sie eine Ungleichbehandlung durchführen. Wenn Sie diesen juristischen Maßstab nehmen, müs- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das kann im Aus- sen Sie große Teile der Archive Ihrer alten Bundespar- schuß weiterberaten werden. Ihre Redezeit ist jetzt teien an das Bundesarchiv herausgeben, weil dort beendet. sehr viel von staatlichen Angelegenheiten die Rede ist; das wissen Sie ganz genau. Natürlich ist für Sie die Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Wenn doch, ehemalige DDR anders zu behandeln. dann ist das Ausdruck einer reinen Besatzermentali- Ich habe eine große Bitte an Sie, weil es hier um tät. Das ist das einzige, was Ihnen noch nicht ge- einen großen historischen, auch kulturpolitischen hört. Wert geht, weil es um die wissenschaftliche Aufarbei- (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Wider tung geht: Bevor Sie hier etwas entscheiden, schauen spruch bei der CDU/CSU und der FDP) Sie sich das Archiv an; es ist offen. Fahren Sie zum Archiv, bevor Sie hier etwas anrichten, was von größ- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat die tem Schaden wäre. Machen Sie ein Hea ring! Hören Abgeordnete Frau Dorle Marx. Sie Archivare, hören Sie Wissenschaftler an. Laden Sie solche ein, von denen Sie überzeugt sind, daß sie Dorle Marx (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen überhaupt nichts mit uns zu tun haben. Dabei werden und Herren! Die Stasi hat nach dem Stand der bishe- Sie feststellen, daß Sie, wenn Sie die Entscheidung auf rigen Auswertung über mehr als 10 Millionen Bürge- der Grundlage dieses Entwurfs treffen, einen dauer- rinnen und Bürger Informationen gesammelt; darun- haften Schaden anrichten. Dazu hat auch das Parla- ter sind 8 Millionen Bürgerinnen und Bürger der ehe- ment, glaube ich, kein Recht, ein solches Kulturgut zu maligen DDR, 2 Millionen aus der alten Bundesrepu- zerstören. - blik. Die vorläufige Benutzerordnung, die derzeitige Gestatten Sie mir noch einen Hinweis. Wir selbst Rechtsgrundlage für die Behandlung des trotz Ver- suchen nach einer Lösung. Wir haben mit der F ried- nichtungsaktionen noch überreich vorhandenen Ma- rich-Ebert-Stiftung verhandelt, um einen Trägerver- terials, diente vor allem folgenden vordringlichen Zie- ein zu bilden, der dieses Archiv verwalten und nutz- len: bar machen kann. Ich füge heute ausdrücklich hinzu: Erstens. Sie sollte eine verläßliche Zusammenfüh- Ich hätte überhaupt nichts dagegen, wenn in diesem rung des Materials ermöglichen und weitere Vernich- Verein ein Vertreter des staatlichen Archives mit- tung und weiteren Mißbrauch des Mate rials durch wirkt, damit die Aufarbeitung der Geschichte, der sichere Verwahrung ausschließen. Schutz persönlicher Daten, gleichzeitig aber auch die Zweitens. Sie sollte vorab unaufschiebbare Auswer- Erhaltung der Geschlossenheit gesichert ist. tungen ermöglichen, darunter etwa die Verfolgung Sie dürfen eines nicht vergessen: der vom oder im Zusammenhang mit dem MfS began- genen Straftaten. Sie gestattet auch die Nutzung zu Einstellungsüberprüfungen oder zur Überprüfung von Bewerbern um politische Mandate. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Dr. Gysi, Ihre Redezeit ist beendet. Die Opfer, die Betroffenen der Bespitzelung, warten seit der Wende — und damit nicht erst seit Oktober letzten Jahres — , nun schon eineinhalb Jahre, auf ein Recht auf Zugang zu ihren Akten, auf ein Recht auf Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Ich bin sofort fer- Einsicht und auf die Ermöglichung des Beginns der tig. politischen und historischen Aufarbeitung. Diese ei- Wir müssen eine Lösung finden, ohne daß diejeni- gentliche Arbeit spätestens ab dem Sommer — das ist gen, mit denen Dispositärverträge bestehen — das spät genug — zu ermöglichen ist dankenswerterweise sind wichtige Teile des Archivs — , nicht dazu verleitet gemeinsames Ziel aller Parteien hier. werden, zu sagen: Ich will mein Eigentum wiederha- Nun gesellen sich aber zu dem legitimen Interesse ben. Dagegen könnten wir nichts machen. Sie brau- der Opfer an ihrer Rehabilitierung und dem Beginn chen aber uns, Sie können uns nicht draußen lassen; der politischen Aufarbeitung und der Strafverfolgung denn wir müssen mit ihnen reden, damit sie ihr Eigen immer weitere Interessenten für das Material des tum nicht zurückfordern. Es muß dafür eine Lösung MfS. Die Nachrichtendienste und das Bundesamt für gefunden werden, die auch für diese Leute akzepta- Verfassungsschutz sind die spektakulärsten An- bel ist. Im Augenblick besteht die große Gefahr, daß spruchsteller. Alle diese Interessenten betonen aller- wir sie nicht finden, wenn auf diesem Gebiete weiter- dings, die illegal erworbenen personenbezogenen hin im Wege der Konfrontation argumentiert wird. Opferakten nicht haben zu wollen. Dennoch — und (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Ge- das ist des Nachdenkens wert — halten wir Sozialde- ben Sie es heraus; dann ist alles klar!) mokraten diese Begehrlichkeiten für gefährlich. — Nein, dann holen sie es zurück. Das ist der Punkt: Es wird nämlich im Ergebnis davon ausgegangen, Sie haben eben einfach keine Ahnung; es tut mir neben den schrecklichen Bespitzelungsberichten wirklich furchtbar leid. gebe es im Bereich der sogenannten operativen Be- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1325

Dorle Marx richte oder der Täterakten vermeintlich objektiver zu eine Anfrage der Fraktion der GRÜNEN/Bündnis 90 bewertendes Material. Je nachdem, um welche Kate- am 8. November 1990 ausführte: gorie es sich handelt, wird ein erweitertes Zugangs- In Übereinstimmung mit diesem Beschluß recht gefordert. So weit und noch so gut, meinen viele. Nun gerät dabei aber außer Sicht, daß erstens die sau- — gemeint ist der Beschluß des Innenausschusses — bere Trennung oftmals nicht möglich sein dürfte und schließt die Bundesregierung auch nach Erlaß der zweitens und wichtiger die Frage ist, ob es denn über- beabsichtigten Benutzerordnung ein unmittelba- haupt irgendwelche „sauberen" Stasi-Akten gibt. res Zugriffsrecht aufgrund von § 2 Abs. 1 Nr. 4 Wir haben es hier — das wird oft vergessen — mit — gemeint ist hier die entsprechende Vorschrift in Material einer Behörde zu tun, die nach demokrati- Anlage I Kapitel II Sachgebiet B Abschnitt II Num- schem Rechtsverständnis ohne jede Rechtsgrundlage mer 2 Buchstabe b des Einigungsvertrages — und unter grobem Verstoß gegen jegliche rechtsstaat- lichen Prinzipien gearbeitet hat. aus. Die jüngsten Terroranschläge der RAF haben weder (Beifall bei der SPD) eine neue Rechtslage geschaffen noch eine neue Be- Ich frage mich, wo diejenigen, die die Einsichtnahme darfslage ergeben. Der Generalbundesanwalt — Frau in nicht opferbezogenes oder in sogenanntes rein ope- Köppe hat darauf dankenswerterweise schon hinge- ratives Material verlangen, eigentlich die Gewißheit wiesen — teilte in der Sondersitzung des Innenaus- hernehmen, sich auch dabei nicht die Finger schmut- schusses in der letzten Woche mit, daß ihm sowohl von zig zu machen. der letzten DDR-Regierung als auch von der Gauck Behörde alles im Zusammenhang mit Terrorismus Wir wissen heute, daß selbst zwischen Täter und aussagefähige Mate rial überlassen bzw. zugänglich Opfer nicht immer leicht zu unterscheiden ist. Nicht gemacht worden sei und werde. Das eigentliche Pro- selten wird es Täter geben, die selber Opfer waren, blem in diesem Zusammenhang ist, daß es selbst der nämlich vom MfS zuvor zur Mitarbeit erpreßt worden Generalbundesanwalt nicht schaffte, dieses umfängli- sind. che Material bis heute ausgewertet zu haben. Diese Problematik wird bereits im Rahmen des (Dr. Heribert Blens [CDU/CSU]: Das setzt selbstverständlich schon im Opferinteresse erforderli- - aber ein Ermittlungsverfahren voraus!) chen und bereits vorhandenen Zugangs der Strafver- folgungsbehörden nicht leicht zu bewältigen sein. Von Auswertungshindernissen, die neue Zugangs- Wir befürworten übrigens in diesem Zusammenhang rechte erfordern, kann danach keine Rede sein. ein Recht des Sonderbeauftragten, Vorgänge, die (Beifall bei der SPD) Hinweise auf Straftaten enthalten, von sich aus den Strafverfolgungsbehörden bekanntzumachen, das so- Die Diskussion um Zugangsrechte des Verfassungs- genannte Recht auf Spontanübermittlung. schutzes und der Nachrichtendienste ist im übrigen geeignet, bei den Opfern den Eindruck zu erwecken, Die im Strafprozeßrecht geltenden Beweiserhe- ihre Interessen würden im Zweifel hintangestellt. bungs- und Beweisverwertungsverbote müssen hier Denn eines wird auch oft vergessen: Jede Akte, die entsprechend Anwendung finden. Unterlagen mit abgegeben wird, steht für Auskünfte an Opfer oder rechtsstaatswidrig gewonnenen personenbezogenen deren Nachkommen, steht für die politische und drin- Erkenntnissen, also insbesondere die Opferakten, gend gebotene historische Auswertung nicht zur Ver- dürfen grundsätzlich nicht zum Zweck der Strafverfol- fügung. gung verwendet werden. Ausnahmen können nur bei Für Zugangsrechte, deren Erfordernis nicht einmal schwersten Straftaten erwogen werden. nachgewiesen ist, gibt es keine Legitimation. Der Ver- Die Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsver- zicht auf solche Zugangsrechte ist damit keineswegs bote müssen wegen ihrer rechtsstaatlichen Bedeu- nur eine Frage der politischen Rücksichtnahme auf tung über den Bereich der Strafverfolgung hinaus bei besondere Sensibilität in der ehemaligen DDR. Wir der Nutzung des Stasi-Mate rials generell Grenzen können und sollten es uns leisten, unsere Nachrich- setzen. tendienste und den Verfassungsschutz ihre Aufgaben ohne Rückgriff auf Material einer Behörde erfüllen zu Wir Sozialdemokraten möchten uns an den in der lassen, die Verbrechen plante und beging. letzten Legislaturpe riode vom Innenausschuß am 13. September 1990 gefaßten und vom Ausschuß (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Deutsche Einheit bestätigten Beschluß zur Frage des GRÜNE) Zugangs der Nachrichtendienste gebunden fühlen, in An Stelle solcher Debatten sollten wir uns endlich vor- dem es zur Interpretation des Einigungsvertrages rangig der Rehabilitierung der Opfer und der Aufar- heißt: beitungsmöglichkeit der Betroffenen widmen. Die Mitwirkung bei der Aufklärung und Verfol- (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE) gung von Straftaten bezieht sich ausschließlich Hier ist noch vieles offen, was auch in den vom auf die Zusammenarbeit mit den Strafverfol- Bündnis 90/GRÜNE aufgestellten Grundsätzen noch gungsbehörden. Die Nutzung und Übermittlung nicht angesprochen worden ist. Neben der Öffnung für nachrichtendienstliche Zwecke wird ausge- der Archive sollten zur Wahrung der Rechte der ein- schlossen. zelnen etwa auch Vorschriften über den Rechtsweg Wir teilen die Bewertung dieses Beschlusses durch zur Nachprüfung erteilter Auskünfte aufgenommen die letzte Bundesregierung, die in ihrer Antwort auf werden oder das Recht auf Löschung von Bespitze- 1326 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Dorle Marx lungsberichten auf Verlangen der Ausgespähten in Wir diskutieren über die Frage, wie wir Aktenbe- einer gesetzlichen Regelung Berücksichtigung fin- stände der SED und der anderen Blockparteien und den. Massenorganisationen am besten sicherstellen und (Beifall bei der SPD) wie wir einen umfassenden Zugang für jedermann Es sind solche Regelungen, meine Damen und Her- ermöglichen. In dieser Diskussion machen Sie dann ren, die unserem Rechtsstaat Glaubwürdigkeit und Angebote, möglicherweise beeinflussen zu können, Ansehen verleihen. wer Zugang hat und wer nicht. Der Ansatz der Geset- zesinitiative der Koalitionsfraktionen ist eben der, den Vielen Dank. Zugang zu den Archiven nicht zu manipulieren, son- (Beifall bei der SPD) dern jedermann in gleicher Weise rechtlich gesichert und transparent den Zugang zu ermöglichen. Das ist das Anliegen des Antrags. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt der Bundesminister des Innern, Dr. Wolfgang (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Schäuble. Natürlich haben wir das Problem der Fristen des Archivgesetzes behandelt, obwohl das Archivgesetz Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern: die Abkürzung von Fristen schon heute ermöglicht; Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der insofern müßte sie nicht eigens auf Grund eines Ge- heutigen Debatte beginnt der Deutsche Bundestag setzesantrags beschlossen werden. Aber ich denke, ein Kapitel, das auf dem Weg zur Vollendung der wir alle miteinander sollten für Überlegungen offen deutschen Einheit nach meiner Überzeugung das sein, ob wir möglicherweise auch Sonderregelungen schwierigste sein wird: die Bewältigung der politi- einführen sollten, was die Fristen des Archivgesetzes schen Altlasten des SED-Staates. Ich bin seit langem für die Bestände dieser Akten angeht, über die wir der Überzeugung, daß wir mit den politischen Altla- debattieren, weil niemand einen langen zeitlichen sten länger und schwerer als mit den ökonomischen Aufschub der politischen, wissenschaftlichen und hi- und sozialen oder ökologischen Altlasten zu tun ha- storischen Aufarbeitung dieser Vergangenheit wollen ben werden, kann. Das ist aber nicht das Entscheidende. (Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Wenn es einen Weg gibt, die Archive insgesamt die uns weiß Gott auch genügend drücken. Die Be- zusammenzuhalten, sollte man diesen Weg sicherlich wältigung dieses Erbes wird wohl auch dadurch nicht in aller Offenheit miteinander erörtern und schauen, leichter — ich denke, man muß dies am Beginn dieser ob er richtig und ob er gangbar ist. Für die SED/PDS Debatte noch einmal ins Gedächtnis rufen —, daß wir ist der Weg leicht zu eröffnen: Sie brauchen nur die es in der damaligen DDR mit einer ganz eigenen Re- Akten insgesamt zur Verfügung zu stellen. volution zu tun hatten, einer Revolution, die in einem frühen Stadium in legalistische Bahnen überführt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) worden ist. Dies hatte unschätzbare Vorteile — ich Sie haben es in der Vergangenheit mit dem Schutz will das überhaupt nicht kritisieren, sondern dankbar des Eigentums nicht immer ganz so ernst genommen, bewerten —, aber es ist eine sehr eigene, eine unvoll- wie Sie das heute betreiben, wo Sie den Schutz des endete Revolution geblieben. Wir spüren das späte- Eigentums in Anspruch nehmen wollen. stens dann, wenn wir in einer Debatte wie der am heutigen Vormittag den Beitrag des Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gysi ertragen müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Übrigens, Herr Kollege Wartenberg: Ganz richtig ist bei Abgeordneten der SPD) es nicht, daß wir im Einigungsvertrag überhaupt keine Regelung getroffen haben. Sie wissen: Wir ha- Durch die Art, in der der Abgeordnete Gysi glaubte, ben für die Stasi-Akten eine vorläufige Regelung ge- sich an dieser Debatte beteiligen zu können, wird es troffen. Für die Parteiakten und für die Akten der nicht leichter, diese Debatte zu führen. Die PDS ist Massenorganisationen haben wir insofern eine vor- übrigens nicht eine Nachfolgeorganisation, so habe läufige Regelung getroffen, als sie nach dem Eini- ich das nicht verstanden. Sie ist die SED mit einem gungsvertrag als Bestandteil des Vermögens dieser neuen Namen, Organisationen der treuhänderischen Verwaltung der (Dr. Heribert Blens [CDU/CSU]: Und mit al- Treuhandanstalt und der Unabhängigen Kommission tem Vermögen!) zur Regelung der Vermögensfragen der Parteien und nichts mehr und nichts weniger. Sie ist die SED, sie hat Massenorganisationen unterliegen und insoweit auch die Identität bewußt gewahrt. Nur deswegen kann in der Verfügung beschränkt sind. man auch so auftreten, wie man hier auftritt. Ich habe mich im übrigen, als ich von dem Angebot Bei aller Diskussion über die Rolle der Blockpar- der SED/PDS gelesen habe, was das Parteivermögen teien: Ich finde, die Täter haben kein Recht, die Mit- anbetrifft — man hatte ja ein Verhandlungsangebot läufer zu schelten. Das muß am Ende dieser Debatte gemacht, obwohl es klare gesetzliche Regelungen wohl auch noch einmal gesagt werden. gibt —, daran erinnert, daß ich im Februar in der Tat (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) einen Brief von ehemaligen hohen Offizieren der Staatssicherheit erhalten habe, die mir auch Verhand- (Vorsitz: Vizepräsident Dieter-Julius Cro- lungen angeboten haben. Ich bin zu jedem Gespräch nenberg) immer bereit. Aber der Rechtsstaat verhandelt nicht Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1327

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble über Fragen, die durch Gesetz und Recht geregelt wortlichkeiten zu verwischen, aus Opfern Täter und sind. die Täter zu Richtern zu machen. (Zuruf von der CDU/CSU: Genau so ist es!) (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD) All dies dürfen wir nicht zulassen. Auf der anderen Seite muß der Gefahr widerstan- Das gilt für die Staatssicherheit, auch für die Haupt- den werden, daß die unselige Tätigkeit der Bespitze- verwaltung Aufklärung, und das gilt, Herr Abgeord- lung, Beschnüffelung und Überwachung fortgesetzt neter Gysi, auch für die SED/PDS, was die gesetzli- wird, indem diejenigen, die Täter waren oder sich chen Regelungen zur Abwicklung dieses unseligen Aktenbestandteile unter die Nägel gerissen haben, Teils jüngerer deutscher Geschichte anbetrifft. jetzt ganz neuartige marktwirtschaftliche Aktivitäten entfalten. Wir stehen in der Diskussion um die Parteiakten wie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) um die Stasi-Akten. Das verknüpft sich ein Stück weit, obwohl wir für das eine eine Vorlage haben und für Auch das kann so nicht sein. Ich denke also, daran, das andere, Frau Kollegin Köppe, eine erarbeiten wol- Herr Präsident, meine verehrten Kolleginnen und Kol- len. Zu gesetzlichen Regelungen kommen wir im Par- legen, werden wir intensiv zu arbeiten haben. lament am besten, wenn wir Vorlagen haben, die wir Ich sage noch einmal: Auch ich bin dafür, daß wir beraten wollen. Bei den Beratungen zum Einigungs- jede Chance nutzen, die Aktenbestände insgesamt vertrag hat uns dieses Thema am längsten beschäftigt. zusammenzuhalten. Ich habe immer meine Mühe, Bis in die letzten Stunden vor der Paraphierung des wenn die Bestände als Kulturgut bezeichnet wer- Einigungsvertrages — in der Nacht vom 30. August — den. haben wir noch über die Regelungen verhandelt und (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Ich im übrigen versucht, Beschlüsse aus der damaligen auch!) Volkskammer zu berücksichtigen. Das ist es wohl in der Sprache der Gesetze. Aber, Herr Darüber hinaus haben wir noch in der Ratifizie- Abgeordneter Gysi, rungsdebatte im Innenausschuß wie im Ausschuß (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Gysi Deutsche Einheit auch in Abstimmung mit der Volks- als Kulturträger!) kammer versucht, schon bei den vorläufigen Regelun- es könnte auch ein Kulturungut sein. gen den beiden, ein Stück weit konkurrierenden Ge- sichtspunkten in einem gemeinsamen Verständnis (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Un Rechnung zu tragen. Wir haben damals im übrigen -kultur!) gesagt: Die endgültigen Regelungen wollen wir in Jedenfalls bin ich dafür, daß wir die Bestände zu- diesem gesamtdeutschen Bundestag gemeinsam erar- sammenhalten, daß wir im Archivgesetz Fristen not- beiten. Die Regierung soll Formulierungshilfen erar- falls so kurz wie möglich halten, Sondertatbestände beiten. Aber sie soll nicht initiativ werden, sondern dafür schaffen oder Sonderregelungen treffen. Auch das soll aus der Mitte des Hauses heraus geschehen. dies scheint mir durchaus möglich. Aber sicher muß So wollen wir es auch halten. Die Bundesregierung sein, daß jedermann in einer nicht und von nieman- und der Bundesinnenminister wollen jeden mögli- dem zu manipulierenden Weise Zugang erhalten chen Beitrag dazu leisten. Wir werden uns ja morgen kann. Es kann nicht sein, daß ihn die einen haben und zur Fortsetzung der Gespräche zusammenfinden. Ich die anderen nicht. hoffe, daß wir bald zu einer gemeinsamen Vorlage Die Friedrich-Ebert-Stiftung wird sich wohl dage- kommen, und beziehe mich auf das, was Kollege Ger- gen verwahren, mit der SED/PDS zu einer gemeinsa- ster in dieser Debatte einleitend gesagt hat. men Trägerschaft für die Verwaltung dieser Akten zu kommen. Das entscheidende Problem ist, daß wir — Sie spre- chen ja zu Rechte davon — den Schutz der Opfer, (Zuruf von der SPD: Wohl wahr! — Johannes bzw. der Betroffenen, also der personenbezogenen Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Hoffentlich!) Daten, sicherstellen müssen und daß wir gleichzeitig Das hat die Friedrich-Ebert-Stiftung nicht verdient. — wir sprechen in ein und derselben Debatte da- von — die öffentliche Aufarbeitung dessen, was an Unrecht in über 40 Jahren SED-DDR geschehen ist, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Bun- gewährleisten wollen. Das konkurriert ein Stück weit desminister, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des miteinander. Abgeordnete Gysi zu beantworten?

Die richtige Abwägung zu finden ist das eigentliche Problem und das eigentliche Dilemma bei der Arbeit, Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern: sowohl bei den Aktenbeständen von SED, Blockpar- Ja, bitte. teien und Massenorganisationen als auch bei denen der Staatssicherheit. Daran zu arbeiten ist die gemein- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte sehr, same Aufgabe; denn auf der einen Seite muß öffent- Herr Abgeordneter Gysi. lich transparent gemacht und so schnell und so umfas- send wie möglich aufgearbeitet werden, was gewesen ist; denn vieles davon ist bisher nicht bekannt. Bei Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Herr Bundesmi- vielem wird versucht — wir haben das auch in der nister, was sagen Sie denn dazu, daß zwei Mitarbeiter Debatte gespürt — , die Tatsachen und die Verant- der der Bundesregierung unterstehenden Gauck-Be- 1328 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ril 1991

Dr. Gregor Gysi hörde entlassen wurden, heute — wie auch jeder an- unrecht hat — das ist die Voraussetzung für die Zu- dere — Zugang zum Parteiarchiv haben und dort ohne sammenarbeit — , dann werden wir einen Beitrag lei- jede Schwierigkeit sehr aktiv arbeiten, während sie in sten, um den politischen Teil des Erbes der SED/DDR die andere Behörde ja nicht mehr hineinkommen? so gut wie möglich und mit so wenig Schaden wie „Kulturgut" bezieht sich im übrigen im wesentli- möglich aufzuarbeiten. Schwer genug wird es ohne- chen darauf, daß es Unterlagen seit der Mitte des vori- dies für uns alle werden. gen Jahrhunderts sind. Es ist sehr viel Kulturgut da- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bei. Das ist in sich geschlossen; das ist das Problem.

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern: Damen und Herren, damit kann ich die beschlossene Was die beiden ehemaligen Mitarbeiter bet rifft, so ist Redezeit für beendet erklären. Der Ältestenrat schlägt es einfach so: Die Dienststelle des Sonderbeauftrag- Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen ten zur vorläufigen Regelung des Zugangs und Um- 12/288, 12/283 und 12/284 an die in der Tagesord- gangs mit den Stasi-Akten ist deswegen besonders nung aufgeführten Ausschüsse vor. Andere Vor- sensibel, weil sie in einem ungeheuren Maße Zugang schläge aus dem Haus werden nicht gemacht. — So zu personenbezogenen Daten und insbesondere zu darf ich dies als beschlossen feststellen. Daten von Opfern des SED-Stasi-Regimes hat. Des- wegen ist die Verschwiegenheit dieser Mitarbeiter ein zentraler Punkt. Wer dagegen verstößt, verstößt ge- Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 6 auf: gen einen zentralen Punkt seiner dienstlichen Ver- pflichtungen und muß entlassen werden. a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- regierung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bericht der Bundesregierung an den Deut- Ich nehme auch an, daß die beiden Mitarbeiter das schen Bundestag über die Gleichstellungsstel- gewußt, gewollt oder zumindest billigend in Kauf ge- len in Bund, Ländern und Gemeinden nommen haben. Sie mußten mit der Entlassung rech- nen. — Drucksache 11/4893 — Im übrigen beziehe ich mich zu dem, was diese bei- Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: den Herren gesagt und bewertet haben, auf einen Ausschuß für Frauen und Jugend (federführend) Innenausschuß Leserbrief, den der Kollege Schmude vor kurzem in Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung einer Zeitschrift veröffentlicht hat, von dem ich meine, daß er ungewöhnlich fair und ungewöhnlich sachkun- b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- dig war, und den ich vielen zur Berücksichtigung regierung empfehle. Bericht der Bundesregierung zur Umsetzung Wir müssen bei der Auswertung dieser Akten zwi- der „Richtlinie zur beruflichen Förderung von schen dem, was in den Akten steht, und dem, was Frauen in der Bundesverwaltung" — Berichts- subjektive Bewertung ist, vorsichtig und streng unter- zeitraum 1986 bis 1988 — scheiden. Daß wir einen Zugang zu einem öffentlich Anlage: Neufassung der Richtlinie zur beruf- zugänglichen Archiv haben, ist ja in Ordnung. Ich lichen Förderung von Frauen in hatte Ihnen gerade gesagt: Es ist für Sie am allerleich- der Bundesverwaltung vom 24. Fe- testen, dafür zu sorgen, daß ein nicht zu manipulieren- bruar 1986 — Frauenförderungs- der Zugang zu all diesen Akten für alle geschaffen Richtlinie - wird. Dann sind wir sicherlich auch zu anderen Lösun- - Kabinettsbeschluß vom 25. Sep- gen als denen des Archivgesetzes bereit. tember 1990 Was Sie zu der Frage Kulturgut oder Kulturungut — Drucksache 11/8129 — gesagt haben, so ist es wahr, daß das lange ein Kul- turgut war. Nur, Herr Abgeordneter Gysi, was hat Ihre Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Partei, die SED/PDS aus diesem Kulturgut gemacht, in Ausschuß für Frauen und Jugend (federführend) Innenausschuß den Jahren, in denen sie ihr Wesen getrieben hat! Das Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ist der Punkt. Ausschuß für Familie und Senioren (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Heribert Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von Blens [CDU/CSU]: Eine Kulturschande!) eineinhalb Stunden vor. Ist das Haus damit einver- Ich sage noch einmal: Wir sollten mit allem Ernst standen? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist und mit dem Wissen darum, daß jeder, der sich hier dies auch so beschlossen. engagiert, immer in der Gefahr ist, bei den konkurrie- Ich kann die Aussprache eröffnen und erteile der renden Gesichtspunkten der öffentlichen Aufarbei- Bundesministerin Frau Dr. Merkel das Wort. tung und Transparenz auf der einen Seite, und des Schutzes insbesondere der Opfer auf der anderen Seite, in der einen oder anderen Richtung zu fehlen, Dr. Angela Merkel, Bundesministerin für Frauen zur notwendigen Zusammenarbeit bereit sein, damit und Jugend: Herr Präsident! Meine Damen und Her- nicht fortgesetzt wird, was Jahrzehnte — zu lange — ren! Die Gleichstellungsstellen in Bund, Ländern und getrieben worden ist. Wenn wir uns auf diesem Weg Gemeinden sowie die institutionalisierte Frauenför- um Zusammenarbeit bemühen und wenn wir nicht zu derung sind in den letzten Jahren wichtige Pfeiler zur sicher sind, daß wir selber recht haben und der andere Umsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1329

Bundesministerin Dr. Angela Merkel Männern geworden. Sie sind auch im Hinblick auf die CDU/CSU-FDP-Koalition das damalige Bundesmini- neuen Bundesländer entscheidende Instrumente, sterium für Jugend, Familie und Gesundheit 1986 zu wenn es darum geht, die Interessen der Frauen bei der einem Frauenministerium erweitert. Durch die Schaf- schwierigen Umstellung von zentraler Verwaltungs- fung des Bundesministeriums für Frauen und Jugend wirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft nicht zu kurz unterstreicht die Bundesregierung die Bedeutung der kommen zu lassen. Frauenpolitik am Ausgang dieses Jahrhunderts. Es bleibt unser Ziel, die politischen Rahmenbedingun- Der Bericht über die Gleichstellungsstellen in gen bis zum Jahre 2000 so zu gestalten, daß Gleich- Bund, Ländern und Gemeinden ist im Deutschen Bun- berechtigung auch gelebt werden kann. destag im Juni 1989 von der Bundesregierung vorge- legt worden. Er geht zurück auf eine Enquête-Kom- Das Ziel des Frauenministeriums ist es, die Interes- mission „Frau und Gesellschaft" aus dem Jahre sen und Anliegen von Frauen in die politische Arbeit 1980. der Bundesregierung einzubringen und auf die Besei- tigung rechtlicher und tatsächlicher Benachteiligung Der Bericht beschreibt die Entwicklung der für hinzuwirken. Deshalb ist das Bundesministerium in Frauen- und Gleichstellungsfragen zuständigen Ein- Fragen der Frauenförderung in der Bundesverwal- richtungen in Bund, Ländern und Gemeinden und tung und bei allgemeinen Maßnahmen zur Verwirkli- bietet damit eine Bestandsaufnahme der verschieden- chung der Gleichberechtigung federführend. Aber ich artigen Einrichtungen. Allerdings kann er nur eine verstehe Frauenpolitik auch als eine Querschnittsauf- Momentaufnahme der Situation im Frühjahr 1989 gabe; wir werden überall dort mitarbeiten, wo es um sein. Die Entwicklung ist inzwischen weitergegan- die Interessen von Frauen geht. gen, und neue Probleme stehen an, insbesondere auch im Zusammenhang mit den neuen Bundeslän- (Beifall bei der CDU/CSU) dern. Daher halte ich eine Fortschreibung des Berichts Als wichtiges Beispiel möchte ich hier nennen: Fra- für notwendig. gen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Schutz Der Bericht stellt die Erfahrungen der Gleichstel- von Frauen vor Gewalt, soziale Sicherung der Frauen lungsstellen in den verschiedenen Bereichen zusam- oder Fragen der Frauen in besonderen Lebenssituati- men. Vorschläge zur künftigen Ausgestaltung der onen. verschiedenen Institutionen konnte er nur in begrenz- Auch in den Bundesländern hat die Frauenpolitik tem Umfang machen, denn die Organisationsgewalt seit den 80er Jahren eine ständige Aufwertung erfah- steht den jeweiligen Verwaltungsträgern zu, in die die ren. Es gibt heute bereits in sieben Bundesländern Bundesregierung nicht eingreifen will und aus verfas- Ministerien, die die Zuständigkeit für Frauen im Na- sungsrechtlichen Gründen nicht eingreifen darf. Der men tragen. Interessant ist daran, daß diese Ministe- Bericht enthält aber allgemeine Erfahrungswerte, die rien alle nach der Einrichtung des Bundesfrauenmini- den zuständigen Entscheidungsträgern durchaus als steriums entstanden sind. Hilfestellung dienen können. Die Gleichstellungsstellen der Länder haben es Anhand des Berichts wird deutlich, daß in der Bun- — ebenfalls im Rahmen der Querschnittsaufgabe — desrepublik Deutschland — unterstützt von Frauen mit einer Vielzahl von Themen zu tun. Dazu gehö- aus allen Parteien und von Frauen aus der Frauenbe- ren Frauenhilfsprogramme, Frauenqualifizierungs- wegung — seit Beginn der 80er Jahre eine einzigar- programme und Programme für Existenzgründerin- tige Entwicklung stattgefunden hat, die noch keines- nen, natürlich die Verbesserung der Kinderbetreu- wegs abgeschlossen ist: die Institutionalisierung der ung, Frauenhäuser, Projekte für Frauen im ländlichen Frauenpolitik auf allen politischen Ebenen. Einzigar- Raum, Analysen von Schulbüchern auf Rollenkli- tig ist diese Entwicklung einerseits im Vergleich zu schees und vieles mehr. anderen „neuen" Politikfeldern: Nirgends sonst wur- den in gleicher Weise institutionelle Instrumente ge- In vielen Bereichen sind diese Gleichstellungsstel- schaffen wie in der Frauenpolitik. Einzigartig ist die len heute zum selbstverständlichen Bestandteil des Entwicklung aber auch im internationalen Vergleich: Verwaltungsapparates und zu einem konstruktiven In keinem anderen Land besteht ein ebenso dichtes Element im politischen Entscheidungsprozeß gewor- wie weitgespanntes Netz von Institutionen mit ähnli- den. In manchen Ländern und Kommunen müssen sie chen Einwirkungsmöglichkeiten wie in der Bundesre- aber leider noch immer um ihre Anerkennung kämp- publik Deutschland. fen und stoßen auf Schwierigkeiten und Wider- stände. Einen enormen Anstieg der Zahl der Gleichstel- Ich fordere deshalb die politisch Verantwortlichen lungsstellen hat es vor allem auf der kommunalen auf, die Entwicklung nicht zu behindern, sondern sie Ebene gegeben. 1982 wurde die erste kommunale zu unterstützen, aber vor allem die Gleichstellungs- Gleichstellungsstelle in Köln eröffnet. In den Städten, stellen so auszugestalten, daß sie im Interesse der Gemeinden und Kreisen sind es heute insgesamt Frauen auch wirklich arbeiten können. 900 Gleichstellungsstellen. Etwa 330 Stellen wurden innerhalb der letzten anderthalb Jahre allein in den (Beifall bei der CDU/CSU) neuen Bundesländern geschaffen. Für die Bundesregierung steht fest: Gleichstel- Es ist der Hartnäckigkeit vieler Frauen aus allen lungsstellen sind notwendig. Ihre Aufgabenstellung Fraktionen des Bundestages zu verdanken, daß auch sollte möglichst umfassend sein. Wichtig ist vor allem, innerhalb der Bundesregierung „Frauenpolitik" auf- daß ihre Aufgabenstellung und ihre Organisations- gewertet wurde. Nachdem Ende der 70er Jahre ein form miteinander im Einklang stehen. Die personelle Arbeitsstab Frauenpolitik eingerichtet wurde, hat die Ausstattung muß der Bedeutung der Aufgabe ent- 1330 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Bundesministerin Dr. Angela Merkel sprechen, und die organisatorische Einbindung muß Bundesbehörden allerdings nur von 74 auf 88 bei rund auch Einmischung ermöglichen. 2 000 Referatsleiterstellen. Wir sehen also, daß wir noch einen langen Weg vor uns haben. Ich halte es für wichtig, daß die Gleichstellungsstel- len in den neuen Bundesländern schnell über ihre Frauen in höheren Positionen, insbesondere auch in Anfangsschwierigkeiten hinwegkommen. Dabei ist es Leitungsfunktionen, sind insgesamt viel zu gering eine gute Grundlage, daß nach § 29 des Kommunal- vertreten. So gibt es in den obersten Bundesbehörden verfassungsgesetzes diese Gleichstellungsstellen leider immer noch nicht mehr als sieben Unterabtei- rechtlich verankert sind. Das ist in den meisten west- lungsleiterinnen in insgesamt 276 Unterabteilungen deutschen Bundesländern nicht der Fall. Länder, in und zwei Abteilungsleiterinnen in allen obersten Bun- denen es noch keine solchen gesetzlichen Grundla- desbehörden. gen gibt, sollten prüfen, ob hier nicht ein Punkt ist, wo (Zuruf von der FDP: Hört! Hört!) man von der Entwicklung im Osten Deutschlands ler- nen kann. Deshalb unternehmen wir gezielte Anstrengungen, um die Situation von Frauen in der Bundesverwaltung (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ weiter zu verbessern. GRÜNE) So hat das Bundeskabinett auf Initiative des Bun- In den neuen Bundesländern muß darauf geachtet desfrauenministeriums mit der Verabschiedung des werden, daß diese Stellen in den neuen Kommunal- Berichts im September 1990 zugleich eine Neufas- verfassungen auch erhalten bleiben. An die kommu- sung der Frauenförderrichtlinie beschlossen, die im nalen Spitzenverbände der alten Bundesländer, richte Oktober in Kraft getreten ist. ich die Bitte, bei ihrer Beratung von Kommunalpoliti- kern in den neuen Bundesländern auf den Erhalt die- (Uta Würfel [FDP]: Sehr gut!) ser Stellen hinzuwirken und ihre sinnvolle Einbin- Ich habe Ihnen gestern darüber berichtet. dung auch weiterhin zu garantieren. Mehr als 50 % der Ressorts haben inzwischen eine Das zweite Mittel, Gleichberechtigung zwischen Frauenbeauftragte eingesetzt. Die anderen werden in Frauen und Männern zu erreichen, ist die berufliche den nächsten Wochen folgen; das entspricht dieser Förderung von Frauen. Sie ist heute bereits integraler Richtlinie. Noch vor der Sommerpause wird die Bestandteil moderner Personalkonzepte. In der Bun- Frauenbeauftragte des Ministeriums für Frauen und desverwaltung sind seit 1986, also seit Verabschie- Jugend zu einem Informationsaustausch aller Frauen- dung der Richtlinie zur Frauenförderung, Erfolge er- beauftragten bei obersten Bundesbehörden einladen zielt worden. und damit den vorgesehenen interministeriellen Ar- Die Zahl der beschäftigten Frauen erhöhte sich im beitskreis der Frauenbeauftragten einberufen. Berichtszeitraum — 1986 bis 1988 — kontinuierlich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) um rund 4 000 auf 290 000, obwohl der Personalbe- Die Bundesregierung wird die Frauenförderung in stand insgesamt um fast 20 000 zurückging. Diese der Bundesverwaltung in dieser Legislaturperiode auf Entwicklung setzte sich auch 1989 und 1990 fort. Im eine gesetzliche Grundlage stellen. vergangenen Jahr waren im unmittelbaren Bundes- dienst 306 200 Frauen beschäftigt. Der Anteil der Ich möchte jedoch an dieser Stelle sagen, daß starre weiblichen Beschäftigten stieg von 24,9 % 1986 auf Quotenregelungen, wie sie in einigen Bundesländern heute 27,3 %. Die Zahl der Beamtinnen des gehobe- eingeführt worden sind, uns nicht als geeignetes Mit- nen Dienstes erhöhte sich von 12,4 % auf 13,9 %, der tel erscheinen, Interessen der Frauen in der Demokra- Beamtinnen des höheren Dienstes von 7,5 % auf tie durchzusetzen. 8,8 %. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Bericht verdeutlicht die Bemühungen der Bun- Sie sind verfassungsrechtlich bedenklich und untaug- desministerien und nachgeordneten Behörden, die lich, den vielfältigen Aufgaben der öffentlichen Ver- Chancen der Frauen in der Bundesverwaltung ent- waltung und einer flexiblen Personalpolitik gerecht zu sprechend den Richtlinien zu verbessern. Dazu gehö- werden. Was wir brauchen, sind machbare Zielvor- ren folgende Punkte: stellungen und erreichbare Richtwerte. Immer mehr Ressorts setzen Frauen in den Perso- (Zuruf von der SPD: Machbare, ja!) nalreferaten und Auswahlgremien ein. Ich werde mich als Frauenministerin mit Nachdruck Die Ausschreibungs- und Einstellungspraxis ist we- dafür einsetzen, daß gezielte Frauenförderungsmaß- sentlich offener geworden. nahmen die Attraktivität der Bundesverwaltung als Die Teilzeitbeschäftigung hat beachtlich zugenom- Arbeitsbereich für Frauen in Zukunft noch vergrö- men, bei Beamten von Bundesbehörden und Bundes- ßern. Wir können damit einen wirklichen Beitrag für gerichten während des Berichtszeitraums um 35,8 %, eine moderne und leistungsstarke Verwaltung erbrin- d. h. von 843 Teilzeitbeschäftigten 1986 auf 1 145 im gen. Jahre 1988. Im gesamten öffentlichen Dienst — das Das geplante Gleichberechtigungsgesetz wird für habe ich gestern schon einmal gesagt — liegt die Teil- Frauenförderungsmaßnahmen, für die Kompetenzen zeitquote mit 18,3 % inzwischen gut 8 Prozentpunkte der Frauenbeauftragten in Bundesbehörden und für über dem Anteil in der Gesamtwirtschaft. die Verbesserung der Teilzeitarbeit im öffentlichen Der Anteil von Frauen in Führungspositionen stieg Dienst gesetzliche Regelungen schaffen. Ich bin mir seit 1986 ebenfalls an. Im Berichtszeitraum erhöhte deshalb gewiß, daß wir mit dem Gleichberechtigungs- sich z. B. die Zahl der Referatsleiterinnen bei obersten gesetz für die Frauen in diesem Lande einen großen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1331

Bundesministerin Dr. Angela Merkel Schritt vorankommen werden und zu geeigneter Zeit Zum Beispiel wurde dort kritisiert, daß der Bericht dann auch wieder über Frauenförderung sprechen der Bundesregierung prononcierte Aussagen darüber werden. vermissen läßt, wie die Arbeit der Frauenbüros durch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) männlich dominierte Verwaltungen erschwert und gehemmt wird. Kein Wort über den weitverbreiteten Mangel an Problembewußtsein und Sensibilität für Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun er- die vielfache verdeckte oder offene Frauendiskrimi- teile ich der Abgeordneten Frau Dobberthien das nierung auch in der öffentlichen Verwaltung. Wort. Um hier Abhilfe zu schaffen, müßten nicht, wie im Bericht vorgeschlagen, Frauen, sondern viel besser die männlichen Beamten und Angestellten in den Dr. Marliese Dobberthien (SPD): Herr Präsident! Verwaltungen fortgebildet werden. Meine Damen und Herren! Der vorliegende Bericht der Bundesregierung über die Gleichstellungsstellen (Beifall bei der SPD, der FDP und bei Abge in Bund, Ländern und Gemeinden ist eine 40seitige ordneten der CDU/CSU) Fleißarbeit, wenngleich mir zweieinhalb Jahre für An mancher Stelle des Berichts sind die Banalitäten seine Erstellung reichlich lange erscheinen. Die Ent- und Rücksichtnahmen auf männliche Befindlichkei- stehungsgeschichte dieses Berichtes bestätigt, was ten kaum zu überbieten. Zum Beispiel heißt es in dem Willy Brandt einmal sagte: Die Emanzipation ist wie Bericht, es habe sich gezeigt, eine Schnecke auf dem Glatteis. daß die Kommunalverwaltungen keineswegs frei Stolze elf Jahre sind vergangen seit der Vorlage des sind von — manchmal unbewußten — Benachtei- Abschlußberichts der Enquete -Kommission „Frau ligungen von Frauen. und Gesellschaft". Vor viereinhalb Jahren wurde auf dieser Grundlage im Bundestag das Berichtsersuchen Abmildernd beeilt sich der Bericht, auf „gewisse Fort- zu den Gleichstellungsstellen beschlossen, vor zwei schritte" der letzten Jahre zu verweisen. Jahren wurde dieser Bericht vorgelegt, und immerhin Es hätte der Bundesregierung gut angestanden, bei ist er heute das erste Mal im Parlament. Der Eindruck der Bewertung des Arbeitsalltages von Gleichstel- drängt sich auf, daß hier ein frauenpolitisches Anlie- -lungsstellen auch auf die Erfahrungen von Vorkäm- gen blockiert werden soll. Diese Taktik lassen wir pferinnen institutioneller Frauenpolitik zurückzu- Frauen uns aber nicht gefallen. Machen wir also dem greifen. Beispielsweise berichtet Eva Rühmkorf, die Schneekle Beine! erste Leiterin einer Gleichstellungsstelle in der Bun- (Beifall bei der SPD) desrepublik, nach zehnjähriger Arbeit: Soweit sich der Bericht auf die Erfahrungen der Es gehört zum Alltag von Frauen, die in Gleich- kommunalen Frauenbeauftragten stützt und sich dar- stellungsstellen arbeiten, daß ihre Anregungen auf beschränkt, die aus den Ländern und Gemeinden als unseriös, übertrieben oder abwegig bewertet, mitgeteilten Erfahrungen wiederzugeben, ist er daß Ergebnisse der Frauenforschung als unwis- durchaus informativ. Dennoch kritisieren wir den Be- senschaftlich abqualifiziert werden. richt, weil er, statt Mißstände aufzuzeigen und Fehl- Männliche Abwehrstrategien — so sagt sie — rei- verhalten in den Verwaltungen anzuprangern, sich chen vornehm zurückhält, weil er, statt eine klare Sprache zu sprechen, beschönigt und weil er, statt konkrete von Lächerlichmachen, Ignorieren, Negieren und Ansätze zur Veränderung aufzuzeigen, Männer und Infragestellen bis zu offener Ablehnung nach männlich geprägte Institutionen aus der Verantwor- dem Motto, dies seien doch alles überzogene For- tung entläßt. Dabei haben wir doch alle gelernt, daß derungen einer Minderheit, Randgruppenpro- nur Glasnost, also Transparenz, die Perestrojka, Um- bleme also, die an den wahren Interessen der gestaltung, ermöglicht. Mehrheit der Frauen vorbeigingen. Deshalb will ich an dieser Stelle einige Kritikpunkte Aber statt einen solchen Mißbrauch verbreiteter nennen, die den Bericht in einem weniger rosa-, nein, männlicher Definitionsmacht zu kritisieren und damit pardon, lilafarbenen Licht erscheinen lassen: Durch den Weg zu Veränderungen zu ebnen, übt die Bun- das Verschweigen von Problemen, und zwar insbe- desregierung vornehme Zurückhaltung. So wird der sondere von patriarchalischen Blockadestrategien, Bericht sehr dünn, wo Bewertungen der bisherigen werden die tatsächlichen Schwierigkeiten des Ar- Erfahrungen der Gleichstellungsstellen und Empfeh- beitsalltages der Frauenbeauftragten in den Kommu- lungen für die weitere Arbeit fällig sind, obwohl der nen beschönigt. Aber ohne Basiskenntnis keine poli- Berichtsauftrag des Bundestages ausdrücklich die tische Weisheit. Daher hat die SPD-Bundestagsfrak- Auswertung der Erfahrungen sowie die Vorlage von tion und nicht etwa, wie es eigentlich notwendig ge- Vorschlägen für die Ausgestaltung von Gleichstel- wesen wäre, das damalige BMJFFG oder die CDU/ lungsstellen beinhaltet. CSU-Bundestagsfraktion im September 1989 die kommunalen Frauenbeauftragten zu einer frauen- Dabei wird der Bereich, für den die Bundesregie- politischen Konferenz eingeladen, an der 200 kommu- rung direkt zuständig ist, wie für die Gleichstellungs- nale Frauenbeauftragte aus dem gesamten Bundesge- stellen auf Bundesebene, besonders knapp und un biet teilnahmen. Hier konnten wir aus erster Hand konkret abgehandelt und am stärksten beschönigt, als erfahren, wie diese tüchtigen Gleichstellungsbeauf- sei hier kaum noch eine Verbesserung vonnöten. tragten den Bericht der Bundesregierung bewerten — Laut Bericht muß zwar die Zusammenarbeit zwi- und ich sage Ihnen: nicht sonderlich gut. schen dem — damaligen — BMJFFG und den ande- 1332 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Dr. Marliese Dobberthien ren Bundesministerien noch verbessert werden; den- In den meisten Arbeitsbereichen liegt die feder- noch hält es die Bundesregierung nicht für erforder- führende Zuständigkeit nicht beim BMJFFG, lich, auch nur einen einzigen konkreten Ansatz zu sondern bei einem anderen Fachressort. nennen, wie dieses Ziel zu erreichen ist. Meine Damen und Herren, zwar ist die Frauenpoli- Diese vornehme Zurückhaltung im Berichtsteil „Be- tik tatsächlich eine Querschnittsaufgabe, aber die wertung und Empfehlungen" halte ich für höchst un- Bundesregierung ist nicht einmal bei einem solchen angemessen. Denn in der Sache geht es um nichts Thema, das ausschließlich Frauen bet rifft, bereit, dem anderes als immerhin um die Erfüllung eines Verf as- zuständigen Ministe rium die Federführung zuzuwei- sungsauftrages, nämlich um die Verwirklichung des sen, wie es beispielsweise beim § 218 der Fall war. Gleichberechtigungsgebotes nach Art. 3 des Grund- (Ursula Männle [CDU/CSU]: Das betrifft gesetzes. nicht ausschließlich die Frauen!) Bezüglich der Länder und Gemeinden zieht sich die Auch sonst ist Frau Merkel bei aller Tüchtigkeit Bundesregierung mit fehlender Zuständigkeit aus der genauso wie ihre Vorgängerinnen auf die Gnade des Affäre. Statt echter Empfehlungen werden einfach Bundeskanzlers oder eines Ministerkollegen ange- Grundsätze aufgeführt, von denen die Bundesregie- wiesen: Ihr Initiativrecht kann sie nämlich nur im Be- rung behauptet, geleitet zu werden. nehmen mit dem Bundeskanzler wahrnehmen, ihr Re- derecht kann sie nur im Benehmen mit dem federfüh- Hier einige Kostproben: Grundsatz a) ist die Not- renden Minister wahrnehmen, und auf das Verta- wendigkeit besonderer Einrichtungen auf allen Ver- gungsrecht für eine Vorlage mit frauenpolitischer Re- waltungsebenen zur effektiven Verwirklichung der levanz darf sie nur pochen, wenn der Bundeskanzler Aber wo sind sie? Dieser An- Gleichberechtigung. nichts dagegen hat. Sie werden es schwer haben, Frau spruch wird auf Bundesebene bei weitem nicht erfüllt. Merkel. Denn wie heißt es im Bericht? Außerdem ist es reichlich anmaßend, wenn der Be- In den Obersten Bundesbehörden und den nach- richt den ehemaligen politischen Bauchladen mit be- geordneten Behörden stehen die Überlegungen grenzten Kompetenzen namens BMJFFG, dieses Mi- zur Einsetzung von Frauenbeauftragten oder nisterium, das 1986 ein zweites „F" für „Frauen" im Gleichstellungsstellen noch ganz am Anfang. - Titel erhielt, Jeder Kommentar erübrigt sich hier. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das erste Als Grundsatz b) wird die möglichst umfassende Mal!) Aufgabenstellung der Gleichstellungsstellen ge- als erstmaliges Frauenministerium bezeichnet. Im In- nannt, mit der nach den Grundsätzen c) und d) sowohl teresse der geschichtlichen Wahrheit sollte auf eine die Organisationsform als auch die Kompetenzen im Begriffsklitterung verzichtet werden. Einklang stehen sollen. Aber wo sind denn diese (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Ihr habt Grundsätze verwirklicht? Statt das alte BMJFFG an- gar nichts getan!) ständig aufzuwerten, hat der Kanzler eine Dreiteilung verordnet nach dem Motto: „Divide et impera. " For- — Wir haben den ersten Arbeitsstab Frauenpolitik eingerichtet, wir haben die erste Gleichstellungsstelle mulierungen aus dem Bericht, wie der Bundesrepublik eingerichtet, wir haben die Frau- Die personelle Ausstattung muß dem Umfang enpolitik vorangetrieben. und der Bedeutung der Aufgaben entsprechen (Beifall bei der SPD — Dr. Jürgen Rüttgers oder [CDU/CSU]: Aber im Ministerium nichts ge tan! 13 Jahre Null-Lösung!) Eine wirksame Aufgabenerfüllung ist nur mit ent- sprechenden Befugnissen möglich Was ist zu tun? Wenn es gelingen soll, die Gleich- stellungspolitik aus dem Ghetto der Frauenpolitik zu sind Musik in meinen Ohren. Aber offensichtlich mißt befreien und zu einem Anliegen beider Geschlechter die Bundesregierung Frauen keine sonderliche Be- zu machen, dann muß sie eine gemeinsame Aufgabe deutung zu. werden. (Ursula Männle [CDU/CSU]: Und das Saar- land?) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Ab- — Das Saarland mißt ihnen große Bedeutung zu. geordnete, darf ich Sie darauf aufmerksam machen: Wenn Sie die Redezeit überschreiten — das tun Sie (Ursula Männle [CDU/CSU]: Das haben wir deutlich — , nehmen Sie den Kolleginnen Ihrer Frak- bei der Abschaffung gemerkt!) tion in entsprechendem Umfang Redezeit weg. Ich — Das haben wir auch kritisiert. wollte Sie nur darauf aufmerksam machen. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Also nicht reden, sondern handeln!) Dr. Marliese Dobberthien (SPD): Herr Präsident, das Denn sonst hätte das Bundesministerium für Frauen ist abgesprochen. und Jugend nicht weniger Mitarbeiterinnen und Mit- Der Staat muß mit gutem Beispiel vorangehen, in- arbeiter — gerade eben halb so viel — als z. B. das dem er sowohl auf kommunaler Ebene als auch auf Frauenministerium in dem viel kleineren, sozialdemo- Landes- und Bundesebene die Gleichstellungspolitik kratisch geführten Land Niedersachsen. Das BMFJ zur Regelaufgabe macht. Wenn das Maß der zugebil- hat lediglich 27,25 Planstellen. Dann müßte im Bericht ligten Gleichberechtigung nicht vom mehr oder min- nicht lapidar festgestellt werden: der zufälligen Wohnort abhängen soll und einer Frau Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ril 1991 1333

Dr. Marliese Dobberthien aus Bayern oder Baden-Württemberg nicht weniger der Richtlinie zur beruflichen Förderung von Frauen staatliche Förderung zugute kommen soll als einer in der Bundesverwaltung gibt uns Gelegenheit, die Frau in Schleswig-Holstein oder in und Ergebnisse der Frauenpolitik der zurückliegenden wenn die Wahrung der Einheitlichkeit der Lebens- Jahre zu bewerten. Zugleich sollten wir, meine ich, verhältnisse nicht nur ein hehrer Verfassungsgrund- die Debatte nutzen, um gerade angesichts der bald satz sein soll, dann ist es an der Zeit, eine umfassende anstehenden Beratung des Gleichstellungsgesetzes Rahmengesetzgebung für die Arbeit der Gleichstel- nach gemeinsamen Wegen in der künftigen Gleich- lungsstellen zu entwickeln. berechtigungspolitik zu suchen. (Zustimmung bei der SPD sowie der Der Gleichstellungsbericht der Bundesregierung Abg. Uta Würfel [FDP]) macht deutlich, daß die Gleichstellungsstellen sich Im Bericht der Bundesregierung werden zwar die als Form der Frauenförderung erfolgreich etabliert Rechtsgrundlagen für die kommunalen Frauenbüros haben. Gleichwohl — auch darüber sind wir uns im erwähnt; es ist jedoch mit keinem Wort die Rede da- klaren — sind nach wie vor große Widerstände gegen von, daß sie mangelhaft sind und daß in den Ländern diese Institution zu beklagen. Wichtig ist es daher, daß und auf Bundesebene eine einheitlich konzeptionelle die Kompetenzen der Frauenbeauftragten juristisch und gemeinsame gesetzliche Grundlage schlichtweg klar fixiert werden. fehlt, weil der Bund nicht in die Puschen kommt. Eine rühmliche Ausnahme sind lediglich die SPD- (Beifall bei der CDU/CSU) regierten Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein, die eine Bestellung von kommu- Frauenbeauftragte sind kein frauenpolitisches Fei- nalen Gleichstellungsbeauftragten in der Gemeinde- genblatt, sondern ein wirksames Instrument zur Her- ordnung ermöglichen bzw. verlangen. stellung der Gleichberechtigung von Frau und Die Bundesregierung darf sich in der Frage gesetz- Mann. licher Regelungen nicht mit dem Hinweis auf feh- (Zurufe von der SPD: Richtig! — So soll es lende Kompetenzen aus der Verantwortung stehlen. sein!) Trotz der Hoheit der Länder bei ihrer und der kommu- nalen Verwaltung ist es der Bundesregierung nicht - Gleichzeitig wird in diesem Bericht aber deutlich, verwehrt, den Ländern die Schaffung einer gesetzli- daß Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte neben chen Grundlage für die Arbeit der Gleichstellungs- der Kompetenzproblematik immer wieder auch an stellen zu empfehlen und selbst mit gutem Beispiel Grenzen stoßen, die die soziale Wirklichkeit ihrer Ar- voranzugehen. beit unverändert setzt. Da geht es eben nicht aus- Herr Präsident, meine Damen und Herren, entspre- schließlich um die Förderung der beruflichen Kar- chend dem bemerkenswerten Berichtsgrundsatz riere von voll berufstätigen Frauen, die nach wie vor „Eine wirksame Aufgabenerfüllung ist nur mit ent- natürlich nötig ist, sondern ganz wesentlich auch um sprechenden Befugnissen möglich" beantrage ich die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie um die Überweisung der Drucksache 11/4893 federführend Rückkehr ins Berufsleben nach der Familienphase. an den Ausschuß für Frauen und Jugend. Inzwischen greift glücklicherweise immer mehr die Ich danke Ihnen. Erkenntnis um sich, daß Frauen nicht nur auf Grund ihres verfassungsrechtlich abgesicherten Anspruchs (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auf gleichberechtigte Teilhabe am Erwerbsleben zu der PDS/Linke Liste und des Bündnisses 90/ fördern sind, sondern einfach auch deshalb, weil sie GRÜNE) wichtige neue Ansätze und Handlungsweisen in die Arbeit einbringen, die für den Beruf von großem Ge- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort winn sind. hat die Abgeordnete Frau Falk. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ver- bessern ist deshalb so nötig, weil für Kinder und Her- Ilse Falk (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen anwachsende die Geborgenheit in einer Familie, sei und Herren! Um auf das zuletzt Gesagte direkt einzu- es mit beiden Eltern oder mit einem alleinerziehenden gehen: Wir haben inzwischen veranlaßt, daß die Elternteil, von ganz großer Bedeutung ist. Müttern Drucksache an den Ausschuß für Frauen und Jugend und Vätern müssen daher mehr Freiräume zugestan- zur federführenden Beratung überwiesen worden den werden, die sie mit ihren Kindern gestalten kön- ist. nen. (Dr. Marliese Dobberthien [SPD]: Was heißt „veranlaßt'? — Weitere Zurufe von der SPD: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Das müssen wir gleich machen! — Das macht ordneten der FDP und der SPD) das Parlament! — Wir sind hier in einer De- Zeiten in Kinderbetreuungseinrichtungen sollten mokratie! — Gegenruf des Abg. Dr. Jürgen immer auch Zeiten individueller Lebensgestaltung Rüttgers [CDU/CSU]: Wir haben es gemel- det! Die Kollegin ist neu!) gegenüberstehen. So sehr das Angebot von Kinder- betreuungseinrichtungen quantitativ in den alten — Wir haben veranlaßt, daß so verfahren wird. Bundesländern und qualitativ in den neuen Bundes- Die heutige Debatte zu den Berichten der Bundes- ländern verbessert werden muß, um wirkliche Verein- regierung über die Gleichstellungsstellen in Bund, barkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen, so sehr Ländern und Gemeinden sowie über die Umsetzung sollten wir uns davor hüten, Vollzeitbetreuung von 1334 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Ilse Falk Kindern zur Voraussetzung für ein Vorwärtskommen Wenn die Herausforderungen der neunziger im Beruf zu machen. Jahre bestanden werden sollen, kann auf die Er- fahrung von Frauen, auf ihre Kreativität, ihre Fä- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- higkeit und ihr Wirken nicht verzichtet werden. ordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Das kann nicht der richtige Weg sein. Ich sage das ausdrücklich auch mit Blick auf die Situation, wie sie Mit der Novellierung der Frauenförderungs -Richt- in der damaligen DDR gewesen ist und wie sie uns linie zeigt die Bundesregierung zudem, daß sie bereit heute manchmal etwas verklärt dargestellt wird. ist, das Ihre zu tun. Sie bekennt sich zu dem Ziel, die Das Ziel der Unionspolitik ist die vernünftige Aus- Teilzeitarbeit als eine der Vollzeitarbeit gleichwertige gewogenheit zwischen der Entlastung von Familien- Beschäftigungsform zu verstehen. aufgaben und flexibler Arbeitszeitgestaltung. Hier Ich erwähne das deshalb, weil mir die Frage nach zeigt es sich, daß die Einführung von Erziehungsgeld dem Begriff der Arbeit — das heißt hier, der Familien- und Erziehungsurlaub wichtige und erfreuliche arbeit — besonders am Herzen liegt. Arbeit in der Schritte sind, da Frauen so die Entscheidung erleich- Familie und möglicherweise auch zusätzlich im tert wird, das Berufsleben kurzfristig zugunsten der Ehrenamt sowie im beruflichen Erwerb ist gleichwer- Familie zu unterbrechen. tig und unterscheidet sich nur darin, ob sie außerhäus- (Dr. Marliese Dobberthien [SPD]: Wo ist lich oder innerhäuslich stattfindet, ob sie bezahlt oder denn das Thema?) unbezahlt ist. — Ich denke, es geht auch darum, heute in die Zu- (Beifall bei der CDU/CSU) kunft zu gucken, und sich zu überlegen, was wichtig Mit der Anerkennung von Erziehungsjahren in der ist, Rentenversicherung und dem Einstieg in eine bessere (Dr. Uwe Küster [SPD]: Schwerpunkte!) soziale Sicherung bei häuslicher Pflege hat die Bun- despolitik dieser Gleichbewertung beider Lebens- also Schwerpunkte zu setzen. und Arbeitsformen Rechnung getragen. Aber auch (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das erwarten wir! — hier bleibt noch vieles zu tun. Dr. Marliese Dobberthien [SPD]: Aber jetzt Dabei sollten wir uns immer wieder aufs neue vor reden wir doch über Gleichstellungsstellen Augen führen, daß Frauen bei ihrer Arbeit in der Fa- und über die Frauenförderungs-Richtlinie, milie Kenntnisse und Erfahrungen sammeln, die auch nicht über den Erziehungsurlaub!) für ihr Berufsleben wertvoll und wichtig sind. Wenn Zu nennen ist auch die Bedeutung der Teilzeitar- im Bereich der Bundesverwaltung diese Einsicht bei beit, sei es für den gleitenden Übergang in die volle Einstellungen und Beförderungen von Frauen umge- Erwerbstätigkeit, sei es als Möglichkeit der Verein- setzt würde, hätten wir einen großen Fortschritt er- barkeit von Beruf und Familie. Die Zahl der Teilzeit- zielt, der auch für andere Arbeitgeber Signalwirkung arbeitsplätze ist deutlich gestiegen. 1989 waren 2 Mil- besäße. lionen Frauen sozialversicherungspflichtig teilzeitbe- Voraussetzung ist aber — das muß hier einmal ganz schäftigt. Das waren immerhin 8,4 % mehr als 1987. deutlich gesagt werden — , daß wir Parlamentarier Heute sind es wohl noch mehr. und Parlamentarierinnen uns endlich verabschieden Aber damit dürfen wir uns nicht zufriedengeben. vom ideologisch verzerrten Klischee des grauen Daß die Verpflichtung — auch das ist eine Sache der Mäuschens der Nur-Hausfrau und Mutter, wie es Richtlinie — , jede Stelle auch als Teilzeitstelle auszu- jüngst in Debattenbeiträgen aus den Reihen der SPD schreiben, heute immer noch auf Widerstand stößt, ist und vom Bündnis 90/GRÜNE wiederholt und in er- meines Erachtens nicht ein Zeichen dafür, daß so viele schreckender Weise ausgemalt wurde. Stellen angeblich nicht teilbar sind. Wir haben einfach (Beifall bei der CDU/CSU) unsere Phantasie noch nicht genug angestrengt, wie die Aufteilung der Arbeit sinnvoll vorgenommen wer- Ein Konsens in dieser Frage wäre wirklich eine gute den könnte. Ausgangsbasis für gemeinsames Handeln in der Gleichberechtigungspolitik, von dem ich eingangs (Ursula Männle [CDU/CSU]: Richtig!) sprach. Gerade hier wie auch generell bei der Veränderung Meine Damen und Herren, die Berichte der Bundes- der Arbeitsmarktstrukturen sehe ich Aufgaben für regierung zeigen, daß wir in der Frauenförderung ein Frauen, verkrustete Denkweisen durch flexible und gutes Stück vorangekommen sind. Die nächste Auf- kreative Ansätze aufzubrechen. gabe wird es sein, im geplanten Gleichstellungsge- (Beifall bei der CDU/CSU) setz gesetzliche Grundlagen zur Frauenförderung zu beschließen. Besonders wichtig ist dabei, die Lei- Dazu muß man eines sagen: Frauen, die sich mit her- stungskriterien nach Art. 33 Abs. 2 des Grundgeset- anwachsenden Kindern auseinandergesetzt haben, zes so zu fixieren, daß sie die sozialen Kompetenzen können hervorragend zwischen „jungen Ideen" und von Frauen aus der Familienarbeit bei der Eignung doch noch recht oft anzutreffenden „Patriarchen" ver- für ein öffentliches Amt würdigen. Zudem muß das mitteln. Gesetz hinsichtlich der beruflichen Laufbahn von Ich freue mich, daß die Bundesregierung diese Ein- Frauen im öffentlichen Dienst die Fragen von Alters- sicht teilt und in einer Regierungserklärung aus dem grenzen und Kindererziehungszeiten zufriedenstel- Jahre 1989 betont — ich zitiere — : lend lösen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ril 1991 1335

Ilse Falk Überdies gilt es, die weiteren frauenpolitischen Ab- sich nur geringfügig erhöht; auf der Ebene der Abtei- sprachen der Koalitionsvereinbarungen auf den Weg lungsleiter und -leiterinnen seien Frauen nach wie vor zu bringen. Wie bisher muß Politik für Frauen so aus- „eine verschwindende Minderheit". sehen, daß sie die Chancen berufstätiger Frauen er- weitert, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf we- Nehmen wir Berichte aus den Ländern hinzu, ist sentlich verbessert und den Begriff von Arbeit in einer leicht festzustellen, daß sich in der grundlegenden Weise bestimmt, die die Arbeit von Frauen in der Tendenz nichts geändert hat, daß nämlich der Anteil Familie nicht abwertet, sondern in ihrem Wert, den sie von Frauen in dem Maße abnimmt, wie Führungsauf- gerade auch für die Erwerbstätigkeit hat, würdigt und gaben und Kompetenz zunehmen. Daran ändern auch unterstützt. Prozentzahlen nichts. Ich danke Ihnen. Trotz dieser kläglichen Bilanz werden in der Neu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fassung der Frauenförderungs-Richtlinie, am 25. Sep- tember 1990 durch das Kabinett beschlossen, keine grundlegenden Konsequenzen erkennbar. Im Gegen- Nun er- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: teil: Es wird festgehalten an schwammigen, unver- teile ich der Abgeordneten Frau Bläss das Wort. bindlichen Formulierungen, die eine Fülle von Inter- pretationen zulassen. Entsprechend großzügig sind Petra Bläss (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! die Entscheidungsspielräume der Verantwortlichen. Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst Frauen sollen angemessen berücksichtigt werden. mit einigen eher formal erscheinenden Anmerkungen Auf die Erhöhung ihres Anteils soll hingewirkt wer- zum vorliegenden Bericht der Bundesregierung über den. Durch die Formulierung von Stellenausschrei- die Gleichstellungsstellen in Bund, Ländern und Ge- bungen sollen Frauen sich aufgefordert fühlen, sich zu meinden beginnen. Der Weg bis zur heutigen Bericht- bewerben. erstattung ist lang und zäh gewesen: Enquete-Bericht 1980, Ausschußempfehlung 1986, knapp zwei Jahre Daß dies auch ganz anders geht, verdeutlicht ein nach Fertigstellung schließlich die Debatte im Bun- Blick ins bremische Gleichstellungsgesetz für den öf- destag. Dies alles zeugt meines Erachtens nicht ge- fentlichen Dienst von 1990. Danach müssen Stellen- rade davon, daß der Gleichstellungspolitik die beson- ausschreibungen so gestaltet werden, daß Frauen auf- dere Aufmerksamkeit der Bundesregierung bzw. der gefordert werden, sich zu bewerben. Bei gleicher jeweils zuständigen Ministerien zuteil wurde. Qualifikation sind sie vorrangig einzustellen; vorran- gig sind sie auch bei Beförderungen zu berücksichti- Nicht nur wegen des verschleppten Verfahrens gen. Beides gilt, solange in den jeweiligen Dienststel- scheint mir der Bericht veraltet zu sein; nein, er ent- len Frauen unterrepräsentiert sind. hält auch alte Politik. Dies zeigt sich vor allem an der Neigung, Frauenpolitik zu institutionalisieren und Davon ist der Kabinettsbeschluß Lichtjahre ent- dabei vorrangig an Einrichtungen zu übertragen, die fernt, ebenso wie von den in diesem Gesetz fixierten — das ist gewiß nicht nur meine Einschätzung — im Quotierungsvorschriften: Bei der Vergabe von Aus- wesentlichen Alibi-Charakter haben. bildungsplätzen müssen Frauen mit einem Anteil von Über die Erfahrungen mit Gleichstellungsstellen mindestens der Hälfte berücksichtigt werden. Dies sind in den letzten Jahren eine Vielzahl von Publika- gilt auch für die Entsendung in Gremien, öffentliche tionen veröffentlicht worden, insbesondere von Leite- Ämter, Kommissionen u. ä. rinnen solcher Stellen oder von Frauenbeauftragten. Ich kann hier nicht im einzelnen darauf eingehen. Offensichtlich haben für das Bundeskabinett weder Eine Tendenz ist allerdings übereinstimmend: Zwar die dürftigen Ergebnisse aus der eigenen Verwaltung ist es der Frauenbewegung der 70er und 80er Jahre noch die Erfahrungsberichte aus den einzelnen Län- gelungen, den Regierenden Zugeständnisse in der dern mit bisherigen Frauenförderungskonzepten, Gleichstellungspolitik zugunsten von Frauen abzu- z. B. aus Nordrhein-Westfalen und , ausrei- trotzen; gleichzeitig wurden allerdings im Laufe der chende Denkanstöße dafür geliefert, die Gleichstel- Jahre solche Gleichstellungseinrichtungen etabliert, lung von Mann und Frau zumindest in ihrem Einzugs- die nicht im Ansatz die Forderungen der Frauenbewe- bereich gründlich zu fördern und damit Vorreiter- gung nach Unabhängigkeit und Entscheidungsfrei- funktionen im Interesse einer emanzipatorischen Ent- heiten sowie eigenen Verantwortungsbereichen ein- wicklung wahrzunehmen. Das Kabinett verharrt statt gelöst haben. Ein Stück Befriedungspolitik steckt dessen bei Halbherzigkeiten. ebenso in den Gleichstellungsstellen wie in den mei- Neu gegenüber der vorhergehenden Regelung sten Konzepten zur Frauenförderung. ist u. a., daß nun endlich auch für den Bereich der Da der Bericht der Bundesregierung zur Umsetzung Bundesverwaltung Frauenbeauftragte vorgesehen der Richtlinie zur beruflichen Förderung von Frauen sind. Typisch ist aber auch hier: Frauenbeauftragte in der Bundesverwaltung für den Zeitraum 1986 bis können bestellt werden. Da ist nicht von einer Wahl 1988 heute zur Debatte steht, will ich mich im folgen- durch die Frauen, deren Interessen es zu vertreten den dazu äußern. Der Bericht ist genau so, wie Frau es gilt, die Rede. Aber auch an eine Interessenvertretung entsprechend der zugrunde liegenden Richtlinie er- durch die Frauenbeauftragte ist nicht wirklich ge- warten konnte: Von nichts kommt nichts. dacht. Sie überwacht, schlägt vor, wirkt mit, berät und Die Ergebnisse sind dann auch mehr als beschei- unterstützt und wird zur Wahrnehmung ihrer Aufga- den: Verbesserungen der beruflichen Situation der ben rechtzeitig und umfassend unterrichtet. Ein Wi- Frauen seien zu erkennen. Gleichzeitig wird konsta- derspruchsrecht gegenüber Dienststellenleitung und tiert, der Frauenanteil in Führungspositionen habe Personalrat ist ebensowenig vorgesehen wie Beteili- 1336 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ril 1991

Petra Bläss gungsrechte und eigenständige Entscheidungs- dienen, und Frauen hätten dies im Grunde genommen rechte. so nicht gewollt. Ob sich Frauenförderungsrichtlinien oder Gleich- (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt stellungsstellen — egal auf welcher Ebene — zur blo- auch!) ßen Alibieinrichtung oder zu einer wirkungsvollen Durchsetzungsinstanz -für Fraueninteressen entwik- Solche Äußerungen zeugen von eklatanter Unkennt- keln, das hängt vor allem davon ab, in welchem Maße nis der Verhältnisse in der ehemaligen DDR. ihnen Kompetenzen, möglichst gesetzlich abgesi- Wir waren in der DDR schon weiter. Wir hatten nicht chert, zugeschrieben sind. Insbesondere für Gleich- nur das Recht auf Arbeit, sondern hatten auch Er- stellungsstellen heißt das für mich: ein Initiativ- und werbsarbeitsplätze. Wir hatten nicht nur das hier erst Vetorecht, die Möglichkeit des Einbringens eigener für die ferne Zukunft geplante Recht auf einen Kin- Vorlagen mit Zeichnungsrecht, die Verfügung über dergartenplatz, sondern hatten Tagesstättenplätze für einen eigenen Haushalt, eine selbständige Öffentlich- alle. Wir hatten das Recht auf Abtreibung, und wir keitsarbeit, eine Kontrollfunktion gegenüber der Ver- hatten einen Mutterschutz, von dem westdeutsche waltung sowie die Beteiligung bei allen wichtigen Frauen weit entfernt sind. Das allerdings — das muß politischen Entscheidungen der jeweiligen Ebene. ich hinzufügen — hat uns nicht genügt. Ebenso müssen ihre Rechtsstellung sowie ihre An- siedlung im Leitungsbereich eindeutig festgelegt (Zuruf von der CDU/CSU: Es ist ja nicht zu sein, um die angedachte Querschnittsfunktion über- fassen!) haupt ermöglichen zu können. Nur unter diesen Vor- Wir wollten mehr. Wir wollten den theoretischen An- aussetzungen kann sich die Gleichstellungsstelle zu spruch des Staates auf gleichberechtigte Teilnahme einem planvollen und wirksamen Instrumentarium von Frauen in die Praxis umsetzen. Deswegen for- zur Verbesserung der Situation von Frauen entwik- derte der Unabhängige Frauenverband lange vor der keln, besteht überhaupt die Chance, einen frauen- Vereinnahmung der DDR die Einrichtung von Frau- politischen Einfluß auf Entscheidungen auszuüben. engleichstellungsstellen, mit deren Hilfe wir tatsäch- Die Verlagerung frauenpolitischer Aufgaben auf liche Gleichstellung erreichen wollten: über das Recht kompetenzlose Verwaltungseinheiten bietet kaum auf Erwerbsarbeit hinaus den Zugang von Frauen zu Möglichkeiten, der vielfältigen Frauendiskriminie-- Leitungspositionen über die Quotierung. Über die for- rung angemessen zu begegnen. Sie eignet sich eher malen politischen Rechte hinaus Quotierung der Füh- zur Verschleierung. Solange beispielsweise der Son- rungspositionen in Staat und Gesellschaft und über derstatus kommunaler Gleichstellungsstellen nicht in die kollektive Kinderbetreuung hinaus eine Erwerbs- die jeweiligen Gemeindeordnungen der Länder ein- arbeitsstruktur, die Frauen und Männern die Wahr- fließt, muß Frau von ihrer grundsätzlichen Rechtlosig- nehmung ihrer Verantwortung für Produktions- und keit ausgehen. Reproduktionsarbeit ermöglicht! Das machte Sinn, In jedem Fall kann die Einrichtung einer Gleichstel- und das hat die Frauen vom Unabhängigen Frauen- lungsstelle nur ein erster Schritt auf dem mühsamen verband dazu motiviert, sich zu organisieren und auf und langwierigen Weg dahin sein, daß Frauengleich- die Straße zu gehen. stellungspolitik eine ganz normale und anderen Poli- Heute, nach dem Anschluß, stehen wir vor den tikfeldern gleichgestellte Angelegenheit in den poli- Trümmern unserer Hoffnungen und müssen in der tisch-administrativen Systemen wird. uns aufgedrückten kapitalistischen Gesellschaftsord- (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei nung um Dinge kämpfen, die wir bei allen Unzuläng- Abgeordneten der SPD und des Bündnis- lichkeiten des sogenannten realen Sozialismus in der ses 90/GRÜNE) DDR längst hatten. (Zuruf von der CDU/CSU: Ist das schön!) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Was uns in dem neuen Staat, der ebensowenig der hat die Abgeordnete Frau Schenk. unsere ist wie der alte, erwartet, ist alles andere als rosig. Das Forum Ökonomie und Arbeit der GRÜNEN nahen Frauen-Anstiftung stellt folgendes fest: Christina Schenk (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Präsi- dent! Meine Damen und Herren! Die heutige Diskus- Die Zahl der erfaßten geringfügig Beschäftigten sion findet zu einem Zeitpunkt statt, zu dem es den stieg allein in den alten Bundesländern innerhalb Frauen in der ehemaligen DDR so schlecht wie nie von drei Jahren auf 7,9 Millionen. Das Bundesmi- zuvor geht. Der Anteil der Frauen an der Gruppe de- nisterium für Arbeit und Sozialordnung hält diese rer, die ihren Arbeitsplatz bereits verloren haben, liegt skandalöse Verschlechterung der Arbeitsverhält- über 55 %; ABM-Stellen gehen hingegen nur zu nisse seit Wochen geheim. 38,5 % an Frauen. Der Anteil von Frauen im soge- (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Deshalb nannten Vorruhestand ist doppelt so hoch wie der wissen Sie es ja auch!) gleichaltriger Männer. Der Anspruch von Frauen auf einen Erwerbsarbeitsplatz, also unser Recht auf öko- Geringfügige Beschäftigung ist nur eine der vie- nomische Selbständigkeit, wird nicht mehr ernst ge- len Formen ungeschützter und nicht existenzsi- nommen. Immer häufiger ertönt die unverschämte chernder Erwerbsarbeit. Sie trifft zu 70 % Frauen. und durch nichts zu belegende Behauptung, die Teil- Armut und/oder Abhängigkeit der Frauen jetzt habe von Frauen an der Erwerbsarbeit sei diktiert und im Alter ist damit vorprogrammiert. Heute gewesen von der Notwendigkeit, Geld hinzuzuver wird die Armut zum Vorteil der Arbeitgeber pri- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1337

Christina Schenk vatisiert, morgen muß die Allgemeinheit durch entsprechende Situation, für die entsprechende Insti- steigende Sozialleistungen dafür bezahlen. tution passen. Meine Damen und Herren, ich denke, die Zahlen Es hilft nur ein Antidiskriminierungsgesetz für liefern den Beleg dafür, wie wenig wirksam die Frau- Frauen. Patriarchalische Strukturen, Mechanismen, engleichstellungsstellen und die Förderpläne der Strategien werden nicht durch bloßes Zureden aufge- Bundesregierung, über die wir heute hier reden, sind. hoben, sondern es müssen wirksame Instrumentarien Wenn das Bundesfrauenministerium bzw. früher das dagegengesetzt werden. Das geht nicht ohne zwin- Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und gende Verbindlichkeiten. Frauenbeauftragte können Gesundheit die Gleichstellungsstelle der Bundesre- die ihnen zugewiesene Aufgabe, die in Art. 3 Grund- gierung ist, wie es in dem Bericht so schön heißt, frage gesetz verankerte Gleichberechtigung in die Wirk- ich mich: Warum gibt es überproportionale Frauener- lichkeit umzusetzen, nur dann erfüllen, wenn es de- werbslosigkeit? Warum gibt es keine Kindertagesstät- taillierte gesetzliche Vorgaben gibt, deren Durchset- ten? zung sie zu überwachen haben. Mit so schwammigen Formulierungen wie „Förderung der Chancengleich- (Zuruf von der CDU/CSU: Die gibt es heit" oder „Berücksichtigung der besonderen Le- doch!) benszusammenhänge von Frauen" können Sie nichts Warum gibt es ein frauenfeindliches Steuerrecht? anfangen. Bemerkungen wie: „Die Bundesregierung Warum haben Frauen Renten, von denen sie nicht unternimmt in ihrem Bereich alle Anstrengungen, um leben können? Warum ist die Unterstützung der Frau- die rechtliche und faktische Gleichstellung von enbewegung, deren wichtige Rolle im Bericht immer- Frauen zu verwirklichen" sind mehr als lächerlich. hin Erwähnung findet, durch die Bundesregierung Die Frauen vom Unabhängigen Frauenverband völlig unzureichend? werden sich in einer Situation, in der sie um Jahre (Zustimmung bei Abgeordneten der SPD) zurückgeworfen werden, dennoch für ihre Forderun- gen einsetzen, und zwar mit Nachdruck. Unsere Lage Warum gibt es überall in der Werbung Sexismus? ist schwieriger als zuvor, aber eines haben wir durch Warum haben Frauen noch immer nicht das Recht die Öffnung der Grenze auf jeden Fall gewonnen, zum Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft? nämlich viele Mitstreiterinnen und Freundinnen im Warum nimmt die Frauenministerin ihr Initiativrecht, Westen. Das macht die Situation etwas besser und - das noch dazu durch den Zwang zur Einvernehmlich- eröffnet trotz allem neue Perspektiven. keit mit dem Bundeskanzler eingeschränkt ist, in be- Danke. zug auf den § 218 nicht wahr? Warum setzt sie sich nicht endlich für das Verbot der Verwaltigung von (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Frauen durch ihre Ehemänner ein? Liste) Ich denke, die Ergebnisse bisheriger Gleichberech- Vizepräsident Cronenberg: tigungspolitik sind ausgesprochen dürftig. Ich denke Nun hat die Abgeord- nete Frau Funke-Schmitt-Rink das Wort. auch, daß in dieser Begriffswahl einiges deutlich wird. Ich dachte eigentlich, die Gleichberechtigung sei hier bereits realisiert und es gehe inzwischen um die Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink (FDP): Herr Präsi- Gleichstellung. Nichts davon! dent! Meine Herren, meine Damen! Wenn man die wirklich greifbaren Ergebnisse aus den beiden vorlie- Meine Damen und Herren, die Antwort auf die genden Berichten herausfiltert, dann läßt sich eines Frage, warum das so ist, ist ausgesprochen einfach. sagen: Der Schritt in Richtung auf eine Gesellschaft, in Gleichstellungsbeauftragte in Bund, Ländern und der Frauen und Männer in allen ihren Rollenaspekten Kommunen werden von männerdominierten Gremien gleichwertig sind, hat das Tempo einer Schnecke. ausgewählt. Sie sind im allgemeinen Männern unter- Darin stimme ich mit Ihnen völlig überein. Die Maß- stellt und ständig in Gefahr, ihre Stellung zu verlieren, nahmen der Bundesregierung gehen zwar in die rich- wenn sie ihre ohnehin geringen Kompetenzen aus- tige Richtung, aber sie sind zu klein, zu zaghaft und schöpfen. Ich erinnere hier nur an Gabriele Stegmei- zeigen keine Vision. ster, die bei Oberbürgermeister Rommel und dem Stuttgarter Gemeinderat, natürlich mehrheitlich mit (Beifall bei der SPD — Ursula Männle [CDU/ Männern besetzt, in Ungnade fiel. CSU]: Sagen Sie das bitte Ihren FDP-Kolle gen!) Männer erwarten von Frauenbeauftragten, daß sie Im Bericht zur Umsetzung der Richtlinie zur beruf dem Patriarchat möglichst wenig Schaden zufügen. lichen Förderung von Frauen in der Bundesverwal Für sie gilt das Gegenteil vom Normalen, das Gegen- tung fällt vor allem auf, daß die teil vom Üblichen: Sie werden gelobt, wenn sie ihre Frauenförderung eben noch nicht Realität ist, sondern mehr aus Aufgabe vernachlässigen, sie werden gefeuert, wenn Wunschvorstellungen bzw. Forderungen besteht. sie ihr pflichtbewußt und mit Engagement nachkom- Folgendes läßt sich an Hand der Stichworte Stellen men. Gegen diese mißliche Situation hilft nur eines: ausschreibung, Einstellung, Beförderung, Fortbil eine ganz konsequente Anhebung der Kompetenzen dung, familienfreundliche Arbeitsbedingungen und der Frauenbeauftragten auf allen Ebenen; die Durch- anderen schlagwortartig festhalten: Es gibt bereits setzung der Quotierung in politischen Gremien. — insbesondere bei den obersten Bundesbehörden — Übrigens, was die Quotierung angeht: Von starrer Verbesserungen der beruflichen Situation, z. B. bei Quotierung redet hier niemand. Man kann sich auch Ausbildung, Einstellung und Beförderung der Frauen. Quotierungsmodelle ausdenken, die für den entspre- Allerdings erfolgt die Erhöhung der Frauenanteile be chenden Fall, für die entsprechende Ebene, für die sonders bei den attraktiven Stellen, nämlich im höhe- 1338 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink ren Dienst, nur sehr zögerlich. Das bezieht sich vor ment, nämlich Kompetenzen zur permanenten Einmi- allem auf den Anteil der Frauen in Führungspositio- schung. Sie sind die Grundvoraussetzung für eine wir- nen. Eine solche Erhöhung wäre aber wichtig, um im kungsvolle Interessenvertretung für Frauen. Hinblick auf das Gleichberechtigungsgebot und den Innerhalb der Verwaltung müssen Frauenbeauf- zukünftigen Führungsbedarf ein Potential an qualifi- tragte Querschnittsfunktionen haben, d. h. sie müs- zierten Frauen zu erschließen und zu entwickeln. sen ämterübergreifend arbeiten. Sie müssen auf Der Anteil der Frauen bei der beruflichen Fortbil- Grund ihres Selbstverständnisses quer zur hierarchi- dung hat sich in allen Laufbahn- und Vergütungs- schen Verwaltung stehen und müssen deshalb ge- gruppen erhöht. Das zeigt den Willen der Frauen, sich wollte Störfaktoren sein. Sie sind Fremdkörper; denn verstärkt beruflich zu engagieren. Frauen werden zu- sie wollen nicht verwalten, sondern verändern. Sie nehmend gezielt auf den Aufstieg in höhere Positio- sind verpflichtet, überall einzugreifen, wo Frauenin- nen angesprochen. Es gibt eine zaghafte Erweiterung teressen berührt oder, besser noch, übergangen wer- der Teilzeitstellen in höheren Positionen. den. Regelungen der Bundesverwaltung haben sich bei Die jetzige hessische Frauenministerin Pfarr hat die den Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Fa- Grundqualifikation von Frauenbeauftragten einmal milie und Beruf als richtig erwiesen. Die Gleitzeit wird treffend formuliert: „Frauenbeauftragte brauchen re- stärker ausgebaut, die Zahl der internen Kinderbe- volutionäre Geduld und liebenswürdige Unver- treuungsmöglichkeiten erhöht. Es gibt auch verstärkt schämtheit." Führungsseminare für weibliche Führungskräfte. (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und Die verstärkte Förderung von Frauen ist inzwischen der SPD) integraler Bestandteil einer zukunftsorientierten Per- sonalentwicklung. Die Berichtspflicht der Bundesre- Frauenbeauftragte sind zur permanenten Konflikt- gierung wird sich positiv auf die jetzige Entwicklung austragung gezwungen. Gerade hier liegt das Pro- auswirken. Ich will darauf aber im Rahmen dieser blem. Bei allen Untersuchungen wird deutlich: Die Stellungnahme nicht weiter eingehen, weil die Bun- Frauenbüros auf allen Ebenen sind personell unterbe- desministerin das bereits formuliert hat. setzt. Ihre Rollenzuweisung ist unklar. Sie haben kaum fixierte Rechte, sie müssen ihr Ernst-genom- Im Bericht der Bundesregierung über die Gleich-- men-werden täglich neu erstreiten. In allen Untersu- stellungstellen in Bund, Ländern und Gemeinden irri- chungen beklagen sich die Frauenbeauftragten über tiert mich, daß die Bundesregierung immer den Be- zu starke Bürokratisierungstendenzen in der Aufga- griff „Gleichstellungsstellen" verwendet. benwahrnehmung. (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD) Fazit: Frauenbüros leisten wirklich notwendige Be- Der Begriff „Frauenbeauftragte" drückt das Ziel ei- wußtseinsarbeit, auch unter der Voraussetzung der gentlich besser aus. Es kann nicht nur darum gehen, Selbstausbeutung. Doch der ursprünglich von den Frauen den Männern gleichzustellen, sondern darum, Verfechterinnen einer institutionalisierten Frauen- die Gesellschaft so zu verändern, daß das Verhalten politik formulierte Anspruch, eine Umgestaltung der und die Lebenszusammenhänge von Frauen und Politik zu erreichen, d. h. als frauenpolitisches Männern gleiche Wertigkeit haben. Es kann doch Reforminstrument zu fungieren, wird in vielen Fällen nicht unterstellt werden, der Mann sei die Norm und auf Grund mangelnder Kompetenzen bzw. Kompe- die Frau die Abweichung von der Norm, also defizi- tenzstreitigkeiten innerhalb der administrativen tär. — männlich dominierten — Hierarchie nicht einge- löst. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Deshalb fordert die FDP ein umfassendes Gleich- stellungsgesetz auf Bundesebene, das die Weichen „Gleichstellungstellen" auf Bundes-, Landes- und dafür stellen muß, daß die Frauenbeauftragten festge- Kommunalebene sind Instrumente zur effektiveren schriebene und einklagbare Befugnisse und Kompe- und schnelleren Verwirklichung der Gleichberechti- tenzen bekommen. Daß die Zeit endlich reif ist, sieht gung. Sie haben dann ihren Auftrag erfüllt, wenn die auch die Bundesregierung. Immerhin steht die Forde- vollständige Gleichberechtigung im täglichen Leben rung auch in den Koalitionsvereinbarungen. Dieses erreicht sein würde. Gleichstellungsgesetz soll für den Bereich des öffent- Die Bundesregierung stellt die tatsächlichen politi- lichen Rechts, insbesondere des öffentlichen Dienst- schen Handlungsmöglichkeiten der Frauenbeauf- rechts, die Beachtung des Gleichberechtigungsgebots tragten zu positiv dar. Die Wirklichkeit ist anders. verankern. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) In dem Bundesgleichstellungsgesetz, wie es sich die FDP vorstellt, soll die Rechtsstellung einer nicht wei- Hierzu gibt es mehrere wissenschaftliche Untersu- sungsgebundenen Frauenbeauftragten, ähnlich der chungen, die letzte ist an der Universität Oldenburg Position des Datenschutzbeauftragten, festgeschrie- im Jahre 1989 über die kommunalen Frauenbüros ben werden. Diese Beauftragte soll befugt sein, Ver- durchgeführt worden. stöße gegen das Gesetz zu rügen und die Einhaltung Der Prüfstein für die Innovationsbereitschaft von der sich aus dem Gesetz ergebenden Gebote im eige- Politik und Administration ist nicht die Quantität von nen Namen vor Gericht geltend zu machen. Eine sol- Frauenbüros, sondern ihre qualitative Ausstattung, che Frauenbeauftragte hat eine jährliche Berichts- d. h. ihre materiellen Ressourcen, die personelle und pflicht gegenüber dem Parlament und bei der Diskus- finanzielle Ausstattung und das wichtigste Instru sion ihres Berichts im Bundestag ein Rederecht. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1339

Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink Liberale Gleichberechtigungspolitik will — noch — Es kann also nicht nur um die Vereinbarkeit von Beruf ohne starre Quoten erreichen, daß Frauen im Beruf, und Familie für Frauen gehen. Das ist heute eine weit- natürlich auch in der Politik, die gleichen Chancen gehend akzeptierte Forderung. Es muß um die Ver- wie die Männer haben, daß sie sich ihrer Familie und einbarkeit von Familie und Beruf für Männer ge- ihrem Beruf gleichermaßen widmen können und daß hen. das Recht sie dort schützt, wo sie Bedrohung und Dis- (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ kriminierung ausgesetzt sind. CSU und der SPD sowie der Abg. Ch ristina Meine Herren, meine Damen, natürlich wissen auch Schenk [Bündnis 90/GRÜNE]) wir, daß ein Gesetz allein keine Bewußtseinsände- Erst das würde eine wirkliche Änderung der Zeit- und rung herbeiführt — der Bundestag würde auch dann Arbeitsorganisation in Gesellschaft, Politik und Wirt- nicht voller, wenn wir das Gesetz diskutierten. Es schaft bedeuten. Davon sind wir allerdings noch kann nur Vehikel einer notwendigen Sensibilisierung Lichtjahre entfernt. sein und hoffentlich die Grenze durchstoßen, an der Ich möchte zum Schluß an dem Beispiel Vereinbar- die Politik für Frauen gegenwärtig angelangt ist. keit von Kindererziehung und Berufstätigkeit deut- Denn wir Politikerinnen müssen uns inzwischen lich machen, was Gleichheit auf gesamtgesellschaftli- ernsthaft fragen, warum nach jahrzehntelanger Frau- chem Hintergrund, wie ich das gerade aufgezeigt enbewegung, nach jahrelanger hervorragender wis- habe, heißt. senschaftlicher Frauenforschung und Frauenpolitik auf allen Parlamentsebenen Frauenbelange immer (Dr. Konrad Elmer [SPD] meldet sich zu einer noch nicht selbstverständlich bei politischen Entschei- Zwischenfrage) dungen mitbedacht und mitberücksichtigt werden. — Ich möchte gern zu Ende sprechen. — Seien wir uns über eines klar, meine Herren, meine Damen: Die (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Lösung dieses Problems, nämlich die Vereinbarkeit SPD) von Kindererziehung und Berufstätigkeit, wird zu- Warum fühlen sich Männer in der Regel für Erzie- künftig zum Lackmustest für jede Partnerschaft, aber hungs- und Beziehungsarbeit nicht zuständig? darüber hinaus auch für den sozialen Frieden in unse- rer Gesellschaft. Die Entwicklung neuer Lebensfor- (Dr. Rudolf Krause [Bonese] [CDU/CSU]: men, d. h. auch die Entwicklung anderer Arbeitszei- Stimmt nicht!) ten und anderer Arbeitsabläufe — Stichwort: Flexibi- — Herr Mischnick ist eine Ausnahme. — Warum lisierung von Arbeitszeit und Zeitsouveränitätsbud- scheinen sie zu wenig sensibilisiert zu sein gegenüber gets — kann in Zukunft dazu beitragen, daß der Wi- derspruch zwischen berufsbezogenen und familiären den vielfältigen Formen der Diskriminierung, denen Frauen ausgesetzt sind? Warum verweigern viele ihre Interessen und Verpflichtungen, denen Männer und Mitarbeit und Unterstützung im Privaten und in der Frauen, Frauen und Männer gleichermaßen unter- Öffentlichkeit, und zwar mit immer subtileren Metho- worfen sind, leichter bewältigt werden kann. den? Warum haben sich das Denken der Menschen und die Strukturen von Gesellschaft und Wirtschaft Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Ab- noch nicht so verändert, daß die als männlich/weiblich geordnete, sind Sie grundsätzlich bereit, eine Zwi- eingestuften Verhaltensweisen tatsächlich als gleich- schenfrage zuzulassen? wertig gelten?

Vielleicht wird es diese Gleichwertigkeit erst dann Dr. Margret Funke-Schmidt-Rink (FDP): Erst am geben, wenn spezielle Betroffenheiten und Interessen Ende. beider Geschlechter gleichermaßen alle Lebensberei- che bestimmen. Viele Politikerinnen haben erst lang- Junge Frauen sehen nach neueren Untersuchungen sam gelernt, daß die Frauenfrage eigentlich auch eine volle Erwerbsarbeit und Kinderbetreuung nicht mehr Männerfrage ist, d. h. eine gesamtgesellschaftliche als Alternativen an. Die Änderungen weiblicher Le- Frage, daß die Frauenprobleme eigentlich Männer- bensentwürfe können mit drei Stichworten umschrie- probleme sind, d. h. gesamtgesellschaftliche Pro- ben werden: erstens Streben nach existenzsichern- bleme. Das heißt, es geht um Macht. dem Einkommen durch Erwerbsarbeit, zweitens Kon- tinuität der Erwerbstätigkeit trotz Kinderbetreuung, Die Politik für Frauen muß endlich aus der Ecke drittens gleiches Interesse an beruflicher Qualifika- Frauenpolitik heraus. Sie muß endlich als das bewer- tion und beruflichem Aufstieg einerseits, an Familie tet werden, was sie wirklich ist, nämlich Kern der klas- und Kinderbetreuung anderereits. Erwerbsunterbre- sischen Politikressorts Wirtschaftspolitik, Sozialpoli- chung und Teilzeitbeschäftigung werden darum bei tik, Finanzpolitik, Innenpolitik. Das bedeutet: Hinein jungen Mädchen — wie bei jungen Männern schon in die Arena, wo Macht verteilt wird! immer — als Hindernisse bei der Verwirklichung der eigenen Lebenspläne gesehen. Mit anderen Worten: Frauen haben erst dann glei- che Chancen und gleiche Macht in Beruf und Öffent- Deshalb müßten endlich langfristige politische Kon- lichkeit, wenn Männer endlich ihren Anteil an der zepte entwickelt werden Haus-, Kinder- und Beziehungsarbeit verantwortlich (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Die übernehmen. haben wir doch schon!) (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der — erst einmal muß die Konzeption da sein —, SPD sowie der Abg. Christina Schenk [Bünd- (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Haben nis 90/GRÜNE]) wir doch auch schon!) 1340 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Dr. Margret Funke-Schmidt-Rink in denen das Recht auf Arbeitszeitverkürzung wäh- Dr. Konrad Elmer (SPD): Frau Kollegin, ich wollte rend der Kinderbetreuungspause und das Recht auf Sie durch eine Zwischenfrage gar nicht verunsichern, solidarische Finanzierung von mehrjährigen Erzie- sondern Sie bitten, mir den Widerspruch näher zu hungszeiten von Müttern und Vätern diskutiert wer- erklären, warum Sie auf der einen Seite die Frauen- den. problematik auch in meiner Sicht sehr richtig als eine (Beifall der Abg. Uta Würfel [FDP]) Männerproblematik darstellen, auf der anderen Seite Das heißt, die Einkommensverluste, die durch die in aber den Begriff der Gleichstellungsbeauftragten nun der Erziehungsphase verkürzte Arbeitszeit entstehen, doch wieder einseitig durch „Frauenbeauftragte" er- ebenso wie die Minderung der Ansprüche auf Alters- setzen möchten. versorgung und andere soziale Leistungen für Mütter und Väter müßten im Rahmen entsprechender Aus- Dr. Margret Funke-Schmi tt-Rink (FDP): Ich meine, gleichsmechanismen, über Beitrags- und/oder Steu- es kann nicht nur darum gehen, die Frauen den Män- erfinanzierung, wenigstens zum Teil kompensiert nern gleichzustellen, das habe ich ja gesagt, sondern werden; Beispiel Schweden. es muß (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Besserge (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Was sagt stellt werden!) denn Ihre Fraktion dazu?) — nein, nicht besser — eine gleiche Wertigkeit der — Frauen haben schon immer weiter vorausge- unterschiedlichen Lebensauffassungen und Lebens- dacht, zusammenhängen von Frauen und Männern darge- (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Als Ihre stellt werden. Frauenbeauftragte müssen zunächst Fraktion!) einmal das Defizit, das es zur Zeit gibt, aufholen. Es besteht also ein Aufholbedarf. Aber während dieses und das tun wir jetzt. — So ist es. Aufholens darf nicht die Gleichstellung an erster Bei einer solchen Regelung würden Mütter und Vä- Stelle stehen, sondern muß die gleiche Wertigkeit der ter für eine begrenzte Zeit gleichwertig an der Erzie- unterschiedlichen Lebenszusammenhänge stehen. hungs- wie an der Erwerbsarbeit beteiligt. Ich darf daran erinnern, daß die Babyjahre schon da sind, aber Dr. Konrad Elmer (SPD): Aber dann lassen Sie die sie sind nicht mehr als ein zaghafter Einstieg in diese- Männer doch wieder heraus. In dieser Begriffsver- Richtung. schiebung sehe ich das Problem. Ich bitte Sie, das noch einmal gründlich zu überdenken. Fazit: Die formale Gleichberechtigung, wie wir sie alle wollen, bedeutet angesichts der unterschiedli- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste chen Lebensbedingungen für Männer und Frauen sowie der Abg. Christina Schenk [Bündnis nicht das gleiche, denn sie hat unterschiedliche Kon- 90/GRÜNE]) sequenzen. Gleichstellung für Frauen heißt konkret mehr Ausbildungsplätze, bessere Berufschancen, hö- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun hat here Löhne, Freistellung von Familienarbeit, eine hö- die Abgeordnete Frau Wolf das Wort. here Repräsentanz, d. h. Freiheit und Verantwortung in der öffentlichen Sphäre. Für Männer bedeutet diese Hanna Wolf (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegin- Gleichberechtigung aber das Gegenteil, nämlich noch nen und Kollegen! An dieser Stelle würde ich gern mehr Konkurrenz, Verzicht auf tradierte und ge- weiterdiskutieren, aber ich rede jetzt zu der Vor- wohnte Vorteile und auf Männerlöhne, Verzicht auf lage. selbstverständliche Posten und Karrieren und Ver- Wir diskutieren heute eine Vorlage mit dem schö- zicht auf Macht. Darüber hinaus aber hätten Männer nen Titel „Bericht der Bundesregierung zur Umset- bei einer solchen Gleichberechtigung mehr Verant- zung der ,Richtlinie zur beruflichen Förderung von wortung und soziale Kompetenzen durch Familien- Frauen in der Bundesverwaltung' — Berichtszeitraum pflichten und p rivate Alltagsarbeit. Eine solche Ge- 1986 bis 1988". Frau Ministe rin, Sie werden mir ge- sellschaft, meine Herren, meine Damen, wäre durch statten, daß ich da noch eine Unterzeile mache. Bei geteilte Verantwortung und geteilte Freiheit in allen mir heißt es dann: Frauenpolitik im Rückwärtsgang. Lebensbereichen für Frauen und Männer gekenn- Nun könnte man im Jahr 1991 sagen: Das ist alles zeichnet, aber das muß man wollen, und das wäre eine Schnee von gestern; aber dem ist leider nicht so, denn Vision. die Voraussetzungen für Frauen im Berufsleben ha- Vielen Dank. ben sich seither nicht geändert. Durch Beschluß des Bundestages vom 19. Februar (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 1986 hatte die Bundesregierung die Aufgabe, sich der SPD und der Abg. Ch ristina Schenk selbst in ihrer Eigenschaft als Dienstherrin und Arbeit- [Bündnis 90/GRÜNE]) geberin zu überprüfen. Der vorliegende Bericht sollte hinterfragen, ob die „Richtlinie zur beruflichen För- derung von Frauen in der Bundesverwaltung" über- haupt Wirkung zeigte, wenn ja, in welcher Hinsicht. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Ab- Dabei tauchen nun drei Fragen auf: War die Bundes- geordnete, Sie hatten eigentlich zugesagt, noch eine regierung in der Lage und bereit, der beruflichen Be- Frage zu beantworten. Sie sind nun in, wie Sie es nachteiligung von Frauen wenigstens in ihrem eige- gesagt haben, liebenswürdiger Unverschämtheit vom nen Zuständigkeitsbereich ein Ende zu setzen, wie Rednerpult verschwunden. weit ist es denn mit der allseits zitierten Vorbildfunk- Bitte schön, Herr Dr. Elmer. tion des öffentlichen Dienstes, und — Sie haben ge- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1341

Hanna Wolf stern noch einmal darauf hingewiesen — welche be- bindlichkeit sind unwirksam. Sie üben nicht den not- sonderen Maßnahmen zur beruflichen Förderung von wendigen Druck auf die jeweiligen Personalverant- Frauen sind erkennbar und wirkungsvoll? wortlichen aus, weder in der Privatwirtschaft noch im öffentlichen Dienst. Der Bericht drückt höchste Befangenheit aus, ver- strickt sich in Widersprüche, bemüht sich, die nackte Dieser Bericht sähe heute ganz anders aus, wenn Realität zu verschleiern. Da kann ich nur sagen: Frau Sie unseren Vorschlägen gefolgt wären. Wir haben im merkt die Absicht, und Frau ist verstimmt. So ist es März 1985 eine verbindliche Frauenförderung im öf- z. B. — ich zitiere aus der Einleitung — das erklärte fentlichen Dienst gefordert. Vor allem aber haben wir Ziel der Richtlinie, „den Anteil der Frauen in der Bun- im Dezember 1988 unseren Entwurf eines Gleichstel- desverwaltung zu erhöhen, insbesondere in den Be- lungsgesetzes eingebracht, der u. a. den Bund als Ar- reichen, in denen sie gering vertreten sind". Das Er- beitgeber verpflichtet, durch personalpolitische und gebnis wird ebenfalls in der Einleitung festgehalten organisatorische Maßnahmen Frauen so lange aktiv — hier noch einmal ein Zitat — : und gezielt zu fördern, bis ihre Benachteiligung besei- tigt ist. Im Ergebnis erweist sich die „Richtlinie ... " mit ihren konkreten, aber nicht starren Regelungen Frauen sind nach unserem Gesetzentwurf bei der nach den bisherigen Erfahrungen grundsätzlich Einstellung und Beförderung bevorzugt zu berück- als erfolgreiche Maßnahme. sichtigen, wenn sie eine gleichwertige — ich betone: In dem 91 Seiten starken Bericht sucht Frau nun eine gleichwertige — Qualifikation wie männliche vergeblich nach Informationen, die belegen, daß im Bewerber haben. Frauenförderpläne sind aufzustellen Berichtszeitraum wesentlich mehr Frauen gerade im und Gleichstellungsbeauftragte mit konkreten Rech- gehobenen und höheren Dienst der Bundesministe- ten und Pflichten auszustatten. rien eingestellt worden sind. Insgesamt hat sich der Gegen diesen unseren Gesetzentwurf haben Sie Frauenanteil an den Vollzeitbeschäftigten von 17,4 sich in den letzten Jahren hartnäckig gesträubt, Sie auf 18 To erhöht, also um ganze 0,6 Prozentpunkte. haben sich vehement gegen die darin enthaltene Der Bericht stellt fest, daß die Frauen im Bundesdienst Quotierungsregelung gewandt, obwohl selbst der schwerpunktmäßig im mittleren Dienst eingesetzt Bundesfachausschuß Frauenpolitik der CDU unsere werden. Zu dieser Gehaltsstufe gehören z. B. Schreib- - Vorschläge längst aufgegriffen hat. Heute haben Sie, kräfte bei den Behörden, Schalterbeamtinnen bei der Frau Ministerin, wieder von sich gewiesen — es wäre Post oder Polizistinnen im Streifendienst. Was man schön, wenn Sie zuhörten — , daß Quotierung der rich- dort verdient, ist, glaube ich, allseitig bekannt. tige Weg ist. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Die Män- (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Jawohl, da ner aber auch!) hat sie recht!) Im höheren Dienst beträgt ihr Anteil nur 6,2 %. Ob- Ich glaube, an Ihnen und auch an Ihrer Partei wird die wohl die Bewerbungen von Beamtinnen im höheren Debatte nicht vorbeigehen, wenn man sich anschaut, Dienst von 34,1 auf 37,9 % gestiegen sind, gingen die wie die Frauen hier im Parlament beteiligt sind. Ich Einstellungen von 30,5 auf 26,7 % zurück. Damit ist denke, Sie werden schon noch dahinterkommen, daß auch das hinlänglich von Personalverwaltungen be- Quotierungen, ganz egal wo sich Frauen bewerben, kannte Argument, daß sich zuwenig Frauen bewer- nötig sind. ben, eindeutig widerlegt. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Sie krie Je höher die Karriereleiter, desto mehr muß man die gen Ihre Quote doch noch nicht mal voll!) Frauen mit der Lupe suchen: Ministerialrätinnen, Mi- nisterialdirektorinnen gibt es nur 2 %. Unter 116 Ab- Aber selbst die CDU hat das — ich habe das schon teilungsleitern bei den obersten Bundesbehörden gibt betont — schon aufgegriffen. Bei einer Anhörung des es nicht eine einzige Frau. Lag da keine Bewerbung Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Ge- vor? — Dies ist das Ergebnis der Frauenförderungs- sundheit Anfang des letzten Jahres in Berlin wurde Richtlinie, die vorsieht, daß unter Beachtung des Lei- eine solche Regelung für notwendig gehalten, um stungsprinzips Frauen bei der Einstellung angemes- eine Gleichstellung von Frauen im öffentlichen Dienst sen zu berücksichtigen sind. herbeizuführen. Auch die Verfassungsmäßigkeit, die in Ihrem Bericht wiederum in Frage gestellt wird, Noch einmal: Unter 116 Abteilungsleitern keine wurde bei dieser Anhörung von Rechtssachverständi- einzige Frau. Angemessen beteiligt? — Ich meine, es gen bestätigt. gehört schon eine Portion Unverfrorenheit oder Ver- achtung des Parlaments dazu, eine solche Entwick- Wenn Sie nun Anfang dieses Jahres in den Koali- lung als Erfolg der Richtlinie zur beruflichen Förde- tionsvereinbarungen plötzlich Aussagen machen, die rung der Frauen in der Bundesverwaltung zu verkau- im völligen Gegensatz zu Ihrer bisherigen Frauen- fen. politik stehen, wie z. B. die Ankündigung eines Arti- kelgesetzes, in dem u. a. die Frauenförderung im öf- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste fentlichen Dienst gesetzlich geregelt werden soll, sowie der Abg. Christina Schenk [Bünd- müssen Sie sich einige Fragen gefallen lassen. Wie nis 90/GRÜNE]) kommt es, daß Sie plötzlich Forderungen der SPD auf- Das Gegenteil ist der Fall: Der Bericht bestätigt un- nehmen, die Sie bisher vehement bekämpft haben? sere langjährigen Betrachtungen und Befürchtungen. Handelt es sich hier um ein weiteres Wendemanöver Frauenförderungs-Richtlinien mit wachsweichen For- aus Einsicht in die Notwendigkeit, oder handelt es mulierungen und Appellcharakter ohne jede Ver- sich bei diesem Koalitionsbeschluß wieder einmal um 1342 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Hanna Wolf die Variante der Kohlschen Politik: Worte statt Ta- damals niemand zu träumen gewagt, daß wir heute ten? einen Stand erreicht haben, daß für jede Frau in der (Dr. Rudolf Krause [Bonese] [CDU/CSU]: Ein Bundesrepublik eine Gleichstellungsstelle vor Ort er- Quatsch!) reichbar ist. Das ist ein Erfolg, den wir zu verzeichnen haben. Wie will die Regierung ein taugliches Instrument für Frauenförderung schaffen? Voraussetzungen bei Kar- (Beifall bei der CDU/CSU — Susanne Kast riere und Beförderung sind heute einmal mehr Män- ner [SPD]: Waren Sie schon einmal in nerlebensläufe, d. h. kontinuierliche Berufstätigkeit, Bayern? Das ist doch einfach nicht wahr!) nicht gestört — sprich: unterbrochen — durch Kinder- —Dann kommen Sie doch einmal — ich lade Sie sehr erziehung. herzlich ein — nach Rheinland-Pfalz. Wir brauchten Es gibt ja auch genug Frauen, die ähnliche Berufs- keine Änderung der Gemeindeordnung. wege wie Männer haben, aber trotzdem nicht beför- dert werden. Dies hat damit zu tun, daß die stilprägen- (Susanne Kastner [SPD]: Dann gehen Sie den Leitbilder — hier: die richtige Wahrnehmung von einmal nach Bayern!) Leitungsfunktionen — auf Berufskarrieren zuge- — Ich weiß, Frau Dobberthien, Nordrhein-Westfalen schnitten sind, wie sie durch Männer geprägt werden. hat den Weg über die Gemeindeordnung beschritten. Frauenförderpläne müssen hier Veränderungsstrate- Die Schleswig-Holsteiner sind später nachgezogen. gien für Leitbilder schaffen. Ich sage Ihnen ganz schlicht und einfach: Für uns war Die SPD will mit ihrem Gleichstellungsgesetz die das ein alter Hut. Wir haben gehandelt. Wir haben in durch Familienarbeit erworbenen Erfahrungen und jedem Landkreis und in jeder Gemeinde eine Gleich- Fähigkeiten bei Beurteilung der beruflichen Qualifi- stellungsstelle. kation mit berücksichtigen. Der angekündigte Ent- (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf der Abg. wurf der Bundesregierung für ein Gleichberechti- Susanne Kastner [SPD]) gungsgesetz muß sich an unserem Gesetz und an den Vorgaben der EG messen lassen. — Sie wollen nie hören, was sich in einem CDU regierten Land tut. Ich finde, auch das sollte in Ihren (Beifall bei der SPD) Blick gehören. Bisher haben Sie sich aber auch hier st rikt geweigert,- die EG-Richtlinie zur beruflichen Gleichbehandlung (Beifall bei der CDU/CSU — Susanne Kast von Männern und Frauen umzusetzen. ner [SPD]: Wir haben keinen Wahlkampf! — Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das stärkt Ich komme noch einmal zu Ihrem Bericht zurück. das Bewußtsein!) Wenn Sie sich von den darin genannten Schlußfolge- rungen leiten lassen, dann bleibt Ihre Gleichstellungs- Ich darf gleich mal mit der Aufklärung fortfahren: politik eine reine Worthülse. Mit verfeinerten Statisti- Wir haben für die kommunalen Gleichstellungsstellen ken und Appellen an die Personalverwaltung werden Empfehlungen abgeben, die echte Kompetenzen Sie auch künftig nichts erreichen, nicht für die Frauen beinhalten. Jetzt liegt ein Gesetzentwurf vor, wo die im Westen und schon gar nicht für die im Osten, die gesetzliche Verankerung dieser Kompetenzen vorge- beim Aufbau der neuen Verwaltung dort jetzt eine sehen ist. Ich glaube, man sollte das der Fairneß hal- Chance hätten. ber einmal sagen und nicht stets nur von einer Seite reklamieren, daß dort Frauenpolitik geschieht, Frau Frau Ministe rin Merkel, Sie sind neu im Amt und Dobberthien. haben das Ergebnis dieses Berichtes nicht zu verant- worten. Legen Sie ein Gleichberechtigungsgesetz vor, (Beifall bei der CDU/CSU) das die Frauenförderung wirklich ernst nimmt! Dann Ich muß sagen, wir haben gemeinsam als Frauenbe- können Sie mit unserer politischen Unterstützung auftragte, Sie in Hamburg und ich in Rheinland-Pfalz, rechnen. Eine Frauenpolitik im Rückwärtsgang wer- für so manches gekämpft, und wir wissen, daß das den wir mit allen politischen Mitteln bekämpfen. kein einfaches Tun ist. Deshalb meine ich auch, daß (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste man die Handlungsmöglichkeiten der neuen Frauen- sowie der Abg. Christina Schenk [Bünd- ministerin nicht nach den ersten Tagen, nach den er- nis 90/GRÜNE] sten Wochen so in Bausch und Bogen einfach von der Hand weisen sollte. Wir wissen alle miteinander: In der Frauenpolitik ist es stets ein hartes Ringen, und Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun er- hier sind Kompetenzen vorhanden, von denen ich teile ich der Abgeordneten Frau Dr. Böhmer das überzeugt bin, daß die neue Frauenministerin sie voll Wort. ausnutzen wird. Ich wünsche ihr alles Gute dabei. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Herr Präsident! Zuruf von der SPD: Warum wollten Sie nicht Meine Damen und Herren! Bei dem Bericht der Bun- eine Abteilungsleiterin installieren?) desregierung fand ich einen Punkt bezüglich der — Sie wissen genau, es gibt dort eine. Gleichstellungsstellen ganz wesentlich. Wir verfügen in der Bundesrepublik über ein dichtes Netz von Ich will zu dem anderen Punkt, Frauenförderung, Gleichstellungsstellen. Wenn wir hier alle einmal ehr- auch einige Anmerkungen machen, die zunächst lich sind, so müssen wir sagen: Als der Enquete nicht auf den Bericht der Bundesregierung eingehen, Bericht, der 1980 hier in diesem Hause diskutiert und denn auch da scheint mir einiges an Klarstellung not- verabschiedet worden ist, dies gefordert hat, so hätte wendig zu sein. Frau Wolf, Sie haben gesagt, der Bun- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1343

Dr. Maria Böhmer desfachausschuß „Frauenpolitik" der CDU ist der — Frau Dobberthien, Sie können das gern nachlesen. SPD gefolgt. Wir haben in der Tat im vergangenen Ich streite nicht über Dinge, die Fakten sind. 1983 ist Jahr einen ganz konkreten Vorschlag für einen kom- die Richtlinie in Rheinland-Pfalz in Kraft getreten, munalen Frauenförderplan gemacht, wir haben aber 1984 in Hamburg. auch 1986 von seiten der CDU bundesweit ein Papier (Beifall bei der CDU/CSU) vorgelegt, das einen Leitfaden für kommunale Frauenstellen beinhaltet. Ich habe gehört, daß es un- Immerhin war ein Jahr dazwischen. ter SPD- und GRÜNEN-Kollegen und -Kolleginnen (Dr. Marliese Dobberthien [SPD]: Hamburg reißenden Absatz fand. ist weiter!) (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: So ist es!) — Sie sind insofern weiter, als Sie momentan ein Ge- Somit muß ich fragen: Wer folgt hier eigentlich wem? setz durchgebracht haben, das an ein Bild erinnert, Darum geht es mir, ehrlich gesagt, auch gar nicht. das Sie von Willy Brandt gebracht haben: Frauenför- derung oder Frauenpolitik kommt voran wie eine (Beifall bei der CDU/CSU) Schnecke auf glattem Eis. Es geht mir darum, daß wir zu einer effektiven, zu (Dr. Marliese Dobberthien [SPD]: Dank der einer wirksamen Politik für Frauen kommen, und ich FDP!) hoffe, daß von seiten der SPD, gerade von seiten der Dabei ist Ihnen leider ein dicker Patzer passiert. Sie Kolleginnen, auch ein Stück der so oft reklamierten hatten vor, Frauenbeauftragte mit Kompetenzen aus- Solidarität vorhanden ist. Man sollte das Wort nicht zustatten. In dem Gesetz lese ich nur: „ ... können nur im Munde führen, man sollte es auch hier in De- Frauenbeauftragte bestellen. " Ich muß schon sagen: batten unter Beweis stellen. An der Stelle ist ein Abspecken passiert, was ich sehr (Beifall bei der CDU/CSU) bedaure. Ich will einige Anmerkungen zu dem Bericht der (Zustimmung bei der CDU/CSU — Dr. Mar Bundesregierung bezüglich der Frauenfördermaß- liese Dobberthien [SPD]: Von der FDP ge nahmen machen. Wir alle sind der Auffassung — da kippt!) gibt es wohl keinen Streit - - , daß das ein wirksamer -—Entschuldigen Sie! Wir in Rheinland-Pfalz haben es Weg ist, um weiterzukommen, um Frauen verstärkt in anders formuliert, und zwar mit der FDP. Ich finde das Führungspositionen zu bringen. Aber ein zweites ist etwas verwunderlich. auch wichtig: um die strukturelle Arbeitssituation für Frauen zu ändern. Denn dort liegt die Ursache, wes- (Beifall bei der CDU/CSU) halb Frauen in weiten Bereichen bisher nicht entspre- Zweitens brauchen wir bei einer zukünftigen Rege- chend zum Zuge gekommen sind. Wir haben es nach lung klare Zielvorgaben. Wenn man ein Ziel anstrebt, wie vor noch mit Vorurteilen zu tun, und vielen wird ist es notwendig zu wissen, unter welchen zeitlichen der Satz oft begegnet sein: Frauen sind heute gut qua- Bedingungen und unter welcher Zielvorgabe man es lifiziert. Das wissen wir. Oft folgt dann der Satz: erreichen will. Dazu brauchen wir Zielvorgaben, die Frauen werden ihren Weg gehen. Da sage ich: Im leistungsbezogen und flexibel zu handhaben sind. öffentlichen Dienst müssen wir die Strukturen än- Drittens muß Frauenförderung eine Verpflichtung dern, damit Frauen in der Tat in die Positionen kom- für jede Behörde sein. Der Vorschlag der SPD, der, men, die sie entsprechend ihrer Qualifikation, ihrer Frau Wolf, damals im Deutschen Bundestag vorgelegt Befähigung und ihrer Leistung reklamieren und aus- wurde, war mir an dieser Stelle wirklich ungenügend, füllen können. denn er bot nicht die Möglichkeit der Konkretisierung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) von Frauenfördermaßnahmen für jede Dienststelle. Das müssen wir anstreben, das müssen wir realisieren, Dazu ist es zweifellos notwendig, daß wir zu einer und dort muß entsprechende Unterstützung liegen. gesetzlichen Regelung kommen. Wir wären alle etwas schlauer gewesen, wenn wir die Erfahrungen, die wir (Zuruf von der SPD: Ist das der Grund, wes in den letzten Jahren in puncto Frauenförderung ge- halb Sie es abgelehnt haben?) sammelt haben, etwa schon Anfang der 80er Jahre — Damals habe ich als Expertin gesagt: Der Entwurf gehabt hätten. Dann hätte in dem Enquete-Bericht war zu jener Zeit veraltet. Sie können in die anderen möglicherweise nicht gestanden „positive Maßnah- Länder schauen: Da war man wesentlich weiter als men", sondern es hätte schon das darin gestanden, der SPD-Entwurf im Deutschen Bundestag. Insofern was jetzt Absicht der Bundesregierung ist: ein Gleich- kann man ja nur lernen; das würde ich Ihnen empfeh- stellungsgesetz vorzulegen und zu verabschieden. len. Vielleicht haben Sie dann etwas Neues in Dann hätten wir auch das, was in anderen Bundeslän- petto. dern an gesetzlichen Regelungen da ist, damals auch schon reklamieren können. Der nächste Punkt, auf den es mir ankommt, lautet: Frauenförderung muß zu einem Kriterium für erfolg- (Beifall bei der SPD) reiche Tätigkeit der Personalverantwortlichen wer- Aber sind wir doch auch einmal an dieser Stelle so fair: den. Es muß ein Umdenken stattfinden, das durch neue Beurteilungskriterien angestoßen werden muß, Rheinland-Pfalz und Hamburg waren die ersten Län- die nicht allein für den Bereich der Frauen gelten, der, die Frauenförderrichtlinien vorgelegt haben. sondern — ich freue mich, wenn wir uns da einig (Dr. Marliese Dobberthien [SPD]: Hamburg sind — besonders für diejenigen, die Personalent- war eher dabei!) scheidungen treffen, die Personalplanung betreiben. 1344 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Die Rede- desbehörden, sondern auf allen Ebenen, in jeder zeit ist zwar abgelaufen, aber es gibt noch den Dienststelle, und wir brauchen sie auch in kleinen Wunsch, eine Zwischenfrage zu stellen, die ich auch Dienststellen und nicht nur in solchen, die mindestens zulassen würde, wenn Sie noch bereit sind, sie zu 600 Beschäftigte haben; dies war ja einmal ein SPD- beantworten. Vorschlag. Ich gehe mit dieser Beschäftigungszahl gern etwas herunter. Um einen Wert anzugeben: Dort, Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU) : Ich würde gern noch wo schon fünf Frauen tätig sind, sollten wir auch Frau- meine restlichen drei Punkte nennen. enbeauftragte haben. Über die konkrete Zahl kann man diskutieren. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Die Be- Wir brauchen entsprechende Kompetenzen für die antwortung der Zwischenfrage würde ich Ihnen nicht Frauenbeauftragten und keine Gesetze, die Frauen- auf die Redezeit anrechnen. Die Redezeit ist ohnehin beauftragte ohne Kompetenzen vorsehen. Wir werden abgelaufen. uns dafür einsetzen, und ich würde mich über Unter- stützung freuen. Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU) : Gut, dann bin ich einverstanden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Renate Rennebach (SPD): Frau Dr. Böhmer, inwie- weit haben sich die Frauen in der CDU durchgesetzt, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun er- was frauenfeindliche Bestrebungen und auch Gesetze teile ich der Abgeordneten Frau Dr. Sonntag-Wolgast angeht, die heißen: Job-sharing, befristete Arbeits- das Wort. verträge. Solche Gesetze haben in erster Linie die Frauen getroffen, und sie haben den Frauen gescha- det. Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Frau Böhmer, Wenn Sie bei uns Kleinholz gemacht haben: Inwie- ich schlage vor, daß Sie das, was Sie soeben so schön weit haben Sie und die anderen CDU-Frauen sich angekündigt haben, in Rheinland-Pfalz noch bis zum durchgesetzt, damit es solche Gesetze nicht mehr Sonntag — so lange werden Sie nämlich noch Zeit gibt? - haben — in die Tat umsetzen. (Zuruf von der FDP: Job-sharing ist eine (Beifall bei der SPD) feine Sache!) Herr Präsident! Meine Kollegen und Kolleginnen! Die beiden dickleibigen Vorlagen der Bundesregie- (CDU/CSU): Bei Job-sharing, so Dr. Maria Böhmer rung über die Richtlinie zur Frauenförderung und muß ich Ihnen sagen, gehen die Meinungen wohl aus- über die Gleichstellungsstellen lassen beim flüchtigen einander. Wenn Sie das alte amerikanische Modell Hinschauen erst einmal jedes frauenpolitisch enga- betrachten: Das würde mit uns nicht gemacht werden. gierte Herz höher schlagen. Denn wie ist das alles so Aber dort, wo zwei Beschäftigte aufeinander zugehen, schön aufgelistet, was gibt es da nicht alles an Arbeits- die sich einen Arbeitsplatz teilen wollen, sehe ich kei- stäben, Referaten und anders titulierten Abteilungen! nen Grund, das abzulehnen. Also offenbar ein stattliches Netz. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nach anderthalb Jahrzehnten des Kampfes um Gleichstellungsstellen und Frauenförderpläne ist Renate Rennebach (SPD): Was ist mit den befriste- ten Arbeitsverträgen? diese Einrichtung offenbar salonfähig geworden. Aber, liebe Kollegen und Kolleginnen, es geht nicht um Salons, es geht nicht um Plaudereien auf Plüsch- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie langsam zum Ende kä- sofas, sondern es geht um harte Politik, um Anspruch, men. Recht und Macht für die Frauen. Deshalb verlangen wir endlich das Ende der Bescheidenheit im öffentli- Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Als kurze Anmer- chen Dienst. kung gebe ich Ihnen gerne den jüngsten Beschluß der (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ CDU, so daß Sie sich informieren können, was wir GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ auch in dem Bereich getan haben. Linke Liste) (Zuruf von der SPD: Aber was unter dem Im übrigen fällt mir schon auf, daß die Bundesregie- Strich Sache ist, ist wichtig!) rung die Widerstände gegen Gleichstellungsstellen Zum Abschluß noch drei Punkte, auf die es mir für die und Frauenförderpläne so vor 10 Jahren zwar wort- Zukunft wesentlich ankommt, denn hier haben wir reich beschreibt, dabei aber ausschließlich die Kritik noch deutlichen Handlungsbedarf. aus der autonomen Frauenbewegung erwähnt. Daß Wir müssen den geltenden Qualifikationsbegriff damals auch aus konservativen Kreisen, vornehmlich überprüfen, so daß die Leistungen und Kompetenz der CDU, eine geradezu hämische Abwehr kam, von Frauen — da darf ich mich auf Frau Falk stüt- bleibt vornehm verschwiegen. Deshalb rufe ich noch zen — entsprechend Eingang finden. Wir haben heute einmal ins Gedächtnis, daß seinerzeit, Frau Böhmer, mehr zu bieten, als das, was traditionellerweise in den von unnötiger Bürokratie und auch vom amtlich be- Leistungsbegriffen, die männlich geprägt sind, vor- glaubigtem Emanzentum die Rede war. handen ist. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das war Der nächste Punkt ist, daß wir Frauenbeauftragte bestimmt von Herrn Farthmann! — Weitere brauchen, und das bitte nicht nur in den obersten Bun Zurufe von der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1345

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Das alles sind Sprüche von damals. Auch wenn Sie die auf weitere Fortschritte abzielen, sind wir wahr- sich jetzt angesichts des bevorstehenden Wahlkamp- scheinlich zur Diskussion bereit. fes bemühen, schnell noch anders zu reden: So war (Beifall bei der SPD) das einmal. Da es eben nicht nur Vorschriften geben darf, son- (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: War das dern auch leibhaftige Garantinnen für die Umsetzung Herr Farthmann?) derselben geben muß, brauchen wir eben noch mehr Heute reden wir alle in schönster Einmütigkeit da- Gleichstellungsstellen — Gleichstellung deshalb, von, daß der öffentliche Dienst modellhaft vorange- weil Gleichstellung keine Einbahnstraße ist —, brau- hen soll — zum Wohle der Gesellschaft. Aber der chen wir Gleichstellungsstellen mit mehr Kompeten- Unterschied liegt immer noch da rin, daß die Kollegen zen und besserer Ausstattung. Denn fast überall muß- und die Kolleginnen aus CDU/CSU und FDP ihre For- ten sich ja die Frauen in diesen Stellen ihre Aufgaben derungen weiterhin auf ein Polster der Unverbindlich- und Rechte erstreiten. Je unbequemer sie waren und keit betten. sind, desto eher lernt der Verwaltungsapparat von ihnen. Je deutlicher sie sich als Frühwarnsystem betä- Wir dagegen sagen seit Jahren: Absichtserklärun- tigen, um so eher ist die Verwaltung bereit, beim gen, Schmalspurlösungen und Appelle an die Freiwil- nächsten Mal besser aufzupassen, sich in der Sprache ligkeit fruchten nicht. Und wir brauchen auch nicht umzusehen, familiengerechte Stadtplanung zu betrei- länger Modellprogramme oder Forschungsprojekte, ben und auch darauf zu achten, daß genügend Kin- die zeigen, ob , wie und warum Frauen der Zugang zu dergarteneinrichtungen eingeplant werden. den hohen Positionen im öffentlichen Dienst geöffnet werden müßte. Diese bare Selbstverständlichkeit Bei uns im Norden fiel kürzlich ein Landrat mit der brauchen wir nicht mehr empirisch zu belegen. Wir Anmerkung auf, die Arbeit einer Gleichstellungsbe- wollen auch nicht wissen, ob Gleichstellung möglich auftragten bedeute ja wohl nicht nur, nachzufragen, oder erwünscht ist. Wir wollen sie endlich als Reali- ob z. B. bei einer Dorferneuerungsmaßnahme die tät! Rückkehr zum alten Kopfsteinpflaster, an sich eine schöne Sache, das Schieben eines Kinderwagens er- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ schwert. Es gab einen Disput. Aber ich finde, immer- GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ hin hat der Mann begriffen, worum es geht. Und wenn Linke Liste) er und mit ihm viele Verwaltungshierarchen jetzt Wenn der Weg nicht freiwillig zu ebnen ist, dann noch begreifen, daß Gleichstellungsarbeit nicht als schreiben wir ihn eben vor. Deshalb stehen wir nach Nebenjob zu leisten ist, sondern die ganze Frau, und wie vor zur Quote. zwar hauptamtlich, verlangt, sind wir schon wieder einen Schritt weiter. Die beiden Berichte der Bundesregierung zeigen freilich auch beklagenswert wenig von dem Drang (Beifall bei der SPD) nach vorn. Es sind, finde ich, langatmige und leiden- Ich hege noch eine Hoffnung: Es sollte uns gelin- schaftslose Pflichtübungen. gen, auch in den Anstalten des öffentlichen Rechts, Ich will ein Beispiel dafür nennen: Wir erfahren da, besonders den Rundfunkanstalten, über den Weg von daß der Anteil weiblicher Beamter und Angestellter in Frauenförderplänen endlich traditionelle Männerba- Leitungsfunktionen der obersten Bundesbehörden stionen in den Spitzen zu schleifen; zum Stichtag 30. Juni 1988 — so lange ist das schon (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der her — zwischen 4,6 % und 0,9 % lag. Und dann folgt FDP) die Erklärung — ich zitiere einmal — : denn so sorgfältig die Parteien immer um Rechts- Die geringe Repräsentanz von Frauen in leiten- Links-Proporz in diesen Stellen — Chefredaktion, den Funktionen ist nach einhelliger Auffassung Programmdirektion, Intendanz — bemüht werden, so der Ressorts in erster Linie darauf zurückzufüh- geringe Aufmerksamkeit haben sie der Balance zwi- ren, daß der Anteil der im höheren Dienst be- schen Männern und Frauen oben in den Chefetagen schäftigten Frauen vor einigen Jahren noch sehr gewidmet. Hier, finde ich, haben die neuen Bundes- gering war. länder, die ja neue öffentlich-rechtliche Anstalten Soll also heißen: Die Frauen wachsen erst in die gründen, eine Chance, die alten Fehler des Westens Dienstjahre hinein, die einen Aufstieg ermöglichen. gleich zu vermeiden. Das mag auch stimmen. Nur, diese coole Anmerkung (Beifall bei der SPD) sagt nichts, aber auch nichts über die tieferen Ursa- chen mangelnder Aufstiegschancen für Frauen, und Noch eine Schlußanmerkung: Wir hatten bei einem sie drängt eben auch nicht auf rasche Abhilfe. Hearing der SPD-Fraktion vor einigen Monaten unter anderem die Leiterin eines Frauenbüros aus dem Für mich ist diese unengagierte Auflistung von Pro- Ruhrgebiet zu Gast, und die sagte, sie höre häufig von blemen der allerbeste Beweis dafür, daß unser Gleich- Kollegen aus der Verwaltung das folgende Argument: stellungsgesetz aus der vergangenen Legislaturpe- Eine Frauenbeauftragte brauche eigentlich keine be- riode so notwendig ist wie eh und je. Denn in ihm sondere Fachkompetenz; denn eigentlich seien doch machen wir Sozialdemokraten und Sozialdemokratin- alle im Bilde. Schließlich habe ja jeder Mitarbeiter in nen Nägel mit Köpfen. Und, Frau Funke-Schmitt- der Verwaltung eine Mutter, eine Ehefrau, eine Rink, wenn Sie etwas tun wollen: Sie brauchen nicht Freundin oder Schwester. viel neu zu erarbeiten, folgen Sie unserem Gesetz! Und wenn Sie dann noch einige Anträge einbringen, (Heiterkeit bei der SPD und der FDP) 1346 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast — Liebe Kollegen und Kolleginnen, wir lachen hier. Bevorzugung bei gleichwertiger Qualifikation z. B., es Aber solange solche Aussprüche noch an der Tages- sollte Frauenförderpläne festschreiben, und es sollte ordnung sind, braucht der öffentliche Dienst den Frauenbeauftragte festschreiben, und zwar mit Kom- selbstverordneten Nachhilfeunterricht in Sachen petenzen. Gleichstellung, und zwar nicht als Kür, sondern als (Dr. Marliese Dobberthien [SPD]: Haben wir Pflicht. alles in Hamburg verabschiedet!) (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Ist in Hamburg die Frauenbeauftragte mit festge- sowie bei Abgeordneten der FDP) legten Kompetenzen verabschiedet, Frau Dobber- thien? Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Und nun Wir sind uns immer darüber einig gewesen, daß all erteile ich das Wort der Abgeordneten Frau Rahardt- diese Regelungen Schall und Rauch sind und nichts Vahldieck. bewirken, wenn wir keine Frauenbeauftragten ha- ben, die dies überprüfen, die dies anstoßen, die dies kontrollieren können und die bei der Personalauswahl Susanne Rahardt-Vahldieck (CDU/CSU): Herr Prä- tatsächlich beteiligt werden. Hierüber waren wir uns sident! Meine Damen und Herren! Es ist vorhin von immer einig. der Kollegin Dobberthien, glaube ich, angesprochen worden: Frauenpolitik ist Politik für Frauen und muß Das Hamburger Gesetz, das Sie jetzt so hoch heben, aus dem Frauenghetto heraus. Sie sollte vor allen Din- enthält genau dies alles nicht, und unser Gesetzent- gen auch Männersache sein. Das sehe ich ganz ge- wurf wird es enthalten. nauso. (Dr. Marliese Dobberthien [SPD]: Warum ist Ich muß allerdings zu meinem großen Bedauern er noch nicht da?) feststellen, daß die männliche Präsenz gerade in Ihrer Also plustern Sie sich nicht so auf! So toll ist die Frau- Fraktion, Frau Dobberthien, äußerst zu wünschen üb- enpolitik der SPD nicht. rig läßt, und meine daher, daß Sie die Vorschläge zunächst einmal bei sich umsetzen sollten. Man muß wirklich dazu sagen: Das Hamburger Ge- setz läuft so ein bißchen nach dem Motto der SPD- - (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Marliese Frauenpolitik: Mehr scheinen als sein. Das habe ich in Dobberthien [SPD]: Bei Ihnen sind es auch Hamburg häufiger festgestellt. Ich glaube es auch in nicht mehr! — Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie ha- Bonn feststellen zu können. ben ja nur Männer! — Weitere Zurufe von der SPD) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Reden Sie jetzt über Hamburg oder Bonn?) — Bei uns ist mehr. Ich habe darauf geachtet, Frau Kollegin. —Ich rede über Frauenpolitik, die in Hamburg und in Bonn stattfindet. Ich sage, daß die Fehler, die die SPD (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Statt- in Hamburg gemacht hat, in Bonn von uns nicht ge- dessen ist der Abgeordnete Kansy in vorbild- macht werden. licher Weise anwesend! — Dr. Uwe Küster [SPD]: Bei Ihrem geringen Frauenanteil!) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Hört! Hört! Da wer Als nächster Punkt: Sie haben Berichtskritik geübt, den wir aufpassen!) Frau Dobberthien. Ich muß zugestehen, daß der Be- Ich habe den Eindruck gewonnen, daß bei der SPD richt die Kritik, die er formuliert, äußerst behutsam Frauenpolitik so ein bißchen — das war jedenfalls in formuliert. Aber es wird Kritik deutlich. Ich verweise Hamburg eindeutig so — Wahlkampfsache ist. Ich darauf, daß die Berichte, die Sie über die Frauenför- fühle mich durch das bestätigt, was sich jetzt im Saar- derung in Hamburg dem entsprechenden Parlament land ereignet hat. Kaum ist der Ministerpräsident des zugeleitet haben, nie auch nur die behutsamste Kritik Saarlandes als Bundeskanzlerkandidat aus dem Ge- erkennen ließen, sondern da war alles glorios und fort- schäft, findet Frauenpolitik nicht mehr statt; jedenfalls geschritten. Sogar wenn der Anteil der Beamtinnen wird das entsprechende Ministerium aufgelöst; man gesunken war, wurde dies als Erfolg der Senatsfrau- braucht es ja nicht mehr; enförderung verkauft. Ich meine, gegen die Hambur- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ger Berichte ist dieser Bericht ein Gipfel an Ehrlich- keit. Es wird aus diesem Bericht nämlich deutlich, daß man will ja nicht mehr auf bundesdeutscher Ebene als wir noch etwas tun müssen, daß wir in die richtige Frauenfreund reüssieren. Richtung gekommen sind, aber noch nicht weit ge- Ich meine, eine Frauenpolitik, die so arbeitet, ist nug. keine Frauenpolitik, wie wir sie wollen. Wir wollen Die Frau Ministerin hat ja auch außerordentlich eine Frauenpolitik, die die Interessen aller Frauen klargemacht — wir haben dazu alle Stellung genom- berücksichtigt und damit auch die Interessen der Müt- men und, glaube ich, Einigkeit erzielt — : Wir brau- ter. Kinderbetreuungseinrichtungen sind schon ange- chen für die Frauenförderung ein Gesetz, und zwar sprochen worden. Es wird einen Rechtsanspruch auf ein konkretes und umsetzbares Gesetz. Dieses Gesetz einen Kindergartenplatz geben. Wir sind uns auch sollte durchaus Zielvorgaben enthalten — das Wort darüber einig, daß das von außerordentlicher Wichtig- Quoten gefällt mir nicht so, weil das immer starre keit ist. Denn man kann Frauen, die nicht im Beruf Quoten sind und es irgendwie den Blick verstellt —, arbeiten können, weil sie nicht in der Lage sind, ihre Kinder betreuen zu lassen, nicht im Beruf fördern. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Wir haben doch gar nicht starre Quoten gefordert!) (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1347

Susanne Rahardt-Vahldieck Dieser Rechtsanspruch wird von uns verankert wer- Elke Ferner (SPD): Frau Kollegin, ich wollte Sie den. nicht in Ihrer ersten Rede durch meine Zwischenfrage unterbrechen. Ich wußte nicht, daß es Ihre erste Rede Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Ab- ist. geordnete, entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbre- Ist Ihnen bekannt, daß, nachdem im Saarland nach che. Aber es gibt die Bitte der Abgeordneten Elke der Landtagswahl 1990 das Ministerium für Frauen Ferner um eine Zwischenfrage. Sind Sie bereit, eine und Arbeit gebildet worden war, sowohl die CDU- solche zuzulassen? Fraktion als auch die FDP-Fraktion des Landtages des Saarlandes immer wieder gefordert haben, dieses Mi- Susanne Rahardt-Vahldieck (CDU/CSU): Nicht bei nisterium aufzulösen? Ist Ihnen weiterhin bekannt, meiner ersten Rede, das nächste Mal, Herr Präsident. daß das Ministerium nicht ersatzlos aufgelöst worden Entschuldigen Sie, Frau Kollegin. ist, sondern aus den Haushaltsgründen, die offen- sichtlich sind, mit einem anderen Ministerium zusam- mengelegt worden ist? Jetzt heißt es Ministerium für Dafür ha- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frauen, Arbeit, Gesundheit und Soziales. Dies hat mir ben wir selbstverständlich Verständnis. nicht gefallen; das gebe ich hier gerne zu. Wir haben dies auch sehr kritisiert. Aber Sie sollten dann den Susanne Rahardt-Vahldieck (CDU/CSU): Flexible Sachverhalt auch richtig darstellen. Arbeitszeiten werden gefördert, und die in der Fami- lienarbeit erworbenen Fähigkeiten werden berück- (Beifall bei der SPD) sichtigt. Das ist mehrfach angesprochen worden; es ist ein außerordentlich wesentlicher Punkt. Eine Haus- frau und Mutter, die über Jahre eine Familie, mögli- Susanne Rahardt-Vahldieck (CDU/CSU): Frau Kol- cherweise mit einem kleinen Budget, versorgt, Kinder legin, das ist eine Frage der Prioritäten. Ich sehe mich großzieht, einen Haushalt organisiert und Angehörige völlig außerstande nachzuvollziehen, daß Frauenan- pflegt, erwirbt Kompetenzen, die ein Mann, der im- gelegenheiten in diesem Riesenministerium, das Sie mer am selben Schreibtischsessel klebt, in derselben eben angesprochen haben, auch nur ansatzweise ver- Zeit nicht erwerben kann. Diese Kompetenzen müs- nünftig behandelt werden können. Das ist in diesem sen dann auch anerkannt werden, wenn die Frau in Fall doch nur ein Name. den Beruf zurückkehrt und wenn sie befördert werden Sie haben allerdings recht: Vermutlich war es vor- will und soll. her auch nur ein Name; denn ein Ministerium, das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) man ohne jedes Problem auflösen und angliedern kann, ohne daß sich anscheinend etwas in der Arbeit Diese Kriterien müssen in den Köpfen der Personal- ändert, wird auch schon vorher ein Feigenblatt gewe- entscheider verankert werden. Da die Personalent- sen sein. scheider heute in allererster Linie noch Männer sind, ist es sehr wichtig, daß ihnen Frauenbeauftragte, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) in Personalsachen Mitentscheidungsbefugnisse ha- Ich unterstelle einfach einmal, daß die CDU- und ben, beigegeben werden und daß diese Akteneinsicht die FDP-Fraktion des Landtags genau das kritisiert haben. Das scheint mir das Wesentliche zu sein. und deswegen dieses Feigenblatt abgelehnt haben. (Dr. Marliese Dobberthien [SPD]: Das steht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) alles schon in unserem Gesetzentwurf!) Ein ganz besonders wichtiger Punkt — ich will ihn nur ganz kurz ansprechen — sind die neuen Länder, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Sie haben wo sich die Problematik ja etwas anders darstellt. Hier sich freundlicherweise das Wort genommen. Norma- muß das Gleichstellungsgesetz — ich bin sicher, die lerweise erteilt der Präsident das Wort. Aber es war Frau Ministerin wird sehr darauf achten — vor allen recht ordentlich und vernünftig. Dingen auch sicherstellen, daß die Führungspositio- (Susanne Rahardt-Vahldieck [CDU/CSU]: nen, die Frauen in der ehemaligen DDR bereits errun- Ich bin neu! Das nächstemal passiert mir das gen hatten, nicht jetzt durch die Umstrukturierung nicht mehr!) alle verlorengehen und daß die Frauen in Führungs- positionen, die diese dort in bestimmten Branchen Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, die errungen hatten, nicht auf einmal durch Männer er- Aussprache kann geschlossen werden. Wir kommen setzt werden, so daß dort Rückschritte zu verzeichnen zur Abstimmung. Interfraktionell — ich betone: inter- sind. fraktionell — wird in Abweichung von dem Vorschlag in der Tagesordnung empfohlen, die Vorlage auf (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem Drucksache 11/4893 zur federführenden Beratung an Bündnis 90/GRÜNE) den Ausschuß für Frauen und Jugend sowie zur Mit- Das muß in jedem Fall verhindert werden. beratung an den Innenausschuß und an den Ausschuß Ich hoffe, daß das Gesetz, auf das wir alle warten, für Arbeit und Sozialordnung zu überweisen. dies auch erreichen wird, und danke Ihnen. Die Vorlage auf Drucksache 11/8129 soll, wie in der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Tagesordnung aufgeführt, überwiesen werden. Erhebt sich gegen diese Überweisungsvorschläge Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zu einer Widerspruch? Werden zusätzliche Vorschläge ge- Kurzintervention erteile ich der Abgeordneten Frau macht? — Beides ist nicht der Fall. Dann darf ich das Ferner das Wort. als beschlossen feststellen. 1348 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Bevor ich Sie in die Mittagspause entlasse, müssen Damit treten wir in die Mittagspause ein. Ich wün- noch einige Abstimmungen durchgeführt werden. sche Ihnen guten Appetit. (Unterbrechung von 12.58 Uhr bis 14.00 Uhr) Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung sowie die Zu- satzpunkte 3 und 4 auf: Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, wir setzen die unterbrochene Sitzung fort. 7. Beratung ohne Aussprache Beratung der Beschlußempfehlung und des Be Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf: richts des Finanzausschusses (7. Ausschuß) zu Fragestunde der Unterrichtung durch die Bundesregierung — Drucksache 12/351 — Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Zu Beginn mache ich darauf aufmerksam, daß nur die Einrichtung eines Versicherungsausschus- noch wenige Fragen vorliegen und daß im Anschluß ses an die Beantwortung nach einer interfraktionellen — Drucksachen 12/152 Nr. 1, 12/270 — Vereinbarung der Zusatzpunkt 2, die Aktuelle Stunde, aufgerufen wird. Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Kurt Faltlhauser Ich rufe den Geschäftsbereich des Ministe riums für Familie und Senioren auf. Zur Beantwortung steht ZP3 Beratung der Beschlußempfehlung und des Be- Frau Parlamentarische Staatssekretärin Roswitha richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuß) Verhülsdonk zur Verfügung. zu der dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Hierzu liegen zwei Fragen des Kollegen Claus Jä- Streitsache vor dem Bundesverfassungsge- ger vor. richt 2 BvE 3/91 Ich rufe die Frage 7 des Abgeordneten Claus Jäger — Drucksache 12/378 — auf: Welche PR-Maßnahmen zur Information der Bevölkerung Berichterstatter: über Menschenwürde und Lebensrecht der ungeborenen Kin- Abgeordneter Herbert Helmrich - der und über die Gesundheitsgefahren einer Abtreibung für Frauen hat die Bundesregierung im Jahre 1990 im einzelnen ZP4 Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- getroffen, und wie hoch war der finanzielle Aufwand für diese tionsausschusses (2. Ausschuß) Maßnahmen? Sammelübersicht 7 zu Petitionen Bitte sehr, Sie haben das Wort. — Drucksache 12/173 — Roswitha Verhülsdonk, Parl. Staatssekretärin bei Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. der Bundesministerin für Familie und Senioren: Herr Wir stimmen zunächst ab über die Beschlußempfeh- Kollege Jäger, Ihre Fragen 7 und 8 stehen in einem lung des Finanzausschusses zu dem Vorschlag für inhaltlichen Zusammenhang. Wenn es Ihnen recht ist, eine Richtlinie des Rates über die Einrichtung eines beantworte ich sie im Zusammenhang. Versicherungsausschusses auf Drucksache 12/270. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer Vizepräsident Helmuth Becker: Der Kollege Jäger stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese ist einverstanden. Dann rufe ich auch die Frage 8 des Beschlußempfehlung bei Enthaltung der Gruppen Abgeordneten Jäger auf: PDS/Linke Liste und Bündnis 90/GRÜNE angenom- Welche wieviel kostenden Maßnahmen der genannten Art men. sind für das Jahr 1991 geplant, und welche davon sind bereits durchgeführt worden? Wir stimmen nun ab über die Beschlußempfehlung Bitte sehr. des Rechtsausschusses zu einer Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht auf Drucksache 12/378. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer Roswitha Verhülsdonk, Parl. Staatssekretärin: Die stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese wichtigste PR-Maßnahme, die das Ministerium veran- Beschlußempfehlung angenommen mit den Stimmen laßt hat, ist der Druck der Broschüre „Das Leben vor der Koalitionsfraktionen bei Nichtbeteiligung der der Geburt". Sie ist mittlerweile in einer Auflage von SPD-Fraktion und Enthaltung der Gruppen PDS/ 1,3 Millionen Exemplaren verteilt worden, und zwar Linke Liste und Bündnis 90/GRÜNE. ausschließlich auf Anforderung. Der letzte Nachdruck erfolgte im Oktober 1989 mit 150 000 Exemplaren. Sie Wir kommen jetzt zur Beschlußempfehlung des Pe- wollten auch die Kosten wissen: Sie betragen titionsausschusses auf Drucksache 12/173. Das ist die 56 250 DM. Sammelübersicht 7 zu Petitionen. Auf der Grundlage dieser Broschüre wurde auch Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der eine Videokassette mit demselben Titel erstellt, und SPD auf Drucksache 385 vor. Wer stimmt für diesen zwar für die Jugend- und Erwachsenenbildungsar- Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Enthal- beit; zunächst mit einer Auflage von 3 200 Exempla- tungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt. ren. Die Kosten dafür belaufen sich auf 50 990 DM. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? — Wer Diese Kassette wird weiter verbreitet. Sie ist inzwi- stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese schen auch aktualisiert und verbessert worden. Beschlußempfehlung bei einer Enthaltung aus der Im Januar 1991 wurde die von mir genannte Video- Gruppe Bündnis 90/GRÜNE angenommen. kassette, wie ich schon sagte, neu aufgelegt, und zwar Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1349

Parl. Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonk mit 2 000 Exemplaren. An erneuten Kosten fielen Claus Jäger (CDU/CSU): Frau Staatssekretärin, er- 29 260 DM an. wägt die Bundesregierung auch — in ähnlicher Im Mai 1991 wird die Broschüre von Katharina Zim- Weise, wie das zur Bekämpfung von Aids geschehen mer „Das Leben vor der Geburt" mit 300 000 Exem- ist — , Anzeigenserien in der Tages- und Wochen- plaren noch einmal nachgedruckt werden. Als Kosten presse zu schalten, um zu informieren? dafür haben wir 120 000 DM veranschlagt. Wir kön- Parl. Staatssekretärin: Wir nen die genauen Kosten noch nicht nennen, weil ge- Roswitha Verhülsdonk, werden auf diesem Gebiet sicherlich noch eine ringfügige Aktualisierungen und Änderungen der Menge an Dingen veranlassen. Wir haben aber auch Broschüre vorgenommen werden sollen. schon eine ganze Reihe von weiteren Maßnahmen im Zusatzfrage, Herr Hinblick auf Verhinderung von ungewollten Schwan- Vizepräsident Helmuth Becker: gerschaften in der Planung. Hierzu hat es ja bisher die Kollege Jäger. Broschüre „Mußehen muß es nicht geben" gegeben. Diese wird nun z. B. durch eine Broschüre ersetzt, die Claus Jäger (CDU/CSU): Frau Staatssekretärin, mit Hinweis darauf, daß ich das Vertreiben dieser Bro- im Laufe des Sommers herauskommen soll und die auch mit allen wichtigen gesellschaftlichen Gruppen schüre für etwas sehr Wichtiges und Nützliches halte, das auch der Bewußtseinsbildung dient, frage ich: vorbesprochen worden ist. Sie trägt den Titel „Liebe Gibt es auch auf dem Gebiet der elektronischen Me- — über den Umgang mit Liebe, Sexualität, Verhütung dien Maßnahmen, die die Bundesregierung getroffen und Schwangerschaft" . Zu diesem Thema können wir weiter Ausstellungen anbieten, insbesondere die Aus- hat, insbesondere im Bereich des Fernsehens und des stellung der Bundeszentrale für gesundheitliche Auf- Hörfunks? klärung „Leben mit Kindern" , die unentgeltlich zur Verfügung gestellt wird. Roswitha Verhülsdonk, Parl. Staatssekretärin: Zu Ihrer Frage muß man vor allem darauf hinweisen, daß An Multiplikatoren hat das frühere Ministe rium für eine Filmreihe mit dem Titel „Der Liebe auf der Spur" Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit das Buch produziert worden ist. Sie möchten ja mit Ihrer Frage „Chancen für das ungeborene Leben" auf Anfrage auch Auskunft darüber haben, was die Bundesregie- weitergegeben. rung unternommen hat, um ungewollte Schwanger- Wir werden sicherlich auch noch in die Medien ge- schaften und Abtreibungen zu verhindern. Es handelt hen, um die Diskussion über die Frage des Schutzes sich um acht Filme à 30 Minuten. Diese Reihe ist völlig des ungeborenen Lebens im Sinne unseres Grundge- neu entwickelt worden. Sie wurde in den Dritten Pro- setzes zu begleiten. grammen des Westdeutschen Rundfunks, Bayerns, Hessens und des Südwestfunks ausgestrahlt. Vizepräsident Helmuth Becker: Eine letzte Zusatz- Ein Begleitbuch zu dieser Filmreihe ist ebenfalls frage, Herr Abgeordneter Jäger. erstellt und an die Buchhandlungen zum Verkauf aus- Claus Jäger (CDU/CSU): Frau Staatssekretärin, geliefert worden. Es ist für Jugendliche und ihre El- denkt die Bundesregierung auch daran — in ähnlicher tern gedacht, und zwar für die außerschulische Ju- Weise, wie das andere Häuser in wichtigen Fragen gendarbeit, aber auch für Lehrer. Die Erstauflage die- tun —, Informationsstände auf großen Messen oder ses Buchs betrug 100 000 Exemplare. bei Ausstellungen aufzubauen, um so auch dort — da- bei steht dann gleichzeitig beratendes Personal zur Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Zu- Verfügung — eine intensive Information zu betrei- satzfrage, Herr Kollege Jäger. ben?

Claus Jäger (CDU/CSU): Frau Staatssekretärin, ich Roswitha Verhülsdonk, Parl. Staatssekretär: Wir hätte gerne noch gewußt, ob die Broschüren und Kas- hoffen, daß wir im Rahmen des Bundeshaushalts die setten, die Sie vorhin genannt haben, insbesondere Mittel genehmigt bekommen werden, die wir unter den Gruppierungen zur Verfügung gestellt werden dem Titel „Zukunft der Familie " beantragt haben. Mit — ich denke vor allem an die sogenannten Helfer- diesen Mitteln wollen wir eine Fülle von Maßnahmen kreise — , die sich speziell um die Belange von Müt- ergreifen. Vor allen Dingen wollen wir aber im Vor- tern und Frauen in Not vor Ort kümmern, so daß diese feld solcher Ausstellungen mit diesen Mitteln entspre- damit ganz gezielt Informationsarbeit betreiben kön- chende wissenschaftliche Untersuchungen und For- nen. schungsprojekte zum Abschluß bringen, die wir in der letzten Legislaturpe riode begonnen haben. Dies ist Roswitha Verhülsdonk, Parl. Staatssekretärin: In nötig, damit wir im Rahmen dieser Ausstellungen meiner Antwort habe ich eben schon darauf hinge- dann auch ganz gezielt informieren können. wiesen, daß alle diese Broschüren, Filme, Videokas- setten auf Anfrage jedermann zur Verfügung gestellt Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Zu- werden. Ich kann Ihnen berichten, daß unser Haus satzfrage, Herr Kollege Hüppe. täglich Anfragen erhält, insbesondere von engagier- ten und interessierten Gruppen, und daß wir in der Hubert Wilhelm Hüppe (CDU/CSU): Frau Staatsse- Lage sind, kontinuierlich zu liefern. Damit dies auch kretärin, Ihren Ausführungen konnte ich entnehmen, weiter der Fall ist, haben wir die Nachdrucke veran- daß fast alle Materialien nur abgefordert werden kön- laßt. nen. Plant Ihr Ministerium auch Postwurfsendungen oder Fernsehspots — ähnlich wie zum Thema Aids —, Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Zu- um gerade den Problemgruppen oder den Gruppen, satzfrage, Herr Kollege Jäger. die sich nicht so mit dem Schutz der ungeborenen 1350 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ril 1991

Hubert Wilhelm Hüppe Kinder befassen, diese Informationen zugänglich zu ausgegeben werden soll und in der es wohl auch um machen? die Darstellung der technischen Verhütungsarten geht? Denn es hat sich herausgestellt, daß es in unse- Roswitha Verhülsdonk, Parl. Staatssekretärin: Herr rer Bevölkerung noch einen hohen Grad an Unwis- Kollege, ich fürchte, daß mit den Mitteln, die uns im senheit über die technische Art der Verhütung gibt. Bundeshaushalt voraussichtlich zur Verfügung ge- stellt werden — wenn er so beschlossen wird, wie er Roswitha Verhülsdonk, Parl. Staatssekretärin: Die gestern im Fachausschuß beraten worden ist —, eine Vorarbeit für diese Broschüre „Liebe — Über den große Aktion mit Postwurfsendungen nicht möglich Umgang mit Liebe, Sexualität, Verhütung und sein dürfte. Ich bin mir aber auch nicht sicher, ob Schwangerschaft" — das ist der Titel — ist bereits in gezielte Informationen hier nicht sinnvoller sind und der letzten Legislaturperiode durch das Ministerium das Geld so besser eingesetzt werden kann. An der für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit erfolgt. Diskussion um die Frage Kinder haben, Entscheidung Erstellt worden ist die Broschüre durch die Bundes- zum Kind, Lebensschutz, ungewollte Schwanger- zentrale für gesundheitliche Aufklärung. Sie ist dann schaft beteiligen sich ja sehr viele Bundesbürger und aber mit gesellschaftlich relevanten Gruppen, die an Gruppen. Es wird sicherlich nicht an Nachfrage feh- dieser Frage interessiert sind, besprochen worden. len, und ich denke, die Interessierten können wir Es gab eine kleine Testauflage von 10 000, die an schon mit Informationen beliefern. Jugendverbände, Jugendhäuser, an Jugendpädago- gen, an Elterngruppen, also an sachverständige Per- Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Zu- satzfrage des Herrn Kollegen Hüppe. sönlichkeiten verschickt worden ist, die sich dazu äu ßern konnten. Sie ist dann überarbeitet worden und ist Hubert Wilhelm Hüppe (CDU/CSU): Sind Sie tat- jetzt in bezug auf das Bild- und inhaltliche Material sächlich der Meinung, daß nur Interessierte diese In- zusammengestellt. Es hat noch ein paar kleine Ände- formationen bekommen sollen, oder glauben Sie nicht rungen im Hinblick auf die Form der Darbietung ge- auch, daß gerade eine Gruppe wie die der jungen geben, aber eigentlich nicht mehr in bezug auf die Männer dieses Mate rial bekommen sollte? Inhalte. Es werden darin natürlich auch technische Kenntnisse vermittelt. Roswitha Verhülsdonk, Parl. Staatssekretärin: Was- Ich denke, die Broschüre wird besonders auszeich- wir machen können und machen werden, ist folgen- nen, daß der Grundtenor dieser Information verant- des: Institutionen der außerschulischen Jugendbil- wortlicher Umgang mit der Sexualität auch im Hin- dung, Jugendhäuser, Ärzte, Vorzimmer von Ärzten, blick auf Partnerschaft und Freundschaft ist. Es wird d. h. bestimmte Orte beliefern, an denen sich Men- also nicht nur eine technische Information, sondern schen befinden können, für die diese Information auch eine durchaus wertgebundene Information unter wichtig ist. Wenn wir sie z. B. in einem Wartezimmer, dem Gesichtspunkt der Verantwortlichkeit sein. wo man nach solchen Informationen greift, erreichen, dann haben wir das Geld sicher gut und richtig ein- Vizepräsident Helmuth Becker: Das waren die Fra- gesetzt. gen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Familie und Senioren. Ich bedanke mich bei Ihnen, Vizepräsident Helmuth Becker: Eine Zusatzfrage Frau Parlamentarische Staatssekretärin. der Frau Kollegin Würfel. Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bun- desministers für Gesundheit. Zur Beantwortung der Uta Würfel (FDP) : Frau Staatssekretärin, sind Sie eingereichten Frage steht Frau Parlamentarische nicht mit mir der Meinung, daß die Bundesregierung Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl zur Ver- dann, wenn es darum geht, 200 000 ungewollte fügung. Schwangerschaften allein schon durch Aufklärungs- maßnahmen zu verhindern, mindestens so viele Mil- Ich rufe die Frage 9 der Abgeordneten Ilse Falk lionen für eine bundesweit angelegte Aufklärungs- auf: kampagne zur Verfügung stellen müßte wie z. B. vor Kann die Bundesregierung Auskunft geben, in welchem Aus- zwei Jahren für die bemerkenswerten Plakate „Wir maß es zur Zeit des Golfkrieges Ankündigungen von deutschen Ärzten gegeben hat, amerikanische Soldaten nach einer mögli- lieben Kinder" und ähnliches? chen Verletzung im Golfkrieg nicht medizinisch behandeln zu wollen, und liegen der Bundesregierung Informationen vor, ob Roswitha Verhülsdonk, Parl. Staatssekretärin: Wir es Fälle gibt, in denen die betreffende Standesorganisation eine werden jetzt mehr Mittel zur Verfügung haben, als die solche Ankündigung einer geplanten Behandlungsverweige- rung gerügt oder gar mit Sanktionen wie beispielsweise dem Aktion damals gekostet hat. Wir wollen allerdings Entzug der Approbation geahndet hat? diese Mittel, die in diesem Bundeshaushalt hoffentlich Ich darf Sie bitten, die Frage zu beantworten. aufgestockt werden, ganz besonders und gezielt schwerpunktmäßig in den neuen Bundesländern ein- setzen. Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Gesundheit: Frau Kolle- Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Zu- gin Falk, der Bundesregierung ist nicht bekannt, in satzfrage der Kollegin Würfel. welchem Ausmaß entsprechende Ankündigungen von deutschen Ärzten erfolgt sind. Uta Würfel (FDP): Frau Staatssekretärin, könnten Die Bundesärztekammer bemüht sich seit Bekannt- Sie mir bitte sagen, welches Gremium diese von Ihnen werden der ersten Presseberichte über einschlägige meinen beiden Vorrednern vorhin genannte Bro- Äußerungen, die Ärzte zu ermitteln, von denen derar- schüre erarbeitet, die im Sommer dieses Jahres her tige Ankündigungen stammen. Dies ist ihr bisher Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl nicht gelungen. Unter den gegebenen Umständen be- Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin: Diese wer- steht keine Möglichkeit zur Prüfung berufsrechtlicher den im Rahmen der allgemeinen Abwicklung behan- Sanktionen. delt wie die anderen Angehörigen der Universität Leipzig. Vizepräsident Helmuth Becker: Keine Zusatzfrage. — Ich bedanke mich bei Ihnen, Frau Parlamentarische Vizepräsident Helmuth Becker: Die Fragen 15 und Staatssekretärin. 16 des Abgeordneten Rudolf Bindig sollen auf seinen Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bun- Wunsch schriftlich beantwortet werden. Das gilt auch desministeriums des Auswärtigen. Zur Beantwortung für die Frage 17 des Abgeordneten Albrecht Müller der Fragen steht uns Frau Staatsministerin Ursula Sei- (Pleisweiler). Die Antworten werden als Anlagen ab- ler-Albring zur Verfügung. gedruckt. Die Frage 13 des Kollegen Ortwin Lowack soll auf Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. seinen Wunsch schriftlich beantwortet werden. Die Ich danke Ihnen, Frau Staatsministerin, daß Sie uns Antwort wird als Anlage abgedruckt. zur Verfügung gestanden haben. Wir kommen dann zur Frage 14 des Abgeordneten Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi- Reddemann: nisters für Verkehr. Zur Beantwortung steht uns Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Schulte zur Ver- Was geschah mit den bisherigen Mitarbeitern der Herder Institute der früheren DDR? fügung. Bitte sehr, Frau Staatsministerin. Ich rufe die Frage 40 der Abgeordneten Ul rike Mehl auf: Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin im Auswärti- Trifft es zu, daß der Vorschlag des BUND (Bund für Umwelt gen Amt: Herr Kollege Reddemann, ich beantworte und Naturschutz e. V.) und des VCD (Verkehrsclub Deutsch- land), die Einführung des Halbpreispasses für jedermann bei der Ihre Frage wie folgt: Die DDR unterhielt im Ausland Deutschen Bundesbahn vorzuschlagen, von seiten der Deut- insgesamt zehn Kulturinstitute. Diese sind vom Her- schen Bundesbahn befürwortet wurde, eine Einführung aber der-Institut der Universität Leipzig zu unterscheiden, wegen einer abschlägigen Entscheidung des Bundesministe- das sich vor allem mit der Entwicklung von Unter- riums für Verkehr nicht stattfand? richtsmaterial für Deutsch als Fremdsprache be- Bitte sehr. faßte. - Die Beschäftigungsverhältnisse des Personals der Dr. Dieter Schulte, Parlamentarischer Staatsekretär Kulturzentren sowie des Büros für Kulturzentren des beim Bundesminister für Verkehr: Frau Kollegin, es ehemaligen Ministeriums für Auswärtige Angelegen- gab hierzu Überlegungen, Untersuchungen und Ge- heiten, dem die Auslandskulturzentren unterstanden, spräche. Befürwortet hat die Deutsche Bundesbahn unterliegen den zwischen der Bundesrepublik dies nicht. Deutschland und der DDR im Einigungsvertrag dies- Keine Zusatz- bezüglich getroffenen Regelungen. Danach sind die Vizepräsident Helmuth Becker: frage. Mitarbeiter mit Herstellung der deutschen Einheit in den Wartestand getreten. Dann kommen wir zur Frage 41 der Abgeordneten Lydia Westrich: Vizepräsident Helmuth Becker: Eine Zusatzfrage Welche Vorgaben gedenkt die Bundesregierung der Deut- des Kollegen Reddemann. schen Bundesbahn für deren Tarifgestaltung ab 2. Juni 1991 zu machen, und welche Veränderungen wie z. B. Fahrpreiserhö- hungen, Abschaffung der Bezirksmonatskarten, Wegfall fami- Gerhard Reddemann (CDU/CSU): Frau Staatsmini- lienfreundlicher Angebote sind im einzelnen zu erwarten? sterin, darf ich zusätzlich fragen, was sich am Ende der Bitte sehr. Warteschleife ergeben wird? Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Frau Kolle- Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin: Was die Zu- gin, mit dem Beginn des ICE-Verkehrs am 2. Juni kunftsperspektiven anbelangt, Herr Kollege Redde- 1991 wird die Deutsche Bundesbahn für das bessere mann, kann ich folgendes sagen: Das Büro für Kultur- Angebot mit kürzeren Fahrzeiten und höherem Kom- zentren sowie die Kulturzentren der ehemaligen DDR fort einen Preisaufschlag berechnen. Gleichzeitig im Ausland haben ihre operative Tätigkeit mit Her- wird eine Tarifbereinigung vorgenommen. So werden stellung der deutschen Einheit zum 3. Oktober 1990 wenig genutzte Angebote wie z. B. die Bezirksmo- eingestellt. natskarte ersatzlos gestrichen. Andererseits wird die Ehemalige Mitarbeiter können sich zu den allge- 50%ige Ermäßigung bei Familienpässen auch bei den mein gültigen Konditionen beim Goethe-Institut be- Fahrpreisen für den Intercity-Express gelten. werben. Von dieser Möglichkeit haben mehrere ehe- Die Bundesregierung sieht keine Veranlassung, auf malige Mitarbeiter Gebrauch gemacht. Davon sind diese Tarifgestaltung der Deutschen Bundesbahn ein- fünf für eine Beschäftigung beim Goethe-Institut vor- zuwirken. gesehen bzw. haben diese bereits aufgenommen. Vizepräsident Helmuth Becker: Eine Zusatzfrage Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Zu- der Frau Kollegin Westrich. satzfrage des Kollegen Reddemann. Lydia Westrich (SPD): Ist die Bahn-Tarifpolitik der Gerhard Reddemann (CDU/CSU): Darf ich fragen, Bundesregierung so zu verstehen, daß sie als Bahn- was speziell mit den Mitarbeitern des Herder-Instituts kunden Geschäftsreisende auf langen Strecken be- geschehen ist? vorzugt, während sie durchschnittliche Arbeitnehmer, 1352 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Lydia Westrich darunter auch viele Pendler, lieber von der Bahn fern- Uns ist ein solcher Plan nicht bekannt. Ich glaube auch halten will? nicht, daß dies die Geschäftspolitik der Deutschen Bundesbahn sein wird. Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Frau Kolle- gin, ich glaube, es gibt für diese Annahme von vorn- Vizepräsident Helmut Becker: Ich rufe Frage 43 der herein keinen Grund. Im übrigen muß man aber se- Frau Abgeordneten Elke Ferner auf: hen, daß die Deutsche Bundesbahn die Ta rife selber Wie beurteilt die Bundesregierung die Auffassung, daß Stand- festlegt. Würde die Bundesregierung der Bundesbahn orte wie Saarbrücken-Burbach und Kaiserslautern gegenüber eine Auflage machen, einen bestimmten Preis zu ver- Standorten in Ballungsräumen Vorteile für die Deutsche Bun- desbahn hätten, z. B. Abdeckung des südwest- und süddeut- langen oder nicht zu verlangen, müßte dies abgegol- schen Raumes oder geringere Konkurrenz mit anderen Unter- ten werden. So steht es im Bundesbahngesetz. nehmen im Hinblick auf qualifizierte Fachkräfte, und welche Konsequenzen wird die Bundesregierung daraus ziehen? Vizepräsident Helmuth Becker: Keine weitere Zu- Bitte, Herr Staatssekretär. satzfrage. Dann kommen wir zur Frage 42 der Frau Abgeord- Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Frau Kolle- neten Elke Ferner: gin, die Ausbesserungswerke Saarbrücken-Burbach und stehen derzeit nicht zur Disposi- Treffen Angaben der Gewerkschaft der Eisenbahner Deutsch- Kaiserslautern lands zu, nach denen an das DB-Güterwagenausbesserungs- tion. Diese Antwort schließt sich an das an, was ich werk Burbach und das Ausbesserungswerk Kaiserslautern soeben bereits gesagt habe. Die Aufgabenstellung keine Aufträge mehr vergeben werden und — wie das Beispiel dieser Werke legt die Deutsche Bundesbahn in eige- der schrittweisen Verlagerung von Wagen des Typs FC 090 von ner unternehmerischer Verantwortung fest. Dabei Kaiserslautern nach Zwickau zeigt — Ausbesserungsaufträge von der Deutschen Bundesbahn bereits jetzt an Ausbesserungs- trägt sie arbeitsmarkt- und strukturpolitischen Ge- werke der Deutschen Reichsbahn vergeben werden, und seit sichtspunkten Rechnung. wann wird diese Verlagerung von Aufträgen von der Deutschen Bundesbahn bereits geplant? Vizepräsident Helmut Becker: Eine Zusatzfrage der Bitte, Herr Staatssekretär. Frau Kollegin Ferner.

Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Frau Kolle- Elke Ferner (SPD) : Ist es Ihnen möglich, das Wort gin, das, was Sie gefragt haben, trifft nicht zu. „derzeit" , das im Februar ja auch schon in einer Ant- wort auf eine Frage von mir ähnlichen Inhalts und in Vizepräsident Helmuth Becker: Eine Zusatzfrage einer Antwort auf eine Frage des Kollegen Fischer aus der Frau Kollegin Ferner. Homburg — ebenfalls im Februar — enthalten war, etwas näher daraufhin zu definieren, welche Zeit- Elke Ferner (SPD): Uns ist — ich weiß nicht, ob räume damit umfaßt werden? Ihnen das heute morgen übermittelt worden ist — ein kleiner Fehler passiert. Es sollte nicht heißen „keine Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Frau Kolle- Aufträge mehr vergeben werden" , sondern „weniger gin, mit dem Wort „derzeit" will ich schildern, was wir Aufträge vergeben werden". Trifft das denn zu? wissen, was uns die Deutsche Bundesbahn vorgelegt hat. Sie dürfen bitte nicht den Umkehrschluß ziehen, Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Staatssekre- der lauten könnte, übermorgen sei das alles anders. tär. Wir haben keine anderen Nachrichten; uns sind an- dere Pläne nicht bekannt. Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Es wird ver- sucht, auch Ausbesserungswerke in den neuen Bun- Vizepräsident Helmut Becker: Keine weitere Zu- desländern — sprich: bei der Deutschen Reichs- satzfrage. — bahn — auszulasten. Dies aber bedeutet nicht, daß Dann kommen wir zur Frage 44 des Abgeordneten das Konsequenzen, etwa Schließungen oder ähnli- Dr. Klaus-Dieter Feige: ches, in den alten Ländern hätte. Pläne dazu gibt es Auf was begründet sich die Ansicht der Bundesregierung, daß nicht. der wirtschaftliche Aufschwung in den neuen Ländern nur auf der Grundlage eines schnellen Ausbaus des Straßenverkehrs- Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Zu- netzes erfolgen kann, und inwieweit läßt sich die dadurch zu erwartende Zunahme des PKW- und LKW-Verkehrs mit den satzfrage der Frau Kollegin Ferner. Zielen des Klimaschutzprogramms verbinden, wonach bis zum Jahre 2005, also in 14 Jahren, der CO2-Ausstoß um 25 bis 30% Elke Ferner (SPD): Heißt das auch, das richtig ist, gesenkt werden soll? was in der „Saarbrücker Zeitung" vom 5. April 1991 Bitte sehr, Herr Staatssekretär. steht, in der die GdED mit der Erklärung zitiert wird, daß der Bundesbahnvorstand in ein Modell Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- präferiere, wonach in den alten Bundesländern zum lege, für den wirtschaftlichen Aufschwung in den Schluß noch ein, höchstens zwei Ausbesserungs- neuen Bundesländern ist der Ausbau aller Verkehrs- werke bestehenblieben und daß in drei Monaten ein wege erforderlich, also der Schiene, der Straße, der entsprechendes Konzept vorgelegt werde? Binnenschiffahrt sowie des öffentlichen Personennah- verkehrs. Dabei setzt die Bundesregierung starke Ak- Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Frau Kolle- zente in Richtung Schiene. gin, da scheint die „Saarbrücker Zeitung" mehr zu Die Bundesregierung mißt dem Ziel einer Reduk- wissen als die Bundesregierung. tion des CO2-Ausstoßes große Bedeutung bei. Der (Ernst Schwanhold [SPD]: Das ist häufig Bundesminister für Verkehr setzt auf umweltfreundli- so!) che Technik, auf eine abgasrelevante Umstrukturie- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1353

Parl. Staatssekretär Dr. Dieter Schulte rung der Kraftfahrzeugsteuer, auf den umweltgerech- kenschluß-Programm, als die beiden deutschen Staa- ten Infrastrukturausbau, auf bessere Organisation des ten zum ersten Mal sozusagen zusammenkommen Verkehrs, auf Anreize zu umweltgerechtem Verhal- konnten. Dies gilt für die 17 Maßnahmen aus dem Pro- ten und nicht zuletzt auf das Verantwortungsbewußt- gramm „Deutsche Einheit", wo die Schiene eindeutig sein jedes einzelnen Verkehrsteilnehmers. bevorzugt wird; ein 56 Milliarden DM-Programm. Dies wird auch für den ersten gesamtdeutschen Ver- Vizepräsident Helmuth Becker: Eine Zusatzfrage, kehrswegeplan gelten, der am Ende des Jahres vor- Herr Kollege Feige. gestellt werden wird. Dadurch, daß der Bundesminister für Verkehr und Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE): Herr die Bundesregierung die Schiene — im übrigen auch Staatssekretär, nach der gestrigen Äußerung von die Wasserstraßen, z. B. in den neuen Ländern — för- Bundesministerin Merkel, sie habe sich im Gespräch dern, wird versucht, dem Kabinettsbeschluß nachzu- mit Herrn Dr. Krause darüber verständigt, daß zur kommen, der vorsieht, 25 % des CO2-Ausstoßes zu Unterstützung der Belange der Frauen bei Straßen- reduzieren. Dies soll zusätzlich neben allen technisch bauprojekten für Verwaltungsaufgaben vorzugsweise möglichen Maßnahmen erfolgen. Wir werden bei der Frauen eingesetzt werden sollten, frage ich Sie: Ist Politik für die Infrastruktur des Verkehrs an diesen Ihrerseits vorgesehen, auch im Bereich der Bundes- Beschluß denken. Sie können das dann im nächsten bahn besondere Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Jahr im Parlament nachprüfen. Rahmen Ihres umfassenden Konzepts einzuleiten? Vizepräsident Helmuth Becker: Eine Zusatzfrage Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- des Kollegen Ernst Schwanhold. lege, mir ist der Ansatz Ihrer Frage nicht bekannt. Ich bin gerne bereit, dem nachzugehen. Vielleicht finde ich diese Äußerungen in irgendeiner Zeitung. Ernst Schwanhold (SPD): Herr Staatssekretär, es ist ja zu erwarten, daß im Zuge des wirtschaftlichen Auf- (Dr. Klaus-Dieter Feige [Bündnis 90/ schwungs in Mittel- und Südosteuropa erhebliche zu- GRÜNE]: Sie fielen gestern im Plenum!) sätzliche Verkehrsströme und auch Frachtmengen Ich sage Ihnen eine schriftliche Antwort zu, aber ich auf uns zukommen. Ist das Ziel der Reduktion des glaube nicht, daß das mit dem zusammenhängt, was -CO2-Ausstoßes dann noch realistisch oder nur als ein Parlamentarischer Staatssekretär zur Vorberei- Sprechblase anzusehen, wenn man davon ausgehen tung der Fragestunde pflichtgemäß, in Erfüllung sei- kann, daß die Bundesbahn zur Zeit nicht in der Lage ner Amtspflichten leisten muß. Ich bitte um Verständ- ist, zusätzliches Frachtaufkommen selbst dann, wenn nis. es ihr angeboten wird, auch tatsächlich abzuwik- keln? Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege, Sie haben noch eine Zusatzfrage. Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- lege, in Ihrer Frage waren mehrere Elemente enthal- Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE): Diese ten. Äußerung ist gestern im Plenum gefallen. Wenn Sie nicht zugegen waren, bitte ich um Entschuldigung. (Ernst Schwanhold [SPD]: Das war so ge wollt!) Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Ich war in Der letzte Teil muß mit Ja und Nein beantwortet wer- Berlin mit den Verkehrsministern der neuen Bundes- den. Die Bahn kann auf manchen Relationen mehr länder zusammen, damit Sie wissen, daß ich meine befördern. Auf den Hauptrelationen sieht es in der Tat Pflicht erfüllt habe. schwierig aus. Wenn Sie aber nach Mittel- und Südosteuropa fra- Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE): gen, muß man sagen, daß auf Grund der Histo rie und Meine zweite Zusatzfrage konzentriert sich auf fol- des bisher vorhandenen Eisernen Vorhangs selbstver- genden Sachverhalt: Es wird auch in den neuen Bun- ständlich nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind, desländern offensichtlich über eine Erhöhung des um die Schiene voranzubringen. Wir werden hier ei- Schienenverkehrsaufkommens hinaus auch zu einer nen Schwerpunkt setzen. Erhöhung des Straßenverkehrsaufkommens kommen, Im Zusammenhang mit dem ersten gesamtdeut- um den wirtschaftlichen Aufschwung, den Sie errei- schen Verkehrswegeplan werden wir nicht nur inner- chen wollen, zu ermöglichen. Ist auf Grund dieser halb der deutschen Grenzen planen, sondern überle- Aussage in Ihrem Ministerium bereits eine Kalkula- gen, wie man z. B. nach Warschau, Moskau oder Prag tion über den erhöhten CO2-Ausstoß vorgenommen kommen kann. Wir werden mit den ost- oder südost- worden? In welcher Dimension wird sich der CO2- europäischen Partnern darüber reden. Ich glaube, daß Ausstoß bis zum Jahr 2005 unter Berücksichtigung wir hier einen erheblichen Fortschritt erzielen können des heute zu erwartenden höheren Verkehrsaufkom- und auch werden. mens entwickeln? Haben Sie oder das Umweltmini- sterium eine solche Kalkulation vorgenommen? Vizepräsident Helmuth Becker: Wir kommen zur letzten Frage in diesem Geschäftsbereich, zur Parl. Staatssekretär: Herr Kol- Dr. Dieter Schulte, Frage 45 des Kollegen Dr. Klaus-Dieter Feige: lege, es ist wichtig, daß wir uns einzelne konkrete Maßnahmen, Beschlüsse und Gesetze anschauen. Der Wie beurteilt die Bundesregierung die Absage eines Treffens zwischen dem BUND und dem Bundesministerium für Verkehr, Bundesminister für Verkehr bevorzugt im Augenblick bei dem 50 000 Unterschriften zur Rettung der Alleebäume in eindeutig die Schiene. Dies galt finanziell für das Lük- Ostdeutschland überreicht werden sollten, durch Bundesmini- 1354 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Vizepräsident Helmuth Becker ster Dr. Krause, der sich offensichtlich von Kritik an dem geplan- bedrohten Arten bedarf es nach dem Übereinkommen ten Straßenbau-Beschleunigungsgesetz getroffen fühlt, und in- zusätzlich einer Einfuhrgenehmigung. wieweit teilt sie die Auffassung, daß dies ein Ausdruck von schlechter politischer Kultur ist? Für einige der in den Anhängen II und III genann- Bitte sehr, Herr Staatssekretär. ten Tierarten hat das EG-Recht — ich nenne hier die EG-Verordnung Nr. 3626/82 — oder das nationale Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- Recht — ich nenne hier die Anlage 2 der Bundesar- lege, die Bundesregierung mißt einer sachlichen Aus- tenschutzverordnung — eine zusätzliche Einfuhrge- einandersetzung über die dringenden Probleme der nemigungspflicht vorgeschrieben. Umwelt große Bedeutung bei. Der Bundesminister für Verkehr hofft, auch mit dem BUND in eine sachliche Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin Mehl, Diskussion eintreten zu können. eine Zusatzfrage? Im übrigen wurde die Übergabe der Unterschriften- listen vom Bundesverkehrsministerium nicht abge- Ulrike Mehl (SPD): Sind Sie der Meinung, daß es sagt. Vielmehr ist dem Landesverband anheimgestellt einen wirksamen Schutz aller Tierarten, die unter das worden, einen Zeitpunkt mit Vertretern des Bundes- Artenschutzübereinkommen fallen, geben kann, verkehrsministeriums und dem BUND zur Übergabe wenn der Importeur nicht verpflichtet wird, die Un- dieser Listen zu vereinbaren. schädlichkeit seines Imports nachzuweisen? ich darf noch hinzufügen, daß in exakt einer Stunde und zwei Minuten im Bundesministerium für Verkehr Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Frau Kol- ein Termin mit den Vertretern des BUND anberaumt legin, ich sagte eben, daß wir durchaus der Meinung ist. Dann wird auch ein Termin mit dem Bundesmini- sind, daß hier ein strenges Kontrollregime notwendig ster für Verkehr persönlich — nicht nur mit seinen wird, d. h. daß wir sehr genau kontrollieren müssen: Mitarbeitern — abgemacht werden. Wie ist die Situation vor Ort, was können wir im natio- nalen Bereich tun, um bedrohten geschützten Arten zu helfen? Deshalb gibt es die Notwendigkeit, nicht Vizepräsident Helmuth Becker: Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Feige. nur nach dem Washingtoner Artenschutzübereinkom- men zu verfahren, sondern auch strengere nationale (Bündnis 90/GRÜNE) : Es bzw. EG-Regelungen zu praktizieren, die ein Umge- Dr. Klaus-Dieter Feige hen des Tatbestandes von der Sache her unmöglich freut mich, daß Sie darauf eingehen. machen. Deshalb wird hier sehr differenziert vorge- Kann ich dann davon ausgehen, daß diese Unter- gangen. Da ich denke, daß Sie daran Interesse haben, schriften vom Bundesminister angenommen wer- will ich Ihnen im Anschluß an diese Fragestunde eine den? diesbezügliche Zusatzinformation schriftlich geben. Parl. Staatssekretär: Sie werden Dr. Dieter Schulte, Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin Mehl, angenommen werden. Im Verkehrsministerium ist für eine weitere Zusatzfrage. ein Gespräch der größte Sitzungssaal reserviert. (SPD): Sie haben es eben schon ange- Keine weitere Zu- Ulrike Mehl Vizepräsident Helmuth Becker: sprochen: Kennen Sie die Ausfuhrpraktiken der Län- satzfrage. — Damit sind wir am Ende des Geschäfts- der, die exotische Tierarten exportieren, die dem Ar- bereichs des Bundesministers für Verkehr. Ich be- tenschutzübereinkommen unterliegen, in bezug auf danke mich bei Ihnen, Herr Parlamentarischer Staats- Erhaltung der Arten und Einhaltung des Übereinkom- sekretär Dr. Schulte, für die Beantwortung der Fra- mens? gen. Wir kommen zum letzten Geschäftsbereich, den ich Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Uns sind heute aufrufe, zum Geschäftsbereich des Bundesmini- diese Verfahren hinlänglich bekannt, da sich unser sters für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Haus sehr intensiv mit diesen Fragen beschäftigt, sich Zur Beantwortung steht uns Herr Parlamentarischer auch mit dem Parlament auseinandersetzt und vor Staatssekretär Bernd Schmidbauer zur Verfügung. wenigen Wochen in einem Ausschuß von mir persön- Ich rufe die Frage 46 der Frau Abgeordneten Ulrike lich zu einem solchen Verfahren sehr dezidiert Stel- Mehl auf: lung bezogen wurde. Aus diesem Grund meinen wir, Ist die Bundesregierung der Meinung, daß für den Handel mit daß Ausfuhrbescheinigungen für bestimmte Arten Tierarten, die unter das Washingtoner Artenschutzübereinkom- nicht ausreichen. Wir haben hier deshalb Verschär- men fallen, eine Ausfuhrgenehmigung des exportierenden Lan- des ausreicht und eine Einfuhrgenehmigung des importieren- fungen vorgesehen. Uns interessiert auch, wenn Sie den Landes damit nicht nötig ist? Kenntnis von Umgehungstatbeständen und ähnlichen Bitte, Herr Staatssekretär. Dingen haben, daß wir in Kenntnis gesetzt werden, um solchen Dingen nachzugehen, wie wir das auch in der Vergangenheit gemacht haben. Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- cherheit: Frau Kollegin, nach den Vorschriften des Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Staatssekre- Washingtoner Artenschutzübereinkommens genügt tär, vielen Dank für die Beantwortung dieser Frage. für die Einfuhr von Tieren der in den Anhängen II und Die beiden letzten Fragen 47 und 48 aus Ihrem Ge- III genannten Arten die Vorlage einer Ausfuhrgeneh- schäftsbereich sollen auf Wunsch des Fragestellers migung. Nur für die Einfuhr von Tieren der in An- Dr. Eberhard Brecht schriftlich beantwortet werden. hang I genannten, unmittelbar von der Ausrottung Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1355

Vizepräsident Helmuth Becker Ganz kurz eine Bemerkung zu unserer Geschäfts- Was liegt statt dessen vor? Ein Geheimbericht, der nur ordnung. Fragen sollen kurz sein und eine kurze Be- unter Aufsicht und nur von den Mitgliedern des Wirt- antwortung ermöglichen, heißt es da. Zum Zweiten schaftsausschusses eingesehen werden kann. Die Ab- dürfen in einer Frage auf keinen Fall so viele Unter- geordneten dürfen sich keine Notizen machen, sie fragen enthalten sein wie in der Frage, die der Kollege sind allein auf ihr Gedächtnis angewiesen, und sie Schwanhold gestellt hat. dürfen mit niemandem über ihr neues Wissen über die Wir sind damit am Ende des Tagesordnungspunkts schmutzigen Waffengeschäfte der Bundesregierung Fragestunde. mit dem irakischen Diktator Hussein reden, ein Ge- heimbericht also, über den keine öffentliche Debatte stattfinden soll. Ich rufe Zusatzpunkt 2 zur Tagesordnung auf: Aktuelle Stunde Natürlich wüßten die israelische, die amerikani- sche, die deutsche Öffentlichkeit und die UNO ganz Geheime Einstufung des Berichts der Bundes- gerne, ob die Bundesregierung wenigstens nachträg- regierung zu den Irak-Rüstungsexportge- lich ihre Fehler, Versäumnisse und ihre offenkundige schäften unter Berücksichtigung der Erf order- Mitverantwortung für die Aufrüstung des Iraks zu- nisse der Waffenstillstandsbedingungen im gibt. Natürlich wüßte auch die deutsche Wirtschaft Irak ganz gern, ob es zutrifft, was man so munkelt, daß der Die Gruppe Bündnis 90/GRÜNE hat eine Aktuelle Bericht einseitig nur den deutschen Unternehmen die Stunde zu diesem Thema verlangt. Schuld an den Waffenlieferungen gibt und die Bun- Das Wort hat zunächst unsere Frau Kollegin Vera desregierung von jeder Mitverantwortung rein Wollenberger. wäscht. Man munkelt auch, die Bundesregierung sei jeweils im frühesten Stadium über die sich anbahnen- den Waffengeschäfte unterrichtet gewesen und habe (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Prä- Vera Wollenberger dennoch nichts unternommen. In dem Geheimbericht sident! Meine Damen und Herren! Ich bin mir nicht soll z. B. stehen, daß der erste Hinweis auf die militä- sicher, ob die Bundesregierung ernsthaft geglaubt rische Verwendung des großen Forschungszentrums hat, sie könnte mit ihrer Geheimhaltungspolitik zu in Mosul im Wert von 1,6 Milliarden DM bereits 1981 den Irak-Rüstungsexporten gegenüber den Abgeord- gegenüber dem damaligen Wirtschaftsminister, also neten des Deutschen Bundestages durchkommen. - Herrn Otto Graf Lambsdorff, erfolgte. Es ist bekannt, Sicher, sie verhandelt im Moment in allen mögli- daß sich damals die bundeseigene Fritz Werner chen Punkten mit der SPD-Fraktion, und die SPD tut GmbH um den Zuschlag für das Militärforschungs- wenig, um den großen nationalen Konsens zu stören. zentrum Saad 16 in Mosul bemühte. 1982 soll dann Deshalb scheint die Bundesregierung damit zu rech- ein zweiter konkreter Hinweis auf die Bielefelder nen, daß die SPD-Opposition in dem Punkt Irak-Un- Firma Gildemeister und wiederum die militärische tersuchungsausschuß und Möllemann-Geheimbe- Bedeutung des Saad-16-Projekts erfolgt sein. Auf richt nachgibt und auf weitere Aufklärung verzich- wundersame Weise genehmigte das Bundesamt für tet. Wirtschaft das Projekt ein halbes Jahr später, im Juni Aber die Bundesregierung kann nicht im Ernst da- 1983, als angebliches ziviles Forschungsobjekt der von ausgegangen sein, daß sich die mit staatlicher Universität in Mosul. Mit dabei ist jetzt auch die Firma Geheimhaltung und deren schlimmen Folgen bestens MBB, der einige Herren der Bundesregierung, wie vertrauten Abgeordneten von Bündnis 90/GRÜNE z. B. der Herr Staatssekretär Dr. Riedl, freundschaft- mit dieser unwürdigen und skandalösen Vertu- lich verbunden sind. schungspraxis zufriedengeben werden. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ist das ein Ver (Franz Müntefering [SPD]: Wir auch nicht, brechen?) Frau Kollegin! — Hermann Bachmaier [SPD]: Wir auch nicht!) Wen wundert es dann noch, daß derselbe Herr — Abwarten. — Wenn Sie das geglaubt haben, dann Dr. Riedl auf eine Anfrage der GRÜNEN 1988 er- muß ich sagen, daß wir nicht lockerlassen werden, bis klärte, von dem ganzen Projekt wisse die Bundesre- die unrühmliche Rolle der Bundesregierung bei der gierung nichts, später jedoch einräumen mußte, ab Genehmigung und augenzwinkernden Duldung der 1987 habe man erste Hinweise auf den militärischen Irak-Waffengeschäfte vollständig aufgeklärt ist. Das Charakter von Saad 16 gehabt, damit aber immer schulden wir nicht nur den Opfern von Saddam Hus- noch nicht die Wahrheit sagte? Auch Wirtschaftsmini- sein, den Opfern des Golfkrieges und der durch iraki- ster Haussmann informierte im August 1990 den Wirt- sche Raketen zeitweilig in Angst und Schrecken ver- schaftsausschuß in diesem Punkt falsch. setzten israelischen Bevölkerung. Vielmehr ist das Sie werden die Frage gestatten, welches Spiel die auch eine ganz grundsätzliche Frage des Selbstver- Bundesregierung hier betreibt und was sie zu verber- ständnisses dieses Parlaments und vor allem seiner gen hat. Wir möchten gerne mehr wissen und fordern parlamentarischen Opposition. deshalb die sofortige Veröffentlichung des Geheim- Sogar die Regierungsfraktionen hatten am 1. Fe- berichts. Wir möchten z. B. wissen, ob es stimmt, daß bruar dieses Jahres in diesem Haus von der Bundes- die Bundesregierung zwischen 1984 und 1986 um- regierung einen „lückenlosen Bericht" über die Irak- fangreiche und glasklare Hinweise ausländischer Ge- Exporte gefordert, und die SPD-Opposition hatte ei- heimdienste auf die Giftgasaktivitäten der Firmen nen ausführlichen, aussagekräftigen und öffentlichen Karl Kolb und Pilot Plant erhielt, und warum es ihr Bericht nach dem Vorbild des damaligen Schäuble- nicht gelang, die Firmen an der Fertigstellung der Berichts zur Giftgasfabrik Rabta/Libyen eingeklagt. Anlage in Samara zu hindern. Wir fordern die Veröf- 1356 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Vera Wollenberger fentlichung auch, um deutlich zu machen, daß die par- Dazu gehört auch — das liegt in Ihrem Interesse —, lamentarische Opposition kläglich versagt, wenn sie daß der Bericht, den die Bundesregierung erstellt hat nicht möglichst bald einen parlamentarischen Unter- und der voller Informationen ist, im Hinblick auf lau- suchungsausschuß zur Rolle der Bundesregierung fende Untersuchungsverfahren nicht veröffentlicht einsetzt. werden darf. So begierig Sie auch sind, Sie als Abge- ordnete des Deutschen Bundestages sollten wissen, Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin Wol- daß die Veröffentlichung nicht möglich ist. Ich würde lenberger, die Redezeit ist abgelaufen. mich wirklich freuen, wenn Sie sich mit dieser Rechts- staatlichkeit — Sie werden das von dem einen oder Vera Wollenberger (Bündnis 90/GRÜNE): Augen- anderen von uns hören — am Rande der Aktuellen blick! Stunde vertraut machen, weil es uns dann einfacher fällt, miteinander zu diskutieren. Vizepräsident Helmuth Becker: Es gibt keinen Au- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) genblick. Noch einen Schlußsatz. Frau Kollegin Wol- Damit ist noch nicht gesagt, daß wir mit Ihnen, lenberger. Wir sind in der Aktuellen Stunde, die Rede- Herr Bundeswirtschaftsminister, übereinstimmen, zeit beträgt fünf Minuten. — Bitte. daß zwar zugesagt worden ist, einen Bericht zu erstel- len, daß es aber — wir alle waren überrascht — , dann Vera Wollenberger (Bündnis 90/GRÜNE) : Einen ein VS-Bericht war, der der Öffentlichkeit so nicht Satz noch. kundgetan werden kann. Ein weiterer Punkt sind die Erfordernisse des Waf- Deshalb bittet die CDU/CSU darum, daß — hier fenstillstands mit dem Irak. Der Möllemann-Bericht unterstützen wir Sie, Frau Kollegin; ich nehme an, enthält möglicherweise Rüstungsprojekte des Irak, auch die Sozialdemokraten werden diese Forderung die der UNO bisher nicht bekannt sind und deren stellen — ein Bericht erstellt wird, der von den aus Beseitigung unter die im ABC-Waffen- und -Raketen- Rechtsgründen nicht zu veröffentlichenden Fakten bereich vorgesehenen Objekte fällt. Der „Spiegel" hat bereinigt wird, so daß auf Grund dieses Berichtes bereits letzte Woche aus dem Bericht den Bau einer dann eine öffentliche Diskussion ermöglicht wird. zweiten Kanonenfabrik in Tadschi durch die Firma Darum bitten wir die Bundesregierung. Ich glaube Thyssen erwähnt. Dieses Projekt war bisher in keiner aber, Herr Möllemann, daß Sie das jetzt sowieso vor- Weise öffentlich bekannt. haben. Wir haben in den letzten Monaten miteinander Ich muß Sie bitten, Vizepräsident Helmuth Becker: darum gerungen, das Kriegswaffenkontroll- und das zum Ende zu kommen. Außenwirtschaftsgesetz zu verschärfen. Die Ver- schärfungen sind mit Mehrheit beschlossen worden. Vera Wollenberger (Bündnis 90/GRÜNE): Das ist Wir stellen jetzt zu unserer Überraschung fest, daß der der letzte Satz: Wenn dort weiter Waffenstätten be- Bundesrat, der aus verschiedensten Gründen, vor al- trieben werden dürfen, bloß weil die Bundesregierung len Dingen aus außenpolitischen Gründen, ebenfalls an ihrer Geheimhaltungspolitik festhält, — darauf gedrängt hat, ein verschärftes Gesetz zu be- kommen, dieses Gesetz jetzt aufgehalten hat. Wir for- Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Wollenberger, dern den Bundesrat auf, die Ansprüche und Vorstel- erschweren Sie mir nicht das Geschäft! lungen in dieser Frage zügig und schnell mit der Bun- desregierung zu diskutieren, so daß es möglich ist, Vera Wollenberger (Bündnis 90/GRÜNE): — dann dieses Gesetz hier endgültig zu verabschieden. trägt der Herr Minister Möllemann dafür die Verant- Denn es bedeutet ein Stückchen Unglaubwürdig- wortung. keit, wenn wir Parlamentarier uns unter einen Zeit- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. druck haben setzen lassen müssen, weil außenpoliti- sche Gründe — vor allem war es die Opposition, die Vizepräsident Helmuth Becker: Nun hat in der Ak- uns da bedrängt hat — uns dazu zwangen, um dann tuellen Stunde als nächster unser Kollege Peter Kittel- jetzt in Ruhe nachzudenken, wie die wirkliche Hand- mann das Wort. habung des Gesetzes aussieht. Deshalb meine Bitte an (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Der sagt jetzt den Bundesrat. mal, was Sache ist!) Wir haben mit unserem Gesetzentwurf ein nationa- les Instrumentarium geschaffen, das internationali- Peter Kittelmann (CDU/CSU): Herr Präsident! siert werden muß. Wir freuen uns darüber — dazu Meine Damen und Herren! Frau Kollegin, Sie haben werden meine Kollegen nacher noch etwas sagen —, mit Erfolg dafür gekämpft und darum gerungen, daß daß die UNO jetzt ein Waffenregister fordert und daß Sie eine demokratische Gesellschaftsordnung haben, endlich ein Problembewußtsein dafür erwacht, daß es daß wir jetzt in einem Land und in einer Nation leben notwendig ist, was wir seit Jahren von dieser Stelle und daß Sie sich dann einem Rechtsstaat und der aus fordern, eine Internationalisierung der Waffen- rechtsstaatlichen Ordnung, die Sie Jahrzehnte ver- exporte zu erreichen. mißt haben, unterordnen. (Widerspruch bei der SPD) (Hermann Bachmaier [SPD]: „Unterord- — Internationalisierung der Waffenexporte war gar nen" !) nicht so falsch; denn im wesentlichen geht es darum, — Unterordnen, ja. Ich nehme an, das ist für Sie, Herr daß wir uns in der NATO und in der EG einig werden, Bachmaier, ein geläufiger Ausdruck. wann wir liefern und wann nicht, und daß wir die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1357

Peter Kittelmann Erfahrungen der letzten Monate und Jahre in gemein- Lieferung der Giftgasfabrik nach Libyen möglich war, sames Handeln umsetzen. Denn wir erleben ja, wenn nämlich die Erstellung eines der Öffentlichkeit voll wir uns ansehen, wer in den Irak und an andere Län- zugänglichen Berichtes, hat im Falle der Rüstungsex- der geliefert hat, daß das Land, das sich am meisten porte in den Irak ebenfalls, und zwar umgehend, zu damit quält, diese Lieferungen abzuschaffen, nämlich geschehen. die Bundesrepublik Deutschland, mit dem Umfang Der Bericht offenbart mit kaum zu überbietender ihrer Lieferungen sozusagen ein kleines Licht gegen- Deutlichkeit den gesamten unverantwortlichen über den Milliardensummen für Waffenlieferungen Schlendrian der Bundesregierung bei der Rüstungs- ist, die von anderen Ländern, die vor allen Dingen exportkontrolle in den vergangenen Jahren. Ganz dem Sicherheitsrat angehören, erfolgt sind. offensichtlich ist es so, daß unsere bisherigen Rü- Meine Damen und Herren, ich darf zusammenfas- stungsexportkontrollgesetze lediglich auf dem Papier sen. Wir erwarten, daß demnächst ein Bericht zugelei- standen und eine Rüstungsexportkontrolle, die diesen tet wird, über den wir öffentlich diskutieren werden. Namen verdient, seit Jahren nicht stattgefunden Bisher hatten nur ganz wenige Kollegen die Chance, hat. den VS-Bericht zu lesen. Den Kollegen, die die Chance hatten, ihn zu lesen, weil er ihnen zugänglich Die Fülle der Rüstungsexportverstöße steht in ei- war, ihn dann aber nicht gelesen haben, muß ich vor- nem krassen Mißverhältnis zu der geringen Zahl von werfen, mit doppelter Moral zu operieren. Strafverfahren und Verurteilungen, die es in den ver- gangenen Jahren gegeben hat. Bezeichnend ist auch, (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es!) daß eine Vielzahl von Verfahren im Sande verlaufen Sie haben den einen oder anderen hingeschickt und sind oder eingestellt werden mußten, weil unsere zeigen damit, daß es ihnen in Wirklichkeit nicht Ausfuhrbestimmungen den konkreten Fall wieder darum geht — einmal nicht erfaßt hatten. Im übrigen zeigt der Bericht — dies kann man im Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege, Sie Vorgriff auf eine endgültige Bewertung schon heute müssen zum Schluß kommen. feststellen — , daß der von der SPD im Jahre 1985 vor- gelegte Entwurf eines neu gefaßten Kriegswaffenkon- Peter Kittelmann (CDU/CSU): — ich bin beim letz- -trollgesetzes in einer Vielzahl von Fällen einen wirk- ten Satz — , Kenntnis zu erlangen, sondern darum, samen Schutz geboten hätte. Sie, meine Damen und Polemik zu verbreiten. Ich kann klar sagen: Nicht mit Herren von den Koalitionsfraktionen, haben damals uns! nichts Besseres zu tun gehabt, als diesen Entwurf Schönen Dank. hochnäsig zurückzuweisen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Bundesregierung und der Bundeswirtschafts- minister sind bei dieser Fülle von legislativen und Vizepräsident Helmuth Becker: Das Wort hat nun administrativen Versäumnissen verpflichtet, sich ihrer unser Kollege Hermann Bachmaier. Verantwortung zu stellen und klipp und klar zu sagen, wer diese Versäumnisse zu vertreten und politisch zu verantworten hat. Hermann Bachmaier (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nur äußerst zögernd kommt die (Beifall bei der SPD — Norbert Gansel [SPD]: Bundesregierung dem mit den Stimmen der Koali- Lambsdorff und Stoiber!) tionsfraktionen am 1. Februar 1991 gefaßten Beschluß Schon heute kann und muß man nach der Lektüre des Bundestages nach — wie es damals wörtlich dieses Berichtes feststellen, daß es die Bundesregie- hieß — , lückenlos über die Erkenntnisse über illegale rung auch versäumt hat, im Rahmen von rüstungs- Rüstungsexporte in den Irak zu berichten. politischen Kooperationsabkommen, z. B. mit Frank- Nunmehr liegt wenigstens ein Geheimbericht des reich, auf eine restriktive Exportpolitik hinzuwirken. Bundeswirtschaftsministeriums vor, der der Öffent- Auf diese Weise können zu Hause natürlich die schön- lichkeit gar nicht und den Abgeordneten des Bundes- sten Reden gehalten werden, während über Drittlän- tages nur in äußerst beschränktem Umfange zugäng- der alle nur erdenklichen Waffenexporte bis zum heu- lich ist. Liest man diesen Bericht, dann wird einem tigen Tage getätigt werden. schnell klar, warum die Bundesregierung bis zum heutigen Tag das Licht der Öffentlichkeit scheut und (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ bislang nicht bereit ist, öffentlich über die Rüstungs- GRÜNE sowie der Abg. Dr. Dagmar Enkel exporte in den Irak zu informieren. mann [PDS/Linke Liste]) Schon die von der Bundesregierung aufgeführte Der Bericht offenbart ferner, daß die von der Bun- Fülle von Fällen legalen und illegalen Rüstungsexpor- desregierung im Bundestag kürzlich durchgesetzten tes in den Irak ist erdrückend. Die Geheimniskrämerei Rüstungsexportkontrollgesetze bei weitem nicht in der Bundesregierung ist unerträglich. Öffentlichkeit der Lage sind, eine wirksame Rüstungsexportkon- und Parlament müssen schleunigst über Umfang und trolle herbeizuführen. Es geht einfach nicht an, daß Tragweite des Versagens deutscher Rüstungsexport- der Gesetzgeber ständig hinter der bitteren Realität kontrollpolitik in Kenntnis gesetzt werden. herhinkt und allenfalls mit einem unzureichenden Es ist durchaus möglich, meine Damen und Herren, Flickenteppich versucht, offenbar gewordenen Miß- den Bericht ohne Abstriche seines Informations- und bräuchen hinterherzulaufen. Wir müssen diesen Be- Aussagewertes so zu fassen, daß laufende Ermitt- richt sorgfältig analysieren und hinterfragen. Zwin- lungsverfahren nicht gestört werden. Was im Falle der gende Voraussetzung dafür ist eine umgehende Of- 1358 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Hermann Bachmaier fenlegung sämtlicher der Regierung bekannten Fak- Sie haben noch nicht einmal den Versuch unternom- ten über legale und illegale Rüstungsexporte. Wir men, im Wege eines Geschäftsordnungsantrags even- werden von der Regierung wenigstens das Maß an tuell zu erreichen, daß eine Offenlegung des Berichts Offenheit und Transparenz erwarten können, das erfolgen soll. Nein, Sie greifen direkt zum Mittel der selbst der BDI-Präsident Weiss nach der Rückkehr von Aktuellen Stunde, und das steht — das müssen Sie einer Amerika-Reise am 28. Januar dieses Jahres ge- sich auch sagen lassen — etwas im Gegensatz zu dem fordert hat. Sollten auch nach einer gründlichen und Interesse, das Ihre Gruppe im Wirtschaftsausschuß öffentlichen Beratung des von der Regierung vorge- zeigt, weil da in den letzten Sitzungen, insbesondere legten Berichtes noch Fragen zu klären sein, muß ab- in der, in der das Außenwirtschaftsgesetz beraten schließend darüber entschieden werden, ob es der wurde, kein Repräsentant vom Bündnis 90 anwesend Einsetzung eines Untersuchungsausschusses bedarf gewesen ist. oder nicht. Herzlichen Dank. (Vera Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE]: Wahrscheinlich hat parallel ein anderer Aus (Beifall bei der SPD) schuß getagt!)

Vizepräsident Helmuth Becker: Nächster Redner ist Es stellt sich wirklich die Frage, was mit dem Her- unser Kollege Dr. Heinrich Kolb. auskitzeln eines Aspektes Ihrer formalen Frage nach dem Grad der Öffentlichkeit jetzt eigentlich gemeint ist. Nur darum, Aufmerksamkeit zu erregen, kann es Dr. Heinrich Kolb (FDP): Herr Präsident! Meine Da- ja wohl nicht gehen. Ich habe nicht den Eindruck, daß men und Herren! Lassen Sie mich eingangs meiner der Bundeswirtschaftsminister, der unserer Fraktion Rede feststellen, daß ich es eigentlich bedauerlich angehört, bei diesem Thema öffentlichkeitsscheu finde, daß der Brisanz des Themas, mit dem wir uns wäre, absolut nicht. hier beschäftigten, nicht die Präsenz im Plenum ent- spricht. Ich denke, wir nehmen uns damit etwas von Aber wir müssen auch die Grenzen der Öffentlich- der Ernsthaftigkeit unseres Anliegens. Ich sage das keit aus rechtsstaatlicher Sicht sehen. ganz allgemein über Fraktionsgrenzen hinweg. (Norbert Gansel [SPD]: Möllemann scheut Ich darf sagen: Kritische Aufmerksamkeit, Frau- Wollenberger, ist gut, ich denke, kritische Aufmerk- die Öffentlichkeit wie der Teufel das Weih samkeit sowohl gegenüber der Wirtschaft in Sachen wasser!) Exportkontrolle als auch des Parlaments gegenüber Es muß ein Rufschaden vermieden werden gegenüber der Regierung. Ich darf feststellen, daß wir von der Unternehmen, die nach vorläufigem Stand der Ermitt- FDP vor einer offenen Diskussion des Themas „Rü- lungen in diesem Bericht erwähnt sind. Es kann sich stungsexporte" hier im Parlament nicht zurück- im nachhinein herausstellen, daß nichts an diesen er- scheuen. Wir haben auch in den letzten Monaten bei sten Vorwürfen ist. Hier muß bedacht werden, daß der den Beratungen zum Thema „Außenwirtschaftsge- materielle Schaden, der mit einem solchen Rufmord setz" daran keinen Zweifel gelassen. einhergeht, erheblich sein kann, bis hin zur Existenz- Uns liegt ein umfangreicher und, gerade was die gefährdung eines Unternehmens. Frage der illegalen Rüstungsexporte anbelangt, auch detaillierter Bericht vor, und dieser Bericht wird vom (Norbert Gansel [SPD]: Rufmord gegen Völ Bündnis 90/GRÜNE zum Gegenstand einer Aktuellen kermord!) Stunde gemacht. Da muß natürlich auch die Frage Wir können als Bundesrepublik Deutschland kein nach den Beweggründen erlaubt sein. Ist denn, Frau Interesse daran haben, eine Hexenjagd auf Exportun- Wollenberger, der Bericht nicht detailliert genug? Das ternehmen zu veranstalten. Dieser Bereich unserer kann wohl nicht der Fall sein, denn immerhin scheint Wirtschaft ist viel zu wichtig, als daß wir uns erlauben er so detailliert, so wichtig und so gut zu sein, daß Sie könnten, hier so zu verfahren. befürchten — das war die Begründung der Aktuellen Stunde —, daß die UNO in der Durchführung des Und der letzte Punkt ist der Schutz des Strafverfah- Waffenstillstandsabkommens gehindert sein könnte, rens selbst. Die Vereitelung der Strafverfolgung ge- wenn er nicht veröffentlicht würde. rade im Falle ehemaliger Angehöriger der Staats- Ich meine, umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die sicherheit der DDR unlängst im Nachgang einer vor- Bundesrepublik ist überhaupt der einzige Staat, der zeitigen Fernsehveröffentlichung hat doch gezeigt, bisher einen solchen Bericht verfaßt hat. Ich meine, wie brisant es ist, in schwebende Verfahren einzugrei- das sollte anerkannt werden und auch als Vorbild für fen. Ich kann mir nicht vorstellen, Herr Ullmann, daß andere Nationen dienen. Sie genau dieses nicht bedacht haben, als Sie Ihre Es muß auch die Frage erlaubt sein: Besteht denn Aktuelle Stunde formuliert haben. aktueller Handlungsbedarf? Offensichtlich nicht, Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. weil von der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE bisher kei- Unser Bekenntnis zum Grundsatz einer freiheitlichen nerlei Initiativen erkennbar wurden, etwa Gesetzes- Wirtschaftsverfassung ist bekannt. Ich habe früher verbesserungen auf den Weg zu bringen oder sonstige von dieser Stelle aus betont, daß Freiheit und Verant- Maßnahmen zu ergreifen. Das sehe ich bisher nicht. wortung zusammengehören. Wir stehen nach wie vor (Günter Verheugen [SPD]: Die sind doch nun dazu. Ich rufe nur dazu auf und plädiere dafür, daß wir gerade ein paar Wochen hier! — Norbert hier über Parteigrenzen hinweg arbeiten und daß wir Gansel [SPD]: Das sagt ausgerechnet die nicht landen und enden in einer kleinlichen Parteien- FDP, die überall beteiligt war!) diskussion, in einem Parteiengezetere, sondern daß Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1359

Dr. Heinrich Kolb wir gerade bei diesem wichtigen Thema parteiüber- gungspraxis geschützt. Danach wird in diesem Be- greifend arbeiten. richt bestätigt, was zahlreiche Friedensinitiativen oft (Vera Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE]: in mühseligen Recherchen zusammengetragen ha- Gern, aber öffentlich!) ben. Diese Bundesregierung wie auch alle alten Bun- desregierungen — ich betone: auch alle alten Bundes- Dafür würde ich mich sehr gern zukünftig bei Ihnen regierungen — müssen sich den Vorwurf gefallen las- bedanken. sen, nicht intensiv genug etwas gegen die illegalen Danke schön. Rüstungsexporte unternommen zu haben. Auch der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) hier formulierte Entwurf zur Einschränkung der Rü- stungsverbote —, wir haben uns vor drei Wochen da- mit befaßt — schafft nicht mehr Vertrauen. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Noch 1990 wurden Exporte mit Bezug auf Waren für Herren, das Wort hat nunmehr unsere Kollegin Frau Chemieanlagen in Höhe von 9,3 Millionen DM ge- Ursula Jelpke. nehmigt. Der Bericht des Wirtschaftsministeriums (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Jetzt werden macht deutlich, was nach Verabschiedung eines nicht wir aufgeklärt! — Norbert Gansel [SPD]: wirksamen Gesetzes jetzt — es wurde hier in der De- Freut euch, daß die nicht aus den Stasi-Akten batte angesprochen — getan werden müßte. zitieren kann!) Wir fühlen uns in unserer Forderung bestätigt, daß es zu einem grundsätzlichen Rüstungsexportverbot kommen muß. Ein solches Gesetz hätte nach unserer Ursula Jelpke (PDS/Linke Liste): Meine Damen und Auffassung hier verabschiedet werden müssen. Herren! Ich durfte den Bericht leider nicht lesen. Wir begrüßen, daß die Gruppe Bündnis 90/GRÜNE diese Nicht ganz uninteressant ist die „Spiegel" -Statistik Aktuelle Stunde angemeldet hat. Wir hoffen, daß auch zu den Genehmigungen der diversen Wirtschaftsmi- die Öffentlichkeit wiederholt auf dieses Thema auf- nister, z. B. derjenigen der FDP. Graf Lambsdorff merksam gemacht wird — trotz der Tatsache, daß die schießt da den Vogel mit 336,4 Millionen DM ab. Anwesenheit der Abgeordneten heute recht kläglich (Widerspruch bei der FDP) ist —, weil wir der Meinung sind, daß schon lange - — Das können Sie im „Spiegel" nachlesen. Handlungsbedarf bestand. Die illegalen Rüstungs- Wir fragen uns allerdings, wie ein Bericht über die exporte haben einen Anteil von 3 bis 5 %. Auf die Rüstungsexportpolitik der BRD generell, also nicht legalen Rüstungsexporte entfällt folglich ein Anteil nur bezogen auf den Irak, aussehen würde. Zu diesem von 95 bis 97 %. Ich denke — das ist auch von uns und Bericht sah sich die Bundesregierung erst angesichts speziell von mir im Innenausschuß immer wieder ge- des enormen öffentlichen Drucks während des Golf- fordert worden —, daß erst einmal die legale Seite der krieges gezwungen. Besonders im Hinblick auf an- Exporte untersucht werden muß, bevor es ein neues dere Länder in Krisen- und Kriegsgebieten wird er Gesetz zur Einschränkung der Rüstungsexporte ge- nicht viel besser aussehen. ben kann. Das ist meines Erachtens nicht geschehen. Nun dürfen wir als normale Abgeordnete, die wir Nicht ohne Grund haben wir mit unserem Antrag nicht dem Wirtschaftsausschuß angehören, in der Zei- und in allen unseren Äußerungen darauf hingewie- tung nachlesen, daß es jetzt diesen Bericht gibt. sen, daß mit dem Geschrei über die illegalen Exporte nur die Spitze des Eisberges erfaßt wird. Der eigentli- Erst gestern haben wir hier in diesem Saal über die che Skandal liegt nicht bei den illegalen, sondern bei katastrophale Lage der kurdischen Flüchtlinge debat- den legalen Rüstungsexporten; die Prozentverhält- tiert. Alle Redner und Rednerinnen — ohne Aus- nisse habe ich soeben schon genannt. nahme, auch die der Koalitionsregierung — haben beteuert, alles Mögliche zu unternehmen, um dem Es muß ein Untersuchungsausschuß nicht nur zur kurdischen Volk zu einem Leben in seiner Heimat in Praxis gegenüber dem Irak her, sondern es muß ein Freiheit und Selbstbestimmung zu verhelfen. Untersuchungsausschuß auch zur Rüstungsexport- politik — Zur politischen Glaubwürdigkeit gehört aber auch die Feststellung, daß nicht zuletzt die Rüstungs- exportpraxis der Bundesregierung für die katastro- Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin phale Lage des kurdischen Volkes mitverantwortlich Jelpke, die Redezeit ist abgelaufen. ist. Die wichtigste Konsequenz aus dieser Feststellung Ursula Jelpke (PDS/Linke Liste): — ja, ich komme ist, daß die Verharmlosung des Rüstungsexports zum letzten Satz — der BRD überhaupt eingerichtet durch seine Geheimhaltung — wie dies hier in der werden. letzten Zeit geschehen ist — zu brechen ist. Aber ge- Wir fordern, das Rüstungsexportverbot im Grund- nau das Gegenteil macht die Bundesregierung. Der gesetz festzuschreiben. ihr hier von allen abverlangte Bericht über die Praxis der Rüstungsexporte im legalen Bereich wird dem (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Peter Kit Parlament verweigert und der Öffentlichkeit vorent- telmann [CDU/CSU]: Die hat auch wieder halten. Die angeblich laufenden Ermittlungsverfah- zehn Minuten geredet!) ren gegen die Todesexporteure dürften wohl kaum der wahre Grund für die Geheimhaltung sein. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Schenkt man den Presseberichten Glauben, dann Herren, ich muß Sie alle noch einmal auf folgendes wird eine schlampige und weitgehende Genehmi aufmerksam machen: Wir haben hier eine Aktuelle 1360 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Vizepräsident Helmuth Becker Stunde. In Anlage 5 Nr. 7 unserer Geschäftsordnung-richt erwartet wird. Dieser Brief an die Frau Präsiden- ist festgelegt: Die Redezeit beträgt nicht mehr als tin ist auch den Fraktionsvorsitzenden zugegangen. 5 Minuten. Ich muß hier also nach 5 Minuten abbre- Mehrere Äußerungen von Abgeordneten im Vor- chen lassen. Ich bitte doch alle um Verständnis. feld der Aktuellen Stunde und auch die heute hier Nun hat als nächster Redner der Bundesminister für vorgetragenen Ansichten zeigen, daß sich das Parla- Wirtschaft, Jürgen Möllemann, das Wort. ment mit der Unterrichtung des Ausschusses in ver- traulicher Form offenbar nicht zufriedengibt. (Zuruf von der SPD: Richtig!) Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirt- schaft: Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kolle- — Ich hatte auch deswegen die Frau Präsidentin an- gen! Zu den illegalen Exporten hat die Bundesregie- geschrieben, ob etwas anderes gewünscht wird. rung bereits im August 1990 einen ausführlichen Be- Ich bin daher bereit, wie schon in meinem Schrei- richt vorgelegt und im März dieses Jahres auf erneu- ben an die Frau Präsidentin angedeutet, allen Abge- ten Wunsch noch einmal gründlich informiert. — Herr ordneten des Bundestages den vertraulichen Bericht Kollege, vom 1. Februar bis zum März. Nun gut, es ist mit der unvermeidbaren Verschlußsachen-Einstufung ein gewisser Zwischenzeitraum. Aber wenn ein Be- zustellen zu lassen richt seriös erstellt werden soll, finde ich eine Vier- Wochen-Frist nicht übertrieben lang. (Zuruf von der SPD: Wunderbar!) (Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Das ist wohl — ich sage nur zunächst einmal: Auch das kann ge- richtig, genau! — Norbert Gansel [SPD]: macht werden — , wiewohl es ja nach § 4 der Ge- Acht Wochen sind schon wieder unse riös!) schäftsordnung nicht ganz ausgeschlossen ist, daß die Um rechtsstaatlich unzulässige Eingriffe in lau- Kollegen im Wirtschaftausschuß ihre Fraktionskolle- fende Verfahren zu vermeiden, mußte der Bericht als gen informieren. Es ist ausdrücklich zulässig. Übli- vertraulich eingestuft werden. Auch waren die betrof- cherweise muß es in einer Siebenergruppe, denke ich, fenen Unternehmen davor zu schützen, daß vor einer doch möglich sein, daß man sich im Verlauf von 14 Ta- rechtskräftigen Verurteilung durch die dafür allein gen so nach und nach darüber unterhält, was darin steht. zuständige Justiz unberechtigte Rufschäden aus ei-- nem der Öffentlichkeit zugänglichen Bericht entste- Gut, aber wenn das nicht reicht, bin ich ebenfalls hen können. Ich erwähne an dieser Stelle, meine Da- gerne bereit — auch dies habe ich der Präsidentin und men und Herren, daß wir — wie ich hier schon einmal den Fraktionsvorsitzenden mitgeteilt — , einen zusätz- dargestellt habe — beispielsweise auf über 140 Hin- lichen öffentlichen Bericht über illegale Exporte nach weise zurückgegriffen haben. Ich kann bis heute nicht Irak vorzulegen. sagen, wie viel sich von diesen im nachhinein als un- begründet herausgestellt haben. Aber eine beachtli- (Zuruf von der SPD: Aber vollständig!) che Zahl ist es wohl. Hätte man in all diesen Fällen Jedoch muß ich erneut darauf aufmerksam machen eine Präsentation, etwa im Ermittlungsverfahren, vor- —weil ich genau weiß, wie dann der Mechanismus genommen, so als wäre schon Klarheit gegeben, hätte sein wird — , daß das kein lückenloser Bericht in dem man, glaube ich, ein Verfahren praktiziert, das wir Sinne sein kann nach unseren rechtsstaatlichen Prinzipien in keinem (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Auch nicht anderen Bereich akzeptieren würden. sein darf!) Hinsichtlich der von der Bundesregierung geneh- migten Exporte nach Irak wurde mehrfach auch öf- — kann und darf! — , daß aus laufenden Verfahren in fentlich informiert. Die Bundesregierung hat bereits unzulässiger Weise hier vorgetragen wird. im März 1984 die auch heute noch zutreffende Aus- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — kunft gegeben, daß keine Kriegswaffenexporte ge- Hermann Bachmaier [SPD]: Zulässigerweise nehmigt wurden. Sie hat andererseits schon im De- kann man das machen! — Peter Kittelmann zember 1986 bestätigt, daß Genehmigungen für den [CDU/CSU]: Dafür setzt sich selbst Herr Export sonstigen Rüstungsmaterials, nämlich von Wa- Bachmaier ein!) ren des Abschnitts A der Ausfuhrliste Teil I, nach Irak gegeben worden sind, und hat dann im November — Herr Kollege Bachmaier, ich bin nun auch schon ein 1990 die Genehmigungswerte für den Zeitraum 1982 bißchen länger in diesem Parlament, wie auch viele bis 1989 nach Abschnitten der Ausfuhrliste mitge- von Ihnen, und ich möchte ungern erleben, daß dann teilt. der vertrauliche Bericht mit seinen dezidierteren Aus- sagen und der öffentliche Bericht nebeneinanderge- Mit dem vertraulichen Bericht, den ich jetzt vorge- legt werden und gesagt wird: Der hat da etwas zu legt habe, wurde die Information nach Warenberei- verbergen. — Das habe ich nicht, wie Sie gemerkt chen weiter aufgeschlüsselt. haben. Ich habe mich nun wirklich bemüht, den Be- Meine Kolleginnen und Kollegen, ich habe, verbun- richt so zu fassen, daß alle Fakten drinstehen. Aber ich den mit der Vorlage dieses vertraulichen Berichts, der habe mich auch an Recht und Gesetz zu halten Frau Präsidentin des Hohen Hauses und dem Vorsit- (Zuruf von der SPD: Muß man auch! — Peter zenden des Wirtschaftsausschusses die Gründe, die zu Kittelmann [CDU/CSU]: Wir bitten darum!) der Vertraulichkeit geführt haben, schriftlich erläutert und dabei die Frage aufgeworfen, ob neben dem ver- —ja, ich habe wirklich vor, es weiterhin so zu machen traulichen Bericht noch ein — dann notwendiger- —und diejenigen, die als derzeit den Ermittlungsver weise mehr kursorischer — Bericht als öffentlicher Be fahren Gegenüberstehende zu schützen sind, so zu Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1361

Bundesminister Jürgen W. Möllemann behandeln, wie das in allen anderen Fällen vergleich- Debatte hier im Hause über die Frage der künftigen barer Art auch geschieht. Handhabung des Themas Rüstungsexporte kom- men. Aus der Diskussion entnehme ich allerdings, daß (Beifall bei der FDP) sich das Interesse vieler Abgeordneter nach öffentli- cher Behandlung vor allem auf die Genehmigungs- Ich glaube, daß es klug wäre, wenn wir diese ehrlich politik bei Exporten bezieht, gar nicht auf die illega- und seriös führen und versuchen, zu gemeinsamen len, sondern auf die Genehmigungspolitik. Kriterien für die künftige Genehmigungspolitik zu (Zuruf von der SPD) kommen. Ich hoffe auch sehr, daß der Bundesrat die rechtlichen Instrumentarien zur Bekämpfung illegaler —Gut, aber eben auch auf die Genehmigungspolitik. Exporte morgen verabschieden wird. Es wäre schade, Das ist zwar nicht Teil des Beschlusses des Bundesta- wenn es nicht so wäre. ges — der hatte nämlich nur die illegalen Exporte angesprochen — , aber ich bin ebenso bereit, auch Ich möchte hier allerdings aus gegebenem Anlaß, dazu zu informieren, und zwar öffentlich. Das kann nicht weil ich ganz angenehm darüber berührt war, sehr rasch geschehen, daß meine üblicherweise stark ausgeprägte Zurück- haltung gegenüber der Presse hier hinreichend ge- (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Da gibt es würdigt wurde — das war wirklich liebenswürdig —, nichts Neues!) zu zwei Punkten noch etwas sagen. weil der entsprechende Teil der vertraulichen Be- richte mit nur wenigen Änderungen dazu verwandt Die Beschlüsse des Bundessicherheitsrates in der werden kann. Bitte, das kann also auch so veröffent- Amtszeit meines Amtsvorgängers Graf Lambsdorff, licht werden. die vorhin angesprochen worden sind, Frau Kollegin, sind, wie ich nachgelesen habe, nie Mehrheitsbe- Ich möchte allerdings im Hinblick auf weitere Dis- schlüsse gewesen. kussionen hinzufügen, daß dann natürlich die Bericht- erstattung nicht erst mit den Vorgängen ab 1982 be- (Norbert Gansel [SPD]: Bundessicherheits ginnen kann. Das werden Sie verstehen. So waren rat?) z. B. die Grundsätze, nach denen französisch-deut- — Bei den genehmigten Exporten von Gütern nach sche Rüstungsprodukte aus Frankreich nach Irak ex- - portiert werden konnten, bekanntlich schon unter der den Listen, die ich hier vorgetragen habe. SPD/FDP-Regierung beschlossen worden. (Norbert Gansel [SPD]: Aber doch nicht im (Norbert Gansel [SPD]: Sagten Sie FDP?) Bundessicherheitsrat!) —SPD/FDP! Ja, ich distanziere mich im Gegensatz zu — Selbstverständlich wird das auch dort besprochen. anderen ja nicht von dem, was ich mitgetragen Sie sind auf die Zustimmung sowohl des damaligen habe. Justizministers Jochen Vogel wie des Wirtschaftsmi- (Norbert Gansel [SPD]: Sie waren auch im- nisters Graf Lambsdorff gestoßen. mer dafür!) (Norbert Gansel [SPD]: Welche?) — Ja, das ist wahr. Aber ich vermute mal, daß das, was die FDP-Bundesminister im Kabinett beschlossen ha- Also, es ist wichtig, daß man sich darüber im klaren ist. ben, nicht auf den unmittelbaren Widerspruch der Es handelt sich um die Genehmigungen von Rü- stungsexporten und von Gütern nach der entspre- SPD-Mitglieder gestoßen ist. chenden Liste aus der Zeit dieser beiden Minister. (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Nein, sogar auf Zustimmung!) (Norbert Gansel [SPD]: In den Irak?) Jedenfalls gab es, soweit ich mich entsinne, im Sicher- —Ich wiederhole: Es geht um alle Rüstungsexportge- heitsrat auch immer einige wenige SPD-Mitglieder. nehmigungen, die der Bundessicherheitsrat in der Die müssen da wohl mitgestimmt haben. Amtszeit des Bundeswirtschaftsministers Graf Lambs- (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Ja!) dorff und in der Amtszeit des Justizministers Jochen Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Kollege Gansel, distan- Vogel getroffen hat, und zwar mit Zustimmung von beiden gemeinsam. ziere ich mich davon im nachhinein nicht. Das bringt nämlich nichts. Die Verantwortung hatten in der da- (Norbert Gansel [SPD]: Der Justizminister ist maligen Koalition beide gemeinsam. doch gar nicht im Bundessicherheitsrat!) (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Aber es — Aber sicher! macht sich gut in der Öffentlichkeit!) Ich will hier heute noch einmal feststellen, daß die (Norbert Gansel [SPD]: Der Justizminister?) Bundesregierung den Export von Kriegswaffen aus Die zweite Bemerkung, die ich hier machen will, der Bundesrepublik nach Irak nie zugelassen hat und Herr Kollege Gansel: Sie, Frau Kollegin, haben auf die daß sie aus dem Umstand von Genehmigungen im Scud-Raketen, die in Israel eingeschlagen sind, abge- Bereich sonstiger Rüstungsgüter auch keinerlei Ge- hoben. Ich weiß, daß wir hier eine leidenschaftliche heimnis gemacht hat. Debatte über dieses Thema hatten. Aber ich lege Wert Zwei Schlußbemerkungen. Mir geht es ebenso wie darauf, daß ein Bericht der israelischen Regierung einigen Kolleginnen und Kollegen, die hier gespro- und ihres Geheimdienstes vorliegt, in dem diese be- chen haben, darum, daß wir möglichst schnell zu einer stätigen, daß die Reichweite der dort eingeschlage- 1362 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Bundesminister Jürgen W. Möllemann nen Raketen nach ihrem Kenntnisstand nicht mit Hilfe geleitet worden sind und die Ermittlungstätigkeit deutscher Techniker verlängert worden ist. noch am Beginn steht. (Norbert Gansel [SPD]: Aus dem Bericht er- Der zweite Grund ist der, daß es um den Schutz von gibt sich etwas anderes!) Individualinteressen geht. Eine ganze Reihe von Er- — Nein, Herr Kollege Gansel, mittlungsverfahren wird sicherlich — es gehört keine Prophetengabe dazu, das vorherzusagen — aus den (Norbert Gansel [SPD]: Doch!) verschiedensten Gründen mit einer Einstellung en- ich lege Wert auf diese Feststellung. den. Eine solche Einstellung nutzt aber dem Betroffe- Wir sollten hier mit aller Deutlichkeit gemeinsam nen wenig, wenn er vorher der Öffentlichkeit als Be- gegen illegale Rüstungsexporte vorgehen. Wir haben schuldigter präsentiert worden ist. In der veröffent- das Instrumentarium dazu verschärft. Aber wir sollten lichten Meinung und auch in der politischen Ausein- uns auch gegen Kritik verwahren — das ist nachhaltig andersetzung gilt weithin der Verdacht alles, und der geschehen — , die aus Interessen, die man unter- Beweis — man könnte auch sagen: die Wahrheit — schiedlich definieren kann, in den vergangenen Wo- gilt nichts. Mit nichts lassen sich zur Zeit ein Unter- chen und Monaten in unzulässiger Weise und zum nehmen und ein Unternehmer leichter in einen welt- Teil aus Pressequellen von Ländern, die selber ganz weiten Mißkredit bringen als durch den Verdacht, an unverhohlen und offensiv Rüstungsgüter etwa an den Geschäften des Todes beteiligt zu sein. Die Einleitung Irak geliefert haben, geäußert worden ist. von Ermittlungsverfahren wird breit dargestellt, die Einstellung von Ermittlungsverfahren wird der Öf- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der fentlichkeit meist vorenthalten. CDU/CSU) Nicht jeder Manager findet einen Gerhard Mauz, Es ging mir darum, dies an dieser Stelle hier klarzu- der in einem Nachrichtenmagazin ausführlich dar- stellen. Darauf lege ich Wert. stellt, daß ein Ermittlungsverfahren, das immerhin zu Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. einer wochenlangen Untersuchungshaft geführt hat, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) eingestellt worden ist, weil überhaupt nichts dran war. - (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Vizepräsident Helmuth Becker: Das Wort hat jetzt unser Kollege Horst Eylmann. Ich nehme Bezug auf den Artikel im letzten „Spiegel", in dem dargestellt wurde, wie der Manager Dr. Wöp- kemeier Opfer einer böswilligen Denunziation gewor- den ist. Horst Eylmann (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Der Bericht, um den es hier Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Konvention der geht, gliedert sich in zwei Abschnitte. Es geht einmal Menschenrechte besagt, daß jemand so lange als un- um die legalen Exporte und zum anderen um die ille- schuldig gilt, wie seine Schuld nicht rechtskräftig fest- galen Exporte. Beide Abschnitte sind nach meiner gestellt wurde. Ich glaube, gegen keine Vorschrift der Auffassung, wenn es um die Frage der Offenlegung Europäischen Konvention der Menschenrechte wird geht, unterschiedlich zu behandeln. so häufig verstoßen wie gegen diese. (Hermann Bachmaier [SPD]: Beide sind die (Beifall des Abg. Otto Schily [SPD]) unterschiedlichen Seiten derselben Me- daille!) — Ich bitte, den Beifall von Herrn Schily festzuhal- ten. Ich bedauere, Herr Kollege Bachmaier, daß Sie das hier nicht dargelegt haben, obwohl Sie es eigentlich (Otto Schily [SPD]: Wenn Sie etwas Richtiges wissen müßten und wohl auch wissen. sagen, Herr Eylmann, dann sollen Sie auch Beifall erhalten!) Lassen Sie mich zunächst etwas zu den illegalen Exporten sagen. Notwendigerweise wird in dem Be- Ich komme jetzt zum zweiten Abschnitt, nämlich zu richt, wenn er detailliert sein soll — und er ist detail- den legalen Exporten. Da bin ich allerdings der Auf- liert — , über einzelne Ermittlungsverfahren berich- fassung, daß es der hoffentlich gemeinsamen Sache tet. dient, wenn über diese legalen Exporte möglichst um- (Hermann Bachmaier [SPD]: Haben Sie ihn fassend, auch über einen möglichst großen Zeitraum gelesen?) rückwärts, öffentlich berichtet wird. Es werden die Namen einer ganzen Reihe von Firmen (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Sehr weit genannt; es werden die Namen von Angestellten ge- rückwärts!) nannt. Es geht zum Teil um Ermittlungsverfahren, die Wir haben heute schon wieder so vollmundige Be- jüngeren Datums sind. Es müßte eigentlich jedermann hauptungen wie die gehört, die Fülle der legalen Ex- einsichtig sein, daß diese Verdachtsmomente, die im porte sei erdrückend, und der Bericht belege das mit Augenblick bestehen — es handelt sich ja nur um kaum zu überbietender Deutlichkeit. Ermittlungsverfahren — , nicht offengelegt werden können, und zwar aus zwei Gründen. (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Unter der Re gierung Schmidt hat das gestimmt!) Der erste Grund ist der, daß damit der Ermittlungs- erfolg gefährdet würde, und das wollen Sie doch wohl Man ist natürlich gehindert, jetzt im Detail etwas selber nicht. Das betrifft insbesondere die Fälle, in dagegen zu sagen, weil der Bericht geheim ist. Ge- denen erst vor ganz kurzer Zeit die Ermittlungen ein- rade weil ich gern alles das, was Sie, Herr Bachmaier, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1363

Horst Eylmann hier so vollmundig vorgetragen haben, im einzelnen Die Politik der Bundesregierung hat in den letzten widerlegen möchte, trete ich dafür ein, daß dieser Teil Wochen einen großen Wirbel um eine Gesetzgebung des Berichts, möglichst bald noch erweitert, offenge- — im übrigen eine völlig ungenügende Gesetzge- legt wird, damit dieser Wust an Verdächtigungen, an bung — gegen illegale Waffenexporte gemacht. Das Mutmaßungen, an Übertreibungen, eigentliche Kernproblem sind aber nicht die illegalen (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Und an Waffenexporte, sondern ist die Prüfungs- und Geneh- Scheinheiligkeit!) migungspraxis des Bundesamts für Wirtschaft, die einer höchst kritischen Prüfung zu unterwerfen sein die wir in diesem Bereich in den letzten Monaten wird. Es kann doch nicht angehen, daß jedesmal, erlebt haben, durchleuchtet wird und wir zu den Fak- wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist, ten zurückkehren. Exportvorschriften hastig geändert werden, nur um (Zustimmung des Abg. Peter Kittelmann noch größeren außenpolitischen Schaden zu verhin- [CDU/CSU]) dern. Ich glaube, das ist auch der beste Weg, um in der Hier trifft die Kritik vor allen Dingen die politisch Zukunft zu einer vernünftigen Lösung zu kommen. Verantwortlichen. Ich zitiere den Präsidenten des In dem amerikanischen Magazin „Newsweek" be- Bundesamts für Wirtschaft: faßt sich die letzte Titelgeschichte unter der Über- schrift „Arms for sale" mit den zukünftigen Waffenex- Schon der Name Exportkontrolle führt in die Irre portgeschäften — natürlich nicht nur der Bundesrepu- und zu falschen Erwartungen. In Wirklichkeit be- blik, sondern vor allen Dingen der anderen Staaten — , steht unsere Arbeit im Kern nur da rin, Anträge in und es wird die rhetorische Frage gestellt: After the angemessener Zeit ordentlich und richtig zu be- war — business as usual? arbeiten. Ich kann nur sagen: Wir wollen nicht „business as Die kritischen Fälle, so Dr. Rummer in einem Inter- usual" machen; wir wollen sehr kritisch prüfen, in view, werden nach Bonn zur Beurteilung geschickt welchem Umfang wir in Zukunft noch Waffenexporte und entschieden, wenn der Vorgang von dort zurück- legalisieren wollen. kommt. Die Verantwortung für die bisherige Export- und Genehmigungspraxis liegt also eindeutig bei der (Beifall bei der CDU/CSU — Günter Verheu- -Politik. gen [SPD]: Sie sind der Fachmann darin, wie (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Aha!) man das verhindert! Ich gebe Ihnen ein Beispiel dafür. Da erhält eine Firma im Dezember 1988 2,4 Millionen DM Hermes Vizepräsident Helmuth Becker: Die nächste Redne- Bürgschaft zur Produktion von 35 Hochdruckluftspei- rin ist unsere Kollegin Uta Zapf. chersystemen, die für den Irak bestimmt sind. Abneh- mer ist die Al Aqua State Establishment. Die Begrün- dung für die Hermes-Bürgschaft: Zum damaligen Uta Zapf (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Zeitpunkt, also im Dezember 1988, sei nicht erkenn- Herren! Nirgendwo in der Bundesrepublik gibt es ein bar gewesen, daß es sich um ein militärisch relevantes wirtschaftliches Thema, das mit mehr Heuchelei, Geschäft handle, weil — man merke auf! — in den Feigheit und Opportunismus durchsetzt ist als das des Antragsunterlagen der Hinweis auf eine Zulieferung Waffenexports. Die Politik ist daran massiv beteiligt. zu militärischen Projekten gefehlt habe. (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Dann bekommt offensichtlich jemand kalte Füße, GRÜNE — Peter Kittelmann [CDU/CSU]: und es wird — nach Vergabe der Hermes-Bürg- Das stimmt! Aber wer sind die Heuchler?) schaft — das Bundesamt für Wirtschaft zur Prüfung — Ich zitiere hier Edzard Reuter. der Genehmigungspflicht dieses Projekts eingeschal- tet. Das Amt kommt im Oktober 1990, also zwei Jahre (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Mag ja später, zu dem Ergebnis, daß bestimmte Teile beson- sein!) ders konstruierte Bestandteile von Raketen seien. Ein Die Wahrheit dieses Ausspruchs hat sich für mich an Antrag auf Genehmigung war nicht gestellt worden. Hand der Lektüre des Berichts erwiesen. Mir ist jetzt Die Teile waren schon ausgeführt. klar, warum die Bundesregierung diesen Bericht so geheimhalten wollte, daß er am besten überhaupt Eineinhalb Jahre lang wurde nichts gegen diese nicht an die Öffentlichkeit gelangt. Dieser Bericht hat Ausfuhren unternommen, obwohl schon Ende Juli mehr Fragen aufgeworfen, als er beantwortet. Ich 1989 Hinweise auf Teilnahme der Firma an irakischen denke, die Bundesregierung wird diese Antworten Raketenprogrammen vorlagen und eine Außenwirt- noch geben müssen. schaftsprüfung Ende November 1989 eine Beteiligung der Firma am irakischen Scud-Programm ergeben Eine der Fragen, die an die Bundesregierung zu hatte. stellen sind, ist die Frage, wie sie in Zukunft mit den (Norbert Gansel [SPD]: Hört! Hört!) ganz legalen, wenn auch indirekten Exporten umzu- gehen gedenkt. Milan, Hot und Roland wurden mas- Aber es wurden ja nicht nur Rüstungs- und Dual- senweise über Frankreich an den Irak geliefert. So use-Güter in den Irak exportiert, sondern im Zusam- können wir doch nicht behaupten, daß wir dadurch menhang mit dem Rüstungsgeschäft wurde auch die nicht involviert sind. Auch wir sind Lieferanten. Es ist Ausbildung von Irakern vermittelt. Der Bericht ver- höchste Zeit, daß wir endlich eine Endverbleibsklau- schweigt, daß die Bundeswehr selber Ausbildungs- sel in Kooperationsverträge einführen. programme für irakische Offiziere bis in jüngste Zeit 1364 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Uta Zapf durchgeführt hat, nämlich von 1985 bis 1990. Bisher licherweise vorverurteilt zu werden, gerade Sie als hat die Bundesregierung sukzessive zugegeben, daß diejenigen, die mit ihrem unablässigen Lamento die es sich um sieben Iraker handelte. Mir liegen Beweise Arbeit der Ermittlungsbehörden durch Verunsiche- und Unterlagen vor, daß es 25 irakische Luftwaffen- rung erschweren, gerade Sie fordern jetzt eine Offen- offiziere waren, die an der Bundeswehruniversität legung von laufenden Ermittlungen, von Zwischen- und der Technischen Hochschule München studiert, ergebnissen, eine Veröffentlichung von Erkenntnis- ein Praktikum bei der Firma Dornier absolviert und sen oder vermeintlichen Erkenntnissen aus laufenden ihre Studienvorbereitung bei den Carl-Duisberg-Zen- Verfahren. tren und beim Studienkolleg der Hochschulen des (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Aber Dialek Freistaats Bayern erhalten haben. tik haben sie gelernt!)

Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin Zapf, Sie tun dies, obwohl Sie genau wissen oder jedenfalls Ihre Redezeit ist abgelaufen. wissen sollten, daß noch nicht einmal der spätere Un- (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: In doppelter schuldsbeweis ausreichen würde, den Makel, der den Hinsicht, Frau Kollegin!) Betroffenen allein deshalb anhaftet, weil sie mit einem Ermittlungsverfahren überzogen wurden, wieder zu beseitigen. Uta Zapf (SPD): Ich denke, dies ist eine Reihe von Fragen, die näher beleuchtet werden müssen und zu Meine Damen und Herren vom Bündnis 90/GRÜNE denen die Bundesregierung unbedingt noch mehr und von der SPD — hier muß ich jetzt leider auf Grund Antworten geben muß, als sie in diesem Bericht vor- des Beitrages von Herrn Bachmaier auch die SPD ein- gebracht hat. beziehen —, (Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/ (Zuruf von der SPD) GRÜNE und der PDS/Linke Liste) das Ziel, das Sie verfolgen, nämlich, Informationen aus laufenden Verfahren in die Öffentlichkeit zu zie- Vizepräsident Helmuth Becker: Das Wort hat unser hen, beweist, daß Sie offensichtlich Ihre Moral und die Kollege Ernst Hinsken. daran geknüpften hehren Ansprüche in erster Linie - an dem ausrichten, was Ihnen in Ihren ideologischen Ernst Hinsken (CDU/CSU): Hört! Hört! Meine lie- Kram paßt. ben Kolleginnen und Kollegen! Meine Vorrednerin (Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der hat von Heuchelei gesprochen. Ich frage mich, wo SPD) denn hier die größten Heuchler sitzen. (Bernd Reuter [SPD]: Hier nicht!) Wir werden das nicht mitmachen. Ich möchte in dem Kurzbeitrag eine Antwort darauf (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) geben. Ich plädiere deshalb dafür, daß zum Schutz Unschul- Der Bericht des Ministers Möllemann, der als ge- diger vorerst die weitere Geheimhaltung des Berichts heim eingestuft wurde, ist überwiegend eine Aufar- aufrechterhalten wird. beitung dessen, was uns veranlaßt hat, die gesetzli- chen Vorschriften zur Exportkontrolle zu verschär- Meine Damen und Herren, es ist unbestritten: Ei- fen. Bei den angestellten und immer noch anzustel- nige skrupellose, profitgierige Geschäftemacher ha- lenden Untersuchungen ging es und wird es darum ben unter Verstoß gegen bestehende Gesetze, hinter gehen, denjenigen das Handwerk zu legen, die ohne dem Rücken der verantwortlichen Behörden in ver- Scham und Moral in verbrecherischer Weise gehan- brecherischer Weise und ohne Rücksicht auf Verluste delt haben. Dabei ist es eine Selbstverständlichkeit, dem Ansehen von 99,9 Prozent der deutschen Indu- daß die Staatsanwaltschaft jedem Hinweis nachgeht strie, dem Ansehen der fleißigen, verantwortungsbe- und jede Möglichkeit in Erwägung zieht, auch wenn wußten und ehrenhaften Unternehmer geschadet. sich später herausstellt, daß mancher Verdacht völlig Hier war es nun erforderlich, Maßnahmen zu ergrei- unbegründet war. fen, die wirksam, gleichzeitig aber so differenziert Wie bei Ermittlungen im Bereich der Alltagskrimi- sind, daß man damit nicht über das Ziel hinausschießt. nalität, muß jedoch sichergestellt sein, daß niemand Wir haben deshalb eine Verschärfung der Exportkon- vorsätzlich oder fahrlässig zu Schaden kommt, gegen trollen vorgenommen, die nichts zu wünschen übrig den zwar ermittelt wird, bei dem sich die Ermittlungen läßt und zu der Hoffnung berechtigt, aber hinterher als haltlos herausstellen. Der Schaden, der den Unternehmen, die unbegründet in Verdacht (Norbert Gansel [SPD]: Das haben Sie schon geraten sind, zugefügt werden kann, ist bei vorzeiti- vor fünf Jahren behauptet!) ger Veröffentlichung nicht zu verantworten und nicht daß sich das, was in der Vergangenheit geschehen ist, zu vertreten. nicht wiederholt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, jetzt pas- Ich verschweige nicht, daß ich mir selbst für den siert plötzlich etwas völlig Merkwürdiges: Gerade Sie Bereich der Aufklärung im Vorfeld eine stärkere Ein- vom Bündnis 90/GRÜNE als diejenigen, die nicht bindung des Verfassungsschutzes gewünscht hätte. müde werden, über Datenschutz, Persönlichkeits- rechte des einzelnen zu reden und vor unbegründeten Herr Minister Möllemann, ich habe Ihren Bericht Verdächtigungen zu warnen, gerade Sie als diejeni- aufmerksam gelesen. Wenn ich es richtig verstehe, gen, die uns tagein, tagaus erzählen, wie schlimm es hat der Irak sein Beschaffungsnetz geheimdienstlich sei, in die Mühlen der Bürokratie zu geraten und mög organisiert. Liegt es denn dann nicht nahe, solchen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ril 1991 1365

Ernst Hinsken geheimdienstlichen Aktionen mit denselben Mitteln Auf dem Höhepunkt des Krieges wurde in der Bun- auch von unserer Seite aus entgegenzutreten? desrepublik der Ruf nach einer noch restriktiveren Mir ist es deshalb bis zum heutigen Tage unver- Handhabung und weiteren Verschärfung der Gesetze ständlich geblieben, warum z. B. unser Koalitionspart- zur Einschränkung der Rüstungsexporte laut, un- ner, die FDP, eine stärkere Einbeziehung des Verfas- überhörbar und von allen Parteien aufgegriffen. Der sungsschutzes verhindert hat. neue Wirtschaftsminister hat sich dieses Themas presse- und publikumswirksam bemächtigt und sich Trotzdem meine ich, daß der Bundestag der drin- an die Spitze der Bewegung gesetzt, mit dem sicheren genden Reaktion wegen und um eine Beschleunigung Gespür für effektvolle Auftritte. Dies muß man ihm der Angelegenheit herbeizuführen, richtig gehandelt neidlos konzedieren. Auch wenn er das Thema von hat, den Gesetzentwurf in der vorliegenden Form der SPD nur abgekupfert hat. mehrheitlich zu billigen. Aber wundern muß ich mich schon darüber, daß verschiedene Parteien in diesem (Widerspruch bei der CDU/CSU) Hause gegen dieses Mittel der Verbrechensbekämp- fung Bedenken angemeldet haben. Hier wird es — so — Das ist so. glaube ich — langsam Zeit, daß wir endlich einmal Nach Vorlage des Berichts über Rüstungsexporte unser grundsätzliches Verhältnis zu demokratisch in den Irak muß allerdings die Frage gestellt werden, kontrollierten Organen in unserem demokratischen ob nicht zwischenzeitlich wieder jene Mentalität im Rechtsstaat überprüfen. Kopf der Regierungskoalition eingekehrt ist, die der Abgeordnete Hauser am 17. Oktober 1985 im Zusam- Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Abgeordneter, menhang mit dem Bau einer Munitionsfabrik durch Ihre Redezeit ist leider abgelaufen. deutsche Firmen in Saudi-Arabien überdeutlich zum Ausdruck gebracht hat. Ich zitiere: Ernst Hinsken (CDU/CSU): Letzter Satz! Diese Entscheidung ist geprägt von hoher Emp- Insgesamt aber wird mit dem Gesetz eine deutliche findsamkeit für das Spannungsverhältnis zwi- Abschreckungswirkung erzielt werden, die es eigent- schen außen- und sicherheitspolitischer Interes- lich ermöglichen sollte, weitere Verbrechen und eine senlage und wirtschaftspolitischer Vernunft. weitere Rufschädigung der deutschen Wirtschaft zu (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Wann war verhindern. das?) Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. — 1985; ich komme darauf zurück. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) In seinem Brief an den Ausschußvorsitzenden hat der Herr Bundesminister Herrn Ost mitgeteilt, daß für Vizepräsident Helmuth Becker: Der nächste Redner alle, die diesen B rief erhalten, eine besondere Ver- ist unser Kollege Ernst Schwanhold. pflichtung zur Vertraulichkeit gegeben sei. Ansonsten drohe Gefahr für laufende Ermittlungen wie für den Ernst Schwanhold (SPD): Herr Präsident! Meine Ruf von Firmen, die zu Unrecht in Verdacht geraten sehr verehrten Damen und Herren! Es ist erst wenige seien. Wochen her, daß der Krieg am Golf beendet ist. Als Ich füge hinzu: Diese Vertraulichkeit kann auch Folge dieses Krieges führt noch heute der irakische bewirken, daß die Firmen, die angeklagt sind oder Diktator Saddam Hussein einen Krieg gegen das kur- den Vorwürfen nicht widersprechen, nicht an den öf- dische Volk. fentlichen Pranger gestellt werden sollen. Die Ver- Beide Kriege — dies ist sicherlich uneingeschränkt traulichkeit zum Schutz der Firmen muß auch mit den unsere Meinung im ganzen Hause — sind auch des- Toten des Krieges konfrontiert werden. Ein solches halb möglich geworden, weil Waffenproduzenten und Verhalten ist gegenüber den Opfern in hohem Maße Waffenhändler ihre todbringenden Produkte teil- zynisch. weise legal, mit Billigung der Bundesregierung, und teilweise illegal gewissenlosen Despoten zur Verfü- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ gung gestellt haben. GRÜNE) Übrigens, bei jedem Krieg, der in der Welt geführt Der Bericht kann so aufbereitet werden, daß Metho- wird, haben wir uns zu fragen, ob nicht deutsche Waf- den und Verfahren der illegalen Praxis und der Grad fen daran beteiligt sind und zur Vernichtung von der Beteiligung der Firmen erkennbar ist. Es gibt für Menschen eingesetzt werden. Dies ist die Folge der jene Kreise der Wirtschaft die mit hoher krimineller Rüstungsexporte aus der Bundesrepublik. Energie versuchen, alle Exporteinschränkungen zu Zur Entlastung können auch nicht die von Ihnen, umgehen, keine schlimmere Strafandrohung, als sie von der CDU/CSU und der FDP, immer wieder ange- der massiven öffentlichen Kritik auszusetzen und sie führten Hinweise dienen, daß sich andere Staaten in nach erwiesener Tat auch hinter Gitter zu stecken. immer größerem Maße an Waffenexporten beteiligen. Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, zu erfahren, Wir haben hier über unseren Teil der Verantwortung wer im politischen Bereich Verantwortung für geneh- zu sprechen, wie wir mit unserer Verantwortung in migte Waffenexporte und wer im wirtschaftlichen Be- Zukunft umgehen wollen und wie wir dieser gerecht reich für illegale Waffenexporte Verantwortung ge- werden. tragen hat. Der Bericht ist zudem eine Auflistung von (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Fahrlässigkeiten und Gleichgültigkeiten im Bundes- GRÜNE) amt für Wirtschaft. 1366 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ril 1991

Ernst Schwanhold Um dauerhaft den Einsatz deutscher Waffen in Krie- Land, der Präsident nicht Zeit einrügen wird, sondern gen auszuschließen, bedarf es einer lückenlosen Auf- ich vielleicht sogar Zeit einbringen kann. Ich möchte klärung aller legalen und illegalen Rüstungsexporte nämlich im Rahmen dieser Aktuellen Stunde nur ei- der Vergangenheit. Dabei darf nicht die Verschlei- nige allgemeine, vielleicht sogar grundsätzliche Fra- erung und der Schutz der politisch Verantwortlichen gen, zur Rüstungsexportpolitik ansprechen, insbe- der Vergangenheit im Vordergrund stehen. Dies gilt sondere in bezug auf die außenpolitische Umrah- für die Zeit der sozialdemokratischen Regierungsbe- mung. teiligung ebenso wie für die CDU/CSU-FDP-Bundes- Ich glaube, daß die Sensibilität nicht nur bei uns, regierungen. sondern auch bei den anderen wichtigen Industrielän- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) dern und dort gerade bei den politisch Verantwortli- — Natürlich. chen größer geworden ist. Nicht nur die vorgesehene Herr Möllemann wird im „Spiegel" folgenderma- Verschärfung des Kriegswaffenkontrollgesetzes bei ßen zitiert: „Da sehen einige Wirtschaftsminister nicht uns, sondern auch die politische Diskussion dazu gut aus. " Möllemann macht das Instrument des Be- macht deutlich: Wir müssen zu einer drastischen Än- richtes über die Rüstungsexporte in den Irak zu einem derung in der Rüstungsexportpolitik kommen. Dies Spielball der innenpolitischen Auseinandersetzung. kann allerdings nur funktionieren, wenn die großen Da hat er recht; denn Graf Lambsdorff, Haussmann Industrieländer gleichsam an einem Strang ziehen. und Bangemann sind in der Vergangenheit die ei- Ich könnte mir z. B. vorstellen, dies mit dem KSZE- gentlichen Verantwortlichen und Beteiligten. Prozeß einzuführen, weil hier neben den europäi- Wir kommen aus einer Situation, uns immer wieder schen Ländern eben auch die USA und die UdSSR mit legalen und illegalen Rüstungsexporten zu be- Teilnehmer sind. schäftigen, nur dann heraus, wenn wir möglichst Wenn man sich einmal auch in dieser Debatte ver- kurzfristig eine Politik suchen, die Rüstungsexporte gegenwärtigt, daß über 90 % der Waffen, die vom Dik- außerhalb des Bündnisses unmöglich machen. Dies ist tator im Irak im Krieg eingesetzt worden sind, aus den angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung der Rü- Ländern stammen, die im Weltsicherheitsrat der Ver- stungsindustrie und der Exporte auch durchaus zu einten Nationen ein Vetorecht haben, wird der ganze erreichen. 1990 machten die Rüstungsexporte nur Anachronismus deutlich. 0,3 % unseres Außenhandels aus. Wichtig ist, den- (Beifall bei der CDU/CSU) politischen Willen dafür freizusetzen. Diesen Ein- druck habe ich zur Zeit noch nicht. Das Thema Waffenexport ist ein sehr komplexes Thema. Deshalb können wir heute auch nicht alle Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege bohrenden Fragen beantworten. So entsteht z. B. Schwanhold, Ihre Redezeit ist abgelaufen. beim Stichwort Rüstungsexport nur in NATO-Länder das Problem, daß Drittweltländer wie z. B. Indien dis- Ernst Schwanhold (SPD): Ich möchte gern, wenn es kriminiert werden können, obwohl sie sich mit ihrer geht, noch einen Satz dazu sagen. Rüstungsimportpolitik in ihrer Vergangenheit verant- (Zurufe von der CDU/CSU: Nein! — Aber wortungsbewußt verhalten haben. wirklich nur einen Satz!) Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, ermuntern Alle Versuche, durch Vernebelung, Verschleierung die Bundesregierung, in den Mitgliedschaften der Eu- und nicht lückenlose Aufklärung müssen deshalb ver- ropäischen Gemeinschaft, der WEU, der NATO, der hindert werden. KSZE und auch in der UNO weiter alle Möglichkeiten (Zurufe von der CDU/CSU: Das war ein zu nutzen, um gemeinsam mit diesen Partnern zu Punkt!) auch für die Empfängerländer tragbaren Lösungen zu Zu dieser Art des Vorgehens, nämlich des Verschlei- kommen. Die Erfahrungen aus dem Golfkrieg verlan- erns, sagt der Prediger Salomon — — gen dies von uns. Ich möchte mit zwei Anmerkungen abschließen, die Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege mich auch persönlich sehr bewegen. Schwanhold, wir können das nicht machen. Die Rede- zeit ist abgelaufen. Bitte! Erstens. Illegale Rüstungsgeschäfte schaden nicht nur unserem Ansehen schwer, sondern sie schaden Ernst Schwanhold (SPD): Herr Präsident, nun las- besonders unserer Wirtschaft. sen Sie mich doch bitte den Herrn Salomon zitieren: (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) „Es ist besser, du gelobst nicht, denn du hälst nicht, Rü- was du gelobst." Ich sage das, weil ich mir beim Thema legaler stungsexport manchmal ein sensibleres Mitdenken (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ der Wirtschaft wünsche. Ich weiß z. B. um das Bemü- CSU: Analyse der SPD!) hen der Repräsentanten der deutschen Industrie. Aber die Verwerfungen, die hier aufgezeigt worden Vizepräsident Helmuth Becker: Nächster Redner ist und in der Vergangenheit auch aufgetreten sind, zei- unser Kollege Reinhard Freiherr von Schorlemer. gen: Handlungsbedarf besteht weiter. Reinhard Freiherr von Schorlemer (CDU/CSU) : Zweitens. Nach dem Wegfall des Ost-West-Kon- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und flikts haben wir die große Chance, beim Rüstungs- Herren! Ich hoffe, verehrter Kollege aus der Stadt export besser zu gemeinsamen Einschränkungen zu Osnabrück, daß am Ende meiner Rede, nämlich der kommen. Außenpolitik hat meines Erachtens auch Rede des Abgeordneten des Wahlkreises Osnabrück eine ethische Seite. Die Industrieländer sind beim Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1367

Reinhard Freiherr von Schorlemer Thema Waffenexport gefordert, dies deutlicher und samt mit einer Politik zuerst der Verharmlosung — zu- klarer zu machen. erst wurde immer erklärt, und zwar auf vielerlei An- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fragen hier im Bundestag: Da gibt es nichts —, dann der Vertuschung und dann der Verschleierung, an der sich nicht nur Regierungsmitglieder, sondern leider Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und auch Mitglieder der Regierungsfraktionen, z. B. im Herren, wir haben in der Aktuellen Stunde noch zwei U-Boot-Untersuchungsausschuß, sehr nachhaltig be- Wortmeldungen. Nächster Redner ist unser Kollege teiligt haben, zu tun haben. Deshalb müssen Sie schon Günter Verheugen. verstehen, daß bei dieser Geheimhaltung ein gesun- des Mißtrauen angebracht ist. Günter Verheugen (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist das Der Herr Bundeswirtschaftsministers hat soeben erste Mal, daß ich über den Gegenstand einer Debatte versucht, uns im Zusammenhang mit der hier ange- reden muß, den ich nicht kenne. Ich habe diesen Be- deuteten Möglichkeit der Einsetzung eines Unter- richt des Wirtschaftsministers als Mitglied des Aus- suchungsausschusses einzuschüchtern, Druck auszu- wärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, üben, indem er sagte: Dann kommt aber auch anderes der vielleicht doch etwas mit unseren auswärtigen auf den Tisch. — Meine Damen und Herren, ich habe Beziehungen und unserer Außenpolitik zu tun hat, überhaupt keine Bedenken, daß da auch anderes auf bisher nicht zur Kenntnis bekommen. den Tisch kommt. Wir bekennen uns doch zu der gemeinsamen Verantwortung in der gemeinsamen (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Warum haben Regierungszeit, aber wir sagen auch: Damals sind Sie ihn nicht eingesehen?) Entscheidungen gefallen, aus denen wir etwas gelernt — Das darf ich nicht. Meine Fraktion ist in solchen haben, und ich frage mich, weshalb bei Ihnen dieser Dingen sehr streng. Diese Möglichkeit besteht nur für Lernprozeß noch nicht eingesetzt hat, Mitglieder des Wirtschaftsausschusses. (Beifall bei der SPD) Ich bin sehr dankbar, daß der Herr Bundeswirt- schaftsminister angeboten hat, daß alle Mitglieder des daß Dinge, die wir Anfang der 70er Jahre gemeinsam Bundestages diesen Bericht bekommen können. Aber vielleicht noch für richtig gehalten haben, unter den ich möchte sehr darum bitten, daß es nicht dabei Erkenntnissen, die wir heute haben, eben nicht mehr bleibt, daß die Mitglieder des Bundestages unterrich- richtig sind. Politik besteht doch nicht darin, daß man tet werden. Es geht hier in der Tat vielmehr darum, stur bei dem bleibt, was man einmal für richtig gehal- daß eine öffentliche Aufarbeitung eines der trübselig- ten hat, sondern man muß sich doch wirklich weiter- sten Kapitel der deutschen Wirtschaftsgeschichte er- entwickeln. möglicht wird. (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Ich (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste bin gespannt auf Ihren nächsten Parteitag!) sowie der Abg. Vera Wollenberger [Bünd- nis 90/GRÜNE]) Sie haben ja auf Druck — nach was für einem Druck! — die von uns schon längst gewünschten Ver- Wir müssen uns schon gemeinsam vornehmen, das zu änderungen im Kriegswaffenkontrollgesetz und im tun. Dazu gehören die Fakten auf den Tisch, so bitter Außenwirtschaftsrecht durchgesetzt. sie sind. Angesichts der Abwägung zwischen dem rechtsstaatlichen Erfordernis einerseits, den außenpo- Nur, eines, Herr Kollege Möllemann, muß ich Ihnen litischen Notwendigkeiten andererseits und auch des schon sagen, wenn Sie schon meinen, uns mit dem vom Kollegen von Schorlemer soeben beschworenen früheren Bundesminister der Justiz Angst einjagen zu ethischen Anspruchs der Außenpolitik möchte ich wollen, was man mit dem Vorgänger von Herrn Kin- doch sehr darum bitten, daß der Schutz von Firmen, kel ganz sicher sowieso nicht kann: die — legal oder illegal — an diesen Ausfuhren betei- (Heiterkeit bei der SPD) ligt gewesen sind, nicht höhergestellt wird als das Bedürfnis der deutschen Öffentlichkeit, aus der bishe- Der Bundesminister der Justiz ist seit März 1985 stän- rigen Praxis zu den richtigen Konsequenzen zu kom- diges Mitglied des Bundessicherheitsrates. Seien Sie men. so nett, recherchieren Sie das. Behaupten Sie dann in (Beifall bei der SPD) Zukunft nicht noch einmal so etwas, weil ich sonst Die Bundesregierung darf sich ja nicht wundern, einen Ausdruck gebrauchen müßte, für den ich vom wenn ihr bisheriges Verhalten in dieser Frage zu- Präsidenten eine Rüge bekommen würde, und das nächst einmal Mißtrauen auslöst. Diejenigen von uns, will ich mir ersparen. die sich mit Rüstungsexportkontrollpolitik beschäfti- (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Er gen, wissen ja, daß wir uns nunmehr im neunten Jahr guckt schon so!) einer Auseinandersetzung mit dieser Bundesregie- rung befinden. Das fing schon damit an, daß Bundes- — Ja, das will ich mir ersparen. kanzler Kohl die erst 1982 von Bundeskanzler Schmidt Ich bitte Sie auch, Herr Möllemann, mit dem öffent- eingeführte Praxis, das Parlament zeitnah über Ent- lichen Bericht, den Sie angekündigt haben, schnell scheidungen des Bundessicherheitsrates zu informie- überzukommen, weil die Waffenstillstandsbedingun- ren — d. h. auf deutsch: so, daß das Parlament auch gen, um die es hier heute eigentlich auch gehen sollte, mitwirken konnte — , aufgehoben hat, nicht so ver- von uns bestimmte Aktionen verlangen. Die Resolu- fährt. Ich kann Ihnen hier eine Reihe von sehr betrüb- tion 687 verlangt von uns Maßnahmen, die sicherstel- lichen Vorgängen aus den letzten Jahren in Erinne- len, daß die Bedingungen des Waffenstillstandes von rung rufen, aus denen hervorgeht, daß wir es insge- uns eingehalten und kontrolliert werden. Wir brau- 1368 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Günter Verheugen chen den Bericht, um prüfen zu können, ob unsere Aber eines ist natürlich richtig: Wir können durch bisherigen Instrumente ausreichen. Verschweigen keine Politik für die Zukunft machen. Ich möchte bei der Gelegenheit sagen, Herr Kollege Was in diesem Bericht über einige wenige Firmen Möllemann: Ich begrüße es sehr, daß die Bundes- steht, zeigt, daß es in der deutschen Wirtschaft eine regierung Experten zur Erfüllung der Sicherheitsrats- Minderheit von Kriminellen gab, die nach dem Motto resolution, also Abschaffung der Massenvernich- „Tarnen, täuschen und betrügen" eine ganze Branche tungswaffen des Irak, zur Verfügung stellen will. Mit in Verruf bringen. aller Vorsicht sage ich aber: Es erstaunt, daß die Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Abgeordneter Bundesregierung diese Experten jetzt auf einmal zur der schönen Schwarzwaldstadt Lahr weiß ich sehr Verfügung hat, nachdem sie in früheren Fällen, als es wohl, worüber ich in diesem Zusammenhang rede. Es um Verfahren ging, sie nicht zur Verfügung stellen ist einiges notwendig. Die Gesetze, die wir beschlos- konnte. sen haben, sind zweifellos eine Verbesserung der bis- herigen Situation. Es ist notwendig, daß sie sehr Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Ver- schnell angewendet werden. heugen, Ihre Redezeit ist abgelaufen. In diesem Zusammenhang möchte ich sagen: Eine Kollegin hat gesagt — da überkam mich ein Lä- Günter Verheugen (SPD) : Ich bedanke mich, Herr cheln —, es hätte glasklare Berichte von Geheimdien- Präsident. sten gegeben. Im Zusammenhang mit der Affäre Im- (Beifall bei der SPD) hausen gab es seinerzeit zwar eine Menge von Berich- ten von Geheimdiensten, die dankenswerterweise hinterher der Öffentlichkeit bekannt gemacht wur- Vizepräsident Helmuth Becker: Als letzter Redner den. in der Aktuellen Stunde hat der Kollege Rainer Haungs das Wort. (Günter Verheugen [SPD]: Es gab einen Be richt der deutschen Botschaft in Moskau!)

Rainer Haungs (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine — Ja, ja, den habe ich mehrfach gelesen. Damen und Herren! Es ist zweifellos eine seltsame (Norbert Gansel [SPD]: Es gab sogar Zeugen! Situation, einen Bericht zu diskutieren, den die einen- Die haben Sie der Staatsanwaltschaft vorent gelesen haben und die anderen nicht. Insofern ver- halten! Beweismittelunterdrückung!) läuft die Diskussion mit schiefen Fronten. Wenn Sie diesen Satz — ich habe ihn sogar noch im Ich gehöre zu denjenigen, die ihn gelesen haben, Gedächtnis — als glasklare Botschaft ansehen, dann und muß sagen: Es ist ein sehr aufschlußreicher Be- sind mir die „glasklaren" Begriffe der SPD-Kollegen richt. mit Sicherheit nicht bekannt. (Hermann Bachmaier [SPD]: Das haben wir (Zurufe von der SPD) nicht bestritten!) — Darf ich noch eine Minute um Ihre geschätzte Auf- — Ja, da stimme ich Ihnen, Herr Kollege Bachmaier, zu. Nur, eines müssen Sie mit Ihrem geschärften merksamkeit bitten? Rechtsbewußtsein wissen: Er könnte so, wie er abge- Wenn uns die rechtlichen Möglichkeiten zur Verfü- faßt wurde, nicht sein, wenn er öffentlich wäre. gung gestanden hätten — im Fall Rabta/Imhausen -, Aus den letzten Bemerkungen in dieser Aktuellen wenn man rechtzeitig auch in das Post- und Fernmel- Stunde kann ich nur die Schlußfolgerung ziehen degeheimnis hätte eingreifen können, — das hat Herr Minister Möllemann gesagt, auch Kol- (Norbert Gansel [SPD]: Das haben Sie nicht lege Eylmann hat das vorgetragen — : Dieser geheime gemacht!) Bericht war sehr wertvoll. Alle Wirtschaftsausschuß- dann wären die Ermittlungen des Zollinstituts — — mitglieder haben ihn gelesen, alle werden daraus die Konsequenzen ziehen. (Norbert Gansel [SPD]: Das alles haben Ih Wir müssen jetzt einen öffentlichen Bericht und nen doch die Amerikaner auf den Tisch ge eine öffentliche Diskussion bekommen; denn im poli- legt!) tischen Bereich, meine Damen und Herren, gibt es — In aller Bescheidenheit: Ich glaube, daß ich von nichts Schlimmeres, als etwas geheim zu halten. Sonst dieser Affäre etwas mehr Detailkenntnisse habe als wird er, wie es auch in Diskussionen gesagt wurde, Sie. gleich als Möllemann-Geheimbericht mystifiziert, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und dann werden Dinge hineininterpretiert, die vorne und der FDP — Günter Verheugen [SPD]: Sollen hinten nicht stimmen. Dann wird gesagt: „Mir ist klar, wir doch noch einen Ausschuß machen? — warum er geheim ist" als Folgerung aus längst be- Weiterer Zuruf von der SPD: Das testen wir kannten deutsch-französischen Gemeinschaftspro- mal!) duktionen von Panzerabwehrwaffen. Die brauchte man aber mit Sicherheit nicht in einen Geheimbericht — Ja, das können Sie testen. zu schreiben. Das ist jedem Kollegen, der sich mit der Ich habe aus dieser Affäre die Folgerung gezogen, Sache befaßt, bekannt. daß, wenn wir all das, was wir jetzt in den Beratungen, (Norbert Gansel [SPD]: Es war aber nicht be- die wir vorgenommen haben, zur Verschärfung des kannt, daß die Raketen während des Krieges Außenwirtschaftsgesetztes eingebracht haben, vor- auch noch in der Bundesrepublik repariert her gehabt hätten — Sie haben ja leider dem Eingriff werden sollten!) in das Fernmeldegeheimnis nicht zugestimmt — , der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1369

Rainer Haungs Verfassungsschutz bei solchen kriminellen Firmen tes Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkrimi- rechtzeitig hätte eingreifen können, da wir die rechts- nalität staatlichen Mittel dafür gehabt hätten; da stimme ich — Drucksache 12/376 — dem Einwurf des Kollegen Hinsken zu. Überweisungsvorschlag: Die Folge des Sturms im Wasserglas bei diesem Rechtsausschuß (federführend) Geheimbericht kann nur sein: In Zukunft muß es bei Innenausschuß solchen Anlässen sowohl einen Bericht geben, der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung durchaus vertraulich sein kann und der den Abgeord- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit neten alle Informationen zukommen läßt — alles, was mit dem Rechtsstaat vereinbar ist, über Ermittlungen, Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die die noch nicht abgeschlossesn sind, oder über Ermitt- Aussprache eine Stunde vorgesehen. Ich höre und lungen, die abgeschlossen wurden, ohne daß es einen sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- Schuldigen gibt — , als auch eine ausführliche Diskus- sen. sion über all das — — (Hermann Bachmaier [SPD]: Weil die Ge- Zu Beginn hat das Wort der Bundesminister der setze löchrig waren wie Schweizer Käse! Das Justiz, Klaus Kinkel. war das Problem!) — Die Gesetze waren löchrig und sind im wesentli- chen unter Ihrer Verantwortung gemacht worden. Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister der Justiz: Herr (Hermann Bachmaier [SPD]: Seit wann sind Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Wieder- Sie denn an der Regierung?) vereinigung hat der Umweltschutz in der Bundesre- publik eine zusätzliche, eminent wichtige Dimension Das einzige, was Sie uns vorwerfen können, ist, daß erhalten. Neben den Umweltproblemen einer indu- die Beratungen etwas lange gedauert haben. striellen Hochleistungsgesellschaft, denen wir uns im Westen Deutschlands seit Jahren ausgesetzt sehen, (Lachen bei der SPD) kommt es jetzt zusätzlich darauf an, die Umweltzer- Aber das Gravierende, das ich Ihnen vorwerfe: daß störung in der ehemaligen DDR in den Griff zu be- Sie sich am Schluß wieder in bester sozialdemokrati- kommen. Wir wußten zwar stets, daß die ehemalige scher Tradition der Zustimmung zu diesem Gesetz Regierung der DDR nicht gerade sorgsam mit der verweigert haben, obwohl wir es dringend notwendig Natur umgegangen ist. Wie rücksichtslos sie die Natur haben. im Interesse der Aufrechterhaltung des Systems aller- dings ausbeutete, war aber doch nicht so deutlich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — geworden. Die Wirtschaft der ehemaligen DDR arbei- Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Sie sind damit tete fast ausschließlich auf Kosten der Umwelt. In den für die Zukunft die Schuldigen! — Hermann Umweltschutz selbst wurde praktisch nichts inve- Bachmaier [SPD]: Ausgerechnet Kittel- stiert. mann!) In den neuen Ländern sind alle drei lebenswichti- gen Umweltmedien — Luft, Wasser und Boden — ex- trem stark belastet. In einer gerade veröffentlichten Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- Analyse hat das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung ten Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist damit errechnet, daß in den neuen Ländern bis zum Jahre beendet. 2000 Investitionen von über 200 Milliarden DM allein zur Beseitigung von Umweltschäden notwendig sind. Ich rufe nun Punkt 8 der Tagesordnung sowie den Die Sanierung der Umwelt in den neuen Ländern ist Zusatzpunkt 5 auf: daher eine der wichtigsten Aufgaben der kommenden Jahre. 8. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechts- Neben dem Geld kommt es dabei vor allem auf zwei änderungsgesetzes — Zweites Gesetz zur Be- Dinge an: ein effizientes gesetzliches Instrumen- kämpfung der Umweltkriminalität — tarium und die weitere Verfestigung des Umwelt- (. . . StrÄndG — 2. UKG) bewußtseins. Beides bedingt im übrigen einander. — Drucksache 12/192 — Ein weiterer Beitrag für den aktiven Umweltschutz Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: im wiedervereinigten Deutschland ist das Gesetz zur Rechtsausschuß (federführend) Bekämpfung der Umweltkriminalität, das Sie heute Innenausschuß beraten. Es schließt einmal vorhandene strafrechtli- Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung che Lücken, zum anderen — das ist mir persönlich Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sehr wichtig — wirkt es hoffentlich auch bewußtseins- Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit bildend. Das geltende Umwelt-, Straf- und -ordnungs- ZP5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Her- widrigkeitenrecht erfüllt seine Schutzfunktion nur be- mann Bachmaier, Dr. Herta Däubler-Gmelin, dingt. Es ist zum Teil zu kompliziert und führt vor Harald B. Schäfer, weiterer Abgeordneter und allem auch zu Beweisschwierigkeiten. Deshalb nenne der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs ich einige Zahlen: 1973 wurden beispielsweise 2 321 eines Strafrechtsänderungsgesetzes — Zwei- Umweltverstöße registriert, 1989 22 816. Bei den 1370 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel Staatsanwaltschaften wurden zwischen 40 % und tung von Schutzvorschriften unbedingt notwendig ist. 80 % der Verfahren eingestellt, Der potentiell umweltgefährliche Umgang mit Stoffen und Gütern soll deshalb in einer Vorschrift des Straf- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr be- gesetzbuches zusammengefaßt werden. Die Vor- dauerlich!) schrift soll zudem einem weiteren Übel entgegenwir- bei den Gerichten über 40 %. 1975 gab es — auch das ken: der Tarnung von gefährlichen Abfällen als Wirt- ist wieder ein interessantes Beispiel — 691 Verurtei- schaftsgut. lungen, 1989 2 678. In der Regel waren es nur Geld- Naturschutz- und Heilquellschutzgebiete sollen in strafen. 1989 wurden 76 Freiheitsstrafen verhängt, Zukunft wirksamer als bisher gegen schädigende Ein- davon nur 9 ohne Bewährung. Das wird der Bedeu- griffe abgesichert werden. tung des Umweltstrafrechts eindeutig nicht gerecht. Das heißt, wir müssen die Vorschriften ändern. Die Strafvorschriften über schwere Umweltgefähr- dung werden völlig neu gestaltet, insbesondere wird In der letzten Legislaturpe riode war der vorliegende die Strafdrohung verschärft. Andererseits enthält der Entwurf bereits eingebracht. Aus Zeitgründen konnte Entwurf eine Ausdehnung der Regelung über tätige er jedoch nicht mehr verabschiedet werden. In den Reue. Damit soll die Umkehr des Täters zu umweltge- Ausschußberatungen haben sich einige Einzelanpas- rechtem Verhalten honoriert werden. sungen als notwendig erwiesen. Die Bundesregierung hat auf diese Änderungen im Interesse eines be- Erforderlich sind auch Änderungen des Ordnungs- schleunigten Gesetzgebungsverfahrens zunächst ver- widrigkeitenrechts, um Zuwiderhandlungen von Un- zichtet. Bei den Beratungen in den Ausschüssen wird ternehmen wirksam zu begegnen. Die Verhängung sie entsprechende Vorschläge nachliefern. von Geldbußen gegen juristische Personen soll künf- tig auch dann möglich sein, wenn sich Verantwortli- Nun kurz zu den Kernpunkten der Reform: Der che in leitender Stellung strafbar machen, sie aber strafrechtliche Schutz einzelner Umweltmedien ist nicht Organe sind. Der Tatbestand über Aufsichts- bisher unausgewogen. Dies gilt insbesondere für den pflichtverletzungen wird praktikabler. Boden, der bisher nur mittelbar und lückenhaft gegen Beschädigungen geschützt ist. Bodenverunreinigun- Mit diesem Gesetz und vor allem mit den teilweise höheren Strafandrohungen erhofft sich die Bundesre- gen, die nicht zu einer nachweisbaren Verunreini-- gung des Grundwassers führen oder nicht auf einer gierung auch eine Schärfung des Umweltbewußt- Lagerung gefährlicher Abfälle beruhen, sind straf- seins. Nur wenn Vergehen oder Verbrechen an der rechtlich bislang leider kaum zu erfassen. Hier wird Natur wirksam geahndet werden, lassen sich poten- das neue Gesetz wesentliche Verbesserungen brin- tielle Täter, wie ich meine, abschrecken. Wir sind, was gen. das Umweltbewußtsein anbelangt, an sich auf ganz gutem Wege. Die Menschen sind für die Umwelt sen- Gleichzeitig wird die nötige Rechtseinheit zwischen sibel geworden, und jeder einzelne achtet darauf, die Alt- und Neuländern hergestellt. Im Gegensatz zur Umwelt nicht stärker als unbedingt nötig zu belasten. Bundesrepublik Deutschland enthielt das Strafgesetz- Dies zeigt sich gerade an kleinen Dingen. Wir alle buch der ehemaligen DDR einen eigenständigen Bo- sammeln Flaschen, Altpapier, Batterien. Auch unsere denschutztatbestand. Auf Grund des Einigungsver- Kinder wachsen heute Gott sei Dank schon in dem trags gilt dieser Tatbestand in den neuen Ländern in Bewußtsein auf, daß sie für die Umwelt mitverant- modifizierter Form fort, während eine solche Vor- wortlich sind. Die Industrie produziert umweltscho- schrift in den alten Ländern nicht existiert. Diese un- nend, soweit sie nur kann, und — das muß man deut- befriedigende Spaltung des umweltstrafrechtlichen lich sagen — investiert sehr viel in Umweltschutzmaß- Bodenschutzes wird durch den Gesetzentwurf besei- nahmen. tigt. In den neuen Ländern ist die Lage leider Gottes Der geltende Tatbestand der Luftverunreinigung schlechter. Die Menschen haben in 40 Jahren des hat zu viele Einschränkungen. Diese Vorschrift muß rücksichtslosen Umgangs mit der Natur kein Umwelt- deshalb praktikabler ausgestaltet werden. Die we- bewußtsein entwickeln können. Der Staat hat ihnen sentliche Neuerung in diesem Bereich besteht in der den Mißbrauch der Umwelt in weitem Umfang vorge- Anfügung eines Emissionstatbestandes, der an eine lebt. Auch die DDR hatte eine Umweltgesetzgebung. grob pflichtwidrige Überschreitung von Emissions- Aber leider stand sie dort nur auf dem Papier. In der begrenzungen anknüpft. bereits erwähnten Ifo-Studie heißt es dazu: Ein ganz enormes Problem ist der sogenannte Ab- Da der Vollzug jedoch immer wieder zugunsten falltourismus. Die Verlagerung unseres Abfallprob- der Planerfüllung zurückgestellt wurde, hat das lems auf die Länder im Osten und vor allem in der System des real existierenden Sozialismus nach Dritten Welt ist und darf keine Lösung des Abfallprob- 40 Jahren eine gigantische Hypothek im ökologi- lems sein. Gerade die Verschickung von gefährlichen schen Bereich hinterlassen. Abfällen wie Atommüll oder Sondermüll muß unter- bunden werden. Dem Abfalltourismus soll daher Es liegt auf der Hand, daß sich dieser von oben durch die Strafbarkeit ungenehmigter Ex- und Im- sanktionierte, ja angeordnete Bruch der Gesetze auf porte gefährlicher Abfälle entschieden entgegenge- das Umweltbewußtsein der Bürger zwangsläufig nur wirkt werden. negativ auswirken konnte. Spektakuläre Unfälle mit gefährlichen Stoffen und Daher möchte ich noch einmal für die Verankerung Gütern wie beispielsweise die Katastrophe von Her- des Staatsziels Umweltschutz im Grundgesetz mit born haben immer wieder bewiesen, daß die Beach Nachdruck eintreten. Nur wenn wir an wichtigster Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1371

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel Stelle, nämlich im Grundgesetz, zeigen, welche Be- des Deutschen Bundestages auch eine Sachverständi- deutung und welchen Rang wir der Umwelt zumes- genanhörung durchgeführt. Von unserer Seite wurde sen, können wir auch einen Wandel in der Einstellung während dieser Beratungen immer wieder deutlich der Bürger erwarten. gemacht, daß wir in beiden Gesetzentwürfen Lö- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Da muß sungsansätze sehen, die bei einigem guten Willen, die SPD zustimmen; das ist richtig! — Zuruf Herr Bundesjustizminister, so miteinander verzahnt des Abg. Dr. Hans de With [SPD]) werden können, daß ein qualitativ wesentlich besse- res Umweltstrafrecht geschaffen wird. — Ich habe ja dazu aufgefordert. Aus dem Bundesju- stizministerium liegt eine Kompromißlösung vor. Herr Nachdem wieder ein Jahr nutzlos verstrichen ist, de With, Sie können sich ja dem Vorschlag anschlie- sollten wir uns schleunigst an die Arbeit machen und ßen. bald die dringend gebotenen Fortschreibungen und Korrekturen am Umweltstrafrecht vornehmen, damit (Dr. Hans de With [SPD]: Von uns lag schon den Umweltkriminellen besser als bisher das Hand- lange einer vor!) werk gelegt werden kann. Wir hören in den letzten Wochen und Monaten lei- Schwachstellen und Lücken des geltenden Umwelt- der tagtäglich von riesigen Umweltkatastrophen. strafrechts müssen geschlossen und Rechtsunklarhei- (Vorsitz: Vizepräsidentin Renate Schmidt) ten beseitigt werden. Wir brauchen ein Umweltstraf- In Kuweit brennen über 500 Ölquellen und verdun- recht, durch das Luft, Wasser und Boden in gleicher keln den Himmel; im Mittelmeer droht erneut eine Weise strafrechtlich geschützt werden. Alle diejeni- Ölpest, weil wieder ein Öltanker versunken ist. Diese gen, die in Versuchung stehen, sich um ihres persön- Katastrophen nehmen verständlicherweise unsere lichen Vorteils willen an der Umwelt kriminell zu ver- ganze Aufmerksamkeit gefangen. Aber viele kleine gehen, müssen wissen, daß sich umweltkriminelles Katastrophen finden jeden Tag bei uns statt; das dür- Verhalten nicht auch noch auszahlt, nicht auch noch fen wir auch nicht vergessen und verdrängen. Strafta- lohnt. ten gegen die Umwelt sind eben nun einmal keine Umweltkriminalität ist — man kann es nicht oft ge- Kavaliersdelikte. Sie zerstören die Lebensgrundlage nug wiederholen — in vielen Fällen eine gesteigerte für uns alle. In den letzten Jahren ist nicht nur einiges, Form der Wirtschaftsk riminalität, und zwar deshalb, sondern viel erreicht worden. Doch nur dann, wenn weil viele der Schäden, die durch umweltkriminelles wir mit unseren Bemühungen nicht nachlassen, wer- Verhalten unserer Mitwelt zugefügt werden, nicht den wir den Schutz unserer Lebensbedingungen dau- wieder behoben werden können und weil Lebens- erhaft sichern. Nachfolgende Generationen werden grundlagen unwiderruflich zerstört werden. uns sicher an dem messen, was wir erreicht haben. Der Umweltschutz ist die große Zivilisationsauf- (Beifall bei der SPD) gabe unserer Zeit. Im Interesse unserer natürlichen Das Umweltstrafrecht aus dem Jahre 1980 und seine Lebensgrundlagen bitte ich Sie deshalb nachdrück- Übernahme in das Kernstrafrecht war eine entschei- lich, an einer zügigen Umsetzung dieses Reformvor- dende Weichenstellung. Dadurch wurde die straf- habens mitzuwirken. rechtliche Behandlung der Umweltkriminalität aus Zusammen mit dem Umwelthaftungsrecht, das am der Grauzone des Nebenstrafrechts herausgenom- 1. Januar 1991 in Kraft getreten und das einmalig in men; es wurde deutlich gemacht, daß Umweltstrafta- Europa ist, wäre unser Umweltstrafrecht, wenn es so ten keine Kavaliersdelikte sind, sondern daß diejeni- verabschiedet würde, wie es jetzt vorgelegt ist, mit das gen, die den natürlichen Lebensgrundlagen in krimi- schärfste und hoffentlich auch effektivste der Welt. neller Weise Schaden zufügen, auch als Straftäter be- Wir können uns mit dem, was wir vorhaben und hof- handelt werden müssen. fentlich auch bald in Gesetzesform im Bundesgesetz- Bereits damals hat der Gesetzgeber übrigens ins blatt finden werden, international sehen lassen. Auge gefaßt, daß nach den zu machenden Erfahrun- Vielen Dank. gen mit diesem neuen Umweltstrafrecht spätere Er- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gänzungen und Erweiterungen des strafrechtlichen Umweltschutzes notwendig werden können. Jetzt gilt es, die Konsequenzen zu ziehen, die aus Als nächster hat Vizepräsidentin Renate Schmidt: den Erfahrungen der letzten Jahre unabweisbar gebo- der Kollege Hermann Bachmaier das Wort. ten sind. Es geht einfach nicht mehr an, daß jährlich zwar immer mehr Umweltdelikte polizeilich erfaßt Hermann Bachmaier (SPD): Frau Präsidentin! werden, der Anteil der Anklagen und Verurteilungen Meine Damen und Herren! Bei einigem guten Willen an diesen Delikten jedoch ebenso kontinuierlich zu- könnte ein verbessertes und den Belangen der Um- rückgeht. Wenn der weitaus größte Teil aller Umwelt- welt stärker Rechnung tragendes Umweltstrafrecht strafverfahren schon durch die zuständigen Staatsan- schon längst im Bundesgesetzblatt stehen und seine waltschaften eingestellt wird und in den Fällen, in Wirkung, umweltkriminelles Verhalten zu verhin- denen es dennoch zu Bestrafungen kommt, die ausge- dern, bereits entfalten. sprochenen Strafen im absolut untersten Bereich des Bereits im Februar des vergangenen Jahres — der gesetzlichen Strafrahmens liegen, dann ist Abhilfe Herr Bundesjustizminister hat darauf hingewiesen — geboten. haben wir die heute in erster Lesung erneut zu bera- Auch die Struktur der erfaßten Delikte zeigt eine tenden Gesetzentwürfe behandelt. Im Mai des ver- erhebliche Schieflage des Anwendungsbereiches des gangenen Jahres wurde durch den Rechtsausschuß Umweltstrafrechtes. Den Löwenanteil bilden die Was- 1372 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Hermann Bachmaier serverschmutzungsdelikte, während die Verstöße ge- Fehlverhalten auch im Bereich des öffentlichen gen andere Umweltmedien, wie insbesondere gegen Dienstes in die Strafbarkeit einzubeziehen. die Luft, kaum in Erscheinung treten. Schon eine Grobanalyse der Delikte zeigt, daß kleinere Verstöße Fünftens. Der Strafrahmen für den Straftatbestand des beruflichen und privaten Alltags im Vordergrund der schweren Umweltgefährdung soll deutlich von bislang fünf auf zehn Jahre Freiheitsstrafe erhöht wer- stehen, jedoch gewerblich-industrielles Fehlverhal- den. Bei besonders rücksichtslosem Verhalten möch- ten in den Statistiken ebensowenig in Erscheinung tritt wie Verstöße aus dem öffentlichen Verantwor- ten wir eine Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr einführen, so daß dieses kriminelle Verhalten endlich tungsbereich. als Verbrechen bestraft werden kann. Auffallend ist auch, daß diejenigen, die in großem Stil um des wirtschaftlichen Vorteils willen der Um- Sechstens. Die bislang nur äußerst begrenzt gege- welt nachhaltigen Schaden zufügen. weit seltener in bene Möglichkeit, die durch Straftaten erlangten den Verurteilungsstatistiken auftauchen, als man dies wirtschaftlichen Vorteile abzuschöpfen, soll verbes- auf Grund der großen und schweren Umweltver- sert werden, so daß Umweltstraftäter keinen wirt- schmutzungen annehmen müßte. schaftlichen Vorteil mehr aus der von ihnen begange- nen Straftat ziehen können. Ein verbessertes materielles Umweltstrafrecht kann zwar nicht alle Fehlentwicklungen bei der Bekämp- Während der nunmehr anstehenden Ausschußbe- fung der Umweltkriminalität beseitigen und insbe- ratungen werden wir unsere Vorschläge so ergänzen, sondere nicht das Vollzugsdefizit ausgleichen. Wir daß sie sich in die Novellierungen einfügen, die im wissen aber nach einer gründlichen Analyse der Defi- Zuge der Bekämpfung der illegalen Rüstungsexporte zite bei der Anwendung des Umweltstrafrechtes, daß beabsichtigt sind. Hier haben wir schon einen ersten besser und konkreter gefaßte Umweltstraftatbe- Schritt getan. Jetzt bedarf es des zweiten Schrittes, der die strukturellen Hemmnisse der Gewinnabschöp- stände einen entscheidenen Beitrag dazu leisten kön- nen, Umweltkriminalität besser als bislang zu be- fung beseitigen soll. kämpfen. Siebtens. Unser Gesetzentwurf lockert — hier un- Die im Mai des vergangenen Jahres durch den terscheiden wir uns ganz nachhaltig vom Gesetzent- Rechtsausschuß des Bundestages durchgeführte- wurf der Regierung — behutsam die bislang weithin gegebene absolute Abhängigkeit der Umweltstraftat Sachverständigenanhörung hat uns in unserer Auf- fassung bestätigt, daß wir mit unserem Gesetzentwurf bestände von bestehenden oder nicht bestehenden auf dem richtigen Wege sind. Schwerpunkte unseres Verwaltungsakten, ohne allerdings die notwendige Verzahnung mit dem Verwaltungsrecht, also die not- Entwurfes sind: wendige sogenannte Verwaltungsrechtsakzessorie- Erstens. Der bislang vielzu eng gefaßte Tatbestand tät, zu beseitigen. Mein Kollege Schütz wird gerade zu der Luftverschmutzung wird so neu gefaßt, daß er diesem sehr wichtigen Punkt, bei dem es auch um die gefahrangemessen wirkt und in seiner Anwendung Frage der Einheit der Rechtsordnung geht, noch nä- wesentlich praktikabler wird als bislang. here Ausführungen machen. Zweitens. Ein eigenständiger Bodenschutztatbe- Achtens. Die Straftatbestände wurden von uns so stand, der bislang im Umweltstrafrecht fehlt — der neu gefaßt, daß reine Bagatellverstöße nicht mehr Herr Bundesjustizminister hat darauf hingewiesen —, dem Strafrecht, sondern ausschließlich dem Bußgeld- ist auch nach unserem Entwurf neu einzuführen und recht unterworfen werden. Die Strafverfolgungsor- in seiner Ausgestaltung dem Tatbestand der Gewäs- gane sollen dadurch in die Lage versetzt werden, sich serverunreinigung und dem neugefaßten Luftver- stärker als bisher um die wirklich gravierenden Um- schmutzungstatbestand anzugleichen. Damit würde weltdelikte kümmern zu können. eine entscheidende Lücke im Gesetz endlich besei- Meine Damen und Herren, wie Sie aus einem Ver- tigt. gleich der beiden Gesetzentwürfe ersehen können, Drittens. Der Straftatbestand der umweltgefähr- gibt es durchaus — ich habe bereits darauf hingewie- denden Abfallbeseitigung wird um einen Straftatbe- sen — Berührungspunkte zwischen unseren Vorstel- stand gegen den umweltgefährdenden Umgang mit lungen und den Vorschlägen der Regierung. Nur, gefährlichen Gütern erweitert, so daß in Zukunft das meine ich — dies hat im übrigen auch die bereits Gefährdungspotential für eine Bestrafung entschei- erwähnte Sachverständigenanhörung bestätigt — , ist dend ist und nicht die Frage, ob es sich um Abfall oder die Regierung mit ihrem Entwurf auf halbem Wege um wirtschaftlich verwertbare Güter handelt. stehengeblieben. Die ursprünglich im Referentenent- wurf enthaltenen Verbesserungen waren in einigen Viertens. Wir möchten einen neuen Tatbestand der Punkten weit eher geeignet, den strafrechtlichen strafrechtlichen Amtsträgerhaftung einführen, um Schutz der Umwelt zu verbessern, als dies im jetzigen eine unbestrittene Grundlage für die Bestrafung von Regierungsentwurf geschehen ist. Wir werden dar- Amtsträgern in den Fällen zu schaffen, in denen öf- über reden. fentlich Bedienstete vorsätzlich oder leichtfertig die ihnen zum Schutze der Umwelt obliegenden Pflichten Wir fordern Sie im Interesse eines dringend gebote- verletzt haben. Es geht also nicht darum, gestaltendes nen verbesserten strafrechtlichen Umweltschutzes Handeln der öffentlichen Verwaltungen und derjeni- auf, mit uns in einen konstruktiven Dialog einzutre- gen, die mit dem Umweltschutz betraut sind, in ir- ten, so daß wir möglichst bald die Gesetze haben, die gendeiner Weise zu gängeln oder einzuschränken. Es wir zur Bekämpfung der Umweltkriminalität so drin- geht vielmehr darum, vorsätzliches oder leichtfertiges gend benötigen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ril 1991 1373

Hermann Bachmaier Ich habe bereits im vergangen Jahr bei der damali- Zu berücksichtigen ist allerdings, daß derzeit ein um- gen ersten Lesung der Gesetzentwürfe darauf hinge- fassendes Bodenverwaltungsrecht und insbesondere wiesen und möchte dies auch heute tun: Das Umwelt- Bodenschutzstandards fehlen. Insofern muß die strafrecht stellt kein Allheilmittel im Kampf um ver- Schaffung der Strafrechtsnorm einhergehen mit der in besserte Lebensgrundlagen dar. Seine Aufgabe ist es der Koalitionsvereinbarung vorgesehenen Verab- viel mehr, extrem sozialschädliche Verhaltensweisen schiedung eines Bodenschutzgesetzes. auch im Umweltbereich in der schärfsten, dem Staat (Beifall bei der CDU/CSU) möglichen Form zu ahnden. Das Umweltstrafrecht kann aber auch einen Beitrag dazu leisten, unser Be- Meine Damen und Herren, wir müssen auch stärker wußtsein für die gesellschaftliche Verwerflichkeit ei- gegen den Abfalltourismus vorgehen. Der beste- ner immer weiter fortschreitenden Umweltzerstörung hende Ordnungswidrigkeitentatbestand reicht zwar zu schärfen. auf internationaler Ebene aus, weil er etwa die Anfor- Ich danke Ihnen. derungen der Baseler Konvention, die die Bundesre- gierung in Kürze zeichnen wird, erfüllt, aber in der (Beifall bei der SPD) Praxis ist festzustellen, daß der ungenehmigte Export und Import von Abfällen schärfer, d. h. strafrechtlich, Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat geahndet werden muß. Cornelia Yzer das Wort. Notwendig ist in diesem Zusammenhang auch die Erweiterung des Straftatbestandes der schweren Um- Cornelia Yzer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine weltgefährdung auf den illegalen Umgang mit ge- Damen und Herren! In der vergangenen Legislaturpe- fährlichen Stoffen. Ansonsten wird es auch künftig riode ist eine Fülle von Maßnahmen ergriffen worden, nicht zu vermeiden sein, daß der Versuch unternom- die einen verbesserten Schutz der natürlichen Le- men wird, den Straftatbestand der umweltgefährden- bensgrundlagen gewährleisten werden. Unser Ziel den Abfallbeseitigung dadurch zu umgehen, daß Ab- muß es sein, die bestehenden zivilrechtlichen und ver- fälle als Wirtschaftsgut deklariert werden. waltungsrechtlichen Regelungen zum Umweltschutz Bei allen Reformbestrebungen sollte aber auch jetzt zügig durch ein effektiveres Umweltstrafrecht zu nicht vergessen werden, meine Damen und Herren, ergänzen. - daß dem Strafrecht eine Ultima-ratio-Funktion zu- Wirft man einen Blick auf die Praxis der Umwelt- kommt. Es kann nicht darauf ankommen, rechtsgut- strafverfolgung, so ist positiv zu vermerken, daß die beeinträchtigende Handlungen, die bislang durch das Ermittlungsbehörden in hohem Maße sensibilisiert Ordnungsrecht eine wirksame und angemessene sind. Im Jahre 1988 stieg die Zahl der erfaßten Um- Ahndung erfahren haben, pauschal dem Strafrecht zu weltstraftaten gegenüber 1987 um 17,8 %. Im Jahre unterwerfen. 1989 war ein weiterer Anstieg um 18 % zu verzeich- nen. (Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Das ist auch wahr!) Diese Erhöhung dürfte nicht auf einen deutlichen Anstieg der Umweltstraftaten zurückzuführen sein, Dies wäre in der Tat — wie es ein Sachverständiger in sondern vielmehr auf eine verbesserte Registrierung der Anhörung am 17. Mai 1990 bezeichnete — publi- der Straftaten durch die Ermittlungsbehörden, die kumswirksame Augenwischerei. Bagatelldelikte besser als in der Vergangenheit gerüstet sind. Hierauf müssen auch künftig dem Ordnungswidrigkeiten- deutet auch die hohe Aufklärungsquote im Umwelt- recht überantwortet werden. bereich hin, die 1989 76 % betrug gegenüber 45 % bei Ein Beispiel, wie nicht verfahren werden kann, ist der Gesamtkriminalität. die im Entwurf der SPD-Fraktion pauschal geforderte Nunmehr müssen wir den Strafverfolgungsbehör- Aufhebung des Kraftfahrzeugprivilegs beim Straf tat- den das notwendige Rüstzeug an die Hand geben, um bestand der Luftverunreinigung. Dies hätte zur Folge, strafwürdiges Handeln im Umweltbereich wirksam zu daß künftig das Überschreiten von ASU-Werten straf- ahnden. Hierzu gehört eine Konkretisierung der Um- rechtlich sanktioniert würde. Dies nenne ich Überkri- weltstraftatbestände und die Schließung von Straf- minalisierung in Reinkultur. rechtslücken, wie sie der vorliegende Entwurf der Bundesregierung vorsieht. Unser Ziel muß es sein, (Beifall bei der CDU/CSU — Hermann Bach möglichst alle Umweltmedien gleichwertig durch das maier [SPD]: Das prüfen wir noch nach! — Strafrecht zu schützen. Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das ist zu schwierig für die Kollegen!) (Beifall bei der CDU/CSU) Bedeutsam wird in diesem Zusammenhang insbe- — Herr Kollege, Sie können es gern prüfen. Ich bin sondere die Einführung des Tatbestandes der Boden- Ihnen auch gern behilflich. verunreinigung sein. Zur Zeit ist festzustellen, daß ein (Dietmar Schütz [SPD]: Ich nehme das Ange ausreichender Schutz des Bodens nicht gewährleistet bot an!) ist. Zum Teil sind in der Praxis in Fällen Verfahrens- einstellungen erfolgt, in denen zwar der Boden Ein weiteres Beispiel: Der neue Tatbestand der Bo- schwer verunreinigt war, nicht aber das Grundwas- denverunreinigung soll nach den Vorstellungen der ser. SPD jede Bodenbeeinträchtigung erfassen. Damit wäre auch das formell rechtswidrige Bauen strafbar. Der Entwurf sieht nunmehr einen Bodenverunreini- gungstatbestand vor, und dieser ist verwaltungsak- (Hermann Bachmaier [SPD]: Malen Sie keine zessorisch. Dies ist vom Grundsatz her zu begrüßen. Gespenster an die Wand!) 1374 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Cornelia Yzer — Sie, Herr Kollege Bachmaier, tun dies, indem Sie den. Bei Nichteinschreiten von Amtsträgern gegen einen Entwurf vorlegen, der solche Regelungen beab- Umweltstraftaten Dritter kommt im übrigen eine sichtigt. Strafbarkeit wegen Unterlassens in Betracht. Insofern werden wir auch die einzelnen Vorschläge (Hermann Bachmaier [SPD]: In Betracht des Regierungsentwurfs, der in der letzten Legislatur- kommt vieles!) periode unter großem Zeitdruck erarbeitet und nun- Für einen besonderen Amtsträgerstraftatbestand be- mehr unverändert wieder eingebracht wurde, noch- steht daher kein Handlungsbedarf. mals darauf prüfen müssen, inwieweit die Grenzen der Ultima-ratio-Funktion des Strafrechts nicht über- Dies belegt auch das im Auftrag des Umweltbun- schritten werden. Wer hier überzieht, erweist der Um- desamtes erstellte Gutachten von Professor Rogall, welt keinen Dienst. das in den letzten Tagen erschienen ist. Dessen Aus- sage lautet klar — ich zitiere — : (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord- neten der FDP) Es konnte nicht festgestellt werden, daß eine Strafverfolgung an den Strukturen des geltenden In diesem Zusammenhang muß darauf verwiesen Rechts scheitert. werden, daß eine hohe Zahl von Ermittlungsverfahren im Umweltbereich derzeit mit Einstellungen enden. (Beifall bei der CDU/CSU) Sicherlich erfolgt die Einstellung häufig, weil die Er- Ein besonderer Amtsträgerstraftatbestand könnte mittlungsbehörden auf Beweisprobleme technischer dagegen die Handlungsflexibilität und Entschei- oder naturwissenschaftlicher Art stoßen. Tatsache ist dungsfreudigkeit des Amtsträgers hemmen aber auch, daß die weite Fassung der Umweltstraftat bestände nach geltendem Recht zu Ermittlungen ver- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr wahr, anlaßt, die sich bei näherer Betrachtung als nicht mit ganz richtig! — Hermann Bachmaier [SPD]: strafrechtlichen Mitteln sanktionswürdig erweisen. Das Argument wird durch ständiges Wieder holen nicht besser!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- und damit gerade das im Umweltbereich besonders ordneten der FDP) bedeutende Kooperationsprinzip empfindlich stören. Unter diesem Aspekt werden wir auch die im Ent-- Daher ist einem Kooperationsmodell der Vorzug vor wurf vorgesehene Neufassung des Tatbestandes der strafrechtlichen Regelungen zu geben, wobei — und Luftverunreinigung überprüfen müssen. Wir müssen auch dies sagt das Gutachten von Rogall aus — der die Frage stellen, ob allein das Freisetzen von Schad- Gesetzgeber — also wir — aufgerufen bleibt, die Rah- stoffen ohne Auslösung von Schädigungen in jedem menbedingungen des Verwaltungshandelns durch Fall strafwürdig ist oder ob nicht doch am Tatbe- Präzisierungen im Verwaltungsrecht genauer als bis- standsmerkmal der Geeignetheit der Schadensverur- her festzulegen. sachung festgehalten werden muß. (Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Richtig!) Dabei ist zu berücksichtigen, daß allein das Freiset- Abschließend ist festzustellen, daß der vorliegende zen von Stoffen nicht zwangsläufig zu einer Beein- Entwurf der Bundesregierung zur Novellierung des trächtigung der von der Norm erfaßten Schutzgüter Umweltstrafrechts einen erfolgversprechenden An- führen muß. Maßgebend sind zudem die spezifischen satz zur Verbesserung der Ahndung von Umweltstraf- Eigenschaften von Stoffen, Einwirkungsbedingungen taten bietet. Sicherlich ist der Entwurf in einigen und Wirkungszusammenhänge sowie letztendlich Punkten noch aktualisierungsbedürftig. auch der Zeitfaktor. (Dietmar Schütz [SPD]: Das ist so!) Grundlage aller Überlegungen zur Reform des Um- weltstrafrechts, meine Damen und Herren, muß sein, Eine Anpassung an die Entwicklung der Gesetzge- daß am Grundsatz der Verwaltungsakzessorietät bung seit Einbringung des Entwurfs wird erforderlich prinzipiell festgehalten wird. Das Festhalten an die- sein. sem Grundsatz dient dem Gebot der Rechtsklarheit Noch nicht berücksichtigt ist beispielsweise das und der Rechtssicherheit. Wir müssen uns davor hü- Vertragsgesetz zu dem Übereinkommen über den ten, Umweltstrafrecht so kompliziert zu gestalten, daß physischen Schutz vor Kernmaterial. Aber im Sinne nur noch Stabsabteilungen von Großunternehmen die einer dringend notwendigen Beschleunigung des Ge- strafrechtliche Relevanz bestimmter Handlungen be- setzgebungsverfahrens war es richtig, zunächst auf urteilen können, während über Handwerksbetrieben die Änderungen zu verzichten und diese nunmehr im und mittelständischen Unternehmen das Damokles- Laufe des Verfahrens einzubringen. Dabei wird in den schwert schwerer und nicht vorhersehbarer Bestra- Beratungen auch die Umweltsituation in den neuen fung schwebt. Bundesländern zu berücksichtigen sein. Sozialisti- (Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Richtig!) sche Mißwirtschaft hat dort eine katastrophale Um- weltsituation hinterlassen. Kontraproduktiv würde sich auch der von der SPD- Fraktion in ihrem Entwurf geforderte Amtsträger- (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Sehr rich straftatbestand auswirken. Bereits heute wird sank- tig!) tionswürdiges Handeln von Amtsträgern im Bereich Sofortmaßnahmen, die von der Bundesregierung er- des Gewässerschutzes und der Abfallentsorgung auf griffen wurden, können nur die Spitze des Eisbergs Grund des Allgemeindeliktcharakters der betreffen- treffen. Zahlreiche Anlagen mußten stillgelegt wer- den Vorschriften strafrechtlich geahndet. Künftig den, weil ihr weiterer Bet rieb ökologisch nicht mehr wird auch der Bereich des Bodenschutzes erfaßt wer zu verantworten war. Aber es wird Jahre dauern, bis Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1375

Cornelia Yzer bei den noch in Betrieb befindlichen Anlagen im — und das ist schon von meinen Vorrednern ausge- Wege der Sanierung erreicht werden kann, daß auch führt worden — sind keine Bagatelldelikte, sondern unter ökologischen Gesichtspunkten der Stand der strafwürdiges Unrecht. Wir räumen inzwischen den Technik oder zumindest die allgemein anerkannten wichtigsten Umweltgütern — Boden, Luft und Was- Regeln der Technik eingehalten werden. ser — gleichen Rang wie den klassischen Schutzgü- Dieser Situation müssen wir bei der Novellierung tern des Strafgesetzbuches ein. des Umweltstrafrechts Rechnung tragen. Wir müssen Bereits bei der ersten Diskussion einer Novellierung darauf achten, daß durch die Erweiterung des Kata- des Umweltschutzstrafrechtes in der vergangenen Le- keine Lage eintritt, logs der Fahrlässigkeitsdelikte gislaturperiode ist von allen Seiten eingeräumt wor- die die Menschen in den neuen Bundesländern un- den, daß in den vergangenen Jahren der strafrechtli- überschaubaren Strafverfolgungsrisiken aussetzt che Umweltschutz nicht die Effektivität hatte, die im oder die die dringend notwendige unternehmerische Jahre 1980 bei der grundlegenden Novellierung er- Initiative in den neuen Bundesländern hemmt. wartet worden ist. Dies liegt zum Teil auch an den (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) unausgewogenen geltenden gesetzlichen Regelun- Wir alle wissen, daß die Schaffung von Normen gen. Bei Bodenverunreinigungen, die nicht zusätzlich allein noch nicht zu einer Abwehr von Umweltgefähr- zu einer nachweisbaren Grundwasserverunreinigung dungen führt. Entscheidend ist letztendlich deren führen oder nicht auf einer Lagerung gefährlicher Ab- Vollzug. Hier werden die Länder unmittelbar nach fälle beruhen, besteht eine strafrechtliche Lücke. Der Verabschiedung der Novelle zum Umweltstrafrecht Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht erfreuli- aufgefordert sein, ihre Ermittlungsbehörden sowohl cherweise nun eine besondere Vorschrift für diesen sachlich als auch personell in einer Weise auszustat- Bereich vor. ten, daß eine effektive Umsetzung der Strafrechtsvor- schriften ermöglicht wird. Der Tatbestand der Luftverunreinigung spielte in den letzten Jahren — das weiß ich als Staatsanwalt Wir ergreifen derzeit alle denkbaren Maßnahmen, sehr gut — in der Praxis kaum eine Rolle. Nunmehr ist um den dringend notwendigen Aufbau einer funk- vorgesehen, daß in diesem Bereich alle Verstöße ge- tionsfähigen Verwaltung und Justiz in den neuen gen Rechtsvorschriften generell Anknüpfungspunkt Bundesländern zu unterstützen. Ein verbessertes Um- für strafbares Verhalten sind. weltstrafrecht wird auch für die neuen Bundesländer zusätzlichen Personalbedarf schaffen, insbesondere Eine Vorschrift von besonderer Wichtigkeit ist für auch für Spezialisten auf dem Gebiet des Umwelt- mich, daß in Zukunft auch der ungenehmigte Export rechts, die selbst in den westlichen Bundesländern und Import gefährlicher Abfälle unter Strafe gestellt noch rar sind. Dessen müssen wir uns alle bewußt wird. Wir alle werden noch die Bilder der verrosteten sein, wenn wir jetzt ein effektiveres Strafrecht fordern. Fässer mit hochgefährlichen Stoffen aus Deutschland Wir müssen mit unserer Forderung die Bereitschaft vor Augen haben, die vor einigen Jahren in einem zur Solidarität mit den neuen Bundesländern auch in westafrikanischen Staat entdeckt wurden. dieser Frage verbinden; denn eines dürfen wir nicht dulden: einen aus unterschiedlicher Personalausstat- In den letzten Wochen häuften sich die Meldungen, tung resultierenden unterschiedlichen Umweltstraf- daß Kriminelle in verstärktem Ausmaß die neuen de- rechtsvollzug in den Ländern. mokratischen Staaten im Osten als illegale Sonder- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mülldeponie für Deutschland entdecken. Dem muß ein wirksamer strafrechtlicher Riegel vorgeschoben werden. Das Ordnungswidrigkeitenrecht reicht hier Vizepräsidentin Renate Schmidt: Frau Kollegin nicht mehr aus. Yzer, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Jungfernrede und vor allen Dingen dazu, daß Sie die Zeit so toll Der Entwurf erweitert im übrigen — neben Straf- eingehalten haben. rechtsverschärfungen, die erforderlich sind — in er- freulicher Weise die Voraussetzungen, unter denen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tätige Reue zu einem Absehen von Strafe oder zu Als nächster hat der Kollege Jörg van Essen das einer Strafmilderung führen kann. Wort. Die strafrechtlichen Vorschriften stehen — das ist hier auch schon mehrfach ausgeführt worden — wei- (FDP): Frau Präsidentin! Meine Da- Jörg van Essen terhin in Abhängigkeit von den umweltverwaltungs- men und Herren! „Im Zweifel für die Natur und gegen rechtlichen Rechtsvorschriften. Der Begriff „Verwal- das Strafrecht im Umweltschutz" lautete die Über- tungsakzessorietät" ist hier ja schon mehrfach gefal- schrift eines Artikels in der „Zeit" im Oktober 1989. len. Ich denke, daß das auch richtig ist, und widerspre- Der Autor ist der Auffassung, das Strafrecht sei ein che hier der SPD. Dies entspricht nämlich einmal der Klotz am Bein eines sinnvollen Umweltschutzes und Anerkennung des Vorrangs des Verwaltungsrechts solle aus dem Umweltrecht weitgehend wieder zu- bei der Bestimmung des Schutzumfanges der Um- rückgezogen werden. Wie der Bundesjustizminister weltgüter. Es gibt gleichzeitig aber auch die Möglich- — und das wird Sie nicht wundern — stimme ich die- keit, auf den schnellen Wandel wirtschaftlicher Gege- ser Auffassung ausdrücklich nicht zu. benheiten, technischer Entwicklungen und wissen- Angesichts der außerordentlich hohen Steigerungs- schaftlicher Erkenntnisse flexibel zu reagieren. raten der registrierten Umweltdelikte muß der sozial- schädliche Charakter von Vergehen gegen die Um- (Dr. Hans de With [SPD]: Ihr werdet es schon welt deutlich gemacht werden. Umweltverstöße noch lernen!) 1376 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Jörg van Essen Entgegen den Forderungen der SPD sieht auch derlichen Rechtsempfindens durch die fehlende Vor- diese Novelle zu Recht keine Sondervorschrift für Um- bildwirkung des Staates verhindern. weltstraftaten im Amt vor. Herr Bachmaier, ich kann Wodurch aber kann dieses Rechtsempfinden ent- Ihnen nur empfehlen, dazu die Ausführungen des wickelt werden? Ich meine, durch Informationen über SPD-Justizministers aus Nordrhein-Westfalen, mei- Umweltbelastungen, durch die Darstellung der globa- nes ehemaligen Dienstvorgesetzten, len Zusammenhänge, also auch über den Rahmen der (Dr. Hans de With [SPD]: Auch Sozialdemo- Bundesrepublik hinaus, durch die Veröffentlichung kraten können irren!) von Umweltdelikten mit ausführlicher Beschreibung noch einmal sorgfältig zu studieren. Ich habe diesen der für den einzelnen Menschen entstehenden, auch Ausführungen keinen einzigen Punkt hinzuzufügen. langfristigen und mittelbaren Schädigungen, durch die Schaffung von Anreizen zu umweltgerechtem (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Verhalten und zuallerletzt durch die strafrechtliche Anders stellt sich das rechtliche Erfordernis bei der Verfolgung, vor allem aber, denke ich, durch die Verantwortlichkeit in den Unternehmen dar. Gleichbehandlung vor dem Gesetz, die im Regie- (Dietmar Schütz [SPD]: Warum sind die Ver- rungsentwurf überhaupt nicht in Betracht gezogen antwortlichkeiten da anders?) wird. Der SPD-Entwurf klagt sie zwar ausführlich ein, realisiert sie dann aber doch nicht. Der Entwurf schafft hier eine Klarstellung und erwei- tert die Möglichkeit der Festsetzung von Geldbußen In der Begründung des SPD-Gesetzentwurfs heißt gegen juristische Personen und Personenvereinigun- es richtig auf Seite 9: gen, wenn ein Verantwortlicher in leitender Stellung eine Straftat oder eine Ordnungswidrigkeit begangen Da umweltbelastende oder -gefährdende Tätig- hat. keiten oftmals verwaltungsrechtlich gestattet sind, ist ein umfassender strafrechtlicher Schutz Lassen Sie mich zum Schluß noch eines deutlich der Umweltmedien gegen derartige Gefahren sagen: Das Strafrecht ist immer das letzte Mittel. Das und Beeinträchtigungen nicht möglich. Dies folgt Kind wird häufig vorher schon in den Brunnen gefal- aus dem Gebot der Einheit der Rechtsordnung: Es len sein. Der Schwerpunkt unserer Bemühungen muß darf grundsätzlich nicht strafbar sein, was ver- daher auch in Zukunft darin liegen, daß es zu Verstö-- waltungsrechtlich erlaubt ist. ßen gegen die umweltstrafrechtlichen Bestimmungen gar nicht erst kommt. Dennoch haben Strafvorschrif- Das Beispiel auf Seite 16, in dem beschrieben wird, ten auch einen erzieherischen Wert, wenn Verstöße wie eher geringfügige Gewässerverunreinigungen tatsächlich und gegebenfalls hart geahndet werden. durch Privatpersonen bestraft und teilweise erhebli- Der Entwurf gibt dazu die notwendige solide Grund- che Schädigungen von Gewässern durch industrielle lage. Einleiter nicht geahndet werden, illustriert die Unzu- Vielen Dank. länglichkeit der gegenwärtigen Praxis und beider Entwürfe bestens. Denn das Problem besteht — wie (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie selbst betonen — darin, daß die legale Umwelt- zerstörung toleriert wird. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Noch einmal ei- Es ist richtig — wie Herr Bundesminister Kinkel ge- nen herzlichen Glückwunsch zur Jungfernrede! rade forderte — , illegale Abfallexporte und -importe Heute ist es ja erstaunlich, wie sich alle in der Zeit zu ahnden. Aber was, frage ich Sie, ist mit den geneh- begrenzen. migten? Ich denke, daß die ebenso schädliche Folgen Als nächste hat die Kollegin Jutta Braband das für die Umwelt haben können — ich erinnere nur an die Sondermülldeponie in Schönberg — , aber aus an- Wort. deren Erwägungen eben erlaubt werden. Deshalb kann der einzig mögliche Schluß nur sein: Jutta Braband (PDS/Linke Liste) : Frau Präsidentin! erstens vordringlich die herrschende Genehmigungs- Meine Damen und Herren! Die PDS/Linke Liste hält praxis zu hinterfragen und zu verschärfen, statt — wie den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Be- jetzt durch die Bundesregierung gefordert — die Ver- kämpfung der Umweltkriminalität für unbrauchbar. fahren auch noch zu verkürzen; zweitens eine durch- Hier soll wieder einmal Kriminalität mit Mitteln des greifende Demokratisierung dieser Genehmigungs- Strafrechts verringert werden. Wie in anderen Berei- verfahren vorzunehmen, indem vor allem die Ein- chen gilt aber auch hier: Die Verhinderung von Straf- spruchsrechte von Betroffenen erweitert werden, und taten ist durch die Verschärfung von Gesetzen nur drittens bereits bestehende Gesetze endlich auch da- bedingt zu erreichen. hin gehend voll auszuschöpfen, daß die Strafbarkeit Leider folgt der sehr engagierte und wesentlich dif- bereits im Genehmigungsverfahren primär berück- ferenzierter vorgehende Entwurf der SPD, dem wir sichtigt wird. deswegen teilweise auch zustimmen können, genau Übrigens gibt es in der Beurteilung dieser gesamten dem Prinzip des Regierungsentwurfs. Wie in vielen Angelegenheit eine erstaunliche Parallele zur vorher- Fällen in diesem Hause sind aber hier politische Lö- gehenden Debatte über legale und illegale Waffenex- sungen im Sinne eines Umdenkens erforderlich. Im porte in den Irak. Ich finde es wirklich erstaunlich, daß Umweltbereich gilt dies vor allem deshalb, weil die das sonst niemandem auffällt. genehmigte Umweltschädigung und die daraus resul- tierende Nachsorgepolitik der Bundesregierung Ich möchte noch einen abschließenden Satz sagen: beim einzelnen Menschen die Entwicklung des erfor Ich denke, daß in den Ausschüssen eine gute Debatte Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1377

Jutta Braband möglich sein wird, weil vor allem der SPD-Entwurf auf rechts orientieren muß. Die Regierung hat das zum Grund seiner differenzierten Art des Herangehens an Teil auch getan. die Problematik eine gute Grundlage für die Ausein- andersetzung mit dieser Thematik bildet. Ich hoffe, Die erkennbar gewordenen Schwächen der mittler- daß da auch endlich einmal in der Sache gestritten weile zehn Jahre alten Umweltstraftatbestände müs- wird. sen korrigiert werden. Das heißt insbesondere, daß Bagatellverstöße nicht gleich mit dem harten Instru- Ich danke Ihnen. mentarium des Strafrechts geahndet werden müssen, (Beifall bei der PDS/Linke Liste) sondern daß das Ordnungswidrigkeitenrecht hier die geeignete Sanktionsform darstellt.

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat Des weiteren müssen die Strafrahmen bei beson- der Kollege Dietmar Schütz das Wort. ders gefährlichen Umweltdelikten drastisch angeho- ben werden, damit ein Äquivalent zu der erheblichen kriminellen Energie hergestellt wird. (SPD): Frau Präsidentin! Meine Da- Dietmar Schütz Der Regierungsentwurf hat zum Teil das Sanktions- men und Herren! Bevor hier Legenden gebildet wer- system und auch das materielle Umweltstrafrecht in den — die Frau Kollegin Yzer ist gerade fortgegan- die richtige Richtung geändert und ergänzt. Die Un- gen — , will ich wenigstens noch einmal den Tatbe- terschiede zwischen Regierungsentwurf und Opposi- stand darlegen. Es wurde gesagt, daß sich nach unse- tionsentwurf sind an dieser Stelle nicht mehr so gra- rem Entwurf schon ein Autofahrer wegen der Emissio- vierend. Wir gehen in bestimmten Bereichen weiter. nen seines Fahrzeuges einer Rechtsverletzung schul- Es bleibt aber der Problemkreis „Strafrecht und Ver- dig macht. Wir haben formuliert: wer unbefugt in waltung " mit den Schwerpunkten Amtsträgerhaftung nicht unerheblichem Umfang die Luft verunreinigt und Verwaltungsakzessorietät, in denen wir uns un- bzw. wenn festgesetzte Emissionsbegrenzungen er- terscheiden. heblich überschritten werden. Wenn man das im Zu- sammenhang liest, kann man nicht solche Interpreta- Beim Thema „Verwaltung, Verwaltungsrecht und tionen vornehmen. Strafrecht" geht der Entwurf erklärtermaßen mit Ab- (Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Warum sicht keinen Schritt weiter. Den Grundsatz der st rikten nicht?) Verwaltungsakzessorietät des Strafrechts behält der Regierungsentwurf ohne Wenn und Aber bei. Eine — Weil man über den Beg riff „nicht unerheblich" Amtsträgerhaftung ist nicht vorgesehen. durchaus diskutieren muß. (Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Wann Ich hatte zu Beginn unserer Diskussion vor drei Jah- beginnt das?) ren das Prinzip der Verwaltungsakzessorietät grund- — Darüber wird man dann zu richten haben. sätzlich natürlich nicht in Frage gestellt, weil der Bür- ger, wie auch heute, nicht begreifen wird, daß, wenn (Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Wenn Sie das Verwaltungsrecht etwas erlaubt, das Strafrecht einen Straftatbestand hineinschreiben wol- dies anders beurteilt. Am Prinzip kann und soll also len, müssen Sie das aber einmal sagen!) auch heute nicht gerüttelt werden. Ich hatte aber auch — Sie werden in einen Straftatbestand nicht die kla- damals schon gefragt, ob die stringente Beibehaltung ren Normierungen beispielsweise von Partikelgrößen dieses schlichten Grundsatzes reicht. aufnehmen können. Das haben Sie in keinem Straf tat -bestand. Der Einwand ist unbegründet. Der aufgeklärte und in Verwaltungsabläufen kenntnisreiche Bürger weiß nämlich, daß das Verwal- (Zuruf von der FDP: Nein, sehr berechtigt! — tungsrecht als sogenanntes „soft law" anderen Ge- Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Solange staltungsmaximen unterworfen ist als das dem Lega- Sie das offenlassen, hat die Kollegin Yzer litätsprinzip folgende Strafrecht. Jeder, der an Geneh- recht!) migungsverfahren, auf welcher Seite auch immer, — Wir werden das, glaube ich, in der Beratung weiter teilgenommen hat, weiß, daß die Verwaltungsrechts- diskutieren. vorschriften zum Teil lediglich den rechtlichen Rah- (Zuruf von der SPD: Genau!) men für die Auflagen und Bedingungen des jeweili- gen Bescheides bilden. Meine Damen und Herren, die Diskussion zur No- vellierung des Umweltstrafrechts findet, soweit ich Es gilt auch heute noch, daß die Gestaltungsmacht mich erinnere, wenn wir die vorige Legislaturperiode eines potenten Anlagebetreibers derart ist, daß er In- mit berücksichtigen und wenn man auch die Debatte, halt und Grenzen einer Auflage im Bescheid selber die wir am Anfang nach der Großen Anfrage meiner mitbestimmt. Ich habe das selber häufig erleben müs- Fraktion zur Umweltkriminalität hatten, mitrechnet, sen. Die sich z. B. daraus ergebende Problemstellung ein viertes Mal statt. Die Quintessenz aus der ersten des Verhältnisses des Verwaltungsrechts zum Straf- Debatte, nämlich daß ausweislich der uns vorliegen- recht ist nicht neu, wie auch andere parallele Fragen den Daten die verfolgte Umweltkriminalität ganz dazu in der Literatur und der Rechtsprechung heftig überwiegend Bagatellcharakter hat und demgegen- diskutiert werden. Herr Eylmann hat in einer früheren über Verfahren aus dem industriellen Bereich und aus Debatte auf diese Situation hingewiesen und die Fä- dem Bereich der öffentlichen Verwaltung in den Sta- higkeit des Strafrechts zur Regelung in diesem Be- tistiken nicht auftauchen, gibt uns die Richtwerte vor, reich überhaupt hinterfragt. Sie haben soeben einen an denen sich eine Novellierung des Umweltstraf- ähnlichen Aufsatz zitiert. 1378 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Dietmar Schütz Es fällt auf, daß der Regierungsentwurf zum Teil bei nehmen. Ich bitte Sie, sich diese Position bei der wei- den neu formulierten Umweltdelikten die Verbindung teren Beratung zu eigen zu machen. zum Verwaltungsrecht bereits auf der Tatbestands- ebene hergestellt hat. Der Verstoß gegen das Verwal- Entgegen dem Regierungsentwurf führen wir die tungsrecht ist schon auf der Tatbestandsebene der Strafbarkeit von Amtsträgern auch über die für strafrechtlichen Norm Voraussetzung der Strafbar- jedermann geltenden Straftatbestände der §§ 324, keit. So hat man die engste Form der Verwaltungsak- 326 und 330 des Strafgesetzbuchs hinaus ein. Das bis- zessorietät gewählt. Es fällt dann schwer, sich Abwei- her geltende Umweltstrafrecht hat ja bewußt die un- chungen davon überhaupt vorzustellen. terschiedliche Reichweite der Strafbarkeit von Amts- trägern, je nachdem, in welchen Umweltbereichen sie Der SPD-Entwurf folgt im System dem Gedanken, tätig waren, in Kauf genommen. Der Beamte im Was- daß die Inanspruchnahme der Umweltmedien — Ein- serwirtschaftsamt hat eher die Möglichkeit, sich straf- leiten in Gewässer, Abgabe von Emissionen — den bar zu machen, als der Beamte in der Immissions- Tatbestand erfüllen kann, daß aber erst auf der Ebene schutzabteilung, der wegen der Sonderstraftatbe- der Rechtswidrigkeit entschieden wird, ob das Ver- stände des Umweltstrafrechts Strafbarkeit als Amts- halten durch Genehmigungsparameter, Verwaltungs- träger nicht zu gewärtigen hat. akte usw. gerechtfertigt ist. Der Regierungsentwurf will diese Situation beibe- Die Anknüpfung an das Verwaltungsrecht erfolgt halten, obwohl noch in der Beantwortung der Großen über die Merkmale „unbefugt" und „unerlaubt", die Anfrage zur Umweltkriminalität, die wir im Ap ril 1988 erfüllt sind, wenn kein verwaltungsrechtlicher Recht- gestellt haben, diese Konsequenzen des Verwaltungs- fertigungsgrund, etwa eine Genehmigung, vorliegt. handelns unter dem Gesichtspunkt der Gleichbe- handlung nicht ohne weiteres — auch nicht von der Die Klärung der Frage, ob und inwieweit „Abwei- Regierungskoalition — als einsichtig bezeichnet wur- chungen" vom Grundsatz der Verwaltungsakzesso- den. Auch der Deutsche Juristentag hat diese Unge- rietät bei gravierenden Umweltverstößen mit schwer- reimtheiten nicht wegdiskutieren können, obwohl er wiegenden Folgen oder bei Rechtsmißbrauch in dem — wie wir alle wissen — letztlich zu anderen Empfeh- Sinne in Betracht kommen, daß in derartigen Fällen lungen gekommen ist. die unrechtausschließende Wirkung der verwaltungs- rechtlichen Zulässigkeit nicht gegeben ist, kann bei- Daß Amtsträger überhaupt strafrechtlich zur Ver- dieser Konstruktion klarer entschieden werden. antwortung gezogen werden, ist zum Teil auf scharfe Kritik gestoßen und hat zu nachhaltiger Unruhe inner- Dies haben wir mit unserem Entwurf getan. Wir halb der Verwaltung geführt. Man sah die Gleichbe- wollen an zwei Stellen die Verwaltungsakzessorietät handlung der Beamten, die Entscheidungsfreudigkeit so weit lockern, daß eine Strafbarkeit auch dann ein- und die Entscheidungsfreiheit der öffentlich-rechtlich treten kann, wenn die Handlung verwaltungsrecht- Bediensteten bedroht. Es wurde argumentiert, daß lich genehmigt ist. über das Instrument der Strafbarkeit der Amtsträger Zum einen sehen wir dies im Bereich des unerlaub- die Strafverfolgungsbehörden in originäre Kompeten- ten Betreibens von Anlagen vor. Unerlaubt handelt zen der Verwaltung eingreifen könnten. — Das ist hier, wer eine Anlage unter grob pflichtwidrigem Ver- Unsinn! Selbstverständlich können Ermessens- und stoß gegen Betreiberpflichten oder allgemein aner- Beurteilungsspielräume, ohne die Verwaltungshan- kannte Regeln der Technik errichtet oder betreibt. deln gar nicht denkbar ist, voll erhalten bleiben. Auch bei objektiv fehlerhaftem Handeln der Amtsträger fin- Außerdem wollen wir verhindern, daß ein Verwal- den selbstverständlich alle Prüfungen etwa im Rah- tungsakt vor Strafe schützt, obwohl er rechtsmiß- men der rechtfertigenden Pflichtenkollision oder auf bräuchlich, d. h. durch Täuschung, Drohung oder Be- der subjektiven Ebene für jeden schuldausschließen- stechung, erschlichen worden ist. den Grund statt. Auch der Vorwurf, mit der Strafbar- Dieses Problem soll — so schreiben Sie in den Erklä- keit der Amtsträger könnten die Strafverfolgungsbe- rungen — im Regierungsentwurf weiter offen bleiben, hörden quasi in die Rolle einer umweltrechtlichen weil auf eine Klärung in Rechtsprechung und Litera- Oberaufsicht eintreten, ist falsch und unsinnig. tur gewartet werden soll. So steht es expressis verbis Es ist nicht einzusehen, daß angesichts der weitver- in der Begründung. Wenn der Gesetzgeber — wir! — breiteten, auch jetzt noch zunehmenden Umwelt aber erst dann handeln will, wenn die Juristen in den sensibilisierung immer noch die Amtsträger von vorn- Gerichten und Universitäten sich abschließend geäu- herein vor strafrechtlichen Sanktionen bei vorwerfba- ßert haben, kann er lange warten. Bei einer abschlie- rem fehlerhaften Verwaltungshandeln gefeit sein sol- ßenden Äußerung wartet er bis zum Sankt-Nimmer- len. Der zu erhaltende Vertrauenskredit und auch die leins-Tag. Akzeptanz behördlichen Verwaltungshandelns ge- In diesen von mir dargestellten evidenten Fällen bieten es, die teilweise strafrechtliche Privilegierung von öffentlich Bediensteten aufzugeben. können wir nicht mehr auf die Entwicklung in Litera- tur und Rechtsprechung warten. Es hat wenig Sinn, Ich gehe davon aus, daß auch bei Einführung des derartige Klärungen abzuwarten, wenn es solchen of- Straftatbestandes des Paragraphen 329 a die Strafbar- fenkundigen Verhaltensweisen zu begegnen gilt, die keit von Amtsträgern in einer späteren Strafstatistik auch — für fast jeden Laien erkennbar — von umwelt- keine große Rolle spielen wird. — Wir sind uns darin krimineller Energie getragen werden. einig. Es erscheint mir deshalb zwingend, daß wir die teil- Es gilt an dieser Stelle auch hervorzuheben, daß die weise Lockerung der Verwaltungsakzessorietät vor Anknüpfung an Vorsatz und Leichtfertigkeit — in die- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1379

Dietmar Schütz sem Fall heißt das grobe Fahrlässigkeit — in unserem gen gibt es keinen Widerspruch. Dann ist das so be- Straftatbestand bewirkt, daß der Amtsträger kei- schlossen. nem übermäßigen Strafbarkeitsrisiko ausgesetzt ist. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Durch leicht fahrlässiges Handeln kann der Amtsträ- Abgeordnete Karl-Heinz Schröter. ger heute schon die Allgemeindelikte verwirklichen, was gegenüber der bisherigen Rechtslage nach unse- rem Entwurf eine Besserstellung des Amtsträgers be- (SPD): Frau Präsidentin! Meine deutet. Diese Reduzierung des Strafbarkeitsrisikos Karl-Heinz Schröter Damen und Herren! Um die Bedeutung des von der entfällt dann, wenn sich das Fehlverhalten auf SPD-Fraktion vorgelegten Gesetzentwurfes über schwere Umweltbeeinträchtigungen bezieht. Ich Gruppenbetriebe in der Landwirtschaft zu verdeutli- halte diese Regelungen, die wir vorgelegt haben, für chen, muß eingangs die gegenwärtige sachgerecht. Situation der (Beifall bei der SPD) Landwirtschaft in den neuen Bundesländern ein we- nig beleuchtet werden. Die Einbeziehung der öffentlich Bediensteten in die Gleichbehandlung auch unter dem Aspekt der poten- Wer das tut, der redet heute nicht mehr über Plan- tiellen Strafbarkeit stützt eher ihre Rolle, als daß sie sie erfüllungen oder Höchstleistungen der sozialistischen aufweicht. Der Bedienstete braucht einem unter- Landwirtschaft, wie es noch vor zwei Jahren der Fall schwelligen Verdacht nicht entgegenzutreten und war, sondern über Hoffnungslosigkeit in der Land- kann möglicherweise seine Aufgabe, umweltschüt- wirtschaft, über Probleme der strukturellen Anpas- zende Maßnahmen nach Recht und Gesetz gegenüber sung, über Arbeitslosigkeit und über nicht erfüllte möglichen sachfremden Einflüssen und Pressionen Versprechungen. von Interessenten durchzusetzen, besser erfüllen. In Das Landwirtschaftswunder in den neuen Ländern, meiner früheren Tätigkeit als Verwaltungsbeamter, wie es sich die Bundesregierung erhofft hatte, blieb der gerade auch in Umweltfeldern tätig war, hätte ich aus. mich nie von einer umfassenden Amtsträgerstrafbar- (Zuruf von der CDU/CSU: „Landwirtschafts keit bedroht gesehen. wunder" hat doch kein Mensch gesagt!) Meine Damen und Herren, umgekehrt ist aber das Die Bereitschaft ehemaliger LPG-Landwirte, einen Signal an eine immer umweltsensiblere Bevölkerung, -Neubeginn auf der Basis eines Familienbetriebes zu diese Strafbarkeit auszuschließen, sehr fatal. Wir soll- wagen, ist gering. Das läßt sich an ein paar Zahlen ten den Mut haben, den Schutzzaun einzureißen und leicht belegen. eine Strafbarkeit der Amtsträger zuzulassen, um da- mit Akzeptanz und Vertrauenswürdigkeit der gleich- In meinem Heimatkreis, dem Kreis Oranienburg in behandelten öffentlich Bediensteten den Vorzug zu Brandenburg, gibt es gegenwärtig 1 897 in der Land- geben. wirtschaft Vollbeschäftigte. Davon sind nur 60 bereit, einen Familienbetrieb zu gründen. Das bet rifft, wenn Ich danke Ihnen. man die Fläche betrachtet, nur 5,4 % der gesamten (Beifall bei der SPD) landwirtschaftlichen Nutzfläche des Kreises. Wer die Voraussetzungen betrachtet, mit denen sich diese Bauern dem Wettbewerb stellen wollen, der wird ih- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Wortmel- ren Mut bewundern. dungen liegen nicht vor. Ich schließe damit die Aus- Ein Ergebnis der spezialisierten Landwirtschaft in sprache. der DDR ist die Tatsache, daß in den neuen Bundes- Die Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 12/192 ländern zwei Generationen von Bauern nicht mehr und 12/376 sollen an die in der Tagesordnung aufge- vorhanden sind. Es gibt vielmehr Traktoristen, es gibt führten Ausschüsse überwiesen werden, der Gesetz- Melker, es gibt Instandhalter. Aber es gibt kaum noch entwurf auf Drucksache 12/192 zusätzlich an den Aus- Landwirte, die die gesamte Landwirtschaft beherr- schuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Gibt es schen. darüber hinausgehende Vorschläge? — Das ist nicht (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ist sehr der Fall. Damit sind die Überweisungen so beschlos- traurig!) sen. Wo es sie gibt, sind sie älter als 45 Jahre und nicht mehr bereit, sich dem Wettbewerb zu stellen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf: Hinzu kommt, daß die betriebswirtschaftlichen Fä- Erste Beratung des von der Fraktion der SPD higkeiten nicht vorhanden sind und daß der Berg an eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über komplizierten Problemen mit den Fördermitteln von Gruppenbetriebe in der Landwirtschaft diesen Menschen nicht mehr beherrschbar ist. (GBLG) Neben diesen objektiven Problemen gibt es bei vie- — Drucksache 12/314 — len Bauern die Angst, sich zu verschulden und plötz- lich völlig selbständig p rivates Risiko zu tragen. Der Überweisungsvorschlag: Blick in den Westen Deutschlands mit den Sorgen und Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Rechtsausschuß Problemen und den nicht gerade rosigen Zukunfts- (Federführung strittig) aussichten der hiesigen Landwirte beflügelt in keiner Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Weise die Neuschaffung von Familienbetrieben. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Wenn wir also den Bauern, die unter Zwang kollek- Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. — Dage-tiviert wurden, nicht wieder Zwang antun wollen 1380 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ril 1991

Karl-Heinz Schröter — diesmal zur vollständigen Entkollektivierung —, Hinzu kommen Milchquotenregelungen, die an der dann muß es uns gelingen, durch eine ausgewogene Realität vorbeigehen. Brandenburg, bekannt als die Gesetzgebung einen Rahmen zu schaffen, der den Streusandbüchse, mußte unter der SED-Regierung al- gleichberechtigten Bestand von verschiedenen Be- les anbauen, was staatliche Planauflagen vorsahen — triebsformen ermöglicht. Es gilt, den ländlichen Raum auf unseren leichten Böden natürlich auch Weizen, ja zu erhalten und nicht Tiefladerlandwirten aus den sogar Zuckerrüben. Jetzt, wo bet riebswirtschaftlich alten Bundesländern bzw. aus dem Ausland den Weg kalkuliert werden muß, stellt sich die Situation völlig zu ebnen. anders dar. Brandenburgs Zukunft könnte mit Berlin im Herzen des Landes natürlich die Milchproduktion (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das, was sein. Jedoch wird diese Perspektive wie in anderen Sie wollen, ist doch schon längst überholt!) neuen Bundesländern mit einem hohen Grünlandan- Die Liquidation der LPG ist sicher der schlechteste teil durch eine viel zu geringe Milchquote versperrt. Weg zur Erreichung dieses Ziels. Er würde nur dazu Kein Brandenburger Bauer versteht, daß Milch und führen, daß unter dem Druck, in kürzester Zeit Geld Milchprodukte aus den Altländern herangefahren zu beschaffen, die noch vorhandenen Vermögens- werden müssen, wo die einheimischen Bauern doch werte verschleudert würden. Berechtigte Ansprüche durchaus allein in der Lage wären, den Bedarf zu dek- von Inventareinbringern könnten nur noch teilweise ken. realisiert werden, und wertvolles Vermögen für den (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) Neubeginn ginge verloren. Deshalb müssen die Hemmnisse beseitigt werden, die den Aufbau gesun- Meine Damen und Herren, Teilung kann nur durch der Strukturen behindern. Was sind solche Hemm- Teilen überwunden werden. Auch eine Milchquote nisse? kann so geteilt werden, daß den Bauern in den neuen Bundesländern der Start erleichert wird. Zunächst — das trifft verstärkt gerade in meinem Bundesland Brandenburg mit sehr schlechten Boden- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der wertzahlen zu — ist es die fehlende Finanzstärke der PDS/Linke Liste) Betriebe. Wer arm ist, der lebt teuer. Das gilt ganz Allein im Kreis Oranienburg führt die Kürzung der besonders für die Landwirtschaft. Denn wer nicht in Milchquote um 20 % zu Gewinnausfällen von 5 Mil- der Lage ist, z. B. in moderne Melktechnik zu investie- lionen DM im Jahre 1991. ren, der wird herbe Einbußen beim Milchpreis als Quittung haben, weil er verschiedene Qualitätspara- (Zurufe von der CDU/CSU: Was hat das mit meter nicht einhält. Wer nicht in der Lage ist, seine 15 dem Gesetzentwurf zu tun? — Überhaupt bis 20 Jahre alte mobile Landtechnik zu erneuern, der nichts!) muß mit hohen Instandsetzungskosten rechnen, der Vor dem Hintergrund der geschilderten Probleme muß zusätzlich hohen Kraftstoffverbrauch und viele halten wir Sozialdemokraten die Schaffung eines Stunden Arbeitszeit verkraften. leicht überschaubaren Gesetzes zur Bildung von (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Was hat das Gruppenbetrieben für unabdingbar. denn mit der Gruppenlandwirtschaft zu (Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt kommt das tun?) Gesetz!) — Wir kommen noch dazu, Herr Kollege. Dabei ist für uns folgendes besonders wichtig: Der (Zuruf von der CDU/CSU: Bis jetzt hat er das Gruppenbetrieb soll ein Zusammenschluß von selb- Gesetz noch nicht einmal erwähnt!) ständigen bäuerlichen Betriebseinheiten in Haupt- und Nebenerwerb zum Zweck der gemeinsamen wirt- Wer kein Eigenkapital hat, um diese Nachteile durch schaftlichen Nutzung der eingebrachten Produktions- Modernisierung zu kompensieren, der muß Kredite kapazitäten sein. aufnehmen. Wer Kredite absichern will, der braucht dazu gegenwärtig Grund und Boden. Wie Sie aber (Siegfried Hornung (CDU/CSU]: Was hat das wissen, hatten Landwirtschaftsbetriebe in der DDR jetzt wieder mit den Quoten zu tun?) keinen eigenen Grund und Boden. Die gesellschaftlichen Regelungen müssen auf die Nun gibt es zwar das auch nach dem Einigungsver- Anforderungen der Landbevölkerung bei uns abge- trag fortgeltende Recht, daß Landwirtschaftsbetriebe stellt sein und ihre Denkweise widerspiegeln. ein Vorkaufsrecht haben, aber die Treuhand ist nicht (Beifall bei Abgeordneten der SPD) in der Lage, in der erforderlichen Zeit die vielen An- Umweltverträgliche Landbewirtschaftung, artge- träge auf Kauf von bebauten Flurstücken zu bearbei- rechte Tierhaltung und die Verhinderung einer Mas- ten. Hier beginnt sich ein mühseliger Kreis zu schlie- sentierhaltung setzen bewußtes und verantwortungs- ßen. Durch das endlose Verfahrensprozedere geht das volles wirtschaftliches Verhalten voraus. verloren, was die Landwirte in den neuen Bundeslän- dern genausowenig haben wie Kapital, nämlich Zeit. (Dr. Reinhart Göhner [CDU/CSU]: Das ist Jeder Tag, der ohne Ergebnisse vergeht, schläfert die nicht abhängig vom Gesellschaftsrecht!) Arbeitsmoral ein und führt zu Lethargie. Wer an eini- Damit an dieser Stelle keine Zweifel aufkommen, gen Stellen des neuen Bundesgebietes noch Stroh- meine Damen und Herren: Wir Sozialdemokraten schwaden vom vergangenen Jahr sieht, weiß, wozu sind für die Chancengleichheit aller Eigentums- und das führt. Bewirtschaftungsformen in der Landwirtschaft, so- (Zuruf von der CDU/CSU: Das könnten lange sie die oben aufgezeichneten Nebenbedingun- durchaus stillgelegte Flächen sein!) gen erfüllen. Doch allein durch eine Betonung dieser Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ril 1991 1381

Karl-Heinz Schröter Chancengleichheit ist sie noch lange nicht hergestellt. für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu über- Es gibt nach wie vor erhebliche Unterschiede im weisen. An Sie, meine Damen und Herren von den Steuer- und im Förderungsbereich. Hier sehen wir Regierungsparteien, appelliere ich, die Beratungen in Sozialdemokraten den Ansatzpunkt für sinnvolle Ver- den Ausschüssen konstruktiv und zügig mit uns zu änderungen. führen. Die Bürger der neuen Bundesländer haben nämlich in fataler Weise erleben müssen, welche Fol- Unter den besonderen Bedingungen der Landwirt- gen das kritiklose Übernehmen der Erfahrungen an- schaft in den neuen Ländern muß die Wahl einer derer mit sich bringen kann. Ich erinnere dabei nur an von kooperativen Unternehmen die di- Rechtsform die Probleme der Rinderoffenstallkampagnen und an- rekte Beteiligung der Landwirte an der Betriebslei- dere. tung, die begrenzte Haftung für Verbindlichkeiten des Gemeinschaftsunternehmens sowie die Gleichbe- Die SED hatte vor 30 Jahren per Dekret bestimmt, handlung mit individuell geführten Betrieben in wirt- daß die kollektive Landwirtschaft die effektivste zu schaftlichen, sozialen und steuerlichen Belangen ge- sein hat. Sie ließ keinen Wettbewerb zu. Wir dürfen währleisten. jetzt keinen Umkehrschluß zulassen. Gleichberech- tigte Betriebsformen sollen im fairen Wettbewerb be- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke weisen können, welche Struktur unter Wahrung Liste) strenger ökologischer und tierhalterischer Prämissen Mit unserem Gesetzentwurf schaffen wir dafür die Bestand hat und welche dort die besten ökonomi- Voraussetzungen. schen Ergebnisse erwirtschaftet. Der Deutsche Bauernverband in Bonn unterstützt (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Und Sie diese Zielsetzung. Erst in diesen Tagen vertrat der meinen, dazu braucht man Gruppenbetriebe künftige Generalsekretär Dr. Born auf einer Tagung in der Landwirtschaft?) in Magdeburg die Auffassung, daß sich das Bild des Bitte beweisen Sie mit uns gemeinsam, daß der Sach- Familienbetriebes künftig noch weiter differenzieren verstand und die unterschiedlichen Erfahrungen, die werde, in diesem Hohen Haus vorhanden sind, in der Lage (Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Das ist sein werden, für unser ganzes Land zu Lösungen und sicher richtig! — Siegfried Hornung [CDU/ zu neuen Strukturen zu kommen, die unsere Land- CSU]: Und daraus leiten Sie das ab, was Sie -wirtschaft im EG-Maßstab wettbewerbsfähig macht. gesagt haben?) (Horst Sielaff [SPD]: Hoffentlich verweigert und zwar vom kleinen Nebenerwerbsbetrieb bis hin sich die CDU da nicht!) zu größeren Privatbetrieben mit eigenen oder sogar Die Damen und Herren von der CDU haben schon einigen Fremdarbeitskräften. Darin, so meint er, hät- durch ihr Interesse bekundet, daß sie ganz bestimmt ten auch gemeinschaftlich geführte Betriebe, etwa in gemeinsam mit uns an dieser wichtigen Frage arbei- Form der Gruppenlandwirtschaft, ihren Platz. ten werden. Ich entnehme den regen Äußerungen, daß Sie im Ausschuß gemeinsam mit uns sicherlich zu (Jan Oostergetelo [SPD]: Das war ein wörtli- vernünftigen Lösungen kommen werden. ches Zitat! — Dr. Reinhard Göhner [CDU/ CSU]: Das hat doch nichts mit dem Gesell- Ich bedanke mich. schaftsrecht zu tun!) (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Li Wir teilen diese Auffassung. ste) Der Bauernverband e. V. und der Genossenschafts- verband e. V. in Berlin haben den Gesetzentwurf in einem Sonderheft veröffentlicht. Die Verbände haben Vizepräsidentin Renate Schmidt: Auch dem Kolle- ihre Mitglieder, die Landes- und Kreisverbände auf- gen Karl-Heinz Schröter herzlichen Glückwunsch zu gefordert, den Entwurf zu diskutieren und ihre Auf- seiner Jungfernrede! fassung darzulegen. Wir begrüßen diese bereits ge- Jetzt hat der Kollege Wolfgang von Stetten das führte breite Diskussion unseres Gesetzentwurfs. Im Wort. Interesse der Landwirtschaft und der ländlichen Räume in den neuen Bundesländern kann das nur von Vorteil sein. Wir werden diesen Dialog aufgreifen; Verbesserungsvorschläge werden wir gern aufneh- Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU): men und in das Gesetzgebungsverfahren des Deut- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn schen Bundestages einbringen. das Ihre Jungfernrede war, lieber Kollege Schröter, Wir stimmen voll mit den Verbänden überein, die in dann will ich nicht so viel sagen. Sie haben zwar viel der Einleitung zum Sonderheft schrieben: Soll der gesagt, aber über das Gesetz haben Sie fast nichts Anpassungsprozeß der Landwirtschaft in den neuen gesagt. Sie haben angekündigt, der Kollege Thalheim Bundesländern gemeistert werden, müssen auch für werde das machen; ich freue mich darauf. Ich kann Deutschland neue Lösungswege für zukunftsträchtige leider nicht auf Ihre Ausführungen antworten. wettbewerbsfähige Strukturen unter dem Blickwinkel Meine Damen und Herren, niemand will dem Kol- der Chancengleichheit eröffnet werden. legen, der das Gesetz entworfen hat, den guten Willen und das Bemühen, zu einer guten Lösung zu kommen, Ich bitte deshalb das Hohe Haus, den von uns ein- abstreiten. gebrachten Entwurf des Gesetzes, den der Kollege Thalheim noch näher erläutern wird, an den Ausschuß (Zurufe von der SPD: Sie hören nicht zu!) 1382 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ril 1991

Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten — Sie hören ja selber nicht zu. Das wäre doch auch bleiben müssen. Dies kann jeder nach freier Überein- ganz gut. kunft als Gesellschafter festsetzen. (Horst Sielaff [SPD]: Natürlich höre ich zu! Willkürlich, wie schon ausgeführt, ist die Beschrän- Sie sind so laut!) kung der Gesellschafter auf die Zahl 10. Willkürlich ist auch die Beschränkung der Gesellschafter bzw. der — Danke schön. Ich werde leiser reden, damit Sie Gesellschafterinnen auf volljährige oder unbe- schlafen können. schränkt geschäftsfähige Landwirte. Gerade ein min- Ich bin der Meinung, daß der gute Wille bei diesem derjähriger oder gegebenenfalls ein in der Geschäfts- Gesetz alles ist, was erwähnenswert ist, denn dieses fähigkeit beschränkter Landwirt — durch Tod der El- Gesetz ist mindestens überholt. Eigentlich sollte es tern oder durch Unfall — könnte durch die Einbrin- zurückgezogen werden. In diesem Gesetz steht — gung seiner Landwirtschaft in eine Gesellschaft eine abgesehen von einigen Einschränkungen und steuer- lebensfähige Grundlage für sich in der Zukunft bil- lichen Wunschgedanken — nichts, was nicht auch im den. Bürgerlichen Gesetzbuch, in den Vorschriften über § 3 Abs. 4 reicht sicher nicht aus, um zu bestimmen, die bürgerlich-rechtliche Gesellschaft, zu finden wie die Gesellschafter steuerlich und sozial den Inha- wäre, die ja gemäß § 1 Abs. 2 dieses Gesetzentwurfes bern landwirtschaftlicher Famillienbetriebe gleichge- auch für die Gruppenbetriebe der Landwirtschaft gel- stellt bleiben. Hier bedarf es einer Reihe von Anpas- ten sollen. sungen anderer Gesetze, die in einem solchen Gesetz (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Ganz ge- zumindest zu nennen sind. nauso ist es! — Horst Sielaff [SPD]: Sie haben § 5 läßt im übrigen offen, was der Satz „die zur nicht alles gelesen!) gemeinsamen Nutzung eingebrachten Grundstücke Zusätzlich ist in dem zur Verabschiedung anstehen- sind Eigentum der Gesellschafterinnen" bedeuten den Gesetz, dem Landwirtschaftsanpassungsgesetz, soll. Sollten diese Grundstücke, was wohl gemeint ist, die Möglichkeit gegeben, Landwirtschaft in den ver- Eigentum der Gesellschafter bleiben, muß dies auch schiedenen vorhandenen Formen der Gesetze durch- ausgedrückt werden; denn wenn ich etwas in eine zuführen, jetzt sogar durch Umwandlung in einem Gesellschaft einbringe, dann ist es in der Gesell- Akt, in Form der Genossenschaft, der Aktiengesell-- schaft. schaft, der Gesellschaft mit beschränkter Haftung, der (Zuruf von der SPD) Kommanditgesellschaft, der offenen Handelsgesell- — Nein, das steht nicht drin. schaft, oder der bürgerlich-rechtlichen Gesellschaft. Das müßte genügen. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ent spricht der Äußerung von dem Zweierlei (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Die SPD hat Eigentum!) die Koalitionsvereinbarung nicht gelesen!) —Meine Damen und Herren, in Zukunft gibt es nicht — Das kann gut sein. mehr zweierlei Eigentum. Entweder ist und bleibt es Wir sollten nun nicht in einem Sondergesetz eine Eigentum, oder es wird in die Gesellschaft einge- neue Form landwirtschaftlicher Gruppengesellschaf- bracht und ist damit weg. ten gründen, und wenn schon, meine Damen und Her- Das Verbot der Gesellschaft, Grundstücke zu er- ren, die Sie den Gesetzentwurf eingebracht haben, werben oder zu pachten, ist unklar ausgedrückt; denn dann bitte mit mehr Sorgfalt. Wir haben es aber nicht welche Kriterien sollten damit gemeint sein: „wenn nötig. Es könnte den fatalen Eindruck der Ab- und die Gesellschafter/innen am Erwerb oder an der Pach- damit Ausgrenzung landwirtschaftlicher Unterneh- tung dieser Grundstücke nicht interessiert sind". Wie men beinhalten, indem sie — fernab jeder Gesell- stark interessiert? Zu welchem Preis? schaftsrechtsform — unter eine ste rile Glocke gestellt werden. Wir sollten im Rahmen des Landwirtschafts- (Horst Sielaff [SPD]: Formulieren Sie das anpassungsgesetzes beispielhafte Gesellschaftsver- doch klarer, wenn Sie dafür sind!) träge mitgeben und vielleicht die eine oder andere — Bringen Sie doch einen anständigen Gesetzent- Idee dieses Gesetzes berücksichtigen. wurf, dann brauchen wir nicht darüber zu rätseln. Es ist im übrigen auch nicht richtig, meine Damen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — und Herren, daß die Frage der landwirtschaftlichen Horst Sielaff: Aber ablehnen wollen Sie Zuschüsse nur im Rahmen dieses neuen Gesetzes ge- es!) löst werden könne. Die Zahl der sich unschädlich zu- sammenschließenden Betriebe wird von Brüssel ab- Ich frage Sie auch — ich weiß nicht, ob Sie das hängen. Daraus ergibt sich unter Umständen auch Gesetz gelesen haben — : Schließt Abs. 3 des § 5 den die nationale Förderung. Wenn dem so ist, sollte die Abs. 2 aus, oder ergänzt er ihn nur? steuerliche Behandlung angepaßt werden. § 6 läßt offen, wie eine Bewertung bei Grundstük- Dies aber ist alles in den bereits nach dem Gesetz ken, Sachen, Tieren, Rechten zu erfolgen hat. möglichen Gesellschaftsformen vorhanden und be- Da gemäß § 7 Einlagen nur die eingebrachten be- darf nicht der einengenden Beschränkung einer weglichen Sachen und das eingebrachte Kapital sind, Gruppenlandwirtschaftsgesellschaft. nach denen sich dann auch der Anteil am Gesell- § 1 des Entwurfs entspricht § 705 mit der völlig un- schaftsvermögen und die Verteilung von Gewinn und begründeten Ausnahme, daß die Gesellschafter der Verlust berechnen soll, darf doch gefragt werden, was Gruppenbetriebe mindestens zehn Jahre zusammen mit den eingebrachten Grundstücken geschieht. Wer- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ril 1991 1383

Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten den sie bei der Verteilung von Gewinn und Verlust schränkung vorsieht. Auflösung und Ausscheiden überhaupt nicht berücksichtigt? werden zunächst wörtlich aus den Bestimmungen für die OHG gemäß § 131 HGB übernommen, um teil- (Horst Sielaff [SPD]: Das wird der Thalheim weise die durch Gesellschaftsvertrag möglichen Aus- Ihnen alles erklären, damit Sie es begrei- nahmen festzusetzen. Die Auseinandersetzung ist fen!) überhaupt nicht geregelt. Also wird sie vermutlich Oder gibt es als sogenannten Vorausgewinn oder als nach den Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbu- Nutzungsentschädigung nach der Größe der Einbrin- ches — der §§ 331 ff. bzw. 352 ff. — geschehen. gung eine Vergütung? Unklar — um es vornehm auszudrücken — sind Bei den Personengesellschaften des BGB und des auch die Bestimmungen über die Möglichkeit der HGB wird automatisch davon ausgegangen, daß die Streichung einer Gesellschaft aus dem Verzeichnis Gesellschafter ihre Arbeitsleistung einbringen. § 8 der Gruppenbetriebe in der Landwirtschaft, weil er- des Gesetzes sieht eine Vereinbarung über die Min- stens die Voraussetzung — Verstoß der Gesellschaft; destarbeitsleistung vor, ohne sich darüber auszulas- es können wohl nur die Gesellschafter für die Gesell- sen, ob der Gesellschafter Anspruch auf Vergütung schaft verstoßen — unklar ist und insbesondere nicht einer Mehrarbeitsleistung hat. festgehalten ist, wessen Bedenken gegen wessen Lei- Warum gemäß § 8 Abs. 2 der Arbeitskräfteeinsatz stungsfähigkeit oder Zuverlässigkeit erheblich sein pro Gesellschafter auf 1,5 beschränkt wird, ist mir völ- müssen und wer gegebenenfalls Anspruch auf ge- lig unverständlich, weil der Arbeitskräftebedarf wohl richtliche Nachprüfung dieser Zustände hat und was kaum von der Zahl der Gesellschafter, sondern von mit der gestrichenen Gesellschaft geschieht. Ist sie ein der Größe und von der Art des Betriebes abhängt. Nullum, oder ist sie in Liquidation, oder was sonst? Meine Damen und Herren, wir sollten dieses Gesetz (Beifall bei der CDU/CSU) nicht passieren lassen, weil wir sonst — das lassen Sie Sie wissen selbst, daß es dabei auf die Intensität des mich etwas spöttisch sagen — eine landwirtschaftlich Betriebes ankommt, den Viehbesatz und den Vered- bürgerliche offene Kommanditgesellschaft auf Genos- lungsgrad. Diese Beschränkung ist bar jeder Logik senschaftsbasis mit beschränkter Haftung ins Leben und kommt einem Beschäftigungsverbot gleich — rufen. Ich glaube, das sollten wir nicht tun. Es besteht und das gerade in den ehemaligen Ländern der DDR, kein- Bedarf, weder in der alten Bundesrepublik noch wo wir jeden Arbeitsplatz dringend brauchen. in unseren neuen Ländern. Wir sollten mit den jetzi- Meine Damen und Herren, in der Tat sind auch die gen Gesellschaftsformen auskommen. Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches nicht Danke schön. immer ganz sauber. Zwischen der gemeinschaftli- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — chen Geschäftsführung gemäß § 709, der nur im In- Abg. Jan Oostergetelo [SPD] meldet sich zu nenverhältnis gilt, und der Vertretungsmacht, § 714, einer Zwischenfrage) die nur für das Außenverhältnis gedacht ist, wird aller- dings sauber unterschieden. Das vorliegende Gesetz aber kennt überhaupt keine Vertretung nach außen, Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege, jetzt sondern regelt lediglich die Geschäftsführung, so daß bin ich verblüfft. Der Kollege Oostergetelo wollte noch die Gesellschaft mangels Vertretungsmacht nach au- eine Zwischenfrage stellen. Sie haben noch Zeit. ßen gar nicht auftreten kann, es sei denn, einem ein- zelnen Gesellschafter würde für bestimmte Geschäfte Vollmacht erteilt werden. Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU): (Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Beschäf-Bitte schön. tigungsprogramm für Notare!) Es ist zugegeben, daß die Frage der Haftung der Jan Oostergetelo (SPD): Herr Kollege, der gesamt- bürgerlich-rechtlichen Gesellschaft nicht gerade deutsche Ausschuß hat am Schluß diese Möglichkei- übersichtlich geregelt ist. Nachdem eine Haftungsbe- ten ganz bewußt hineingenommen, wie Sie wissen. grenzung im Innenverhältnis durch § 707 BGB zu- Die Mehrheitsfraktion war von niemandem gehindert, nächst gegeben ist, führt § 735 BGB bei der Auflösung ein besseres Gesetz vorzulegen. Sie haben jetzt ver- der Gesellschaft zu einer Nachschußpflicht, falls die sucht, alles in Bausch und Bogen rechtlich auseinan- Verbindlichkeiten das Vermögen übersteigen. Ohne derzupflücken. Die Intention von uns ist allein agrar- jetzt im einzelnen näher darauf einzugehen, sehen politischer Art. Es ist eine Möglichkeit, nicht die ein- Lehre und Rechtsprechung die Möglichkeit vor, die zige Möglichkeit, wie es in Zwischenrufen anklang. persönliche Haftung durch Vertrag gegenüber Dritten (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Es gibt eine einzuschränken, zumindest für diejenigen, die die Reihe von bestehenden Möglichkeiten!) Gesellschaft nach außen nicht vertreten. Vergleichen Sie hierzu die Kommentierung. Aber über eine Klar- Da Sie genauso wie ich wissen, daß wir nur wenige stellung in dieser Frage im BGB könnte durchaus zu haben, die jetzt privatwirtschaftlich anfangen, und wir reden sein. Das wäre eine vernünftige Lösung. — so hoffe ich — gemeinsam möchten, daß in zwei oder drei Jahren diese Möglichkeit besteht, Hier steht der Gesetzentwurf in einer Mischung zwischen Genossenschaftsrecht und Kommanditge- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Es gibt sellschaft, der aber auch für den Handelnden — übri- schon eine Reihe von bestehenden!) gens: warum auch bei dem Handelnden? — wie bei würden diese Gruppenlandwirtschaftsbetriebe ge einem Geschäftsführer der GmbH die Haftungsbe-wissermaßen ein Puffer sein. Ich frage Sie: Warum 1384 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ril 1991

Jan Oostergetelo sind Sie so sehr bemüht, den agrarpolitischen Aspekt nen übrigens auch die Bauern in den Altbundeslän- herunterzuspielen dern stehen, sondern vor allem die erforderliche juri- (Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Weil er stische und sturkturelle Umwandlung und Anpassung nicht drin ist!) gestalten sich als ein sehr schwieriger und komplizier- ter Prozeß. Es ist, so glaube ich, allen Beteiligten klar, und es juristisch unmöglich zu machen? Ist das die daß die LPGen vor allem in ihrer rechtlichen Kon- Sorgenvertretung der Landwirte in den neuen Bun- struktion, aber auch als überdimensionierte und -spe- desländern? zialisierte Betriebe keine Existenzchancen haben.

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das war eher eine (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sehr rich Kurzintervention und weniger eine Zwischenfrage. tig!) Das ist nach unserer Geschäftsordnung jedoch auch Der Einigungsvertag sieht in Verbindung mit dem möglich. — Sie dürfen trotzdem antworten. Landwirtschaftsanpassungsgesetz deshalb auch das Ende der Existenz der LPGen für den 31. Dezember Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU): 1991 vor. Danke schön, Frau Präsidentin. — Daß es uns um die Landwirtschaft und die Existenz landwirtschaftlicher Überall wird nach neuen Lösungen gesucht, um Familienbetriebe und „Gruppenbetriebe", nämlich diesen Prozeß ökonomisch und auch sozial verträ- Gesellschaften des bürgerlichen Rechts oder ähnli- glich zu gestalten. Das von der Volkskammer im Juni che, geht, wissen Sie. 1990 verabschiedete Landwirtschaftsanpassungsge- (Horst Sielaff [SPD]: Das kam bei Ihrem Vor- setz sollte diesen Umstrukturierungsprozeß regeln. Die jetzt in diesem Plenum und vor allem in den zwei trag überhaupt nicht vor!) Sitzungen des Landwirtschaftsausschusses zur Ände- — Wir haben das Landwirtschaftsanpassungsgesetz, rung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes geführ- auf das ich zweimal verwiesen habe, in der Verab- ten Diskussionen haben für mich neben der Novellie- schiedung. Es wird nächste Woche um diese Zeit ver- rung des Anpassungsgesetzes mit dem dazugehöri- abschiedet. Vielleicht stimmen Sie zu. Ich weiß es gen Änderungsgesetz vor allem zwei wesentliche Er- noch nicht. Damit kann man sehr, sehr viel machen. gebnisse gebracht. Ich bin der Meinung, daß wir nicht aus jeder Situation- ein Sondergesetz herausholen sollten. Wir haben Erstens. Die intensive Beratung des Änderungsge- schon Paragraphen genug. Alle beklagen die Para- setzes hat wohl alle Beteiligten qualifiziert im Ver- graphenflut, und jetzt machen wir ein Gesetz, das ständnis dafür, was eine LPG war und was daraus ent- weder vorne noch hinten paßt, um vielleicht zwei oder stehen kann. Ich für meinen Teil habe die lebhafte drei Fälle, die mit den bestehenden Gesellschaftsfor- Diskussion darum als äußerst bereichernd empfun- men nicht auskommen, zu regeln. den. Ich glaube, es ging auch Abgeordneten aus den Altbundesländern so. Voraussetzung für konstruktive (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Alle kön- nen mit den bestehenden Formen zurecht- Arbeit und kluge Entscheidungen ist, sich mit den kommen!) Problemen vertraut zu machen. — Dieser Meinung bin ich auch. Aber vielleicht kön- Zweitens. Ich glaube, daß bei allen an der Diskus- nen es zwei nicht, weil sie meinen, sie wollten volle sion Beteiligten, sowohl den Abgeordneten als auch Vertretung, keine Haftung und alle Kreditmöglichkei- den Beamten, die vorsichtige Erkenntnis gereift ist, ten. Das geht rechtlich eben nicht. Wenn man Geld daß man bei der Umgestaltung der Landwirtschaft in aufnimmt, muß man dafür haften. Man kann nicht den fünf neuen Ländern nicht einfach das Modell sagen: Ich will nur beschränkt haften, aber die volle West aufsetzen kann, sondern eine vielfältig struktu- Vertretungsmacht wie in einer Offenen Handelsge- rierte, den spezifischen Bedingungen angepaßte sellschaft haben. Das geht nun einmal nicht. Das soll- Landwirtschaft schaffen muß. Diesem Ziel dient unse- ten wir auch nicht einführen. Wenn Unklarheiten be- res Erachtens auch der Antrag der SPD in ganz beson- stehen und wenn es noch Handlungsbedarf gibt, dann derem Maße. stellen wir das Bürgerliche Gesetzbuch in den nicht Der Gesetzentwurf der Fraktion der SPD wird von ganz deutlichen Punkten der Haftung insoweit klar. den Abgeordneten der Gruppe PDS/Linke Liste vor Dazu wären wir bereit. Das könnten wir machen. Aber allem aus folgenden Gründen mit unterstützt. Erstens dieses Gesetz — das kann ich nur empfehlen — sollte entspricht er nach Anliegen und Inhalt weitgehend man zurückziehen. Denn es ist kein sinnvolles Gesetz dem von der Volkskammer am 13. September 1990 als und bringt niemandem einen Nutzen. Ergebnis eines gemeinsamen Antrags der Fraktionen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der SPD, der CDU/DA — Herr von Stetten, die haben Sie damals sowohl auch schon mit beraten — und der Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat das Wort PDS mit übergroßer Mehrheit bei nur einer Gegen- der Abgeordnete Fritz Schumann. stimme und einigen Stimmenthaltungen angenom- menen Gesetz über Gruppenbetriebe in der Landwirt- Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) (PDS/Linke schaft. Liste): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! (Horst Sielaff [SPD] zur CDU/CSU gewandt: Die Landwirtschaft der ehemaligen DDR befindet Ihre Leute haben das mit beschlossen in der sich in einem schwierigen Anpassungsprozeß. Nicht Volkskammer!) nur, daß die Konfrontation mit dem überaus gesättig- ten Agrarmarkt und der Preissturz mit der Währungs- Das Gesetz fand damals gerade unter der Bauern reform größte ökonomische Probleme brachte, vor de schaft der DDR ein breites positives Echo, weil viele Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1385

Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) in dieser Unternehmensform die Chance für einen Ich sage das auch, weil ich meine, daß es auf die Neuanfang sahen, die weder die alte LPG noch die Dauer nicht normal sein kann, in Familienbetrieben eingetragene Genossenschaft und auch nicht den Fa- 70 bis 80 Wochenarbeitsstunden zu leisten. Damit plä- milienbetrieb wollten. Groß war das Unverständnis, diere ich nicht für industrieähnliche Arbeitszeiten, zu- als herauskam, daß auch dieses DDR-Gesetz wie viele mal ich selbst viel zu sehr Bauer bin. Aber als Bauer zu andere Gesetze trotz eines entschiedenen Einspru- handeln und trotzdem soziale Verbesserungen und ches des Landwirtschaftsausschusses der Volkskam- Annehmlichkeiten zu haben ist doch sicherlich auch mer keinen Eingang in den Einigungsvertrag fand. ein erstrebenswertes Ziel. Dadurch war vor allem der psychologische Schaden Aber auch rein ökonomisch ist der Gruppenbetrieb groß. Es vertiefte sich der Eindruck: Alles, was im eine Alternative, zumal ich die Vorstellung des EG- Osten gemacht wurde, darf, auch wenn es gut ist, Agrarkommissars MacSharry, die Erzeugerpreise zu nicht sein. Hinzu kommt, daß das Fehlen der gesetz- senken, den Kleinbetrieben einen flächenbezogenen lichen Basis für Gruppenbetriebe für den schwierigen vollen Ausgleich zu garantieren und die Großbetriebe Umstrukturierungsprozeß der Landwirtschaft in den mehr oder weniger leer ausgehen zu lassen, für wider- neuen Bundesländern wenig förderlich war und noch natürlich halte; das ist antiökonomisch. ist. Dieses hausgemachte Hemmnis hätte wahrschein- lich nicht zu sein brauchen. Mein Plädoyer für den Gruppenbetrieb schließt den Realismus ein, daß in der ehemaligen DDR auch diese Zweitens sehen wir in der Schaffung der juristi- Betriebsform künftig keineswegs zur Hauptform einer schen Möglichkeiten zur Bildung landwirtschaftlicher vorwiegend bäuerlich strukturierten Landwirtschaft Gruppenbetriebe einen Beitrag zur Herausbildung werden wird. einer tatsächlich vielfältig strukturierten Landwirt- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ist eine schaft. Im Unterschied zur Begründung des Gesetz- gute Erkenntnis!) entwurfs sehe ich die Bedeutung von Gruppenbetrie- Das hängt einfach mit der vierzigjährigen Geschichte ben in erster Linie nicht darin, daß in den neuen Bun- zusammen, die im Osten einen anderen Typ von desländern viele den direkten Übergang zum einzel- Bauer als im Westen prägte. Aber der Gruppenbetrieb bäuerlichen Betrieb nicht wagen, sondern da rin, daß stellt auch eine Chance dar, einen Bauern als Persön- eine Rückkehr zum Familienbetrieb nicht die Zukunft lichkeit zu entwickeln, der in hoher Eigenverantwor- der Landwirtschaft verkörpert. Der Gruppenbetrieb tung und zugleich kollektiv arbeitet. stellt dagegen eine fast ideale Synthese zwischen dem auf Eigentümerinteresse beruhenden unternehmeri- Im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf sind aus schen Handeln seiner Mitglieder als Bauern und den meiner Sicht noch einige Fragen zu klären, insbeson- Vorzügen einer höheren Konzentration und Speziali- dere auf dem Gebiet der Steuer- und Förderpolitik, sierung dar. Ich gebe Ihnen recht, Herr von Stetten, sicher auch, was die Haftung, die Zupacht von Boden man kann natürlich auch darüber nachdenken, wie und viele andere Fragen anbelangt. Aber dazu werde man solche Dinge auch mit der Gesellschaft bürgerli- ich meine Fragen und Gedanken in den Ausschuß chen Rechts erreichen und mit entsprechenden Ände- einbringen. rungen auf dieser Basis weiterarbeiten kann. Ich halte Ich bedanke mich. auch das für eine Möglichkeit der vielfältig struktu- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) rierten Landwirtschaft. Darüber sollten wir hier wei- terdiskutieren.

Seine Bedeutung liegt auch darin, daß diese Be- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat triebsform eine der praktikablen Alternativen zu von der Abgeordnete Detlef Kleinert das Wort. uns abgelehnten fremdbestimmten agroindustriel- (Jan Ooestergetelo [SPD]: Hat der schon mal len Landwirtschaftsunternehmen darstellt, die be- eine Kuh zum Bullen geführt?) kanntlich ausländische Konzerne installieren möch- ten. Ich habe im Ausschuß und auch an anderer Stelle darauf hingewiesen, daß der Druck nach wie vor groß Detlef Kleinert (Hannover) (FDP): Meine sehr ver- ist, daß ausländische Unternehmensgruppen zwi- ehrten Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und schen 10- und 30 000 Hektar zu pachten versuchen, Kollegen! Die Gefechtslage scheint mir etwas verquer weil auf diese Art und Weise Landwirtschaft — — zu sein.

(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aber nicht (Horst Sielaff [SPD]: Wollen Sie schießen?) können, weil wir entsprechende Gesetze ha- — Nein; dagegen haben wir sehr viel, mindestens ben!) soviel wie auch Sie. Die Wege mögen manchmal et- was unterschiedlich gesehen werden. Wir sind gegen —Ich hoffe, daß sie wirken. Noch sind sie im Wirken. Schießen. Aber deswegen kann man die Fachworte, In meinem Heimatdorf entsteht gerade so etwas. Das die seit Jahrhunderten üblich sind, gelegentlich be- ist bis jetzt nicht verhindert worden. nutzen, ohne gleich als Hetzer verschrien zu wer- den. Drittens glauben wir, daß landwirtschaftliche Gruppenbetriebe in Anbetracht der erforderlichen Es ist eine eigentümliche Gefechtslage. Wir hören Reform der Agrarstruktur und der Agrarpolitik der EG von den Befürwortern des Entwurfes agrarpolitische — auch mit Blick auf die GATT-Runde — eine zu- Argumente, die mir als agrarischem Laien einleuch- kunftsträchtige Alternative für die Existenz der Bau- ten und die ich für vernünftig halte. ern in den Altbundesländern sind. (Beifall bei der SPD) 1386 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Detlef Kleinert (Hannover) Auf der anderen Seite ist die Überweisung an den Ich habe von dem Herrn Vorredner von der PDS Rechtsausschuß des Bundestages vorgeschlagen, weil vernommen, daß er bereit ist, sich auch über die ins hier ein rechtspolitisches Problem angeschnitten ist. einzelne gehenden Ausführungen des Kollegen Frei- (Zuruf von der SPD: Wer hat das vorgeschla- herr von Stetten in eine Unterhaltung einzulassen, wie gen?) man nämlich mit dem vorhandenen gesellschafts- rechtlichen Instrumentarium hier zu einer Lösung in Ich frage mich also z. B.: Welche Schlüsse soll ich aus dem etwa gemeinten Sinne kommen kann. Ich bin der Tatsache ziehen, daß sich auf Ihrer Seite die mir wegen der detaillierten Ausführungen des Kollegen bekannten Kollegen aus dem Rechtsausschuß hier äu- von Stetten leider nicht in der Lage, Ihnen das, was ich ßerst vornehmer Zurückhaltung und Abwesenheit be- mir dazu vorgenommen hatte, noch einmal zuzumu- fleißigen? ten. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sehr be- (Horst Sielaff [SPD]: Das ist gut!) zeichnend!) Denen muß doch an der Sache irgend etwas aufgefal- Ich möchte auf einen etwas allgemeineren Aspekt len sein, da sie es vorziehen, sich hier erst gar nicht zu sprechen kommen. Wenn Sie mit einem übrigens, sehen zu lassen. was mich für diesen Entwurf sehr einnimmt, bemer- kenswert kurzen und verhältnismäßig einfach zu le- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — senden Entwurf — das ist schon einmal ein Vorzug der Zuruf von der CDU/CSU: Die fürchten um Geschichte, den ich hervorheben will — ihren guten Ruf!) (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Es wa Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Klei- ren keine Juristen dabei!) nert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Oostergetelo? eine neue Gesellschaftsform mit wie geringen oder wie großen Abweichungen von bestehenden Gesell- schaftsformen auch immer in die Welt bringen, dann Jan Oostergetelo (SPD): Herr Kollege, ich bedanke mich sehr für das, was Sie gesagt haben. Sind Sie aber lassen Sie sich bitte von leidgeprüften Juristen und bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß unser Vorschlag auch leidgeprüften Mitgliedern des Rechtsausschus- lautet: federführend Landwirtschaftsausschuß? Etwas- ses dieses Hauses sagen, daß jeder neue Gesetzent- anderes muß Ihnen sonst jemand zugetragen haben, wurf, und sei er noch so kurz, schlicht und klar, auf der der das Gesetz kaputtmachen will. Dieser Vorschlag Stelle eine Flut von Rechtsprechung erzeugt. Unsere kommt nicht von uns, Herr Kollege. Gerichte sind nämlich nicht bereit, anzunehmen, daß der Gesetzgeber ein Gesetz verabschiedet, das alte (Hannover) (FDP): Ich habe mich an Rechtsformen nur noch einmal übersichtlich zusam- Detlef Kleinert menstellt, um die betroffenen Kreise des Publikums die gedruckte Tagesordnung gehalten. Dort steht: fe- zur Verwendung zu animieren. Die Gerichte gehen derführend Rechtsausschuß. vielmehr davon aus, daß etwas Neues vorliegen muß, (Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: So ist weil der Bundestag sonst gar keinen Gesetzesvor- das! — Zuruf von der SPD: Nein, strittig!) schlag verabschiedet haben würde.

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Vielleicht darf die Dann machen sie sich daran und arbeiten die von Präsidentin aufklären: Der Antrag stammt von den uns allen vorher vielleicht nicht gesehenen Unter- Koalitionsparteien. schiede zu anderen Gesellschaftsformen heraus. Wenn sie damit noch lange nicht fertig sind — das Detlef Kleinert (Hannover) (FDP): Es wird sich ja betrifft im Instanzenzug zum Schluß den Bundesge- aufklären lassen. Das ist — Herr Oostergetelo, da kön- richtshof — , dann macht sich der Bundesfinanzhof an nen wir uns leicht einigen — ein weiterer Beitrag zu die Arbeit — so wahr ich hier stehe — und findet her- meiner Feststellung, daß die Gefechtslage hier unklar aus, welche unterschiedlichen steuerlichen Konse- ist quenzen sich aus dem neuen Gesetz und einer neuen Gesellschaftsform ergeben. (Heiterkeit) und daß Sie versuchen, ein agrarpolitisches Problem Die Folge ist, daß sich die Leute, denen Sie helfen auf rechtliche Weise zu lösen. Wir haben da so unsere wollen, über zehn bis fünfzehn Jahre einem Wust in Bedenken. sich widersprüchlicher Entscheidungen gegenüber- Es gibt ja viele Menschen im Lande, die dann, wenn sehen, bis sich die neue Gesellschaftsform auch in den es ihnen besonders schlecht geht, zu einem besonders Augen der Rechtsprechung endlich halbwegs gefe- raffinierten Advokaten gehen — wofür ich von der stigt hat und damit für Berater und Anwender einiger- psychologischen Situation her Verständnis habe — maßen kalkulierbar geworden ist. und sich von ihm die Lösung ihrer Probleme durch Wenn Sie bereit sind, mir auf diesem durch Erfah geheimnisvolle rechtliche Tricks versprechen. Dieser rung nachgewiesenen, im übrigen aber auch logisch Mann, wenn er redlich ist, muß dieses Publikum ent- einwandfreien Wege zu folgen, dann werden Sie viel- täuschen. Eine verfahrene Kiste bekommt man mit leicht auch bereit sein, in der Folge mit uns zu suchen, rechtlichen Tricks nicht in Ordnung, wo wir unter den bestehenden Gesellschaftsformen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) das Bündel an Angebot finden, das den hier gemein- sondern nur, indem man die bekannten Ärmel hoch- ten Kreisen wirklich helfen kann, ihre Probleme zu krempelt. Einen ähnlichen Fall haben wir wohl auch lösen, ohne daß man sich davon Wunder versprechen hier. darf. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1387

Detlef Kleinert (Hannover) Wie gesagt: Die Einzelheiten sind mir zum erhebli- immer weitere Einzelheiten und alle möglichen an- chen Teil leider schon vorweggenommen worden. Ei- geblich neuen Erscheinungsformen des täglichen Le- nes hat sich aber in der Diskussion ergeben. Wir ge- bens in geeignete rechtliche Kanäle zu lenken. Die hen sprachlich noch aufeinander zu. Manchmal emp- Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind sich finde ich einiges, was man in der Umgangssprache nur mehrheitlich — so nehme ich mal an — ihrer Ver- unserer Freunde und Kollegen aus den neuen Län- antwortung gegenüber den Bürgern bewußt, ihre dern hört, als Bereicherung. Manchmal halte ich es Phantasie nicht zu sehr vorzuführen, damit unser aber — jedenfalls nach meinem Sprachverständnis — Recht noch einigermaßen überschaubar und zuver- eher für dekuvrierend. Ich habe den Herrn von der lässig in der Anwendung bleibt. Darum wollen wir PDS hier sagen hören: Es geht darum, einen Bauern uns auch in diesem Zusammenhang weiter bemü- zu entwickeln, der zugleich eigenverantwortlich und hen. kollektiv handelt. Menschen erstens in dieser Form Herzlichen Dank. und zweitens mit Hilfe einer neuen Gesellschaftsform zu entwickeln, halte ich für eine sehr problematische (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Angelegenheit. (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächstes hat CDU/CSU) der Parlamentarische Staatssekretär Funke das Menschen überhaupt amtlicherseits entwickeln zu Wort. wollen ist ewas, was wir als Liberale zuvörderst und (Horst Sielaff [SPD]: Landwirtschaft in Ham nachhaltig hier zu bekämpfen gedenken. burg?) (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das unter- schreiben wir!) Das aber dann noch so zu machen, daß diese Kame- Rainer Funke, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- raden schließlich einerseits eigenverantwortlich und nister der Justiz: Frau Präsidentin! Meine Damen und andererseits kollektiv in ihrem Handeln entwickelt Herren! Herr Kollege, erstens handelt es sich hier um werden, scheint mir eine etwas übriggebliebene Gesellschaftsrecht, und zweitens sollten Sie die Land- Denkweise zu sein, die sich da offenbart. Auf dem -wirtschaft in Hamburg überhaupt nicht unterschät- Wege — dafür bitte ich um Verständnis — gedenken zen. Wir haben die bedeutendste Unter-Glas-Land- wir nicht mitzugehen. wirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Da sollten Sie sich nochmal erkundigen. Wir haben gele- (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten gentlich auch einige Probleme mit der Landwirtschaft der CDU/CSU) insbesondere aus den Niederlanden, weil die nämlich Ich darf in bezug auf die existenten Gesellschafts- konkurrenzmäßig günstiger steht als die Landwirt- formen noch darauf hinweisen, daß schon vor gerau- schaft in den Vieh- und Marschlanden. mer Zeit, vor einer Reihe von Jahren, zu den an sich (Horst Sielaff [SPD]: Das hat aber seine aus verschiedenen Gründen für Landwirte, für Bau- Gründe!) ern, um es im hier gewünschten Sinne genau zu sa- — Das liegt daran, daß das Gas in den Niederlanden gen, nicht zugänglichen Gesellschaftsformen, OHG subventioniert wird und in Hamburg nicht. und KG, der Zugang durch Gesetz dieses Hauses aus- drücklich ermöglicht worden ist, um die Zahl der Aber lassen Sie uns auf Ihren Beitrag zur Lösung der Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu vergrößern agrarpolitischen Probleme der Landwirtschaft in den und das Angebot zu verbessern. Andere, mehr kapi- neuen Bundesländern eingehen, denn das ist wohl talistische Formen sind ohnehin auch für Landwirte das Ziel, das Sie mit Ihrem Gesetzentwurf haben. Lei- und landwirtschaftliche Bet riebe schon längst zu- der erweist sich bei genauer Prüfung — ich bedaure gänglich. Die den Gesetzen zu entnehmenden For- das vor allem im Interesse unserer Mitbürger in den men sind inzwischen durch die Phantasie der Berater neuen Bundesländern — , daß dieser Entwurf nicht und der Praxis noch um ein erhebliches erweitert wor- dazu beitragen kann, die Probleme der Landwirt- den. Wenn ich Ihnen dazu Einzelheiten sagen soll, schaft in den neuen Bundesländern zu bewältigen. muß ich allerdings um Vorschuß bitten. Frage: Was will eigentlich dieser Entwurf für den Zusammenschluß von Landwirten zur gemeinsamen (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Nutzung ihrer Höfe? Will er eine neue Rechtsform in Art einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts, aber mit Deshalb rate ich Ihnen, sich mit diesen früheren beschränkter Haftung einführen? Welche Probleme Erweiterungen noch einmal zu befassen. Da wollen sollen damit gelöst werden? wir schließlich aufeinander zugehen und versuchen, Dazu ein Blick auf das Vorblatt des Gesetzentwurfs. das zusammenzufügen, was hier agrarpolitisch ge- Da lesen wir — ich nenne nur ein paar Stichworte —: wollt ist, mit dem, was man rechtspolitisch vertreten schleppende Umstrukturierung und Entflechtung der kann, ohne hier weiter zu inflationieren, mit allen landwirtschaftlichen Bet riebe in den neuen Bundes- schädlichen Folgen im Bereich unseres Gesellschafts- ländern, unbefriedigende Erlössituation, Kapitalman- rechts. gel, ungewisse Aussichten bei GATT-Ergebnissen Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages las- und anstehender EG-Reform. Und nun kommt die sen sich an Phantasie durchaus nicht von unseren Schlußfolgerung: Mit dem Angebot zur Bildung von Richtern und von den Verbandsfunktionären über- Gruppenbetrieben sollen und können die vorhande- treffen, die nach ständig neuen Gesetzen streben, um nen Hemmnisse überwunden werden. 1388 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Parl. Staatssekretär Rainer Funke Meine Damen und Herren, bei allem Verständnis sonst gegen das Rechtsberatungsmißbrauchsgesetz für Ihre Bemühungen um die Mitbürger in den neuen verstoßen würde. Bundesländern vermag ich nicht zu erkennen, wie (Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Was sehr eine neue Rechtsform für Gruppenbetriebe in der bedauerlich ist! Auch gegen das Ministerge Landwirtschaft die genannten agrarpolitischen Pro- setz, Herr Kollege!) bleme nur annähernd sollte lösen können. — Das ist leider richtig, Herr Kollege. Ich darf daran erinnern, daß wir mit dem landwirt- Wie bisher in den alten Bundesländern lassen sich schaftlichen Anpassungsgesetz einen anderen Weg damit auch in den neuen Ländern alle Kooperations- gegangen sind und auch weiterhin gehen werden. bedürfnisse in der Landwirtschaft bef riedigen. Darin Dort sind mit tatkräftiger Unterstützung des Bundes- weiß ich mich auch mit dem Bundesminister für Er- ministeriums der Justiz bereits im vergangenen Jahr nährung, Landwirtschaft und Forsten einig. Regelungen über die Teilung und den Zusammen- schluß landwirtschaftlicher Produktionsgenossen- Die Verfasser des uns vorliegenden Gesetzentwurfs schaften, die Umwandlung kooperativer Einrichtun- haben sich, wie wohl niemand in Frage stellen wird, gen und LPGs in eingetragene Genossenschaften und weitgehend an das DDR-Gesetz über Gruppenbe- schließlich die Bildung bäuerlicher Einzelwirtschaften triebe in der Landwirtschaft vom 13. September 1990 geschaffen worden. angelehnt. Dabei ist aber eines offenbar übersehen worden: Für jenes DDR-Gesetz konnte man ange- (Horst Sielaff [SPD]: Muß jetzt die Polemik sichts der damaligen gesellschaftsrechtlichen Gestal- kommen?) tungsmittel in der DDR vielleicht noch Verständnis haben. Das Zivilgesetzbuch der DDR kannte im Un- terschied zum BGB keine Gesellschaft bürgerlichen Dies war, wie ich meine, der richtige Ansatz. Soweit sich inzwischen noch Lücken herausgestellt haben, Rechts. Im Einigungsvertrag ist dieses DDR-Gesetz jedoch zu Recht nicht als Bundesrecht übernommen werden sie durch den von den Koalitionsfraktionen worden, da nach der für alle Bundesländer geltenden eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung Rechtsordnung eine solche Regelungslücke nicht des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes geschlossen. mehr besteht. — Das sage ich ohne jegliche Polemik. Sie wissen, daß- ich nicht zu Polemik neige, Herr Kollege. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Beim Lesen der Begründung zu dem Gesetzentwurf (Horst Sielaff [SPD]: Ich bin überrascht, daß hat man allerdings den Eindruck, es gehe mittelbar Sie jetzt so viel Polemik hineinbringen!) um landwirtschaftliche Förder- und Steuerpolitik. Das bedeutet aber doch im Klartext: Die gesetzgeben- Der uns heute vorliegende Gesetzentwurf der SPD- den Körperschaften sollen ihrer landwirtschaftlichen Fraktion will demgegenüber eine neue Rechtsform Förder- und Steuerpolitik sogleich ein Gestaltungs- einführen. Jede neue Rechtsform muß sich aber fra- mittel beifügen, durch das bei Gesellschaftsunterneh- gen lassen: Wo ist die Lücke im geltenden Recht, die men die angeblich gewollten Belastungen vermieden es zu schließen gilt? Mit anderen Worten: Welches — um nicht zu sagen: umgangen — werden können. Bedürfnis besteht für eine solche neue Rechtsform? Wenn man mit der landwirtschaftlichen Förder- und Steuerpolitik nicht zufrieden sein sollte, so möge man Ich hoffe, meine Damen und Herren, wir sind uns sich darüber mit offenem Visier streiten. alle darüber einig, daß diese Frage — auch zur Ver- meidung der Normenflut, und darauf hat der Kollege (Horst Sielaff [SPD]: Das ist nicht das Pro Kleinert ja schon, auch im Hinblick auf die Rechtspre- blem!) chung, hingewiesen — an den Anfang eines jeden Um deutlich zu machen, daß der Entwurf auch in- derartigen Vorhabens gestellt werden muß. Lassen haltlich nicht befriedigen kann, will ich nur auf fol- Sie mich hinzufügen: Wir sind dabei, darüber nachzu- gendes hinweisen: Ich sagte schon eingangs, daß der denken, möglichst wenig Gesetze zu formulieren, da- Entwurf eine neue bürgerlich-rechtliche Gesellschaft mit diese Gesetzesflut eingedämmt wird. mit beschränkter Haftung kreieren will. Haftende Ein- lagen sollen nur in Höhe von 10 000 DM geleistet wer- Dazu ist festzustellen, daß alle in der Bundesrepu- den müssen. blik vorhandenen Rechtsformen auch der Koopera- tion in der Landwirtschaft zur Verfügung stehen; an- Eine Haftungsbeschränkung mit so niedrigen Ver- gefangen von der Gesellschaft bürgerlichen Rechts, pflichtungen mag vordergründig als eine große Wohl- das ist mehrfach erwähnt worden, z. B. für gemein- tat erscheinen. schaftliche Maschinenringe, über OHG, KG, GmbH (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Sie bis hin zur Aktiengesellschaft und natürlich auch zur wollen nicht helfen! — Weitere Zurufe von Genossenschaft, die z. B. für den gemeinsamen Ein- der SPD) kauf von Saat und Dünger wie für die gemeinsame Eine Haftungsbeschränkung erfordert aber nicht nur Vermarktung der auf den Höfen erwirtschafteten Pro- den Blick auf den Schuldner; Herr Kollege, das wissen dukte eingesetzt werden kann. Sie genau. Ich bin, im Gegensatz zu dem Kollegen Kleinert, seit (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Nicht Ende Januar nicht mehr in der Lage, für weitere Bera- ein Wort zur Lage der Landwirtschaft! Das ist tungen zur Verfügung zu stehen; nicht nur, weil ich wirklich schlimm, schlimm auf dem Hinter- keinen Vorschuß nehmen darf, sondern auch, weil ich grund dessen, was sich drüben abspielt! — Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1389

Parl. Staatssekretär Rainer Funke Gegenruf des Abg. Dr. Wolfgang Freiherr überhaupt aufgebracht werden. Gleichzeitig bedarf von Stetten [CDU/CSU]: Wir haben doch es einer gesetzlichen Sicherung dagegen, daß die Ge- jetzt keine Debatte zur Landwirtschaft!) sellschafter die Einlagen wieder entnehmen. — Herr Kollege Schäfer, Sie wollen doch eine Gesell- Einlagen von zusammen 10 000 DM, Frau Kollegin schaftsrechtsänderung und nichts anderes. Weyel, stellen zudem eine sicher unzureichende Ka- (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ pitalausstattung dar. Den bäuerlichen Gesellschaften CSU]: So ist es!) selbst würde damit ein Bärendienst erwiesen werden. Und wenn Sie die Landwirtschaftspolitik angreifen, Ein solcher Gruppenbetrieb wäre von vornherein kre- dann sollten Sie das im landwirtschaftspolitischen, ditunwürdig. Die beteiligten Bauern würden nur ge- aber nicht im gesellschaftsrechtlichen Bereich tun. gen bare Kasse oder gegen persönliche Sicherheiten einkaufen können. Dann steht aber die Haftungsbe- schränkung, Herr Kollege, nur auf dem Papier. Denn Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Staatssekre- die Banken werden nur bereit sein, Kredite zu geben, tär, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin wenn entweder ausreichendes Kapital oder persönli- Weyel? che Bürgschaften vorhanden sind. Meine Damen und Herren, ich komme damit zum Rainer Funke, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- Ende: Wir halten diese neue Rechtsform nicht für ge- nister der Justiz: Ja, natürlich, gern. eignet. Wir werden aber bereit sein, im Ausschuß hier- über weiter mit Ihnen zu diskutieren. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Frau Kollegin. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Gudrun Weyel (SPD): Herr Staatssekretär, glauben Sie nicht, daß man bei der Beratung eines Gesetzes juristische Mängel, die in der Formulierung mögli- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat cherweise enthalten sind der Kollege Dr. Gerald Thalheim das Wort. (Zuruf von der CDU/CSU: „Sein könn- ten" ! ) — „möglicherweise" habe ich gesagt —, noch heilen Dr. Gerald Thalheim (SPD): Sehr geehrte Frau Prä- kann, sidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die De- (Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Der Ge- batte um die Einführung des Gruppenlandwirtschafts- setzentwurf ist unheilbar!) gesetzes fällt in eine Zeit, in der neue agrarpolitische Leitlinien für die Zukunft zu formulieren sind. Das gilt und ist Ihnen nicht deutlich geworden, daß die Inten- sowohl für die Agrarpolitik in den alten Bundeslän- tion bei diesem Gesetz nicht eine Änderung des Ge- dern im Hinblick auf zu erwartende Konsequenzen sellschaftsrechts, also ein juristisches Problem, ist, aus den GATT-Verhandlungen und die Bewältigung (Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Das steht der Überproduktion als auch für die Umstrukturie- im Gesetzentwurf aber anders!) rung der Landwirtschaft in den neuen Bundesländern sondern daß die Intention dieses Gesetzes Hilfe für die mit dem Ziel, diese an das EG-Niveau heranzuführen. Landwirte in den neuen Bundesländern in ihrer jetzi- Vor diesem Hintergrund ist die Gesetzesinitiative der gen Situation ist, damit man nach Auslaufen der Gül- SPD-Fraktion zu sehen. tigkeit des landwirtschaftlichen Anpassungesetzes Herr Abgeordneter von Stetten, Herr Kleinert, ich noch möglichst schnell Formen der Bewirtschaftung möchte den letzten Satz ganz bewußt hervorheben. findet, die dann zu einer sicheren landwirtschaftli- Während Sie zur Ablehnung insbesondere juristische chen Existenz führen? Einwände gebracht haben, möchte ich unseren An- trag ganz bewußt aus der agrarpolitischen Situation Rainer Funke, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- in den neuen Bundesländern begründen. nister der Justiz: Frau Kollegin Weyel, es ist die Politik (Beifall bei der SPD) der Bundesregierung, die landwirtschaftlichen Die Situation ist einfach so, daß man sich Gedanken Existenzen in den neuen Bundesländern zu sichern. um Alternativen machen muß. Wenn es einfach so Wir haben nur große Zweifel, daß diese gesellschafts- wäre, daß das vorhandene Recht ausreichte, hätten rechtlichen Änderungen dazu beitragen. Deswegen wir die Situation nicht. werden wir sie auch ablehnen. Ich war gerade bei der Begründung, warum wir sie ablehnen. Ich werde dazu (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ noch einige Ausführungen machen. Dann werden Sie CSU]: Das hängt mit der EG zusammen, sicherlich überzeugt sein, daß dieser Gesetzentwurf nicht mit unseren Gesetzen!) der SPD doch nicht der richtige Weg ist. Wir werden — Es geht um die Fragen der Umstrukturierung, de- aber sicherlich bereit sein, mit Ihnen im Ausschuß ren Lösung sich doch schwerer gestaltet, als ursprüng- über mögliche Nachbesserungen zu sprechen. lich angenommen worden ist. Meine Damen und Herren, ich hatte ausgeführt, daß Sie haben in Ihren Ausführungen ganz bewußt ge- eine Haftungsbeschränkung nicht nur den Blick auf sagt, daß Sie dem Gesetzentwurf durchaus Ideen ab- den Schuldner, sondern auch den Blick auf den Gläu- gewinnen können, die zu prüfen sind. Man kann die biger notwendig macht. Übernahme von Ideen natürlich auch so weit treiben, Einlagen — in welcher Höhe auch immer — bedür- das Gesetz zu übernehmen und in entsprechenden fen jedenfalls gesetzlicher Sicherungen dafür, daß sie Punkten noch zu korrigieren. 1390 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Diese Aussage gilt insbesondere für die Agrarpolitik. Thalheim, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol- In diesem Bereich sind von der SED in einem bisher legen Kleinert? nicht zur Kenntnis genommenen Ausmaß vollendete Tatsachen geschaffen worden, deren Überwindung in ökologischer, wirtschaftlicher und rechtlicher Hin- Dr. Gerald Thalheim (SPD): Ja, bitte. sicht uns noch lange beschäftigen wird.

Detlef Kleinert (Hannover) (FDP): Herr Kollege, ist (Zustimmung bei der SPD) Ihnen nicht deutlich geworden, daß ich mich aus- Im Vergleich mit anderen Bereichen der ehemaligen drücklich aus der agrarpolitischen Debatte, von der DDR ist deren Bewältigung besonders schwierig zu ich sehr vieles für dringlich und für vernünftig halte, leisten, wie erst gestern die Debatte zur Novellierung heraushalten wollte, weil wir uns zu einer juristischen des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes gezeigt hat. Auseinandersetzung gefragt fühlen und deshalb hier Hier, Herr Staatssekretär, muß ich Ihnen widerspre- das Problem existiert, daß die Debattenbeiträge chen: Die Novellierung des Landwirtschaftsanpas- zwangsläufig in weiten Teilen aneinander vorbeilau- sungsgesetzes bringt im Hinblick auf die konkret an- fen müssen. gesprochenen Probleme der Umstrukturierung sehr (Gudrun Weyel [SPD]: Das war meine Frage wenig. eben auch!) (Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP — Horst Sielaff [SPD]: Gar nichts!) (SPD): Ich hoffe, daß ich in mei- Dr. Gerald Thalheim Es klärt vielmehr die vermögensrechtliche Auseinan- nen folgenden Ausführungen klarmachen kann, wie dersetzung. sehr wir uns durch agarpolitische Gründe veranlaßt sehen, auch in das Gesellschaftsrecht einzugreifen. In der Landwirtschaft wurde nicht nur in Eigen- (Zuruf von der CDU/CSU: Untaugliches Mit tumsrechte eingegriffen, sondern es wurde in erster tel!) Linie, ideologisch motiviert, eine über Jahrhunderte gewachsene Struktur zerstört. Es war eine der größten Das gemeinsame Deutschland ist mehr als eine ver- politischen Illusionen der Regierungsparteien im Zu- größerte Bundesrepublik. Immer mehr setzt sich in - sammenhang mit der deutschen Einheit zu glauben, allen Bereichen der Politik, der Wirtschaft, der Finan- daß diese Entwicklung kurzfristig rückgängig ge- zen und des öffentlichen Lebens diese Erkenntnis macht werden kann. durch. Neue politische Ziele sind zu formulieren, Weichenstellungen für die Zukunft vorzunehmen, um (Beifall des Abg. Horst Sielaff [SPD]) die neuen Bundesländer schnell zu integrieren und an Es wurde fälschlicherweise davon ausgegangen, daß das Niveau der alten Länder heranzuführen. Es war in der ostdeutschen Landwirtschaft sehr schnell wie- kurzsichtig, zu glauben, daß sich diese Aufgabe im der bäuerliche Familienbetriebe strukturbestimmend Selbstlauf erledigt und, wenn man so will, am tägli- sein werden. chen Leben in Westdeutschland vorbei organisieren läßt, ohne daß Konsequenzen spürbar werden. Aus diesem Grunde sehen wir eine entscheidende Im Sommer vergangenen Jahres bekamen die Bau- Voraussetzung für die Lösung der Landwirtschafts- ern in der Noch-Bundesrepublik durch die Preisein- probleme in den neuen Bundesländern darin, daß in brüche als erste zu spüren, daß die deutsche Einheit stärkerem Umfang Familienbetriebe entstehen. Das eben nicht nur zusätzliche Nachfrage bedeutet, son- ist bisher in viel zu geringem Maße erfolgt. dern auch negative Rückwirkungen zur Folge haben (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Richtig!) kann. Die Gründe dafür sollen im folgenden aufgelistet wer- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Was hat das den. mit dem Gesetz zu tun, Herr Kollege? — Horst Sielaff [SPD], zu Abg. Siegf ried Hor- Erstens. Die Betriebe müssen sehr aufwendig aus nung [CDU/CSU] gewandt: Das Sie das nicht der LPG herausgelöst bzw. völlig neu aufgebaut wer- wissen!) den. Eine Übernahme organisch gewachsener Be- triebe, die als wirtschaftliche Einheit funktioniert ha- — Das ist die Begründung. Wir kommen noch dar- ben, ist nicht möglich. Trotz der Übernahme von Tech- auf. nik und Gebäuden aus der LPG — das ist das Problem, Heute wissen wir: Es sind auch unpopuläre Ent- das mit dem Landwirtschaftsanpassungsgesetz ge- scheidungen notwendig, um die Probleme zu bewäl- klärt ist — sind erhebliche Investitionen notwendig, tigen. Vieles wird länger dauern als erwartet. Man um kurzfristig das EG-Niveau auf technisch-technolo- wird von liebgewonnenen Vorstellungen Abschied gischem Gebiet zu erreichen und zu einem gesicher- nehmen müssen, bis hin zu rechtlichen Konsequen- ten Einkommen zu kommen. zen. Und das ist der Punkt, meine Damen und Herren. Wenn Sie sich einmal überlegen, in welchem Umfang (Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ sich die Hälfte des Hauses in ihren Auffassungen in CSU) dem letzten halben Jahr bewegt hat: Warum nicht Zweitens. Gemessen an dem notwendigen Kapital- auch in dem nächsten halben Jahr in einem solchen einsatz reichen die Möglichkeiten des einzelnen in Punkt? den meisten Fällen nicht aus. Bei Löhnen von rund (Horst Sielaff [SPD]: Das ist wohl wahr! — 1 000 Mark der DDR in der Vergangenheit war es Zuruf von der CDU/CSU: Weil sie es nicht selbst bei zusätzlicher landwirtschaftlicher Produk- mehr braucht!) tion kaum möglich, nennenswerte Rücklagen für eine Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1391

Dr. Gerald Thalheim Betriebsgründung zu bilden, zumal die Guthaben Dr. Gerald Thalheim (SPD): Herr Graf von Schön- noch um die Hälfte abgewertet wurden. burg, ich kenne persönlich sehr viele Landwirte, die (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ mit anderen gemeinsam auf der Basis des Gruppen- einen Betrieb einrichten. Es CSU]: So kann man das mit der Abwertung landwirtschaftsgesetzes aber nicht sehen, wenn Sie sich einmal den ist an sich schlimm, daß Sie sich auf deren Rücken hier genauen Wert anschauen!) interessant zu machen und diejenigen, die das wün- schen, lächerlich zu machen versuchen. In den näch- — Darüber kann man verhandeln. sten Tagen werden wir Gelegenheit haben — wir wol- Drittens. Zum Auffüllen des Kapitaldefizits reichen len uns ja in Chemnitz treffen — , in diesem Kreis dar- in den meisten Fällen auch die Fördermittel nicht aus, über zu sprechen. zumal es bei der Ausreichung zahlreiche Probleme Am Freitag hatte ich eine Zusammenkunft mit dem gibt. Landwirtschaftsminister des Landes Sachsen, der aus- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Dann nen- drücklich seine Zustimmung zu dieser Initiative zuge- nen Sie doch die Dinge beim Namen, und sagt hat. Ist das eine Antwort? sagen Sie: Wir wollen mehr Fördermittel! (Jan Oostergetelo [SPD]: Es gibt noch gute Aber doch nicht eine andere Gesellschafts- Christdemokraten!) form!) Ich hatte die Alternativen aufgezeigt, die für die — Ich komme noch darauf. Betriebsgründung zur Verfügung stehen. Wir gehen Viertens. Aus den in den Punkten zwei und drei davon aus, daß viele Landwirte angesichts sich auflö- genannten Gründen müssen Wiedereinrichter ihr ge- sender LPGen oder der nach wie vor ineffizienten samtes Eigentum verpfänden. Davor scheuen viele Arbeitsweisen vieler Betriebe den Schritt in die Selb- zurück. Das ist der entscheidende Punkt. ständigkeit wagen würden, wenn der Neubeginn in Fünftens. Die Wiedereinrichter verfügen in den we- Kooperation mit anderen Landwirten erfolgen könnte. nigsten Fällen über Erfahrungen in der Führung eines Das ist zwar auf der Basis einer BGB-Gesellschaft landwirtschaftlichen Betriebes, erst recht nicht unter prinzipiell möglich, Herr von Stetten, aber mit Unsi- Marktwirtschaftsbedingungen. Das ist eine Folge der cherheiten und zusätzlichen Risiken verbunden. Spezialisierung in der Landwirtschaft der ehemaligen (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ DDR. Für jeden Gründer eines Familienbetriebes - CSU] : Darüber können wir reden!) kommt zu dem schon schweren Schritt in die Selbstän- mögen für Bürger aus den digkeit die Konsequenz, auf bisher ungewohntem Ge- Die zusätzlichen Risiken biet tätig werden zu müssen, also je nach vorangegan- alten Ländern eine Bagatelle sein. Wer unter den Be- gener Beschäftigung in der Pflanzen- und Tierpro- dingungen, wie ich sie vorhin geschildert habe, in den letzten Jahren sein Einkommen erwirtschaftet hat, für duktion, von Gebieten wie Kalkulation, Marketing, Werbung und allen Fragen des Rechts sowie Versi- den sind das durchaus Risiken, die es überlegenswert machen, ob man diese für eine Betriebsgründung ein- cherungen ganz zu schweigen. gehen soll. Sechstens. Es gibt auf dem Gebiet der ehemaligen DDR zu wenig Berater. Es liegen kaum positive Erfah- Mit dem Gruppenlandwirtschaftsgesetz könnten rungen oder Beispielsbetriebe vor. Das allgemein üb- viele Gründe, die derzeit LPG-Mitglieder noch abhal- liche Erzeugerpreisniveau — bei Milch liegt dies im- ten, einen eigenen Bet rieb zu gründen, aus der Welt mer noch bei 53 Pfennig pro Liter als Durchschnitts- geräumt oder zumindest abgeschwächt werden. Ich wert — tut ein übriges, um potentielle Betriebsgrün- möchte darauf im einzelnen zurückkommen. der von dem Schritt in die Selbständigkeit zurückzu- Erstens. Es wird eine Haftungsbeschränkung ein- halten. geführt, die zwar weiter gefaßt wird, als das bei einer Vor dem Hintergrund dieser Situation wollen wir eingetragenen Genossenschaft oder einer GmbH der mit unserer Gesetzesinitiative eine Alternative zu den Fall ist. Sie wird aber über Festlegungen des Gesell- bisherigen Entscheidungsmöglichkeiten eröffnen, schaftsvertrags klar begrenzt. nämlich entweder einen Familienbetrieb zu gründen Zweitens. Die Kapitalaufbringung wird erleichtert. oder — meistens — in einer umgegründeten Genos- Das ist für mich der entscheidende Punkt für unseren senschaft zu arbeiten, so wie bisher. Gesetzesvorschlag. Da das Kapital mehrerer Betriebe zusammengelegt werden kann und Technik sowie Anlagen gemeinsam genutzt werden können, verrin- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege, ge- gert sich der Gesamtkapitalbedarf pro Flächenein- statten Sie noch eine Zwischenfrage? heit. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Da gibt es Dr. Gerald Thalheim (SPD): Ja, bitte. eine ganze Menge von Alternativen!) Nach französischen Erfahrungen kommt man im Ver- gleich zu einzeln wirtschaftenden Landwirten mit ei- Joachim Graf von Schönburg-Glauchau (CDU/ nem Fünftel weniger an Kapital aus. CSU) : Lieber Kollege, nehmen Sie uns ab, daß wir Ihre Für diese Initiative spricht auch, daß 10 % der land- ehrlichen Absichten kennen, daß wir sie schätzen und wirtschaftlichen Fläche in Frankreich in Gruppen- daß wir Ihre Sorgen teilen? Aber auch die größte Liebe landwirtschaftsbetrieben bewirtschaftet werden. kann nicht garantieren, daß nicht nachher bei der Zeugung doch eine Mißgeburt herauskommt. Glau- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist eine Ideo ben Sie nicht, daß genau das passiert ist? logie, sonst nichts!) 1392 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Dr. Gerald Thalheim Durch die Zusammenarbeit mehrerer Spezialisten sche Bedenken gegen diesen Gesetzentwurf hat. Aus können Defizite im Fachwissen und bei Erfahrungen den in meinem Beitrag genannten Gründen gibt es in des einzelnen leichter ausgeglichen werden. weiten Kreisen der landwirtschaftlich Beschäftigten (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das haben Ungewißheit und Zukunftsangst. Mit unserem Ge- wir bei den LPGen erlebt! Da waren die setzentwurf wollen wir eine Alternative zur Betriebs- „Spezialisten" beieinander!) gründung aufzeigen. Ich unterstreiche das und setze es bewußt an den Schluß. Durch die Regelungen des Gesetzes wird ein Die letzte Bemerkung soll sein: Wir stellen den An- Zwang ausgeübt, einen Bet rieb zu gründen, der stär- trag, diesen Gesetzentwurf zur Beratung an den Aus- ker am Einzelbetrieb orientiert ist als an Gemein- schuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zur schaftsunternehmen. Wir haben das ganz bewußt in federführenden Beratung zu überweisen. diesen Gesetzestext übernommen, und zwar aus Gründen der Förderung, aus Gründen der Besteue- Ich danke für die Aufmerksamkeit. rung und vor allen Dingen aus Gründen der negativen (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Erfahrungen, die viele Mitglieder in den Jahren der Liste) LPG gemacht haben.

In unserem Gesetzentwurf wurde die Zahl der Ge- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Der Abge- sellschafter auf maximal zehn begrenzt, um sich deut- ordnete Junghanns hat das Wort. lich von den vorangegangenen Betrieben der LPGen abzugrenzen. Das Recht der Gesellschaft auf Boden- bzw. Gebäu- Ulrich Junghanns (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Diese deeigentum wurde ausdrücklich auf den Fall be- Debatte gibt auch der CDU/CSU Anlaß, sich über die grenzt, daß keines der Mitglieder des Gruppenland- Bedeutung dieser Vorlage hinaus zu der komplizier- wirtschaftsbetriebs an der Pacht einer konkreten Flä- ten Lage der Ernährungs- und Landwirtschaft in unse- che intressiert ist. Es soll also ganz bewußt das Boden- ren neuen Bundesländern zu äußern. eigentum in Privathand gehalten werden. (Horst Sielaff [SPD]: Das sind schon bessere Die Gesellschafter sind zur eigenen Führung von Töne!) Konten verpflichtet; die Gesellschaft ist zur Buchfüh-- rung verpflichtet. — Gut. Ich freue mich, daß Sie zuhören. In der vorangegangenen Diskussion wurde die Be- Strukturwandel, Eigentumsauseinandersetzung, grenzung der Anzahl von Fremdarbeitskräften kriti- Altlasten, Altschulden bis hin zu dem, was GATT- siert. Das ist für mich an sich unverständlich. Gerade Verhandlung verheißt, schaffen einen regelrechten die bäuerlich orientierte Landwirtschaft reibt sich an Schmelztiegel von Problemen und Debatten unter den den Gewerbebetrieben im Bereich der Landwirt- Bauern. Das Klima ist belastet. Ich sage das auf Grund schaft. Davon wollten wir uns mit dem Gesetzestext vieler Gespräche in Brandenburger Betrieben in den ganz bewußt abgrenzen. letzten Tagen und Wochen. Sie lassen mich nüchtern urteilen. Da gibt es nichts zu bagatellisieren. (Beifall bei der SPD) Gleichwohl ist das Engagement gestiegen und Zur Begründung unserer Gesetzesinitiative sollen wachsen Selbstbewußtsein und Selbstbewußtheit, die soziale Aspekte nicht unerwähnt bleiben. Im Rahmen Probleme zu packen. Wir spüren, daß das Barometer eines Gruppenlandwirtschaftsbetriebes ist die gegen- umzuschlagen beginnt. Wer da weiterhin immer nur seitige Unterstützung im Krankheitsfall leichter. darauf aus ist, wirtschaftlichen Pessimismus zu ver- (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ breiten, muß sich den Vorwurf gefallen lassen, daß er CSU]: Sehr richtig!) nicht auf die Kraft der Menschen bei der Lösung die- ser komplizierten Aufgabe vertraut. Wir tun es. Die Nachwuchsprobleme bei den Betriebshelfern in den alten Bundesländern sind hinlänglich bekannt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Gerald Thalheim [SPD]: Was haben Sie (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ auf der SED-Parteischule gelernt? — Sieg CSU]: Deswegen brauchen wir keinen Ge- fried Hornung [CDU/CSU]: Sehen Sie, da setzentwurf!) sind sie aufgeregt!) Dieselben Argumente gelten z. B. auch für die Ur- — Ich war nicht auf einer Schule, mein Lieber. Wenn laubsgestaltung, die sich in der DDR zur allgemeinen Sie, sobald Ihnen die fachlichen Argumente ausge Praxis in der Landwirtschaft entwickelt hatte. hen, solche Verleumdungen aussprechen, die Sie (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Also zurück überhaupt nicht äußern dürften, dann ist das unsach- zur LPG? Oder was? — Horst Sielaff [SPD]: lich. Herr Hornung, Sie haben wieder nicht zuge- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Da wird die hört! Genau das wollen wir nicht!) SPD aufgeregt!) — Wir wollen mit dem Gesetz ja gerade erreichen, daß das nicht passiert. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- (Vorsitz : Vizepräsident Dieter-Julius Cro- geordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzu- nenberg) lassen? Abschließend fasse ich unsere Ziele zusammen, vor allem unter dem Blickwinkel, daß die Koalition juristi Ulrich Junghanns (CDU/CSU): Bitte schön. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1393

Horst Sielaff (SPD): Herr Kollege, wir sind uns darin den nicht erhaltenswert. Sie bietet keine sichere Exi- einig, daß eine große Kraftanstrengung der Menschen stenz. in den neuen Bundesländern notwendig ist. Aber wür- den Sie nicht zugeben, daß viele Menschen gerade in Ich möchte an dieser Stelle zu dem, was vorher landwirtschaftlichen Betrieben am Ende ihrer Kraft gesagt worden ist, noch einmal das hervorheben: Wir haben das schon immer so gesehen; wir sehen das sind und mehr Hilfen von uns erwarten? nicht erst seit heute so. Wir müssen uns deshalb von (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste Ihnen nicht sagen lassen, daß wir in dieser Frage be- — Wolfgang Schulhoff [CDU/CSU]: Die krie- kehrt worden seien. gen sie! — Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aber nicht durch ein neues Gesetz!) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir leben auch mit den Bauern.

Ulrich Junghanns (CDU/CSU): Verehrter Herr Wenn sich also etwas ändern muß und die bloße Sielaff, ich lebe tief in diesem Problem. Ich habe mei- Veräußerung oder Verpachtung des sogenannten nen Standpunkt dazu dargelegt und gesagt, wie ich LPG-Potentials an kapitalkräftige Manager aus den meine Gespräche mit den Bauern in unseren Bundes- alten Bundesländern keine — auch nicht für uns — ländern führe. Ich weiß, daß es gerade jetzt in einer agrarpolitische Alternative sein kann, dann bleibt nur, Zeit schwieriger Entscheidungen darauf ankommt, Betriebsformen und -größen zu finden, die auf mittlere den Weg nach vorn zu weisen. Sicht dazu beitragen, den Anpassungsprozeß men- (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der schen- und landschaftsverträglich ablaufen zu lassen SPD) und das vorhandene Potential vor ungerechtfertigter Entwertung zu schützen. — Hören Sie mir bitte zu. — Ich stehe hier, um auch Unterstützung zu geben. Auf Ihre Frage sage ich Der Gesetzentwurf der SPD zur Gruppenlandwirt- nochmals: Wir sind gefordert, mehr Unterstützung zu schaft gibt uns vor diesem Hintergrund auf — dies geben. Da stimme ich Ihnen zu. Das ist überhaupt aber auch eingedenk des Ursprungs dieser Gesetzes- keine Frage. initiative aus der Arbeit während der letzten Tage der (Horst Sielaff [SPD]: Gut! — Siegfried Hor- Volkskammer — , gründlich abzuwägen. Man kann nung [CDU/CSU]: Aber nicht neue Ge- diese Situation, in der wir heute stehen, nicht mit der setze!) vom August 1990 vergleichen. Ich werbe um mehr Sensibilität und um mehr Hin- (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Freiherr von wendung aus dem Verständnis für die Lage heraus, in Stetten [CDU/CSU]) der sich die Bauern befinden. Die Bauern machen den Sprung aus einer alles bevormundenden Kommando- Auch die Praktiker — selbst jene, die sich in Frank- reich dieses Modell angeschaut haben; ich habe mit wirtschaft in eine europaweite Marktwirtschaft ohne Treuhand. Wir beklagen das nicht. Im Gegenteil. Aber denen gesprochen und mir dort Rat geholt — sind die Konsequenz daraus ist, daß den Bauern abver- geteilter Auffassung. Alle haben eigentlich in den langt wird, vor dem Hintergrund der ganzen Härte der letzten Monaten und Wochen neu gelernt — das wirtschaftlichen Konsequenzen die nötigen ökonomi- möchte ich hervorheben — , mit dem Rechtsrahmen in schen Schritte aus eigener Kraft, mitunter auch aus der Bundesrepublik Deutschland umzugehen. Einer- eigenem Saft zu gehen. seits sehen die Praktiker — wie das geschildert wird —, die Bildung von landwirtschaftlichen Grup- Besonders in bezug auf den unumgänglichen Ab- penbetrieben als einen gegebenenfalls sozial- und bau des Arbeitskräftebesatzes, verbunden mit Ver- steuerrechtlich tragfähigen Mittelweg zwischen dem mögensauseinandersetzungen, tun sich die Betriebe nicht gewagten Übergang zum bäuerlichen Familien- verständlicherweise sehr schwer. In diesem Bereich betrieb und anderer gemeinschaftlicher Unterneh- sind es vor allem mentale Hürden, die man überwin- mensformen an. Andererseits wird darauf verwiesen den muß. Wenn man die Sensibilität der Leute kennt, — das sagen auch Bauern aus den neuen Bundeslän- die in einer dörflichen Atmosphäre leben, wird man dern — , daß es nach deutschem Recht genügend das begreifen. Das nimmt uns in die Pflicht, auf einem Möglichkeiten gibt, die Wege individuell und zweck- sehr komplizierten Weg Orientierung und Hilfe zu dienlich zu gestalten. geben. Darüber hinaus macht die zur Zeit in diesem Hause Beiden Betrachtungen entziehen wir uns nicht. Für geführte Debatte über die Novellierung des Landwirt- uns stellt sich grundsätzlich erst dann die Frage, ob schaftsanpassungsgesetzes mit aller Deutlichkeit klar, die Notwendigkeit besteht, per Gesetz eine neue vor welchen Problemen wir stehen. Das ist eine wich- Rechtsform zu schaffen, wenn sich zeigt, daß die vor- tige Grundlage für das, was wir heute diskutieren. handenen Rechtsformen unzureichend sind. Diese Ar- beit muß noch geleistet werden. Wir wollen sie mit Jawohl, zwei Entwicklungen haben wir zu bewer- leisten, weil wir durchaus in der Lage sind, die Inten- ten. Erstens. Die Neigung der in der Landwirtschaft tionen, die diesem Gesetzentwurf zugrunde liegen, der neuen Länder tätigen Bauern, die LPG zu verlas- nachzuvollziehen. Es lohnt sich zu prüfen — auch für sen und einen eigenen Bet rieb aufzubauen, ist gerin- uns — , inwieweit die Haftung für die Mitglieder be- ger als erwartet. Ich bewerte die Gründe dafür ge- schränkt und die Fördervorteile von Einzellandwirten nauso wie mein Vorredner. genutzt werden können, ob damit eine spezifische Zweitens. Die gegenwärtige LPG-Struktur ist in der landwirtschaftliche Rechtsform geschaffen wird, die ererbten Form allein schon aus ökonomischen Grün- die besonderen Anpassungsprobleme dieses Sektors 1394 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Ulrich Junghanns berücksichtigt und innerhalb der EG von Bestand meverpflichtung bei Magermilch können die Be- ist. triebe derzeit nur fertig werden, wenn ausreichende Anreize für die Verwendung von Magermilch für Fut- Wir sind also offen bei der Suche nach Mitteln und terzwecke geboten werden. Erfreulicherweise hat Wegen, um die vorhandenen Hemmschwellen abzu- sich die Europäische Gemeinschaft bereit erklärt, bauen, die gewohnten Produktionsgenossenschaften über den 28. Februar 1991 hinaus bis zum 31. August aufzugeben und sich in kleineren, übersichtlicheren 1991 die auf unsere neuen Bundesländer bezogene Formen der Zusammenarbeit zu organisieren. Ich Sonderregelung bei der Verfütterung von Mager- bitte gerade die Vertreter der Opposition, genauso, milch an Schweine fortgelten zu lassen. Darüber hin- wie die Bauern seit dem Sommer des vergangenen aus ist sie bereit, den Sockelbetrag für die Sonderhilfe Jahres gelernt haben, mit dem Rechtsrahmen umzu- in Höhe der Kälberbeihilfe zu zahlen. Angesichts der gehen, unvoreingenommen in die Diskussion über ju- Dimension rechnen wir mit der Partnerschaft des Fi- ristische Fragestellungen zu gehen, die heute darge- nanzministeriums, den nationalen Anteil für diese stellt worden sind. Denn nur das kann uns helfen, Maßnahme in Höhe von 35 bis 40 Millionen DM auf- einen gemeinsamen Weg zu finden. zubringen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich möchte zusammenfassen: Die strukturellen Pro- Ohne die Bedeutung der juristischen Gestaltungs- bleme sind nicht losgelöst von den wirtschaftlichen angebote bei der Schaffung privatwirtschaftlicher Faktoren des Wirtschaftens und des Fortkommens der Grundlagen in der Landwirtschaft der neuen Bundes- Bauern in den neuen Bundesländern zu sehen. Die länder abwerten zu wollen, ist uns aber klar, daß den Sorge um die Menschen verpflichtet uns — ohne Zeit Bauern in diesem Zusammenhang der Schuh auch zu verschenken — , die Richtung der Entwicklung noch an ganz anderen Stellen drückt, und zwar beson- über die Geschwindigkeit im Ablauf der Prozesse zu ders bei der Altschuldenproblematik. Ich betone das stellen. Deswegen sind wir bereit, den Gedanken ei- auch im Wissen um die Debatte hier; denn die Alt- ner solidarischen Zusammenarbeit der Bauern in ei- schulden drängen jedwede Diskussion um die rechtli- ner neuen Rechts- und Betriebsform zu prüfen, auch chen Konstruktionen in den Hintergrund. Lassen Sie wenn die technischen Regelungen aus heutiger Sicht mich deshalb dazu noch wenige Anmerkungen ma- schon vorhanden zu sein scheinen. chen. - Deshalb spricht sich die CDU/CSU-Fraktion für die Überweisung an die Ausschüsse aus. Sie ist bereit, in Die von der Treuhandanstalt nach Art. 25 Abs. 3 des diesen eine sachkundige und gründliche Diskussion Einigungsvertrages vorgesehene Regelung über zu führen. 1,4 Milliarden DM ist ein hilfreicher Ansatz, der aber nicht ausreicht. Wir sind der Auffassung, daß die nach Danke schön. § 16 Abs. 3 des DM-Bilanzgesetzes vorgesehene so- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) genannte Besserungsscheinregelung — d. h. Stun- dung und erst Rückzahlung, wenn wieder Gewinne erzielt werden — mindestens ein ähnliches Volumen umfassen und schnellstmöglich parallel zur Treu- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort handregelung realisiert werden muß. hat der Abgeordnete Haschke (Großhennersdorf). Beide Regelungen werden jedoch aller Voraussicht nach nicht kurzfristig realisierbar sein. Aus diesem (Großhennersdorf) (CDU/CSU): Grunde ist die Vereinbarung zwischen den zuständi- Gottfried Haschke Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und gen Ministerien und der DG-Bank zur entsprechen- Herren! den Verlängerung des Schuldenmoratoriums über den 30. Juni 1991 hinaus anzustreben. Entscheidend (Zuruf von der SPD: Jetzt reißt er's an ist, daß dadurch die Chancen der Betriebe für einen sich!) strukturellen und wirtschaftlichen Neuanfang ausge- Der Gesetzentwurf zur Gruppenlandwirtschaft, der baut und massenhafter Konkurs verhindert werden. uns heute vorliegt, betrifft eine Frage, die juristisch Schließlich sehen wir ein weiteres besonders vor- und rechtlich geklärt werden muß. Ich muß Ihnen dringliches Anliegen darin — auch das hilft, die struk- ganz ehrlich sagen: Ich habe mir bei meiner Tätigkeit turpolitischen Fragen zu klären — , daß die Produkte in Berlin und in meiner Eigenschaft als Abgeordneter aus den neuen Bundesländern auf den Markt kom- der Volkskammer die Gruppenlandwirtschaft in men. Die gestrige CMA-Handelsmesse in Köln, die Frankreich angesehen. Ich habe mich sehr für dieses ihren Anfang in einer gleichen Aktion in Erfurt im Modell interessiert; denn vor einem Jahr war die Si- vergangenen Jahr gefunden hat, ist dafür ein Bei- tuation eine ganz andere als heute. Vor einem Jahr spiel. nämlich hat noch keiner daran gedacht, daß die deut- sche Einheit so schnell kommt. Uns geht es jetzt nicht darum, uns weiter gegensei- Wir alle waren uns im klaren: Die Zeit der Genos- tig Vorwürfe zu machen; denn das Problem ist er- senschaften, der LPGs in dieser Größenordnung, der kannt. Entscheidend ist, daß man den Anteil der Wa- Mammutbetriebe, in denen Gigantismus herrschte, ren aus den neuen Ländern in Ost und West laufend bei denen man sich an die Brust geschlagen hat, wenn vergrößert. Wir werden dafür das in unseren Kräften wieder einmal 1 000 ha mehr zu verzeichnen waren, Stehende tun. wenn es wieder Zusammenschlüsse gab, hat uns dazu Besonders groß sind die Probleme zur Zeit beim gebracht, neue Wege zu suchen und uns die Land- Absatz der Milchprodukte. Mit der hohen Rücknah wirtschaft in Frankreich anzusehen. Das Modell der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1395

Gottfried Haschke (Großhennersdorf) Gruppenlandwirtschaft war durchaus eine Möglich- Ich kann feststellen, daß die bevorstehende kontro- keit von vielen. verse Abstimmung zu einer ungewöhnlichen Bele- (Horst Sielaff [SPD]: Sehr gut!) bung des Plenums beigetragen hat. Aber ich muß Ihnen auch sagen: Zu dieser Zeit stand (Heiterkeit im ganzen Hause) nicht fest, daß mehr gemacht werden darf als eine Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP haben bean- eingetragene Genossenschaft. Es wurde heute schon tragt, den Gesetzentwurf zur federführenden Bera- erwähnt, daß andere Rechtsformen nicht möglich wa- tung an den Rechtsausschuß sowie an den Ausschuß ren. Ich muß Ihnen in meiner Eigenschaft als Abge- für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und den ordneter — nicht als Staatssekretär — sagen, daß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zur Mitbera- diese Frage auf alle Fälle juristisch und rechtlich ge- tung zu überweisen. Die SPD-Fraktion wünscht dage- klärt werden muß; gen die Überweisung des Gesetzentwurfs an den Aus- (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ schuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zur CSU]: Sehr sorgfältig!) federführenden Beratung. Ich sage das, damit die Ausgangslage klar ist. denn uns allen in der DDR waren diese Rechtsbegriffe bis vor kurzem noch überhaupt nicht geläufig. Wer stimmt dem Überweisungsvorschlag der Frak- tionen der CDU/CSU und FDP, den Gesetzentwurf zur (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) federführenden Beratung an den Rechtsausschuß zu Ich muß Ihnen in meiner Eigenschaft als Staatsse- überweisen, zu? — Wer stimmt dagegen? — Wer ent- kretär auch sagen: Meine Hauptaufgabe sehe ich hält sich? — Das ist mindestens ein klares Votum von darin, der Landwirtschaft in den fünf neuen Bundes- beiden Seiten. Damit erübrigt sich eine Abstimmung ländern bei der Anpassung zu helfen. Die größten über den Antrag der SPD-Fraktion, weil sich die Schwierigkeiten habe ich bei juristischen Dingen. Da Mehrheit eindeutig für die Überweisung des Gesetz- muß ich am meisten dazulernen. Damit muß ich mich entwurfs an den Rechtsausschuß zur federführenden vertraut machen. Beratung entschieden hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Barbara Weiler [SPD]: Dann glauben Sie den Ich rufe nunmehr Punkt 10 der Tagesordnung auf: Juristen nicht alles! Behalten Sie die Feder- Erste Beratung des von der Bundesregierung führung! — Zuruf von der CDU/CSU: Er ist eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über wenigstens bereit, zu lernen!) die zwanzigste Anpassung der Leistungen Ich muß Ihnen ganz ehrlich sagen: Wir brauchen ver- nach dem Bundesversorgungsgesetz (KOV- schiedene Rechtsformen. Dazu haben sich alle be- Anpassungsgesetz 1991 — KOVAnpG 1991) kannt. Ich bin der Meinung: Man kann darüber dis- — Drucksache 12/335 — kutieren, aber erst muß alles rechtlich geklärt sein. Überweisungsvorschlag : Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- geordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Der guten Ordnung halber stelle ich fest, daß im Abgeordneten Oostergetelo zu beantworten? — Bitte Plenum kein Widerspruch gegen eine Debattenzeit schön. von einer halben Stunde festzustellen ist. — Dann darf ich das als beschlossen feststellen. Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort. Jan Oostergetelo (SPD): Herr Staatssekretär, jeder glaubt Ihnen, daß Sie ein Bauer sind. Wir sind ja nicht blind. Horst Günther, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- (Heiterkeit im ganzen Hause) nister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Präsident! Deshalb frage ich Sie: Würde es Ihnen in Ihrer Funk- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Ent- tion als Staatssekretär nicht gut zu Gesicht stehen, zu wurf des Gesetzes zur Anpassung der Leistungen der dieser Sache federführend die Landwirtschaft reden Kriegsopferversorgung enthält im wesentlichen die zu lassen? Ich kenne bisher keinen Fall, in dem ein Anpassung der Renten der rund 1,3 Millionen Ver- Ministerium freiwillig etwas abgibt. sorgungsberechtigten in den westlichen Bundeslän- dern zum 1. Juli 1991. Dazu zählen Kriegs- und Wehr- (Beifall bei der SPD) dienstopfer, aber z. B. auch die Impfgeschädigten so- wie die Opfer von Gewalttaten. Gottfried Haschke (Großhennersdorf) (CDU/CSU): Auch die Renten der Kriegsopfer werden zum letz- Verehrter Herr Kollege, der Landwirtschaftsausschuß tenmal durch ein Gesetz angepaßt. Wie bei den Ren- muß nicht im Vordergrund stehen. Die Juristen — das ten der gesetzlichen Rentenversicherung werden haben wir ja gesehen — müssen die Sache erst einmal diese Rentenanpassungen in Zukunft auf dem Ver- klargestellt haben. ordnungswege erfolgen, wie das nach dem Renten- reformgesetz in diesem Hause beschlossen worden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — ist. Horst Sielaff [SPD]: Wir haben ja gehört, was die machen!) Der Anpassungssatz entspricht dem Anstieg der verfügbaren Renten aus der gesetzlichen Rentenver- sicherung zum 1. Juli 1991. Der Anpassungssatz, der Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Damit nach dem Gesetzentwurf 5,08 % beträgt, ist nach den kann ich die Aussprache schließen. neuesten Berechnungen auf 5,04 % zu korrigieren. 1396 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Parl. Staatssekretär Horst Günther Die Bruttolöhne und -gehälter der abhängig Beschäf- Kriegsopfer, ihre Hinterbliebenen, ihre Pflegenden, tigten sind im Vorjahr um 4,7 % gestiegen. Die Anpas- diese Personen, die ein Alter erreicht haben, wo sie es sung folgt insoweit der Lohnentwicklung. mit altersbedingten Krankheiten zu tun haben, durch Die Höhe der Rentenanpassung ist jedoch nicht nur diese Zuzahlungen im Bereich der Krankenversor- vom Lohn, sondern auch von den Beiträgen zur Kran- gung ganz besonders belastet sind. Darum finde ich es absolut unpassend, diese vermeintlich glorreiche Ge- kenversicherung der Rentner abhängig. Der Kran- kenversicherungsbeitrag der Rentner ist zum 1. Juli sundheitsreform in diesem Zusammenhang so anzu- 1991 auf 12,2 % herabgesetzt worden. Daraus ergibt preisen. sich ein Anpassungssatz von 5,04 %. Insofern kommt (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und der Erfolg des Gesundheits-Reformgesetzes auch den beim Bündnis 90/GRÜNE) Kriegsopfern zugute. Nun aber zur Kriegsopferversorgung. Zu Beginn (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — meiner Ausführungen will ich deutlich machen, daß Barbara Weiler [SPD]: Schau wieder eine Le die SPD-Fraktion dem Gesetzentwurf wahrscheinlich -gendenbildung!) in der dritten Lesung zustimmen wird. Wir hoffen al- — Ja, schon wieder. Es kommt häufiger vor, Frau Kol- lerdings, daß Sie in den Ausschußberatungen noch legin, daß der Erfolg des Gesundheits-Reformgesetzes zwei nach unserer Meinung dringend notwendige zur Erhöhung der Renten beiträgt. strukturelle Ergänzungen mittragen und aufnehmen Diese Anpassung hat keine Auswirkungen auf die werden. Leistungen der Kriegsopferversorgung in den neuen Durch die Anhebung der Leistungen im Bereich der Bundesländern. Dort erfolgt nach dem Einigungsver- Kriegsopferversorgung zum 1. Juli nehmen die Ver- trag die Anpassung jeweils automatisch mit der Anhe- bung des dortigen Rentenniveaus. Hierfür wird im sorgungsberechtigten auch in diesem Jahr an der all- teil. Das ist gut, Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung die gemeinen Einkommensentwicklung zweite Rentenanpassungsverordnung vorbereitet. und das unterstützen wir. (Ottmar Schreiner [SPD]: Soziale Unord- Im Zusammenhang mit der Beratung dieses Geset- nung!) zes, das, wie Sie schon sagten, zum letzten Mal als - Anpassungsgesetz im Bundestag beraten wird, Sie sieht eine Anpassung der Renten der gesetzlichen möchte ich die Gelegenheit nutzen, einmal einen kur- Rentenversicherung von 15 % vor. Um diesen Satz zen Rückblick auf die 20 Anpassungsgesetze, die vom wird sich auch der Zahlbetrag der Leistungen der Deutschen Bundestag verabschiedet worden sind, zu Kriegsopferversorgung in den neuen Bundesländern geben. Einige von Ihnen werden sich erinnern: Es erhöhen. war die sozial-liberale Koalition, die unmittelbar nach Das Verhältnis der Standardrenten in den alten und der Übernahme der Regierungsverantwortung die in den neuen Bundesländern, das auch für die Höhe Kriegsopferrenten zum 1. Januar 1970 wesentlich er- der Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz höht und — was ganz wichtig ist — ab 1971 dynami- maßgebend ist, wird damit von 46,37 % auf 50,77 % siert hat. Die Durchsetzung der Dynamisierung der steigen. Trotz dieses Anstiegs wird eine Westrente Kriegsopferrenten ist ein historisches Verdienst der dann immer noch doppelt so hoch sein wie eine Ost- sozial-liberalen Koalition; denn hierdurch wurde die rente. Diskriminierung der Kriegsopfer beseitigt, die vorher Um einheitliche Lebensverhältnisse zu schaffen, von der laufenden Teilnahme am wachsenden Wohl- müssen die Renten in den neuen Bundesländern auch stand ausgeschlossen waren. weiterhin stärker steigen als im Westen. Grundsatz ist dabei die Anpassung entsprechend der Lohnentwick- (Beifall bei der SPD) lung. Dabei wird der bewährte Anpassungsverbund Interessant ist es auch, sich die damalige Haltung zwischen der Kriegsopferversorgung und der gesetz- der CDU/CSU zur Dynamisierung vor Augen zu füh- lichen Rentenversicherung fortgeführt werden. ren, von der sie inzwischen — Gott sei Dank — weit Vielen Dank. abgerückt ist. Damals aber hat sich die CDU/CSU bis zum letzten Augenblick gegen eine jährliche Dynami- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sierung gesträubt. In ihrem sozialpolitischen Regie- rungsprogramm für die Legislaturpe riode 1969 hatte Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun er- sie lediglich eine zweijährige Berichtspflicht der Bun- teile ich der Abgeordneten Frau Weiler das Wort. desregierung über die Möglichkeiten einer Anpas- sung der Renten an die wirtschaftliche Entwicklung vorgesehen. Nachdem sie dann in der Opposition war, Barbara Weiler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolle- schlug sie in ihrem Gesetzentwurf zur Kriegsopferver- ginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir, daß ich zu sorgung gleich eine einjährige Berichtspflicht vor. Beginn den Versuch einer weiteren Legendenbildung Aber die CDU/CSU wollte damals an unverbindlichen im Zusammenhang mit der so vermeintlich erfolgrei- Berichten festhalten. chen Gesundheitsreform zurückweise. Nun hat sich die Auffassung der CDU/CSU zur (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist keine Le- Frage der Dynamisierung gewandelt. Dennoch läßt gende! Das ist die Wahrheit!) sich gelegentlich immer noch eine merkwürdige Zu- Die Beitragssenkungen bei den Krankenkassen resul rückhaltung erkennen, wenn es sich um die Anliegen tieren aus Zuzahlungen der Patienten. Ich finde es der Kriegsopferverbände handelt. Ich will das an ganz besonders zynisch, Herr Kollege, daß gerade die Hand von einigen Fakten belegen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1397

Barbara Weiler Das beste Beispiel dafür ist das KOV-Strukturge- das es dringend geboten erscheinen läßt, daß sie in setz, das erst im letzten Jahr, also um mehrere Jahre den Genuß der Leistungen kommen. Es wird leider zu spät, verabschiedet werden konnte. Obwohl schon einige Zeit vergehen, ehe der Berg von über 300 000 seit Jahren allen Beteiligten klar war, daß insbeson- zu erwartenden Anträgen abgearbeitet sein wird. dere wegen des hohen Durchschnittsalters der Kriegs- Darum sollten wir uns darauf verständigen, im Aus- opfer — immerhin mehr als 70 Jahre — die notwendi- schuß für Arbeit und Sozialordnung dieses Thema mit gen Verbesserungen im Leistungsrecht des Bundes- Priorität zu verhandeln und zu prüfen, ob der Bund versorgungsgesetzes keinen Aufschub mehr dulde- über die heutige Unterstützung hinaus nicht noch ten, haben sich die Regierung und die sie tragenden weitere Hilfen für eine schnelle Bewältigung dieses Fraktionen lange Zeit hartnäckig geweigert, die ent- Verwaltungsproblems geben kann. sprechenden Forderungen der Verbände und auch Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben diesen so- der SPD-Bundestagsfraktion anzunehmen. Deshalb zialpolitischen Aspekten möchte ich zum Schluß aber war das Kriegsopferstrukturgesetz 1990 auch eine noch einen kurzen Hinweis auf etwas geben, über das längst fällige Reaktion. in diesem Jahr eine Diskussion in unserem Lande an- Wir haben mit großem Interesse und auch einer steht, nämlich den Einsatz von deutschen Soldaten im gewissen Befriedigung festgestellt, daß viele Lei- Rahmen der UNO oder auch als deutsche Truppe in stungsverbesserungen den Forderungen entsprochen der ganzen Welt. Die Kriegsopferversorgung ist ein- haben, die von uns in den vorausgegangenen Jahren gerichtet worden, um Schäden derjenigen zu lindern, bereits mehrfach erhoben worden waren und die Sie die im Ersten und Zweiten Weltkrieg gewesen sind. damals abgelehnt haben. Das gilt z. B. für die Verbes- Ich denke, es muß auch in unser aller Interesse sein, serung des Berufsschadensausgleichs für Beschädigte daß die deutschen Menschen in diesen Bereich nicht und des Schadensausgleichs für Witwen. Das gilt für weiter einbezogen werden. Ich plädiere dafür, daß wir die Anhebung der Alterszulage zur Grundrente für zu diesem Punkt die Verbände und die Menschen Schwerbeschädigte. Das gilt für die Nichtanrechnung anhören, die in den letzten 40 Jahren die Erfahrungen der Pflegezulage in besonderen Fällen, und das gilt und die Folgen des Krieges hautnah und ganz persön- für die Anhebung der Elternrente. Die SPD-Fraktion lich erlebt haben und uns jüngeren Menschen sicher- hatte damals im Plenum zwei wichtige Verbesse- lich Mitteilung davon geben könnten, was es bedeu- rungsvorschläge zur Abstimmung gestellt, die wir tet, jahrzehntelang Opfer eines Krieges zu sein. Wir auch diesmal wieder in die Beratungen einbringen sollten dies in unsere politischen Überlegungen und werden. Damals haben Sie sie abgelehnt. Der erste Beschlußfassungen auf anderen Gebieten — nicht im Vorschlag betraf die Verbesserung des Pflegeaus- sozialpolitischen Bereich — einfließen lassen. Da kön- gleichs für Witwen, die ihren Ehemann über Jahre nen uns die Verbände der Kriegsopfer und die Betrof- hinweg gepflegt haben. Die Fraktion der SPD hält es fenen sehr wohl Hilfe sein. Wir sollten diese Rat- für dringend geboten, die Pflegetätigkeit nicht erst ab schläge genauestens aufnehmen. dem 21., sondern bereits ab dem 11. Pflegejahr zu (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und berücksichtigen. beim Bündnis 90/GRÜNE) Der zweite Antrag zielte auf die Verbesserung der Witwen- und Waisenbeihilfen ab. Hierbei halten wir Das Wort hat die es für sozialpolitisch gerechtfertigt, auch bei der Ver- Vizepräsident Helmuth Becker: Abgeordnete Frau Dr. Pohl. sorgung Hinterbliebener von Beschädigten mit MdE- Graden — Minderung der Erwerbstätigkeit — von 90 v. H. von dem konkreten Nachweis einer Minde- (FDP): Sehr verehrter Herr Präsident! rung bei der Hinterbliebenenversorgung abzusehen. Dr. Eva Pohl Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die zwan- Mit der Nennung der heute noch immer ungeregel- zigste Anpassung der Versorgungsbezüge ist nur ein ten Problembereiche will ich andeuten, daß die SPD- Glied in der Kette der kontinuierlichen Leistungsver- Fraktion davon ausgeht, daß es auch in Zukunft Ge- besserungen für Kriegsopfer. Mit einem Mehrauf- setzesinitiativen für die Kriegsopfer geben muß. Die wand von 216,8 Millionen DM im Haushaltsjahr 1991 außerparlamentarische Behandlung der jährlichen knüpft sie an die herausragenden sozialen Leistungen Erhöhungen der Kriegsopferleistungen, die ab näch- dieser Koalition in der vergangenen Legislaturperiode stem Jahr in dieser Weise durchgeführt werden soll, an. Insbesondere für Witwen und Hinterbliebene sind darf uns nicht dazu verleiten, einen Stillstand der Ge- wesentliche Verbesserungen erzielt worden, die zu setzgebungsarbeit zu akzeptieren. Einen solchen einer deutlichen Steigerung ihrer Anspruchsleistun- Stillstand darf es nicht geben. Wir werden uns auch gen geführt haben. dafür einsetzen, daß es weiterhin Strukturgesetze Mit der heutigen Anpassung von ca. 5 % erfahren gibt. die etwa 1,34 Millionen Berechtigten eine weitere Lassen Sie mich abschließend auf ein Anliegen ein- ständige Verbesserung ihrer Lebenssituation, denn gehen, das uns hier im Bundestag sicherlich über alle der Anpassungssatz liegt deutlich höher als die Teue- Fraktionsgrenzen hinweg verbindet. Ich meine die rungsrate. Auch die über 300 000 Kriegsbeschädigten Organisation, die Auszahlung, die Bewilligung von und Hinterbliebenen in den neuen Bundesländern Leistungen der Kriegsopferversorgung in den neuen sind ab dem 1. Januar 1991 in die Kriegsopferversor- Bundesländern. Es herrschte zwischen uns Einigkeit, gung einbezogen. Ich begrüße dieses außerordent- daß die Umsetzung durch den Gesetzgeber möglichst lich, schnell erfolgen soll. Das ist deshalb so besonders (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wichtig, weil die Betroffenen ein Alter erreicht haben, der CDU/CSU) 1398 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Dr. Eva Pohl da das sozialistische Regime keinesfalls soziale Ge- schön: Warum jetzt auf einmal nur 5,4 %? Die PDS/ rechtigkeit walten ließ und die Kriegsopfer und ihre Linke Liste ist dafür, daß Kriegsopfer aus der ehema- Hinterbliebenen rücksichtslos und willkürlich jahr- ligen DDR — natürlich auch die zivilen — endlich zehntelang an den Rand der Gesellschaft gedrängt richtig entschädigt werden. hat. Wir sind aber auch dafür, daß alle Menschen mit (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Behinderungen in ganz Deutschland gleich sind, daß der CDU/CSU) es ihnen — wohlgemerkt — gleich gut geht, egal wo- Deshalb ist es wichtig, schon in absehbarer Zeit eine her die Behinderung rührt und worin sie besteht. Die Gleichbehandlung der Kriegsopfer im vereinten PDS/Linke Liste ist aber auch dafür, daß jeder Deutschland zu erhalten, denn es gibt keinen Grund, Mensch, der mit dem Handikap einer Behinderung der älteren Generation in den östlichen Bundeslän- lebt, tatsächlich arbeiten kann, ohne daß das seinen dern den Beitrag zu verwehren, der ihnen gebührt, Nachteilsausgleich in irgendeiner Weise beeinträch- weil besonders sie unter dem Schicksal des Krieges tigt. und der Trennung gelitten haben. Für sie ist die Ver- Die PDS/Linke Liste ist dafür, daß auch derjenige einigung nicht nur ein Herzensanliegen, sondern oder diejenige mit Behinderung, die auf Grund ihrer auch der Zeitpunkt, einen angemessenen materiellen Schädigung tatsächlich nicht produktiv oder ander- Ausgleich im Rahmen einer gesamtdeutschen Kriegs- weitig erwerbstätig sein können, gleiche Lebensbe- opferversorgung zu fordern. dingungen haben. Dazu benötigen auch diese Men- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) schen ausreichende finanzielle Mittel, also Mittel in beträchtlichem Umfang, und zwar in die eigene Hand Der Bundesrat hat in seinen verschiedenen Empfeh- bzw. in die des gesetzlichen Vertreters und nicht in lungen zum Regierungsentwurf manches Vernünftige die Hand von Ämtern oder Wohlfahrtsorganisatio- vorgeschlagen, das wir im Rahmen der parlamentari- nen. schen Beratung aufgreifen werden. Dazu gehört auch eine vereinfachte Übergangsregelung für die unent- Deshalb, meine Damen und Herren Abgeordneten, geltliche Beförderung im öffentlichen Personennah- bitte ich Sie als Präsident des Allgemeinen Behinder- verkehr in den neuen Bundesländern. Es ist wichtig, tenverbandes in Deutschland, der für Selbstbestim- daß die Landesregierungen der neuen Bundesländer mung und Würde eintritt und dem ebenfalls viele jetzt zügig informieren, damit die Verkehrsunterneh- Kriegsopfer angehören, also als ABiD-Präsident, jegli- men vor Ort rechtzeitig unterrichtet werden können. che Aussonderung von Menschen mit irgendeiner Be- Denn gerade für die Kriegsopfer und ihre Hinterblie- hinderung gemeinsam unter Strafe zu stellen, um so benen müssen bürokratische Hemmnisse schnell und diesen Menschen gleiche Entwicklungschancen zu zügig abgebaut werden. verschaffen, z. B. durch frei verfügbares Geld in die eigene Hand. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vielen Dank. Für sie, aber auch für alle neuen Bundesbürger müs- sen überflüssige Behördengänge endgültig der Ver- (Beifall bei der PDS/Linke Liste und beim gangenheit angehören. Die Entsendung von ca. Bündnis 90/GRÜNE) 10 000 westdeutschen Beamten ist dabei ein wichtiger Schu- Schritt in die richtige Richtung. Aber auch die Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile lung der Mitarbeiter vor Ort ist noch völlig unzurei- dem Abgeordneten Kronberg das Wort. chend. Ich bin jedoch sicher, daß es in naher Zukunft zu einer effektiven Zusammenarbeit der ost- und westdeutschen Kollegen in den neuen Bundesländern Heinz-Jürgen Kronberg (CDU/CSU): Sehr geehrter kommen wird. Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Eine Personalbörse und weitere Patenschaften von Bundesregierung hat dem Parlament ihren Gesetzent- west- und ostdeutschen Behörden können Engpässe wurf zur zwanzigsten Anpassung der Leistungen nach und noch unzureichende Verwaltungskenntnisse aus- dem Bundesversorgungsgesetz vorgelegt. Die darin gleichen. Denn es ist Eile geboten: Wir möchten, daß behandelten Regelungen beziehen sich im wesentli- die Kriegsopfer, die im Osten wohnen, bald eine ge- chen auf die Gruppen in den westlichen Bundeslän- rechte Versorgung erleben können und auch zukünf- dern und insbesondere auf Kriegs- und Wehrdienst- tig an der Anpassung der Versorgungsbezüge nach opfer. Staatssekretär Horst Günther hat den Anpas- dem Bundesversorgungsgesetz teilhaben können, sungsentwurf einleitend vorgestellt. wie dies die Kriegsopfer und ihre Hinterbliebenen in Ich möchte im folgenden auf die Stellungnahme des den westdeutschen Bundesländern schon seit Jahr- Bundesrates und die Regelungen für das Gebiet der zehnten tun. neuen Bundesländer eingehen. Die Anpassung dort Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. erfolgt, wie erwähnt, parallel zur Anhebung des Ren- tenniveaus. Im Ergebnis bedeutet dies auch für 1991 (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wesentlich geringere Renten im östlichen Bundesge- biet. In den kommenden Jahren muß deshalb eine Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort zügige Anhebung bis auf das Niveau der westlichen hat der Abgeordnete Dr. Seifert. Renten eine der vordringlichsten Aufgaben sein, wenn das Ziel der Einheitlichkeit der Lebensverhält- von uns schnell erreicht werden soll. Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! nisse Meine Damen und Herren! Die PDS/Linke Liste ist für Einige Empfehlungen der Stellungnahme des Bun- die Erhöhung der Versorgungsbezüge. Aber bitte desrates befassen sich insbesondere mit der Durch- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1399

Heinz-Jürgen Kronberg führung des Bundesversorgungsgesetzes in den nicht von einem Fonds in den anderen hinüberschöp- neuen fünf Ländern und dem östlichen Teil Berlins. fen kann. Herausgreifen möchte ich die angeregte Änderung (Beifall bei der CDU/CSU — Gerlinde Häm der Regelung der unentgeltlichen Beförderung der merle [SPD]: Er kennt sich aus!) Schwerbehinderten. Die in der Stellungnahme unter Punkt 16 angeregte Änderung kann — das hat die Wir wollen die Übergangsvorschrift zu den §§ 19 und 20 des Bundesversorgungsgesetzes dahin gehend Bundesregierung richtig gesehen — für die Altbun- desländer nicht übernommen werden. Dies erklärt ändern, daß für die neu gebildeten Krankenkassen im sich bereits aus der Befristung der Maßnahme bis zum Beitrittsgebiet die absehbaren Anlaufprobleme für 1. Januar 1992. Der zu leistende Umstellungsaufwand die Kostenerstattung nach den §§ 19 und 20 des Bun- und die kurzfristige Neuregelung ständen in keiner desversorgungsgesetzes nach Möglichkeit vermieden angemessenen Beziehung zueinander. Allein für die werden. Für die Jahre 1991, 1992 und 1993 beabsich- Überleitung der Regelung der Kriegsopferversorgung tigen wir die Einsetzung einer Pauschalerstattung an auf das Gebiet der neuen Bundesländer müssen jähr- die Krankenkasse, die alle denkbaren Forderungen lich 1,3 Milliarden DM bereitgestellt werden. gemäß der erwähnten Paragraphen abdeckt. Um eine möglichst bedarfsgerechte Erhöhung der Pauschale Der Bundesrat hat auf Antrag des Landes Nord- zu gewährleisten, soll die vierteljährliche Verteilung rhein-Westfalen zum Gesetzentwurf der Bundesre- der Teilbeträge den jeweils neu vorliegenden Erhe- gierung insgesamt verschiedene Strukturreformen bungsdaten angepaßt werden. Der Pauschalbetrag für gefordert. Er hat richtig darauf hingewiesen, daß diese 1991 ist mit ca. 50 Millionen DM anzusetzen. Auch bei Forderungen vom Ausschuß für Arbeit und Soziales diesem Änderungsantrag haben wir eine Empfehlung bereits 1990 unter Hinweis auf vorgegebene Finanz- des Bundesrates berücksichtigt. rahmen abgelehnt wurden. Daß diese alten SPD-For- derungen jetzt quasi durch die Hintertür wieder auf- Viele der weiter auftauchenden Fragen werden sich genommen werden sollen, ist natürlich legitim. im Ausschuß konstruktiv beraten lassen. In diesem Sinne hoffe ich auf eine gute Zusammenarbeit. (Barbara Weiler [SPD]: Ganz offen! Das ist doch keine Hintertür!) (Beifall bei der CDU/CSU) Unter dem schon angesprochenen Gesichtspunkt der finanziellen Belastungen durch die Verwirkli- - Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine chung der deutschen Einheit ist es dann genauso legi- Damen und Herren, damit sind wir am Ende der De- tim, unrealistische, weil nicht finanzierbare Forderun- batte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Ge- gen frühestmöglich zurückzuweisen. Im übrigen be- setzentwurf auf Drucksache 12/335 an die in der Ta- laufen sich die Kosten für die im letzten Jahr beschlos- gesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. senen Verbesserungen auf jährlich ca. 200 Millionen Weitere Vorschläge werden nicht gemacht. — Dann DM. ist das so beschlossen. Viele andere vom Bundesrat vorgeschlagene Ände- rungen haben gemeinsam mit den Modifizierungsvor- Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 auf: schlägen der Bundesregierung Eingang in die Ände- Beratung des Antrags der Abgeordneten rungsanträge der CDU/CSU-Fraktion gefunden. Von Achim Großmann, Norbert Formanski, Iris diesen Änderungsanträgen möchte ich hier nur einen Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Frak- näher vorstellen. tion der SPD Belebung des Neubaues und der Modernisie- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- rung von Wohnungen in den alten und neuen geordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Bundesländern — Drucksache 12/338 —Überweisungsvorschlag: Heinz-Jürgen Kronberg (CDU/CSU): Ja, bitte. Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (fe- derführend) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte Finanzausschuß sehr. Hier schlägt Ihnen der Ältestenrat eine Debatten- zeit von einer Stunde vor. Erhebt sich dagegen Wider- spruch? — Das ist nicht der Fall. Dann können wir so Dieter Heistermann (SPD): Herr Abgeordneter, verfahren. könnten Sie mir die Frage beantworten, wieso es der Zunächst erteile ich dem Abgeordneten Großmann Bundesrepublik Deutschland möglich ist, im Golf- das Wort. krieg 15 Milliarden DM bereitzustellen, aber an einer Erhöhung des Betrages, der hier zur Rede steht, nicht mitzuwirken? Achim Großmann (SPD):Herr Präsident! Meine Da- (Zuruf von der CDU/CSU: Sie vergleichen men und Herren! Erneut ist es die Initiative der SPD, Äpfel mit Birnen!) die dazu führt, daß der Deutsche Bundestag die drän- genden Probleme der Wohnungspolitik debattiert. Die Koalitionsparteien CDU/CSU und FDP tauchen Heinz-Jürgen Kronberg (CDU/CSU): Herr Kollege, lieber weg, angesichts ihrer völlig unzureichenden wenn Sie sich in den Haushaltsdebatten und in den Politik auch keine Überraschung. Die Kritik an dieser Haushaltsangelegenheiten auskennen, dann wissen Politik nimmt auch in der Fachwelt weiter zu. Kein Sie, daß es verschiedene Fonds gibt und daß man Wunder, denn die Fakten sind bedrückend: Woh- 1400 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ril 1991

Achim Großmann nungsmangel und Wohnungsnot sind ein gesamt- nungen, die fertig geworden sind. Wir brauchen mehr deutsches Thema. In den alten wie in den neuen Bun- Wohnungen als die erwähnten 400 000 Wohnungen, desländern fehlen Hunderttausende von Wohnungen; die die Wohnungsnot nur nicht größer werden ließen. die Schätzungen reichen von 2 bis 2,5 Millionen Woh- Rund 500 000 bis 600 000 müßten es sein, um über- nungen insgesamt. Große Teile der Wohnungsbau- haupt Wohnungsnot in unserem Land abbauen zu substanz in der ehemaligen DDR befinden sich in können. Dies gilt vor allem in den alten Bundeslän- einem miserablen Zustand und sind eigentlich nicht dern. In den neuen Bundesländern sieht es etwas an- mehr bewohnbar. Der Investitionsbedarf ist riesig und ders aus. Dazu wird Kollege Scheffler gleich Stellung wird auf mehrere hundert Milliarden DM geschätzt. nehmen. Sicher kann die öffentliche Hand ihn nicht finanzie- Das bedeutet, daß das, was Sie uns in den letzten ren, aber es müßte Aufgabe der Politik sein, positive Monaten glauben machen wollten, nicht zutrifft. Wir Rahmenbedingungen zu schaffen, Hindernisse zu be- haben nach wie vor zu wenig Wohnungsneubau. Vor seitigen und mit gezielten Hilfen Investitionen anzu- allen Dingen im Eigenheimbereich sieht es drama- reizen, anzuschieben und auch dafür zu sorgen, daß tisch aus. Die Fertigstellungen im Ein- und Zweifami- Wohnraum geschaffen oder wieder hergerichtet wird, lienhausbau sind dramatisch zurückgegangen. Das der gerade für Haushalte, die über kein hohes Ein- sagt Ihnen auch jeder aus der deutschen Bauindu- kommen verfügen, bezahlbar bleibt. strie. Wie sieht die Realität aus, und wie ist die Politik der Der Schlingerkurs der Bundesregierung in den al- Regierung? Bei allen Gelegenheiten haben Sie uns ten Ländern ist noch an anderen Fakten festzuma- Genehmigungszahlen und Zuwachsraten verkündet. chen. Ende letzten Jahres gab es den Versand einer Die Neubautätigkeit in den alten Bundesländern Verwaltungsvereinbarung an die Länder mit dem nimmt allenfalls langsam wieder zu — aus der Tal- Angebot, 1991 2,2 Milliarden DM für den sozialen sohle der niedrigsten Bautätigkeit in der Geschichte Wohnungsbau zur Verfügung zu stellen. Dies war der Bundesrepublik überhaupt. natürlich vor der Bundestagswahl. Nach der Bundes- Die Bundesregierung redet seit geraumer Zeit da- tagswahl war das anders. Die Verwaltungsvereinba- von, daß in den drei Jahren von 1990 bis 1992 eine rung wurde einkassiert. Es hieß: Im sozialen Woh- nungsbau soll gekürzt werden. Es fehlen demnächst Million neue Wohnungen gebaut werden sollen. Ab-- gesehen davon, daß selbst diese hohe Zahl nicht aus- 440 Millionen D-Mark von der Summe, die zunächst reichen würde, sieht die Realität anders aus. Wir er- fest zugesagt war. warten jeden Tag die offizielle amtliche Statistik. Die Auch in der Städtebauförderung sind 280 Millionen Bundesländer haben bereits die Zahlen veröffentlicht. DM für die alten Bundesländer gestrichen worden. Ich zitiere aus einer Pressemeldung des Bayerischen Das führt dazu, daß einige gesagt haben — gerade Staatsministeriums des Innern vom 10. April 1991. Vertreter aus den Städten, Oberbürgermeister, auch Darin heißt es wörtlich: solche, die das Parteibuch der CDU haben — , daß sie 1990 wurden in Bayern rund 31,7 % mehr Woh- dann nicht mehr in der Lage sein werden, begonnene nungen genehmigt als 1989. Zugleich wurden Städtebauförderungsmaßnahmen zu beendigen und 61 879 Wohnungen fertiggestellt. Das sind 2 % erst recht nicht neue anzufangen. Es geht sogar so mehr als im Vorjahr. weit — das geht auch aus einer Pressemitteilung des Bauministeriums hervor — , daß einzelne Städte dar- Das ist die Wirklichkeit, mit der wir Sie hier immer über nachdenken müssen, welche Städtebauförde- wieder konfrontiert haben. In Baugenehmigungen rungsmaßnahmen sie denn mitten in der Realisie- kann man nicht wohnen; die Fertigstellungen sind rungsphase abbrechen müssen. Die ersten Gerüchte entscheidend. Da gibt es in Bayern eine Zunahme von von Investitionsruinen gehen um. gerade 2 %. In den anderen Ländern sieht es ähnlich aus. Rechnet man die uns schon bekannten Zahlen Wie diese Politik von der Fachwelt beurteilt wird, hoch, so kommt man eher auf 250 000 neue Wohnun- will ich Ihnen durch zwei, drei kurze Bewertungen gen als auf die von Ihnen ständig propagierte Zahl von klarmachen. Der Sachverständigenrat zur Begutach- 300 000 oder sogar mehr für das Jahr 1990. Das sind tung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat vor erheblich weniger, als Sie uns bisher vorrechnen woll- wenigen Monaten in seiner nüchternen und zurück- ten. Das sind aber vor allen Dingen nur wenig mehr, haltenden Sprache ein vernichtendes Urteil gefällt. Er als Sie uns im letzten Jahr an Zahlen präsentiert ha- schreibt: ben. Die wohnungspolitischen Förderungsmaßnah- Wenn man davon ausgeht, daß 1989 rund 240 000 men seit Herbst 1989, die den Mietwohnungsbau neue Wohnungen fertiggestellt worden sind und jetzt ankurbeln sollen, haben die Situation nicht ent- ungefähr eine Summe von 250 000 bis 260 000, so sind spannen können. das noch keine 10 % mehr Wohnungen, die fertig ge- In dieser Situation werden die Mittel dann noch ge- worden sind. Allein 350 000 bis 400 000 Wohnungen kürzt statt erhöht. Der Bundesverband Freier Woh- wären aber nötig, damit der Wohnungsmangel nicht nungsunternehmen hat gestern von einer „klägli- größer wird. Wir haben einen Wohnungsmangel und chen" Förderung und „von einer neuen Stagnation im arbeiten im Moment daran, daß wir noch viel mehr westdeutschen Wohnungsbau" gesprochen und fest- Wohnungen bauen müßten, um den Wohnungsman- gestellt, daß es zu wenig Sozialwohnungen gibt. gel nicht noch größer werden zu lassen. Die Folge dieser Politik — ich zitiere die „Frankfur- Wir brauchen also eine Menge neuer Wohnungen. ter Rundschau" vom 2. April 1991 — : „Westdeutsche Wir brauchen mehr als die 250 000 bis 260 000 Woh Bauwirtschaft verliert an Schwung." Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ril 1991 1401

Achim Großmann Ein wichtiger Wirtschaftszweig, der über eine Mil- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort lion Arbeitsplätze sichert und sich langsam von einem hat der Abgeordnete Dr. Kansy. jahrelang durch politische Fehlentscheidungen verur- sachten Schrumpfungsprozeß erholt, steht erneut vor Dr.-Ing. Dietmar Kansy (CDU/CSU): Herr Präsi- einer nachlassenden Dynamik. Die Bauindustrie als dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr auch die wirtschaftswissenschaftlichen Institute er- Kollege Großmann, wir sind gerne bereit, hier — mei- warten bereits jetzt ein Nachlassen der Entwicklung netwegen wöchentlich — Wohnungsbaudebatten zu im Wohnungsbau. führen, weil wir jedesmal die Gelegenheit haben, Ih- nen zu zeigen, wie groß die Anstrengung dieser Koali- Zum selbstgenutzten Wohneigentum bleibt nicht tion unter den schwierigen Bedingungen, unter denen viel zu sagen. Wir haben dies schon mehrfach disku- wir zur Zeit leben, tatsächlich ist. Sie können in Gottes tiert. Das, was Sie als Änderung in § 10e vorhaben, Namen auch jede Woche Ihr Spielchen weiter treiben, reicht vorne und hinten nicht aus. Es ist eine Förde- das so aussieht: Montags und dienstags fordern Sie in rung für hohe Einkommen. So können beispielsweise Fachausschüssen riesige Milliardenbeträge, auch hier die klassischen Vertreter der Facharbeiterschicht, die wieder im Plenum des Deutschen Bundestages. Dann sich in das Wohneigentum hineinbegeben wollen, mit verschwinden Sie als Wohnungsbaupolitiker, und es diesem Fördersystem überhaupt nichts anfangen, ge- kommt Frau Matthäus-Maier und beklagt die angeb- schweige denn die Bürgerinnen und Bürger in den lich zu hohe Neuverschuldung. Wiederum einen Tag neuen Bundesländern, die gar nicht ein so hohes Ein- später wird gegen Steuererhöhungen polemisiert. kommen haben, daß sie steuerliche Abschreibungen nach § 10e abwickeln könnten. Wir müssen uns in einer schwierigen Situation aus- einandersetzen. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, Die Konsequenzen sind klar. Ich habe sie eben ge- einige Eckwerte unserer Wohnungsbaupolitik hier nannt. Die Fertigstellungszahlen im Ein- und Zweif a- noch einmal gerafft vorzutragen. Eine Fachdebatte milienhausneubau sind dramatisch zurückgegan- mit vielen Details, wie wir sie erst gestern im Bauaus- gen. schuß des Deutschen Bundestages geführt haben, Wir schlagen ein Paket von Maßnahmen vor, das in möchte ich mir hier ersparen. weiten Bereichen mit den Forderungen aus der Fach- Wir werden noch einige Jahre — leider, muß ich welt und mit den Forderungen der Politiker vor Ort, sagen — zwischen Ost und West differenzieren müs- mit den Forderungen der Kommunalpolitiker, dek- sen; das ist richtig, Kollege Großmann. Unser gemein- kungsgleich ist. Städtebund und Städtetag fordern sames Ziel muß es wohl sein — selbst wenn wir jetzt ebenso wie die Länderbauminister, vertreten in der unterschiedliche Ansätze machen müssen; ich meine ARGEBau, eine drastische Erhöhung der Bundesfi- es jetzt nicht nur im Materiellen, sondern auch in den nanzhilfen im sozialen Wohnungsbau. Wir fordern für Zielsetzungen der Wohnungs- und Städtebaupoli- die alten Bundesländer 3,5 Milliarden DM. Für die tik — , diese notwendigen Differenzierungen in mög- neuen Bundesländer fordern wir 1 Millarde DM plus lichst kurzer Zeit zu überwinden. die Rückflüsse der Mittel, die aus den bisherigen För- Wenn ich mich hier jetzt etwas stärker mit den Pro- derungsprogrammen zurückfließen. Somit fordern wir blemen der alten Bundesländer auseinandersetze, insgesamt 5,5 Milliarden DM. dann nicht deswegen, weil ich die neuen Bundeslän- der mit ihren Problemen nicht kennte, sondern weil Wir fordern Städtebaumittel in Höhe von 660 Millio- sich der Kollege Götz gleich anschließend schwer- nen DM sowohl für die alten als auch — in Höhe der punktmäßig — wie bei Ihnen — mit den neuen Bun- gleichen Summe — für die neuen Bundesländer. desländern auseinandersetzen will. Wir fordern eine Änderung des § 10e des Einkom- Für beide Teile des zusammenwachsenden mensteuergesetzes, die darauf hinausläuft, daß es zu Deutschland darf ich jedoch drei Eckpfeiler unserer einem direkten Abzug der Förderung von der Steuer- Politik noch einmal darlegen. schuld kommt. Erstens. Trotz verfassungsmäßiger Zuständigkeit Und: Wir wollen die Sanierung großer Teile der der Länder für den Wohnungs- und Städtebau — ich schlechten Bausubstanz, vor allen Dingen in den werde das in jeder Debatte wiederholen — , die auch neuen Bundesländern, durch kräftige Anschubpro- nach Auffassung der Länder völlig unbestritten ist, gramme finanzieren lassen. bleibt die Wohnungs- und Städtebauförderung für uns eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund, Ländern Das sind unsere Vorschläge. Wir werden sicherlich und Gemeinden. Der Bund wird sich an der Woh- Gelegenheit haben, sie weiter zu diskutieren. Teil- nungs- und Städtebauförderung auch in Zukunft in weise sind sie in dem Gesetzentwurf enthalten, den erheblichem und zunehmendem Maße beteiligen. wir in der letzten Legislaturperiode vorbereitet und Zweitens. Angesichts der besonders großen Pro- auch vorgelegt hatten, der aber aus Zeitgründen nicht bleme in den neuen Bundesländern und ihrer be- diskutiert werden konnte. Sie haben damals gesagt, grenzten finanziellen Möglichkeiten, auch der be- es seien einige interessante Vorschläge darin. Ange- grenzten finanziellen Möglichkeiten der dortigen sichts der Zahlen, die ich Ihnen hier soeben vorgetra- Städte und Gemeinden, ist vorübergehend ein über- gen habe, warten wir gespannt darauf, ob Sie nun durchschnittlicher Einsatz des Bundes für diese Län- endlich reagieren oder ob Sie weiter die alten, ausge- der erforderlich, der natürlich in gewissem Umfang tretenen Pfade gehen wollen, die nicht zu einem Er- die finanzielle Bewegungsfreiheit für den Bereich der folg führen. alten Bundesrepublik einengt. Danke. Drittens. Dies wiederum fordert von den alten Län- (Beifall bei der SPD) dern und den Städten und Gemeinden in den alten 1402 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Dr.-Ing. Dietmar Kansy Ländern ein etwas größeres — ich würde sogar sagen: mengefaßt haben. Ich nenne nur einige: wieder eine überdurchschnittliches — eigenes Engagement im erhebliche Anhebung der Mittel für den sozialen Wohnungs- und Städtebau, als wenn wir die histori- Wohnungsbau, verbesserte Abschreibungsbedingun- sche Herausforderung durch die Einheit jetzt nicht gen für p rivate Investoren, das Bausparzwischen- hätten. Ich kann heute sagen — nachdem ich das hier finanzierungsprogramm für den Eigenheimbereich, oft angemahnt habe — , daß sich fast alle Bundeslän- das Programm zur Mobilisierung von Wohnraum aus der und viele Städte und Gemeinden dieser Notwen- dem Bestand, Maßnahmen zur Ankurbelung des Stu- digkeit auch bewußt sind und sich in erfreulichem dentenwohnungsbaus, Maßnahmen zur schnelleren Umfang jetzt im eigenen Bereich, auch im finanziellen Bereitstellung von Bauland und und und. Bereich, am Wohnungs- und Städtebau beteiligen. Sie können doch nicht sagen, daß diese Koalition, Meine Damen und Herren, während wir in den diese Regierung und diese Koalitionsfraktionen, nicht neuen Bundesländern nach 40 Jahren Sozialismus ein auf die neue Herausforderung reagiert hätten. strukturelles Wohnungsdefizit und ein Städtebaudefi- zit haben, das seit dem Krieg eigentlich nie abgebaut So ist es tatsächlich. Es ist festzustellen — Sie haben wurde, sondern teilweise noch schlimmer geworden die Baugenehmigungen angesprochen, ich will das ist, stellt sich — ich muß das hier wiederholen — die gerne aufnehmen — , daß seit dem niedrigsten Stand Situation in unseren alten Bundesländern etwas an- 1987, eben in diesem Volkszählungsjahr, wo wir ders dar; denn Mitte der 80er Jahre hatte nicht nur die 190 000 Baugenehmigungen hatten, die Zahl der Bau- Politik in Bund, Ländern und Gemeinden, sondern genehmigungen auf knapp 390 000 im letzten Jahr auch die Wohnungswirtschaft, auch die Wissenschaft gestiegen ist. Nur — Herr Kollege Großmann, so weit angesichts hunderttausend leerstehender Wohnun- sind wir da gar nicht auseinander; ich bin ja Bauinge- gen den, wie wir heute wissen, falschen Schluß gezo- nieur und nicht Politologe — , auch mich interessieren gen, daß eine massive Förderung des Wohnungsneu- natürlich in erster Linie die Zahl der Fertigstellungen baus nicht mehr erforderlich sei. Das ist einfach ein und nicht die der Baugenehmigungen. Unser Ziel als Fakt. Koalition war Die Länder kamen nach Bonn und forderten die (Zuruf von der SPD) Auflösung des Bauministeriums, fuhren gemeinsam- doch, Sie haben es genannt — , in den Jahren 1990 mit uns ihre Förderungsmittel im Wohnungsbau mas- bis 1992 den Bau von 1 Million neuer Wohnungen in siv herunter. Wir diskutierten hier über Rückbau — den westdeutschen Ländern sicherzustellen. Ich sage sprich: Abriß von Wohnraum — und konzentrierten hier klar: Wird dieses Ziel nicht erreicht, wird es nicht uns mehr auf Stadt- und Dorferneuerung, auf Wohn- möglich sein, die Schere zwischen Angebot und umfeld- und ähnliche Probleme und glaubten eigent- Nachfrage zu schließen. Ich sehe, wenn unsere finan- lich, das Land sei aufgebaut. Eigentlich ist erst so rich- ziellen Möglichkeiten weiter gesteckt werden, ohne tig in der verschleppten Volks-, Wohnungs- und Ar- daß es neue Leerstände gibt, auch kein Problem noch beitsstättenzählung 1987 klargeworden, daß wir mehr als 1 Million Wohnungen in drei Jahren zu er- 1 Million Wohnungen weniger hatten als bisher ange- stellen. nommen. Aber dies, meine Damen und Herren, muß über den Genau in dieser Zeit setzte auf Grund der verbes- Kreis der Wohnungsbaupolitiker hinaus jeder poli- serten Einkommensentwicklung eine erhebliche tisch Verantwortliche in Bund, Ländern und Gemein- Wohnungsnachfrage der eigentlich in der Breite gut den auch tatsächlich realisieren. Schaffen wir es nicht, versorgten Bevölkerung ein. Es wird immer wieder mindestens 1 Million Wohnungen in drei Jahren zu vergessen: Wir hatten allein seit der Volks-, Woh- bauen, dann gelingt es uns nicht — und zwar für nungs- und Arbeitsstättenzählung im Jahre 1987 Jahre — , die Schere zwischen Angebot und Nach- 2,5 Millionen Menschen zusätzlich in den alten Bun- frage zu schließen, und wir werden die Probleme noch desländern, eine Herausforderung, die noch Mitte der viele Jahre mit uns herumschleppen. Ich sage dies im 80er Jahre überhaupt nicht absehbar war. Wissen um die kritische Haushaltssituation beim So ist es völlig unbestritten, Herr Großmann, daß Bund, bei den Ländern und auch bei den Gemeinden. aus Wohnungsüberschuß wieder Wohnungsknapp- Aber trotz dieser Herausforderung im Osten Deutsch- heit wurde und daß bei grundsätzlich guter Wohn- lands könnten sich die im Bundeshaushalt vorgesehe- raumversorgung in den westlichen Ländern, die we- nen Ansätze für den sozialen Wohnungsbau vor dem der von der Quantität noch von der Qualität mit der Hintergrund der Tatsache, daß wir von der Fertigstel- der ostdeutschen Länder vergleichbar ist, bei be- lung und nicht von Baugenehmigungen leben, als stimmten Gruppen der Bevölkerung, jungen, auf dem unhaltbar erweisen. Wohnungsmarkt hinzukommenden Menschen, sol- Wir sind ja mitten in den Haushaltsberatungen. Der chen, die ihren Arbeitsplatz wechseln müssen und Bauausschuß hat seine Meinung dazu gesagt. Es wird ähnlichen, Probleme auftreten, die es rechtfertigen, in der Koalition weiter darüber zu reden sein, im Rah von Wohnungsknappheit zu reden. men des Möglichen dort andere Schwerpunkte zu set- Der Bund reagierte mit einer Fülle von Maßnahmen zen. — Sie haben das Gutachten insofern sehr unvollstän- Zum Abschluß noch zwei kurze Gedanken zum dig zitiert, als Sie nur sagten, daß die Gutachter zuwe- selbstgenutzten Wohneigentum und zum Städtebau. nig Ordnungspolitik in dem Sinne anmahnten, daß wir uns die Milliarden hätten sparen können, weil da Wir waren uns innerhalb der Koalition einig, Herr nach Ihrer Auffassung eh nichts herauskomme —, die Kollege Dr. Hitschler — man soll es jetzt nicht baga- wir in dem sogenannten Wohnungsbaupaket zusam- tellisieren — , als wir den höchstzulässigen Abzugsbe- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1403

Dr.-Ing. Dietmar Kansy trag immerhin von 15 000 DM um 10 % auf 16 500 DM wohnungen auf dem sogenannten freien Wohnungs- jährlich und das Baukindergeld von 750 DM auf markt führte. Diese Politik beider großen Parteien, 1 000 DM erhöht haben. Dennoch wäre uns als Woh- jeweils in Zusammenarbeit mit der FDP, ist eine der nungsbaupolitikern ein Schritt im Steuerrecht will- Hauptursachen für die Wohnungsnot im Westen. kommener gewesen, der den Abzug von der Steuer- Um so erstaunlicher ist es, daß diese Parteien ihre schuld als Grundlage vorgesehen hätte, um breiteren wohnungspolitischen Konzepte, die schon im Westen Kreisen den Zugang zum Wohneigentum zu erleich- gescheitert sind, nun auf den Osten übertragen wol- tern. Für uns ist mit den derzeitigen, durch die Haus- len. haltssituation bedingten Entscheidungen das Thema koch keineswegs zu den Akten gelegt. Dabei sind die konzeptionellen Unterschiede zwi- schen Regierung und SPD gering: Beide setzen auf Zweitens noch eine kurze Bemerkung zur Städte- Privatisierung des kommunalen Wohnungsbestands, bauförderung. Auch hier gab es natürlich zugegebe- und beide sind dazu bereit, ungleich viel höhere Sum- nermaßen eine erhebliche Umschichtung zugunsten men für die steuerliche Eigentumsförderung als für der neuen Bundesländer. Aber jeder von uns kennt ja den sozialen Mietwohnungsbau auszugeben. zwischenzeitlich, falls er sie nicht eh kannte, die Situa- tion in den Städten und Dörfern der ostdeutschen Län- Ich kann wegen der Kürze der mir zur Verfügung der. Diese erfordert Solidarität. Aber diese bedeutet stehenden Redezeit nur auf zwei Punkte eingehen. keinen Abschied von unserem langfristigen Ziel, auch Die im Einigungsvertrag vorgesehene Privatisie- die Städtebauförderung als elementares Ziel des Bun- rung des kommunalen Wohnungsbestands ist nicht des anzusehen. nur ein grundsätzlicher Fehler, sie ist auch prinzipiell Ich darf abschließen. Jetzt kommt der kluge Rat vorn für die Lösung der Probleme in den Ländern der ehe- Bundesrechnungshof, das sei alles nicht zulässig. Ich maligen DDR in besonderer Weise ungeeignet. In der frage mich manchmal, wozu wir überhaupt noch ver- jetzigen Situation werden sich nur diejenigen eine suchen, Politik zu gestalten, wenn jetzt schon die Wohnung kaufen können, die gerade noch oder schon Schwerpunkte in Beamtenbereichen gesetzt werden. wieder ein ausreichendes Einkommen haben. An Die bedauerliche Einschränkung, die sich tatsächlich diese im Moment ohnehin besser situierten Haushalte für die alten Bundesländer ergibt — ich wiederhole werden zudem nur die besseren Wohnungen verkauft mich — ist ein zeitlich befristeter Akt der Solidarität - werden können. Die schlechten Wohnungen werden gegenüber den neuen Bundesländern. Wir bleiben in der Hand der Kommunen bleiben, deren Bestand, bei der Konzeption einer langfristig geplanten Städte- der, wie Sie wissen, sehr hoch ist, sich dadurch nicht bauförderung, die übrigens diese Koalition in ihren nur verringert, sondern insgesamt auch qualitativ ver- Regierungsjahren gegenüber den früheren Werten schlechtert. massiv aufgestockt, nämlich verdreifacht hat. Wer heute das Glück hat, kaufen zu können, wird in In diesem Sinne bitte ich um Vertrauen für die Poli- Zukunft eine Wohnung besitzen, deren Wert enorm tik in einer schwierigen Sache. Ich bedanke mich für steigen wird bzw. gestiegen ist. Mietern und Mie- eine relativ faire Debatte heute und hoffe, daß es in terinnen, die heute nicht kaufen können, werden in Zukunft so bleibt. Zukunft diejenigen Mietwohnungen fehlen, die von (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie den Kommunen heute für einen Appel und ein Ei ver- bei Abgeordneten des Bündnisses 90/ schleudert werden. Diese Politik ist unseres Erachtens GRÜNE) kurzsichtig. Richtig wäre hingegen, die Kommunen finanziell

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort dahin gehend zu unterstützen, ihren großen Bestand, hat die Abgeordnete Frau Schenk. von dem westdeutsche Städte nur träumen können, nicht zu privatisieren, sondern ihn zu sanieren und für diejenigen Haushalte zu erhalten, die sich auch in Christina Schenk (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Präsi- Zukunft keine Eigentumswohnung werden leisten dent! Meine Damen und Herren! Weder den CDU/ können. CSU-FDP-Regierungen noch der Koalition aus SPD und FDP ist es in der Vergangenheit gelungen, in Sowohl die SPD als auch die Bundesregierung set- Westdeutschland eine Situation zu schaffen, die frei zen auf die steuerliche Eigentumsförderung, die den ist von Wohnungsnot. Ganz im Gegenteil, in den west- Staat schon heute in jedem Jahr ca. 8 Milliarden DM deutschen Städten wurde die Situation schon vor der kostet, viel mehr, als für den klassischen, langfristig Vereinigung von Jahr zu Jahr schlimmer. Die Zahl der gebundenen sozialen Mietwohnungsbau aufgebracht Obdachlosen, die Zahl derer, die in Notunterkünften wird. oder in Substandardwohnungen lebten, wurde immer (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Das ist größer. viel weniger, als für eine Mietwohnung aus Die Regierungen in Westdeutschland haben es stets gegeben wird!) Wohnungsbestand der öffentlichen unterlassen, den Die SPD schlägt ein System vor, das ihrer Meinung zu sichern oder gar zu vermehren. Vielmehr Hand nach gerechter ist, das aber viel, viel teurer wird und machten alle bisherigen Regierungen eine Politik, die das für die Bewohner und Bewohnerinnen der ehema- den Verlust an preiswertem Wohnraum begünstigte, ligen DDR ebensowenig nützlich ist wie das bisherige sei es durch den vorprogrammierten Ablauf der Bin- System der steuerlichen Eigentumsförderung. dungen im sozialen Mietwohnungsbau einerseits oder durch die Förderung von Umwandlungen anderer- Der Löwenanteil der steuerlichen Eigentumsförde- seits, die zu einem lawinenartigen Verkauf von Miet rung wird, auch wenn sie nach SPD-Vorstellungen 1404 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Christina Schenk gestaltet wird, in die schmucken Einfamilienhaussied- Allein im Baubereich fließen als direkte Zuschüsse lungen des Westens oder in die umgewandelten Alt- in diesem Jahr rund 3 Milliarden DM in die neuen bauviertel westdeutscher Städte fließen. Sie wird Bundesländer. Hinzu kommen erhebliche steuerliche nicht den Bewohnern und Bewohnerinnen der sanie- Erleichterungen für Investoren, um privates Kapital rungsbedürftigen Wohnungen im Osten zugute kom- umzulenken. Ist das alles nichts? men. Meine Damen und Herren, die Opposition kommt Deswegen ist der Vorschlag der SPD für die Lösung zu dem Ergebnis, es seien zusätzliche Entscheidun- der heutigen Wohnungsproblematik sowohl im Osten gen nötig. Da setzen wir Ihnen ein klares Nein entge- als auch im Westen völlig ungeeignet. Das Gegenteil gen. wäre richtig. Jetzt ist freilich Bauzeit. Jetzt muß Schluß sein drüben Notwendig ist unserer Auffassung nach die Ausset- mit der lähmenden Lethargie der Ausreden. Wir ha- zung der steuerlichen Eigentumsförderung bis zu dem ben künftig kein Verständnis mehr für fortwährendes Zeitpunkt, an dem die Wohnungsnot im Westen gelin- Verschleppen von allseits als notwendig erkannten dert und der Wohnungsbestand im Osten saniert ist. Entscheidungen wie beispielsweise der Inkraftset- Wir fordern deswegen ein achtjähriges Moratorium zung der Grundmietenverordnung und der Betriebs- für die steuerliche Eigentumsförderung nach § 10 e kostenverordnung zum 1. August durch die Minister- des Einkommensteuergesetzes. präsidenten. Bei einem Vertrauensschutz für bereits laufende Fälle ließen sich dadurch innerhalb von acht Jahren (Zurufe von der CDU/CSU: Richtig! — Zuruf zusätzliche Steuereinnahmen in Höhe von 36 Milliar- des Abg. Achim Großmann [SPD]) den DM erzielen, die für den sozialen Mietwohnungs- Statt belehrende Sonntagsreden zu halten, sollten sich bau im Westen und für die Sanierung des kommuna- die Herren etwas mehr darum kümmern, ihre Landes- len Wohnungsbestands im Osten dringend gebraucht verwaltungen drüben auf Vordermann zu bringen. werden. (Beifall bei der FDP — Zuruf des Abg. Achim Wer heute von Subventionsabbau im Westen zu- Großmann [SPD]) gunsten des Aufbaus im Osten redet, muß an dieser Stelle anfangen. Sie fordern in den alten Bundesländern einfach mehr, ungeachtet der begrenzten Baukapazitäten, ungeachtet des Preisauftriebs bei den Baukosten, un-

Vizepräsident Dieter -Julius Cronenberg: Das Wort geachtet der Zinserhöhungstendenzen, ungeachtet hat der Abgeordnete Dr. Hitschler. der Tatsache, daß auch die Wohnungspolitik (Horst Peter [Kassel] [SPD]: Das kapieren Sie nicht!) Dr. Walter Hitschler (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Beratung des ihren Beitrag zur Konsolidierung und Stabilität des vorliegenden Antrags ist heute so überflüssig wie ein Gesamthaushalts leisten muß und in die gesamtwirt- Kropf. Wir haben gestern den Bleichlautenden Antrag schaftlich notwendigen Bemühungen eingebunden im Bauausschuß endgültig behandelt. Inhaltlich un- ist, Einnahmen und Ausgaben in einen angemesse- terscheidet er sich von den bisher von der Opposition nen Ausgleich zu bringen. eingebrachten Anträgen wenig. Es ist nicht einmal Es darf hier festgestellt werden: Die Baukonjunktur alter Wein in neuen Schläuchen; es ist alter Wein in in unsere alten Bundesländern läuft gut; sie floriert. alten Schläuchen. Die Komposition der alten Leier Die Entscheidung der Koalition, beim Sozialen Woh- folgt stets der gleichen Grundmelodie: Die Regierung nungsbau den dritten Förderweg stärker zu bevorzu- macht alles falsch, zudem noch viel zuwenig. gen, dürfte sich bei entsprechend attraktiver Ausge- Die Opposition, so darf man feststellen, ist trostlos, staltung dieses Förderwegs in den Förderrichtlinien einfallslos. der Länder im Bau von wesentlich mehr Sozialwoh- Bereits die Analyse der Situation und ihrer Ursa- nungen niederschlagen, da bei kürzerer Mietbindung chen für die gegenwärtige Marktentwicklung ist ein geringerer Subventionsbedarf pro Wohneinheit schlicht falsch. In dem SPD-Antrag heißt es, in den benötigt wird als im ersten Förderweg und somit bei neuen Bundesländern habe es die Bundesregierung gleichem Mitteleinsatz mehr Sozialwohnungen ge- „bisher versäumt, Investitionshindernisse zu beseiti- baut werden können. gen und die notwendigen Finanzhilfen zum Anschub (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Sehr einer breiten Investitionswelle bereitzustellen". Bei gut!) einer derartigen Einstellung muß man sich tatsächlich fragen, ob Sie auf der Höhe der Zeit sind. Oder haben Der unerfreulich hohen Fehlbelegung wird mit ei- Sie etwa die Verabschiedung des Hemmnisbeseiti- ner bundesweiten und wesentlich stärker gestaffelten gungsgesetzes verschlafen? Wissen Sie die Anstren- Fehlbelegungsabgabe begegnet. Damit wird nicht gungen der Bundesregierung, über 100 Milliarden nur ein Beitrag zu mehr sozialer Gerechtigkeit gelei- DM für die neuen Bundesländer insgesamt bereitzu- stet, sondern auch die Anwendung des Instruments stellen, überhaupt nicht mehr zu würdigen? Geht es des Belegrechts gefördert, da das Mittelaufkommen Ihnen wirklich nur noch darum, alles mieszuma- aus der Fehlbelegungsabgabe künftig für den Kauf chen? von Belegrechten verwendet werden kann. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Ein (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Sehr trauriges Bild!) vernünftig!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Ap ril 1991 1405

Dr. Walter Hitschler In den neuen Bundesländern stehen nach Verab- Wir treten dafür ein, daß kein einziges sozialpoliti- schiedung des Bundeshaushalts für den Neubau und sches Programm, daß keine einzige Sozialwohnung die Modernisierung so viele Mittel zur Verfügung und im Westen gestrichen wird. Aber die Situation ist so, wurden so umfangreiche Steuererleichterungen ver- daß in den östlichen Bundesländern höhere Mittel einbart, daß uns hier lediglich die Furcht plagt, daß sie aufgewendet und auch tatsächlich umgesetzt werden gar nicht zur Gänze abgerufen werden können. Hier müssen. Es geht darum, daß die Bet riebe im Osten die tut Aufklärung not, insbesondere gegen die Verunsi- Arbeit verrichten können und daß die Bet riebe nicht cherungskampagnen, in die sich bedauerlicherweise pleite gehen. Vorläufig ist von einem Bauboom weit auch Kräfte aus dem Westen einschalten. und breit nichts zu sehen. Wir wünschen uns verstärkte Bemühungen der Wenn Sie, Herr Hitschler, von gut florierender Kon- Kommunen zur altschuldenfreien Privatisierung von junktur im Westen sprechen, so ist das nur die eine Wohnungen, die in erster Linie an Mieter veräußert Seite der Medaille; die andere ist, daß etliche Baube- werden sollen. Wir möchten, daß in einigen Modell- triebe aus dem Osten hier in den alten Bundesländern fällen unter beratender Hilfe des Bundes solide Priva- arbeiten und demzufolge wiederum in den neuen tisierungsprojekte möglichst bald realisiert werden, Ländern fehlen. weil die Wohneigentumsbildung in den neuen Bun- desländern ein wichtiges gesellschaftspolitisches Si- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- gnal ist. geordneter Dr. Seifert, können Sie eine Zwischen- (Beifall bei der FDP) frage des Herrn Abgeordneten Dr. Hitschler beant- worten? Erstmals stellt der Bund in seinem Einzelplan 25 Mittel zur Erhaltung städtebaulicher Ensembles zur (PDS/Linke Liste): Aber gern. Verfügung. Wir betrachten die ersten 100 Millionen Dr. Ilja Seifert DM hierfür als erste Tranche für die Restaurierung (FDP): Herr Seifert, ist Ihnen historischer Denkmalzonen und meinen, daß mit die- Dr. Walter Hitschler klar, daß natürlich der Bundeshaushalt erst verab- ser erstmaligen haushaltsmäßigen Berücksichtigung schiedet werden muß, bevor die Mittel fließen kön- ein kulturhistorisch wertvoller Meilenstein gesetzt nen, und sind Sie geneigt, den Mitteln, die wir für die wurde, mit dem es hoffentlich gelingt, auch bei uns neuen Bundesländer im Einzelplan 25 ausgewiesen die architektonische Orientierungslosigkeit zu über- haben, Ihre Zustimmung zu geben, damit genau das winden. passieren kann, was Sie jetzt gewünscht haben? Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Herr Hitschler, wenn es von mir abhinge, könnten die Mittel morgen fließen. Ich stimme dem zu. Sie können zahlen. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun hat (Ingrid Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: der Abgeordnete Dr. Seifert das Wort. Bei uns herrscht Demokratie! Da muß erst ein Haushaltsplan gemacht werden usw.!) Aber bedauerlicherweise hängt das nicht von mir ab; Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! es sind hier andere, die bremsen. Meine Damen und Herren! Ich kann Sie ja fast einzeln Ich bedauere es abermals, daß der Vorschlag eines begrüßen. Einen schönen guten Tag! Moratoriums, den wir mehrfach unterbreitet haben, in (Zuruf von der CDU/CSU: Wenn Sie alle ein- keiner Weise aufgegriffen wird. Einen Vorschlag von zeln begrüßen, ist Ihre Redezeit herum!) uns könnten Sie ja auch einmal aufgreifen. Dann zu der Frage der sozialen Sicherung für die keine Zaubermit- Daß Privatisierung und Wohngeld Menschen, die dort leben. Es geht darum, daß man tel sind, sollte sich inzwischen überall herumgespro- ihnen endlich die Angst nimmt. Mir oder anderen wird chen haben. Ich vermute mittlerweile sogar, daß sie immer vorgeworfen, schwarzumalen. Ich glaube, überhaupt nicht wirken. Bis jetzt jedenfalls haben sie darum geht es überhaupt nicht. Es geht darum, den nicht gewirkt. Menschen die Angst zu nehmen. Sie haben Angst vor Ich bin der Meinung: Wir brauchen tatsächlich nicht Exmittierungen. Ich habe gestern nicht umsonst im mehr Papier; wir brauchen mehr Wohnungen. Inso- Bauausschuß — ich sage das hier auch einmal — mehr fern muß ich Ihnen sagen: Es geht nicht um Bauge- als 700 Unterschriften, diesmal von Bürgern aus Leip- nehmigungen. Es geht auch nicht um solche Papiere zig, übergeben, die uns auffordern, dafür zu sorgen, wie die, die Sie heute vorgelegt haben. Es geht darum, daß sie nicht aus ihren Wohnungen hinausexpediert endlich die Maßnahmen umzusetzen, die hier dau- werden, entweder durch so hohe Mieten, daß sie von ernd besprochen werden. Dafür müssen die Voraus- ihnen nicht bezahlt werden können, oder durch an- setzungen geschaffen werden. derweitige Dinge, die z. B. mit einem Eigentums- Weiter geht es darum, die Fehler zu vermeiden, die wechsel verbunden sind. Ich denke, auch solche Vor- in der Bundesrepublik seit 40 Jahren gemacht wur- schläge sollten Sie aufgreifen können. den. Ich meine solche Fehler wie bei energieökonomi- Nun noch ein abschließendes Wort zu dem ewigen schen Sachen; ich meine, daß endlich einmal von An- Streit: 1. August oder 1. Oktober als Stichtag für die fang an, von der ersten Phase der Projektierung an, Mieterhöhungen? Wenn ich lese, daß als ausschlagge- behindertengerecht gebaut wird, seniorengerecht ge- bendes Argument gesagt wird, daß dann, wenn die baut wird, daß den Bedürfnissen der Radfahrer ent- Mieterhöhungen zum 1. August erfolgen, der Sub- sprechend gebaut wird usw. ventionsbedarf des Bundes um eine Milliarde DM ver- 1406 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Dr. Ilja Seifert ringert wird, dann muß ich sagen, daß das schlichtweg Für die nächsten Jahre werden wir die Bundesfi- an den Interessen der Bürgerinnen und Bürger vorbei- nanzhilfen für die alten Bundesländer auf hohem Ni- geht. Dann geht es ausschließlich um die Interessen veau stabilisieren. Die SPD hat in ihrer Forderung den des Finanzministers. Ich muß sagen: die der Bürgerin- Ansatz für den sozialen Wohnungsbau nun genau ver- nen und Bürger sind mir wichtiger. doppelt. So einfach kann man es sich machen, wenn (Dr. Walter Hitschler [FDP]: Sind die Interes- man nicht gezwungen ist, offenzulegen, woher ange- sen des Finanzministers nicht auch die Inter- sichts der Vielfalt der notwendigen Aufgaben das essen der Bürgerinnen und Bürger? So etwas Geld kommt. Dabei sollen nach ihrer Vorstellung die Dummes!) Mittel vorrangig für Mietwohnungen mit langfristigen Bindungen eingesetzt werden, die besonders teuer — Ich finde es nicht gut, daß Sie mich dumm nen- sind. Würde dieser Vorschlag aufgegriffen, bedeutete nen, das, daß trotz der Verdoppelung der Mittel nicht we- (Ingrid Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Er sentlich mehr Sozialwohnungen gebaut würden als hat nicht gesagt, daß Sie dumm sind! Er hat heute. gesagt: „So etwas Dummes! ") Ihnen, meine Damen und Herren Abgeordneten denn ich meine, wir sollten doch nicht auf dieser von der SPD-Fraktion, sei gesagt, daß inzwischen die Ebene miteinander verkehren. Mehrzahl der Länder, darunter auch von Ihrer Partei (Beifall bei der PDS/Linke Liste) regierte, dazu übergegangen sind, den dritten För- derweg anzuwenden. 1990 wurde jede dritte Woh- nung im sozialen Wohnungsbau im Wege der verein- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun er- fachten Förderung bewilligt. teile ich dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Joachim Günther das Wort. Auch der Forderung nach 1 Milliarde DM Bundes- finanzhilfe für die neuen Bundesländer ist die Bun- desregierung schon längst nachgekommen. Die Bun- Joachim Günther, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desmittel können in den neuen Ländern nicht nur für desministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städ- den Neubau, sondern auch für die Modernisierung tebau: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen von Wohnungen verwendet werden. Genau wie die und Herren! Der vorliegende Entschließungsantrag Opposition sehen wir hier einen Schwerpunkt der not- der SPD zeugt davon, daß wichtige Entwicklungen in wendigen Investitionstätigkeit. der jüngsten Zeit an der Opposition offenbar spurlos vorübergegangen sind. Weder gibt die Ursachenana- (Achim Großmann [SPD]: Wir reden aber von lyse den aktuellen Sachstand wieder, noch trägt die 2 Milliarden DM!) SPD der Tatsache Rechnung, daß die Regierung in Die Bundesregierung hat daher bereits seit dem Tag wichtigen Bereichen längst wirkungsvolle Maßnah- der Vereinigung der beiden deutschen Staaten ein men beschlossen hat, um die Neubautätigkeit zu be- Programm im Umfang von 10 Milliarden DM an zins- leben und insbesondere die Modernisierung in den verbilligten Darlehen zur Verfügung gestellt, das neuen Bundesländern zu fördern. Kein Wunder, daß über die Kreditanstalt für Wiederaufbau abgewickelt Sie immer wieder auf angebliche Versäumnisse in wird. vergangenen Zeiten zurückgreifen müssen. Im Rahmen des kürzlich beschlossenen Gemein- Die Wohnungsbaukonjunktur befindet sich im Auf- schaftswerks Aufschwung Ost wurde die Anwendung bruch. Angesichts der rasant gestiegenen Zahl der dieses Programms auch auf den Aus-, Um- und Anbau Baugenehmigungen besteht kaum ein Zweifel, daß erweitert. Zusätzlich wurde beschlossen, für 1991 und das angestrebte Ziel von einer Million Wohnungen bis 1992 für die gleichen Zwecke je 700 Millionen DM an Ende 1992 in den alten Bundesländern erreicht Zuschüssen zur Verfügung zu stellen. Damit können wird. 20 % der Investitionskosten abgedeckt werden. Beide Natürlich kann der Wohnungsmangel nicht von ei- Programme werden dabei auch für Vorhaben einge- nem Jahr auf das andere beseitigt werden. Angesichts setzt, die der Umweltentlastung und Energieeinspa- eines gewaltigen Nachfrageüberhangs infolge gestie- rung dienen. gener verfügbarer Einkommen, einer starken Zu- nahme der Haushalte und einer Zuwanderung von Zusätzlich ergänzt wird diese Förderpalette für die über 2 Millionen Bürgern in wenigen Jahren wäre das neuen Länder durch die von der Koalition beschlos- auch zuviel verlangt. Aber daß wir die stärkste Stei- sene steuerliche Förderung, die im Rahmen des Steu- gerung der Bautätigkeit seit dem Kriege verzeichnen, eränderungsgesetzes realisiert werden soll. In diesem ist ein Zeichen dafür, daß sich die Bundesregierung in Rahmen werden für Modernisierungsmaßnahmen diesem Punkt kaum etwas vorzuwerfen hat. von Mietgebäuden besonders günstige Abschrei- bungsbedingungen angeboten. 50 % der betreffen- Diese Entwicklung ist ein Erfolg der 1989 beschlos- den Kosten können innerhalb von 5 Jahren abge- senen Maßnahmen zur Erhöhung des Angebots an schrieben werden. Ähnlich günstige Bedingungen Wohnungen und der Verbesserung der sozialen Ab- werden für Neubauinvestitionen gelten. Schließlich Die Politik hat in verschiedenen Berei- sicherung. kann auch für selbstgenutzte Wohnungen eine sehr chen, im freifinanzierten, im sozialen Wohnungsbau günstige steuerliche Regelung in Anspruch genom- sowie bei der Eigentumsförderung angesetzt. Wir ha- men werden. ben in diesem Zusammenhang auch die Mittel für die Objektförderung deutlich erhöht, aber eben nicht nur Hinzu kommt noch eine Reihe anderer Fördermaß- ausschließlich oder vorrangig auf dieses Instrument nahmen, die in den neuen Bundesländern unmittelbar gesetzt, wie Sie dies in Ihrem Antrag propagieren. angebotswirksam sein werden. 190 Millionen DM Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1407

Parl. Staatssekretär Joachim Günther werden gezahlt, um den Abschluß von Mietbauvorha- einer Politik der CDU/CSU und FDP, die die Proble- ben sicherzustellen, die vor dem 3. Oktober begonnen matik der Wohnungsversorgung als Grundrecht ei- wurden. 154 Millionen DM sind bereitgestellt, um den nes jeden Bürgers dem Markt überläßt, so als ob die Abschluß des Baus von Eigenheimen zu ermöglichen. Wohnung eine Ware wäre. Das zeigt auch — ich muß Zur Förderung der Privatisierung von Mietwohnun- das leider sagen — die Zwischenbemerkung von gen an die bisherigen Mieter sind in diesem und im Dr. Hitschler betreffend die Debatte und den Kropf. nächsten Jahr jeweils 200 Millionen DM vorgesehen. Hinzu kommen noch die Mittel der Städtebauförde- Es kommt ja nicht von ungefähr, daß gerade die rung. Fraktion der SPD seit langem fordert, daß menschen- würdiges Wohnen als Grundrecht festgeschrieben Damit hat die Bundesregierung ein breites Spek- wird und demzufolge in eine neue deutsche Verfas- trum an Förderangeboten bereitgestellt, die dem sung gehört. Wohnungsbau und der Modernisierungstätigkeit in (Beifall bei der SPD) den neuen Bundesländern kräftige Impulse verleihen werden. Dabei war noch nicht die Rede von den eben- Wenn ich mich vor diesem Hintergrund der aktuel- falls vorgesehenen zusätzlichen Mitteln zur sozialen len Wohnungsdefizite in den alten Bundesländern Flankierung im Rahmen des Wohngeldes. jetzt als ein Vertreter der neuen Bundesländer zu die- Natürlich müssen angesichts begrenzter Haushalts- ser Problematik äußere, muß ich es in Kenntnis einer mittel auch Wünsche offenbleiben. So ist jedermann geradezu dramatischen Situation in den östlichen bekannt, daß sich die Wohnungspolitiker der Koali- Bundesländern tun. Das Wort von einem Wohnungs- tion eine stärkere Verbesserung der allgemeinen notstand ist dabei nicht dramatisiert — ein Woh- steuerlichen Wohneigentumsförderung gewünscht nungsnotstand, der sozialen und gesellschaftspoliti- hätten. Die jetzt erreichte Verbesserung kommt aller- schen Sprengstoff in sich birgt. Die Bundesministerin dings nicht nur den Wohlhabenden zugute, sondern bemerkt richtig, „daß Wohnungspolitik und Woh- ist gezielt dafür gedacht, einen Teil der Preissteige- nungswirtschaft richtig entschieden werden kann, rungen aufzufangen. wenn man ein möglichst präzises Bild von der Woh- Ich glaube, daß insgesamt immer mehr der Punkt nungsversorgung der Bevölkerung hat" ; die Frau Mi- erreicht wird, an dem es in den neuen Bundesländern nisterin und ihre Mitarbeiter sollten deshalb recht oft nicht auf zusätzliche finanzielle Mittel ankommt. Ich in das Gebiet der ehemaligen DDR kommen und mit bin überzeugt, daß es in der aktuellen Situation auf den Betroffenen aus der Bevölkerung, den Politikern ganz andere Dinge ankommt, z. B. auf verstärkte Hil- der Länder und Gemeinden und den Verantwortli- feleistung im Verwaltungsbereich. chen der Wohnungsbaugesellschaften ihre Sorgen und ihre Nöte erörtern. Denn es ist keine Schwarzma- (Zuruf von der FDP: Richtig!) lerei, wenn ich von einer maroden Bausubstanz vom Hier sind alle Seiten aufgefordert, konkrete Vor- Keller bis zum Dach in den Städten und Gemeinden schläge einzubringen und konkrete Hilfen anzubie- spreche. Dabei ist das, was die äußere Hülle aus- ten. Ich schaue ganz bewußt auf diejenigen, die im macht, noch nicht alles. Westen auf der Länder- und Kommunalebene Verant- wortung tragen. Gerade in diesem Bereich sind keine (Zuruf von der CDU/CSU: Wer ist schuld?) wohltönenden Worte gefragt, sondern handfeste Soli- — Ich komme gleich dazu. — Was wir von Rostock bis darität und praktisches Handeln. Zittau, von Frankfurt an der Oder bis Magdeburg vor- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) finden, zeigt sich oft erst im Inneren, in einer ungenü- genden sanitären Ausstattung, von einer völlig unzu- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun er- reichenden, ja manchmal direkt lebensgefährlichen teile ich dem Abgeordneten Scheffler das Wort. elektrischen Installation bis hin zu fehlender Wärmedämmung und anderen Mängeln.

Siegfried Scheffler (SPD): Herr Präsident! Meine Dabei beziehen sich die Menschen in den neuen Damen und Herren! Die Wohnungspolitik ist mit der Bundesländern auf einen Standard, der menschen- Vereinigung aktueller denn je. Das zeigt auch hier die würdigen Verhältnissen entsprechen sollte. Sie bezie- lebhafte Debatte darüber. hen sich nicht etwa auf einen Standard, wir er hier in den alten Bundesländern vorgeschrieben wird. Ich (Zuruf von der CDU/CSU: Lebhaft ist sie nun gebe zu: Ein solcher Standard ist auch nicht immer gerade nicht!) und überall vorhanden. Nicht nur aus diesem Grund stellen wir unseren An- trag. Mit diesem Antrag zur Belebung des Neubaus Ich weiß, meine Damen und Herren von den Regie- und der Modernisierung von Wohnungen in den al- rungsparteien, Sie sind für diesen Zustand nicht ver- ten und neuen Bundesländern müssen wir uns heute antwortlich. Aber gerade deshalb erwarten unsere deshalb befassen, weil die Prioritäten, so wie sie uns Menschen in den neuen Bundesländern — das gilt von der Frau Bundesministerin vorgestellt wurden, übrigens auch für die anderen Felder, in denen eine von ihrem Ministerium nur ungenügend umgesetzt Angleichung der Lebensverhältnisse geboten ist — werden. Dabei müßte es sie natürlich treffen, daß keine Wunder von diesem Beitritt zu unserer Bundes- diese Wohnungssituation, so wie sie mein Kollege republik, aber sie können jetzt von den verantwortli- Großmann in seinem Redebeitrag für die alten Bun- chen Politikern und beamteten Fachleuten im Mini- desländer schon dargestellt hat, ihre Ursachen in der sterium erwarten, daß Lösungen entwickelt werden, bisherigen unzureichenden Wohnungspolitik hat. Ich die den spezifischen Bedingungen und den Voraus- meine, ihre Ursachen liegen auch in den Grundsätzen setzungen in den neuen Bundesländern entsprechen. 1408 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Siegfried Scheffler Dafür trägt die Bundesregierung jetzt die Verantwor- che sachliche Gespräche mit Politikern vor Ort, die tung. nicht immer nur der SPD angehörten, aber auch mit den betroffenen Mieterverbänden, mit Wohnungsge- Zu dieser Verantwortung gehört u. a., daß die ge- sellschaften und -genossenschaften sowie mit Hand- planten Förderprogramme zur Belebung des Neu- werkern geführt. Was fanden wir vor? Wir fanden baus, insbesondere die Programme zur Instandset- Wohnungsgesellschaften und Wohnungsgenossen- zung sanierungsfähiger, aber auch an sich nicht mehr schaften in Rostock und Schwe rin mit einem Woh- bewohnbarer leerstehender Wohnungen, und zugun- nungsbestand von zirka 36 000 Wohnungen bei einem sten von Modernisierungsobjekten, finanziell abgesi- Einnahmevolumen aus Mieten von zirka 830 000 DM chert und schnellstens — in einem vertretbaren Zeit- und bei Ausgaben für dringend benötigte Bewirt- raum — umgesetzt werden. schaftungskosten und Instandsetzung in Höhe von Natürlich kommt, entsprechend der bisherigen Ent- zirka 4 Millionen DM vor. wicklung in der ehemaligen DDR, erschwerend hinzu, daß sich — anders als in den alten Bundesländern — (Dr. Walter Hitschler [FDP]: Und dann wollen der Bestand von zirka 7 Millionen Wohnungen zu Sie die Mieten nicht anheben! Das ist doch zirka zwei Fünfteln in ehemals volkseigenem und jetzt der Witz! — Gegenruf von der SPD: Erzählen kommunalem Bestand, zu einem Fünftel in genossen- Sie mal keine Märchen! — Weitere Gegen schaftlichem und zu zwei Fünfteln in privatem Besitz rufe von der SPD) befinden, und das bei überwiegend ungeklärten Ei- — Dann gucken Sie sich bitte diese Wohnungen an, gentumsverhältnissen. Hinsichtlich der Qualität die- sprechen Sie mit den Mietern und fragen Sie sie, ob ser Wohnungen brauche ich an dieser Stelle nichts sie überhaupt Verständnis dafür aufbringen. Natür- mehr hinzuzufügen, aber gestatten Sie mir nur soviel: lich wollen wir die Mieten anheben. Wir haben ja in Auch bei den Neubauten in Großplattenbauweise be- der nächsten Woche Gelegenheit, über die Frage des stehen schon heute erhebliche Mängel und ein um- Wohngeldes zu diskutieren. Auf Grund dieser tat- fangreicher Erneuerungsbedarf. sächlichen Defizite auf dem Finanzsektor mußte Be- Vor dem Hintergrund dieser katastrophalen Situa- trieben von Handwerk und Gewerbe, die bisher ver- tion kommt die Neubautätigkeit immer mehr zum traglich für die vorgenannten Leistungen gebunden waren, gekündigt werden, und das, obwohl der Zu- Stillstand. Die Wohnungsunternehmer — seien -es Wohnungsgesellschaften oder -genossenschaften — stand der Gebäude zum Himmel schreit. Es ist insbe- geraten permanent in Zahlungsschwierigkeiten; nicht sondere auch deshalb so erschreckend, weil keine nur einzelne stehen vor dem Konkurs. Der Wohnungs- energetisch vernünftige Warmwasserversorgung und bestand verfällt, und — was in der gegenwärtigen so- Heizung vorhanden ist. zial angespannten Situation mit am schlimmsten ist — Nach Einschätzungen von Fachleuten aus den alten die Menschen werden mehr und mehr, sie werden Bundesländern hinsichtlich der dringendsten Leistun- total verunsichert, gen zur Verbesserung der Bausubstanz und zur Be- (Zuruf von der SPD: So ist es!) seitigung von Leerstand beträgt der Aufwand im ge- samten Gebiet der neuen Bundesländer ca. und das vor dem Hintergrund, daß viele Millionen DM 100 000 DM pro Wohnung — das bei einer Durch- in dem Paket Aufschwung Ost geschnürt wurden. schnittsgröße von nur 62 Quadratmeter als Stan- Aber sie wurden eben nur geschnürt; sie sind für den dard. tatsächlichen Empfänger vor Ort nicht erreichbar. Vielleicht werden Sie jetzt entgegnen, was Sie Ich muß der Bundesregierung deshalb sagen, daß schon alles für die marktwirtschaftlichen Grundlagen die eingeleiteten Maßnahmen dem Problem der zur Beseitigung der von mir geschilderten Lage auf neuen Länder bisher nur unzureichend gerecht wur- den Weg gebracht haben, was schon alles von diesem den. Das Gefährliche an der gegenwärtigen Situation Hause aus zur Belebung beeinflußt wurde. Nur, ich ist, daß die so dringend benötigten Signale der Hoff- habe bei meinen Gesprächen mit den Betroffenen vor nung auf dem Bausektor ausblieben. Ort leider keine Millionen vorgefunden, sondern nur (Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Wolf- verbitterte Gesprächspartner, die von diesen Millio- gang Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE]) nen immer nur in der Zeitung als beschlossen lesen. Dieses Haus müßte wissen, daß Wohnungspolitik Wir haben aber, meine Damen und Herren der Re- Baupolitik und damit Beschäftigungspolitik ist. Die gierungsparteien, vorgefunden, daß für die 17 000 von mir angesprochenen Millionenbeträge würden Wohnungssuchenden in Rostock fertiggestellte Neu- vernünftigerweise sofort und langfristig sichere Ar- bauwohnungen für die Kleinigkeit von 2 000 DM pro beitsplätze in den mit jetzt schon fast 1 Million Ar- Quadratmeter — Sie haben sich leider nicht verhört — beitslosen und 2,5 Millionen Null-Kurzarbeitern bela- bereitstehen, Wohnungen, die praktisch schon jetzt steten Regionen der neuen Bundesländer schaffen. im freifinanzierten Wohnungsbau — so könnte man es Auch deshalb kommen dem Wohnungsneubau, der nennen — mit Mitteln, die die ehemaligen DDR-Bür- Sanierung und Modernisierung eine Schlüsselrolle ger aufgewendet haben, errichtet wurden. Die Kom- zu. mune Rostock kann diese Wohnungen aber nicht be- zahlen und deshalb auch nicht übernehmen. Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen in diesem Zusammenhang von einer Reise nach Mecklenburg Es gibt auch solche Wohnungen, die mit Altschul- Vorpommern berichten, welche die Arbeitsgruppe den in Höhe von 300 bis 350 DM pro Quadratmeter Raumordnung, Bauwesen und Städtebau meiner belastet sind — davon mußten wir uns überzeugen — Fraktion unternommen hat. Dabei wurden umfangrei und mit einem Verkaufspreis, der noch zusätzlich 100 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1409

Siegfried Scheffler bis 120 DM pro Quadratmeter beinhaltet, angeboten Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Okay. werden. Die Kosten für die Instandsetzung und Mo- dernisierung sind dabei nicht einmal eingerechnet. (SPD): Erhöhung der Bundesfi- Ich sage Ihnen: Der Verdrängung der bisherigen Siegfried Scheffler nanzhilfen für den öffentlich geförderten Wohnungs- Bevölkerung sind bei dieser Politik Tür und Tor weit bau, wobei vorrangig Mietwohnungsbau mit langfri- geöffnet. Wohnungen werden zu Spekulationsobjek- stiger Bindung zu finanzieren ist. ten — natürlich nur für diejenigen, die es sich leisten können, all die hohen finanziellen Belastungen zu tra- Bindung der Finanzhilfe zur Modernisierung von gen. Das sind in der Regel nicht die Wohnungsuchen- Wohnungen an ein Belegungsrecht durch die Kom- den aus den neuen Bundesländern. munen. In diesem Fall ist auch von der sogenannten Priva- Direkte Förderung des Neubaus in den neuen Län- tisierung die Rede. Ich spreche von dem Freitaler dern durch Herabsetzung der Zinsen auf 3 % bei öf- Modell. Wir als SPD begrüßen jede Initiative, die die fentlichen Darlehen bei Verlängerung der Laufzeit Wohnungssituation der Menschen in den alten und in und Verringerung der Kostenmiete. den neuen Bundesländern gleichermaßen verbessert. Gezielte Förderung des sozialen Wohnungsbaus für Die Bewohner der neuen Bundesländer sind sich aber die Bevölkerungsteile, die sich nicht aus eigener Kraft leider nicht darüber im klaren, welche immensen Be- mit Wohnraum versorgen können wie den sozial lastungen auf sie zukommen, daß sie neben Instand- Schwachen und Behinderten. setzungs- und Modernisierungskosten der eigenen Direkte Förderung von Maßnahmen zur Moderni- vier Wände auch noch die Kostenbeteiligung einer sierung und Instandsetzung durch Bereitstellung von grundlegenden Hausinstandsetzung von Dach, Trep- Darlehen. Das betrifft übrigens auch Maßnahmen zur penhaus, Elektroanlage und Sanitärinstallation tra- Umweltentlastung, Energiesparmaßnahmen bei der gen müssen. Hier sollte auch seitens der Bundesregie- Gebäudeheizung und die direkte Förderung ener- rung aus ihrer Veranwortung heraus mehr Aufklä- giesparender Investitionen an Gebäuden. rungsarbeit geleistet werden. Ich begrüße es, daß fi- nanzielle Hilfen geplant sind, wie uns gestern im Aus- Meine Damen und Herren, eine sichere, angemes- schuß dargelegt wurde. sene und dauerhaft finanziell tragbare Wohnung ist unabdingbare Voraussetzung für ein menschenwür- Aufklärung bedeutet jedoch nicht Verschleierung. diges Leben. Lassen wir die Menschen bei ihren Pro- Wie sonst erklärt sich die Bundesregierung die Tatsa- blemen um den Arbeitsplatz nicht noch die Hoffnung l diesen Jahres im Rahmen che, daß mit Datum 1. Ap ri auf ihre Wohnung verlieren. des Modernisierungsprogramms, das der Herr Staatssekretär angesprochen hat und das Kreditmittel Herr Präsident, ich danke Ihnen für Ihre Geduld. — für die neuen Bundesländer vorsieht, von den einge- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. reichten 26 000 Anträgen zur Modernisierung nur 350 (Beifall bei der SPD — Dr.-Ing. Dietmar von den Kommunen gestellt wurden, dagegen 25 650 Kansy [CDU/CSU]: Eigentlich haben Sie uns Anträge von Privaten oder Einzelpersonen mit nur zu danken!) durchschnittlich 1,9 Wohnungen. (Zuruf von der FDP: Das spricht für die Priva- tisierung!) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Als letz- tem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile Das bedeutet, daß es sich bei diesem Programm fast ich dem Abgeordneten Götz das Wort. ausschließlich um ein Ein- und Zweifamilienhaus- programm handelt. Wenn Sie, meine Damen und Herren, diese Anträge Peter Götz (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr prüften, würden Sie feststellen, daß hier im großen Stil geehrten Damen und Herren! Das Thema Wohnen ist Subventionen für Häuser bereitgestellt werden, die ein höchst sensibles Thema, vor allem für Menschen, noch schnell unter der Regierung von Herrn Modrow die keine Wohnung haben, die schlecht wohnversorgt zu den damals in der DDR üblichen Verkehrswerten, sind, die eine Wohnung suchen. Mit diesem Thema also Spottpreisen, an bevorzugte Personen veräußert lassen sich sehr leicht Gemüter und Emotionen bewe- wurden. Einige dieser Villen sind uns hinreichend gen. Es wird nicht dadurch gelöst, daß die SPD alte bekannt. Anträge aufwärmt, um Geschwindigkeit und Aktio- Meine Damen und Herren, wir von der SPD wollen nismus vorzutäuschen. unseren konkreten Beitrag aus der Opposition heraus Wir sind uns der Probleme auf dem Wohnungs- für eine Verbesserung des Neubaus und der Moder- markt sehr wohl bewußt. Uns ist bekannt, daß es im nisierung von Wohnungen leisten und schlagen des- Westen, vor allem in den Ballungszentren, Woh- halb vor: — — nungsengpässe gibt. Wir wissen auch, daß in den letz- ten Jahren 2,5 Millionen mehr Menschen in den alten Bundesländern aufzunehmen waren. Herr Dr. Kansy Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- ist vorhin darauf eingegangen und hat auch die in sehr geordneter, entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbre- kurzer Zeit sichtbar gewordenen Erfolge und Verbes- che. Das rote Licht sollte Ihnen signalisieren, daß Sie serungen deutlich gemacht. Ihre Redezeit deutlich überschritten haben. Meine Damen und Herren, wie sieht es in den neuen Bundesländern aus? Hier stehen wir vor un- Siegfried Scheffler (SPD) : Herr Präsident, ich glaublich größeren Aufgaben. Der Wohnungsbestand komme zum Schluß. in den neuen Bundesländern ist als Folge einer haupt- 1410 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Peter Götz sächlich in staatlicher Verantwortung liegenden Woh- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- nungswirtschaft mehr als desolat. geordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu (Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: So ist das lei- beantworten? der!) So erfüllen viele Wohnungen in den neuen Ländern Peter Götz (CDU/CSU): Wenn Sie damit einver- nicht einmal die bescheidensten Anforderungen an standen sind, gern am Schluß. den Wohnungskomfort. 24 % der Wohnungen sind (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Jetzt kommt die weder mit Bad noch mit Dusche ausgestattet. 28 % Frage, wann der Schluß ist!) haben keine Innentoilette. 42 % sind nicht einmal an eine Kläranlage angeschlossen. 63 %, meine Damen — Der kommt, wenn ich auf die Uhr schaue, vielleicht und Herren, also nahezu zwei Drittel, haben keine in fünf Minuten, Einverstanden? — moderne Heizung. (Günther Heyenn [SPD]: Solange noch? — (Dr. Durch diese Folgen sozialistischer Wohnungspolitik Hartmut Soell [SPD]: Er ist Badener, da stehen wir vor zwei zentralen Herausforderungen. Er- dauert es etwas länger!) stens. Der desolate Wohnungsbestand erfordert um- — Freuen Sie sich doch darüber, daß — zweitens — im fassende Modernisierungen und Instandsetzungen Haushaltsplan für die neuen Bundesländer für die sowie eine umfangreiche Neubautätigkeit. Zweitens. Städtebauförderung 380 Millionen DM vorgesehen Die hohe Staatsquote beim Wohnungsbestand von ca. sind. 42 % erfordert bei Einführung einer marktwirtschaftli- (Dr. Hartmut Soell [SPD]: Wir sind auch Ba chen Wohnungspolitik mit starker sozialer Kompo- dener!) nente eine umfangreiche Privatisierung. — Prima. Ich bedanke mich für die Solidarität in die- (Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Sehr gut!) sem Hohen Hause. — Drittens kommen nach dem Diese Aufgaben werden durch das heute noch vor- Haushalt aus dem Gemeinschaftswerk Aufschwung handene außerordentlich niedrige Mietniveau in den Ost jährlich 1,1 Milliarden DM für die Modernisierung neuen Bundesländern erheblich erschwert. Ein Miet- und Instandsetzung des Wohnungsbestandes als Zu- niveau von durchschnittlich 1 DM pro Quadratmeter schüsse für die Privatisierung von Wohnungen aus - ist nicht geeignet, p rivate Investoren für die Realisie- kommunalem Bestand, für die Stadt- und Dorfsanie- rung dieser Aufgaben zu gewinnen. rung und ebenso für den städtebaulichen Denkmal- schutz hinzu. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mit dem Beginn umfangreicher Instandsetzungen Deshalb war es dringend geboten, begrenzte Schritte und Modernisierungen wird sich der Auftragseingang zur Mietanhebung zu ermöglichen und gleichzeitig der mittelständischen Bauwirtschaft deutlich erhöhen kombiniert mit einem pauschalen System von Voraus- und damit auch zum wirtschaftlichen Aufschwung in zahlungen auf das Wohngeld zu garantieren, daß zeit- den neuen Bundesländern beitragen. gleich mit den Mieterhöhungen Wohngeld gewährt (Dr. Conrad Schröder [Freiburg] [CDU/ werden kann. CSU]: So ist es!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich würde mich sehr freuen — ich sage das in aller Durch diese soziale Abfederung wird kein Mieter Deutlichkeit — , wenn es gelänge, diese für die Ver- überfordert. Aber für das wirtschaftliche Überleben besserung der Wohnungssituation 1991 zur Verfü- von Wohnungsunternehmen und Vermietern sind das gung stehenden öffentlichen Gelder für die neuen Grundvoraussetzungen. Die Privatisierung des Woh- Länder auch umzusetzen und auszugeben. nungsbestandes bildet nicht allein aus sozialpoliti- Der Staat, meine Damen und Herren, kann und soll schen, sondern auch aus gesamtwirtschaftlichen nach unserer Überzeugung nicht alles selber machen. Gründen ein wichtiges Ziel. Nur durch p rivates Kapi- Wohin das führt, sehen wir. Jetzt haben wir es auszu- tal und die Eigeninitiative von Mietern und Unterneh- baden. Deshalb sind wir auch darauf angewiesen, daß mern läßt sich die Wohnungsversorgung entschei- in unserer Gesellschaft erwirtschaftete und in hohem dend verbessern. Maß vorhandene private Kapital für den Wohnungs- In hohem Maße hängt der Privatisierungserfolg da- bau zu gewinnen. Die CDU/CSU plädiert dafür, in den von ab, daß die geeigneten Rahmenbedingungen da- neuen Bundesländern und in Berlin zusätzlich zeitlich für geschaffen werden. Das haben wir getan. Wir ge- befristete steuerliche Anreize für die dringend erfor- hen davon aus, daß der Bundesrat am Freitag nächster derliche Modernisierung von Wohngebäuden, für den Woche die dazu notwendigen Zustimmungen erteilt, Neubau von Wohnungen, vor allem Sozialwohnungen so daß zum 1. August die Kombination Mietanhebung mit entsprechenden Mietpreis- und Belegungsbin- und verbesserte Wohngeldzahlung in Kraft treten dungen, und für eigengenutzte Wohnungen zu schaf- kann. fen. Mit Abschreibungsregelungen bei Modernisie- rungs- und Neubaumaßnahmen, nach denen in den Nach dem Haushaltsentwurf, Herr Kollege Scheff- ersten fünf Jahren bis zu 50 % abgeschrieben werden ler, sind für die neuen Bundesländer erstens für Woh- können, wird eine sehr weitgehende Förderung ange- nungsbaumodernisierung und für Instandsetzung Fi- boten. Auch sie sollte, um den dringend notwendigen nanzhilfen in einer Größenordnung von über 1 Milli- Anschub zu bewirken, zeitlich befristet werden. arde DM veranschlagt. Ich bin fest davon überzeugt, daß gerade durch (Abg. Dr. Barbara Höll meldet sich zu einer diese Angebote an die Privatwirtschaft der erwartete Zwischenfrage) Bauboom in den neuen Ländern beginnt. Wenn das Deutscher Bundestag — 12, Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1411

Peter Götz Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung heute über das, wenn es hier schon nicht gegriffen hat, bei uns dpa aktuell verkündet, die Talsohle der Baunachfrage greifen soll. sei durchschritten, und es sei mit einem baldigen An- (Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Er sprach doch springen von Nachfrage und Produktion, verstärkt von den Zuwanderern, von Millionen!) durch die öffentlichen Förderprogramme im Woh- nungsbau, zu rechnen, so ist dies ein Indiz dafür, daß (CDU/CSU): Auf die Frage gehe ich es spürbar vorangeht. Peter Götz gerne ein. Wir haben jetzt ein Angebot im Bereich der (Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Das ist eine gute Steuerabschreibung, in fünf Jahren 50 % abzuschrei- Nachricht!) ben. Ein solches Angebot gab und gibt es in den alten — Wir freuen uns eigentlich über jede Nachricht, die Bundesländern nicht. gut ist. Ich betrachte dies als eine gute Nachricht. (Zuruf von der SPD: Da muß man erst ein Wir können dieses uns durch sozialistische Mißwirt- richtiges Einkommen haben!) schaft aufgetragene Problem nur gemeinsam lösen. — Aber das sicherlich. Wir freuen uns aber über jede Wir, die öffentliche Hand — damit meine ich Bund, Wohnung, die nicht über den Staat finanziert worden Länder und Gemeinden — zusammen mit der Privat- ist. Das muß man doch sehen. Wir sind auf Grund der wirtschaft, haben die politischen Rahmenbedingun- besonderen Aufgabe, die wir sehen, jetzt auch bereit, gen dafür gesetzt. Dahinter steckt ein wohldurch- ihr durch besondere Angebote entsprechend Rech- dachtes, ausgewogenes wohnungspolitisches Ge- nung zu tragen. samtkonzept, das vor allem auch diejenigen Bevölke- Ein solches Angebot gibt es in den alten Bundeslän- rungskreise einschließt, die sich am Wohnungsbau- dern leider, wie die Wohnungsbaupolitiker sagen, markt erfahrungsgemäß schwertun. Es wäre wün- nicht. Es ist ein Angebot. Deshalb sagte ich vorhin, es schenswert, wenn wir alle, die in politischer Verant- sollte zeitlich bef ristet werden, um den Anschub zu wortung stehen, diese Chancen und Möglichkeiten in leisten. der politischen Diskussion mit den Bürgern aufzeigen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) würden, wenn wir den Menschen Mut machen und sie nicht bewußt, gezielt verunsichern und damit errei- chen, daß die Bremser und Blockierer, von denen es Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine leider noch genug gibt, Oberwasser bekommen. Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aus- sprache zu diesem Tagesordnungpunkt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Selbstverständlich wäre eine Anhebung der Förder- Drucksache 12/338 an die in der Tagesordnung auf- mittel für den Wohnungsbau vorteilhaft und auch geführten Ausschüsse zu überweisen. Werden zusätz- wünschenswert. Aber wir stehen auch in einer finanz- liche Vorschläge aus dem Plenum gemacht? — Das ist politischen Gesamtverantwortung, und wir wissen offensichtlich nicht der Fall. Dann darf ich das als sehr wohl, daß wir uns im Grenzbereich dessen bewe- beschlossen feststellen. gen, was unsere Konjunktur verkraftet. Lassen Sie mich abschließend eine Bitte ausspre- Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: chen: Helfen Sie mit, den Menschen Optimismus zu Erste Beratung des von den Fraktionen der vermitteln, Mut zu machen, anzupacken. Damit wird CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs ei- es uns gemeinsam gelingen, mehr und qualitativ bes- nes Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. De- seren Wohnraum zu schaffen, die mittelständische zember 1990 zwischen der Bundesrepublik Bauwirtschaft in Schwung zu bringen, Arbeitsplätze Deutschland und der Republik Polen über So- zu sichern und den wirtschaftlichen Aufschwung in ziale Sicherheit den neuen Bundesländern rasch zu leisten. — Drucksache 12/303 — Vielen Dank. Überweisungsvorschlag: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Der Ältestenrat schlägt ihnen eine Debattenzeit von einer halben Stunde vor. Erhebt sich dagegen Wider- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- spruch? — Das ist nicht der Fall. geordneter, wollen Sie jetzt noch die Frage beantwor- Dann erteile ich dem Abgeordneten Scheu das ten? — Im Grunde genommen ist die Redezeit über- Wort. schritten; aber Sie können eine Kurzintervention ma- chen, Frau Höll. Insofern kann ich das zulassen. Gerhard Scheu (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Bitte schön. Damen und Herren! Wenn sich die Verhältnisse än- dern, muß das Recht reagieren, sonst wird Sinn zu Unsinn und Vernunft zur Plage. Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Als Neubürge- Im Bereich der Rentengesetzgebung und der rin aus Leipzig möchte ich fragen: Warum melden sich zwischenstaatlichen Sozialversicherungsbeziehun- auf jede Wohnungsannonce immer zig Menschen, die gen auf dem Gebiet des DPSVA gilt dies insbeson- eine Wohnung suchen, obwohl sich die Angebote, die dere. Das Abkommen hat seinen ursprünglichen Sinn Sie genannt haben — Privatkapital usw. — , angeblich erfüllt. Die Verhältnisse haben sich seit seinem Ab- so bewährt haben, daß Sie sie in derselben Form bei schluß grundlegend verändert, so daß beide Seiten im uns anwenden wollen? Ich verstehe nicht ganz, wie eigenen Interesse gut daran tun, eine Neuregelung 1412 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Gerhard Scheu ihrer sozialversicherungsrechtlichen Beziehungen ist. Dieser Umstand wird in der Öffentlichkeit viel zu vorzunehmen. wenig diskutiert. Ich will auch nicht verhehlen, daß das Abkommen Es ist an sich widersprüchlich, einen Fremdrenten- in seiner praktischen Auswirkung zu Problemen ge- gesetztatbestand zu konstruieren, wenn der Her- führt hat, die möglicherweise absehbar waren und die kunftsstaat nicht nur nicht vertreibt, sondern die es als im Interesse beider Seiten liegend erscheinen Rente sogar noch exportiert, wie es normal ist. Daß die lassen, daß wir zu neuen Regelungen kommen. Rente eines Staates, in D-Mark umgetauscht, nicht ausreicht, ist an sich kein Grund für Rentenleistungen Das ursprüngliche deutsch-polnische Sozialversi- und keine konzeptionelle Aufgabe der Rentenversi- cherungsabkommen hatte auch andere als renten- cherung, sondern anderer sozialrechtlicher Institutio- rechtliche Gründe. Ich darf nur daran erinnern, daß nen. ein guter Kenner aus dem Außenministerium, Benno (Dr. Gisela Babel [FDP]: Sehr wahr!) Zündorf, über die Ostverträge ganz unschuldig darauf hingewiesen hat, daß über die vereinbarte Rechts- — Ich bedanke mich für diese Zustimmung, Frau Kol- legin. und Amtshilfe die Zustimmungsbedürftigkeit des Bundesrates gegeben war, womit seinerzeit ganz zu- Das Fremdrentengesetz setzt die positive Feststel- fällig eine Zerreißprobe der Opposition im Bundesrat lung eines kriegsfolgebedingten speziell gegen die stattgefunden hat. Für solche Zwecke sollte interna- Deutschen gerichteten Drucks als wesentliche Ursa- tionales Sozialversicherungsrecht nicht instrumentali- che der Ausreise voraus. Diese Ursachen treten heute siert werden. in den Hintergrund. Statt des Unrechtsgefälles zwi- schen Ost und West gibt es ein Wohlstands- und Lei- In diesem Sinn ist das uns vorliegende Abkommen stungsgefälle. Außerdem muß es sich um Personen und das Zustimmungsgesetz hierzu zu begrüßen. Es handeln, die sich dem deutschen und keinem anderen enthält in umfassender Weise Regelungen, die den Volkstum zugehörig betrachten, was in objektiven normalen Verhältnissen westeuropäischer Standards Merkmalen seine Bestätigung findet. entsprechen, die Abstand nehmen von aus der Ver- Meine Damen und Herren, in diesem Sinne wird die gangenheit herrührenden, damals begründeten Be- Zustimmung zum deutsch-polnischen Sozialversiche- sonderheiten und die die Verhältnisse zwischen rungsabkommen dem deutschen Gesetzgeber und Deutschland und Polen auf dem Gebiet der Sozialver- beiden Seiten den Weg in eine Zeit rentenrechtlicher sicherung in gleicher Weise und auf gleich hohem Normalität, in eine Gesetzgebung öffnen, die in die- Standard regeln, wie sie zwischen westeuropäischen sem Bereich wieder Normalität ermöglicht und die Staaten möglich und natürlich sind. berechtigte Sorgen von Bürgern ausräumt, sich durch In diesem Sinn kann das Abkommen in seiner Aus- staatliche Regelungen betroffen zu fühlen. Die Bes- führung einen Beitrag zu mehr Freizügigkeit leisten serstellungen von Aussiedlern gegenüber Einheimi- — denn das Exportprinzip ist die Normalität —, kann schen vermeiden. es ein Einstieg in weitere Ergänzungen insonderheit Das wird eine Aufgabe der Zukunft sein. Um diese im Bereich der Arbeitnehmer und der Grenzgänger Aufgabe lösen zu können, brauchen wir die Zustim- sein. In diesem Sinne ist das Abkommen gut, wobei mung zu diesem deutsch-polnischen Sozialversiche- allerdings darauf hinzuweisen ist, daß es Bereiche rungsabkommen. Die CDU/CSU-Fraktion bittet das gibt, die das Abkommen selber nicht regeln kann und Hohe Haus, dem Zustimmungsgesetz zuzustimmen. auch nicht regeln soll, nämlich die überfällige Reform Wir verbinden das mit einem Dank an die Verhand- des deutschen Fremdrentenrechts. lungsführer der beiden Seiten. Beide Seiten haben in fairer Weise miteinander verhandelt. Keine Seite mu- In § 2 des Fremdrentengesetzes war bisher festge- tet der anderen zu, was sie nicht selbst zugemutet legt, daß dieses Gesetz nicht für Zeiten gilt, die auf haben möchte. Diese goldene Regel in zwischenstaat- Grund zwischenstaatlicher Abkommen in der Renten- lichen Beziehungen zu beachten, dafür ist dieses neu versicherung eines anderen Staates anrechnungsfä- ausgehandelte Abkommen ein gutes Beispiel. hig sind. Das Fremdrentengesetz war ein Vertrei- bungsgesetz, wie Minister Blüm im Februar 1990 in Herzlichen Dank. einem Interview gesagt hat: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Fremdrentengesetz war ein Vertreibungsge- setz. Fremdrenten brauchen wir nur dort, wo so- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- zialistische Unterdrückung herrscht. Wenn es geordneter Heyenn, Sie haben das Wort. keine Vertreibung mehr gibt, dann muß die Ge- setzgebung angepaßt werden. Günther Heyenn (SPD): Herr Präsident! Meine Da- In diesem Sinne steht der Deutsche Bundestag — men und Herren! Die Sozialdemokraten haben seit die Begründung der Denkschrift zum Abkommen November 1989, Herr Kollege Scheu, den Standpunkt weist darauf hin, daß das eine Folge sein wird — vor vertreten, daß das bisher bestehende Sozialversiche- einer konzeptionellen Neuordnung des Fremdrenten- rungsabkommen mit Polen aus dem Jahre 1975 von rechtes. der geschichtlichen Entwicklung überholt ist. Deshalb haben wir die Regierung zu Verhandlungen mit Polen Weg von der Eingliederung wegen kriegsfolgebe- gedrängt. Die Regierung hat wegen ihrer unklaren dingter Vertreibung hin zur Lebensstandardsiche- Haltung zur Oder-Neiße-Grenze lange Zeit ge- rung für Zuwanderer — es ist eine Frage, ob das in braucht, bevor sie mit Polen ins Gespräch gekommen Zukunft noch eine Aufgabe der Rentenversicherung ist. Nun liegt das Verhandlungsergebnis vor, und wir Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1413

Günther Heyenn Sozialdemokraten stimmen diesem Verhandlungser- ist. Konsequenterweise wurde deshalb auch, noch be- gebnis zu. vor die staatliche Einheit Deutschlands realisiert wer- den konnte, für DDR-Übersiedler das Fremdrenten- Wenn ich sage, daß das alte deutsch-polnische So- gesetz im Zusammenhang mit der Sozialunion zum zialversicherungsabkommen von der geschichtlichen 1. Juli des vergangenen Jahres abgeschafft und statt Entwicklung überholt ist, so bedeutet das keineswegs, dessen das sogenannte Exportprinzip eingeführt. daß dieser von der sozial-liberalen Regierung Mitte der 70er Jahre ausgehandelte Vertrag rückwirkend Heute ist die Sozialunion bereits Geschichte, und in schlechtgemacht werden darf. Sein Sinn bestand Kürze werden wir uns in diesem Parlament mit der darin, sozialpolitisch den Schlußstrich unter ein düste- Gesetzgebung zur völligen Vereinheitlichung des ost- res Kapitel der deutsch-polnischen Geschichte zu zie- und des westdeutschen Rentenrechts befassen; näch- hen, insbesondere unter die NS-Zeit und den Zweiten ste Woche wird es soweit sein. Weltkrieg, in dessen Folge Millionen von Menschen Der Fall der Mauer und die Herstellung der deut- auch ihre Sozialversicherungsansprüche verloren ha- schen Einheit hat aber nicht nur die innerdeutsche ben oder ohne sozialversicherungsrechtlichen Schutz Rentenlandschaft total verändert, sondern auch sämt- arbeiten mußten. lichen rentenrechtlichen Regelungen im Verhältnis zu Ich erinnere nur an die Beschäftigung polnischer den osteuropäischen Staaten den Boden entzogen. Wanderarbeiter in Deutschland vor dem Zweiten Wenn im Verhältnis zwischen den alten und neuen Weltkrieg, knapp 200 000 Betroffene, hauptsächlich Bundesländern das Integrationsprinzip nicht mehr be- im Bergbau und in der Landwirtschaft. Ich erinnere an steht, dann kann es auch im Verhältnis zu Polen, zu die Okkupation von Ostoberschlesien, Westpreußen Rumänien, zur Sowjetunion und zu anderen nicht und Posen durch das Deutsche Reich und die Über- mehr aufrechterhalten werden, denn es ist unmöglich, nahme der polnischen Sozialversicherung für diese Menschen, die innerhalb des vereinigten Deutsch- Gebiete durch Deutschland im Jahre 1940. Ich erin- lands ihren Wohnsitz wechseln, rentenrechtlich nere an die Zwangsarbeit von mehr als 2 Millionen schlechterzustellen als Aussiedler aus den osteuropäi- Polen in Deutschland während des Zweiten Welt- schen Ländern. kriegs. Ich erinnere an die Vertreibung der Deutschen (Beifall bei der SPD und der FDP) aus den Ostgebieten, darunter auch solchen, die Bei- träge zur polnischen Sozialversicherung gezahlt hat- — Vielen Dank. Beifall von allen Seiten wie ich fest- ten. Ich erinnere an den Verlust der deutschen Ren- stelle. tenanwartschaften für Deutsche, die nach dem Krieg Dazu kommen die politischen Veränderungen in in Polen geblieben waren. Dieser Personenkreis wird den osteuropäischen Ländern. Von Flucht und Ver- auf 100 000 bis 180 000 Menschen geschätzt. treibung kann nicht mehr oder jedenfalls nicht mehr All diese schwierigen Probleme hat das Abkommen generell die Rede sein. Folglich ist der Übergang vom von 1975 zufriedenstellend gelöst, nicht zuletzt durch rentenrechtlichen Eingliederungsprinzip zum Export- die Ausgleichzahlung, die die Bundesrepublik damals prinzip zwingend. an Polen geleistet hat. Die Frage der Renten künftiger In diesem Zusammenhang kommt der Änderung Aussiedler aus Polen spielte Mitte der 70er Jahre noch des Sozialversicherungsabkommens mit Polen aus keine Rolle und brauchte auch keine Rolle zu spielen, dem Jahre von 1975 eine Schlüsselfunktion zu. Erst weil es damals keine liberale polnische Ausreise- die Klärung, daß gegenüber Polen das Exportprinzip praxis gab und daher mit einer solchen Entwicklung praktiziert wird, macht den Weg für uns frei für eine nicht gerechnet werden konnte. Die Grenzen waren grundsätzliche Neuordnung des Rentenrechts für damals geschlossen. Aussiedler, ohne daß es zu ungerechten Ungleichbe- Vor allem aber hat das Vertragswerk von 1975 über handlungen dieser Menschen je nach ihrem Her- seine sozialpolitische Bedeutung hinaus eine wichtige kunftsland kommt. Funktion in der Friedens- und Ostpolitik der sozial- Dabei begrüße ich ausdrücklich die Haltung der liberalen Regierung erfüllt und zur deutsch-polni- Regierung Polens zu diesem Vertrag, die auch darin schen Aussöhnung beigetragen. begründet ist, daß sich Polen vor einer Assoziierung (Rudolf Dreßler [SPD]: Sehr richtig!) bei der EG bemüht, eine Annäherung an westeuropäi- sche Standards in der Sozialpolitik vorzunehmen. — Ich danke Ihnen, Herr Kollege Dreßler. Der nun vorliegende neue Sozialversicherungsver- Man kann sagen, daß es ein Teil jenes Prozesses trag entspricht den Forderungen der Sozialdemokra- war, der schließlich zur grundlegenden Umgestaltung ten. Ich möchte allerdings anmerken, daß dies keines- in Osteuropa, zur deutschen Einheit und schließlich wegs die generelle Zustimmung zur Politik der Bun- auch zu der Situation geführt hat, die heute die Revi- desregierung bezüglich der Aussiedlerrenten bedeu- sion eben dieses Vertrages nötig und möglich tet. Im Gegenteil! macht. Wir sind der Meinung, daß das Fremdrentengesetz Mit dem Fall der deutschen Mauer am 9. November historisch überholt ist und daß es zumindest mittelfri- 1989 ist zunächst in bezug auf die Übersiedler aus der stig und für künftige Zuzüge gänzlich auslaufen muß. DDR das rentenrechtliche Integrationsprinzip un- Die diesbezüglichen Bestimmungen in dem Entwurf haltbar geworden. Zwischen Ländern mit hohem der Bundesregierung für das Rentenüberleitungsge- Wohlstandsgefälle und offenen Grenzen kann eine setz, die von einer Fortexistenz des Fremdrentenge- rentenrechtliche Konstruktion nicht funktionieren, die setzes ausgehen, können wir deshalb nicht billigen. auf ein System geschlossener Grenzen zugeschnitten Ebensowenig sind wir damit einverstanden, daß mit 1414 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Günther Heyenn dem Rentenüberleitungsgesetz die haarsträubenden Das heißt nicht, daß der Vertrag uns hindert, den Ungerechtigkeiten verewigt werden sollen, die im Deutschen nach Art. 116 des Grundgesetzes inner- Verhältnis zwischen Aussiedlern aus den osteuropäi- staatlich beschlossene Renten einzuräumen, wohl schen Ländern und den Umzüglern innerhalb der aber ermöglicht es den Deutschen, jetzt das gesamte Bundesrepublik Deutschland bestehen. Nachkriegsrecht neu zu ordnen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Meine Damen und Herren, es war nicht leicht, die- der FDP) ses Abkommen zustande zu bringen. Es beruht auf Wir halten es für einen völlig unmöglichen Zustand, dem Wunsch der Deutschen und erforderte Entgegen- daß Deutsche aus Chemnitz oder Cottbus, die nach kommen von seiten der Polen. Köln ziehen, rentenrechtlich schlechtergestellt wer- Ich möchte den Beteiligten, von unserer Seite Herrn den als solche, die aus Kattowitz oder aus Kasachstan Seehofer, insbesondere aber den polnischen Ver- kommen. handlungspartnern für ihren Einsatz danken. (Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr wahr!) (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der Über diese Dinge wird jedoch bei der parlamentari- SPD) schen Beratung des Rentenüberleitungsgesetzes zu Wie bei den Gesprächen unserer Delegation in Po- sprechen sein. len zu erfahren war, soll das Abkommen auch in Polen (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Wer fristgerecht zum 1. Juli ratifiziert werden. es zahlt, ist Ihnen wie immer egal!) Damit unser Verhältnis zu Polen ähnlich eng und Wir beabsichtigen nicht, diese Fragen mit dem Rati- vertrauensvoll wie das zu Frankreich wird, war auch fikationsgesetz zum neuen Sozialversicherungsab- die Visumfreiheit ein wichtiger und unumgänglicher kommen mit Polen zu verknüpfen, zumal in diesem Schritt. Ratifikationsgesetz keine Bestimmungen enthalten (Beifall des Abg. Günther Heyenn [SPD]) sind, die aus unserer Sicht problematisch wären. Wir Freien Demokraten verurteilen entschieden die Die Fraktion der SPD — und damit komme ich zu Ausschreitungen von Rowdys und Rechtsradikalen an meinem letzten Satz — wird dem Sozialversiche- den Grenzübergangsstellen, meine Damen und Her- rungsabkommen zustimmen und spricht sich für eine ren. möglichst zügige parlamentarische Beratung aus, da- mit dieser für den weiteren deutsch-polnischen Ver- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der ständigungsprozeß wichtige Vertrag so bald wie mög- SPD) lich ratifiziert werden kann. Ich möchte den polnischen Bürgern versichern, daß Ich danke dafür, daß Sie zugehört haben. die große Mehrheit der Deutschen (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der (Zuruf der Abg. Barbara Weiler [SPD]) FDP) — Sie sind gleich eingebunden —, auch alle Bundes- tagsabgeordneten, wie ich gern hinzufügen will, ein solches Verhalten vehement ablehnt. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Babel. (Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr gut!) Es gab auch Blumensträuße zum Willkommen, und die deutsche Botschaft lud anläßlich der Visumfreiheit Dr. Gisela Babel (FDP): Herr Präsident! Meine Da- zu einem Fest. Mögen die positiven Signale in Zukunft men und Herren! Der heute in erster Lesung vorlie- überwiegen! gende Gesetzentwurf zum deutsch-polnischen Sozial- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der versicherungsabkommen markiert den Weg, den SPD) Polen und Deutsche einschlagen wollen, den Weg zu einem unverkrampften, natürlichen Nachbarschafts- Man kann diesen Gesetzentwurf natürlich nicht be- verhältnis. handeln, ohne auch das Thema Fremdrenten anzu- sprechen. Vereinbart wird ein Stück Normalität zwischen bei- den Staaten; denn das Abkommen löst Vorschriften Nach 45 Jahren seit Ende des Zweiten Weltkrieges ab, die, 1975 vereinbart, nur auf Grund der besonde- muß das Fremdrentenrecht — wie auch die anderen ren belastenden geschichtlichen Zusammenhänge er- Kriegsfolgegesetze — einer abschließenden Rege- klärbar waren. lung zugeführt werden. Eine Arbeitsgruppe der Koali- tion arbeitet daran. Die neuen Entwicklungen im Osten lassen neue Regelungen zu: Im Kern geht es darum, daß Polen in Falsch wäre es aber, jetzt Signale auszusenden, die Deutschland Renten nach unserem Recht nur dann zu einer Verstärkung des Aussiedlerstromes aus noch beanspruchen können, wenn sie hier gearbeitet Osteuropa führen könnten. Das könnte dann der Fall und hier Beiträge entrichtet haben, wie Deutsche um- sein, wenn man die bestehende Regelung zu früh und gekehrt in Polen, wenn sie dort gearbeitet haben, zu abrupt beendete. Auch hier muß man behutsam nach polnischem Rentenrecht Rechte erwerben. Das vorgehen. heißt: Zwischen Polen und Deutschen wird das nor- Man muß sich aber ernsthaft fragen, ob die im Zu- male, auch zwischen anderen Staaten der europäi- sammenhang mit dem Rentenüberleitungsgesetz in schen Gesellschaft geltende Leistungsexportprinzip Aussicht genommene Regelung unterschiedlicher vereinbart und damit das Integrationsprinzip ersetzt. Renten, je nachdem, in welchem Teil der Bundesrepu- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1415

Dr. Gisela Babel blik Deutschland sich ein Aussiedler niederläßt, tat- Wir haben sie bereits im Januar 1990 auch aufgenom- sächlich gerechtfertigt ist. men. Aber auch Sie wissen, daß die Verhältnisse, die (Gerhard Scheu [CDU/CSU]: Da haben Sie besonders im ersten Halbjahr 1990 politisch allgemein recht!) eingetreten sind, natürlich auch da Stockungen mit sich gebracht haben. Denn es leuchtet mir immer noch nicht ein, weshalb ein Aussiedler, der wenige Kilometer östlich von Gör- Das neue Abkommen gilt für alle Versicherungszei- litz wohnt, wenn er zu seinen Kindern nach Düsseldorf ten nach dem 31. Dezember 1990 und bet rifft auch zieht, eine höhere Rente erhalten soll als sein Bruder, Versicherungszeiten in der Vergangenheit von Perso- der aus Görlitz in den Westen umzieht. nen, die nach dem 31. Dezember 1990 ihren Wohnsitz (Beifall bei der FDP — Zuruf von der SPD: in den anderen Vertragsstaat verlegen. Diese Versi- Hat aber auch lange gedauert! — Günther cherungszeiten werden künftig jeweils von dem Staat Heyenn [SPD]: Aber immerhin!) entschädigt werden, nach dessen Rechtsvorschriften sie zurückgelegt worden sind. Das bedeutet, in Polen Man sollte es hier offen sagen: Ich halte es für we- zurückgelegte Versicherungszeiten sind damit stets in sentlich, daß wir hier einen einheitlichen Maßstab fin- der polnischen Rente zu entschädigen, wie umge- den. Ich bin sehr gespannt, was die Vertreter der kehrt in Deutschland zurückgelegte Versicherungs- neuen Länder im Bundesrat dazu sagen werden, zeiten bei der deutschen Rente zu berücksichtigen wenn sie feststellen, daß ihre Bürger rentenrechtlich sind. Die in beiden Vertragsstaaten vorhandenen Ver- schlechter gestellt sind als ein Teil der Aussiedler. sicherungszeiten werden für den Erwerb des Lei- (Rudolf Dreßler [SPD]: Das ist auch nicht stungsanspruchs zusammengerechnet. Eine Rente neu!) wird auch bezahlt, wenn sich der Berechtigte im ande- Unabhängig von dieser Problematik, die uns im ren Vertragsstaat aufhält. Dies ist der Inhalt des soge- Rahmen des Rentenüberleitungsgesetzes noch be- nannten Leistungsexportprinzips. schäftigen wird, ist das neue deutsch-polnische Sozi- alversicherungsabkommen ein deutlicher Ausdruck Das Abkommen enthält auch umfassende Bestands- dafür, daß Europa zusammenwächst und daß Deut- schutzregelungen. Es sieht vor, daß Ansprüche und sche wie Polen dazu einen wesentlichen Beitrag lei- Anwartschaften von Berechtigten aus Versicherungs- sten können. zeiten vor dem 1. Januar 1991 voll gewahrt bleiben, solange sie ihren Wohnsitz beibehalten. Ich freue mich über die breite Zustimmung zu die- sem Vertragswerk. Das Abkommen enthält darüber hinaus auch eine Vielen Dank. Härteregelung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, Aussiedler sollen auch künftig eine Fremdrente erhalten, allerdings auf ei- nem Niveau, das den unterschiedlichen Lebensver- Nun hat Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: hältnissen in den westlichen und östlichen Bundeslän- der Parlamentarische Staatssekretär Horst Günther dern Rechnung trägt. Dies ist umstritten, wie wir auch das Wort. eben hier gehört haben. Wir werden Gelegenheit ha- (Günther Heyenn [SPD]: Aber bitte kurz!) ben, die unterschiedlichen Auffassungen im Aus- schuß auszutauschen.

Horst Günther, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- Im Bereich der Krankenversicherung ist die Aus- nister für Arbeit und Sozialordnung: Ich werde mich dehnung des Versicherungsschutzes für entsandte bemühen, Herr Kollege Heyenn. Arbeitnehmer, Grenzgänger und Familienangehörige Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! bei Aufenthalt im anderen Vertragsstaat vorgesehen. Das deutsch-polnische Abkommen über Soziale Si- Sachleistungen werden in diesem Fall vom Versiche- cherheit ist sicherlich auch als Meilenstein in der Nor- rungsträger des Aufenthaltsortes gegen volle Kosten- malisierung der deutsch-polnischen Beziehungen an- erstattung durch den Versicherungsträger des ande- zusehen. Es umfaßt erstmals den gesamten Bereich ren Vertragsstaates erbracht. Diese Regelung stellt der Sozialen Sicherheit. einen Einstieg in die bilaterale Krankenversicherung dar. Das noch geltende Abkommen über Renten- und Unfallversicherung vom 9. Oktober 1975 beruht auf Das deutsch-polnische Abkommen über Soziale Si- dem sogenannten Eingliederungsprinzip. Dies konnte cherheit beendet das Abkommen der ehemaligen 1975 sehr wohl als sachgerechte Lösung für die beste- DDR mit Polen über die Zusammenarbeit auf dem henden politischen Verhältnisse angesehen werden. Gebiete der Sozialpolitik von 1957. (Gerhard Scheu [CDU/CSU]: Naja!) Ich danke der polnischen Regierung, daß sie bereit Angesichts der zunehmenden Freizügigkeit zwischen gewesen ist, mit der Bundesrepublik Deutschland die- Deutschland und Polen ist diese Regelung aber nicht ses neue Abkommen in so kurzer Zeit abzuschließen. mehr zeitgemäß. Daher waren neue Verhandlungen Damit war es uns möglich, ein weiteres wichtiges Ziel notwendig. zu erreichen: die Herstellung der Rechtseinheit im Herr Kollege Heyenn, Sie haben soeben ein wenig vereinten Deutschland in den deutsch-polnischen Be- kritisiert, daß das so lange gedauert hat und daß wir ziehungen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit. uns so viel Zeit genommen haben. Es ist richtig: Sie haben im November 1989 Verhandlungen verlangt. (Beifall bei der FDP und der SPD) 1416 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Parl. Staatssekretär Horst Günther Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden Arbeit und Sozialordnung zu überweisen. Ich hoffe, jetzt auch die Möglichkeit haben, nach diesem Ab- daß sich dagegen kein Widerspruch erhebt. — Das ist kommen das Fremdrentengesetz neu zu regeln. der Fall. Dann darf ich das als beschlossen feststel- Vielen Dank. len. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, damit sind wir am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.

Meine Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: destages auf morgen, Freitag, den 19. Ap ril, um 9 Uhr Damen und Herren, erfreulicherweise haben die Red- ein und wünsche Ihnen einen geruhsamen und erfreu- ner ihre Redezeit nicht ausgenutzt, und weitere Wort- lichen Abend. meldungen liegen mir nicht vor, so daß ich die Aus- sprache schließen kann. Ich schließe die Sitzung. Der interfraktionelle Vorschlag lautet, den Gesetz- entwurf auf Drucksache 12/303 an den Ausschuß für (Schluß der Sitzung: 20.29 Uhr) Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1417*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 damit die Abkommen mit Polen aus der Zeit der Exi- stenz zweier deutscher Staaten ab. Liste der entschuldigten Abgeordneten Der Kernpunkt ist die Ersetzung des Eingliede- rungsprinzips durch das Leistungsexportprinzip im entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Bereich der Rentenversicherung. Auch wenn damit - bezogen auf die polnischen Bürger - neue Unter- Börnsen (Bönstrup), CDU/CSU 18.04.91 schiede zwischen Ost und West aufgemacht und ma- Wolfgang nifestiert werden, halten wir - mit Blick auf das ge- Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU 18.04.91 meinsame Haus Europa - eine Vereinheitlichung von Peter Harry Regelungen zwischen den Staaten im EG-Raum und Conradi, Peter SPD 18.04.91 darüber hinaus für einen sicherlich kleinen, jedoch Doss, Hansjürgen CDU/CSU 18.04.91 unerläßlichen Baustein. Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 18.04.91 Genscher, Hans-Dietrich FDP 18.04.91 Wir halten es auch für richtig, daß mit dem Gesetz- Dr. Glotz, Peter SPD 18.04.91 entwurf zugleich eine Wanderung ins Gebiet der Alt- Dr. Hornhues, Karl-Heinz CDU/CSU 18.04.91 bundesländer wegen günstigerer Rentenberechnung Ibrügger, Lothar SPD 18.04.91 verhindert wird. Diesen Effekt lesen wir aus der Rege- Kiechle, Ignaz CDU/CSU 18.04.91 lung, daß die sich in den neuen Bundesländern auf- Klose, Hans-Ulrich SPD 18.04.91 haltenden Polen nicht anders behandelt werden als Köhler (Hainspitz), CDU/CSU 18.04.91 die ehemaligen DDR-Bürger. Bekanntlich erfolgt für Hans-Ulrich diese die Überleitung der Renten erst zum 1. Januar Dr. Graf Lambsdorff, Otto FDP 18.04.91 1992. Dr. Leonhard-Schmid, SPD 18.04.91 Der vorgeschlagenen Überweisung in den Aus- Elke schuß stimmen wir zu. Lintner, Eduard CDU/CSU 18.04.91 Meckel, Markus SPD 18.04.91 Dr. Müller, Günther CDU/CSU 18.04.91 * Pützhofen, Dieter CDU/CSU 18.04.91 Anlage 3 Reuschenbach, Peter W. SPD 18.04.91 Dr. Riedl (München), CDU/CSU 18.04.91 Antwort Erich der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die Schmidt (Spiesen), Trudi CDU/CSU 18.04.91 Frage des Abgeordneten Ortwin Lowack (CDU/CSU) Schmidt-Zadel, Regina SPD 18.04.91 (Drucksache 12/351 Frage 13): Seehofer, Horst CDU/CSU 18.04.91 Treffen Mitteilungen des Bonner General-Anzeigers vom Skowron, Werner H. CDU/CSU 18.04.91 14. März 1991 zu, wonach „600 Deutsche, Überreste der Dr. Sperling, Dietrich SPD 18.04.91 Honecker'schen ,Angola-Hilfe, für einen funktionierenden Spilker, Karl-Heinz CDU/CSU 18.04.91 MPLA-Geheimdienst und für die notwendigen Kommunika- Dr. Töpfer, Klaus CDU/CSU 18.04.91 tionswege " sorgen, und ist die Bundesregierung ggf. bereit, dem angesichts der Notwendigkeit einer f riedlichen Lösung des An- Dr. Wieczorek, Norbert SPD 18.04.91 gola-Konflikts ein Ende zu bereiten? Wimmer (Neuötting), SPD 18.04.91 Hermann Die Bundesregierung hat keine Informationen, die

* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- auf einen Aufenthalt von mehreren Hundert Deut- lung des Europarates schen in Angola hindeuten. Der unbekannte und sub- versive Aufenthalt einer derart großen Personen- gruppe erscheint mit an Sicherheit grenzender Wahr- scheinlichkeit als unmöglich. Sie würde vermutlich bereits nach kurzer Zeit erkannt werden, zumal sich Anlage 2 Europäer aufgrund der Bürgerkriegslage lediglich in städtischen Zentren aufhalten könnten. Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesordnungspunkt 12 (Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. Dezember 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über Soziale Sicherheit) Anlage 4 Antwort Andrea Lederer (PDS): Zum vorliegenden Gesetz- entwurf hat die Abgeordnetengruppe der PDS/Linke der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die Fra- Liste keine prinzipiellen Einwände, zumal er sich mit gen des Abgeordneten Rudolf Bindig (SPD) (Drucksa- Konsequenz aus dem Abkommen vom 8. Dezember che 12/351 Fragen 15 und 16) : 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Welche konkreten Schritte - außer der Einbestellung des ira- der Republik Polen über soziale Sicherheit ergibt. Das kischen Botschafters und Vortragen eines Protestes - hat die jetzige Abkommen bet rifft die Renten-, Kranken- und Bundesregierung im Rahmen der Vereinten Nationen und der Europäischen Politischen Zusammenarbeit unternommen, um Unfallversicherung bei kürzerem und längerem Auf- wirksame Schutzmaßnahmen für die von der irakischen Solda- enthalt von Bürgern im jeweils anderen Land und löst teska verfolgten Kurden einzuleiten? 1418* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991

Welche konkreten Schritte hat die Bundesregierung bilateral 1991 vor dem Deutschen Bundestag über „Die Lage sowie über die Gremien des Europarates und der NATO einge- im Irak und die Situation der irakischen Flüchtlinge, leitet, um die Türkei aufzufordern, den vor den Brutalitäten der irakischen Soldateska fliehenden Kurden in der Türkei den hu- insbesondere der Kurden" an die Mitgliedsstaaten manitären Schutz und Beistand zu gewähren, wie dieses im Rah- des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen appelliert, men der „Wertegemeinschaft" des Europarates und der NATO diese Absicht zu unterstützen. notwendig und geboten ist? Die Türkei hat den irakisch-kurdischen Flüchtlin- gen von Anfang an substantielle humanitäre Hilfe Der Bundesminister des Auswärtigen hat in seinen gewährt. Schreiben vom 2./3. und 5. April 1991 die Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen Die Bundesregierung hat die türkische Regierung ersucht, am 4. April gebeten, die Grenze für die Flüchtlinge vollständig zu öffnen. Der Bundesminister des Aus- — den Irak zur Respektierung der Menschenrechte wärtigen hat außerdem unmittelbar Kontakt mit sei- auch gegenüber seinen eigenen Staatsangehöri- nem türkischen Amtskollegen aufgenommen und ihn gen, insbesondere der Rechte der kurdischen Min- gebeten, die Flüchtlinge in die Täler herabsteigen zu derheit, aufzufordern, lassen. Sie können die Höhenlagen nunmehr verlas- — sich für den uneingeschränkten Schutz der Min- sen. Wie bekannt ist, befinden sich derzeit bereits derheitenrechte in Irak einzusetzen, mehr als 500 000 irakische Flüchtlinge auf türkischem Boden. Bundesminister Genscher wird am 19. Ap ril — den Irak dringend aufzufordern, die Verfolgungs- 1991 zu einem Arbeitsbesuch in die Türkei reisen, maßnahmen gegen die kurdische Minderheit und u. a. um sich vor Ort ein eigenes Bild von der Situation andere Bevölkerungsteile sofort einzustellen und zu machen und mit der türkischen Regierung die ak- deren Rückkehr in ihre Wohngebiete unter Auf- tuellen Probleme zu besprechen. sicht von Beobachtern der Vereinten Nationen sicherzustellen. Die Bundesregierung hat im übrigen am 17. April 1991 beschlossen, zusätzlich zu den bereitgestellten Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat auf 29 Millionen DM weitere Finanzmittel in Höhe von seiner 2982. Sitzung am 5. Ap ril 1991 hierzu Resolu- 415 Millionen DM als humanitäre Soforthilfe, vor al- tion 688 (1991) verabschiedet. Den Anliegen der Bun- lem für die verfolgten Kurden, zur Verfügung zu stel- desregierung wurde Rechnung getragen. Der Irak len. wird vom Sicherheitsrat in dieser Resolution unter an- derem dazu aufgefordert, die Unterdrückung der ira- kischen Zivilbevölkerung, insbesondere in den kurdi- schen Siedlungsgebieten, sofort einzustellen. Aufgrund des Beschlusses der EG-Außenminister Anlage 5 vom 15. April 1991, der auf eine Initiative der Bundes- regierung zurückgeht, hat der amtierende EG-Rats- Antwort präsident, der Außenminister Luxemburgs, Jacques Poos, in einem Schreiben am 16. April an den Gene- der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die ralsekretär der Vereinten Nationen festgestellt, daß Frage des Abgeordneten Albrecht Müller (Pleiswei- die Brutalität der Verfolgung und das noch nie dage- ler) (SPD) (Drucksache 12/351 Frage 17): wesene Ausmaß der Flüchtlingswelle von uns erfor- Wie weit sind die Verhandlungen über die Korrektur von dern, es bei der Verurteilung des irakischen Regimes Truppenstatut und Zusatzabkommen, die im Zusammenhang nicht bei Erklärungen zu belassen. mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag notwendig sind und die zum Beispiel die Gleichbehandlung der deutschen Zivilbeschäftig- Der Ratspräsident ersuchte den Generalsekretär in ten bei den alliierten Streitkräften mit den Beschäftigten bei der Bundeswehr herstellen sollen? seinem Schreiben, die Frage der persönlichen Verant- wortung der irakischen Führung insbesondere im Hinblick auf die' Konvention gegen Völkermord und Die von der Bundesregierung beabsichtigten Re- die Möglichkeit, die Verantwortlichen vor ein interna- visionsverhandlungen des Zusatzabkommens zum tionales Gericht zu stellen, zu überprüfen. NATO-Truppenstatut (ZA-NTS) sollen in Kürze ein- geleitet werden. Die Bundesregierung hat zur Vorbe- Der Europäische Rat hat zusätzlich bei seiner Son- reitung der Verhandlungen die Bundesländer um Mit- dersitzung am 8. April in Luxemburg vorgeschlagen, wirkung bei der Erarbeitung einer gemeinsamen Schutzzonen in Irak einzurichten, in denen die Men- deutschen Verhandlungsposition gebeten. Seit kur- schen vor Verfolgung sicher sind. Von hier aus könnte zem liegen die Stellungnahmen der Bundesländer sich dann die Rückkehr der geflüchteten Menschen in vollständig vor; damit können die deutschen Interes- ihre Siedlungsgebiete unter internationaler Aufsicht senschwerpunkte und Verhandlungsziele abschlie- vollziehen. ßend definiert werden, so daß der Antrag zur Über- Die Bundesregierung begrüßt die Absicht der Alli- prüfung des ZA-NTS nach Artikel 82 ZA-NTS gestellt ierten, in Übereinstimmung mit Resolution 688 (1991) werden kann. des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, im Nor- Im Rahmen der bevorstehenden Verhandlungen den des Iraks Lager einzurichten und den Schutz die- wird die Bundesregierung auch auf die Gleichbe- ser Lager militärisch zu sichern. handlung der bei den alliierten Streitkräften beschäf- Der Bundesminister des Auswärtigen hat im Namen tigten Arbeitnehmer mit den Beschäftigten der Bun- der Bundesregierung in der Erklärung am 17. April deswehr hinwirken. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 21. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. April 1991 1419*

Anlage 6 Zu Frage 47: Antwort Der Bundesregierung sind Überlegungen der Kali- industrie in den neuen Ländern bekannt, die Eignung von Kalibergwerken für eine Ablagerung von Abfäl- des Parl. Staatssekretärs Bernd Schmidbauer auf die len zu prüfen. Ihr ist nicht bekannt, ob und inwieweit Fragen des Abgeordneten Dr. Eberhard Brecht (SPD) die Pläne für den Standort Bernburg weite rverfolgt (Drucksache 12/351 Fragen 47 und 48): werden.

Sind der Bundesregierung Pläne bekannt, in den Kali-Stollen Zu Frage 48: bei Bernburg/Sachsen-Anhalt eine Untertagdeponie einzurich- Die Entscheidung der Standorte für Abfallentsor- ten? gungsanlagen, auch für Untertagedeponien, ist aus- schließlich von Landesbehörden zu treffen. Die Bun- Welche Standorte kommen nach Auffassung der Bundes- desregierung hat hierbei keine Zuständigkeiten; sie regierung für die von ihr im „Aktionsprogramm Ökologischer hat im übrigen keine belastbaren Informationen über Aufbau" des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit für erforderlich gehaltenen zwei bis drei die Eignung von Grubenräumen für die Errichtung Untertagdeponien in Frage? von Untertagedeponien.