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Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 29. April 2002 Betr.: Titel, Le Pen, Witt m Schwurgerichtssaal des Erfurter Landgerichts fand vergangenen Freitag die Ver- Ihandlung gegen eine junge Frau statt, die im Dezember 2000 als 18-Jährige ihre ehe- malige Schule angezündet hatte. Zu Schaden war damals niemand gekommen, doch alle Welt fragt sich, was die Schülerin zu ihrer Tat getrieben haben könnte. SPIEGEL- Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen saß mit im Verhandlungsraum, als sich plötz- lich eine Nachricht verbreitete: „Ein Abiturient hat am Gutenberg-Gymnasium einen Lehrer erschossen“, hieß es zunächst. Es sollte noch viel schlimmer kommen. „Der Gerichtssaal war voller Schüler und Pädagogen, die an dem Gymnasium Freunde hat- ten“, sagt Friedrichsen, „fassungslos und weinend hörten sie immer neue fürchterliche Informationen.“ Als um 15.35 Uhr feststand, dass ein 19-jähriger ehemaliger Schüler 17 Menschen und sich selbst getötet hat, änderte der SPIEGEL seine Titelplanung. Bis dahin war vorgesehen, die Geschichte über den Ein-Mann-Wahlkampf Gerhard Schrö- ders (Seite 24) auf den Titel zu heben. Nun ist es der Amoklauf von Erfurt (Seite 80).

inen vor Zuversicht berstenden Efranzösischen Präsidentschaftskan- didaten traf SPIEGEL-Redakteur Ro- main Leick, 52, vergangenen Freitag in Paris. Im Sender TV 5 befragte Leick gemeinsam mit einem englischen Kol- legen und einer französischen Journa- listin den Rechtsaußen-Politiker Jean- Marie Le Pen, 73, der es zur Über-

raschung aller – und zum Entsetzen / AFP JEAN-PIERRE MULLER vieler – in die Endrunde der Präsident- Leick (l.), Le Pen (r.) im französischen TV 5 schaftswahl geschafft hat. Nun tritt er gegen Amtsinhaber Jacques Chirac, 69, an und rechnet sich Chancen aus: „Ich will 51 Prozent.“ Gegenwärtig gibt Le Pen schon den Staatsmann – jovial, humorvoll und „mit lächelnder Selbstgewissheit“, so Leick: „Rassistische oder antisemitische Ausfälle, die ihn früher so oft vor Gericht gebracht haben, verkneift er sich derzeit.“ Dem SPIE- GEL-Korrespondenten gab Le Pen noch eine Prognose für die Bundestagswahl im Sep- tember mit auf den Weg: „Der Schröder wird bei euch auch abgewählt“ (Seite 136).

leich sechsmal traf SPIEGEL-Reporter Alexan- Gder Osang, 39, in den vergangenen Wochen die Eiskunstläuferin Katarina Witt, 36, während der Re- vue-Tournee „Stars on Ice“ durch die USA. Osang redete mit ihr in den freien Stunden zwischen den Auftritten, im Flugzeug und im Tourbus, über die 1354 Seiten starke Stasi-Akte des einstigen DDR- Weltstars, von der die Birthler-Behörde Teile veröf- fentlichen will. Er erfuhr, wie Witt bespitzelt und befördert wurde, aber auch, wie schwer es ist, ihre Begünstigungen aus heutiger Sicht zu bewerten. Dass die Akten die Wirklichkeit manchmal falsch darstel- len, belegt der Stasi-Bericht über ein Konzert des

HARALD T. SCHREIBER, NY T. HARALD kanadischen Rockmusikers Bryan Adams 1988 in Witt, Osang Ost-Berlin, bei dem Katarina Witt als Moderatorin auftrat. Die Pfiffe für den DDR-Star erklärten sich die Leute von der Staatssicherheit damit, dass sie kein FDJ-Hemd getragen habe. „In Wahrheit“, sagt Osang, gebürtiger Ost-Berliner und damals im Publikum, „wurde sie wohl ausgepfiffen, weil sie den Staat repräsentierte“ (Seite 68).

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 18/2002 5 Werbeseite

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Werbeseite InIn diesem diesem Heft Heft

Titel Der Amoklauf von Erfurt ...... 80 Der Prozess gegen eine junge Frau in Erfurt, die als Schülerin ihr Gymnasium anzündete ...... 86 SPD-Wahlkampf als One-Man-Show Seiten 24, 34 Der Psychologe Georg Pieper über die Das Debakel von Sachsen-Anhalt hat die SPD verunsichert. Weil die Regierungs- Folgen des Blutbades am Gutenberg-Gymnasium bilanz durchwachsen ist, will Kanzler Schröder im Bundestagswahlkampf vor allem für Lehrer und Schüler ...... 90 auf einen Mann setzen – sich selbst. Herausforderer Edmund Stoiber im SPIEGEL- Gespräch: „Die ideologischen Debatten spielen heute keine Rolle mehr.“ Deutschland Panorama: Gentest auf Rezept? / Unionsstreit um Bahnreform / Krebsrisiko Kartoffelchips ...... 19 Wahlkampf: Wie Kanzler Schröder sein Amt im Duell gegen den Unionskandidaten Stoiber verteidigen will ...... 24 Die FDP sucht den Erfolg als Spaßpartei ...... 28 Das brüchige rot-grüne Bündnis in NRW ...... 30 SPIEGEL-Gespräch mit Edmund Stoiber über seine Strategie für die Bundestagswahl ...... 34 Ulrich Pfeiffer über die Zynismus-Falle ...... 40 Wahlbeteiligung: Nichtwähler sind vielerorts schon die stärkste politische Kraft ...... 44 Bush-Besuch: Rot-rotes Gerangel in Berlin über den Empfang des US-Präsidenten ...... 52 Außenpolitik: Heikle Waffenexporte nach Israel ...... 54 Grüne: Freiburg könnte als erste deutsche Großstadt einen grünen OB bekommen ...... 56 Kriminalität: Suche nach einem UNGER MARC-STEFFEN verschwundenen Bürgermeister ...... 58 Kanzler Schröder Kirche: Die Geheimniskrämerei um pädophile Priester ...... 62 Interview mit dem Therapeuten Wunibald Müller ... 63 Terroristen: Deutsche Islamisten-Zelle soll Anschläge geplant haben ...... 94 Dschihad in Deutschland Seite 94 Gesellschaft Nach monatelangen Ermittlungen wurden Szene: Studie über falsche Vatergefühle / vergangene Woche neun Islamisten verhaf- Computeranimationen an US-Gerichten ...... 65 tet, die Terroranschläge in Deutschland ge- Karrieren: Die Stasi-Akte plant haben sollen. Der Auftrag kam offen- der Eiskunstläuferin Katarina Witt ...... 68 Ortstermin: Ein Berliner Kongress bar von einem Bin-Laden-Getreuen, der diskutiert Frauenpolitik und Umweltschutz ...... 76 inzwischen in Iran untergetaucht ist.

Wirtschaft Verhafteter Islamist ARMIN THIEMER Trends: Umbaupläne der Deutschen Bank / Lkw-Maut unter Beschuss ...... 101 Gehälter: Wie Top-Manager auch in Krisenzeiten versuchen, sich ihre Millionen-Pfründen zu sichern ...... 104 Der ThyssenKrupp-Aufsichtsratschef Verdienen die Konzernchefs zu viel? Seite 104 Gerhard Cromme über die Transparenz Der drohende Streik in der Metallindustrie hat die Diskussion über die astronomisch von Managergehältern ...... 108 Banken: SPIEGEL-Gespräch mit gestiegenen Vorstandsbezüge neu entfacht. Verdienen die Bosse wirklich, was sie HypoVereinsbank-Chef Albrecht Schmidt über verdienen? Oder herrscht in den Chefetagen eine Mentalität der Selbstbedienung? das Versagen der Banken bei der Kirch-Pleite ..... 112 Fernsehen: Das Laientheater um die Fußball-Übertragungsrechte ...... 114 Affären: Die Wirtschaftsprüfer von KPMG im Sog ihrer Bilanzpannen ...... 118 Unternehmen: Still und heimlich eroberte Die Akte Witt Seite 68 Gericom den PC-Markt ...... 120 Logistik: Die Deutsche Post will in China In den USA ist die Eiskunstläuferin Milliarden investieren ...... 122 Katarina Witt ein Star, in Deutschland Karrieren: Florian Gersters Kampf gegen die wartet die Vergangenheit: Die Birthler- Betonfraktion der Bundesanstalt für Arbeit ...... 124 Behörde will Teile ihrer Stasi-Akte ver- öffentlichen, in denen sie als Begüns- Ausland tigte erscheint. Die Akte dokumentiert Panorama: Euro-Truppe in Gefahr / aber auch den Umgang der DDR mit Peking baut Einfluss in Hongkong aus ...... 131 einem Weltstar, den man auf keinen Frankreich: Stichwahl zwischen rechts und Fall an den Westen verlieren wollte. ganz rechts ...... 134 Interview mit dem Präsidentschaftskandidaten Jean-Marie Le Pen über Witt seinen Kampf gegen Europa ...... 136 WOLFGANG WILDE WOLFGANG 8 Nahost: Palästinenser-Staat in Trümmern ...... 138 Drei Schüler suchten den Tod ...... 139 Israel: Interview mit dem israelischen Verteidigungsminister Benjamin Ben-Elieser über einen möglichen Bruch mit Scharon ...... 141 USA: Die mörderischen V-Männer des FBI ...... 146 Indonesien: Abrechnung mit Suhartos Günstlingen ...... 150

Sport Autorennen: Der Sohn des im Rennwagen tödlich verunglückten Manfred Winkelhock will in die Formel 1 ...... 154 Fußball: Interview mit dem Leverkusener Trainer Klaus Toppmöller über Psychotricks, Karriereziele und die Chancen in der Champions League ...... 158

Wissenschaft · Technik Prisma: Rieseneisberg führt zum Pinguinsterben / Gefahren des täglichen Alkoholkonsums unterschätzt ...... 163 Gesundheit: Der Internet-Handel mit JENS-ULRICH KOCH / DDP KOCH JENS-ULRICH Medikamenten boomt ...... 166 Täter Steinhäuser, Bergung eines Opfers in Erfurt Lebensmittel: Wie viel Panscherei beim Wein ist erlaubt? ...... 170 Geschichte: Ursprung des Seite 80 Schachspiels enträtselt ...... 172 Blutbad in der Schule Raumfahrt: Abenteurer üben für die Ein Massaker nach US-Vorbild: Im Erfurter Gutenberg- Besiedlung des Mars ...... 174 Gymnasium starben beim Amoklauf des schwer bewaff- Tiere: Wie kranke Affen, Vögel und neten Ex-Schülers Robert Steinhäuser 17 Menschen. Der Elefanten sich selber heilen ...... 178 Einzelgänger lebte in einer Welt aus Waffen, Heavy-Me- Kultur THÜRINGER ALLGEMEINE tal-Musik und brutalen Computerspielen. Szene: Kunstschau „Wasser & Mensch“ in Chemnitz / Filmfestival in Cannes verschmäht deutsches Kino...... 185 Filmgeschäft: Der Kampf um Martin Scorseses Monumentalwerk Generalprobe für „Gangs of New York“...... 188 Kino: Der US-Krimi „In the Bedroom“ ...... 192 den Mars Seite 174 Pop: Newcomer-Star Norah Jones ...... 196 Autoren: Jana Simons Tatsachenbericht über In der Wüste von Utah trainie- den Absturz eines jungen Ostdeutschen ...... 198 ren Forscher der privaten Mars Bestseller ...... 199 Society für einen bemannten Kulturgeschichte: Thomas Mann und Theodor W. Adorno – das Nicht-Verhältnis Flug zum Roten Planeten. Mit zweier großer Geister ...... 202 selbst gebauten Raumanzügen Dichter: Gottfried Benns Briefe erkunden die Abenteurer das an Astrid Claes ...... 204 Terrain – und fühlen sich dabei Theater: Das Flughafendrama „Letzter als Pioniere auf dem Weg zur Aufruf“ in Wien ...... 206 fernen Welt. Briefe...... 10 Impressum, Leserservice...... 212

GEORGE FREY Exkursion der Mars Society Chronik...... 213 Register...... 214 Personalien...... 216 Hohlspiegel/Rückspiegel...... 218 TITELBILD: Foto Uwe Zucchi/dpa Die Apotheke der Tiere Seite 178 Hasen schützen sich mit Heilkräutern vor Parasiten, Gorillas kauen Baumrin- Englische Patientin de gegen Durchfall, Papageien kurie- Die tragische Geschichte der ren Vergiftungen mit Lehm: Pharmafor- Autorin Iris Murdoch, gespielt scher enträtseln die Apotheke der Tiere von Kate Winslet. Außerdem – um so neue Arzneien für Menschen zu im KulturSPIEGEL, dem Ma- finden. gazin für Abonnenten: der Erfolg des DJs Rainer Trüby;

Aras beim Picken von Lehm / WILDLIFE D. TIPLING die Sehnsucht nach Helden.

der spiegel 18/2002 9 Briefe

Wenn Sie unter anderem „Das antike China war seiner Zeit offenbar weit voraus: feststellen, dass der ers- te Kaiser Chinas – Qin 2200 Jahre bevor Brüssel den Krümmungsgrad von Gurken Shihuangdi – mit 22 Jah- standardisierte, hatte der Qin-Kaiser bereits einheitliche ren den Liebhaber sei- Straßenbreite und genormten Pferdewagenradstand in seinem ner Mutter tötete und seine politischen Gegner Reich durchgesetzt. Dieses hat alle antiken Staatengebilde lebendig begrub, sollte überdauert. Menschenrechte bedeuteten damals nichts, im nicht unerwähnt blei- ben, dass der Schöpfer heutigen China nicht viel. Überlebt das Modell Ameisenstaat des europäischen Chris- womöglich immer den Wohlfahrtsstaat?“ tentums – Kaiser Kon- stantin der Große – sei- Edouard Schoetter aus Ottweiler im Saarland zum Titel „China – Supermacht der Antike“ nen Sohn Crispus er- SPIEGEL-Titel 16/2002 mordete, seine zweite Frau erstickte, seinen 11- jährigen Neffen und sei- Nachdem ich wiederholt mehrere Monate nen Schwager umbringen ließ. Wie Kon- Mehr als ein Absatzmarkt zum Studium in China war, musste auch stantin mit seinen politischen Gegnern um- Nr. 16/2002, Titel: China – Supermacht der Antike – ich lernen, bestimmte Dinge differenzierter ging (circa 550 Jahre nach Qin Shihuangdi), Archäologen öffnen die Kaisergräber im Reich der Mitte zu betrachten und nicht alles mit unseren sollten wir hier nicht im Einzelnen erör- westeuropäischen Maßstäben zu messen. tern. Der Kaiser, der sich erst auf dem Ster- Zur Zeit der „Kulturrevolution“ wurde die China ist nicht nur ein Absatzmarkt, und bebett taufen ließ, wurde für seinen Brutalität des ersten Kaisers von China im wir werden den Chinesen ganz sicher kei- „christlichen Lebenswandel“ von der pa- Umgang mit Feinden in Texten glorifiziert, nen neuen Segen bringen, indem wir an- pistischen Kirche in den Kanon der Heili- die mit Zitaten zweier deutscher Theoreti- gebliche Patentrezepte für Fortschrittlich- gen aufgenommen. ker (Marx/Engels) über den Klassenkampf keit liefern. Angesichts unserer Maßstäbe, Bremen Horst Hamacher gespickt waren und nicht einem „völlig anderen Als einer der wenigen Sinologen in kulturellen Kurs“ ent- Deutschland, der sich seit Jahrzehnten in- sprangen. Gegenstand tensiv mit der chinesischen Archäologie der Bewunderung waren und der Geschichte der chinesischen Na- selbst unter Mao nicht turwissenschaften und Technologie befasst, bloß „Brutalität, Härte, begrüße ich Ihren Artikel ausdrücklich. Zwang“ des ersten Kai- Obgleich ich ein archäologisches Projekt sers von China, sondern zu Gräbern der Oberschicht der Song-Zeit vor allem auch des- (960 bis 1279) mit großem Erfolg und welt- sen geschickte, für die weitem Echo mit vier Mitarbeitern zwi- Reichseinigung wichti- schen 1990 und 1993 – nach langen eigenen ge Umsetzung eines Vorarbeiten in China – durchgeführt und in außenpolitischen Strate- acht Bänden publiziert habe, konnte sich gems (siehe „Stratege- die DFG aus Kostengründen nicht da- me“. Band 2, München zu durchringen, das gut begründete Ab- 2000, Strategem Nr. 23: schlussprojekt, in dem die Kaisergräber der

„Sich mit dem fernen / VISUM JÖRG MÜLLER Song-Zeit aufgearbeitet werden sollten, zu Feind verbünden, um Tönerne Armee aus Xian: Gegenstand der Bewunderung genehmigen. Die DFG und ihre sinologi- den nahen Feind anzu- schen Gutachter, die sich angeblich so viel greifen“). Übrigens war der Einzelne oft die leider weit von Kant und Nietzsche ab- von der Archäologie versprechen, teilen bloß scheinbar „nur ein Ton im Klang der gerückt sind und sich nun hauptsächlich unsere Einsicht in historische Zusammen- großen Harmonie“, um im Verborgenen an der Börse bewegen, finde ich es wich- hänge, die aus interdisziplinärer Forschung listig seine eigenen Wege zu gehen. Davon tig, sich über andere Denkansätze zu in- erwachsen, und unsere gemeinsame Be- zeugt eine Flut fiktiver und wahrer List- formieren. Nicht alles ist gut und lobens- geisterung für die Erforschung und Dar- anekdoten aus dem alten China. wert, weder in Asien noch in Europa, den- stellung des alten China, ohne dessen Ver- Freiburg i. Brsg. Dr. Harro von Senger noch sollte man einer anderen Kultur mit ständnis das gegenwärtige kaum zu ver- genügend Respekt begegnen. stehen ist, leider nicht. Danke für Ihre Titelgeschichte, über de- Halle (Saale) Claudia Berg Würzburg Professor Dr. Dieter Kuhn ren Erscheinen ich mich gefreut habe. Sie bewirkt in umfassenderer Weise etwas, worin ich mich seit einigen Monaten ver- Vor 50 Jahren der spiegel vom 30. April 1952 suche: Das Näherbringen und Wiederbe- Plan zur Aufstellung deutscher Truppen für die Europäische Verteidi- leben der alten chinesischen Welt. gungsgemeinschaft American Way of Life. England bietet Deutsch- Wien Diana Ehrenwerth land beschlagnahmte Docks zum Kauf an Rückfall in die Siegermen- talität. Rückschläge für die Textilindustrie Die Konsumenten entschei- Wieder einmal mehr wird anhand eines den. Boxkampf im Fernsehen Abhängig vom guten Willen der Veran- stalter. Frankreichs Kommunistische Partei fordert Picasso zu Realis- solchen Artikels, der zum Verständnis ei- mus auf Der Pinsel als Kampfinstrument. ner großartigen Kultur beitragen könnte, Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de deutlich, mit welcher Arroganz und Ober- oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben. flächlichkeit mancher Europäer die Ge- Titel: Regierungschef Dr. Kwame Nkrumah schichte und Philosophie Asiens beurteilt.

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wortung deutlich verbessert werden. Vor Zur Schonung der Eltern? allem müssen die Opfer von Kriminalität Nr. 16/2002, Gewaltopfer: Warum der Schauspieler und Gewalt darüber in Kenntnis gesetzt Günter Lamprecht und seine Freundin noch werden, wer ihnen hilft und wo sie Unter- immer unter der Wahnsinnstat eines Amokläufers leiden stützung bei der Bewältigung der Tatfolgen erhalten können. Mit einem kurzen Hin- Es war couragiert, völlig berechtigt und weis zum Beispiel auf das Info-Telefon der überfällig, dass Günter Lamprecht und bundesweiten Opferhilfsorganisation Wei- Claudia Amm durch alle Instanzen ver- ßer Ring (01803/34 34 34) wäre der ein- sucht haben, die Eltern des Amokschüt- drucksvolle Artikel noch besser gewesen. zen Martin P. zur Verantwortung zu zie- Mainz Helmut K. Rüster hen. Wenn unmündige Kinder Straftaten Weißer Ring e. V. begehen, gehören Eltern grundsätzlich mit auf die Anklagebank. Kinder sind nicht Der Artikel hat mich ob seiner Eindring- von Natur aus Mörder. Eltern glauben lichkeit sehr bewegt und zum Nachdenken (Leibeigenen-)Rechte zu haben, während veranlasst. Wer trägt Schuld daran, dass es ihre so genannten Elternrechte realiter Er- zu einem solchen Ereignis kommen muss- ziehungspflichten sind. Alle schauen weg, te? Der Junge selbst? Seine Eltern? Die solange Eltern Kinder „nur“ psychisch Gesellschaft? Ich weiß es nicht und bringe misshandeln oder vernachlässigen und kei- es nicht über mich, darüber zu urteilen. ne äußerlichen Verletzungen sichtbar wer- In einem bin ich jedoch sicher. Es liegt den. Günter Lamprecht und Claudia Amm nicht am Konsum des Videospiels „Resi- haben ein Tabu angerührt, das Tabu der el- dent Evil 2“, sondern an der Disposition terlichen Übergriffe gegen Kinder. Und Jut- des Einzelnen zur Gewaltanwendung. Ich ta Limbach hat als eine ihrer letzten Amts- selbst spiele seit 20 Jahren am Computer handlungen dafür gesorgt, dass das Thema und habe schon einiges gesehen. Psycho- unter der Decke bleibt und Staatsanwälte pathische Tendenzen konnte ich bei mir und Richter sich auch weiterhin nicht zu bisher nicht feststellen. Gleiches gilt für trauen brauchen, einen Blick in die Kin- Freunde und Bekannte. Videospiele sind derzimmer dieser Nation zu werfen. Göttingen Gloria Dohm

Leider wird in dem Artikel wieder der Blödsinn verbreitet, Computerspiele seien schuld daran, dass Kinder zu Mördern wür- den. Dabei ist längst erwiesen, dass diese Spiele die Gewaltbereitschaft nicht verur- sachen, sondern sie höchstens auslösen. Bei solchen Amoktaten handelt es sich um eine Abspaltung von Aggressionen, ein Vorgang, der zumeist schon in der frühen Kindheit stattfindet. Das heißt, Aggressio- nen, die durch das Verhalten der Eltern ausgelöst werden, aber nicht gegen sie ge- richtet und daher auch nicht erlebt werden

können aus Angst vor den Konsequenzen, JUNG / LAIF MATTHIAS bleiben weiterhin wirksam und richten sich Gewaltopfer Amm, Lamprecht später stellvertretend gegen andere. Sie Ringen um Rückkehr ins normale Leben werden von den ursprünglichen Bezugs- personen „abgespalten“ und auf unschul- ein fester Bestandteil der heutigen Kultur dige Menschen umgelenkt. Der Auslöser und werden vor allem von denjenigen ver- dafür kann alles Mögliche sein. Dieser un- teufelt, die nichts davon verstehen. Wer zu ter Psychologen längst bekannte Zusam- alt ist, um sich mit dem Medium Video- menhang wird leider auch in der seriösen spiele auseinander zu setzen und meinen Presse weitgehend tabuisiert, um die Eltern Standpunkt zu verstehen, der frage sich zu schonen. nur einmal, was die eigenen Eltern zum Berlin Helge Tantzscher Anhören von Rock’n’Roll-Musik meinten. Sprockhövel (Nrdrh.-Westf.) Kim Lima Es geschieht selten genug, dass die Situa- tion von Gewaltopfern nach der Tat und ihr Ringen um die Rückkehr in das „normale Opfer im doppelten Sinne Leben“ so ausführlich dokumentiert wird. Nr. 16/2002, Medizin: Viele der Jahr für Jahr mehr als 200000 Musterprozess um das Schleudertrauma „namenlosen“ Gewaltopfer dürften ähnli- che Empfindungen wie Günter Lamprecht Wenn als letzter Sachverständiger in dem und Claudia Amm kennen. Nicht nur die beschriebenen Prozess der Orthopädie- Täter haben einen Anspruch auf „Wieder- Professor Herbert Zenker gehört werden eingliederung“, auch und gerade für die soll und dieser von keinem „objektivier- Opfer muss die Praxis humaner Verant- baren Anfangsbefund“ ausgeht, mag das

14 der spiegel 18/2002 TORSTEN NEERFELD / KEYSTONE NEERFELD TORSTEN Auto nach einem TÜV-Crashtest Uneinigkeit seit Jahrzehnten nicht verwundern. Herr Zenker gehört der so genannten Münchner Schule an. Die dieser Schule angehörenden Gutachter werden immer wieder von Versicherern und Berufsgenossenschaften vorgeschla- gen und beauftragt. Die Gutachten fallen statistisch auffallend vorteilhaft für die Ver- sicherungen aus. Der Verkehrssenat des OLG München lehnt es deshalb auch ab, Gutachter, die dieser Gruppe angehören, noch zu beauftragen. Burgdorf (Nieders.) Doris Lenkeit

Mehr als drei Jahre kämpfe ich als Betrof- fener gegen die HUK-Coburg Versicherung. Die Schwierigkeit ist bei HWS-Betroffenen, dass Ärzte, sobald sie hören, dass es sich um ein Schleudertrauma handelt, sofort ab- blocken und nicht bereit sind, ein schrift- liches Attest zu erstellen. Nach meiner Un- tersuchung, die durch einen Assistenten durchgeführt wurde, kam der Professor mit den Worten ins Zimmer: „95 Prozent aller HWS-Kranken sind gesund, also auch Sie. Freuen Sie sich!“ Er hatte weder vorher mit dem Assistenten gesprochen noch ein Röntgenbild angesehen. Dies war eine „ge- richtlich angeordnete“ Sachverständigen- untersuchung. Das Gutachten lässt seit sechs Monaten auf sich warten. Dies alles ist symptomatisch dafür, wie Versicherungen mit Betroffenen umgehen. In Deutschland sind die Opfer billig. Köln Peter Mejskiw

Sie fragen: „Was ist eigentlich ein Schleu- dertrauma?“ Seit Jahrzehnten können wir uns nicht einigen, und die zehn Prozent wirklich Geschädigten bleiben im doppel- ten Sinne Opfer. Weder können Ingenieu- re und Biomechaniker mit ihren Analysen überzeugen, noch sind sich die Therapeu- ten und die so genannten Sachverständigen einig. Sind Hirnstrukturen und Nerven primär gezerrt, oder ist’s die Instabilität durch Bänderverletzung, die verspätet und immer wieder zu neuen Schädigungen führt? Aus der Praxis weiß ich sicher: Es gibt ganz wenige typisch gefäßbedingte Störungen, Bilder, wie sie in jedem Lehr- buch beschrieben sind. Das wollen heute viele Experten nicht mehr akzeptieren. Und so stimme ich Ihnen zu: Arme Rich- ter, die sich hier zurechtfinden sollen. Und natürlich: arme Unfallopfer. München Dr. Peter Sautier der spiegel 18/2002 15 Briefe

annähernd bewusst, welches diese Gene- Auf dem vorletzten Loch? ration vor gar nicht allzu langer Zeit erlei- Nr. 13 bis 16/2002 SPIEGEL-Serie über die Vertreibung den musste. Ich wünsche mir und meiner der Deutschen aus dem Osten Generation, niemals irgendeinem Größen- wahn zum Opfer zu fallen. Hier nicht und Ihre hoch verdienstvolle Serie verdeutlicht nirgendwo auf der Welt. für mich wieder einmal, welchen funda- Grossbardau (Sachsen) Thomas Falke mentalen Fehler die deutsche Politik be- ging, als sie die unerledigten ethisch-mo- Sosehr ich es für gerechtfertigt halte, alte ralischen Aspekte der Vertreibung der und neue Erkenntnisse zu diesem Thema Deutschen im Prozess der Wiedervereini- unters Volk zu bringen, sosehr würde ich

gung nicht ernsthaft anzusprechen wagte. es doch für angemessen halten, nicht nur NIEDRINGHAUS / DPA ANJA Die Gründe dafür sind bekannt, und die der Vertreibung der Deutschen Tribut zu Deutsche Soldaten in Afghanistan Verantwortung teilen sich viele. Kaum die zollen, sondern auch der Millionen Ver- Hilfe ohne Unterschied Rede dagegen ist bisher von den hohen triebenen anderer Länder während oder „inneren Kosten“, welche diese Verleug- in Folge des Zweiten Weltkrieges zu ge- der deutschen Bundesregierung, zum Bei- nung bedeutet: Wir zahlen dafür mit denken. Wie der SPIEGEL selbst feststell- spiel hinsichtlich eines Friedenseinsatzes: schweren Einbußen an historischer Orien- te, war nur jeder vierte Vertriebene in dem Es sollte keinen Unterschied bedeuten, ob tiertheit, öffentlicher Urteilsfreiheit und durch die Deutschen verursachten Krieg Menschen auf dem Balkan, in Afghanistan, kollektivem Selbstvertrauen. Alle diese ein Deutscher. Um diese Relationen nicht in Israel oder Palästina durch militärische Faktoren aber tragen erheblich dazu bei, verschwimmen und keine einseitigen Präsenz Dritter geholfen wird. dass die Deutschen nach der Wiederverei- Opferzuschreibungen entstehen zu lassen, Bremen Benjamin Gunnar Cohrs nigung – intellektuell, emotional, demo- hätte ich mir als integralen Bestandteil grafisch – zunehmend auf dem jedenfalls der Serie auch die Vertreibung von West- Selbstverständlich hat sachliche Kritik an aktuellen politischen Entscheidungen der israelischen Regierung nicht automatisch einen antisemitischen Hintergrund. Ge- nauso wenig entspringt eine solche Kritik, wie Botschafter Stein andeutet, einem Ver- gessen um die Geschichte dieses Landes, ganz im Gegenteil. Was gibt es Unver- zichtbareres, als dass Freunde Freunde kri- tisieren? Berlin Anka Schulz

Unsägliche Kampagne Nr. 16/2002, Medien Trends: Ist der Fall Borer ein Fall Ringier? VINZENZ ENGEL / BPK Ostpreußische Flüchtlinge auf dem Frischen Haff: Opfer des Größenwahns Weder im Zürcher Lokalfernsehen, noch an anderem Ort habe ich je suggeriert, die vorletzten Loch zu pfeifen scheinen. Hof- polen, die seit 1939 aus ihren Häusern ge- Kampagne des Hauses Ringier gegen mei- fen wir, dass Ihre Serie hier tatsächlich eine worfen wurden, um den deutschen Neuan- ne Person hätte etwas mit „im Hintergrund beginnende Veränderung mit anzeigt. siedlern „Lebensraum“ zu verschaffen, ge- wirkenden Mächten“ irgendwelcher Art zu Großhansdorf Andreas Gizewski wünscht. tun, wie es Jürg Lehmann, Chefredakteur Berlin Tanja Dückers der Boulevardzeitung „Blick“, in Ihrem In- Ich finde es wichtig, dass wir Deutschen terview behauptet. Ich weise darauf hin, uns nun auch diesem Kapitel unserer Ge- Die Serie erscheint – mit zusätzlichen dass ich für meine Tätigkeit im Rahmen schichte zuwenden und dass dies sachlich Beiträgen und Reportagen – am 18. Juni der Auseinandersetzung „Schweiz – Zwei- und immer unter dem Gesichtspunkt un- als SPIEGEL special. ter Weltkrieg“ gerade auch von Seiten jü- serer eigenen Verantwortung geschieht. discher Organisationen sehr viel Lob und Trotzdem vermisse ich, dass Sie auch von Wohlwollen erfahren durfte. Die unsägli- Fällen wie dem Alexander L. Czoppelts Unverzichtbare Kritik che Kampagne des Verlagshauses Ringier (Leserbriefe SPIEGEL 15/2002) berichten, Nr. 16/2002, Außenpolitik: Die Deutschen ändern hat meiner Familie und mir bereits viel in denen polnische Bauern trotz allem sich ihr Verhältnis zu Israel; Interview mit dem Botschafter schmerzhaftes Leid und Unrecht zugefügt. ihre Menschlichkeit bewahrten und deut- Schimon Stein über deutsch-israelische Irritationen Berlin Dr. Thomas Borer-Fielding schen Flüchtlingen halfen. Unterlässt man die Erwähnung solcher Ausnahmen, kommt Die apokalyptischen Bilder jener Zer- Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. es schnell zu Pauschalisierungen, wie ich sie störung, die israelische Panzer über die Die E-Mail-Adresse lautet: [email protected] auch gegenüber den Deutschen immer ab- palästinensischen Siedlungen gebracht gelehnt habe. haben, sind ebenso erschütternd wie die Aachen René Röser-Buchkremer nicht weniger grauenvollen Bilder der Eine Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe enthält einen Sprengstoff-Attentate durch palästinensi- Postkartenbeikleber der Firma Templeton, Frankfurt. In ei- Ich wurde 1971 geboren. Dennoch hat mich sche Selbstmörder in Israel. Wer den Frie- ner Teilauflage dieser Ausgabe befinden sich Beilagen der Ihre Serie sehr bewegt. Was haben wir als den in dieser Region will, muss lernen, aus Firmen RM Buch und Medien, Rheda-Wiedenbrück, ama- Kinder die Augen verdreht, wenn die dem Teufelskreis gegenseitiger Schuldzu- zon.de, München, Aegon, Düsseldorf, Verlagsgruppe Han- delsblatt/WiWo, Düsseldorf, SPIEGEL Verlag/Abo, Ham- Großeltern mal wieder vom Krieg erzähl- weisungen auszubrechen. Jede produktive burg, sowie die Verlegerbeilage SPIEGEL Verlag/Kultur- ten. Erst jetzt wird einem das Elend Initiative ist hier willkommen – auch die SPIEGEL, Hamburg.

16 der spiegel 18/2002 Werbeseite

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Genanalyse am Computer

durch einen Arzt begleitet werden. Genetische Massen-Screenings wie in Estland oder Island, wo Wissen- schaftler die Erbgutdaten fast der gesamten Bevölkerung erfassen wol- len, sind nach Angaben von Spit- zenbeamten beider Ministerien nicht vorgesehen. Den Krankenkassen soll jedoch zu- gestanden werden, ihren Versicher- ten die Teilnahme an einer Reihen- untersuchung zum Beispiel auf die erbliche Eisenspeicherkrankheit (Hä- mochromatose) anzubieten. Zu ei- ner solchen Untersuchung hatte kürzlich bereits die Kaufmännische Krankenkasse Hannover aufgerufen, um eventuellen Spätschäden wie Herzschwäche oder Leberkrebs vor-

TEK IMAGE / SPL / AGENTUR FOCUS / SPL AGENTUR TEK IMAGE beugen zu können. In der SPD-

GESUNDHEIT SPD plant Gentests für Kassenpatienten uch Kassenpatienten sollen künftig die Möglichkeit haben, CHRISTIAN PLAMBECK / PHALANX CHRISTIAN Aihre Gene auf Krankheitsrisiken untersuchen zu lassen. Ge- MARCO-URBAN.DE sundheitsministerin Ulla Schmidt und Forschungsministerin Schmidt Bulmahn Edelgard Bulmahn (beide SPD) einigten sich auf die Eckpunk- te eines Gesetzes, das Gentests in Deutschland erlaubt. Dem Bundestagsfraktion, die das Gesetz in der nächsten Legisla- Papier zufolge soll jedoch niemand gezwungen werden, sich turperiode auf den Weg bringen soll, stößt der Plan allerdings einem solchen Check zu unterziehen. Für unerlässlich halten auf Kritik. Auch bündnis-grüne Abgeordnete wie die Gen- Schmidt und Bulmahn darüber hinaus, dass nur auf Krankhei- technik-Expertin Monika Knoche warnen davor, dass Ver- ten getestet werden darf, die „behandelbar oder vermeidbar“ sicherungen oder Arbeitgeber die bei Gentests gewonnenen sind. Jeder Test müsse von einer „umfassenden Beratung“ Erkenntnisse missbrauchen könnten.

AFFÄREN gewährte „Bittespende“. „Beides“, so Oberstaatsanwalt Alfons Grevener, Danke schön, bitte schön „ist strafbar.“ „So eine Spende gibt niemand ohne Grund“, sagt auch m Wuppertaler Korruptionsskandal SPD-Landeschef Harald Schartau: Ium Oberbürgermeister Hans Kremen- „Nach heutigem Stand würden wir dahl (SPD) wird eine Anklageerhebung das Geld nicht mehr annehmen, denn noch vor Ende Mai immer wahrschein- eine Spende in dieser Höhe schreibt licher. Hintergrund ist ein Revisionsbe- immer ihre eigene Geschichte.“ richt der Bundes-SPD, der vergangene Eine großzügige Gabe von Clees Woche anonym bei der Wuppertaler bringt derweil auch die Wuppertaler Staatsanwaltschaft einging. Der Bericht CDU in Bedrängnis. Die Union war

erhärtet in den Augen der Ermittler den FISCHERANDREAS ursprünglich gegen ein von dem Bau- Verdacht der Vorteilsnahme gegen Kre- Kremendahl, Clees (r.) unternehmer geplantes Einkaufszen- mendahl. Demnach war den Wupperta- trum („Factory-Outlet-Center“); ler Genossen von Anfang an klar, dass ausging. Die halbe Million Mark, die nachdem sie mindestens 100 000 Mark, die Firma des Bauunternehmers Uwe Clees der SPD zukommen ließ, folgern möglicherweise sogar 250 000 Mark er- Clees „auf Grund der bisherigen Erfah- die Ermittler, könnte sowohl eine „Dan- halten hatte, stimmte sie aber zu. Das rungen mit der Stadt von wohlwollender keschönspende“ gewesen sein als auch Projekt scheiterte dann an der Düssel- Behandlung“ bei weiteren Bauprojekten eine in Erwartung zukünftiger Vorteile dorfer Bezirksregierung.

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VERKEHR Neue Weichenstellung n der Union bricht ein Richtungsstreit über die geplante Zer- Ischlagung der Deutschen Bahn (DB) auf. Bislang hatten CDU und CSU gefordert, das Schienennetz aus dem DB-Konzern herauszulösen, um auf den Gleisen mehr Wettbewerb zu schaf- fen. Davon hat sich jetzt Kanzlerkandidat Edmund Stoiber (CSU) in einem Brief an DB-Chef Hartmut Mehdorn aus- drücklich distanziert. „Eine vollständige Trennung von Netz und Betrieb“, heißt es in dem Schreiben vom Montag vergan-

gener Woche, sei keineswegs die „unerlässliche Voraussetzung HANS-GUENTHER OED für eine optimale Vermarktung des Schienennet- zes“. Stattdessen schließt sich Stoiber den DB- freundlicheren Vorschlägen der von der Bundes- regierung berufenen so genannten Task-Force an, die lediglich eine stärkere Kontrolle des Ex-Mono- polisten vorsehen. Erst eine Woche zuvor hatte der verkehrspolitische Sprecher der Bundestagsfrak- tion, Dirk Fischer (CDU), auf einem Fachkongress seiner Partei ein gegenteiliges Konzept vorgestellt. Fischer fordert eine „konsequente Entflechtung“ von Netz und Betrieb und will die Schienen auf Bund, Länder und Kommunen übertragen. Auch Stoiber, Mehdorn, InterCity Express der

der stellvertretende Unionsfraktionschef Klaus Lip- OSSENBRINK FRANK Deutschen Bahn pold (CDU) erklärte, die Trennung sei „nach Über- zeugung der Union die entscheidende Voraussetzung für fairen sich Stoiber nun gegen sein eigenes Lager: „Ich habe kein In- Wettbewerb“ auf der Schiene. Wohl wegen der finanziellen Ri- teresse“, schreibt er an Mehdorn, „an der Neueröffnung dieser siken einer Bahn-Zerschlagung für den Bundeshaushalt stellt Diskussion im Bundestagswahlkampf.“

HAUPTSTADT NUKLEARINDUSTRIE Gemeinsame Wende Atommüll im Birkenwald nabhängig vom Ausgang der Bundestags- us dem Abbruch der ehemaligen Nuklearfabrik der Firma Siemens im Uwahl im September bahnt sich eine große Ahessischen Hanau landen plutoniumhaltige Abfälle auf einer Hausmüll- Koalition für den vollständigen Umzug des Ver- kippe im mittelschwedischen Ranstad. Die ungesicherte Deponie in einem teidigungsministeriums von Bonn nach Berlin Birkenwald liegt in der Nachbarschaft der mit dem Westinghouse-Konzern an. Ex-Ressortchef Volker Rühe (CDU) schlägt kooperierenden Uran-Aufarbeitungsanlage Ranstad Mineral, in der auch jetzt vor, das Ministe- Atomtechniker aus Syrien im „Wissenschaftsaustausch“ tätig sind. Offiziell rium „insgesamt nach wird dort das wiederverwertbare Uran aus der Hanauer Altanlage zurück- Berlin zu verlegen“. gewonnen; das schwedische Strahlenschutzinstitut stellte in Proben eine Über- Vor allem die große schreitung der zulässigen Grenzwerte um das Fünffache fest. Insgesamt seien Rüstungshauptabtei- „120 Tonnen ausländischer Nuklearabfall“ an Ranstad Mineral geliefert wor- lung solle dabei „in den, so das Institut, davon 40 Tonnen von Siemens. Nach einem Beschluss des erheblichem Umfang schwedischen Reichstags ist verkleinert“ werden. der Import von radioaktivem Damit erleichtert Abfall in das Land prinzipiell Rühe seinem Amts- verboten. „Wir liefern keine

ULRICH BAUMGARTEN / VARIO-PRESS / VARIO-PRESS BAUMGARTEN ULRICH nachfolger Rudolf radioaktive Abfälle, sondern Bonner Hardthöhe Scharping die Kehrt- werthaltige Reststoffe in das wende: Der SPD-Mi- Ausland“, sagt Helmut Ru- nister hatte stets gelobt, er wolle nicht der Erste par, Chef der Hanauer Nu- sein, der den Komplettumzug fordere. Intern klearanlage. In der offiziellen hat Scharping jedoch vorgesorgt: Nach Planun- Transportgenehmigung des gen seines Hauses soll das Mammutressort – Bundesamts für Strahlen- derzeit leisten über 2000 Leute in Bonn und 400 schutz sind die Hanauer in Berlin Ministerialdienst – auf insgesamt 1000 Lieferungen per Lkw und Mitarbeiter abspecken. Genau so viel Platz ha- Schiff nach Schweden als

ben die Bundeswehrplaner im Bendlerblock in „kontaminierte Reststoffe“ BILDERDIENST AP / ULLSTEIN Berlin-Tiergarten ohnehin vorbereitet. deklariert. Siemens-Atomfabrik in Hanau (2000)

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WETTBEWERB darstellt. Grund: Die Bank verzinst das Vermögen weit unter den marktüblichen WestLB vor Gericht Konditionen. Die EU hat die WestLB deshalb aufgefordert, den ihr gewährten er Europäische Gerichtshof hat sei- Vorteil – mittlerweile geht es um 1,4 Mil- Dnen bisher größten Prozess termi- liarden Euro – zurückzuzahlen. Sollte niert: Am 28. Mai findet die mündliche die Kommission obsiegen, hat die West- Verhandlung im Rechtsstreit zwischen LB ein Problem – bislang hat sie für die- der WestLB und den Wettbewerbshü- se drohende Rückzahlung nicht hinrei- tern der EU-Kommission statt. Die chend Vorsorge getroffen. Auch anderen Kommission hatte vor knapp drei Jahren Landesbanken droht Ungemach: Bay- entschieden, dass die Übertragung des ern, Berlin, Hamburg, Niedersachsen Wohnungsbauvermögens des Landes und Schleswig-Holstein haben ebenfalls Nordrhein-Westfalen im Wert von rund Vermögenswerte zu Vorzugskonditionen zwei Milliarden Euro an die landeseige- auf ihre Landesbanken übertragen, ins- ne WestLB eine unerlaubte Subvention gesamt mehr als 3,5 Milliarden Euro.

FUSSBALL einstweiliger Verfügung verbieten, die Produkte „Hanuta“ und „Duplo“ Kahns Schokoladenseite wie bisher mit den Sammelbildern deutscher Nationalspieler auszu- liver Kahn, 32, Kapitän der deut- liefern. Oschen Nationalkicker, macht dem Hintergrund ist Kahns privater Exklu- Deutschen Fußball-Bund (DFB) wegen siv-Vertrag mit der Konkurrenz: Der eines Streits um Schokoriegel Ärger. Keeper beißt in TV-Spots in „Lion“, Der Torwart von Bayern München den Riegel von Nestlé. Der DFB zeigt ließ dem DFB-Sponsor Ferrero per sich vom Widerstand seines Vorzeige- profis gegen den langjährigen Naschwerk-Partner irritiert: Die Vereinbarung mit dem prominenten Mitglied des so genannten DFB-Ernährungs- pools sei „in der festen Über- zeugung“ getroffen worden, dass jeder Spieler zugestimmt habe, beteuert Sprecher Harald Stenger. Der Star-Tor- hüter aus München bean- standet dagegen eine „Fokus- sierung auf seine Person“, wie Kahn-Berater Ludwig Karstens erklärt: Mit seinem

ANDREAS RENTZ / BONGARTS ANDREAS Konterfei werde etwa auf der Kahn Verpackung geworben.

ERMITTLER Steuerfahnder gegen Terroristen ur Bekämpfung der Geldwäsche saßen. Doch „jetzt wollen wir auch Zund der internationalen Terro- wissen, wo das Geld bleibt“, so ein rismus-Netzwerke richten derzeit niedersächsischer Ermittler. Größtes mehrere Bundesländer eigene Spezial- Problem der Sondertruppe ist die einheiten innerhalb ihrer Steuer- Abstimmung zwischen den Ländern fahndungen ein. In Bayern, Nordrhein- und dem Bund. So sollte zunächst Westfalen und Niedersachsen sollen unter Federführung des Bundes eine jeweils 50 erfahrene Steuerfahnder gemeinsame Spezialeinheit aus Steuer- Geldströme und verdächtige Konten- fahndern aller 16 Bundesländer ge- bewegungen überprüfen. Bisher kon- bildet werden – der Plan scheiterte zentrierte sich der Fiskus auf die Erhe- jedoch, weil die Länder keine Kompe- bung der Steuern und kümmerte sich tenzen abgeben wollten. Daher wird nur ausnahmsweise um die Adressaten die Task-Force erst Ende des Jahres der Geldflüsse, die häufig im Ausland voll einsatzbereit sein.

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Am Rande Effe im Abseits Jetzt will Dich keiner mehr ha- ben, Stefan Ef- fenberg: Bei Bayern Mün- chen bist Du ausgemustert, der Wechsel zu MINEHAN / ULLSTEIN BILDERDIENST MINEHAN / ULLSTEIN Manchester City ist geplatzt, Mil- Imbissbude mit Pommes-Werbung (in Berlin) lionen Arbeitslose hassen Dich – hattest Du Dir so Deinen Abgang VERBRAUCHERSCHUTZ mitteln vermutet wurde. Acrylamid war als Fußballstar vorgestellt? Viel- lediglich als Bestandteil von Kunststof- Schock durch Chips fen, zum Beispiel Dichtungsmitteln, be- leicht konntest Du nicht ahnen, kannt. Die neue Studie der schwedi- dass Interviews im „Playboy“ ge- ie angebliche Entdeckung einer schen Lebensmittelbehörde, nach der lesen werden. Vielleicht konntest DKrebs erregenden Substanz in sich WHO-Grenzwerte weit überschrei- Du nicht wissen, dass sogar Dei- Pommes frites und Kartoffelchips alar- tende Mengen von Acrylamid in Chips miert die Weltgesundheitsbehörde und frittierten Kartoffeln sowie in ne Vorschläge zur Reform der Ar- (WHO). Nach einer internen Krisensit- Knäckebrot und Cornflakes anreichern, beitslosenversicherung („Stütze zung in Genf erklärte Gerald Moy, hält Moy allerdings für noch nicht fun- herabsetzen“) ein Echo finden. WHO-Experte für Lebensmittelsicher- diert. Besorgt über die Untersuchungs- Nun droht Dir selbst der soziale heit, dass hohe Konzentrationen des in ergebnisse der Schweden zeigen sich Abstieg, denn mit Deinen 33 Jah- Kartoffelprodukten gefundenen Acryla- auch deutsche Experten. „Wenn man mids „ein sehr großes, globales Pro- Lebensmittel wie Pommes frites hoch ren bist auch Du auf dem Fuß- blem“ sein könnten. Auf einem Exper- genug erhitzt“, so Siegfried Warwel von baller-Arbeitsmarkt leider nur tentreffen im Juni wolle die Organisati- der Bundesanstalt für Getreide-, Kartof- noch schwer vermittelbar. Du on nun mögliche Risiken durch das fel- und Fettforschung, „können sich da wirst Dich also einreihen müssen Nervengift klären, das nicht in Lebens- Tod und Teufel bilden.“ in das Heer der Nichtstuer: End- los lang werden Dir die Stunden vorkommen, in denen Du nicht AIRBUS denselben Partnern noch abgelehnt. Be- viel anders als langzeitarbeitslose gründung damals: Die Ostfirmen seien Hilfe aus dem Osten unzuverlässig und wirtschaftlich womög- Maler, Maurer und Mechaniker lich nicht überlebensfähig. in den öden Hallen Deiner Be- ür den Bau des neuen Militärtrans- hausung sitzt und wartest, bis Fporters A400M sucht Flugzeugbauer Dein Telefon klingelt. Wenn end- Airbus Hilfe ausgerechnet in Osteuropa. Weil die eigenen Ingenieur-Kapazitäten Nachgefragt lich der ersehnte Anruf kommt, nicht ausreichen, um den Transporter sagt Dein Fachvermittler: „Es und zugleich den zivilen Großraum-Jet sieht schlecht aus, Herr Effen- A380 zu entwickeln, will der Airbus- Ortswechsel berg.“ Und Deine früheren Fans Mehrheitseigner EADS mit östlichen Partnern ein Konstruktionsbüro in Russ- Beeinflusst Sie die Furcht vor bitten Dich um ein paar Gefallen: land einrichten. Entwicklung und Bau Attentaten bei der Wahl Ihres Gib keine Interviews. Sag nicht des Fahrwerks für den europäischen Mi- persönlichen Urlaubsziels? Deine Meinung. Zeig nicht Dei- litärflieger sollen an Firmen in Russland Männer Frauen nen Stinkefinger. Lebe als Ar- und der Ukraine vergeben werden. Auch 64 beitsloser – ganz so, wie Du es beim Triebwerk müssen wohl die Russen helfen, weil westeuropäische Firmen 43 Dir vorstellst: ausschlafen, bum- noch nie Propeller-Turbinen in der Stär- JA meln, Fernsehen gucken. Sams- ke gebaut haben, wie sie für den A400M 54 tagabends kannst Du dann in benötigt werden. Als der gemeinsame „ran“ zusehen, wie die Liga ohne Bau des vergleichbaren russisch-ukraini- 55 schen Transporters Antonow An-70 ge- 34 Dich auskommt. Wenigstens prüft wurde, hatten Airbus, die deutsche NEIN 44 kannst Du kein Eigentor mehr EADS-Vorläuferfirma DaimlerChrysler NFO-Infratest-Umfrage für den SPIEGEL vom schießen. Aerospace und das Bundeswirtschafts- 23. bis 25. April; rund 1000 Befragte; Angaben in Prozent; ministerium die Zusammenarbeit mit an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/keine Angabe

22 der spiegel 18/2002 Werbeseite

Werbeseite Deutschland

WAHLKAMPF Ich oder der? Für einen langen Moment lässt der Schock von Erfurt die Wahlkämpfer innehalten, doch schon bald werden die Parteistrategen ihre Pläne weiterverfolgen: Der Kanzler will kulturelle Milieus gegeneinander ausspielen und die Unentschlossenen mobilisieren. Wichtigster Mitarbeiter: er selbst.

rgendwann am Freitagnachmittag, wohl zwischen 16 und 18 Uhr, war er ver- Ischwunden. Kein Lärm mehr, keine Aufregung, kein Getöse, keine Hysterie. Unauffällig verabschiedete er sich. Der Wahlkampf – er nahm eine Auszeit. Das Massaker am Erfurter Gutenberg- Gymnasium, bei dem 18 Menschen ums Leben kamen, warf die politische Elite für eine Weile ebenso aus der Bahn wie den Rest der Nation. Live im Fernsehen konn- ten die Deutschen verfolgen, dass auch ihre Politiker nach Worten suchen mussten, dass manche von ihnen kaum die Tränen zurückhalten konnten. Bereits kurz nach zwölf Uhr hatte der Kanzler die ersten Agenturmeldungen aus Erfurt gelesen. Von drei Toten war anfangs die Rede. Schrecklich zwar, aber nicht außergewöhnlich genug, um dafür das Mit- tagessen mit dem polnischen Schatzminis- ter Wieslaw Kaczmarek abzusagen. Doch die Nachrichten, die das Lagezen- trum im Kanzleramt entgegennahm, klan- gen immer bedrohlicher. Gerhard Schröder ließ sich mit Innenminister ver- binden. Der hatte kurzfristig erwogen, die GSG 9 nach Erfurt zu schicken – und die Idee schnell wieder verworfen. Schröder war geschockt, als langsam das ganze Ausmaß des Verbrechens be- kannt wurde: „In solchen Momenten bleibt dir ja nichts als das menschliche Mitgefühl. Du bist hilflos, kannst einfach nichts machen.“ Die Hektik, die so kurz vor dem Wochenende das Kanzleramt dominiert, war schlagartig einer gedämpften Be- troffenheit gewichen: „Jetzt merkt man erst mal, was wir sonst alle zu wichtig nehmen.“ Auch sein Herausforderer, der bayeri- sche Ministerpräsident Edmund Stoiber, schien wie gelähmt. Er konferierte mit den Bezirksfürsten seiner Partei in der CSU- Landesleitung in München, als eine Se- kretärin kurz vor 16 Uhr einen Zettel her- einreichte. Stoiber („Das sind furchtbare Nachrichten“) las den entsetzten Partei- freunden die Eilmeldung vor, wonach mit 18 Toten zu rechnen sei. An Wahlkampf wollte in dieser Situa- tion keiner mehr denken. Eilig ließ der Kanzler ein SPD-Treffen am Wochenende in Duisburg absagen. Stoiber hatte ohnehin keinen Auftritt geplant. 24 Keiner der beiden Kontrahenten kann si- Altmeister Helmut Kohl begann, könnte Erst der Kanzler... cher sein, wie es nun weitergeht. Wie tief bald schon zu Ende sein. Erstmals seit dem „Wie zufrieden sind Sie mit der dringt die Bluttat von Erfurt in die Psyche Spendendebakel der Union im November politischen Arbeit von... der Deutschen? Welche Folgen hat sie für 1999, das schließlich zum Rücktritt von Par- die Politik? Wird sich die Diskussion um teichef Wolfgang Schäuble führte, hat die 55 mehr Law and Order drehen – oder nach- Union wieder eine Chance. ... Kanzler Gerhard Schröder?“ denklicher um den Zusammenhalt in der Hinter der Fassade von trotziger Zuver- 52 Gesellschaft? sicht (SPD-General Franz Müntefering: 51 50 50 „Wenn ich bedenke, was alles noch pas- „Jetzt wird der Helm fester geschnallt“) sieren müsste, dann ist die Zeit bis zur Wahl und demonstrativem Kampfesmut (Schrö- ... Edmund Stoiber?“ viel zu kurz“, hatte ein enger Stoiber-Be- der: „Der oder ich“) hat sich der Zweifel rater noch vor wenigen Tagen geklagt – und eingeschlichen. Das Ergebnis sei „kein Vo- hinzugefügt: „Wenn ich daran denke, was tum gegen Schröder“, analysiert der sozial- 42 passieren kann, ist die Zeit viel zu lang.“ demokratische Bundestagspräsident Wolf- Nun also ist das Unerwartete eingetre- gang Thierse, „aber es ist eine Botschaft an 38 NFO-Infratest-Umfrage für den ten. Selbst die Bedeutung der verheeren- Schröder“. SPIEGEL vom 15. bis 18. April den Niederlage der SPD in Sachsen-An- Schrumpft das rot-grüne Bündnis wo- 2002, rund 1000 Befragte 34 halt schrumpft. Erfurt könnte – wenigstens möglich zu einer kurzen Episode, einer Januar Februar März April vorübergehend – die Maßstäbe dafür ver- Fußnote der deutschen Nachkriegsge- rücken, was wichtig ist und was nicht. schichte? Sind die Erfolge der Regierung ... und dann die Partei Doch unabhängig von den Gescheh- vielleicht zu mickrig, vielleicht zu schlecht nissen in Thüringen ist die Lage der SPD verkauft, vielleicht auch beides? Wo bitte, „Welche Partei würden Sie wählen, fünf Monate vor der Wahl angespannt wie fragt ein Partei-Präside, bleibt die „ver- wenn am nächsten Sonntag nie seit 1999. Noch vor wenigen Tagen zeig- bindende Überschrift“ für Steuerreform, Bundestagswahl wäre?“ te sich Manfred Güllner, der Meinungsforscher Ger- Infratest-dimap-Umfrage für den MDR vom 25. April 2002, hard Schröders, ganz si- rund 1000 Befragte cher. Der erste Satz seiner internen Analyse für das 39 Kanzleramt lautet: „Der 34 Ausgang der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt war für die SPD ein Desaster.“ Im Vergleich zur letzten Bun- destagswahl müsse die 10 Partei „einen Wähler- 7 6 schwund von 62 Prozent“ verkraften, nur noch 11 von 100 Wahlberechtigten hät- ten sozialdemokratisch ge- wählt. Der abgewatsch- te SPD-Regent Reinhard

Höppner habe eine regel- MARCO-URBAN.DE recht „abschreckende Wir- Schröder-Kontrahent Stoiber* (r.): Wähler nicht verschrecken kung“ entfaltet. Magdeburg sei nicht Berlin, Höppner Riester-Rente, Homo-Ehe und Zuwande- nicht Schröder, lautet die bisher gültige Be- rungsgesetz? ruhigungsformel. Güllners Feldforschung Selbst im Kanzleramt ist erstmals Unsi- ergab nun: Schröders Magie wirkt noch – cherheit zu spüren. Eine „Wagenburgmen- aber der Effekt lässt deutlich nach. Auch talität“ habe sich gebildet, beobachtet einer der Kanzler hätte vorvergangenen Sonntag der Schröder-Getreuen. Mehr als einmal die Wahl in Sachsen-Anhalt verloren – klagte der Kanzler in den vergangenen Wo- wenngleich nicht ganz so arg. chen, schon beinahe wie sein Vorgänger Nur noch knapp 70 Prozent der Wähler Kohl, über die Phalanx feindseliger Me- vom September 1998 mochten sich ge- dien. Schotten hoch, die Welt wird klei- ner: Die Reform der Bun- desanstalt für Arbeit bei- Auch der Kanzler hätte die Wahl spielsweise wurde „bis aufs in Sachsen-Anhalt verloren Komma“, so ein Regierungs- mitglied, im Kanzleramt kon- zipiert – auf Arbeitsminister genüber Güllners Befragern zum Regie- Walter Riester, den bürokratischen Brem- rungschef bekennen. Fazit: Es sei unver- ser, wollte sich niemand verlassen. kennbar, dass die Nominierung Stoibers Noch hat Schröder nicht verloren – Kanzler Schröder zur Stärkung des konservativen Milieus in aber, und das ist das Neue: Er könnte ver- Deutschland geführt habe. Gerhard Schröder spürt die Gefahr. Sei- * Mit der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel und Sachsen- Anhalts CDU-Chef Wolfgang Böhmer am Montag ver- ne Kanzlerschaft, die vor 42 Monaten nach gangener Woche in der CDU-Bundesgeschäftsstelle in

THOMAS KOEHLER / PHALANX KOEHLER THOMAS einem furiosen Sieg über den ermatteten Berlin.

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lieren. „Wir gehen ohne jeden Regierungs- der Konkurrenz: „Vieles wirkt wie ein Beu- mungen, nach Fehlern der Konkurrenz und bonus in die Wahl“, so ein Minister. tel Tee, den man zum zweiten Mal ins Glas nach Dingen, die sich als solche auslegen Schröder und sein Vize hängt.“ lassen. stehen seit Januar den Umfragen zufol- Doch der Kanzler will keinen Wirbel, Die sich verändernden Wirtschaftsdaten ge ohne Mehrheit da. Im Bundesrat geht keine neuen Köpfe und keine teuren zu- sieht Schröder als Pluspunkt, der seine nach der Wahl in Sachsen-Anhalt ohne die sätzlichen Versprechen – nicht jetzt. Wer Wirkung erst noch entfalten soll. Die In- Union nichts mehr. Schon erscheint der den Regierungschef nach dem Debakel flation bleibt niedrig, die führenden Wirt- Abstimmungskrieg um das Zuwanderungs- von Magdeburg in seinem Amtszimmer schaftsforschungsinstitute prophezeien gesetz wie ein letztes Zucken der rot-grün besuchte, traf auf einen Löwen in Lauer- 0,9 Prozent Wachstum – das ist nicht viel, dominierten Republik. stellung. Misstrauisch, herrisch, raufbereit. aber immerhin. Unter Berücksichtigung Rascher, als es die Regierungsrolle ver- Das Lachen breit und laut, die Zupack- dessen, was die Experten saisonale Effek- langte, entwickelte sich die einstige Pro- Hände pflügten sich durch den Zigarren- te nennen, also der Tatsache, dass im Som- grammpartei SPD zum Kanzlerwahlver- mer mehr Menschen arbei- ein. Das vergangenen Mittwoch vorge- ten als im Winter, ist mit stellte Wahlkampfkonzept verheißt keine Wenn er muss, kann Schröder das einem Rückgang der Arbeits- Rettung, ohne scharfes Profil wird auf sozialdemokratische Herz rühren losenziffer auf deutlich unter Bewährtes gesetzt. „Wir in Deutschland“, 4 Millionen zu rechnen – mit das erinnert an den Erfolgsslogan der viel Glück sogar bis dicht an Rau-SPD in Nordrhein-Westfalen („Wir qualm. Jetzt sei Wahlkampfzeit, sagte er, die 3,5 Millionen Menschen, die sich der in NRW“). die Betonung auf Kampf. Die Themen? Kanzler im Jahresdurchschnitt zum Ziel Die Intellektuellenkreise rund um Abwarten. gesetzt hatte. Schröder, angeführt von dem Schriftsteller Cool bleiben, lautete die Parole. Wenn Vor allem aber baut Schröder auf das Günter Grass, 74, dem Soziologen Oskar ihn verzagte Genossen am Rande von Duell mit dem Herausforderer. Statt um Negt, 67, und dem Rhetorikprofessor Empfängen in Berlin fragten, wie es denn programmatische Details zu streiten, wird Walter Jens, 79, tagen seit Willy Brandts weitergehe, zog er die rechte Hand aus der er einen Wahlkampf um Lebensstile und Zeiten. Die Ostreise Gerhard Schröders Hosentasche und hielt sie demonstrativ in kulturelle Milieus entfachen. Das „Le- zu Dorffesten und Musterbetrieben er- die Runde – kein Finger zitterte. „Es gibt bensgefühl der Gesellschaft“ soll zum The- scheint wie eine Kopie der Kopie. Treff- keinen Grund“, beruhigte Schröder, „ir- ma werden, propagiert ein Strategiepapier sicher bemerkt Stoibers Wahlkampfmana- gendetwas an der Wahlstrategie zu ändern der SPD-Zentrale: „Es geht um Unter- ger Michael Spreng über die Bemühungen oder in Pessimismus zu machen.“ schiede in Modernität und Liberalität – Er wittert und beobachtet noch – die nicht zwischen zwei Gesellschaftsmodel- Stimmung im Volk genauso wie die Union len, wohl aber zwischen zwei Arten von ge- Schröders Kabinett und ihren Vordermann, den er nie beim sellschaftlichem Klima.“ Namen nennt. „Die da“ oder „der ande- Hier der leutselige, spontane Bürger- Die Aktivposten ... re“, das muss reichen. kanzler, der „das Leben mag“, wie es im Gierig saugt der Instinkt-Kanzler SPD-Wahlprogramm heißt. Auf der ande- neue Wirtschaftsdaten auf, lässt die ren Seite der Aktenfresser, der weder trinkt Wähler befragen und das Erfragte in- noch raucht und eher wirkt wie einer, der terpretieren. Er sucht nach „Verände- Oberkreisdirektor werden will – so malt rungen in der Tektonik“ des Landes, so ihn sich jedenfalls die Sozialdemokratie. ein Schröder-Gehilfe aus dem Diesen Mann will Schröder packen – spä- Kanzleramt, nach neuen Ge- testens in zwei TV-Duellen kurz vor der fühlen und veränderten Stim- Wahl, wie es sie noch nie in Deutschland

Edelgard Bulmahn, Bildungsministerin (SPD) Hans Eichel Pluspunkte: Bafög-Reform und deutlich mehr Geld für den For- Finanzminister (SPD) schungsetat, besonders für die Biomedizin. Großes Manko Mit Sparkurs und Steuerreform führte der Studienrätin: sprödes Auftreten und geringe Bekanntheit. er die schlingernde Koalition aus ihrer Trotzdem hat der Kanzler sie – für den Fall des Wahlsieges – Anfangskrise. Verkörpert Solidität und fest für die nächste Legislaturperiode gebucht. widerlegt das Vorurteil, Sozis könnten mit Geld nicht umgehen. Malus: Mittel- Heidemarie Wieczorek-Zeul, ständler sehen sich steuerlich gegen- Entwicklungshilfeministerin (SPD) über Konzernen im Nachteil. Linke Vorzeigefrau im Kabinett, aber mit schwacher Außenwirkung. Erkämpft beharrlich bis penetrant mehr Geld für ihr Ressort. Über- zeugte Schröder 1999, den ärmsten Ländern ihre Schulden zu er- Joschka Fischer Otto Schily lassen. Genießt unter Fachleuten mittlerweile hohes Ansehen. Außenminister (B’90/Grüne) Innenminister (SPD) Populärster Politiker in der Regierung. Besetzt als „roter Sheriff“ das Überstand die Debatte über seine Ver- Feld der inneren Sicherheit, ei- Herta Däubler-Gmelin, Justizministerin (SPD) gangenheit als Straßenkämpfer unbe- gentlich eine Domäne der Uni- Zeigt heftigen Reformeifer, brachte unter anderem Novellen des schadet. Trotzte seiner ehemaligen on. Formulierte zugleich ein Schadensersatzrechts, des Mietrechts und des Schuldrechts auf Friedenspartei eine drastische Aus- liberales Staatsbürgerschafts- den Weg. Trotz anerkannter Kompetenz unpopulär, da allzu recht- weitung der deutschen Militäreinsät- und Zuwanderungsgesetz und haberisch. ze ab und profilierte sich als außen- zeigte mit einer Vielzahl von politischer Vordenker: beim Balkan- Anti-Terror-Gesetzen nach dem Kurt Bodewig, Verkehrsminister (SPD) Stabilitätspakt, mit der Humboldt- 11. September die Härte der Der dritte Verkehrsminister im Kabinett erwies sich als durchset- Rede zur Zukunft Europas und zuletzt Staatsgewalt. zungsschwach. Im Dauerstreit um die Trennung der Unterneh- mit dem Nahost-Friedensplan. mensbereiche Schiene und Betrieb unterlag der Minister dem Bahnchef Hartmut Mehdorn.

26 der spiegel 18/2002 beitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau war abgewendet. Auch Hans Eichel musste nachgeben. Als sich der Finanzminister sperrte, die Entwicklungshilfe bis 2006 auf 0,33 Prozent des Bruttosozialprodukts auf- zustocken, ließ ihn der Chef kühl wissen: „Hans, fang nicht an, sonst landest du bei 0,7 Prozent.“ Wenn er muss, kann Schröder das sozial- demokratische Herz beinahe so rühren wie sein Amtsvorgänger Oskar Lafontaine. Er- staunt registrierte die Parteilinke Andrea Nahles: „Da saß nicht wie sonst der Bun- deskanzler, sondern unser Parteivorsit- zender.“ Der Freibrief der Regierung für Bundeswehreinsätze im Ausland, wie ihn die Kieler Ministerpräsidentin Heide Simo- nis beantragt hatte, kam nicht in den Text – „um des Friedens willen“, wie Schröder den Linken zugestand. Wohlig genießen die Spitzengenossen den plötzlichen Kuschelkurs des Vorsit- zenden – und bangen, dass er möglichst lange anhalten möge. Viel spricht allerdings klaus stuttmann / der tagesspiegel nicht dafür. Im Zweifelsfall, da machen sie gegeben hat. High Noon wie im Western: ralaussprache – das geht nicht“, stellte er sich keine Illusionen, kennt ihr Chef nur ei- In diesen Duellen, ist Schröder sich sicher, gleich zu Beginn, sauer über das dicke nen Verbündeten: sich selbst. wird er schneller, sicherer und eleganter Bündel von Änderungsanträgen der Par- Das war sein ganzes politisches Leben ziehen. teilinken, klar. Als Parteivize Thierse über so. Auf die Genossen hat sich Schröder nie Doch erst einmal muss der SPD-Chef die Präambel meckerte („Sprachlich kata- verlassen – und nie verlassen können. Mit die eigene Partei um sich sammeln, ihr die strophal – wer hat denn das geschrie- allen Mitteln haben sie versucht, seinen Zweifel am Sieg austreiben. Das war der ben?“), entschied Schröder, der studierte Aufstieg zu verhindern. Der Niedersachse Grund, warum er, überhastet und in Not, Germanist solle den Text am Morgen nach dem Wahldebakel seinen von Müntefering aufpolie- letzten Trumpf ausspielte: „Ich oder der.“ ren: „Das macht der Ober- ... und die Wackelkandidaten Wenigstens der Chef, so Schröders Bot- philologe in unseren Rei- schaft, nimmt die Zügel ordnend in die hen.“ Hand. Nach einer Stunde hat- So erlebte die Parteispitze ihren Vorsit- te der Kanzler die miss- zenden vergangenen Dienstag auch bei der trauischen Parteiflügel aus Verabschiedung des Wahlprogramms. Der den Gräben geholt. Die SPD-Chef blockte und lockte, drohte und aus Sicht der Linken dro- warb um Geschlossenheit. „Keine Gene- hende Absenkung der Ar-

Christine Bergmann, Familienministerin (SPD) Walter Riester Erscheint vielen Genossen als zu unauffällig. Schob zwar Reformen an: Arbeitsminister (SPD) Startgeld für Existenzgründerinnen, mehr Erziehungsurlaub, höhere Freibe- Konnte den Anspruch als Reformer träge und ein Gesetz, das Frauen besser vor Männergewalt schützen soll. nicht einlösen. Sein 325-Euro- Als Nachrückerin im Gespräch ist die SPD-Vizechefin Renate Schmidt. Gesetz regt den Kanzler bis heute auf, seine komplizierte Rentenre- form verwirrt die Wähler. Bremste Werner Müller, Wirtschaftsminister (parteilos) bei Green Card und der Reform der Fädelte für Schröder den Ausstieg aus der Kernenergie ein, setzte Bundesanstalt für Arbeit. Reif für sonst kaum Akzente. Der Ex-Manager verschleppte die rasche den Amtswechsel nach der Wahl. Liberalisierung auf wichtigen Märkten wie Strom-, Gas- und Postsektor. Rudolf Scharping Ulla Schmidt Verteidigungsminister (SPD) Renate Künast, Landwirtschaftsministerin (B’90/Grüne) Gesundheitsministerin (SPD) Minister auf Abruf: Seit den Durch die BSE-Krise ins Amt gelangt, entpuppt sich ihr Ziel – In der Amtszeit der „Gute-Laune- Plantsch-Bildern von Mallorca die Agrarwende – als mühsames Geschäft. 97 Prozent aller Ministerin“ stiegen die Kranken- vergangenen August stolpert landwirtschaftlichen Betriebe arbeiten nach wie vor kassenbeiträge von durch- Scharping, der sich während konventionell. Immerhin: Die Käfighaltung von Legehennen schnittlich 13,6 auf 14 Prozent. der ersten Regierungsmonate hat sie ab 2007 verboten. Mehrere kleine Reformversuche noch wie der bessere Kanzler und ein Sparpaket verpufften. aufführte, von einer Peinlich- Die Sanierung des maroden keit zur nächsten. Seine Gene- Jürgen Trittin, Umweltminister (B’90/Grüne) Gesundheitssystems steht nach räle brachte er gegen sich auf, Wird sein Image als arroganter Unsympath nur schwer los. der Wahl erst bevor. weil er Mitschnitte einer inter- Politisch jedoch mit ordentlicher Bilanz: Atomausstieg, För- nen Tagung verlangte; die derung regenerativer Energie, Naturschutzgesetz, Dosen- Finanzierung des neuen Militär- pfand – alle wichtigen Pläne sind abgearbeitet. Airbus sorgt für Dauerärger.

der spiegel 18/2002 27 Deutschland Guidos Spaßguerrilla Als forsche, aber konturlose Frohsinnspartei strebt die FDP zurück zur Macht im Bund.

ie Stimmung war prächtig, als gerümpft, hält er sich inzwischen gern Als Markenzeichen pflegt die FDP Guido Westerwelle plötzlich an die von Möllemanns Chefberater ihr Image der Steuersenkungspartei. Dsein Sorgengesicht aufsetzte. Fritz Goergen entwickelte Propagan- Der fiskalische Wirrwarr soll auf Steu- „Auch heilsame Medizin kann als dastrategie: „Keine Aktion ohne den ersätze von 35, 25 und 15 Prozent Überdosis zu Gift werden“, mahnte der Bruch eines Tabus!“ Noch immer ist zurückgestutzt werden – doch dass ein frisch gewählte Liberalen-Chef im ver- Westerwelle stolz, dass er sich als erster solches Programm umsetzbar wäre, gangenen Mai seine Parteifreunde. Politiker im Menschenzoo der Fern- glauben nicht einmal die führenden Streng verwarnte er jene, die sich an sehserie „Big Brother“ einsperren ließ. Wirtschaftsforschungsinstitute, die ver- der Vorstellung berauschten, mit einem Mit der Bierflasche in der Hand habe er gangene Woche ihr gemeinsames Gut- eigenen Kanzlerkandidaten in den Millionen politikverdrossener Jugend- achten vorlegten. Wahlkampf zu ziehen: „Wenn die Men- licher erreicht, die „wir wieder an die Der wendige Jurist, so scheint es, schen das Gefühl haben, es ginge nur Demokratie heranführen müssen“. kann sich derzeit alles erlauben. Selbst noch um Verkauf der Po- altmodische Bedenken- litik, gefährden wir unse- träger wie Ex-Außenmi- re Strategie.“ Die Nomi- nister Klaus Kinkel und nierung eines FDP-Kanz- Fraktionschef Wolfgang lerkandidaten könne die Gerhardt quittieren re- „berühmte Umdrehung spektvoll, dass ihr neuer der Schraube zu viel sein, Chef mit seiner Mischung die das Gewinde zum aus Chuzpe und Größen- Brechen bringt“. wahn die FDP im Ge- Seit dem Erfolg bei der spräch halte. Ausgiebig Landtagswahl in Sachsen- bestaunten die Präsiden Anhalt überdreht Wester- am vergangenen Montag welle selbst. Am Montag Westerwelles mit der Zif- vergangener Woche, kurz fer 18 verzierte Schuh- nach der Siegesfeier, teil- sohlen, die er bei der te er den Parteifreunden Fernsehsendung „Sabine bei der Präsidiumssitzung Christiansen“ demon- seine „Erwägung“ mit, strativ in die Kameras ge- „die K-Frage neu zu stel- halten hatte. „Solange es len“. Bei einem angepeil- bei den Leuten ankommt ten Stimmenanteil von 18 und die Umfragen ver- Prozent wolle er sich bessert“, sagt ein Präsidi- möglicherweise doch zum umsmitglied, „machen Herausforderer Gerhard wir jede Clownerei mit.“ Schröders küren. Die Liberalen wähnen Auch für die Koali- sich offenbar bereits in tionsverhandlungen in der Regierung. Ex- Magdeburg legte der Vor- Außenminister Kinkel

sitzende der Freien De- / AP BAUER JAN persönlich rief kürzlich mokraten die Zielmarke Liberale Pieper, Westerwelle: Keine Aktion ohne Tabubruch im Auswärtigen Amt an, in luftige Höhen. „Die um sich in Personalpla- Conny“, ermunterte er die von 4,2 auf Zielstrebig wandeln sich die Libera- nungen einzumischen. Angesichts des 13,1 Prozent emporgeschossene Spit- len von der „putzmunteren Opposi- bevorstehenden Regierungswechsels, zenkandidatin und Generalsekretärin tion“ (Westerwelle) zur politikfernen so der ehemalige Chefdiplomat, soll- Cornelia Pieper, dürfe den Anspruch Spaßguerrilla. Mit ernsten Sachfra- ten freie Stellen im Leitungsstab bis zur auf den Posten des Ministerpräsidenten gen hält sich die Partei kaum noch Wahl nicht neu besetzt werden – um ei- „nicht vorschnell fahren lassen“. Allzu auf. Knapp fünf Minuten widmeten nem liberalen Nachfolger Joschka Fi- ernst müsse Pieper die Niederungen der sich die Delegierten beim jüngsten schers den Einstieg zu erleichtern. Landespolitik ohnehin nicht nehmen, Parteitag in Düsseldorf der Gentech- Es scheint noch einiges möglich. Von nach der Bundestagswahl werde sie als nik und der Fortpflanzungsmedizin. Westerwelles Erfolgen ermutigt, melde- Ministerin in Berlin gebraucht – zum Die Protokollanten verzeichneten kei- te in der vergangenen Woche der thürin- Beispiel für das Bildungsressort. ne einzige Wortmeldung. „Ob Famili- gische FDP-Landeschef Andreas Knie- Als eigentlicher Sieger darf sich der enpolitik, innere Sicherheit oder Zu- pert (letztes Wahlergebnis der Liberalen nordrhein-westfälische Landesvorsit- wanderung – keine andere Partei hat 1999: 1,1 Prozent) an, demnächst für den zende Jürgen Möllemann fühlen. Hat- inhaltlich so wenig zu sagen“, urteilt Job des Ministerpräsidenten zu kandi- te Westerwelle über die Methoden des der Göttinger Politikwissenschaftler dieren. Kniepert optimistisch: „Ich bin Fallschirmspringers zunächst die Nase Franz Walter. bereit.“ Alexander Neubacher

28 der spiegel 18/2002 ITALPRESS / GPS ROPI ITALPRESS Staatsmann Schröder (3. v. r.), Kollegen*: „Wir dürfen das schwierige Feld der Osterweiterung nicht Populisten von rechts überlassen“ war ihnen zu unberechenbar, zu unabhän- ge, wofür er wirklich steht. Und er weiß: ladungen aus dem Norden der Republik gig, zu prinzipienlos. Mindestens die Hälf- Das muss kein Nachteil sein. Nicht um- erreichen, lehnt er Bierzeltatmosphäre ka- te seines politischen Lebens hat der einsti- sonst liegt er in den Umfragen immer noch tegorisch ab. ge Juso-Vorsitzende damit verbracht, sich weit vor der eigenen Partei. Aber auch inhaltlich schleift Stoiber der gegen die Partei zu profilieren. Der andere spielt sein eigenes Spiel. Seit Reihe nach frühere scharfkantige Positio- Misstrauisch registrierten die Funk- dem Tag seiner Nominierung im Januar nen. Ein Wahlkampf auf Kosten der Aus- tionäre in der Zentrale, dass der Mann aus weicht Stoiber aus. Als „Mann der Mitte“ länder? Fehlanzeige. Nationalistische Hannover seine politischen Überzeugun- präsentiert sich der Bayer, nahezu als Ge- Sprüche gegen eine zu starke Europäische gen noch häufiger wechselte als die Ehe- genteil jenes rechten Flügelmanns, zu dem Union? Keine Spur. Vergangene Woche in frauen. Ohne Skrupel entsorgte Schröder ihn sich die SPD gern zurechtschnitzen Brüssel mimte der gewendete Euro-Skep- den ideologischen Ballast. würde (siehe Seite 34). Bei jeder Sitzung im tiker plötzlich den großen Europäer, der so „Team 40plus“ drängt die ziemlich alles in der EU-Metropole „su- Unionsspitze den Kandida- per“ fand – den „enormen Erfolg“ des Stoiber schleift der Reihe nach ten, diese Linie bis zum Euro, die gemeinsame Außen- und Sicher- frühere scharfkantige Positionen Wahltag nicht zu verlassen. heitspolitik, die Aussicht auf eine Eu- Keinesfalls dürfe Stoiber in ropäische Verfassung. die „Polarisierungsfalle“ der Mit der anfänglichen Gewissheit der So- Ob nun bekennender Linker („Ja, ich SPD tappen, warnte jüngst CDU-Vize zialdemokraten, Stoiber werde die Wähler- bin Marxist“), gläubiger Ökologe oder neo- Christian Wulff. schaft von ganz allein polarisieren, schwin- liberaler Hedonist – voller Grauen wurde Der Kampf um die Mitte fängt schon bei det im Schröder-Lager auch die Sieges- den Gralshütern sozialdemokratischen Äußerlichkeiten an: Penibel achtet der Bay- zuversicht. „Der fährt in unserem Wind- Brauchtums von Jahr zu Jahr klarer, dass er darauf, die Wähler außerhalb des Frei- schatten und wartet darauf, dass bei uns ein sich Schröders Programm in Wahrheit auf staats nicht zu verschrecken. Wenn ihn Ein- Reifen platzt“, stöhnt ein Regierungsbera- ein einziges Wort reduzieren ließ: ICH. ter. „Bisher war es schwer, den Pudding an ICH will nach oben, ICH will Minister- die Wand zu nageln“, bilanziert SPD-Wahl- präsident werden, ICH will Kanzler wer- kampfmanager Matthias Machnig. Sogar den. Hier zumindest bewies Schröder Prin- der Versuchung, das peinliche Gerichts- zipientreue – und feierte Erfolge. verfahren um des Kanzlers Haare aufzu- In einer hoch komplexen Gesellschaft, spießen, widersteht der Kandidat. das hatte er früher als andere erkannt, lang- Gegen diesen Softi hat die SPD zurzeit weilen politische Theorien und ideologi- nicht viel mehr aufzubieten als das Prin- sche Standfestigkeit. Wer das Interesse der zip Hoffnung. „Wenn Stoiber erst einmal Menschen wecken will, muss ihnen eine Klartext redet, gibt es für ihn eine Schlap- Geschichte liefern, die fasziniert. pe bei den Wahlen“, redet Machnig sich In diesem Punkt zumindest konnte Mut zu: „Mit Sozialstaatskürzung und Schröder etwas bieten, was vielen der Par- Gürtel-enger-schnallen-Rhetorik gewinnt teiapparatschiks fehlte, die sich ihm entge- man auch in der Mitte nicht.“ Die Polari- gen stemmten: die eigene Aufsteiger-Bio- sierung, gibt sich auch der Kanzler über- grafie, die er von Wahlkampf zu Wahl- zeugt, werde schon einsetzen: „Das wird kampf perfekter instrumentalisierte. passieren, so sind die Gesetze. Ganz klar.“ So schaffte er es bis ins Kanzleramt. Wenn der Herausforderer weiter in der Warum sollte er sich ausgerechnet jetzt än- Furche bleibt, wollen die Genossen plaka- dern, warum auf die ICH-Inszenierung ver- tieren: „Wo ist Edi?“ zichten? Er selbst ist schließlich das Einzi- Mit eigenen Leistungen mag sich die SPD Postkarte zum 1. Mai 1900 erst in zweiter Linie brüsten. Zwar gelang * Am 22. Juli 2001 auf dem G-8-Gipfel in Genua. Die alten Gewissheiten sind dahin es, den Reformstau der Ära Kohl teilweise

der spiegel 18/2002 29 Deutschland „Hört auf mit dem Mist“ In Nordrhein-Westfalen hängt die rot-grüne Mehrheit an einem dünnen Faden. Einige Spitzengenossen bevorzugen einen Bündniswechsel zur FDP.

s war der Chef persönlich, der sich strickt sind. Beide, vermutet man in der angesetzt – da lässt sich immer eine Soll- mühte, die trübe Stimmung seiner SPD, wollen ihr Mandat behalten und bruchstelle für die Koalition finden. ETruppe etwas anzuheben. Das wäre dann als Parteilose im Parlament bleiben. In der Partei konnte der herbe Spar- wirklich nicht nötig gewesen, dass sich Die Kölner Staatsanwaltschaft ermittelt kommissar Steinbrück nie richtig punkten nach dem Debakel in Sachsen-Anhalt nun gegen sie wegen des Verdachts auf Steu- und muss derzeit erleben, wie ihm Harald auch die Koalition in Nordrhein-Westfa- erhinterziehung, Untreue und Beihilfe Schartau, 49, zunehmend die Schau len noch gesundschrumpfe, versuchte sich zum Betrug. stiehlt. Der Ex-Gewerkschaftsfunktionär Ministerpräsident Wolfgang Clement mit Ermittelt wird noch gegen einen dritten ist Arbeitsminister und auch Landesvor- einem Scherz. Doch nach Lachen war zu Abgeordneten der SPD: Hardy Fuß. Bei sitzender der SPD. Und er trifft den Ton, Beginn der Kabinettssitzung am vergan- ihm geht es um den Verdacht der Bei- den die Genossen hören wollen. genen Dienstag in Düsseldorf keinem sei- hilfe zur Steuerhinterziehung im Zu- „Hört auf mit dem Mist“, versucht ner Mitstreiter zumute. sammenhang mit dem Bau der Kölner Schartau in bester Müntefering-Tradition Die Luft wird immer dünner für Cle- Müllverbrennungsanlage. seit Monaten jedwede Koalitionsspeku- ments rot-grüne Koalitionsregierung – Eine Stimme Mehrheit ist nicht viel – lationen in Fraktion und Partei auszutre- ihre Mehrheit dürfte schon bald nur noch insbesondere für eine Koalition, die im an einer einzigen Stimme hängen. Frühsommer 2000 als eine Art Zwangsehe Dass die vor zwei Jahren noch mit sie- geschlossen wurde. Clement machte sei- ben Stimmen Vorsprung vor der Opposi- nerzeit keinen Hehl aus seiner Vorliebe tion gestartete Regierung jetzt derart in für die Liberalen, doch das rot-grüne Re- Bedrängnis gerät, hat vor allem zwei Ur- formbündnis auf Bundesebene durfte nicht sachen: die Kölner Spendenaffäre der in Frage gestellt werden. Darum drängte SPD und – so komisch es klingen mag – die Parteigeneral Franz Müntefering aus Ber- Nahost-Politik von Rot-Grün in Berlin. lin auf die Fortsetzung der rot-grünen Ko- Aus Protest gegen die seiner Ansicht alition, die seit 1995 in NRW regiert. nach zu Israel-freundliche Linie seines Seit sich diese vor knapp zwei Jahren

Parteifreundes und Außenministers Josch- neu formiert hat, haben die Spekulationen FOTOARCHIV / DAS ARSLAN YAVUZ ka Fischer hatte der in Syrien geborene über einen Koalitionsbruch nie aufgehört. Überläufer Karsli Jamal Karsli vergangenen Dienstag an- Clements „spin-doctors“ ziehen immer Zuwachs für die Liberalen gekündigt, zur FDP zu wechseln. Statt wieder die gelbe Karte aus dem Ärmel – 119 zu 112 Stimmen beträgt das Verhält- und sei es auch nur, um die Grünen zu dis- ten: „Die Leute müssen wissen, wo sie nis von Rot-Grün zu Schwarz-Gelb damit ziplinieren. Die wiederum sind seit Mo- mit uns dran sind.“ Und predigt öffentlich nur noch 118 zu 113. Zur absoluten Mehr- naten handzahm, wohl aus Angst vor ei- „Beständigkeit statt Beliebigkeit“. heit sind 116 Stimmen nötig. nem Ende des Regierungsbündnisses. Trotz solcher Beteuerungen planten Genau auf diese Zahl dürfte Rot-Grün Ein Wechsel zur FDP, die mit dem Parteistrategen in den vergangenen Wo- im Landtag demnächst zusammenschnur- Überläufer Karsli nun 25 Abgeordnete chen heimlich einen „Befreiungsschlag“: ren, weil zwei sozialdemokratischen Par- stellt, brächte Clement, auch nach dem Noch vor der Bundestagswahl am 22. lamentariern der Parteiausschluss droht: Parteiausschluss der beiden SPD-Abge- September sollten die Grünen in die Wüs- Annelie Kever-Henseler und Jan Marc ordneten, eine komfortable Mehrheit: te geschickt und durch die Liberalen er- Eumann, die in den Kölner Sumpf ver- Rot-Gelb hätte dann 125 Stimmen – 9 setzt werden. Das sollte den Wählern ein mehr als nötig. NRW-FDP-Chef Jürgen Signal für den Aufbruch geben und die Die Sitzverteilung im nordrhein- Möllemann steht sofort bereit, um „Ver- FDP auch in Berlin an die SPD binden. westfälischen Landtag antwortung als Bildungsminister und Auf einen Schlag hätte Clement dann SPD Grüne FDP CDU Vize-Ministerpräsident zu übernehmen“. auch, wie praktisch, einen Sündenbock 102* + 16** 25** + 88 Die Meinungen darüber, ob ein Wech- für seine mäßig erfolgreiche Politik ge- sel zur FDP sinnvoll wäre, gehen im Düs- habt: die grünen Blockierer. 118 113 seldorfer Kabinett auseinander – und ha- Am vorvergangenen Wochenende je- ben indirekt auch schon mit der Frage ei- doch wurde der „Befreiungsschlag“ nach nes möglichen Nachfolgers für Clement einem Gespräch von Clement mit Kanz- zu tun. Lange galt Finanzminister Peer ler und Parteichef Gerhard Schröder erst Steinbrück, 55, als ausgemachter Kron- einmal abgeblasen. Die Sache erschien prinz des 61-jährigen Regierungschefs. am Ende doch zu riskant, zu groß die Ge- Bei Steinbrück lässt keine Gelegenheit aus, fahr, die eigene Partei durch die verpön- 231 Sitzen sich mit der grünen Umweltministerin ten Liberalen zu verschrecken. Außer- sind für die absolute Bärbel Höhn zu streiten. dem habe man den richtigen Zeitpunkt Mehrheit 116 Stimmen erforderlich Der aus Schleswig-Holstein zugewan- verpasst: Eine solche Aktion hätte bis * gegen zwei der SPD-Abgeordneten derte Minister hält Rot-Grün für erledigt. Ostern erledigt sein müssen. laufen Parteiausschlussverfahren Trickreich hat er für die Beratungen über Die Kronprinzenfrage in der NRW- ** nach Wechsel eines Grünen-Abgeordneten zur FDP den Haushalt 2003 einen langen Zeitraum SPD scheint nach des Kanzlers Macht-

30 der spiegel 18/2002 Ministerin Höhn, Clement gründen wäre, warum sie doch noch zur Gelbe Karte im Ärmel Wahl gehen sollen. „Die Linke hat keine Antwort darauf aufzulösen, eine Steuer- gefunden“, analysierte vergangene Woche und Rentenreform auf den der Fraktionschef der Grünen im Europa- Weg zu bringen und die Parlament, Daniel Cohn-Bendit, „dass von Neuverschuldung im Bun- dem unermesslichen Reichtum nur wenige deshaushalt gegenüber der profitieren.“ Zudem gelinge es ihr nicht, Vorgängerregierung um „auf die Unsicherheit einzugehen, die ein Viertel zu senken. Un- durch die Globalisierung ausgelöst wird“. ter dem Strich hat Schrö- In Sachsen-Anhalt – wie zuvor in Nord- der aber nur die gröbsten rhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz – blie- Löcher gestopft. Die Zahl ben gerade die SPD-Stammwähler zu Zehn- der Jobsuchenden unter 25 tausenden einfach zu Hause. Bei den Jahren ist heute nicht klei- Wählern unter 40 Jahren fiel die SPD in ner als vor vier Jahren. Sachsen-Anhalt auf Rang vier hinter CDU, Vor allem begegnet PDS und FDP zurück. Vor allem junge Ar- Schröder im Wahlkampf beiter, Ungelernte und Arbeitslose, so er- seinem Zitat von 1998, als mittelten die Wahlforscher, sind der Sozial- er eine Woche vor der demokratie bundesweit völlig entfremdet. Wahl im SPIEGEL ankün- Auch die Parteimitglieder zaudern. digte: „Wenn wir es nicht Flächendeckend. „Sie wissen nicht, wie sie schaffen, die Arbeitslosen- es begründen, warum sie sich für das ein- quote signifikant zu sen- setzen sollen, was die Regierung in Berlin ken, haben wir es weder macht“, hat der Göttinger Parteienforscher verdient, wiedergewählt Franz Walter schon vor zwei Jahren beob-

CARSTEN KOALL / DDP KOALL CARSTEN zu werden, noch werden achtet. Der Hamburger Soziologe Heinz wir wiedergewählt.“ Bude vermisst eine „sozialdemokratische Vor durchgreifenden Arbeitsmarkt- Erzählung“, die „an unsere Gegenwart reformen schreckte Schröder zurück. Das heranführt und die Entwicklungen in an- 325-Euro-Gesetz sorgt eher für neue deren Ländern als Ausdruck einer ge- Hürden als für Dynamik. Die Förderung meinsamen Sache versteht“. von niedrig bezahlten Dienstleistungs- Droht Schröder tatsächlich unversehens tätigkeiten blieb dank der Blockade von das Schicksal vieler sozialdemokratischer SPD-Linken und Gewerkschaften ein Amtskollegen in anderen EU-Ländern? Tabuthema. Trotz passabler Bilanzen aus dem Amt ge- In anderen Feldern – der Gesellschafts-, hoben von missmutigen Wählern? In einer Außen- oder Umweltpolitik – kann Rot- launigen Aufwallung einfach weggezappt – Grün immerhin Erfolge vorweisen. Homo- während populistische Bewegungen mit den Protestthemen Europa, Kriminalität und Ausländer In Sachsen-Anhalt blieben die SPD- Stimmen einfahren? Stammwähler einfach zu Hause „Von der SPD muss Wär- me ausgehen“, fordert der niedersächsische Minister- Ehe, Staatsbürgerschaftsrecht, Deutsch- präsident Sigmar Gabriel. „Nur in der Mit- lands neue Rolle in der Welt, Atomaus- te wird eine Wahl nicht gewonnen“, warnt stieg oder das Naturschutzgesetz sind aus auch Cohn-Bendit. Die Wähler glaubten

MARTIN GERTEN / DPA GERTEN MARTIN Sicht von Schröders Kernwählerschaft ja schon, „die Linke habe kein Herz“. FDP-Landeschef Möllemann allerdings keine zentralen Themen. Die ganze Wahrheit ist noch unange- „Verantwortung übernehmen“ Vergebens fahnden die Strategen in der nehmer. Unter dem Eindruck des Le-Pen- SPD-Wahlkampfzentrale seit Monaten Schocks entbrennt in Paris gerade eine De- wort vorerst zu Gunsten von Schartau nach schnellen Codewörtern und griffigen batte, ob die Linke die wichtigen Fragen entschieden. Nicht wenige Sozialdemo- Ideen. Mehr als ein müdes „Erneuerung. ausgeblendet hat: die nach Fremdenangst, kraten sind erleichtert, dass der unbere- Verantwortung. Zusammenhalt“ als Ersatz Kriminalität und Entwurzelung. Selbst die chenbare Möllemann erst einmal verhin- für die erfolgreiche Formel von „Innova- sozialistenfreundliche „Le Monde“ fordert, dert wurde. tion und Gerechtigkeit“ aus dem Jahr 1998 die Sozialdemokratie müsse sich endlich Doch selbst wenn Rot-Grün am Rhein ist nicht herausgekommen. den Herausforderungen durch die „Ein- vorerst gerettet sein sollte, nach der Bun- Jahrzehntelang wussten die Wähler, was wanderungswelle“ aus dem Süden und den destagswahl werden die Karten neu ge- sie bekommen, wenn sie Links wählen: Anstieg der Kriminalität stellen. Der Wohl- mischt. Kippt die Koalition in Berlin, dann Umverteilung. Damit ist es vorbei. Schrö- fahrtsstaat müsse unter dem Druck der ist es auch in Düsseldorf so weit. In jedem der steckt in der Falle, wenn er den Fach- Globalisierung „überdacht werden“. Fall will sich Clement dann mit ein paar arbeitern ungeschminkt die Wahrheit sagt: Auch den Kanzler treiben derlei Ge- neuen Gesichtern umgeben. Die voraus- dass es ökonomischer Selbstmord wäre, danken um. Der Aufstieg Le Pens sei ein sichtlichen Opfer der Kabinettsumbildung dem Kapital in der globalisierten Wirt- Beleg für die „ernsthafte Gefahr“ einer stehen bereits fest: Bildungsministerin schaft in die Bilanzen zu grätschen. Doch „Renationalisierung“ in den europäischen Gabriele Behler und Wirtschaftsminister die SPD hat es versäumt, sich ein neues in- Staaten, analysiert Schröder. Ein „ungutes Ernst Schwanhold. Barbara Schmid tellektuelles Fundament zu geben, mit des- Gebräu“ identifizierte Außenminister Fi- sen Hilfe auch den Facharbeitern zu be- scher vergangene Woche im Kabinett – das

der spiegel 18/2002 31 bensgefühl gegen jedes andere Paar er- folgreich bestehen“. Ein Bündnis mit den Liberalen, mit dem Schröder im vergangenen Jahr spielte, gilt dem Kanzler mittlerweile selbst als Schreckgespenst. Das verklausulierte An- gebot von NRW-Ministerpräsident Wolf- gang Clement, in Düsseldorf mit einem Koalitionswechsel von den Grünen zur FDP ein Signal für den Wechsel auch in der Hauptstadt zu setzen, nahm der Kanzler nicht wahr. „Was soll ich mit denen?“, be- kräftigte er neulich erst in kleiner Runde. Ehe die SPD mit den Liberalen koaliere, sagt Fraktionschef Peter Struck voraus, werde seine Partei mit der Union eine Große Koalition eingehen. Die Option einer Koalition mit der PDS im Bund, „direkt oder indirekt“, hat der SPD-Vorstand einstimmig ausgeschlossen – was die Ex-Kommunisten nicht hindert, sich weiterhin anzudienen. In der PDS- Parteispitze herrscht intern Einigkeit über ein unsittliches Angebot an Schröder, das

PLAMBECK / HCP-FOTO die Sozialisten bereits 1998 mit dem da- Demonstrierende arabische Familie*: Hat die Linke die Fremdenangst zu sehr ausgeblendet? maligen SPD-Chef Lafontaine „erwogen“ hatten, wie sich ein Teilnehmer erinnert. könne die Osterweiterung der EU behin- wenn sie stärkste Fraktion im „Sollten Schröder und Fischer vier, fünf dern. „Wir dürfen das schwierige Feld“, und Schröder damit Kanzler bliebe. Ein oder sechs Stimmen fehlen“, erklärt ein forderte der Kanzler im Bundestag, „nicht paar Zehntelprozent mehr als die Union – PDS-Spitzenmann das Szenario, „dann irgendwelchen Populisten von rechts über- ein Partner wird sich dann schon finden. könnten wir diese Leute finden, die den lassen.“ Nach anfänglichen Flirts mit ande- Kanzler wählen.“ Im zweiten Schritt, so Statt mit Geschenken à la Lafontaine ren Koalitionen hat Schröder akzeptiert, die konkrete „Überlegung“, würden die wollen Schröder und Fischer ihre linken dass er die SPD-Mitglieder ohne das Ver- PDSler zusagen, dem Bundeshaushalt im Stammwähler mit der Warnung vor der sprechen, die Grünen als erste Wahl zu Parlament zu einer Mehrheit zu verhelfen. rechten Gefahr à la Le Pen an die Urne behalten, nicht motivieren kann. SPD- Ganz selbstlos sei die Offerte natürlich treiben – frei nach dem Motto: Anständige Generalsekretär Franz Müntefering setz- nicht: „Im Gegenzug wollen wir das Amt Deutsche, auf zur Wahl! „Ich möchte nicht te durch, dass dies ausdrücklich im Pro- eines Ost-Beauftragten“, heißt es. Für den wissen“, ätzt der Grüne Fischer, „wie vie- gramm steht. „Und so könnte“, heißt es in Posten, glauben PDS-Vorständler, hätten le Millionen Franzosen am Wahlabend vor einer internen SPD-Lageeinschätzung, sie eine glänzende Besetzung: den Berliner Wut ins Kissen gebissen haben.“ Die Deut- „aus dem Plebiszit über den Kanzler im Wirtschaftssenator Gregor Gysi. schen, verlangt er, sollten daraus lernen: Spätsommer auch eine Abstimmung über Doch Regieren heißt, mehr als einmal im „Die Wähler müssen ihr Kreuz machen ein starkes Duo werden.“ Einen Lager- Jahr den Haushalt zu unterstützen. Nicht und dann auch tragen.“ oder Koalitionswahlkampf lehnt Schröder nur der Bundestag, auch die künftig wieder Darauf setzt auch Schröder. Statt den zwar ausdrücklich ab – aber „die Kom- unionsdominierte Länderkammer würde Streit um Programme eröffnet er den bination Schröder/Fischer“, so das Wahl- sich gegen Kanzler Schröder sträuben. Kampf der Kulturen. „Mit gutem Grund papier, „kann aus Sicht der Wähler in Etwa 60 Prozent der Gesetzesvorhaben wird die SPD stark auf die Frage setzen, Sachen Beliebtheit, Kompetenz und Le- sind zustimmungspflichtig in der Länder- wer denn eher das Lebensgefühl der Gesellschaft repräsentiert: Schröder oder Gastgeber Schröder, Künstler*: Repräsentant für Weltläufigkeit und Laisser-faire Stoiber“, steht im SPD-Strategiepapier. Schröder für Offenheit, Weltläufigkeit und Laisser-faire, Stoiber als „typischer Ver- treter einer geschlossenen, auch gehemm- ten Gesellschaft“. Hoch nervös wacht die SPD-Kampa dar- um über die Bilder ihres Laisser-faire- Kanzlers. Wahlplakate der Wahlkreiskan- didaten mit dem Kanzler sind von oben untersagt, auch wenn die Genossen empört protestieren. Selbst die Terminplanung von Ministern wird zentral kontrolliert. Ihr Ziel, das Ergebnis von 40,9 Prozent aus dem Jahr 1998 zu verteidigen, hat die SPD längst aufgegeben. Sie wäre heilfroh,

* Oben: am 13. April während einer Palästina-Solida- ritätsdemonstration auf dem Berliner Alexanderplatz; un- ten: am 25. März mit dem Ensemble des Gorki-Theaters im Bundeskanzleramt.

32 Deutschland Nachwuchskräfte der SPD MARC DARCHINGER MARC MARCO-URBAN.DE Thüringens SPD-Chef Christoph Matschie, Matthias Platzeck, Brandenburger SPD- baden-württembergische Kollegin Vorsitzender und Potsdamer Oberbürger- Ute Vogt meister MARCO-URBAN.DE WALTER SCHMIDT / NOVUM SCHMIDT WALTER FRANK OSSENBRINK FRANK Olaf Scholz, Hamburgs Landesvorsitzen- Niedersachsens Ministerpräsident Sigmar Staatsminister im Bundeskanzleramt der und ehemaliger Innensenator Gabriel Hans Martin Bury kammer. Die Macht über die Gesetze wan- ner, was er ist.“ Das intellektuelle Vakuum, auch der Grünen-Abgeordnete Oswald dert damit in den Vermittlungsausschuss das General Müntefering mit organisatori- Metzger, der nicht ins Parlament zurück- von Bundestag und Bundesrat – und dort scher Perfektion zuzudecken versucht, trä- kehrt, den Rücktritt des Ministers – und sind die Grünen und die FDP mit nur je ei- te mit einem Schlag zu Tage: Wofür steht füllten damit die Abendnachrichten. nem von 32 Mitgliedern vertreten. die Partei? Wie heißt die Kernbotschaft so- Gerade erst hatte der Kanzler die Paro- Im kleinen Kreis beginnen führende Ge- zialdemokratischer Politik? le ausgegeben, „alles zu unterlassen, was nossen aber auch das bislang Undenkbare Außerdem: Wer sollte die Partei dann Unruhe schafft“. Zornbebend ließ er sich zu diskutieren: die Folgen einer Niederla- führen? Einer aus der ergrauten Stellver- noch in derselben Nacht alle Unterlagen ge bei der Bundestagswahl. Der Gang als treterriege – Heidi Wieczorek-Zeul, 59, Re- aus dem Ministerium zum neuesten Fall Juniorpartner in eine Große Koalition oder nate Schmidt, 58, Wolfgang Clement, 61, Scharping herbeischaffen und inspizierte gar in die Opposition wäre für die SPD sie persönlich. Unterdessen eine Katastrophe. Anders als Fischer, der liefen Anrufe von SPD-Ab- bereits über sein Leben als Oppositions- Der Gang in die Opposition wäre geordneten ein, den Mann führer im Bundestag nachzudenken be- für die SPD eine Katastrophe endlich zu entlassen: „Der ginnt, stünde Schröder dafür – und auch kostet uns bei der Wahl zwei für den Posten des Vizekanzlers – nicht bis drei Prozent.“ mehr zur Verfügung. Auch den Parteivor- Rudolf Scharping, 54, oder Wolfgang Einen persönlichen Fehler vermochte sitz würde er dann abgeben. Thierse, 58 – wohl kaum. Auf einmal wird Schröder dem einstigen Rivalen diesmal „Dann bricht in der SPD das Chaos vielen Parteigängern klar, wie dünn die nicht nachzuweisen – außer, dass er keine aus“, mutmaßt bereits ein Landeschef: Personaldecke der Genossen ist. Ruhe und Ordnung in seinen Laden bringt. „Dann bleibt nichts, wie es war, und kei- Schärfer denn je offenbart sich, dass auf So bleibt er denn wohl bis zum Wahltag im die Generation der Schröders, Lafontaines Amt. Doch danach, so die Ansage in der und Co. kaum jemand folgt. Den Genossen SPD, ist Schluss für Scharping. fehlt jene Altersklasse, die in den achtziger Alle Defätisten hat Schröder, seinem Jahren bei den Grünen gelandet ist. So kraftvollen „Ich oder der“ zum Trotz, nicht müsste wohl Senior Müntefering, 62, ran – verstummen lassen. Ob Rot-Grün weiter als Dirigent eines Übergangsensembles, regieren könne, so Joschka Fischers Ver- dem dann mutmaßlich auch der NRW-Vor- trauter Cohn-Bendit, sei „mehr ein Pro- mann Harald Schartau, 49, der Niedersach- blem Schröders als ein Problem der Grü- se Gabriel, 42, und Brandenburgs SPD-Chef nen“. Die Ökopartei würde sich im Duell Matthias Platzeck, 48, angehören würden. mit FDP-Chef Guido Westerwelle stabili- Schon jetzt beschädigt der Mangel an sieren, der Kanzler aber müsse „40 Prozent qualifizierten Kräften aus Sicht des Kanzlers bringen. Und das wird sehr schwer“. den Regierungserfolg. Nur weil Alternativen Ganz abgesehen von jener Variante, wie fehlen, hält er zum Beispiel Verteidigungs- der CSU-Mann seinen Gegner ziemlich minister Rudolf Scharping noch im Amt. überraschen könnte. Was eigentlich, wenn Vergangenen Mittwoch hätte Schröder Stoiber den Ball aufnimmt und zurückgibt: ihn um ein Haar gefeuert. Weil er den Bun- Richtig, Herr Schröder – Sie oder ich? destag im Zusammenhang mit der An- Ralf Beste, Petra Bornhöft, Ulrich schaffung des Militär-Airbus belogen habe, Deupmann, Konstantin von Hammerstein, Horand Knaup, Dirk Koch, Ulrich Schäfer, FRANK OSSENBRINK FRANK verlangte die Unions-Opposition, aber Christoph Schult, Gabor Steingart

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Ich bin der Mann der Mitte“ Unionskanzlerkandidat Edmund Stoiber über das Wahlprogramm der CDU/CSU, seine parteiinterne Konsensstrategie und den persönlichen Showdown mit dem amtierenden Regierungschef Gerhard Schröder

Stoiber: Ich war nie gegen Europa, aber es gab eine Zeit, da wurde jede Kritik an europäischen Ent- scheidungen gleich als fundamen- tale Kritik an Europa missgedeu- tet. Viele meiner Positionen von damals sind heute Mehrheitsmei- nung in Europa. SPIEGEL: Und auch für den Euro haben Sie leidenschaftlich ge- kämpft? Stoiber: Jawohl, ich war immer ein Befürworter des Euro. Ich war aber ein hartnäckiger Verfechter von verbindlich verabredeten Sta- bilitätskriterien. Dass sich kein Staat in Europa ein Defizit leisten darf, das mehr als drei Prozent des gesamten Bruttoinlandspro- duktes beträgt, hat die CSU am intensivsten von allen gefordert und sich damit am Ende auch durchgesetzt. SPIEGEL: Das heißt, Sie sind jetzt nicht der von Imageberatern und Wahlkampfstrategen weich gespülte Kandidat, sondern jahre- lang von allen verkannt worden? Stoiber: Die SPD hat denselben Fehler in Bayern schon einmal ge- macht und sich auf ein Klischee gestürzt, dem die Realität nicht entsprach. Als ich zum ersten Mal als Ministerpräsident zur Wahl

MONIKA ZUCHT / DER SPIEGEL stand, glaubten die Sozialdemo- Wahlkämpfer Stoiber: „Die ideologischen Debatten von früher spielen keine Rolle mehr“ kraten, sie hätten eine Chance, denn der vermeintlich rechte Stoi- SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, erst woll- Stoiber: Ich kenne niemanden innerhalb ber würde das Land niemals integrieren, ten Sie nicht Kanzler werden, jetzt wollen der Union – und ich bin nun häufig in der würde niemals 50 Prozent bekommen. Das Sie es doch. Was gab den Ausschlag für Bundestagsfraktion und in den Landes- Ergebnis der 94er Wahl ist bekannt: 52,8 diesen Sinneswandel? verbänden unterwegs –, der sich diese Fra- Prozent. Vier Jahre später musste ich Stoiber: Es war die Situation unseres Lan- ge nach dem wahren Stoiber ernsthaft die SPD schon wieder enttäuschen: 52,9 des, mit der ich nicht zufrieden bin. Kanz- stellt. Die Leute spüren doch, dass es hier Prozent. ler Schröder hat das Land auf den letzten ausschließlich um von der SPD aufgestell- SPIEGEL: Die Erwartung der SPD, es werde Tabellenplatz geführt. Da gehört Deutsch- te Klischees geht. einen Lagerwahlkampf geben, ist also land nun wirklich nicht hin. Und nicht ganz SPIEGEL: Ein bisschen verändert haben Sie schon deshalb falsch, weil Sie sich dem La- unwichtig für meine Entscheidung war sich aber schon. gerdenken hartnäckig verweigern? selbstverständlich das Drängen innerhalb Stoiber: Jeder Mensch verändert sich. Stoiber: Lagerwahlkämpfe waren doch nur von CDU und CSU, dem ich mich nicht SPIEGEL: Denken Sie nur an Ihre jahrelan- sinnvoll zu Zeiten, als es noch wirkliche länger entziehen wollte. ge europakritische Haltung. Alles, was aus Gegensätze gab – zwischen Sozialisten auf SPIEGEL: Die SPD nennt Sie einen Polari- Brüssel kam, haben Sie misstrauisch beäugt der einen Seite und bürgerlichen Parteien sierer und Spalter, Ihre eigenen Partei- – das neue Geld, die Europawährung, auf der anderen. Die Auseinandersetzung freunde hingegen kritisieren, dass Ihr kan- nannte einer Ihrer damaligen Kabinetts- zwischen Kurt Schumacher und Konrad tiges Profil einer Konsensstrategie geop- kollegen „Esperantogeld“. Sie selbst ha- Adenauer, als es um die Wirtschaftsverfas- fert wurde, die auf die politische Mitte zielt. ben Helmut Kohl als „Europa-Illusionis- sung des Landes ging, um die Westinte- Versteckt sich der wahre Stoiber? ten“ bezeichnet. gration und das Verhältnis zur SED in der

34 der spiegel 18/2002 DDR, das waren noch massive Gegensätze, SPIEGEL: Wo sind denn die die ganz automatisch die Wahlkämpfe die- Unterschiede zwischen Ih- ser Zeit dominiert haben. nen und dem amtieren- SPIEGEL: Würden Sie sagen, dass unsere den Kanzler Schröder am Zeit an fundamentalen Fragen dieser Art größten? ärmer geworden ist – dass die Wirklichkeit Stoiber: Eindeutig in der sich zu vielschichtig präsentiert, um sich Wirtschaftspolitik. Die noch in Lager zerteilen zu lassen? SPD hat noch nicht ver- Stoiber: Die ideologischen Debatten von standen, dass wir ange- früher spielen heute keine Rolle mehr. Es sichts der Integration Eu- gibt niemanden, der sagt, wir wollen Euro- ropas, der Globalisierung

pa verlassen, es gibt keinen, der sich gegen BERG / DPA OLIVER und der demografischen ein leistungsorientiertes Schulsystem aus- Holzmann-Arbeiter: „Das hat Deutschland nicht verdient“ Situation, also der Tatsa- spricht, und auch bei der che, dass immer weniger SPD fordert heute keiner Kinder nachwachsen, vor neuen Heraus- ein Mehr an Staatseinfluss. forderungen stehen. SPIEGEL: Welche Rolle SPIEGEL: Herausforderungen, auf die die spielt denn der Begriff beiden großen Volksparteien doch fast die konservativ für einen wie gleichen Antworten geben. Sie? Stoiber: Da irren Sie. Ich glaube schon, dass Stoiber: Konservativ be- unser Programm deutlich macht, dass viele deutet für mich auch, die Entscheidungen neu getroffen werden Wirklichkeit als Wirklich- müssen, wenn wir die wirtschaftliche Leis- keit anzuerkennen. Wir tungskraft Deutschlands, dieses großarti- müssen bereit sein, die gen Landes, erhalten und stärken wollen. Menschen so zu nehmen, Deutschland steht nach vier Jahren rot-grü- wie sie sind und müssen ner Regierung bei vielem, was sich messen aufhören, sie verformen zu lässt – etwa der Staatsquote oder der Staats- wollen. verschuldung –, am Ende der europäischen SPIEGEL: Würden Sie sagen, Skala. Das hat Deutschland nicht verdient. die Gesellschaft ist im Ver- SPIEGEL: Sind wir das Land der eingeschla- gleich zu diesen Jahren, fenen Füße?

die Sie angesprochen ha- FOTOARCHIV / DAS WELLER BENJA Stoiber: Ich weigere mich, das auf die Deut- ben, weiter zusammen- Muslimin (in Düsseldorf): „Menschen nehmen, wie sie sind“ schen zu schieben. Es wurde eine falsche gerückt? Politik gemacht, aber das Stoiber: Ja – und ich bin der Mann der kann man doch den Men- Mitte. schen nicht anlasten. SPIEGEL: Heißt das, die Mitte ist breiter ge- SPIEGEL: Vielleicht sind die worden? politischen Parteien ein- Stoiber: Nein, weil im Grunde genommen fach müde, denn alles, vor allem eines passiert ist: Das sozialistische worüber wir heute reden, Modell ist gescheitert. Alle praktischen Ver- ist doch bereits in der suche haben nicht zu dem von seinen An- Schlussphase der Ära Hel- hängern erwarteten Ergebnis geführt. Es hat mut Kohl sichtbar gewe- damit seine geistige Faszination verloren. sen. Es gab vor dem Re- SPIEGEL: Aber das können Sie nicht auch gierungswechsel des Jah- noch Gerhard Schröder anlasten. res 1998 praktisch keine

Stoiber: Das würde ihn überhöhen, da ha- / DDP MILLAUER NORBERT ökonomisch relevanten ben Sie Recht. Dieser Prozess ist durch den Arbeitslose (in Dresden): „Ich nenne keine Zahlen“ Reformen, danach gab es Zusammenbruch des Kommunismus ein- Reformen, aber sie fielen geleitet worden und hat allerdings auch die SPIEGEL: Ist das nicht ein gravierendes Pro- zu zaghaft aus. Was würde ein Kanz- deutsche Sozialdemokratie entscheidend blem für den beginnenden Wahlkampf – ler Stoiber tun, um Deutschland zu mo- verändert. die Austauschbarkeit der Programme, die dernisieren? SPIEGEL: Woran machen Sie das fest? Ähnlichkeit der Spitzenkandidaten, eine Stoiber: Der Mittelstand ist der Motor un- Stoiber: Als ich Anfang der neunziger Jah- SPD, die Sie selbst als „Stoiber plus X“ serer Wirtschaft, hier arbeiten zwei Drittel re Innenminister in Bayern war und darauf wahrnehmen? aller Arbeitnehmer, hier wird über die öko- Stoiber: Das trifft ja nicht auf nomische Stimmung im Lande entschie- die gesamte SPD zu. Und den. Hier muss die Erneuerung ansetzen. „Schröder hat das Land auf auch bei der inneren Sicher- SPIEGEL: Und der heutige Kanzler, glauben den letzten Tabellenplatz geführt“ heit gehen unsere heuti- Sie … gen Forderungen, so wie sie Stoiber: … hat die Nähe zu den Spitzen der bayerische Innenminister der großen Konzerne gesucht und sich den gedrängt habe, dass man bei der Verbre- Günther Beckstein formuliert, spürbar Titel „Genosse der Bosse“ redlich verdient. chensbekämpfung auf Prävention und Re- über das im rot-grünen Sicherheitspaket Ich werfe ihm vor, dass er die Volkswirt- pression setzen muss, wurde ich in die Beschlossene hinaus. Im Prinzip ist Schily schaft allein mit den Augen der Global rechte Ecke gestellt. Was SPD-Innenminis- heute „Beckstein minus X“. Und das X ist Players sieht. Er hat kein Herz für den ter Otto Schily heute sagt, das ist ja nun eben in vielen Punkten so groß, dass sich Mittelstand. wirklich der frühere Innenminister Stoiber darüber schon streiten lässt. Auch und ge- SPIEGEL: Was konkret haben Sie denn zu plus X. rade im Wahlkampf. bieten?

der spiegel 18/2002 35 Deutschland

Stoiber: Wir werden das Gesetz gegen die wollen wir den Bürgern und den Firmen Stoiber: Aber das Geld verschwindet ja Scheinselbständigkeit, das nur zu mehr wieder mehr Verantwortung und mehr fi- nicht. Es bleibt bei den Menschen. Allein Bürokratie geführt hat, wieder rückgängig nanziellen Spielraum verschaffen. Das wenn Sie die Staatsquote um einen Pro- machen. Wir wollen die kleinen Beschäfti- heißt ganz konkret, dass die Staatsquote, zentpunkt nach unten fahren, setzt das gungsverhältnisse – Stichwort: 400-Euro- also der Anteil der Staatsausgaben am So- etwa 21 Milliarden Euro frei. Gesetz – wieder beleben. Wir streben eine zialprodukt des Landes, ebenfalls spürbar SPIEGEL: Aber es geht Ihnen doch nicht al- Steuerreform an, die Schluss macht mit der reduziert werden muss – auch auf unter 40 lein um diesen finanziellen Umvertei- Benachteiligung des Mittelstands gegen- Prozent. lungseffekt – oder? über den Großkonzernen. SPIEGEL: Sie nennen Ihr Konzept daher Stoiber: Es geht mir im Kern um die Mo- SPIEGEL: Herr Kandidat, geht es etwas we- auch „3 mal 40“. Im Parteiprogramm fehlt dernisierung unseres Staates, um einen ent- niger wolkig? scheidungsfreudigeren und Stoiber: Die Regierung Schröder hat die damit auch effizienteren Veräußerungsgewinne für alle Aktienge- „Der Mittelstand ist gegenüber Staatsapparat. Wir brauchen sellschaften steuerfrei gestellt. Das heißt, den Großkonzernen benachteiligt“ heute in Deutschland statis- wenn eine große Bank tisch gesehen 29 Tage, bis ein sich von ihrem Aktienan- Selbständiger loslegen kann, während der teil an einem Automobil- europäische Durchschnitt zwischen dem unternehmen trennen Antrag und der Genehmigung bei 7 Tagen sollte, der heute ein Viel- liegt. Wir brauchen in allen Bereichen eine faches wert ist, dann geht Beschleunigung der Entscheidungsabläu- der Fiskus leer aus. Eine fe, und das heißt in ganz vielen Fragen solche Steuerfreiheit gibt auch, ein klares Auseinanderhalten der es fast nirgendwo in Eu- Verantwortlichkeiten zwischen Bund und ropa, auch nicht in den Ländern. USA. Die von Rot-Grün SPIEGEL: Das fordern Politiker seit Genera- beschlossene Steuerre- tionen – und nichts ist geschehen. form ist – und Sie im Stoiber: Es geht nicht mehr anders. Wir SPIEGEL haben das ja müssen die Dinge endlich auseinander auf vielen Seiten aufge- reißen. Wir müssen den Ländern klare Zu- griffen – in ihrer Auswir- ständigkeiten geben, zum Beispiel im kung ein Skandal für das Hochschulbereich. gesellschaftliche Gleich- SPIEGEL: Eine Jahrhundertaufgabe. Wer soll gewicht. Im Jahr 2000 sie anpacken? zahlten die großen Kapi- Stoiber: Nach einem Wahlerfolg werde ich talgesellschaften noch 23 unverzüglich eine Kommission einberufen Milliarden Euro und im zur Modernisierung unseres Landes. vergangenen Jahr keinen SPIEGEL: Eine Kommission zur Abschaffung Pfennig mehr. Wir wer- der Kommissionen? den daher diese Rück- Stoiber: Nein. Neben dem Bündnis für nahme der Steuerbefrei- Arbeit will ich ein Bündnis zur Moder- ung einer Prüfung unter- nisierung Deutschlands ins Leben rufen, ziehen. das mit Experten und Politikern aller Par- SPIEGEL:Warum sagen Sie teien besetzt sein wird. All die seit Jahren nicht klipp und klar: Wir und zum Teil seit Jahrzehnten ungelösten machen das Gesetz rück- Fragen – der Mischmasch der Zustän- gängig? digkeiten von Bund, Ländern und Ge- Stoiber: Weil wir erst ei- meinden, die langen Behördenwege für nen Kassensturz brau- Anträge und Genehmigungen aller Art – chen. Erst wenn wir Zu- müssen jetzt mit Sachkunde behandelt

griff auf alle Daten ha- / DPA RAUCHWETTER werden. ben, treffen wir die Ent- CSU-Politiker Strauß, Stoiber*: „Größere Integrationskraft“ SPIEGEL: Was versprechen Sie sich davon? scheidung. Stoiber: Dass hier Lösungen mit der SPIEGEL: Und das war es dann schon für den bei diesem ehrgeizigen Ziel nur leider ein größtmöglichen Sachkunde und im Kon- Mittelstand? Datum. sens erarbeitet werden. Der Vorteil wä- Stoiber: Auf keinen Fall. Wir müssen vor al- Stoiber: Wir sagen nicht, wir werden, son- re, dass die Umsetzung später nicht an lem die Eigenkapitalbasis der kleinen Un- dern wir wollen das in der nächsten Legis- der vielerorts üblichen Blockadehaltung ternehmen verbessern. Ein Großbetrieb laturperiode Schritt für Schritt umsetzen. scheitert. zahlt heute 25 Prozent Körperschaftsteuer, Aber eine solche Steuerentlastung können SPIEGEL: Wagen Sie eine Prognose: Wie das heißt, er hat 75 Prozent für die Bil- Sie eben nur verantworten, wenn die Kon- viele Arbeitslose werden wir nach vier Jah- dung des Eigenkapitals. Ein Mittelständler junktur mitspielt. ren einer Kanzlerschaft Stoiber haben? dagegen zahlt für 100 Euro Gewinn bis zu SPIEGEL: Ihr Ziel, die Staatsquote von heu- Stoiber: Ich will und kann mich nicht auf 48,5 Prozent Einkommensteuer, hat also te knapp 48 Prozent auf unter 40 Prozent konkrete Zahlen festlegen, weil ich die deutlich geringere Möglichkeiten, Eigen- abzusenken, bedeutet nichts anderes als außenpolitischen und die globalen Proble- kapital zu bilden. Deshalb wollen wir den einen deutlich schlankeren Staat, der mit me nicht komplett übersehen kann. Woher Spitzensteuersatz bis zum Ende der Legis- weniger Geld und Personal auskommen soll ich zum Beispiel wissen, welche Wir- laturperiode auf unter 40 Prozent drücken. muss als heute. Wie wollen Sie das orga- kungen aus dem Kampf gegen den Terror Auch die Lohnnebenkosten, die heute nisieren? auf uns zukommen? noch 41,3 Prozent betragen, sollen auf un- SPIEGEL: Würden Sie denn wenigstens Ger- ter 40 Prozent gesenkt werden. Insgesamt * Beim Parteitag der CSU in München im September 1979. hard Schröders Satz übernehmen: Ich will

36 der spiegel 18/2002 Werbeseite

Werbeseite Deutschland

CDU, die größer und heterogener ist, zu er- reichen. Nur diese Geschlossenheit er- möglicht eine Mobilisierung der eigenen Anhänger. SPIEGEL: Heute klagt vor allem die SPD über Mobilisierungsschwächen. Woran liegt das Ihrer Meinung nach? Stoiber: Die Sozialdemokraten bieten den Wählern keine Vision, keine Inhalte – da wird nur gesagt: Ich bin es, wählt mich. Si- cherlich gibt es einige, die ganz begeistert sind von Gerhard Schröder. Aber es gibt auch einen wahrscheinlich größeren Teil, dem das zu wenig ist, denn es geht doch auch um Inhalte. Die gegenwärtige Regie- rung, die ja Innovation und soziale Ge- rechtigkeit versprochen hatte, hat genau diese soziale Gerechtigkeit verletzt, wie bei der Bevorzugung der Großkonzerne. Ich wundere mich, dass dies innerhalb der SPD niemandem auffällt. SPIEGEL: Was uns auffällt ist, dass Sie die SPD jetzt auch links überholen wollen. Stoiber: Was die SPD in der Steuerpolitik

NICOLE MASKUS NICOLE gemacht hat, ist weder links noch rechts, es Parteistrategen Spreng, Machnig: „Die Zeit der Lagerwahlkämpfe ist vorbei“ ist einfach nur falsch. SPIEGEL: Der Kanzler glaubt, dass Inhalte mich am Abbau der Arbeitslosigkeit mes- Familien von 24 Milliarden Euro. Ein küh- das Hintergrundrauschen für einen Perso- sen lassen? nes Versprechen. nenwahlkampf abgeben, in dem es um eine Stoiber: Ich will mich an meiner Gesamt- Stoiber: Dieser Programmpunkt steht aus- einzige Frage geht: Ich oder der. politik messen lassen. Wenn wir all das drücklich unter dem Vorbehalt der Finan- Stoiber: Ich glaube, dass ich im Vergleich zu hinbekommen, was wir jetzt besprochen zierbarkeit. Ich kann das alles nur machen, Schröder nicht nur der bessere Minister- haben, dann wirkt sich das auch auf die Ar- wenn wir wieder ein ordentliches wirt- präsident bin, sondern der bessere Kanzler beitsplätze aus. schaftliches Wachstum hinbekommen. Ich wäre. SPIEGEL: Vielleicht liegt Ihre Zurückhaltung will nicht, dass wir Versprechen machen, SPIEGEL: Schröder meint, ein ausgeprägteres auch daran, dass Sie im Wirtschaftsteil Ih- von denen schon am Tag vor der Wahl klar Gespür für die Stimmung im Lande zu ha- res Programms weniger Staat versprechen ist, dass sie am Tag nach der Wahl gebro- ben. Seine Herkunft, aufgewachsen im buch- und im sozialpolitischen Teil ein wahres chen werden. stäblichen Sinne am Rande der Gesellschaft, Beglückungsprogramm für die Familien. verleiht ihm dabei eine unbe- Allein Ihr Familiengeld, das unter ande- streitbare Authentizität. Kom- rem 600 Euro im Monat für alle Kinder in „Ich habe eine starke Nähe men Sie mit Ihrem Kompe- den ersten drei Lebensjahren vorsieht, ad- zu den Problemen der Menschen“ tenzwahlkampf dagegen an? diert sich in der Endstufe auf eine jährliche Stoiber: Schröder hatte sicher Summe von 24 Milliarden Euro. eine schwere Jugend. Er hat Stoiber: Dieses Familiengeld – nur damit SPIEGEL: Herr Stoiber, Sie haben bereits sich alles selbst erarbeitet und erkämpft. das klar ist – ist auch eine Zusammenfas- einmal, nämlich im Jahr 1980, an verant- Davor muss man Respekt haben. Aber ver- sung bestehender Fördertöpfe. Es löst das wortlicher Stelle bundesweit Wahlkampf gessen Sie nicht: Auch ich bin im Krieg Erziehungsgeld ab, es löst auch das beste- geführt. Damals als Generalsekretär für geboren. Ich habe noch erlebt, wie mein hende Kindergeld ab. Und für viele, die den Kanzlerkandidaten Franz Josef Strauß. Vater abgerissen aus der Gefangenschaft bislang Sozialhilfe für ihr Kind beantragt Welche Lehren haben Sie aus dessen da- gekommen ist. Ich musste miterleben, wie haben, löst es eben auch die Sozialhilfe ab. maligem Scheitern gezogen? meine Eltern das Schulgeld nicht auf- Es bringt den Familien und den allein er- Stoiber: Meine zentrale Lehre aus der da- bringen konnten und zuweilen Schwierig- ziehenden Müttern und Vätern mehr maligen Zeit ist die, dass man als CSU-Vor- keiten hatten, mir das Fahrgeld zu geben. Transparenz und eine Entbürokratisierung sitzender eine größere Integrationskraft Ich glaube daher schon, dass ich eine star- beim Bezug des Geldes. braucht, um die gesamte Bandbreite der ke Nähe zu den Problemen der Menschen SPIEGEL: Was wird aus den habe. Dass ich in Bayern so hohe Zustim- bisherigen Kinderfreibe- mung erfahre, hängt auch mit dem Gefühl trägen? der Leute zusammen: Der hat nicht ab- Stoiber: Jeder bekommt die- gehoben. ses Familiengeld, wenn er SPIEGEL: Das klingt schon sehr nach Duell. ein Kind hat. Aber es Stoiber: Natürlich werden auch in diesem wird wie heute schon mit Wahlkampf Persönlichkeiten eine wichtige dem Kinderfreibetrag ver- Rolle spielen, aber die Persönlichkeiten rechnet. sind nur deswegen interessant, weil sie für SPIEGEL: Und trotzdem blei- politische Inhalte stehen, und nicht, weil sie ben Mehrausgaben für die so schön oder so locker sind, so eckig oder so spröde.

* Ralf Neukirch, Gabor Steingart, MONIKA ZUCHT / DER SPIEGEL SPIEGEL: Herr Stoiber, wir danken Ihnen Hans-Joachim Noack und Stefan Aust. Stoiber (M.), SPIEGEL-Redakteure*: „Ich wäre der Bessere“ für dieses Gespräch.

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Werbeseite Titel

Arbeit für alle – keine Illusion? Planungsstäbe, Ghostwriter von Karl Schiller Der Abbau der Arbeitslosigkeit gilt, wie die und heute Chef eines Unternehmens für Wirt- Programme von SPD und Union suggerieren, schaftsforschung in Bonn und Berlin. Der Au- als Top-Thema der Bundestagswahlkampagne tor skizziert – auch als Antwort auf einen – aber die Parteien scheuen die dazu nötigen SPIEGEL-Essay von Peter Glotz, der die hohe Voraussetzungen. Das befürchtet Ulrich Pfeif- Arbeitslosenquote für unvermeidlich hält – ra- fer, 62, während der Regierung Willy Brandts dikale Reformschritte, die aus seiner Sicht eine in mehreren Ministerien Leiter der jeweiligen neue Vollbeschäftigung ermöglichen. Die Zynismus-FalleESSAY Von Ulrich Pfeiffer

eter Glotz („Der Wirtschaftswahlkampf“, SPIEGEL 7/2002) mente verdichtet und damit stimmenrelevant werden. Den hält die Erwartung für unpolitisch, dass Gerhard Schröder Wählern salopp zu erklären, die Wahlkämpfer hätten mit ihren ri- Pund Edmund Stoiber in einem Wirtschaftswahlkampf sub- sikoscheuen Vorbeimogel-Strategien doch Recht, zieht ihnen den stanzielle Alternativen gegen die Arbeitslosigkeit oder andere Kritikboden unter den Füßen weg. Das kann doch wohl keine se- Themen der Wirtschaftsentwicklung bieten werden. Er verleiht riöse Position eines Intellektuellen sein, der sich nie scheute, auch dieser Erwartung mit dem Hinweis, Arbeitslosigkeit sei ohnehin unangenehme Wahrheiten auszusprechen. Die Wähler sollten unvermeidbar, noch einen Anstrich von Unausweichlichkeit. Im wissen, dass der deutsche Ohnmachts-GAU eines nun bald 30- sarkastisch aufgeklärten Modernismus à la Glotz bringt die digi- jährigen erfolglosen Herumkurierens an der Arbeitslosigkeit kei- tale Ökonomie – so sein Schlüsselargument – zu wenig Jobs her- ne zwangsläufige Folge einer neuen digitalen Ökonomie und auch vor. Die hohe Arbeitslosigkeit der niedrig Qualifizierten wird keine Folge von irgendwelchen internationalen Superkräften ist. zum unvermeidbaren Ergebnis eines technikgetriebenen Ent- Nach wie vor arbeitet in der Bundesrepublik ein überdurch- wicklungsprozesses. schnittlicher Anteil der Erwerbstätigen erfolgreich und wettbe- Wirklich ernst gemeinte Gegenmaßnahmen können deshalb werbsfähig in international verflochtenen Sektoren. Deutschland kein Wahlkampfthema sein. Die Stimmenmaximierer Stoiber und bleibt stark und wettbewerbsfähig auf internationalen Märkten, je- Schröder dürfen ihre wichtigste Klientel – die Arbeitsplatzbesit- doch zu Hause bei den lokalen Gütern beschäftigungsschwach. Für zer – nicht vor den Kopf stoßen. Das Fazit des Peter Glotz: Stoi- die verkümmerten heimischen Sektoren trägt die deutsche Poli- ber mag zwar einen Wirtschaftswachstums-Wahlkampf führen, tik die Verantwortung. aber er wird sich als Kanzler wirtschaftspolitisch nicht viel anders verhalten können als Schröder. lotz verdrängt die uralte ökonomische Wahrheit: „Econo- Diese zynische Position ist nicht tolerierbar, denn gerade der mies change but not Economics“ – die innere Logik er- Wahlkampf 2002 dürfte gleich aus mehreren Gründen fast die letz- Gfolgreichen Wirtschaftens bleibt unverändert, nur die his- te Chance in unserem politischen Slow-Motion-Country bieten, torischen Umstände des Wirtschaftens wandeln sich. Warum uns den ererbten Problemstau aufzulösen. in der Bundesrepublik zu den hier herrschenden Konditionen Nur in diesem Jahrzehnt haben die unter 50-jähri- die Arbeit ausgeht, lässt sich leider nur zu leicht gen Wähler noch ein Übergewicht. Dieses Jahrzehnt Die Arbeitslosig- ökonomisch erklären: trägt noch keine Sonderlasten der Alterung. Die 30 Zwei Drittel aller Deutschen arbeiten trotz bis 40 Jahre alte Baby-Boom-Generation steht in keit ist in der deutschen Exportstärke nicht auf globalen Saft und Kraft. Deshalb sollte aus Einsicht die Rück- der Masse haus- Märkten international digital vernetzt, sondern zahlung von Staatsschulden, der Abbau von Sub- auf heimischen Märkten für lokale Güter. Sie ar- ventionen oder der Unterausbildung beginnen. In- gemacht und beiten im Einzelhandel, in der Bauwirtschaft, in novative Weichenstellungen gegen die Arbeitslosig- Folge falscher der öffentlichen Verwaltung und im Gesund- keit sind jetzt deutlich leichter möglich als 10 bis 15 heitssystem. Sie arbeiten als Pfleger, Taxifahrer, Jahre später, wenn die Lähmungen und Belastungen Politik in Kellner, Köche, Richter, Polizisten, Masseure der Alterung wirken. Deutschland und reparieren Häuser, reinigen Anzüge, Der Glotzsche Fatalismus dürfte aber auch mit Straßen oder Wohnungen. Dabei wachsen natür- Blick auf den kommenden Bundestagswahlkampf in lich auch die digitalen Komponenten. Doch bei die Irre führen. Ein erneuter demoskopischer Schmeichelwahl- diesen vielen lokalen Beschäftigungspotenzialen geht uns die Ar- kampf bei Verweigerung der großen Themen wie Arbeitslosigkeit, beit noch lange nicht aus. Selbst wenn in total automatisierten Fa- Alterung und Unterausbildung wird die latenten Sorgen der wa- briken alle Autos dieser Welt digital gesteuert, also „arbeitslos“ chen Wähler nicht vertreiben. So glauben nach einer infas-Um- produziert werden, muss man sie waschen und warten. frage 81 Prozent der Deutschen nicht, dass die Riester-Reform von Die deutsche Arbeitslosigkeit ist Folge des Versagens einer ri- Dauer sein wird. sikoscheuen Allparteiendemokratie im Bundesrat, die ständig de- Deshalb die Gegenthese: Der Weg zurück zur Vollbeschäftigung monstriert: Was wirksam wäre, findet keinen Konsens – was Kon- lässt sich in einem umfassenden, etwa zehnjährigen Modernisie- sens findet, wirkt nicht. In einer Realitätsverweigerung wurden rungsprozess der Wirtschaft ermöglichen, denn die Arbeitslosig- Fehlentwicklungen verdrängt oder wichtige Maßnahmen unter- keit ist in der Masse hausgemacht und Folge falscher Politik. Das lassen. Seit den achtziger Jahren steigt die Arbeitslosigkeit der latente Unbehagen der Wähler kann durch Strategien und Argu- niedrig Qualifizierten. Dennoch nahm man gegen jede ökonomi-

40 der spiegel 18/2002 sche Vernunft hin, dass durch Einwanderung und Unterausbildung und muss aufgewertet werden. Die Deutschen machen Abitur mit der Ausländerkinder das Arbeitsangebot an niedrig Qualifizierten 20 und sind fast 30, wenn sie ihr Studium beenden. Junge deut- ständig gesteigert wurde. Die Arbeitslosigkeit unter den gut sie- sche Männer in Westdeutschland sind 26, wenn sie das Elternhaus ben Millionen Ausländern ist in Westdeutschland doppelt so hoch verlassen und einen eigenen Haushalt bilden. Wie sollen aus sol- wie unter Deutschen. Zwischen 1987 und 1997 stieg die Zahl der chen langzeitlichen Nesthockern später Unternehmer werden? Ausländer um drei Millionen, die Zahl der erwerbstätigen Aus- Flexibilität – der Schlüssel von Unternehmen und Arbeitnehmern länder hingegen nur um knapp eine Million. auf dem Weg zur Vollbeschäftigung – geht zurück auf persönliche, Aus einer arbeitsmarktorientierten Zuwanderung der sechziger durch das Bildungssystem geprägte Eigenschaften und auf die und zum Teil auch der siebziger Jahre wurde eine Sozialstaats- richtigen Anreize, Regulierungen und Organisationsformen in der Zuwanderung in die unerträglich hohe Arbeitlosigkeit und in die Wirtschaft und am Arbeitsmarkt. Die Antriebsenergie kommt aus Unterausbildung. Rund 20 Prozent der Ausländerkinder bleiben mehr Wettbewerb. Ludwig Erhards Revolution nach dem Kriege ohne Hauptschulabschluss, 40 Prozent der Türken unter 25 Jah- hat gezeigt, was Wettbewerb bewirken kann. Inzwischen wird ren ohne Berufsausbildung. Wer eine solche Zuwanderung orga- eine zweite Wettbewerbskur notwendig. Neue Schutzvorschriften nisiert, muss Arbeitslosigkeit ernten. Statt jetzt völlig fruchtlos wie die geplanten Tariftreueregeln, die eine Vergabe öffentlicher über eine künftige Zuwanderung von hoch Qualifizierten zu Aufträge an die Einhaltung der Tarife vor Ort binden, sind Wett- streiten, sollte zwischen den Bundesländern ein bewerbsgift und erhöhen die Arbeitslosigkeit. Wir Wettbewerb darüber beginnen, wie die Quote Wie sollen brauchen: mehr Wettbewerb zwischen autonomen der Ausländerkinder, die die Hochschulreife er- Schulen und Universitäten, die sich zu einem re- reichen, von gut 10 Prozent auf 25 oder sogar 30 aus lang- levanten Teil aus Studiengebühren finanzieren Prozent gesteigert werden kann. Nur so lässt sich zeitlichen müssen; mehr Wettbewerb und weniger planeri- der künftige Mangel an Qualifizierten und damit sche Rationierung von Bauland mit dem Ergebnis, auch die Arbeitslosigkeit überwinden, denn Arbeit Nesthockern dass Kosten sinken und flexiblere und leistungs- entsteht vor allem aus innovativer, hoch qualifi- später fähigere Märkte entstehen. Der größte Subventi- zierter Arbeit. Einwanderung ohne Arbeitslosig- onsfresser unter allen Märkten könnte gut auf zehn keit wird es nur geben, wenn die Einwanderer Unternehmer Milliarden Euro ohne Verschlechterung der Woh- Aufstiegschancen erhalten. Nicht integrierte, von werden? nungsversorgung verzichten. Mehr Wettbewerb Transferzahlungen abhängige Ausländer machen wird auch im Verkehr nötig – bei gleichzeitiger die Deutschen ärmer. Verringerung der Mobilitätssubventionen. Relative Preise steuern die Wirtschaft. Die Arbeitslosigkeit in Die größte Belastung für die wirtschaftliche Entwicklung und der Bundesrepublik musste deshalb ständig steigen, weil Ge- den Arbeitsmarkt aber entsteht aus dem Geburtenstreik der letz- werkschaften und Politik – an dieser wirtschaftlichen Grundregel ten 30 Jahre. Zehn Deutsche bekommen gerade noch sechs Kin- vorbei – einfache Arbeit durch überhöhte Lohnsteigerungen und der und werden bei unverändertem Geburtenverhalten noch vier ständig steigende Abgaben aus vielen Märkten hinausgesteuert Enkel haben. und hinausreguliert haben. Deutsche Prüfungen, deutsche Be- rufsbilder, deutsche Gewerbezulassungen und andere Berechti- urch die Alterung droht die Staatsquote nach 2020, wenn gungsscheine machen es Ausländern und niedrig qualifizierten die Baby-Boom-Generation in Pension geht, auf über 60 Deutschen äußerst schwer bis unmöglich, auf den Märkten der DProzent zu klettern. Völlig offen ist auch, wie in einer einfachen Dienste ausreichende Nachfrage zu finden oder sich als alternden Gesellschaft, nach 30 Jahren des Abstiegs im Pro- Selbständige durchzusetzen. Bis zum Überdruss wurde darauf duktivitätszuwachs und in den letzten 10 Jahren zusammen mit verwiesen, dass sich vor allem Sozialhilfeempfänger in Groß- Italien als Wachstumsschlusslicht der EU, ein neues Produk- städten mit hohen Mieten oft nicht besser stehen, wenn sie ein- tivitätswunder geschaffen werden soll, wie es etwa in den Riester- fache Arbeit annehmen. Das gilt erst recht, wenn sie durch Rechnungen der Alterssicherung unterstellt wird. Schwarzarbeit ein Zusatzeinkommen verdienen. Über den Kom- Die Alterung der Bevölkerung bringt neue Risiken für die Be- bilohn wird seit langem mit unwirksamen Mini-Ergebnissen dis- schäftigung. Diese Perspektive macht die saloppe Position von kutiert. Hier sind ins Gewicht fallende Resultate (eine Million zu- Trendforschern wie Matthias Horx, die Glotz zustimmend zitiert sätzliche Beschäftigte) erzielbar. Doch es ist besser, Löhne, die ein und nach denen wir uns eine große Unterschicht von Unterbe- Existenzminimum nicht ermöglichen, durch staatliche Zahlun- schäftigten leisten können, völlig absurd. Die fiskalischen Kür- gen zu ergänzen, als sie bei Arbeitslosen ganz zu ersetzen. zungsbrutalitäten in einer alternden Gesellschaft als Folge stei- gender Belastungen durch Renten, Beamtenpensionen, Gesund- n den USA erhalten 15 Prozent aller Erwerbstätigen im Rah- heit und Pflege bei gleichzeitig hoher Staatsverschuldung würden men der Einkommensteuer einen Lohnzuschuss. Unter den bei hoher Arbeitslosigkeit erst recht unerträglich. Es gibt deshalb IBedingungen der Bundesrepublik sollten vorher die Sozialhilfe nur eine rationale Folgerung: Innovationswahlkampf jetzt. Die und Arbeitslosenhilfe für Erwerbspersonen verschmolzen und Zeit rennt – auch in der Politik gilt ein Zinseszinseffekt. abgesenkt werden. Die Anreize, sich auf Kombilöhne einzulassen, Der Weg zurück zur Vollbeschäftigung wird konfliktreich müssen steigen. Wer arbeitet, muss selbst bei Minilöhnen deutlich und langwierig. Alle wirksamen Maßnahmen wecken Wider- mehr erhalten als ein reiner Sozialhilfeempfänger. Kombilöhne stände. Deshalb dürfte die Glotz-Prognose, dass der Wirt- sind leider kein Allheilmittel. Es sind vielfältige Stärkungsmaß- schaftswahlkampf 2002 in einem Schattenboxen endet, leider nahmen nötig. Dazu gehört auch eine beschäftigungsorientierte zutreffen. Das kann jedoch kein Anlass sein, sie noch zu Deregulierung. Die fruchtlosen Debatten über eine Aufhebung des beweihräuchern. Wer die Risiken der künftigen wirtschaftlichen Ladenschlusses zeigen, welche Widerstände zu überwinden Entwicklung ernst nimmt, muss die erhöhte politische Auf- wären. Ähnliche Blockade-Allianzen entstünden, wenn kleine merksamkeit eines Bundestagswahlkampfs nutzen, um strategi- Dienstleistungsunternehmer, pauschal besteuert und von der sche Optionen zu verdeutlichen. Stoiber und Schröder sollten Buchhaltungspflicht befreit, privaten Haushalten alles anbieten, trotz aller Spin-Doktor-Weisheit das Risiko eines Aufklärungs- wonach Nachfrage besteht. Solche Hinweise sollen zeigen, dass wahlkampfs mit wirklichen strategischen Alternativen eingehen. eine Absenkung der Bruttolöhne nicht ausreicht. Es müssen auch Mit der Gegenwartsleistung ist die Zukunft nicht zu bewältigen. neue Arbeitsformen zugelassen werden. Der Wohlstandsgipfel, auf dem wir alle noch leben, ist eine Viele indirekte Ursachen von Arbeitslosigkeit finden sich im Leistung der Nachkriegsgenerationen. Ein Weg zurück zur deutschen Ausbildungssystem, das seit langem regelrecht ver- Vollbeschäftigung wird auf keinen Fall durch den Marsch in eine rottet. Die Hauptschule erfüllt minimale Ansprüche nicht mehr Zynismus-Falle gewonnen.

der spiegel 18/2002 41 Werbeseite

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Werbeseite Titel „Ist doch egal, wer regiert“ Das Beispiel Sachsen-Anhalt zeigt drastisch wie kaum eine Wahl zuvor: Den Volksvertretern läuft das Volk davon. Enttäuscht oder gelangweilt wenden sich die Bürger von den Parteien und ihren Akteuren ab – die Nichtwähler sind vielerorts zur stärksten politischen Kraft aufgestiegen.

m Tag danach. Hans Nachkriegsdeutschland überhaupt. Die Krosse, 72, Nichtwäh- Nichtwähler sind – mit 43,5 Prozent – zur Aler, sitzt auf seiner stärksten Fraktion aufgestiegen: nur 56,5 Parkbank und hat mal wieder Prozent Wahlbeteiligung bei einer Land- eine Laune, dass jetzt nur tagswahl, ein Minus von 15 Prozent im Ver- noch eine Gewaltorgie seine gleich zum Mal davor. Weniger gab es nur Stimmung heben könnte. Zu- 1994 und 1999 in Brandenburg (56,3 und erst die Sozis, die „Arbeiter- 54,3 Prozent) und schon einmal in Sachsen- verräter“, und dann die rest- Anhalt, 1994 mit 54,8 Prozent. lichen Politiker – „erschießen Und so üblich Staatskrisen im Land der müsste man das ganze Pack“. Leidgeprüften – Spottname Sachsen-Aus- Haben sich doch alle die Ta- halt – sonst auch sein mögen, diese Krise schen voll gestopft, nichts geht weit über das Bundesland des glück- mehr übrig gelassen für einen losen Ministerpräsidenten Reinhard Höpp- armen Rentner in Lützen, ner (SPD) hinaus. Das Menetekel von Sachsen-Anhalt, „erschießen Magdeburg steht für das schleichende müsste man die“. Verschwinden der Wähler in der ganzen Am Tag danach. David Fa- Republik. Nicht nur in den Ländern, noch bian, 22, Nichtwähler, sitzt in viel mehr in den Kommunen. Nicht nur seinem eigenen Lokal „Gute im Osten, genauso im Westen. Nicht nur Quelle“ und hat mal wieder unter den Jungen und im Protest-Proleta- eine Laune, dass jetzt nur riat, sondern auch im Mittelstand und bei noch ein voller Touristenbus Menschen in den besten Jahren. mit Motorschaden vor der Tür Den Volksvertretern läuft das Volk da- seine Stimmung heben könn- von, überall und unaufhaltsam – und glaubt te. „Hier in Lützen passiert man Wahlforschern wie dem Forsa-Chef doch eh nichts“, sagt er. Was Manfred Güllner, auch in fünf Monaten haben die Politiker alles ver- bei der Bundestagswahl. Die Nichtwähler sprochen, „aber nie was ge- könnten sogar die Wahl entscheiden. halten“. Schon drückt der Münchner Politikwis-

Am Tag danach. Die bei- JENS MEYER / AP senschaftler Elmar Wiesendahl der Repu- den Frauen der ABM-Bri- Wahlverlierer Höppner: Betriebsunfall der Demokratie? blik den Stempel „apathische Gesellschaft“ gade, Nichtwählerinnen, ha- auf, sein Mainzer Kollege Jürgen Falter ben mal wieder eine Laune, Größte Fraktion fragt sich, wie viele Deutsche nicht wählen dass jetzt höchstens noch ihre Rechnerische Sitzverteilung in Sachsen-Anhalt unter gehen, nur weil das Wochenendwetter zu eigene Wiedergeburt jenseits theoretischer Einbeziehung der Nichtwähler gut, zu schlecht oder sonst irgendwie hin- von Lützen die Stimmung he- derlich ist. Und Dieter Roth, Chef der Berechnungen: ben könnte. „Biste wählen ge- CDU Infratest Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen, dimap gangen?“ „Nee. Ich war zu FDP sieht in den vielen Nichtwählern gar ein DDR-Zeiten nicht, heute geh Nichtwähler 46 22 Signal für eine „bedeutende Veränderung ich auch nicht. Sind doch so- 8 SPD des deutschen Parteiensystems“. wieso alles Verbrecher.“ 11 PDS Immerhin: Gäbe es Sitze für den Nicht- Am Tag nach der Wahl in Sachsen-An- 12 wähler-Block, müssten im Bundestag 124 99 Sitze ohne Berücksich- halt ist Lützen, 4000 Einwohner, die Stadt tigung von Überhang- und von 656 Sesseln leer bleiben; dabei ist die mit der niedrigsten Wahlbeteiligung: 41,7 Ausgleichsmandaten Wahlbeteiligung im Bund mit Werten um Prozent. Sie gehört zum Wahlkreis mit der 80 Prozent noch am höchsten. Im Europa- geringsten Wahlbeteiligung: 49,3 Prozent. mern, wo im September – wie im Bund – parlament und in den meisten Landtagen Und liegt im Land mit der viertschlechtes- gewählt wird. wären es schon so viele Plätze, dass man ten Wahlbeteiligung, die es je bei Land- Enttäuscht klingt das, ernüchtert, nur getrost Architekturwettbewerbe für den tagswahlen gab. Auch die Politiker haben wirklich entsetzt oder erschüttert klingt es Teilrückbau von Plenarsälen ausschreiben deshalb ein bisschen schlechte Laune. nicht. So routiniert gedenken die Politiker könnte. In Magdeburg etwa würden 53 „Leider sehr gering“ findet der CDU- derer, die nicht zur Wahl gegangen sind, Sitzgelegenheiten ausreichen – 46 weniger Wahlsieger Wolfgang Böhmer die Anteil- dass es auch die Schweigeminute für die als vorgesehen (siehe Grafik). nahme der Bürger, einfach „schlecht“ der Toten bei der Jahreshauptversammlung ih- Allein in Nordrhein-Westfalen schwänz- SPD-Generalsekretär Franz Müntefering, res Ortsvereins sein könnte. ten im Mai 2000 rund 5,7 von 13,1 Mil- immerhin „erschreckend gering“ Peter Rit- Dabei ist Sachsen-Anhalt einer der größ- lionen Stimmberechtigten den Urnen- ter, PDS-Chef von Mecklenburg-Vorpom- ten Betriebsunfälle der Demokratie im gang, und das sind nicht mal jene, die

44 der spiegel 18/2002 VINCENT THIAN / AP SVEN DÖRING / VISUM SVEN AOP NORWAY / ACTION PRESS / ACTION AOP NORWAY RONALD FROMMANN / LAIF FROMMANN RONALD Nichtwähler Hannawald, Degener, Fabian, Schumacher: Frustriert, protestiert, resigniert

„Es ändert sich ja doch nichts“ auf ihren Damit entspricht sie dem Typ des noto- zent der Bundesbürger glaubten danach, Wahlzettel kritzelten oder „Ihr seid alle rischen Nichtwählers, für den der Wahl- den Parteien sei die Sache schnuppe und korrupt“. forscher Roth die Eigenschaften „schlecht nur die Macht wichtig. Dass 1998 im Bund und nach 1999 noch ausgebildet“, „politisch uninteressiert“, Eine Einschätzung, die sie mit dem in Hamburg und Berlin die Wahlbeteili- meist „weiblich“ ermittelt hat. Volksheros Michael Schumacher teilen: gung zunahm, lief zwar gegen den Ge- Nur: So viele Hoffnungs-, Hilf- und Angewidert vom „reinen Medienspekta- samttrend der vergangenen vier Jahrzehn- Haltlose gibt es in der Republik nun auch kel“ der Politik, sei er noch nie wählen te (siehe Grafik unten), drehte ihn aber wieder nicht, um die bundesweite Mas- gegangen, bekannte der Medienstar dem auch nicht um: Bei 14 Landtagswahlen seit senflucht vor der Urne zu erklären. Dazu Medium „Max“ vergangene Woche; der Anfang 1999 sank die Beteiligung im muss der Wahlforscher Michael Eilfort, Skispringer Sven Hannawald hält es laut Schnitt um 5,3 Prozent im Vergleich zum im Hauptberuf Büroleiter des Unionsfrak- „Bild“ nicht anders. jeweiligen Urnengang davor. tionsführers Friedrich Merz, auch noch Wenn dann Spitzenkräfte aller Parteien Dabei steht Sachsen-Anhalt nicht mal einen „Nichtwähler neuen Typs“ bemü- meinen, Popularität müsse man sich not- für die ganze Misere und nur für die halbe hen: gebildet, gut verdienend, politisch falls auch mit Peinlichkeit erkaufen, ver- Wahrheit. Dort galt bei der Wahl noch die informiert, sauer auf die Parteien. grault das auch noch nüchterne Oberstu- einfache Formel: Aus Verlierern werden Auch diese Klientel gehört zu den mehr dienräte, die Politik bis dahin für eine wich- Verdrossene – 1994 schon frustriert, 1998 als zwei Dritteln aller Nichtwähler, die in tige Angelegenheit gehalten hatten. Was noch protestiert, 2002 resigniert. einer Umfrage des SPIEGEL angaben, sollen sie schon denken von der nordrhein- Menschen also wie Jacqueline Wunder grundsätzlich mit Parteien und Politikern westfälischen CDU-Landtagsabgeordneten aus Greppin bei Bitterfeld, 25 Jahre alt, unzufrieden zu sein oder aber keine Partei davon die letzten zehn ohne richtige Ar- zu finden, die ihren Vorstellungen ent- Nichtwähler beit. Die einzige Lehrstelle, die sie je spricht (siehe Grafik Seite 48). 60% bei der Europawahl Juni ’99 bekam, war eine Abstell-Stelle – Verkäu- Ob für Neu- oder Altfrustrierte – Steil- ferin hätte sie da werden sollen, aber vorlagen für Politikverdrossenheit bieten 54,8 „überbetrieblich“, also ohne Anschluss die Parteien von jeher genug: Jüngst erst bei Landtagswahlen* an den Arbeitsmarkt. Sie hat dann die der Spendenskandal der CDU – ein Kanz- Brandenburg Sachsen- Lehre abgebrochen und danach nichts ler, der Recht und Gesetz bricht und hin- Sept. ’99 Anhalt 50% Neues mehr gefunden, weil sie eine Ar- terher so beharrlich Namen verschweigt, April ’02 beit will, „wo ich mit Freude aufstehe“. als hätte er als Mafioso Omerta gelobt. Das aber ist ziemlich viel verlangt in Dann, als gäbe es einen Proporz bei der 45,7 Nordrhein- 43,5 Bitterfeld. Besetzung von Skandalen, die Spenden- 43,3 Westfalen Mai ’00 Weil Jacqueline Wunder deshalb glaubt, trickserei der SPD in Nordrhein-Westfalen. 40,1 40% dass sie ohnehin keine Wahl hat, ist sie gar Die habe sicher zur niedrigen Wahlbeteili- Thüringen nicht erst wählen gegangen und wird es gung in Sachsen-Anhalt beigetragen, räumt 39,9 Sept. ’99 Rhein- 37,9 land- auch am 22. September nicht tun: „Ist doch der sozialdemokratische Landeschef in Düs- 38,9 Sachsen Pfalz egal, wer regiert. Für mich ändert das seldorf, Harald Schartau, zerknirscht ein. Sept. ’99 37,4 März ’01 Bremen nichts, ob da nun dieser Bayer kommt oder Nicht zu vergessen das Schauspiel na- Juni ’99 wer auch immer. Die seiern alle denselben mens Zuwanderung, das SPD und Union Baden- 30% Müll.“ im März im Bundesrat aufführten – 78 Pro- Württemberg März ’01 Volkspartei Nichtwähler Wahlverweigerung in Prozent 22,2 21,5 21,0 bei Bundestagswahlen 20% 17,8 15,7 14,2 13,2 13,3 12,2 12,3 11,4 10,9 8,9 9,3 10%

*Länder mit dem höchsten Nichtwähler-Anteil seit der letzten Bundestagswahl

1949 1953 1957 1961 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987 1990 1994 1998 1999 2000 2001 2002

der spiegel 18/2002 45 Werbeseite

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Werbeseite Andrea Milz, 39, die sich mit Möglicherweise liegt es aber nicht nur entrückt-verzücktem Blick am Pinneberger, sondern auch an Pinne- als Bauchtänzerin in der berg: „Bevor ich mich wieder für Kommu- „Bild am Sonntag“ präsen- nalpolitik interessiere, müsste erst mal die tiert und flötet, der Bauch- ganze verhunzte Innenstadt umgekrempelt tanz sei ihre Welt, ansonsten werden“, sagt die Frau in der Fußgänger- kämpfe sie aber auch um län- zone, und dass sie überhaupt kein schlech- gere Öffnungszeiten für Vi- tes Gewissen habe, bei kommunalen Wah- deotheken? len zu streiken, und dass sie dazu auch Vermutlich das Gleiche wie stehe, Name: Brigitte Zenk, Alter: 35, Mei- über den Auftritt von Guido nung: ohne mich. Westerwelle im „Big Bro- So sieht es auch Oliver Barth, 34. „Wer ther“-Container, den der gewählt wird, ist doch egal, ob da Häns- FDP-Chef noch heute für ein chenklein antritt oder sonst wer, ein Pro- Missionswerk im politischen gramm für die Stadt haben die alle nicht“, Heidenland hält. murrt der Verlagsangestellte. Und die 80- Allerdings: Der Mitglie- jährige Rentnerin Ilse Degener hat festge- derschwund der FDP ist ge- stellt, „dass es drei Kandidaten gab, von de- stoppt – das kann Wester- nen konnte man keinen wählen“. welle für sich reklamieren. So hat sich fast jeder zweite Pinneber- Zwischen 1995 und 2000 war ger – Wahlbeteiligung bei der jüngsten die Zahl der eingetragenen Kommunalwahl: 56,7 Prozent – aus der Liberalen bereits von etwa Lokalpolitik verabschiedet. Auch von der 80000 auf knapp 63000 ab- SPD: An der Wand der Geschäftsstelle gesackt. Auch bei den ande- hängt noch die gute alte Zeit, Willy Brandt

ren Parteien spiegelt sich der ZEITUNG / BILD KUEHLEM MANFRED mit Wandergitarre und Zigarette im Mund- Volksverdruss in der Mitglie- CDU-Abgeordnete Milz: Popularität durch Peinlichkeit winkel, die Zeit, als es in der Stadt selbst- verständlich noch eine Juso-Gruppe gab. Pessimist, eine sinkende Heute sind sie bei den Sozialdemokraten Parteien-Verdruss Wahlbeteiligung ja auch ein froh, dass sie wenigstens noch im Kreis ein „Woran liegt es, dass Sie nicht zur Wahl gehen?“ Zeichen für eine intakte Re- paar Aktive zusammenbekommen, viel- publik sein. leicht 30. „Die Altersstruktur bricht mir „Weil .... Ob ganz zufrieden oder von unten weg“, klagt Ortsvereinsvize ... ich grundsätzlich völlig gefrustet – vielleicht Christian Koch, 29. mit Parteien und Poli- 37% gehen so gestimmte Bürger Allen Parteien fehlt es an jungen Leuten. tikern unzufrieden bin“ dann noch zur Bundestags- „Das Mitgliedsalter ist so fürchterlich, noch wahl, um beim Showdown schlimmer als das der Zuschauer beim ... keine Partei meinen 31% der Häuptlinge dabei zu ZDF“, spottet Wahlforscher Roth. Selbst Vorstellungen entspricht“ sein. Nirgendwo jedoch ist beim Grünen-Nachwuchs haben sich seit die Erosion des Politischen 1999 massenhaft Mitglieder verdrückt – ... ich mich nicht für 13% NFO-Infratest-Umfrage so stark wie in den Kom- statt 5000 sind es heute nur noch 4000. Politik interessiere“ für den SPIEGEL munen, obwohl eine Stim- „Politik ist für viele Jugendliche einfach vom 17. u. 18. April; 288 Nichtwähler von me dort am meisten zählt, langweilig“, sagt Tina Gerts, 23, Vorsitzen- ... meine Stimme rund 1100 Befragten; der Volksvertreter noch de der Grünen Jugend; „schwer verkauf- keinen Einfluss hat“ 6% an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/keine Angabe nicht aus dem Fernseher bare Ware“, pflichtet die Chefin der Jungen guckt und die Probleme vor Union, Hildegard Müller, bei. der Haustür liegen. Und egal was die Parteien dagegen ver- derstatistik wider. Knapp 83000 Genossen Beispiel Pinneberg in Schleswig-Hol- suchen – die Jusos zum Beispiel eine neue verlor die SPD in der gleichen Zeit, gut stein: Bei der Bürgermeisterwahl vor zwei Internet-Kampagne, außerdem lockere 41000 Gefolgsleute die CDU. Monaten schenkte nur ein gutes Fünftel der Plaudereien bei Rave-Partys und in Frei- Während die Parteien zerbröseln, irren Wahlberechtigten ihre Stimme dem Amts- zeitbädern: „Die könnten auch Sackhüp- die übrig gebliebenen Wähler umher. Vor inhaber Horst-Werner Nitt; das aber reich- fen oder Eierlaufen veranstalten, das bringt 1987 kam es nur bei jeder zehnten Wahl in te Nitt trotzdem für die absolute Mehrheit alles nichts“, ist Politologe Falter über- Bund und Ländern zu einem Regierungs- – nur 36,9 Prozent der Wahlberechtigten zeugt. wechsel, seither bei jeder fünften. Und un- waren überhaupt wählen gegangen. Viel spricht dafür, dass die Politikflucht terwegs von Partei zu Partei geht auch das Sieg ist Sieg, findet Nitt, und Pinneberg auch eine schnöde Konsequenz daraus ist, Interesse an der Politik überhaupt zurück. ist wie Hannover, Frankfurt oder Dresden dass schon Jugendliche Terminkalender Die Hälfte aller Deutschen, schätzt – alles Städte mit Prozentzahlen unter 50 brauchen. Selbst die Bürgerinitiativen, hat Wahlforscher Roth, will davon möglichst bei den vergangenen Bürgermeister-Di- der Münchner Politikwissenschaftler Wie- wenig wissen. Keineswegs nur enttäuschte rektwahlen. „In den Kommunen sind die sendahl festgestellt, tun sich immer schwe- Verlierer, die mit der Politik abgeschlossen Nichtwähler flächendeckend zur stärksten rer, aktiven Nachwuchs zu finden. Und die haben, sind darunter, auch brave Mittel- politischen Kraft aufgerückt“, bilanziert jungen Menschen von Attac, auf die nun standsbürger, die sich für Wahlen vermut- der Deutsche Städtetag in Baden-Würt- alle schauten, seien doch in Wahrheit auch lich erst interessieren würden, wenn es temberg. nur ein paar tausend. ihnen schlechter ginge. Da ist kein Lei- „Ich weiß auch nicht, was man da noch Mehr noch als eine Frage der Zeit ist für densdruck, der diese Klientel ins Wahllo- machen soll“, bekennt sich der parteilose Wiesendahl das Wegdrücken des Politi- kal triebe, keine Angst um den eigenen Nitt zur Ratlosigkeit, schließlich ist er schen aber eine Frage des Zeitgeistes. Denn Wohlstand oder das Wohl der Demokratie. schon jetzt Mitglied in 20 Vereinen, wie zum Vorwurf, die Politik sei zu dröge, die Also könne, folgert Roth, so gar nicht viele sollen es noch werden? Parteien seien zu lahm, die Minister zu

48 der spiegel 18/2002 Titel schlecht und die Stadträte zu bieder, gehört Heidi Klum als für Beiträ- so leidenschaftslos, als auch die Einsicht: Wären die Parteien of- ge über die Wahlen in würde er vorzugsweise fener, wäre die Politik spannender, das Per- Frankreich und Sachsen- Unterlagen in Vorlagen sonal smarter – dem Großteil der Bevöl- Anhalt. für Ablagen verwandeln, kerung wäre es wohl trotzdem egal. Eine „gewisse Pro- gerade die 30- bis 40- Viele der 61,2 Millionen Wahlberechtig- blemscheuheit“ erkennt Jährigen seien für Par- ten im Lande wollen von Politik nicht nur RTL-II-Nachrichtenmann teiarbeit kaum erreich- nichts wissen, sie wissen auch erschreckend Jürgen Ohls bei seinem bar. Karriere machen, wenig. Als die Deutsche Forschungsge- Publikum. Je leichter der Haus bauen, Kinder er- meinschaft vor und nach der vergangenen Stoff oder je weiter ent- ziehen, und dann noch Bundestagswahl 3300 Deutsche fragen ließ, fernt das Problem, desto Politik? Noch dazu im wie viele Bundesländer es gibt, reichten besser die Quote. Lokalen, wenn man im die Antworten von 5 bis 30, die richtige – Die Unterhaltungsindu- Beruf zu den Guten 16 – kannte nicht mal die Hälfte. Und erst strie, erklärt Politologe gehört, irgendwann so- kürzlich klagte der Geschäftsführer des Falter, sei mit schuld am wieso wieder versetzt

norddeutschen Metallhandwerks, Heino politischen Desinteresse; / LAIF FROMMANN RONALD wird, umziehen muss? Mager, nur jeder zehnte Hauptschüler wis- sie bediene die „Spaßge- Pinneberger Bürgermeister Nitt Politik wird dann zum se bei Eignungstests, dass der Bundes- sellschaft“, und die funk- „Was soll man noch machen?“ Angebot, das man neh- kanzler Gerhard Schröder heißt. tioniere nun mal nach der men oder lassen kann. Dagegen dürften Grundkenntnisse, wer Regel: „Das mit dem kleinsten Anspruch „Denen fehlt schlicht die Zeit“, sagt in „Gute Zeiten, Schlechte Zeiten“ mit setzt sich durch.“ Lorenz. wem techtelmechtelt, deutlich weiter ver- Gleichzeitig klingen die großen ideologi- Vielleicht auch die Neigung, sich frei- breitet sein; die RTL-Vorabend-Soap mit schen Auseinandersetzungen der Sechziger willig in eine Arena zu stellen, in der die fünf Millionen Zuschauern kommt weitge- und Siebziger nur noch als ferner Schlach- Gladiatoren brutal aufeinander losgehen. hend politikfrei über den Sender. tenlärm in das neue Jahrtausend hinein; „Das wird ein gnadenloser Wahlkampf“, Das Gleiche gilt für die „RTL-II-News“, die befriedete und befriedigte Gesell- prophezeite der Mann vor dem Mikrofon, die bei den 14- bis 19-Jährigen die „Tages- schaft scheut das Kampfkollektiv, sei es „völlig skrupellos, ohne jede Hemmungen.“ schau“ als Informationsquelle abgehängt Gewerkschaft oder Kirche. Auch die An- Der Mann hieß Friedrich Merz, es war haben. Am Montag vergangener Woche spruchsvollen privatisieren, und wenn sie Montag, der Tag nach der Sachsen-Anhalt- verausgabte sich die Redaktion mehr als mobil machen, dann meist nur für die Wahl. Noch macht sich Gewinner Merz dreimal so lange für Filmchen über Karriere. wegen der niedrigen Wahlbeteiligung of- Schleimduschen, den Flirt im Internet und In Pinneberg doziert deshalb der CDU- fenbar keine Sorgen. Jürgen Dahlkamp, die neue Parfumkollektion des Topmodels Fraktionschef im Rathaus, Michael Lorenz, Sebastian Knauer, Steffen Winter Werbeseite

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ter Druck bringen. Falls aber unter den Anti-Bush-Demo sprechen: „Ich erwarte BUSH-BESUCH Bush-Gegnern zwischen Neuer Wache und ein angemessenes Verhalten als Gastgeber.“ Rotem Rathaus gar leibhaftige Senatoren Auch SPD-Fraktionschef Michael Müller Staat und ausfindig gemacht werden, käme dies einer mahnte seinen PDS-Kollegen Wolf zur Dis- Steilvorlage für Unionskanzlerkandidat Ed- ziplin beim Bush-Besuch – nicht ohne mund Stoiber (CSU) gleich. Grund. Als Ronald Reagan 1987 West-Ber- Revolution Die Gefahr ist groß. Zu Demonstrationen lin besuchte und den Abriss der Mauer for- aufgerufen hat ein breites Spektrum von derte, gehörte Wolf noch der Alternativen Rätselraten in Berlin: Wie geht MLPD über PDS bis hin zu den Globali- Liste an, die alle „Forderungen nach der sierungskritikern von „Attac“. Mehrere Wiedervereinigung“ als „ein Höchstmaß die PDS im Mai mit dem zehntausend Kriegsgegner erwartet die Po- an politischer Unvernunft und gefährliche US-Präsidenten um? Demon- lizei, darunter Autonome, die kräftig „auf Provokation“ geißelte. Damals wetterte die striert Gregor Gysi, oder den Bush klopfen“ (Szene-Flugblätter) wol- SED-Parteizeitung „Neues Deutschland“ muss er ihn gar empfangen? len. Aber auch prominente Politiker der über die „bürgerkriegsähnlichen Zustän- Regierungspartei PDS wollen kommen. de“ in der City West-Berlins. ein aufgereiht im Bücherregal stehen Weil sie ihre Sympathie für die Frie- Die drohen nun auch beim Bush-Besuch im Amtszimmer von Berlins PDS- densbewegung nicht verleugnen wollen, – nur stehen Wolf und Co. jetzt auf der an- FLandeschef Stefan Liebich die Werke im Koalitionsvertrag aber staatstragendes deren Seite der Barrikade. 10000 Polizisten Wladimir Iljitsch Lenins „Was tun?“ sowie „bundesfreundliches Verhalten“ zugesagt sollen die Präsidenten-Visite absichern. In „Staat und Revolution“. Den freien Blick haben, suchen die Sozialisten ihr Heil – den kommenden Tagen wird ein amerika- auf die Schriften des Revolutionsführers ganz alte Schule – in feinster Dialektik. nischer Voraustrupp der Sicherheitsleute verdeckt jedoch ein anderes Buch, das Lie- Liebich etwa will gar nicht gegen Bush, in Berlin erwartet. bich seinen Besuchern gern stolz präsen- sondern nur „dem Präsidenten demon- Zwar teilen auch Berliner Sozialdemo- tiert: der Berliner Koalitionsvertrag von strieren“, dass er für Frieden ist. Sozial- kraten die „europäische Kritik an der MARCO-URBAN.DE STEFAN BONESS / IPON STEFAN PAUL J. RICHARDS / DPA J. PAUL Regierender Bürgermeister Wowereit US-Präsident Bush Kundgebungsredner Gysi (am 10. Oktober 2001) Hauptstadt-Politiker, Gast: Wie kann man für den Frieden demonstrieren, ohne gegen Bush zu protestieren?

SPD und PDS, unterzeichnet am 16. Janu- senatorin Heidi Knake-Werner, einst DKP, amerikanischen Aufmuskelung gegen den ar 2002, in FDJ-blaues Leinen gebunden. heute PDS, will zur Demonstration gehen. Irak“ (Innensenator Ehrhart Körting). In den kommenden Wochen sind alte Wirtschaftssenator Gregor Gysi, der sogar Aber ebenso fürchten sie auch Angriffe auf und neue Schriften gefragt. Liebich und als Redner gewünscht wird, ist noch un- den eigenen Bundeskanzler. Der sei, so seine Genossen wollen wieder einmal Staat entschlossen, fühlt sich jedoch „frei und Attac-Koordinator Philipp Hersel, „min- und Revolution unter einen Hut bringen – unabhängig in der Entscheidung“. PDS- destens genauso Adressat des Protestes wie nur ganz anders, als es sich Lenin 1917 Fraktionschef Harald Wolf macht seine Bush“. dachte. Schließlich soll ja auch der Vertrag Protest-Beteiligung ganz von der „Termin- Dabei erhofft sich Berlins Senat von von 2002 halten. lage“ abhängig. Nur Kommunistin Sahra Schröder ausgerechnet im Demo-Monat Der rot-roten Hauptstadt stehen zwei Wagenknecht spricht offen wie immer: Mai noch Bares. Am 15. Mai tagt das Bun- Großereignisse ins Haus, die zugleich die „Man kann nicht für den Frieden demon- deskabinett gemeinsam mit dem Berliner innere Sicherheit der Stadt und die der strieren, ohne gegen Bush zu protestieren.“ Senat – das wäre die Gelegenheit für Hilfs- jungen Koalition gefährden: die alljährli- Auch der Partner will Klarheit. Kaum zusagen für die Hauptstadt-Kultur, etwa che, beinahe schon institutionalisierte ein Tag vergeht, an dem nicht die SPD-Po- bei der Sanierung der Museumsinsel. Straßenschlacht am 1. Mai und der Besuch litiker ihre neuen Bündnisgenossen zur Wie einst Sozialdemokraten und Grü- des US-Präsidenten George W. Bush am 22. Zurückhaltung mahnen. Es könne sein, sti- nen, schwant Liebich in seinem Büro, ste- und 23. Mai. Beide Ereignisse alarmieren chelte Berlins Regierender Bürgermeister he nun seiner Partei ein „schwieriger Spa- die Sicherheitskräfte der Stadt – aber noch Klaus Wowereit (SPD), dass er selbst am gat“ bevor. Empfehlungen in Sachen Tak- mehr ihre Politiker. Tag des Bush-Besuchs verhindert sei. „Gre- tik könnte er bei Lenin suchen, in dessen Krawalle bei der „Revolutionären Mai- gor“, flachste er seinem verblüfften Stell- Schrift über die Taktiererei der Sozialde- Demo“ und heftige Proteste gegen Bush im vertreter zu, „dann musst du Bush emp- mokratie. Titel des Pamphlets: „Ein Schritt Regierungsviertel würden die Genossen fangen.“ Ganz offen verlangt Schulsenator vorwärts, zwei Schritte zurück“. von SPD und PDS allein schon gehörig un- Klaus Böger (SPD), Gysi solle nicht auf der Stefan Berg, Holger Stark

52 der spiegel 18/2002 Werbeseite

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gierung, verriet Scharping, habe ein „Si- demonstrativ „Verzögerungen“ beim Rüs- AUSSENPOLITIK gnal“ gegen die „Überreaktionen“ der is- tungsnachschub – ein Verstoß gegen di- raelischen Armee setzen wollen – kein Em- plomatische Sitten, der nicht nur das Jeru- Freundschaft bargo also, aber ein bewusster politischer salemer Außenressort verärgerte, sondern Bummelstreik. auch das Berliner Kanzleramt. Wirtschaftsminister Werner Müller hat- Die Presseberichte sorgten in der jüdi- ohne Waffen te die Israel-Geschäfte Mitte März im Si- schen Community für einen Proteststurm. cherheitsrat zum Thema gemacht: Seinem Während sich in der deutschen Botschaft in Wegen des brutalen Vorgehens der Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhr- Tel Aviv E-Mails, Faxe und Briefe häuften, kontrolle waren wegen der Krise im Nahen musste sich das Berliner Auswärtige Amt israelischen Armee hat die Bundes- Osten Zweifel gekommen, ob die bisheri- kritischen Anfragen von Zeitungen jüdi- regierung die Rüstungsexporte gen Exportgenehmigungen unverändert scher Organisationen aus den USA stellen. gestoppt. Premier Scharon beschwerte bleiben können. Das Gremium beschloss, Das Verhalten der Deutschen sei „ver- sich persönlich beim Kanzler. bis auf weiteres nichts mehr zu beschlie- abscheuungswürdig“ und erinnere allzu ßen. „Guten Freunden“, so ein Kabinetts- sehr an die „Vergangenheit“, echauffierten ie heikelste Frage streifte der Kanz- mitglied, „muss man auch zeigen können, sich Briefeschreiber. Gerade wegen des ler in der Nahostdebatte des Bun- wie weit sie gehen können.“ Holocaust habe Deutschland „eine beson- Ddestags nur am Rande. Obwohl Is- Mitten im neuen Nahostkonflikt wankt dere Verpflichtung gegenüber den Juden“. rael und Deutschland hinter den Kulissen die älteste Säule der deutsch-israelischen Die Tel Aviver Busgesellschaft Dan stor- um Rüstungslieferungen streiten wie um Zusammenarbeit: die oft verdeckte Wehr- nierte eine Order für 100 MAN-Fahrzeuge. kein zweites Thema, nahm Gerhard Schrö- hilfe für Israels Armee. Laut dem letzten Konkret verweigern die Deutschen die der am vergangenen Donnerstag das Un- Rüstungsexportbericht der Bundesregie- Genehmigung von etwa 120 Exportposten, wort „Waffenlieferungen“ nicht in den rung ist der Judenstaat der wichtigste darunter Scharfschützengewehre und Elek- Mund. Wolkig erklärte er, seine Regierung Abnehmer für deutsches Kriegsgerät tronik-Bauteile, aber auch Dieselmotoren werde „keine Embargo- oder Boykott- außerhalb der Nato. Allein im Jahr 2000 der DaimlerChrysler-Tochter MTU und Maßnahmen gegen Israel“ mittragen, „und genehmigte Berlin Ausfuhren im Wert Getriebe der Firma Renk, einer MAN- schon gar nicht selbst welche verhängen“. von 177 Millionen Euro. Schon Ende der Tochter. Sie sollen den neuen israelischen Genauer wollte auch Joschka Fischer fünfziger Jahre, noch vor Aufnahme di- Kampfpanzer „Merkava 4“ antreiben, der nicht werden, selbst als Kanzlerkandidat plomatischer Beziehungen, hatten CDU- bald in Serie gehen soll. Edmund Stoiber Auskunft begehrte. Die Kanzler Konrad Adenauer und sein Mi- Betroffen sind auch Ersatzteile für Waf- „Erörterungen des Bundessicherheitsrats“, litärminister Franz Josef Strauß (CSU) die fen, die Kriegspremier Ariel Scharon in der über die Waffenexporte entscheidet, ersten Geschäfte eingefädelt. der „Operation Schutzschild“ gegen radi- belehrte der Außenminister den Ober-Bay- Unter dem Druck der „Operation kale Palästinenser einsetzt. Mitte ern im Parlament, „unterliegen der Ge- Schutzschild“ machten Anfang April erhielt der Kanzler des- heimhaltung“. April Israels Militärs ihren Deutsche Waffen- halb ein dringliches Bitt- Gut, dass wenigstens Verteidigungs- Ärger öffentlich – mit exporte nach Israel schreiben des Jerusalemer minister Rudolf Scharping in einem beträchtlichem Echo. Is- Regierungschefs. Erteilte Einzelgenehmigungen im Fernsehinterview ungeniert über die raelische Zeitungen ent- Jahr 2000 im Wert von insgesamt Was der Öffentlichkeit Geheimgespräche des Sicherheitsrats ge- rüsteten sich über das wie ein neues Problem plaudert hatte: Die Rüstungsexporte an deutsche „Embargo“. Das 177 Mio. Euro erscheint, beschäftigt den Judenstaat, so der SPD-Mann, seien israelische Verteidigungs- davon für Berlin und Jerusalem „ausgesetzt, aber nicht abgesetzt“. Die Re- ministerium bestätigte Panzer, gepanzerte Fahrzeuge und hinter den Kulissen schon Lkw-Teile 125 Mio. Euro; länger: Bereits seit einem Torpedos, Munition, Jahr beklagt sich Israel bei Munitionsteile der Bundesregierung über 43 Mio. Euro Lieferprobleme. Im Auswärti- gen Ausschuss des Bundestags kon- frontierte Ex-Verteidigungsstaatssekretär Willy Wimmer (CDU) im Januar den Au- ßenminister mit den Klagen aus Jerusalem. Im Februar schließlich stellte der israe- lische Wehrminister Benjamin Ben-Elieser Joschka Fischer bei einem Besuch in Tel Aviv zur Rede. Doch der Gast aus Berlin wehrte sich. Statt sich zu beschweren, soll- ten die Israelis lieber von der Praxis lassen, deutsche Produkte heimlich nachzubauen, um sie dann vertragswidrig an Dritte wei- terzuverkaufen. Als Zwischenhändler ist Israel den Deut- schen bei Waffenexporten durchaus weiter genehm. Vom Lieferstopp ausgenommen sind 170 deutsche Motoren, mit denen Is- rael alte türkische M-60-Panzer aufrüstet. Direkte Panzerexporte an Istanbul hatte Rot-Grün dagegen stets abgelehnt – we- gen der Menschenrechtsverletzungen der

EYAL WARSHAVSKY / SIPA PRESS / SIPA WARSHAVSKY EYAL türkischen Armee in den Kurdengebie- Israelischer Panzer (in Ramallah): Wichtiger Abnehmer für deutsches Kriegsgerät ten. Christoph Schult, Alexander Szandar

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Mit 36,7 Prozent der Stimmen deklas- stipendium. Die Doktorarbeit hatte den Ti- GRÜNE sierte Salomon im ersten Wahlgang am tel: „Grüne Theorie und graue Wirklichkeit 21. April seine Mitbewerber: Die CDU-Fa- – warum die Basisdemokratie bei den Grü- Kräftig geholzt voritin Gudrun Heute-Bluhm packte nur nen nicht funktioniert“. 32,4 Prozent auf ihr Konto. Der Kandidat 1991 beendete er die Doktorarbeit und Ein Realo hat in Freiburg der Linksalternativen, der angesehene im darauf folgenden Jahr saß Salomon, der Rechtsanwalt Michael Moos, landete mit bereits mit 22 Jahren Vater wurde, schon beste Chancen, erster grüner OB 14,3 Prozent genauso abgeschlagen auf den im Landtag. Für ihn trifft das zu, was die einer Großstadt zu werden. Rängen wie der SPD-Bewerber Bernhard Grünen den Vorleuten etablierter Parteien Selbst Sozialdemokraten empfeh- Zepter (16,5 Prozent) – und das in einer lange vorwarfen: Er ist Berufspolitiker len ihn ihrer Klientel. Stadt, in der die SPD 40 Jahre lang den ohne große Brüche in der Vita, ein Prag- Oberbürgermeisterposten wie selbstver- matiker, seit 1980 Mitglied der Grünen. mart, schlank, immer proper geklei- ständlich besetzte. „Politik ist halt geil“, sagt er. det, die Frisur stimmt, und jedes Mal Zepter zog als souveräner Verlierer sei- Als vor zwei Jahren sein Fraktionschef Shat er ein freundliches Lächeln auf ne Kandidatur zurück, um Salomon im im Landtag, , als Parteivorsit- den Lippen. So wünscht sich die deutsche zweiten Wahlgang gegen die CDU-Kandi- zender nach Berlin wechselte, rückte Sa- Mutter den idealen Schwiegersohn, und datin nicht unnötig Stimmen zu räubern. lomon nach. Bei der Landtagswahl im ver- genau so gibt sich Dieter Salomon. Zudem empfahl er seinen Anhängern, nun gangenen Jahr leisteten sich die Grünen Natürlich muss so ein Sonnyboy zudem den Grünen zu wählen. zum ersten Mal einen Spitzenkandidaten: eine Familie ernähren können, vor allem Auch Ute Vogt, die baden-württember- Salomon. Freilich mit wenig Erfolg. Von im Süden der Republik, im Musterländle. gische SPD-Landesvorsitzende, gönnt Sa- 12,1 Prozent sackten sie auf 7,7 Prozent ab, Das kann der Mann, und womöglich wird lomon den Job. „Ich traue ihm zu, dass er die Fraktion wurde fast halbiert. er bald sogar Chef von rund 4000 Mit- ein guter Oberbürgermeister wird.“ Aus Doch auch nach der Niederlage blieb arbeitern: Salomon, 41, Noch-Fraktions- vielerlei Gründen. „Es gibt in der Politik Salomon die unumstrittene Nummer eins. vorsitzender der Bündnis-Grünen im ba- wenig attraktive Männer“, bedauert die Dabei setzt er nicht gerade auf Integration den-württembergischen Landtag, hat die Vorsitzende des Bundestags-Innenaus- der Flügel innerhalb seiner Partei. Kräftig besten Chancen, der erste grüne Oberbür- schusses, „aber der Dieter ist so einer.“ holzt er gegen Pazifisten und Linke und germeister in der 200000-Einwohner-Stadt Weil Salomon nicht den Bürgerschreck beschimpft etwa den friedensbewegten zu werden. markiert, sondern sagt, dass er „in der Mit- grünen Bundestagsabgeordneten Winfried Gewinnt der Karrierepolitiker die ent- te links steht“, gilt er jetzt als Favorit in der Hermann als „Hinterbänkler ohne viel scheidende Wahl ums Freiburger Rathaus selbst ernannten Öko-Hauptstadt Deutsch- Qualität“. Wo Salomon steht, ist eindeutig: am Sonntag, könnten die Grünen bundes- lands, wo sogar das Tribünendach des hei- „Ich bin Oberrealo.“ weit mal wieder ein respektables Ergebnis mischen Dreisamstadions mit Solarzellen In 16 Vereinen und Beiräten ist der vorweisen: Noch nie gelang es ihnen, den bestückt ist und Studenten das Stadtbild Grüne Mitglied. So engagiert er sich als Rathauschef einer Großstadt zu stellen. bestimmen. Vorsitzender des Fördervereins der Jazz- Nach einer Serie von mittlerweile 18 In das Milieu passt der Mann bestens: und Rockschule Freiburg, im Öko-Institut, Niederlagen bei Landtagswahlen könne ein Salomon hat in Freiburg studiert, Poli- im Universitätsbeirat. Sieg Salomons gar „ein Fingerzeig vom Sü- tikwissenschaft, Finanz- Seiner CDU-Kontra- den her in die Republik und für den Fort- wissenschaften und fran- hentin, der Verwaltungs- bestand der rot-grünen Bundesregierung“ zösische Literatur. Seine expertin Heute-Bluhm, sein, hofft der Berliner Fraktionschef der Promotion finanzierte er 45, hingegen fehlt der Grünen, Rezzo Schlauch. über ein Hochbegabten- Heimat-Bonus: Sie am- tiert als Oberbürgermeis- terin in Lörrach, wo Sa- lomon vor sieben Jahren, freilich erfolglos, schon einmal gegen sie antrat. Zudem kostet eine lo- kale Spendenaffäre die CDU Sympathie: Eine Kundenliste der Deutschen Bank war Freiburger Christde- mokraten in die Hände gefallen, und die schickten den Klienten der Bank prompt Bettelbriefe. Heute-Bluhm kämpft zwar unverdros- sen weiter gegen Salomon, aber an einen Sieg glaubt in der CDU kaum noch einer. Zum Gratulieren sei es gleichwohl noch zu früh, warnt der Grüne Schlauch: „Bei aller Euphorie soll man den Tag nicht vor dem Abend loben.“ Schlauch weiß, wovon er redet. Im Oktober 1996 strebte er den Chefsessel im Stuttgarter Rathaus an. Nach dem ersten Wahlgang wähnte er sich fast am Ziel und spekulierte auf die Unterstützung der SPD-Wähler. Doch die blieb im zwei-

NORDLICHT / TRANSGLOBE (U.); THEODOR BARTH / ZEITENSPIEGEL (O.) / ZEITENSPIEGEL THEODOR BARTH (U.); / TRANSGLOBE NORDLICHT ten Wahlgang aus, der CDU-Kandidat ge- Freiburger Münsterplatz, Kandidat Salomon: „Politik ist halt geil“ wann. Felix Kurz

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rund 230 Kilometer von Röckingen entfernt, Röckingen, war er mit den Fußballern in KRIMINALITÄT im tschechischen Eger (Cheb) Unbekannte die Grenzregion gefahren. Später zogen noch am Abend des 5. März gegen 20 Uhr Bekannte Kunders aus dieser Gegend nach Reise ohne Bargeld aus einem Automaten und wurden Röckingen. Mehrfach fuhren sie zusam- dabei gefilmt. Das unscharfe Video zeigt men mit ihm in die alte Heimat. Aber al- zwei Männer in Jogginganzügen, mit Base- lein, sagen sie, war Kunder dort nie. Wiederkehr ballkappe und Pudelmütze. Neunmal ver- War es am 5. März anders? Fuhr Kunder suchten sie Geld aus Bankautomaten abzu- ohne Begleitung nach Eger – in die Stadt Ein Bürgermeister aus Bayern ist heben, sechsmal hatten sie Erfolg, auch am nahe der Grenze, in der Kriminalität und 6. März um 7 Uhr in Pilsen (Plzeª). Die Beu- Prostitution blühen? seit Wochen verschwunden – te: rund 2300 Euro. Woher das Duo Kunders An jenem Dienstag benahm sich der die Polizei glaubt an ein Verbre- Geheimnummer kannte, ist bislang unklar. Bürgermeister merkwürdig. Kurz nach 14 chen. Führte der Mann ein Die zweite Spur ist der silberfarbene Uhr besuchte er seinen zweiten und letz- geheimnisvolles Doppelleben? Mercedes. Den stoppten Sicherheitskräfte ten Kunden in Stödtlen-Regelsweiler bei in Weißrussland, vier Tage nach dem Ver- Dinkelsbühl, wo er doch sonst bis zu zehn er 5. März begann für Erich Kun- schwinden Kunders, am 9. März. Am Steu- Außentermine pro Tag eingeplant hatte. der, 51, mit normalem Amtsge- er saß ein junger Mann aus dem Raum Gute zwei Stunden später meldete sich Dschäft. Morgens um acht Uhr nahm Pilsen. Aber der will von dem Fall nichts der Vertreter per Handy in der Zentrale. der Bürgermeister von Röckingen am Hes- wissen. Er sei nur als Fahrer angeheuert Er habe um 17 Uhr einen Termin, ließ er selberg eine Straße ab. Eine halbe Stunde worden, erzählte er den Beamten beim wissen, klang locker und aufgeräumt. später besprach er mit der Auch bei seiner Frau rief Polizei das Versetzen von Kunder kurz vor 16 Uhr Straßenschildern. an, sagte, dass es abends Kunder ging zur Ar- spät werden könne, vor 22 beit, pflichtbewusst wie Uhr werde er nicht heim- immer, obwohl er doch kommen. Auf eine Reise an jenem Dienstag allen ohne Wiederkehr deutete Grund gehabt hätte zu fei- nichts hin. ern. Zwei Tage zuvor hat- Zu dieser Zeit fuhr der ten ihn die Bürger der Mercedes schon auf der 760-Einwohner-Gemeinde Autobahn Regensburg– im bayerischen Landkreis Weiden Richtung tschechi- Ansbach zum dritten Mal sche Grenze. Ein Mobil- zum ehrenamtlichen Bür- funk-Sender nahe der Aus-

germeister gewählt. Aber PRESS BERG / ACTION fahrt Schwarzenfeld regi- das Feiern wollte sich Vermisster Kunder, Rathaus Röckingen: Locker und aufgeräumt strierte die Handy-Daten. Kunder bis Freitag aufhe- Und: Erich Kunders Stim- ben; da wollte er in seiner 5. März, ca. 16.00 Uhr 5. März, gegen 20.00 Uhr me gab keinen Anlass zu glauben, er be- Firma ein paar Maß Bier Letztes Lebenszeichen im Mit Kunders Scheckkarte finde sich in ungebetener Gesellschaft. ausgeben. Nordosten von Bayern: wird in Eger Geld abgehoben Um 17.49 Uhr registrierten die Grenzer in Nach dem Gespräch mit Kunder telefoniert per Waldsassen Kunders Mercedes, Kennzei- der Polizei stieg Kunder in Handy mit seiner Frau 3 Eger chen AN-KX 310. Der Fahrer verhielt sich seinen neuen Mercedes unauffällig. Das und weitere Spuren lassen 220 CDI und fuhr los, zu den Schluss zu, dass Kunder aus freien seiner normalen Tages- Nürnberg Pilsen Stücken über Waldsassen nach Eger fuhr. tour als Vertreter für Elek- 2 Doch was, fragen sich die Ermittler, Ansbach TSCHECHIEN trogeräte. Und zu einer 6 könnte den Mann aus Röckingen in eine Kurzreise, über die bis Röckingen 5. März, kurz nach 14 .00 Uhr Stadt gelockt haben, die ein bodenständi- heute gerätselt wird. Es 1 Kunder wird in Stödtlen-Regelsweiler ger Handelsvertreter kaum einfach so mal war das letzte Mal, dass Stuttgart besucht? Wollte er – ganz harmlos – 7 bei Dinkelsbühl zuletzt gesehen Erich Kunder in Röckin- Schmuck für die Ehefrau kaufen? Oder gab gen gesehen wurde. es andere Gründe? Dezent verweist die Seitdem ist er verschwunden. Und Kun- Verhör. Von wem? Keine Ahnung. Er soll- Polizei in Tschechien ganz allgemein dar- ders Fall entwickelt sich zu einem der te das Auto nach Weißrussland schaffen, auf, dass Abstecher kurz hinter die Gren- mysteriösesten, den die Polizei im Freistaat mehr nicht, so der Mann. Die Polizei glaubt ze häufig Freiern dazu dienen, anonym und bislang zu lösen hatte. Seit Anfang März ihm nicht, doch andere Beweise fehlen. billig ihr Glück zu suchen. Besondere Wün- suchen die Soko Hesselberg bei der Kripo Dass Kunder „sein neuer Wagen zum sche werden in Eger leichter erfüllt als Ansbach, das Bundeskriminalamt und In- Verhängnis wurde“, wie die Röckinger sa- in den Bahnhofsvierteln Münchens und terpol nach ihm – ohne Ergebnis. gen, gilt den Ermittlern als gut möglich. Nürnbergs. Zudem sei Eger ein Ort, an Führte, so fragen sich inzwischen die Er- Osteuropäische Banden könnten ihn über- dem Gangs düstere Geschäfte abwickelten, mittler, der nach außen hin so unauffällige fallen haben, heißt es im Dorf. Aus dem mit Drogen, Waffen und gefälschter Mar- Mann ein geheimes Doppelleben? Gab es Staub gemacht, nein, das habe sich der kenware. Und an dem Autoschieber auf Dinge im Alltag des Bürgermeisters und Bürgermeister bestimmt nicht, meint ein Kundschaft aus Deutschland lauerten. CSU-Ortsvorsitzenden, von denen nie- Nachbar. Der sei doch ein anständiger Eine Antwort auf ihre Fragen werden mand im Ort wissen sollte? Wurde er Op- Mensch, Vater zweier erwachsener Söhne, die Ermittler wohl nicht mehr erhalten. „Es fer von Mafia-Kreisen in Tschechien? Vereinskamerad, zuverlässig. ist nicht auszuschließen“, sagt Polizeispre- Eine der wenigen Spuren, die die Soko Eger und seine Umgebung waren für cher Anton Spreiter, „dass Kunder Opfer bislang gefunden hat, führt über die Scheck- Kunder kein unbekanntes Ziel. Vor rund 15 eines Gewaltverbrechens wurde.“ karte des Bürgermeisters. Mit ihr zogen, Jahren schon, als Vorsitzender des TSV Conny Neumann

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Werbeseite ARTURO MARI / AP MARI ARTURO US-amerikanische Bischöfe, Papst Johannes Paul II. beim Krisengespräch im Vatikan: „So viel Leid für junge Leute“

noch immer nicht an sich heranzulassen, KIRCHE könnte zum Problem werden. Die jüngsten Fälle von Übergriffen der Priester zeigen, dass die Verhaltensmuster, die jetzt in den Das Böse verdrängen USA zum Eklat führten, auch in deutschen Bistümern verbreitet sind. Mangelnde Die katholische Kirche in Deutschland hält sexuellen Missbrauch Transparenz, verschwiemelte Reaktionen auf Verdachtsmeldungen, Geheimhaltung durch Priester weiter für ein Randproblem. Doch die jüngsten und defensives Kleinreden sind im Klerus Fälle zeigen viele Parallelen zum Pädophilen-Skandal in den USA. noch immer gang und gäbe. Straffällig ge- wordene Priester wurden bislang lediglich er Pfarrer von Ebersdorf wartete In der vergangenen Woche wurden die versetzt und mitunter sogar vor dem Zu- nicht, bis die Kindlein zu ihm ka- US-amerikanischen Bischöfe im Vatikan griff der Staatsanwaltschaft geschützt. Sie Dmen. Am liebsten holte der Gottes- vom Papst zurechtgewiesen. Johannes Paul konnten daher munter weiter sündigen. mann sie im eigenen Auto ab. Bei der Fahrt II. hatte in jüngster Zeit mehrfach dazu Den Fall des fummelnden Priesters von zu Messen, Taufen, Andachten oder Ehe- aufgefordert, die kirchenschädigenden Vor- Ebersdorf prägen alle Züge dieses kirchli- schließungen griff der 60-jährige Herr gänge, „die so viel Leid und Schock für chen Versagens bis zum letzten Tag: Der dann, so steht es im Urteil des Landge- junge Leute“ verursacht hätten, offensiver Mann war schon früher in anderen Bistü- richts Coburg, „mit der rechten Hand von als bisher anzugehen – überall in der Welt. mern wegen sexuellen Missbrauchs aufge- hinten in die Unterhose“. Hochwürden Doch die Bischofskonferenz in Deutsch- fallen, von der Kirche aber immer wieder „streichelte sodann die Gesäßfalte“ seines land hatte vorigen Montag kaum mehr als nur versetzt worden. Die Familie eines der erst elf Jahre alten Ministranten. eine gute Stunde Zeit für das einstige Tabu- Opfer, die den Skandal aufdeckte, wurde Der pädophile Priester Wolf-Dieter W. thema. Auf der Sitzung im Kloster Him- lange Zeit von Kirchenmitgliedern ange- wurde immer dreister. Einem Schüler griff melspforten nahe Würzburg mussten sich feindet, statt geschützt zu werden. er sogar während des Religionsunterrichts die Kirchenoberen eingestehen, weder ei- Selbst nach seiner Verurteilung wurde in die Hose. Und bei einem Sternsinger hat nen Überblick über die sexuellen Vergehen W. noch die Betreuung eines Kirchenheims sich der Seelsorger „an Oberschenkel und deutscher Geistlicher noch eine für alle 27 angetragen, das einer Ministrantengrup- Glied gerieben“. Bistümer gültige Verfahrensordnung für den pe als Domizil dient. Dieser Umstand will Viele wussten um die verbrecherische Umgang damit zu haben. Als hätte man alle dem verantwortlichen Würzburger Bischof Neigung. Doch der Pfarrer durfte seine Ge- meinde in der Nähe Coburgs betreuen, als wäre alles in Ordnung. Erst der Vater eines Opfers machte dem Spuk ein Ende. Vorm Weihnachtshochamt 1999 erklärte er der versammelten Gemeinde: „Der Mann, der hier das Wort Gottes verkünden soll, hat meinen Sohn mehrere Male missbraucht.“ Im Juli 2000 wurde der katholische Geist- liche zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jah- ren auf Bewährung verurteilt. Er hatte sich nachweislich an drei Messdienern, zwischen acht und elf Jahre alt, vergangen. Selbst das Urteil veranlasste seinen Arbeitgeber, das Bistum Würzburg, zunächst nicht, end- gültige Konsequenzen zu ziehen. W. wur- de erst in der vorvergangenen Woche in den Ruhestand versetzt.

Die plötzliche Entschlossenheit ist aller- / VISUM BERND ARNOLD dings weniger einer späten Einsicht ge- Katholische Messdiener: Wenig Schutz vor sexuellen Übergriffen schuldet denn von außen erzwungen wor- den. In den USA wurden seit Jahresbeginn Zeit der Welt, wurde nur der Arbeitsauftrag Paul-Werner Scheele erst durch die massi- annähernd 60 Geistliche suspendiert, nach- für eine schon bestehende Kommission er- ven Elternproteste aufgefallen sein. dem die Pädophilen-Skandale der Kirche neuert. Die Herren Bischöfe waren sich al- Der katholische Therapeut Wunibald Hunderte Klagen eingebracht hatten. Die lein in einer Glaubensfrage einig: Der Zöli- Müller, der sich seit zehn Jahren in der Bischöfe gaben zu, die Priester lediglich bat, hieß es, sei nicht ursächlich für die Miss- Abtei Münsterschwarzach um Geistliche versetzt statt angezeigt zu haben. Zudem brauchsfälle. in Krisensituationen kümmert und auch sollen eine Milliarde Dollar Schadenser- Doch der Schulterschluss, das Böse allen privat Priester behandelt hat, die Minder- satz und Schweigegeld geflossen sein. internationalen Reaktionen zum Trotz jährige missbraucht haben, fordert ver-

62 der spiegel 18/2002 Deutschland bindliche Richtlinien, aber auch Reformen März einen Ausflug ins Schwimmbad. Da- wir wollen unser Recht.“ Am 9. April wur- bei der Ausbildung und den Verzicht auf bei soll er, so die Ermittlungen der Staats- de der Priester dann angesichts des Drucks den Zwangszölibat (siehe Interview). anwaltschaft Schweinfurt, das Kind zwei- der Eltern suspendiert. Er gestand und Ihre Gleichgültigkeit bleibt für die Bi- mal unsittlich angefasst haben. zeigte sich am gleichen Tag selbst an. schöfe meist folgenlos. In Fulda waren die Die Eltern versuchten über Wochen Als die Vorwürfe in dem 3000-Seelen- Eltern nicht über das Vorleben eines in ihre erfolglos, den Pfarrer zu Konsequenzen Dorf in der Rhön bekannt wurden, wen- Gemeinde versetzten Priesters informiert zu bewegen. Vom Bistum Würzburg kam dete sich die Stimmung plötzlich gegen die worden. Als der Mann sich erneut an Kin- wieder lange keine Hilfe. Der Pfarrer Familie. In ihrer Not ließen sich die Eltern dern vergriff, hatten Anzeigen gegen des- durfte am Weißen Sonntag sogar noch schließlich auf Interviews für Boulevard- sen Vorgesetzte keinen Erfolg. die Erstkommunion zelebrieren. An die- Magazine ein. Erst daraufhin organisierte Wie stark die Verdrängungsmechanis- sem Tag bot das Bistum den Eltern an, ih- die Kirche Mitte April eine klärende Aus- men im katholischen Milieu immer noch nen „bis zum Abklingen des ersten Wir- sprache mit den Gemeindemitgliedern. sind, zeigt der jüngste Missbrauchsfall. Der bels“ einen Urlaub zu bezahlen – wohl so Der Priester, so der Bistumssprecher, 40-jährige Priester der St.-Michael-Kirche etwas wie die bayerische Variante von weilt derzeit in einem geheim gehaltenen im nordfränkischen Sandberg, bekannt für Schweigegeld und Wiedergutmachung „klosterähnlichen Therapiezentrum der seine engagierte Jugendarbeit, unternahm nach amerikanischem Muster. Die junge Kirche für solche Fälle außerhalb unseres mit einem elfjährigen Ministranten am 11. Familie lehnte ab: „Wir wollen kein Geld, Bistums“. Peter Wensierski

und eine größere Gruppe, die mit etwa Müller: Nein, besonders anfällig können 14- bis 16-Jährigen unterschiedlich inten- aber Priester aber sein, die sich nicht „Zölibat nur sive sexuelle Beziehungen haben, so ge- ernsthaft mit ihrer Sexualität auseinander nannte ephebophile Priester. Fast immer gesetzt haben, auf der Stufe von 14-Jähri- sind die Opfer männlich: Kommunions- gen stecken geblieben sind. Nur Priester, freiwillig“ kinder, Ministranten, Religionsschüler die real erfahren haben, was Sexualität oder Kinder befreundeter Familien. für sie bedeutet, können im Zölibat auf Psychotherapeut Wunibald Müller SPIEGEL: Vor Gericht stehen jährlich nur den genitalen Part verzichten. Sexualität über pädophile Priester ein oder zwei Täter. Wie hoch ist die Dun- heißt ja nicht nur, miteinander ins Bett zu kelziffer? gehen. Sexualität ist ja auch eine Quelle Müller, 51, leitet das Recollectio-Haus der Müller: Würde man die groben Schätzun- der Spiritualität, der Leidenschaft, der Abtei Münsterschwarzach und betreut gen amerikanischer Forscher, wonach zwei Kreativität. Und emotionale Sexualität, dort Priester in Krisensituationen. Prozent der Priester pä- also die Befähigung zu lie- dophil beziehungsweise bevoller Zuneigung, ist SPIEGEL: Sind Sie mit den Beschlüssen der ephebophil sind, übertra- wichtig, um tiefe und be- Bischofskonferenz zufrieden? gen, wären das 300 Pries- deutungsvolle Beziehun- Müller: Nein, auch wenn schon in vielen ter in Deutschland. Dar- gen zu Menschen und Diözesen eine Menge geschehen ist. So unter sind auch solche, die Gott knüpfen zu können. werden mutmaßliche Täter bei harten unter Stress oder Alkohol SPIEGEL: Viele kommen se- Vorwürfen heute schneller suspendiert, Minderjährige einmalig se- xuell unreif ins Priesterse- die Kirche bietet den Opfern nicht nur xuell missbrauchen. minar? seelsorgerische Unterstützung, sondern SPIEGEL: Verbietet sich da Müller: Bei den Tätern, die auch finanzielle Hilfe an. Viele Bischöfe nicht jede Schönfärberei? ich kenne, war dies meist lassen sich von den Ausreden der Täter Müller: Das Problem darf der Fall. Denken Sie nur nicht mehr so schnell beeindrucken. Im- man nicht schönreden, an katholische Elternhäu- merhin gibt die Kirche jetzt öffentlich zu: wenngleich Missbrauch ser, in denen Sexualität ta- Wir haben ein Problem, es gibt diese im normalen familiären Psychologe Müller buisiert war. Einige sind Priester, aber wir ziehen daraus Konse- Kontext häufiger ge- „Opfer sind meist männlich“ auch selbst missbraucht quenzen. Doch das genügt nicht. schieht. Die Kirche muss worden. Manche sehen SPIEGEL: Was muss denn geschehen? aber darauf vorbereitet sein, dass Miss- Sex mit einer Frau als schlecht an, mit ei- Müller: Es sollten bald verbindliche Richt- brauch durch Priester immer wieder nem Jungen dagegen können sie es eher linien für ganz Deutschland gelten: Wie geschehen kann. Wir brauchen daher rechtfertigen. Es gibt sogar Aussagen wie: geht man mit den Opfern um, wie sieht Hotlines und eine zentrale unabhängige Ich habe mit dem Jungen doch was Schö- die Zusammenarbeit mit dem Staats- Anlaufstelle. Es mangelt auch an Thera- nes gemacht, ihn eingeführt in die Se- anwalt aus, welche Behandlungsmög- pieeinrichtungen. In unserem Haus kön- xualität. lichkeiten gibt es für die Täter, wie ar- nen keine Pädophilen behandelt werden, SPIEGEL: Welche Konsequenzen ergeben beitet man mit der Gemeinde, die nach das mache ich privat. sich daraus? solchen Vorfällen zu Recht in äußerstem SPIEGEL: Welche Minderjährigen im Kir- Müller: Ich kenne viele, die den Zölibat Aufruhr ist, das Unfassbare auf? Diese chenumfeld sind denn gefährdet? freiwillig wollen. Den anderen sollte man Lehre drängt sich nach den Skandalen Müller: Priester haben kraft ihres Amts die Entscheidung freistellen. in Amerika, wo es seit über zehn Jah- relativ leicht direkten Zugang zu Jugend- SPIEGEL: Wie können Eltern ihre Kinder ren exzellente – aber eben auch nur un- lichen: bei der Ministrantenarbeit, in schützen? verbindliche – Richtlinien gab, gerade- kirchlichen Jugendgruppen als Berater, Müller: Genau hinschauen, wem man sei- zu auf. bei gemeinsamen Fahrten, Kursen oder ne Kinder anvertraut: Ist der Priester ein SPIEGEL: Wie groß ist denn das Ausmaß bei der Vorbereitung auf die Kommunion. erwachsener Mensch, oder hat er ein in- des Missbrauchs in Deutschland? Dort sind sie mit Jugendlichen allein. fantiles Verhalten. Hat er Freunde? Oder Müller: Auch bei uns gibt es eine relativ Auch das Pfarrhaus kann Tatort sein. verbringt er Freizeit und womöglich sogar kleine Gruppe pädophiler Priester, die SPIEGEL: Sind zölibatär lebende Priester Urlaub stets mit Jugendlichen? Da wür- Kinder unter 12 Jahren missbrauchen, besonders anfällig? den bei mir die Alarmglocken läuten.

der spiegel 18/2002 63 Werbeseite

Werbeseite Szene Gesellschaft PAULA BRONSTEIN / GETTY IMAGES BRONSTEIN PAULA Yusufzai am Königsgrab

alle großen Männer und Frauen Afghanistans. Die Mudscha- Was haben Sie da gedacht, Herr Yusufzai? hidin haben die Gräber zerstört im Bürgerkrieg Anfang der neunziger Jahre. Nun wird alles wieder restauriert. Vor zehn Fazelallh Yusufzai, 47, über sein Wächteramt auf dem Fried- Tagen war Seine Majestät persönlich hier, zum ersten Mal seit hof der afghanischen Könige seiner Rückkehr, zusammen mit Präsident Hamid Karzai, und „Jeden Tag, von 5 Uhr morgens bis um 21 Uhr, komme ich hier- hat mich auch begrüßt. Das hat mich sehr glücklich gemacht. her auf diesen Berg, den wir Schah Schahid nennen. Ich wache Er wird unserem zerstrittenen Volk die Einheit und den Frie- am Grab des ermordeten Vaters unseres Königs, Seiner Majes- den bringen. Sein Enkel hat mich beauftragt, immer hier zu tät Zahir Schah. Die gesamte Königsfamilie liegt hier begraben, sein. Ich nehme kein Geld dafür. Es ist mir eine Ehre.“

COMPUTER Jennifer erschossen zu haben. PSYCHOLOGIE Wie die Tat nach Ansicht des Lebende Tote Staatsanwalts geschehen war, Männlicher Selbstbetrug konnten die Geschworenen in ei- ie Computeranimation dauer- nem Computerfilm sehen, der m Normalfall weiß es die Frau genau, der Mann Dte 72 Sekunden, danach war den Mord detailliert rekonstruier- Iaber kann nie sicher sein, wenn die Gattin mit Michael S. schon so gut wie ver- te. Gefertigt wurde er von der dem Baby nach Hause kommt: Ist es wirklich von urteilt. Der 55-jährige Ex-Polizist Firma „21st Century Forensic ihm? Diese Unsicherheit muss tief sitzen, das belegt saß auf der Anklagebank des Animation“, die sich wie etwa eine Studie der italienischen Psychologinnen Paola Amtsgerichts Scranton im US- hundert weitere US-Unternehmen Bressan und Maria Dal Martello, die jetzt in „Psy- Bundesstaat Pennsylvania, er war auf Computerfilme von Straftaten chological Science“ veröffentlicht wird. Die For- beschuldigt worden, seine Frau spezialisiert hat und damit Anklä- scherinnen hatten 30 Männern und 30 Frauen Fotos ger oder Verteidiger beliefert. Die von Erwachsenen und Kindern vorgelegt, die teils Branche macht einen Umsatz von verwandt waren, teils völlig fremd. Wenn bei nicht etwa 30 Millionen Dollar pro verwandten Paarungen behauptet wurde, es handle Jahr, und sie ist umstritten, denn sich um ein Kind mit Elternteil, sahen die Versuchs- die Animationen scheinen objek- personen prompt Ähnlichkeiten. Männern passierte tiv zu sein, in Wahrheit bieten sie das besonders häufig, wenn die Fotos angebliche nur eine emotionalisierte Inter- Vater-Sohn-Paare zeigten. Bressan vermutet, dass pretation der Ermittlungsergeb- Männer sich so selbst betrügen: „Vielleicht nehmen nisse. In Pennsylvania waren die- sie das so verzerrt wahr, weil der männliche Erbe se Rekonstruktionen bis zum Pro- traditionell besonders viel zählt.“ Der Selbstbetrug zess gegen Michael S. verboten. solle vor Zweifeln schützen – die in jedem zehnten Die Jury brauchte nicht lange für Fall, so schätzen Genetiker, berechtigt seien. So oft ihr Urteil: Sie verurteilte den An- nämlich werde Männern das ins Kinderbett gelegt, Mord-Rekonstruktion geklagten zu lebenslanger Haft. was sie befürchten: ein Kuckucksei.

der spiegel 18/2002 65 Szene Gesellschaft

EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Sian, „sind die Kassetten.“ Davon gibt es sieben: Drei Videos sind abgenutzt, zwei im ständigen Gebrauch, zwei als Reserve. „Ich habe immer neue Lieb- Der fremde Freund lingsstellen entdeckt, die Geschichte ist sehr vielschichtig.“ Wie oft muss man „E.T.“ sehen, um ihn zu verstehen? Ein Männlein aus dem Weltall, ver- sehentlich zurückgelassen, stolpert auf nfang der achtziger Jahre er- 20 Jahre vergingen, „E.T.“ brach alle dem Planeten Erde umher; ein kleiner eigneten sich auf dem Plane- kommerziellen Rekorde. 750 Millionen Junge, einsam und ohne Vater, sehnt Aten Erde einige merkwürdige Dollar spielte der Film ein; auf 43 Mil- sich nach einem Freund: „E.T.“ erzählt Dinge. Ein gewisser Steven Spielberg lionen bringt es allein die überarbeite- die Geschichte dieser Freundschaft. Wie feierte in Hollywood, Kalifornien, sei- te „Anniversary Edition“, die jetzt die beiden sich begegnen und begreifen, nen triumphalen Durchbruch. Eine überall läuft als nostalgisches Revival. dass das Fremde nicht zwangsläufig gewisse Drew Barrymore, ein niedli- Auch Sian brach Rekorde. Erst ließ böse sein muss. Die Kinder-Welt wird ches Ding mit dicken Zöpfen, bewies, sie sich von ihren Eltern unentwegt ins zum Utopia der Unschuld: Nur hier, wo dass es lauter schreien konnte als alle Kino führen; schließlich ertrotzte sie das Gefühl entscheidet, findet E.T. Zu- Kinderstars zuvor. Und Mrs. und flucht vor den Erwachsenen, die Mr. Marks aus Rugby, Mittel- ihn fürchten oder unter den england, trafen eine folgen- Scanner der Wissenschaft zerren schwere Entscheidung. wollen. Sie gingen ins Kino. Dank der Kinder gelingt E.T. Dieser Film, irgendwas mit sogar die Auferstehung vom Tod, Weltall und einem Außerir- eine kühne Anleihe Spielbergs dischen, man musste ihn wohl bei der Bibel. Am Ende helfen gesehen haben. Ihre beiden die Kids ihrem hutzeligen Heili- Jungs – Darin war damals 16, Aus der „Bild“-Zeitung gen endlich nach Hause, doch Dale gerade 15 – redeten schon das heißt: Abschied für immer. seit Tagen über nichts anderes. Aber sich ihr erstes Video. 773-mal, schätzt Die Kraft der Bilder, die Macht der wohin mit Sian? sie, hat sie den Film seither gesehen. eingewobenen Mythen – Spielberg er- Sie war erst sechs, ein niedliches Im Schnitt einmal in neun Tagen. Macht zählt eine völlig neue, eine „gute“, Ding mit dicken Zöpfen. „Sian“, frag- 88895 Minuten oder 1482 Stunden oder humanistische Alien-Geschichte und te Mr. Marks, „wenn wir dich mitneh- 62 Tage nonstop. lässt dabei die großen Themen an- men ins Kino, versprichst du uns, dass Kann man einen Film derart lieben? klingen: Freundschaft, Glaube, Ver- du keine Angst bekommst?“ – „Klar“, Oder ist Sian, die auf den ersten Blick zicht. So kann man den Film, dieses sagte Sian, „und was ist Kino?“ handfest und sympathisch wirkt, viel- alchimistische Meisterwerk der Rüh- Mrs. Marks steckte eine leicht doch ein Fall für den rung, aus allen biografischen Per- Packung „Walkers Oatflake Psychiater? spektiven sehen. Kinder bejubeln das Biscuits“ ein, als Trost für Sian, „Es gab Andeutungen“, Abenteuer, Großmütter fühlen sich falls der Film gruselig würde. sagt sie zögernd, „von Freun- wie in der Kirche, hartgesottene Ker- Und so saß Sian im Parkett des den, ob ich nicht ein bisschen le schniefen ob der verlorenen Kind- Kinos von Coventry, verges- übertreibe, ob ich nicht mal heit. Weit mehr als 100 Millionen sen waren Eltern, Brüder, Ha- zum Psychologen oder so ge- Menschen haben „E.T.“ bis heute ge- ferkekse, denn von der ersten hen sollte.“ Aber wozu? Sian sehen. Sekunde an flog sie auf und verstand nicht. Wo doch die- Aber von allen Fans der Welt ging davon, verschwand, magisch ser Film schlichtweg wunder- nur Sian Thurkettle aus Rugby, Mit- angezogen, in den Bildern. bar war; wo doch immer ge- telengland, einen Schritt weiter. Einen Sian stand im Wald, unter nau das Richtige geschah, so unmerklichen, aber entscheidenden

riesigen Fichten, als E.T. auf / NTI ARROWSMITH KATIELEE anders als im Leben. Schritt. In ihrem Leben zeigt Hol- der Erde landete, mit seinem Thurkettle Während Spielberg aufstieg lywood, diese Weltmacht des Gefühls, Raumschiff, das gegen den zu einem der Götter Holly- was es vermag. „Vielleicht bin ich ro- nachtblauen Himmel leuchtete wie ein woods, während Drew Barrymore ab- mantischer oder empfänglicher als an- Halloween-Kürbis. Sie war dabei, als stieg in die Drogenhölle, blieb Sian in dere.“ Sian nahm das Wunder mit ins Elliott den auf der Erde vergessenen Rugby. Nach der Schule fand sie einen Leben, sie verfiel dem Film. E.T. mit Smarties anlockte und sein Job bei der Gefängnisverwaltung, hei- Die Dialoge sind ihr Mantra, sie hat Freund wurde. Sie zitterte, als E.T. starb, ratete George Thurkettle, der ihr Kara- gleichsam ihre eigene Sekte gegründet, sie lachte, als er auferstand, sie weinte, telehrer gewesen war. Er wusste, worauf in ihrem Backsteinreihenhaus in der als das Raumschiff kam, ihn abzuholen. er sich einließ. Er brachte eine Katze Campbell Road 2a, und sie brauchte „Warst tapfer, Sian“, sagte Mr. Marks, mit in die Ehe, sie einen Außerirdi- weder Poona noch Scientologen, ein als sie das Kino verließen, „hast keine schen. Sie kauften ein Reihenhaus. Videorecorder genügte. Angst gehabt?“ Campbell Road 2a, roter Backstein, Sian hat jetzt Spielberg einen Brief „Ich will ins Kino“, sagte Sian, im Hinterhof ein Garten, keine Kinder. geschrieben, die Antwort steht noch „zurück zu E.T.“ Dafür 300 E.T.-Figuren, Uhren, Bettwä- aus. Kann sein, dass er stolz ist auf Die Brüder lachten, die Eltern lächel- sche, alles, was die Ramschindustrie auf seinen Erfolg, vielleicht aber auch ent- ten. Aber Sian meinte es ernst. den Markt wirft. „Aber wichtiger“, sagt setzt. Ralf Hoppe

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KARRIEREN Die Akten aus der Eiszeit In den USA ist Katarina Witt ein Star: Ihre Revue gastierte in 61 Städten, bei der Olympiade lief sie auf der Abschlussfeier, Robert De Niro schickt ihr Blumen. In Deutschland wartet die Vergangenheit auf sie – die Birthler-Behörde will Teile ihrer Stasi-Unterlagen veröffentlichen. Von Alexander Osang

m Tag, als Helmut Kohl siegt, tritt nehmen mir mein Leben weg. Es ist wie bei nach ihr. 1992, das ist auch schon zehn Jah- Katarina Witt in Philadelphia auf. ,Big Brother‘.“ re her. Kristi hört nach der Saison auf, sie AEs kommen 17000 Zuschauer. Am Sie winkt Kristi Yamaguchi zu, die mit will eine Familie gründen. Sie winkt nächsten Morgen denkt sie in der Lobby einem russischen Paarläufer in die Stadt zurück. des Ritz Philadelphia zwischen Palmen, will, um einzukaufen. Kristi Yamaguchi „Ohhhhh“, macht Katarina Witt. Sie Tischchen und Teegeschirr einen Moment war die erste Eiskunstlauf-Olympiasiegerin sagt, sie würde gern mitgehen, aber sie darüber nach, ob es gut für sie ist, dass Kohl seinen Prozess gegen die Birthler- Behörde gewonnen hat. Oder schlecht. „Vermutlich gut“, sagt sie müde. Sie drückt den Rücken durch und schaut in die Halle, den Kopf leicht in den Nacken gelegt, die Lippen geformt, als wolle sie je- manden küssen, während sie lächelt. So schaut sie oft. Es wirkt, als beträte sie den Raum noch mal. Man kann beobachten, wie die Menschen auf sie aufmerksam werden. Sie tuscheln, manche sammeln Mut, um sie anzusprechen. Sie registriert das. Das Bun- desverwaltungsgericht ist weit weg. Helmut Kohl verschwindet aus Philadelphia, es gibt näher liegende Probleme. Zum Beispiel kommt der Cappuccino, den sie bestellt hat, einfach nicht. Das Mobiliar sieht aus, als würde es nach Mottenkugeln riechen. Und wo bleibt eigentlich Uwe, ihr guter alter

Freund aus Berlin, der immer Kinderscho- DPA kolade mit nach Amerika bringt? Sie ist müde, blass und ungeschminkt. Es ist die 35. Station auf der 61-Städte-Tournee von „Stars on Ice“, quer durch Amerika. Es nimmt kein Ende. Sie hat gerade die Olym- pischen Spiele hinter sich, sie hat dort für die ARD kommentiert, sie hat Wayne Gretzky, Katja Seizinger und Marc Anthony getroffen, sie ist mit der Rockband Kiss bei der Abschlussfeier aufgetreten. Jetzt ist wie- der amerikanischer Alltag, morgen fahren sie nach Pittsburgh. Es gibt nun noch eine Olympiasiegerin mehr, die ihr folgt. Die ist 16, Katarina Witt ist 36. Ihr Rücken schmerzt. Im Moment kann sie sich vor- stellen, nach der Tournee aufzuhören. Draußen ist Märzanfang, noch nicht warm, nicht mehr kalt. Sie hat sich von ihrem Freund getrennt und noch keinen neuen. Also Helmut Kohl und das Bundesver- waltungsgericht. „Ich denke, dass man meine Situation schon mit Kohl vergleichen kann“, sagt sie. „Es gibt da bei mir so einen Begünstigten- Paragrafen. Sie wollen einen Teil meiner Akte veröffentlichen, aber ich will das nicht. Ich will, dass das endlich aufhört. Es ist so demütigend. Manchmal denke ich, sie Eiskunstläuferin Witt mit Trainerin Müller (1993), Auszug aus Witts Stasi-Akte (1985)

68 der spiegel 18/2002 hat keinen Platz mehr in den Koffern, „Den habe ich dann auch gleich an eine „Danke“, sagt Katarina Witt und lächelt schon zu viel eingekauft. Dann lacht sie Mauer gesetzt“, sagt sie und lacht wieder ihn ein bisschen länger an, als andere Eis- ihr lautes, irgendwie immer noch sächsi- das laute Lachen. läuferinnen das tun würden. Der Mann be- sches Lachen. Als Kristi Yamaguchi weg Die Firma DaimlerChrysler stellt ihr wegt sich wie auf Kufen durch die Halle. ist, sagt Katarina Witt scheinbar zusam- heute in jedem Ort der Welt ein Fahrzeug „Einer der Stasi-Leute, mit denen ich zu menhanglos, dass Neil Diamond in Provi- zur Verfügung. In Berlin fährt sie den Kom- tun hatte, ein älterer, der hat mir mal Gran- dence sein Konzert eine halbe Stunde spä- bi; wenn sie in Amerika ist, nimmt sie lie- deln mitgebracht, das sind so Eckzähne von ter angefangen hat, nur weil sie noch im ber den Geländewagen. Der blaue Lada ist Hirschen. Die waren doch immer jagen. Stau steckte. eine Anekdote. Es ist das, was ihr so ein- Und da hat mir der alte General diese Din- „Ein toller Typ, der Neil Diamond“, sagt fällt. Wie die Sache, als sie auf der Auto- ger vergolden lassen und zu Füßen gelegt. sie. bahn von der Volkspolizei gestoppt wurde. Die dachten, mir gefällt das. Ich meine, ich Wo waren wir stehen geblieben? Sie war so schnell gefahren, dass man ihr habe sie genommen. Das waren für mich Bundesverwaltungsgericht. War sie Be- die Fahrerlaubnis wegnehmen musste. alte Männer, alle brainwashed. Ich habe günstigte der Staatssicherheit? Aber weil sie Katarina Witt ist, hat sie den ihnen nicht mal was vorzuwerfen. Die ha- Sie erzählt etwas von einem Lada, den Führerschein gleich wiederbekommen. ben ihren Job gemacht. Die sollten mich sie unbedingt haben wollte. Er sollte dun- Heute dürfen alle schnell fahren. abschöpfen. Das haben sie getan. Sie hat- kelblau sein, und weil dunkelblaue Ladas Ein älterer Herr kommt an den Tisch. Sie ten doch Angst, dass ich abhaue. Ich woll- knapp waren, hat sie wohl einen aus dem schreibt ein Autogramm, er sagt, dass ihre te nicht abhauen. Sie haben von mir sicher Kontingent der Staatssicherheit bekom- Olympiakür in Lillehammer „Poesie auf mehr profitiert als ich von ihnen.“ men, glaubt sie. dem Eis“ gewesen sei. Irgendwann kommt der Cappuccino und dann auch Uwe mit der Kinderschokolade. Sie schreibt weiter Autogramme und lässt sich mit wildfremden Leuten fotografieren. „Hier in Amerika verstehen die nicht, worum es überhaupt geht. Für die bin ich ein Freiheitssymbol. Die Amerikaner sehen mich als lebenden Beweis dafür, dass die Mauer fiel.“ Aber auch die längste amerikanische Eislauftournee ist im Frühling zu Ende. In Deutschland warten die Akten. War sie Begünstigte der Staatssicher- heit? Und wenn ja, was heißt das? Heinz Düx ist ein Frankfurter Anwalt, der sie seit neun Jahren vertritt. Er ist ein Jugendfreund des Liedermachers und heu- tigen PDS-Vizes Diether Dehm, den Kata- rina Witt Ende der achtziger Jahre kennen lernte, als sie eintauchte in die kapita- listisch-sozialistische Welt der Halbpromi- nenz. Düx war im SDS und hat als Refe- rendar zusammen mit Otto Schily in den Stammheimprozessen verteidigt. Er sitzt in einem aufgeräumten Büro an einem klei- nen Park in Frankfurt am Main. Er hat die Verträge für den Schlagersänger Klaus Lage gemacht und auch Moses Pelham ver- treten, nachdem er Stefan Raab niederge- schlagen hatte. Aber das hier ist was anderes. „Ich versteh vieles nicht. 1993 hat ein Reporter der ‚BZ‘ einen Antrag auf die Ak- ten von Katarina Witt gestellt. Das ist neun Jahre her. Inzwischen ist er bei der ‚Welt‘. Vor zwei Jahren fanden die Archivare 1354 Blatt. Wieso es 1354 sind, weiß ich nicht. Katarina hat ja schon mal 1992 Aktenein- sicht bekommen, nachdem die ‚Chemnit- zer Morgenpost‘ behauptet hatte, sie sei IM. Damals waren es noch 4500 Blatt. Mich würde interessieren, wo der Rest ist. Na ja. Jedenfalls habe ich mich im Sommer 2001 mit Vertretern der Birthler-Behörde ge- troffen. Wir hatten ein ganz sachliches, offenes Gespräch. Wir sind davon ausge- gangen, dass es Opferakten sind, und die Behörde hat versprochen, dass sie die nicht

WOLFGANG WILDE WOLFGANG rausgibt. Im Dezember, kurz vor Weih- Glamour-Girl Witt: „Wie bei ,Big Brother‘“ nachten haben sie uns dann mitgeteilt, dass

der spiegel 18/2002 69 Gesellschaft HANS RAUCHENSTEINER (M.); EBERHARD THONFELD / CAMERA 4 (R.) / CAMERA (M.); EBERHARD THONFELD HANS RAUCHENSTEINER CAMERA 4 (L.) CAMERA In Karl-Marx-Stadt (1988) Mit Jungen Pionieren (1984) sie sich an das Versprechen nicht 15. Oktober 1982. „Es wird zuneh- mehr gebunden fühlen. Sie hät- mend öffentlich, in Bratislava ten 181 Seiten gefunden, auf schnauzte die Müller sie zusammen, denen Katarina eher Begüns- weil sie einen Likör zu sich nahm, tigte sei. Die würden sie nach den der Veranstalter allen anbot.“ der vierten Kalenderwoche 2002 Oberstleutnant Dangriess berichtet herausgeben. Das war zufällig im Mai 1983 über „körperliche Züch- genau der Beginn der Olympi- tigungen“ der Trainerin. „So schick- schen Winterspiele. Ein guter te die Müller die Witt während der Zeitpunkt für die Presse, zu- In „Holiday on Ice“ (1989) Schaulauftournee in Oslo wegen an- mal bekannt war, dass Katarina DDR-Ikone Witt: Goldene Hirschzähne vom General geblich schlechter sportlicher Leis- für die ARD kommentieren wür- tungen ohne Abendbrot ins Bett.“ de. Ich hab eine einstweilige Verfügung Es ist zu bezweifeln, dass Düx den Kon- 1984 berichtet ein IM, dass die Witt nicht erwirkt. Es soll ein Verfahren geben, ir- text überhaupt versteht. Es ist eine eigen- Trainerin wie Jutta Müller werden wolle, gendwann im Sommer. Ein Verfahren artige untergegangene Welt, die aus den aber gern in der Öffentlichkeit bleiben wür- würde meiner Mandantin schaden, weil Akten in seinem Büro wächst. Sie ist ver- de. Sie wolle aufhören, wenn sie bei Olym- sie öffentlich über ihr Privatleben reden schroben, absurd und an diesem Früh- pia nicht gewinne, und scheine damit zu- müsste. Und es muss öffentlich sein, weil es jahrsabend 2002 an seinem westdeutschen frieden zu sein. Jutta Müller führe das auf sonst natürlich nach Gemauschel aus- Schreibtisch nur noch schwer zu entziffern. zu viele Discobesuche zurück. sehen würde.“ Die Staatssicherheit näherte sich Kata- Bei der Europameisterschaft in Dort- Düx zupft ein Blatt gerade, auf dem die rina Witt zunächst wie ein Unterstufenleh- mund üben der westdeutsche Sieger Nor- Seiten aufgelistet sind, die Katarina Witt als rer. In ihren ersten Akten notieren sie ihren bert Schramm und die ostdeutsche Siege- Begünstigte der Staatssicherheit zeigen. Zensurendurchschnitt und das Gesamtver- rin Katarina Witt einen Walzer für den Ab- „Sie haben alles aufgeschrieben. Den halten auf der Kinder- und Jugendsport- schlussabend. „Die W. weilte insgesamt ca. Eisbecher, den sie ihr bezahlt haben, das schule Karl-Marx-Stadt. Da ist sie neun 2 Minuten mit dem Schramm allein im Reisevisum, das sie ihr besorgt haben, den Jahre alt, und in ihrer Akte heißt es: „Ihr Zimmer“, schreibt ein IM. Der Tanz, den roten Golf. Sie hat als Spitzensportlerin na- politisch-ideologischer Reifegrad ist ent- die beiden später auf dem Abschlussball türlich Sachen bekommen, die andere nicht sprechend altersspezifischen Bedingungen tanzen, füllt fast eine ganze Akte. bekamen. Das ist doch klar. Die wollten sie gut ausgeprägt.“ Ein Offizier vermeldet, dass inzwischen doch im Land halten. Laut Stasi-Unterla- Als sie elf ist, schreibt Oberleutnant ein „sehr starkes Selbstbewusstsein zu ver- gengesetz Paragraf 6, Absatz 6, Punkt 1 sind Kellermann: „Sie hat in unserer Republik zeichnen ist“. Im Juni 1984 „zeigt sie bei Begünstigte: ‚Personen, die vom Staatssi- eine gesicherte sportliche und berufliche Fragen von Journalisten nicht immer die er- cherheitsdienst wesentlich gefördert worden Perspektive.“ forderliche politische Reife“, zudem mache sind, insbesondere durch Verschaffung be- 1981 vermerkt Oberstleutnant Kunze: „Sie sich „finanzielle Interessiertheit bei ihr ver- ruflicher oder sonstiger wirtschaftlicher Vor- wurde politisch positiv erzogen und tritt auch stärkt bemerkbar“. Es gibt Angebote west- teile‘“, sagt er. „Aber trifft das zu auf Katari- licher Kosmetikkonzerne. Die Staatssicher- na Witt? Hat die Stasi die Frau nicht viel Man kann ihr Porträt aus den Akten heit in Karl-Marx-Stadt sieht die Witt schon mehr ausgenutzt? Kann man das gegenein- in einer „Dallas“-Fabelwelt. Mal ist von ander aufrechnen? Es gibt ja keine Literatur lesen. Man kann lesen, wie sie Zwei-Millionen-Dollar-Angeboten die Rede, zu diesem Gesetz. Keine vernünftige Kom- ihrem Land über den Kopf wächst. mal von drei Millionen. Das ist alles unvor- mentierung. Es sind so graue Zonen. Frau stellbar viel. Die Interviewanfrage eines Birthler hat zum Beispiel zu mir gesagt: ,Sei- selbst in dieser Hinsicht auf. Die sportliche amerikanischen Eislaufmagazins wird wie en Sie doch froh, dass es nur 181 Seiten sind, Entwicklung ist bei der Witt voll gegeben.“ ein Militäranschlag behandelt. wir könnten da noch ganz andere Sachen 1982 formuliert Oberstleutnant Dangriess Katarina Witt ist jetzt der „operative Vor- zeigen.‘ Das ist doch wohl ein Witz, solche vorsichtig: „Im Zuge der weiteren Persön- gang Flop“, sie soll „mit der Zielstellung verschwiemelten Drohungen. Aber ich muss lichkeitsentwicklung ist unter Berücksichti- der Verhinderung von Verratshandlungen das ernst nehmen. Ich habe Katarina ge- gung der sportlichen Erfolge ein erhöhtes sowie der ungesetzlichen Verbindungsauf- fragt: ‚Sag mal, gibt’s da noch was?‘ Und sie Selbstbewusstsein zu verzeichnen.“ nahme operativ bearbeitet werden“. sagt: ,Nicht dass ich wüsste!‘ Und dann sind Sie gewinnt, zum ersten Mal. Sie wächst. Sie ist von informellen Mitarbeitern um- da ganze Seiten geschwärzt, und hinten dran Ab 1982 notieren die Stasi-Leute Span- zingelt. „Klaus Peter“, „Anna-Rose“, steht dann ein Satz, der ihr vorgeworfen nungen zwischen Trainerin Jutta Müller „Schütze“, „Gerhard“, „Torsten“, „Paul wird. Da muss ich doch den Kontext kennen. und Katarina Witt. Ein IM-Bericht über Schmidt“, „Benno“ und „Maria“ trainie- Wie soll ich sie denn sonst verteidigen?“ ihre Auseinandersetzungen stammt vom ren mit ihr, sind mit ihr befreundet. Sie

70 der spiegel 18/2002 W. SCHULZE / SPORTIMAGE (R.) SCHULZE / SPORTIMAGE W. ADN / ULLSTEIN BILDERDIENST (L.); EBERHARD THONFELD / CAMERA 4 / CAMERA (L.); EBERHARD THONFELD BILDERDIENST ADN / ULLSTEIN Mit ZK-Sekretär Krenz (1988) Witts Eltern (1989) Mit Speerwerfer Uwe Hohn (1984)* Olympiasiegerin Witt: Zu berühmt, um sie abzuschalten bohren sich in ihr Leben. Einer spielt mit nominieren, wenn bis dahin keine sichtbaren Offiziere darüber, was die Tränen zu be- ihrem Bruder in der zweiten Mannschaft Trainingsleistungen, die einen EM-Erfolg deuten haben. des SC Karl-Marx-Stadt Fußball, einer hilft garantieren, zu verzeichnen sind.“ „Mehrere Meinungen standen im ihr beim Renovieren, einer trainiert sie. Sie muss gewinnen. Sie haben Angst, Raum.“ Sie lesen ihre Briefe, sie berichten über dass sie verliert, aber wenn sie dann doch Die Müller beschwert sich, die Witt wür- Gewichtszunahme und Trainingsfleiß, sie gewinnt, scheint ihre Angst nur noch de sich zunehmend wie ein „Star“ beneh- bewerten ihre Freundschaften, sie beob- größer zu werden. men. Aber genau das ist sie. Die Müller achten sie im Ausland, sie spekulieren über Sie wird jetzt rund um die Uhr bewacht. verliert an Einfluss. Katarina Witt wird zu Affären und bewerten ihre Streits mit Jut- Ihre Umgebung wird verwanzt. Wohnungen berühmt, um sie abzuschalten. Sie müssen ta Müller, die immer heftiger werden. von Freunden und die Eishalle. Am 31. Ja- sich etwas einfallen lassen. Als Katarina Witt 1984 bei einer Aus- nuar 1985 beschließt die Bezirksverwaltung, 1986 treten sie offen in ihr Leben. Nach zeichnungsreise auf Kuba vier Kilo zu- dass ihre Einraumwohnung bezugsfertig ist. einem versuchten, wahrscheinlich vor- nimmt, dreht ihre Trainerin durch. In der „Es sind operativ-technische Maßnahmen getäuschten Einbruch in ihre Wohnung Akte kann man nachlesen, wie sich Jutta der Abteilung 26 A und B zur umfassenden meldet sich nicht die Polizei, sondern Müller über die Witt bei verschiedenen operativen Kontrolle einzusetzen.“ „Bernd“. Er ist ein Abteilungsleiter der Funktionären beklagt. Ihre Leistung sei Katarina Witt glaubt, ihrem Elternhaus, MfS-Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt, „beschissen“, ihre Kür sei „eine Katastro- dem wachsamen Vater, endlich entflohen der seine Berichte mit Major Walther phe“, die Witt habe einen „totalen Zu- zu sein. In Wahrheit hat sie nun gar keinen unterschreibt. Er verspricht zu helfen, bei sammenbruch“ und höre nach dieser Sai- Platz mehr, an den sie sich zurückziehen der Wohnungssuche und auch sonst. Ihm son wahrscheinlich sowieso auf. Jutta Mül- kann. Sie bekommt eine Urlaubsreise nach wird sie künftig ihre Probleme schildern. ler weint und bietet ihren eigenen Rücktritt Bulgarien geschenkt, weil sie Weltmeiste- Sie treffen sich mit ihr in regelmäßigen an. Es wird ein Machtkampf, der die Kar- rin in Tokio wurde. Es wird dafür gesorgt, Abständen in einer konspirativen Woh- riere von Katarina Witt bedroht. dass ein IM mitreist. nung, dem „Objekt Kiefer“. Sie wollen her- Anfang 1985 wird aus der Krise eine Der Druck hört nie auf, in den Berich- ausfinden, was sie will. Was sie braucht, Staatsaffäre. Der Chef des DDR-Eislauf- ten wird nie Erleichterung über einen Sieg damit sie nicht wegrennt. Sie will ein Auto verbands legt fest: „Man kann die Witt in spürbar. Einmal berichtet ein IM, wie die und eine Wohnung, aber manche Sachen dieser Verfassung der Weltöffentlichkeit Witt, nachdem sie die Müller und auch an- muss man ihr auch von den Lippen able- nicht vorführen.“ Siegfried Lorenz, SED- dere Funktionäre wochenlang wegen ihres sen. Wie sieht sie denn aus, die große weite Chef des Bezirks Karl-Marx-Stadt, wird Übergewichts demütigten, zu einem ehe- Welt, durch die Katarina Witt so reist? Was über ihre Trainingsfaulheit informiert. maligen Paarläufer sagt: „Ich beneide dich, muss man ihr bieten? Da ist auch Major Sportverband-Präsident Manfred Ewald du hast es hinter dir.“ Walther unsicher. „zieht in Erwägung, die Witt wegen ihrer Als sie bei der WM in Tokio auf dem Sie- Auf Seite 000179 im Band 12 der Akte Leistungsschwankungen nicht für die EM zu gerpodest weint, diskutieren die Stasi- 2559/89, die von der Behörde als Be- günstigtenseite eingestuft wird, steht der Satz: „Bezüglich Speisen äußerte sie den Wunsch, evtl. einmal Ragoût fin zu essen.“ Ragoût fin war eines der Gerichte, die den DDR-Bürgern einredeten, dass man gar nicht so weit weg war von der Welt. Ra- goût fin war in den achtziger Jahren in der DDR als Vorspeise so populär wie Soljan- ka, war aber schwerer auszusprechen. Es schien aus Frankreich zu stammen. Sie wollten alles richtig machen. Sie haben ihr Eis und Spaghetti angeboten: „was offen- sichtlich ihre Anerkennung fand“. Im Au- gust 1986 zum Beispiel lehnt sie belegte Brötchen der Staatssicherheit ab, „weil die Gift für mich sind“, im Oktober aber

Auszug aus Witts Stasi-Akte (1988): Angebote aus dem Westen * Bei der Wahl zum Sportler des Jahres in Ost-Berlin.

der spiegel 18/2002 71 EBERHARD THONFELD / CAMERA 4 (L.); JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO (R.) PHOTO + EUROPA 4 (L.); JÜRGENS OST / CAMERA EBERHARD THONFELD Nach dem Olympiasieg in Calgary (1988) greift sie bei Steak mit Ei zu und isst auch 120 Mark“), und sie lobt den Apfel. das FBI. Sie ist ein verzogenes Kind. Jetzt wollte Am 11. Dezember 1986 sie Ragoût fin. bekommt sie nachträglich Wie soll man das heute bewerten? zum Geburtstag und für Die Witt erinnert sich kaum noch an ihren Sieg in Tokio einen „Bernd“. Blumenstrauß (27 Mark) Mit Staatschef Honecker (1988) Sie läuft mit einer rosafarbenen Sonnen- sowie einen Nussknacker Vorzeigesportlerin Witt: „Der war bestimmt nett“ brille durch einen kleinen Park hinter dem (100 Mark) geschenkt. Ei- Hotel Hershey, das auf einem Berg in Penn- nen Nussknacker zum 21. Geburtstag. Die vals auf und bei Eisshows in Las Vegas. Sie sylvania steht. In einiger Entfernung zuckeln Birthler-Behörde rechnet das unter Be- lernt Erich Honecker kennen, aber auch alte Männer mit dünnen Beinen Golfkarren günstigung ab. den Popstar Bryan Adams. Sie will in der durch den Nachmittag. Die Tournee ist jetzt Es fängt an zu nieseln. Katarina Witt DDR bleiben, aber Sonnenblumenbrot aus fast zu Ende. Die Rückenschmerzen sind läuft weg von den alten Männern, im Tal West-Berlin essen. Sie will einen Pass für weg. Es ist Frühling, und sie hat wieder ei- dreht sich langsam das Riesenrad eines sich und ihren Freund. Sie wird SED-Mit- nen Freund. Sie möchte nach vorn sehen. Vergnügungsparks. „Ich hab mich be- glied und will einen Golf. Nichts passt Sie schleppt sich nur mühsam zurück in die stimmt über den Nussknacker gefreut“, mehr zusammen. Sie beklagt sich bei der Vergangenheit. Es interessiert sie nicht, es ist sagt sie. „Die waren doch schwer zu be- Staatssicherheit über die Qualität sowjeti- langweilig. Ohne Geheimnisse. Die Akten, kommen. Oder?“ scher Autos. Sie habe auch besseren Kon- die sie 1992 sehen durfte, hat sie einem Am Tag, als sie den Nussknacker bekam, takt zu amerikanischen Sportlern als zu Ghostwriter gegeben, der die hastige Bio- reden sie auch über die WM in Japan, wo russischen. Nach einem Wettkampf in Ja- grafie „Meine Jahre zwischen Pflicht und sie von einem Kriminellen bedroht wurde. pan würde sie doch lieber einen Mitsubishi Kür“ zusammenschrieb, an die sie sich auch „Dabei stand der ihr übergebene Brief ei- haben. Später möchte sie einen VW-Bus, kaum noch erinnern kann. Sie hatte mal nes Mörders, der seine Freundin zerstückelte einmal taucht der Wunsch nach einem eine Liste mit Klarnamen aller IM, die sie und ,auffraß‘, im Mittelpunkt. Die Botschaft Audi Quattro auf. Sie will nach Berlin. Die bespitzelt hatten. Die meisten hat sie ver- der DDR in Japan habe daraufhin Poli- SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt be- gessen. Sie sagt, die hätten sowieso nur er- zeischutz beantragt.“ Dann heißt es noch sorgt ihr ein Ferienhaus in Altenhof. Es ist zählt, was alle wussten. Sie erinnert sich lakonisch: „Sie nimmt vom 17. – 19.12. an alles, was sie ihr bieten kann. Aber sie will nur noch an eine Trainerin, die sie und ihren den DDR-Meisterschaften teil.“ Das ist alles. auch eine Wohnung. Am liebsten wäre ihr damaligen Freund Ingo Pohlitz auseinander Ein japanischer Menschenfresser, eine was am Platz der Akademie, da, wo auch bringen wollte. Sie haben ihn zur Armee an DDR-Meisterschaft und ein Nussknacker der Opernsänger Peter Schreier und die die Ostsee geschickt, so weit wie möglich auf einem Aktenblatt. Volksmusikanten Hauff & Henkler woh- weg von Karl-Marx-Stadt. Das war fies. Ein Universum. nen. Sie zeigen ihr eine Wohnung am Ost- Aber sonst? „Bernd“? Ihre Welt begann auseinander zu fallen. bahnhof, die ihr zu laut ist, sie sieht sich „Es gab einen Jüngeren, so um die 40, Die Staatssicherheit macht sich Sorgen, was in der Friedrichstraße an, schließlich und dann den Alten mit den Grandeln“, wie sie das alles zusammenhalten soll. Sie finden sie eine Maisonettewohnung, direkt sagt sie. „Der Jüngere war ‚Bernd‘. Zu- an der Mauer in Mitte. mindest war das der Name, den sie mir Manche Sachen muss man ihr von Irgendwie scheint alles möglich. In die- sagten. Ich habe ihn meistens in so einem ser Zeit schlägt sie sogar vor, für ihre Olym- Einfamilienhaus getroffen. Das, was sie das den Lippen ablesen. Da ist auch piakür das Ende von „Carmen“ umzu- Objekt Kiefer nannten. Er tat väterlich. Ich Major Walther manchmal unsicher. schreiben. Sie will, dass „Carmen“ über- würde ihn heute nicht mehr erkennen.“ lebt. Sie will alles. Sie will einen Golf. Nach der Weltmeisterschaft in Cincinnati reden ihr ein, ein Schauspielstudium zu Major Walther schreibt im April 1987: berichtet sie „Bernd“, dass sie in Amerika beginnen. Aber sie hat kein Talent zur „1. Im Prinzip kann sie einen PKW vom sehr gut durch das FBI abgesichert worden Schauspielerin. Sie ist zu kontrolliert, und Typ Golf erhalten. sei. Die Beamten haben sich ihr vorgestellt ihre Stimme ist zu dünn. Eigentlich will sie 2. Aber erst nach der Olympiade. und sich immer im Hintergrund gehalten. nur Eislaufen, eigentlich will sie zur Re- 3. Dies ist ihr jedoch nicht so zu sagen.“ Das muss man sich mal vorstellen. Sie sitzt vue; aber dass ein Mädchen aus der DDR 1988 gewinnt sie zum zweiten Mal Gold in einer konspirativen Wohnung, sie hat ge- für eine West-Revue läuft, das hat es bisher bei den Olympischen Spielen und bekommt rade einen Blumenstrauß vom Leiter der nicht gegeben. Ihr Vater möchte, dass sie den Golf. Er ist knallrot. Sie siegt im Show- Bezirksverwaltung der Staatssicherheit, Ge- Ärztin wird, irgendjemand schlägt vor, sie down mit der US-Läuferin Debi Thomas, nossen Generalmajor Gehlert, zum Gewinn soll zum Modeinstitut gehen. Sie tanzt die wie sie eine Kür zu einer Melodie aus der Goldmedaille bekommen („Wert von durch alle Welten. Sie tritt bei FDJ-Festi- „Carmen“ läuft. Die Witt ist jetzt eine

72 der spiegel 18/2002 DPA (L.); EBERHARD THONFELD / CAMERA 4 (R.) / CAMERA (L.); EBERHARD THONFELD DPA Mit BRD-Star Steffi Graf (1988) Am Steuer ihres Ladas (1988) Günstling Witt: Zur Strafe ohne Abendbrot ins Bett

Legende. Sie kann nicht erfolgreicher wer- Anfang Mai fasst sich Major Walther ein winski. Sie unterschreibt bei „Holiday den. Sie ist 22, sie muss aufhören. Herz. Er schreibt an Mielke. on Ice“. Aber was dann? „Ich erlaube mir, Sie zu bitten, mögli- Trotzdem bleibt sie unzufrieden. Sie hat Angst, dass sich nach der Karrie- cherweise Ihren Einfluss geltend zu ma- Aus unerfindlichen Gründen zeigt ihr re niemand mehr um sie kümmert. Sie chen, damit der Genossin Witt klare Ent- Sportverband-Präsident Manfred Ewald kennt Weltmeisterinnen, die in Zweizim- scheidungen über ihre Perspektive mitge- die Mappe, in der er alle Angebote ge- merwohnungen verschwinden. Das darf ihr teilt werden.“ sammelt hat, die über die Jahre für sie ein- nicht passieren. Sie stellt das Schauspielstu- Er informiert den höchsten Stasi-Chef gingen. „Holiday on Ice“ bietet fünf Mil- dium zurück, sie will Eislaufprofi werden. der DDR über die Wünsche von Katarina lionen, sie hat elf Filmangebote, Werbung. „Ihr wurde versichert, dass sie sich je- Witt. Sie will einen Reisepass. Sie will ei- Sie wäre reich. Sie lässt sich die Mappe derzeit auf das MfS verlassen kann. Dies nen Manager. Sie will später Moderatorin von „Bernd“ kopieren und schaut immer nahm sie mit großer Freude zur Kenntnis“, beim Fernsehfunk der DDR werden. „Als wieder hinein. schreibt Major Walther. diesbezügliches Vorbild nannte sie Petra Ihr Leben passt nicht mehr in die DDR. Ab 1988 wird Katarina Witt zur Staats- Kusch-Lück“, schreibt Walther. Sehr gut konnte man das bei dem Ost-Ber- angelegenheit der DDR. In ihren Akten Und zum Schluss fügt er eine Beurtei- liner Konzert mit Bryan Adams beobach- tauchen jetzt regelmäßig Minister auf, mal lung an. So wie ganz am Anfang, als sie ten, das sie im August 1988 moderierte. Sie der Außenminister, mal der Bauminister, noch Schülerin in der Kinder- und Ju- hatte Adams überredet, in der DDR auf- manchmal auch Erich Honecker selbst. gendsportschule war. zutreten, aber die Leute pfiffen sie aus. Sie Egon Krenz bietet ihr das Du an. „Genossin Witt versicherte erneut, dass spürten, dass etwas nicht stimmte mit Ka- 1988 schreibt der Karl-Marx-Städter Sta- wir uns immer auf sie verlassen können und tarina Witt. Sie repräsentierte den Staat. si-Chef General Gehlert an Armeegeneral dass sie das entgegengebrachte Vertrauen Absurderweise erklärte sich die Staats- Erich Mielke: „Durch die seit Mai 1986 re- niemals missbrauchen wird. Ihren Dank ge- sicherheit die Pfiffe damit, dass Katarina gelmäßig durchgeführten konspirativen genüber dem MfS begründete sie auch ab- Witt kein FDJ-Hemd trug. Treffs gelang es, zwischen Katarina Witt schließend noch mit den Worten: ,Wenn ich Wahrscheinlich kann man den Unter- und dem Ministerium für Staatssicherheit sie nicht hätte – die bisherige großzügige gang der DDR auch gut am Leben von Ka- ein echtes Vertrauensverhältnis aufzubau- Unterstützung –, wären meine Erfolge nicht tarina Witt beschreiben. Das Land war en und das teilweise noch gespannte Ver- in dem Maße möglich gewesen.‘“ nicht mehr souverän genug, eine Eis- hältnis zu ihrer Trainerin Jutta Müller zum So spricht kein Mensch und schon gar kunstläuferin im Griff zu behalten. Ein fre- Positiven zu beeinflussen. Katarina Witt nicht Katarina Witt. Aber es half. Ihr wur- ches Mädchen aus Karl-Marx-Stadt tanzte sieht im Ministerium für Staatssicherheit ei- den alle Wünsche erfüllt. ihnen auf dem Kopf herum. Die DDR woll- nen Partner, dem sie alle Probleme und Sie bekommt einen Manager, auch wenn te immer Weltspitze sein. Jetzt besaß sie Sorgen bis hin zu ihren Beziehungen zu sie ihn noch in Anführungszeichen set- ein Spitzenprodukt und musste feststellen, Männern anvertrauen kann.“ zen. Den „Manager“-Genossen Heinz Czer- dass es das Gegenteil von all dem war, was das Land ausmachte. Denn natürlich war der arme Genosse Czerwinski kein Mana- ger, der Anwalt, den sie gestellt bekam, war nicht loyal, und letztlich fühlte sie sich auch bei „Holiday on Ice“ unterfordert. Katarina Witt wollte professionell betreut werden. Die Stasi-Leute entließen Czer- winski wieder und stellten den ehemali- gen Radfahrer Thomas Huschke als ihren Manager ein. Sie ließ sich von DDR-Star- anwalt Wolfgang Vogel vertreten. Sie grün- deten eine Sportvermarktungsagentur, die bei Schalck-Golodkowski angegliedert wer- den sollte. Bevor sie Profi geworden war, hatten sie ihr ein Devisenkonto mit 750000 Westmark eingerichtet. Dafür behielten sie nun einen Großteil ihrer Gagen ein. Sie hörte auf bei „Holiday on Ice“ und Auszug aus Witts Stasi-Akte (1988): Alle Wünsche erfüllt erarbeitete mit dem amerikanischen Eis-

der spiegel 18/2002 73 CAMERA 4 (L.); ALEXANDER HASSENSTEIN / BONGARTS (M.) / BONGARTS 4 (L.); HASSENSTEIN ALEXANDER CAMERA In ihrem Mercedes (1995) Bei der Olympia-Abschlussfeier* Als Nacktmodell (1998) Karrierefrau Witt: „In Amerika bin ich ein Freiheitssymbol“ läufer Brian Boitano die Konzeption für Vielleicht ist sie keine Begünstigte, aber Im Dezember hat sie sich mit Marianne den Film „Carmen on Ice“. sie ist auch kein Opfer. Das entspricht Birthler getroffen, der neuen Chefin der Sie verließ die DDR und merkte es nicht. nicht ihrem Charakter. Sie spielt mit den Stasi-Unterlagen-Behörde. Sie hat gedacht, Wenn man ihr Programm für die letzten Männern. dass man das mit der Herausgabe ihrer 181 Monate vorm Mauerfall liest, wird einem Einmal fragt „Bernd“ die Witt, wo sie Seiten regeln kann. Unter Frauen. Sie hat schwindlig. Im Mai 1989 war sie beim ihren Urlaub verbringe. „Daraufhin stellte sich auch 1991 mit Hans-Hermann Tiedje Pfingsttreffen der FDJ in Berlin, im Juni auf sie scherzhaft (?) die Frage, ob wir jeman- zusammengesetzt, der sie als Chefredak- USA-Tournee, im Juli bei den Weltfest- den mitschicken“, schreibt Major Walther. teur von „Bild“ regelmäßig angriff. Tiedje spielen der Jugend und Studenten in Nord- Das Fragezeichen erzählt die ganze Ge- machte sie zur SED-Ziege. Sie haben ge- korea, im September und Oktober dreht sie schichte. Ein Fragezeichen in Klammern. redet, und am Ende lächelte Tiedje „und in Sevilla „Carmen on Ice“. Sie haben Angst, den Witz nicht verstan- sagte dann noch so etwas wie: ,Akzeptiert, Sie kann überhaupt nicht mehr wissen, den zu haben. Sie waren sich ihrer nie si- damit kann ich leben, nun kennen wir uns, was in der DDR passiert. Alles, was sie cher. Manchmal scheint sie mit Ewald zu nun vertragen wir uns.‘“ noch hat, ist so ein diffuses Treuegefühl. flirten. Siegfried Lorenz, der Sekretär der So einfach war es mit Kann sie sich noch an den VW-Kleinbus Bezirksleitung, lag ihr sicher zu Füßen. An- nicht. Warum, ist schwer zu sagen. Der Pres- erinnern, den sie unbedingt haben wollte? walt Vogel hat sie sicher gemocht. Krenz sesprecher der Birthler-Behörde hat alle An- „Keine Ahnung, was ich damit wollte“, auch, Honecker hat sich Eiskunstlaufen im fragen für diesen Artikel mit wechselnden sagt sie. „Wahrscheinlich war es für Ingos Fernsehen angeschaut. An ihrer Wirkung Begründungen abgelehnt. Die letzte war: Schlagzeug. Man merkte immer, unter wes- auf Männer hat sich nichts geändert. Auf Frau Birthler will überhaupt nichts sagen, sen Einfluss ich stand. Ich wusste nie, was einem Empfang für die Waisenkinder vom was irgendwie in den Kontext Katarina Witt ich wollte“, sagt sie. 11. September in der NBC-Zentrale von gestellt werden kann. Schade. Es muss ein Kann sie sich an Heinz Czerwinski er- Salt Lake City glühte der NBC-Chairman wunderbares Gespräch gewesen sein. Zwei innern, ihren Manager in Anführungs- Bob Wright regelrecht, wenn er in ihre Frauen mit so unterschiedlichen Biografien zeichen? Nähe geriet. Ihr Anwalt Düx hat ihre im Osten, der Staatsstar und die Bürger- „Czerwinski?“, sagt sie. „Nee. Aber der Bücher zwischen seine Aktenordner ge- rechtlerin. Sie haben etwa eine Stunde lang war bestimmt nett. Oder?“ stellt, es gibt ein Foto, das sie zusammen in der Behörde miteinander geredet. Es war Was soll sie dazu sagen? Sie kann sich zeigt. Der berühmte DDR-Sportreporter entspannt, aber sie konnten sich nicht eini- nicht erinnern, wer sie damals gewesen ist. Heinz-Florian Oertel hat sie sein Leben gen. Am Abend trafen sie sich dann noch Sie läuft mit einem schneeweißen Pelz- lang umgurrt. Er tappt ihr noch heute hin- mal bei der Premiere von Thomas Brussigs mantel durch Chicago. Der Himmel ist terher wie Manfred Hönel, der sie zuerst Stück „Leben bis Männer“ in den Kam- hellblau. Ab und zu steht jemand vor ihr für die „Junge Welt“ und später für die merspielen. Manfred Krug und Sandra und lobt ihr Aussehen oder ihren schnee- „Bild“-Zeitung beschrieb. Auch die alten Maischberger waren auch da. weißen Mantel. Das ist das, was zählt. Männer nutzen sie, um im Spiel zu bleiben Noch Ende Oktober 1989 traf sich Kata- Das Faszinierende an den Akten ist, dass und am Leben. Es ist ein Geben und Neh- rina Witt mit der Stasi in einer konspirati- man Katarina Witt in ihnen erkennt. Man ven Wohnung. Draußen zerbröselte ihr kann ihr Porträt aus den Akten lesen. Man Beim letzten Stasi-Treffen sagt sie: Staat, sie aber ließ den Leiter der Bezirks- kann lesen, wie ein Star wächst. Wie er ei- „Danke. Ihr seid die Einzigen, verwaltung grüßen und sagte, dass sie gern nem Land über den Kopf wächst. Das ist mit ihm auf die Jagd ginge. komisch und auch interessant. auf die man sich verlassen kann.“ „Bei Gesprächen bekundete Katarina Aber vielleicht ist das kein ausreichen- Witt, dass sie unserer Partei und unserem des Kriterium, um in einem fremden Leben men. Es ist wie mit den vergoldeten Hirsch- Staat alles, was sie ist, zu verdanken hat. Sie zu wühlen. Vielleicht haben das manch- Eckzähnen, die ihr Generalleutnant Geh- wird unseren Staat nie enttäuschen bzw. den mal auch die Beamten der Birthler-Behör- lert mitbrachte. Rücken kehren“, schreibt Major Walther. de gespürt. Aus irgendeinem Schutzbe- Es ist ihr Spiel. Der Bericht über ihr letztes Treffen mit dürfnis heraus schwärzen sie zum Beispiel Es sieht so aus, als könnte sie mit Män- der Stasi ist deprimierend. Auch Katarina den Zensurendurchschnitt der zehnjähri- nern besser umgehen als mit Frauen. Die Witt geht unter. Die erfolgreichste Eis- gen Katarina Witt. Wenn ihre Liebesbe- Frauen, die gegen sie gelaufen sind, sind kunstläuferin aller Zeiten, das schönste ziehungen beobachtet werden, wenn sie alle an ihr zerbrochen. Katarina Witt stand Gesicht des Sozialismus, sitzt, kurz bevor von Funktionären in die Enge getrieben an der Bande und hat zugeguckt, wie sie ihre Akte versiegelt wird, in einer konspi- wird, wenn Informelle Mitarbeiter ihre die Nerven verloren. rativen Wohnung und sagt zu einem mit- Charakterschwächen auflisten, darf man telalten, langweiligen Mann, der ihr nichts als Leser ungestört dabei sein. * Zusammen mit der Rockband Kiss in Salt Lake City. bedeutet: „Danke. Ihr seid die Einzigen,

74 der spiegel 18/2002 WOLFGANG WILDE (L.); HARALD T. SCHREIBER, NY (R.) T. (L.); HARALD WILDE WOLFGANG In New York bei einer Pro-Israel-Demonstration

Katarina Witt wird hat. Sie hat sich mit Menschen umgeben, die wohl noch für ein wei- ihr nicht wehtun. Ihre Eltern hat sie nach- teres Jahr bei der Show geholt. Sie hatten ja sowieso nie eine rich- unterschreiben. Sie ist tige Heimat in Karl-Marx-Stadt. Sie kamen dann 37. „Ich kann mich als Kinder am Ende des Kriegs mit den nicht beklagen. Ich habe Trecks aus dem Osten. Sie wohnen jetzt in Als Fotomodell die fetten Jahre im Profi- dem hübschen Haus ihrer Tochter. Die Medienstar Witt: „Ich kann mich nicht beklagen“ Eislaufen mitgemacht“, Decken sind so hoch, dass die Möbel der El- sagt sie. tern aus der Chemnitzer Neubauwohnung auf die man sich verlassen kann.“ Am Ende Katarina Witt ist wieder in Berlin. Sie hat winzig aussehen. Auch die beiden sehen gibt sie Petra Kusch-Lück als Vorbild an. die Meldung herausgegeben, dass sie sich klein aus, hier. Katarina Witt nennt das Die Fernsehansagerin. von ihrem Freund getrennt hat. Das ist Haus „Villa Kunterbunt“. Sie hat Uwe hier Sie hatte alle Maßstäbe verloren. zwar schon im Dezember passiert, aber untergebracht, ihren alten Freund. Sie hät- „Ach, du Scheiße“, sagt sie, als sie das jetzt erst muss sie es sagen. Glaubt sie. In te auch gern Frau Müller nachgeholt, die liest. Und nach einer Pause fügt sie hinzu: Amerika ist das nicht so wichtig. Sie ist Trainerin, von der sie jahrelang schikaniert „Na ja.“ Sie sitzt in einer DC-9, die für sie wieder in ihrem anderen Leben. In wurde. Inzwischen glaubt Katarina Witt, und ihre Eiskollegen mit breiten, weichen Deutschland. dass sie ohne Jutta Müller nie gewonnen Ledersesseln ausgerüstet worden ist. Sie Sie ist ein deutscher Star. Einer der hätte. Katarina Witt hat auch sie letztlich be- fliegt von einem Auftritt in Hershey in wenigen, die es auch in Amerika geschafft siegt. Die alte Frau wollte nicht mehr weg Pennsylvania, bei dem sie gefeiert wurde, haben. Man muss mit Vergleichen vorsich- aus ihrer Neubauwohnung in Chemnitz. Die zu einem Auftritt in Rochester, bei dem sie tig sein, aber es gibt kaum jemanden aus Eltern servieren Kaffee im Zwiebelmuster- gefeiert wird. Nach der Show werden sie Deutschland, der dort im Moment so po- porzellan aus Kahla. gleich weiter nach New York fliegen. Es pulär ist wie sie. Sie fangen sofort an, sich zu verteidi- gibt keine Sicherheitskontrollen für sie. Sie hat für Coca-Cola geworben. Sie gen. Sie erzählen, wie lange sie in der DDR Der Bus wird auf dem Rollfeld stehen und springt nur noch Zweifachsprünge, aber auf ein Auto warten mussten. Auch sie sie in die Upper East Side bringen. Es ist das ist für die amerikanischen Fans nicht haben jetzt einen Mercedes. Der Schatten kurz nach Mitternacht. Manhattan funkelt. wichtig. Sie ist Katarina Witt. Sie ist ein fällt in ihr Leben. Die Presse hat sie schon Das einzige Problem, das sie hier hat, ist ihr Star, sie wollen sie nur sehen. als Hausangestellte ihrer Tochter bezeich- Ex-Freund. Er wird da sein, um mit ihr Sie hat sich in eine Welt zurückgezogen, net. Sie sollten sich eigentlich freuen, sie ein Doppelbettzimmer zu teilen, das sie die man künstlich nennen kann. Sie fühlt sollten stolz sein, so eine Tochter zu haben. schon vor einem halben Jahr gebucht hat. sich geschützt. Der Winter findet auf dem Aber sie sind misstrauisch. Er kennt ihren neuen Freund noch nicht. Eis statt, in Amerika, wo man sie liebt; im Sie scheinen sehr traurig zu sein, dass Dave Hoffis heißt er und ist Tourmanager Sommer lebt sie in einem Mietshaus in Ber- Katarina ihren Vertrag mit „Stars on Ice“ bei „Stars on Ice“. lin-Mitte, das sie vor vier Jahren gekauft noch einmal verlängern will. Sie wollen, dass sie ihren Frieden findet. Am Abend bevor sie wieder abfährt, gerät Katarina Witt in Manhattan zufällig in eine große Demonstration gegen die PLO und für Israel. Sie kommt, gefolgt von ei- nem Kamerateam und einem Fotografen, von ihrem Hotel in der Upper East Side. Es ist ein schöner Frühlingstag. Sie hat ihrem Ex-Freund den neuen Freund vorgestellt. Der ist noch ein bisschen verkatert. Ihre US-Managerin sagt: Alles wird gut. Ihr Freund Robert De Niro hat ihr Blumen ge- schickt. Er konnte heute Morgen leider nicht zum Brunch kommen. Katarina Witt trägt einen langen hellbraunen Lederman- tel und ihre rosafarbene Sonnenbrille, sie lächelt die wütenden Leute mit den Plaka- ten freundlich, aber unsicher an. Dann ver- Auszug aus Witts Stasi-Akte (1988): Machtkampf mit der Trainerin sucht sie, schnell wegzukommen. ™

der spiegel 18/2002 75 Gesellschaft „Gleichberechtigung und so“ Ortstermin: In Berlin diskutieren Frauen über eine Gleichstellungs- verträglichkeitsprüfung – ein Wahlkampfschlager für die Grünen?

as ist nun wirklich blöd: 70 Frauen nimmt der Sache aber ein wenig vom nöti- men“), sie spricht Frauen-Funktionärin- im Saal, der Vortrag könnte jetzt gen Ernst. „Gender“ klingt gleichzeitig ver- nen-Deutsch („In der Umsetzung liegt Dlosgehen, und dann funktioniert bindlicher und wissenschaftlicher, kurz: die Häsin im Pfeffer“) oder eine leicht der Overheadprojektor nicht. Hektisches weniger männererschreckend als „Frauen- verwirrte Mischung aus alldem: „Gender Gefrickel am Gerät, „Du musst den power“ – obwohl im Grunde genommen Mainstreaming ist ein Prozess, der nicht roten Knopf drücken“, ruft jemand, aber das Gleiche gemeint ist. mehr unumkehrbar ist.“ auch das hilft nicht. Und schneller noch, Deshalb ist auch der zweite Kernbegriff Die Frauen im Zuschauerraum verste- als man „Frauen und Technik“ sagen kann, unübersetzbar: „Gender Impact Assess- hen Altmann sehr wohl. Sie verstehen auch steht hinten im Saal ein Mann auf, einer ment“. Das ist der eigentliche Untersu- die anderen Referentinnen problemlos. der wenigen auf dieser Frauenveranstal- chungsvorgang, „Frauenverträglichkeits- Sie alle gehören dem gleichen Soziotyp tung, geht nach vorn, peilt von unter- prüfung“ könnte man sagen, wenn das an: In der Mehrzahl um die 40 Jahre alt, wegs, ob der Stecker überhaupt drin nicht ein bisschen arg nach Tierversuch in den Achtzigern politisiert, mit Grünen ist. Dann drückt der Mann den roten klingen würde. „Gleichstellungsverträglich- und Frauenbewegung aufgewachsen, das Knopf. keitsprüfung“ schlägt Gila Altmann vor, Vokabular erlernt. Anders als die 68er Fehlanzeige. Der Overhead- hatten sie nie das Ziel, durch projektor bleibt aus. „Da bin die Institutionen zu marschie- ich jetzt aber froh“, sagt die ren: Sie haben ihre Institute, Moderatorin. Netzwerke, Forschungs- und Schlimmer als ein Projek- Sozialeinrichtungen, in denen tor, der nicht funktioniert, so sie jetzt etabliert sind, gleich scheint es, wäre ein Projektor, selbst gegründet. der von einem Mann einge- Junge Frauen sind gar nicht schaltet werden muss. da. Vielleicht, weil junge Frau- Und so beginnt der Vortrag en Westerwelles Reden besser fürs Erste ohne Multimedia- verstehen als Altmanns. Unterstützung. Es soll um den Da gibt es die Frau vom Weltgipfel für nachhaltige Ent- Wuppertal Institut für Klima wicklung im August in Johan- Umwelt Energie, die am Nach- nesburg gehen und um die Fra- mittag einen Workshop leitet: ge, welche Rolle das „Gender Feministische Ansätze zur Mainstreaming“ in der Nach- Verkehrsvermeidung ist ihr haltigkeitsdebatte spielen kann. Spezialgebiet, und wenn sie Was, um alles in der Welt, mit einem Forschungsvorha-

ist „Gender Mainstreaming“? (2) MICHALKE NORBERT ben fertig ist und das nächste Hier, im Umweltforum Berlin, Staatssekretärin Altmann: „Häsin im Pfeffer“ an Land zieht, kann sie sicher wo das „FrauenUmweltNetz“, sein, dass von den Entschei- gefördert vom grünen Bundesumweltmi- die grüne Parlamentarische Staatssekretä- dungsträgern niemand ihre Arbeit gelesen nisterium und dem Umweltbundesamt, den rin im Bundesumweltministerium. hat. Wem soll sie ihr Leid klagen? Kongress „Geschlechterverhältnisse, Um- Altmann, ihr Haus liegt Gender-Main- Eine andere meint, man müsse Gender welt und nachhaltige Entwicklung“ orga- streaming-mäßig ganz vorn, berichtet hier Mainstreaming und nachhaltiges Handeln nisiert, hier weiß das natürlich jede. von der Brainstorming-Gruppe im Um- einmal unter dem Gesichtspunkt Globali- Aber schon die Bedienung vorn im weltministerium, aus der mittlerweile ein sierung untersuchen. Hat noch jemand Foyer, die in der Mittagspause vegetari- Projektteam geworden ist, das wiederum Geld für einen kleinen Forschungsauftrag? schen Auflauf verteilt, ist sich nicht mehr die Fortbildung aller Mitarbeiterinnen und Etwas am Rand sitzen zwei Frauen aus so sicher: „Gleichberechtigung und so“, Mitarbeiter über die Ziele des Gender der Berliner Verkehrsplanung, Bauinge- vermutet sie. Mainstreaming anstrebt. nieurinnen von Beruf. Bisher haben sie Gender Mainstreaming ist ein Begriff, Auch ein Pilotprojekt hat das Umwelt- Straßenbahnentwicklung betrieben, aber der 1995 auf der Weltfrauenkonferenz in ministerium schon hinter sich, andere Mi- da der Senat kein Geld mehr hat, muss Peking geprägt wurde. Gender Mainstrea- nisterien zögen nach, sagt Altmann, aber man auch keine Straßenbahnen mehr pla- ming heißt, dass eine Regierung all ihre ganz genau erklären, wie sich Gender Main- nen. Nun hoffen sie, sich ersatzweise um Gesetze, Pläne und Entscheidungen vor streaming in ihrem Hause auswirkt, kann Gender Mainstreaming in der Verwaltung dem Verabschieden darauf untersucht, ob Altmann nicht, auch wenn sie es versucht. kümmern zu können. sie für Männer und Frauen womöglich un- Sie spricht eine andere Sprache als die Es gibt, so hat die eine schon festge- terschiedliche Folgen haben werden. Bedienung draußen im Foyer. Sie redet stellt, keinen Widerstand in der Senats- Ein vernünftiger deutscher Ausdruck Grünsprech („Das grün-alternative Spek- verwaltung: „Die wissen nicht, was das existiert dafür nicht, „Gleichberechtigung trum hat den Prozess angeschoben, aber ist, und haben daher auch keine Ein- und so“ wäre zwar nicht völlig falsch, jetzt muss er in der Gesellschaft ankom- wände.“ Ansbert Kneip

76 der spiegel 18/2002 Werbeseite

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Werbeseite THÜRINGER ALLGEMEINE Amokläufer Steinhäuser: „Ich möchte, dass ich einmal berühmt bin“ Mörderischer Abgang Er war ein Einzelgänger, seine Welt bestand aus brutalen Computerspielen, Heavy Metal und Waffen: Am vergangenen Freitag drehte ein Erfurter Ex-Schüler durch, ermordete an seinem alten Gymnasium 16 Menschen und erschoss sich dann selbst.

er Schriftsteller Georg Christoph die Kunst des Buchdrucks bezog; der Satz Um 11.00 Uhr stand ein Mädchen im Lichtenberg war ein weiser Mann. sollte eine Hymne sein auf den Erfinder der Erdgeschoss des Erfurter Gutenberg-Gym- D„Mehr als das Gold“, sagte er, „hat Druckerpresse, Johannes Gutenberg. nasiums ziemlich verträumt im Flur herum. das Blei die Welt verändert.“ Aber am vergangenen Freitag, gegen Die Kleine aus der sechsten Klasse sah, Dieser Satz war damals, vor über 200 11 Uhr, wurde er auf eine beängstigende, wie sich die Tür der Herrentoilette öffnete Jahren, anders gemeint, weil er sich auf brutale, ja bestialische Weise wahr. und wie ein Mann, ganz in Schwarz und

80 der spiegel 18/2002 Titel

Kollegium des Johannes-Gutenberg-Gymnasiums: „Deutschlands schlimmster Tag“ mit einer Maske, herauskam. Sie sah, wie Erfurter Gutenberg-Gymnasiums, und Jo- Sah, wie Robert Steinhäuser, in Schwarz er eine Pistole hob und eine Lehrerin er- hanna S. aus der 7 c hatte im Speisesaal ge- und maskiert, durch den Flur ging. schoss, einfach so. rade ihren Teller vor sich abgestellt, da sah Sah, dass er Waffen trug, eine kurze und Um 11.00 Uhr saß Hannes N., Schüler sie draußen Schüler davonrennen. Noch eine lange. der 10 b, noch in Raum 301 des Gutenberg- ehe sie begriff, was los war, hörte die 13- Sah, dass er die Tür zum Klassenraum Gymnasiums. Er wollte in die Pause, aber Jährige zwei Schüsse. Sie kamen von oben, 303 öffnete. Und hineinschoss, einfach so, noch durfte er nicht; die 10 b schrieb die- aus dem dritten oder vierten Stockwerk. von der Tür in Richtung Lehrerpult. se verdammte Klassenarbeit in Biologie, Panisch verbarrikadierten sich fünf Schüler Und dann sah Hannes N., wie Robert Thema: die Evolution. Als er den ersten und vier Bedienungen im Speiseraum. Steinhäuser zur Treppe ging und in Rich- Knall hörte, dann den zweiten, schnell da- Um 11.05 Uhr rief der Hausmeister des tung Lehrerzimmer verschwand. nach den dritten, habe er an einen „Press- Gutenberg-Gymnasiums bei der Polizei an: Höchste Zeit abzuhauen. lufthammer gedacht oder an einen Bol- „Schnell, hier wird geschossen.“ Robert Steinhäuser ging ins Sekretariat. zenstoß“, sagt Hannes N. Um 11.05 Uhr hörte der Biologielehrer Und mordete und mordete, bis der Rache- Und wer rechnet auch mit Schüssen in Andreas Förster „irgendwelchen Lärm“. Sei- feldzug beendet war. Er hatte über Tod einer deutschen Schule an einem ganz nor- ne Tochter Katja saß in der Abiturprüfung und Leben entschieden, und in ein paar malen Frühlingsmorgen? für Mathematik. Beide verließen ihre Klas- Minuten würde er berühmt sein. Was noch Um 11.05 Uhr begann die Essenspause. senzimmer, beide sahen Leichen im Trep- fehlte, war der großartige Abgang: Robert Es gab Reis mit Huhn in der Kantine des penhaus, beide versteckten sich in der Aula. Steinhäuser erschoss sich selbst. Um 11.06 Uhr war oben in Nun waren es, so die Bilanz der Polizei der dritten Etage auch Han- am Samstag, 17 Tote – eine Schülerin, ein nes N. auf dem Gang. Er dach- Schüler, ein Polizist und 13 Lehrkräfte. te an die Bauarbeiten, irgend- Robert Steinhäuser tötete Heidrun B., wo auf dem Schulgelände. Ja Hans L., Helmut S., Peter W. und Gabrie- klar, sagte sich N., die Bauar- le K. Es starben der Lehrer H. und die beiten erklärten den Lärm. Lehrerinnen D., W. und H., die allesamt Und dann sah er Robert Stein- am Erfurter Gymnasium unterrichteten.

THÜRINGEN PRESS / ACTION PRESS THÜRINGEN PRESS / ACTION häuser. Zu den Toten zählt auch die stellvertre- tende Direktorin des Gymnasiums, die Erfurter Gutenberg-Gymnasium Oberstudienrätin Rosemarie Hajna. Als „Schnell, hier wird geschossen“ Journalisten nach der Tat anriefen, mel-

der spiegel 18/2002 81 Titel JENS-ULRICH KOCH / DDP KOCH JENS-ULRICH Versorgung eines Opfers: „Man stellt sich vor, dass das eigene Kind beteiligt wäre“ dete sich ihr Ehemann Karl-Heinz: „Mei- sen.“ Denn es gehe darum, „eine Über- ke für sein grausiges Feuerwerk fehlte? ne Frau werden Sie nie wieder sprechen schwemmung durch Gewalt zu verhin- Beide Geschichten werden in Erfurt er- können. Sie ist heute ermordet worden.“ dern“. zählt, und in Wahrheit, das macht seinen Der Polizist Andreas Gorski starb, als er Aber wieso gerade in Erfurt? Wieso an Fall so irrwitzig, war Steinhäuser wohl bei- kurz nach 11 Uhr in die Schule stürmte. diesem Tag, in diesem Gymnasium? des ein bisschen: lange Jahre ein Clown Der Streifenpolizist war allein. Gorski, des- Der 94 Jahre alte Jugendstilbau, fünf seiner Klasse, ein netter Junge, der den sen Tochter an diesem 26. April Geburts- Stockwerke hoch, hat etwas von einem Auftritt vor Publikum liebte – und am Ende tag hatte, starb, weil niemand ahnen konn- Schloss. Seit 1909 wird hier unterrichtet, ein Racheengel in eigener Sache, vor zwei te, was an diesem Tag geschehen würde. und nach der Wende richtete der Freistaat Jahren schon von der Bahn abgekommen, Es war einer dieser Tage, die keiner ver- Thüringen das Gymnasium ein; „ein ruhi- gedemütigt, ein Waffennarr, kalt bis ins gisst; für Deutschland war es ein wenig so ges Gymnasium“, sagt Sylvia Kuplich, Mut- Herz. wie der 11. September für Amerika. Denn ter der 11-jährigen Christiane, „das Schul- Eine Lehrerin, natürlich geschockt und einen solchen Amoklauf hatte es bis dahin klima ist gut, die Lehrer geben sich Mühe.“ fassungslos, machte einen fatalen Fehler: nicht gegeben – nicht an einer Schule, nicht Also warum? Sie zeigte Steinhäuser den Vogel. Stein- durch einen 19-jährigen jungen Mann, nicht häuser sagte kein Wort, ging auf sie zu, mit so vielen Opfern. Robert Steinhäuser Der Killer von Erfurt setzte die Waffen an ihren Kopf und drück- hat dafür gesorgt, dass das Märchen, Ge- Es war auch in Erfurt so, wie es meistens walt gebe es nur in amerikanischen Schu- ist nach solchen Verbrechen: Es gibt Men- len, als Märchen enttarnt ist. Solche Gewalt schen, die schon immer geahnt haben wol- hat es bisher noch nicht mal dort in Ame- len, dass es so kommen musste – und es rika gegeben. gibt andere, die sich das alles nicht erklären „Deutschlands schlimmster Tag“, schrieb können. Das hat damit zu tun, dass der „Bild“ tags darauf. „Diese mörderischen Massenmörder Robert Steinhäuser Freun- Selbstmörder“, sagte Außenminister Josch- de und Feinde auf seiner Schule hatte; es ka Fischer, „das ist ein furchtbares Verbre- führte dazu, dass Ende voriger Woche sehr chen.“ Und Doris Schröder-Köpf, Ehefrau unterschiedliche Bilder entworfen wurden des Bundeskanzlers, sprach aus, was wohl von dem Jungen, den sie „Steini“ nannten. alle Eltern dachten: „Man stellt sich ja vor, War Robert Steinhäuser also ein netter, dass das eigene Kind beteiligt wäre.“ Natür- fröhlicher Typ, ein junger Mann mit vielen lich könne sie sich über den konkreten Fall Freunden, der nur die eine entscheidende und seine Hintergründe nicht äußern, aber Niederlage in seinem Leben nicht verkraf- eines sei ihr klar: „Wir müssen mehr als ten konnte? Oder war er ein Wahnsinniger, bisher auf die Seelen der Kinder aufpas- ein blutrünstiger Killer, dem nur ein Fun- Opfer des Attentäters: „Dann wird aus der

82 der spiegel 18/2002 Schulpädagogen Werner Glogauer ist der Zusammenhang zwischen der virtuellen Tötungssimulation und der kruden Realität des Amoklaufs eindeutig: „Sie üben die Morde in ihrer Phantasie immer und im- mer wieder ein, auch, wenn sie nicht am Monitor sitzen. Und irgendwann kommt das, was Kriminalisten den ‚Realitäts- durchbruch‘ nennen. Dann wird aus der Mordphantasie blutige Wirklichkeit.“ Wenn man denn die Waffen hat, aber die bekam Robert ja im Schützenverein. Am Ende jedenfalls war aus dem fröhli- chen Teenie von einst ein gescheiterter jun- ger Mann geworden. Steinhäuser hockte zu Hause und hörte Musik der Band „Slip- knot“, Heavy Metal von jener Art, die nicht mehr wirklich Musik ist. „People = Shit“, „Menschen = Scheiße“, NIEHUES / ADVANTAGE BERND SETTNIK / DPA so heißt das Eingangsstück einer der jüng- Minister Schily, Kanzler Schröder: „Auf die Seelen der Kinder aufpassen“ sten CDs von Slipknot, dieser Brutalo- Band aus dem bibeltreuen US-Staat Iowa, te ab. Dann zog er weiter, ins nächste Klas- manch einer machte schon mal seine Wit- einer Band, die auf der Bühne den Welt- senzimmer, und erschoss dort den nächsten ze über ihn. untergang inszeniert. Neun Pseudo-Psy- Lehrer. Aus der Nähe, ohne ein Wort. Erfolge, ob im Beruf oder Studium, das chopathen mit grotesken Ledermasken, Um 18.05 Uhr fiel die Polizei in die Otto- wünschte sich Robert sehnlich. Er verehr- monströsen schwarzen Industrieoveralls Straße von Erfurt ein. Die so genannte Be- te Pamela Anderson, aber er hatte keine und Nazi-Armbinden zersägen da ihre weissicherungs-Festnahmeeinheit „Bison Freundin; er hatte Selbstzweifel, und er Heavy-Metal-Gitarren, trommeln und 16“ hielt vor der Hausnummer 40. Die Po- wollte anerkannt werden. Doch dazu muss- grölen ihren Fans, die sie „Maden“ nen- lizeieinheiten stürmten in das dritte Stock- te erst einmal das Abitur her. Als er im nen, den Schlachtruf entgegen: „Wir wer- werk des gelben Jugendstilbaus. Dort vergangenen Jahr von der 11. nicht in die den euch zerstören!“ wohnte Robert Steinhäuser, 19, bei seinen 12. Klasse versetzt wurde, brach für ihn Und dabei kotzen und bluten die Eltern – ein ostdeutsches Idyll, überrollt eine Welt zusammen. Schock-Rocker auf die Bühne, und dann von Nachrichten im Minutentakt, von 60 Das war offenbar die entscheidende verteilen sie ihre Exkremente auf sich und Beamten, die ins Haus stürmten, von Ka- Wende in der Karriere des 19-jährigen Jun- die Fan-Gemeinde. merateams, die die Straße belagerten. gen, der sich seit Jahren intensiv mit Bal- Worauf sie wütend sind? „Wir sind alle „Ich möchte, dass mich einmal alle ken- lerspielen am Computer abreagierte und zum Tode verurteilt. Wir haben das Leben nen und ich berühmt bin“, hatte Steinhäu- Gewaltvideos genoss – „aber auch nicht gewonnen, aber wir müssen trotzdem ster- ser neulich gesagt. Jetzt war er berühmt. mehr als andere Jugendliche in dem Alter ben. Alle. Wir leben eine lebenslange Ge- Eine ganz normale und vor allem intak- auch“, sagt ein Freund von Robert. fängnisstrafe ab“, sagt „Clown“, wie sich te Familie waren die Steinhäusers. Der Va- Ein wenig mehr war es wohl doch. Eines der Stratege der „härtesten Band der Welt“ ter arbeitet als Ingenieur bei Siemens, die seiner Lieblingsspiele war „Counterstrike“, nennt. Mutter als Krankenschwester in der Erfur- ein Killerspiel, bei dem zwei feindliche Ter- Es gab keine Freunde mehr, mit denen ter Hautklinik, und Bruder Peter studiert roristen-Einheiten sich bekriegen. Maskier- Robert Steinhäuser sich diesen Irrsinn an- an der FH in Schmalkalden. Mit seiner te jagen da andere Maskierte durch Wü- hörte; er lag allein einfach da und hörte Handball-Mannschaft Lokomotive Mei- stenlandschaften und dunkelgraue Beton- und hasste. ningen belegte Peter, ein ergeiziger Tor- welten, nehmen Dunkelmänner ins Faden- Der zweite Anlauf in der Schule gelang, wart, in der Oberliga Platz 4. Früher spiel- kreuz ihrer virtuellen Maschinenpistolen scheinbar. Aber dann kam diese Sache mit te er beim SSV Erfurt-Nord – und dort und feuern weiße Blitze – bis der gesamte dem Attest. Robert fehlte mal wieder in stand auch sein kleiner Bruder Robert bis Bildschirm rot zuckt: Das Opfer verblutet, der Schule und fälschte zur Entschuldigung zur A-Jugend im Kasten. Doch das Talent das Ziel ist erreicht, der Spieler gewinnt. eine Krankenbescheinigung. Das flog auf, seines Bruders hatte Robert nicht, und so Für den Augsburger Medienexperten und und er flog, im Februar, zwei Monate vor BILD ZEITUNG (6) ZEITUNG BILD Mordphantasie blutige Wirklichkeit“

der spiegel 18/2002 83 Titel der Abiturprüfung, von der Reichenhall oder Freising fortge- Schule. setzt hat“, sagt der Münchner Diese härteste Maßnahme, die Jugendpsychiater Franz Joseph eine Schule verhängen kann, Freisleder. Freisleder, der als Ge- wirkte für den strebsamen jun- richtsgutachter häufig mit ge- gen Mann wie ein Todesurteil. walttätigen Jugendlichen zu tun Das Abitur war weg, unwieder- hat, hält diese Gewaltexzesse für bringlich, und das Studium da- Nachahmungstaten: „Die Fern- mit auch. Und Robert stand be- sehbilder haben den Tätern erst stenfalls mit einem Realschulab- die Idee geliefert, ihrem Leben schluss da. Eine Blamage, die er auf solch spektakuläre Weise ein vor allen geheim hielt. Auch vor Ende zu setzen.“ der eigenen Familie – die ging Nach jeder derartigen Amok- Morgen für Morgen davon aus, tat, das hat außerdem der Villin- dass Robert für das Abi büffelte. ger Kriminalpsychologe Adolf Deshalb die Rache vom Frei- Gallwitz beobachtet, beginnt in tag, diese Serie von Hinrichtun- einschlägigen Internetforen ein gen und Bestrafungen. makabrer Gedankenaustausch. „Da geht es dann um die Frage, Mörder in der Schule was der Täter wohl hätte besser Amokläufer, die in Schulen mor- machen können.“ Bei einigen den, sind meistens männlich. Sie falle dies auf fruchtbaren Boden. haben Zugang zu Waffen, meis- Robert Steinhäuser muss so ei- tens durch ihre Väter. Sie haben ner gewesen sein. „Entweder Kränkungen erlebt. Und sie le- wollte der Mörder einmal einen ben in der Provinz. Diese Muster Tötungsakt zelebrieren, dafür ziehen sich durch fast alle ähnli- spricht etwa die Pumpgun, oder chen Verbrechen. er wollte in das Buch der Rekor- Der Tag von Erfurt ist ein Tag, de“, glaubt Niedersachsens Ju- an dem selbst Forscher nichts stizminister Christian Pfeiffer. mehr erklären können, die schon Amokläufer müssen nicht un- 300-Seiten-Bücher über Gewalt bedingt durch Gewalttätigkeiten

in der Schule geschrieben haben. / AFP SCHUTT /DPA MARTIN auffallen. So wie Robert Stein- „Ich bin vollkommen fertig, so „Hilfe“-Signal aus der Schule: „Nicht für möglich gehalten“ häuser – der sich erst aus dem was habe ich in Deutschland nicht Handballteam des SSV Erfurt- für möglich gehalten“, stammelt der Dresd- Schulen schon vor dem Erfurter Blutbad Nord zurückzog, dann in den virtuellen ner Erziehungswissenschaftler Wolfgang unübersehbar. Melzer hat in seiner Studie Welten der Computerspiele abtauchte – Melzer, der 1995/96 mit Kollegen für eine 175000 Schüler der Sekundarstufe I als ge- sind die Täter häufig introvertiert und kon- Studie über 3000 Schüler interviewt hat. walttätig eingestuft, drei bis vier Prozent al- taktscheu, beobachtet etwa die Eschweger Da ging es noch um Prügeleien, um ler dieser Schüler in Deutschland. Außer- Kinder- und Jugendanalytikerin Mariean- schmutzige Wörter, genauso wie bei sei- dem kam er auf einen Anteil von zehn Pro- ne Simon. nem Bielefelder Kollegen Klaus-Jürgen zent, die schlechte Noten schrieben, sozi- Die Videospiele liefern dann oft die Vor- Tillmann; es ging nicht um Massenmord. al auffällig waren, ein schwaches Selbst- lage für die Choreografie der Tat. „Sie sind „Ich bin schlicht und einfach sprachlos“, vertrauen hatten – mit jedem dieser Merk- regelrechte Ideengeber“, warnt Freisleder. sagt Tillmann konsterniert; für den Exzess male steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Der Täter von Erfurt hat nach Einschät- von Erfurt habe er keine wissenschaftli- Schüler irgendwann ausrastet. zung der Kölner Psychologin Angelika Kall- chen Erklärungsmuster mehr parat. Zwar Nach der Schülerbefragung 2000 des Kri- wass eine schwere narzisstische Störung, war der Wille zur Gewalt an deutschen minologischen Forschungsinstituts Nieder- den Rauswurf aus dem Gymnasium habe er sachsen gaben immerhin drei wohl als „massive und ungerechte Tat ge- Prozent der Interviewten an, gen seine eigene Person erlebt“. in den zurückliegenden zwölf In einem funktionierenden sozialen Um- Monaten zu einer Waffe ge- feld, meint Kallwass, bleibe der Rückzug griffen zu haben. Fast immer eines späteren Täters nicht verborgen. Er wollten sie Geld oder das wirke meist merkwürdig gespannt. In die- Goldkettchen ihres Mitschü- ser Zeit können auch Gewaltvideos eine lers; sie wollten nicht den Be- große Rolle spielen: Outlaws und Kriegs- rufsstand der Lehrer mit einer helden werden zu seinen Idolen. Pumpgun auslöschen. Obwohl sie eigentlich stille Typen sind, Experten der klinischen kündigen viele Amokläufer ihrer Umgebung Psychiatrie in Deutschland das Massaker an. „Die Schulhof-Täter haben warnen vor einer Spirale blu- ein unglaubliches Bedürfnis, andere in die tiger Amoktaten: „Erfurt ist Pläne für ihren grandiosen Untergang ein- zwar einzigartig, was die Ex- zuweihen“, sagt Kriminalpsychologe Gall- zessivität angeht. Doch die Tat witz, der als Professor an der Polizeihoch- steht in einer Linie, die 1999 schule in Villingen-Schwenningen lehrt. mit dem Amoklauf von Little- ton in den USA begonnen hat Der Einsatz

GORDON SCHMIDT / AP GORDON SCHMIDT und die sich in Deutschland Es war genau 11.05 Uhr am Freitag ver- Betreuung geschockter Schüler: „Einzigartig exzessiv“ mit den Amokläufen von Bad gangener Woche, als der Notruf bei der

84 der spiegel 18/2002 Werbeseite

Werbeseite Titel „Eine Tochter, wie sie sein sollte“ Ausgerechnet in Erfurt stand vergangenen Freitag eine junge Frau vor Gericht, die ihre Schule angezündet hatte, weil sie nicht zum Abitur zugelassen worden war. In den Prozess platzte die Nachricht von dem Amoklauf gleich nebenan. Von Gisela Friedrichsen

erade hat ein 14-Jähriger als Zeu- Es ist immer wieder die gleiche Frage: ersten Nachrichten. Hat er deshalb ein ge ausgesagt, ein schmächtiges Warum tun diese halben Kinder so Blutbad unter der Lehrerschaft des als GKerlchen, das an jenem 20. De- schreckliche Dinge? Wieso kam Katrin anspruchsvoll geltenden Erfurter Gym- zember 2000 beachtliche Geistesgegenwart auf die Idee, ihre Schule anzuzünden? nasiums anrichten wollen? Katrin scheint gezeigt hatte. Irgendjemand rief damals Wäre nicht der Zufall zu Hilfe gekom- mit den Nerven am Ende. Muss sie sich „Feuer“. Und er gehörte zu jenen, die die men, eine Katastrophe schlimmsten Aus- auch das noch zurechnen, indirekt zu- Tür aufhielten, damit die anderen Kinder maßes hätte geschehen können. Hunder- mindest? Die Taten sind sich verdammt vor dem Rauch und den giftigen Dämpfen te Menschen brachte sie in „akute Lebens- ähnlich. ins Freie flüchten konnten. Katrin G., die gefahr“, wie es in der Anklage heißt. Nur Zu Katrin, von der man mittlerweile Angeklagte, ein hübsches Mädchen mit ei- weil sie nicht zum Abitur zugelassen wur- einiges weiß. Dieses „liebe, nette Mäd- nem Puppengesicht und roten Flecken auf de! Nur weil ihr die zwei Punkte in Latein chen, das immer freundlich war, immer den Backen vom vielen Weinen, sagt zu fehlten, die dafür nötig gewesen wären. lieb zu den kleinen Geschwistern, das ihm: „Ich möchte mich auch bei dir ent- Einen Punkt bekommt man normaler- immer funktioniert hat und nie wider- schuldigen, dass ich dich damals in Ge- sprochen“, wie ihre Tante als fahr gebracht habe und dass du so Angst Zeugin sie beschreibt. „Eine haben musstest.“ Er lächelt ein wenig lin- Tochter, wie sie eigentlich sein kisch, weiß nicht, was er antworten soll. sollte.“ „Ich weiß ja nicht“, Was soll er auch sagen? Kurze Pause. sagt der Vorsitzende, „ob man Und dann schlägt es ein wie der Blitz. sich solche Kinder wünschen Eine Kollegin vom Lokalfernsehen stürzt soll. Ob sie nicht doch mal auf- in den Gerichtssaal, ganz weiß im Ge- begehren müssen? Natürlich sicht: „Eben ist ein Lehrer erschossen sind sie dann bisweilen uner- worden! Gleich hier um die Ecke, im Gu- träglich.“ tenberg-Gymnasium! Anscheinend beim Holger Pröbstel hat im Sep- Abitur. Heute wurde ja Abi geschrieben!“ tember 2001 auch das Verfah- Im Saal viele Lehrer und Schüler des Wei- ren gegen die junge Frau ge- marer Hoffmann-von-Fallersleben-Gym- leitet, die drei Neugeborene nasiums, das damals kurz vor Weihnach- getötet hat (das älteste der ins- ten ausgebrannt war, sie springen auf. gesamt fünf Kinder, die sie ge- Wer weiß Genaueres? boren hat, und das jüngste ließ

Der Vorsitzende Richter der Schwur- THOMAS STEFAN sie am Leben). gerichtskammer, Holger Pröbstel, der mit Katrin G., Verteidiger: „Sie hat immer funktioniert“ Dieselben Fragen: Warum der 3. Großen Strafkammer des Land- tut ein junger Mensch, nicht gerichts Erfurt die Verhandlung gegen weise für die bloße Anwesenheit im Un- ein Bösewicht oder ein seelisch Kranker, Katrin G. leitet, kommt aus dem Bera- terricht, erzählt meine gerade Abitur so etwas? In welch einer Umwelt müssen tungszimmer: „Wie schnell sich doch schreibende Tochter. Und den anderen diese jungen Täter gelebt haben, dass sie etwas relativiert“, sagt er kopfschüttelnd. Punkt, mein Gott, da meldet man sich irgendwann keinen Weg mehr aus ihren Und in der Tat: Katrin G., heute 20, halt ein paarmal, auch wenn man nichts Verstrickungen finden? Warum haben ge- Mutter einer dreijährigen Tochter, ist weiß, und tut so, als ob man sich interes- rade die jungen Mädchen an der Schwel- zwar – horribile dictu – des 446fachen sierte. So einfach ist das. le zum Erwachsenwerden so viel Angst Mordversuchs angeklagt plus schwerer Und der Junge mit der Knarre? Zwei vor ihren Müttern, dass sie nicht über die Brandstiftung plus gefährlicher Körper- sollen es gewesen sein, sagt das neueste eigenen Probleme zu reden wagen? Und verletzung und so fort. Es war nur 1,4 Gerücht, und 17 Tote! 17! Die Beisitzerin wo sind eigentlich die jungen Männer, die Millionen Mark Sachschaden entstanden, schlägt die Hände vors Gesicht. Eine Mut- halbe Kinder schwängern und sich dann und was zählt das schon im Vergleich zu ter fängt zu weinen an. Katrins ehemali- auf und davon machen? Wo sind die einem toten Menschen. ge Schuldirektorin nimmt sie erschüttert Väter dieser Angeklagten? Die Gerüchte überschlagen sich. Jetzt in den Arm. Der Vorsitzende: „Wie sollen Die Parallelen der Fälle sind erschre- spricht man von drei Toten, zwei Leh- wir uns da auf unser Verfahren konzen- ckend. Pröbstels subtiler Verhandlungs- rern und einem Polizisten, angeblich. Und trieren, machen wir Schluss.“ führung ist es zu danken, dass seine Sit- vielen Verletzten. Und verbarrikadiert Kam der Junge etwa durch das Ver- zungen zu Lehrstunden für Eltern und haben soll sich der Täter und den Ret- fahren gegen Katrin auf seine wahnwit- Erzieher werden. Was kann man nicht tungskräften den Zutritt verwehren. Er zige Idee? Die Lokalzeitungen sind ge- alles falsch machen mit seinen Kindern. soll aufgestanden sein mit den Worten genwärtig voll mit Berichten über das Wir wissen nicht, wie Kinder die Eltern „Ist doch eh alles egal“ und dann ge- Verfahren. Auch er sei nicht zum Abitur erleben, meist sind es ja auch nur die schossen haben. zugelassen worden, heißt es nun in den Mütter. Katrins Mutter ist zweimal ge-

86 der spiegel 18/2002 Löscharbeiten am Fallersleben-Gymnasium „Mutti, die Schule brennt“ schieden. Der erste Mann verließ sie, als Katrin und ihre jüngeren Zwillingsbrü- der noch klein waren. Der zweite Mann machte sich ebenfalls aus dem Staub. Die Mutter hatte die Familie finanziell über Wasser zu halten. Als Katrin mit 17 schwanger wurde, nahm sie auch dieses Kind, als ihr viertes gewissermaßen, zu sich. Und dann war auch noch der bein- amputierte Großvater zu pflegen. All das in einer „Vierraum-Wohnung“. Katrin als die Älteste, die Vernünftige, geriet immer mehr in die Rolle einer Part- nerin ihrer Mutter. Mit ihr wurden die finanziellen Sorgen, die Probleme am Arbeitsplatz besprochen. An sie klam-

merte sich die Mutter. „Meinen Sie ZEITUNG GENTZEL / BILD MARIO nicht“, fragt der Sachverständige Blanz Katrins Tante, „dass sie damit überfor- Am 20. Dezember 2000, der letzte Polizei in Erfurt einging. Am Telefon war dert war?“ „Natürlich“, antwortet die Schultag vor Weihnachten, ging sie zur der Hausmeister des Gutenberg-Gymnasi- Zeugin. „Sie wollte ihrer Mutter alles Schule, sagte zu Hause, sie wolle das ums. Die Beamten reagierten sofort und recht machen, wollte sie nicht auch noch Halbjahreszeugnis abholen. Zuvor kauf- schickten eine Funkstreife der Polizei-In- mit ihren eigenen Sorgen beschweren. Sie te sie Brennspiritus, eine Tischdecke und spektion Mitte auf den Weg. Die Kollegen wusste doch nur allzu gut, was ihre Mut- Anzünder für Grillkohle. Hatte sie da sollten klären, was dem Hausmeister nicht ter alles um die Ohren hat. Sie ist ein sehr schon vor, einen Brand zu legen? Nein, so genau zu entlocken war: Was war ei- verschlossenes Mädchen.“ sagt sie. Sie habe mit ihrer Kleinen ein gentlich los in dem trutzigen alten Bau? Katrins Familienverhältnisse sind so Lagerfeuer machen wollen. Die Tochter Fünf Minuten später waren die zwei Strei- gut oder so schlecht wie die von Tausen- habe daran immer große Freude. „La- fenpolizisten da. Einer stieg aus – ein Feh- den junger Menschen. Als die ersten In- gerfeuer? Im Winter bei Schnee und ler, den er mit dem Leben bezahlte, denn terviews am Freitag nach der Erfurter Eis?“, fragt das Gericht. die Beamten wurden sofort beschossen. Bluttat über die Sender gingen, war un- Niemand unterstellt Katrin, sie habe 11.20 Uhr kamen dann die schwer be- ter anderem die Rede von der „Zer- ihre Mitschüler und die Lehrer umbrin- waffneten Spezialisten des Sondereinsatz- brechlichkeit unserer Sicherheit“. Von gen wollen. „Ich wollte etwas zerstö- kommandos (SEK) an. Erst meldeten sie der Zerbrechlichkeit junger Menschen hat ren“, sagt sie vor Gericht. „Hätte da nicht vier Tote. Dann pirschten sich die SEK-Be- keiner gesprochen, von ihrer begrenzten auch eine Scheibe gereicht oder ein amten in die Schule hinein und sahen das Belastbarkeit in einem Alter, in dem man Buch, das man zerreißt?“, fragt der Vor- ganze Ausmaß des Blutbades: Auf den mehr mit sich und dem Platz in der künf- sitzende. Warum sie in zwei Toiletten Gängen, der Toilette, im Sekretariat und in tigen Welt beschäftigt ist, als dass man Klopapier anzündete, ein Weihnachts- der Nähe des Eingangs – überall lagen Tote. auch noch die Sorgen der Erwachsenen gesteck in Brand setzte und dann auch Später meldeten sie 17 Opfer plus den Tä- mittragen könnte. Katrin hat immer alles noch den Vorhang einer Bühne im Foyer, ter, am Samstag korrigierten sie: 13 Lehrer geschluckt, aus Respekt und Mitgefühl das war das Verheerendste – sie kann waren im Kugelhagel gestorben, eine Schü- mit ihrer Mutter – wenn diese das Regi- es nicht sagen. Sie hat es eben getan. lerin, ein Schüler, der Polizist. Einige der ment auch über ihre kleine Tochter über- Und danach zu Hause angerufen: „Mut- Opfer wurden regelrecht hingerichtet, aus nahm, wenn sie von ihr erwartete, dass ti, die Schule brennt!“ Wenn die Schule kurzer Distanz erschossen. sie auf die jüngeren Brüder aufpasste und brennt, bekommt man auch kein Zeug- Im Erfurter Lokal „Anger Maier“ lief deren schulische Leistungen überwach- nis, klar. um 12 Uhr mittags das Radio: So bekam die te. Wer kümmerte sich um Katrin? „Sie haben also einfach die Augen zu- Krankenschwester Heide Krambehr mit, Sie hatte die 12. Klasse, in der die gemacht wie ein Kind, das dann meint, dass am Gutenberg-Gymnasium irgendwie Thüringer Abitur schreiben, schon ein- die Welt sieht es nicht mehr“, sagt Pröbs- mal wiederholt. Denn sie hatte Wissens- tel. Ja, wie ein Kind. Noch etwas: Kurz lücken aus der Zeit, als sie in Jena aufs vor der Tat bekam sie die Mitteilung, 6500 Sportgymnasium ging. Dort hat sie erfolg- Mark Krippengebühren für ihre Tochter reich Judo gemacht, was für ihr Selbst- nachzahlen zu müssen. Sie hatte verges- bewusstsein sicher gut war. Doch gelernt sen, einen Antrag auf Befreiung von den hat sie dort nicht viel. Und nun Latein. Kosten zu stellen. „Und Ihre Mutter? Doch gegangen wäre es, mit Nachhilfe. Hat die sich nicht um so etwas geküm- Ihrer Mutter hat sie nichts gesagt. Und mert?“, fragt eine Schöffin bestürzt. als auch der zweite Versuch, das Abitur Katrin das Kind, das keines sein durf- zu machen, scheiterte an den zwei Punk- te. Der 446fache Mordversuch wird sich ten in Latein, wagte sie es nicht, Farbe zu vermutlich nicht halten lassen. Und wenn bekennen. Wie hatte ihre Mutter doch sie nach Jugendrecht verurteilt werden

darauf gehofft, dass Katrin studiert. sollte, wäre das nur gerecht. / POP-EYE DARMER Heavy-Metal-Band „Slipknot“ „Menschen = Scheiße“

der spiegel 18/2002 87 Titel die Hölle los sein müsse. Krambehr rann- te los, denn sie wusste, dass die Freundin ihrer Tochter dort jetzt gerade ihre Ma- theprüfung hatte. Als sie ankam, hatten Polizisten bereits die Straßen um die Schule abgeriegelt. Krambehr begann sofort, sich um völlig verstörte Schüler zu kümmern. Einige weinten, andere rangen um Fassung. Die Jugendlichen erzählten der Kranken- schwester, dass sie die ersten Schüsse noch für Tisch- oder Bänkerücken gehalten hat- ten. Zunächst hatten sie sich nur über den Krawall gewundert, wo sie doch gerade ihre Abitur-Prüfung absolvierten. Als der Lärm immer näher kam, sei ihnen aufge- gangen, dass dort etwas Furchtbares pas- siert sein musste. Erst da seien sie geflohen. Dass der Ex-Schüler Steinhäuser ausge- rechnet am Gutenberg-Gymnasium Amok lief, will dem Erfurter Kultusstaatssekretär Hermann Ströbel nicht in den Kopf. Gera- de an dieser Schule sei die „Gewaltpräven- tion vorbildlich“. Es habe so genannte Me-

diationsprogramme gegeben, Schüler wur- REUTERS den sogar als Streitschlichter ausgebildet. Schulmassaker in Littleton: „Ich hasse die Menschen“ So seien Konflikte zwischen Schülern und Schülern, aber auch zwischen Schülern und Klebold und Harris hörten nachts die Klassenkameradinnen und eine Lehrerin Lehrern „behoben“ worden. Songs der Schockrocker Marilyn Manson töteten. Oder Springfield, Oregon, wo ein und Rammstein, sie spielten „Doom“ und 15-Jähriger mit einem Gewehr in die Schul- Die Vorbilder „Quake“ auf ihren Computern und Cafeteria marschierte, zwei Mitschüler er- Am 20. April 1999 stiegen Dylan Klebold, wünschten sich, so Furcht erregend zu sein schoss und 22 verwundete. „Es ist nie 17, und Eric Harris, 18, auf dem Parkplatz wie ihre Helden. Aber wenn sie in der South Central oder Harlem“, bemerkte der der Columbine High School in Littleton Schule erschienen in ihren langen Män- CNN-Moderator Larry King ratlos, „es ist aus einem schwarzen BMW und machten teln, mit einer Armbinde, auf der stand: „I immer die Vorstadt.“ sich auf den Weg ins Schulgebäude. Und hate people“ („Ich hasse die Menschen“), Der Zerstörung ihres Paradieses begeg- auf den Weg in die Geschichtsbücher. Im fürchtete sich niemand vor ihnen. Die an- neten die Einwohner von Littleton mit ab- Gepäck hatten sie zwei abgesägte Schrot- deren lachten. surden Klagen gegen die Schule, den She- flinten, eine halbautomatische Neun-Milli- Es war nicht das erste Mal, dass in den riff, den Bezirk und mit ausufernder Reli- meter-Pistole, einen Karabiner und über USA Schüler auf Schüler und Lehrer schos- giosität. Die „New York Times“ bot un- 30 selbstgebaute Sprengsätze. sen. In den zwei Jahren vor dem Amoklauf mittelbar nach dem Blutbad eine andere Als Klebold und Harris die Schule be- in Littleton gab es mehrere Attentate, aus- Erklärung: Die Amerikaner seien süchtig traten, trugen sie Skimasken und ihr Er- geführt von Teenagern in kleinen, ver- nach Gewalt. „Wir machen sie aufregend. kennungszeichen: lange schwarze Trench- meintlich friedlichen Provinznestern wie Wir feiern sie. Wir romantisieren sie. Wir coats. Sie deponierten ihre Bomben in der Jonesboro, Arkansas, wo zwei Jungs vier erotisieren sie.“ Schule und machten sich auf den Weg Das mag stimmen in Amerika. Aber in in die Cafeteria. Meißen in Sachsen? Und doch begrüßte Was dann geschah, wird in den ame- Andreas S. am Morgen des 9. November rikanischen Medien als „das tödlich- 1999 einen Schulkameraden, der mit in die ste Schulmassaker der US-Geschich- Bahn stieg, mit dem Satz: „Heute bringe te“ bezeichnet. Klebold und Harris er- ich eine Lehrerin um.“ schossen zwölf Schüler, einen Lehrer, Andreas S. weihte in den nächsten Mi- und dann töteten sie sich selbst mit nuten wohl noch weitere Schulkameraden Kopfschüssen. in seinen Plan ein. Und auch sie nahmen

Niedrige Hemmschwelle SYGMA Amokläufe an Schulen Rettung eines Opfers nach dem Amoklauf in Littleton 1998 1999 Ein 11- und ein 13-Jähriger lösen In Littleton (Colorado/USA) töten Ein 15-jähriger Gymnasiast dringt am 24. März an ihrer Schule in zwei Jugendliche am 20. April mit am 9. November maskiert im säch- Jonesboro (Arkansas/USA) fal- Schusswaffen und Sprengsätzen sischen Meißen in ein Klassenzim- schen Feueralarm aus und richten zwölf Mitschüler und einen mer ein und ersticht seine 44- unter Schülern und Lehrern ein Lehrer. 28 Personen werden ver- jährige Lehrerin. Der Junge kann Blutbad an. Vier Mädchen und letzt. Die Attentäter begehen nach nach der Tat fliehen. Als Motiv gibt eine Lehrerin sterben. der Tat Selbstmord. er Hass auf die Lehrerin an. Der 15-jährige Täter aus Meißen ...

88 der spiegel 18/2002 auf die Maschinengewehre und ein Sturm- gewehr waren die Waffen alle legal im Be- sitz des Vaters. Der Sohn hatte die Wut, die Gelegen- heit, die Waffen. Er galt als aggressiv. Er war gewalttätig gegen jüngere Schüler. Aber „dass er zu einer solchen verhäng- nisvollen Tat bereit war“, schrieben seine Mitschüler damals in einem offenen Brief voller Selbstvorwürfe, „das konnte keiner von uns ahnen“. Vor Gericht stand ein Jahr später der Vater des Schützen, und vorgeworfen wur- den ihm nicht nur unerlaubter Waffenbe- sitz, sondern auch fahrlässige Tötung. Er sei mitschuldig, argumentierten die Witwe des ermordeten Lehrers und der Staatsanwalt. Er habe sein Kind früh an Waffen heran- geführt und außerdem alle Hinweise dar- auf ignoriert, dass der Junge gewaltbereit sei und gefährlich für andere. Doch die Richter entschieden, dass den Vätern kein Vorwurf zu machen sei. Im Fall Martin P. stellte schon die Staatsan-

G. KOCHANIEC / CORBIS SYGMA G. KOCHANIEC waltschaft in Bad Reichenhall die Ermitt- Betreuung von Littleton-Opfern: „Wir erotisieren die Gewalt“ lungen ein. Im Fall Michael F. entschied das Traunsteiner Landgericht, der Vater ihn nicht ernst. Vor dem Landgericht hieß derem habe Andreas eine Entwicklungs- habe „individuell nicht erkennen können“, es später, Mitschüler hätten um insgesamt störung seiner Persönlichkeit gehabt. Als dass sein Sohn eine Bluttat plane. Er be- 1000 Mark gewettet, dass Andreas S. sich ja ob das irgend etwas erklären würde. kam zwei Jahre auf Bewährung, wegen un- doch nicht traue. „Das waren nur Andreas S. wurde wegen heimtücki- erlaubten Waffenbesitzes. Sprüche“, wiegelte ein Freund später ab. schen Mordes zu sieben Jahren und sechs Sind Eltern verantwortlich für das, was Erste Stunde, Geschichte: Bismarcks In- Monaten Haft verurteilt. ihre Kinder treiben? Können Erziehungs- nenpolitik. Die Lehrerin war Sigrun L., 44 Es braucht Waffen für diesen Krieg, und fehler justiziabel sein? Jahre alt. Sie galt als sehr streng. oft sind es Söhne von Waffennarren, die Eine Viertelstunde nach Unterrichtsbe- sich die Mittel für ihre Morde zu Hause Tatort Pausenhof ginn betrat Andreas S. den Klassenraum. beim Vater besorgen. So war es in Bad Rei- Der große Abgang, das ist wohl die Vor- Er trug – wie vergangenen Freitag Robert chenhall, im November 1999, als der 16- stellung, die in den Köpfen der Massen- Steinhäuser – eine Maske über dem Ge- jährige Martin P. vier Menschen, darunter sicht, dazu links und rechts je ein Küchen- seine Schwester, und sich selbst erschoss. messer. So war es etwa auch im Schloss-Internat im 22-mal stach er zu. Sigrun L. hatte noch bayerischen Brannenburg, im März 2000, die Kraft, auf den Flur zu fliehen. Dort als der 16-jährige Schüler Michael F. seinen starb sie. Ihr Schüler und Mörder, And- 57-jährigen Internatsleiter erschoss, bevor reas S. , floh, verlor aber seinen Rucksack er sich selbst eine Kugel in den Kopf jagte mit seinen Ausweisen. Noch mittags nahm – vermutlich aus Rache, weil er von der die Polizei ihn fest. Schule verwiesen worden war. Das Motiv? „Ich habe sie einfach ge- Zwei Handfeuerwaffen, einen Colt Ka- hasst“, sagte er im Verhör. Er galt als un- liber .45 und eine Tanfoglio-Pistole Kaliber auffällig, umgänglich, seine schulischen neun Millimeter, hatte der Täter dabei. Zu Leistungen waren ordentlich. Nie zuvor Hause in Bad Aibling, im Keller der Fami- war er durch Gewalttaten aufgefallen. lie, fand die Polizei insgesamt 70 Waffen, Hass sei nicht sein einziges Motiv gewe- darunter zwei Maschinengewehre, eine sen, befand später das Gericht. Unter an- Pumpgun und 6500 Schuss Munition. Bis W. M. WEBER W.

Die Polizei2000 nimmt am 29. Nov- am 16. März 2000 dem Schullei- ember in Metten (Bayern) drei ter in den Hals und fügt sich an- Sichergestellte Gegenstände des Jugendliche fest, die Mord- schließend selbst Verletzungen zu. geplanten Attentats in Metten pläne gegen ihre Schulleiterin Der Pädagoge erliegt wenige Tage und eine Lehrerin geschmiedet später seinen Verletzungen; Anschließend tötet der junge Mann hatten. der Täter liegt seitdem im Koma. sich selbst. Zuvor hatte der schwer Bewaffnete in einer Firma zwei Ex- 2000 2002 Kollegen erschossen. Weil er am Vortag von seinem In einer Berufsschule in Freising In Erfurt tötet ein 19-jähriger Realschul-Internat im bayeri- (Oberbayern) tötet am 19. Februar Amokläufer am 26. April in einem

DPA schen Brannenburg verwiesen ein 22-Jähriger den Direktor und Gymnasium 17 Menschen und ... und sein 44-jähriges Opfer wurde, schießt ein 16-Jähriger verletzt einen Lehrer schwer. sich selbst.

der spiegel 18/2002 89 Titel „Die Angst schleicht sich in alle Köpfe“ Der Traumatherapeut Georg Pieper über die Folgen von Erfurt für Lehrer und Schüler

Pieper, 49, betreut seit SPIEGEL: Wie stabil ist auf, mit dem stimmt was nicht. Dafür 1988 traumatisierte Op- diese psychische Verfas- muss Zeit sein – und es muss auch er- fer von Gewalttaten. sung? wünscht sein. Nach dem Mord an ei- Pieper: Die Ereignisse SPIEGEL: Ist das nicht der Fall? ner Lehrerin in Meißen von Erfurt werden be- Pieper: In den meisten Schulen, beson- (1999) arbeitete er zwei stimmt wieder die alten ders den Gymnasien, ist es nicht er- Jahre lang mit den Wunden aufreißen. Ich wünscht. Viele Lehrer sagen, das sei betroffenen Pädagogen habe in Meißen vor allem nicht ihre Aufgabe, sie könnten nicht und Jugendlichen. bei den Lehrern erlebt, die verkorkste Erziehung in den Eltern- dass schon kleinste Er- häusern korrigieren. Andere wollen es SPIEGEL: Können Sie aus eignisse genügten, sie auf gern machen, ihnen fehlen aber die Ihrer Arbeit nach dem 180 zu bringen. Möglichkeiten dazu. Racheakt in Meißen ab- SPIEGEL: Kommt zu der SPIEGEL: Helfen Kriseninterventions- schätzen, welche Folgen Therapeut Pieper Angst auch das Gefühl, teams weiter, wie sie jetzt in Bayern der Amoklauf in Erfurt „Man muss umdenken“ womöglich als Pädagoge aufgebaut werden? langfristig haben wird? versagt zu haben? Pieper: Ja, sicher. Aber auch die Län- Pieper: In Deutschland, ja in Europa Pieper: Da muss man mehrere Dinge der, die das nicht wollen, brauchen ein hat es ein solches Massaker noch nicht unterscheiden. Der Schüler, der in Er- breites Netz von Psychologen, die mit gegeben, so was geschah immer nur furt mordete, wurde von der Schule traumatisierten Lehrern und Schülern weit weg – in Amerika. Die Amoktat verwiesen – aber dennoch kann nie- umgehen können. Nur: In jüngster Zeit wird nicht nur die Lehrer in Erfurt be- mand damit rechnen, dass dadurch ein halten sich immer mehr traumathera- schäftigen. Sie wird in sämtlichen Kol- solches Maß an Gewalt ausgelöst wird. peutisch Ungeschulte für geeignet. legien des Landes Kreise ziehen, sich in Diese Hemmschwelle kann nur über- Interview: Irina Repke alle Köpfe schleichen. Viele Pädagogen winden, wer einen psychischen Defekt werden mehr und mehr massive Ängs- hat oder unter Drogen steht … te bekommen und damit immer ver- SPIEGEL: … aber der Schüler hat die Tat krampfter vor die Klassen treten. geplant, die Waffen besorgt. Warum fällt SPIEGEL: Wie äußert sich diese Angst? so jemand an einer Schule nicht auf? Pieper: Die Lehrer in Meißen haben mir Pieper: Die Kritik daran, dass Schüler, berichtet, wie schwer es ihnen gefallen die so erkennbar unter Stress stehen, in ist, sich wieder vor die Schüler zu stel- unserem Schulsystem nicht auffallen, len und nicht gleich in jedem einen ist sicher berechtigt. Da wird man um- potenziellen Mörder zu sehen. Diese denken müssen. Die Lehrer werden Angst wird sich angesichts der 17 Opfer sich mehr Zeit nehmen müssen, die von Erfurt vielfach potenzieren. Schüler auf ihre emotionalen Probleme SPIEGEL: Wie waren die Reaktionen der anzusprechen und ihnen so Entlas- Schüler? tungsmöglichkeiten zu bieten. Das wird Pieper: Ähnlich. Sie klagten lange über zunehmend wichtiger – und es funk- eine sehr starke Angespanntheit, über tioniert, wie wir am Beispiel Meißen im Konzentrationsschwierigkeiten in der Nachhinein gesehen haben. Schule. Doch die Ängste gingen auch SPIEGEL: Wie sah das praktisch aus? weit über die Schule hinaus, etwa bei Pieper: Nach dem Mord wurden so ge- Fahrten in Bussen oder Bahnen. So- nannte Klassenlehrerstunden angebo- bald ein Unbekannter den Wagen be- ten, in denen nicht gepaukt werden trat, begann unwillkürlich die Phanta- musste. Da wurde einfach mit den sie zu arbeiten: Der richtet hier gleich Schülern über ihre Situation gespro- ein Massaker an. chen. Leider hielt das gerade mal vier SPIEGEL: Lassen diese Ängste irgend- Wochen. wann nach? SPIEGEL: Warum? Pieper: Ich habe in Meißen zwei Jahre Pieper: Es ist eingeschlafen, weil Lehr- lang vor allem die Schwersttrauma- pläne zu erfüllen sind, der Stoff durch- tisierten betreut. Die waren anfangs gearbeitet werden muss. Die Freiräume praktisch nicht mehr in der Lage zu für solche Gespräche müssen geschaf- arbeiten. Inzwischen sind sie wieder fen werden, denn nur so können auch so weit, dass Schule wieder Realität ist Beobachtungen von Schülern einbezo- und nicht nur gespielt wird – es wird gen werden, kann reagiert werden, wieder Unterricht erteilt und erlebt. wenn Schüler sagen: Der hier fällt mir

90 der spiegel 18/2002 Attentäter Steinhäuser im Sportverein, mit Freunden: „Er wollte ins Buch der Rekorde“ mörder spukt. Es ist eine fürchterliche perfide geplante, und nun diese Steigerung, pädagogische Psychologie der Uni Mün- Berühmtheit, nach der diese Jungs sich die in Deutschland kaum vorstellbar war. chen. „Die Kinder haben maßlos Angst, in sehnen, das berauschende Gefühl von Die Zahl von Angriffen auf Pädagogen die Schule zu gehen, sie sind weniger lei- Macht: Ich bestimme, von mir allein hängt ist in die Höhe geschossen, aber auch Be- stungsbereit, leiden an Magenschmerzen, es ab, wer lebt und wer nicht. leidigungen und Bedrohungen nahmen seit Kopfschmerzen oder Übelkeit“, sagt der Die Psychologen, die sich nun zu Wort Meißen stark zu. Alleine 41 Lehrer wurden hessische Pädagoge und Schul-Mobbing- melden, sagen, der Mörder von Erfurt sei in Berlin im vergangenen Schuljahr Opfer Experte Karl Dambach. ein Nachahmer gewesen, einer, der seine einer Attacke. In der Werner-Stephan-Schule, einer ty- Idee aus dem Fernsehen oder aus der Ein Lehrer einer Berliner Grundschule pischen Brennpunkt-Hauptschule in Ber- Zeitung hatte. Und sein Vorbild könne wurde beispielsweise nach der Schule von lin-Tempelhof erarbeiten die Klassenspre- Meißen gewesen sein. drei jungen Männern in einem Einkaufs- cher jedes Jahr ein Versprechen an die Der Mord von Meißen hat bundesweit zentrum abgefangen und zusammenge- Schulgemeinschaft, das jeder Neuankömm- eine Welle von Gewalttaten an Schulen schlagen. Der Unterricht des Mannes, der ling ablegen muss: „Ich wende keine Ge- produziert – Kopien, misslungene oder einen Kollegen vertreten sollte, hatte ei- walt an“, heißt es da unter Punkt 5, und ner elfjährigen Schülerin schlicht und ein- Punkt 6 lautet: „Ich bringe weder Waffen fach nicht gefallen. Das Mädchen hatte dar- noch Drogen mit und erpresse meine Mit- aufhin ihre Freunde mobilisiert und die schüler nicht.“ Schlägerei in Auftrag gegeben. Und im Ruhrgebiet knüpft die Psycho- Die Analyse solcher Fälle habe gezeigt, therapeutin und Pädagogin Dagmar Ka- sagt die Gewaltbeauftragte der Berliner plan seit 1996 ein Netzwerk gegen Gewalt Schulverwaltung, Bettina Schubert, dass es an Schulen: Jugendamt und Schulverwal- an fast jeder Schule eine kleine Gruppe tung, Eltern, Jugendeinrichtungen, Politi- höchst schwieriger Kinder gebe, die Mit- ker, Pädagogen und die Regionalstelle zur schüler und Lehrer regelrecht „in Angst Förderung von Kindern und Jugendlichen und Schrecken versetzen“. Darunter seien aus Zuwandererfamilien arbeiten mit. genauso hoch intelligente wie besonders Langsam beginnen auch die offiziellen Be- leistungsschwache Schüler. Bis heute sind rufsvertreter, sich auf die veränderte Si- die Pädagogen ziemlich ratlos darüber, wie cherheitslage an deutschen Schulen einzu- mit diesen Kindern umzugehen ist. stellen. Vor zwei Jahren war eine Delega- Immer wieder registrieren die Psycho- tion der Gewerkschaft Erziehung und Wis- logen, dass unter den Tätern viele ehema- senschaft (GEW) in den USA, um sich den lige Schüler sind, die alte Rechnungen mit von Gewalt beherrschten Alltag an ameri- Gewalt begleichen wollen – so wie damals kanischen Innenstadt-Schulen anzusehen. in Meißen und jetzt in Erfurt. „Wie im Hochsicherheitstrakt“ fühlte Bei einer Schülerbefragung 1999 an der sich etwa Gewerkschafterin Marianne Oststadtschule I in Ludwigsburg gaben 60 Demmer beim Besuch einer Grundschule Prozent der Mädchen und 80 Prozent der in New York. Das Gebäude sicherte ein Jungen an, selbst schon gewalttätig gewor- meterhoher Metallzaun, Privatpolizisten den zu sein. Drei von vier Schülern haben patrouillierten auf dem Pausenhof, eine Si- bereits Erfahrungen als Opfer von Gewalt cherheitsschleuse am Eingang leuchtete je- gesammelt. Und etwa jeder dritte Ham- den Besucher nach Waffen ab. Weder burger Schüler besitzt nach eigenen Anga- Schüler noch Pädagogen, so beobachtete ben eine Waffe zum Selbstschutz. die ehemalige Grundschullehrerin, konn- Jedes siebte Kind werde ein- oder mehr- ten sich noch frei bewegen. mals pro Woche von anderen schikaniert, Solch eine „gefängnismäßige Situation“ sagt Mechthild Schäfer, Psychologin am müsse in Deutschland möglichst vermie-

OLAF RENTSCH / BILD ZEITUNG OLAF RENTSCH / BILD Institut für empirische Pädagogik und den werden, sagt Demmer. Sonst sei kein „ungezwungenes Lernumfeld“ mehr mög- Trauernde Jugendliche in Erfurt lich. Die Gewerkschafterin ist überzeugt: Weiße und rote Rosen „Gegen einen solchen Amoklauf wie den

der spiegel 18/2002 91 Trauergottesdienst in Erfurt: Trauergottesdienst inErfurt: fenlobby, sagtSachsen-Anhalts Innenmi- die Deutschenganzlegal.Diestarke Waf- land“ warnen. „zunehmenden Bürgerkrieg inDeutsch- (GdP), würden seineKollegen vor diesem sitzende derGewerkschaft derPolizei Seit Jahren, sagtKonrad Freiberg, derVor- genannter Altwaffen illegalimUmlauf sind. Deutschland alleinetwa 20Millionenso te Fridolin Jacobsschätzen, dass in waffe machte. auch dieFilmindustrie, diesiezurMode- de. Ihre verheerende Wirkung fasziniert Fasanen undRebhühnern verwendet wur- les Jagdgewehr, dasetwa zumTöten von 300 bis1000 Euro teuer, isteintraditionel- gal besorgt. seine Pistole undseinePumpgunganzle- was sichEndevoriger Woche andeutete, Steinhäuser hatsich,wenn bewiesen wird, legalen Waffen.“ nicht dielegalen,dasProblem sinddieil- „Das Problem“, sagte Otto Schily, „sind Schritt, abereswar immerhin einSchritt. des Waffengesetzes. Eswar kein großer men derFDP undPDS eineVerschärfung gegenbeschloss derBundestag dieStim- 75Euroschon für zuhaben. und manchePistolen sindaufFlohmärkten Magnum von Smith&Wesson 1800 Euro, kostet inderSzene rund 500Euro, eine schwer nicht.EineMakarow-Pistole Schwarzmarkt zubesorgen istso Eine Waffe aufdem inDeutschland Die Waffen te Schulenichtsmehr.“ in Erfurthilft aucheinerundumgesicher- Immerhin 7,2 MillionenWaffen besitzen Kenner wiederhessischeWaffenexper- Die Pumpgun,1893 erstmalsgebaut und Das istnichtganzsosicher. DennRobert Ausgerechnet amvergangenen Freitag „Heute sindwirallegenug gestorben“ aber nochimmerhieltsieAusschau nach durch schlüpfen;dafür dieAbsperrung Gymnasium nieder. DiePolizei ließsie wachsene Blumenvor demGutenberg- legtenAm Abend Jugendliche undEr- Der Abschied tisiert dieGdP. aller Waffen inDeutschlandgesperrt, kri- hätten sichgegen einezentrale Erfassung von Fachleuten nurhalbherzig. DieLänder verabschiedete Reform istnachAnsicht recht verhindert. Und auchdiegerade erst Bemühungen umeinschärferes Waffen- nister Manfred Püchel,habebisheralle nutzen. DiePumpgun verschießt ähnlich von abgehalten, zube- dieeigene Waffe berichten, manchenTäter habeschon da- wissenPolizeibeamtetiermechanismus, zu lein dasharte Metallgeräusch desRepe- Schrecken verbreite bereits ihrSound:Al- in ihre 18 Millimeter große Mündung, Wirkung“, gefürchtet derBlick seischon rühmen ihre „ungeheuer hoheMannstopp- US-Polizeiexpertenrendsten Feuerwaffen. benutzte,wahrscheinlich einederverhee- Pumpgun, Amokläufersie wiederErfurter DistanzistdiesogenannteAuf kurze Röhrenmagazin Lauf Kaliber 18mm Furchtbare Waffe Titel Repetiergriff Kamerateams zuspüren. „Haut abmiteu- stehen besondersdie Dasbekamen kann. Ereignissen gibt,diekeiner fassenundver- solchen dieesimmernach und Aggressivität, weinten. ßen undroten Rosen vor derKirche und statt; vieleMenschen mit wei- standen Andreaskirche einTrauergottesdienst überall zurselbenZeit? Robert Steinhäuser gesehen,scheinbar Gibt esihn?Oderhatten sie dochallenur täter, von gesprochen demSchüler hatten. dem mysteriösen zweiten Mann,demMit- rund einemMeter Durchmesser schlagen. konnen sieeinetödliche Schneisevon Meter Schussdistanz, daszeigen Tests, treffsicher.dem istdieWaffe Denn auf25 und sogar leichtgebaute Wände. Außer- derKugelhagelrisch, durchschlägt Türen Die Wirkung einerPumpgun istmörde- die jeweilsnächste Patrone indenLauf. befördert ZugamRepetiergriff ein kurzer vierundachtPatronenschen imMagazin, Je nachFabrikat habenPumpguns zwi- jeder Patrone eineGarbevon Bleikugeln. wie eineSchrotflinte mit Es war dieseMischungausTrauer Um 20Uhrfandin derüberfüllten Schrotpatrone

CHRISTIAN SEELING / AP um hast dumichverlassen?“ „Mein Gott, meinGott, war- Psalm 22 vortragen lassen: der Schuleab. vier Wagen dieLeichenaus 23.11 Uhrtransportierten Kirchenglocken Erfurts. Um ben.“ sind wirallegenug gestor- Sie dieKamera aus,heute um Verständnis: „Machen mand. EineErfurterin bat nungsmache“, schrie je- rer Mei- kapitalistischen Annette Bruhns, Uwe Buse, Annette Sven Röbel, Andrea Stuppe, Zuvor hatte der Pastor Um 21 Uhrläuteten alle Jürgen Dahlkamp, Carsten Ansbert Felix Kurz, Kneip, Leinemann, UdoLudwig,Leinemann, Beate Lakotta, Jürgen Andreas Wassermann, Holm, Ulrich Jaeger, Klaus Brinkbäumer, Cordula Meyer, Steffen Winter Winter Steffen Barbara Supp,

DDP Werbeseite

Werbeseite Deutschland

TERRORISTEN Ziele in Deutschland In mehreren Städten haben deutsche Fahnder mutmaßliche Terroristen festgenommen. Die Ermittlungen zeigen, wie dicht das Netz der Islamisten ist – und dass sie auch in der Bundesrepublik zuschlagen wollen.

en der Mann aus dem Nahen Name nur in die Irre: Die jetzt Verhafteten, ten Sicherheitsexperten etliche Male in ver- Osten verehrt, das sahen die daran besteht für die Staatsschützer kein traulichen Zirkeln – immer mehr Warnun- WFahnder des Bundeskriminalam- Zweifel, gehören zum Terrornetz der Qai- gen trafen ein. Danach könnten sich in tes (BKA) sofort: Als die Beamten Mitte da Bin Ladens. Etliche von ihnen sollen in Deutschland, Frankreich und Großbritan- vergangener Woche im westfälischen einem Camp in Afghanistan geschult wor- nien etwa 30 mögliche Selbstmordatten- Städtchen Beckum eine Wohnung in der den sein. Einer der jetzt Verhafteten ist täter aufhalten, die iranischer, irakischer, Wilhelmstraße filzten, fiel ihnen ein sorg- nach Überzeugung der Ermittler erst in jemenitischer oder sudanesischer Nationa- sam gerahmtes Bild auf – es zeigt Osama diesem Februar vom Hindukusch nach lität seien. Bin Laden, den Terrorboss, den meistge- Deutschland zurückgekehrt. Von welcher Qualität die alarmierenden suchten Mann der Welt. Und Bin Ladens Die Festnahme-Aktion zeigt nicht nur, Meldungen tatsächlich sind, ist allerdings Konterfei war nicht das einzige Signet der dass die Islamisten in Deutschland über nicht abschätzbar. Und dass eine Zeitung ULI DECK / DPA (2) DECK / DPA ULI ULI DECK / DPA DECK / DPA ULI ARMIN THIEMER Festgenommene Tawhid-Verdächtige: Zugriff nach monatelanger Observation

Verehrung im Domizil des in Deutschland ein noch engeres Netz verfügen als bislang am vergangenen Freitag sogar die Namen geborenen Jordaniers Ismail Schalabi. schon bekannt. Sie belegt auch, dass die angeblicher Verdächtiger nannte, nach de- Auch diverse kleinere Gegenstände, im Bundesrepublik ins Visier der Terroristen nen in Deutschland derzeit gesucht wird, Durchsuchungsprotokoll summarisch als gerät. Denn für Nehm und die Spitze des empörte die Ermittler mächtig – zu Recht. „Devotionalien Bin Ladens“ aufgelistet, BKA steht außer Frage, dass al-Tawhid auf So wird jede Fahndung nahezu unmöglich. fielen den Ermittlern in die Hände. deutschem Boden Anschläge plante. Es Schon vorher hatte Oberankläger Nehm Bin-Laden-Anhänger Schalabi sitzt nun sollten, so hat mittlerweile einer der In- geklagt, es gebe „genügend Indiskretionen im Gefängnis – ebenso wie acht Gesin- haftierten gestanden, geeignete jüdische in Deutschland, die unser Geschäft er- nungsgenossen aus dem Ruhrgebiet, aus und israelische Anschlagsziele ausgespäht schweren“. Bayern und Leipzig. Generalbundesan- werden. Danach hätten andere Islamisten Die Terrorgruppe al-Tawhid ist ganz of- walt Kay Nehm wirft ihnen Unterstützung einreisen und zuschlagen sollen. fensichtlich eingebettet in ein weltweites und Mitgliedschaft in einer terroristischen Noch vor kurzem galt Deutschland eher Netz. Spuren führen nach England und Dä- Vereinigung vor. Rädelsführer in der als Rückzugs- und Ruheraum für radikale nemark, zudem nach Iran. Auch zwischen Truppe soll ein Mann mit dem Kampf- Islamisten. „Jetzt“, fürchtet der bayerische der jetzt aufgeflogenen Zelle und mindes- namen Abu Ali, 36, sein – ein Asylbe- Innenminister Günther Beckstein (CSU), tens einem der vier deutschen Verdächti- werber, dessen Antrag 1996 abgelehnt „werden wir womöglich zum Ziel von gen des mörderischen Gasanschlags von wurde, der aber trotzdem in Deutschland Anschlägen.“ Djerba mit 16 Toten existiert zumindest bleiben durfte, weil eine Abschiebung Besonders alarmierend ist die Sorge von eine lose Verbindung. nicht möglich war. Terrorismusexperten, die Pläne der jetzt Dass die Islamisten untereinander viel Bislang kannten nur Spezialisten von aufgeriebenen Gruppe seien erst der An- intensivere Kontakte haben als bislang an- Verfassungs- und Staatsschutz den Namen fang einer neuen Anschlagswelle. Schließ- genommen, beweist auch, dass unter den der sunnitisch-palästinensischen Gruppie- lich sei es „höchst unwahrscheinlich“, so Verhafteten ein alter Bekannter der Fahn- rung, der sich die Verdächtigen zurechnen: ein hochrangiger Staatsschützer, dass „nur der ist: Thaer Mansour, 28. Gegen den in al-Tawhid, zu Deutsch „Bekenntnis an die eine Zelle“ von außen „aktiviert“ worden München lebenden Iraker wird bereits seit Einheit Gottes“. Tatsächlich aber führt der sei. In der vergangenen Woche konferier- über einem Jahr ermittelt, weil er nach

94 der spiegel 18/2002 Nehm, BKA-Vize Bernhard Falk nicht verfolgen, weil er doch anerkannter „Eigenartige Gruppe“ Asylant sei. Die Spur der Tawhid-Verdächtigen ver- sche Behörden zuvor durchaus folgten die Fahnder schon lange: Im merkwürdig war. Ein Gericht Oktober vergangenen Jahres, nur fünf in Ägypten hatte den 38-Jäh- Wochen nach den Anschlägen von New rigen aus Kairo zu zehn Jah- York und Washington, nahmen sie die ren Haft wegen Schusswaffen- Ermittlungen auf. Ein Mann aus Essen gebrauch und Mitgliedschaft hatte in Afghanistan angerufen, hektisch, in einer fundamentalistischen aufgeregt – es war Abu Ali. Offiziell ist Gruppierung verurteilt, 1995 er hier gemeldet als Yaser Hassan. In-

RONALD WITTEK / ACTION PRESS / ACTION WITTEK RONALD tauchte er erstmals in der Bun- zwischen ist aber auch diese Identität desrepublik auf. Als sein An- nicht mehr sicher. Nach derzeitiger Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden trag auf Asyl abgelehnt wurde, wich er Erkenntnis heißt er Mohamed Abu gute Kontakte zu einer italienischen Ter- nach London aus. Dhess. rorzelle in Mailand unterhielt (SPIEGEL 1998 kehrte das Tawhid-Mitglied aus Er wolle Märtyrer werden, sagte Abu 42/2001). Großbritannien zurück, und diesmal hatte Ali seinem Gesprächspartner in Afghani- Im März vergangenen Jahres hatten ein neuerlicher Asylantrag Erfolg. Als die stan, und sich jetzt im Dschihad opfern. Fahnder zwei gefälschte italienische Füh- Ägypter darum baten, den Mann zur Fahn- Ob es denn schon so weit sei, fragte Abu rerscheine abgefangen, die aus Mailand per dung auszuschreiben, legte sich das Bun- Ali. Nein, beruhigte der Angerufene in Post in Münchens Rüthlingstraße ankom- desjustizministerium quer. Es könne ihn Afghanistan seinen Glaubensbruder aus men sollten, in der Mansour damals wohn- te. Bei seinen Vernehmungen gab er dann Hamburg- Frankfurter zwar zu, mit dem Mailänder Hauptver- Connection „Meliani“-Zelle dächtigen regelmäßig telefoniert zu haben. Bloß, mit Terrorismus habe dies alles nichts Der Kaufmann Mamoun 5 Verdächtige, ausge- zu tun. Beweisen ließ sich in der Tat nur Darkazanli wird verdäch- bildet in Afghanistan, wenig – also ließen ihn die Ermittler wieder tigt, ein Qaida-Kontaktmann sollen Anschlag in laufen. Bis vergangenen Dienstagmorgen. Darkazanli zu sein. „Meliani“- Straßburg geplant Verdächtiger haben. In Nürnberg wurde ein Mann festge- vermutete KONTAKTE nommen, dessen Behandlung durch deut- • zur Zelle des Todespiloten Mohammed Atta KONTAKTE • zur spanischen Zelle des Qaida-Manns • zu Islamisten in England „Abu Dahdah“ • nach Italien zur Mailänder Zelle • zum mutmaßlichen spanischen Qaida- • nach Frankreich Deutschland im Finanzier „Abu Talha“ internationalen Terrornetz Afghanistan Al-Qaida-Ausbildungslager In bis zu zwei Dutzend in Afghanistan DÄNEMARK Lagern wurden mehrere ENGLAND zehntausend Islamisten Hamburg ausgebildet, davon leben vermutlich rund Ruhrgebiet 100 in Deutschland. Die Lager wurden von Frankfurt Bin Ladens Qaida koordiniert.

FRANKREICH

ITALIEN SPANIEN IRAN

Ruhrgebiet: al-Tawhid-Gruppe

TUNESIEN Bisher 9 Verhaftete. Duisburger Gruppe Möglicherweise Anschlag geplant; Ermittlungen gegen 4 Männer. Überwiegend z. T. in Afghanistan ausgebildet; Ausbildung in Afghanistan; teilweise verdächtigt, Weisungen von al-Quaida-Mann Freiwillige für al-Qaida-Lager geworben zu haben. Abu Mussab al-Sarkawi aus Iran.

Christian G. KONTAKTE KONTAKTE • Spuren zu Hamburger Verdächtigen • zu einer Zelle nach England • Christian G. telefonierte kurz vor dem Anschlag • nach Iran Explosion vor Synagoge auf Djerba in Djerba mit dem mutmaßlichen Attentäter • nach Dänemark

der spiegel 18/2002 95 Deutschland

Essen. Er solle sich noch ein paar Monate Sprengstoffanschlags in der jordanischen einem Angriff der Amerikaner schwer ver- gedulden. Hauptstadt Amman zu 15 Jahren Haft ver- letzt worden; kaum genesen, sei er über die Das abgehörte Gespräch löste bei den urteilt worden. Zum Jahrtausendwechsel Berge nach Iran geflohen. Sicherheitsbehörden und der sofort un- hatte er ein Attentat auf amerikanische und Dass Sarkawi sich offenbar unbehelligt terrichteten Bundesregierung erhebli- israelische Touristen mit geplant. Das Vor- in Iran aufhalten kann, nährt den Ver- che Unruhe aus. Denn der Mann, den Abu haben wurde rechtzeitig aufgedeckt, die dacht, dass das Mullah-Regime es mit der Ali angerufen hatte, war kein Geringerer Terrorzelle zerschlagen. Seither steht Sar- Terrorismusbekämpfung nicht immer allzu als ein Kommandeur der Qaida in Afgha- kawi auf einer „Most Wanted“-Liste der ernst nimmt – was die Amerikaner seit nistan – Abu Mussab al- Sarkawi, ein Amerikaner. Monaten behaupten. Zumindest Teile der Jordanier. Fahndern gilt der fanatische Gläubige iranischen Revolutionsgarde stehen im Sofort galt die Spur nach Deutschland schon lange als wichtiger Mann der mittle- Verdacht, klammheimlich mit den Bin-La- als wichtigster Beleg dafür, dass auch ren Führungsebene innerhalb der Bin-La- den-Getreuen zu sympathisieren. hier zu Lande weitere Islamisten Den deutschen Ermittlern und der Bun- bereitstehen, um terroristische An- desregierung ist diese Fluchtroute aber weit schläge zu begehen. Dennoch ent- lieber, als das, was sich vor Monaten an- schieden BKA und Generalbun- zubahnen schien: Damals tauchten Hin- desanwalt Nehm in enger Abspra- weise auf, dass der Qaida-Obere Sarkawi che mit Berlin, Abu Ali nicht sich nach Europa absetzen wolle – und Abu sofort festzunehmen. Ali damit beauftragt sei, ihm falsche Pa- Stattdessen sollte eine lücken- piere zu besorgen. lose Überwachung helfen, seine So wie Sarkawi suchten Dutzende sei- Kontaktleute zu finden. Der Plan ner Anhänger nach dem Beginn der Bom- ging auf. Stück für Stück konnten bardements der amerikanischen Luftwaffe sich die Fahnder bald ein Bild von nach einem Weg, aus Afghanistan zu flie- der wahren Bedeutung der deut- hen. Die Logistik dafür sollte ganz offenbar schen Tawhid-Zelle machen, einer die nun in Deutschland zerschlagene Zel- „sehr eigenartigen Gruppe“ mit le stellen. „halb legalem Umfeld“ (Nehm). Immer wieder registrierten die Fahnder

Der Hauptverdächtige Abu Ali, AP bei ihrer Überwachung, dass es Aufträge der sich nach Einschätzung der Terrorpate Abu Katada: Plötzlich abgetaucht gab, aus dem Kriegsgebiet Passbilder nach Deutschland zu schmuggeln. Abu Ali und seine Glaubensbrüder klebten sie dann, davon sind Fahnder überzeugt, in ge- fälschte irakische, jordanische oder däni- sche Dokumente. Dann wurden die fri- sierten Papiere zurückexpediert Richtung Hindukusch. Von Essen aus führte die Spur schnell zu einem weiteren Fälscherring – nach Däne- mark. Eine Werkstatt im dänischen Hørs- holm, die ein staatenloser Palästinenser aus Syrien betrieb, galt Islamisten in ganz Europa als erste Adresse. Für echte, meist gestohlene dänische Pässe, wurden per Computer andere Seiten erstellt, mit an- derem Lichtbild und neuem Namen.

GEORG LUKAS GEORG LUKAS Anschließend wurden sie professionell in Al-Tawhid-Unterschlupf in Beckum: Frisierte Papiere Richtung Hindukusch den Pass laminiert. Bis zu 200 Reisepässe alle drei Monate Ermittler in Palästinenser-Kreisen schon den-Organisation, vor allem als Chef eines sollen so gefälscht worden sein, schätzen vor Jahren einen Ruf als Schleuser und Trainingscamps im afghanischen Herat. dänische Ermittler. Die Dokumente gingen Waffenhändler erworben hat, war nach Hier wurden, streng getrennt nach Her- an Drogenhändler, Schmuggler – und an dem Beginn der US-Militäraktion in kunft, vor allem Palästinenser und Jorda- die deutsche Gruppe um Abu Ali. Afghanistan zu einem wichtigen Flucht- nier für den Dschihad geschult. Versorgt wurden auch Glaubensbrüder helfer der Bin-Laden-Bewegung avanciert. Auch mehrere der jetzt in Deutschland im englischen Luton. Dort vermuten Er- Spätestens seit dem Fall des Taliban- verhafteten Islamisten sollen, so die Er- mittler die Europa-Zentrale der palästi- Regimes im Dezember versuchten etliche kenntnisse von Nachrichtendienstlern, von nensischen Untergrundbewegung al-Ta- Mitglieder der Qaida, auf verschlungenen Sarkawi trainiert worden sein. Der Kontakt whid. Aus England soll auch der geistige Wegen und mit gefälschten Papieren außer nach Herat wurde offenbar von Essen aus Nährstoff für die deutsche Tawhid-Zelle Landes zu kommen. Denn die US-Militärs gehalten, er lief über Abu Ali. Im Septem- gekommen sein – von einem weiteren Top- waren den Terroristen schon hart auf ber vergangenen Jahres soll der Palästi- Islamisten, der immer wieder im Zusam- den Fersen. nenser Abu Ali sogar nach Iran gereist sein, menhang mit al-Qaida genannt wird: Ein offenbar so erfahrener Schleuser wie um dort Sarkawi zu treffen, zwecks Ab- Scheich Abu Katada. Abu Ali durfte in diesen Zeiten nicht den sprache unter vier Augen. „Das unter- Der Jordanier gilt als Weggefährte des Märtyrertod suchen. Seine Hilfe wurde streicht Abu Alis Bedeutung“, so ein Ver- Tawhid-Kopfes Sarkawi. Wie Sarkawi wur- dringend gebraucht – vor allem von sei- fassungsschützer. de er von der jordanischen Justiz in Ab- nem Kommandanten Sarkawi. Erst in Um die Jahreswende verschwand auch wesenheit wegen des geplanten Millen- diesem Februar war der Qaida-Mann in Sarkawi aus Afghanistan. Zuvor hatten nium-Anschlags zu 15 Jahren Arbeitslager Abwesenheit wegen der Planung eines Nachrichtendienste gemeldet, er sei bei verurteilt. Abu Katada lebte in London als

96 der spiegel 18/2002 Werbeseite

Werbeseite Deutschland politischer Flüchtling und leitete dort einen Betzirkel. US-Geheimdienstler vermuten, dass Abu Katada und einige Kumpane in der englischen Hauptstadt diverse Unterstützer der US-Anschläge vom 11. September re- krutierten. So sagte der Bruder des in den USA inhaftierten mutmaßlichen Terroris- ten Zacarias Moussaoui aus, Abu Katada habe Moussaoui radikalisiert. Auch ein in Frankreich festgenommener Terrorverdächtiger gab zu Protokoll, Abu Katada habe ihn gedrängt, in einer mili- tanten islamischen Gruppe mitzukämpfen. Nach den Anschlägen in den USA fror die britische Regierung Abu Katadas Konten ein. Ihm selbst war da noch nichts Hand- festes nachzuweisen. Im Februar tauchte er plötzlich ab und wird seitdem gesucht. Anfang dieses Monats verdichteten sich die Hinweise, dass aus den deutschen Lo- gistikern der Islamisten doch noch das wer- den könnte, was Fahnder bereits nach dem 11. September befürchtet hatten – eine ak-

tive Terroristentruppe, die auch eigene An- X / STUDIO NABIL / GAMMA schläge vorbereitet. Innenminister Schily, Begleiter*: „Honig und Äpfel“ Denn in der ersten April-Woche hatte sich Abu Alis Kontaktmann Sarkawi erneut bei Die Pistole war vermutlich im April 2001 Gast, erinnert sich der Ägypter, sei ein einem Mitglied der deutschen Zelle gemel- im Hamburger Freihafen gestohlen worden. Mann aus Essen gewesen – Abu Ali. det – nun aus Iran, seinem Fluchtland. Das Die Ermittler wollten ursprünglich so- Die Firma des Ägypters und sämtliche Gespräch, da waren sich die Terrorexperten gar schon eine Woche vorher zugreifen, Autos auf dem Platz wurden nun durch- sicher, war kodiert – es ging am Telefon um alles war vorbereitet. Doch dann kam der sucht, denn ein Mann aus der Terrorgrup- „Honig und Äpfel“. Die Fahnder argwöhn- Anschlag auf der tunesischen Ferieninsel pe soll bei ihm gearbeitet haben. Zwei der ten, tatsächlich seien Waffen gemeint, und Djerba dazwischen; die Einsatzleitung be- Beckumer Muslime wohnten nicht weit zum ersten Mal während der sechsmonati- schloss, noch einmal abzuwarten. weg und bestens getarnt im katholischen gen Überwachung sah es so aus, als stünde Die Polizisten wussten über die Ge- Kolpinghaus – es war ja so einfach hier: ein Anschlag bevor. Nehm und das BKA wohnheiten der Tawhid-Verdächtigen in Man musste nur seinen Namen auf einen alarmierten die Bundesregierung. Deutschland gut Bescheid: Mindestens drei Kellnerblock kritzeln und ein bisschen Ob sich die Islamisten tatsächlich bereits Männer aus der nun festgesetzten Truppe Kaution für die 200 Euro Miete hinter- ein Arsenal anlegten, ist derzeit noch un- trafen sich regelmäßig im privat eingerich- legen. Dann durften die Islamisten blei- klar. Zumindest eine Waffe wurde bei der teten Gebetsraum eines ägyptischen Auto- ben, neben Sozialhilfeempfängern und Ge- Razzia am vergangenen Mittwoch in einem und Schrotthändlers in Beckum. Häufiger strandeten, es fragte niemand nach Doku- arabischen Restaurant in Essen sicherge- menten und Formularen. stellt – eine chinesische Tokarev, Kaliber * Bei der Besichtigung der zerstörten Synagoge auf Djerba Kaum 500 Meter von der Firma des neun Millimeter, und 12 Schuss Munition. am vorvergangenen Wochenende. Ägypters lebte Ismail Schalabi, allerdings etwas komfortabler als seine Glaubens- brüder: Er ist verheiratet, hat zwei Söhne, lebt mit seiner Mutter und dem Bruder Diab in einem unauffälligen Haus am Bahnübergang. Vor der Tür steht ein na- gelneuer Benz – und im altdeutschen Wohnzimmer zwei Spielzeug-Polizeiwagen auf der Schrankwand. Der Verdächtige Schalabi und sein Bru- der Diab wurden in Deutschland geboren, wuchsen aber zunächst in Jordanien auf. Ihr Vater, ein Lkw-Händler schimpft, Is- mail sei faul, ein Wirrkopf obendrein: „Der Junge spinnt.“ Aber ein Terrorist, glaubt die Familie, sei ihr Ismail gleichwohl noch längst nicht, ebenso wenig wie seine Kumpane. Und die Festnahmen seien in Wahrheit Teil einer jü- dischen Verschwörung, gesteuert aus Isra- el, klagt der Bruder: „Die wollen uns in Verruf bringen. Keiner könnte auch nur ein Huhn töten.“ Georg Bönisch, Dominik Cziesche, Georg Mascolo, AFP Holger Stark Afghanisches Trainingscamp: „Keiner könnte auch nur ein Huhn töten“

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Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Trends Wirtschaft

KORRUPTION Diktatoren-Geld blockiert n den Ermittlungen der Bochumer Staatsanwaltschaft gegen Verant- Iwortliche der MAN-Tochter Ferrostaal spielt auch die Deutsche Bank eine Rolle. Im Verfahren wegen möglicher Schmiergeldzahlungen an den nigerianischen Ex-Diktator Sani Abacha taucht ein Konto in Essen auf, das die Deutsche Bank bereits im Jahr 2000 gesperrt hat. Inhaberin ist die Briefkastenfirma Bimatec Ltd. auf den British Virgin Islands, verfü- gungsberechtigt Mohammed Abacha, Sohn des 1998 verstorbenen Staats- chefs. „Auf dem Konto befindet sich ein sechsstelliger Betrag“, bestätigt Staatsanwalt Ekkehart Carl. In den vergangenen Monaten ermittelte auch die Wiesbadener Staatsanwaltschaft. Dabei wurde eine nigeriani- sche Zahlung von fünf Millionen Dollar an einen deutschen Sicher- heitsberater untersucht. Die Gelder gingen bei der Dresdner Bank in Wiesbaden ein. Ein Teil davon floss auf ein Konto bei der Dresdner in Genf. Der Verdacht, dass es sich um eine illegale Transaktion der Familie Abacha handelte, konnte jedoch nicht erhärtet werden. Unabhängig von den deutschen Verfahren kam es in der Fluchtgeldaffäre inzwischen zu einem Vergleich zwischen der Regierung und der Abacha-Familie. Da- nach soll das im Ausland blockierte Abacha-Vermögen von über einer Milliarde Dollar an Nigeria zurückfließen. Darunter befinden sich auch Gelder, die derzeit noch bei der Luxemburger Tochter der Hamburger Privatbank M. M. Warburg eingefroren sind. Ein Anteil von 100 Millio- nen Dollar bleibt im Besitz des Abacha-Clans.

Abacha (1998) MATTHEW BUNCE / REUTERS MATTHEW

STEUERN veräußern. Im Idealfall verkau- fen sie die Anteile einfach kon- Kandidat zernintern weiter – Hauptsache, die stillen Reserven würden in der Klemme rechtzeitig gehoben. Sobald dann die Union die Gewinne aus ach Ansicht von Experten diesen Verkäufen wieder besteu- Nkönnte der Plan von ert, könnte Stufe zwei greifen: Unions-Kanzlerkandidat Ed- Dann müsste der Fiskus – so die mund Stoiber, den steuerfreien Logik des Steuerrechts – auch Verkauf von Firmenbeteiligun- wieder Verluste aus solchen Ge-

SPENCER PLATT / GETTY IMAGES SPENCER PLATT gen wieder einzu- schäften anerkennen. Börse in New York schränken, zu massi- Die Unternehmen ven Steuerausfällen könnten also eine Be- BÖRSE führen – statt zu Mehr- teiligung, die sie jetzt einnahmen. „Wenn teuer im Konzern wei- SEC greift durch Stoiber nicht aufpasst, terverkaufen, wieder werden die Konzerne auf einen niedrigen ie amerikanische Börsenaufsicht SEC verschärft sein Vorhaben einfach Wert abschreiben – Dihren Kurs. Allein in den ersten zwei Monaten des durchkreuzen“, warnt weil Patente an Wert

Jahres hat das Kontrollgremium, das für einen recht- der Wiesbadener Öko- DARCHINGER MARC verloren oder die Ge- mäßigen Handel auf den Finanzmärkten sorgen soll, nom Lorenz Jarass. Jarass schäftsaussichten sich gegen 49 US-Firmen Untersuchungen wegen des Ver- „Dadurch könnten verdüstert haben. dachts der Bilanzmanipulation eingeleitet. Am vergan- dem Fiskus Jahr für Jahr Ein- „Die Konzerne könnten jetzt genen Donnerstag erklärte SEC-Chef Harvey Pitt, dass nahmen in ein- bis zweistelliger erst Gewinne steuerfrei realisie- die Behörde zudem gegen führende Investmentbanken Milliardenhöhe verloren gehen.“ ren – und später dann ihre Ver- ermitteln will, denen vorgeworfen wird, wider besseres Die Ausfälle könnten durch ein luste von der Steuer absetzen“, Wissen Aktien hochgeredet zu haben – zum eigenen „aberwitziges, zweistufiges Steu- warnt Jarass. Er empfiehlt der Nutzen und zum Schaden der Anleger. Die strengere ersparprogramm“ verursacht Union deshalb, auch die Ver- Gangart ist auch eine Reaktion auf die Kritik, die SEC werden: Schon jetzt, in Stufe rechnung von Verlusten aus sol- nehme ihre Aufsichtsfunktion nicht ernst. Vor allem eins, würden viele Kapitalgesell- chen Beteiligungsgeschäften ein- die Pleite des Enron-Konzerns hatte das einst glänzen- schaften mit aller Macht versu- zuschränken – selbst wenn die de Image der Behörde schwer beschädigt. chen, Firmenbeteiligungen zu Industrie sich dagegen sträubt.

der spiegel 18/2002 101 Trends

DEUTSCHE BANK Offene Optionen ine weit reichende Umstrukturierung steht der Deutschen Bank bevor. EDer designierte Vorstandssprecher Josef Ackermann will das Institut künftig in vier abgegrenzte Bereiche unterteilen. Dabei soll das Filialge- schäft der Deutschen Bank 24 enorm gestärkt werden. So sollen weltweit rund 200000 „F3“-Kunden – das sind mittelgroße Firmen mit Umsätzen von mehr als 50 Millionen Euro – von der Investmentbank zur Filialbank wechseln. Die Investmentbank würde künftig nur noch 7000 Top-Konzer- ne betreuen. Zudem wird die Filialbank aus dem Bereich „Private Ban- king“ einen Großteil der 300000 Kunden mit Vermögen von weniger als einigen Millionen Euro übernehmen. Daneben schafft das Geldhaus mit einer Investmentbank amerikanischen Zuschnitts, mit der künftig „Private Wealth Management“ genannten Privatbank und mit der institutionellen Vermögensverwaltung drei hoch spezialisierte Bereiche. Unter der Führung des Konzernmanagements sollen die einzelnen Geschäftsfelder über große Selbständigkeit verfügen. Dennoch erhofft sich Ackermann Synergien: So

wird die Filialbank ein Hauptkunde der Investmentbank. Sie soll Kredite (O.) / DPA HEINZ WIESELER (U.); DARCHINGER FRANK vergeben und damit Risiken akquirieren, die von der Investment- bank dann gebündelt und verkauft oder als Anleihen platziert werden. Außerdem soll die Filialbank als Vertriebsweg für die Ver- mögensverwaltung fungieren. Die weitgehend selbständigen Struk- turen lassen zudem die Option offen, einzelne Bereiche künftig zu verkaufen oder separat an die Börse zu bringen.

Ackermann, Deutsche Bank in Frankfurt

LASTWAGEN etwa 3,4 Milliarden Euro rechnen. Die von der Bundesregierung in Aussicht „Ziviler Ungehorsam“ gestellte Entlastung um rund 300 Mil- lionen Euro bei der Mineralölsteuer ie Lkw-Fahrer wollen massiv in ist der Branche bei weitem zu gering. Dden Wahlkampf eingreifen. Aus Zudem würde, fürchtet Schmidt, durch Ärger über die geplante Lkw-Maut sol- die Maut-Einnahmen „kein Meter Stra- len bei zentralen Veranstaltungen von ße neu gebaut“. Deshalb will der BGL Bundeskanzler Gerhard Schröder die auch den Einbau von Maut-Lesege- Fahrer mit Pauken, Trillerpfeifen oder räten in den Lastern boykottieren und Hupen lautstark protestieren, „falls der ruft seine 15 000 Mitgliedsunterneh- Redner über Erfolge spricht, die es gar men zu einer „Aktion zivilen Unge- nicht gibt“ – so Karlheinz Schmidt, horsams“ auf. „Wir werden uns nicht Hauptgeschäftsführer des Bundesver- wie die Schafe elektronisch scheren bands Güterkraftverkehr Logistik und lassen“, sagt Schmidt. Entsorgung (BGL). Außerdem könnten die Fahrer mit ihren Brummis zu den Veranstal- tungen vorfahren. Daneben erarbeiten die Laster-Lobby- isten bereits Slogans für die Rückseite ihrer Fahrzeuge, mit denen sie ihren Protest über das „Abzocken“ auch auf Autobahnen und Land- straßen täglich sichtbar ma- chen wollen. Der Grund: Das Transportgewerbe muss nach Einführung der Maut im nächsten Jahr mit zusätz- lichen Gebühren von jährlich

Lkw-Demonstration (in Berlin) PRESS / ACTION GRABKA THOMAS

102 der spiegel 18/2002 Werbeseite

Werbeseite IG-Metall-Warnstreik (am 17. April in Nürnberg): Die alte Heimlichtuerei stößt überall auf Misstrauen

GEHÄLTER Wer verdient, was er verdient? Die Bezüge deutscher Konzernchefs sind zum Reizthema geworden. Börsenwahn und Fusionsfieber haben die Einkommen der Bosse in astronomische Höhen katapultiert. Jetzt aber drücken Konjunkturschwäche und Börsenflaute auch die Top-Gagen – allerdings nicht alle.

eutschlands Spitzenmanager geben verdienen? Oder hat sich in den Chefeta- Einkommens- Vorstandsbezüge sich gern zurückhaltend – und gen eine Mentalität der Selbstbedienung entwicklung +90,3% Dvolksnah. „Persönlich hätte ich kein breit gemacht? Problem damit, dass jeder mein Gehalt Die Herren der Wirtschaft verweisen in Deutschland kennt“, sagt Dresdner-Bank-Chef Bernd gern auf Michael Schumacher (Jahresge- Veränderung gegenüber Fahrholz. „Bei Managergehältern sollte Of- halt 2001: 59 Millionen Euro), Stefan Ef- 83,0 fenheit bestehen, und sie sollten auch Ge- fenberg (4 Millionen), Thomas Gottschalk 1991 in Prozent genstand der Kritik sein“, meint Deutsche- (15 Millionen) und all die anderen Großver- Bank-Chef Rolf Breuer. „Vorstände sind ja diener des Entertainment-Gewerbes, de- auch nur Angestellte“, gibt sich Porsche- ren geschätzte Millionen-Gagen nur dann Chef Wendelin Wiedeking bescheiden. Anstoß erregen, wenn ausgerechnet einer Alles schöne Sätze, doch mit der Wirk- wie Effenberg ausgerechnet im „Playboy“ 52,9 lichkeit haben sie wenig zu tun. Tatsächlich ausgerechnet für die radikale Senkung der * fühlen sich die Konzernchefs mehr als Un- Arbeitslosenunterstützung plädiert. *nominal; Nettolöhne ternehmer denn als angestellte Manager, Und sie sind gern mit amerikanischen Quelle: Kienbaum Arbeitnehmer Vergütungsberatung, und sie haben in den vergangenen Jahren Beispielen zur Hand, denn in den USA lie- DGB 29,9 große Anstrengungen unternommen, um gen die Top-Gehälter immer noch oft um +20,0% ihre Gehälter denen ihrer amerikanischen ein Vielfaches höher als hier zu Lande. Kollegen anzugleichen – diskret und aus- Deutsche-Bank-Chef Breuer, mit rund elf 15,8 15,6 gesprochen erfolgreich. Millionen Euro Spitzenverdiener der deut- 6,1 11,3 12,1 12,0 Doch plötzlich stößt die alte Heimlich- schen Wirtschaft, könnte sich im Vergleich Schätzung tuerei überall auf Misstrauen. Offen wie zu den 216 Millionen Dollar, die Sanford 4,9 nie wird die Frage diskutiert: Verdienen Weill, Chef der Citigroup, im Jahr 2000 die deutschen Manager wirklich, was sie verdiente, geradezu arm vorkommen. 1991 92 93 94 95 96 97 98 99 2000 01

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Breuer

Sommer

Deutsche Top-Manager*: Die wahren Gewinner der Globalisierung Schrempp

Die Kritiker allzu opulenter Vorstands- vor der Übernahme des deutschen Unter- tionsprogramm ablehnte, mit dem Messier bezüge orientieren sich weniger an den nehmens durch den britischen Konkurren- sich und das Führungsteam des Medien- Gehältern ausländischer Top-Manager als ten Vodafone die Firmenkasse öffnete und konzerns beglücken wollte. an den Löhnen deutscher Arbeitnehmer. dem unterlegenen deutschen Führungs- Die Aktionäre waren aufgebracht: Im- Klaus Zwickel, Chef der IG Metall, lässt personal rund 100 Millionen Mark spen- mer wieder hatte Messier in den vergan- seine Truppen derzeit darüber abstimmen, dierte. Eine solche Anerkennungsprämie genen Wochen für negative Schlagzeilen ob sie ab 6. Mai für eine Lohnforderung sei „international absolut üblich“, vertei- gesorgt, durch ruppigen Führungs- und auf- von 6,5 Prozent streiken wollen. „Doppel- digt sich der ehemalige Mannesmann-Chef wendigen Lebensstil. Vor allem aber war HINGER (R.U.) moral“ wirft Zwickel den Arbeitgebern Klaus Esser, der allein 60 Millionen Mark der Vivendi-Aktienkurs seit Jahresbeginn vor, die zur Mäßigung mahnen, wo doch erhielt. um rund 40 Prozent gesunken – auch we- die Vorstandsgehälter aller im Deutschen Der Fall Mannesmann nährt den Ver- gen des geplanten Optionsprogramms. Aktienindex (Dax) vertretenen Unterneh- dacht, dass in den deutschen Chefetagen Messier will weiterkämpfen. Nicht für men allein von 1998 bis 2000 um 64 Prozent viele Manager vor allem auf den persönli- sich natürlich, sondern für das Wohl der gestiegen seien. chen Vorteil bedacht sind. Auch da befän- Firma. Eine neue Aktionärsversammlung Etwas scheinheilig ist das Argument al- den sich die Deutschen durchaus im Rah- soll das umstrittene Milliarden-Programm lerdings: In allen Dax-Unternehmen sitzen men des international absolut Üblichen. erneut diskutieren. Ohne die Optionen, Gewerkschaftsvertreter im Aufsichtsrat, Percy Barnevik, ehemaliger Chef des An- klagt Messier, könne er die amerikanischen keine Veränderung der Vorstandsbezüge lagenbauers ABB und viermal hinterein- Manager des Unternehmens nicht halten. kann ohne ihr Wissen verabschiedet wer- ander Europas „Manager des Jahres“, hat- Wie sich die Argumente gleichen: Jeder den. Bislang ist kein Fall bekannt, in dem te für sich eine Pensionszahlung ausge- noch so dreiste Griff in die Konzernkasse sich die Arbeitnehmervertreter gegen all- handelt, die ihm bei seinem Abgang die wird mit Blick auf die amerikanischen Ver- zu hohe Gehaltszulagen für die Bosse ge- stolze Summe von umgerechnet 100 Mil- hältnisse gerechtfertigt. Ohne den Sieges- stemmt hätten. lionen Euro – auf einen Schlag und steu- zug des US-Kapitalismus in den vergange- Denn das gehört zu den Spielregeln des erfrei – einbringen sollte. nen Jahren wäre der exorbitante Anstieg rheinischen Kapitalismus: Die Gewerk- Als die Summe publik wurde, war Bar- der Managergehälter jedenfalls nicht denk- schaften mischen sich nicht in die Belange neviks Reputation zerstört. Die schwedi- bar gewesen: Die europäischen Führungs- der Arbeitgeber ein, und die revanchieren sche Wirtschaftszeitung „Dagens Industri“ kräfte sind die wahren Gewinner der Glo- sich gelegentlich mit Zugeständnissen für bescheinigte ihrem vorher so hoch gelob- balisierung. die Arbeitnehmerseite. ten Landsmann „schweinische Raffkultur“. Noch bis Mitte der neunziger Jahre ent- Im Fall Mannesmann ging die Kungelei Barnevik konnte die ganze Aufregung wickelten sich die hiesigen Vorstands- gar so weit, dass jetzt die Staatsanwalt- nicht verstehen. Er habe halt, rechtfertig- gehälter vergleichsweise bescheiden. Dann schaft wegen Untreue ermittelt – unter an- te er sich, „ein amerikanisches Vergü- entdeckten die Manager den Shareholder- derem gegen den Metaller Zwickel. Auch tungsniveau in einem europäischen Mi- Value – und dessen segensreiche Wirkung er saß nämlich im vierköpfigen „Ausschuss lieu“ gehabt. auf das eigene Einkommen. für Vorstandsangelegenheiten“, der kurz Ähnliches mag Frankreichs Manager- Es war DaimlerChrysler-Chef Jürgen Star Jean-Marie Messier empfunden ha- Schrempp („Profit, Profit, Profit“), der das * Ferdinand Piëch (2. v. r.), damals VW-Vorstandschef, ben, als die Vivendi-Hauptversammlung amerikanische Denken als Erster importier-

FRANK MÄCHLER / DPA (L.); JÖRG CARSTENSEN / DPA (M.); STEFAN BONESS / IPON (R.O.), SEAN GALLUP / GETTY IMAGES R.M.); MARC DARC R.M.); MARC / GETTY IMAGES SEAN GALLUP BONESS / IPON (R.O.), (M.); STEFAN / DPA (L.); JÖRG CARSTENSEN / DPA MÄCHLER FRANK bei einem Bankett am 8. Mai 2001 in Köln. ein zwei Milliarden Euro schweres Op- te, und er fand bald viele Nachahmer. Denn

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betont die Bank. Woher also kommt der üppige Geldsegen für die Chefs der Dresdner? Die Bank habe ihren lei- tenden Mitarbeitern einen Long-Term-Incentive-Plan ge- währt, so die offizielle Stel- lungnahme, und der sei „ver- gangenes Jahr für die erfolg- reichen Jahre 1999 und 2000 fällig geworden“. Es gehört allerdings viel Chuzpe dazu, das Jahr 2000 als erfolgreich zu bezeichnen. Die Bank erwirtschaftete ei- nen operativen Verlust von

EXCEPTIONS / ACTION PRESS (L.); G. CHLEBAROV / SABINE BRAUER (R.) BRAUER / SABINE PRESS (L.); G. CHLEBAROV / ACTION EXCEPTIONS rund 500 Millionen Euro, der Top-Verdiener Schumacher, Effenberg (mit Ehefrau Martina): Vorbilder für die Manager natürlich nicht ausgewiesen wurde. Stattdessen verkaufte die Steigerung des Unternehmenswertes gleich zu anderen Dax-Chefs war das sie Münchener-Rück-Aktien im Wert von schafft eine Währung ganz eigener Art: Mit schon damals sehr bescheiden. Doch nur 1,5 Milliarden Euro – und schon stand ein Hilfe der teuren Aktien lassen sich Firmen knapp die Hälfte des Gehalts ist garantiert, Gewinn in der Bilanz. aufkaufen (am besten amerikanische, dann der Rest hängt von Gewinn und Dividen- Derartige Tricksereien sind zwar im muss natürlich das Gehaltsgefüge im Kon- de ab. Statt eines Gewinns erwirtschaftete Bankgewerbe üblich. Aber dass sich die zern nach oben angepasst werden). die Lufthansa im vergangenen Jahr einen Vorstände diesen Erfolg auch noch ausbe- Das Shareholder-Value-Denken brachte Verlust, die Dividende wurde gestrichen – zahlen lassen und sich damit quasi am Ta- aber noch eine weitere Innovation mit sich, und Weber muss sich mit einer halben Mil- felsilber des eigenen Hauses bereichern, die sich bald segensreich auf das Einkom- lion Euro begnügen. das hat schon eine besondere Qualität. men der Bosse auswirken sollte: Options- Dennoch erklärten sich Weber und wei- Trotz all der fetten Optionsprogramme programme. Die räumen Managern das tere 1000 Führungskräfte des Konzerns im ging allerdings der Traum vom richtig Recht ein, ein bestimmtes Aktienpaket der vergangenen November bereit, von Fe- großen Geld nach amerikanischem Vorbild Firma zum Sonderpreis zu erwerben. Ein- bruar bis Juli 2002 ein halbes Jahr lang auf für die meisten deutschen Vorstände nicht lösen dürfen sie die Optionen aber erst zehn Prozent des Grundgehalts zu ver- in Erfüllung. Denn wenn die Aktienkurse nach Ablauf einer bestimmten Frist. Die zichten. „Wir arbeiten härter als je zuvor“, sinken statt steigen, dann sind auch die Option ist in der Regel mit Zielvorgaben ge- stöhnt ein hoher Lufthansa-Manager, „im schönsten Optionen nichts wert. koppelt – zum Beispiel, in welchem Maße Geldbeutel ist davon nichts zu spüren.“ Die Führungskräfte von DaimlerChrys- der Aktienkurs des Unternehmens einen Am tiefsten aber stürzte Ulrich Schu- ler konnten deshalb ihre Aktienoptionen, bestimmten Index schlägt. Der Phantasie macher. Im letzten Geschäftsjahr, das am die sie in den Jahren seit der Fusion beka- und dem Gestaltungswillen der Manager 30. September vergangenen Jahres mit ei- men, nie einlösen. Der Kurs war jeweils sind da jedoch kaum Grenzen gesetzt. nem Verlust von über einer Milliarde Euro unter den Ausübungspreis gesunken. So war der Turbo geschaffen, der die endete, musste sich der fünfköpfige Infi- Doch der Vorstand sieht in den Optio- Vorstandsgehälter, angetrieben von Fu- neon-Vorstand mit dem Grundgehalt von nen offenbar nicht eine Belohnung für eine sionswahn und Börsen- 1,2 Millionen Euro begnü- besonders gute Leistung, sondern eine Art rausch, in ungeahnte Hö- gen – für alle zusammen. Grundrecht auf mehr Geld. Er lässt sich hen trieb. DaimlerChrysler- Schumacher dürfte davon jedes Jahr neue Optionen geben, allerdings Chef Schrempp konnte sein wohl nur 350000 Euro be- auf dem inzwischen niedrigeren Niveau. Gehalt von seiner Amts- kommen. Das ist etwa so, als ob ein Hochspringer, übernahme bis zum Jahr Den Folgen schlechter der 2,20 Meter nicht überspringen kann, 2000 auf fast sieben Mil- Konjunktur- und Börsen- sich die Latte bei jedem Versuch zehn Zen- lionen Euro verfünffachen. zeiten sind aber nicht alle timeter tiefer legt, bis er irgendwann doch Deutsche-Bank-Chef Breu- Bosse gleichermaßen aus- noch die Hürde nimmt. er hat es binnen drei Jahren geliefert. Bei der Dresdner Jetzt sollen die DaimlerChrysler-Mana- mehr als vervierfacht. Bank zum Beispiel stiegen ger für das Jahr 2002 erneut mit Papieren Aber das war alles nichts die Vorstandsbezüge im ka- versorgt werden, die auf dem niedrigen gegen den Shootingstar der tastrophalen Jahr 2001 noch Kursniveau von Jahresanfang basieren.

deutschen Managerszene, MORI / AP FRANCOIS einmal stark an. Wenn die Aktie nach einer bestimmten Ulrich Schumacher. Der In- Vivendi-Chef Messier 7800 Angestellte muss Frist um 20 Prozent über den Referenzkurs fineon-Chef brachte die Aufgebrachte Aktionäre die Dresdner Bank entlas- von 42,90 Euro steigt, können sich die Ma- Chip-Sparte des Siemens- sen, der operative Verlust nager ein nettes Zusatzeinkommen sichern. Konzerns an die Börse, trieb den Kurs ei- von 844 Millionen Euro konnte nur müh- Dazu genügt es schon, wenn der Kurs auf nen kurzen Sommer lang nach oben – und sam durch den Verkauf von Beteiligungen dem aktuellen Stand (51 Euro) stagniert. kassierte dafür schätzungsweise 8,6 Mil- in einen milchigen Gewinn verwandelt Auf der Hauptversammlung des Kon- lionen Euro. werden. Dennoch verdoppelten die Vor- zerns in Berlin gab es deswegen heftige Jetzt ist die Party vorbei, und das spüren stände der im gleichen Jahr von der Al- Kritik. „Die Erholung auf ein normales auch viele Bosse. lianz übernommenen Bank ihr Gehalt im Kursniveau wird bereits als Leistung be- Nicht alle gehen dabei mit so gutem Bei- Schnitt von knapp einer auf nahezu zwei lohnt“, kritisierte Lars Labryga von der spiel voran wie Lufthansa-Chef Jürgen We- Millionen Euro. Schutzgemeinschaft der Kleinaktionäre. ber. Im Jahr 2000 kam er auf ein Salär von Das Grundgehalt blieb gleich, und auch Auch die Telekom-Aktionäre werden immerhin gut einer Million Euro, im Ver- die variable Vergütung wurde nicht erhöht, wenig Verständnis für das Optionsmodell

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des Konzerns haben. Ron Sommer und sei- ne Vorstände haben ihnen bei der dritten Tranche der Telekom-Privatisierung die „Schluss mit Sonderregelungen“ T-Aktie mit einem Preis von 66,50 Euro als lohnendes Investment präsentiert – jetzt ThyssenKrupp-Aufsichtsratschef Gerhard Cromme, 59, über wird das Management schon dann fürstlich die Weigerung deutscher Manager, ihre Gehälter zu veröffentlichen belohnt, wenn der Kurs wieder magere 30 Euro erreicht. SPIEGEL: Herr Cromme, im August sollen se einstreicht, sind doch kaum noch zu Im vergangenen Jahr – dem schlechtes- die von Ihrer Kommission verfassten neu- erklären. ten in der Telekom-Geschichte – erhielt en Spielregeln für mehr Transparenz in Cromme: Ich weiß nicht, ob diese Neid- der achtköpfige Vorstand Bezugsrechte für deutschen Konzernen in Kraft treten. Ist diskussion weiterhilft. Sicherlich sind sol- immerhin rund 1,7 Millionen T-Aktien. Ihr Vorstoß angesichts der gewaltigen che Summen in der Öffentlichkeit immer So steht es, mehr versteckt als veröf- Widerstände gescheitert? wieder Anlass für Diskussionen, aber die fentlicht, in einer sechszeiligen Passage Cromme: Nein, im Gegenteil. Internatio- überwiegende Anzahl deutscher Mana- weit hinten im Geschäftsbericht. Der auf- nal haben wir breiten Zuspruch für den ger oder auch Wissenschaftler wird im merksame Leser kann den zwei dürren Verhaltenskodex erhalten. Und auch in internationalen Vergleich nicht zu hoch Sätzen außerdem entnehmen, dass die Deutschland herrscht Einigkeit, dass bezahlt. Im Gegenteil: Wenn wir in eini- Bezüge des Vorstands im Jahr 2001 um wir im weltweiten Wett- gen Bereichen nichts tun, fast 90 Prozent auf 17,425 Millionen Euro bewerb klare und offe- wandern uns die Spitzen- zulegten. ne Spielregeln brauchen. kräfte ins Ausland ab. Wie viel davon Konzernchef Sommer Kritik gibt es, soweit ich SPIEGEL: Sie plädieren für und seinen Kollegen tatsächlich aufs Kon- das sehe, nur an einzel- höhere Gehälter? to floss, ist dem Bericht nicht zu entneh- nen Punkten … Cromme: Nein. Ich plä- men. Weil in die Bezüge auch noch die SPIEGEL: … die jedoch diere weder für höhere Abfindungen für zwei scheidende Tele- entscheidend sind. Sie noch für niedrigere Ge- kom-Vorstände eingingen, reduziert sich hatten beispielsweise hälter. Jeder soll entspre- die Erhöhung der aktiven Manager. Um gefordert, dass die Vor- chend seiner Leistung be- wie viel genau, bleibt das Geheimnis der standsgehälter jedes ein- zahlt werden, mit einem Telekom – Diskretion Ehrensache.

zelnen Managers detail- HANS-GÜNTHER OED Grundgehalt und einer Vielleicht legen die deutschen Manager liert in der Bilanz aufge- Manager Cromme deutlich größeren leis- ja deshalb so viel Wert darauf, dass ihr deckt werden. Dazu ist „Wirksames Verfahren“ tungsabhängigen Kom- tatsächliches Einkommen für die Öffent- jedoch nach derzeitigem ponente. Ich sage nur: lichkeit kaum ersichtlich ist, weil Leistung Stand kaum ein größeres Unternehmen Wenn sich viele Großkonzerne nun ein- bereit. mal entschieden haben, so hohe Gehäl- Cromme: Warten wir doch mal ab. Ich er- ter zu zahlen, müssen sie auch für ent- warte, dass der Druck der internationa- sprechende Transparenz sorgen. Dann len Finanzmärkte und auch der Öffent- muss Schluss sein mit undurchsichtigen lichkeit so stark wird, dass sich kaum ein Sonderregelungen, die sich jeder Über- Konzern leisten kann, diese simple For- prüfung entziehen. derung nach mehr Transparenz bei der SPIEGEL: Ist das nicht Wunschdenken? In Bezahlung der Topmanager auf Dauer der Realität gleicht mancher Konzern zu ignorieren. eher einem Selbstbedienungsladen für SPIEGEL: Warum sollten gerade die Fi- Topmanager. Ein Unternehmen wie die nanzmärkte Druck machen? Telekom etwa schreibt das schlechteste Cromme: Weil es für Investoren immer Ergebnis seiner Geschichte und erhöht

wichtiger wird, ob sich ein Unternehmen die Vorstandsbezüge. Wären solche Ent- / MODUS JARDAI an klare und nachvollziehbare Spiel- scheidungen mit dem Verhaltenskodex Manager Esser, Gewerkschafter Zwickel (2000) regeln hält. Dazu gehört der Kodex und zu vermeiden? Scheinheilige Argumente damit auch die Frage der Gehälter. Wer Cromme: Nein. Für die Vorstandsgehälter nichts zu verbergen hat, kann die Be- ist jeder Aufsichtsrat auch in Zukunft und Gehalt in so vielen Fällen erkennbar züge der einzelnen Vorstände doch auf- selber verantwortlich. Wir können nur auseinander klaffen. decken. Wer es nicht tut, verspielt enor- darauf hinwirken, dass die Entscheidun- Als ThyssenKrupp-Aufsichtsratschef Ger- mes Vertrauen. gen veröffentlicht werden. Sollte es Aus- hard Cromme, Vorsitzender einer Kom- SPIEGEL: Wieso wehren sich Ihre Mana- wüchse geben, werden die dann öffent- mission im Auftrag der Regierung, den gerkollegen derart massiv? lich diskutiert. Ich halte das für ein deutschen Vorständen unlängst empfahl, Cromme: Wir haben in Deutschland eine äußerst wirksames Verfahren. ihre Gehälter offen zu legen, schlug ihm lange Tradition, nach der Gehälter und SPIEGEL: Direkte Sanktionsmöglichkeiten aus weiten Teilen der Wirtschaft eisige alles, was damit zu tun hat, zur Privat- hat Ihre Kommission aber nicht? Ablehnung entgegen. Bisher wird in den sphäre gezählt werden. Der Abschied Cromme: Nicht im Sinne von Strafmaß- Geschäftsberichten nur pauschal die Sum- von solchem Denken fällt vielleicht noch nahmen. Allerdings wird im Sommer das me der gesamten Vorstandsbezüge ange- ein wenig schwer. Aktiengesetz geändert. Vorstand und geben – ganz im Gegensatz zu den Verei- SPIEGEL: Glauben Sie nicht, dass die Aufsichtsrat werden dann gesetzlich ver- nigten Staaten. Dort herrscht weitgehende Vorstände die Diskussion über ihre pflichtet zu sagen, ob sie sich an den Ko- Transparenz. Gehälter wegen der unglaublichen Sum- dex halten oder nicht. Wenn sie von den Die deutschen Manager möchten gern men scheuen? Bezüge wie die rund Empfehlungen abweichen, müssen sie das beides: US-Gehälter und deutsche Diskre- 11 Millionen Euro, die etwa Deutsche- offen legen. Das kann dann jeder nach- tion – die beste aller Welten. Bank-Chef Rolf Breuer schätzungswei- lesen. Interview: Frank Dohmen Dinah Deckstein, Dietmar Hawranek, Armin Mahler, Wolfgang Reuter

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Harte Auslese“ HypoVereinsbank-Chef Albrecht Schmidt über das Versagen der Geldinstitute im Fall Kirch, die generelle Strukturkrise seines Gewerbes und die Angst, von einem ausländischen Konkurrenten geschluckt zu werden

SPIEGEL: Herr Schmidt, die Banken haben dem Wachstum des Konzerns angepasst. Da SPIEGEL: Sie müssen schließlich um Ihre Leo Kirchs Medienimperium jahrelang mit fehlte die vom Markt, aber auch von Ge- 460 Millionen kämpfen. aberwitzig hohen Krediten gestützt. Den- schäftspartnern geforderte Transparenz. Schmidt: Langsam, langsam! Wir sitzen noch – oder deshalb – ist der Konzern nun Derlei ist übrigens nicht untypisch für große auf mehreren Werten. Denken Sie an zusammengebrochen. Haben die Geld- Unternehmerpersönlichkeiten. KirchMedia: Da hängt die Mehrheit an der häuser versagt? SPIEGEL: Tatsache bleibt, dass dieses Impe- ProSiebenSat.1 Media AG dran. Zudem Schmidt: Nein. Auch bei Kirch haben wir rium mit wahnsinnigen Schulden aufge- gibt es Kirchs Filmstock. Das sind alles Ver- alle Kredite und Aktivitäten sehr sorgfältig baut wurde. mögenswerte, für die sich viele Leute jetzt überlegt und auf den Weg gebracht. Und Schmidt: Entscheidend ist, welches Ver- sehr interessieren. die anderen Banken, soweit ich das beur- mögen diesen Krediten gegenübersteht. Ich SPIEGEL: Wie viel von Ihren Krediten wer- teilen kann, taten das Gleiche. halte viele Werte, die Kirch aufgebaut hat, den Sie am Ende abschreiben müssen? SPIEGEL: Dann dürfte Kirch ja nicht vor der nach wie vor für hochinteressant. Schmidt: Ich hoffe: nichts. Ich sage das mit Pleite stehen. SPIEGEL: Allein Ihre HypoVereinsbank hat großem Ernst, denn mit der geordneten Schmidt: Das eine hat mit dem anderen an Kirch 460 Millionen Euro verliehen und Insolvenz ist es uns gelungen, die Wert- nichts zu tun. Bei Kirch sind zwei Probleme offenbar nicht richtig abgesichert, jeden- vernichtung bei Kirch aufzuhalten. hinzugekommen. Das Unternehmen ist in falls nicht so gut wie die Deutsche Bank, SPIEGEL: Wenn wir Sie richtig verstehen, zu kurzer Zeit zu viele Verpflichtungen ein- die sich über Kirchs 40-Prozent-Anteil am sagen Sie: Kirch ist pleite, aber die Banken gegangen – was zu einem Liquiditätsengpass Axel Springer Verlag freuen kann. haben keine Fehler gemacht. führte. Als dies auch noch publik wurde, Schmidt: Ich nehme zu anderen Banken Schmidt: Hinterher sind immer alle schlau- war es in einer sehr schwierigen Situation. keine Stellung. er. Banken gehen schließlich Risiken ein, Zudem hat Kirch seine Managementstruk- SPIEGEL: Aber Sie sind nicht so fein raus. auch um Unternehmen und Arbeitsplätze turen nicht frühzeitig genug der Größe und Schmidt: Wieso denn nicht? aufzubauen. Entscheidend sind dabei Pro- fessionalität und Sorgfalt bei Übernahme und Abwicklung Kirchs Bankschulden in Euro der Risiken. Und überhaupt: Bayerische Landesbank 2020 Mio. Ob Kirch, wie Sie unterstel- SICHERHEIT: Premiere-Anteile, Formel-1- len, überschuldet ist, muss erst Anteil, Filmrechte, nachrangig Springer-Anteil noch bewiesen werden. Deutsche Bank SPIEGEL: Selbst die Banken- Springer-Anteil 615 Mio. aufsicht prüft zurzeit, ob die Dresdner Bank Geldhäuser zu gutgläubig Pfandrecht* Telecinco-Anteil (25 %) 460 Mio. waren. Schmidt: Ein völlig üblicher HypoVereinsbank 460 Mio. Vorgang. größtenteils Filmrechte SPIEGEL: So üblich nun auch weitere Banken nicht. Immerhin handelt es ca. 3445 Mio. sich, gemessen an den Schul- *von BayernLB, Commerzbank und DZ Bank in Frage gestellt Albrecht Schmidt trat 1967 in das Vorgänger- institut der heutigen Hypo- Vereinsbank ein, die Bayeri- sche Vereinsbank, die er ab 1990 leitete und konse- quent durch zahlreiche Zukäufe zu Deutschlands zweitgrößtem Geldhaus aus- baute. In diesem Jahr sorg- te der sonst eher zurückhal- tende Schmidt, 64, für Schlagzeilen, als er seinem hoch verschuldeten Kunden Leo Kirch mit einem Ret-

NORBERT SCHNARR / BAUMGARTEN (L.); ANDREAS POHLMANN (R.) (L.); POHLMANN ANDREAS SCHNARR / BAUMGARTEN NORBERT tungsplan zur Seite sprang. HypoVereinsbank-Zentrale in München, Bankchef Schmidt: „Zur rechten Zeit Nein sagen“

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den, um das größte Insolvenzverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik. FERNSEHEN Schmidt: Widerspruch, Euer Ehren! Die Größe bemisst sich nicht an der Höhe der Schulden. Sie müssen immer die Werte ei- „Unverzeihliches Eigentor“ nes Unternehmens dagegenstellen. Sie können auch die Zahl der Arbeitsplätze Zerbricht die Solidarität der Fußball-Bundesliga an der Kirch-Krise? nehmen – dann gab es viel größere Pleiten, Ein neuer Fernsehpartner für die Fußballer ist nicht in Sicht. nördlich der Main-Linie. SPIEGEL: Sie wollten von Kirch für 1,1 Mil- m Tag des heillosen Chaos holte Garantien konnte der Insolvenzver- liarden Euro den Springer-Anteil überneh- Bayer Leverkusens Manager Rei- walter nur für jene Spiele abgeben, die men, Kirch Liquidität verschaffen, die Si- Aner Calmund die Meinung seines nach der Insolvenz übertragen werden – tuation beruhigen und die Insolvenz ver- engsten Geschäftspartners ein. Was er ebenjene 21 Millionen Euro, auf die sich meiden. Warum ging das schief? von einem Bildschirmboykott als Druck- DFL und Kirch am vergangenen Freitag Schmidt: Die Beruhigung ist eingetreten. mittel halte, wollte das Fußball-Schwer- vorläufig einigten. Wir haben bei KirchMedia ein geordnetes gewicht am Donnerstagabend von Diet- Dass sich die DFL-Spitze, wie sie selbst Insolvenzverfahren. mar Kuhnt wissen. Der Vorstandschef behauptet, von einigen Clubs unter SPIEGEL: Aber Ihr Angebot ist doch nicht des Bayer-Sponsors RWE gab eine klare Druck setzen ließ, zeigt die unterschied- zum Tragen gekommen. Antwort. Fußball müsse ein unantastba- liche Interessenlage der 36 Profi-Vereine: Schmidt: Manchmal muss man nur ein An- res Volksgut bleiben, forderte der Esse- hier die Großen, die sich aus den fetten gebot vorlegen, damit andere bessere ner Konzernmanager. Trögen der Champions League nähren Angebote drauflegen. Calmund, der volksnahe Strippenzie- und mit Adidas oder Telekom paktieren; SPIEGEL: Warum ist noch nichts passiert? her, fühlte sich bestätigt. Freitag früh dort die Kleinen, die bis zu zwei Drittel Schmidt: Wenn das so einfach wäre! machte er den Verantwortlichen der ihrer Einkünfte aus den nationalen TV- SPIEGEL: Wie bewerten Sie die Verbindun- Deutschen Fußball Liga (DFL) klar, was Verträgen beziehen. Erste Clubmanager gen der neuen Kirch-Geschäftsführer zur er von dem Ultimatum gegenüber sei- drohen, „die Solidarität aufzukündigen“ Investorengruppe Cobra? nem TV-Lizenzpartner KirchMedia hält: – die DFL, gerade mal 54 Wochen alt, Schmidt: Ich kenne nur, was im SPIEGEL „Schon allein die Drohung ist ein unver- steht vor der Zerreißprobe. stand. Es ist immer gut, wenn die Leute zeihliches Eigentor.“ Einfacher werden die Bunte Bilder gab es am Sonnabend nächsten Monate nicht. zwar dann reichlich vom vorletzten Bislang hat mit der DFL Spieltag der Saison. Das Image der Bun- nur der Medienhändler desliga aber hat unter dem Laientheater Herbert Kloiber über im Vorfeld mächtig gelitten. Statt ein ef- den Kauf der TV-Rechte fizientes Krisenmanagement zu betrei- verhandeln wollen. Die- ben, irrlichterte die DFL-Führung von sen Montag reist DFL- einem Fettnapf in den nächsten. „Ich bin Manager Straub zu ei- entsetzt über so wenig Fingerspitzenge- nem zweiten Gespräch fühl gegenüber den Fans“, wetterte Bay- nach München. ern Münchens Boss Karl-Heinz Rum- Kloibers Angebot menigge. wird deutlich unter den Die Idee der Vereine, sich vom ver- 460 Millionen Euro lie- krusteten Deutschen Fußball-Bund zu lö- gen, die Kirch für die sen und als Marke zu etablieren, droht zu Saison 2003/04 garan- scheitern. Noch gut in Erinnerung ist der tiert hatte. Zudem denkt Reinfall, als sich DFL-Geschäftsführer Kloiber nicht daran, Wilfried Straub die Verlegung der Sat.1- den Ausputzer zu ge- Fußballshow „ran“ in die Abendstunden ben. „Am wohlsten“ abhandeln ließ – die Quoten rauschten in wäre ihm, sagt er, „wir den Keller, das Experiment musste nach könnten im August 2003 Bundesliga-Stars: „Hinterher sind immer alle schlauer“ wenigen Spieltagen abgebrochen werden. übernehmen“. Bislang, sagt Leverkusens Geschäfts- Andere Bieter gibt es in diesen Tagen bei solchen Abwicklungen interessen- führer Wolfgang Holzhäuser, „hat die nicht. Weder die Öffentlich-Rechtlichen neutral sind. DFL ihre Aufgabe als Dienstleister nicht noch private Unternehmen wie der Ber- SPIEGEL: Bis zum Beweis des Gegenteils ge- erfüllt.“ Schalkes Manager Rudi Assau- telsmann-Ableger Sportfive verhandeln hen Sie davon aus, dass sie es sind? er spottet: „Es hat sich nichts groß ver- derzeit. Michael Pfad, Mediendirektor Schmidt: Ich hoffe es. ändert, außer dass die DFL Kosten ver- der DFL, wappnet sich bereits seit vori- SPIEGEL: Geben Sie uns mal eine Prognose: ursacht.“ ger Woche für den „worst case“. Bis Au- Wie geht es weiter mit KirchMedia, Pay-TV Taktische Fehler werfen diverse Clubs gust will der ehemalige Premiere-Sport- und den Beteiligungen? auch dem DFL-Präsidenten Werner chef die Infrastruktur aufgebaut haben, Schmidt: Bei KirchMedia gibt es mehrere Hackmann vor. Der hatte kurz nach dem die TV-Bilder aus den neun Stadien eines Interessenten, aus dem In- und Ausland. Es Insolvenzantrag von KirchMedia öffent- Spieltages selbst zu produzieren – quasi gibt auch nicht nur einen Interessenten bei lich versichert, die letzte Saisonrate über einen DFL-Kanal „mit eigenem Regie- Pay-TV. Es wird also für alles Lösungen ge- 100 Millionen Euro (fällig am 15. Mai) sei konzept“. ben. Inzwischen ist vieles auf einem guten gesichert. Die Vereine mochte er damit Fragt sich nur noch, wer Pfad & Co. Weg. Ich hoffe, dass im nächsten halben kurzfristig beruhigen, den Gläubigeraus- die teuren Bilder abkauft und sendet. Jahr die Umstrukturierung steht. schuss machte er stutzig. Jörg Kramer, Marcel Rosenbach SPIEGEL: Trotzdem: Die Banken fallen im- mer wieder auf Leute wie Kirch herein,

114 der spiegel 18/2002 denen sie Milliarden hinterherwerfen, SPIEGEL: Warum sind sich die Banken bei während der Kleinsparer um jeden Euro Konzernrettungen nicht mehr einig wie betteln muss. früher? Schmidt: Das ist Schwarzweißmalerei … Schmidt: Wir sind nicht mehr in einem rei- SPIEGEL: … die nicht ganz von der Hand zu nen Schönheitswettbewerb, sondern in ei- weisen ist … nem harten Ausleseprozess. Da kann es Schmidt: … aber in der Pauschalisierung sich niemand leisten, eine Firma, die auch eindeutig übertrieben ist. Richtig ist, dass künftig keine Chance haben wird, weiter die Banken den Mittelständlern zu mehr durchzufüttern. Das wäre auch volkswirt- Eigenkapital verhelfen müssen. Die durch- schaftlich unsinnig. schnittliche Eigenkapitalquote im Mittel- SPIEGEL: Die Konsens-Ära ist also vorbei? stand liegt unter 15 Prozent. Da müssen Schmidt: Es gibt noch Fälle gemeinsamen Sie als Banker sagen: Mit Krediten allein ist Interesses. Denken Sie an die Schmidt-

dir nicht geholfen. Wir müssen uns ge- Bank. Wenn die kaputtgegangen wäre, hät- POHLMANN ANDREAS meinsam bemühen, dass du mehr Eigen- te es auch den Online-Broker Consors Schmidt (M.), SPIEGEL-Redakteure* kapital und einen höheren Risikopuffer und viele Mittelständler erwischt. So ver- „Die große Einigkeit gibt es nicht mehr“ bekommst. standene Transparenz und Effizienz soll- SPIEGEL: Wenn die Wirtschaft wieder te es auch künftig in Corporate sind ein bisschen früher aufgestanden – boomt, werden die Banken, wie immer, geben. und die Früchte zeigen sich bereits. Ich bin der Gier verfallen und aufstrebenden Fir- SPIEGEL: Die Dresdner Bank hat sich bei zwar mit unserem Ergebnis 2001 von 6,5 men das Geld hinterherwerfen. Einfach, Kirch flugs noch Sicherheiten besorgt, auf Prozent Eigenkapitalrendite nicht zufrie- um mitzuverdienen. die andere Banken, notfalls mit rechtlichen den, denn wir wollten über 10 liegen, aber Schmidt: Ich stimme Ihnen zu: Das ist eine Schritten, Ansprüche erheben. die anderen schrammen an der Nulllinie Gefahr, die eine gute Bank vermeiden Schmidt: Ich gebe ja auch zu: Die ganz entlang. muss. große Einigkeit gibt es heute nicht SPIEGEL: Die Börse bewertet Ihre Leistung SPIEGEL: Wie wollen Sie das anstellen? mehr. offenbar schlechter als Sie selbst. Schmidt: Wir sind auch in guten Phasen SPIEGEL: Weil wir mitten in einer großen Schmidt: Wieso? Seit Jahresbeginn schlägt kritisch. Nehmen Sie den Fall Schneider, Bankenkrise stehen, wie Ihr Kollege Breu- unser Kurs nicht nur die deutschen Wett- bei dem es heute ja kein Bankgeheimnis er nicht müde wird zu behaupten? bewerber, sondern auch den Dax. SPIEGEL: Allerdings auf niedrigem Niveau. Die britische Bank Lloyds TSB will bei- spielsweise ins deutsche Filialwesen ein- steigen, also in Ihr Kerngeschäft. Für die wären Sie doch ein Schnäppchen. Schmidt: Ich muss meinen Börsenkurs wei- ter nach oben bringen, gar keine Frage. Und das machen wir auch, trotz schwacher Konjunktur. SPIEGEL: Lloyds könnte Sie quasi aus der Portokasse zahlen. Schmidt: Das glaube ich nicht. Die Markt- kapitalisierung von Lloyds ist auch kräftig runtergesaust, um 22 Prozent. Zudem ist die HypoVereinsbank ein zäher Brocken. Und wir sind gewohnt zu kämpfen. SPIEGEL: Jedenfalls könnte Lloyds eine Übernahme ebenso stemmen wie etwa die Citigroup. Schmidt: Natürlich, wenn sie wollten. Und FIRO ACTION PRESS ACTION dann? ProSieben-Quotenhit „Star Wars – Episode 1“: „Hochinteressante Werte“ SPIEGEL: … ist die HypoVereinsbank in drei Jahren nicht mehr eigenständig. mehr gibt. Wir waren Schneider eng ver- Schmidt: Nein, aber in einer typischen Um- Schmidt: Doch. Und vor allem erfolgreich. bunden, als er ein kleiner Schneider war. bruchphase – wie die Automobilindustrie SPIEGEL: Da sind Sie ganz sicher? Als er anfing, den Fürstenhof in Frankfurt in den neunziger Jahren. Auf die Unter- Schmidt: Ganz sicher. zu bauen, haben wir gesagt: Das ist eine nehmen hat damals keiner mehr einen SPIEGEL: Wer wird dann an der Spitze ste- Nummer zu groß für dich. Dann kam er Pfifferling gegeben. Volvo, Saab und Ja- hen? Sie wollen eine interne Lösung. Aber noch mal und sagte: Was bin ich für ein guar verloren ihre Unabhängigkeit. Aber die Gerüchte, dass der Ex-Deutsche-Bank- toller Kerl! Ich habe den Fürstenhof so die, die überlebt haben, sind stärker Vorstand Thomas Fischer den Job be- schön an die Japaner verkauft. Jetzt macht als zuvor: VW, DaimlerChrysler, BMW, kommt, reißen nicht ab. ihr aber bitte beim nächsten Projekt wieder Porsche. Schmidt: Mein Nachfolger ist an Bord. Ge- mit. Da haben wir gesagt: Du hast ein- SPIEGEL: Bezogen auf die Banken hieße dulden Sie sich bitte bis zum vierten Quar- mal Glück gehabt. Aber wir machen auch das: Es werden nur wenige übrig bleiben? tal dieses Jahres. hier nicht mit. Ein Banker muss seinen Schmidt: Ja. Es sind schon ein paar ganz SPIEGEL: Ihr Aufsichtsrat teilt Ihren Vor- Kunden auch zur rechten Zeit Nein oder teilweise ausgeschieden, in Berlin und schlag? sagen. Hof zum Beispiel, aber nicht nur dort. Wir Schmidt: Ich denke, er kann damit zufrie- SPIEGEL: Kirch ist einfach zu anderen Ban- den sein. ken gegangen. * Armin Mahler und Wolfgang Reuter am vergangenen SPIEGEL: Herr Schmidt, wir danken Ihnen Schmidt: Das ist sein gutes Recht. Montag in der Münchner HypoVereinsbank-Zentrale. für dieses Gespräch.

der spiegel 18/2002 115 Werbeseite

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gen und stattdessen mit den weltweit auf solvenzverfahren des Münchner Medien- AFFÄREN Platz vier stehenden Kollegen von Ernst unternehmers Leo Kirch. & Young in Deutschland zu fusionieren. Schon 1998 hatte Kirch die KPMG zu Zahlenkolonne Nicht zuletzt der jüngste, besonders pein- seinem Bilanzprüfer bestellt. Seither wälz- liche Prüfungs-Fauxpas der Berliner, so se- ten die Profis die Abschlüsse aller wesent- hen es Insider, hätte die Stimmung bei den lichen Kirch-Gesellschaften und hatten in Verruf ebenfalls angeschlagenen Andersens um- somit tiefen Einblick in das schwer durch- schlagen lassen. schaubare Firmengeflecht. Schulden, Wer- Holzmann, Comroad, Phenomedia Eine Sonderprüfung des inzwischen vom te, Kreditfälligkeiten – die Zahlenkolonne Neuen Markt verbannten Telematik-An- der KPMG kannte viele der vertraulichsten – die Wirtschaftsprüfer von KMPG bieters Comroad hatte ergeben, dass schon Daten des Kirch-Imperiums. geraten in die Schusslinie. Wie 1998 rund 63 Prozent des Umsatzes mit ei- Noch im Frühjahr 2001 sahen die Prüfer aussagekräftig sind ihre Testate? ner gar nicht existenten VT Electronics Ltd. bei der Kernfirma KirchMedia keinen An- Schon droht der nächste Fall. in Hongkong getürkt worden waren, im lass zur Beunruhigung: Mit Datum vom 25. darauf folgenden Jahr bereits 86 und im Mai testierte die KPMG in ihrem „Bestäti- och Anfang des Monats schien sich Jahr 2000 sogar 97 Prozent – geprüft und gungsvermerk“ die KirchMedia-Bilanz für für den Vorstandssprecher der Wirt- für gut befunden von Wiedmanns Prüfern, das am 31. Dezember 2000 abgelaufene Ge- Nschaftsprüfer von KPMG Deutsch- die sich nun die Frage gefallen lassen müs- schäftsjahr uneingeschränkt: „Unsere Prü- land, Harald Wiedmann, alles zum Guten sen: Was sind ihre Testate überhaupt wert? fung hat zu keinen Einwendungen geführt.“ zu wenden: Glänzende Geschäftszahlen Nach Comroad war KPMG mit einem Ein Urteil, das nach Eröffnung der vor- ließen Bilanzskandale wie beim Milliar- weiteren Aufsteiger des Neuen Marktes läufigen Kirch-Insolvenz Ende März erheb- denbetrug des schwäbischen Bohrunter- ins Zwielicht geraten. Gegen den Moor- liche Fragen aufwirft – zumal Wirtschafts- nehmens Flowtex oder des Baukonzerns huhn-Erfinder und KPMG-Kunden Phe- prüfer laut Gesetz ein uneingeschränktes THOMAS GEIGER (R.) THOMAS

Phenomedia-Spiel Moorhuhn 2, KPMG-Chef Wiedmann: Frisierte Bilanzen DEUTSCHLAND Philipp Holzmann, in die Wiedmanns Leu- nomedia ermittelt die Bo- Testat nur erteilen dürfen, te verwickelt waren, für kurze Zeit in Ver- chumer Staatsanwaltschaft UMSATZ 2001 1,5 Mrd. ¤ wenn sie die Liquidität und gessenheit geraten. wegen frisierter Bilanzen. damit den Fortbestand ei- Von einem „Spitzenjahr für KPMG“ Phenomedias Vorstandschef BESCHÄFTIGTE 9200 ner Firma für mindestens konnte er schwärmen, mit einem Umsatz- Markus Scheer und sein Fi- zwölf weitere Monate gesi- sprung von 25 Prozent auf 1,5 Milliarden nanzvorstand Björn Den- STANDORTE 30 chert sehen. Euro und einem gewaltigen Satz an die hard wurden vom Aufsichts- Die KirchMedia musste erste Stelle der Unternehmensprüfer in rat fristlos entlassen. aber bereits Anfang April Deutschland. Zweistelliges Wachstum sah Ein verzweifelter Versuch der KPMG- zum Konkursrichter – nur knapp elf Mo- Wiedmann auch für 2002 vor – und zudem Mannen in der vorigen Woche, den neu- nate nach dem Vermerk. KPMG kann sich eine zukunftssichernde Fusion. erlichen Imageschaden offensiv zu be- nur auf die bei Wirtschaftsprüfern belieb- „Auf sehr gutem Wege“ sei die KPMG grenzen, schlug kläglich fehl: Wiedmann te Argumentation zurückziehen, es gelte Deutschland, mit dem deutschen Teil des kündigte an, alle 45 von seinem Unter- das Datum des abgelaufenen Geschäfts- Konkurrenten Arthur Andersen zusam- nehmen bereits geprüften und testierten jahres und nicht das des Testats – eine Auf- menzugehen, der sich nach der Skandal- Neue-Markt-Kunden noch einmal unter fassung, die in der Fachliteratur und der pleite des amerikanischen Energieriesen die Lupe nehmen zu wollen. Hämisch Branche umstritten ist. Enron selbst zur Zerschlagung freigegeben kommentierten Konkurrenten, die KPMG „Zumindest ungewöhnlich“ nennt das hatte. Ein Memorandum sei unterschrifts- traue wohl ihrer eigenen Arbeit nicht mehr. Kirch-Urteil Claus-Peter Weber, Professor reif. Wiedmann hoffnungsfroh: „Dieser Doch die Berliner geraten nicht nur mit für Wirtschaftsprüfung an der Universität Schritt positioniert uns gut für eine erfolg- ihren Testaten am Neuen Markt in Verruf. des Saarlands in Saarbrücken. „Schon die reiche Tätigkeit auch in Zukunft.“ Als hätte sich alles gegen das Unterneh- im Geschäftsbericht veröffentlichten Zah- Vorige Woche war Schluss mit Visionen. men verschworen, spielt der Name der len“, so Weber, „zeigen doch, dass Kirch- In einer außerordentlichen Versammlung Wirtschaftsprüfungsgesellschaft auch bei Media auf eine erhebliche Liquiditätsenge in Eschborn beschlossen die Andersen- der spektakulärsten Pleite der deutschen zumarschierte – darauf wird nicht hinge- Partner, KPMG die kalte Schulter zu zei- Nachkriegsgeschichte eine Rolle: dem In- wiesen“. Heiko Martens, Marcel Rosenbach

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Dennoch hielten sich die Linzer mit Ju- Trotz guter Ideen wie dem umwelt- UNTERNEHMEN belarien und Selbstlob immer zurück. freundlichen „Green PC“ blieb die Firma Oberlehners Devise heißt: „Den Ball flach ein Winzling. Erst mit der Umbenennung Mit Terminator halten!“ Für den Mann, der auf einem Bau- in Gericom AG und dem Börsengang Ende ernhof aufwuchs und sein Arbeitsleben als 2000 kam der Durchbruch. Automechaniker begann, ist es ohnehin Dabei war der neue Firmenname nicht in die Nische schon „manchmal unheimlich, wie weit ich mal erste Wahl: 17 andere Ideen wurden es gebracht habe“. von den Juristen abgeschmettert. Am Ende Preisgünstige Notebooks ver- Weil ihn sein Job als Mechaniker schon blieb die Kurzform von „German Industry bald nicht mehr ausfüllte, besuchte Ober- Computers“ – eine Referenz an die Deut- schafften der unbekannten lehner nebenher die Abendschule, mach- schen, deren Mentalität Oberlehner „näher Firma Gericom die Spitzenposition te 1983 sein Abitur nach, studierte Be- liegt als der Fatalismus der Österreicher“. im Laptop-Markt. Nun triebswirtschaft und bekam schließlich Nach dem Börsengang legte seine Firma schlägt die Konkurrenz hart zurück. eine Stelle als Vorstandsassistent beim ein beeindruckendes Wachstumstempo vor. Der Nettogewinn verdop- er Mann mit dem pelte sich sogar, denn auch knarrenden österrei- beim Personal hält Oberleh- Dchischen Akzent platz- ner den Ball flach. Er beschäf- te fast vor Stolz. Zum ersten tigt nur 300 Mitarbeiter – da- Mal, tönte Hermann Oberleh- von etwa 80 in der Produk- ner, sei es gelungen, einen De- tion. Sie legen in einem sign-Computer zu bauen, der hochmodernen Werk in Linz „sowohl im Büro als auch am letzte Hand an die Laptops, Himalaja eingesetzt werden die zu 95 Prozent vormontiert kann“. Selbst für James Bond aus Taiwan und China gelie- sei das neue Notebook „bes- fert werden. tens geeignet“. Nach Oberlehners Blitzsieg Sein Freiluft-PC mit der Ty- im vergangenen Jahr ist auch penbezeichnung X5, getestet die Konkurrenz aufgewacht. von dem Schnellskifahrer Vor allem der japanische To- Harry Egger bei einem Welt- shiba-Konzern, weltweit die rekordversuch am Arlberg, Nummer eins im Laptop-Ge-

werde eine „neue Ära einläu- ANZENBERGER (2) AGENTUR schäft, schlägt hart zurück und ten“. Denn der Markt, glaubt Gericom-Chef Oberlehner, Montage (in Linz) konnte Ende März die Spit- Oberlehner, „hat sich total ge- „Den Ball flach halten!“ zenposition in Deutschland dreht“. Früher wollten die vorerst zurückerobern. Ober- Kunden möglichst leistungs- österreichischen Stahlkonzern lehner dagegen verbuchte im ersten Quar- starke Notebooks, „jetzt geht Voest-Alpine. tal ein Minus und setzt alle Hoffnungen es hin zu mehr Mobilität“. „Der Intrigenstau bei auf das zweite. Flotte Sprüche wie am ver- Voest“ schreckte den Aufstei- Angesichts eines drohenden Preiskriegs, gangenen Donnerstag bei der ger schnell wieder ab. Anfang bei dem der Aufsteiger langfristig keine Vorstellung des neuen Com- der neunziger Jahre, als Fir- Chance hätte, ändert er nun seine Strate- puters sind von Oberlehner, mengründer wie Theo Lieven gie. „Wir müssen unsere Zukunft in der 47, selten zu hören. Meist hält bei Vobis, Manfred Schmitt bei Nische sichern“, lautet die neue Parole. sich der Gründer der Firma Escom oder Jochen Tschunke Zunächst will Oberlehner die Marke Gericom diskret zurück. Seine Spezialität bei Computer 2000 in Deutschland Furore Gericom stärker profilieren. Sein Vorbild sind preisgünstige Laptops, die als Son- machten, gründete Oberlehner in Linz eine ist der österreichische Getränkehersteller derangebote von Elektronikketten wie Firma mit dem kryptischen Namen S plus Red Bull, der sogar in den USA zu einer Media Markt, aber auch vom Lebensmittel- S GmbH und begann mit der Endmontage Kultmarke wurde. Die erste Chance, dem discounter Lidl zwischen Nudeln und Nu- von Computern. Vorbild nachzueifern, sieht Oberlehner im tella in großen Mengen verhökert werden. unkonventionellen X5 und in einem ge- Damit hat es der Österreicher weit ge- rade unterzeichneten Vertrag mit dem bracht. Vergangenes Jahr übernahm die Wachstum trotz Krise österreichischen Hollywood-Star Arnold nahezu unbekannte Firma aus Linz die Die Gericom AG Schwarzenegger. Spitzenposition auf dem Laptop-Markt in Veränderung gegenüber dem Vorjahr Arnie wird demnächst für das Note- Deutschland und Österreich. Ähnlich wie book werben. Außerdem soll es im neuen der US-Unternehmer Michael Dell im GEWINN 2001 Schwarzenegger-Film „Terminator 3“ pro- Bereich der Bürocomputer an die Spitze UMSATZ 2001 minent ins Bild gerückt werden. stürmte, verdrängte Gericom fast im Hand- 539,9 +62% 18,5 +100% Oberlehner ist begeistert von der Ver- streich die als unschlagbar geltenden Platz- Mio. ¤ Mio. ¤ bindung aus Kino und Computer und hirsche Toshiba, Compaq und Fujitsu Sie- träumt schon in anderen Dimensionen: mens, die bei Laptops eine Art Preiskartell AKTIE in Euro „Als James Bond den Z8 fuhr, bekam gebildet hatten. 35 BMW riesigen Auftrieb in den USA“, er- Vergangene Woche wurde Gericom innert sich der Gericom-Chef. „Warum noch auf besondere Weise geadelt: An Stel- 25 sollte das mit dem X5 nicht genauso le der wegen betrügerischer Manipulatio- klappen?“ nen verbannten Comroad AG rutschte das Doch dann rudert er gleich wieder zu- Unternehmen in den Neuer-Markt-Index 15 2001 2002 rück: „So berühmt wie BMW werden wir Nemax 50. NDJ FMAMJ J ASOND J FMA nie.“ Klaus-Peter Kerbusk

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aus einem internen „Strategiepapier Chi- Kunden wie Nokia, Siemens oder Shell. LOGISTIK na“ hervor, zum wichtigsten ausländischen Und selbst im klassischen Briefbereich ist Logistikdienstleister in China werden. Und die Post über mehrere Joint Ventures mit Gelbe Offensive das so schnell wie möglich. lokalen Partnern engagiert. Ende Februar bereits war Zumwinkel Zumwinkel will mehr: Über eine halbe Mit Milliarden-Investitionen zusammen mit seinem Aufsichtsratschef Milliarde Euro sollen allein im laufenden Josef Hattig zu einem Blitzbesuch nach Pe- Jahr noch in Niederlassungen, Standorte, plant die Deutsche Post king gestartet, um mit der chinesischen Re- Lager- und Sortieranlagen in China inves- den Einstieg in den riesigen gierung über den Einstieg des gelben Rie- tiert werden. Die Deutsche Post AG, heißt chinesischen Markt – ein sen in den Milliarden-Markt zu verhan- es in dem internen Strategiepapier, soll in Kraftakt mit ungewissem Ausgang. deln. Das Ergebnis der Gespräche: Die dem florierenden „asiatisch-pazifischen Chancen für einen Ausbau der Geschäfte Raum zum führenden Anbieter in allen us Sicht der Investoren hatte Klaus sind hervorragend. Logistikbereichen ausgebaut werden“. Zumwinkel fast nur positive Mel- Schon heute ist die Deutsche Post in Chi- Doch den gewaltigen Chancen in dem Adungen parat. Umsatz und Gewinn na der führende ausländische Anbieter von Markt mit seinen 1,2 Milliarden Konsu- der Deutschen Post AG, verkündete der Logistikdienstleistungen. So verfügt der menten, wissen Experten, stehen auch Ri- Rheinländer kürzlich am Konzernsitz in Anfang des Jahres von der Post mehrheit- siken gegenüber. So sind die Rahmenbe- Bonn, seien gewachsen, das Unternehmen lich übernommene Luftfracht-Experte dingungen für Investitionen alles andere habe mehr als drei Milliarden Euro in der DHL über einen Marktanteil von mehr als als sicher. Beim Briefdienst beispielsweise Kasse. 35 Prozent. Konkurrenten wie die US- darf sich die Post in den unterschiedlichen Weil sich alles so günstig entwickelt, will Größen UPS oder Fedex kommen lediglich Regionen Chinas nur als kleiner Minder- Zumwinkel kräftig expandieren. Und zwar auf 9 beziehungsweise 11 Prozent. heitsgesellschafter bestehender Postdiens- in Europa: Dort, so der Post-Chef, seien die Zwar ist das Marktvolumen mit knapp te engagieren. Ob die vergebenen Lizen- Bedingungen durch die Liberalisierung des 300 Millionen Euro bei Luftexpressdiensten zen zur Beförderung von Paketen und Briefdienstes gerade sehr günstig. In Eng- für 2001 noch relativ gering. Aber die pro- Briefen erhalten bleiben oder vielleicht land oder Italien beispielsweise könne sich gnostizierten Wachstumsraten sind enorm. sogar ausgeweitet werden, ist alles andere der Logistikkonzern weitere Zukäufe vor- Schon bis zum Jahr 2005, heißt es in der als sicher.

DHL-Flugzeuge Pflöcke rechtzeitig einschlagen

Außerdem gibt es Zweifel, ob Post-Chef Zumwinkel die zahlreichen Unternehmen, die er in den vergangenen vier Jahren in Europa und den USA in einer bis dato ein- zigartigen Einkaufstour übernommen hat, auch in den Gesamtkonzern integrieren

ARGUM (R.) kann. Vielleicht, warnen Kritiker des Of- Werbung der Post in Pekinger Zeitung: Ausbau zum führenden Anbieter fensivdrangs, wäre es gesünder, vor weite- ren Expansionen erst einmal eine Pause stellen. Was Zumwinkel der Öffentlichkeit Post-Studie zu China, werde das Volumen einzulegen, um eine weltweit einheitliche nicht verriet: Die Post mit ihren rund auf rund 500 Millionen Euro anwachsen. Strategie und Marke aufzubauen. 320000 Beschäftigten will ihre Geschäfte Und auch in den Folgejahren dürften die Zumwinkel selbst wischt solche Be- nicht nur auf dem Heimatkontinent ge- Wachstumsraten eher im zweistelligen Be- fürchtungen beiseite. Die Pflöcke auf dem waltig ausdehnen. reich liegen. boomenden chinesischen Markt, sagt er, Im Verborgenen arbeiten Zumwinkel Doch nicht nur bei den Expressdiensten würden jetzt und nicht erst in ein oder zwei und seine Mannen unter Hochdruck an ei- ist die Post nach eigener Einschätzung gut Jahren eingeschlagen. nem wesentlich spektakuläreren Coup: positioniert. Auch der Spediteur Danzas, Vor wenigen Wochen hat das Unterneh- dem Einstieg des deutschen Transport- den sich Zumwinkel 1999 einverleibte, ist men Gespräche aufgenommen, um bei konzerns in den gewaltigen chinesischen seit über zwölf Jahren im China-Geschäft Olympia 2008 in Peking offizieller Logis- Markt. tätig und verfügt über immense Erfahrung. tikpartner zu werden. Angesichts der über- Mehr als eineinhalb Milliarden Euro will So besitzt Danzas als einziges europäisches ragenden Bedeutung, die China diesem das Unternehmen, das sich noch zu 69 Pro- Unternehmen Lizenzen zur Beförderung Ereignis beimisst, gibt sich ein hochrangi- zent in Staatsbesitz befindet, in den nächs- jedweder Güter in China. Mit 20 Nieder- ger Post-Manager überzeugt, „würde uns ten zwei bis drei Jahren im Reich der Mit- lassungen und knapp einem Dutzend La- das einen gewaltigen Schritt voranbrin- te investieren. Die Post AG soll, so geht es gerhäusern versorgt die Firma namhafte gen“. Frank Dohmen

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Werbeseite WOLFGANG MARIA WEBER MARIA WOLFGANG Bundesanstaltschef Gerster: Ein Sozialdemokrat, der klingt, als hätte man ihn irrtümlich bei der Unternehmensberatung ausgeliehen

KARRIEREN Der Effe aus Nürnberg Florian Gerster, neuer Chef der Bundesanstalt für Arbeit, will mit schnellen Reformen den Arbeitsmarkt auf den Kopf stellen. Nun bekommt er Feuer von allen Seiten – vor allem aus den eigenen Reihen. Von Matthias Geyer

eulich, an einem der ersten Tage Neuen, der glaubt, er könne diese schöne Die Bundesanstalt für Arbeit hatte Ge- im April, kam Eberhard Einsiedler Anstalt platt machen, kaum dass er in ihr burtstag. Sie war 50 Jahre alt geworden, es Nin sein Büro in der 16. Etage und eingezogen ist. Er meint Florian Gerster. sollte ein schönes Fest werden im Histori- guckte auf seine Zimmerpflanze. Da wuss- Vergangenen Dienstag war der Tag, an schen Rathaus von Nürnberg, mit Bundes- te er, dass nichts mehr so sein würde, wie dem Eberhard Einsiedler Rache nahm. kanzler, Arbeitsminister und Musik – und es immer war. natürlich mit Gerster, dem neuen Chef der Einsiedler ist seit 29 Jahren bei der Bun- Behörde. desanstalt für Arbeit im Dienst. Irgend- Früh am Morgen zog sich Eberhard Ein- wann in dieser Zeit kaufte er einen Setzling siedler einen braunen Anzug und eine bun- der Art „Dieffenbachia picta“, grub ihn in te Krawatte an. Um zehn stand er auf dem einen Topf und sah ihm beim Wachsen zu. Rathausplatz. Er war nicht allein. 300 Men- Es vergingen Jahre; aus dem Sachbearbei- schen standen da, mit Transparenten und ter Eberhard Einsiedler wurde der Vorsit- roten Trillerpfeifen. Die Dienstleistungs- zende des Hauptpersonalrats. Sein Bauch gewerkschaft Ver.di hatte zu einer De- schwoll an, die Haare fielen ihm aus, und monstration aufgerufen. Es ging gegen der Setzling gedieh zum Baum. Er wuchs Gerster. bis unter die Decke. Bis zu diesem Tag Der Bezirksgeschäftsführer von Ver.di im April. Mittelfranken, ein Mann mit Halbschu- Der Baum war in sich zusammenge- hen aus Reptillederimitat, nahm sich ein stürzt. Schicksal? Altersschwäche? Krank- Megafon und las vom Blatt. „Aufbruch? heit? Einfach so? Wir sagen Abbruch.“ – „Demontage des „Man hat ihm das Rückgrat gebrochen“, Sozialstaates.“ – „Dies ist Herr Gerster: sagt Einsiedler. Menschenverachtung.“

„Man“? Er meint ihn. Ihn da unten aus / DPA CLAUS FELIX Nach jedem Satz steckten die Menschen der ersten Etage. Diesen Geschniegelten, Arbeitsminister Riester, Kanzler Schröder ihre Trillerpfeifen in den Mund. Der Red- diesen hemmungslosen Neoliberalen, den Schon wieder ein großer Trümmerhaufen ner war sehr aufgeregt, der Zettel tanzte

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schlanken, privatisieren. Weniger Arbeits- losengeld für die Älteren. Gestaffeltes Ar- beitslosengeld für die Jüngeren. Arbeits- losenhilfe abschmelzen auf das Niveau der Sozialhilfe. Gerster sprach wie Effenberg („Stütze auf Minimum“). Er wirkte nur irgendwie seriöser, auch weil er es nicht dem „Play- boy“ gesagt hatte. Natürlich hat es ihn nicht überrascht, dass alle aufjaulten. Parteilinke, Gewerkschaf- ten, Christdemokraten. „Unverschämtheit“, „sozialpolitische Sauerei“, „Rambo-Metho- den“. Gerster hatte zwar keine Gesetze gemacht, sondern erst mal nur Vorschläge, aber er bekam Feuer, als hätte er gerade den kompletten Sozialstaat zum Einsturz gebracht. Er saß damals noch in Mainz, es waren noch ein paar Wochen hin bis zu seinem Umzug am 27. März, er dachte: Lass sie schreien, kriegen wir alles hin. Sagt ja auch der Kanzler. Nur: Der Kanzler sagte nicht mehr viel, jedenfalls nicht öffentlich. Er darf die Menschen jetzt nicht verschrecken. Gerster ist seit einem Monat in Nürn- berg. Er weiß jetzt, wie die Welt in Nürnberg wirklich aussieht. Die Welt in Nürnberg ist

THOMAS GEIGER THOMAS die Hölle. Gewerkschaftsfunktionäre Kunkel-Weber, Engelen-Kefer*: „Über den Tisch gegangen“ Es ist eine Welt aus 17 Stockwerken, die in den siebziger Jahren hochgemauert in seiner Hand. Nur Eberhard Einsiedler der Fußballspieler Stefan („Effe“) Effen- wurde. An einigen Steinen wächst Moos. kaute ruhig auf einer Brezel herum, er sah berg im Moment aussieht. Der erste Wegweiser, den man sieht in auf die Transparente und sagte: „Net Dabei hatte es so furios angefangen, An- dieser Welt, ist ein Hinweisschild zur schlecht.“ Dann ging er hinein in den Fest- fang Februar, als die Bundesanstalt mit Kantine. Die Menschen, die in dieser saal. Er war noch nicht fertig. ihrem Skandal um gefälschte Vermitt- Welt zu Hause sind, laufen Punkt zwölf Drinnen spielte ein Ensemble der Mu- lungsstatistiken aufgeflogen war. Der Kanz- durch die Gänge und sagen „Mahlzeit“ sikhochschule Nürnberg-Augsburg Klas- ler hatte mal wieder einen großen Trüm- zueinander. sisches und Modernes, aber es lief nicht merhaufen vor den Füßen, Jagoda musste 90000 Angestellte und Beamte beschäf- richtig rund, weil man von draußen immer gehen, und Schröder sagte, er habe den tigt diese Anstalt – hier in der Hauptstelle diese Trillerpfeifen hören konnte. Es gab Mann der Zukunft. Florian Gerster, So- und in den 181 Arbeitsämtern der Repu- viele langweilige Reden. Aber zum Schluss zialminister aus Rheinland-Pfalz, einer, der blik. Sie tragen Aktenordner über Lin- kam Einsiedler. so ist, wie Schröder nicht sein darf im oleumfußböden und an Warteschlangen Es sollten „Grußworte“ sein. Es wurde Wahlkampf. Einer gegen die Front der Still- vorbei, sie gießen Grünpflanzen in ihren ein Tritt genau zwischen die Beine von standsbewahrer in der SPD, einer gegen Zimmern, sie verwalten vier Millionen Ar- Gerster. Einsiedler zitierte Gerhard Schrö- die Wand dieser ewig nölenden Gewerk- beitslose und sich selbst gleich mit. Sie der, der die Bundesanstalt zu seiner größ- schaftsköppe. haben es sich behaglich gemacht unter ten Baustelle erklärt hatte. Richtig. Aber: Gerster, 52, kam sehr oft ins Fernsehen einer dicken, fetten Staubwolke, und oben- „Wenn Fehler auf einer Baustelle passieren, in diesen Tagen, häufiger als in den 25 Jah- drüber sitzen Politiker, Arbeitgeber und dann ist das meistens nicht die Schuld der ren zuvor, in denen Arbeiter, sondern die Schuld der Archi- er sich auf den unte- Neuer Chef in einer Welt der Zimmerpflanzen, tekten oder der Bauherren.“ Und: „Es be- ren Etagen der Poli- darf noch einiger Einarbeitung des neuen tik abarbeiten muss- Linoleumfußböden und Wartezonen Bauherrn.“ Dann war die Feier zu Ende. te. Das Publikum Einsiedler nahm Glückwünsche entge- wusste nicht viel von ihm, höchstens, dass Gewerkschaften und passen auf, dass alles gen. Von Bernhard Jagoda, Gersters Vor- Petra Gerster, die Nachrichtenfrau vom so bleibt. gänger. Von Heinrich Franke, Jagodas Vor- ZDF, seine Schwester ist. Er war ein Mann Florian Gerster stand also an diesem gänger. Von Josef Stingl, Frankes Vorgän- mit dünnem Haar und Oberhemden, die Tisch vor seinen Rostbratwürsten und sah ger. Von drei Jahrzehnten Bundesanstalt immer so stramm gebügelt sind, als kämen seine Gegner an sich vorbeilaufen. Die für Arbeit. sie gerade aus der Zellophanverpackung. ganzen verdienten Kräfte des kaputten Ar- Florian Gerster stand da schon unten in Aber dann begann er zu reden, und die- beitsmarktes. Und Herrn Einsiedler. Und der Empfangshalle und hielt sich an einem ser Sozialdemokrat klang wie einer, den die Frauen von den Gewerkschaften, die Stehtisch fest. Er aß zwei dünne Nürnber- man irrtümlich bei der Unternehmensbe- Frauen mit den Doppelnamen. ger Rostbratwürste mit Sauerkraut und ratung ausgeliehen hat. Bundesanstalt für Die Frauen mit den Doppelnamen sind trank Rotwein. Er trug einen blauen Anzug Arbeit? Kann auch mit der Hälfte der Leu- die Schlimmsten für ihn. Er erklärt ihnen und eine grüne Krawatte. Er war blass und te klarkommen. Arbeitsmarktpolitik? Ver- ständig, dass er den Sozialstaat „krisen- wirkte einsam. sicher“ machen will. Die Frauen mit den Er blickte aus kleinen Augen auf die * Während der Demonstration gegen Florian Gerster am Doppelnamen behaupten, dass er den Würstchen. Er sah ein bisschen so aus, wie 23. April in Nürnberg. Sozialstaat „zerschlagen“ will. Er sagt: „In

der spiegel 18/2002 125 Wirtschaft jeder Großorganisation gibt es Struktur- neues Büro, aus dem sie konservative, die alles abwehren, was ih- in das Esszimmer eines re Stellung in Frage stellen könnte.“ Sie Callboys sehen kann. Viel sagen: „Kahlschläger.“ Und sie haben mehr hat sich nicht ver- Macht. Es gibt in Deutschland acht Mil- ändert. lionen Gewerkschaftsmitglieder. Wenn sie Sie sitzt an einem Kon- wollen, können sie den Kanzler aus dem ferenztisch und redet sich Amt streiken. in Rage; ihre Stimme be- Ursula Engelen-Kefer trug einen schwar- kommt in solchen Mo- zen, glänzenden Mantel und eine weiß menten etwas sehr Me- schimmernde Strumpfhose. Sie sah kühl tallisches. „Herr Gerster an Gerster herunter und ging weiter. Frau erinnert an die Sozialab- Engelen-Kefer ist seit 1974 beim Deutschen bau-Debatte der frühen Gewerkschaftsbund (DGB). Es war die Zeit Kohl-Regierung“, schnarrt anschwellender Arbeitslosigkeit, und Frau sie in den Raum. Ihre Fin- Klementine aus der Ariel-Werbung war ein gernägel klackern auf die

Fernsehstar. Tischplatte. „Herr Gerster WEBER MARIA WOLFGANG Für Engelen-Kefer gibt es keinen großen macht immer den Ver- Nürnberger Amtsstube: Alles soll bleiben, wie es ist Unterschied zwischen dem Deutschland such, im Mainstream zu der siebziger Jahre und dem Deutschland sein. Und wenn der Mainstream in Rich- nächst wird ein neuer Verwaltungsrat zu- der Pleitewellen. 6,5 Prozent Lohnerhö- tung Moderne geht, dann gibt es auch sammengestellt, und sie meint, sie gehöre hung wären ihrer Meinung nach in Ord- einen Beitrag von Florian Gerster.“ Sie da rein. „Mit welcher Begründung sollen nung. Sie findet, dass jeder Euro, der von hat sehr große Ohrringe, die jetzt wild diejenigen, die dort über Jahre hinweg un- oben nach unten verteilt wird, ein guter hin und her wackeln. „Wenn Herr Gers- bescholten ihre Arbeit gemacht haben, Euro ist. Und wenn sie durch Berlin-Gru- ter den offenen Konflikt mit den Ge- jetzt das Handtuch werfen? Ich wüsste newald fährt und die vielen Villen sieht, werkschaften will, soll er nur so weiter- überhaupt nicht, warum.“ dann denkt sie wahrscheinlich, dass für die machen.“ Es geht nicht nur um die Macht der Ge- da oben noch immer genug übrig ist. Ob Vor 24 Jahren saß Engelen-Kefer zum werkschaften oder den Wahlerfolg des Rentenreform oder Kürzungen in der Ar- ersten Mal in einem Aufsichtsgremium der SPD-Kanzlers. Es geht auch um sie. Sie beitsmarktpolitik, Frau Engelen-Kefer sagt Bundesanstalt für Arbeit. Zum Schluss war hat inzwischen viele Feinde bei den Ge- immer Nein. sie ehrenamtliche Vorstandsvorsitzende. werkschaften, weil sie immer gegen alles Der DGB ist von Düsseldorf nach Ber- Sie hat immer mitgelenkt auf dem Weg der ist. Ohne die Bundesanstalt hätte sie gar lin umgezogen, Engelen-Kefer hat ein Bundesanstalt zu einer Bruchbude. Dem- nichts mehr. wie der Sozialstaat, sagt sie. Rente, Kran- kenversicherung, Unfallversicherung, Bun- desanstalt für Arbeit. Wenn man dem Ele- fanten ein Bein weghaut, fällt er um. Wie beim Sozialstaat, sagt sie. In ihrem Büro gibt es einen rosa Plüsch- elefanten. Das kleine Monstrum sitzt auf den Hinterbeinen. „Wenn ich das Gefühl habe, dass etwas zerschlagen werden soll, was 50 Jahre lang gut funktioniert hat, dann werde ich zum Widerstand aufrufen“, sagt sie. Isolde Kunkel-Weber ist eine eher schwere Frau, aber als sie gehört hat, dass Gerster die Hälfte der Belegschaft entfer- nen will, „da bin ich hier über den Tisch

WOLFGANG MARIA WEBER MARIA WOLFGANG gegangen“. Hauptpersonalrat Einsiedler: „Es gibt Sauereien, die können nur Sozialdemokraten“ 20000 der 90000 Beschäftigten bei der Bundesanstalt sind bei Ver.di organisiert. Wenn man sie fragt, ob sie der Meinung Bremse. Sie sitzt in der Kommission, die Die Gewerkschaft hat das Problem, dass ihr ist, dass die Arbeitsämter effizient sind, zurzeit über Reformvorschläge für die die Mitglieder davonlaufen. Seit Gerster guckt sie einen aus stark geschminkten Bundesanstalt nachdenkt. Frau Kunkel- in Nürnberg eingezogen ist, werden die Augen an und fragt zurück: „Arbeiten die Weber findet es wahrscheinlich großartig, Zahlen besser. In den Arbeitsämtern liegen Finanzämter effizient?“ dass so eine Kommission gegründet wor- jetzt Mitgliedsanträge für Ver.di aus. „Die Natürlich war Engelen-Kefer bei der De- den ist, in der die unterschiedlichen In- gehen gut weg“, sagt Frau Kunkel-Weber. monstration auf dem Rathausplatz in der teressenvertreter erst mal miteinander dis- So sieht es aus. Florian Gerster hat sich ersten Reihe dabei. Sie dankte den De- kutieren, weil das ziemlich sicher bedeu- das alles anders vorgestellt. monstranten für die vorzügliche Arbeit. tet, dass am Ende mal wieder nichts dabei Früher, als er noch in Mainz saß, hat er Neben ihr stand noch eine Frau mit einem rauskommt. gern scharfe Thesenpapiere verfasst, zur Doppelnamen, sie hat schmale Lippen und Sie ist bei Ver.di für das Referat Sozial- Sozialpolitik, zur Gesundheitspolitik, zur blonde Haare und nickte. versicherung zuständig. Zum Symbol ihrer Verteidigungspolitik. Er verschickte sie ins Isolde Kunkel-Weber aus dem Ver.di- Abteilung hat sie den Elefanten erklärt. Kanzleramt und an Zeitungsredaktionen. Vorstand ist vielleicht Gersters schärfste Der steht auf vier dicken Füßen, genauso Er erfand das „Mainzer Modell“. Er tat Wirtschaft

das Volk. Sein Volk. In solchen Momenten kann er den Absturz der Raumtemperatur fühlen. Die Frauen grüßt er, die älteren Männer auch. Die jüngeren nicht, „ich versuche aber zu zeigen, dass ich sie gern zurück- grüßen würde“. Würde er gern, kann er aber nicht, denn: Keiner grüßt. Er hat mit seinem Pressesprecher darüber gespro- chen. Der Pressesprecher meinte, die Fran- ken seien störrische Menschen. Aber das ist es nicht. Eberhard Einsiedler, der Hauptperso- nalrat, weiß, was die Belegschaft denkt. Er sieht dem Dampf seines Zigarillos hinter- her und sagt: „Es gibt Sauereien, die kön- nen nur Sozialdemokraten.“ Wenn der Neue meint, er könne mit der Hälfte der Leute auskommen – bitte schön. Soll er mal versuchen. Einsiedler hat schon in den siebziger Jahren in Kommissionen gesessen, die sich mit der Zukunft der Bundesanstalt für Ar- beit beschäftigt haben. Er weiß, was läuft,

G. GERSTER / LAIF G. GERSTER sagt er. Hier im Haus jedenfalls läuft alles Geschwister Florian, Petra Gerster: Falscher Ort, falsche Zeit gut. Die Politik muss sich ändern, nicht wir, sagt er. das alles nicht, weil er nach Nürnberg woll- Nichts bleibt ihm auf diesem Posten er- Und der Vermittlungsskandal? te. Er wollte nach Berlin. spart, gar nichts. Wäre Gerster nicht aus- Skandal? Was heißt Skandal? Und er war guter Dinge. Aus Berlin ka- gerechnet bei dieser Bundesanstalt gelan- „Wenn unsere Zahlen nicht stimmen, men Andeutungen. Vielleicht hätte er nach det, dann müsste er auch nicht solche dann hat das ja für den Arbeitsmarkt nix zu der Wahl im September ein Ministerium Abende verbringen wie neulich den beim sagen. Die Behörde kann nix dafür, für übernehmen können. Das von Ulla Schmidt „Bundesinnungsverband des Gebäuderei- den Arbeitsmarkt“, sagt Einsiedler. Das zum Beispiel, der Frau aus Aachen mit ihrer niger-Handwerks“. Singsang-Gesundheitspolitik. Oder das von Im Berliner „Kaiser- Wenn er in die Kantine geht, kann Florian Gerster Walter Riester, von dem man noch immer saal“ wurde feinstes nicht weiß, ob er Reformer ist oder IG-Me- Essen aufgefahren den Absturz der Raumtemperatur fühlen tall-Funktionär. „Ja, als Option wäre das und ein „innovatives vorstellbar gewesen“, sagt Gerster. Teilzeitarbeitsmodell“ vorgestellt. Gerster heißt: Der Arbeitsmarkt bleibt, wie er ist, Und jetzt? Falscher Ort, falsche Zeit. sollte etwas dazu sagen. Nach dem Haupt- ob sie in der Behörde nun bescheißen oder Oder, wie Gerster es ausdrückt: „Es gibt gang wollte er gehen, aber er durfte nicht, nicht. unabwendbare Forderungen durch ent- weil ein PR-Fritze darauf bestand, dass Ständig kommen irgendwelche neuen standene Situationen, die müssen erfüllt er noch auf das Wohl der Gebäudereini- Sachen aus der Politik, und die Kollegen werden.“ Wat mutt, dat mutt. ger anprostet. Solche Abende sind das sollen den Durchblick behalten. Gersters Wäre Jagoda mit seinem Saustall ein Grauen. Mainzer Modell zum Beispiel. Das Mainzer Jahr früher aufgeflogen, dann sähe die Welt Und am Tag ist es auch nicht besser. Modell bedeutete: 51 Seiten mit neuen An- vielleicht besser aus. Dann hätte Gerster Morgens fährt er sein Auto in den Hof. Wo weisungen. Die muss man erst mal lesen. hier aufgeräumt und wäre danach womög- er hinguckt: braune Steine. Alles sehr be- Das braucht Zeit. Und bis man die begrif- lich doch noch ein großer Minister in Ber- drückend, sagt er. Vielleicht bestellt er fen hat, braucht es noch mal Zeit. „Die lin geworden. Zu spät. „Ich muss mich hier demnächst die Maler. Kollegen draußen schaffen von morgens schon über mehrere Jahre einrichten.“ Das Dann geht er in sein Büro, und auf dem bis abends.“ Einsiedlers Füße liegen auf klingt wie offener Strafvollzug. Schreibtisch findet er Zettel, auf denen einem Stuhl. steht: „RdErl“. „RdErl“ 15 Stockwerke tiefer sitzt Florian Gerster ist die Sprache der an seinem Besprechungstisch. Er hat die Bundesanstalt. „RdErl“ Hände auf die Oberschenkel gelegt. Er heißt Runderlass. Er sieht demütig aus. Er sagt: „Ich räume ein, möchte, dass „RdErl“ dass die Formulierung ‚Halbierung des Per- demnächst ausgeschrie- sonals‘ ungeschickt war.“ ben wird, „wenigstens Das Büro, in dem er arbeitet, war vorher in der Überschrift“. das Büro von Bernhard Jagoda. Es gibt Wenn der Mittag jetzt keine Aktenordner mehr in den Re- kommt, geht Gerster in galen. Es hängt Kunst an der Wand. Gers- die Kantine, da trifft er ter hat alles neu gemacht in diesem Büro. Fast alles. * Beim Festakt zum 50. Ge- Auf dem Boden stehen drei Zimmer- burtstag der Bundesanstalt für pflanzen. Sie sind bis unter die Decke ge- Arbeit mit seinen Amtsvor- wachsen. Es waren Jagodas Zimmerpflan- gängern Heinrich Franke und

WOLFGANG MARIA WEBER MARIA WOLFGANG Josef Stingl am 23. April in zen. Gerster sagt, es gebe Dinge, die müss- Ex-Präsident Jagoda (M.), Kollegen*: Musik und Trillerpfeifen Nürnberg. ten so bleiben, wie sie sind. ™

128 der spiegel 18/2002 Werbeseite

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Werbeseite Panorama Ausland

Hisbollah-Kämpfer EU-ARMEE bei Schibaa Einsatz in Gefahr m Stab des Hohen Beauftragten für Idie Gemeinsame Außen- und Sicher- heitspolitik der EU, Javier Solana, wird mehr und mehr bezweifelt, dass die EU- Armee im September zu ihrem ersten Einsatz in Mazedonien ausrücken kann – dem laut Joschka Fischer „großen Test“ einer gemeinsamen Sicherheits- politik der EU. Die Übernahme der bis- her von der Nato geführten Befrie- dungsaktion „Amber Fox“, die mit etwa tausend Soldaten die 150 internationa- len Beobachter der Waffenruhe zwi- schen slawischen und albanischen Ma- zedoniern schützt, droht am Streit zwi- schen Griechenland und der Türkei zu scheitern. Die Athener Regierung wei- gert sich, eine zwischen London, Wa- shington und Ankara ausgehandelte Vereinbarung zu akzeptieren, die dem Nicht-EU-Staat Türkei de facto ein Ve- torecht bei Planungen von Operationen HEZBOLLAH-MILITARY MEDIA / AP HEZBOLLAH-MILITARY

LIBANON Gezügelte Hisbollah erbände der libanesischen Streitkräfte rückten in aller Heimlichkeit bis an die VGrenze zu Israel vor. Ihr Ziel ist jedoch nicht etwa die Provokation von Feind- seligkeiten mit dem kriegerischen Nachbarn, der bereits wiederholt in die Zedern-

Republik einmarschiert ist. Im Gegenteil: Die Regierungstruppen sollen verhin- MÜLLER KNUT dern, dass israelische Ziele aus der Grenzregion heraus beschossen werden. „Wir Deutsche Soldaten in Mazedonien wollen Israels Premierminister Scharon keinen Vorwand für einen militärischen Schlag liefern“, begründete ein Sprecher die strikten Kontrollen. Tagelang beriet die der EU-Eingreiftruppe in Gebieten tür- Führung der militanten Hisbollah den künftigen Kurs. Ihre Kämpfer beschießen zwar kischer Sicherheitsinteressen – Ägäis, weiterhin die Schibaa-Farmen nahe den von Israel be- Zypern, Irak, Iran – einräumt. Das setzten Golanhöhen. Aber bislang halten sich die Un- Beirut Nato-Land Türkei ist nur unter dieser tergrundkämpfer strikt an die Beiruter Auflage, keine Bedingung bereit, der EU den Zugriff Ziele hinter der von der Uno anerkannten Demarka- Damas- auf Einrichtungen des Nordatlantik- tionslinie mit Raketen anzugreifen. Gefördert wird Paktes zum Führen eigener Militärak- LIBANON kus diese Zurückhaltung durch zwei wichtige Mächte in Mittelmeer tionen zu gestatten. Weiteres Druck- der Region: Weder Libanons Schutzherren in Damas- mittel der Türken: Sie verweigern die Schibaa kus noch die Drahtzieher der Hisbollah in Teheran le- Schibaa- Unterschrift unter ein Geheimschutz- gen es derzeit auf eine Zuspitzung der Lage im Süd- Farmen Abkommen zwischen Nato und EU, das libanon an. Teheran setzt vielmehr sogar auf einen Von der Euro-Armee erst den Zugang zu Dialog mit Washington. Ganz offen mahnte Irans Israel klassifiziertem Material wie den bisheri- besetzte Außenminister Kamal Charrasi, man dürfe sich „vom Golan- gen Planungsunterlagen für „Amber Kriegsverbrecher Scharon nicht provozieren lassen. ISRAEL höhen SYRIEN Fox“ erlauben würde. Der Versuch So- Der sitzt in der Zwickmühle und weiß nicht, wie er lanas, vorletzte Woche bei einem Be- wieder herauskommt. Wir dürfen ihm nicht mit unbe- such in Athen die Griechen zum Ein- sonnenen Aktionen einen Rettungsring zuwerfen“. 20 km schwenken auf die türkischen Forderun- gen zu bewegen, blieb ohne Erfolg.

der spiegel 18/2002 131 Panorama Ausland

HONGKONG China erweitert Einfluss roßbritanniens einstige Kronkolonie Hongkong bekommt Gein neues Regierungssystem. 14 Minister sollen fortan den Beamtenapparat führen, der bislang als politisch neutrale Verwaltung organisiert war. Auf diese Weise will Hong- kongs Regierungschef, Tung Chee-hwa, Pekings Sonderver- waltungsregion mit ihren sieben Millionen Einwohnern zen- traler und damit effektiver lenken. Die Reform ist offenkun- dig von Peking abgesegnet. China hatte sich vor der Rückkehr Hongkongs 1997 zwar verpflichtet, die Eigenständigkeit des Territoriums weitgehend zu bewahren, erhofft sich aber über die neuen Minister stärkeren Einfluss auf die Verwaltung. Kri- tiker werfen Tung vor, er gaukle mit der Neuerung demokra- tischen Wandel nur vor. Denn die neuen Minister werden nicht gewählt. Sie sind auch nicht dem kleinen Hongkonger Parlament, sondern nur Tung verantwortlich. Dessen Gegner fürchten, dass der Hongkonger Regierungschef die zum Teil ge- wählten, zum Teil ernannten Abgeordneten noch weiter ins Abseits drängen und unliebsame Beamte unter Druck setzen

PETER PARKS / AFP PETER PARKS könnte. Oppositionsführer Martin Lee: Die Reorganisation Skyline von Hongkong mache aus dem Regierungschef „einen Diktator“.

TÜRKEI gangener Woche Ermittlungen wegen Juristen und Geheimdienstler möchten „religiöser Hetze“ und „Beleidigung eine neuerliche Regierungsübernahme Tausend Jahre Kampf der Armee“. Erdogan hatte 1992 der Islamisten verhindern – im Juni während einer Rede in der Schwarz- 1997 hatten sie den Fundamentalisten- gegen die Islamisten meerstadt Rize den Einsatz von Wehr- Premier Necmettin Erbakan aus dem dienstleistenden direkt aus der Grund- Amt gedrängt, zwei Jahre später seinen ie türkischen Reformislamisten, die ausbildung im Kurdenkrieg „selbstmör- Zögling Erdogan für vier Monate ins Dbereits als sichere Sieger der nächs- derisch“ genannt und gleichzeitig den Gefängnis gesteckt. Generalstabschef ten Parlamentswahlen gehandelt wer- Taliban zur „Gründung einer islami- Hüseyin Kivrikoglu traut dem Islamis- den, bangen um ihren charismatischen schen Republik“ gratuliert. Dass das Vi- ten bis heute nicht über den Weg: Erdo- Führer. Gegen Tayyip Erdogan, zur Blü- deoband, das Erdogans Auftritt belegt, gan „spucke Hass“ gegen das Militär tezeit des türkischen Islamismus Mitte erst mit zehnjähriger Verspätung auf- und beweise damit, wie Recht die Ar- der neunziger Jahre Bürgermeister von tauchte, deutet auf eine Aktion seiner mee in ihrem Kampf gegen den Funda- Istanbul und inzwischen Chef der größ- alten Gegner im kemalistischen Esta- mentalismus habe: „Dieser Kampf wird ten Oppositionspartei, laufen seit ver- blishment hin: Konservative Offiziere, noch tausend Jahre weitergehen.“

NEPAL litärschutz zur Arbeit; die parla- mentarischen Parteien, einschließ- Signal von der lich der oppositionellen Kommu- nisten, mobilisierten ihre Anhän- Supermacht ger weitgehend erfolgreich gegen den Streik. Dennoch bleibt die ine Orgie der Gewalt entfachten Ne- Lage in dem korruptionsgeschüt- Epals Maoisten vorige Woche telten Land höchst instabil: Letzte während des von ihnen ausgerufenen Woche besuchten deshalb US-Ver- Generalstreiks: Krankenwagen wurden teidigungsexperten die westlichen,

entführt, Brücken, ein Radiosender BINOD JOSHI / AP von den Rebellen beherrschten samt Sendemast, ein Elektrizitätswerk Brennendes Autowrack in Katmandu Distrikte. Das Team sondierte, und ein Trinkwasserreservoir zerstört. wie die von Präsident George W. Auch ein Landsitz von Premier Sher lang ums Leben. Doch die selbst er- Bush versprochenen 20 Millionen Bahadur Deuba brannte nieder. Seit nannten Freunde der Bauern finden so- Dollar Militär- und Entwicklungshilfe sechs Jahren kämpft die bewaffnete gar bei jenen gut 40 Prozent der Bevöl- für den Kampf gegen die Maoisten ver- Guerrilla für die Abschaffung der Mon- kerung, die unter der Armutsgrenze le- wendet werden können. Ein Engage- archie und einen Ein-Parteien-Staat; ben, immer weniger Zuspruch. Die ment der USA in dem Himalaja-Staat fast 4000 Menschen kamen dabei bis- Nepalesen gingen großenteils unter Mi- wird immer wahrscheinlicher.

132 der spiegel 18/2002 Werbeseite

Werbeseite ERIC FEFERBERG / AFP / DPA Wahlsieger Le Pen: „Ich werde meinen Kampf bis zum Ende führen“

FRANKREICH Geist der Finsternis Einen Einzug in den Elysée-Palast werden die Franzosen ihrem Rechtsaußen Jean-Marie Le Pen wohl verwehren. Dennoch droht die Rückkehr des Radikalen die Republik ins Chaos zu stürzen. Seine Extremisten könnten zu Schiedsrichtern über das Kräfteverhältnis im Parlament werden.

harles de Gaulle hatte die bittere Er- Selbst Jacques Chirac, der Amtsinhaber Denn es gibt nur einen klaren Sieger fahrung mehrmals in seinem Leben auf Platz eins, mochte es nicht glauben. nach diesem ersten Wahlgang, einen Mann, Cgemacht. „Die Franzosen sind ein „Wartet ab, das ändert sich noch“, kom- der wie ein böser Geist aus der Finsternis unregierbares Volk“, seufzte der General, mentierte er die ersten Prognosen und der französischen Vergangenheit hervor- als er 1969 nach einem verlorenen Refe- Hochrechnungen, „es ist unmöglich, dass trat: Jean-Marie Le Pen, 73, Führer des rendum zurücktrat. die Linke nicht im zweiten Wahlgang ver- rechtsradikalen, rassistischen und frem- „Man regiert nicht ungestraft in diesem treten sein wird.“ denfeindlichen Front national (FN), irr- Land“, entfuhr es auch Lionel Jospin, als Er irrte sich. „Was für eine wunderbare lichtert seit einem halben Jahrhundert als die schlimme Nachricht ihn wie ein „Don- Revanche für Sie“, flüsterte seine Spre- Schreckgespenst durch die Republik. nerschlag“ traf. Der sozialistische Premier cherin Roselyne Bachelot ihm naiv zu. Chi- Le Pen ist ein Bündel von Paradoxen: verfehlte den Einzug in die zweite Runde rac strafte sie mit einem eisigen Blick. Der älteste und reichste unter den 16 Kan- der Präsidentschaftswahl. Das hatte nie- Plötzlich sah er alt aus, mit hängenden didaten für das höchste Staatsamt, aber ge- mand für möglich gehalten: Zum ersten Zügen und Ringen um die Augen. Blitzar- wählt haben ihn die Jungen, die Armen, Mal seit 1969 ist der Kandidat der Linken tig wurde dem Präsidenten klar, in welch die Ausgeschlossenen. Ein Politiker von bei der endgültigen Entscheidung über vertrackte Lage er geraten war. Er hat sei- gestern, dem sich jetzt, in seinem letzten Frankreichs Staatschef nicht mehr dabei. nen ärgsten Widersacher aus dem Feld Kampf, plötzlich eine Zukunftsschneise In einer bewusst gaullistischen Geste geschlagen – und einen viel schlimmeren öffnet. Ein Paria, der das Schicksal der verkündete der Geschlagene und Gede- bekommen. Zwar wird er am nächsten Fünften Republik in Händen hält. Er hatte mütigte vor seinen weinenden Anhängern, Sonntag ganz sicher wiedergewählt wer- sich geschworen, den verhassten Chirac dass er sich ganz aus dem politischen Le- den, vermutlich mit einem historischen politisch zu töten. Nun ist er der Garant ben zurückziehen werde. Es war der letz- Rekordergebnis, vielleicht sogar mit sa- von dessen Wiederwahl geworden. te würdevolle Akt in einem dramatischen genhaften 80 Prozent – aber dennoch zu Nur mit knappem Vorsprung, weniger Trauerspiel, das sogleich zu einer vulgären den moralischen und politischen Verlie- als 200000 Stimmen, lag Le Pen vor Jospin. Posse zu verkommen drohte. rern gehören. Aber es genügte, um die Republik in ihren

134 der spiegel 18/2002 Ausland

Grundfesten zu erschüttern. Der liberal- errichten. Er will die Einkommensteuer in vativen Chirac und einem sozialistischen konservative Bewerber François Bayrou, fünf Jahren abschaffen. Und selbstredend Premier würde die institutionelle Krise der der auf dem achtbaren vierten Platz lan- bekäme die Polizei größere Freiheit beim Fünften Republik nur noch verschärfen dete, fühlte sich an 1958 erinnert. Damals Gebrauch von Schusswaffen. und dem Establishment-Gegner Le Pen fiel, mitten im Algerien-Krieg, die Vierte All das trägt er mit der gelassenen womöglich weiteren Zulauf bringen. Republik in Scherben, de Gaulle wurde als Selbstsicherheit desjenigen vor, der Selbst- Zudem übersieht die bisher regierende starker Mann und Retter des Vaterlands verständlichkeiten verkündet. Sein Kampf? Linke, dass sie nicht an unglücklichen Um- zurück an die Macht gerufen. „Diesmal „Ich werde ihn bis zum Ende führen“, sagt ständen, sondern vielmehr an einem in- wird man wirklich begreifen, wie tief das Le Pen, mit unbedingtem Willen zum Sieg. neren Widerspruch gescheitert ist. Premier Übel sitzt“, so Bayrou. Er glaubt, dass er im zweiten Wahlgang Jospin schwankte fünf Jahre lang unent- Denn keiner kann sagen, Le Pen habe „näher bei 50 als bei 20 Prozent“ sein wird. schlossen zwischen den „Modernisierern“ die Wähler im Dunkeln gelassen. Sein Pro- „F wie Faschist, N wie Nazi, nieder, nie- um Finanzminister Laurent Fabius und des- gramm ist umfassend – 400 Seiten – und der mit dem Front national“, rufen die De- sen Vorgänger Dominique Strauss-Kahn glasklar. Nicht mehr „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ sei die Losung der Repu- blik, sondern „Arbeit, Familie, Heimat“: Travail, famille, patrie lauteten auch die Kennwörter des Vichy-Regimes unter dem unseligen Marschall Pétain. Diesen „leider verteufelten Werten“ will Le Pen ihren fun- damentalen Stellenwert zurückgeben. „Franzosen zuerst“: Die „nationale Prä- ferenz“ möchte Le Pen per Referendum in Artikel eins der Verfassung schreiben las- sen. Sie würde ein Apartheid-Regime mit- ten in Europa besiegeln. Die Eingesessenen würden überall vor den Fremden bevor- zugt: im Job, im Studium, bei der Woh- nungssuche und den Sozialhilfen. Zuge- wanderte würden „ermutigt“, auch durch gezielte Entlassungen, in ihr Herkunftsland zurückzukehren. Eingebürgerte Ausländer, die straffällig werden, verlören ihre französische Staats- angehörigkeit. 200000 neue Gefängniszel-

len verspricht Le Pen, dazu die Wieder- / REUTERS YVES HERMAN einführung der Todesstrafe. Wer sich ille- Protest gegen Le Pen im Europaparlament (am 24. April): „Mit zugehaltener Nase“ gal im Land aufhält, wird in Lager gesperrt. Le Pen würde Frankreich aus der Eu- monstranten, die vorige Woche in vielen und dem alten, staatsinterventionistischen ropäischen Union herausführen, zum Franc Städten Frankreichs jeden Tag zu Hun- Flügel sowohl der eigenen Partei als auch zurückkehren und die Zollgrenzen wieder derttausenden auf die Straße gingen. Es des kommunistischen Bündnispartners. waren überwiegend junge Leute, Ober- Das Ergebnis war eine zwar erfolgrei- schüler und Studenten. Ein Hauch von Mai che, aber halbherzig betriebene, fast ver- 68 lag in der Luft. schämte Reformpolitik, die sich zu ihren Schon am Mittwoch, dem 1. Mai, könn- Neuerungen nicht bekennen mochte. te es zur Kraftprobe kommen, Straßen- Jospin setzte sie technokratisch von oben schlachten inklusive. Dann marschiert Le durch, meistens ohne Dialog der Sozial- Pen mit 100000 Getreuen in einem tradi- partner. Das brachte ihm den Ruf ein, ar- tionellen Festzug zur Statue der National- rogant und autistisch zu agieren. Und weil heldin Jeanne d’Arc am Pariser Pyrami- die Wähler das schlechte Gewissen der Re- denplatz. Etwas weiter östlich, zwischen gierungsparteien dabei spürten, glaubten Place de la République und Place de la sie am Ende an den Vorwurf der radikalen Nation, rüsten Gewerkschaften, Anti-Ras- Trotzkistin Arlette Laguiller, der Premier sismus-Organisationen und militante Linke habe „die Welt der Arbeit verraten“. zur Gegendemonstration. Jospin, für den das erwartete Duell mit Die Sozialisten versuchten sich damit zu Chirac eine Obsession geworden war, be- trösten, die brutale Niederlage ihres Vor- ging darüber hinaus einen fatalen strategi- manns sei ein bedauernswerter Unfall, ge- schen Fehler. Er meinte, Le Pen ignorieren wissermaßen ein Versehen. Wäre die Wahl- zu können, weil der Rechtsradikale nur beteiligung nur ein bisschen höher gewe- Chirac-Wähler abspenstig mache. Nicht sen, hätte auf der Linken, wo sich gleich ein einziges Mal attackierte er den Volks- acht Kandidaten drängten, ein Bewerber tribun, stattdessen stachelte er dessen verzichtet – Jospin wäre wohl glatt durch- Anhängerschaft geradezu an, als er gegen gekommen. Jetzt hoffen sie, dass ein Ruck Ende des Wahlkampfs versprach, das kom- durch die republikanische Linke geht und munale Wahlrecht für Ausländer einzu- schon die Parlamentswahlen im Juni die führen. Die Folge: Le Pens FN ist die erste

PATRICK KOVARIK / AFP / DPA KOVARIK PATRICK Revanche bringen werden. Das ist nicht Arbeiterpartei des Landes geworden. Präsident Chirac, Anhänger ganz auszuschließen, aber eine Fortsetzung Chirac steht nur scheinbar besser da. „Begreifen, wie tief das Übel sitzt“ der „Kohabitation“ zwischen dem konser- Der Präsident machte Kriminalität und in-

der spiegel 18/2002 135 Ausland „Europa verfolgt eine Illusion“ Frankreichs Rechtsaußen Jean-Marie Le Pen über seine Wahlchancen und sein Programm

SPIEGEL: Monsieur Le Pen, zur allge- Die Arbeiter streiken nicht, sie fühlen de ich aus diesen supranationalen meinen Bestürzung sind Sie der Wi- sich bei mir gut aufgehoben, und die Strukturen ausbrechen, wenn sie die dersacher von Präsident Jacques Chirac Vorstädte bleiben ruhig. Unabhängigkeit meines Landes antas- im zweiten, entscheidenden Wahlgang. SPIEGEL: Sie wissen doch, dass Sie kei- ten. Die Europäer jagen einer Illusion Trauen Sie sich zu, ihn zu schlagen? ne wirkliche Chance haben. Wo liegt nach: Sie wollen ein Imperium errich- Le Pen: Warten Sie ab, es wird noch ein- die Schwelle des Erfolgs für Sie? ten zu einem Zeitpunkt, da alle Impe- mal eine dicke Überraschung geben. Le Pen: Unter 30 Prozent wären eine rien sich aufgelöst haben – das der al- Die Demonstranten, die jetzt auf der Niederlage, 40 Prozent wären ein schö- ten Kolonialmächte, das der Sowjet- Straße schreien, diese verwöhnten Söh- ner Achtungserfolg, mit erheblichen union und, wer weiß, vielleicht bald ne und Töchter der Pariser Bourgeoisie, Konsequenzen, aber ich will natürlich noch ein anderes. die kleinen süßen Mädchen mit ihren 51 Prozent. Ich habe einen gewaltigen SPIEGEL: Wie wollen Sie die Nation wie- T-Shirts, auf denen „No pasarán“ steht, Trumpf in diesem Wahlkampf: Mein der aufrichten, wenn Sie das Land in sind nicht das Volk. Sie machen Ra- Gegner heißt Jacques Chirac. Er hat die Isolation führen? batz und merken nicht, dass sie mir Le Pen: Frankreich ist schwach, helfen. weil seine Führer die Verant- SPIEGEL: Sie bekämpfen Chirac seit 20 wortung nach Brüssel abgege- Jahren. Jetzt sichern ausgerechnet Sie ben haben. Die EU ist eine ein- seine Wiederwahl. zige Addition von Schwächen. Le Pen: Na prima, dann mache ich ja SPIEGEL: Wenn Sie den Franc alle glücklich: Chirac wird dank mei- wiedereinführen, wird er sofort ner wiedergewählt, die Sozialisten ge- unter Abwertungsdruck geraten. winnen dank meiner die Parlaments- Le Pen: Der Euro hat, seit er wahl, und wir kehren zurück zu jener existiert, 30 Prozent seines Kohabitation, die so erfolgreich regiert Werts verloren. Ich bestreite hat. Das macht mich nur stärker. nicht, dass feste Wechselkurse SPIEGEL: Im Ernst: Wird Chirac Sie nicht in Europa unter Umständen haushoch schlagen? nützlich sein können. Wohl Le Pen: Verteilen Sie das Fell des Bären aber lehne ich es ab, dass un- nicht, bevor er erlegt ist, zumal wir gar sere Haushaltspolitik von ei-

nicht wissen, wer der Bär in dieser / REA LAIF MACON VALERIE ner Europäischen Zentralbank Jagdpartie ist. Die Meinungsforscher Kandidat Le Pen: „Das macht mich nur stärker“ diktiert wird, die niemandem haben sich schon einmal geirrt. Sie soll- Rechenschaft schuldet. ten sich entleiben. Der Einzige, der sei- sich jetzt auf einen Wahlkampf um mo- SPIEGEL: Frankreichs Handelspartner ne Würde behalten hat, ist Jospin – er ralische Werte eingelassen, und das ist werden es nicht hinnehmen, dass Sie hat die Konsequenz gezogen und ver- das Schlechteste für ihn. Er ist der Ein- wieder Zollschranken errichten. lässt die Politik. Chirac sollte sich ein zige, der keine moralischen Lektionen Le Pen: Zollgrenzen sind keine Magi- Beispiel an ihm nehmen. erteilen kann, denn er schleppt Affären not-Linie. Sie sind für mich ein Filter, SPIEGEL: Sie sind der Kandidat gegen und Skandale wie klappernde Blech- um die Interessen und die Erwerbs- das System, Sie wollen zerstören, wel- dosen hinter sich her. tätigkeit der französischen Arbeiter, che Republik wollen Sie stattdessen? SPIEGEL: Sie sind der beste Garant da- Bauern, Handwerker und Händler vor Le Pen: Ich handle im Rahmen der De- für, dass ihm die Affären jetzt nachge- einem globalen Wettbewerb zu unglei- mokratie und der Verfassung – so wie sehen werden. chen Bedingungen zu schützen. Die ich es getan habe, seit ich 1956 zum ers- Le Pen: Ich lache mich tot! Chirac, der USA machen es nicht anders. ten Mal Abgeordneter wurde. Ich habe weiße Ritter, eingehüllt in die Fahne SPIEGEL: Le Pen und die Grande Na- den moralischen und politischen Verfall der Republik, das ist wirklich eine tion – allein gegen den Rest der Welt? der Fünften Republik miterlebt. Derje- außergewöhnliche Schau. Er trägt die Le Pen: Es geht nicht darum, Europa nige, der sich heute als Erbe des Gene- Verantwortung, dass jetzt versucht den Krieg zu erklären. Wir können uns rals de Gaulle ausgibt, hat am meisten wird, die Bedingungen eines neuen nur am eigenen Schopf aus dem Sumpf zur Zerstörung der Hinterlassenschaft Aufstands auf der Straße zu schaffen. ziehen. Ich werde dem französischen von de Gaulle beigetragen. SPIEGEL: Ihr Erfolg hat ganz Europa in Volk vorschlagen, aus einem Prozess SPIEGEL: Würde Ihr Wahlsieg nicht ei- Aufruhr versetzt. Wollen Sie Frank- auszusteigen, der dazu führt, dass nen Bürgerkrieg auslösen? reich wirklich aus der Europäischen Frankreich in einem uferlosen europäi- Le Pen: Das ist das Geschwätz von Jour- Union hinausführen? schen Magma ohne klare Grenzen ver- nalisten und Professoren. Weil Le Pen Le Pen: Aus dem Maastricht-Europa ja. schwindet. Frankreich hat ein Recht auf ein Teufel ist, hält man die Idee im Kopf Ich habe nichts gegen Europa, ich bin seinen Platz in der Welt, und dieses nicht aus, dass er den Sieg davontragen auch kein Fremdenhasser, aber ich bin Frankreich ist in vielerlei Hinsicht eine könnte. Das Volk aber denkt anders. ein französischer Patriot. Deshalb wer- Hoffnung für die Welt.

136 der spiegel 18/2002 nere Sicherheit zu seinem alleinigen The- dentenwahl mehr, sondern ein Plebiszit quenzen haben. Anders als bei der Präsi- ma, doch dabei konnte Le Pen ihn jederzeit über Le Pen. Selbst wenn Chirac mehr als dentenwahl, wo nur die beiden Bestplat- überbieten. In Wahrheit legitimierte Chirac drei Viertel der Stimmen bekommt, taugt zierten in die Endrunde kommen, darf je- nur Le Pens Demagogie, ohne sie eindäm- das nicht als Vertrauensbeweis. „Chirac der Bewerber für einen Sitz in der Natio- men zu können. wird in einem schrecklichen Zwiespalt, ei- nalversammlung im Rennen bleiben, wenn Hinter dem Skandal, den Le Pens Auf- nem monströsen Missverständnis gewählt er mindestens 12,5 Prozent der Stimmen im stieg im Heimatland der Menschenrechte werden. Dieses Votum hat überhaupt kei- ersten Durchgang erhält. darstellt, verbirgt sich ein zweiter, kaum ne Bedeutung“, stellt der sozialistische Par- Nach Hochrechnungen, die sich auf Le geringerer: In einer innerlich gesunden teichef François Hollande fest. Pens Abschneiden stützen, könnten die Demokratie mit sauberen Parteien hätte Nicht mehr die Entscheidung über den Kandidaten des Front national in 319 Wahl- Chirac – von Affären geplagt, von Korrup- Präsidenten, sondern über die Zusam- kreisen den Sprung in die zweite Runde tionsgeruch umweht, von machtlosen Rich- mensetzung der künftigen Nationalver- schaffen. tern verfolgt – niemals in die Stichwahl sammlung am 9. und 16. Juni gilt jetzt als Das würde die extreme Rechte zum kommen dürfen. die eigentliche Schlüsselwahl. Um die Sie- Schiedsrichter über das parlamentarische Das ist die erstaunlichste, fast absurde geschancen seines Lagers zu mehren, griff Kräfteverhältnis machen. Le Pens Gefolgs- Pirouette dieses Wahlkampfs: Chirac, der Chirac vorige Woche zu einem fragwürdi- leute könnten versuchen, mit Chiracs UMP so viele Versprechen gebrochen hat, dessen gen Schachzug: Er verordnete die Fusion ins Geschäft zu kommen und Bedingungen größter Mangel seine fehlende Glaubwür- der drei bürgerlichen Parteien – seiner ei- zu stellen. Das aber darf der Präsident auf digkeit ist, der wie kein anderer Präsident genen Gaullisten (RPR), der Liberalkon- keinen Fall zulassen, wenn er nicht die vor ihm dazu beigetragen hat, das höchste servativen (UDF) und der Liberalen (DL) Straße gegen sich mobilisieren will. Am Staatsamt auszuhöhlen und zu diskredi- – zu einer „Union für die Mehrheit des Ende hätte er es womöglich mit einem Par- tieren, gilt nun als der einzige Retter der Präsidenten“ (UMP). Das neue Gebilde lament ohne klare Regierungsmehrheit Republik, das letzte Bollwerk gegen den soll in jedem der 577 Wahlkreise einen Ein- zu tun. Extremismus. heitskandidaten aufstellen. Dann hätte de Gaulle mit seinen düste- Sozialisten, Kommunisten und Grüne ha- Vergebens protestierten der UDF-Chef ren Ahnungen über 30 Jahre nach seinem ben zu seiner Wiederwahl aufgerufen, wenn Bayrou und der DL-Vorsitzende Alain Tod Recht behalten. Und niemand weiß, ob auch „mit übergestreiften Handschuhen Madelin gegen die überfallartige Schaffung sein selbst proklamierter Erbe Jacques Chi- und zugehaltener Nase“. Der Untersu- einer konservativen Einheitspartei, die rac, der seine Karriere unter de Gaulle be- chungsrichter Eric Halphen, der Chirac sie- allein auf dem Führerprinzip Chiracs be- gann und noch immer dessen Foto in sei- ben Jahre lang im Visier behielt, sagt nun, ruht. Die meisten Mandatsträger sind in nem Büro stehen hat, diesem folgen- es dürfe kein Zögern „zwischen dem Su- ihrer Panik bereit, sich Chirac zu unter- schweren Rendezvous mit der Geschichte perlügner und dem Superfaschisten“ geben. werfen. gewachsen wäre. So wie das große, uner- Chirac als Notlösung – die Abstimmung Denn ein Vormarsch Le Pens könnte bei reichte Vorbild 1958 und, noch einmal, im am kommenden Sonntag ist keine Präsi- der Parlamentswahl chaotische Konse- heißen Mai 1968. Romain Leick Rechte auf dem Vormarsch NORWEGEN Carl I. Hagen hat sein Ziel erreicht. Europäische Länder mit Ohne seine EU-skeptische und frem- starken Rechtspopulisten denfeindliche Fortschrittspartei (14,6 Prozent) geht seit den letzten FRANKREICH PRESS SCANPIX/ACTION Wahlen nichts mehr. Sie stützt die Interne Rivalitäten und Spaltung Minderheitsregierung einer bürger- beim rechtsextremen Front national Hagen lichen Koalition. haben seinen größten politischen GAMMA/STUDIO X GAMMA/STUDIO Erfolg nicht verhindern können: DÄNEMARK Jean-Marie Le Pen will die Abschaf- „Dänemark den Dänen“ lautet das fung des Euro, Frankreichs Austritt Programm von Pia Kjærsgaard und ih- aus der EU, und er zieht gegen rer Dänischen Volkspartei. Mit frem- Le Pen Immigranten zu Felde. denfeindlichen und antieuropäischen

ERIK LUNTANG/NORDFOTO Parolen schaffte sie vorigen Herbst Le Pens Wahl- unter 13% 13% bis 15,9% 12 Prozent – und avancierte zur ergebnisse 16% bis 19% über 19% Mehrheitsbeschafferin für die neue Kjærsgaard Mitte-Rechts-Minderheitsregierung. NIEDERLANDE ÖSTERREICH Mit eigener Liste schaffte der smarte Jörg Haiders Freiheitliche machten Rechtspopulist in Rotterdam auf An- den Anfang beim europaweiten

PHIL NIJHUIS/AP hieb 35 Prozent. Bei den Parlaments- Rechtsrutsch. Zusammen mit den

wahlen am 15. Mai will der TV-Mode- G. EGGENBERGER/AP Konservativen drängten sie den rator und bekennende Homosexuelle, sozialdemokratischen Kanzler Viktor der gegen die offenen Grenzen Euro- Klima aus dem Amt und traktieren pas und den Islam wettert, wichtigs- Haider seitdem die EU. Fortuyn ter Mehrheitsbeschaffer werden. PORTUGAL Der studierte Jurist aus gutem ITALIEN BELGIEN Haus, Paulo Portas, diente sich Mit rüden Parolen gegen Europa Frank Vanheckes Vlaams Blok (9,9 den Wählern offen als „rechter LANNI/ROPI („Freimaurer und Kommunisten“) und Prozent) hat seine Hochburgen in den Arm Portugals“ an. Ohne ihn und Ausländer brachte Umberto Bossi sich TIAGO PETINGA/AFP/DPA TIAGO REPORTERS/LAIF Kommunen, allen voran Antwerpen seinen Partido Popular, der mit und seine Lega Nord in die Regierung mit 33 Prozent. Mit Angst vor Auslän- nationalistisch geprägten Tönen Berlusconi. Mit dabei: Gianfranco Fini, dern und Kriminalität wollen die auf 8,8 Prozent kam, hätte der viele alte Mussolini-Verehrer und Rechtsextremen neue Allianzen Regierungschef José Manuel junge Rechte hinter der postfaschisti- Vanhecke schmieden und die Macht erobern. Portas Durão Barroso keine Mehrheit. Bossi schen Alleanza Nazionale schart. der spiegel 18/2002 137 REUTERS Zerstörtes Flüchtlingslager Dschenin: Unsägliche Streitereien um die Zahl der Toten

Was Ahmed als brutales Vorgehen von NAHOST Besatzern empfindet, gilt den Israelis als Selbstverteidigung: „Wir wurden zu die- sem Krieg gezwungen“, rechtfertigt Israels Zweierlei Wahrheit Verteidigungsmister Benjamin Ben-Elieser die schweren Schäden (siehe Seite 141). Israels Armee hat die Keimzelle eines zivilen Palästinenser-Staats Anders als der blinde Professor konnte Hind Awas, 50, alles sehen. Die Hausfrau zerstört. Ob es dabei auch zu einem Massaker aus Dschenin erlebte den Einmarsch der gekommen ist, muss jetzt eine Uno-Kommission untersuchen. israelischen Armee in das Flüchtlingsla- ger und überlebte den achttägigen ischam Ahmed hat nichts gesehen. Häuserkampf. Am zweiten Tag Der Politologe aus Betlehem war kamen die Soldaten zu ihr. „Sie Hkein Augenzeuge, als israelische pferchten uns im Erdgeschoss zu- Panzer in die Geburtsstadt von Jesus sammen und besetzten den Rest einrollten und die vor eineinhalb Jahren des Hauses.“ Um sie ganz aus ihrer zum Millenniumswechsel herausgeputzten Wohnung zu vertreiben, hätten die Straßen verwüsteten. Hischam Ahmed, 38, Soldaten sogar gedroht, ihren Nef- ist blind. Doch er weiß genau, was die Ar- fen zu erschießen, einen kleinen mee seiner Stadt angetan hat und ihren Jungen von eineinhalb Jahren. Menschen. Awas sagt, sie habe mit eigenen Seit über drei Wochen sitzt der Hoch- Augen gesehen, wie Soldaten ei- schullehrer wie die anderen 27000 Bürger nen wehrlosen Mann erschossen. Betlehems als Gefangener in seiner eige- „Er war zwar ein Kämpfer, doch

nen Wohnung. Israels Armee hat eine Aus- / AP GUTTENFELDER DAVID er hatte sich ergeben und sogar sein gangssperre verhängt, die nur manchmal Israelischer Soldat*: Brutale Selbstverteidigung T-Shirt hochgehoben, wie sie be- für Stunden aufgehoben wird, damit die fohlen hatten. Er ging mit erhobe- Einwohner sich mit dem Nötigsten versor- Der Weg zu Ahmeds Wohnung führt nen Händen auf sie zu, da schossen sie. gen können. Ahmed: „Unser ganzes Le- durch die verlassenen Straßen einer Geis- Sie trafen ihn in Kopf und Brust.“ Wei- ben haben sie zum Stillstand gebracht.“ terstadt. Alle Läden sind verriegelt, viele nend steht die Frau vor den Trümmern Er lebt in ständiger Angst, die Soldaten Fenster verbarrikadiert. Die wenigen Taxi- ihres inzwischen zerstörten Hauses, am könnten bei ihm eindringen und das Mobi- fahrer, die sich ans Steuer trauen, rasen Zipfel ihres Kopftuchs baumelt der sinnlos liar demolieren, wie es bei seiner Schwes- wie vom Teufel gejagt über die staubi- gewordene Schlüssel. ter geschah. Er schläft kaum noch. Nachts gen Pisten. In der Jassir-Arafat-Straße, wo Das Zentrum des Flüchtlingslagers, eine hört er Schüsse, knatternde Maschinenge- einst die örtliche Zentrale des Palästinen- Fläche etwa so groß wie zwei Fußballfelder, wehre, explodierende Bomben. Zwei Kilo- ser-Chefs stand, ist nur noch ein riesiger liegt in Schutt und Asche. Schuhe sind in meter Luftlinie entfernt liegt die Geburts- Trümmerhaufen zu sehen, das Gebäu- den Trümmern sichtbar, Kämme, Oliven- kirche, ein christliches Heiligtum. Dort de längst zusammengebombt von F-16- ölflaschen, verbeulte Kochtöpfe, eine rote belagert die israelische Armee palästinen- Kampffliegern. Häkelweste. Mitten in dieser Zone der Ver- sische Milizen, die sich in dem Gotteshaus wüstung steht der israelische Historiker verbarrikadiert haben. * Vor der Geburtskirche in Betlehem. Tom Segev und schaut zu, wie Helfer nach

138 der spiegel 18/2002 Ausland „Mutter, sei glücklich“ Kinder als Nachahmungstäter: Drei 14-jährige Jungen aus Gaza starben beim Selbstmordangriff auf eine jüdische Siedlung.

ie Jungen warteten ab, bis die den Medien und Moscheen als Helden Schule aus war, dann machten gepriesen, beflügeln Phantasie und Dsie sich auf den Weg in den Tod: Rachsucht schon der Schulkinder. Jussuf Sakut, Anwar Hamduna und Is- Auch die drei Jungen aus Scheich mail Abu Nadi kamen am Nachmittag Radwan wussten, dass sie bei ihrem vom Unterricht, warfen die Bücher- Überfall sterben würden. „Mutter, sei

taschen beiseite und erzählten ihren glücklich mit mir“, schrieb Jussuf in / GETTY IMAGES NELSON SCOTT Eltern, sie wollten Freunde besuchen. seinem Abschiedsbrief, „ich gebe mein Sicherheitschef Radschub In Wahrheit brachen die drei 14-Jäh- Leben für Gott und die Heimat.“ „Pa- „Ich bin wieder Revolutionär“ rigen vergangenen Dienstag aus dem pa, Mama, vergebt mir“, bat sein Ortsteil Scheich Radwan in Gaza-Stadt Freund Abu Nadi die Eltern, „ich wer- Leichen graben. Segev hat sich über die auf, um die sechs Kilometer entfern- de eine Märtyreroperation gegen eine Felder nach Dschenin geschmuggelt, um te jüdische Siedlung Nezarim anzu- Siedlung ausführen.“ die Wahrheit zu sehen, doch unter so vie- greifen. Palästinensische Ärzte machen den len Palästinensern beschleicht auch ihn Ausgerüstet waren die Kids mit vier Schrecken der jüngsten israelischen Of- Angst. Er gibt sich als Amerikaner aus. Messern, einer Axt, einer Granate und fensive für das abnorme Verhalten ver- Etwa 50 Leichen sind bisher geborgen einer selbst gebastelten Bombenladung, antwortlich. „Das ist pure Verzweif- worden, weit weniger als jene Hunderte doch das Trio kam nicht einmal bis ans lung“, meint Psychologe Fadil Abu Hin von Opfern, deren Tod die Palästinenser Ziel. Kurz vor Mitternacht, als die Jun- zu den Motiven, „Kinder sind nicht in den Israelis vorwerfen. Um die wahre Zahl gen auf den äußersten Zaun von Neza- der Lage, angemessen auf die traurige der Toten von Dschenin ist sofort eine je- rim vorrobbten, wurden sie von israe- Realität zu reagieren.“ ner unsäglichen Streitereien ausgebrochen, lischen Wachposten entdeckt: „Die Sol- Schuld an der Entwicklung sei aber die jeden Fortschritt auf dem Weg zum daten eröffneten das Feuer“, so eine auch die bluttriefende Berichterstat- Frieden im Nahen Osten blockieren. Jede Armeesprecherin zu dem Vorfall, „die tung der arabischen Fernsehanstalten, Seite beharrt unbeirrbar auf ihrer Wahrheit drei wurden getötet.“ sagt der Arzt. Sie unterlegten ihre und auch darauf, dass sie das wahre Opfer Die aberwitzige Aktion des halb- Israel-feindliche Propaganda mit Bil- des Nahost-Konflikts sei. wüchsigen Himmelfahrtskommandos dern zerfetzter Opfer von Selbstmord- In Dschenin starben Palästinenser, sagt schockierte selbst die radikalen Paläs- attentätern. „Wir dürfen unsere Ge- die Armee, weil Terroristen den Soldaten tinenser von Hamas. Die Tat offenbart, sellschaft nicht militarisieren“, mahnt einen erbarmungslosen Kampf lieferten. so der Londoner „Guardian“, einen Abu Hin, „Schulkinder müssen lernen, „Sie missbrauchten Zivilisten als Schutz- „neuen, tragischen Trend“: Nicht nur Erwachsene können kämpfen.“ schilde“, erklärt der Reserve-Major David mit Steinen und Schleudern beteiligen Das sehen jetzt selbst die militanten Zangen – umgekehrt behaupten Lagerbe- sich auch die Jüngsten an den Kämpfen Führer von Hamas ein. Als „nationale wohner das Gleiche von den israelischen gegen das israelische Militär, inzwi- Katastrophe“ werteten sie den Tod der Soldaten. Zangen, im Zivilleben Kinder- schen eifern Kinder sogar jenen Selbst- Jungen und warnten Nachahmungs- arzt, sagt, seine Soldaten hätten „alle mo- mordattentätern nach, die sich und die täter vor Aktionen, bei denen sie „vor ralischen Standards gewahrt“. Zivilisten verhassten jüdischen Feinde in die Luft den Zäunen der Siedlungen umkom- seien über Lautsprecher rechtzeitig ge- sprengen. men“ würden. Stefan Simons warnt worden. Sie sind die neuen Vorbilder: Die Nun schickt die Uno eine Kommission Killer der Hamas, des islamischen Getöteter Jussuf, Verwandte mit der fast unlösbaren Aufgabe, heraus- Dschihad und der Aksa-Brigaden, in „Das ist pure Verzweiflung“ zufinden, was in Dschenin wirklich ge- schah. Generalsekretär Kofi Annan hat dafür honorige Ermittler ausgesucht – den ehemaligen finnischen Staatspräsidenten Martti Ahtisaari, die frühere Uno-Flücht- lingskommissarin Sadako Ogata, den Ex- Präsidenten des Internationalen Roten Kreuzes, Cornelio Sommaruga, aber auch einen Militär- und einen Polizeiberater, wie es Israel gefordert hatte. Ob die verfeindeten Seiten deren Be- richt jemals akzeptieren, ist höchst unsi- cher. Israel befürchtet ein „Tribunal“ und qualifiziert die Untersuchung von vorn- herein als parteiisch ab. Auch der palästi- nensische Gouverneur von Dschenin, Su- heir Manasra, ist skeptisch: „Der Ausschuss hat keinerlei juristische Vollmacht.“ Der Wirtschaftswissenschaftler, der lan-

AHMED JADALLAH / REUTERS AHMED JADALLAH ge in Deutschland lehrte, hat selbst eine 139 Kommission zusammengestellt, die auf lan- gen Listen das Ausmaß von Tod und Ver- wüstung beziffern soll. Auf der Opferliste dürften auch Munir, 17, und Mariam Wischah, 50, stehen. Der Junge und seine Mutter, so die Familie, wurden in ihrer Wohnung von israelischen Geschossen ge- troffen. Beide seien verblutet, weil die Ar- mee keine Sanitäter durchgelassen habe. Manasra hält sich, solange er keine end- gültigen Ergebnisse hat, mit Zahlen zurück. Doch einige Gräuel sind für ihn erwiesen: „Mindestens sechs Menschen wurden exe- kutiert.“ Die Palästinenser lügen, sagt Israel. Von mehr als 4000 Verhafteten hätten 1452 be- reits zugegeben, in Terrortaten verwickelt zu sein. Alles Märchen, sagt dagegen Dschibril Radschub. Der palästinensische Sicher- heitschef zeigt sein zerstörtes Hauptquar- tier in Ramallah, wo sich seine Polizisten verschanzt hatten. „Es wurde bombardiert, weil es ein Symbol für palästinensische Macht war.“ Selbst sein Fuhrpark mit den Jeeps ist zusammengeschossen. In seinem verwüsteten Büro bedecken Staub und Ge- steinsbrocken die Sessel, auf den Tischen liegen Scherben. Eine Kugel traf das Fami- lienfoto. Radschub, der lange als Verfech- ter eines Dialogs mit Israel galt, will nun von Sicherheitskooperation nichts mehr wissen: „Ich bin wieder Revolutionär.“ Durch Augenschein nachzuprüfen ist je- denfalls, dass die Israelis auch viele Ge- bäude angriffen, welche die Fundamente eines eigenständigen Palästinenser-Staats beherbergen. Mitarbeiter des Informati- onsministeriums führen Journalisten stun- denlang durch verwüstete Büros in Ra- mallah. Sie weisen auf zerschmetterte Computer, aus den Regalen gerissene Bücher, zerschlagene Möbel. Das Palästi- nenser-Hilfswerk der Vereinten Nationen beziffert den Gesamtschaden an der Infra- struktur des erst noch zu gründenden Staats auf mehrere 100 Millionen Dollar. „Sie wüteten im Erziehungsministerium, im Gesundheitsamt, in der Stadtverwal- tung – gehört das etwa zu den Grundlagen des Terrors?“, fragt der Arafat-Vertraute Jassir Abd Rabbuh. Er wirft Israel „Kriegs- verbrechen“ vor. „Hier gab es auf fünf Stockwerken nichts als Bankangestellte und Kundenunterlagen“, empört sich auch Anis al-Hadi, Manager der Bank für Woh- nungsbau. Nun inspiziert er seine zerstör- te Filiale und schaut, was zu retten ist. Ein paar Straßen weiter beginnt der Arzt Mustafa Barghuti, der eine große Gesund- heitsorganisation leitet, gerade mit dem Aufräumen. Die Armee hatte seine Büros tagelang besetzt und verwüstet. „Die Da- ten von zwölf Jahren sozialer Arbeit sind vernichtet“, klagt Barghuti. Auf einer Wand haben ihm die Soldaten noch einen zynischen Abschiedsgruß hin- terlassen: „Vielen Dank für die Gast- freundschaft.“ Annette Großbongardt

140 der spiegel 18/2002 Ausland

ISRAEL „Wir kämpfen mit dem Rücken zur Wand“ Verteidigungsminister Benjamin Ben-Elieser über den Einmarsch in die palästinensischen Autonomiegebiete, einen möglichen Bruch mit Regierungschef Ariel Scharon und Jerusalems gespanntes Verhältnis zu Europa

SPIEGEL: Herr Verteidigungsminister, Isra- SPIEGEL: Der Konflikt mit den Palästinen-

el hat vorvergangene Woche seinen 54. sern entzündet sich vor allem an den 1967 ANDRE BRUTMANN Jahrestag gefeiert. Doch noch immer besetzten Gebieten. Wohl weil er ahnte, kämpfen Sie mit den Palästinensern um was sich Israel mit der Okkupation des Benjamin Ben-Elieser das Land. Staatsgründer David Ben-Gu- Westjordanlandes und des Gaza-Streifens wanderte 1949 als 13-Jähriger aus dem rion wollte Versöhnung – hätte auch er einhandelte, hat Ben-Gurion noch zur Irak nach Israel ein. Fast sein ganzes Panzer in die Palästinenser-Städte ge- Rückgabe des Landes geraten. Berufsleben diente er in der Armee. schickt? Ben-Elieser: Auch ich bin bereit, die Ge- Der Chef der Arbeitspartei zählt zu Ben-Elieser: Ich habe Ben-Gurion noch ken- biete zurückzugeben. Ich kämpfe doch den Falken und unterstützt in der Re- nen gelernt, als ich ein ganz junger Offizier nicht, um sie für immer zu kontrollieren, gierung mit Premier Ariel Scharon bis- war. Und ich sage Ihnen: Er hätte haarge- sondern weil ich die Sicherheit unserer Be- her auch dessen harten Kurs gegen- nau so gehandelt, wie wir es jetzt tun. Nie- völkerung garantieren muss. Wir kämpfen über den Palästinensern – trotz einiger mand kann akzeptieren, dass wir jeden Tag mit dem Rücken zur Wand. Meinungsverschiedenheiten. Vor al- neue Opfer beerdigen müssen. Wir wurden SPIEGEL: Der Weltöffentlichkeit bietet sich lem mit Blick auf die nächsten Wahlen zu diesem Krieg gezwungen. ein anderes Bild von Israel: das der häss- im Mai 2003 wächst bei der Linken SPIEGEL: Aber warum mussten Sie wirklich lichen Besatzungsmacht. deshalb die Sorge, dass sich die Ar- mit einer solch gewaltigen Militärmacht in Ben-Elieser: Ich bin der Letzte, der die Au- beitspartei nicht genug vom konserva- die palästinensischen Städte und Dörfer tonomieführung zerstören will. Ich weiß, es tiven Likud Scharons absetzt. Ben- einrücken? gibt keine militärische Lösung des Kon- Elieser, heute 65, gilt als möglicher Ben-Elieser: Wir haben uns lange genug be- flikts. Deshalb bin ich zu Gesprächen be- Herausforderer Scharons. herrscht. Der US-Vermittler Anthony Zin- reit. Schon morgen können wir den Dialog ni hatte unsere volle Unterstützung. Am wieder aufnehmen. Tag seiner Ankunft im März fingen wir SPIEGEL: Sie würden wieder mit Jassir Ara- Ben-Elieser: Ich halte den Plan des früheren fünf potenzielle Selbstmordattentäter ab. fat sprechen, den Ihre Regierung für irre- US-Präsidenten Bill Clinton nach wie vor So sah die Begrüßung der anderen Seite levant erklärt hat? für prinzipiell möglich. für den Friedensunterhändler aus. Von Ben-Elieser: Ich rede mit jedem, der wirk- SPIEGEL: Der hatte vor zwei Jahren auf dem jenem Tag bis zu meinem Befehl, die „Ope- lich den Frieden will, ohne Tricks, ohne Gipfel in Camp David vorgeschlagen, den ration Schutzwall“ auszulösen, wurden et- Spielchen. Meine einzige Bedingung: Die Großteil der Siedlungen aufzugeben und wa 100 Menschen massakriert, 450 durch Gewalt muss ein Ende haben. Jerusalem zwischen Israelis und Palästi- Attentate verletzt. Nein, wir mussten so SPIEGEL: Zu welchen Kompromissen sind nensern aufzuteilen. handeln. Sie denn bereit? Ben-Elieser: Zudem glaube ich, dass auch der Friedensplan des saudi-arabischen Kronprinzen Abdullah im Prinzip mach- bar ist. SPIEGEL: Da gehen Sie aber deutlich weiter als Ihr Regierungschef. Ben-Elieser: Die Koalition mit Scharon steht, doch nur bis zu einem gewissen Punkt. Sobald ich spüren sollte, dass er einen Durchbruch zum Frieden blockiert, verlassen wir die Koalition. SPIEGEL: Hätten Sie nicht längst aussteigen müssen? Scharon ist ja noch nicht mal be- reit, auch nur über die Auflösung einer ein- zigen Siedlung zu reden. Ben-Elieser: Vorerst bin ich an seiner Seite, denn die Palästinenser haben den Weg der Gewalt gewählt. Zudem besteht Arafat stur auf allen seinen Forderungen. Vor allem pocht er auf das Rückkehrrecht für die

OLEG POPOV / REUTERS POPOV OLEG palästinensischen Flüchtlinge. Eine solche Israelischer Panzer in Betlehem: „Wir wurden zu diesem Krieg gezwungen“ Forderung wird niemand erfüllen.

der spiegel 18/2002 141 Ausland

SPIEGEL: Aber kommen Sie einer Lösung Ben-Elieser: Ich habe den Vereinten Natio- stoppen. Warum sträuben Sie sich da- dadurch näher, dass Sie Arafat in Ramallah nen gleich gesagt: Bitte, kommen Sie. Ich gegen? unter Hausarrest stellen? Den Terror kann bin bereit, alles offen zu legen, denn wir Ben-Elieser: Bei allem Respekt vor Kofi er so kaum bekämpfen. haben nichts zu verstecken. Wir werden Annan: Wir sind ein souveräner Staat, und Ben-Elieser: Das hängt ganz allein von Ara- diese Lügner bloßstellen, die da behaupten, fremde Soldaten werden wir nicht dulden. fat ab. Er hält bei sich Männer versteckt, wir hätten 600 Leute umgebracht. Tatsache SPIEGEL: Aus Deutschland schon gar nicht? die für den Mord an unserem Tourismus- ist, dass nicht mehr als 50 Menschen getö- Ben-Elieser: Unsere Beziehungen mit minister Rechawam Seewi verantwortlich tet wurden. Von denen trugen 47 Uniform, Deutschland sind exzellent. Ich persönlich sind. Arafat braucht uns diese Leute nur zu zwei hatten sogar Sprengstoffgürtel umge- habe großen Respekt vor Kanzler Gerhard übergeben, und der Fall wäre erledigt. bunden. Schröder und Außenminister Joschka Fi- SPIEGEL: Ein improvisiertes Gericht in Ara- SPIEGEL: Sie stellen Ihre Opera- scher. Für den ist Israel ja gera- fats Hauptquartier hat vier Männer jetzt an- tion als reine Verteidigungsmaß- dezu eine zweite Heimat ge- geblich verurteilt. Reicht Ihnen das nicht? nahme dar. Aber die Zerstörung „Wenn die worden. Erst gestern habe ich Ben-Elieser: Die werden doch niemals ernst- ist gewaltig, und auch Zivilis- Menschen jetzt wieder mit ihm telefoniert. Er haft bestraft. Das Ganze war nur eine ten sind unter den Opfern. Ver- leiden, müssen ist sehr feinfühlig und nimmt die große Show. harmlosen Sie die Geschehnisse sie zu Arafat Lage extrem ernst. Übrigens SPIEGEL: Würden Sie zustimmen, wenn nicht? gehen, damit werde ich Deutschland dem- Scharon das Arafat-Quartier stürmen las- Ben-Elieser: Wir hätten das Lager der seinen nächst besuchen. sen will, um die mutmaßlichen Seewi-Mör- auch bombardieren können. SPIEGEL: Dass Berlin den Export der zu fassen? Aber nein, wir haben uns mit Kurs ändert“ für Ersatzteile des Merkava-Pan- Ben-Elieser: Nein. Das ist kein Thema. Rücksicht auf die Zivilbevölke- zers, der in den besetzten Ge- Wenn wir das wollten, hätten wir es längst rung von Haus zu Haus durchgekämpft. bieten eingesetzt wird, blockiert, belastet getan. Das hat 23 Soldaten das Leben gekostet. die Beziehungen nicht? SPIEGEL: Sie haben gesagt, dass Sie die Überall waren Sprengfallen gelegt. Ben-Elieser: Das Problem sollten wir im Autonomieführung nicht zerschlagen woll- SPIEGEL: Dass Premier Scharon plötzlich Stillen regeln. Ich hoffe, wir lösen das in ten – aber sie liegt doch schon längst in massive Einwände gegen die Uno-Unter- freundschaftlichem Einvernehmen. Trümmern. suchungskommission vorgebracht hat, SPIEGEL: Nicht zu allen Europäern sind die Ben-Elieser: Was wir zerstört haben, ist die nährt allerdings den Verdacht, dass es doch Beziehungen so gut. Infrastruktur des Terrors und dessen Kom- etwas zu verheimlichen gibt. Ben-Elieser: Ja, Europa nimmt, von einigen mandoebene, aber nicht die Autonomie- Ben-Elieser: Nein. Wir haben die Uno nur Ausnahmen abgesehen, eine negative Hal- führung. gebeten, sich mit uns abzustimmen. Nie- tung gegenüber unserem Land ein. Es ver- SPIEGEL: Und was ist mit den verwüsteten mand hat das Recht, eine Untersuchungs- hält sich nicht ausgewogen. Ich vermisse Ministerien und anderen zivilen Einrich- kommission hierher zu schicken, ohne vor- schmerzhafte Fragen auch an die ande- tungen der Palästinenser? her mit uns darüber zu reden. Als wir re Seite. SPIEGEL: Sie verübeln den Europäern, dass sie erst vorige Woche auf der Mittelmeer- konferenz im spanischen Valencia wieder klipp und klar den Abzug aus den Palästi- nenser-Gebieten gefordert haben? Ben-Elieser: Ich meine, Europa sollte, gera- de im historischen Kontext, große Sensibi- lität gegenüber der jüdischen Nation zeigen. SPIEGEL: Wo bleibt Ihre Sensibilität ge- genüber den Palästinensern? Als ehema- liger Koordinator im Westjordanland kön- nen Sie sich gewiss vorstellen, dass die monatelange Abriegelung die Menschen demütigt und nur noch mehr Hass schürt. Ben-Elieser: Ich bekämpfe nicht das paläs- tinensische Volk. Das ist nicht mein Feind. Ich wehre mich gegen den Terror. Und wenn die Menschen jetzt leiden, dann müs- sen sie zu Arafat gehen, damit der seinen Kurs ändert. Aber solange auf meinem Tisch täglich neue Berichte über poten-

AP zielle Selbstmordattentäter landen, bleiben Premier Scharon (r.) auf Beileidsbesuch*: „Es gibt keine militärische Lösung“ die Belagerungsringe bestehen. SPIEGEL: Ben-Gurion sprach vom notwen- Ben-Elieser: Das sind doch Nebensächlich- dann den Arbeitsauftrag sahen, waren digen „Respekt für die Bedürfnisse und keiten. Diese Probleme können wir in zwei wir schockiert. Der erweckt den Eindruck, die Ehre der Araber und ihre nationalen Minuten lösen. als sollten hier Kriegsverbrechen unter- Bestrebungen“. In der Politik Ihrer Regie- SPIEGEL: Die Geschehnisse im Flüchtlings- sucht werden. Wir aber wollen, dass auch rung ist davon wenig zu spüren. lager Dschenin können Sie nicht so ein- die Gewalt der Palästinenser unter die Ben-Elieser: Ben-Gurion hat auch nicht die- fach beiseite wischen. Ihren Einmarsch Lupe genommen wird. Wo war denn sen täglichen Terror erlebt, der uns heute dort wird jetzt eine Kommission der Uno Kofi Annan in den vergangenen einein- heimsucht. Ich bin auch für einen palästi- untersuchen. halb Jahren, als der Terror über uns ge- nensischen Staat. Aber im Moment habe kommen ist? ich genug Sorgen mit unserem eigenen Interview: Dieter Bednarz, * Bei der Trauerfeier für einen fünf Monate alten Säugling, SPIEGEL: Annan will Friedenstruppen ent- Staat. Annette Großbongardt der durch palästinensische Steinewerfer getötet wurde. senden, um die Eskalation der Gewalt zu

142 der spiegel 18/2002 Werbeseite

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Werbeseite CHRISTOPHER PFUHL / AP CHRISTOPHER PABLO MARTINEZ MONSIVAIS / AP MONSIVAIS MARTINEZ PABLO Ex-Agent Connolly mit Anwältin, FBI-Hauptquartier in Washington: „Ich habe im Auftrag gehandelt, unter ständiger Aufsicht“

USA Der Prinz von Boston Amerikas legendäres FBI hat ein Problem mit V-Männern: Bundespolizisten ließen sich von ihren Unterwelt-Informanten bestechen, deckten deren kriminelle Machenschaften und vertuschten sogar Morde.

ie nannten ihn „Whitey“, weil er vor Gericht ausplauderte, dass FBI-Agen- haben dürfte. Seit zweieinhalb Jahren läuft strohblond war. Aus einer Autowerk- ten ihm und Bulger den Rücken beim ein Verfahren wegen Behinderung der Jus- Sstatt und einem Schnapsladen unten Aufbau ihres kriminellen Imperiums tiz und Bestechlichkeit gegen Connolly. im alten Hafenviertel kontrollierte er das freigehalten hatten. Die Agenten der Po- Selbst in der skandalgesättigten Ge- illegale Glücksspiel, das Geschäft mit Wu- lizeibehörde ließen ihren kriminellen schichte der amerikanischen Bundespoli- cherkrediten und den Rauschgifthandel V-Männern Warnungen zukommen, sobald zei ist der Bostoner Fall einzigartig. Dass in Boston. Viele Jahre lang jagten ihn die andere Ermittler hinter ihnen her waren. sich lokale Agenten Freiheiten heraus- Polizei des Bundesstaats Massachusetts Die Gerüchte über trübe Machenschaften nehmen und im übergeordneten nationa- und die Fahnder der Drogenbehörde, doch im Bostoner FBI-Büro waren schon ewig len Interesse lokale oder regionale Er- keiner konnte ihm etwas anhaben, denn er im Umlauf gewesen – jetzt endlich gab es mittler überspielen, hat es auch anderswo besaß den mächtigsten Beschützer, den ein den Beweis für Manipulation und Korrup- gegeben. In Boston aber spielte sich über Gangster überhaupt haben kann – das FBI. tion: eine Katastrophe für den elitären anderthalb Jahrzehnte lang in Reinkultur Und weil Whitey überdies ein kluger Dienst, der hilflos seiner Entzauberung zu- ab, was in anderen FBI-Skandalen nur in Kopf war, baute er für den Fall vor, dass sehen muss. Ansätzen erkennbar war: Angestellte des ihm sein Mentor bei der legendären Bun- Information gegen Protektion – die Idee Staats fraternisierten mit Schwerverbre- despolizei abhanden kommen würde: Er für diesen Deal stammte von FBI-Agent chern und nahmen dafür Geschenke ent- besorgte sich falsche Pässe und deponier- John Connolly, heute 62. Bulger und Flem- gegen. Sie ermöglichten Verbrechen und te größere Geldbeträge auf mehreren Ban- mi sollten Insiderwissen über die Unter- verhinderten deren Aufklärung. Sie ließen ken, verteilt übers ganze Land. Vor sieben welt Neuenglands liefern, vor allem über es zu, dass Unschuldige jahrzehntelang im Jahren war es dann so weit, und seither ist die Mafiosi, denn den Krieg gegen die Cosa Gefängnis saßen, während sie die wahren James Bulger auf der Flucht. Mittlerweile Nostra hatte das FBI zur nationalen Auf- Täter, die ihnen bekannt waren, unbehel- ist er 71, er soll 18 Morde begangen haben gabe erklärt. Detektiv Connolly genoss ligt ließen. und steht auf der Fahndungsliste des FBI bald den Ehrentitel „der Prinz“ im Bosto- Den roten Faden zur Aufklärung des zusammen mit Osama Bin Laden. Die aus- ner Büro, weil drei Brüder aus dem Clan Skandals lieferte der Bostoner Schwer- gesetzte Belohnung beträgt eine Million des Paten Gennaro Anguilo samt etlichen verbrecher Flemmi. Seitdem bemüht sich Dollar. Unterlingen im Gefängnis landeten. eine Spezialeinheit des Justizministeriums, Sein Kollege Stephen Flemmi, den sie Der trostlose Alltag eines FBI-Agenten dem das FBI unterstellt ist, um Wahrheits- „Rifleman“ nannten, erwies sich als weni- – nächtelange Überwachung verdächtiger findung. Gegen ein knappes Dutzend der ger umsichtig. Anstatt wie Bulger nach ei- Häuser und Gestalten – blieb dem angeb- Bostoner Agenten laufen Ermittlungen. nem Tipp vom FBI rechtzeitig abzuhauen, lich so erfolgreichen Connolly erspart. Am Nach dem jüngsten Spionageskandal um verbüßt er momentan eine zehnjährige Ende seiner Dienstzeit lebte er auf ziemlich den FBI-Agenten Robert Hanssen, der Haftstrafe wegen Erpressung und Geldwä- großem Fuß: Er besaß ein 400000-Dollar- trotz auffälligen Lebenswandels mehr als sche. Derzeit steht er wieder vor Gericht – Haus in einem gutbürgerlichen Viertel, ein 15 Jahre unentdeckt als Spion Moskaus ihm werden zehn Morde zur Last gelegt. 300000-Dollar-Sommerhaus auf Cape Cod Top-Geheimnisse verriet, droht nun eine Flemmis Prozess war eine Sensation in – Immobilien, die er sich von seinem Ge- noch üblere Affäre den Ruf der legendären ganz Amerika, weil der Berufsverbrecher halt, 60000 Dollar im Jahr, kaum erspart Polizeitruppe zu zerstören. Und wieder

146 der spiegel 18/2002 Ausland entpuppten sich deren Ordnungshü- ter als korrupt und unprofessionell. In Washington untersucht deshalb auch ein Ausschuss des Kongresses die Vorkommnisse, die sich im We- sentlichen zwischen 1975 und 1990 abgespielt haben. Pikanterweise ent- wickelte sich daraus ein Streit, der für die Regierung zur Peinlichkeit ge- riet. Die parlamentarischen Ermittler beanspruchten nämlich wichtige Ak- ten, die Justizminister John Ashcroft jedoch nicht übergeben mochte. Was dahinter steckt, ist leicht zu durchschauen: Das FBI will das Mo- nopol und die Kontrolle beim Auf- decken des Bostoner Skandals be- halten. Mit seiner Weigerung aber

löste der erzkonservative Ashcroft in / AP (R.) PRATT FLAVELL AP (L.); CONSTANCE der Öffentlichkeit einen Sturm der Flüchtiger V-Mann Bulger, Informant Flemmi (Zeichnung r.) vor Gericht: Entzauberter Dienst Entrüstung aus. Der Verbrecher James Bulger und der junger FBI-Agent, kurz zuvor von New Geschenke an, mal ein Buch, mal ein hand- FBI-Agent John Connolly kennen sich seit York nach Boston versetzt worden. Bul- gefertigtes Messer. Connolly („Du kannst Kindertagen. Beide wuchsen im Süden ger war aufstrebendes Mitglied in der nicht 15 Jahre lang mit solchen Leuten zu Bostons auf, dem irisch-katholisch gepräg- „Winter Hill“-Gang, einer irisch-katholi- tun haben, ohne sie zu mögen“) bekam ei- ten Armutsviertel der Stadt. Bulger und schen Gangstertruppe, zuständig fürs kri- nen Diamantring, sein Vorgesetzter John sein Bruder Bill beeinflussten Connolly ein minelle Kleingewerbe im Bostoner Süden: Morris gestand später dem Richter, dass Leben lang: Der brave Bill, ein Bücher- Wucherkredite, Wettabsprachen beim Pfer- ihm Bulger 7000 Dollar gegeben hatte. Und wurm, der es erst zum Senatspräsidenten derennen, manipulierte Automaten. Das wenn irgendjemand im Büro oder bei der seines Heimatstaats und danach zum Prä- große Geschäft blieb in diesen Tagen der Bostoner Polizeiführung an der Vertrau- sidenten der Universität von Massachusetts Mafia überlassen: Mord, Drogen, Schutz- lichkeit mit einem Schwerverbrecher An- brachte, riet ihm zum Studium, das ihn gelderpressung. stoß nahm, benutzte Connolly sein ulti- dann zum FBI führte. Der böse James, elf Noch heute gibt sich der smarte Con- matives Argument: Bulger hat uns die Jahre älter als Connolly, wurde 1956 wegen nolly überzeugt, dass er im Einklang mit Mafia ans Messer geliefert. wiederholten Bankraubs verurteilt, konn- dem Gesetz gehandelt hat: „Ich habe im In einer Januarnacht 1981 versteckten te aber die Haftzeit im berüchtigten Knast Auftrag des FBI gehandelt, unter ständiger sechs FBI-Agenten zwei Wanzen in der von Alcatraz – 20 Jahre – verkürzen, indem Aufsicht, bis hinauf nach Washington.“ Er Zentrale des Mafiabosses Gennaro Angui- er freiwillig als Versuchsobjekt an staatlich war ja auch klug genug, Kollegen und Vor- lo, einem Kolonialwarengeschäft in der organisierten LSD-Experimenten teilnahm. gesetzte an seinen brillanten Kontakten zur Prince Street. Vier Monate lang hörten Im Jahr 1975 verabredeten die beiden Unterwelt teilhaben zu lassen. Bundespolizisten in einem Apartment um ihren Deal, der im wechselseitigen Inter- Die Bostoner FBI-Agenten trafen sich die Ecke mit, was die Mobster planten und esse lag. Connolly war damals ein noch mit Bulger zum Abendessen, sie nahmen mit wem sie Geschäfte abwickelten. Der große Lauschangriff führte zur Verurtei- lung von 23 Mafiosi, darunter drei Angui- lo-Brüdern. Ein gigantischer Erfolg für das Bostoner FBI-Büro und ein vernichtender Schlag gegen die Mafia Neuenglands. Die FBI-Zentrale in Washington war begeistert. Connolly sorgte zum eigenen Ruhm dafür, dass Bulger als Zuträger für die ent- scheidenden Informationen galt. Tatsäch- lich aber war das eine heillose Übertrei- bung. Denn der Tipp, der zur Überwa- chung und Festnahme der Mafiosi führte, stammte in Wahrheit von einem kleinen Buchmacher, der sich von den Anguilos schlecht behandelt fühlte und Rache an ihnen nahm. Er wusste, wo Tag für Tag die Einnahmen – rund 45000 Dollar aus Wu- cherkrediten und Glücksspielen – abgege- ben wurden. Im Bostoner FBI-Büro aber galt Con- nolly als der Held, der die Mafia zerschla- gen hatte. Er genoss Respekt und Bewun- derung und galt als unangreifbar. Er char- mierte jedermann, schleppte jeden neuen Vorgesetzten erst zu Billy Bulger, der mitt-

CHARLES KRUPA / AP KRUPA CHARLES lerweile zu den politischen Patriarchen in Polizei von Massachusetts bei Spurensuche (2001): Indirekte Beihilfe zum Mord? Massachusetts gehörte, und danach zu

der spiegel 18/2002 147 Ausland

James Bulger, dem angeblichen Kronjuwel und Flemmi von Hallorans Aussagen unter den V-Männern. Und wann immer erzählt. die Konkurrenz von der Staatspolizei oder Als dann die Justizmaschine im Bosto- der Drogenfahndung die Methoden des ner Skandal richtig lief, als Flemmi endlich FBI kritisierte, taten Connolly und die an- in Haft kam und Bulger auf der Flucht war, deren im Bostoner Büro das als reinen Fut- fanden sich auch ein paar Zuträger aus der terneid ab. Unterwelt, um sich Strafminderung durch Zu den vermeintlichen Großtaten des Tipps zu verschaffen. Einer von ihnen führ- FBI-Informanten Bulger zählte auch, dass te die Polizei zu einem Kanalschacht neben er die Bosse der Winter-Hill-Gang, der er einer Schnellstraße in Boston – er hatte ja selbst angehörte, der Justiz auslieferte. der Bande als Friedhof gedient. Fünf ver- Einer nach dem anderen verschwand we- weste Leichen fanden sich hier, darunter gen Absprachen beim Pferderennen oder die Freundin Flemmis, die seit Jahren ver- wegen Marihuana-Schmuggels für viele misst worden war. Jahre im Gefängnis. Die Ermittlungen führten auch zur Auf- Doch die Gang hatte bald einen neuen klärung eines Altfalls aus den sechziger Boss – James Bulger. Und als dann auch Jahren, der bewies, dass kriminelle V-Män- noch die Mafiosi der Anguilo-Familie im ner in Boston schon immer geschätzt wur- Gefängnis saßen, traf Bulger mit der dezi- den. In einer nahen Kleinstadt war 1965 ein mierten Cosa Nostra Absprachen über die Mann getötet worden. Das FBI wusste ge- Aufteilung Bostons nach Interessensphären, nau, wie sich im Nachhinein herausstellte, an die sich Iren wie Italiener hielten. dass Joseph Barboza, einer ihrer V-Leute, Der gescheiterte Bankräuber, der zu den Mord begangen hatte. einem mittelgroßen Paten aufgestiegen Das FBI-Büro in Boston und die Zen- war, lieferte weiterhin Informationen, und trale in Washington sahen dennoch taten- auch Connolly hielt sich an den Deal. Zum los zu, wie vier Unschuldige auf Grund eigenen Nutzen rühmte er Bulger weiter- der Aussagen Barbozas zu lebenslangen hin als unentbehrlichen V-Mann. Anders als das FBI woll- te die Staatspolizei von Massachusetts Bulger ans Leder. Sie schaffte es, eine Autowerkstatt, die als ei- nes der Hauptquartiere von Bulger und Flemmi diente, zu verwanzen. Seltsamerweise aber konn- ten die Lauscher über Wo- chen hinweg nichts Inkri- minierendes vernehmen – das Duo hatte rechtzeitig Wind bekommen. Seitdem die Gebräuche

des Bostoner FBI-Büros / AP WALSH SUSAN mühsam rekonstruiert wer- FBI-Chef Mueller, Justizminister Ashcroft: Besserung gelobt den, wurden auch etliche Morde wieder aufgerollt, die als unauf- Haftstrafen verurteilt wurden. Zwei star- klärbar zu den Akten gelegt worden waren. ben im Gefängnis, der dritte Mann kam Jetzt werden sie Bulger und Flemmi zur nach 30 Jahren, der vierte vor kurzem nach Last gelegt. Und damit leistete die Bundes- 33 Jahren frei, als der gezielt inszenierte polizei möglicherweise indirekte Beihilfe Justizirrtum schließlich nicht länger ver- zum Mord. tuscht werden konnte. Im Januar 1982 wandte sich ein Ge- Inzwischen gelobte FBI-Chef Robert wohnheitsverbrecher namens Brian Hallo- Mueller Besserung. Als Produkt intensi- ran, den ein Prozess wegen Mordes an ven Nachdenkens sollen die Richtlinien einem Drogenhändler erwartete, an das verstanden werden, die nach der Auf- FBI. Er wollte gegen Flemmi und Bulger deckung des Bostoner Skandals in Kraft aussagen, weil er Angst hatte, die bei- traten: Junge FBI-Agenten müssen sich den würden ihn umbringen. Er belastete sie nunmehr in zweijähriger Probezeit auf ihre im Zusammenhang mit zwei Morden, an moralische Standfestigkeit testen lassen. deren Vorbereitung er selbst beteiligt war. Überdies gehört ein 15-wöchiger Ethikkurs Im Normalfall wäre jemand wie Hallo- zur Ausbildung, inklusive eines Besuchs ran sofort zu seiner Sicherheit ins Zeu- im Washingtoner Holocaust-Museum – als genschutzprogramm aufgenommen wor- Anschauungsunterricht, welche Folgen ab- den, aber nichts dergleichen geschah. Wie solute Rechtlosigkeit haben kann. er geahnt hatte, wurde er bald danach Den gewünschten Effekt könnte das ge- umgebracht. FBI-Mann Morris sagte spä- naue Studium der korrupten Bostoner FBI- ter unter Eid aus, Connolly habe Bulger Filiale ebenso gut erfüllen. Gerhard Spörl

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INDONESIEN Schmutzige Wäsche Präsidentin Megawati lässt Günstlinge des Ex-Diktators Suharto vor Gericht stellen. Doch auch sie darf es nicht zu genau mit der Gerechtigkeit nehmen. ie Halle B 2 auf dem Messegelände von Jakarta hat schon bessere Tage Dgesehen. Vor den Toren fault der Müll, vom einst futuristischen Stahlgewöl-

be, das ein Fußballfeld überspannen könn- REUTERS te, blättert roter Lack. Bräutigam Tommy Suharto (2. v. r.) auf seiner Hochzeit*: Erbe der Vergangenheit Normalerweise werben hier langbeini- ge Models auf Industriemessen für die roh- Vier Jahre ist es her, dass Studenten mit gierungspartei Golkar und amtierender stoffreiche Tropennation. Derzeit aber dem Ruf nach „Reformasi“, nach Refor- Parlamentspräsident, in derselben Mes- thronen fünf Richter auf einem Podest über men, Suharto aus dem Amt gejagt haben. sehalle B 2 verantworten, weil er rund vier dem grauen Betonfußboden, und die Aus- Mehrere Milliarden Dollar soll sein Clan Millionen Dollar staatlicher Hilfsgelder stellungsstücke, die den einzigen Tisch am während der 32-jährigen Regentschaft auf umgelenkt haben soll. Ende des Riesensaals bedecken, dienen der Auslandskonten angehäuft haben. Hat jetzt Gerade sein Fall zeigt, wie schamlos eine Abrechnung mit der Vergangenheit. der Druck der Öffentlichkeit endlich dazu verwöhnte Elite das 228-Millionen-Einwoh- Zwei selbst gefertigte Bomben, neun geführt, dass die derzeitige Präsidentin Me- ner-Land ausplünderte. Die vier Millionen Feuerwaffen, 5000 Schuss Munition und gawati Sukarnoputri mit den korrupten waren ursprünglich für eine „Reislieferung ein Sack voller schmutziger Wäsche sind Altlasten der Vergangenheit aufräumt? an die Armen“ vorgesehen. Als Tandjung die Beweismittel im Mordprozess gegen Asmara Nababan, der stets skeptische kurzfristig in Untersuchungshaft kam, mel- Hutomo Mandala Putra, 39, besser be- Generalsekretär der staatlichen Menschen- dete sich ein Parteifreund bei der Staatsan- kannt als „Tommy“ Suharto. Der Lieb- rechtskommission, sieht Grund für vor- waltschaft und zahlte das Geld bar zurück. lingssohn des Ex-Diktators soll den Mord sichtigen Optimismus: „Wir stehen zwei- Er habe den Betrag in seinem Schlaf- an Richter Syafiuddin Kartasasmita in Auf- fellos vor einer historischen Zäsur.“ Denn zimmer wiedergefunden, log der Gönner, trag gegeben haben – aus Rache, weil Kar- gleich in einer ganzen Serie von Prozessen der anonym bleiben wollte. „Einige Leute tasasmita ihn im September 2000 wegen rechnen indonesische Gerichte derzeit mit in unserer Gesellschaft haben längst jeden Korruption zu 18 Monaten Gefängnis ver- Suhartos Günstlingen ab – der ehemalige Anstand und jedes Schamgefühl verloren“, urteilt hatte. Staatschef selbst entzieht sich nach wie vor wetterte daraufhin Präsidentin Megawati. Mit offensichtlicher Billigung mächtiger mit ärztlichen Attesten der Justiz. Solch publikumswirksame Erregung sei Freunde bei der Polizei war Tommy nach Seit Mitte März stehen in Jakarta zwei allerdings „nur Kosmetik“, klagt der Ju- jenem Urteil untergetaucht. Immer wieder Generäle und der ehemalige Gouverneur rist und Menschenrechtler Todeng Mulya verhinderten vermeintliche Fahndungs- von Osttimor wegen der dortigen Massaker Lubis. Neun Monate nach ihrer Amts- pannen die Festnahme des Lebemanns. vor Gericht. Verfahren gegen 15 weitere übernahme könne Megawati so wenige Seit November 2001 nun sitzt er ein, und Militärs sollen folgen. Der Gouverneur der Wirtschaftserfolge vorweisen, dass sie zu- wegen des gewaltigen Publikumsinteresses Indonesischen Zentralbank, Sjahril Sabi- mindest bei der Vergangenheitsbewälti- wurde das Prozessspektakel in die Halle rin, wurde wegen Veruntreuung öffentli- gung überzeugen müsse. Wenn sie aber B2 verlegt. Tommy droht die Todesstrafe. cher Gelder zu drei Jahren Freiheitsent- 2004 wiedergewählt werden wolle, könne zug verurteilt. Mehr als 100 sie es sich nicht mit Tandjungs Golkar-Par- weiteren Bankern droht tei und der Militärspitze verderben. ebenfalls Gefängnis, weil Die Politikerin weiß das offenkundig. sie während der Asienkri- Tandjung saß kaum eine Woche in seiner se von 1997 und 1998 Kre- klimatisierten Luxuszelle ein, da durfte er dite des IWF in den ei- schon wieder seinen Amtsgeschäften nach- genen Taschen verschwin- gehen. Auch Tommy Suharto lebt komfor- den ließen. Und seit Ende tabel: Seine Familie durfte die Gefängnis- März muss sich Akbar zelle für umgerechnet 6000 Euro verschö- Tandjung, Vorsitzender nern, im Besuchszimmer kann der Promi- von Suhartos einstiger Re- Häftling sogar Damen empfangen. Den Spitzenmilitärs winken ganz andere Vergünstigungen, wenn Megawati untere * Oben: mit seinem Vater, der ältes- ten Schwester Siti Hardijanti Ruk- Ränge stellvertretend für die Verbrechen mana und seiner Braut, der javani- der Truppe einsitzen lässt. „Sobald die Ver- schen Prinzessin Ardhia Pramesti fahren abgeschlossen sind“, ist sich Lubis si- Regita Cahjani, am 30. April 1997; cher, „steht einer Rückkehr der Generäle in unten: mit seinem Anwalt Juan Felix OKA BUDHI / AFP / DPA Tampubolon (2. v. l.) bei der Beweis- die Politik an der Seite von Megawati nichts Angeklagter Tommy Suharto (l.)*: Mordauftrag aus Rache? aufnahme am 24. April. mehr im Wege.“ Jürgen Kremb

150 der spiegel 18/2002 Werbeseite

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Werbeseite JÖRG WIEßMANN / ASA JÖRG WIEßMANN TYLER LARKIN / ASA LARKIN / ASA TYLER Vater Manfred Winkelhock (1985) „Ich hab ihn ja kaum kennen gelernt“

AUTORENNEN Das Erbe des Beißers Als der Grand-Prix-Pilot Manfred Winkelhock im Auto ums Leben kam, war sein Sohn Markus fünf Jahre alt. Trotz des Unglücks wurde auch er Rennfahrer. Jetzt, mit 21, gilt er als eines der größten Talente in Deutschland, wird von Mercedes gefördert und will in die Formel 1.

orgens war Martina Winkelhock mich mit, wenn der Markus eine schnelle Canstatter Wasen in Stuttgart Slalomwett- an die Strecke in Oschersleben ge- Zeit fährt“, sagt sie und erklärt sofort, war- bewerbe. Als sie mit Markus schwanger Mkommen. Sie betrat die Boxen- um sie so denkt: „Weil ich mich damit ab- war, 1980, hob Manfred in einem Formel-2- garage, und ihr Blick fiel auf den Fahrer, gefunden hab, dass er das will.“ Rennwagen auf dem Nürburgring ab, über- der angeschnallt im offenen Cockpit saß. Es musste so kommen. Martina Winkel- schlug sich siebenmal und wurde mit die- Weißer Helm, seitlich drei markante Strei- hock hat ihn als Jungen zum Fußball und sem Unfall berühmter als durch seine Sie- fen, hellblau, dunkelblau, rot. Das Visier zum Tennis chauffiert, aber der Fußball- ge. Als sie heirateten, im Dezember 1981, war hochgeklappt. Als sie die Augen sah, trainer scherzte nach einer Weile bloß: so- unterschrieb er fast zeitgleich einen For- erschrak sie. lange der Ball „kein Rädle“ hätte, wäre mel-1-Vertrag. Eigentlich war Manfred für „Ich sah Manfred“, erinnert sie sich. Der dieser Sport nichts für Markus. Martina nie etwas anderes als Rennfahrer – gleiche Helm, die gleichen Augen. Die Winkelhocks fahren seit Generatio- so hat sie früh gelernt zu verdrängen. Dabei war es Markus, der sich auf sein nen Rennen, ob Motorrad oder Auto. Man- Jetzt tut sie es wieder. Früher wartete sie erstes Autorennen vorbereitete. „Das war fred, der Zweitgeborene unter vier Söh- unbekümmert zu Hause darauf, dass Man- ein Moment, ich glaub, den vergess ich nen und der Ehrgeizigste, war der Erste, fred zurückkam. Jetzt verfolgt sie an den nie“, sagt sie heute, vier Jahre später. der die Passion zum Beruf machte. 47 Wochenenden angespannt Markus’ Ren- Denn in diesem Moment wurde Martina Grand-Prix-Einsätze überstand er. Dann nen im Fernsehen. „Wenn’s vorbei ist“, sagt Winkelhock klar, wie ernst es ihrem Sohn raste er bei einem Langstreckenrennen im sie, „denke ich immer: gut, wieder eins we- war: Dass er diesen Sport betreiben will, kanadischen Mosport in eine Mauer und niger.“ obwohl sein Vater, ihr Mann, 1985 in einem erlag tags darauf seinen Kopfverletzungen Das Problem ist nur, dass fast jedes Ren- Rennwagen ums Leben kam. Und dass all – was seine jüngeren Brüder Joachim und nen auch eins mehr ist, das ihn in seiner ihre Versuche, Markus von der Raserei ab- Thomas jedoch nicht davon abhielt, auch Karriere voranbringt. Markus Winkelhock, zuhalten, gescheitert waren. „Das war wie Rennfahrer zu werden. 21, beweist viel Talent. Im Vorjahr gewann ein Schock. Wenn ich da jetzt noch dran Martina und die Winkelhock-Brüder er in der internationalen deutschen For- denk, krieg ich eine Gänsehaut.“ wuchsen als Nachbarskinder im schwäbi- mel-3-Meisterschaft drei Läufe und wurde Martina Winkelhock sitzt im Wintergar- schen Waiblingen auf. Als Manfred und „Rookie of the Year“, bester Neuling. Das ten ihres Hauses. Sie wirkt jünger als 43, Martina sich nahe kamen, fuhr er bereits Championat gilt als eine der bedeutendsten spricht sanft und ohne Zögern. „Ich freu aus Spaß mit einem NSU Prinz auf dem Nachwuchsserien der Welt. Alle derzeiti-

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Markus Winkelhock Mallorca betreibt, als eine Art Ma- im Formel-3-Rennwagen nager um die Belange. Soll Mar- kus für ein Pressefoto posieren, fragt er per Handy bei Mayer nach, welche der Sponsorenkap- pen dabei zu tragen sei. Ohnehin hat er begriffen, dass es nicht reicht, nur schnell im Kreis zu fahren. Er ist pünktlich und wohlerzogen und ging Ende 1999 für drei Monate nach Eng- land, um als Praktikant bei einem Rennstall seine Kenntnisse des Englischen zu verbessern, der Branchensprache des internatio- nalen Motorsports. Jede Vokabel, die er nicht verstand, ließ er sich aufschreiben. Abends schaute er die Begriffe im Wörterbuch nach und lernte sie. Er schulte sich zum Profi. Dieses Jahr ist er in der ent- scheidenden Phase angelangt. Die Formel 3 ist so etwas wie die For- mel 1 im Miniformat. Die Autos

TYLER LARKIN / ASA LARKIN / ASA TYLER sehen mit ihren schmalen Chassis, Sohn Markus Winkelhock den frei stehenden Rädern und „Cooler Bursche der neuen Generation“ den Flügeln an Bug und Heck sehr ähnlich aus. Die Fahrer kom- gen deutschen Formel-1-Piloten fuhren hier Overalls des Vaters geschlüpft; sie schlot- men aus vielen Ländern, die meisten aus mit, Michael Schumacher und Nick Heid- tern um die Schultern. Manfred war ein Europa, einer sogar aus Malaysia. Vorige feld waren sogar Meister. stämmigerer Typ als er. Saison gewann ein Japaner den Titel. In diesem Jahr könnte es Markus Win- Martina Winkelhock hat einen weißen Es ist schwer, genügend Geldgeber für kelhock schaffen, er zählt zu den Favoriten. Porsche Carrera zurückgekauft, den ihr eine Saison aufzutreiben – eine halbe Mil- „Mein Ziel“, sagt er, „ist schon irgendwo Ehemann einst fuhr. „Den hat jetzt Mar- lion Euro kostet der Einsatz eines Autos, die Formel 1, ganz logisch.“ Logisch? kus“, sagt sie. Zwei Monate im Sommer soll es für Siege gut genug sein. Doch Mar- Er lümmelt sich in denselben Sessel, in fährt er damit, dann verschwindet der Wa- kus Winkelhock trägt beim Auftaktrennen dem gerade noch seine Mutter aufrecht gen wieder gehütet in der Garage. in Hockenheim einen roten Overall, der saß. Er war fünf, als der Vater plötzlich Als Kind sei Markus „sehr traurig und in- mit einer Menge Sponsorenlogos versehen wegblieb. „Wenn ich Fernsehinterviews trovertiert“ gewesen, sagt sie. Jetzt ist er zu ist. Über dem Rücken und der rechten von ihm anschaue, ist er wie eine fremde ihrer Freude umgänglich geworden, aber Brust spannt sich der Name eines Felgen- Person für mich. Ich kenn die Stimme trotzdem kontrolliert, und er handelt über- herstellers, für dessen Team Manfred Win- nicht, ich hab ihn ja kaum kennen gelernt.“ legt. Das sind nicht die schlechtesten Ei- kelhock die meisten seiner Formel-1-Ren- „Total komisch“, sagt er leise und lächelt genschaften, um sich auf der Piste aus dem nen bestritt. Als die Firma von den Ambi- in sich hinein. Vor einiger Zeit ist er in alte schlimmsten Schlamassel herauszuhalten. tionen des Sohnes hörte, fand sie es pas- Die ersten Test- send, ihn zu unterstützen. „Die sind auf fahrten in einem mich zugekommen“, erzählt Markus Win- Rennwagen hatte kelhock, „das ist schon sehr untypisch.“ ausgerechnet Marti- Er profitiert davon, ein Winkelhock zu na Winkelhocks Le- sein, so wie Ralf Schumacher davon profi- bensgefährte Bern- tierte, Bruder des Weltmeisters Michael zu hard Mayer arran- sein. Mercedes fördert Markus seit fast giert. Er und Mar- zwei Jahren, finanziert mit einer sechsstel- kus verschwiegen ligen Summe einen Teil der Saison und im Frühjahr 1998 hilft, für den Rest der Kosten Geldgeber zu die zwei Tage in finden. Seit dieser Saison treibt sogar ein Südfrankreich. Erst Mercedes-Motor seinen Rennwagen an. als der Vertrag für Weil der Pilot Winkelhock heißt? die erste Saison zur Norbert Haug antwortet, schon bevor Unterschrift bereit- ihm die Frage gestellt wird. „Die Unter- lag, brachten die stützung für Markus hat überhaupt gar beiden ihr den Plan nichts damit zu tun, dass der Vater und ich schonend bei. Seit- Freunde waren.“ dem kümmert sich Er war Manfred Winkelhocks Trauzeu- Mayer, der Immo- ge und geleitete Martina bei der Beerdi- biliengeschäfte auf gung. Jetzt ist er Motorsportchef bei Mer- WOLFRAM SCHEIBLE WOLFRAM DPA cedes und gewissermaßen Markus’ Boss. Winkelhock-Bergung* Witwe Martina Winkelhock * Am 11. August 1985 in Haug, 49, überblickt durch die getönten Mit dem Porsche in die Mauer „Das war wie ein Schock“ Mosport (Kanada). Fenster seines Bürobusses das Fahrerlager

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gestellen mit vier Räder- chen dran und angetrieben von einem knatternden Motor im Heck. Hier wer- den die Reflexe geschult und das Gefühl für Brem- sen, Lenken und Boden- haftung. Wer das nicht früh gelernt hat, so meinen die Experten, kann dieses Handicap nie mehr aus- gleichen. Markus Winkelhock aber fuhr kaum Kart. Und wenn, dann nur zum Ver- gnügen.

TYLER LARKIN / ASA LARKIN / ASA TYLER Kann er gar nichts dafür, Fahrer Joachim Winkelhock: Karriere nach Manfreds Tod so gut zu sein? Ist Talent etwa vererbbar? am Hockenheimring. Ob in der Formel 1 „Ich denk mal: schon“, sagt Markus. „Es oder – wie hier – beim Deutschen Touren- muss wohl in den Genen liegen.“ wagen Masters und der Formel 3: Fast je- „Das werde ich oft gefragt“, sagt Joa- des Wochenende verbringt er an irgend- chim Winkelhock, 41, und denkt ratlos einer Rennstrecke. Sein Job ist es, dafür nach. „Ich weiß es nicht, wirklich nicht.“ zu sorgen, dass die Marke erfolgreich ist. Auch er hat kaum Kart-Erfahrung. Sei- Dazu gehört es, Fahrer zu verpflichten, die ne Schule war bestenfalls die Lehmgrube, schnell genug sind, um in einem Mercedes in der er und Manfred dereinst Überschlä- zu siegen. Dem Sohn seines verstorbenen ge mit Schrottautos geübt haben. Bis zum Kumpels zu helfen, sieht er als Investition. Tod seines Bruders waren Autorennen für Als Haug und Manfred Winkelhock ein- Joachim Winkelhock nicht mehr als ein ander kennen lernten, waren die beiden Hobby. Nach der Beerdigung musste er sei- Schwaben Mitte 20. Winkelhock fuhr, und nen Eltern schwören, nie mehr zu starten. Haug, Redakteur einer Fachzeitschrift, Der Schwur hielt nur wenige Monate. schrieb darüber. Gelegentlich steuerte auch Dann stieg Joachim in einen Porsche und er Rennautos: „Ich bin mal ein Juxrennen fuhr besessener denn je. „Ich war bis da- gefahren. Da hat Manfred die Nacht vorher hin immer der Bruder, der im Schatten von bei mir am Bett gesessen und auf mich ein- Manfred stand“, erzählt er. „Dann hab ich geredet: ,Den Start musst du so und so ma- mir gesagt: So, jetzt zeig ich’s allen.“ chen.‘ Mir war es scheißegal, ob ich den Joachim Winkelhock kämpfte sich vor- Start versiebe oder nicht. Da hat er gesagt: an und fuhr 1989 sogar ein halbes Jahr in ,Nein! Du musst …‘ Er war ein Hitzkopf, der Formel 1; ein Desaster, weil das Auto ein Fighter, ein Beißer.“ zu schlecht war. Er wechselte zum Tou- Doch die wilden Zeiten, als solche Renn- renwagensport und wurde nacheinander fahrer als Idealtyp galten, sind vorbei. Es Meister in Großbritannien, Asien und kommt nicht mehr darauf an, einen Wagen Deutschland. 1999 gewann er die 24 Stun- ungestüm durch die Kurven zu prügeln, son- den von Le Mans, den Klassiker. dern feinfühlig Stoßdämpfer, Federn und Nur zwei Wochen nach seinem größten Flügel so abzustimmen, dass der Fahrer sei- Triumph flog er zum nächsten Einsatz. ne Geschicklichkeit am Lenkrad auszuspie- Nach Mosport. Erstmals kam er an den len vermag. Langsame Autos werden kaum Ort, wo sein Bruder verunglückt war. schneller durch den Mut des dickschäde- Er ließ sich die Stelle zeigen. Immer ligen Solisten, der drin sitzt, sondern viel- noch stand die Betonmauer viel zu nah mehr durch dessen Fähigkeit, mit Inge- am Kurvenrand. Gemeinsam mit seinem nieuren in Teamwork zu funktionieren. Team entschloss er sich, das Rennen zu Es läuft nicht mehr so, wie Manfred Win- boykottieren. Nie zuvor hatte er so etwas kelhock es machte, sondern so, wie Markus getan. Winkelhock es tut. Wenn Haug vom Vater Inzwischen ist für Joachim Winkelhock redet, erzählt er überwiegend Anekdoten. die Zeit der Titel vorbei. Vorvergangenes Spricht er vom Sohn, analysiert er ihn aus Wochenende kreuzten sich in Hockenheim der Distanz. „Er ist ein cooler Bursche der die Wege von Onkel und Neffe: Joachim neuen Generation“, sagt Haug. „Die hören fuhr für Opel im Pulk der Tourenwagen- zu, lassen sich nicht aus dem Konzept brin- Routiniers, Markus für Mercedes inmitten gen, haben ihr Ziel im Auge und arbeiten des Formel-3-Nachwuchses. darauf zu. Schon im vorigen Jahr fuhr er Doch anders als seine Schwägerin Mar- sehr erwachsen – dafür, dass er erst ein tina wird Joachim Winkelhock sich nie zu paar Rennen auf dem Buckel hat.“ sorgen brauchen, dass ein Sohn sich dem Eben das verblüfft. Die Pisten werden Risiko des Rennsports aussetzt. Er hat zwei längst von Rennfahrern beherrscht, die von Töchter. „Schon mal gut“, sagt er und Kindheit an in Karts sitzen, kleinen Rohr- schmunzelt. Detlef Hacke

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Halbfinalist Bayer Leverkusen* „Erfrischend offensiv“

SPIEGEL: Was meinen Sie da- mit? Toppmöller: Nehmen wir die Partie bei Schalke 04, unser viertes Saisonspiel. Ich hatte der Mannschaft eingetrich- tert, dass sie immer ins Spiel zurückfinden muss, nie auf- geben soll – egal, was passiert. Nach einem 0:2-Rückstand schafften wir also den Aus- gleich. Dann aber fiel das 3:2 für Schalke, und man musste fürchten, dass bei einer Nie- derlage einiges auf uns einge- stürzt wäre: der ewige Vor- wurf, Bayer-Teams hätten halt keine Siegermentalität.

SNAPS SPIEGEL: Es ging aber 3:3 aus, und Sie rannten vor Begeis- terung aufs Spielfeld. FUSSBALL Toppmöller: Ja. Denn andernfalls hätten die Spieler doch gesagt: Der Trainer kann uns viel erzählen, aber es funktioniert nicht. „Ein bisschen Blut geleckt“ Sie sind aber wirklich zurück ins Spiel ge- kommen. Das war ein Schlüsselerlebnis für Bayer Leverkusens Trainer Klaus Toppmöller über die die ganze Saison. SPIEGEL: Und plötzlich war auch die Cli- Chancen in der Champions League, Psychotricks, Karriereziele quenwirtschaft passé, die zuvor für die und die Schlüsselerlebnisse der Saison Bayer-Mannschaft kennzeichnend war? Toppmöller: Ich hatte das vor meinem Toppmöller, 50, schoss in 204 Bundesliga- men Glückwunschfaxe von Politikern, alle Dienstantritt auch gehört. Eine brasiliani- spielen 108 Tore für den 1.FC Kaisers- loben unsere Spielweise. Da wird das Team sche, eine kroatische und eine deutsche lautern. Als Trainer betreute er den FSV auch im Rückspiel in seinem Vorwärts- Clique, hieß es. Aber man muss halt mit Salmrohr, SSV Ulm, RSV Petersberg, Wis- drang nicht zu bremsen sein. den Spielern reden. Wenn ich das schon mut Aue, Waldhof Mannheim, Eintracht SPIEGEL: Dabei sind Sie doch nach eigener höre, ein Profi müsse nicht motiviert wer- Frankfurt, VfL Bochum und 1.FC Saar- Einschätzung eine Art Taktikfanatiker. den! Natürlich sind das auch nur Men- brücken. Seit Sommer 2001 arbeitet er bei Toppmöller: Deshalb ärgern mich Spiele wie schen, die mal Probleme haben. Doch wer Bayer Leverkusen. neulich das 1:2 gegen Werder Bremen in ein Problem im Kopf hat, spielt nicht gut. der Bundesliga ja auch so. Da saß der Bru- Also höre ich mir das an, etwa mittags beim SPIEGEL: Herr Toppmöller, werden Sie der von Manchester-Teammanager Alex Spaziergang. Dazu gehört auch, dass ich Ihren Spielern vor dem Rückspiel gegen Ferguson auf der Tribüne. Der musste ja auf unterschiedliche Eigenarten eingehe. Manchester United an diesem Dienstag, denken: Was ist das für ein taktischer Hüh- SPIEGEL: Welche zum Beispiel? wenn es um den Einzug ins Finale der nerhaufen? Man kann noch so viel erklären Toppmöller: Unsere südamerikanischen Champions League geht, wieder sagen, das – die Spieler müssen auf dem Platz erken- Spieler sind es nicht gewohnt, an Spielta- Ergebnis sei zweitrangig? nen, dass der Trainer Recht hat. gen noch zu trainieren. Wenn wir abends Toppmöller: Das habe ich vor dem 2:2 im spielen, will etwa der Brasilianer Lucio Hinspiel vergangenen Mittwoch so gesagt, morgens bis elf Uhr schlafen. Ich sage ihm: um der Mannschaft den Druck zu nehmen. Die Sportmediziner haben festgestellt, dass Noch am Morgen des Spieltags hatte ich morgendliches Training vorher gut ist – mir Videos von Manchester angeguckt, mir den Kohlenhydratspeicher leer machen wurde angst und bange, so gut waren die. und dann wieder auffüllen. Da lacht der Also habe ich meine Jungs starkgeredet sich kaputt. Also habe ich angeordnet, dass und ihnen gesagt: Weltweit sitzen 500 Mil- das Training am Spieltag freiwillig ist. lionen vor den Bildschirmen, sogar auf den SPIEGEL: Weil Neid entstünde, wenn Süd- Fidschi-Inseln. Spielt so, dass ihr allen in amerikaner Extrawürste bekämen? Erinnerung bleibt. Toppmöller: Natürlich beäugen sich die SPIEGEL: Jetzt wollen Sie sicher mit Bayer Spieler gegenseitig ganz genau. Meine Auf- Leverkusen ins Finale – auch unter Ver- gabe ist es nun mal, dafür zu sorgen, dass zicht auf bisher so reichlich ausgeschütte- jeder im Spiel die Topleistung abruft. Auch te Schönheitspreise? von der Konzentration her. Wenn einer Toppmöller: Unsere Mannschaft kann gar

nicht anders als erfrischend offensiv spie- ROSE / BONGARTS MARTIN * Torschütze Oliver Neuville (M.) beim 2:2 im Halbfinal- len. Gerade das Hinspiel in Manchester hat Trainer Toppmöller, Bayer-Star Ballack Hinspiel der Champions League bei Manchester United sehr viel Begeisterung geweckt: Wir beka- „Gas geben ohne Ende“ am vergangenen Mittwoch.

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Werbeseite beim Eckball stehen bleibt den Buckel klopfen lassen? und der Gegner das Tor Ich bin ein ausgeglichener köpft, da würde man ja am Mensch – nur, wenn ich an- liebsten einen umbringen. gemacht werde, kann ich Aber man kann, wie wir an auch böse werden. Als Trai- der Mosel sagen, nur mit ner von Waldhof Mann- den Mädchen tanzen, die heim habe ich aus Schrott auf der Kirmes sind. ein Topteam gemacht. Dann SPIEGEL: Michael Ballack, unterschrieb ich bei Ein- der jetzt zu Bayern Mün- tracht Frankfurt und muss- chen wechselt, reifte im- te mir Kommentare an- merhin in dieser Saison hören wie: Kann der das zum Führungsspieler. Wie überhaupt? Da lache ich haben Sie das hinbe- mich kaputt. Ich wurde Re- kommen? kordtorschütze beim 1.FC Toppmöller: Zunächst bin ich Kaiserslautern, National- im Sommer, als über seinen spieler und habe ein Inge- möglichen Weggang disku- nieursstudium mit Examen tiert wurde, zu einer Veran- absolviert. Was sollte ich da staltung der Fans gegangen. noch nachweisen?

Ich habe denen erklärt, dass FIRO / AUGENKLICK SPIEGEL: Warum passiert es sich der Michael woanders Konkurrierende Fußball-Manager Calmund, Meier: Von Neid zerfressen? immer wieder, dass Sie mit verbessern kann, auch fi- selbstbewussten Aussagen nanziell. Dass das jeder Arbeitnehmer so na, FC Liverpool – die kochen auch alle bei Konkurrenten anecken? Zuletzt befand machen würde. Da war Ruhe im Saal. nur mit Wasser. Eine Mannschaft auf in- Borussia Dortmunds Manager Michael Dann habe ich mir Ballack geschnappt und ternationales Topniveau zu bringen und Meier, Sie seien von Neid zerfressen. gesagt: Wenn es nicht läuft, rufen die nach sich wie Real Madrid sagen zu können: Toppmöller: So ein Humbug. Ich kenne vier Wochen nicht „Toppmöller raus“, son- Wir wollen auf Jahre hinaus Nummer eins überhaupt keine Missgunst. Ich drücke dern „Ballack raus“. Also musst du Gas in Europa sein – das wäre das Größte. Dortmund im Uefa-Cup beide Daumen. geben ohne Ende. SPIEGEL: Der Bayer-Konzern dagegen sieht Überhaupt, wenn deutsche Mannschaften SPIEGEL: Jetzt geht er weg, und auch die seine Fußball-Tochter als Werbevehikel, international spielen, sitze ich im weißen Stars Lucio und Zé Roberto werden heftig das heißt: Die Mannschaft muss im Fern- Hemd vor dem Fernseher. Gegen Dort- von Spitzenclubs umworben. Sind Sie ent- sehen präsent sein, möglichst internatio- mund sage ich nichts mehr, das ist vorbei. täuscht von Ihrem Arbeitgeber, der Fuß- nal spielen. Kann Ihnen das als Anspruch Ich habe mich nur ehrlich geäußert. ball-GmbH des Bayer-Werks, die nicht um reichen? SPIEGEL: Etwa, als Sie meinten, die Borus- jeden Preis das Team zusammenhält? Toppmöller: Unser Manager Reiner Cal- sen verkauften die Leute für dumm, wenn Toppmöller: Ein bisschen überrascht. Ich mund hat im Sommer einmal gesagt: Wenn sie trotz Millionen-Investitionen vorgäben, wollte gern eine Truppe von Weltklasse- mir einer vertraglich garantiert, dass wir sie müssten noch nicht Meister werden? format auf die Beine stellen. Dazu hätte die nächsten fünf Jahre immer Zweiter in Toppmöller: Am Ende haben sie Bärte bis gehört, die Spieler zu halten und ein, zwei der Bundesliga werden und damit für die zum Boden und sind immer noch nicht neue hinzuzukaufen. Aber es ist die Phi- Champions League qualifiziert sind, un- Meister, oder wie? Die haben 100 Millionen losophie dieses Clubs, gewisse Schwellen terschreibe ich sofort. Das hat mich ge- Mark in die Mannschaft investiert, nur Top- nicht zu überschreiten. Mit dem National- wurmt. Ich bin dann am ersten Trainings- stars. Die können sich gegen den Erfolg spieler Torsten Frings von Werder Bremen tag vor die Mannschaft getreten und habe gar nicht wehren. Mit denen Zweiter oder haben wir verhandelt, und ich dachte, wir gesagt: Wir wollen Erster werden. Dritter zu werden – das schaffen Sie als wären uns einig geworden. Dann kam SPIEGEL: Und für solch ein Gemeinschafts- SPIEGEL-Redakteure auch. Borussia Dortmund. Jetzt lacht der nur ziel konnten Sie selbst einen Heißsporn SPIEGEL: Danke. Aber hofften Sie nicht noch über unser Angebot. wie Ulf Kirsten begeistern, der im Ruf des vielmehr, mit dieser Frotzelei den Mitbe- SPIEGEL: Die Westfalen sollen ihm vier Mil- unverbesserlichen Egoisten stand und sich werber nervös zu machen? lionen Euro offeriert haben. Ihre Bundes- nun klaglos auf die Ersatzbank setzt? Toppmöller: Natürlich war das durchdacht. liga-Konkurrenten behaupten doch immer, Toppmöller: Ich habe halt alles angespro- Ein schönes Spielchen. War interessant. Zu- mit dem Konzern im Rücken könne Bayer chen, was mir nicht gepasst hat. Wissen erst hat uns ja alles auf Bayern München 04 sich jeden Spieler leisten. Sie was? Die Spieler wollen nur, dass der hetzen wollen. Aber nach unserem Spiel in Toppmöller: Mit Dortmund und Bayern kön- Trainer ehrlich zu ihnen ist und keine München habe ich mir gedacht: Die Bayern nen wir nicht mithalten. Wir können kei- Angst vor Stars hat. Das Problem dieser so werden nicht Meister. Wir haben zwar 0:2 ne Topstars von denen kaufen. Umgekehrt genannten schwierigen Typen ist doch, dass verloren, aber auf der Bank bin ich er- können die das. Aber ich kenne das ja. Als die immer nur gehätschelt wurden. Als ich schrocken: Nur mit lang geschlagenen Bäl- Trainer beim VfL Bochum habe ich mal 1999 beim 1.FC Saarbrücken anfing, kam len, dachte ich, wird das mit denen nichts. den ganzen Urlaub geopfert, um mit Spie- der Spieler Patrick Klyk und fragte: Trai- Da stand für mich fest, dass Dortmund un- lern zu verhandeln. Am Ende war der Ur- ner, planen Sie mit mir? Ich sagte: Nein, in ser Hauptkonkurrent sein würde. laub weg und der Wunsch-Spieler doch die Stammelf schaffst du’s nicht mehr. Da SPIEGEL: Ist es auch Ihrem Weitblick ge- nicht da. Weil der Verein das Geld nicht gibt der mir die Hand und sagt: Danke, schuldet, dass Leverkusens deutsche Na- aufbringen konnte. So etwas tut dann weh. Trainer, Sie sind der Erste, der mir die tionalspieler neuerdings sogar vom Gewinn SPIEGEL: Bei einem Club wie Bayern Mün- Wahrheit sagt. des WM-Titels reden? chen würde Ihnen das nicht passieren. SPIEGEL: Sie galten lange als Sprücheklop- Toppmöller: Selbstbewusst halt. Man könn- Reizt Sie so eine Adresse? fer. Haben Sie das Gefühl, dass Ihnen bis- te meinen, meine Arbeit hat schon gewirkt. Toppmöller: Im Prinzip keine Frage. Man lang zu wenig Wertschätzung zuteil wurde? Aber im Ernst: Weltmeister, das ist schon hat ja jetzt als Trainer selbst ein bisschen Toppmöller: Ich bin 50 Jahre alt, was soll sehr vermessen. Interview: Jörg Kramer, Blut geleckt. Juventus Turin, FC Barcelo- ich mir da noch von den Leuten auf Gerhard Pfeil

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MEERESFORSCHUNG Pinguinsterben durch Rieseneisberg m Schnitt alle zehn Jahre brechen Eisberge vom gewalti- Igen Panzer der Antarktis ab und treiben aufs offene Meer hinaus. Welche Turbulenzen solche Riesen von der Größe Schleswig-Holsteins im marinen Ökosystem auslösen kön- nen, haben Forscher von der Stanford University jetzt erst-

mals mit Hilfe von Satellitenbildern analysiert. Ein als B-15 / MINDEN PICTURES TUI DE ROY bezeichnetes Ungetüm hatte sich im März 2000 vom 1000 km Ross-Schelfeis gelöst und war innerhalb weniger Mo- nate in kleinere Eisberge zerbrochen. Die Ab- Atlantik kömmlinge des Riesen legten sich wie eine Kette um ANTARKTIS die Ross-See und hinderten auf einer riesigen Fläche das Packeis daran, in den Ozean zu driften. Südpol Anhand der sich verändernden Grüntöne des Mee- res erkannten die Forscher, dass sich unter der weit- Ross- Pinguine in der Antarktis gehend lichtundurchlässigen Packeisdecke die Schelfeis Planktonproduktion um rund 40 Prozent verringer- Ross-See Pinguine, die den Krill als Beutequelle benöti- te. Von diesen mikroskopisch kleinen Meeresalgen le- Pazifik gen. Die Situation im Südpolarmeer hat sich mitt- ben wiederum Krebstierchen wie der Krill. Auch deren Be- lerweile entspannt. Große Teile des Packeises scheinen stände gingen folglich zurück. Als letzte Glieder in der Nah- sich aus der Umklammerung zu lösen, die Planktonproduktion rungskette traf das Eisberg-Desaster Fische, Wale, Robben und nimmt allmählich wieder zu.

COMPUTER Elektronische Warnung vor dem Verbrechen er langsam durch ein Parkhaus schlendert, macht sich ver- Wdächtig. Wer sich in einer Einkaufszone faul in der Sonne USC H. SOCHUREK / ZEFA räkelt, löst einen automatischen Alarm aus. Nach diesem Prinzip Spermien unter dem Lichtmikroskop, Gynäkologin Sokol verfährt eine neue Mustererkennungs-Software namens „Croma- tica“, entwickelt von einer Gruppe um den Forscher Sergio Ve- GESUNDHEIT lastin. Großbritannien gilt mit schätzungs- weise 2,5 Millionen elektronischen Augen Macht Ozon unfruchtbar? als Hochburg der Überwachungskameras. Doch der Dienst in den Zentralen ist er- ohe Ozonbelastungen in der Luft hemmen nach Er- müdend. Hier soll die Software helfen: Hkenntnissen von US-Wissenschaftlern die Fortpflan- „Unsere Technik ist hervorragend geeig- zungsfähigkeit der Männer. Bei der Analyse von mehr als net, die langweiligen Aufgaben zu über- 10000 Spermaproben, die von Spendern aus Nord- und nehmen und auf Situationen hinzuwei- Südkalifornien stammten, fanden die Forscher unter der sen, die sonst nicht auffallen würden“, er- Leitung der Gynäkologin Rebecca Sokol von der Keck klärt Velastin. Sein Team „trainiert“ ein School of Medicine an der University of Southern Califor- „neurales Netzwerk“ so, dass es „abnor- nia zunächst keine Anzeichen dafür, dass zwischen der geo- male Bewegungen“ erkennen kann. Stellt grafischen Herkunft der Spender und der Qualität des Sper- etwa ein Flugpassagier seinen Koffer ab mas ein Zusammenhang besteht. Erst beim Vergleich der und geht zum Ausgang, soll Cromatica Proben mit den Daten zur Luftreinheit in den jeweiligen Bombenalarm auslösen. Und wenn ein Gebieten stießen sie auf deutliche Parallelen: Je höher die Fahrgast zu lange und zu nah an den

Ozonwerte in den Wohnorten der Spender lagen, desto Gleisen verweilt, könnte der Computer / ARGUM BOSTELMANN BERT schlechter waren die Ergebnisse im Hinblick auf Sper- vor einem bevorstehenden Selbstmord- Überwachungskamera mienanzahl und -mobilität. Wie das durch den Straßenver- versuch warnen. Unangepasstes Verhal- kehr freigesetzte Reizgas die Fortpflanzungszellen schädigt, ten gerät damit unter Generalverdacht, mahnen Datenschützer. ist ungewiss – zumal eine spezielle Blut-Hoden-Schranke Velastin weist den Einwand zurück. Schließlich liege die Ent- normalerweise verhindert, dass Abwehrstoffe oder im Blut scheidung, was bei „abnormalen Bewegungen“ zu tun sei, weiter- treibende Gifte die Spermien attackieren können. hin bei Wachleuten aus Fleisch und Blut.

der spiegel 18/2002 163 Prisma Wissenschaft · Technik

ARCHÄOLOGIE Tretmühlen für sauberes Wasser rchäologen des Museum of London Ahaben die Überreste von drei ge- waltigen Hebewerken entdeckt, welche die Bewohner des antiken Londinium im ersten Jahrhundert nach Christus mit sauberem Wasser versorgten. Eine der Anlagen, die die Forscher in der Nähe des antiken Zentrums der Stadt fanden, war offenbar groß genug, um täglich

mehr als 100000 Liter Wasser aus einem FOCUS / AGENTUR / MAGNUM T.HOEPKER Tiefbrunnen an die Oberfläche zu be- Biergarten in München, Müller fördern. Die verwendete Technik war einfach, aber wirkungsvoll: Vermutlich MEDIZIN Müller: Die neuen Stu- schufteten Sklaven in einer Art Tret- dien zeigen, dass Frau- mühle, um an einer Kette befestigte Kü- en ab 15 Gramm Al- „Es geht um das kohol ein erhöhtes Brustkrebsrisiko haben.

Beim Mann steigt die STOCKMEIER FRITZ rechte Maß“ Krebsgefahr für Tumo- ren im Mund-Rachen-Bereich oder in Michael Müller, Chefarzt für Innere den Verdauungsorganen ab 20 bis 25 Medizin am Marienhospital Osna- Gramm an. brück, über neue Studien zu den Ge- SPIEGEL: Rotwein schützt Herz und fahren des täglichen Alkoholkonsums Kreislauf. Gilt diese Regel nicht mehr? Müller: Die positive Wirkung für Herz SPIEGEL: Sollen die Deutschen gar kei- und Kreislauf ist wissenschaftlich gut nen Alkohol mehr trinken? bewiesen. Aber wer der Bevölkerung Müller: Sie sollen ruhig etwas trinken, generell rät, sich durch regelmäßiges aber weniger als bisher. Weintrinken vor Herzinfarkt und SPIEGEL: 40 Gramm Alkohol pro Tag, Schlaganfall zu schützen, der vernach-

MOLAS etwa ein Liter Bier, galt bei Männern lässigt, dass das Risiko, alkoholabhängig Gefundener Schöpfkübel mit Halterung bislang als unbedenklich, bei Frauen zu werden, mindestens zu 50 Prozent 20 Gramm, also rund ein halber Liter. genetisch determiniert ist. Eine solche bel in regelmäßigem Rhythmus auf und War das zu viel? Empfehlung würde die Zahl der Alko- ab zu bewegen. Das an die Oberfläche Müller: Der Grenzwert war offenbar zu holabhängigen deutlich erhöhen. gehievte Wasser wurde in speziellen hoch angesetzt. Nach neuen Studien SPIEGEL: Wäre totale Abstinenz sinnvoll? Bassins gesammelt und von dort über sollten Frauen nicht mehr als 15 Gramm Müller: Nicht unbedingt. Geringe Men- Kanäle und ein primitives Leitungssys- Alkohol zu sich nehmen, Männer höchs- gen Alkohol können auch positive Wir- tem über die gesamte Stadt verteilt. Mit tens 20 bis 25 Gramm. kungen haben. Wir wissen aus Studien, dem Nachschub aus der Tiefe reagierten SPIEGEL: Für Frauen wäre das ein Pils dass das Risiko, an Typ-II-Diabetes zu die Bewohner offenbar auf einen aku- oder ein Glas Wein, für Männer kaum erkranken, bei geringem Alkoholkon- ten Notstand: Die lokalen Flussläufe mehr. Warum sollen die bisherigen sum sinkt. Abgesehen davon würde ich und die Themse waren in römischer Empfehlungen der Deutschen Gesell- auch auf den Genuss durch ein Glas Zeit bereits so stark verschmutzt, dass schaft für Ernährung nach unten korri- Weißbier oder Wein nicht verzichten. in Badehäusern und Küchen Mangel an giert werden? Es geht nur um das rechte Maß. genießbarem Wasser herrschte.

TIERE ernden Sänger, in der anderen die stimmlich weniger auffälligen Exemplare. Anschließend Laute Vögel sind gesünder unterzog sie die Angehörigen beider Sanges- fraktionen mehreren medizinischen Tests, bei ie besten und lautesten Sänger unter den denen die Immunantwort der Vögel exakt Dmännlichen Staren machen den Stich bei gemessen wurde. Das Ergebnis erhärtet die den Weibchen. Woran das liegt, hat jetzt die bisherige Vermutung: Die Lauthälse verfügen US-Ornithologin Deborah Duffy bei ihren Ex- über das schlagkräftigste Abwehrsystem – und perimenten herausgefunden: Sie teilte gleich- werden deshalb von den Weibchen bei der altrige, in Gefangenschaft lebende Starenmänn- Familienplanung bevorzugt. chen mit Hilfe von Tonbandaufnahmen in zwei

Gruppen – in der einen die begabten, ausdau- BILD D. HOPF / SAVE Star beim Füttern 164 Werbeseite

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GESUNDHEIT „Körbeweise Rezepte“ Obwohl offiziell verboten, boomt der Versandhandel mit Medikamenten in Deutschland. Nun will die Bundesregierung Internet-Apotheken zulassen – gegen massiven Widerstand der Apothekerlobby, aber zur Freude von Krankenkassen und Patienten. PETER FRISCHMUTH / ARGUS PETER FRISCHMUTH Arzneimittelverkauf in der Apotheke (in Hamburg): Garantierter Zuschlag von durchschnittlich 27 Prozent

laubt man der Apothe- ren so im Jahr rund 450 Euro 5000 Boomendes kerlobby, dann hat Det- Rezeptgebühren. „Das ist für Glef Kronfeld Glück, dass mich schon ein kleiner Urlaub, Geschäft er noch lebt. Seit etwa einem und meine Krankenkasse ver- Wöchentliche halben Jahr bestellt der Dia- dient noch“, freut sich der 4000 Bestellungen von betiker seine Arzneien bei Mann aus Köln. „Für mich ist Medikamenten der niederländischen Internet- DocMorris ’ne 100 Prozent gute Apotheke DocMorris. Als chro- Sache.“ bei DocMorris nisch Kranker braucht Kronfeld, Das sieht Bundesgesund- wie er sagt, „ewig Medikamen- heitsministerin Ulla Schmidt 3000 Verschreibungs- pflichtige te: Blutverdünner, Blutdruck- BOUCHERIE / TRANSPARENT DAVID (SPD) inzwischen genauso. Seit Arzneimittel senker, zweierlei Insulin“. Die Patient Kronfeld der von ihr eingesetzte „Runde Arzneien bezieht der 52-jährige „Gute Sache“ Tisch im Gesundheitswesen“, Pförtner per Kurier aus den an dem Ärzte, Pharmahersteller 2000 Niederlanden und ist damit vollkommen und Kassen zusammensitzen, vergangenen zufrieden. Montag unter heftigem Protest der Apo- Wenn es nach den deutschen Apothe- theker empfohlen hat, den Versandhandel kern geht, dürfte Kronfeld das allerdings mit Arzneien zuzulassen, ist auch die Mi- 1000 nicht sein: Unsicher sei der Versandweg nisterin auf diese Linie eingeschwenkt. ohne Rezept für Arzneien, persönliche Beratung un- Wird Schmidts Wille Gesetz, würde da- möglich – mit im Einzelfall womöglich le- mit eine Entwicklung legalisiert, die wohl bensgefährlichen Folgen. ohnehin nicht mehr aufzuhalten ist. Denn Ihn berate der Arzt, nicht der Apothe- das Geschäft von DocMorris boomt. Start: ker, hält Pförtner Kronfeld dagegen. Und Zwar ist der Versandhandel mit Medi- 8. JuniSept. Dez. März Juni Sept. Dez. März April er denkt ans Geld: Er und seine Frau spa- kamenten in Deutschland ausdrücklich 2000 2001 2002

166 der spiegel 18/2002 verboten. Erst 1998 beschloss der Bundes- land. Vergangenes Jahr setzte die Cyber- Arzt, dann geht die Sendung per Post in die tag mit der Novelle des Arzneimittelgeset- Apotheke 5 Millionen Euro um, im ersten Niederlande. Wer möchte, kann seine Be- zes, dass Medikamente nur in den Räu- Quartal dieses Jahres waren es bereits 3,5 stellung auch im Internet eingeben, muss men einer Apotheke abgegeben werden Millionen. „Pro Woche wächst der Umsatz dann aber das Originalrezept per Post hin- dürfen. Kranke sollten von fachkundigem um fünf Prozent, in jüngster Zeit sogar terherschicken. Personal beraten werden. noch mehr“, freut sich DocMorris-Chef Zwei Drittel der Kunden nutzen nur den Doch das ist graue Theorie. Längst ver- Ralf Däinghaus. Postweg; insofern ist das Internet bislang sorgen, Arzneimittelgesetz hin oder her, Erst waren Arzneien ohne Rezeptpflicht Nebensache. Für ihn sei es bequem, die die Pillenhändler mit der Netzadresse der Renner, danach verschreibungspflich- Medikamente an seinen Arbeitsplatz ge- „www.0800docmorris.com“ Zehntausende tige Medikamente, die die Patienten selbst liefert zu bekommen, so Patient Kronfeld. Deutsche. DocMorris, eine mit deutschem zahlen mussten, wie Viagra oder Haar- Gelegentlich hapere es aber mit den Lie- Risikokapital gegründete Apotheke im nie- wuchsmittel. Jetzt sind es auch Blutfett- ferfristen. „Da hab ich auch schon mal derländischen Landgraaf, beruft sich da- und Blutdrucksenker. mehr als eine Woche gewartet.“ „Die Rezepte kommen gerade waschkörbeweise, da können wir nicht nachkommen, obwohl wir in den vergangenen vier Wochen 20 Leute eingestellt haben“, räumt DocMorris-Chef Däinghaus ein. Deshalb werde die Apotheke vor- übergehend sogar Verordnungen zurückschicken müssen. Konkurrenz steht für diesen Fall schon parat: Anfang des Jahres ist die „Europa Apotheek“ im nieder- ländischen Venlo mit einem ähnli- chen Konzept wie DocMorris an- getreten – ebenfalls als Versandapo- theke nahe der deutschen Grenze, mit deutschen Finanziers. Richtig Schwung bekommen hat der Pillenboom per Post in den ver- gangenen Monaten durch die mas- sive Unterstützung der Kassen, die riesige Einsparmöglichkeiten wit- tern. Nach einer vom SPD-Bundes- tagsabgeordneten Martin Pfaff vor- gelegten Studie des Internationalen Instituts für Empirische Sozialöko- nomie könnten die Kassen etwa 500 Millionen Euro im Jahr einsparen,

JÖRG HEMPEL / ARTUR würden chronisch Kranke ihre Me- DocMorris-Lager, Internet-Portal: „In den vergangenen vier Wochen 20 Leute eingestellt“ dikamente künftig über eine Ver- sandapotheke beziehen. Wissen- bei auf europäisches Recht. Das erlaubt Obwohl verboten, erstatten inzwischen schaftler der AOK schätzen das Sparpo- das Geschäft per Post, wenn der Versender fast alle gesetzlichen Krankenkassen die tenzial gar auf knapp eine Milliarde Euro. eine zugelassene Apotheke ist. Auch nach bei DocMorris eingereichten Rezepte. „Von Ende vergangenen Jahres gingen die der E-Commerce-Richtlinie der EU ist der den 520 deutschen Kassen machen das Kassen deshalb in die Offensive. Neun Be- Netzhandel möglich. etwa 490“, berichtet Däinghaus. „Die meis- triebskrankenkassen (BKK) in Nieder- Gegen Ende des Jahres muss der Eu- ten sagen es nur nicht laut.“ sachsen verkündeten, bei seriösen Ver- ropäische Gerichtshof den Streit entschei- Die Kassen profitieren, weil die Preise sandapotheken eingereichte Rezepte er- den. Mehrfach in den vergangenen zwei der Versandapotheke im Schnitt zehn Pro- statten zu wollen. Jahren – DocMorris eröffnete sein Inter- zent unter denen normaler Apotheken lie- Die Gmünder Ersatzkasse (GEK), die net-Geschäft im Juni 2000 – gingen deut- gen, manchmal sogar um bis zu 60 Prozent ihre über eine Million Versicherten in der sche Apothekerverbände und Pharmafir- (siehe Grafik Seite 168). Der Grund: gerin- Mitgliederzeitschrift über Versandapothe- men gerichtlich gegen die Händler vor. Als gere Handelsspannen, Mengenrabatte und ken informiert hatte, wurde vom Bundes- ihnen der Medikamentenversand tatsäch- niedrigere Einkaufspreise in Holland. Lie- versicherungsamt in Bonn aufgefordert, die lich vom Landgericht Frankfurt untersagt fert die Netzapotheke nach Deutschland, Erstattung der Medikamente aus dem Netz wurde, verfielen die Internet-Apotheker führt sie 16 Prozent Mehrwertsteuer an den zu stoppen. Der GEK-Vorsitzende Dieter auf einen ebenso einfachen wie genialen deutschen Staat ab. Auch für die Patienten Hebel protestierte: „Ich erstatte weiter, bis Kniff: Die Tablettenschachteln werden lohnt es sich: Sie sparen die Zuzahlung von ich ins Gefängnis komme.“ Die Folge: seitdem nicht mehr versandt, sondern die bis zu fünf Euro pro Medikament. 160000 Euro überwies die Kasse im März Kunden beauftragen per Kreuzchen den Die Bestellung ist dabei denkbar ein- an DocMorris, im vergangenen September Paketservice mit der Abholung – ein feiner fach. Über eine Hotline, per E-Mail, Fax war es nicht einmal ein Prozent davon juristischer Unterschied. Sonst blieb alles oder Brief können die Kunden ein Bestell- (1500 Euro) gewesen. beim Alten. formular samt Freiumschlag anfordern. Der BKK-Landesverband Bayern schloss Nur die Nachfrage explodierte geradezu. Darin geben sie das Medikament an und vor wenigen Wochen einen Vertrag mit 80000 Kunden haben die Wahl-Niederlän- die Adresse, an die geliefert werden soll. DocMorris ab; darin sind gestaffelte Ra- der bereits, davon drei Viertel aus Deutsch- Dazu kommt noch das Originalrezept vom batte festgelegt. Außerdem sieht der Kon-

der spiegel 18/2002 167 Herkömmliche Ersparnis DocMorris: Apotheke: gegen Diabetes 10 x3ml HM Insulin Protaphan Billiger Doc 168 thekerzeitung wurden deutscheApothe- ImLeserbrief einerApo- kurrenz lanciert: werden Seitenhiebe gegen dielästige Kon- dem Geschäft herauspickten. Gleichzeitig Versandapotheken sichdieRosinen aus weilseien dannkaummehrmöglich, die sen werden: Beratung undNachtdienste herauf, sollte derVersandhandel zugelas- funktionäre unverdrossen Horrorszenarien gesprochen undbeantwortet. den alledieseFragen von DocMorris an- BeimTest derVersandapotheke wur- tel: diedeutschenWeißkit-ders blamabelfür Herzkrankefür nichtgeeignet sei.Beson- gen hinoderdarauf, dassdasMedikament Kauf einesNasensprays aufNebenwirkun- Pillenhändler wiesdieTestkunden beim Großstädten:theken infünf Kein einziger Bremen testeten dieJournalisten 50Apo- mittelexperten Gerd Glaeske von derUni nus“ aus.ZusammenmitdemArznei- Stichprobe desARD-Magazins„Plusmi- der Verbraucherzentralen. reichs GesundheitbeimBundesverband urteilt ThomasIsenberg, Leiter desBe- im weißen Kittel undberaten allzu selten“, begreifen sichselbstoft alsEinzelhändler Beratung nichtsoweit herist: „Apotheker Verbraucherzentralen, mitder dassesauch Hause. Zumanderen zeigen Studiender geholt, vieleApotheken liefern selbstnach Apotheken oft garnichtvom Patienten ab- werden Pillenauch inherkömmlichen kann“, ziehtalsonichtrecht. Ohnehin „zu Risiken undNebenwirkungen befragen chert, dassderPatient denPostboten nicht Apotheker-Verbandschef Gerhard Rei- recht zuprüfen. und sindverpflichtet, jedesRezept fachge- von 8bis20Uhrtelefonisch erreichbar sein Patientensen für undÄrzte wochentags Qualitätsmanagement vor. Apotheker müs- Stewens hält,eineigenes nichtig (CSU)für trakt, denBayerns Sozialministerin Christa Dennoch beschwören dieApotheker- Noch weniger vorteilhaft fieljüngsteine Der hämischeHinweis von Bayerns

Penfill 105,07 ¤ 95,47 ¤ %10% 9% Preisvergleich häufiggekaufter Medikamente Cholesterinwerte gegen zuhohe 100 Tabletten à10mg Sortis 110,99 ¤ 123,47 ¤ Nach Aussagen von Fachleuten imGe- fließt voll indieTasche desApothekers. Der Erlös daszweitekurbeln. für Präparat sonst dazugeben, umdenUmsatz anzu- stimmtes verkauftes Präparat einesum- dass Hersteller denApothekern einbe- für InderBranche istesüblich, mal abkassiert: preis drauflegen. sie als„Festzuschlag“ aufdenEinkaufs- diten. Durchschnittlich 27 Prozent dürfen verordnung garantiert ihnenüppige Ren- machen. DiedeutscheArzneimittelpreis- ker umihre Gewinne keine Sorgen zu delsspanne ringen, brauchen sichApothe- händler, dieumjedesPromille ihrer Han- menten-Großhändler undApotheker ein. tel dieser Rekordsumme strichen Medika- ten: 22,4Milliarden Euro. KnappeinDrit- Honoraremehr ausalsfür von Praxisärz- PillenundSalben die Kassen erstmalsfür liarden Euro steigern. Voriges Jahrgaben ihren Umsatz um4,5Prozent auf26,9Mil- Apotheken inDeutschland ten die 21600 ImJahr2000konn- ein Milliardengeschäft: nicht verwundern –esgeht schließlichum ländischen Kollegen“ lahmzulegen. bei DocMorris zubestellen, umden„hol- Packung desSchmerzmittels Paracetamol ker dazuaufgerufen, jedeWoche eine Legalisieren, was nichtaufzuhalten ist Gesundheitsministerin Schmidt Potenzmittel 12 Pillenà100mg Viagra Unter derHandwird allerdings noch Anders alsTextil- oderLebensmittel- So vielEngagement derEtablierten kann 141,60 ¤ 159,78 ¤ der spiegel 1 20% 11% Wissenschaft 18/2002 Anti-Baby-Pille 3 x21Dragées Valette 21,30 ¤ 26,62 ¤

BEN BEHNKE GEORG NOWOTNY / ACTION PRESS anteil, sant expandiert. Erreicht er5Prozent Markt- Klage derörtlichenApothekerkammer ein. wegzuwerfen, handelte sichprompt eine seine Patienten weiterzugeben, anstatt sie wagte, überzählige Tabletten kostenlos an nordrhein-westfälischer Landarzt,deres anmutenden Privilegien vom Hals.Ein Branche mitStandesrecht undaltertümlich Milliarde Euro jährlich extra aus. sundheitsministerium machtdiesrund eine beben.“ Versandhandel einmittelschweres Erd- deutsche Apothekenlandschaft wird der „Für die sulin-Hotline“ biete. Kerckhoff: mere undZusatzleistungen wieeine„In- die sichbesonders umDiabetiker küm- sandapotheken entstehen, etwa eine, Kerckhoff. Sokönnten spezialisierte Ver- industrialisierte Strukturen“, prophezeit führer von Mediservice Deutschlandist. mas Kerckhoff, Geschäfts- dergleichzeitig abgeschlossen, soBV-DVA-Sprecher Tho- mit einigen Krankenkassen Lieferverträge Ableger von Mediservice. Derhatbereits betreiben. Mitdabeiist aucheindeutscher len inDeutschlandMedikamentenversand Mitglieder, Inhabergroßer Apotheken, wol- VersandapothekerInnen (BV-DVA). Die sich inKöln derBundesverband Deutscher löchern. Amvergangenen Freitag gründete nung zuGunsten desGroßkapitals“. schub“, denApothekern drohe die„Enteig- „hemmungslosen Kommerzialisierung Vor- Bundesregierung deshalbvor, sieleiste der Deutscher Apothekerverbände, wirft der Günter Friese, ChefderBundesvereinigung kenketten kaummehrhaltbarsein.Hans- feste Preise unddasVerbot von Apothe- Medikamente ganzgeöffnet, werden auch Versandapotheke zubestellen. der Bürger überhaupt vorstellen, beieiner Lande können sichgerade mal39Prozent unter einemProzent. Und auchhierzu theke Mediservice imvergangenen Jahr der Marktanteil dergroßen Versandapo- InderSchweiz etwa lag existieren können: male Apotheken durchaus nebeneinander zudem, dassVersandapotheken undnor- Nähe alsMetzger oderBäcker. städte haben mehrApotheken inihrer kommt eine.Viele Bewohner derGroß- ken inEuropa –auf3800Einwohner Deutschland hatmitdiemeisten Apothe- behauptet, aberauchdannnichtsein. blik, andersalsderApothekerverband perte imbayerischen Sozialministerium. schätzt MaximilianGaßner, Apotheken-Ex- Apotheken inDeutschlanddichtmachen“, handel offiziell legalisiertwird undweiter an denKragen gehen, wenn derVersand- „Das werden komplett neueundauch Potenzielle Anbieter stehen indenStart- Wird ersteinmalderEU-Binnenmarkt für Erfahrungen ausdemAusland zeigen Unterversorgt dürfte dieBundesrepu- Tatsächlich könnte eseinigen Apotheken Unliebsame Konkurrenz hältsichdie „dann müssen20bis30Prozent der Heiko Martens, Cordula Meyer, Alexander Neubacher ra- Werbeseite

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Mehltau und Reblaus wurde längst der technik auf: Australien und Neuseeland LEBENSMITTEL Garaus gemacht. „Traubenvollernter“ pflü- werfen schon seit Jahren Eichenspäne in gen durch die Weinhänge. Nun geht es die Stahltanks. Die Schnipsel ahmen die Schnipsel auch noch dem Weingeist ans Bukett. würzige Note nach, den Weine im „Bar- Mit „äußerster Skepsis“ verfolgt der rique“ erhalten, dem traditionellen 225- Mainzer Experte Hans-Jörg Koch die Ent- Liter-Fass aus Eichenholz. im Fass wicklung. „Der Wein“, meint er, „gerät in Auch die Mostkonzentration ist in der die Fänge der Lebensmitteltechnologie.“ EU neuerdings erlaubt. Dabei wird der Zwischen Europas Traditions- Über zehn neue „önologische“ Verfahren Traubensaft eingedampft wie beim Mar- drängen auf den Markt. Der Begriff steht meladekochen. Die Süße steigt. winzern und den für physikalische Verfahren zum Panschen Droht also der Kunstwein aus dem Aro- „Winemakers“ aus Übersee tobt ein und Verschönern von Wein. malabor? Von „Kulturkampf“ und einer Kulturkampf. Kernfrage: Wie so oft geben die USA auch bei dieser „Amerikanisierung des Geschmacks“ ist Wie viel Panschen ist erlaubt? Schlechtigkeit den Ton an. Auf Bandstra- in den Fachblättern die Rede. ßen verkorken Kaliforniens Branchenriesen Fakt ist: Sonne, Regen, Boden und ei Finsternis und zehn Grad Kälte Gallo und Mondavi Zinfandel oder Caber- Hanglage, jene Schicksalskräfte, die einem zog Martin Faber auf den Wein- net als wäre es Motorenöl. „Die Globalisie- Jahrgang seinen unverwechselbaren Ge- Bberg. „Am 14. Dezember, morgens rung gibt den Takt an, nach dem Dionysos schmack verleihen, haben an Macht verlo- um 4 Uhr 30, schlugen wir los“, erinnert tanzt“, meint Heinz-Gert Woschek, Her- ren – in vino exitus. sich der Winzer aus Freiburg. Vermummt ausgeber des Fachblatts „Alles über Wein“. Frankreich hat sich längst den neuen mit Mützen und Parkas schnitten seine Hel- Widerstand scheint zwecklos. Zwar kle- Zwängen ergeben. Ungeduldig fordern sei- fer im Schein von Lampen die schrumpe- ckerte Cäsar schon vor 2000 Jahren mit ne Winzer, die Holzspan-Methode endlich ligen Trauben vom Stock. Schorle. Alexandre Dumas trank guten in EU-Recht umzusetzen. Und auch an der Gegen neun Uhr, als die Wintersonne Bordeaux (wegen der Ehrfurcht) nur „Kälte-Extraktion“ findet das Land der glitzernd über dem badischen Land auf- kniend. Und Professor Müller-Thurgau er- Grands Crus Gefallen. Beim Sauternes, ei- ging, lagen die Reben schon in der Presse forschte schon den Riesling, als Australien nem weißen Bordeaux, wird die Schum- draußen auf dem Weingut. Zwei Tage lang noch als Sträflingskolonie diente. Doch das melei mit der Kühlschrankpressung bereits drückte die Hydraulik und quetschte eine schreckt die „Winemakers“ aus Übersee im großen Stil angewendet. goldgelbe ölige Essenz aus den frostigen nicht. Ständig ersinnen sie neuen Unfug: Beeren. • In Neuseeland ist es gelungen, Farbstoff Rebenflut aus Übersee Nun gärt der Most im Gewölbe. Jeden aus dem Trester zu gewinnen. Fahle Rot- Tag steigt Faber ins Verlies und verfolgt weine erhalten so feurigen Glanz. Weinimporte nach Deutschland 2000

aus EU-Staaten 10,6 Mio. Hektoliter Nicht- EU-Staaten 2,2 Mio. Hektoliter

in tausend Hektolitern* USA 240

Chile 213

Südafrika 135 2000 1992 Australien 130 * ARNE HODALIC / SAOLA / STUDIO X / STUDIO / SAOLA ARNE HODALIC ausgewählte Länder Industrielle Weinherstellung (in Australien): Dionysos ist in die Retorte geplumpst die Reifung seines Gewürztraminers „Frei- • Hurtige Reifung verspricht die „Mi- Nun knicken auch die Deutschen ein. burger Steinle Eiswein“. Kundige meinen, krooxidation“. Ähnlich wie im Aqua- Am 24. Juni tritt das Weinamt wieder der Trank (Preis pro Flasche: 30 Euro) ver- rium steigen kleine Sauerstoffbläschen zusammen, diesmal in Bratislava. Die brenne auf der Zunge wie feuchte, fruch- im Fass auf. Berliner Delegation drängt darauf, ihren tige Asche. • US-Firmen stellen – durch einen Dreh Weinen „flüchtige Säure“ entnehmen zu Nur, warum das alles? Gibt es nicht am Alkoholpegel – „Light“-Weine her. dürfen. Bei der Methode läuft der Most so Kühlschränke? Neuseelands Kellermeister Noch ist keines der Verfahren in Europa lange durch Membranen und Anionen- mögen auf Schnee nicht warten. Sie packen zugelassen. Streng wacht das Internatio- austauscher, bis der Essig abgeschie- die Trauben einfach in die Gefrierbox. nale Weinamt (OIV) in Paris über die rech- den ist. So ist es allerorten. Dionysos – dem My- te Art der Kelterei. 46 Länder sind in dem Für die Deutschen wäre die Weichma- thos nach ein Gott mit Ziegenfüßen, der Verein organisiert. Die USA traten zum chertechnik ein Segen. Saure, „bissige“ angetrunken durch den Wald schwärmt – ist Juni 2001 aus, sie fühlten sich geknebelt. Tropfen sind den nordischen Winzern nur in die Retorte geplumpst. Wo einst der Gleichwohl wächst der Druck auf die allzu gut bekannt. Der Grund: Zu viel Bocksbeutel stand, rotieren heute Zentri- Europäer. Auf der letzten OIV-Sitzung ga- Säure entsteht bei zu viel Regen. fugen. ben sie ihren Widerstand gegen die Chip- Matthias Schulz

170 der spiegel 18/2002 Werbeseite

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erwähnt wird das Schach in Indien um 630 nach Christus in einer Königschronik aus GESCHICHTE der Stadt Kanauj. Umfangreiche frühere Quellen wie etwa das Kamasutra aus der Zeit vor 400 nach Christus dagegen be- Sandkastenspiel der Könige schreiben das Spiel noch nicht. Um das Jahr 450 herum, so folgert Syed, müsse Eine Münchner Kulturhistorikerin hat den Ursprung Schach im Gebiet um die Stadt Kanauj in Nordindien erfunden worden sein – gebo- des Schachs enträtselt. Demnach ging das Brettspiel um 450 nach ren aus einer Kriegsbegeisterung, die selbst Christus aus indischen Kriegsübungen hervor. unter den Völkern der damaligen Zeit ihresgleichen suchte. ie Gesandtschaft des Königs von ab, um die Intelligenz und Weisheit des Ohne Unterlass führten die indischen Kanauj überbrachte die Botschaft Perserkönigs zu testen. Nun ist die diplo- Fürsten der Region damals Kriege gegen- Ddes Friedens. Auf den Rücken von matische Fernreise zum Ausgangspunkt ei- einander – ein Handwerk von „großer ge- 1000 Kamelen und 90 Elefanten schafften ner wissenschaftlichen Spurensuche ge- sellschaftlicher Bedeutung“ (Syed). In kom- die Inder Gold, Moschus, frischen Weih- worden, die den seit Jahrzehnten schwe- plizierten Schlachtaufstellungen ließen die rauch, Seidenstoffe und indische Schwerter lenden Forscherstreit um die Herkunft des Inder ihre viergliedrigen Heere – die be- nach Persien. Schachspiels entscheiden könnte. zeichnenderweise ebenfalls caturanga („vier Teile“) hießen – in den wei- ten Ebenen der Gegend auf- einander krachen. Während die Fußtruppen gleichsam als Bauernopfer todesmutig vor- neweg marschierten, wurden die Flanken des Heeres von gepanzerten Elefanten gesi- chert, die dazu dienten, „die Infanterie und die Reiterei des Gegners niederzutrampeln und Furcht zu verbreiten“. Vierspännige Kampfwagen aus Bronze, jeweils mit einem Bogenschützen besetzt, stürm- ten „rasend schnell“ in Rich- tung der feindlichen Linien. Die Kavallerie dagegen habe versucht, den Gegner einzu- kreisen und „zangenartig zu umschließen“. In dieser Atmosphäre aus Blut und Ehre, so glaubt Syed, entstand die Vorstufe des Schachspiels fast wie von selbst. Denn um das Gemet- zel zu optimieren, rückten in- dische Gelehrte dem Krieg auch theoretisch zu Leibe. „Für die Brahmanen war Krieg eine extreme intellek-

FRANK SCHUMANN / DER SPIEEGEL SCHUMANN FRANK tuelle Herausforderung“, er- Indische Kriegsdarstellung (11. Jahrhundert), Schachspiel: Todesmutig vorneweg marschiert läutert Syed. Nicht nur galt es, den Potentaten im Heer- Ebenfalls Teil der kostbaren Lieferung: „Ich bin absolut sicher, dass Schach in lager allabendlich über die Truppenbewe- ein neues Spiel. 32 Figuren, jeweils zur Hälf- Indien entstanden ist und nicht in Persien gungen zu unterrichten. Auch hätten sich te aus grünem Smaragd und rotem Rubin oder China“, sagt die Münchner Indologin die Weisen darin messen können, neue gefertigt (inklusive eines kostbaren „asta- und Kulturhistorikern Renate Syed. Und: Kampfstrategien und intelligente Win- pada“, des traditionellen 64-Felder-Bretts Nicht aus früheren Brettspielen, sondern kelzüge auszutüfteln. der Inder), sollten den persischen König aus „Kriegsübungen im Sandkasten“ sei Was aber lag da näher, als die kompli- Khusrau Anushirvan gnädig stimmen. „caturanga“, so der Sanskrit-Name für zierten Kriegstheorien mit Figuren nach- Die luxuriöse Karawane, der Nachwelt Schach, hervorgegangen. „Die Inder ha- zustellen? „Im Sandkasten“ oder „auf dem unter anderem durch das Königsbuch des ben Schach nicht als Spiel betrachtet“, sagt Palastteppich“ hätten die Brahmanen be- persischen Dichters Firdausi überliefert, Syed. „Es ist aus militärischen Lehrme- vorstehende und bereits geschlagene zog Mitte des 6. Jahrhunderts von Nord- thoden entwickelt worden, die dazu dien- Schlachten abgebildet, glaubt die Münch- indien ins persische Ktesiphon (siehe Kar- ten, Strategien und Taktiken einzuüben.“ ner Forscherin: „Die indische Kultur ist te) – im Gepäck das erste schriftlich er- Minutiös hat die Forscherin anhand his- sehr bildhaft.“ Daher überrasche es nicht, wähnte Schachspiel der Geschichte. torischer Quellen den Weg des Spiels von dass man für die Kriegsspiele Figuren be- Ohne Anleitung lieferten die Gesandten Indien nach Persien nachgezeichnet und nutzte. Zahlreiche Terrakotten von Krie- das wertvolle Geschenk der Legende nach seine Herkunft dingfest gemacht. Erstmals gern, Reitern und bewehrten Elefanten, die

172 der spiegel 18/2002 richtet die Indologin. Erst die Araber – deren Heere durch den Einsatz vieler Pferde und Reitkamele sehr wendig und schnell waren – hätten dem Mi- nister beim Schach die Lang- schrittigkeit der heutigen Dame verliehen. CHRISTIAN LEHSTEN / ARGUM LEHSTEN CHRISTIAN FÖRD. KR. SCHACHGESCH.-FORSCHUNG „Die Zugweisen des Schachs Elefantenfigur*, Indologin Syed: Strategie und Taktik lassen sich eindeutig aus der in- dischen Heeresordnung herlei- in Nordindien gefunden und bislang als ten“, resümiert Syed. Frühere Theorien, Spielzeuge oder Kultobjekte gedeutet wur- nach denen das Schach aus anderen Brett- den, passten genau ins Bild. spielen entstanden sein soll, hält sie für ab- Irgendwann habe einer der Gelehrten wegig. Während die meisten anderen Spie- schließlich das in Indien längst gebräuchli- le etwa durch Würfel vom Glück abhängig che Spielbrett astapada mit seinen 64 Qua- seien, komme es beim Schach auf die In- draten als Unterlage für die Planspiele be- telligenz der Spieler an: „Schach ist viel nutzt. Zum Schachspiel selbst sei es dann eher eine Intelligenzarbeit als ein Spiel.“ nur noch ein kleiner Schritt gewesen. Entsprechend großer Popularität erfreu- Tatsächlich erinnert das Schach und die te sich das Strategiespiel bald in der Ober- Bewegung seiner Figuren bis heute an die schicht der nordindischen Städtekulturen. Aufstellung der indischen Heeresverbände. Überlieferungen zufolge ging die Spielbe- Auch auf dem Brett stürmen die Bauern sessenheit so weit, dass die Inder nach Ver- vorneweg. In der raumgreifenden Gangart lust ihrer Habe ihre eigenen Glieder beim der Türme seien die weiten Bewegungen Schach verwetteten. In einem Gefäß wur- der Kampfwagen erhalten geblieben, er- de in solchen Fällen extra eine Heilsalbe läutert Syed. Der Rösselsprung imitiere angerührt. „Wenn nun ein Mann in einer „auf geniale Weise“ die Taktik der Reiter- Wette einen Finger verliert, schneidet er verbände, den Gegner einzukreisen. Ent- ihn mit einem Dolch ab, taucht die Hand sprechend der Vorschriften für das reale in die Salbe und brennt so die Wunde aus“, Heer stehe der König geschützt von Fuß- berichtet etwa der arabische Historiker al- soldaten in der hinteren Reihe und bewe- Masudi um das Jahr 1000 nach Christus. ge sich nur in kleinen Schritten vorwärts. Syed verbannt derlei Berichte ins Reich Auch die zwei Kriegselefanten (die heu- der Legende. Gerade beim Schach sei nie- tigen Läufer) und der Minister (heute die mals gewettet worden, galt es doch als Dame), so Syed, seien im alten Indien ent- „Spiel der Aristokratie und der Intelli- sprechend der Kampfstrategien ihrer rea- genz“: Schon bald schätzten die Inder die len Vorbilder auf dem Brett gezogen wor- ungeheuren Möglichkeiten des Spiels, bei den. Während die Elefantenfiguren, vor- dem die Figuren schon nach dem ersten rückenden Panzern gleich, ausschließlich Zug von Weiß und Schwarz in 400 ver- gerade bewegt werden durften, konnte der schiedenen Positionen stehen können. Der Minister – anders als die heutige Dame – in Kanauj regierende König Sarvavarman nur die vier diagonalen Felder in seiner di- aus der indischen Maukhari-Dynastie soll es rekten Nähe erreichen. „Die Minister ka- dann gewesen sein, der das edle Spiel um men aus den vornehmsten Familien und 565 nach Christus mit ebenjener berühmten gingen auf dem Schlachtfeld im Schatten Karawane nach Persien schickte. des Königs, umgeben von Kämpfern“, be- Ob der beschenkte Herrscher Khusrau Anushirvan die wertvollen Figuren je an- * Mit Kettendecke, Fund aus Nordindien, 5. Jahrhundert rührte, ist nicht überliefert. Zumindest aber nach Christus. beauftragte der Perser der Legende nach den berühmten Weisen Wazurgmihr, das Der erste Zug ohne Anleitung gelieferte Weg des Schachs von Nordindien Spiel zu entschlüsseln. nach Persien (um 565 n.Chr.) Wazurgmihr war erfolg- reich und verkündete, Kaspisches Schach sei „ähnlich Meer der Ordnung des Krie- Samarkand ges gemacht“. Hilfreich für den Kabul Krieg war das fremde Ktesiphon Spiel indes nicht. Wenige Herrschaftsgebiet von Jahrzehnte später wurde Herrschaftsgebiet König Sarvavarman s Persien von den Arabern von König Khusrau u d überrollt. In den Sattel- n Kanauj I taschen der neuen Herr- scher trat Schach seinen Arabisches Ganges 1000 km Meer Siegeszug um die Welt an. Philip Bethge

der spiegel 18/2002 173 GEORGE FREY Marsstation MDRS in der Wüste, Möchtegernraumfahrer: Anzüge aus dem Baumarkt

sei, als die Nasa denkt: 500 Milliarden US- RAUMFAHRT Dollar hat die Weltraumbehörde als Bud- get für eine bemannte Marsexpedition ver- anschlagt – höchstens 30 Milliarden Dollar Last Exit Mars wird der Trip kosten, glaubt Robert Zu- brin, Präsident der Marsgesellschaft. In der Wüste von Utah üben Ungeduldige die Besiedlung des Viele ihrer Mitglieder sind in ihren Hauptberufen echte Wissenschaftler. Man- Roten Planeten. Auch echte Wissenschaftler machen mit. che arbeiten für die Nasa, andere lehren Sie alle treibt nur eine Frage um: Wann endlich geht’s hinauf? einschlägige Fächer an namhaften Uni- versitäten. Auch Osburg ist als Luft- und uf dem Mond ist nichts als Staub. Seins. Womöglich gibt es dort sogar Le- Raumfahrtingenieur vom Fach; gerade hat Merkur ist heiß wie die Hölle. Die ben: Wenigstens Bakterien könnten tief in er seine Promotion beendet (Thema: Lang- ALuft auf Venus ein Inferno voller der Marserde existieren, vielleicht finden zeitmissionen im Weltall). Unter 400 Be- Schwefelsäure. Jupiter und Saturn sind rei- sich auch nur deren Fossilien – genau weiß werbern wurden er und fünf Mitfahrer aus- ne Gasplaneten. Auf Neptun herrschen das keiner, denn es war ja noch keiner da. erwählt, den Mars zu erkunden – nicht in Winde von 1000 Stundenkilometern. Und Genau dies quält ein paar Erdlinge sehr. ferner Zukunft, sondern hier und jetzt. zum Pluto ist’s richtig weit: Ein Space Es war nicht gerade ein großer Schritt Die Anreise vor drei Wochen war nicht Shuttle dorthin wäre zehn Jahre unterwegs. für die Menschheit, aber ein Riesenspaß für beschwerlich. Von der Olympiastadt Salt Für Reisende hat dieses Sonnensystem Jan Osburg, 30, aus Stuttgart: Er war da. So Lake City fuhren die Abenteurer in zwei offenbar nicht viel zu bieten – mit einer gut es ging, hat er soeben zwei Wochen auf Minibussen, voll geladen mit Fressalien, Ausnahme: Mars. Er ist nah (sechs Mona- dem Mars verbracht. Und viereinhalb Stunden gen te Flug), er besitzt eine, wenn auch dünne, obwohl daheim Frau und ein Süden. Im gottverlassenen Atmosphäre (mit 0,13 Prozent Sauerstoff). zweijähriges Kind auf ihn Wüstendorf Hanksville ras- Alle irdischen Lasten wiegen dort weniger warteten, wäre er brennend teten sie. Von dort waren es als die Hälfte, denn die Marsanziehung ist gern länger dort geblieben – Salt Lake City nur noch zehn Minuten: so viel geringer als die Erdanziehung. Jahre, wenn er dürfte. Runter von der Straße, rauf Das Wetter ist natürlich schrecklich. Pionier Osburg ist Mit- UTAH auf die Sandpiste, und nach Marsstation Sandstürme dauern ein halbes Jahr, glied der Mars Society, ei- exakt 2,5 Meilen öffnet sich manchmal länger; meist ist es bitterkalt, an nes Clubs von mehr als 5000 in der Tat eine andere Welt. einem schönen Sommertag werden es im- Enthusiasten in 39 Ländern, Als „Titanic“-Regisseur 200 km merhin auch mal 20 Grad plus. Früher die es leid sind, auf die Zau- James Cameron einen Mars- strömten hier vermutlich reißende Flüsse derer von der Nasa zu war- Colorado spielfilm plante, haben sei- zu Tal, jetzt ist es staubtrocken. ten. Sie wollen lieber heute ne „Location Scouts“ dieses Aber nicht ganz: Es ist noch Wasser da. als morgen aufbrechen zum exotische Fleckchen Erde Die Polkappen sind überzogen von Eis. rostroten Planeten, und sie USA aufgespürt. Hier sieht es ge- Und auch die marsianische Luft besteht zu glauben, dass das Ticket zum nauso aus wie auf den Fo- 0,03 Prozent aus dem magischen Saft allen Mars viel billiger zu haben tos, die unbemannte Mars-

174 der spiegel 18/2002 Werbeseite

Werbeseite Technik sonden seit den siebziger Jahren heim- Raumanzug überzuziehen – eine Prozedur, Die Abende gehörten dem gemein- funkten. Hier wächst nichts, nicht ein ein- die peinlich genau in 32 Einzelschritten voll- schaftlichen Fernsehen. Commander Clan- ziger Halm, kein Moos, nicht einmal der zogen wurde und 20 Minuten dauerte. Da cey hatte Science-Fiction-Filme dabei: genügsamste Wüstenstrauch. Wohin das vergaßen die Marsbesiedler leicht, dass ihre „Red Planet“, „2001“ und „2010“. Mit der Auge schweift: Geröll, roter Staub, rotes Raumanzüge aus dem Baumarkt stammen. Zeit muffelten alle etwas; denn sie waren Gestein, nackter Fels. Es stürmt viel. Es Der Helm, ein umgebauter Mülleimer- gehalten, Unterwäsche viele Tage zu tragen regnet (fast) nie. deckel, wird belüftet von Computerventi- und so selten wie möglich zu duschen. Ge- Hier ist die Mars Society gelandet. Am latoren im Ranzen auf dem Rücken. gessen haben sie immer reichlich und sehr Fuß eines schroffen Hügels erhebt sich die Das Kostüm ist nicht ohne: Es wiegt an gut – und auch dies ist eine jener Lehren, MDRS: die Mars Desert Research Station die 15 Kilogramm. Als Andrea Fori, 32, im die in der Wüste gewonnen wurden für der Marsfreunde. Über 300000 Dollar hat echten Leben Systemingenieurin beim Rüs- echte Marsfahrer: Leckere Speisen sind der Außenposten gekostet, bezahlt von tungskonzern Lockheed-Martin, im Anzug gerade in schwieriger Situation wichtig für Sponsoren und Mitgliedern. Das Raum- in der Wüste umfiel, kam sie aus eigener die Gemütslage. schiff ist hoch wie ein Einfamilienhaus und Kraft nicht mehr hoch. Die wahre Mission der Marsfreunde ist sieht aus wie ein Getreidesilo mit Satelli- Um die Umgebung zu erkunden, jedoch eine andere. Vor allem möchten sie tenschüssel auf dem Dach. Seit Februar ist schwangen sich Osburg und Kollegen in erscheinen in Artikeln wie diesem. Mit es besiedelt mit Besatzungen, die alle zwei ganzer Seele streben sie Wochen wechseln. In 10, 20 Jahren, hofft zum Roten Planeten; und Zubrin, wird so ein Silo tatsächlich auf dem sie wollen ihren beden- Mars stehen und Heimat sein für die ersten kenträgerischen Mitmen- echten Marsmenschen. schen Appetit machen auf Im oberen Stock hat die Crew unter dem ungeheuer kostspielige, Befehl von Commander William J. Clan- bemannte Marsexpeditio- cey, 49, gewohnt, gegessen, an ihren Com- nen. Ihnen zufolge steht putern gearbeitet und in winzigen Kojen nichts Geringeres auf dem geschlafen. Unten haben sie geforscht: an Spiel als die psychische Steinen im Geologielabor und im Biolo- und kulturelle Erneuerung gielabor an Leben. Und unten sind sie auch der Menschheit – deren aufs Klo gegangen – was man schon daran langfristiges Überleben so- merkt, dass es stinkt. wieso. Die „Vorstation zum Mars“ (Osburg) Feierlich beschwört Os- verfügt über eine Kompost-Biotoilette, die burg: „Es würde die ge-

rasch „an ihre Kapazitätsgrenze“ gelangte. GEORGE FREY (2) samte Zivilisation voran- Osburg weiß das so genau, weil er vom Marspionier Osburg: Zwei Klos gefordert bringen, wenn wieder eine Commander zum „DGO“ neue Grenze aufgemacht ernannt worden war: zum würde.“ Er glaubt, dass vom besiedelten „Director of Galley Ope- Mars Impulse ausgehen könnten wie vom rations“, in dessen Verant- amerikanischen Westen vor 150 Jahren. wortlichkeit die Müllent- Mars wäre Neuland, Freiraum für eine of- sorgung und das Entfernen fene Pioniergesellschaft, Zuflucht für die des Komposts gehört, und Unzufriedenen, Entrechteten und Unge- das war „deutlich unange- stümen. nehmer als im Handbuch Schön wär’s. Aber natürlich kann der beschrieben“. In seinem Mars in Wahrheit niemals so etwas wer- Abschlussbericht forderte den wie der Wilde Westen: Damals brauch- Osburg, den Expeditionen te ein Mann nichts weiter als einen Colt zwei Klos zu gewähren – und ein Pferd, um sein Glück zu machen. und vielleicht ist dies je- Marsmenschen brauchen mehr. Unkom- ne geniale Erkenntnis, für plizierte Freiheit kann es im All nicht ge- die spätere Reisende dem ben. Menschen überleben in der fremden Marspionier aus Schwa- Welt nur dank der Gnade ihrer eigenen, ben ewigen Respekt zollen MDRS-Station, Insassen: Immer reichlich gegessen milliardenteuren Technik und in voll- werden. kommener Abhängigkeit von irdischer Auf dem echten Mars jedoch soll die Hin- voller Montur auf vierrädrige Kawasakis – Unterstützung. terlassenschaft der Crew dereinst die Crew geländegängige Höllengefährte mit or- All dies schreckt die Visionäre von der nähren: Sobald genug Leute da sind, soll dentlich PS. Im Umkreis von 20 Kilome- Mars Society nicht. Sie haben bereits ein ein Gewächshaus gebaut werden, in dem tern sind sie umhergesaust, immer strikt weiteres „Habitat“ auf „Devon Island“ im der Kompost als Dünger wiederverwandt im Auftrag der Wissenschaft: Sie erprobten arktischen Kanada aufgestellt – dort ist es wird. Energie soll ein kleiner Atomreaktor systematische Erkundung und Navigation allerdings so kalt, dass die Station nur zwei liefern, unterstützt von Sonnenkollektoren. und hatten offensichtlich – zum Schrecken Monate im Jahr in Betrieb sein kann. Ge- Den Treibstoff für die Heimreise würde die von Wüstenwanderern – großen Spaß. rade haben die Bauarbeiten begonnen für Crew selbst zusammenbrauen: Kohlendi- Das Terrain lässt im weiteren Umkreis an eine dritte Station: „Euro-Mars“ soll im oxid aus der Planetenluft soll mit Wasser- Marshaftigkeit nach. Einer der Abenteurer Frühling 2003 auf Island errichtet werden. stoff reagieren, den die Astronauten von ist im Matsch stecken geblieben. Und im- Auch dort sieht es ziemlich marsmäßig der Erde mitbringen. Das Ergebnis wäre merzu pflügten die Marsfahrer mit ihren aus. Auf Island sollen Möchtegernmars- Methan und Sauerstoff – bester Raketen- Vehikeln hehre Zeugnisse toter Erdbe- forscher üben, sogar tief verborgenes treibstoff und Luft zum Atmen. wohner unter: Versteinerte Dinosaurier- außerirdisches Leben aufzuspüren – zum Wann immer die Eroberer zu Erkundun- knochen liegen herum wie Muscheln am Beispiel Bakterien im Wasser kochend gen ins Freie traten, hatten sie sich einen Strand. heißer Geysire. Marco Evers

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Gorilla beim Fressen M. HARVEY / WILDLIFE M. HARVEY

TIERE Heilkräuter im Vogelnest Brüllaffen schützen sich mit Fruchtstielen vor Karies, Elefanten fressen Dreck gegen Verstopfung, Stare stärken ihr Immunsystem mit Blumen – Zoologen entdecken, wie kranke Tiere sich selbst kurieren. Können die Tierarzneien aus dem Pflanzenreich auch dem Menschen helfen?

äger lauern dem Hasen meist am tieres. Äußerlich scheinen die Hasen wohl- Waldrand auf. Dort wachsen wilder ernährt und kerngesund; dennoch werden JMajoran, Pfefferminze und Kamille. sie vielerorts immer weniger. Mit den ein- Diese Heilkräuter mümmeln die Feldtiere fallsreichsten Hypothesen hat man ihren angeblich besonders gern, weshalb Waid- Rückgang zu erklären versucht – sogar da- männer auch über die „Hasenapotheke“ mit, dass sie wegen des Klimawandels häu- spötteln. figer Regen abbekommen und an Unter- Michael Boppré hält die seltsame Ange- kühlung zu Grunde gehen. wohnheit der Hasen nicht für Jägerlatein. Nun glaubt Boppré, die wahre Ursache Der Freiburger Zoologe vermutet: „Der gefunden zu haben: „Gift und Dünger aus Hase bekämpft mit den Kräutern lästige der industriellen Landwirtschaft zerstören Parasiten in seinem Magen- und Darm- den Kräutergarten der Hasen und damit trakt.“ ihren natürlichen Schutz gegen Parasiten.“ Als Indiz wertet der Forscher eine Tragö- In den nächsten Wochen will Boppré

die, die sich derzeit auf deutschen Wiesen STEPHAN THOMAS den wissenschaftlichen Beweis für seine abspielt. Seit Jahren schon beobachten Bio- Biologe Boppré mit Schmetterlingen Vermutungen antreten. Dafür wird er Ha- logen ein mysteriöses Sterben des Oster- „Ohne medizinische Mitgift kein Sex“ sen mit Parasiten infizieren und sie dann

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Werbeseite Wissenschaft C&D BROMHALL / OSF / OKAPIA (L.); P. OXFORD / WILDLIFE (R.) / WILDLIFE OXFORD / OSF OKAPIA (L.);C&D BROMHALL P. Elefant beim Mineralienfressen, Grünflügel-Aras beim Lecken von Lehm*: Abführmittel in nahrungsreicher Zeit vor verschiedene Futtertröge setzen. Schla- geguckt haben. So stammt ein im Westen der medizinische Effekt vieler in Kräutern gen sich die kranken Hasen häufiger den Tansanias gebräuchlicher Pflanzensud ge- enthaltener Stoffe für unseren Körper ver- Bauch mit Heilkräutern voll als gesunde gen die Durchfallkrankenheit Ruhr daher, loren“, glaubt Engel, die vor kurzem das Artgenossen, so Boppré, „hätten wir ei- dass ein Dorfheiler ein Stachelschwein mit erste umfassende Buch über den Wellness- nen weiteren Beweis, dass auch Tiere Arz- Durchfall dabei beobachtet hatte, wie es Trieb der Tiere veröffentlicht hat**. neimittel schlucken“. bestimmte Wurzeln fraß und später ge- Aufmerksam werden Biologen immer Vor wenigen Jahren hat der 51-jährige sundete. dann, wenn Tiere scheinbar Sinnloses tun Direktor des forstzoologischen Instituts an „Noch vor 200 Jahren besaßen auch die – etwa wenn sie Dreck fressen – oder auch, der Universität Freiburg den Begriff der Menschen bei uns noch viel mehr Wissen wenn sie gar ihr Leben riskieren, um an Pharmakophagie erfunden. Damit meint über die Heilkräuter der Natur“, erklärt Pflanzen zu gelangen, die so bitter wie Me- er all jenes Fressverhalten, das nicht darauf Boppré. „Mit dem Trend zur Naturmedizin dizin schmecken. abzielt, satt zu werden, sondern „biolo- erinnert man sich wieder daran.“ In solchen Fällen haben die Tiere es gisch fit zu bleiben“. Mittlerweile häufen Für die britische Wissenschaftsautorin meist auf die so genannten sekundären sich die naturwissenschaftlichen Befunde Cindy Engel hat das gesundheitsbewusste Pflanzenstoffe in Gräsern und Kräutern dafür, dass Tiere sich tatsächlich aktiv um Verhalten der Tiere deshalb auch einen abgesehen. Mit deren Hilfe schützen Pflan- die eigene Gesundheit kümmern: praktischen Nutzen für den Menschen: zen sich gegen Fressfeinde, produzieren • Gorillas zerkauen spezielle Pflanzen und „Wir haben viele Kräuter in unserer Duftstoffe oder wehren Krankheitserreger träufen das Gemenge aus Zerkautem Ernährung durch künstliche Aromen und ab. Über 40000 pflanzliche Stoffwechsel- und Speichel auf ihre Wunden; Konservierungsstoffe ersetzt; dadurch geht produkte, darunter auch Koffein und Ni- • Mantelbrüllaffen kauen auf den Frucht- kotin, sind bislang chemisch analysiert wor- stielen des Cashewbaumes, um sich vor den. Häufig sind es Gifte – allerdings nur Karies zu schützen; Selbstmedikation bei Tieren für den, der nicht die richtige Dosis kennt. • Braunbären in Alaska schaffen sich vor „Niedrig dosiert, können diese Sub- der Winterruhe mit scharfkantigem Rief- Mittel Hilfe bei oder stanzen wie Medizin wirken“, erklärt Ian gras Bandwürmer vom Leib; Vorbeugung gegen Baldwin, Direktor am Max-Planck-Institut • manche Vögel reiben sich das Gefieder für chemische Ökologie in Jena, wo diese mit Ameisen ein – zum Schutz vor Gras Vergiftung Substanzen auf ihre therapeutische Potenz Zecken und Läusen. als Brechmittel analysiert werden: „Unsere Erkenntnisse Dass Forscher zunehmend auf solche lassen viele Verhaltensweisen der Tiere in Lehm Mineralienmangel, Phänomene stoßen, ist kein Zufall. Denn Verdauungsprobleme einem neuen Licht erscheinen.“ das genaue Fressverhalten von Tieren Gegen viele Gebrechen, so scheint es, scharfkantiges wird mittlerweile auch von Pharmakolo- Parasitenbefall ist ein Kraut gewachsen – und Tiere haben gen untersucht, die die Natur als Quel- Gras dafür einen Riecher, allen voran die nächs- le neuer Wirkstoffe entdeckt haben und spezielle ten Verwandten des Menschen, die Affen. nun deren biochemische Wirkungsweisen Baumrinden Salmonellen So behandeln Berggorillas ihren Durchfall, studieren. indem sie an einer bestimmten Baumrinde Dabei stellt sich auch heraus, dass viele Holzkohle Pflanzengifte kauen. Im Labor konnte der amerikanische Medizinmänner von Eingeborenenstäm- in der Nahrung Phytochemiker John Berry nachweisen, men ihr Geheimwissen von den Tieren ab- Ameisen Milben- und dass Inhaltsstoffe dieser Baumrinde die Ver- ins Vogelgefieder gerieben Läusebefall mehrung von Salmonellen verhindern. * Links: in der Kitum-Höhle am Mount Elgon in Kenia; Schimpansen in Tansania wiederum rechts: in Peru. Fruchtstiele der ** Cindy Engel: „Wild Health“; Weidenfeld & Nicolson, Cashewnuss Karies kauen das Mark in den Ästen eines hoch London; 276 Seiten; 20 Pfund. giftigen Busches aus, den Einheimische

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Werbeseite Wissenschaft in Sierra Leone auch „Ziegentöter“ pageien wie die Grünflügel-Aras nennen. Der Affenforscher Michael picken sich die Masse an Hangab- Huffman beobachtete, wie ein Weib- brüchen ab, wo Lehmschichten an chen, das alle Symptome von aku- die Erdoberfläche treten. tem Wurmbefall zeigte, zielstrebig Noch beliebter zum Entgiften ist den Busch ansteuerte; wenig später Holzkohle: Sie bindet das 200fache gesundete sie. ihres Eigengewichts und wird auch Ihrem natürlichen Instinkt folgend, bei Menschen in Form von Aktiv- bemühen sich die Tiere aber vor al- kohle gegen akute Vergiftungen ein- lem darum, gar nicht erst krank zu gesetzt. Viele Tiere besorgen sich ihre werden. „Krankheit macht sie schutz- medizinische Kohle aus den Resten, los und liefert sie ihren Feinden zum die ein Waldbrand hinterlassen hat: Fraß aus“, sagt Helga Gwinner. Folglich machen sich viele Arten Die Vogelforscherin von der Max- dorthin auf und laben sich an ver- Planck-Forschungsstelle für Ornitho- kohlten Baumstümpfen. logie im bayerischen Andechs ist auf Eine Affenart auf Sansibar klaut einen gesundheitsfördernden Nest- die heilende Kohle notfalls auch aus bautrick bei heimischen Staren ge- den Häusern der Menschen. Denn stoßen: „Die Männchen staffieren das auf dem Speiseplan der Primaten ste- künftige Heim mit Kräutern und Blu- hen Gewächse wie der Katappen- men aus.“ oder der Mangobaum – die Holz- Die jungen Stare aus den Kräuter- kohle macht die darin enthaltenen domizilen sind vitaler als Nachwuchs unbekömmlichen Inhaltsstoffe un- ohne pharmakologisch veredelte Be- schädlich. hausung. Neuen Untersuchungen zu- In Gefangenschaft können Tiere folge ist ihr Immunsystem stärker als nur schwer auf die Naturarzneien

das ihrer Artgenossen. Im Blut finden A. ROUSE / WILDLIFE zurückgreifen. Hierin liegt auch eine sich höhere Konzentrationen be- Hase auf Heilkräuterwiese: Schutz gegen Parasiten Erklärung, weshalb sie für Krank- stimmter weißer Blutkörperchen. heiten des Verdauungsapparats, für „Das ist ein Zeichen besserer Gesund- zu tun: Wenn Schlangen sich häuten, sind Parasitenbefall anfälliger sind als ihre wild heit“, erklärt Gwinner. Nun durchkämmt sie für kurze Zeit blind. Mit Hilfe der Fen- lebenden Artgenossen. sie gemeinsam mit Ian Baldwin vom Max- chelstängel schlitzen sie sich rund um die Zoologe Boppré warnt indes davor, das Planck-Institut in Jena die molekularen Augen die alte Haut auf, um diese schnel- Verhalten der Tiere allzu naturromantisch Strukturen von Inhaltsstoffen aus der ler abstreifen zu können. zu verklären: „Sie können natürlich keine Schafgarbe, welche offenbar die Abwehr- Einem Irrglauben saßen auch Ärzte im Krankheit diagnostizieren und zielgerich- kräfte der Vögel stärken. mittelalterlichen England auf, die ihren Pa- tet behandeln.“ Vielmehr leitet sie ihr In- Ursprünglich hielten Zoologen den selt- tienten abgetrennte Zungen von Hunde- stinkt, bestimmte Pflanzen zu fressen. samen Blumenschmuck in den Staren- welpen verschrieben. Mit denen sollten sie „Fühlen sie sich anschließend besser, wird nestern für Balzverhalten der Männchen. sich ihre Wunden einreiben. Die Therapie dieses Verhalten verinnerlicht.“ Dann wieder wurde vermutet, die ätheri- beruhte auf einer fehlerhaft gedeuteten Be- Umso erstaunlicher ist es, auf welche schen Öle der Kräuter bewahrten die Brut obachtung: Tatsächlich lecken Hunde sich trickreichen Wirksubstanzen die Tiere im vor Läusen und Milben. „In den Nestern aufgeschürfte Hautstellen ab. Entzün- Laufe der Evolution gestoßen sind – allein fanden wir aber genauso viele Parasiten dungshemmend dabei wirkt jedoch der durch Ausprobieren. Von einer For- wie in jenen Brutstätten, die nicht mit Speichel und nicht die Zunge. schungsreise aus Afrika hatte Boppré sich Schafgarbe ausgekleidet waren“, berichtet Richtig lagen hingegen die Ureinwohner Exemplare des Chrysippusfalters mit nach die Ornithologin. Australiens. Noch heute essen sie Erde – Freiburg gebracht und hoffte auf Nach- Auch bei anderen Vogelarten wird der das hilft gegen Durchfall. Besonders Pflan- wuchs. „Die Männchen waren proper und Nestbau mit der Gesundheitsvorsorge ver- zenfresser futtern gern Erdboden, denn sie potent. Aber es wollte einfach nicht fun- knüpft. So nutzen australische Prachtfin- haben einen Mangel an Mineralien, vor al- ken“, erzählt der Insektenforscher. ken die antibakterielle Wirkung von Holz- lem an Natrium. In Südamerika laben sich Als er den Schmetterlingen bei seiner kohle und legen ihr Nest damit aus. Die Affen, Guans, Papageien und Pakas an der nächsten Forschungsfahrt in freier Wild- Ostkreischeulen halten sich in ihrem Nest Erde von Termitennestern, in denen wert- bahn noch einmal nachstellte, entdeckte gar Schlankblindschlangen als Untermie- volle Mineralien stecken. er die Männchen heftig saugend an ver- ter: Die Schlangen verspeisen Insekten- Der Natriumhunger von Elefanten ist trockneten Blütenstängeln. Seine Nach- larven – mit dem positiven Nebeneffekt, besonders hoch. Im westlichen Kenia pil- forschungen ergaben, dass sie sich von dort dass die Eulenbrut gesünder heranwächst. gern sie zu einer bestimmten Höhle am er- mit speziellen Substanzen versorgen, die Gwinner warnt allerdings, allzu schnell loschenen Vulkan Mount Elgon. Tausende ihnen zur Abwehr von Angreifern dienen. von einer Verhaltensauffälligkeit bei Tieren Kubikmeter Gestein haben die Dickhäu- Ein Teil dieser Stoffe wird zu stimulieren- auf einen therapeutische Zweck zu ter dort bereits umgepflügt. dem Parfüm umgewandelt, das auf die schließen. Irrtümer dieser Art durchzie- In den Brocken ist auch Natriumsulfat Weibchen wirkt. hen viele alte Überlieferungen, die Selbst- enthalten: ein hervorragendes Abführmit- Beim Geschlechtsakt injiziert das Männ- medikation bei Tieren beschreiben. tel. Vor allem in der nahrungsreichen Zeit chen mit dem Sperma den Abwehrstoff in Der römische Schriftsteller Plinius der hilft es den Elefanten, die riesigen Futter- den Hinterleib des Weibchens, den dieses Ältere, geboren 23 oder 24 nach Christus, mengen zu verdauen. sogleich an die Eier weitergibt – und sie so- ging zum Beispiel davon aus, dass sich blin- Und im Fall einer akuten Vergiftung mit optimal vor Fressfeinden schützt. de Schlangen ihre Augen an Fenchelbü- schlucken viele Tiere Lehm. Der Ton im Boppré zeigt Verständnis für die Mühen schen reiben, um wieder sehen zu können. Lehm bindet giftige Schadstoffe. Affen, die des Falters: „Ohne die medizinische Mitgift Die verblüffende Beobachtung hat aber unter Durchfall leiden, holen sich den gibt es keinen Sex. Welchen Mann würde nichts mit mysteriösen Fenchelextrakten Lehm bevorzugt aus Termitenhügeln. Pa- das nicht anspornen?“ Gerald Traufetter

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CANNES-FILMFESTIVAL Neue deutsche Kinopleite enn vom 15. Mai an die Stars des Welt- Wkinos über den roten Teppich in Cannes stolzieren, werden sich deutsche Regisseure einmal mehr durch den Dienstboteneingang ins Festivalpalais stehlen müssen. Im neunten Jahr nacheinander, so steht seit der Bekanntgabe des Programms vergangene Woche fest, findet sich kein Beitrag eines deutschen Filmemachers im Wettbewerb. „Es ist natürlich sehr bedauer-

lich“, so die Sprecherin von Kulturstaatsminis- X / STUDIO / GAMMA BASSIGNAC GILLES ter Julian Nida-Rümelin, „dass ein Filmland Prachtboulevard Croisette in Cannes mit einem so großen Potenzial wie Deutschland erneut nicht im Wettbewerb vertreten ist.“ Geradezu hilflos ren. Als starker Mann, sowohl bei der Auswahl der Gremien als wirkt angesichts dieser Schreckensbilanz der Hinweis von auch in der Gestaltung des ganzen Festivals, gilt nicht Fré- Verantwortlichen der heimischen Filmindustrie, dass immerhin maux, sondern dessen nicht gerade für seine Liebe zum deut- 3 der 22 Wettbewerbsbeiträge mit deutschem Geld kofinan- schen Film bekannter Vorgänger Gilles Jacob, 71, der nunmehr ziert seien. War nicht im vergangenen Sommer der neue Can- das Amt des Festspielpräsidenten besetzt. „Das Festival gleicht nes-Programmdirektor Thierry Frémaux, 41, eigens zu einem dem Hof des Sonnenkönigs“, sagt Susanne Reinker, Presse- Goodwill-Besuch in Deutschland, um Filmschaffenden und sprecherin der „Export-Union des Deutschen Films“. „Wir Politikern zu versichern, man habe das deutsche Kino keines- können Cannes die Auswahlkriterien nicht vorschreiben“, kon- wegs aus nationalem Ressentiment vom Festival ausgesperrt? statiert Nida-Rümelins Sprecherin. Es zeige sich aber, „dass die Fest steht: Dem fürs internationale Kino zuständigen Aus- internationale Wahrnehmung des deutschen Films noch im- wahlkomitee von Cannes wurden mehr als ein halbes Dutzend mer unzureichend ist“. In der Tat: Den diesjährigen Wettbewerb Filme von deutschen Regisseuren wie Doris Dörrie und Wer- dominieren neben vier französischen Filmen Regie-Oldies von ner Schroeter vorgeführt; keiner fand die Gnade der Vorjuro- Ken Loach, 66, bis Manoel de Oliveira, 92.

ZEITGESCHICHTE THEATER lebensveitstanz aufführen: Der eine stilisiert sich zum Ersatz-Christus Stalins Kindersoldaten Blecherne Zeiten und hofft auf eine Guru-Karriere, der andere, ein finsterer Asphalt- n dem Kästchen mit dem Fotomaterial hafte- in Stück, das mit dem Satz Cowboy, fackelt professionell Autos Aten Granaten; zwei Burschen mit Maschinen- E„Willst du noch ein Bier?“ an- und Häuser ab. In dieser Gaga-Bude pistolen passten auf den Fotografen auf: „Mach dir fängt, die Helden allesamt ulkige mit Transvestit, Tresenschlampe, keine Sorgen, Mischa. Loser in einer abgewrackten, viel schöner Musik (Elvis, Johnny Lebend lassen wir dich bankrotten Stadt – ist das nicht ein Cash) und trüben Pointen wird viel den Deutschen nicht in Abgesang auf den Kapitalismus, der Blech geredet – so schleppt sich die Hände fallen.“ so recht nach Berlin passt? So etwa der Abend mitunter ähnlich zäh da- Michail Trachman und müssen sich das der Schaubühnen- hin wie ein Konkursverfahren. seine Bilder wären der Co-Chef Thomas Oster- Wehrmacht hochwill- meier und seine Truppe kommen gewesen. Der gedacht haben, als sie Sonderkorrespondent vergangenen Freitag der Nachrichtenagen- „Goldene Zeiten“ her- tur Tass hatte seit Som- ausbrachten, ein Stück mer 1942 Partisanen- des Amerikaners Ri- einsätze in der Ukra- chard Dresser. Oster- ine, Weißrussland oder meier zeigt eine Slap- Kinder-Partisan (um 1943) dem Nowgoroder Ge- stick-Hölle, die weder biet fotografiert. richtig komisch noch Das Ergebnis der gefährlichen Einsätze ist jetzt im richtig traurig ist: Schau- Deutsch-Russischen Museum in Berlin-Karlshorst zu platz ist ein Wohnloch sehen: Trachmans Fotos, einige auch für die Propa- in einem Industriekaff ganda vorgesehen, zeigen Erschießungen von Kolla- irgendwo in Neueng-

borateuren, Einsätze von Kindersoldaten und den land, in dem die Verlie- LIEBERENZ MARCUS Transport verstümmelter Kameraden (bis 14. Juli). rerhelden ihren Über- „Goldene Zeiten“ in Berlin

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BIOGRAFIEN Weltretter? Nein danke! r war ein Dandy und ein Kosmopo- Elit, der erste isländische Berufs- schriftsteller der Neuzeit und zugleich der letzte Nationaldichter der westli- chen Welt: Halldór Laxness (1902 bis 1998) veröffentlichte 60 Bücher – Roma- ne, Erzählungen, Dramen, Gedichte, Essays, Erinnerungen –, die in 43 Spra- chen übersetzt wurden; Heinrich Böll nannte ihn ein „Genie der Trocken- heit“. Mit 17 schrieb Laxness seinen ers- ten Roman, mit 20 trat er in einem Lu- xemburger Kloster zum Katholizismus über; als er bald darauf erfuhr, dass er ein Dienstmädchen auf Bornholm ge-

schwängert hatte, erklärte er, dass er als BONN 2002 VG BILD-KUNST, Katholik keine Verantwortung für seine Bartlett-Gemälde „Leviathan“ (2000) Vergehen als Protestant trage. Ebenso pragmatisch verteidigte er zunächst den AUSSTELLUNGEN Sozialismus in der Sowjetunion; nach dem sowjetischen Einmarsch in Ungarn aber verdammte er das System. Im Zeitalter Solche ebenso unterhaltsamen wie gründlich recherchierten Wendungen schildert Halldór der Wassermenschen Gudmundsson in sei- ner zum 100. Geburts- elbst ein Duschvorhang kann Horror-Assoziationen auslösen – zumindest bei al- tag des Dichters auf Slen, die Alfred Hitchcocks „Psycho“ kennen. Überhaupt verbreitet Wasser immer Deutsch erschienenen wieder Schrecken – in Form von Überschwemmungen etwa oder als Dauerregen. Laxness-Biografie. Vielleicht nimmt der durchschnittliche Westeuropäer deshalb zu wenig Flüssigkeit zu Schon früh sah Lax- sich. Durst wecken wollen vom kommenden Sonntag an die Kunstsammlungen in ness für sich nur zwei Chemnitz: In der Kunst-Schau mit dem Titel „Aquaria. Über die außergewöhnliche Schicksalsvarianten: Beziehung von Wasser & Mensch“ gibt es zwar wenig zu trinken, aber viel zu sehen. „Entweder die Welt Janet Biggs hat schwimmende Pferde gefilmt, und ab und an kommt in der Kunst so gründlich zu er- auch ein Fisch vor. Es sind aber vor allem Menschen, die in Chemnitz einen Sprung obern, dass ich sie in ins Wasser wagen – ob es sich um Leuchtfotos von Sportschwimmern oder um Video- der Tasche habe, oder aber völlig vor filme über amerikanische Beach Boys handelt. Aber auch an biblische Szenen wird die Hunde zu gehen“. In Hollywood erinnert: Auf Bob Bartletts gruselig schönem Strandgemälde „Leviathan“ wird gera- versuchte er sich erfolglos als Dreh- de ein Mensch aus einem Wal herausgeschnitten, und in Bill Seamans Film „Der buchautor, in Island kam er vor Ge- Wasserkatalog“ wandelt ein Mann übers Wasser – elegant auf einem Ski. richt, weil er alte Sagas in moderner Or- thografie publiziert hatte. Erst als ihm 1955 der Nobelpreis für Literatur verlie- hen wurde, hatte er die Welt in der Ta- Kino in Kürze sche und die Isländer von seiner Bega- bung überzeugt. Von nun an „genoss er fonso Cuarón, 41, Grenzgänger zwischen die Früchte seiner Arbeit“, schreibt Hollywood und seiner Heimat Mexiko, Gudmundsson, „war stets gut gekleidet, zwei 17-jährige Nachwuchs-Machos aus wohnte in erstklassigen Hotels und leis- Mexiko-Stadt auf eine Reise ans Meer – tete sich teure Autos“. Am Ende seines mit einer elf Jahre älteren Spanierin auf lebenslangen Zickzackwegs, der ihn von dem Rücksitz und vielen erotischen Nietzsche über Jesus und Marx zu fern- Flausen im Kopf. Die Kerle lernen dabei östlichen Weisheiten geführt hatte, war mehr übers Erwachsenwerden, als ihnen Laxness ein Skeptiker, auch dem eige- lieb ist; dem Zuschauer geht es ähnlich: nen Wort gegenüber: „Ich bin ein Ge- Cuarón versucht der schlichten Road- schichtenerzähler, Gott hüte mich da- movie-Dramaturgie mit einer Erzähler- vor, die Welt zu retten.“ Und er hatte Szene aus „Y tu mamá también“ stimme jene Tiefe zu geben, die man begriffen, worauf es wirklich ankommt: in den voyeuristischen Bildern vergeb- „Die Schwierigkeit zu schreiben liegt „Y tu mamá también – Lust for Life!“. Nach lich sucht. Kosmopolitisch ambitionierte darin, genug zu verschweigen.“ einer bemühten Charles-Dickens-Adap- Kinogänger können dennoch etwas fürs tion mit Gwyneth Paltrow („Great Ex- Leben lernen: Mexikaner trinken mexi- Halldór Gudmundsson: „Halldór Laxness. Leben und pectations“) schickt der Regisseur Al- kanisches Bier ohne Limonenscheibe. Werk“. Steidl Verlag, Göttingen; 224 Seiten; 19 Euro.

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Werbeseite Kultur BERLINER STUDIOS / ACTION PRESS / ACTION STUDIOS BERLINER Studiochef Weinstein, Ehefrau Eve bei der diesjährigen Oscar-Verleihung: „Ihr seid nichts weiter als ein Haufen Zurückgebliebener“

FILMGESCHÄFT Die Rächer von Manhattan Martin Scorseses Mammutwerk „Gangs of New York“ sollte den Ruf der angeschlagenen Erfolgsfirma Miramax retten. Nun wird der Film auch zum Festival in Cannes nicht fertig – und Miramax-Chef Harvey Weinstein liefert sich mit Scorsese einen wüsten Showdown auf Raten. Von Thomas Hüetlin

ie Luft war warm und die Oscars ten doch noch all den Neidern und Schwät- vergeben, als Harvey Weinstein, zern zeigen würde, die in letzter Zeit be- DChef der New Yorker Filmfirma Mi- hauptet hatten, sein Laden zöge nur noch ramax, kurz nach Mitternacht aus seiner in eine Richtung – nach unten. Seine Rache Limousine stieg. Den ganzen Abend hatte würde fürchterlich sein, sie würde die Kri- er versucht, die Mundwinkel oben zu hal- tiker zum Jubeln und die Konkurrenten ten – trotz des miesen Abschneidens seines zum Schweigen bringen, und sie würde die Ladens, der nur eine der goldenen Tro- Zuschauer in Scharen in die Kinosäle phäen abbekam: die für den besten Ne- spülen, denn seine Rache würde aus Zellu- bendarsteller in „Iris“, einem Film über loid sein. Ein Film, gewaltig wie „Ben die britische Schriftstellerin Iris Murdoch, Hur“, episch wie „Der Pate“, bohrend wie die an Alzheimer erkrankt. „Rosemaries Baby“, wichtig wie „Apoca- Weinstein hatte der Schmach ein staats- lypse Now“; ein Film für die Ruhmeshalle männisches Lächeln entgegengestemmt. des Kinos. Sein Titel: „Gangs of New York“. Doch als jetzt seine Limousine, die des Manche Kritiker, sagt Harvey Weinstein, großen Studiotycoons, auf dem Weg zur verfolgten ihn und seine Firma, als han- großen Party der Zeitschrift „Vanity Fair“ tierten sie mit Kettensägen und geladenen ebenso gecheckt wurde wie die aller an- Gewehren. „Sie schossen auf uns und deren, schwoll der Hals des 240-Pfund- behaupteten, dass wir, die coole Firma Mi- Mannes an wie ein Feuerwehrschlauch. ramax, am Ende seien. Aber das stimmt Schließlich spuckte er seine Wut aus und nicht, allein die ersten fünf Minuten von rief: „Das alles ist lächerlich!“ Marty Scorseses Film ,Gangs of New York‘ In diesem Moment der Schande tröste- werden zeigen, dass unsere Klingen schär- te es ihn, dass er es in den nächsten Mona- fer sind als jemals zuvor.“

188 der spiegel 18/2002 Es gibt im Hollywood der Anwälte und das Gotteshaus auf dem Set Kaufleute nicht mehr viele Bosse, die da- „St. Thomas“. herreden, als sei jeden Tag D-Day. Genau Stars, Budgets und Bau- genommen ist Weinstein nicht nur der lau- ten treiben auch bei ande- teste, er ist auch der einzige. Er ist der letz- ren Filmen die Verantwort- te Studiochef, der seinen Beruf gleich einer lichen bisweilen an den Filmrolle interpretiert und als eine gewalti- Rand des Nervenzusammen- ge Inszenierung einem Publikum darbietet, bruchs. Das Besondere an welches dankbar seinen Abenteuern und „Gangs of New York“ ist, Streichen folgt. Auch zu Harveys Vergel- dass der Kern des Konflikts tungsfeldzug gegen die Kritiker mit den Ket- im Gespann der Verantwort- tensägen hätte kaum jemand ernsthaft etwas lichen liegt, die diesen Film einzuwenden gehabt. Dumm ist nur, dass erst möglich gemacht haben. aus dem Gegenschlag erst mal nichts wird. Auf der einen Seite Scor- Denn ob „Gangs of New York“, dessen sese, der charmante Eigen- Start oft verschoben wurde und jetzt als brötler aus Little Italy, der Sensation für die Filmfestspiele in Cannes zwar als König des Mafia- angekündigt war, jemals groß und gewaltig Films gilt, aber seit einer Rei- über die Welt herfallen wird, wissen derzeit he von Flops nicht mehr un- die Filmgötter allein. In Cannes wird al- bedingt das Zutrauen der lenfalls ein Trailer zu sehen sein. Ansons- großen Studios genießt. Ein ten steht vorläufig allein fest, dass die Op- Besessener, der jeden Film, fer des Projekts die Beteiligten selbst sind. der jemals gedreht wurde, Natürlich zählt zunächst einmal das nicht nur gesehen hat, son- Geld. Ursprünglich für rund 80 Millionen dern sich auch gern daran er- Dollar geplant, hat der Film bis jetzt 103 innert; einer, der einen Hau- Millionen Dollar verschlungen – bei wei- fen dieser Filme in seinem tem das höchste Budget in der 22-jährigen New Yorker Büro auf Zellu-

Firmengeschichte von Miramax. TIMEPIX / INTERTOPICS loid hortet und von dem viele Dann sind da die Stars. Robert De Niro Regisseur Scorsese: Charmanter Eigenbrötler in Hollywood sagen: „Marty und Willem Dafoe kamen und gingen, Da- ist in seinem eigenen Kopf niel Day-Lewis, Cameron Diaz und Leo- mischen Cinecittà aufbauen zu lassen, je- eingeschlossen. Er kann keine Anregungen nardo DiCaprio blieben. Letzterer ist gar so nem sagenumwobenen Ort, welcher schon von außen verarbeiten, und dazu ist er un- heftig bei den „Gangs of New York“ enga- die Sets zu Hollywood-Produktionen wie glaublich langsam. Es mag ja wahr sein, giert, dass er einige Millionen aus seinem „Cleopatra“ oder „Ben Hur“ beherbergte. dass er sich selbst stets treu bleibt. Aber, bei Privatvermögen vorstreckte. Harvey Weinstein ließ die Gossen, Knei- Gott, vor allem ist er ein ‚pain in the ass‘.“ Und dann waren da noch die Bauten. pen und Bordelle des vorletzten Jahrhun- Auf der anderen Seite Harvey Weinstein, Es ist nicht so, dass die Slums und Ghettos, derts auf zwei Meilen Länge zimmern, und ein Mann, der zusammen mit seinem Bru- welche Downtown Manhattan um das Jahr als er fertig war, war Scorsese immer noch der Bob die Firma Miramax aus dem Nichts 1850 prägten, irgendwo unbenutzt herum- nicht zufrieden. Er wollte noch eine Ka- erschaffen hat; der mit unabhängig produ- stehen. Also mussten sie nachgebildet wer- thedrale. Weinstein weigerte sich – bis Tom zierten und gewagten Filmen wie „Sex, Lü- den, und weil so viel Elend teuer werden Cruise anreiste und ein Wort für Scorsese gen und Video“, „Pulp Fiction“, „Der eng- kann, entschieden sich Scorsese und Wein- und die Kirche einlegte. Weinstein schrieb lische Patient“ und „Good Will Hunting“ stein, das New Yorker Armenviertel im rö- noch einen Millionenscheck. Seitdem hieß den Kinomarkt weltweit revolutionierte; dessen Produktionen für insgesamt 159 Oscars nominiert waren und 42 davon ge- wannen; der im Weißen Haus der Clinton- Ära Dauergast war; der für seine tyranni- schen Schreianfälle in der eigenen Firma so bekannt ist, dass seine Mitarbeiter ihn mit Frankenstein vergleichen, und der im eige- nen Besprechungszimmer Filmplakate mit den Worten zerreißt: „Die taugen allesamt nichts, und ihr seid nichts weiter als ein Haufen Zurückgebliebener, dass ihr mit so etwas überhaupt ankommt“; der Filme von Regisseuren, die ihm nicht passten, einfach umschnitt, was ihm den Spitznamen „Har- vey Scissorhands“ eintrug; der in New York über so viel gesellschaftliche und politische Macht verfügt, dass das Magazin „New York“ über ihn schrieb: „Bevor es den Ground Zero gab, war Harvey Weinstein der Ground Zero.“ Weinstein ist der Pate der New Yorker

SPLASH / FREELANCE SPLASH Glitzokratie. Vor nicht allzu langer Zeit

Szene aus „Gangs of New York“ Sittenbild aus Chaos und Anarchie 189 Kultur

Endgültig riss Harveys Ge- duldsfaden, als Marty seinen fertigen Film ein paar Einge- weihten zeigte und zwei Pro- bleme auftauchten, die auch durch segelnde Handys nicht mehr aus der Welt zu schaffen waren. Das erste: „Gangs of New York“ war drei Stunden und 40 Minuten lang – etwa doppelt so umfangreich wie das gewöhnliche Hollywood- Produkt. Das zweite: Niemand verstand die Story. „Da war so

SPLASH / FREELANCE SPLASH viel Schlamm zwischen den Szene aus „Gangs of New York“: Monumentalsaga aus dem Bauch des Landes der Tapferen Teilen“, sagt ein Zeuge, „es war unmöglich durchzudrin- nahm er einen Journalisten, der es gewagt so, dass bei diesem verspäteten Schöp- gen.“ Danach wieder Gebrüll – und Martys hatte, ihn zu kritisieren, auf einer Party in fungsmythos weder Harvey noch Marty Ankündigung, er denke über ein völlig neu- den Schwitzkasten und rief: „Findest du hinter den Kulissen dem anderen ein- es Ende nach; der Einwand von DiCaprios nicht auch, dass diese verdammte gesetz- fach den Part des Gangleaders überlassen Agenten, dass ganze Teile neu gedreht wer- lose Drecksstadt New York einen ver- kann. den müssten. Ein Showdown auf Raten. dammten Sheriff wie mich braucht?“ Natürlich versuchten beide anfangs, den Das Kräftemessen aber macht Harveys Nicht wirklich erstaunlich also, dass es Konflikt herunterzuspielen, indem jeder Laune nicht besser, zumal seine Firma auch Ärger geben musste zwischen Marty und dem anderen öffentlich auf die Schulter sonst zurzeit durch eine unerfreuliche Pha- Harvey. Denn einerseits sehen sich beide klopfte. se geht. Einem Selfmade-Mann wie Wein- als geniale Außenseiter, die auf die beste- „Dass dieser Film auf den Weg gebracht stein, der noch Ende der siebziger Jahre als henden Regeln spucken und nur das gelten wurde, verdanken wir vor allem Harveys Konzertveranstalter Handzettel bei bitterer lassen, was sie selbst erfunden haben. Eine Energie“, sagte Marty. Kälte hinter die Scheibenwischer auf den Seelenverwandtschaft, die sie zu einer Art Und Harvey bedankte sich für das Kom- Parkplätzen seiner Konkurrenten klemm- Straßenkämpfer des Showgeschäfts wer- pliment mit dem Satz: „Ich bete Marty an. te, dessen Firma Anfang der Neunziger für den lässt. Marty und Harvey – the Gang of Es ist, als würde ich in die Filmakademie 60 Millionen Dollar von Disney gekauft New York. gehen. Den Final Cut hat er.“ wurde und der seitdem davon träumt, die Andererseits geht es in dieser Bande Alles schön und gut, nur die viel be- Konkurrenz mit Geld zu beerdigen und ein zweier Egomanen, die sich gegenseitig ver- schworene Harmonie bröselte trotzdem – multimediales Unternehmen zu schaffen, ehren, um die Macht – und zwar 24 Stun- vor allem wegen Martys Perfektionis- verursacht seine verzögerte Rache schlech- den am Tag, 7 Tage die Woche. Beide sind mus und dem dazugehörigen Tempo. Er te Laune. tief fasziniert von der Story der „Gangs of arbeitete so langsam, dass Harvey insge- In einem Gewerbe, von dem der mäch- New York“ – einem Sittenbild aus Chaos, samt sechsmal nach Rom flog, um ihn an- tige Agent Michael Ovitz einmal gesagt Anarchie und dem Überleben der Be- zutreiben. „Marty wurde behandelt wie hat, es sei nichts weiter als High School sessensten. ein rohes Ei“, sagt einer, der dabei war. mit jeder Menge Kohle, braucht Harvey „New York um 1840“, sagt Scorsese, „Es gibt nicht viele Menschen, die Har- einen großen Hit. Schließlich war außer „war mehr ein Kessel als eine Stadt. Und vey so vorsichtig anfasst. Marty ist einer Leidenschaft und Rücksichtslosigkeit in deshalb hatten ernst zu nehmende Leute davon.“ den letzten Jahren vor allem sein Image begriffen, dass das Schicksal der ganzen Doch allmählich wurde Harvey des sein Kapital. Jenes Image eines jüdischen Nation auf dem Spiel stand, wenn New Jonglierens müde, und es sah so aus, als Kraftprotzes mit den Umgangsformen ei- York nicht bald funktionieren würde.“ würde er seine Hände gern anderweitig nes Gangsters, der mit seinem Erfolg den Die Stadt war gespalten in Gangs, oft benutzen. „Wenn sich die beiden unter- Konkurrenten so lange auf die Nerven Katholiken gegen Protestanten. Gespal- hielten, wurde viel herumgefuchtelt“, be- ging, bis es zu deren Lieblingsspiel gehör- ten bis in die Zentren der administrati- richtete der Mann vom Set. Irgendwann te, ihn zu hassen. ven Gewalt, die Polizei, die Feuerwehr, so flog dann ein Handy durch die geschlosse- Es gibt Leute, die Anerkennung friedli- dass eine protestantische Feuerwehr bei ne Scheibe des Chefbüros. cher macht. Harvey gehört nicht dazu. Er einem Brand in einem katho- braucht immer mehr. „Ihm ist es so lange so lischen Viertel einfach um- gut gegangen“, sagt Peter Bart, Chefredak- drehen und nach Hause fah- teur der Branchenbibel „Variety“, „dass es ren würde. „America“, dröhnt für die Leute zweifellos ein Vergnügen wäre, der Trailer, „was born in the ihn Staub fressen zu sehen.“ streets.“ So weit wird es nicht kommen. Zwar hat 30 Jahre lang lag der Stoff, Harveys Firma Miramax in diesem Winter der auf einem 1928 geschrie- 75 von 500 Mitarbeitern entlassen und mit benen Roman von Herbert der Einstellung des Glamourmagazins Asbury basiert, in den Ent- „Talk“ 27 Millionen Dollar Minus auf Nim- wicklungsetagen Hollywoods merwiedersehen verabschiedet, aber der herum; kein Studio traute sich Laden steht mit einem Umsatz von einer an diesen Sumpf aus Klassen- Milliarde Dollar und einem Gewinn von kampf und Religionskrieg; an 161 Millionen für das Jahr 2001 finanziell die Monumentalsaga aus dem gesund da.

Bauch des Landes der Tap- / FREELANCE SPLASH Dazu hat ihm sein Alliierter und Ober- feren und der Freien. Klar al- Darstellerin Diaz: Die Stars kamen und gingen – sie blieb boss, der Disney-Chef Michael Eisner,

190 der spiegel 18/2002 Werbeseite

Werbeseite den leidgeprüften Rücken gestärkt. Sein dickes Wunderkind habe eben ein biss- chen herumgespielt. „Wenn Harvey mit einem Magazin oder einem Buchverlag herumexperimentieren wollte“, sagte Eis- ner, „dann habe ich nichts dagegen. Im Endeffekt bekommen wir dadurch ei- nen langfristig glücklichen, gesunden Harvey.“ Schon plant Weinstein als neuesten

Streich einen eigenen Miramax-Fernseh- CINETEXT kanal, bestückt mit den 500 eigenen Fil- Wilkinson, Spacek in „In the Bedroom“: Gegen das Leben zurückschlagen men, Talkshows, Lifestyle-Magazinen, so- gar Nachrichtensendungen, und ist dabei Kommt Zeit, kommt Rat; doch die Fowlers ganz die alte großkotzige Zuversicht. KINO werden „in the bedroom“ nie wieder so „Nachdem ich Schokoladenbonbons auf- einträchtig nebeneinander einschlafen. gegeben und 40 Pfund abgenommen In der Falle Denn wenig später liegt Frank tot in sei- habe“, sagt er, „schaffe ich das, ohne über- nem Blut. Unstrittig ist, dass sich Natalies haupt ins Schwitzen zu kommen.“ Einen kleinen, raffinierten Ex-Mann in deren Wohnung mit einer Pis- Für Harveys Feinde brechen also wieder tole in der Hand auf ihn gestürzt hat. Ob harte Zeiten an. Von Beschwerden sollte Familienkrimi entfaltet aber der Mann mit Vorsatz gefeuert oder man ihnen dringend abraten. der Amerikaner Todd Field in seinem ob sich der Schuss in einem Gerangel zu- Das letzte Mal, als ein Reporter auf die Debütfilm „In the Bedroom“. fällig gelöst hat, bleibt offen – und so müs- Idee kam, Harvey zu erzählen, was er doch sen Ruth und Matt Fowler fassungslos zu- für ein schlechter Mensch sei, fing das enn ein Mensch nach getanem sehen, wie der Haftrichter den Kerl, in dem Monster von Miramax an zu grinsen wie Tagewerk „in der Falle“ liegt, hat sie den Mörder ihres einzigen Kindes se- ein Kind, das ein großes, buntes Eis ge- Wer manchmal vielleicht keinen hen, gegen Kaution laufen lässt. schenkt bekommt. Bock darauf, dass ihm da ein anderer, wie „In the Bedroom“, nach Motiven einer Dann erzählte Harvey von jener Szene liebesbereit oder -bedürftig auch immer, Erzählung von Andre Dubus, ist der erste aus dem Western „The Good, the Bad and auf die Pelle rückt. Kann auch sein, dass es Kinofilm des Schauspielers, Musikers und the Ugly“, in der drei Typen durch die Tür einfach zu eng ist. Bleibt die Frage, warum Regisseurs Todd Field, 38, und er ist außer- treten, um Tuco, den Hässlichen, der in ei- man, wohl nicht nur unter Ganoven, im ordentlich durch die Geduld und Genau- ner Badewanne sitzt, zu erledigen. „Tuco“, Bett „in der Falle“ ist. igkeit seines Menschenblicks. Es geschieht sagen die Männer, „du Bastard hast die Unter Hummerfängern in New England da ja nichts, was nicht genauso gut in einem ist die Redensart geläufig, ein Tier, das in schmalzverkleisterten, tränenseligen TV- die Falle gegangen ist, sei „in the bed- Movie geschehen könnte, und der ganze room“. Das jedenfalls erklärt Matt Fowler, riesige Unterschied liegt darin, wie Field Sohn eines Hummerfängers, der es zum zwei Menschen zuhört und zusieht, für die Ortsarzt in einem schmucken Hafenstädt- von heute auf morgen der entsetzlichste chen in Maine gebracht hat; und auf einen Satz heißt: Das Leben geht weiter. frisch gefangenen Hummer zeigend, der Nein, möchten sie schreien, es darf nicht eine seiner Scheren eingebüßt hat, erklärt weitergehen! Wie Ruth starr vor sich hin er, dass es gelegentlich „in the bedroom“ rauchend vor dem Fernseher brütet; wie zu Exzessen komme: Wenn nämlich schon Matt mit Rasenmäher und Baumschere zwei in der Falle säßen, werde einem ein- ziellos im Garten herumwerkt; wie ihr Le- dringenden Dritten der Garaus gemacht. bensgefüge unter der Last einzuknicken Spätabends im behaglichen, weiß ge- beginnt und die beiden, zwangsläufig, ir- strichenen Eigenheim, „in the bedroom“, gendwann in Vorwürfe und Schuldzuwei-

EVERETT COLLECTION haben der freundliche Doktor Fowler (Tom sungen gegeneinander ausbrechen, weil es Schauspieler DiCaprio (M.) in „Gangs of New York“ Wilkinson) und seine Frau Ruth, Musik- keine andere Ausbruchsmöglichkeit gibt – Schicksalstage der amerikanischen Nation lehrerin an der örtlichen High School (Sis- Trauerarbeit ist Selbstzerfleischung. sy Spacek), anderes zu besprechen: Ihr Field ist diskret. Er hat nicht die schnel- Nachbarn umgebracht, unser Geld geklaut Sohn Frank, angehender Architekturstu- le, schmerzende Unerschrockenheit, mit und uns auch alles andere genommen, und dent, hat eine Affäre mit einer jungen Frau der Nanni Moretti in „Das Zimmer meines jetzt wirst du sterben.“ aus der Nachbarschaft begonnen. Natalie Sohnes“ nach einer ähnlichen Familienka- Noch während die drei nach ihren (Marisa Tomei) strahlt so viel Süße, Un- tastrophe die direkte Konfrontation mit der Waffen greifen, erhebt sich Tuco, der schuld und Lebendigkeit aus, dass ihr Verzweiflung sucht; doch er führt Ruth und Hässliche (gespielt von Eli Wallach), aus schwer zu widerstehen ist, sie stammt aber Matt (durch zwei aufregend intensive dem Badewannenwasser und erschießt alle aus so genannten einfachen Verhältnissen Schauspieler) vorsichtig an jenen Riss quer drei. Dann sagt er: „Wenn du redest, dann und hat zwei kleine Kinder sowie einen durch ihren Lebensweg heran, auf dessen redest du; und wenn du schießt, dann (noch nicht rechtmäßig von ihr geschiede- anderer Seite unwiderruflich das Altsein schießt du.“ nen) Ex-Mann, der als Krawallmacher und beginnt – nichts mehr zu erwarten außer Für Harvey rettete diese Geschichte den Schläger gefürchtet wird. Verlusten und Niederlagen. Tag. Während seine Hände zwei Pistolen Die Eltern, wie das so ist, haben ihre Dann aber bringt er sie so weit, dass sie, formten und er auf sein Gegenüber schoss, Bedenken. Soll man so fürsorglich perfid und sei es auch noch so paradox, in der Fal- sprach er: „Die anderen Jungs stehen her- sein, das junge Paar irgendwie auseinander le nicht sitzen bleiben, sondern zurück- um wie alte Weiber und rätseln darüber, zu bringen? Oder soll man dem Jungen schlagen gegen das Leben, das ihnen Un- was ich als Nächstes unternehme. Und von Herzen gönnen, dass ihm eine so mun- recht getan hat. Sie wollen wieder ruhig während sie reden, schieße ich.“ ™ tere Sommerliebe die Ferien versüßt? schlafen können. Urs Jenny

192 der spiegel 18/2002 Werbeseite

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Ihren Vater, den berühmten Sitar-Vir- sches, mal Jazz pur, und gewann Nach- POP tuosen Ravi Shankar, der einst George wuchspreise als „Best Jazz Vocalist“ und Harrison unterrichtete, sah Jones so gut als Komponistin. Zwei Jahre lang studier- Den Süden wie nie. „Er spielte damals kaum eine Rol- te sie dann Jazzpiano an der University of le in meinem Leben“, sagt sie. Ihre Mutter North Texas. Klavier zu üben, fand sie im- war es, die Jones zur Booker T. Washing- mer noch schrecklich. im Herzen ton High School for the Performing and Wohl auch deshalb brach sie ihr Musik- Visual Arts anmeldete, die schon die Sän- studium schließlich ab. 1999 verbrachte sie Die junge US-Musikerin Norah gerin Erykah Badu und der Trompeter Roy ihre Sommerferien in New York – und Hargrove besucht hatten. kehrte nicht mehr nach Dallas an die Uni- Jones verblüfft mit ihrem ersten Jones war darüber nicht gerade glück- versität zurück. Jones sang für verschiede- Album die Popwelt – und wird schon lich, denn sie „wollte nicht aus dem Vorort ne Bands in Manhattan, lebte im East Vil- jetzt mit Sängerinnen-Legenden in die Innenstadt ziehen“. Und, noch lage, und wenn das Geld nicht reichte, kell- wie Nina Simone verglichen. schlimmer: An der Schule musste sie Kla- nerte sie. vier und Alt-Saxofon üben, obwohl sie Und dann hatte sie Glück: Eine Be- hr erster Einsatz in Manhattan war ein nichts mehr hasste, als diszipliniert Tonlei- kannte machte den Blue-Note-Chef Lund- echtes Solo-Konzert: In einem italieni- tern rauf- und runterzunudeln. vall auf sie aufmerksam – und der war so Ischen Restaurant in der Bleecker Street An ihrem 16. Geburtstag trat Jones zum begeistert von Jones, dass er sie gleich un- durfte Norah Jones, damals 20 Jahre alt, ersten Mal als Sängerin einer kleinen ter Vertrag nahm und einen Starprodu- von 14 bis 19 Uhr Jazz-Standards am Kla- Combo auf, in einem Café in Dallas. Aus- zenten für sie engagierte: Arif Mardin, der vier spielen. Es wurde ein Auftritt als Al- gewählt hatte sie die üblichen Verdächti- schon mit Legenden wie Aretha Franklin, leinunterhalterin: In den ganzen fünf Stun- gen unter den Jazz-Standards, „Autumn Willie Nelson und Roberta Flack Platten den kam kein einziger Gast. Leaves“, „A Foggy Day“ und „I’ll Be See- aufgenommen hat. Inzwischen ist es ziemlich voll, wenn ing You“ – und als der Kurzauftritt vorbei Dabei liegt es nahe, dass Jones den Kar- Jones, nun 23, ein Konzert gibt: Seit die war, wusste Jones, dass sie von nun an so rieredurchbruch nicht nur ihrem Talent, Sängerin und Pianistin vor zwei Monaten oft wie möglich auf der Bühne stehen woll- sondern auch einer aktuellen Musikmode in den USA ihr Debütalbum „Come Away te. Sie spielte Piano und sang in wechseln- zu verdanken hat: dem „Fräulein-Wunder“ with Me“ veröffentlichte, wird sie ab- den Bands, mal Jazzrock, mal Brasiliani- im Jazz. Begonnen hatte es mit Diana wechselnd mit den Gesangs- Krall, der vor drei Jahren mit legenden Joni Mitchell, Carole „When I Look in Your Eyes“ King und Nina Simone vergli- ein Sensationserfolg gelang: chen. Die Fachblätter „Rolling 1,2 Millionen Stück wurden al- Stone“ und „Entertainment lein in den USA von dem Al- Weekly“ erklärten Jones zu bum verkauft – eine Zahl, die einer der aufregendsten New- sonst nur Pop-CDs erreichen. comer-Künstlerinnen des Jah- Außerdem wurde es als „Al- res 2002. bum des Jahres“ für einen Ihr Album, seit dieser Wo- Grammy nominiert; zum letz- che auch in Deutschland (wo ten Mal war 1964 eine Jazz- sie Mitte Mai auch zwei platte für diesen Preis vorge- Konzerte geben wird) auf dem schlagen worden. Markt, ist so eindrucksvoll Dann wurde die Sängerin wie ungewöhnlich: langsa- Jane Monheit entdeckt, die me, warme Blues- und Coun- von ihren Jazzalben „Never try-Balladen, gesungen von Never Land“ und „Come einer eleganten, rauchigen Dream with Me“ zusammen Stimme. rund 300000 Stück verkaufte. Erstaunlicherweise ist die Und nun ist es Jones, deren CD bei der legendären New Platte in den USA in den ers- Yorker Plattenfirma Blue Note ten sechs Wochen mehr als erschienen, die eigentlich auf 300000-mal über den Laden- stilreinen Jazz spezialisiert ist. tisch ging. Der Blue-Note- Für Jones aber machte der La- Chef Lundvall ist daher opti- bel-Chef Bruce Lundvall eine mistisch, dass dieser Trend Ausnahme. „eine große Zukunft hat“. Immerhin nennt Jones sich Zumal Jones den gepfleg- selbst eine „Jazz-Fanatikerin“. ten Stilbruch bereits perfekt Ihre Mutter, eine Kranken- beherrscht. Obwohl sie als schwester, hörte am liebsten Jazz-Sängerin unter Vertrag Ray Charles, Billie Holiday genommen wurde, hat sie ein und Aretha Franklin – obwohl von Jazz und Blues nur lose sie in einem Vorort von Dal- inspiriertes Country-Album las wohnten und sich fast abgeliefert – und durfte in den alle anderen dort ausschließ- USA denn jüngst auch mit lich für Country-Musik inter- Willie Nelson auf Tour gehen. essierten. Mit fünf Jahren Offenbar hat Jones erst in sang Norah im Kirchenchor, New York entdeckt, dass sie

etwas später begann sie, Kla- EMI eine echte Texanerin ist. vier zu spielen. Sängerin Jones: Gepflegte Stilbrüche Marianne Wellershoff

196 der spiegel 18/2002 Werbeseite

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zwischen 15 und 20 Jahre alt waren, die mit AUTOREN ihrem Land auch einen Teil ihrer Identität verloren, obwohl sie die DDR nie geliebt Farbiger hatten. Scharf grenzt Simon die Kinder des Ostens von der, wie sie abfällig schreibt, „überheblichen Generation Golf“ im We- Hooligan sten ab, die sich „nur über Geschmacks- fragen“ richtig aufregen konnte. In „Denn wir sind anders“ erzählt Vor zwei Jahren hat Simon „Das Buch der Unterschiede“ mit herausgegeben, in Jana Simon die wahre Geschichte dem junge Ost- und Westdeutsche be- eines Scheiterns – und vom Lebens- schreiben, „warum die Einheit keine ist“. gefühl einer in Ostdeutschland Mit dem Buch über Felix knüpft sie daran aufgewachsenen jungen Generation. an. Seine Biografie spiegelt alle Brüche im Leben der Wende-Generation, verstärkt elix Mkhonto S. liebte die Musik noch durch das Schicksal seiner Familie von Bach – und Schlägereien. Er ver- und seine Hautfarbe. Fehrte Generalfeldmarschall Rommel Der Großvater von Felix, weißer Kom- und die Großeltern, die vor der Apartheid munist, musste mit seiner farbigen Frau in Südafrika geflohen waren. Seine Freun- das Apartheid-Südafrika verlassen. Ihr Ziel de waren glatzköpfige Hooligans, aber war die DDR; doch mit der Wende zer- als Farbiger war er unter ihnen ein Au- brach ihr Traum vom besseren Staat. Und ßenseiter. mit ihm auch Felix’ Bild des Großvaters, Als Felix S. sich im Sommer 2000 um- der sein großes Vorbild gewesen war. brachte, war er 29 Jahre alt – aufgewach- So wird für Simon erklärlich, warum Felix sen in der DDR, im vereinten Deutschland sich der rechten Szene anschloss: „Irgend- nie richtig angekommen. etwas musste es geben, wozu er gehören „Denn wir sind anders“ konnte: wenn schon nicht heißt das Buch, das die Ost oder West, Schwarz Berliner Autorin Jana Si- oder Weiß – dann wenigs- mon, 29, über Felix ge- tens deutsch.“ schrieben hat*. Sie erzählt Wie unterschiedlich die die – wahre – Geschichte Ost-Kinder den Zusam- eines widersprüchlichen menbruch der DDR be- Lebens, aber auch die der wältigten, zeigen die Bio- Wendekinder-Generation. grafien von Felix S. und Und sie schildert einen Teil Simon: Während er schei- ihrer eigenen Biografie: terte, wurde sie erfolgrei- Felix war ihr erster Freund. che Journalistin. Ihre Re- 14 war sie, er zwei Jah- portagen für den Berliner re älter, und sie lebten im „Tagesspiegel“ wurden Ost-Berlin der achtziger mehrmals ausgezeichnet, Jahre. Eine bleierne Zeit, so mit dem renommierten die Ideologien am Ende, Theodor-Wolff-Preis.

Melancholie allerorten. / OSTKREUZ ANNE SCHÖNHARTING Simons Geschichte Nach der Wende lockerte Autorin Simon über Felix ist ein partei- sich Simons Freundschaft Abschied von einem Freund isch geschriebener Text, mit Felix. Um schnell an der trotz eines manchmal Geld zu kommen, arbeitete der als Türste- betulichen Stils fesselt. Und ein Buch, das her, Kickboxer, Zuhälter. Er hing in der rech- mit der detaillierten Schilderung der ver- ten Szene herum und kam über seine Clique gangenen zehn Jahre, vor allem der Berli- in Kontakt mit Organisierter Kriminalität. ner Türsteher- und Hooligan-Szene, ein Obwohl er selbst kaum Alkohol trank bislang wenig beachtetes Kapitel der Nach- und niemals Drogen nahm, wurde er 1999 wende-Gesellschaft einfängt. wegen Drogenhandels verhaftet und zu „Denn wir sind anders“ fängt da an, wo viereinhalb Jahren Haft verurteilt. Im Ge- Thomas Brussigs „Am kürzeren Ende der fängnis nahm er sich das Leben. Sonnenallee“ aufhört. Jana Simon nimmt Im Stil einer Reportage nähert sich Jana ein bisschen wehmütig Abschied von einer Simon dieser aberwitzigen Lebensge- Zeit und einer Stadt, die es so nicht mehr schichte. Eineinhalb Jahre hat sie recher- gibt: Ost-Berlin. Und sie nimmt Abschied chiert: mit Freunden von Felix gesprochen von dem Freund, der schon in seiner Jugend und seiner Familie. Sie hat Akten studiert depressive Phasen durchlebte und es am und ihre Erinnerungen aufgeschrieben. Ende nicht ertrug, eingesperrt zu sein. Simon beschreibt das Schicksal von Felix In einem von Felix’ Lieblingsliedern auch als symptomatisch für ihre Genera- singt die Band Böhse Onkelz: „Lieber ste- tion: derjenigen, die zu Zeiten der Wende hend sterben als kniend leben.“ Jana Si- mon sagt: „Danach hat er gelebt. Und das * Jana Simon: „Denn wir sind anders. Die Geschichte des hat er grausam ernst genommen.“ Felix S.“ Rowohlt Berlin Verlag; 248 Seiten; 14,90 Euro. Eva-Maria Schnurr

198 der spiegel 18/2002 Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“; nähere Informationen und Auswahl- Bestseller kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller Belletristik Sachbücher 1 (1) Günter Grass Im Krebsgang 1 (2) Helmut Schmidt Hand aufs Herz Steidl; 18 Euro Econ; 20 Euro 2 (4) Kathrin Finke/Rainer Karchniwy 2 (2) John Grisham Der Richter „Erzählt mir doch nich, dasset Heyne; 24 Euro nich jeht!“ Mitteldeutscher Verlag; 15 Euro 3 (4) Joanne K. Rowling Harry Potter 3 (1) Waris Dirie Nomadentochter und der Gefangene von Askaban Blanvalet; 21,90 Euro Carlsen; 15,50 Euro 4 (–) Petra Gerster/Christian Nürnberger Der 4 (3) Joanne K. Rowling Harry Potter Erziehungsnotstand und der Feuerkelch Carlsen; 22,50 Euro Rowohlt Berlin; 19,90 Euro (3) 5 (5) Joanne K. Rowling Harry Potter 5 Dona Kujacinski/Peter Kohl Hannelore Kohl – Ihr Leben und die Kammer des Schreckens Droemer; 19,90 Euro Carlsen; 14,50 Euro 6 (8) Peter Scholl-Latour 6 (6) Philip Roth Der menschliche Makel Der Fluch des neuen Jahrtausends Hanser; 24,90 Euro C. Bertelsmann; 22 Euro 7 (10) Stephen Hawking 7 (9) Paulo Coelho Der Alchimist Das Universum in der Nußschale Diogenes; 17,90 Euro Hoffmann und Campe; 25,95 Euro 8 (7) Werner Tiki Küstenmacher/ Lothar J. Seiwert Simplify your life Campus; 19,90 Euro

Esoterischer Dauerbrenner über die Wichtigkeit, seinen Lebenshilfe- Träumen zu folgen Schmöker im Trend der Schlichtheitsappelle 8 (7) Stephen King Der Buick Ullstein; 22 Euro 9 (5) Joachim Fest Der Untergang – Hitler und das Ende des Dritten 9 (8) John Irving Die vierte Hand Reiches Fest; 17,90 Euro Diogenes; 22,90 Euro 10 (9) Traudl Junge Bis zur letzten 10 (12) Martin Suter Ein perfekter Freund Stunde – Hitlers Sekretärin erzählt Diogenes; 19,90 Euro ihr Leben Claassen; 19 Euro 11 (6) Katja Kullmann Generation Ally 11 (15) Catherine Millet Das sexuelle Eichborn; 14,90 Euro Leben der Catherine M. 12 (11) Spencer Johnson Goldmann; 21 Euro Die Mäuse-Strategie für Manager 12 (10) Joanne K. Rowling Harry Potter Ariston; 14,90 Euro und der Stein der Weisen 13 (12) Siba Shakib Nach Afghanistan Carlsen; 14,50 Euro kommt Gott nur noch zum Weinen C. Bertelsmann; 22 Euro 13 (11) Christa Wolf Leibhaftig 14 (13) Susanne Fröhlich/Constanze Luchterhand Literatur; 18 Euro Kleis Jeder Fisch ist schön – wenn er an der Angel hängt 14 (16) Elke Heidenreich Der Welt den W. Krüger; 16,90 Euro Rücken Hanser; 15,90 Euro 15 (18) Florian Illies Anleitung zum 15 (14) Ildikó von Kürthy Herzsprung Unschuldigsein Argon; 17,50 Euro Wunderlich; 16,90 Euro 16 (14) Kerstin Cameron Kein Himmel über Afrika List; 20 Euro 16 (13) Umberto Eco Baudolino 17 (20) Donata Elschenbroich Hanser; 24,90 Euro Weltwissen der Siebenjährigen 17 (17) Kathy Reichs Durch Mark Kunstmann; 16,90 Euro und Bein Blessing; 22,90 Euro 18 (–) Kerstin Holzer Elisabeth Mann Borgese 18 (19) Henning Mankell Die Brandmauer Kindler; 22,90 Euro Zsolnay; 24,90 Euro 19 (19) Jean-Charles Brisard/Guillaume 19 (18) Anne Holt In kalter Absicht Dasquié Die verbotene Wahrheit Pendo; 18,90 Euro Piper; 19,90 Euro 20 (17) Axel Brauns 20 (20) Sven Regener Herr Lehmann Buntschatten und Fledermäuse Eichborn Berlin; 18,90 Euro Hoffmann und Campe; 21,90 Euro

der spiegel 18/2002 199 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Kultur

träger auf der Höhe seines Ruhms, ein Au- Aus dem „Großkopfeten“ war ein le- KULTURGESCHICHTE tor von andauernder Schaffenskraft und die bendiger Mythos geworden, der Wider- Verkörperung des anderen, besseren und ein- stand sentimental gebrochen: „Im Sommer Gipfeltreffen zig wahren Deutschland. Würdig und in bes- 1921 bin ich einmal, in Kampen, unbemerkt ter Nachbarschaft in Kalifornien residierend, einen langen Spaziergang hinter Ihnen her- war der bald 70-Jährige mit einem Roman gegangen und habe mir ausgedacht, wie es im Nebel beschäftigt, in dem die Musik und ihre Theo- wäre, wenn Sie nun zu mir sprächen. Daß rie eine prominente Rolle spielen sollten. Sie zwanzig Jahre später wahrhaft zu mir Theodor W. Adornos nun veröffent- Der marxistische Philosoph und Musik- gesprochen haben, das ist ein Stück ver- wissenschaftler jüdischer Herkunft Theo- wirklichter Utopie, wie es einem kaum je lichter Briefwechsel mit dor W. Adorno war 1934 aus Frankfurt am zuteil wird.“ Thomas Mann ist ein Dialog zweier Main zunächst nach Oxford ins Exil gegan- Wirklich gesprochen haben die beiden, unverwandter Geister: Die gen und hatte am dortigen Merton College das geht aus diesem Briefwechsel hervor – beiden hatten sich wenig zu sagen. als „advanced student“ enttäuschende Jah- und ist keine Überraschung –, nur über ein re verlebt, „da meine eigentlichen philoso- einziges Thema: die Entstehung des „Dok- ls sich die Herren zum ersten Mal phischen Dinge den Engländern begreiflich tor Faustus“, an der Adorno hilfreichen, begegneten, waren beide im Exil – zu machen zu den Unmöglichkeiten zählt produktiven Anteil nahm: Das allerdings ist Aund lebten doch unter keineswegs und ich meine Arbeit gewissermaßen auf bereits umfassend dokumentiert in Manns ähnlich glücklichen Umständen; der eine ein Kinderniveau zurückschrauben muß, „Die Entstehung des Doktor Faustus. Ro- ein von der Öffentlichkeit nahezu unbeach- um verständlich zu bleiben“. man eines Romans“, erschienen 1949. teter Akademiker, der andere ein gefeierter Auf dem Gebiet der Kulturfürst: „Dr. Adorno“ und der „Groß- Musik und ihrer Ästhetik kopfete“ Thomas Mann. „Heute abend bei konnten sich diese un- Max (Horkheimer) mit ein paar Großkop- verwandten Geister – bei- feten, darunter Thomas Mann nebst holder de dem Bildungsbürger- Gattin“ – so kündigt Theodor W. Adorno in tum entstammend, aber einem Brief an die Eltern am 29. März 1943 nicht nur durch 28 Jahre seine Abendgestaltung in Kalifornien an. Altersunterschied, son- dern vor allem durch In- teressen und Überzeu- gungen weit voneinander entfernt – respektvoll und hilfreich begegnen; an- sonsten bleibt es bis zum Tod Thomas Manns im Jahre 1955 im Wesentli- chen beim Austausch possierlicher Höflichkei- ten und angestrengter Briefpartner Mann, Adorno Missverständnisse. Austausch von Missverständnissen Gibt Adorno sich noch die Ehre, auf die Entste- Auch in New York reüs- hung des „Felix Krull“ und die Veröffent- sierte er keineswegs; so folg- lichung von Manns letzter Erzählung, „Die te er dem Geistesgefährten Betrogene“, hymnisch zu reagieren („bei und Kollegen Max Horkhei- der Lektüre beglückt“, „des Rühmens wäre mer 1941 nach Los Angeles, kein Ende von den Subtilitäten“), schreibt wo seine produktivste Schaf- Mann in hilflos-freundlicher Kürze von ei- fenszeit begann: die „Dia- nem Adorno-Aufsatz über Benjamin, es lektik der Aufklärung“, die sei „ein faszinierendes Stück Lektüre“ ge- „Minima Moralia“ und die wesen, beschränkt sich aber dann auf die „Philosophie der neuen Mu- Diskussion einer Vokabel (die Adorno gern sik“ sollten seinen späteren korrigiert).

THOMAS-MANN-ARCHIV / KEYSTONE PRESS ZÜRICH / DPA / KEYSTONE THOMAS-MANN-ARCHIV Ruhm und seine Karriere in Ob Wagner, Nietzsche, Beckett oder Deutschland begründen. Lukács – ein spontanes Einverständnis Thomas Mann notiert Monate später in Als die beiden sich begegneten, war also kann es nicht geben, also schreibt man seinem Tagebuch die „Einladung an Dr. der eine ein Gerücht in informierten bemüht aneinander vorbei. Adorno“, mit dem er über den entstehen- Kreisen, der andere eine weltweite Fama – Einen aufschlussreichen Höhepunkt fin- den Roman „Doktor Faustus“ sprechen will. und eine kurze Schicksalsgemeinschaft be- det das Missverständnis in einem Brief So unterschiedlich ihr Status im Exil auch gann, in der nicht einmal die Schicksale von 1952, in dem Adorno das Spätwerk war, das zeigt der nun komplett veröffent- sich glichen. „Als ich Sie“, schreibt Ador- von Karl Marx einer zwar delikaten, aber lichte Briefwechsel der beiden, so ver- no etwa zwei Jahre nach der ersten Be- auch grundsätzlichen Kritik unterzieht. gleichbar groß war ihr Selbstbewusstsein*. gegnung an Thomas Mann, „hier an der Ganz offensichtlich hat Adorno hier, wo Thomas Mann war 1938 in den USA tri- entlegenen Westküste, treffen durfte, hat- er das, was ihn bewegte, einmal unbefan- umphal empfangen worden – ein Nobelpreis- te ich das Gefühl, zum ersten und einzigen gen aussprach, tatsächlich vergessen, zu Mal jener deutschen Tradition leibhaft zu wem er sprach. Denn wenig unter der begegnen, von der ich alles empfangen Sonne war Thomas Mann so gleichgül- * Theodor W. Adorno/Thomas Mann: „Briefwechsel 1943-1955.“ Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main; 184 habe: noch die Kraft, der Tradition zu tig wie Karl Marx – in seinen Fehlern Seiten; 24,90 Euro. widerstehen.“ zumal. Elke Schmitter

202 der spiegel 18/2002 Werbeseite

Werbeseite Ungefähr stimmte das so- DICHTER gar – am 12. Juli 1954 wenigs- tens. Einen Monat später Die Frau wären die Worte des alten Dr. med. in Berlin an die Frau Dr. phil. aus Köln eine krasse Lü- als Gegenstand ge gewesen. Da nämlich hatte Benn (1886 bis 1956) schon Gottfried Benns Briefe an die junge, kecke Ursula Zie- barth aus Worpswede kennen Astrid Claes, lange durch juristisches gelernt und sogleich eine Hickhack zurückgehalten, stürmische Affäre mit ihr be- zeigen den alten Lyriker im Zwie- gonnen. spalt erotischer Sehnsüchte. Nach seinem bewährten Prinzip von „einer irdischen

ie war jung, sie war schön, und intel- und einer himmlische Liebe“ BILDERDIENST ESCHEN / ULLSTEIN FRITZ ligent war sie erst recht. Aber der alte versuchte Benn (der zudem Benn, Ehefrau Ilse (1956): „Immer fragwürdig bleiben“ SCharmeur baute auch bei der „aller- nicht unglücklich verheiratet liebsten Astrid“ auf seine übliche Erobe- war), fortan zwischen beiden Damen ero- Schon 1997 hatte Bernd Witte, Germa- rungstaktik: Er fragte nach ihrer Augen- tisch Balance zu halten – und scheiterte nist in Düsseldorf, den schmalen Packen farbe, ihrem Lebensstil, ihrer Figur, ihren kaum ein Jahr später kläglich. Seine Be- Briefe in solide Buchform gebracht. Selbst Kleider-Vorlieben. Und als sie sich spröde teuerungen, Heimlichtuereien und halben eine Rezension in der „Neuen Zürcher Zei- gab, legte er nach. Verleumdungen säten zwischen beiden tung“ war erschienen, aber der Band blieb „Ich muss Ihnen verraten, dass ich sol- Frauen solchen Abscheu, dass er noch heu- ungedruckt: Ursula Ziebarth hatte dem che Briefe wie an Sie überhaupt nicht te nicht verjährt ist. Verlag Klett-Cotta eine einstweilige Verfü- schreibe, seit 20 oder 30 Jahren sicher kei- Deshalb sind Benns Briefe an Astrid gung wegen Verletzung ihrer Persönlich- nen Brief an eine Frau geschrieben habe, Claes nun unter denkbar seltsamen Um- keitsrechte androhen lassen. in dem auch nur eine Spur von Zärtlich- ständen erschienen: Fünf Jahre später als Tatsächlich war Benn, als er Astrid Claes keit, Zuneigung, Hingabe enthalten war … geplant, bei Nacht und Nebel, als Ergebnis endlich die Parallel-Affäre gestand, sehr Dies zur Kenntnis bitte.“ Nur sie, Astrid eines seltsamen juristischen Hickhacks*. deutlich geworden: In etwas „Schlimmes und Claes, gerade mit einer Doktorarbeit über Taktloses und Verlogenes“ sei er da geraten. Benns Gedichte fertig, sei die große Aus- * Gottfried Benn: „Briefe an Astrid Claes 1951–1956“. Ursula Ziebarth verhalte sich „erpresse- nahme. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart; 160 Seiten; 19 Euro. risch“, ja sie sei „völlig amoralisch“ und bers- Kultur te vor Geltungsbedürfnis. „Es gibt ihr gegen- lich ihren Leib einmal züchtig umarmen, „Gegenstand“: Die grösste Hymne an die über nur eins, was ich leider erst zu spät be- mehr gelang ihm nicht. Frau, je von einem Mann ersonnen. Es merkt habe: sie ausschalten und kaltstellen.“ Dafür offenbarte er in den Briefen so gibt nämlich Gegenstände aus Porzellan, Wenige Zeilen, doch sie stoppten das manches aus seiner zynisch-klaren Welt- Ming-Porzellan, unbezahlbare, in Ansehn Büchlein. Erst als vergangenes Jahr eine sicht. „Nur das Wiederholbare führt zur schön u. beim Berühren – warum legen Edition der Ziebarth-Briefe herauskam Kunst“, orakelte er etwa; „Wiederholungs- Sie es als Steingut aus? (Weil ich es sage, (SPIEGEL 36/2001), fasste Klett den Mut, zwänge, nur sie, ergeben Stil“. Das mein- Sie legen ja alles gegen mich aus). die Claes-Korrespondenz zu drucken. Doch te bestimmt auch seinen eigenen unstill- Als Chinavase mit geistigem Tiefgang dann zerstritt sich der überängstliche Ver- baren Trieb, junge Damen zur Anregung mochte die poetisch hochbegabte Philolo- lag auch noch mit Herausgeber gin, die heute in Düsseldorf lebt, Witte über läppische Kommen- nicht herhalten. Von Anfang an tar-Details, bis dieser das Er- war sie der souveränere Partner scheinen seiner Edition mit An- im Briefgespräch. Und während waltshilfe durchsetzte. Benn, entgegen allen Beteue- Fast ohne Werbung, wie ein rungen, von der ungebärdigen unliebsames Kellerkind ist nun Ursula Ziebarth nicht lassen der Band herausgekommen. Da- konnte und dafür sogar seine bei bietet er Benn-Freunden Ehe gefährdete, hielt Astrid mehr als das geschwätzig kom- Claes den Dichter von ihrem mentierte Gegenstück, und das, Privatleben – zu dem eine klei- gerade weil der versierte Schwe- ne Tochter zählte – fern. renöter bei der eleganten, welt- „Seltsames, Schweres, Un- läufigen Astrid Claes als Mann Benn-Freundinnen Claes (1955), Ziebarth (1954): Abscheu bis heute durchschaubares“ habe sie ge- letztlich keinen Erfolg hatte. schrieben, sagte er noch im letz- „Verehrte Kritikerin, strenge gotische des Hormonhaushalts zu nutzen, sie ein- ten Brief über ihre Erzählung „Gin“, die Domfigur“, redete er die Kölnerin an, die fach so „mein Liebling“ oder „Lady As- verrätselt das Kasseler Treffen schilderte. ihm kluge Fragen nach seinem Dichter- trid“ zu nennen. Andererseits: „Man liegt Es sollte ein Lob sein. Denn in Benns handwerk stellte. Auch am 29. Juni 1954, vor einer Frau nicht Tag u. Nacht auf den Augen war Astrid Claes literarisch gelun- als beide einander im Kasseler Park-Hotel Knieen u. murmelt zu ihr Gebete empor, gen, was er, der nun schon Todkranke, ihr Hessenland zum ersten Mal trafen, blieb es eine Frau ist ein Gegenstand.“ Als auf solch einmal als geheime Lebensregel gestanden bei Artigkeiten: Der 68-jährige Lyriker goss ungalante Wendungen leiser Einspruch hatte: „Immer fragwürdig bleiben – wahr- Tee ein und brachte seiner Deuterin ein kam, flüchtete Benn noch tiefer in sein Of- scheinlich ein niedriger Zug in mir, aber Glas Orangeade aufs Zimmer, durfte end- fiziers-Weltbild: er ist da.“ Johannes Saltzwedel Wiener „Letzter Aufruf“ Hochgestylt, tiefgekühlt

guten Teil des zeitgenössi- schen Bewussteins voll füllt und müllt: In seinen Kunst- stücken aus zitierten Zita- ten, fingierten Fiktionen ist irgendwie alles virtuell, weshalb es ihm schwer fällt, sich über die Kurzstrecke eines Gedichts oder Mono- logs hinaus auf einen Sach- bestand, eine Realität fest- zulegen – wenn man ihn packen möchte, zerrinnt ei- nem der Text leicht zwi- schen den Fingern. Welche Chance und Sen- sation also für diesen Au- tor, dass Andrea Breth, 49, die Übermutter mit dem

BERND UHLIG nährenden Kerosin, einst Berliner Schaubühnen- Chefin, jetzt Hausregisseurin am Wiener THEATER Burgtheater, seinem Flughafenschauspiel „Letzter Aufruf“ eine Uraufführungsplatt- form errichtet hat, wie sie sich größer, glän- Killer in der Airport-Disco zender, luxuriöser nicht denken lässt. In eine sonst als Probenraum genutzte Halb Krimi, halb Multimedia-Spektakel: Das Wiener Burgtheater Riesenhalle auf dem Arsenalgelände hinter dem Wiener Südbahnhof hat der Bühnen- hat viel investiert, um aus Albert Ostermaiers Stück bauer Martin Zehetgruber ein kreisrundes, „Letzter Aufruf“ ein Ereignis zu machen, doch die ehrgeizige leicht futuristisch anmutendes Totalthea- Show erstarrt in Staatstheatralik. Von Urs Jenny ter hineingesetzt. In der Mitte der kreisför- mige Zuschauerraum mit 330 Drehstühlen, eute mit mehr Geld, als man ausge- Seit der Lyriker und Theaterautor Al- rundum reibungslos gleitende Schiebewän- ben kann, ohne Aufsehen zu erre- bert Ostermaier vor mehr als zwei Jahren de aus Aluminium, die, wechselnd von Sze- Lgen, gehören zum Lieblingsfutter der der Regisseurin Andrea Breth von diesem ne zu Szene, Ausschnitte aus der Flugha- Boulevardpresse. Mancher, der dem ent- Airport-Nomaden als einer möglichen fen-Realität freigeben: Rolltreppe, Gepäck- rinnen will, kommt auf abwegige Ideen: Bühnenfigur erzählt hat – natürlich nachts Förderband, Waschräume, Hotelzimmer, Kein Schloss in Schottland, kein Einödhof in einer Hotelbar vor dem ersten Abflug –, Fahrstühle, Duschen, Parkhausdeck und als in Ligurien, kein hinterletztes Atoll hinter hat sie ihn, so sagt Ostermaier, gedrängt Herzstück die lange, sehr lange Hotelbar. Hawaii, nein, der Mann namens Leo Torn, und ermutigt, dieses Stück zu schreiben. Paradoxe Wirkung der Fülle: Da all diese der sich das alles leisten könnte, lebt statt- „Sie hat mich immer wieder in der Luft Schauplätze durch den Einsatz von Alumi- dessen seit Jahren in der klimatisierten aufgetankt. Ihre Ideen sind wie Kerosin.“ nium, Spiegeln und Milchglas gleicherma- Anonymität von Flughafenhotels, die so Ostermaier, der begabte Kraftkerl, hat, ßen hochgestylt und tiefgekühlt wirken, se- direkt mit den Terminals verbunden sind, wie man auch seinen Gedichten ansieht, hen am Ende auch alle ziemlich gleich aus. dass er jederzeit ohne Umstände zu einem eine Anfälligkeit für brenzlige Metaphern; Leo Torn als Fixpunkt an der langen anderen (aber genauso gearteten) Ziel ab- er gilt mit 34 Jahren noch als „Hoffnung“, Bartheke ist (von seinem ganzen Geld heben kann. da ihm manches, doch nichts wirklich abgesehen) nicht nur der realitätsscheue Schlechte Luft, Lärmbelästigung, Elek- Durchschlagendes gelungen ist. Er bewegt „Nighthawk“, als der er sich anfangs dar- trosmog und die Allgegenwart von Fast sich mit spielerischem Geschick auf den stellt, sondern pflegt in der Anonymität Food auf den Flughäfen die- Podien der Popkultur: Wer- von Flughafenhotelzimmern ein sehr du- ser Welt sind ihm egal, er ke wie „Heartcore“ oder bioses Hobby: Mit Hilfe seiner schönen liebt seinen Stammplatz in „Autokino“ hat er gleich- Gefährtin Tita, der Femme fatale schlecht- der nächtlichen Flughafen- zeitig als Lyrikband, CD hin mit verraucht-verruchter Samtstimme, hotelbar zwischen dem letz- und Hörspiel herausge- lockt er einsame Reisende zu Sexspielen in ten und dem ersten Abflug. bracht, das erste zudem als sein Zimmer: Tita spielt die Domina, Leo Seine Haltung ist eher lite- Bühnenshow. agiert mit der Videokamera. rarisch als lebensnah. „Ich Seinen Stoff findet er ei- In jener einen Nacht des Schicksals, in will nichts mehr mit der gentlich nicht in jener „Au- der Ostermaiers „Letzter Aufruf“ spielt, Außenwelt zu tun haben, ßenwelt“, die seinen Leo dreht sich um die beiden ein ganzer Figu- sie ödet mich an. Ich suche Torn so anödet, sondern im renreigen: zum Beispiel ein angeblicher die völlige Leere und Aus- weithin amerikanisierten Dichter namens Ruiz, der sich bei genaue- tauschbarkeit. Ich möchte Kolportage-Universum aus rem Hinsehen als „contract killer“ erweist,

mich löschen.“ Kurz: Er REINHARD WERNER Illustriertenklatsch, Pop- „last minute“ zu einem „blind date“ ein- ist ein Schmock, er ist ein Schriftsteller Ostermaier songs, Actionfilmen und geflogen (im Auftrag eines Ehemanns soll Spieler. „In der Luft aufgetankt“ TV-Krimiserien, das einen er eine nervende Ehefrau oder Geliebte

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Werbeseite Kultur beseitigen); zum Beispiel ein durch Wodka made und Remix von sehr schillerndem höchstem Kunstanspruch – in Fetzen ge- und Tabletten schon bedenklich deran- Realitätsgehalt, bei dem alles in jedem Au- rissen. Sie hat, berührungsscheu vor aller gierter ukrainischer Mafioso namens Serge, genblick auch ganz anders sein könnte und kolportagehaften Vitalität oder Vulgarität, den Leo als Opfer für Tita ins Visier nimmt; jede Figur eine Behauptung ist, die nur bis sein Krimi-Konstrukt zerlegt, die eher in- ferner ein bekiffter DJ namens Mono samt zur Behauptung des nächstbesten Gegen- timen Szenen aufgesplittert und mit Os- Braut Uma, zurück aus dem Goa-Urlaub teils gilt. termaier-Gedichten als monologischen Zu- mit einem Koffer voll Koks oder Porno- Ein Regisseur aber, so sollte man den- gaben (zu einem durchgehenden Sound- Disketten, den wahrscheinlich der Ukrai- ken, den gerade dieses Soufflé reizt, wür- track seines Komponistenkompagnons Bert ner übernehmen sollte; des Weiteren ein de sich mit Lust in seine Realitätsangebote Wrede) zu trancehaft-zeitlupenhaften Ta- sexbesessenes Pilot-und-Stewardess-Pär- hineinknien, um aus dem trivialen Stoff bleaus hindrapiert. chen namens Alan und Sona, dem ein to- Funken zu schlagen und den Details Sinn- Wer nicht seine Hausaufgaben macht dessüchtiger Kriegsfotograf nachstellt, um lichkeit zu geben. und vorher den Text liest, wird öfter mehr den Moment nicht zu verpassen, wo der Nichts da, Leute. Andrea Breth hat, wie ahnen als erraten, was Tita und Leo und Killer im Auftrag des Piloten die Stewar- die Endproben vor der Premiere am ver- Uma und Serge und Sona und Alan mit- dess umlegt, und so weiter. gangenen Samstag zeigten, entschlossen einander (oder gegeneinander) so treiben. Wer ist der Schnellste? Wer killt wen zu- die entgegengesetzte Richtung eingeschla- Sie machen Kunst, das ist das Beste, was erst? Wäre auch noch ein Kommissar zur gen. Noch wirklichkeitsflüchtiger als der sich darüber sagen lässt. An die 30 Darsteller zählt das Programm auf, darunter eine ganze Reihe gediegener Burgtheater-Protagonisten, die Monumen- talität des Bühnenraums aber macht alle gleich. Mag sein, dass Individualität ein Aberglaube von vorvorgestern ist, doch der Lebendigkeit des Theaters tut es gut, wenn man ihn – notfalls ein Auge zudrü- ckend – als Spielregel gelten lässt. Es ist ja kein Zufall, dass Namen wie Alan, Serge, Ruiz, Leo oder DJ Mono an das Personal eines Illustriertenromans denken lassen und dass die weiblichen Hauptfiguren Tita, Sona, Uma wie Des- sous-Garnituren aus einem Versandhaus- katalog heißen – aber Andrea Breth bringt ihre Darsteller um jede Chance zur In-

BERND UHLIG dividualisierung, wenn sie die Damen auf Breth-Inszenierung „Letzter Aufruf“: Weder Bob Wilson noch Pina Bausch High Heels mit der tiefgefrorenen Al- lüre von Reizwäsche-Models herumstö- Stelle, so könnte man sagen, dies sei eine Selbstbespiegeler Leo, steuert sie schnur- ckeln lässt und den Herren durchgehend coole, ja supercoole Theaterversion des stracks hinauf in die dünne Luft der Stili- Schwarz verordnet, den attraktiveren geilsten aller Teenie-Party-Spiele: „Mord in sierung, der aseptischen Zelebrierung, der schwarzes Leder. der Disco“. Gewiss aber ist es ein schlau- Abstraktion: weder Bob Wilson noch Pina Zwei Special-Guest-Auftritte, die in Os- es, ja superschlaues Kolportage-Konzen- Bausch, aber hochambitioniertes Bilder- termaiers Text stehen, hat die Inszenierung trat, das der Ibsenschen Antithese Künst- Theater, Pose für Pose für Pose, das statt vermasselt: die Figur eines guruhaft predi- ler : Bürger die brandneue Formel Künst- handgreiflicher Situationen aparte Attitü- genden Asyl Suchenden durch einen Dar- ler = Killer gegenüberstellt. Denn nicht nur den vorführt und jede Plattitüde wie eine steller, der nicht Deutsch kann, und den der Dunkelmann Ruiz gibt sich als Dichter Preziose auf dem Samtkissen darreicht. Auftritt eines Deus ex machina namens aus, auch Leo wird als gescheiterter Künst- Das Überraschende, wahrhaft Erstaunliche Dieu (das Stück scheint in Paris zu spielen) ler entlarvt, und der Mafioso Serge mu- und letztlich Katastrophale der Wiener Ur- dadurch, dass sie seinen Darsteller schon tiert durch ein paar lyrische Solos zu einem aufführungsinszenierung ist ihre paralysie- den ganzen Abend als Passanten mit ei- veritablen ukrainischen Pop-Barden von rende Feierlichkeit. nem lächerlichen Rollköfferchen durch die der Sorte Macho süßsauer. Wie konnte es zu einem so fundamen- Szenerie schlendern lässt. Beim Lesen des Texts* möchte man den talen Missverständnis kommen? Wenn in Peinlicher ist, wie Ostermaier und Breth Figuren irgendwann zurufen: „Schon gut, die große weite Theaterwelt hinausgefragt ihrem Männlein-Weiblein-kille-kille-Rei- Jungs, das reicht, wir haben begriffen, dass wird, wer überhaupt denn heutzutage noch gen, der seinem Wesen gemäß in einem auch für euch ,Pulp Fiction‘ Bayreuth ist!“ einen Kleist oder einen Schiller als sinn- amoralischen Kunstraum spielt, ein paar Ostermaiers „Letzter Aufruf“ flirtet mit ei- fälliges Ganzes auf der Bühne lebendig zu politisch korrekte Szenen aufgepappt ha- nem Kinogenre, das unter Brüdern „neo machen vermöge, steht der Name von ben, in denen Komparsen asiatischer oder noir“ heißt, und hätte auf der Bühne ein Andrea Breth weit vornean. Doch über die afrikanischer Herkunft von polizeimäßig frecher Spaß werden können. Schwelle Tschechow hinaus in die Thea- oder paramilitärisch kostümierten Kom- Dabei kann man, wenn man so will, die- terliteratur des späteren 20. Jahrhunderts parsen misshandelt werden: Das ist nicht sen ganzen „Letzten Aufruf“ als ein li- hat sie sich selten gewagt und nie bis zu ei- die verdrängte Wirklichkeit, die da aufbe- terarisches Hütchenspiel betrachten, als ner Uraufführung oder gar zur Zusam- gehrt, sondern nur eine Manifestation des einen frivolen Zitaten-Zauber aus Abzieh- menarbeit mit einem Jung-Autor. schlechten Künstlergewissens, die zum bildern von Abziehbildern, als ein Mög- Nun aber – wohl ebenso sehr aus Über- Himmel schreit. lichkeits-Kaleidoskop zwischen Ready- schwang wie aus Jugendwahn – ganz un- Selten ist die Uraufführung eines jun- erwartet die enge, auch durch die Proben- gen, neuen Stücks zu einem so hoch an- monate fortgesetzte Arbeitsgemeinschaft gesetzen und pompösen Staatsbegräbnis * Albert Ostermaier: „Letzter Aufruf/99 Grad“. Suhr- kamp Verlag, Frankfurt am Main; 172 Seiten; 10 Euro. Er- mit Ostermaier: Andrea Breth hat sein geraten. Hoffentlich überlebt das Oster- scheint am 17. Mai. Stück gleichermaßen gehätschelt wie – mit maiers „Letzter Aufruf“. ™

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Jürgen Hogrefe, Horand Knaup, Alexander Neubacher, Ralf JERUSALEM Annette Großbongardt, P.O. Box 2799, Shamei St., Deutschland, Österreich, Schweiz: Neukirch, Dr. Gerd Rosenkranz, Dr. Rüdiger Scheidges, Christoph Schult, Alexander Szandar. Reporter: Matthias Geyer; Redaktion Jerusalem 91027, Tel. (009722) 6224538-9, Fax 6224540 Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 Wirtschaft: Markus Dettmer, Frank Hornig, Christian Reiermann, JOHANNESBURG Birgit Schwarz, P. O. Box 2585, Parklands, E-Mail: [email protected] Michael Sauga, Ulrich Schäfer Johannesburg 2121, Tel. (002711) 8806429, Fax 8806484 übriges Ausland: Autor: Jürgen Leinemann KAIRO Volkhard Windfuhr, Bernhard Zand, 18, Shari’ Al Fawakih, New York Times Syndication Sales, Paris DEUTSCHLAND Leitung: Clemens Höges, Georg Mascolo, Jürgen Muhandisin, Kairo, Tel. (00202) 7604944, Fax 7607655 Dahlkamp (stellv.). Redaktion: Annette Bruhns, Dominik Cziesche, Telefon: (00331) 47421711 Fax: (00331) 47428044 LONDON Michael Sontheimer, Christoph Pauly, 6 Henrietta Street, Michael Fröhlingsdorf, Carsten Holm, Ulrich Jaeger, Sebastian Knau- London WC2E 8PU, Tel. (004420) 75206940, Fax 73798599 für Fotos: er, Gunther Latsch, Udo Ludwig, Cordula Meyer, Norbert F. Pötzl, : LOS ANGELES Helmut Sorge, 1134 Cory Avenue, Los Angeles, CA Telefon: (040) 3007-2869 Andreas Ulrich. Autoren, Reporter Jochen Bölsche, Klaus Brink- bäumer, Gisela Friedrichsen, Gerhard Mauz, Bruno Schrep, Ulrich 90069, Tel. (001-310-) 2741333, Fax 2741308 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] Schwarz MADRID Helene Zuber, Apartado Postal Número 100 64, DER SPIEGEL auf CD-Rom und DVD BERLINER BÜRO Leitung: Heiner Schimmöller, Wolfgang Krach 28080 Madrid, Tel. (003491) 391 05 75, Fax 319 29 68 (stellv.). Redaktion: Wolfgang Bayer, Stefan Berg, Susanne Koelbl, MOSKAU Jörg R. Mettke, Uwe Klußmann, 3. Choroschewskij Telefon: (040) 3007-3016 Fax: (040) 3007-3180 Irina Repke, Sven Röbel, Holger Stark, Peter Wensierski E-Mail: [email protected] Projesd 3 W, Haus 1, 123007 Moskau, Tel. (007095) 9400502-04, WIRTSCHAFT Leitung: Armin Mahler, Thomas Tuma (stellv.). Fax 9400506 Redaktion: Beat Balzli, Dr. Hermann Bott, Dietmar Hawranek, Alex- Abonnenten-Service ander Jung, Klaus-Peter Kerbusk, Nils Klawitter, Marcel Rosenbach, NEW DELHI Padma Rao, 101, Golf Links, New Delhi 110003, Tel. SPIEGEL-Verlag, 20637 Hamburg Thomas Schulz (009111) 4652118, Fax 4652739 Umzug/Urlaub: 01801 / 22 11 33 zum Ortstarif AUSLAND Leitung: Dr. Olaf Ihlau, Fritjof Meyer, Hans Hoyng (stellv.). NEW YORK Jan Fleischhauer, Thomas Hüetlin, Alexander Osang, 516 Zustellung: 01801 / 66 11 66 zum Ortstarif Redaktion: Dieter Bednarz, Dr. Carolin Emcke, Adel S. Elias, Fifth Avenue, Penthouse, New York, N Y 10036, Tel. 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(003906) Lars-Olav Beier, Susanne Beyer, Nikolaus von Festenberg, Angela 6797522, Fax 6797768 Telefon: (06421) 606265 Fax: (06421) 606259 Gatterburg, Doja Hacker, Dr. Volker Hage, Ulrike Knöfel, Dr. Joachim E-Mail: [email protected] Kronsbein, Reinhard Mohr, Dr. Johannes Saltzwedel, Elke Schmitter, SAN FRANCISCO Marco Evers (Wissenschaft), 3782 Cesar Chavez Elektronische Version, Stiftung Blindenanstalt Klaus Umbach, Claudia Voigt, Susanne Weingarten, Marianne Street, San Francisco, CA 94110, Tel. (001415) 6437550, Fax 6437530; Wellershoff, Martin Wolf. Autoren, Reporter: Urs Jenny, Dr. Jürgen Michaela Schießl (Wirtschaft), 43 Hancock Street, San Francisco, Frankfurt am Main CA 94114, Tel. (001415) 8613002, Fax 8614667 Telefon: (069) 955124-15 Fax: (069) 5976296 Neffe GESELLSCHAFT Leitung: Lothar Gorris, Cordt Schnibben. Redak- SINGAPUR Jürgen Kremb, 15, Fifth Avenue, Singapur 268779, E-Mail: [email protected] tion: Anke Dürr, Fiona Ehlers, Hauke Goos, Ralf Hoppe, Ansbert Tel. 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(001202) 3475222, Fax 3473194 Außerhalb Europas: zwölf Monate ¤ 266,24 PERSONALIEN Dr. Manfred Weber; Petra Kleinau, Katharina WIEN Walter Mayr, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431) Halbjahresaufträge und befristete Abonnements Stegelmann 5331732, Fax 5331732-10 werden anteilig berechnet. HAUSMITTEILUNG, INFORMATION Hans-Ulrich Stoldt ✂ DOKUMENTATION Dr. Hauke Janssen; Jörg-Hinrich Ahrens, Werner Abonnementsbestellung CHEF VOM DIENST Thomas Schäfer, Karl-Heinz Körner (stellv.), Bartels, Dr. Helmut Bott, Viola Broecker, Heiko Buschke, Heinz Holger Wolters (stellv.) bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an Egleder, Johannes Eltzschig, Johannes Erasmus, Klaus Falkenberg, SCHLUSSREDAKTION Reinhold Bussmann, Lutz Diedrichs- Cordelia Freiwald, Anne-Sophie Fröhlich, Dr. André Geicke, Silke SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Schneider, Dieter Gellrich, Hermann Harms, Bianca Hunekuhl, Anke Geister, Dr. Dieter Gessner, Thorsten Hapke, Hartmut Heidler, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg. Jensen, Rolf Jochum, Maika Kunze, Katharina Lüken, Reimer Nagel, Susanne Heitker, Carsten Hellberg, Gesa Höppner, Stephanie Oder per Fax: (040) 3007-3070. Dr. Karen Ortiz, Manfred Petersen, Gero Richter-Rethwisch, Hans- Hoffmann, Christa von Holtzapfel, Bertolt Hunger, Joachim Immisch, Ich bestelle den SPIEGEL frei Haus für ¤ 2,56 pro Eckhard Segner, Tapio Sirkka, Ulrike Wallenfels Marie-Odile Jonot-Langheim, Michael Jürgens, Renate Kemper- Ausgabe mit dem Recht, jederzeit zu kündigen. BILDREDAKTION Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- Gussek, Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Anna Kovac, Sonny Kraus- gestaltung), Christiane Gehner, Claudia Jeczawitz, Michael König, pe, Peter Kühn, Peter Lakemeier, Hannes Lamp, Walter Lehmann, Zusätzlich erhalte ich den kulturSPIEGEL, das Matthias Krug, Anke Wellnitz; Josef Csallos, Torsten Feldstein, Peter Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, Ulrich monatliche Programm-Magazin. Hendricks, Andrea Huss, Elisabeth Kolb, Peer Peters, Monika Rick, Meier, Dr. Andreas Meyhoff, Gerhard Minich, Cornelia Moormann, Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte Sabine Sauer, Claus-Dieter Schmidt, Gershom Schwalfenberg, Karin Tobias Mulot, Bernd Musa, Werner Nielsen, Margret Nitsche, Hefte bekomme ich zurück. Weinberg. E-Mail: [email protected] Sandra Öfner, Thorsten Oltmer, Andreas M. Peets, Anna Petersen, Axel Pult, Thomas Riedel, Constanze Sanders, Petra Santos, Andrea Bitte liefern Sie den SPIEGEL an: GRAFIK Martin Brinker, Gernot Matzke; Cornelia Baumermann, Renata Biendarra, Ludger Bollen, Tiina Hurme, Cornelia Pfauter, Sauerbier, Maximilian Schäfer, Rolf G. Schierhorn, Dr. Regina Schlü- Julia Saur, Michael Walter ter-Ahrens, Ekkehard Schmidt, Mario Schmidt, Thomas Schmidt, LAYOUT Wolfgang Busching, Rainer Sennewald, Ralf Geilhufe; Andrea Schumann-Eckert, Ulla Siegenthaler, Margret Spohn, Rainer Katrin Bollmann, Regine Braun, Claudia Conrad, Volker Fensky, Pe- Staudhammer, Anja Stehmann, Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Name, Vorname des neuen Abonnenten tra Gronau, Jens Kuppi, Sebastian Raulf, Barbara Rödiger, Doris Rainer Szimm, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Hans-Jürgen Wilhelm, Reinhilde Wurst Vogt, Carsten Voigt, Peter Wahle, Ursula Wamser, Peter Wetter, PRODUKTION Sabine Bodenhagen, Frank Schumann, Christiane Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt Stauder, Petra Thormann, Michael Weiland BÜRO DES HERAUSGEBERS Irma Nelles Straße, Hausnummer TITELBILD Stefan Kiefer; Antje Klein, Iris Kuhlmann, Arne Vogt, Monika Zucht LESER-SERVICE Catherine Stockinger REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND NACHRICHTENDIENSTE AP, dpa, Los Angeles Times / Washington BERLIN Friedrichstraße 79, 10117 Berlin; Deutsche Politik, Wirtschaft Post, New York Times, Reuters, sid PLZ, Ort Tel. 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212 der spiegel 18/2002 Chronik 20. bis 26. April SPIEGEL TV

SAMSTAG, 20. 4. de Tisch“ für das Gesundheitswesen MONTAG, 29. 4. empfiehlt, den Versandhandel von Arz- 23.15 – 23.45 UHR SAT.1 NAHOST Der Uno-Sicherheitsrat will die neien unter Auflagen zu erlauben. Geschehnisse im Flüchtlingslager Dsche- SPIEGEL TV REPORTAGE nin untersuchen. Die Palästinenser wer- MOBILFUNK Der schwedische Telekommu- Der Kampf mit dem Kampfhund – fen den Israelis vor, ein Massaker verübt nikationsausrüster Ericsson kündigt an, eine Hundeverordnung und ihre Folgen zu haben, Israel streitet dies ab. 20000 Stellen in diesem und im kommen- Sie sind wieder da: Kampfhunde ohne den Jahr zu streichen. Leine und Maulkorb. Die Hamburger SONNTAG, 21. 4. Hundeverordnung, vor zwei Jahren im DIENSTAG, 23. 4. REGIERUNGSWECHSEL Bei den Wahlen in Sachsen-Anhalt erhält die SPD nur 20 TERROR Bei einer Razzia gegen mutmaß- Prozent der Stimmen, 15,9 Prozent weni- liche islamische Extremisten werden bun- ger als 1998. Gewinner ist die CDU, de- desweit 19 Wohnungen durchsucht und ren Spitzenkandidat Wolfgang Böhmer 11 Männer festgenommen. Sie stehen im eine Koalition mit der FDP anstrebt. Verdacht, Terroranschläge geplant zu haben. RECHTSRUCK Im ersten Durchgang der französischen Präsidentschaftswahl er- PROGNOSE Die Wirtschaftsforschungsin- reicht der Rechtsextremist Jean-Marie stitute legen ihr Frühjahrsgutachten vor. Le Pen den zweiten Platz nach Amts- Sie erwarten für das Jahr 2002 ein Wachs- tum von 0,9 Prozent. inhaber Jacques Chirac. Damit kommen JÜRG BERGMANN beide in die Stichwahl. Der sozialistische ÜBERNAHME Die Düsseldorfer Kamps AG, Kampfhund Premier Lionel Jospin ist als Drittplat- Europas größte Bäckereikette, akzep- zierter aus dem Rennen. tiert das Übernahmeangebot des italieni- Eiltempo durchgesetzt, nachdem ein tür- schen Nudelherstellers Barilla. kischer Junge von einem Pitbull getötet MONTAG, 22. 4. worden war, trifft manchmal harmlose und verschont häufig gefährliche Tiere – KIRCHE Nach den Missbrauchsaffären um MITTWOCH, 24. 4. und deren Halter. katholische Priester beraten deutsche TERROROPFER Die Bundesregierung will Bischöfe über schärfere Sanktions- und einen Fonds in Höhe von zehn Millionen Kontrollmöglichkeiten. In jedem Fall Euro für die Opfer von Terroranschlägen DONNERSTAG, 2. 5. sollen pädophile Priester von der Seel- einrichten. 22.10 – 23.05 UHR VOX sorge ausgeschlossen werden. BILANZ Der weltgrößte Medienkonzern SPIEGEL TV EXTRA MEDIKAMENTE Der von Gesundheitsmi- AOL Time Warner meldet für das erste In rauer See – unterwegs mit einem nisterin Ulla Schmidt einberufene „Run- Quartal dieses Jahres einen Rekordver- deutschen Hochseefischer lust von 54,2 Milliarden Die Männer des Fischkutters „Susi“ ris- Chinesische Bauarbeiter reinigen Dollar. kieren ihr Leben, wenn sie selbst bei to- eine Statue von Mao Tse-tung in bender See versuchen, ihren kostbaren der Stadt Chengdu aus Anlass der DONNERSTAG, 25. 4. Fang an Bord zu hieven. SPIEGEL TV Feiern zum 1. Mai. begleitet Schiff und Mannschaft in rauer VOTUM Die Urabstimmung See. über einen Streik in der Metall- und Elektroindu- SAMSTAG, 4. 5. strie beginnt. 22.00 – 24.00 UHR VOX RAUMFLUG Als zweiter SPIEGEL TV Tourist in der Geschichte SPECIAL der Raumfahrt startet Chaplin, Rühmann und der Diktator – der Südafrikaner Mark zwei Komiker und das Dritte Reich Shuttleworth vom russi- Der Tramp und der Diktator – Chaplins schen Weltraumbahnhof Abrechnung mit Hitler; Der aufrechte Baikonur ins All. Untertan – Heinz Rühmann. Zwei Doku- mentationen mit einzigartigem Farbfilm- FERNSEHEN Die Deutsche material. Fußball Liga droht ihrem insolventen Lizenzpartner SONNTAG, 5. 5. KirchMedia, die Übertra- 22.25 – 23.10 UHR RTL gung der letzten beiden Spieltage zu untersagen. SPIEGEL TV MAGAZIN Schwerpunktthema: Bericht zur Lage der FREITAG, 26. 4. Nation – der Tanz in den Mai BLUTBAD Bei einem Amok- SPIEGEL TV-Reporter unterwegs: Eine lauf in einem Erfurter Woche Deutschland zwischen Ost und Gymnasium sterben 18 West, Arm und Reich, Schröder und Stoi- Menschen: 14 Lehrer, zwei ber. Der Start in die Vor-Wahlzeit, die Schüler, ein Polizist und Angst vor Arbeitslosigkeit und Terroris- der Täter, ein ehemaliger mus, der Kampf um die besten Plätze auf Schüler, der sich selbst er- der Sonnenseite der Republik.

REUTERS schießt.

der spiegel 18/2002 213 NACHRUF Fritz Rumler 1932 bis 2002

einahe ein Menschenalter hat er er gern, liefen ab nach der Dramatur- im SPIEGEL verbracht, und der gie einer SPIEGEL-Geschichte. Wenn BSPIEGEL war sein Leben: 1965 seine Fabulier- und Formulierlust ihm kam er von der Münchner „Abendzei- einen Kalauer bescherte, hielt er ihn tung“ als schon versierter Theaterkriti- gnadenlos fest: „Mönche mögen’s ker nach Hamburg – eine Stadt, in der heiß“ oder „Laotse geht von Bord“ er sich immer im Exil gefühlt hat. Aber waren Rumler-Evergreens, und wenn schon bald rückte er zum Star unter den er in der SPIEGEL-Kantine zum Ver- Feuilletonisten an der Elbe auf. Rumler, zehr von Fischgerichten gezwungen der Universal-Kolumnist, schrieb über war, stellte er verlässlich die „Grät- fast alles, über Thomas Bernhard und chenfrage“. Kulenkampff, über Dieter Hildebrandt Oft gab schon die Überschrift das und Andy Warhol, über die Rätsel Signal: Einen Esoterik-Scharlatan ent- der „Titanic“-Katastrophe, Sherlock- larvte er unter dem Titel „Im Drüben Holmes-Festivals und die intelligenz- fischen“, und noch das letzte Werk des fördernde Wirkung der Musik. Spionage-Altmeisters John le Carré, Der promovier- mit dem er in bes- te Germanist be- tem Gentleman- herrschte alle Tonar- Englisch zu korre- ten der Sprache, spondieren pflegte, vom Pathos begeis- präsentierte er stil- terter Reportagen gerecht à la Joseph bis zum derben Conrad als „Im Wortspiel, von der Herz der Finster- zarten Ironie bis nis“. zum maliziösen Ver- Mit den Jahren riss. Unvergessen, wuchs sein Faible wie er 1981 die Dreh- für die kleine, poin- arbeiten zu Werner tensatte Form: Glos-

Herzogs Film „Fitz- MONIKA ZUCHT / DER SPIEGEL sen, in denen aus carraldo“ schilderte: halben Klassiker-Zi- Da entfaltete sich ein geniales Panorama taten unverhofft aktuelle Weisheit über einen genial-verrückten Film. hervorsprang, oder Nachrufe, die das Klaus Kinski als musikbesessener Un- Charakteristische eines ganzen Lebens ternehmer, der partout ein Opernhaus in wenigen, treffenden Zeilen bün- im Dschungel errichten will und dafür delten. Auch in der Lyrik war er firm: sogar ein Schiff über einen Berg ziehen Nahezu jeden Werktag faxte er seiner lässt – das konnte er so leidenschaftlich kleinen Tochter Lilly abends ein so- und präzise einfangen, dass der Leser eben fabriziertes Gedicht. „Was sucht glaubte, dabei gewesen zu sein. er nur, der arme Hund? / Er sucht den Bei Rumler war alles drin. Etwa als allerletzten Grund, / warum er hier er 1982 unerschrocken nach Neutraub- auf Erden ist / und dauernd saure ling bei Regensburg reiste, um das Gurken frisst“ („Liebe Lilly!“, Verlag Geheimnis jener Gespensterstimme zu Knaur, 2001). ergründen, die in einer Zahnarztpraxis Er, der die armen Hunde kannte, sah aus Abflussrohren und Waschbecken sich oft genug selbst als armen Poeten – schallte. Rumlers ironische Skepsis aber keiner wusste auch besser als er, nahm das Ergebnis vorweg: Die Un- dass Melancholie der Humus des Hu- flätigkeiten dieses Geistes namens mors ist. Kein Wunder, dass er zuletzt „Chopper“, der selbst den Reporter an einem Buch über Shakespeare ar- nicht verschonte („Der Rumler ist ein beitete, den Kenner aller Seelenab- Dummler!“), erwiesen sich als Streiche gründe, und erst recht kein Wunder, einer trickreichen Praxisgehilfin. dass Rumler als Theaterfachmann sich An seiner geliebten „Olympia“- den dankbarsten Ausschnitt von dessen Schreibmaschine, der er bis zur letzten Weltbühne wählte: Shakespeares Schur- Zeile die Treue hielt, wurde er lako- ken. Nun gilt auch für ihn, was er an- nisch, und ein Satz war erst dann für deren im SPIEGEL gern nachrühmte: ihn perfekt, wenn er „wie gemeißelt“ „Ära, wem Ära gebührt.“ Fritz Rumler dastand. Sogar seine Träume, erzählte starb vergangene Woche in Hamburg.

214 der spiegel 18/2002 Werbeseite

Werbeseite Personalien

Lady Gabriella Lady Gabriella Windsor, 21, britische Studentin der russischen Literatur, war ein gut gehütetes Geheim- nis der Royal Family, bis- lang. Das vergangene Wo- che zum 21. Geburtstag veröffentlichte Foto der Tochter von Prinz und Prinzessin Michael von Kent lässt, so die Tages- zeitung „The Times“, die offiziellen Volljährigkeits- porträts aller sonstigen Windsor-Damen verblas- sen. Schon heißt es in kö- niglichen Kreisen, Lady Gabriella – Verwandte der nicht eben elfengesichti- gen Elizabeth, Margaret und Anne – könnte das erste Mitglied des Hauses Windsor werden, das als hauptberufliches Model tätig ist: Die neueste Aus- gabe der britischen Mode- zeitschrift „Vogue“ bringt bereits drei Fotos der jun-

JOHN SWANNELL / CAMERA PRESS / PICTURE PRESS PRESS / PICTURE / CAMERA JOHN SWANNELL gen Frau.

Henry Kissinger, 78, gebürtiger Franke, sie auf uns hört“, sagte der für seltsame sei sich „der Ehre be- ehemaliger US-Außenminister, Friedens- Scherze bekannte Ehemann. Wer ist denn wusst“, und er wolle nobelpreisträger und bekennender Fan des überhaupt tapfer genug, der Eisernen Lady „ein guter Botschaf- Zweitliga-Fußballclubs Greuther Fürth etwas zu sagen? Sir Denis: „Gott.“ ter“ sein. Dann gab („Die schaffen wohl leider den Aufstieg der Redaktionsleiter, nicht“), redet nur ungern über seine Manuel Andrack, 36, Late-Show-Partner den Harald Schmidt deutsch-jüdische Jugend. Bei der Präsen- von Harald Schmidt, ist vom Deutschen schon mal als wahren tation seines neuen Buchs „Die Heraus- Brauer-Bund zum Botschafter des Bieres Vertreter des Proleta- forderung Amerikas“ (Propyläen-Verlag) 2002 ernannt worden. Der Bier trinkende riats bezeichnete, den reagierte Kissinger, der im August 1938 mit Knecht seines Herrn Schmidt nahm die Eh- Brauern den Proll. seinen Eltern Fürth verlassen musste, auf rung der Bierbrauer gerührt entgegen, er „Lassen Sie es mich entsprechende Nachfragen von kurz fassen“, kam Journalisten verschlossen. „Ich der „Kölsche Jung“ vermeide es, mit Deutschen (Andrack über An- über jüdische Themen zu re- drack) zur Sache, den“, erklärte der Polit-Autor „das Geilste an Ihnen in Hamburg, „weil dies der ist, dass man fürs

schreckliche Teil der deutschen Saufen auch noch ei- OSSENBRINK FRANK Geschichte ist, mit dem man nen Preis bekommt.“ Andrack mal aufhören muss.“ Patrick Lumumba, 39, kenianischer An- Baronin Margaret Thatcher, walt, kämpft für die Abschaffung alter Zöp- 76, als „Eiserne Lady“ berüch- fe, genauer, der Pferdehaarperücke. Dieses tigte frühere britische Premier- weißlich-graue haarige Relikt aus britischer ministerin, entsagt aus gesund- Kolonialzeit erweist sich unter der heißen heitlichen Gründen öffentlichen Sonne Kenias als schweißtreibender Kopf- Auftritten; ihr Ehemann Denis, putz für Richter und Anwälte und nicht 86, dagegen besucht weiterhin eben förderlich für Denken und Konzen- gesellschaftliche Ereignisse. So tration. Überdies wirkt es als Hauptzierde war er vergangene Woche auf eher lächerlich als Respekt einflößend. Und der Buchvorstellung eines Ad- den afrikanischen Ideologiekritikern ist mirals. Sir Denis wurde dabei „the wig“ ein Symbol für Unterdrückung wiederholt nach dem Gesund- und Ausbeutung. Kurzum, Anwalt Lu-

heitszustand seiner Frau ge- / SEEGER-PRESS MATRIX mumba, der auch Mitglied der Kommis- fragt. „Ihr geht es gut, solange Thatcher sion zur Überarbeitung der Verfassung Ke-

216 der spiegel 18/2002 3,37 Prozent der Wähler für sich gewin- nen, er hatte auch noch versäumt, sich ge- gen die finanziellen Folgen einer solchen Niederlage zu versichern. Denn wer bei den französischen Präsidentschaftswahlen unter fünf Prozent der Stimmen bleibt, er- hält die Wahlkampfkosten nicht erstattet. Allerdings hatte eine Versicherungsgesell- schaft über 300000 Euro Prämie verlangt, was Hue zu viel erschien. Hue und seine Kommunistische Partei blieben jetzt auf einer Rechnung von 8,38 Millionen Euro sitzen. Mehr Glück hatte der Euro-Skepti- ker Jean-Pierre Chevènement, der sich bei

FRANCESCO BROLI FRANCESCO der französischen Filiale des US-Unter- Lumumba nehmens Marsh für genau 300000 Euro versicherte, aber mit 5,33 Prozent der nias ist, hält die Rosshaarperücke für ab- Wählerstimmen seine 7,4 Millionen Euro solut überflüssig: „Damit sehen wir ein- für die Wählerwerbung ersetzt bekommt. fach dämlich aus.“ Leider, so Lumumba, Die Versicherung, so ein Chevènement- beabsichtige die Kommission nicht, sich Mitarbeiter, habe sich auf jeden Fall ge- mit der Perückenfrage zu befassen. Dabei lohnt. Dank der Absicherung habe der müssten doch, „wenn sich eine Gesellschaft Kandidat ausreichend Darlehen von den auf sich selbst zu besinnen“ versuche, Banken erhalten. „auch alle Amtsinsignien überprüft wer- den“. Lumumbas Gegenvorschlag, dass Heidi Klum, 28, deutsches Supermodel, etwa der Sprecher des Parlaments statt mit wurde Opfer des Gleichklangs von Wör- Perücke in Fell gekleidet die Sitzungspe- tern. Ein amerikanischer Journalist hatte riode eröffnen solle, weist dieser indes die Deutsche gefragt, ob sie Claudia Schif- energisch zurück. „Der Sprecher“, sagt der fer für eine wunderbare Frau halte, für derzeitige Amtsinhaber Francis Kaparo, eine „heroine“, gesprochen wie Heroin. „wird niemals irgendwelche Felle tragen.“ Klum, die vorzugsweise für den Dessous- Auch gebe es wichtigere Probleme als die Perückenfrage.

Herta Däubler-Gmelin, 58, Bundesjustiz- ministerin, erhielt bei einer Feier zum 70. Geburtstag von Hans Dieter Beck, Chef des führenden juristischen Fachverlags C. H. Beck, vergiftetes Lob. Festredner Andreas Heldrich, Rektor der Uni Mün- chen, pries die Gesetzesflut der laufenden Legislaturperiode als „das gewaltigste Kon- junkturförderungsprogramm in der Ge- schichte rechtswissenschaftlicher Verlage“. Vor allem aus dem Justizministerium, so der für seinen Sarkasmus bekannte Zivilrechtsprofessor, sei ein „Goldregen über der Branche niedergegangen“. Denn all diese Gesetze müssten interpretiert, auf Schwachstellen und Widersprüche abge- klopft und in das Rechtssystem eingepasst werden. Dies, so Heldrich, habe auch das Ministerium erkannt und zur so genannten Schuldrechtsnovelle ein schlagkräftiges Ex- pertenteam des Beck-Verlags angefordert. „Dank ihnen konnten dem Entwurf jene subtilen dogmatischen Verästelungen bei-

gebracht werden, die auch für die Zukunft / WIREIMAGE.COM THEO WARGO die notwendigen Abgrenzungsprobleme Klum und Streitfragen gewährleisten.“ Hersteller Victoria’s Secret auftritt, war Robert Hue, 55, glückloser Präsident- schockiert. „No“, wehrte sie ab. „Schauen schaftskandidat der französischen Kom- Sie sie doch nur an. Sie sieht viel zu gesund munisten, hatte zu allem Überfluss auch dafür aus. Sie steht mit beiden Beinen im noch weiteres Pech. Nicht nur konnte er Leben und ist eine smarte Frau.“ Klum am vorvergangenen Sonntag gerade mal empört: „Niemals nahm sie Heroin.“

der spiegel 18/2002 217 Hohlspiegel Rückspiegel Die „Frankfurter Allgemeine“ über ein Zitate neues Modell von Audi: „Aber möbliert und tapeziert ist das Innere des Avant in ei- Das Magazin „India Today ner sehr noblen, überlegt-reduzierten Art, International“ zum SPIEGEL-Gespräch die Materialien wirken etwas zu sehr so, als mit dem pakistanischen Präsidenten seien sie abwaschbar, man serviert hier Pervez Musharraf über einen drohenden eher Sushi als Schweinernes, es ist ein biss- Krieg mit Indien (Nr. 15/2002): chen die Coolness eines Zimmers, in dem sonst von schlanken Ärztinnen an überge- In einem Interview mit dem deutschen wichtige Patienten die Klistiere ausgege- Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL warn- ben werden.“ te Musharraf Indien, „wenn ganz Pakistan von der Landkarte zu verschwinden droht“, dann „kommt der Einsatz von Nuklearwaf- fen als allerletzte Möglichkeit in Frage“. Die Erklärung des Generals, Pakistan plane den „Erstschlag“ mit Atomwaffen, widerspricht der jüngsten Behauptung von Indiens Pre- mierminister Atal Behari Vajpayee , dass Is- lamabad – genauso wie Indien – nicht als Ers- Aus der „Vaihinger Kreiszeitung“ ter Atomwaffen einsetzen werde. Mushar- rafs Erklärung ließ in den indischen Sicher- heitskreisen die Alarmglocken schrillen. Aus den „Lüdenscheider Nachrichten“: „Auch der achtjährige Laurin Blasius be- Die „Märkische Allgemeine“ zum geisterte mit seinem Stück ‚Let’s Boogie‘ SPIEGEL-Buch „11. September von Beethoven die Zuschauer in der Mu- – Geschichte eines Terrorangriffs“: sikschule.“ Monatelang haben 18 Redakteure des Nach- richtenmagazins DER SPIEGEL die Ereig- nisse des 11. September und ihre Vorge- schichte recherchiert – und dabei auch die letzten Stunden der Attentäter rekonstru- iert. „Fast Food war ihr letztes Abendmahl.“ Minutiös schildert das Reporterteam, wann Aus der „Mittelbayerischen Zeitung“ wie und wo die Terroristen die Anschläge planten und vorbereiteten. Außerdem re- konstruierten sie das Geschehen in den vier Aus dem „Badischen Tagblatt“: „Ein Film- entführten Flugzeugen und trugen die Aus- team des Südwestrundfunks hat drei Tage sagen von 73 Überlebenden aus dem World lang im Krankenhaus Bühl gearbeitet. Dort Trade Center zusammen. Ergänzt wird die stand Ulrike Folkerts alias „Tatort“-Kom- Schilderung durch einige Originaldoku- missarin Lena Odenthal vor der Kamera. mente wie das Testament Attas oder seine Nach einem Kopfschuss kämpften die Ärz- Fibel für Selbstmordattentäter. te um ihr Leben.“ Die „Frankfurter Allgemeine“ über die Auflagenentwicklung des SPIEGEL:

Der SPIEGEL hat seinen kleinen, aber pres- tigeträchtigen Auflagenvorsprung vor dem „Stern“ ausgebaut. Wie der SPIEGEL mit- teilt, hat das Blatt die Auflage im ersten Quartal 2002 im Vergleich zum Vorjahres- zeitraum um 1,5 Prozent auf 1,066 Millionen Aus dem Stadtmagazin des „Hamburger Exemplare gesteigert. Abendblatts“ Der Branchendienst „werben & verkaufen“ unter der Überschrift Aus dem „Weser Kurier“: „Mit 39 Jahren „SPIEGEL ONLINE bleibt geht seinem Knie die Luft aus: Michael in Führung“ über Online-Reichweiten: ,Air‘ Jordan.“ Sie schleichen sich wieder ein, die ange- stammten Spitzenplätze im Rahmen der IVW-Messung zur Erhebung der Online- Reichweiten. So bleibt SPIEGEL ONLINE in der März-Auswertung mit leichten Zuge- winnen um 2,6 Prozent weiterhin Spitzen- reiter. An Visits erreichte das Angebot 15,64 Aus der „Hessisch-Niedersächsischen All- Millionen, außerdem 89,5 Millionen Page gemeinen“ Impressions.

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