Plenarprotokoll 19/53

Deutscher

Stenografischer Bericht

53. Sitzung

Berlin, Freitag, den 28. September 2018

Inhalt:

Wahl der Abgeordneten als Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ Vertreterin der Bundesrepublik Deutsch- DIE GRÜNEN). 5696 D land zur Parlamentarischen Versammlung (CDU/CSU) . 5697 B des Europarats . 5689 A Johannes Kahrs (SPD) . 5698 B (AfD) . 5699 B Tagesordnungspunkt 22: Johannes Kahrs (SPD) . 5699 C a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- Nicole Höchst (AfD). 5699 D setzes zur Änderung des Grundgesetzes (CDU/CSU) . 5701 A (Artikel 104c, 104d, 125c, 143e) Drucksache 19/3440. 5689 B (FDP). 5702 B b) Antrag der Abgeordneten Dr. Götz (DIE LINKE) . 5703 B ­Frömming, , Peter Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ Boehringer, weiterer Abgeordneter und der DIE GRÜNEN). 5704 B Fraktion der AfD: Bildungsföderalismus stärken (CDU/CSU). 5704 D Drucksache 19/4543. 5689 B (SPD). 5705 C c) Antrag der Abgeordneten Katja Suding, (fraktionslos). 5706 B , Dr. (Rhein-Neckar), weiterer Abgeordneter (CDU/CSU) . 5707 A und der Fraktionen FDP sowie der Ab- (SPD) . 5707 D geordneten Katja Dörner, , ­, weiterer Abgeordneter Alois Rainer (CDU/CSU). 5708 C und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (CDU/CSU). 5709 C NEN: Bessere Bildung durch einen mo- dernen Bildungsföderalismus Drucksache 19/4556. 5689 C Tagesordnungspunkt 23: Olaf Scholz, Bundesminister BMF. 5689 D Antrag der Abgeordneten , Dr. , Dr. , Dr. Götz Frömming (AfD) . 5691 C weiterer Abgeordneter und der Fraktion der (CDU/CSU). 5692 D AfD zu der Empfehlung für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates Dr. Götz Frömming (AfD) . 5693 C zur Änderung des Artikels 22 der Satzung (FDP). 5694 C des Europäischen Systems der Zentralban- ken und der Europäischen Zentralbank Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) . 5696 A – Ratsdok. 10850/17; 2017/0810 (COD) – II Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Das Vermögen der Deutschen Bundesbank Tagesordnungspunkt 25: schützen – Target-Forderungen besichern a) Antrag der Abgeordneten Jörg Cezanne, Drucksache 19/4544. 5710 D , , wei- Dr. Bruno Hollnagel (AfD). 5711 A terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Zehn Jahre nach der Pleite der Dr. André Berghegger (CDU/CSU) . 5712 A Investmentbank Lehman Brothers – Fi- Frank Schäffler (FDP). 5713 D nanzkrisen durch strikte Regulierung und Umverteilung verhindern Sonja Amalie Steffen (SPD). 5715 A Drucksache 19/4241. 5740 C Fabio De Masi (DIE LINKE). 5716 C b) Antrag der Abgeordneten Dr. , , Dr. , Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE GRÜNEN). 5717 D BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Finanz- (CDU/CSU). 5719 B wende anpacken – Den nächsten Crash verhindern Peter Boehringer (AfD). 5720 C Drucksache 19/4052. 5740 C (Heidelberg) (SPD). 5721 D Jörg Cezanne (DIE LINKE). 5740 C Dr . (AfD). 5723 B (CDU/CSU). 5741 C Lothar Binding (Heidelberg) (SPD). 5723 C (AfD). 5743 A Dr. Hermann-Josef Tebroke (CDU/CSU). 5723 D (SPD) . 5744 A Frank Schäffler (FDP). 5745 C

Tagesordnungspunkt 24: Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). 5746 B a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines (CDU/CSU). 5747 C Gesetzes zur Weiterentwicklung des (AfD). 5748 D Teilzeitrechts – Einführung einer Brü- ckenteilzeit Mario Mieruch (fraktionslos). 5749 D Drucksache 19/3452. 5725 C (SPD). 5750 B b) Antrag der Abgeordneten , Bettina Stark-Watzinger (FDP). 5751 B Matthias W. Birkwald, Fabio De Masi, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Sepp Müller (CDU/CSU). 5752 A DIE LINKE: Rückkehrrecht in Vollzeit Bettina Stark-Watzinger (FDP). 5752 B für alle Beschäftigten Drucksache 19/4525. 5725 C (CDU/CSU). 5752 B , Bundesminister BMAS. 5725 D Tagesordnungspunkt 26: Jürgen Pohl (AfD). 5727 C Erste Beratung des von der Bundesregierung (CDU/CSU). 5728 C eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur (FDP). 5729 C Beschleunigung von Planungs- und Geneh- migungsverfahren im Verkehrsbereich Susanne Ferschl (DIE LINKE). 5730 D Drucksache 19/4459. 5753 D Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ , Parl. Staatssekretär DIE GRÜNEN). 5731 D BMVI . 5753 D Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . 5733 A Leif-Erik Holm (AfD). 5755 B Norbert Kleinwächter (AfD). 5734 B Kirsten Lühmann (SPD). 5756 A (CDU/CSU). 5735 A (FDP). 5756 D Dr. Barbara Hendricks (SPD). 5736 A (DIE LINKE). 5757 C (CDU/CSU). 5736 D Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). 5758 B Carl-Julius Cronenberg (FDP) . 5737 D Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU). 5759 C (CDU/CSU). 5738 C (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU). 5739 C DIE GRÜNEN). 5760 C Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018 III

Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU). 5760 D (FDP). 5777 B (SPD). 5761 B (DIE LINKE). 5778 B Sabine Leidig (DIE LINKE). 5762 B (CDU/CSU). 5779 A Mathias Stein (SPD). 5762 C (CDU/CSU) . 5780 A Friedrich Straetmanns (DIE LINKE). 5780 D Zusatztagesordnungspunkt 8: Christoph Bernstiel (CDU/CSU) . 5781 A Antrag der Abgeordneten , Dr. , , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Zusatztagesordnungspunkt 9: FDP: Wälder schützen ‒ Rodungen für die Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Windkraft stoppen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Drei Jahre Drucksache 19/2802. 5762 D Abgasskandal – Jetzt für saubere Luft sor- Karlheinz Busen (FDP). 5763 A gen (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU). 5764 A DIE GRÜNEN). 5781 C (AfD) . 5764 D , Bundesminister BMVI. 5782 D (SPD). 5766 A Marc Bernhard (AfD). 5785 A (DIE LINKE) . 5767 B , Parl. Staatssekretär BMU. 5786 B Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ (FDP). 5787 A DIE GRÜNEN). 5768 B (DIE LINKE). 5788 B Dr. Lukas Köhler (FDP). 5769 B (CDU/CSU). 5789 B Dr. Klaus-Peter Schulze (CDU/CSU). 5770 A Dr. (AfD). 5790 C (SPD). 5771 A Kirsten Lühmann (SPD). 5791 C (FDP). 5771 C Stefan Gelbhaar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). 5792 D Tagesordnungspunkt 28: Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU). 5794 B Erste Beratung des von der Bundesregierung (SPD). 5795 B eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung von Finanzmarktgesetzen an (CDU/CSU). 5796 C die Verordnung (EU) 2017/2402 und an die Ulli Nissen (SPD). 5797 D durch die Verordnung (EU) 2017/2401 ge- änderte Verordnung (EU) Nr. 575/2013 Drucksache 19/4460. 5772 C Nächste Sitzung . 5798 D

Tagesordnungspunkt 29: Anlage 1 Erste Beratung des von den Abgeordne- Entschuldigte Abgeordnete. 5799 A ten , , , weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- Anlage 2 brachten Entwurfs eines Gesetzes zur fortlau- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung fenden Untersuchung der Kriminalitätslage des von der Bundesregierung eingebrachten und ergänzenden Auswertung der polizeili- Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung von chen Kriminalitätsstatistik (Kriminalitäts- Finanzmarktgesetzen an die Verordnung (EU) statistikgesetz – KStatG) 2017/2402 und an die durch die Verordnung Drucksache 19/2000. 5772 D (EU) 2017/2401 geänderte Verordnung (EU) Dr. Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/ Nr. 575/2013 DIE GRÜNEN). 5772 D (Tagesordnungspunkt 28). 5800 A Axel Müller (CDU/CSU). 5773 D Sepp Müller (CDU/CSU) . 5800 A (AfD). 5774 D Alexander Radwan (CDU/CSU). 5801 A (SPD)...... 5775 D Metin Hakverdi (SPD) . 5801 C IV Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Albrecht Glaser (AfD). 5802 A , Parl. Staatssekretärin BMF . 5803 D Dr. (FDP). 5802 A Jörg Cezanne (DIE LINKE). 5802 C Dr . Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ Anlage 3 DIE GRÜNEN). 5803 A Amtliche Mitteilungen. 5804 B Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018 5689

(A) (C)

53. Sitzung

Berlin, Freitag, den 28. September 2018

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Guten Morgen, sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- Suding, Nicola Beer, Dr. Jens Brandenburg gen! Bitte nehmen Sie Platz. Die Sitzung ist eröffnet. (Rhein-Neckar), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Katja Vor Eintritt in die Tagesordnung müssen wir noch die Dörner, Kai Gehring, Margit Stumpp, weiterer Wahl eines Vertreters der Bundesrepublik Deutsch- Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ land zur Parlamentarischen Versammlung des Euro- DIE GRÜNEN parats durchführen. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt vor, die Kollegin Katrin Staffler für den Kollegen Bessere Bildung durch einen modernen Bil- als persönliches stellvertretendes Mitglied dungsföderalismus zu berufen. Stimmen Sie dem zu? – Das ist offensichtlich Drucksache 19/4556 der Fall. Dann ist die Kollegin Katrin Staffler als persön- liches stellvertretendes Mitglied gewählt. Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss (f) (B) Damit rufe ich die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 c Ausschuss für Wirtschaft und Energie (D) auf: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen­ abschätzung a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss Digitale Agenda gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für rung des Grundgesetzes (Artikel 104c, 104d, die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Mangels Wi- 125c, 143e) derspruchs ist das so beschlossen. Drucksache 19/3440 Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Überweisungsvorschlag: Bundesfinanzminister Olaf Scholz. Haushaltsausschuss (f) Ausschuss für Inneres und Heimat (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Olaf Scholz, Bundesminister der Finanzen: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen­ abschätzung Herren! Das Grundgesetz ist sorgfältig beraten. Man Ausschuss Digitale Agenda sollte es nicht ununterbrochen ändern. Die Finanzver- Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und fassung hat einen hohen Stellenwert in Deutschland und ­Kommunen ist sorgfältig abgewogen und gewachsen. Auch die sollte b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Götz nicht ununterbrochen geändert werden. Wenn man sich Frömming, Marc Bernhard, Peter Boehringer, also daranmacht, Verfassungsänderungen vorzunehmen weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD und insbesondere die Finanzverfassung in unserem Land zu ändern, dann muss man dafür gute Gründe haben. Ich Bildungsföderalismus stärken glaube, dass die drei jetzt von der Bundesregierung im Drucksache 19/4543 Wesentlichen vorgeschlagenen Verfassungsänderungen gute Gründe haben und dass wir sie auch vornehmen Überweisungsvorschlag: sollten. Haushaltsausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Das erste große Thema, mit dem wir uns beschäfti- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen­ gen wollen, ist: Wie können wir den Wohnungsbau in abschätzung Deutschland und insbesondere den sozialen Wohnungs- Ausschuss Digitale Agenda bau voranbringen? Wir haben eine Zeit lang in Deutsch- 5690 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Bundesminister Olaf Scholz (A) land geglaubt, dass es vertretbar wäre, wenn sich der 8 Euro pro Quadratmeter gibt, und das geht nur mit öf- (C) Bund irgendwann aus der Förderung des sozialen Woh- fentlicher Förderung. nungsbaus verabschiedet. Das ist Gegenstand der Verfas- sungsänderung gewesen, die dazu führt, dass der Bund (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 2019 die Kompetenz verliert, für Mittel zu sorgen, die der CDU/CSU) die Länder und die Gemeinden bei der Förderung des Vielleicht noch ein Hinweis dazu, was sich verändert sozialen Wohnungsbaus einsetzen können. Heute wissen hat: Die Zahl der Sozialwohnungen ist massiv gesunken. wir: Unverändert ist die Notwendigkeit da, geförderte Im Jahr 2000 waren es 2,6 Millionen. Jetzt sind es weni- Wohnungen herzustellen, und unverändert ist es notwen- ger als 1,2 Millionen. Man sieht: Die Zahl geht ständig dig, dass dabei Gemeinden, Länder und der Bund zu- zurück, und deshalb müssen wir eine Wende einleiten. sammenhalten. Deshalb schlagen wir heute hier vor, das Grundgesetz so zu ändern, dass auch in Zukunft, in den Das zweite große Thema, das uns hier zusammenführt 20er-Jahren sozialer Wohnungsbau vom Bund unterstützt und für das wir eine Verfassungsänderung vorbereiten, werden kann. ist, dass der Bund die Länder bei der Bildung unterstüt- zen kann – es geht hier um Infrastruktur; wir wissen das. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das ist notwendig, damit wir sicherstellen können, dass der CDU/CSU) überall in Deutschland unter Berücksichtigung gleich- wertiger Lebensverhältnisse erstklassige Bildungsange- Warum wollen wir das? Wenn man sich genau um- bote zur Verfügung stehen. schaut, dann stellt man fest: Ein großer Teil der Bür- gerinnen und Bürger unserer Städte ist auf geförderte (Beifall bei der SPD) Wohnungen angewiesen. Die Einkommensverhältnis- Es wird ja gern darüber geredet, was so alles notwendig se in Deutschland sind ganz anders, als es manchmal wäre. Wir haben uns jetzt darangemacht, für gleichwerti- so daherkommt. Ungefähr die Hälfte aller Haushalte ge Lebensverhältnisse viele Vorschläge zu sammeln und in diesen Städten hat schon immer eine Berechtigung, sie in die Tat umzusetzen. Ein Punkt ist immer ganz zen- eine geförderte Wohnung zu beziehen. Nicht alle müs- tral, nämlich dass man, egal wo man aufwächst, die bes- sen das tun, zum Beispiel weil sie schon lange in einer ten Bedingungen vorfindet. Deshalb ist es richtig, dass billigen Wohnung wohnen und das Mietrecht sie schützt der Bund, die Gemeinden und die Länder zusammenhal- oder weil sie in einer Genossenschaftswohnung oder ei- ten und der Bund auch in Zukunft die Möglichkeit hat, ner kommunalen Wohnung wohnen, was sie ebenfalls die Länder hier zu unterstützen. vor allzu großem Preisdruck schützt. Mancher hat sich auch mühsam ein kleines Haus oder eine Eigentumswoh- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) nung abgespart und ist deshalb nicht darauf angewiesen. der CDU/CSU) (D) Aber wissen müssen wir immer: Theoretisch ist es von der Einkommenslage her so, dass etwa die Hälfte aller Wenn man allerdings Meinungsumfragen glauben Haushalte einen Anspruch auf eine solche Wohnung hat, darf, sind die Bürger eher der Meinung, dass die föderale und das macht deutlich, welche Dimensionen der soziale Verfassung nicht ganz das ist, was sie sich selber vorstel- Wohnungsbau in Deutschland wieder haben muss. Wir len in dieser Frage – anders als ich übrigens. Ich glaube, müssen zurückkehren zu besseren Zeiten mit mehr sozia- dass es gut ist, dass die Länder für die Bildung zuständig lem Wohnungsbau, und darum geht es bei dieser Verfas- sind. Aber weil das ja immer diskutiert wird, will ich den sungsänderung. Skeptikern eines sagen: Länder und Gemeinden geben für Bildung etwa 130 Milliarden Euro aus. Wenn wir, wie (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU so- es jetzt in der Finanzplanung vorgesehen ist, in dieser Le- wie der Abg. Caren Lay [DIE LINKE]) gislaturperiode etwa 5,5 Milliarden Euro an Bundesmit- teln einsetzen, dann muss man sich schon sehr bemühen, Eines ist doch ganz klar – das in die Richtung derer, darin eine Gefährdung des Föderalismus zu sehen. Es ist die glauben, das löse sich marktwirtschaftlich ganz von nur ein kleiner Beitrag zu einer ganz, ganz großen Sache. alleine –: Eine Neubauwohnung in einer mittleren Stadt mit nicht allzu großem Preisdruck kann in Deutschland (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht so errichtet werden, dass sie weniger als 10 Euro der CDU/CSU) netto kalt pro Quadratmeter kostet. Manche müssen noch Deshalb noch einmal: Was wir hier machen, ist ein Zu- viel mehr aufwenden, damit sich das wirtschaftlich rech- sammenhalten von Bund, Ländern und Gemeinden. Es net. Und ich rede hier nicht von Spekulanten. Ich rede ist keine Veränderung der föderalen Zuständigkeiten. Die von Unternehmern, die Häuser bauen und dabei gut rech- Länder sind diejenigen, die für die Bildung zuständig nen. Ein erheblicher Teil der Bürgerinnen und Bürger un- sind. Das halte ich für richtig. Wir müssen sie aber un- seres Landes kann sich solche Mieten nicht leisten. terstützen, und zwar im Sinne der jungen Leute, die bei (Christian Lindner [FDP]: Das hängt auch uns aufwachsen. mit Barbara Hendricks zusammen! – Jürgen (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Kai Braun [AfD]: Weil Sie das künstlich verteuern Wegner [CDU/CSU]) wollen!) Die dritte substanzielle Veränderung, die wir Ihnen Wir müssen es deshalb möglich machen, dass es auch hier vorschlagen, ist, dass wir es möglich machen, den neugebaute Wohnungen für knapp über 6 Euro oder für öffentlichen Personennahverkehr in den Ballungsräumen Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5691

Bundesminister Olaf Scholz (A) und ihrem Umland besser und mehr zu fördern, als das in Schönen Dank. (C) den letzten Jahrzehnten der Fall gewesen ist. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Man muss sich ja fragen, warum ein Land, das ganz vornean war, als die ersten schienengebundenen Nah- Jetzt hat das Wort der Abgeordnete Dr. Götz verkehrssysteme etabliert wurden, und das sehr stolz ­Frömming, AfD. darauf war und Städte hat, die das heute noch in ihrer (Beifall bei der AfD) Geschichte erzählen, jetzt so weit hinten liegt, wenn es darum geht, Metrosysteme auszubauen, S- und U‑Bahn, (AfD): wie wir sie hier nennen. Dr. Götz Frömming Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen ( [CDU/CSU]: Weil die und Herren! Sehr geehrter Herr Bundesminister Scholz, Grünen immer dagegen sind!) Sie haben vorhin gesagt, 5 Milliarden Euro seien noch vergleichsweise wenig. Da haben Sie recht. Bei über Wenn man sich einmal in Europa und in der Welt um- 30 000 Schulen im Lande kann man sich ausrechnen, wie guckt, stellt man fest, dass es da massive, große Ausbau- viel davon vor Ort ankommt. Man könnte das Argument programme gibt, die eine wirklich wichtige Rolle für die natürlich auch umdrehen und fragen, warum wir es nicht Stadtentwicklung und die Zukunft der Länder spielen. gleich ganz sein lassen und diesen Bereich den Ländern Gerade hören wir immer wieder mal Zwischenberich- überlassen. Ich will Ihnen sagen, warum Sie es nicht sein te über den großen Plan für Paris. Da werden 200 Ki- lassen: Mit diesem Finanzbetrag, sei er auch so klein, lometer neue Metrostrecken geschaffen, allein für die- will sich der Bund natürlich Kontrollrechte sichern. Aber se eine – zugegebenermaßen große – Stadt. Wenn man dazu gleich mehr. das mit dem gesamten Ausbauvorhaben in Deutschland vergleicht, dann sollten wir ein bisschen bescheiden bei- Lassen Sie mich mit Erlaubnis des Präsidenten mit ei- seitetreten. Deshalb ist es aus meiner Sicht absolut not- nem kurzen Zitat beginnen, das uns direkt zum Thema wendig, dass der Bund einen Beitrag dazu leisten kann, führen wird: dass diese Strukturen, die den Nahverkehr und auch das Dass alles besser geregelt werden kann, wenn es Klima verbessern, wieder mehr gefördert werden. in Berlin entschieden wird, ist eine Wahrnehmung (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) aus Berliner Perspektive. Die Herstellung von Bil- dungsgerechtigkeit ist … keine Frage zentraler (B) In all diesen Ländern geschieht das nämlich. Steuerung. … Wenn es einzelnen Ländern an finan- (D) ziellen Mitteln fehlt, muss die Mitteilverteilung im Keiner von uns käme auf die Idee, zu glauben, dass Rahmen der Bund-Länder-Finanzbeziehungen ge- Investitionen in Bundesautobahnen und Bundesstraßen prüft und ggf. geändert, aber nicht die einzelstaat- etwas sind, was die Länder und Kommunen alleine stem- liche Bildungsverantwortung aufgegeben werden. men könnten. Wir gehen aber gegenwärtig davon aus – so ist das organisiert –, dass eine Kommune die Investi- (Beifall bei der AfD) tionen in ihre Nahverkehrssysteme, deren Dimension mit So weit – schade, dass die CDU nicht klatscht – der hes- der von Autobahnen vergleichbar ist, alleine stemmen sische Kultusminister Professor Alexander Lorz, CDU, kann. Das war nie richtig. Deshalb ist es wichtig, dass nein, nicht zum vorliegenden Gesetzentwurf, sondern wir hier eine Korrektur vornehmen. Mit der Verfassungs- schon in der „FAZ“ vom 6. Oktober 2016. Es gibt also, änderung, die wir Ihnen hier vorschlagen, wollen wir meine Damen und Herren von der CDU, vernünftige gleichzeitig ermöglichen, dass wir den Betrag, den der Leute bei Ihnen. Das macht Hoffnung auf die Zeit nach Bund für den Ausbau dieser Systeme zur Verfügung stellt Merkel. und der seit Jahrzehnten bei 333 Millionen Euro liegt, auf eine 1 Milliarde Euro anheben (Beifall bei der AfD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Mit diesem Gesetzentwurf will sich der Bund mehr CDU/CSU) Einflussmöglichkeiten in den Bereichen Bildung, Woh- nungs- und Straßenbau verschaffen. Um den Ländern und dann dynamisieren. Das ist ein Bundesbeitrag zum die Zustimmung zu erleichtern, sich in diesen Bereichen Ausbau der Verbindungssysteme in den großen Städten Stück für Stück an die Zügel des Bundes legen zu las- und ein ganz wichtiger Beitrag dazu, dem Klimawandel sen – das ist heute sicherlich nur der Anfang –, soll der zu begegnen. jeweilige „Zügel“ vergoldet werden. Im Bereich der Bil- dung werden – wir haben es gehört – fürs Erste bis zu (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 5 Milliarden Euro versprochen. In einer Zeit, in der alle darüber diskutieren, wie wir Nun liegt es in der Natur der Sache, dass die Länder vermeiden können, dass es Fahrverbote für Individual- und Kommunen zwar gerne mehr Geld hätten, sich aber fahrzeuge gibt, ist es doch ein gutes Zeichen, dass wir nicht oder nur ungerne an den Zügel legen lassen wollen. jetzt mehr Geld investieren wollen in das, was an Nah- Der Bund wiederum will sich mit der Vergabe von Steu- verkehrsmöglichkeiten existiert. Ich bitte um Ihre Unter- ermitteln ein Mitspracherecht erkaufen und den Ländern stützung. vorschreiben, was sie mit dem Geld machen sollen, weil 5692 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Dr. Götz Frömming (A) er ihnen nicht zutraut, das Richtige zu tun. Mit Verlaub, Zweck wie die Digitalisierung oder den sozialen Woh- (C) meine Damen und Herren, das ist nicht souverän, das ist nungsbau ausgeübt werden soll. Bierzeltpolitik nach dem Motto: Wir haben die Musik be- zahlt und bestimmen auch, was gespielt wird, ob es dem Meine sehr verehrten Damen und Herren, der vor- Publikum nun gefällt oder nicht. liegende Gesetzentwurf ist inhaltlich unausgegoren und verfassungsrechtlich problematisch. Dass er den Grünen (Beifall bei der AfD) und der FDP nicht weit genug geht, lässt tief blicken. Linke Bildungsideologie und neoliberale Wirtschaftspo- Die vorliegende Stellungnahme des Bundesrates zu litik haben in Ihrem Antrag einen Pakt geschmiedet. diesem Gesetzentwurf ist sehr aufschlussreich. Mich wundert nicht, dass sie eben verschwiegen wurde; denn (Christian Lindner [FDP]: Ha, ha!) daraus wird ersichtlich, dass die Länder schon verstan- Sie wollen Bildung zu einer Ware machen, Schulen über den haben, wohin die Reise gehen soll. die Digitalisierung kontrollieren lassen und das Land – Merkwürdigerweise beginnt die Stellungnahme des ich zitiere wörtlich aus dem Antrag, den Sie unterschrie- Bundesrates mit einer vom Gesetzentwurf gar nicht be- ben haben, Herr Lindner – mit flächendeckenden „inklu- rührten Kritik der Förderprogramme zur Verbesserung siven Bildungs- und Ganztagsangeboten“ überziehen. der Agrarstruktur und des Küstenschutzes. Die Länder Das ist mit unserem konservativen und freiheitlichen beklagen, dass in den zurückliegenden Jahren „Bundes- Bildungsverständnis nicht vereinbar. mittel nicht in Anspruch“ genommen werden konnten. (Beifall bei der AfD) Der Grund dafür dürfte in der komplizierten Verfahrens- gestaltung und letztlich in der nicht klar gegliederten Deshalb lehnt die AfD die Anträge von Grünen, Linken Aufgabenverteilung und Verflechtung zwischen Bund und der FDP noch entschiedener ab als den vorliegenden und Ländern zu suchen sein. 2006 hat man ja versucht, Gesetzentwurf der Bundesregierung. die Zuständigkeiten zu entflechten. Jetzt geht die Reise wieder in die andere Richtung. Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. Des Weiteren beklagen die Länder in ihrer Stellung- (Beifall bei der AfD) nahme die ausufernden Sozialausgaben, die ihnen die Luft zum Atmen nehmen. Wörtlich ist von einem „Teu- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: felskreis aus Haushaltsproblemen, schwindenden Hand- Nächster Redner ist der Kollege Eckhardt Rehberg, lungsspielräumen und verfallender Infrastruktur“ die CDU/CSU. Rede. Statt diese zentralen Probleme anzugehen, welche (Beifall bei der CDU/CSU) (B) natürlich auch mit der völlig verfehlten Einwanderungs- (D) und Asylpolitik zusammenhängen, wollen Sie sich alle gemeinsam hier im Hause mit dem Wohlfühlthema Di- Eckhardt Rehberg (CDU/CSU): gitalisierung schmücken. Meine Damen und Herren, die Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! AfD hat das nicht nötig und wird sich an solchen Spiel- Das Grundgesetz ist kein Modellbaukasten, an den man chen nicht beteiligen. mal so eben rangeht. Eine Frage ist zum Beispiel: War (Beifall bei der AfD) es notwendig, die Höhe der Gemeindeverkehrsfinanzie- rung ins Grundgesetz aufzunehmen? Jetzt müssen wir Völlig zu Recht beklagt der Bundesrat, dass dieses bei einer Betragserhöhung das Grundgesetz ändern. Aus Gesetzesvorhaben in die Unabhängigkeit der Haus- meiner Sicht hätte hier eine einfachgesetzliche Regelung haltswirtschaft der Länder gemäß Artikel 109 Absatz 1 gereicht; aber das passierte damals auf Druck der Länder. Grundgesetz eingreift und der Bund „Steuerungs- und Kontrollrechte auf die konkrete Erfüllung von Länder- Artikel 143e des Grundgesetzes ist ein Restant des aufgaben gewinnt“. Die „elementare Berücksichtigung Themas Infrastrukturgesellschaft. Deswegen will ich länderspezifischer oder regionaler Besonderheiten“ wäre mich auf die Änderungen beim sozialen Wohnungsbau nicht mehr gegeben, so der Bundesrat in seiner Stellung- und bei der Bildungsinfrastruktur konzentrieren. Ich nahme. möchte zunächst festhalten, dass in beiden Fällen die Verantwortung bei den Ländern verbleibt: Für Schule/ Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Wah- Hochschule und für den sozialen Wohnungsbau sind wei- rung der föderalen Struktur unseres Staates ist ein hohes terhin die Länder verantwortlich. An der Stelle wird das Gut. Sie genießt nicht umsonst einen besonderen verfas- Grundgesetz nicht geändert. Das ist auch gut und richtig sungsrechtlichen Schutz. Eine klare Verantwortungstei- so. lung zwischen Bund und Ländern, die sich als Partner auf Augenhöhe gegenüberstehen sollten, gehört dazu. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Die Festlegung „weitgehender Berichts- und Kontroll- Johannes Kahrs [SPD]) rechte“, die der Bund mit diesem Gesetzentwurf anstrebt, Ich möchte noch einen Punkt ansprechen – das ma- würde die vertrauensvolle Kooperation zwischen Bund, che ich nicht zum ersten Mal von dieser Stelle aus, liebe Ländern und Kommunen schwer beeinträchtigen. Kolleginnen und Kollegen –: Diese Reform wird ihren (Beifall bei der AfD) Zweck nicht erreichen, wenn wir in der Formulierung der Grundgesetzänderung nicht dafür sorgen, dass das Der verfassungsrechtliche Makel wird auch nicht bes- Geld – Stichwort „sozialer Wohnungsbau und Bildungs- ser, wenn diese Kontrollfunktion für einen an sich guten infrastruktur“ – auch wirklich vor Ort ankommt und Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5693

Eckhardt Rehberg (A) nicht durch die Länder zweckentfremdet eingesetzt wird. geben. Und die Landesregierung unter SPD und CDU hat (C) Das ist doch eines der Kernprobleme. entschieden, dass die Mittel nicht in Dörfer mit kleinen Wohnungsgesellschaften fließen dürfen. Ich halte das für (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- schizophren, und deswegen ist mir das auch wirklich ein ordneten der SPD) Anliegen. Hier stellt sich auch die Demokratiefrage. Wir Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir reden hier über aus Berlin sagen Milliarden Euro für bestimmte Zwecke viel Geld. Und Herr Minister Scholz, es sind nicht nur zu, und die Menschen dort zeigen mir den Piepmatz und die 5,5 Milliarden Euro. Sie müssen hinzurechnen, was sagen: Rehberg, hier kommt kein Geld an. – Das muss wir schon alles gemacht haben: Die Länder tragen nicht aufhören. Wenn wir an dieser Stelle eine Änderung des mehr die Last für das BAföG. Der Hochschulpakt des Grundgesetzes vornehmen, gehen wir nach meinem Da- Bundes umfasst allein über 14 Milliarden Euro. Ein an- fürhalten eines der Kernprobleme an. deres Stichwort ist der Qualitätspakt Lehre; ich könnte (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- mit der Aufzählung fortfahren. ordneten der SPD und der FDP) (Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD]) Um 35 Milliarden Euro haben wir in der letzten Legisla- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: turperiode einschließlich des Jahres 2018 die Länder und Herr Kollege, der Kollege Dr. Frömming möchte Ih- Kommunen allein im Bildungsbereich entlastet, liebe nen eine Zwischenfrage stellen. Kolleginnen und Kollegen; das muss auch gesagt wer- den. Eckhardt Rehberg (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Ja, gerne. ordneten der SPD) (AfD): Thema Entflechtungsmittel. Wenn wir vor Ort sind, Dr. Götz Frömming dann gucken uns die Menschen komisch an. Die Mittel Vielen Dank, Herr Kollege Rehberg, dass Sie die Zwi- dafür waren bis 2013 für Investitionen in den kommuna- schenfrage gestatten. – Um Ihren Vortrag verstehen zu len Straßenbau und den ÖPNV, für Hochschulbau und können, muss ich an einer Stelle nachfragen. Sie sagten sozialen Wohnungsbau gebunden. Ab 2014 bis 2019 sind eben zu Recht, dass die Länder in der Vergangenheit diese Mittel nur noch investiv verwendbar. Nur zwei Mittel nicht dort eingesetzt hätten, wo sie sie eigentlich Drittel der Länder haben in einem Entflechtungsgesetz hätten einsetzen sollen. Nun soll die Verwendung des die Zweckbindung beibehalten. Ich könnte jetzt bis Mit- Geldes vom Bund sozusagen mit einem Passus versehen werden, sodass es in der Bildung nicht zweckentfremdet (B) ternacht Fälle und Beispiele dafür aufzählen, wo die Mit- (D) tel für den sozialen Wohnungsbau gehortet werden, wo eingesetzt werden darf. Wie wollen Sie aber gewährleis- sie in Rückstellungen der Länderhaushalte fließen oder ten, dass die Länder die zusätzlichen Mittel, die sie für komplett zweckentfremdet eingesetzt werden. Deswegen Bildung bekommen, nicht an anderer Stelle im Bildungs- ist es ganz richtig, dass wir dem Vorschlag des Bundes- bereich einsparen? Sie müssten ja dann sozusagen den rechnungshofes folgen, wonach diese Mittel zusätzlich gesamten Länderhaushalt unter Kuratel stellen. eingesetzt werden müssen und die Länder sie nicht sub- stituieren dürfen und die Mittel, die sie in ihrer eigenen Eckhardt Rehberg (CDU/CSU): Zuständigkeit zu verantworten haben, zurückfahren. Herr Kollege, ein Blick ins Grundgesetz, so wie wir Nicht das Ob ist aus meiner Sicht an dieser Stelle das es geändert haben – ich bedanke mich an dieser Stelle Kernproblem, sondern das Wie. insbesondere bei meinem Kollegen –: (Beifall bei der CDU/CSU) Artikel 104b und Artikel 114 Grundgesetz machen dies möglich. Wenn es um eine Mittelzuweisung an die Län- Wir haben eine sehr bunte Mischung von politischen der durch Änderung des Anteils an den Einnahmen aus Verantwortlichkeiten in Deutschland. Ich will ein Bei- der Umsatzsteuer geht, dann sind es Steuerminderein- spiel herausnehmen, Frau Göring-Eckardt: Thüringen. nahmen beim Bund und Steuermehreinnahmen bei den Ich könnte auch fünf, sechs oder sieben andere Länder Ländern. Aber wenn wir Zuweisungen vornehmen, dann nehmen. sind wir nach Artikel 104b Grundgesetz in der Lage, (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE dies mit den Ländern einvernehmlich zu vereinbaren. GRÜNEN]: Aber Thüringen ist das beste!) Und dann kann – jetzt kommt der entscheidende Punkt; diese Regelung haben wir nach dem Bundesverfassungs- – Nein, ich kann auch mein eigenes Heimatland nehmen; gerichtsurteil korrigiert – der Bundesrechnungshof die kein Problem, das habe ich drauf. – Thüringen hat in den Verwendung prüfen. Das ist uns damals sehr wichtig ge- letzten vier Jahren 230 Millionen Euro an Mitteln für den wesen; wir haben das vorausschauend gemacht. sozialen Wohnungsbau bekommen. Davon hätte man rund 6 500 Wohnungen bauen können. Gebaut wurden Das heißt: Wenn wir heute beim sozialen Wohnungs- 194 Wohnungen. bau und bei der Bildungsinfrastruktur eine Einigung hinbekommen und der Vorschlag des Bundesrechnungs- Ich könnte weitere Beispiele anführen. Ich könnte hofes greift, dann sind wir in der Lage, erstens eine auch Mecklenburg-Vorpommern nennen. Unser Land be- Vereinbarung mit den Ländern zu finden – das ist im kommt 52 Millionen Euro an Förderung für den sozialen Bundesrat zustimmungspflichtig, das ist richtig – und Wohnungsbau, davon werden 18 Millionen Euro ausge- zweitens – jetzt komme ich auf Ihren Punkt – durch den 5694 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Eckhardt Rehberg (A) Bundesrechnungshof die Länderhaushalte und die Ver- gangenheit erzählen; das habe ich auch versucht – oder (C) wendung der entsprechenden Fördermittel prüfen zu las- wenn wir die Mittel ungebunden weiterreichen, dann sen. Ich bin ganz offen: Ich glaube, wir brauchen diese werden die Mittel ihren Zweck verfehlen. Stellschraube. Wir brauchen auch diesen Hebel, damit Letzte Bemerkung, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Geld, das wir für die Bildungsinfrastruktur vorse- noch einmal zu den Entflechtungsmitteln. Gehen Sie hen, auch dort ankommt, wo es hingehört, nämlich bei mal vor Ort. Die Bürgermeister fordern: Bund, tu ab unseren Kindern, bei den Schülerinnen und Schülern. 2020 was für den kommunalen Straßenbau. Bund, tu was Ansonsten verfehlt es seinen Zweck. für den sozialen Wohnungsbau. – Das Problem des Fi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. nanzministers bei der Erstellung des Haushalts für das Ulli Nissen [SPD] und Katrin Göring-Eckardt Jahr 2018 ist gewesen, dass die 3 Milliarden Euro heute [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Investitionen sind. Ab 2020 sind diese Mittel Steuermin- dereinnahmen beim Bund und Steuermehreinnahmen bei Liebe Kolleginnen und Kollegen, noch ein Wort zu den Ländern. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kolle- den Sozialausgaben; da müssen wir zwischen Brutto und gen: Ja, Vertrauen ist gut. Aber gelegentlich ist die eine Netto unterscheiden. Zum Beispiel übernimmt heute der oder andere Stellschraube notwendig. Bund komplett die Kosten für die Grundsicherung im Al- ter in Höhe von über 7 Milliarden Euro. Das ist in den Danke. letzten fünf Jahren eine Entlastung von mehr als 20 Mil- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- liarden Euro gewesen. Gucken Sie sich die Kosten der ordneten der SPD) Unterkunft an. Ich nenne hier nur das Entlastungspaket; auch darüber, glaube ich, muss hier geredet werden. Die Kommunen und die Länder werden in diesem Jahr um Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: 5 Milliarden Euro entlastet, ohne eine einzige Gegenleis- Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der FDP, tung. Da muss man denen, die sagen: „Die Länder und Christian Lindner. Kommunen haben hier die Verantwortung“, schon ein- (Beifall bei der FDP) mal die Frage stellen, warum das Geld nicht eingesetzt wird. Christian Lindner (FDP): Eine nächste Frage muss an dieser Stelle gestellt wer- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! den. Es ist den Menschen vor Ort natürlich egal, wer die Die Bundesregierung schlägt vor, das Grundgesetz in Zuständigkeit hat, ob Bund, Länder oder Kommunen. den Bereichen Bildung, Verkehr und Bauen zu ändern. Aber wenn die Länder schon in der Verantwortung sind – Der Minister hat hier vorgetragen, Kollege Rehberg hat (B) bei manchen Ländern habe ich das Gefühl, sie meinen, vorgetragen. Sie beide als Sprecher der Regierung bzw. (D) dass nur noch der Bund in der Verantwortung ist – und der Koalition haben aber auf einen Umstand nicht hin- klagen, dass sie zu wenig Geld haben – es wird sogar von gewiesen – Ihre Reden hatten auch nicht diesen Charak- einem Solidarpakt III geredet –, dann ist doch die Fra- ter –: CDU/CSU und SPD haben gemeinsam keine ver- ge zu stellen: Warum wird man bei einem Überschuss – fassungsändernde Mehrheit. Sie sind auf andere, auf die 13 Länder haben einen Überschuss von über 14,2 Mil- Unterstützung des Hauses angewiesen. Deshalb hätte ich liarden Euro – der eigenen Verantwortung in diesen mir gewünscht, dass auch Argumente, die andere vorge- Bereichen nicht gerecht? tragen haben, bereits hier zur Sprache gekommen wären; Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind jetzt an denn wir müssen gemeinsam zu einer Lösung kommen. einem Punkt, an dem man sagen kann: Wir drehen die (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Föderalismusreform zurück. – Ja, in Teilen ist das rich- DIE GRÜNEN) tig. Ich bin übrigens 15 Jahre im Landtag und immer ein überzeugter Föderalist. Aber glauben Sie mir: So kann es Im Verkehrsbereich, Herr Minister Scholz, sind wir nicht weitergehen. aufgeschlossen für das, was Sie vorgetragen haben, wenngleich wir hinsichtlich der Förderbedingungen noch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Fragen an Sie zu stellen haben. Sie haben viel Augen- Es kann nicht sein, dass der Bund massiv Mittel in die merk darauf gelegt, was im Baubereich passieren soll. Hand nimmt, aber das Geld vor Ort nicht ankommt. Hier muss ich für die Fraktion der FDP Zweifel an Ihrem Vorhaben anmelden. Der soziale Wohnungsbau war in Ich schließe an dieser Stelle den Reigen: Liebe Kolle- den vergangenen Jahrzehnten nicht zielsicher. Im sozia- ginnen und Kollegen, die Menschen verstehen dann den len Wohnungsbau wurden auf lange Zeit auch jene geför- Föderalismus nicht. Die Menschen verstehen an dieser dert, die eigentlich längst einer Bedürftigkeit entwachsen Stelle auch nicht mehr die Demokratie. Deswegen ist waren. Deshalb halten wir andere Instrumente wie das meine herzliche Bitte – ich habe das hier über Fraktions- Wohngeld, also eine Förderung der bedürftigen Perso- grenzen hinweg schon einmal gesagt –, gründlich über nen, für zielführender und für besser. Vor allen Dingen, den Vorschlag des Bundesrechnungshofes nachzuden- Herr Minister, haben Sie geklagt, die hohen Baukosten ken, Steuerungs- und Kontrollrechte sowie die Zusätz- seien ein Problem für den sozial sensiblen Wohnungsbau. lichkeitsklausel einzuführen. Nur das ist hier zielführend. Aber wer treibt denn die Preise, die Kalt- und die Warm- Glauben Sie mir: Wenn wir die Mittel über eine Erhö- miete? Die Warmmiete wird getrieben durch eine Ener- hung des Anteils an den Umsatzsteuereinnahmen verge- giepolitik, die nicht mehr vernünftig ist, und die Kaltmie- ben würden – ich kann Ihnen viele Beispiele aus der Ver- te wird getrieben zum Beispiel durch eine Ministerin wie Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5695

Christian Lindner (A) Barbara Hendricks, die vier Jahre nichts unternommen technische Infrastruktur. Wir haben in diesem Bereich (C) hat, um die Baustandards wieder auf ein verhältnismäßi- wirklich einen großen Sanierungs- und Reformstau. Die ges Niveau zurückzuführen. Länder sind in einer finanziellen Problematik aufgrund der steigenden Pensionslasten in den nächsten Jahren. Da (Beifall bei der FDP) kann das Kooperationsverbot möglicherweise bei der In- Ich will mich aber konzentrieren auf den Bereich der vestition in Gebäude und Technik für Bund und Länder Bildung; denn hier haben die Fraktionen von Bündnis 90/ der Strick werden, an dem die Bildungsqualität aufge- Die Grünen und Freien Demokraten einen eigenen Vor- hängt wird. Aber Sie lassen ausgerechnet das Wichtigste schlag vorgelegt. Es ist schon für sich genommen eine aus, worum es in der Bildung geht. Bildung ist keine Fra- Besonderheit, wenn Grüne und Liberale einen gemeinsa- ge von Tablets und Whiteboards in der Schule. Bildung men Vorschlag unterbreiten. ist keine Frage der Qualität der Gebäude. Sicherlich trägt das alles dazu bei. Das Wichtigste in der Bildung ist aber (Johannes Kahrs [SPD]: Das ist wohl wahr!) die Beziehung zwischen Menschen. Deshalb muss auch Das kommt nicht zu oft vor. in Köpfe investiert werden können. (Johannes Kahrs [SPD]: Zu Beginn der Le- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gislaturperiode erst recht nicht! – Michael des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ­Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Hätten Sie ha- ben können, aber Sie wollten nicht!) Zweitens. Sie wollen das Geld – more or less – den Wir wollen auch nicht den Eindruck erwecken, in jedem Ländern und Kommunen rüberschieben. Das ist aus un- bildungspolitischen Aspekt könnten Grüne und Freie De- serer Sicht nicht richtig. Der Bund muss auch über Fra- mokraten einer Meinung sein. Aber eines ist für uns klar: gen der Qualität und der Mittelverwendung sprechen Bildung ist die wichtigste gesellschaftspolitische Aufga- dürfen; der Kollege der Union hat eben Gründe dafür ge- be. Deshalb darf der Bund Länder und Kommunen bei nannt. Es geht nicht darum, ein Bundeskultusministeri- dieser Frage auf Dauer nicht alleine lassen. um einzurichten. Das wäre völlig überzogen. Das möchte niemand. Das wäre auch mit dem Grundgesetz und der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Garantie der Eigenstaatlichkeit der Länder unvereinbar. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Aber die entscheidende Frage lautet, ob es nicht einen Das dokumentieren wir durch unseren gemeinsamen An- Impuls, ausgehend vom Bund, gibt, sodass Bund und trag. Länder bzw. die Länder untereinander Vereinbarungen treffen können. Liebe Kollegen von der AfD, ich muss Der Bildungsföderalismus wurde in Deutschland lan- noch einmal auf Sie zu sprechen kommen – Sie haben (B) ge gesehen als Ausdruck landsmannschaftlicher Eigen- mir eine so schöne Steilvorlage gegeben –, um zu zeigen, (D) arten und der Autonomie der Länder. Ich selber war im wie Sie aus der Zeit gefallen sind. Selbst die Musterfö- Unterschied zu dem Kollegen der AfD 15 Jahre Landtags­ deration der Welt, die Schweiz, hat seit dem vergange- abgeordneter und habe in der Praxis gesehen, was das be- nen Jahrzehnt nicht mehr ein Kooperationsverbot bei deutet. 15 Jahre lang habe ich mit Eltern gesprochen, die den Kantonen, sondern ein Kooperationsgebot. Wenn geklagt haben, wie schwierig es ist, zwischen Bundes- selbst die Schweiz erkennt, dass man gemeinsame Qua- ländern den Wohnort oder den Arbeitsplatz zum Beispiel litätsstandards und Qualitätsvorgaben im 21. Jahrhundert als Lehrende zu wechseln. Sie haben dokumentiert, wie braucht, dann sollten wir in Deutschland dem nicht nach- Sie das sehen: Uralt! Wir sehen das ganz anders. Hessen stehen. steht nicht im Wettbewerb mit Bremen, und Bayern nicht im Wettbewerb mit Sachsen. Aber Deutschland steht im (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wettbewerb mit Nordamerika und Asien. Deshalb ist der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bildungsföderalismus, wie wir ihn praktizieren, nicht mehr Teil der Lösung, sondern ist selbst zu einem Pro- Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Bemerkung ne- blem geworden. benbei: Es kann jetzt nur der erste Schritt sein, über die Frage der Qualitätsentwicklung zu Vereinbarungen zu (Beifall bei der FDP) kommen. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, Die Bundesregierung erkennt das dankenswerterwei- dass sich die Abiturnoten so stark unterscheiden, dass gar se – ich sage: endlich – an. In der Vergangenheit gab es kein gerechter Hochschulzugang zu organisieren ist. Da eine große Sperre, irgendetwas zu tun. Herr Minister, Sie ist sehr viel mehr an Vergleichbarkeit erforderlich, wenn selbst haben heute das Problem beschrieben. Sie haben man Familien und Lehrende tatsächlich ernst nimmt. gesagt, es sei nur ein ganz kleiner Beitrag, den die Koa- Mein dritter und abschließender Gedanke, warum wir lition nun leisten wolle. Aber dieser kleine Beitrag ist zu in diesem Punkt der Koalition zu folgen nicht imstande klein, um einen wirklichen Unterschied zu machen. Sie sind: Beim Wohnungsbau sind die Mittel, die Sie zur Ver- öffnen die Tür zu einer Reform des Bildungsföderalis- fügung stellen, unbegrenzt. Bei der Bildung sind sie de- mus einen ganz kleinen Spaltbreit. Grüne und Liberale gressiv und zeitlich begrenzt. Warum dieser Bewertungs- wollen diesen Spalt ein Stück vergrößern und das Ko- unterschied? Da wird gesagt: Wir wollen die Länder für operationsverbot auf den Prüfstand stellen, und zwar aus Versäumnisse der Vergangenheit nicht bestrafen. – Ent- drei Gründen. schuldigung, aber was für eine funktionärische Denke! Erstens. Sie konzentrieren sich mit Ihrem Vorschlag Bestraft werden dann die Familien, die sich dauerhaft mit im Bildungsbereich auf Bestandsimmobilien und die schlechten Bildungseinrichtungen konfrontiert sehen. 5696 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Christian Lindner (A) Deshalb muss der Bund selbstverständlich auf Dauer Die Verträge – das kennen wir von Toll Collect – sind in (C) Verantwortung in dieser Frage übernehmen. der Regel geheim. Schadensersatzforderungen sind häu- fig nicht klar geregelt, wie wir es nun bei der A 1 sehen. (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Das Baukonsortium fordert vom Bund Millionen für aus- DIE GRÜNEN) gefallene Mauteinnahmen. So etwas dürfen wir uns nicht gefallen lassen, meine Damen und Herren. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, (Beifall bei der LINKEN) Fraktion Die Linke. Das heißt also ganz deutlich: Wir lehnen öffent- (Beifall bei der LINKEN) lich-private Geiselnahmen ab, und deshalb wollen wir ein Gesetz zur Förderung von Investitionen für finanz- schwache Kommunen, das klarstellt, dass öffentlich-pri- Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): vate Partnerschaften nicht mehr gefördert werden, meine Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr geehrten Damen und Herren. Damen und Herren! Vielleicht ein kurzer Blick zurück in die Geschichte: Im Jahr 2006 wurde das Kooperations- (Beifall bei der LINKEN) verbot von Union und SPD beschlossen, und zwar ge- Noch eine Bemerkung zu unserer Forderung, Kultur gen die Stimmen der Opposition, gegen die Stimmen der zum Staatsziel zu erklären. Dieses Ziel hatte übrigens die Linken. Das war ein schwerer Fehler. Dieser Fehler muss Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ bereits im vollständig korrigiert werden. Jahr 2007 formuliert. Über zehn Jahre sind seitdem ver- (Beifall bei der LINKEN) gangen, und es ist nichts passiert. Wir erleben doch einen kulturellen Verfall in unserem Land, der beunruhigend Das Kooperationsverbot muss endlich aufgehoben wer- ist. In vielen Dörfern, Gemeinden und auch in einigen den. Angeblich sollte das Kooperationsverbot die Ge- Städten gibt es kein Kulturangebot mehr; es ist ja nicht setzgebung vereinfachen und Prozesse beschleunigen. überall Berlin. Da ist die Freude in einigen kleineren Or- Gerade in der Bildung sehen wir die fatalen Folgen die- ten groß, wenn man wenigstens ein Kino erhalten kann. ses Verbots. Viele Schulen in unserem Land sind in ei- Aber, meine Damen und Herren, die Landflucht kann nur nem erbärmlichen Zustand. In den vergangenen Jahren verzögert werden, wenn wir auch ein kulturvolles Leben wurden immer wieder Sonderprogramme erfunden, um außerhalb der Großstädte anbieten können. dieses Verbot zu umgehen. Dazu war ein erheblicher bürokratischer Aufwand notwendig. Welche Verschwen- In Ostdeutschland wurden nach der Wende reihenwei- dung von Energie! Diese Energie hätte man besser in die se Theater, Orchester und Jugendklubs geschlossen, im- (B) Bildung gesteckt. mer mit der Begründung, dass diese Einrichtungen sich (D) nicht rechnen würden. Welch kurzsichtige Politik! Auch (Beifall bei der LINKEN) das gehört dringend geändert. Die Zahl der Sozialwohnungen hat sich in den vergan- (Beifall bei der LINKEN) genen 15 Jahren halbiert. Auch hier muss dringend etwas getan werden. Im Gegenteil: Die Verödung ganzer Kulturlandschaften führt zur Landflucht. Auch deshalb fordern wir eine Ge- (Beifall bei der LINKEN) meinschaftsaufgabe für die ländliche Entwicklung. Busse und Bahnen sehen Menschen auf dem Land so sel- Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen die Unter- ten wie eine Mondfinsternis. Auch das ist kein haltbarer stützung der Linken anbieten, wenn Sie radikal mit dem Zustand. Kooperationsverbot brechen, um gemeinsam mit Län- Wir als Linke wollen noch mehr Ziele im Grundgesetz dern und Kommunen die drängenden Probleme zu lösen. verankern: zum einen eine umfassende Gemeinschafts- Wir brauchen mehr Bildung, mehr Wohnungen, mehr aufgabe für Bildung und für die ländliche Entwicklung Kultur und mehr Sport, und das geht nur mit mehr Ko- sowie zum anderen Kultur und Sport als Staatsziel. operation und nicht mit weniger. (Beifall bei der LINKEN) Vielen Dank. Wir wollen nicht – das sei an dieser Stelle ganz klar (Beifall bei der LINKEN) gesagt; das ist die Kritik an den Vorschlägen, die vorlie- gen; aber wir haben noch mehrere Anhörungen –, dass Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: mit Steuergeldern die Renditewünsche von Unternehmen Jetzt hat das Wort die Vorsitzende der Fraktion Bünd- erfüllt werden. Uns liegen zahlreiche Berichte der Rech- nis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt. nungshöfe von Bund und Ländern vor, die deutlich ma- chen, dass öffentlich-private Partnerschaften keine ehr- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lichen Partnerschaften sind. Kosten und Risiken liegen immer bei den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern, und Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Gewinne landen immer bei den Unternehmen. Das NEN): sind keine Partnerschaften. Das ist eine moderne Form Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das der Geiselnahme. Das muss beendet werden. Grundgesetz, über das wir heute sprechen, verspricht: (Beifall bei der LINKEN) Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstam- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5697

Katrin Göring-Eckardt (A) mung, Sprache, Heimat oder Herkunft benachteiligt wer- Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) den. – Ausgerechnet dort, wo es um den Kern geht, wo es NEN): um die Bildung geht, gilt das ganz offensichtlich nicht. Liebe Frau Kollegin, da sind wir uns vollkommen ei- Es haben eben nicht alle Kinder und Jugendlichen glei- nig. Es geht nicht darum, dass nur diejenigen erfolgreich che Chancen. Das müssen wir ändern. sind, die Abitur machen. Aber worum es doch gehen muss, ist, dass die Frage, welche Bildungserfolge man (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben kann, egal auf welchem Niveau, auf welchem Le- und bei der FDP) vel, mit welcher Zukunftsaussicht, nicht daran hängt, wie man heißt oder wo man herkommt, sondern dass die Fra- Mal ganz einfach gesprochen: Wenn die Eltern von ge, welche Möglichkeiten man bekommt, davon abhängt, Paul studiert haben, hat er dreimal so hohe Chancen, welches Talent man hat. Darum geht es mir in diesem selbst Abitur zu machen und zu studieren, als wenn sie Kontext. gemeinsam einen Kiosk betreiben. Wenn das Kind nicht Paul heißt, sondern vielleicht Fatima, dann sinken die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Chancen noch mal. Das liegt nicht daran, dass Paul oder sowie bei Abgeordneten der FDP) Charlotte schlauer sind, sondern das liegt ganz einfach Meine Damen und Herren, genauso wenig wie es von an unserem System, an der Ungleichheit, die wir in der den Eltern abhängig sein darf, darf die Frage, wie die Bildungspolitik haben. Deswegen muss ganz klar sein: Chancen sind, davon abhängig sein, wo man wohnt, so Es darf bei Kindern und ihren Chancen nicht mehr davon nach dem Motto: armer Stadtteil – Klo kaputt; reicher abhängen, wo sie wohnen, wie sie heißen und wer die Stadtteil – schicker Schulhof. Wir wollen, dass die Ge- Eltern sind. Das müssen wir ändern, und zwar nicht mit bäude intakt sind, dass die Lehrerzimmer voll sind, dass einmaligen Finanzierungen, sondern wirklich dauerhaft. Abi gleich Abi ist und Abschluss gleich Abschluss ist, Es geht um eine Kernaufgabe der Republik. und zwar nicht nur ein bisschen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir wollen, dass Bund und Länder sich auch zusam- und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der mentun können, wenn es um die Aus- und Weiterbildung LINKEN) des Fachpersonals geht. Da können wir nicht sagen: Das soll dann mal wieder irgendwie nur vier Jahre passieren, Die Bildungskooperation ist dieser Kern. Natürlich das soll dann vielleicht mal wieder jemand anders ma- war es ein Fehler der Großen Koalition, in 2006 die chen. – Nein, das ist der Kern, um den es geht: dass wir Kooperationsmöglichkeiten auf die Art und Weise ab- tatsächlich auf Dauer stellen. zuschaffen. Ich finde, wir müssen es zurückholen. Ich (B) finde, wir müssen das ändern. Ich finde, wir müssen das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) aber auch wirklich konsequent ändern. Es kann nicht sein, dass es davon abhängt, ob die Schule in Bautzen, in Bielefeld oder in Baunatal steht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es geht darum, dass Bund und Länder wirklich zusam- sowie bei Abgeordneten der FDP) menarbeiten und dass wir unsere Schulen in dieser Weise unterstützen, mit mehr Geld und mehr Personal. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Frau Göring-Eckardt, gestatten Sie eine Zwischenfra- Es ist doch absurd: Für die energetische Sanierung ge der Kollegin Pantel? darf man was geben, für die Schultoiletten, wenn man die Klodeckel austauschen will, schon wieder nicht; für den Internetanschluss: ja, sehr gern, aber wenn der Rou- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Katrin Göring-Eckardt ter streikt – der Router streikt sehr oft –, können wir für NEN): den Support kein Geld geben. Das ist die Gesetzeslage. Bitte schön. Das ist widersinnig. (Beifall der Abg. Tabea Rößner [BÜND- Sylvia Pantel (CDU/CSU): NIS 90/DIE GRÜNEN]) Sehr geehrte Frau Göring-Eckardt, Sie tun gerade wie- Wir haben genug Geld in der Staatskasse, aber die der so, als ob nur das Abitur die Voraussetzung für eine Klassenkassen sind leer. Deswegen, finde ich, muss es gute Bildung ist. Wir exportieren das duale Bildungssys- so sein, dass der Bund in Zukunft nicht mehr nur bei den tem überallhin. Es hat Riesenanstrengungen gegeben, Schuldächern helfen kann, sondern auch da, wo es auf dass der Meister dem Bachelor angeglichen wird. Wenn Zukunftsinvestitionen ankommt. das jetzt von den Leuten in der Öffentlichkeit verfolgt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird, dann wird bei ihnen wieder der Eindruck erweckt, und bei der FDP) dass bei uns nur jemand, der ein Abitur hat, Bildungser- folge hat und dann auch weiterkommt. Das würde ich für Ich sage das auch vor dem Hintergrund der gestrigen absolut falsch ansehen. Debatte um den Klimaschutz. Es geht um die Zukunft unserer Kinder in diesem Land. Sie werden uns irgend- (Beifall bei der CDU/CSU und der AfD so- wann mal nicht fragen, ob es vielleicht kompliziert war, wie bei Abgeordneten der SPD) sie werden uns auch nicht fragen, ob vielleicht die oder 5698 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Katrin Göring-Eckardt (A) jene mal zuständig waren – da bin ich komplett bei Herrn Es ist so – das weiß jeder –, dass wir mehr Sozialwoh- (C) Rehberg –, sondern sie werden uns eines Tages fragen: nungen, mehr bezahlbare Wohnungen in diesem Land Habt ihr alles für unsere Zukunft getan, für unsere Chan- brauchen. Es ist so, dass wir mehr in Bildung investieren cen und für unseren Planeten? Darum geht es, wenn wir müssen, dass nicht nur die Schulen saniert werden müs- hier heute wie auch gestern diskutieren. sen, dass wir eine moderne Schul-IT bekommen. Aber ernsthaft – jeder von Ihnen war einmal in der Schule –: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wie soll eine moderne Schul-IT funktionieren, wenn ein Ich will ein Argument von Christian Lindner aufneh- Lehrer dafür halb freigestellt wird und er das nebenbei men. Liebe Große Koalition, beim Wohnungsbau zeigen machen soll, ob er das kann oder nicht. Denn Schule mit Sie gerade, dass es geht. Da werden Sie nämlich die Mit- teilweise dreistelligen Lehrerzahlen und Tausenden von tel auf Dauer stellen. Das ist auch richtig so, weil der Schülern ist wie ein Unternehmen; die haben norma- soziale Wohnungsbau – wir haben darüber viel debat- lerweise eine eigene IT-Abteilung. Und das soll in den tiert – eine der zentralen Fragen ist, die wir in diesem Schulen nebenbei gemacht werden? Wie soll denn eine Land klären müssen. Ich kann zu Hause und sonst wo Kommunikation zwischen Eltern und Lehrern, zwischen niemandem erklären, warum eigentlich bei der Bildung Schülern und ihrem Lehrer und innerhalb des Kollegiums nicht das gelten soll, was beim Wohnen selbstverständ- laufen, wenn man keine funktionierende IT hat? Auch lich ist. mit Blick darauf muss man das richtig unterfüttern. Das sind alles Dinge, die wir gemeinsam angehen müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deswegen sage ich Ihnen: Geben Sie sich einen Ruck! Machen Sie sich klar, dass Sie eine Zweidrittelmehrheit Jetzt kann natürlich – das finde ich in Ordnung – jede brauchen. Machen wir draußen gemeinsam klar, mit ei- Partei die Bedingungen stellen, zu denen man das Thema ner Kooperation, dass wir in der Lage sind, solche gro- angeht. Die FDP sagt natürlich: Sozialer Wohnungsbau ßen Probleme wie den Bildungsnotstand in dieser Repu- ist doch viel schöner. Wir bekommen es hin, dass Private blik zu lösen. Das ist eine Tatsache, der wir uns auf Dauer das machen und der Staat zahlt. – Dann ist die Klien- stellen müssen. Lassen Sie uns das gemeinsam angehen – tel der FDP auch glücklich. Die Grünen haben einmal nicht im Gegeneinander, sondern als Bund und Länder gedacht: „Wir spielen Umwelt gegen Bildung aus“, und gemeinsam, auch in diesem Haus. festgestellt: Das ist eine doofe Idee. Herzlichen Dank. Am Ende muss man es gemeinsam machen. Ich glau- be, dass man es nur hinbekommt, wenn wir uns alle die- (B) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ser Aufgabe bewusst sind. Olaf Scholz hat stellvertretend und bei der FDP) für die Bundesregierung hier ein Angebot an Länder und Kommunen, an die Opposition gemacht, diese Aufgabe – mehr für die Schüler, mehr für bezahlbares Wohnen und Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: mehr für eine funktionierende Infrastruktur zu unterneh- Nächster Redner ist der Kollege Johannes Kahrs, men – gemeinsam zu bewältigen. SPD-Fraktion. Zum Abschluss sei mir eine Bemerkung gestattet: (Beifall bei der SPD) Ernsthaft, das Einzige, was die AfD zu bieten hat, ist: Sie spaltet – das, was sie am besten kann. Johannes Kahrs (SPD): (Lachen bei der AfD) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben hier heute von unserem Bundesfi- Länder gegen den Bund, Kommunen gegen die Länder. nanzminister gehört, dass wir große Milliardensummen (Jürgen Braun [AfD]: Herr Kahrs, Sie haben investieren werden – in den Wohnungsbau, in die Bil- das Wort!) dung und in die Infrastruktur – und dass wir jetzt gemein- sam schauen müssen, wie wir die Gesetzesänderung vor- Wir als Bund würden den Ländern was aufdiktieren wol- nehmen können, damit das vernünftig funktioniert. len. Es geht – das muss die AfD einmal zur Kenntnis nehmen – nicht, wie bei Ihnen immer, um Spaltung, um Ich glaube, das ist – Olaf Scholz hat das gesagt – eine Gegner, um den einen gegen den anderen, um wichtige nationale Aufgabe, und das werden wir nicht hinbekommen, wenn wir hier gegeneinander marschie- (Zuruf von der AfD: Sie sind ein Spalter!) ren; das bekommen wir nur hin, wenn Kommunen, Län- der und Bund das gemeinsam machen, diese Aufgabe Aufstampfen mit dem Fuß wie Rumpelstilzchen. Es geht Hand in Hand gemeinsam angehen. Wir brauchen die ausnahmsweise einmal um die Sache. Landesbildungsminister. Wir brauchen die Kommunen (Zurufe von der AfD) vor Ort. Wir als Bund wollen da gern mittun und helfen. Und – Eckhardt Rehberg hat das ja gesagt –: Wir müssen Es geht um Schüler, es geht um Bildung, es geht um gemeinsam die Grundlagen schaffen, gemeinsam dafür Wohnen. Deswegen zu sagen, dass wir als Bund kein sorgen, dass in den Schulen, auf den Straßen und am Geld an die Länder geben sollen, um das gemeinsamen Ende im Wohnungsbau das Geld ankommt. hinzubekommen, das ist spalten. Es ist nicht Berlin ge- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5699

Johannes Kahrs (A) gen die Länder – das sind wir alle gemeinsam! Nur so gelegenheit der Gliedstaaten. In diesen Bereich können (C) funktioniert das. Sie mit allem, was hier diskutiert wird, nicht eingreifen. Deshalb geht der Schuss in den Ofen und führt nur dazu, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass die Ebenen ihre Verantwortungen verschleifen. In der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ jedem Vorwort zu einem verwaltungswissenschaftlichen DIE GRÜNEN) Buch können Sie lesen, dass dies das Letzte ist, was man für ein gutes Ergebnis machen darf. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Herr Kollege Kahrs, der Kollege Glaser möchte gerne Herzlichen Dank. eine Zwischenfrage stellen. (Beifall bei der AfD)

Johannes Kahrs (SPD): Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Mit Rechtsradikalen rede ich nicht. Herr Kollege Kahrs, mögen Sie antworten? (Lachen bei der AfD) (Albrecht Glaser [AfD]: Wenn Sie nicht so Das heißt also im Ergebnis: Wir müssen schauen, schreien!) dass wir uns im Interesse von allen zusammenraufen. Ecki Rehberg hat gesagt: Es muss zusätzlich sein. – Wir Johannes Kahrs (SPD): wollen, dass wir das gemeinsam hinbekommen, dass die Zuhören bildet, denken hilft. Das könnte funktionie- Länder mehr investieren und der Bund mehr investiert. ren. Wir als Große Koalition haben auf Drängen der SPD in den letzten vier Jahren die Kommunen und die Länder (Lachen bei der AfD) gestärkt. Ich habe Ihnen eben doch einfach nur erklärt, dass, (Jürgen Braun [AfD]: 5 Prozent!) wenn eine Schule mit sehr vielen Schülern und sehr vielen Lehrern und Eltern ein funktionierendes IT-Sys- Die haben mehr Geld bekommen, die schreiben alle tem braucht, wir als Bund helfen. Ich habe Ihnen auch schwarze Zahlen, die haben jetzt Geld. Und wir geben erklärt – das könnten Sie vielleicht verstehen und nach- noch einmal Geld dazu. Gemeinsam werden wir das vollziehen, hoffe ich –, schaffen – gegen die Spalter in diesem Land. Gemeinsam sind wir stark! (Zuruf des Abg. Albrecht Glaser [AfD]) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Eckhardt dass wir über viele Jahre viel Geld – der Kollege Rehberg (B) Rehberg [CDU/CSU]) hat es betont – strukturell an Kommunen und Länder (D) gegeben haben. Deswegen schreiben die Länder jetzt schwarze Zahlen. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Jetzt hat das Wort für eine Kurzintervention der Kol- Das heißt: Wenn wir in IT investieren und die Länder lege Glaser, AfD. in Personal investieren, bekommt man das gemeinsam hin. Deswegen ist die Spalterei, die Sie betreiben – Ber- lin gegen die Länder, gegen die Kommunen –, falsch. Albrecht Glaser (AfD): Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrter (Widerspruch bei der AfD) Herr Kahrs, einmal abgesehen davon, dass Sie wahr- Sie müssen einmal lernen, dass wir in dieser Gesellschaft scheinlich eine Spalterneurose haben – die können wir nicht spalten, sondern Menschen mitnehmen und nur ge- hier aber nicht therapieren –, will ich mir zu dem Kern meinsam stark sind. Das ist das Problem dieser Rechtsra- Ihrer Ausführungen erlauben festzustellen, dass Sie mit dikalen hier in diesem Hause. all dem, was Sie über das Thema „Lehrer“ und „fachlich besonders geschulte IT-Lehrer“ und, und, und erzählen, Vielen Dank. völlig neben der Sache liegen, weil es um investive Mit- tel geht. (Beifall bei der SPD – Jürgen Braun [AfD]: Bruder Johannes für Arme!) (Beifall bei der AfD) Das gilt natürlich auch auf den Kollegen Lindner bezo- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: gen. Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Höchst, AfD. Die Frage, ob wir in Deutschland ein Zentralabitur wie in Frankreich machen und eine Vereinheitlichung solcher (Beifall bei der AfD) Bildungsstandards erreichen wollen, kann man diskutie- ren. Die Kultusministerkonferenz hatte Jahrzehnte Zeit, Nicole Höchst (AfD): solche Dinge zu betreiben, wenn das für die Bildungsge- Sehr geehrter Herr Präsident! Werter Minister! Wer- meinde wichtig ist. te Kollegen! Hochgeschätzte Bürger! Dr. Frömming hat Aber worüber wir heute reden, sind investive Fragen. schon sehr zutreffend Kritik am Regierungsvorstoß ge- Die Inhalte der Bildungspolitik, also das einheitliche Abi- übt. Die Regierung will die Axt an unser föderales Bil- tur in Deutschland, ist Kultusangelegenheit und Herzan- dungssystem legen, und das unter der Standarte der Digi- 5700 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Nicole Höchst (A) talisierungsnebelkerze und dem Winken mit der prallen Man könnte fast meinen, Sie bedauern, nicht hier auf der (C) Geldbörse. Ich möchte Ihnen allen – besonders Ihnen, Regierungsbank in ebendieser Konstellation zu sitzen. Herrn Kahrs – eine Tatsache ins kollektive Gedächtnis rufen: Die Schöpfer unseres Grundgesetzes wollten den (Beifall bei der AfD) Missbrauch von Kunst, Kultur und Bildung erschweren. Wie gut, dass es endlich eine echte Opposition im „Wehret den Anfängen“, dachte man wohl und stellte mit Bundestag gibt. Artikel 30 des Grundgesetzes die Bildung in die Kultur- hoheit der Länder. (Lachen bei Abgeordneten der SPD – Ulli Nissen [SPD]: Das glauben Sie selbst nicht!) (Abg. Johannes Kahrs [SPD] begibt sich zum Abg. Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]) In unserem Antrag zur Stärkung des Bildungsföderalis- mus halten wir eines klar fest: Der Bund hat bereits auf- – Ja, da läuft er weg. – Nach den einschlägigen Erfahrun- grund der Einführung des Artikels 91b Grundgesetz die gen mit der zentralen Bildungsverwaltung Deutschlands Möglichkeit, gemeinsam mit den Ländern in Fällen über- bis 1945 ist auch das heute noch absolut nachvollziehbar. regionaler Bedeutung bei Förderung von Wissenschaft, Es ist bezeichnend, wer heute mit welchen Gründen die Forschung und Lehre zusammenzuwirken. Bund und Grundpfeiler unseres Bildungsföderalismus weiter ansä- Länder haben dies bereits in zahlreichen gemeinsamen gen bzw. abschaffen möchte. Projekten durchexerziert, und Herr Rehberg hat dies hier Aber des Pudels Kern: Ist die Abschaffung im Zeit- durchdekliniert. Wozu also die Änderung? alter der deutschen Bildungsniveaurekordjagd eine gute Meine Damen und Herren, es ist einfach keine wei- Idee? Angesichts des Ziels einer sich ins Gegenteil ver- tere Erhöhung der Einflussnahme des Bundes in diesem kehrenden Bildungsoffensive wäre eine Aufhebung des Bereich nötig. Die bisherige Zusammenarbeit zwischen Kooperationsverbots nicht hinreichend, Herr Lindner, Bund und Ländern gewährleistet bereits die internationa- sondern eher sträflich und wettbewerbsschädlich. Wo- le Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Bildungswesens. hin eine links-grün-schwarze Strukturveränderung bin- Es muss nur endlich richtig gemacht werden. nen kürzester Zeit führen kann, ist am Kaputtschlagen eines hervorragend differenzierten Schulsystems in Ba- (Lachen bei der SPD) den-Württemberg erhellend zu studieren. Die Länder sollten aufgrund ihrer Unterschiede in Kul- (Beifall bei der AfD) tur, Struktur, Region in den wichtigen Bildungsbereichen ihre Länderhoheit bewahren, insbesondere in der Gestal- Josef Kraus beschreibt dies hervorragend in seinem Werk tung des Unterrichts, in der Ausgestaltung und Umset- „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt“. zung der Lehrpläne sowie hinsichtlich der Unterrichts- (B) (D) Meine Damen und Herren, man gewinnt aus der bis- materialien und Unterrichtsgegenstände. herigen Debatte fast den Eindruck, der Bildungsfödera- (Zuruf des Abg. René Röspel [SPD]) lismus, das sogenannte Kooperationsverbot, sei an allen Problemen schuld, die Schulen so haben. Das mag viel- Der Bildungsföderalismus und der offen zutagetreten- leicht populär und politisch opportun sein, es stimmt aber de Länderniveauvergleich ist zudem der letzte Qualitäts- einfach nicht. rettungsanker des deutschen Bildungssystems. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei Abgeordneten der AfD – Zuruf des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Denn schuld sind die verantwortlichen Landesregierun- NEN]) gen, und da gibt es auffällige Korrelationen zwischen ideologischem Bekenntnis der Regierungsparteien und Es gibt keine belastbaren Prognosen, dass der Bund dies dem Grad der Herabwirtschaftung und der Versiffung des besser könnte. Bildungssystems. (René Röspel [SPD]: Prognosen sind nie be- (Beifall bei der AfD) lastbar!) Beispiel Berlin: Die Lehrer fliehen geradezu aus den Ganz im Gegenteil! Infrage stehen die Bildungsqualität Schulen. Und das, meine Damen und Herren, liegt be- und sogar der humanistische Kerngedanke von Bildung. stimmt nicht am Bildungsföderalismus und auch nicht an Der Bildungsföderalismus sollte deshalb gestärkt und mangelnder Digitalisierung. nicht geschwächt werden, meine Damen und Herren. Die FDP zeichnet den Antrag der Grünen mit, der (Beifall bei der AfD) ebenfalls fleißig am Bildungsföderalismus sägen möchte. Für die anderen in der Gesetzesänderung angestrebten (Christian Lindner [FDP]: Mitzeichnen!) Bereiche mögen Änderungen ja sinnvoll sein; dies sollte dann aber auch getrennt debattiert werden. Wir lehnen Sie schreiben in Ihrer Antragsbegründung mit anderen öffentliche, staatliche Geiselnahme von Kultur und Bil- Worten – mein Kollege hat es bereits gesagt –: Wer zahlt, dung ab, Frau Lötzsch. bestellt. Gestatten Sie mir eine kleine Nebenbemerkung, Herr Lindner: Sie von der FDP bieten sich hier so wohl- (Beifall bei Abgeordneten der AfD) feil Ihrer gescheiterten Jamaika-Koalition an. Ich möchte Sie herzlich einladen, unseren Antrag zu un- (Zurufe von der FDP) terstützen; denn wir von der AfD gestalten Zukunft. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5701

Nicole Höchst (A) Vielen Dank. te des Geldgebers ablehnen, konterkariert deshalb das (C) Konnexitätsprinzip. (Beifall bei der AfD – Lachen bei Abgeordne- ten der SPD und der LINKEN – Ulli Nissen Wenn die Länder ihrer Verantwortung nachkämen [SPD]: Sie gestalten einen Abgrund!) und die Kommunen auskömmlich finanziell ausstatten würden, könnten wir uns eine Ausweitung der Mitfi- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: nanzierungskompetenz des Bundes in einem ureigenen Der nächste Redner ist der Kollege Christian Haase, Länderaufgabengebiet sparen. Dann würde jede Ebene CDU/CSU-Fraktion. ihre Aufgabe wahrnehmen, so wie es in einer früheren Föderalismusreform einmal festgelegt worden ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ulli Nissen [SPD]) Ziel der Föderalismusreform 2006 ist es gewesen, kla- re Strukturen und Verantwortlichkeiten in der Aufgaben- Christian Haase (CDU/CSU): wahrnehmung zwischen Bund und Ländern zu schaffen. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Dieses Ziel war richtig, bleibt richtig, und ist auch in Zu- Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir kunft richtig. ebnen heute den Weg für eine Ausweitung der Mitfinan- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und zierungsmöglichkeiten des Bundes bei Aufgaben in Trä- der AfD) gerschaft von Ländern und Kommunen. Das betrifft zum Beispiel die Digitalisierung im Schulbereich. Hierbei Deshalb wäre die beste Lösung: weiterhin in Deutsch- handelt es sich um eine Herausforderung, die Länder und land ein Wettbewerbsföderalismus. Wer hat die beste Kommunen unter optimalen Finanzbedingungen allein Bildung? Wo klappt es am besten mit dem sozialen Woh- meistern könnten und müssten. Diese optimalen Bedin- nungsbau? Wer kümmert sich am besten um innere Si- gungen sind zwar bei den Ländern, aber längst nicht in cherheit, und wer geht mit seinen Kommunen am besten allen Kommunen gegeben. Daher begrüßen wir grund- um? Die Länder bekommen ab 2020 mit der Neuordnung sätzlich den Ansatz unserer Bundesbildungsministerin, der Bund-Länder-Finanzbeziehungen dafür die finanziel- den Ländern und Kommunen mit dem DigitalPakt in den len Mittel an die Hand: jährlich fast 10 Milliarden Euro kommenden fünf Jahren 5 Milliarden Euro zur Verfü- mehr, und das dynamisch. Dabei fließt auch die Finanz- gung zu stellen. Das ist ein wichtiges Signal für Eltern situation der Kommunen zukünftig deutlicher als bisher und Schulkinder, aber auch für Länder und Kommunen. in die Berechnung ein. Die Länder sind jetzt aufgefordert, lösungsorientiert (B) die Bund-Länder-Vereinbarungen zum DigitalPakt zu Die Länder erzielen bereits jetzt deutliche Überschüs- (D) verhandeln und diese Verhandlungen auch zügig zum se: im Jahre 2017 allein 14 Milliarden Euro. Geld, mit Abschluss zu bringen. Es geht vor allem auch darum, dem sie sich um ihre finanzschwachen Kommunen küm- dass die Kommunen mit den Folgekosten der anstehen- mern könnten, ist also bei den Ländern vorhanden. Mit- den Investitionen aus Betrieb und Wartung nicht allei- unter hat man den Eindruck: Es fehlt am Willen, weil es ne gelassen werden. Hier sind die Länder in der Pflicht, bequemer ist, nach dem Bund zu rufen. sonst nutzt die schönste Grundgesetzänderung am Ende nichts. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der AfD) (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, wir setzen also nur die Das großzügige finanzielle Engagement des Bundes zweitbeste Lösung um. Bereits bei der Einfügung des Ar- ist für viele Kommunen eine große Hilfe. Aber: Misch- tikels 104c Grundgesetz hatten die Kommunalen davor zuständigkeiten und Mischfinanzierung führen zu kei- gewarnt, dass aus der erweiterten Mitfinanzierungsmög- ner Klärung von Verantwortung. Im Gegenteil: Sie wir- lichkeit des Bundes bei der Bildungsinfrastruktur finanz- ken als goldene Zügel und untergraben letztendlich die schwacher Kommunen keine Allgemeinzuständigkeit kommunale Selbstverwaltung, und das darf nicht sein, des Bundes für die Probleme vor Ort werden darf. Das meine Damen und Herren. Und wer Geld gibt, will ver- Argument, die Menschen würden es nicht verstehen, dass ständlicherweise am Ende des Tages auch wissen, wo- der Bund nicht für marode Schulen zuständig sei, lässt für dieses Geld ausgegeben worden ist. Wir beschwören sich genauso auf marode Straßen und Brücken, andere immer wieder das Konnexitätsprinzip. Zum Prinzip der öffentliche Einrichtungen oder geschlossene Schwimm- Konnexität gehört auch, auf die Kontrollmöglichkeiten bäder ausdehnen. Sägen die Länder mit ihren Forderun- des Bundes hinzuweisen und nicht auf sie zu verzichten. gen also am Ast des Föderalismus, auf dem sie selbst Das ist im Prinzip wie beim Schützenfest: Wer die Musik sitzen? bestellt, der bezahlt; aber wer bezahlt, will auch wissen, welche Musik gespielt wird. (Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Ja!) (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der AfD: Ja, genau!) Lässt sich das Vertrauen in einen Staat stärken, wenn Zu- ständigkeiten verwässert werden? Ich denke: Nein, mei- Dass die Bundesländer zwar einerseits die Finanzmittel ne Damen und Herren. Deshalb gilt: Am Grundsatz, dass des Bundes, zum Beispiel den DigitalPakt, herbeisehnen, für angemessene Finanzausstattung der Kommunen die auf der anderen Seite aber Steuerungs- und Kontrollrech- jeweiligen Bundesländer verantwortlich sind und blei- 5702 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Christian Haase (A) ben, darf sich auch nach der anstehenden Grundgesetz- Entwurf der Bundesregierung ist zu wenig. Wir brauchen (C) änderung nichts ändern. mehr als nur Investitionen in Kabel und Beton. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sowie des Abg. Albrecht Glaser [AfD]) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Und eines, meine Damen und Herren, muss auch klar Deshalb legen FDP und Grüne heute einen gemein- sein: Wenn der Bund Mittel für die Kommunen zur Ver- samen Antrag vor. Liebe Kolleginnen und Kollegen von fügung stellt, müssen diese ungekürzt und zusätzlich vor Union und SPD, ja, es geht, man kann in diesem Hause Ort ankommen. Kommunalmittel sind kein Beitrag zur tatsächlich noch über Parteigrenzen hinweg in der Sache Konsolidierung von Landeshaushalten. arbeiten. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Eine gekürzte Weiterleitung der Bundesmittel oder eine Verrechnung im Zuge des kommunalen Finanzausgleichs Unser gemeinsamer Antrag enthält zwei Kernforderun- sind ebenso inakzeptabel wie der Ersatz von Landesmit- gen. teln durch Bundeshilfen, beispielsweise bei Investitions- zuschüssen. Machen Länder nicht? – Doch, meine Da- Erstens. Der Bund soll die Länder und Kommunen men und Herren! Alles schon vorgekommen. nicht nur mit kurzlebigen Programmen unterstützen dürfen, sondern muss es dauerhaft tun können. Deshalb Die in diesem Jahr erstmals greifende Kommunalent- müssen Degressivität und Befristung der Mittel gestri- lastung in Höhe von eigentlich 5 Milliarden Euro ist da- chen werden. Länder wie Dänemark und die Niederlande für symptomatisch. Auf Druck der Länder werden 1 Mil- sind uns im Wettlauf um die beste Bildung zehn Jahre vo- liarde Euro über die Landeshaushalte und nicht direkt an raus. An die Spitze kommen wir nicht mehr mit ein paar die Kommunen verteilt. Eine vollständige Weiterleitung Hundertmetersprints, sondern nur mit einem entschlosse- an die Kommunen erfolgt aber längst nicht in allen Län- nen und dauerhaften Marathon. dern. Besonders dreist fallen Rheinland-Pfalz und Bran- denburg auf: Der überwiegende Teil des über das Land Und zweitens. Der Bund soll gemeinsam mit den weitergeleiteten Geldes – nämlich 77 Prozent in Rhein- Ländern bundesweit einheitliche und ambitionierte Bil- land-Pfalz und 80 Prozent in Brandenburg – verbleiben dungsstandards schaffen und deren Umsetzung sicher- im Landeshaushalt und werden nicht an die Kommunen stellen. Die Bildungschancen unserer Kinder dürfen weitergeleitet. Ich nenne das unredlich, meine Damen nicht länger davon abhängen, in welchem Bundesland sie und Herren, und so darf es hier nicht weitergehen! zur Schule gehen. Die Menschen nehmen das zu Recht (B) nicht mehr hin. (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ordneten der AfD) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Liebe Länder, behandeln Sie Ihre Kommunen, wie Ein Abitur in Bremen oder Berlin muss endlich so hohe Sie selbst behandelt werden wollen! Bewahren Sie den Standards erfüllen wie eines in Bayern oder Sachsen, und Schatz der kommunalen Selbstverwaltung! Denn ohne ein Umzug in ein anderes Bundesland darf für Familien Kommunen ist kein Staat zu machen. mit schulpflichtigen Kindern keine Zumutung mehr sein. Danke. In der Debatte sind ja einige kritische Anmerkungen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- zu unseren Vorschlägen gemacht worden, auf die ich ger- ordneten der AfD und der Abg. Ulli Nissen ne kurz eingehen möchte. Es ist gesagt worden: Bundes- [SPD]) weit einheitliche Standards würden bedeuten, dass quasi ein Berliner Bundeskultusministerium in jede Schule hineinregiert. Das ist natürlich falsch. Wir wollen genau Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: das Gegenteil. Wir wollen verbindliche Ziele setzen. Auf Ich erteile der Kollegin Katja Suding, FDP-Fraktion, welchem Weg diese Ziele aber am besten erreicht wer- das Wort. den, das sollen die Lehrer, Eltern und Schüler vor Ort entscheiden; sie sind die Experten, nicht die Bürokraten. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Katja Suding (FDP): des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich Andere kritische Töne betreffen die Kontrolle der freue mich sehr, dass wir heute endlich über eine Moder- Mittelverwendung. Natürlich darf der Bund nicht nur nisierung des Bildungsföderalismus debattieren. Unsere Zahlmeister sein. Als der Bund die Finanzierung des Schulen stehen vor riesigen Herausforderungen: Integra- BAföG übernommen hat, haben etliche Länder mit den tion, Sprachförderung, Inklusion, Lehrermangel, marode freigewordenen Mitteln eben nicht die Bildung gestärkt, Schulgebäude und Digitalisierung. Schüler, Eltern und sondern ihre Haushaltslöcher gestopft. Auch beim Hoch- Lehrer warten sehnsüchtig darauf, dass der Bund mehr schulpakt weiß der Bund nicht genau, wie die Gelder Verantwortung übernimmt. Und so sehr wir als FDP eine konkret verwendet werden. Die Mittel für die Bildung Lockerung des Kooperationsverbotes unterstützen: Der müssen endlich wirksamer eingesetzt werden; das muss Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5703

Katja Suding (A) kontrolliert werden. Wir werden an dieser Stelle auch Ich darf mich über diesen Sinneswandel auch freuen; (C) nicht lockerlassen. denn als wir dieses Anliegen vor 15 Monaten hier zur Abstimmung gestellt haben, gab es noch Ablehnung der Schließlich – das ist ja auch immer zwischen den Zei- Koalition und Enthaltung der Grünen. Ich freue mich len angeklungen – wurde gesagt: Wenn wir den Entwurf sehr, wenn Sie Ihre Meinung an dieser Stelle ändern. der Bundesregierung nicht einfach abnicken, würden wir die Grundgesetzänderung und damit auch den Digi- (Beifall bei der LINKEN) talPakt verschleppen. Das ist natürlich falsch. Wenn der Bauer nicht schwimmen kann, dann hat doch nicht die Nun habe ich gehört, dass die FDP von diesem Vor- Badehose Schuld. haben noch nicht überzeugt ist, Herr Lindner. Wohngeld alleine ist nicht die Lösung, auch wenn ich weiß, dass das (Beifall bei der FDP) ein beliebtes Argument der Immobilienlobby ist. Klar wollen die das. Aber das heißt ja im Endeffekt, dass wir Dass der DigitalPakt vor zwei Jahren großspurig ange- mit öffentlichen Geldern die Rendite in privaten Händen, kündigt wurde, die Länder aber immer noch keinen Cent die Mietenexplosion in den Händen von wenigen Kon- gesehen haben, hat nur einer zu verantworten, und das ist zernen subventionieren würden. Das ist finanziell keine diese Bundesregierung. Nicht wir verzögern die Grund- nachhaltige Politik. gesetzänderung; das sind schon Sie. (Beifall bei der LINKEN) Lieber Herr Minister Scholz und liebe Frau Ministerin Karliczek – auch Sie spreche ich da an –, liebe Kollegin- Wenn wir keine Belegungsrechte für Sozialwohnun- nen und Kollegen von Union und SPD, Sie wissen doch gen mehr haben, dann heißt das, dass sich bald kein Nor- seit langem, dass Sie keine eigene Mehrheit haben, son- malverdiener eine Wohnung in den Innenstädten mehr dern die Stimmen von FDP und Grünen benötigen. Wir leisten kann. Dann haben wir dort Monokulturen von haben Ihnen immer wieder das Gespräch angeboten; Sie Besserverdienenden und Businessleuten; das können wir haben noch nicht mal darauf geantwortet. alle nicht wollen. (Christian Lindner [FDP]: Doch, gestern!) (Beifall bei der LINKEN) Wir fragen uns jetzt: Wie ernst meinen Sie es eigentlich Ja, keine Frage: Die Verantwortung für den sozia- mit der Grundgesetzänderung? Spekulieren Sie viel- len Wohnungsbau in die Hände der Länder zu geben, leicht am Ende sogar darauf, dass Sie gar keine parla- war keine gute Idee. Die Anzahl der Sozialwohnungen mentarische Mehrheit bekommen? Herr Haase hat ja in sank rapide. Sie liegt gerade mal bei 1,2 Millionen. seinem Beitrag gerade eigentlich gegen den Antrag der Auch die Zweckentfremdung der Mittel für den sozia- (B) Bundesregierung gesprochen. In den Jamaika-Verhand- len Wohnungsbau durch die Länder erreicht erhebliche (D) lungen gab es ja auch ein Veto aus der Union gegen die Größenordnungen; das habe ich mit meinen Anfragen Reform des Bildungsföderalismus. Deshalb wollen wir regelmäßig nachgewiesen. Der massive Rückgang an von Ihnen, lieber Herr Minister, endlich ein Zeichen se- Sozialwohnungen ist auch schuld an der Mietenkrise. hen. Steigen Sie mit uns in die Verhandlungen ein! Oder Deswegen müssen wir diese Politik ändern. sagen Sie einfach klipp und klar, dass Sie eigentlich auf ein Scheitern setzen! (Beifall bei der LINKEN – Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Die Schuld liegt bei den Län- Vielen Dank. dern, weil sie Mittel nicht eingesetzt haben!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich finde allerdings, dass es zu kurz greift, sich als des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bundesregierung einen schlanken Fuß zu machen und zu sagen: Allein die Länder sind schuld am Niedergang des Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: sozialen Wohnungsbaus. Ich will daran erinnern: Es war die gleiche Koalition, Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Caren Lay. (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Richtig! Genau!) (Beifall bei der LINKEN) die diese Frage vor zwölf Jahren entschieden und, wie wir heute wissen, falsch entschieden hat. Caren Lay (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) hier beschließen, dass der Bund wieder für den sozialen Wohnungsbau zuständig wird und diesen dann auch wei- Als die Föderalismusreform 2006 hier diskutiert wur- ter mitfinanzieren kann, dann freue ich mich; denn da- de – ich habe mir das Plenarprotokoll extra noch einmal mit würde eine langjährige Forderung der Linken, eine durchgelesen –, war es allein Die Linke, die problemati- langjährige Forderung auch von mir ganz persönlich in siert hat, dass es zu einem Rückgang der sozialen Woh- Erfüllung gehen. Sie sehen, meine Damen und Herren: nungen kommen wird. Deswegen haben wir dem damals Die Linke wirkt. auch nicht zugestimmt. Und als wir vor fünfeinhalb Jah- ren einen Neustart im sozialen Wohnungsbau gefordert (Beifall bei der LINKEN – Lachen bei Abge- haben, ernteten wir vor allen Dingen von der Unionsfrak- ordneten der CDU/CSU) tion Hohn und Spott. 5704 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Caren Lay (A) Wenn wir jetzt aber die Grundlagen legen, dass der Es ist einfach an der Zeit, nicht nur diesen Fehler zu (C) Bund Sozialwohnungen weiterhin mitfinanzieren darf, korrigieren; es ist auch Zeit, unseren Bildungsföderalis- dann sollten wir aus meiner Sicht auch mehr mitreden mus auf gesunde Füße zu stellen. Es ist Zeit für einen dürfen. Denn es geht nicht nur um das Ob des sozialen modernen Bildungsföderalismus, in dem der Bund, die Wohnungsbaus, sondern auch um das Wie; und da muss Bundesländer und die Kommunen im Sinne der Bildung, sich einiges ändern. im Sinne der Kinder und Jugendlichen an einem Strang ziehen können. (Beifall bei der LINKEN) Mit den Geldern für den sozialen Wohnungsbau Haus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haltslöcher zu stopfen oder Eigenheime zu subventio- und bei der FDP) nieren – damit, meine Damen und Herren, muss endlich Wir beraten heute eine Grundgesetzänderung. Das ist Schluss sein. ja keine Lappalie. Wenn man das Grundgesetz ändert, Ein anderes und aus meiner Sicht das zentrale Pro- dann sollte man es auch gut und richtig machen. Wir ha- blem sind die auslaufenden Belegungsbindungen. Das ben jetzt die große Chance, wichtige Weichen zu stellen heißt: 15 Jahre lang gelten die subventionierten Woh- und die Bildungspolitik in diesem Land ernsthaft zum nungen als Sozialwohnungen; danach fallen sie aus der Besseren zu bewegen. Belegungsbindung. Das ist ein Fehler. In Zukunft muss Ich sage Ihnen: Ich habe es satt, in jedem Bildungs- gelten: einmal Sozialwohnung, immer Sozialwohnung. bericht, in jeder OECD-Studie, ja sogar in jeder dritten (Beifall bei der LINKEN) Pressemitteilung der Bildungsministerin zu lesen, wie eng der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bil- Es fehlen nämlich im Moment 4 bis 5 Millionen Sozial- dungserfolg in diesem Land ist. Dass wir beim Thema wohnungen. Die 100 000 Wohnungen, die Sie in dieser „Chancengleichheit in der Bildung“ weiter Schlusslicht Legislatur bauen wollen, sind natürlich nur ein Tropfen sind, das muss ein Ende haben, liebe Kolleginnen und auf den heißen Stein; denn wenn jedes Jahr mindestens Kollegen. 80 000 Wohnungen aus der Sozialbindung herausfallen, dann werden wir am Ende der Legislatur weniger Sozial- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wohnungen statt mehr Sozialwohnungen haben. Und das und bei der FDP) ist eine falsche Politik. Ohne die Möglichkeit, dass Bund und Länder zusam- (Beifall bei der LINKEN) menarbeiten, wird das kein Ende haben. Dafür wird es am Ende des Tages Geld brauchen. Die Deshalb sind wir als grüne Bundestagsfraktion – ich (B) 5 Milliarden Euro, die Sie in dieser Legislatur und nicht, denke, das gilt auch für die FDP-Fraktion – sehr ent- (D) wie wir fordern, im Jahr zur Verfügung stellen, reichen schieden und sagen ganz klar: Ein kleiner Schritt in die nicht aus. Sie geben demgegenüber 14 Milliarden Euro richtige Richtung ist zwar nie verkehrt; aber der kleinste für Sonder-AfA und für Baukindergeld aus. Das, meine gemeinsame Nenner von SPD und Union reicht an die- Damen und Herren, steht in keinem Verhältnis. ser Stelle nicht. Das ist nicht das, was diese Republik braucht. Nein, wir müssen jetzt das tun, was tatsächlich (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) notwendig ist. Das heißt für den Bund, nicht nur in Be- Zu guter Letzt: Wenn Fehler korrigiert werden sol- ton, sondern in Köpfe zu investieren, nicht nur Schulklos len, dann bitte schön auch noch weitere; denn die fal- zu sanieren oder Whiteboards aufzuhängen – – sche Wohnungspolitik hat ihren Anfang nicht erst in der Föderalismusreform 2006, sie begann 1989 mit der Ab- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schaffung der Wohngemeinnützigkeit. Diese müssen wir sowie bei Abgeordneten der FDP) jetzt in veränderter, in moderner Form wieder einführen. Das ist der nächste Schritt. Daran werden wir weiter ar- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: beiten. Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der (Beifall bei der LINKEN) Kollegin Ronja Kemmer?

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Für Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Katja Gerne. Dörner das Wort. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ronja Kemmer (CDU/CSU): Frau Kollegin, herzlichen Dank. – Ihre Kritik geht ja Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dahin, dass die Grundgesetzänderung nicht weit genug gehen würde. Jetzt wundere ich mich schon; denn da, Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Lie- wo die Grünen in den Ländern Verantwortung tragen, be Kollegen! Mit der Einführung des sogenannten Ko- zum Beispiel in Baden-Württemberg, gibt es auch ande- operationsverbots in der Bildung wurde ein sehr schwe- re Stimmen. Ministerpräsident Kretschmann bezeichnet rer Fehler gemacht. die jetzige Grundgesetzänderung als zu weit gehend, als (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aushöhlung des Föderalismus. Da frage ich mich dann sowie der Abg. [DIE LINKE]) schon: Was ist denn jetzt die Position der Grünen? Zwi- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5705

Ronja Kemmer (A) schen Bund und Ländern scheint die ja nicht wirklich ab- Der Bund soll den Ländern die Hand reichen können, um (C) gestimmt zu sein. miteinander zu kooperieren. Sich dem entgegenzustellen, das ist für uns rundum nicht nachvollziehbar. ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Doch!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, vor exakt zehn Wissen Sie, es ist ja der Kern des Föderalismus, dass Jahren hat die Union die Bildungsrepublik Deutschland eine Bundestagsfraktion und ein Ministerpräsident eines ausgerufen. Unlängst rief den Bildungs- Bundeslandes auch unterschiedlicher Meinung sein dür- notstand aus. Nach 13 Jahren CDU-Bildungsministerin- fen. nen und genauso langem Gewürge um dieses Koopera- tionsverbot muss ich sagen: Eine solche Äußerung ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einfach nur noch Realsatire. sowie bei Abgeordneten der FDP – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wir Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Notfalls sogar haben von kommunalen Lehrern gesprochen!) dauerhaft! – Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Wir brauchen jetzt einen mutigen Schritt. Ich erwarte – Den Satz müssen wir uns merken!) ich denke, es ist an der Zeit –, dass die Regierungsfrakti- Ich habe, glaube ich, die Meinung der Bundestagsfrakti- onen mit uns über diesen Schritt ins Gespräch kommen. on an dieser Stelle sehr deutlich gemacht. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NEN]: Seit zehn Jahren!) und bei der FDP) Es darf eben nicht so sein, dass nur Schulklos saniert und Whiteboards aufgehängt werden, sondern es muss Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: auch in die Ganztagsbetreuung investiert werden können, Für die SPD-Fraktion hat nun das Wort die Kollegin in die Inklusion. Unsere Lehrkräfte müssen fit gemacht Ulli Nissen. werden für den digitalen Wandel. Das werden die Bun- desländer nicht alleine wuppen können, und die Schüle- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) rinnen, die Lehrkräfte, die Eltern, alle, die mit Schule zu tun haben, wissen das auch. Ulli Nissen (SPD): (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (D) Kollegen! Es ist für mich eine große Ehre, dass ich heu- Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir müssen jetzt te zu den geplanten Verbesserungen beim Grundgesetz die Chance nutzen, Möglichkeiten zu schaffen, um wich- reden darf. Für diese jetzt hoffentlich kommenden Ände- tige Ziele auf einem vernünftigen Weg erreichen zu kön- rungen habe ich mich schon lange eingesetzt. nen. Das Bildungs- und Teilhabepaket ist ein Beispiel für einen unvernünftigen Weg. Es ist ein kompliziertes Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir das Leben der Von-hinten-durch-die-Brust-ins-Auge-Konstrukt, das Menschen in unserem Land verbessern. Wir werden ein unter anderem versucht, die Nachhilfe für arme Kinder milliardenschweres Investitionspaket für die Städte und unter mühsamer Umgehung des Kooperationsverbots Gemeinden auf den Weg bringen. Es geht um den Ausbau zu finanzieren – mit dem Effekt, dass ein Großteil der der kommunalen Bildungsinfrastruktur, um die Stärkung anspruchsberechtigten Kinder diesen Anspruch gar nicht des öffentlichen Nahverkehrs und um die Förderung des wahrnimmt. Zu kompliziert, zu bürokratisch. Das ist sozialen Wohnungsbaus – alles Themen, die unmittelbar doch absurd. Warum legt der Bund sich selbst Steine in wichtig sind für ein gutes Zusammenleben der Menschen den Weg? Warum kann er nicht unmittelbar in die Schu- und für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. len investieren? Das ist aus unserer Sicht nicht nachvoll- (Beifall bei der SPD) ziehbar. Ich als Baupolitikerin spreche bei den Grundgesetzän- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN derungen zum Bereich „bezahlbares Wohnen“. Die SPD und bei der FDP) hat lange dafür gekämpft, dass die soziale Wohnraumför- derung fortgeführt werden kann. Es ist uns gelungen: Die Deshalb wollen wir einen mutigen Schritt bei dieser soziale Wohnraumförderung wurde im Koalitionsvertrag Grundgesetzänderung. festgeschrieben. Wir wollen nicht nur den Artikel 104c ändern, damit (Beifall bei der SPD) der Bund dauerhaft und nicht nur befristet in die Infra- struktur investieren kann, sondern auch in Artikel 91b Wir wollen, dass der Bund auch in Zukunft gemeinsam die Möglichkeit für Vereinbarungen zwischen Bund und mit den Ländern Verantwortung für die soziale Wohn- Bundesländern im Sinne der Verbesserung der Qualität raumförderung übernehmen kann. Dazu brauchen wir die von Bildung schaffen. Ich sage es noch einmal, weil das Grundgesetzänderung. Wenn wir nichts ändern würden, ja hier in diversen Debattenbeiträgen ziemlich durch- läge die soziale Wohnraumförderung künftig allein bei einanderging: Wir wollen die Möglichkeit für Verein- den Ländern und – besonders wichtig – die Finanzhilfen barungen zwischen Bund und Bundesländern schaffen. durch den Bund würden auslaufen und wären nach 2019 5706 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Ulli Nissen (A) nicht mehr möglich. Durch Aufnahme eines zusätzlichen immer wieder vor Augen führen – das ist so schön ein- (C) Artikels 104d Grundgesetz wird dem Bund die Möglich- gängig –: Egal ob Bund, Kommune oder Land, es kommt keit gegeben, den Ländern zweckgebunden Finanzhilfen aus Steuerzahlerhand. für den sozialen Wohnungsbau zu geben. (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Ein „Zweckgebunden“ ist ein ganz wichtiges Stichwort. Reim!) Viele Jahre hat der Bund den Ländern Milliarden für den sozialen Wohnungsbau gegeben. Leider haben nur 3 von Die Bürger müssen das, was ausgegeben wird, vorher 16 Bundesländern die Mittel in all diesen Jahren auch erst mal erwirtschaften. wirklich dafür verwandt. Große Hochachtung an Ham- burg! Olaf, ich habe mir die Zahlen angeschaut: Ihr habt Nun sehen sicherlich wieder einzelne Bundesländer das großartig gemacht! die eigene Entscheidungssouveränität in Gefahr. Aber (Beifall bei der SPD) wenn man sich die zahlreichen Länder anschaut, in denen sich die Schulen in katastrophalem Zustand befinden und Leider gehörte mein eigenes Bundesland Hessen nicht zu in denen die hohen Abschlusszahlen nur noch durch ste- den Guten. Die Mittel wurden zum Teil fremdverwandt. tes Absenken der Anforderungen erreicht werden, dann Das gibt es nach der Grundgesetzänderung nicht mehr, müssen wir uns wirklich die Frage stellen, inwieweit wir liebe Kollegen; und das ist auch gut so. auch vonseiten des Bundes hier eingreifen. Es braucht eben weit mehr, um unsere Bildung wieder zurück an die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Spitze des internationalen Wettbewerbes zu bringen. Wir von der SPD-Bundestagsfraktion denken, dass wir bei der Unterstützung der Kommunen auch die Stadt- Als blaue Partei streben wir ebenfalls bundesweit ein- entwicklung mit einbeziehen müssen. Wir wollen im par- heitliche Bildungsstandards an, die sich natürlich an den lamentarischen Verfahren prüfen, ob wir Artikel 104d besten Schulsystemen Deutschlands orientieren müssen. Grundgesetz auch im Hinblick auf die künftigen Bedarfe Die Zeiten, in denen ein Umzug in ein anderes Bundes- unserer Städte und Gemeinden um die Städtebauförde- land gleichbedeutend mit dem Wechsel in ein anderes rung ergänzen können. Das wäre aus meiner Sicht ein Schulsystem mit anderen Schwerpunkten, mit anderen wichtiger Schritt. Bewertungsmaßstäben war, müssen der Vergangenheit angehören. Der bildungspolitische Flickenteppich ist Noch einmal: Es geht um Milliarden, die der Bund eine Belastung für die Schüler, für die Familien und für an die Kommunen geben will. Wir wollen starke Städte die Lehrer und damit in der Folge für die Zukunft un- und Gemeinden, und wir wollen gute öffentliche Leis- seres Nachwuchses. Das kann also nur heißen, sich an tungen für die Menschen in unserem Land bei Bildung, (B) den Spitzenreitern in den Bildungsrankings auszurichten. (D) beim öffentlichen Personennahverkehr und beim Woh- Das sind mit Sachsen und Bayern zwei Länder, die sich nen. Für diese Änderung des Grundgesetzes brauchen den bisherigen Bildungsexperimenten wie Inklusion, wir im Bundestag und im Bundesrat die entsprechenden Gender, Abschaffung der Mehrgliedrigkeit, Absenkung verfassungsändernden Mehrheiten. Deshalb mein Appell der Leistungsstandards völlig zu Recht weitgehend ver- an Grüne, Linke und FDP: Lassen Sie uns gemeinsam weigert haben. an einem Strang ziehen, um die Lebensbedingungen in unserem Land zu verbessern! Die Diskussion über die Unterstützung bei der Schaf- Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. fung von Wohnraum scheint mir eine Symptomdebatte, die wir ewig führen werden, wenn sich nichts an den (Beifall bei der SPD) eigentlichen Ursachen ändert. Die Ursachen dafür, dass Menschen Mieten nicht mehr bezahlen können, sind un- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: ter anderem eben auch zu hohe Steuern, zu hohe Energie- Als Nächstes hat das Wort der Kollege Mario Mieruch. kosten, die Euro-Politik, zu geringe Löhne, zu viele Auf- stocker und damit letzten Endes viel zu wenig Kaufkraft im Vergleich zur eigentlichen Arbeitsleistung. Mario Mieruch (fraktionslos): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Wer in dieser Diskussion diese Dinge ignoriert, der Herren! Eine Verbesserung der Bildungsinfrastruktur ist mag nach Marzahn schauen. Dort stehen die Paradebei- lange überfällig. An Geld mangelt es an allen Ecken und spiele sozialistischen Wohnungsbaus. Das hat die Men- Enden, und das mindestens schon seit so vielen Jahren, schen nicht glücklich gemacht, und das weiß ich aus ei- wie hier in diesem Hause Diskussionen darüber geführt gener Erfahrung. werden. Das wirft auch immer wieder die Frage auf, wo die Finanzmittel der Länder eigentlich hin sind. Gleiches (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Abwarten! gilt für die Kommunen, welche insbesondere die stei- Ich habe da gerne drin gewohnt!) genden Kosten für die Sozialleistungen anführen. Das tun sie aber nicht erst seit der Flüchtlingskrise. Das ta- ten sie auch schon viele Jahre vorher. Seit 2015 kommt Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: halt noch eine schöne Schippe obendrauf, die nur keiner Der Kollege Kai Wegner hat das Wort für die CDU/ richtig kalkulieren kann. Aber es ist letzten Endes egal, CSU-Fraktion. wohin wir das Geld verschieben, auf kommunale Ebene, auf Landesebene, auf Bundesebene. Es sollte sich jeder (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5707

(A) Kai Wegner (CDU/CSU): Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der Wohnungs- (C) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- politik stehen wir vor großen Herausforderungen, und ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 2006 wurde die wir als Bundesregierung, wir als Koalition gehen diese soziale Wohnraumförderung in die alleinige Verantwor- auch an. Mir ist durchaus bewusst, dass es – das hat auch tung der Länder übertragen. Deutschland war angeblich die Aktuelle Stunde am vergangenen Mittwoch gezeigt – „fertig gebaut“, und auch hier im Haus war der Ruf nach bei der Wohnungspolitik unterschiedliche Positionen, „Bildung statt Beton“ zu hören. unterschiedliche Auffassungen hier im Hause gibt. Unser Ansatz, der Ansatz der CDU/CSU, ist, dass wir von allem Heute, zwölf Jahre später, müssen wir feststellen: Die- etwas brauchen. Wir brauchen einen breiten Mix, um die- se Entscheidung hat sich in Zeiten angespannter Woh- sen Herausforderungen gerecht zu werden. Wenn wir uns nungsmärkte nicht bewährt. Heute geht es nicht mehr darauf verständigen könnten, dass wir von allem etwas um Bildung statt Beton, heute geht es um Bildung und brauchen, sehe ich große Chancen, dass wir fraktions- Beton, liebe Kolleginnen und Kollegen. übergreifend für die angemessene Wohnraumversorgung Das bezahlbare Wohnen steht nun wieder ganz oben der Bürger gemeinsam sehr viel erreichen können. Daher auf der politischen Agenda. Die Öffentlichkeit erwartet, bitte ich Sie: Lassen Sie uns in den Ausschussberatungen dass der Bund hier maßgeblich zur Problemlösung bei- immer im Kopf behalten, was für ein starkes Signal es ist, trägt, ganz unabhängig davon, was dazu im Einzelnen wenn das Parlament mit breiter Mehrheit im Grundgesetz steht. Ohne die sprichwörtlichen gol- (Wolfgang Kubicki [FDP]: Wir brauchen eine denen Zügel ist die wirksame Aufgabenwahrnehmung Zweidrittelmehrheit!) durch viele Länder leider nicht vollständig gewährleistet. Eckhardt Rehberg hat vorhin die Zahlen dargestellt. Die – wenn das Parlament mit breiter Mehrheit, lieber Herr von der Bundesregierung vorgeschlagene Grundgesetz- Kubicki – seinen Beitrag dazu leistet, die soziale Wohn- änderung greift das auf und macht, wie ich finde, dazu raumförderung mit starker Unterstützung des Bundes ein gutes Angebot. und zweckgerichtetem Mitteleinsatz für die Zukunft zu sichern, liebe Kolleginnen und Kollegen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine erneute Grund- Ich glaube, das erwarten die Menschen von uns. Das gesetzänderung machen wir uns nicht leicht, weil unser ist alle Anstrengungen wert, und dieser Verantwortung föderales System von klaren Verantwortlichkeiten lebt. für das soziale Gesicht in unserem Land sollten wir ge- Aber bei der Versorgung aller Bürger mit Wohnraum meinsam gerecht werden. Lassen Sie uns über den richti- handelt es sich in der Tat um eine nationale Aufgabe. gen Weg diskutieren, aber lassen Sie uns diskutieren mit Darum ist es sinnvoll und geboten, dass sich der Bund dem klaren Ziel einer Einigung: dass wir es hinbekom- zukünftig aktiv auch hier wieder mit zweckgebundenen men, dass das Grundgesetz für die Menschen in diesem (B) Finanzhilfen voll einbringen kann. (D) Land in dieser Form geändert wird. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Herzlichen Dank. Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Zweck- gebunden!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) – Ja, in der Tat, zweckgebunden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Wohnungs- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: frage muss sich die Stärke unserer sozialen Marktwirt- Der nächste Redner ist für die SPD-Fraktion der Kol- schaft bewähren. Gerade weil unsere Marktwirtschaft lege Oliver Kaczmarek. sozial ist, müssen wir immer darauf reagieren, wenn sich Menschen in Deutschland aus eigener wirtschaftlicher (Beifall bei der SPD) Kraft unter reinen Marktbedingungen angemessenen Wohnraum nicht leisten können. Das machen wir als Oliver Kaczmarek (SPD): Bundesregierung: über das Wohngeld, über das soziale Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glau- Mietrecht. Das machen wir selbstverständlich aber auch be, dass auf diese Debatte nicht nur viele Bildungspoli- über die soziale Wohnraumförderung. Die soziale Wohn- tikerinnen und Bildungspolitiker, sondern auch viele Be- raumförderung ist integraler Bestandteil unseres Sozial- teiligte in Schulen und Verbänden gewartet haben. Der staates. Darauf können wir stolz sein. Unterschied zu den vielen Diskussionen, die wir über (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) das Kooperationsverbot in diesem Haus schon geführt haben, und der Unterschied zu Klammerbemerkungen in 5 Milliarden Euro nimmt allein der Bund bis 2021 für Sondierungspapieren ist doch: Wir haben einen Gesetz- den sozialen Wohnungsbau in die Hand. Wenn wir die entwurf der Bundesregierung auf der Grundlage eines Mittel der sozialen Wohnraumförderung von Bund, Län- Koalitionsvertrages. Damit liegt der Aufbruch zu Digita- dern und Kommunen zusammenrechnen, können damit lisierung und Ganztag zum Greifen nahe. Bitte lassen Sie 100 000 zusätzliche Sozialwohnungen entstehen. Für die uns diese Chance gemeinsam ergreifen. Herausforderungen auf dem Wohnungsmarkt ist die Zu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kunftssicherung der sozialen Wohnraumförderung kein der CDU/CSU) Allheilmittel, aber sie ist ein wichtiger Bestandteil der gemeinsamen Wohnraumoffensive von Bund, Ländern Was wir wollen, ist nicht eine Veränderung der Zu- und Kommunen. ständigkeiten – der Minister hat gerade darauf hingewie- 5708 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Oliver Kaczmarek (A) sen –, sondern eine neue Verantwortungsgemeinschaft schlagen, nicht ignorieren. Ich glaube, das verzögert die (C) von Bund, Ländern und Kommunen für die großen He- Abläufe. Wir müssen deutlich machen: Taktik darf nicht rausforderungen im Bildungswesen. Wir wollen, dass wichtiger sein, als Verantwortung zu übernehmen. sie auf Augenhöhe kooperieren. Deswegen ist das keine abstrakte Gesetzesänderung, sondern wir wollen etwas (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: erreichen. Ich will Ihnen drei Beispiele nennen, damit Es geht um die Sache! Es geht nicht um Tak- deutlich wird, warum wir das machen. tik!) Wir wollen erstens, dass Schulen weiterhin moderni- Ich plädiere dafür, dass wir gemeinsam Verantwortung siert werden. Wir wollen uns nicht damit abfinden, dass übernehmen, und lade dazu ein. Schülerinnen und Schüler teilweise die Toiletten meiden, Herzlichen Dank. weil sie sich in keinem guten Zustand befinden. Wir wol- len die Schulsanierung weiterführen. Mit dieser Grund- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gesetzänderung ermöglichen wir, dass das nicht nur auf der CDU/CSU – Wolfgang Kubicki [FDP]: finanzschwache Kommunen begrenzt ist. Es ist ein guter Was ist das für eine Argumentation? – Kai Schritt, wenn wir das gemeinsam schaffen. Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Ihre vierte Grundgesetzänderung bei der (Beifall bei der SPD) Bildung! Schluss mit Rumdoktern!) Wir wollen zweitens qualitativ hochwertige Angebote der Ganztagsbetreuung, insbesondere in Grundschulen. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Die Eltern brauchen das. Die Kinder profitieren davon. Für die CDU/CSU hat das Wort der Kollege Alois Das ist ein richtig guter Schritt in Richtung Chancen- Rainer. gleichheit. Drittens. Der DigitalPakt ist hier schon angesprochen (Beifall bei der CDU/CSU) worden. Ich glaube, es ist mittlerweile unumstritten, dass wir ihn als Instrument brauchen. Die GEW, die Gewerk- Alois Rainer (CDU/CSU): schaft Erziehung und Wissenschaft, hat in dieser Woche Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe geschätzte Kol- eine Lehrerbefragung vorgelegt. 82 Prozent aller Leh- leginnen und Kollegen! Wir sprechen heute in erster Le- rerinnen und Lehrer sagen, die technische Ausstattung sung über die Änderung des Grundgesetzes, die Ände- ihrer Schulen sei ein sehr großes Hindernis für die wei- rung der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland. Es tere Schulentwicklung. Deswegen müssen wir jetzt die gibt viele Gründe dafür; viele sind auch schon angespro- (B) Grundlagen dafür schaffen. Wir dürfen jetzt nicht noch chen worden. Ein Grund ist, dass es im Koalitionsvertrag (D) mehr Zeit verplempern. Das hat es beim DigitalPakt lan- verankert worden ist. Ich bin und bleibe ein großer Fan ge genug gegeben. Wir müssen die Voraussetzungen da- des Föderalismus in unserer Bundesrepublik Deutsch- für schaffen, dass es am 1. Januar nächsten Jahres losgeht land. Er wurde schon 1949 im Grundgesetz verankert. und die Schulträger Anträge stellen können. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn ich (Wolfgang Kubicki [FDP]: Warum reden Sie immer mal wieder höre, es gibt Schulhäuser, in denen die dann nicht mit uns?) Toiletten nicht in Ordnung sind, dann mag das durchaus Das sind wir den Schulen, den Schülerinnen und Schü- stimmen. Ich erinnere mich gerne an meine Zeit als Bür- lern schuldig. germeister. Das war eine gute Lehrzeit. Ich kann an jeden Bürgermeister und auch an jede Landesregierung nur ap- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Tankred pellieren: Setzen Sie Prioritäten! Zeigen Sie nicht immer Schipanski [CDU/CSU]) mit dem Finger auf den Bund! Fordern Sie nicht immer, Wir wissen doch, dass es derzeit keine Absicherung der Bund soll sanieren! Denn es gibt Zuständigkeiten, für diese Vorhaben im Grundgesetz gibt. Es ist klar, dass und hier liegen sie nun einmal bei den Kommunen und das, was die ehemalige Bildungsministerin vorgeschla- bei den Ländern. gen hat, nämlich das über den Artikel 91c Grundgesetz, (Beifall bei der CDU/CSU) über die Verwaltungszusammenarbeit im IT-Bereich, ab- zuwickeln, nicht geht. Das ist hinlänglich belegt, auch Ja, wir wollen helfen, und das ist gut. Bisher hatten durch Kommentare. Es ist eine Feststellung, die im Üb- wir nur notleidenden Kommunen unter die Arme greifen rigen auch Bündnis 90/Die Grünen in der vergangenen können. In Zukunft sollen wir bei der Bildungsinfrastruk- Wahlperiode getroffen haben. Also, dieser Weg ist nicht tur jeder Kommune unter die Arme greifen können. Man gangbar. kann sich seine Gedanken darüber machen. Ich hoffe, dass am Ende der Tage nicht wir im Deutschen Bundes- Sie von FDP und Grünen wissen doch, dass das, was tag die Verantwortung für marode Schulhäuser tragen. Sie vorschlagen – bei aller Sympathie, die man dafür haben kann –, nicht nur hier im Haus beschlossen wer- Wenn es um Bildungsinfrastruktur geht, geht es auch den muss. Sie wissen doch, dass es hier im Haus – Sie um Investitionen in die Köpfe. Wir müssen uns darüber haben mit der CDU/CSU selbst verhandelt – auf große miteinander unterhalten. Aber ich denke, es wird schwie- Vorbehalte stößt und auch bei den eigenen Ländern auf rig werden, den Kultusministerinnen und ‑ministern un- Vorbehalte stoßen wird. Deswegen meine Bitte: Wir dür- serer Bundesländer zu sagen, wie sie es machen sollen. fen die Vorbehalte bei der Gesetzesänderung, die Sie vor- Sie nehmen gerne das Geld, das wir für Investitionen zur Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5709

Alois Rainer (A) Verfügung stellen, aber die Entscheidungen darüber sol- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (C) len bei den Ländern liegen. Ich finde das auch gut. Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt: der Ich weiß auch, dass sich die Kultusminister zum Bei- Kollege Tankred Schipanski, CDU/CSU-Fraktion. spiel schon länger über das Thema unterhalten, dass man (Beifall bei der CDU/CSU) die Abiturnoten in Deutschland harmonisieren könnte. Na ja, wenn man sich am bayerischen System orientiert, dann kann ich mir es durchaus gut vorstellen, dass das Tankred Schipanski (CDU/CSU): funktioniert. Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- gen! Das ist eine amüsante Debatte heute Morgen, gerade (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und mit Blick auf den Bildungsbereich. Ich möchte zur Aus- der AfD) gangslage zurückkommen. Es geht um den Koalitions- Aber andere Länder werden das nicht mitmachen. vertrag Zeilen 1 139 bis 1 145, in dem wir versprechen: Ich bin stolz darauf, Mitglied dieser regierungstragen- Zur Verbesserung der Bildung werden wir eine den Partei zu sein. Wir haben die kommunalfreundlichste Investitionsoffensive für Schulen auf den Weg Bundesregierung, die es je gab, schon in der letzten und bringen. Diese umfasst zusätzlich zum laufenden auch in dieser Legislatur. Der Bund entlastet die Länder Schulsanierungsprogramm die Unterstützung der und Kommunen im Jahr 2018 um circa 75 Milliarden Länder … Euro. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist richtig gut. Das darf man auch einmal sagen. – Hört! Hört! Wir kooperieren schon, Bund und Länder arbeiten schon zusammen. – Wir wollen insbesondere In- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- vestitionen in die Bildungsinfrastruktur leisten. ordneten der SPD) Dazu werden wir die erforderliche Rechtsgrundla- Für eine Grundgesetzänderung braucht man eine ge in Art. 104c Grundgesetz (GG) durch die Strei- Zweidrittelmehrheit. Das finde ich gut. So ein wichtiges chung des Begriffs „finanzschwache“ in Bezug auf Gesetz braucht eine breite Mehrheit. Auch hier muss man die Kommunen anpassen. Die Kultushoheit bleibt sich noch unterhalten. Wir werden mit dieser Grundge- Kompetenz der Länder. setzänderung die Möglichkeit schaffen, den Ländern mehr Geld zum Beispiel für den sozialen Wohnungsbau Alois Rainer hat es gesagt: Es geht darum, dass mit zu geben. Blick auf die Bildungsinfrastruktur nicht nur finanz- schwache Kommunen zukünftig unsere Hilfe bekom- Es wurde vorhin schon darüber gesprochen, welche (B) men, sondern Länder und Kommunen generell. (D) Länder das zur Verfügung gestellte Geld bisher ordentlich eingesetzt haben. Ich hoffe, es folgen viele Länder dem Die AfD will alles so belassen, wie es ist. Das ist ihr Beispiel Bayerns, indem man das Geld, das der Bund für gutes Recht. Dieser Ansicht kann man sein. Grüne und den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung stellt, auch für FDP sagen: Lasst die Hände von Artikel 104c, ändert den sozialen Wohnungsbau verwendet. Das ist unglaub- lieber Artikel 91b und Artikel 104b Grundgesetz. – Sie lich wichtig. Wir haben einen Wohnungspakt. Wir wol- verknüpfen damit eine Sachfrage, bei der es um eine len zusätzliche bezahlbare Wohnungen bauen lassen. Wir Rechtsgrundlage für eine notwendige Maßnahme geht, lassen uns auch gerne in die Verantwortung nehmen, aber nämlich den DigitalPakt, mit einer generellen Föderalis- wir lassen nicht zu, dass sich die Länder aus ihrer Verant- musdebatte. wortung stehlen. Das darf nicht passieren. Die Regierungskoalition will mit dieser Grundgesetz- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und änderung den DigitalPakt ermöglichen, den wir schon so der SPD) oft hier in diesem Hause diskutiert haben. Es geht um 5 Milliarden Euro, die wir für die wichtige Aufgabe „di- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich fordere gitales Lernen“ temporär zur Verfügung stellen wollen. ausdrücklich: Wenn der Bund mehr Geld zur Verfügung Wir wollen finanzielle Impulse setzen, wir wollen an- stellt, dann brauchen wir verfassungsmäßig die entspre- schieben, wir wollen die Länder anspornen und sie mo- chende Kontrolle über das Geld, das wir zur Verfügung tivieren, ihrer Verantwortung bei der digitalen Bildung stellen. Es soll nämlich für den Zweck verwendet wer- nachzukommen. Ich bin sehr überrascht, dass die FDP den, für den wir es zur Verfügung stellen. Es soll der plötzlich gegen Ansporn und gegen Leistung ist. Das ist Grundsatz gelten: keine Leistung ohne Gegenleistung. schon sehr vielsagend. Ich freue mich auf die kommenden spannenden Ver- Wir brauchen den DigitalPakt. Er ist Startschuss, handlungen zu diesem Thema. Wir haben am Montag der Weckruf und Ansporn. Wer sich gegen die geplante nächsten Sitzungswoche eine Anhörung zu den geplan- Grundgesetzänderung stellt, stellt sich gegen den Digital- ten Grundgesetzänderungen. Ich bin der Meinung, man Pakt. Er stellt sich auch gegen das Geld, das der Finanz- sollte sich die Zeit nehmen, über diese wichtigen Ände- minister bereits zur Verfügung gestellt hat. Er verhindert rungen unserer Verfassung ausführlich zu diskutieren. gute Bildung und fördert sie nicht. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Ulli Nissen [SPD]) Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage? 5710 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

(A) Tankred Schipanski (CDU/CSU): geklärt. Wir haben eine große Bund-Länder-Finanzre- (C) Nein, ich würde gerne ausführen und später auf eine form auf den Weg gebracht: 9,6 Milliarden Euro jährlich Kurzintervention reagieren. für die Bundesländer zusätzlich vom Bund. Mehr geht nicht. Richtig ist: Sie waren nicht im Parlament. Die Grü- Wenn FDP und Grüne in dieser Debatte von Ermög- nen waren dagegen. Aber so ist es nun einmal. Sie haben lichen sprechen, dann müssen wir in einer sachlichen die Chance verpasst, dieser dauerhaften Finanzierung Debatte auch schauen, was überhaupt möglich ist. Wir zuzustimmen. debattieren die Grundgesetzänderung eben nicht im luft- leeren Raum. Wir benötigen auch eine Zweidrittelmehr- Eine Bund-Länder-Zusammenarbeit ist im Bundes- heit im Bundesrat. Ich kenne keinen einzigen Minister- staat möglich. Wir wollen die Verfassung ändern, um et- präsidenten, der auf seine Kultushoheit verzichten will, was zu ermöglichen. Wir wollen anschieben, wir wollen aber genau das schlagen FDP und Grüne in ihrem Antrag Schwung geben. Fahren müssen die Bundesländer aber vor. selbst; sie tragen dafür die Verantwortung. Oder um es mit Frau Suding zu sagen: Wir bezahlen den Bauern die (Christian Lindner [FDP]: Quatsch!) Badehose, aber schwimmen müssen sie schon selber. Für die Grünen scheint es ganz normal zu sein, dass die Bundestagsfraktion eine andere Meinung vertritt als Der FDP rufe ich zu: Sie haben die Möglichkeit, Ihr ihre Länderkollegen, insbesondere der Ministerpräsi- Wahlprogramm, in dem Sie auf Seite 25 von „Digitali- dent. Außerdem verwenden Sie wiederholt den Begriff sierung der Bildung“ usw. sprechen, umzusetzen. Das „Kooperationsverbot“ bewusst falsch. können Sie hier mit Zustimmung zu unserer Verfassungs- änderung erreichen. Seien Sie in dieser Sache doch mal (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mutig! NEN]: Überlegen Sie sich mal was Neues!) Den Grünen kann man nur sagen: Seien Sie nicht stän- Sie wissen, dass wir in einem Bundesstaat leben und dig gegen etwas! Sie haben es am 13. November 2014 dass unsere Verfassung ein Kooperationsgebot enthält. schon versäumt, der Änderung von Artikel 91b zuzustim- Sie wissen, dass wir klare Zuständigkeitsregeln haben men. Ermöglichen Sie jetzt den DigitalPakt durch Ände- und dass wir bereits umfangreich kooperieren. Ich denke rung von Artikel 104c! Seien Sie nicht immer dagegen! an den Hochschulpakt, an den Qualitätspakt Lehre und Unsere Hand ist ausgestreckt zum Wohle der Bildungsre- an den Pakt für Forschung und Innovation. Erst gestern publik Deutschland. wurden den Hochschulen 2,7 Milliarden Euro im Rah- men der Exzellenzinitiative zur Verfügung gestellt. Das Vielen Dank. ist Kooperation. Da muss der Kollege Lindner nicht erst (B) in die Schweiz schauen; er kann auf Deutschland schau- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (D) en, wie hier kooperiert wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: ordneten der SPD) Ich schließe die Aussprache. In Ihrem Antrag und in Ihrem Brief an die Bundes- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf kanzlerin fordern Sie nationale Bildungsstandards und den Drucksachen 19/3440, 19/4543 und 19/4556 an die deren verbindliche Umsetzung. Ich freue mich sehr, dass in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Sie hiermit eine Forderung der CDU/CSU-Bundestags- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der fraktion aus dem Jahr 2010 aufgreifen und unterstützen. Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Jedoch ist Ihr vorgeschlagener Weg, diese Forderung umzusetzen, ein Irrweg; denn der Fehler mit Blick auf Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 23: Bildungsstandards und Verbindlichkeit liegt nicht in der Verfassung. Der Mangel liegt in einem fehlerhaften Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Verfahren der Kultusministerkonferenz; deren Beschlüs- Boehringer, Dr. Bruno Hollnagel, Dr. Bernd se sind nämlich nicht verbindlich, und man hat es – da Baumann, weiterer Abgeordneter und der Frak- haben Sie recht – in 70 Jahren nicht geschafft, diesen tion der AfD Mangel abzustellen. Daher haben wir uns im Koalitions- zu der Empfehlung für einen Beschluss des vertrag für die Einrichtung eines Nationalen Bildungsra- Europäischen Parlaments und des Rates tes entschieden, der sich der Lösung dieser Problematik zur Änderung des Artikels 22 der Satzung annehmen soll. des Europäischen Systems der Zentralban- Der einzig verfassungsrechtlich zulässige Weg ist im ken und der Europäischen Zentralbank Übrigen ein Bildungsstaatsvertrag, den die Ministerprä- Ratsdok. 10850/17; 2017/0810 (COD) sidenten gemeinsam abschließen, analog zum Rundfunk- staatsvertrag. Aber auch das ist eine Forderung der CDU/ Das Vermögen der Deutschen Bundesbank CSU, aus Bund und Ländern gemeinsam. Das heißt, eine schützen – Target-Forderungen besichern Verfassungsänderung, wie sie Grüne und FDP hier vor- Drucksache 19/4544 schlagen, verfehlt leider ihr Ziel. Überweisungsvorschlag: Auch mit Blick auf dauerhafte Finanzhilfen kommen Haushaltsausschuss (f) Sie zu spät. Dies haben wir abschließend am 13. Juli 2017 Finanzausschuss Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5711

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für frisches Geld, damit ihr nicht eigenes Geld verliert. – Das (C) die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Es gibt keinen darf und kann nicht richtig sein. Widerspruch dazu. (Beifall bei der AfD) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Kollege Dr. Bruno Hollnagel für die Fraktion der AfD. Die enorm großen TARGET2-Salden bergen also gro- ße Risiken und Erpressungspotenzial. Jeder Einwohner (Beifall bei der AfD) Deutschlands steht diesbezüglich mit 12 000 Euro im Risiko. Wir fordern deswegen Sicherheiten für diese Ri- Dr. Bruno Hollnagel (AfD): siken in der Hand der deutschen Zentralbank. Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- (Beifall bei der AfD) nen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der EZB-Rat wird noch in diesem Jahr über eine Änderung Weiterer Fakt ist: Für die erwähnten Kredite bekommt der Satzung des europäischen Systems der Zentralban- die Deutsche Bundesbank keine Zinsen – ken entscheiden. Diese Änderung betrifft die Regelung zu Zahlungssystemen, Artikel 22 des Statuts. (Fabio De Masi [DIE LINKE]: Weil es keine Kredite sind!) Die Situation bietet uns die Möglichkeit, das System zu verbessern. Diese Chance sollten wir nutzen, denn es trägt aber die Risiken –, die sie, wenn sie welche bekäme, ist nötig. Herr Dr. Beermann, Mitglied des Bundesbank- an den Bundeshaushalt weiterleiten könnte. vorstands, sagt: Meine Damen und Herren, wir reden über Belastun- Solange das Euro-System unverändert fortbesteht, gen unserer Bürger im Zusammenhang mit exorbitant sind die TARGET2-Salden nicht risikobehaftet. hohen Steuern. Die Frage ist nun: Und was geschieht, wenn ein Land (Frank Schäffler [FDP]: Angstmacherei!) den Euro-Raum verlässt? Dazu schreibt EZB-Präsident Mario Draghi: Würde ein Land das Euro-System verlas- Wir reden hier über Altersarmut. Wir reden über sozia- sen, müssten die Forderungen und Verbindlichkeiten der len Wohnungsbau, über mangelhafte Infrastruktur, über nationalen Zentralbank gegenüber der EZB vollständig Millionen Kinder, die unterhalb der Armutsgrenze leben. beglichen werden. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Was denn Was heißt das? TARGET2-Salden sind eben nicht nur jetzt: hohe Steuern oder Belastungen? Spin- (B) zahlungstechnische Verrechnungssalden, sondern sie ner!) (D) haben den Charakter von Krediten. Die verantwortliche Politik darf dazu nicht länger schweigen. Immerhin ist Wir reden aber nicht über potenziell entgangene Zinsein- im Fall der Bundesbank eine Summe von 960 Milliarden nahmen der TARGET2-Salden im Volumen von immer- Euro zu diskutieren. Das ist ein Volumen im Gesamtwert hin einem zweistelligen Milliardenbetrag. Mit Zinsen in des Bundeshaushalts der letzten drei Jahre. Höhe von 2 Prozent oder TARGET-Forderungen wäre der Soli bezahlt. Die spannende Frage ist nun: Was geschieht, wenn zum Beispiel Italien aus dem Euro austritt – was ja in (Lachen bei der SPD) diesem Jahr schon diskutiert worden ist – und die fälli- gen Gelder nicht bezahlen kann oder nicht bezahlen will? Faktisch verschenken wir Geld ins Ausland. Das ist den Holt sich die EZB das Geld dann mit Panzern? Wohl Bürgern nicht zu vermitteln. Die Bürger haben nichts zu kaum. verschenken. Was geschehen würde, steht im Monatsbericht der (Beifall bei der AfD) Deutschen Bundesbank vom März 2017: TARGET2-Ver- Bildlich gesprochen: Die deutsche Zentralbank hat der bindlichkeiten eines austretenden Landes, die nicht voll- EZB die goldene Kreditkarte gegeben und die Nummer ständig erfüllt werden, führen zu Verlusten bei den ver- für die Sperrzentrale gleich mit verschenkt. Das ist un- bleibenden Zentralbanken. verantwortlich. (Zuruf von der AfD: Hört! Hört!) Den Letzten beißen die Hunde. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende. (Beifall bei der AfD) Bezüglich der Deutschen Bundesbank bedeutet das (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ja, bitte!) ein Verlustrisiko in dreistelliger Milliardenhöhe. (AfD): (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Das sind Dr. Bruno Hollnagel Forderungen und nicht Verluste! – Wolfgang Ich komme zum Schluss. – Wir haben die Pflicht, Kubicki [FDP]: Ja, wenn sie alle austreten!) möglichen Schaden von unserem Land abzuwenden. Ich rufe Sie deswegen auf, Darin liegt ein erhebliches Erpressungspotenzial nach dem Motto – ich bleibe im Bild von Italien –: Gebt Italien (Zuruf von der SPD: Beenden Sie die Rede!) 5712 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Dr. Bruno Hollnagel (A) Ihres Amtes zu walten und unseren Antrag anzunehmen, Ich würde sagen, die TARGET-Forderungen sind – ge- (C) damit der Schaden von unserem Land ferngehalten wird. statten Sie mir dieses Bild – wie ein Fieberthermometer. Sie zeigen an, dass in diesem System etwas nicht stimmt. Danke schön. (Beifall bei der AfD – Jürgen Braun [AfD]: (Beifall bei der AfD) Oh! Na, immerhin!) Aber eine werthaltige Absicherung der TARGET-Forde- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: rungen ist nun nicht erforderlich. Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege André Berghegger. (Lachen bei der AfD – Jürgen Braun [AfD]: Oder nicht möglich?) (Beifall bei der CDU/CSU) Das werde ich Ihnen anhand mehrerer Gründe erklären. Jeder Grund für sich ist schon sehr beachtlich und nach- Dr. André Berghegger (CDU/CSU): vollziehbar. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Erstens. Das EZB-Geld und damit auch die Forderun- Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir beraten hier gen gegenüber der EZB sind in unserem System das si- den AfD-Antrag zum Thema TARGET-Salden: „Das cherste Geld, das wir kennen. Vermögen der Deutschen Bundesbank schützen – Tar- get-Forderungen besichern“. Das ist ein spannendes (Lachen bei der AfD – Zurufe von der AfD: Thema, und es ist eine sportliche Aufgabe, es vor allen Ha, ha! – Der war gut!) Dingen für diejenigen, die sich nicht jeden Tag damit beschäftigen, in wenigen Minuten nachvollziehbar zu Es ist durch internationale Verträge gesichert und muss erklären. deswegen nicht noch zusätzlich besichert werden. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Da- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie von gibt es eine Menge!) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Sonja Amalie Steffen [SPD]: So – Davon gibt es eine Menge. ist es!) Sie gehen in dem Antrag von einem konkreten Risiko Zweitens. Der Euro hat keinen Gegenwert mehr in für den Bundeshaushalt aus und wollen die TARGET-­ Gold oder in anderen Sicherheiten. Verbindlichkeiten deswegen werthaltig besichern. Es (Peter Boehringer [AfD]: Leider nicht!) (B) wird Sie nicht wundern, wenn wir und ich persönlich et- (D) was anderer Auffassung sind. Ich werde versuchen, das Ein Goldstandard, feste, flexible Wechselkursmechanis- in den nächsten Minuten zu erklären. men, das Bretton-Woods-System, all das ist international seit etlichen Jahren entweder ausgesetzt oder sogar abge- (Dr. [AfD]: Basel-Regelung!) schafft worden. Zum Hintergrund: Was ist das TARGET-System? Das (Peter Boehringer [AfD]: Leider!) TARGET-System dient der technischen und buchhalteri- schen Umsetzung des Zahlungsverkehrs in der Euro-Zo- Deswegen ist das keine neue Entwicklung, sondern spä- ne in unserem zweistufigen System mit der EZB und testens seit den 70er-Jahren so. Das Geld, das wir ken- den nationalen Notenbanken. Eine internationale Trans- nen – Münzgeld, Notengeld –, erhält seinen Wert allei- aktion ist für die Bürger ein relativ einfacher Vorgang, ne dadurch, dass es Vertrauen gibt, Vertrauen durch die aber dahinter steckt natürlich technisch und rechtlich ein Staaten und eine Anerkennung dieser Währung durch die komplizierter Mechanismus. Dieser Mechanismus ist mit Staaten und die Steuerbehörden. Genau das wissen Sie Einführung der Währungsunion Ende der 90er-Jahre eta- auch. bliert worden. (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: So ist Durch das TARGET-System entstehen Salden, Forde- es!) rungen, Schulden der nationalen Notenbanken in Bezug Die dritte Argumentation – das, was der Kollege auf die Europäische Zentralbank. Es wurde gerade schon Hollnagel vorhin gesagt hat –, nämlich die Forderung, angesprochen: Der aktuelle Stand der Forderungen im die nationale Notenbank soll negative TARGET-Salden Rahmen dieses TARGET2-Systems, also der Fortent- ausgleichen – als Beispiel werden oft die USA zitiert –, wicklung, beläuft sich bei der Bundesbank auf einen überzeugt mich nun wirklich nicht. In den USA ist es so, Betrag von über 900 Milliarden Euro. Das ist eine be- dass diese TARGET-Forderungen ausgeglichen oder be- achtliche, ja eine gigantische Summe. Aber was bedeutet sichert wurden durch Gold, Goldzertifikate und am Ende das eigentlich? Aus meiner Sicht erkennt man daran den auch durch Staatsanleihen. Genau das finde ich in diesem Leistungsbilanzüberschuss in Deutschland: dass die Ex- Fall aber unlogisch. Zum einen fehlt uns der Gegenwert porte die Importe deutlich überwiegen. Man sollte die- in Gold – das habe ich vorhin gerade beschrieben –, se TARGET-Forderungen nicht überschätzen und auch nicht unterschätzen. Wir sollten versuchen, gemeinsam (Lachen der Abg. Dr. Alice Weidel [AfD]) realistisch damit umzugehen. und zum anderen würde das im Ergebnis dazu führen, (Sonja Amalie Steffen [SPD]: So ist es!) dass am Ende Anleihen finanzschwacher Staaten in die Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5713

Dr. André Berghegger (A) Bilanz der Bundesbank übernommen werden. Das kann unwahrscheinlichen Fall, dass mehrere Länder aus dem (C) nun wirklich keiner wollen. Euro-Raum aussteigen, (Beifall bei der CDU/CSU – Beatrix von (Jürgen Braun [AfD]: Das ist ein unwahr- Storch [AfD]: Als würden wir das nicht schon scheinlicher Fall? Ich denke, das kann gar längst machen! – Jürgen Braun [AfD]: Das nicht sein!) wäre wenigstens mal ehrlich! – Dr. Alice könnte, wenn überhaupt – Konjunktiv –, ein Risiko ein- Weidel [AfD]: Es ist ja wirklich unglaublich, schlägig sein. Dann müsste über den bilanziellen Um- was der da von sich gibt!) gang mit den TARGET-Salden gesprochen und entschie- Der vierte Punkt. Die TARGET-Forderungen der den werden; das steht außer Frage. Aber es gibt keine Deutschen Bundesbank – Herr Hollnagel hat da wieder einhellige wissenschaftliche Auffassung, die besagt, dass das Gegenteil behauptet – sind nun wirklich kein Kredit dies sofort zu einem Risiko für den Steuerzahler wird. an andere Länder, der besichert werden muss. Nun wirk- ( [AfD]: Da reicht der nor- lich nicht! male Menschenverstand! – Gegenruf des Abg. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jürgen [SPD]: Der fehlt bei Ihnen Braun [AfD]: Oh doch! Nur weil sie nicht so ja!) heißen, oder was? – Beatrix von Storch [AfD]: Ob und in welcher Höhe eine Belastung für die Bundes- Sondern was?) bank und dann auch für den Steuerzahler entsteht, ist Es ist kein Geld von Deutschland ins Ausland geflossen, dann noch zu klären und abzuwarten. Sie legen doch im- sondern umgekehrt wird ein Schuh daraus: mer Wert auf Fakten. Dann nehmen Sie diese Meinung in der Wissenschaft doch bitte zur Kenntnis. (Fabio De Masi [DIE LINKE]: Ja, eben!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Deutsche Produkte wurden im Zweifel exportiert, und ordneten der SPD) Geld aus dem Ausland ist nach Deutschland geflossen. Das ist nun wirklich kein Kredit. Ein Automatismus von einem Ausgleich eventueller Bi- lanzverluste der Deutschen Bundesbank zu einer Bean- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- spruchung des deutschen Steuerzahlers ist gerade nicht ordneten der SPD – Dr. Alice Weidel [AfD]: gegeben. Verbreiten Sie hier bitte keine Unsicherheit Nein, die Deutschen bezahlen ihre Exporte bzw. – das habe ich vorhin schon einmal gehört – keine selbst! Das ist TARGET2! – Jürgen Braun Angst. [AfD]: Deutschland bezahlt den Mercedes (B) in Griechenland, genau! – Michael Grosse-­ Ich komme zum Fazit. Der Schlüssel für den Abbau (D) Brömer [CDU/CSU], an die AfD gewandt: Sie der TARGET-Salden besteht im Abbau der Ungleich- sind ja sehr aufgeregt! Dann scheint das ja al- gewichte in der Euro-Zone. Sie wissen, dass in den les zu stimmen!) Verhandlungen über die Zukunft der Wirtschafts- und Währungsunion solche Fragen natürlich auch eine Rolle – Ich habe Sie doch auch ausreden lassen. spielen. Wir müssen geeignete Instrumente finden, diese Im Ergebnis sind die TARGET-Salden Anzeichen für Ungleichgewichte abzubauen; das ist gar keine Frage. Ungleichgewichte in der Wirtschafts- und Währungsuni- Die Diskussionen über diesen Themenkomplex sind Ih- on, die abzubauen sind; das ist ja gar keine Frage. Aber nen bekannt. Nach alledem kann Ihr Antrag – das dürf- das sind keine billionenschweren Haftungsübernahmen te Sie nicht wundern – meine Fraktion und mich nicht Deutschlands. Es sind Buchungssalden. Ich würde sie wirklich überzeugen. Ich bin dennoch gespannt auf die eher als Einlagen bei der EZB beschreiben denn als Kre- Diskussionen im federführenden Haushaltsausschuss. dit. Sie weisen auf die Probleme hin, sind aber selbst kei- Vielen Dank fürs freundliche Zuhören. ne. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ich möchte das Beispiel des Fieberthermometers noch einmal aufgreifen: Wenn Sie Anzeichen von Fieber ver- spüren, dann schmeißen Sie ja auch nicht das Thermome- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: ter weg, sondern Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Frank Schäffler das Wort. (Jürgen Braun [AfD]: Treten aus der Union aus!) (Beifall bei der FDP – Dr. Alice Weidel [AfD]: Jetzt bin ich aber mal gespannt! – Jürgen kümmern sich um die Ursachen. Das müssen wir auch Braun [AfD]: Mal gucken, ob er immer noch hier versuchen. an seiner alten Meinung festhält!) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sehr schön! Jetzt haben sie es verstanden! – Heiter- Frank Schäffler (FDP): keit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Mit dem Antrag zu den TARGET-Forderungen der – Ja, jetzt sind sie ruhig. Deutschen Bundesbank im Euro-System greift die AfD Nur in der Theorie – ich komme Ihnen ja entgegen; ein wichtiges Thema auf und schlägt unter anderem die ich versuche, die Argumente nachzuvollziehen –, in dem Besicherung dieser TARGET-Forderungen vor. Ob es 5714 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Frank Schäffler (A) diese Sicherheiten auf der Seite der Notenbanken der der letzten zehn Jahre. Wir haben die Risiken kollekti- (C) Südstaaten des Euro-Systems in diesem Umfang und in viert, aber die Verschuldung ist weltweit angestiegen, ausreichender Qualität gibt, darf man getrost bestreiten. insbesondere im Euro-Raum. Wettbewerbsfähigkeit er- Aber das ist sicherlich ein berechtigtes Anliegen. Dass reicht man durch offene Märkte, innerhalb des europäi- wir hier im Parlament einmal darüber diskutieren, ist aus schen Marktes, aber auch außerhalb Europas. meiner Sicht dringend notwendig. (Wolfgang Kubicki [FDP]: So ist es!) (Beifall bei der AfD sowie bei Abgeordneten Hier zeigt sich die wahre Einstellung der AfD zu der FDP) unserer marktwirtschaftlichen Ordnung. Gerade beim Für Pfänder, also Sicherheiten, hat die EZB die An- Freihandel, bei Freihandelsabkommen und deren Verab- forderungen für Banken bereits auf ein „BBB-“ gesenkt, schiedung haben Sie sich bei den Linken, den Grünen also faktisch auf Schrottniveau. Dass die Qualität dieser und Donald Trump eingehakt. Sicherheiten insbesondere in Südeuropa seit Jahren sinkt, (Christian Dürr [FDP]: So ist es!) ist allgemein bekannt. Daher stellt sich schon die Frage, ob diese Sicherheiten überhaupt erstrebenswert sind; Sie Da sind sich hier in diesem Haus links und rechts einig; haben das richtigerweise gesagt. Vielleicht ist es viel bes- auch das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. ser, wenn die sehr hohen TARGET-Verbindlichkeiten ab einer bestimmten Höhe risikogewichtet verzinst werden (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- müssen. Aber letztlich sind diese TARGET-Forderungen NEN]: Sie waren aber auch schon mal ein der Bundesbank ein Symptom der Krise. Die Ursachen bisschen besser!) der TARGET-Verbindlichkeiten liegen in der unter- Das alles zeigt mir: Sie missbrauchen Sachfragen als Ve- schiedlichen Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedstaaten. hikel in Ihrem Kampf gegen das System. Das ist das Problem. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) der AfD) Da machen wir Freien Demokraten nicht mit. Liberale Der Währungsraum kann nur stabilisiert werden, waren schon immer für Reformen, aber gegen Kultur- wenn die Länder ihre Hausaufgaben machen. Das müs- kämpfe und Revolutionen. Der Freihandel ist in seiner sen sie selbst tun. Da kann man keine Ratschläge geben, Geschichte immer hart erkämpft worden. Er ist nicht so wie wir das in der Vergangenheit gemacht haben. Man vom Himmel gefallen, sondern hart erkämpft worden. kann vielleicht Hilfen anbieten. Aber die Länder müssen Richard Cobden hat im 19. Jahrhundert über viele, vie- (B) das am Ende selbst tun. le Jahre für den Freihandel gekämpft, und es war ihm (D) (Michael Schrodi [SPD]: Wie denn?) immer klar, dass Freihandel erst über Freihandelsabkom- men realisiert werden kann und nicht einfach, indem man Für die Länder, die das nicht können oder wollen, braucht alles beiseitewischt. es ein funktionierendes Staatsinsolvenzrecht und ein ge- ordnetes Austrittsverfahren aus dem Euro-Währungsge- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) biet. Das ist eigentlich das Entscheidende. Das Freihandelsabkommen, für das Richard Cobden (Beifall bei der FDP und der AfD) seinen Namen hergegeben hat, das Freihandelsabkom- men zwischen England und Frankreich, hatte zum Inhalt, Das Euro-Währungsgebiet muss atmen können. Es darf dass die Briten auf ihre Zölle auf französische Waren nicht mit aller Gewalt und mit allen Mitteln, die wir ha- vollständig verzichtet haben. Die Franzosen aber waren ben, zusammengehalten werden. nur bereit, 50 Prozent ihrer Zölle abzubauen. Daran sieht man, dass Freihandelsabkommen von beiden Seiten mit ( [SPD]: Oder mit allen jeweils unterschiedlichen Interessen auch gebilligt wer- Mitteln auseinandergetrieben werden!) den müssen. Wir müssen Risiko und Haftung zusammenbringen: Wer Freihandelsabkommen ablehnt, der lehnt im Kern bei der Eigenkapitalunterlegung von Staatsanleihen, unsere marktwirtschaftliche Ordnung ab bei der Bankenabwicklung und beim Verstoß gegen die Maastricht-Kriterien. Wir müssen die weitere Kollekti- (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Die müssen ver- vierung von Schulden unterbinden: bei der Einlagen- nünftig ausgehandelt sein! – Dr. Alice Weidel sicherung, beim Backstop und bei einer europäischen [AfD]: Thema!) Arbeitslosenversicherung. Überall da sollen Risiken kol- lektiviert werden, und das geschieht auch. Das ist aber und der erzeugt nicht den Boden dafür, dass die Wett- das Gegenteil dessen, was wir eigentlich brauchen. bewerbsfähigkeit in den südeuropäischen Ländern besser wird. Wir brauchen mehr Haftung und mehr Verantwor- tungsübernahme. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Und wer das nicht macht, der verschärft im Kern die Eu- (Beifall bei der FDP und der AfD) ro-Krise innerhalb Europas. Deshalb, glaube ich, ist es Denn Wettbewerbsfähigkeit kann man über diesen Weg notwendig, dass dieses Haus erkennt, dass Freihandels- nicht erreichen. Das zeigt – wir diskutieren ja nachher abkommen eigentlich der Schlüssel zum Wohlstand von noch über die Lehman-Pleite – gerade die Entwicklung uns allen sind. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5715

Frank Schäffler (A) Vielen Dank. Eine denkbare Alternative zu diesem komplizierten (C) Zahlungssystem wäre übrigens – so viel zur Lehrstun- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. de „TARGET2, was steckt dahinter?“ –, wenn man die Dr. ­Hermann-Josef Tebroke [CDU/CSU]) Zentralbanken der Euro-Länder abschaffen würde, wenn man also quasi nur die EZB hätte. Dann hätte man dieses Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: komplizierte System nicht mehr. Dann würde sich auch Für die SPD-Fraktion hat als Nächste das Wort die das – angebliche – Problem erübrigen, das dem Antrag Kollegin Sonja Amalie Steffen. der AfD zugrunde liegt. Aber so weit – das wäre dann die Fiskalunion – sind wir im Euro-Raum noch nicht. (Beifall bei der SPD) (Zuruf von der AfD: Gott sei Dank!) Sonja Amalie Steffen (SPD): Das ist bedauerlich; aber das wird hoffentlich irgend- Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, liebe wann einmal kommen. Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Gäste auf der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Tribüne! Wir debattieren heute über einen Antrag, der eine Änderung des TARGET2-Systems fordert. Halten wir also fest: TARGET2 ist ein Werkzeug der Zentralbanken und kein politisches Instrument. Läuft in TARGET2 ist ein System des Zahlungsverkehrs, der Euro-Zone alles normal, dann gleichen sich Forde- über das nationale und vor allem grenzüberschreitende rungen und Verbindlichkeiten aus. So war es übrigens Euro-Zahlungen schnell und mit sofortiger Gültig- in den ersten Jahren der Euro-Zone. 2002, als die Eu- keit abgewickelt werden. Kurz zusammengefasst: Das ro-Zone begann, war alles ausgeglichen. Das hat sich ­TARGET2-System sorgt dafür, dass Handel und Dienst- erst im Jahre 2007 geändert, im Zusammenhang mit der leistungen im Euro-Raum problemlos und rechtssicher europäischen Finanzkrise. Seitdem – an der Stelle ist das möglich sind. richtig – driften die Salden der Euro-Länder extrem aus- Jetzt gehe ich mal davon aus, dass die meisten von einander und führen tatsächlich zu schwindelerregenden Ihnen – zumindest die Gäste auf der Tribüne – noch nicht Zahlen im positiven und im negativen Bereich. viel über das TARGET2-System gehört haben. Weil (Peter Boehringer [AfD]: Bei uns im Negati- mein Kollege Lothar Binding, der sonst immer wunder- ven!) bar erklärt, erst nach mir drankommt, nutze ich die Ge- legenheit, das TARGET2-System einmal aus der Sicht Ja, es gibt aktuell rechnerisch einen Saldo der Bundes- eines ganz normalen Bürgers oder einer ganz normalen bank, der sich insbesondere aus der Finanzkrise und aus Bürgerin zu erklären. deren Folgen und auch aus den Instrumenten, die dann (B) entwickelt wurden – also insbesondere aus den Anleihe- (D) Wenn ich beschließe, meinem Vater zu Weihnachten käufen –, entwickelt hat. Aber es war richtig, diese Maß- einen Rentierpullover – natürlich nicht aus echtem Ren- nahmen zu ergreifen, wie man am Beispiel Irland, das tierfell, sondern gestrickt – in Finnland zu bestellen, dann aus der Finanzkrise nun mittlerweile endgültig raus ist, kann ich das machen: Ich bestelle den Pullover und über- sehr gut erkennen kann. weise das Geld von meinem Konto – natürlich bei der Sparkasse – auf das Konto des finnischen Händlers; so (Beifall bei der SPD) denke ich mir das als Kunde. Ja, es stimmt: Wenn ein Land über Nacht beschließen würde, aus dem Euro-Raum auszutreten, dann wären die In Wirklichkeit funktioniert das anders im Eu- TARGET-Forderungen, die an diesem Tag bestehen, an ro-Raum. In Wirklichkeit ist es so, dass die Sparkasse diesem Tag erst einmal nicht gedeckt. Allerdings wür- mein Geld der Bundesbank überweist. Dann passiert in de der Ausfall selbst in diesem fiktiven Szenario – und Finnland etwas ganz Ähnliches: Die finnische Zentral- darauf hat mein Kollege Berghegger schon hingewie- bank überweist das Geld, wenn es angekommen ist, an sen – nicht allein von der Bundesbank getragen werden den Händler. Dazwischen ist die EZB. Jetzt kommt das müssen, sondern alle Staaten des Euro-Raumes müssten TARGET2-System ins Spiel: Die EZB verbucht näm- für den Fehlbetrag gemeinsam aufkommen. Und dazu, lich eine Forderung der finnischen Zentralbank und eine meine Damen und Herren, würde es wahrscheinlich gar Verbindlichkeit der Bundesbank. So, bis hierhin ist alles nicht erst kommen, weil: Wenn wir uns jetzt einmal vor- klar. In den meisten Fällen erübrigt sich dann eine di- stellen, ein Land steigt aus dem Euro-Raum, also aus die- rekte Geldüberweisung, weil nicht nur ich einen Pullover sem TARGET2-System aus, dann wird es die Differenz in Finnland bestelle, sondern am gleichen Tag vielleicht begleichen müssen und auch begleichen wollen, ein Finne eine Kuckucksuhr im Schwarzwald bestellt. Und nicht nur wir beide bestellen etwas, sondern an dem (Zurufe von der AfD: Aber nicht können!) Tag bestellen ganz viele Menschen. Deshalb erübrigen sich Überweisungen, die Fälligkeiten verrechnen sich. wenn es weiterhin Geschäfte machen will, damit es sich Über TARGET2 geschieht das alles täglich im gesamten in Europa nicht komplett isoliert. Euro-Raum und vereinfacht den Geldverkehr natürlich Wir fassen also noch einmal zusammen: Die enorm. Ohne dieses System wäre ein reibungsloser Geld- ­TARGET2-Salden sind zwar kein Problem, aber sie wei- verkehr zwischen den Euro-Staaten in der heutigen Form sen eine Asymmetrie im Euro-Raum auf, und das sollten überhaupt nicht möglich. wir angehen. (Beifall bei der SPD) (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Wie denn?) 5716 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Sonja Amalie Steffen (A) Deshalb ist es richtig, dass wir das hier im Parlament dis- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (C) kutieren. Der nächste Redner ist der Kollege Fabio De Masi, Fraktion Die Linke. Wir von der SPD-Fraktion wollen durch europäische Zusammenarbeit dafür sorgen, dass die gesamte Eu- (Beifall bei der LINKEN) ro-Zone wirtschaftlich wieder erstarkt (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Wie denn?) Fabio De Masi (DIE LINKE): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! und sich die Leistungsbilanzen der Euro-Länder wieder Die AfD will über TARGET2-Salden diskutieren. Das angleichen. sind Bilanzposten der Notenbanken. Die AfD behaup- tet, das Vermögen der Bundesbank zu schützen, indem Sie, meine Damen und Herren von der AfD, wollen ­TARGET2-Salden von Ländern wie Italien etwa durch aus dem TARGET2-System, das ja kein Kreditsystem Gold oder andere Vermögenswerte besichert werden. Von ist, ein Kreditsystem machen. Ich war sehr traurig, Herr Henry Ford stammt der Satz: „Würden die Menschen das Schäffler, zu hören, dass die FDP das anscheinend auch Geldsystem verstehen, hätten wir eine Revolution noch will. Sie wollen, dass für die TARGET2-Differenzen zu- vor morgen früh.“ Das Problem scheint mir aber, die AfD künftig Zinsen gezahlt und Sicherheiten geleistet werden hat weder TARGET2 noch das Geldsystem verstanden. müssen. Sie schreiben in Ihrem Antrag sogar, dass Sie zuerst die wertvollsten Vermögensgegenstände der Zent- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- ralbanken der jeweiligen Länder verpfänden wollen. Das neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ heißt, die von der Wirtschaftskrise besonders betroffenen DIE GRÜNEN – Jürgen Braun [AfD]: Aber Staaten sollen ihr komplettes Tafelsilber verscherbeln. die Linken haben es verstanden!) (Peter Boehringer [AfD]: Flughafen in Grie- In Deutschland betreiben ein paar lustige Vögel Fake chenland!) Economics. Die Leier geht so: Die Griechen und die Ita- liener wollen an unser sauer verdientes Geld. – Und nun Das ist ein perfider Versuch der Destabilisierung der eu- haben die cleveren Bürschchen dafür mit TARGET2 ei- ropäischen Solidarität. nen fiesen Trick gefunden und sagen, die Salden seien ein Kredit, für den Deutschland haftet. (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Wollen Sie keine Sicherheiten?) (Udo Theodor Hemmelgarn [AfD]: Ja, natür- lich!) Ihr Antrag ist keiner, der aus berechtigten oder gar ver- (B) nünftigen, ökonomischen Beweggründen eingebracht Um zu verstehen, was TARGET2-Salden sind, muss (D) wurde, sondern eher einer, der Ihrer politischen Agenda man erst einmal verstehen, wie eine stinknormale Über- folgt. weisung funktioniert. (Zuruf der Abg. Dr. Alice Weidel [AfD]) (Dr. Alice Weidel [AfD]: Es ist keine Über- weisung! Es ist eine Zahlungsanweisung!) Ihr Vorschlag würde in keinster Weise zur Lösung der Daher etwas „Sendung mit der Maus“ für die AfD: Bür- Probleme beitragen – das finde ich jetzt ganz wichtig –, ger und Unternehmen haben Konten bei Banken, und (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Was haben Sie Banken wiederum haben ein Konto bei der Zentralbank. denn für einen Vorschlag?) Wenn eine Frau Storch aus Berlin – der Name ist völlig zufällig gewählt – 100 Euro auf das Konto von Bernd sondern einzig und allein die wirtschaftlich schwächeren das Brot innerhalb Deutschlands überweist für eine neue Länder noch mehr schwächen und eine einseitige Kos- PC-Maus oder Mettigel, ändert sich im deutschen Ban- tenabwälzung in der Euro-Zone erzwingen. Also, das kensystem in der Summe nichts. Die Banken wickeln die wäre das Ende der europäischen Idee. Und nicht nur das: Überweisung über ihre Konten bei der Bundesbank ab. Dann würden sich die Ängste, die Sie hier schüren, reali- Die Bundesbank hat nun weniger Verbindlichkeiten ge- sieren. Genau mit dem, was Sie in Ihrem Antrag wollen, genüber der Storch-Bank, deren Guthaben bei der Bun- würde es möglicherweise so kommen, dass Europa in desbank geschrumpft ist, und mehr gegenüber der Brot- eine Schieflage gerät. Bank, deren Guthaben bei der Bundesbank gestiegen ist. Niemand würde auf die Idee kommen, dass Berlin mit (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Steuergeldern oder Gold die Einkäufe von Frau Storch Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE besichern muss. GRÜNEN]) Wenn aber Massimo aus Mailand 100 Euro an Frau Das machen wir nicht mit. Wir Sozialdemokraten setzen Storch überweist, wird es etwas komplizierter – auch für uns für ein wirtschaftlich starkes, soziales und vor allem die AfD. solidarisches Europa ein. (Lachen bei Abgeordneten der AfD) Vielen Dank. Denn Massimos Bank hat ein Konto bei der Banca (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten d’Italia, der italienischen Zentralbank. Durch die Über- der CDU/CSU – Dr. Bernd Baumann [AfD]: weisung wächst das Guthaben der Storch-Bank bei der Sie haben keine Lösung!) Bundesbank. Das Guthaben von Massimos Bank bei Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5717

Fabio De Masi (A) der Banca d‘Italia schrumpft jedoch um 100 Euro. Die Die AfD will aber Löhne, Renten und öffentliche Inves- (C) Bundesbank hat jetzt mehr Verbindlichkeiten gegenüber titionen kürzen. der Storch-Bank, und die Banca d‘Italia hat weniger Ver- bindlichkeiten gegenüber Massimos Bank. Daher gibt es (Jürgen Braun [AfD]: Falsch! – Dr. Alexander zum Ausgleich der Bilanzen im grenzüberschreitenden Gauland [AfD]: Unsinn!) Zahlungsverkehr TARGET2. Zweitens geht es auch um Kapitalflucht. Wenn also Hätten die beiden Zentralbanken ein gemeinsames Spekulationen um einen Rauswurf Italiens aus der Eu- Konto bei der EZB, gäbe es kein TARGET2; das ist eine ro-Zone angeheizt werden, bringen Italiener ihre Er- rein technische Größe. sparnisse auf deutschen Banken in Sicherheit, und die TARGET2-Forderungen der Bundesbank steigen. Die (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem Risiken für Deutschlands Banken nehmen aber sicher BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht zu, wenn Italiener ihre Ersparnisse auf deutsche Denn für Geschäftsbanken macht es keinen Unterschied, Konten bringen. ob die Überweisung an eine deutsche oder eine italieni- Drittens. Auch Staatsanleihen spielen eine Rolle. In sche Bank geht. Ob Banken solvent sind, ist hingegen der Summe kaufen mehr Südländer deutsche Staatsanlei- Aufgabe der Bankenaufsicht, nicht von TARGET2. hen als umgekehrt. Deutsche Staatsanleihen werden aber (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) wegen des Finanzplatzes von den Frankfurter Filialen der ausländischen Geschäftsbanken gehalten, und darum TARGET2 sagt auch überhaupt nichts über Risiken hat die Bundesbank so hohe TARGET-Forderungen, weil aus. auch dadurch Geld nach Frankfurt fließt. (Widerspruch bei der AfD) Was passiert nun, wenn ein Land den Euro-Raum – Hören Sie zu. Es lohnt sich. verlässt? TARGET-Salden bestehen weiter, entweder in Euro oder in einer neuen Währung. Das führt zu einem (Jürgen Braun [AfD]: Nein! – Dr. Alexander Wechselkursrisiko. Auch dann käme aber nicht zwin- Gauland [AfD]: Nein, es lohnt sich nicht!) gend ein Geldeintreiber von der Bundesbank. Es könnte Zwischen 2001 bis 2007 explodierten spanische auch ewig verrechnet werden. Richtig ist: Es könnte in Bankkredite. Spanier kauften wie die Luzie auf Pump in einer solchen Situation zu einer Schmälerung des Noten- Deutschland ein. bankgewinns kommen. Das ist aber nicht zwingend. Die Bundesbank kann bilanzieren, wie sie will, da eine No- (Jürgen Braun [AfD]: Grandios!) tenbank wegen ihres unschlagbaren Geschäftsmodells – (B) Geldmonopol und Seigniorage – nie in eigener Währung (D) Doch der TARGET2-Saldo – Überraschung – war fast pleitegehen kann und sogar negatives Eigenkapital ver- null, weil die deutschen Banken bereit waren, Spaniern kraftet. Kredite zu geben. (Peter Boehringer [AfD]: Das ist die normale (Frank Schäffler [FDP]: Das haben wir auch Welt!) gedacht!) Warum hat die Bundesbank nun TARGET2-Forderun- Dies hat die Schweizerische Nationalbank in einem gen an das TARGET-System der EZB? hervorragenden Papier kürzlich ausgeführt. Der Euro könnte tatsächlich zerbrechen, wenn die Regierung wei- Erstens. Deutschland häuft auch wegen unzureichen- ter Löhne und Investitionen drückt. Aber TARGET hat der Löhne und unzureichender öffentlicher Investitionen damit nichts zu tun. Der beste Schutz deutscher Steuer- Exportüberschüsse an gelder wäre daher, die AfD würde sich ein Buch kaufen mit dem Titel „Bilanzierung für Anfänger“. (Beatrix von Storch [AfD]: Wenn Linke von Wirtschaft reden!) Vielen Dank. und verkauft wesentlich mehr Güter in die anderen Eu- (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie ro-Länder, als es von dort einkauft. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (Jürgen Braun [AfD]: Deswegen gehören auch GRÜNEN) Nordkorea und Venezuela zu Ihren Freunden! Die können das ganz gut!) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Wenn diese Güter bezahlt werden, fließt Geld von den Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege Konten anderer Euro-Länder auf Konten deutscher Ban- Dr. Gerhard Schick. ken. Wenn sich die AfD also um die TARGET-Salden oder deutsche Vermögen sorgt, sollte sie dafür streiten, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dass Löhne, Renten und öffentliche Investitionen in Deutschland steigen, um die Binnenwirtschaft zu stärken Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und einen neuen Crash zu verhindern. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Kollegen! Ich bin Fabio De Masi dankbar dafür, dass er neten der SPD) hier den richtigen Punkt gesetzt hat. Es geht um eine rein 5718 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Dr. Gerhard Schick (A) technische Frage, die in anderen Ländern der Welt keinen quatschen, damit man den Gedanken folgen kann. Das (C) Menschen interessiert. würde Ihnen auch guttun an dieser Stelle.

(Widerspruch bei der AfD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bloß in Deutschland gibt es ein paar Leute, die aus einem sowie bei Abgeordneten der SPD und der rein statistischen Phänomen eine Angstdebatte machen, LINKEN – Lachen des Abg. Jürgen Braun [AfD] – Jürgen Braun [AfD]: Klasse, Herr (Lachen bei Abgeordneten der AfD) Schick! Super Demokrat!) um die Leute auf die Bäume zu treiben. Das ist unver- antwortlich. In Europa ist das Zentralbankwesen aus historischen Gründen so organisiert, dass die einzelnen Transaktionen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, von den bisherigen nationalen Notenbanken gemacht bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge- werden. Damit wird die einzelne Transaktion, die man ordneten der CDU/CSU – Dr. Bernd Baumann für die Geldpolitik braucht, mal in der Bundesbank, mal [AfD]: Unglaublich! – Weitere Zurufe von in der Banco de España verbucht. Man hätte es auch an- der AfD – [BÜNDNIS 90/DIE ders machen und sagen können: Alle Transaktionen mit GRÜNEN]: Das scheint gesessen zu haben!) dem Finanzsektor buchen wir in der EZB von Frankfurt Es ist unverantwortlich, weil ein funktionierendes aus. – Dann gäbe es die TARGET-Salden überhaupt Zahlungssystem die Grundlage für unseren wirtschaft- nicht. Daran sehen Sie: Sie reden hier über ein statisti- lichen Wohlstand in Europa ist. Deswegen ist entschei- sches Phänomen, um Leuten Angst zu machen. Aber über dend, sicherzustellen, dass die Zahlungen immer laufen ein wirkliches Problem, nämlich dass wir immer noch können, der Zahlungsstrom nicht aufgrund von Zuschlä- nicht die Euro-Krise hinter uns haben, dass wir endlich gen oder Sicherheiten irgendwann unterbrochen wird mehr Investitionen brauchen und dass wir dringend eine und damit die wirtschaftlichen Transaktionen im Binnen- stabile Währungsunion brauchen und deswegen zur Zu- markt unterbrochen werden. Deswegen haben zu allen sammenarbeit mit den anderen bereit sind, darüber wol- Zeiten vernünftige Zentralbanken immer dafür gesorgt, len Sie nicht reden. Lassen Sie uns hier über die echten dass die Zahlungswege sichergestellt sind, und im Zwei- Probleme reden. felsfall nicht auf Sicherheiten gedrängt. Der Wirtschafts- historiker Eichengreen hat es sehr schön anhand der USA (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, analysiert. In den USA hat man über die Jahre hinweg bei der SPD und der LINKEN sowie bei Ab- immer auf den Vorrang des Funktionierens des Zahlungs- geordneten der CDU/CSU – Jürgen Braun (B) systems gesetzt und keine Sicherheiten verlangt. Ihr An- [AfD]: Danke schön! Alles gut!) (D) trag ist wirtschaftsfeindlich. Jetzt sagen Sie: Wir müssen vorsorgen, falls Italien (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN austritt. – Aber die Sicherheiten, die Sie sich geben las- sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. sen wollen, was sind das denn im Wesentlichen für Si- Dr. Hermann-Josef Tebroke [CDU/CSU] – cherheiten? Das wären ja im Wesentlichen Anleihen, die Zuruf von der AfD: Sie wollen ja 1923 haben, zum Beispiel die italienische Notenbank als Gegenposi- Herr Schick!) tion zu den geldpolitischen Transaktionen hätte. Das sind Ich will noch einmal einen Vergleich mit den USA dann im Wesentlichen italienische Staatsanleihen und ziehen. Wir müssen einmal überlegen: Wo kommt das italienische Unternehmensanleihen. Was wären diese im Phänomen überhaupt her? Warum gibt es das denn auch Moment des Austritts aus dem Euro denn wert? Wegen in den USA, die keine Euro-Krise hatten? In den USA ist der Abwertung praktisch nichts. Das heißt, das ist eine dieses Phänomen in den Statistiken der einzelnen Noten- Scheinsicherheit, die Sie da einfordern, und bringt im banken sichtbar, Krisenmoment, den Sie beschreiben, überhaupt nichts. (Peter Boehringer [AfD]: Nein! Null!) Es ist also ein völliger Popanz, den Sie hier aufbauen. und zwar in der Zeit, in der es eine sehr expansive Geld- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN politik in der Krise gegeben hat, und in dem Maße, wie sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der die zurückgeht, gehen auch die Salden zurück. Deswe- SPD und der LINKEN) gen ist das ein Phänomen, welches uns nicht beunruhigen muss. In dem Moment, in dem die Euro-Krise überwun- Aber es gibt – das muss man natürlich sagen – ein den wird, werden auch die TARGET-Salden zurückge- Problem. Wenn tatsächlich ein Staat aus der Euro-Zone hen. Lassen Sie uns also an den wirklichen Themen ar- austreten würde, dann hätten wir in Deutschland ein mas- beiten und nicht an statistischen Phänomenen. sives ökonomisches Problem, allerdings nicht wegen der TARGET-Salden, sondern weil plötzlich die Währungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN relationen durcheinander gerieten. Es käme zu einer sowie bei Abgeordneten der SPD und der Finanzkrise ohne Ende. Wenn Italien austreten würde, LINKEN – Jürgen Braun [AfD]: Sie wären dann war die Lehman-Krise eine Kleinigkeit gegenüber super als Tänzer auf der „Titanic“ gewesen!) der Krise in Europa, die dann ausbrechen würde. Wir Ich will das mit dem statistischen Phänomen noch ein- sollten also alles dafür tun, damit es auf keinen Fall zu mal deutlich machen. Und hören Sie auf, dazwischenzu- einem Auseinanderbrechen der Euro-Zone kommt. Des- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5719

Dr. Gerhard Schick (A) wegen ist Ihre Politik ökonomisch das Gefährlichste für tischniveau bedient, das Stammtischniveau der untersten (C) Deutschland, was man sich vorstellen kann. Schublade.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der der SPD – Beatrix von Storch [AfD]: Beim SPD und der LINKEN) ersten Mal noch nicht, oder was?) Sie tragen Angstszenarien vor, auf denen Sie dann Ihren An dieser Stelle verstehe ich auch die FDP nicht, die Antrag aufbauen. Sie schreiben, dass wir Forderungen in ihrer Argumentation erstaunlich nah an der AfD dran im TARGET-System in Höhe von 900 Milliarden Euro ist. Mit der Einführung eines Insolvenzrechts für Staa- hätten und ziehen daraus den Schluss, dass deswegen ten, das Italien oder anderen Staaten den Weg aus dem der Untergang der Welt, der Untergang des Abendlandes Euro-Raum hinaus ebnen würde, würden Sie die Wahr- oder zumindest der Untergang Deutschlands unmittelbar scheinlichkeit für ein solches Krisenszenario erhöhen. bevorstünde. Deswegen: Die Aufgabe ist nicht, mit statistischen Phä- nomenen die Menschen auf die Bäume zu treiben, son- Meine sehr geehrten Damen und Herren, in Vorberei- dern die realen Probleme in der Euro-Zone anzugehen tung auf diese Rede habe ich ein altes englisches Sprich- durch gemeinsame Investitionen, durch eine Vervoll- wort gefunden, nämlich die Redewendung vom „Roten ständigung der Banken-Union, dadurch, dass wir endlich Hering”. Diese besagt, dass früher offensichtlich aus den Stabilität und Sicherheit im Euro-Raum schaffen. Das ist Gefängnissen ausgebrochene Gefangene rote, stinkende gut für Bürgerinnen und Bürger. Das ist gut für unsere Heringe ausgelegt haben, um die Spürhunde in eine ver- Wirtschaft. Folgen Sie nicht denjenigen, die Angst ma- kehrte Richtung zu führen, um sie abzulenken. Beim Le- chen wollen, wo es überhaupt keinen Grund zur Angst sen Ihres Antrags bin ich daran erinnert worden. gibt, sondern lassen Sie uns die realen Probleme lösen! (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CDU/CSU – Dr. Alice Weidel [AfD]: Genau und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der das ist plumper Populismus! Ach du meine CDU/CSU und der LINKEN) Güte, an den Haaren herbeigezogen ist das! Sprechen Sie endlich zur Sache!) Nichts anderes ist der Sinn Ihres Antrages. Sie wollen die Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Öffentlichkeit offensichtlich in die Irre führen. Sie skiz- Der nächste Redner ist der Kollege Alois Karl, CDU/ zieren Angstszenarien, und Angst ist in der Tat kein guter CSU-Fraktion. Ratgeber in der Politik. Wir machen das anders. (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Sie stellen in Ihrem Antrag die deutschen TARGET-­ ordneten der SPD) Forderungen von 900 Milliarden Euro den italienischen Verbindlichkeiten von circa 500 Milliarden Euro und den spanischen von circa 400 Milliarden Euro gegenüber. Sie Alois Karl (CDU/CSU): tun damit so, als würde Deutschland für diese TARGET-­ Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Verbindlichkeiten bürgen. Sie müssten wissen, dass das ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In ihrem heuti- völlig falsch ist. Sie tun nichts anderes, als Angst zu säen gen Antrag nimmt sich die AfD-Fraktion doch durchaus und daraus politisches Kapital zu ziehen. hehre Ziele vor. Sie beantragt, dass die Bundesregierung (Dr. Alice Weidel [AfD]: Das ist hanebü- bei den anstehenden Verhandlungen in Europa das Ver- chen!) mögen der Bundesbank schützen soll, mithin letztlich den Bundeshaushalt und das Vermögen der Steuerzahler Sie suggerieren, das Eigenkapital der Bundesbank schützen soll. Dafür – so die AfD – müsse das jetzige würde geradezu völlig aufgebraucht werden. Ich sage TARGET-2-System geändert werden; die theoretischen das noch einmal: Scharlatane sind es, die diesen Antrag Ausführungen dazu sind bereits gemacht worden, ich geschrieben haben, und Scharlatane auch, die diesen An- brauche sie nicht zu wiederholen. Geändert werden soll trag unterschrieben haben. das System so, dass die nationalen Zentralbanken in Eu- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ropa, die im TARGET-System Verbindlichkeiten haben, der SPD – Dr. Bernd Baumann [AfD]: Sie rüh- zunächst werthaltige Sicherheiten an die EZB übertragen ren uns!) sollen und dann, wenn sie Forderungen haben, Sicherhei- ten wieder auf sie übertragen werden. Das Szenario, das Sie hier aufführen, ist nicht real und nicht realistisch, weil die TARGET-Salden – das ist schon Ich habe den Antrag der AfD zweimal gelesen. Ich gesagt worden – eben keine Kreditgeschäfte sind, keine muss sagen, es ist durchaus beachtenswert, wenn Sie Finanzhilfen darstellen und keine Bürgschaften. Weil niederschreiben, dass das Vermögen der Bundesbank dem so ist, müssen TARGET-Verbindlichkeiten nicht und des Bundeshaushalts geschützt werden solle. Beim ausgeglichen werden und können TARGET-Forderungen zweiten Hinsehen und beim sorgfältigen Durchlesen nicht eingetrieben werden. Solange das Euro-System so jedoch erkennt man sehr bald und sehr unschwer, dass fortbesteht, haften wir auch nicht. Selbst wenn wir haften der Antrag von einer populistischen Oberflächlichkeit müssten, würden wir nicht mit den 900 Milliarden Euro getragen ist, die in vielen Fällen gerade noch das Stamm- haften, die angeschrieben sind, sondern lediglich mit un- 5720 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Alois Karl (A) serem Anteil an der EZB, und dieser ist natürlich sehr keine Angstmacherei. Die Philosophie Ihres politischen (C) viel geringer. Agierens ist die Angstmacherei. Es ist schon gesagt worden, ich glaube vom Kolle- (Dr. [AfD]: Das haben gen Berghegger, dass wir in Europa die wirtschaftliche wir jetzt zum fünften Mal gehört!) und finanzielle Situation verbessern müssen. Wir müs- sen noch heute dem ehemaligen Bundesfinanzminister Das Glaubensbekenntnis Ihrer politischen Agitation ist Wolfgang Schäuble dankbar sein, dass er die Reformen das Verbreiten von Unsicherheiten. Das Credo Ihres po- mit harter Hand in Europa mit durchgezogen hat und die litischen Auftretens ist es, an latente, nicht definierbare Durchführung struktureller Verbesserungen im Umgang dumpfe Gefühle in der Bevölkerung zu appellieren. Das mit Staatsverschuldungen auf die Agenda geschrieben machen wir nicht mit. Aus diesem Grunde lehnen wir den hat. Antrag selbstverständlich ab. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich halte Ih- Herzlichen Dank. nen auch vor, dass Sie nicht zwischen den verschiede- nen TARGET-Salden unterscheiden, nämlich zwischen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- denen, die es zu unseren Gunsten vor zehn Jahren ge- ordneten der SPD) geben hat, und denen, die es jetzt gibt. Heute beruhen die TARGET-Salden darauf, dass die Europäische Zen- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: tralbank hohe Ankäufe tätigt: Waren dies einmal Ankäufe Für die Fraktion der AfD hat als Nächstes das Wort der für 85 Milliarden Euro pro Monat, sind es augenblicklich Kollege Peter Boehringer. 15 Milliarden Euro pro Monat, zu Ende dieses Jahres werden die Ankäufe der EZB auf null heruntergefahren. (Beifall bei der AfD) Das heißt, die TARGET-Salden werden sich nach Beendi- gung dieser Aufkaufpolitik wieder egalisieren. Vor zehn Jahren war der Grund die Weltfinanzmarktkrise. Damals Peter Boehringer (AfD): haben wir Deutsche großen Gewinn aus den TARGET-­ Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Salden gezogen und konnten etwa 400 Milliarden Euro deutsche TARGET-Saldo hat einen bei einem Verrech- in den heimischen sicheren Hafen nach Deutschland nungskonto völlig wesensfremden Stand von 900 Milli- zurückführen. Aufgrund der Verrechnungseinheiten der arden Euro erreicht. Das TARGET-System hat sich heute Salden haben wir also einen großen Gewinn gemacht. faktisch – ich betone: faktisch – zum größten, wenn auch unerklärten Euro-Rettungsvehikel entwickelt. Meine sehr geehrten Damen und Herren, nachdem (B) meine Redezeit hier – fast zu schnell – zu Ende geht, (Beifall bei der AfD) (D) möchte ich Ihnen sagen, dass wir unsere Politik auf ande- ren Grundlagen und nicht auf Angstmacherei aufbauen. Jede hier heute gemachte Gegenbehauptung ist widerleg- Ich erinnere an Professor Ludwig Erhard, der gesagt hat, bar . Wir werden im Ausschuss alles eins zu eins wider- 50 Prozent des wirtschaftlichen Erfolges beruhe auf Ver- legen. trauen. Aus der vertrauensvollen Politik des Wirtschaf- ( [DIE LINKE]: Erst im tens haben wir in Deutschland unendlich großen Gewinn Ausschuss? Warum nicht jetzt?) gezogen. Ein Ausdruck des Vertrauens sind zum Beispiel unse- – Im Ausschuss. – re Hermesbürgschaften. Wir übernehmen jährlich Bürg- (Niema Movassat [DIE LINKE]: Haben Sie schaften über viele Milliarden Euro. Seit Anfang der jetzt keine Ahnung und müssen erst nachle- 50er-Jahre sind dies zusammen schon 1,3 Billionen Euro. sen?) Im letzten Jahr waren es 17 Milliarden Euro an Bürg- schaften. Augenblicklich halten wir 85 Milliarden Euro Trotzdem hat sich dieses Instrument seit Jahren jeder Bürgschaftsrisiken. Obwohl das Bürgschaftsgeschäft viel demokratischen Kontrolle entzogen. TARGET war seit risikoreicher ist, entsteht daraus kein Verlust. Durch die Einführung vor 20 Jahren bislang im Bundestag noch nie Verbürgung von Geschäften und Finanzierungen machen Gegenstand. wir Jahr für Jahr Gewinne, zwar kleine, aber immerhin, weil wir auf Vertrauen setzen und nicht auf Angstmache- (Zuruf von der AfD: Skandal!) rei. Erst dieser Antrag bringt es auf die Tagesordnung. Heute, Herr Präsident, mit Ihrer Genehmigung komme ich 20 Jahre später, ist es so weit: Der Bundestag bekommt zum Schluss. mit unserem Antrag erstmals Gelegenheit, über dieses gefährliche Kontensystem wenigstens zu debattieren und über den EU-Rat auch Einfluss zu nehmen. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Ich bitte darum. (Beifall bei der AfD) Die Explosion des TARGET-Saldos begann 2007. Die Alois Karl (CDU/CSU): Bundesbank selbst hat die Öffentlichkeit damals nicht Im Gegensatz zu Ihnen sehen wir das Wirtschaften darüber informiert. Dabei war diese Risikoposition schon als eine vertrauensvolle Angelegenheit an und betreiben damals skandalös anschwellend. Es bedurfte eines schon Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5721

Peter Boehringer (A) lange emeritierten ehemaligen Bundesbankpräsidenten, TARGET2 ist ein superteures Ventil – ja, es ist nur ein (C) um Alarm zu schlagen. Symptom; das, was hier heute gesagt wurde, ist richtig – zur Verlängerung der Lebenslüge des fehlkonstruierten (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE Euro. Der Euro ist tatsächlich die Ursache; das ist richtig, GRÜNEN]: Fehlalarm!) da gebe ich Ihnen recht. Ohne den Euro müsste es keine Professor Schlesinger war 2010 der Erste, der dieses steuerbesicherte Kreditvergabe ohne Fälligkeitsdatum, Thema adressiert hat. Er, Professor Sinn und dann in der ohne Tilgungsverpflichtungen und ohne Verzinsung ge- Folge wir Blogger mussten die Öffentlichkeit jahrelang ben. über dieses Risiko aufklären – (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE (Niema Movassat [DIE LINKE]: Sie sind ein GRÜNEN]: Das ist keine Kreditvergabe!) Held, ein ganz großer Held!) – Oh ja. – Internationale Geldtransaktionen würden dann gegen erbitterten Widerstand der aktiven Banker des vom privaten Interbankenmarkt ausgeführt – wie immer, Bundesbankvorstands. seit Jahrzehnten, ich könnte sogar sagen: seit Jahrhun- derten. Wie aber soll man Bankern helfen, die nicht in der Lage sind, ein Problem zu erkennen, Lieber Frank Schäffler, liebe Frau Steffen oder Herr Schick, Sie haben alle gesagt: Es gab eine Welt vor (Marianne Schieder [SPD]: Weil es keines TARGET2. Es gab sie. Es konnte auch damals internati- gibt!) onal gehandelt werden. wenn ein Verrechnungssystem zu einer für Deutschland (Marianne Schieder [SPD]: Es gab auch eine unbeherrschbaren, bald billionenschweren Kreditquelle Welt vor der AfD!) für Ausländer mutiert? Der Bundesbankvorstand bestrei- tet das TARGET-Milliardenrisiko mit dem realitätsfer- Auch der Freihandel war ohne TARGET2 möglich. Es ist nen Hinweis darauf, dass der Euro unsterblich sei. völlig absurd, hier das Gegenteil zu behaupten. (Heiterkeit des Abg. Jürgen Braun [AfD] – (Beifall bei der AfD) Fabio De Masi [DIE LINKE]: Ihr Schwach- TARGET schaltet planwirtschaftlich die angemessene sinn ist auch unsterblich!) Risikoprämie der Länder aus. Keine marktwirtschaftlich Das sage ich am heutigen Tag, an dem in Italien we- agierende Bank würde solche Kredite vergeben. gen des neuen verrückten Haushalts, den die Regierung Ich zitiere jetzt noch den Wirtschaftsrat der CDU, auf vorgestellt hat, gerade wieder Chaos am Bondmarkt (B) den Sie hören sollten: Es ist eine „demokratisch nicht le- (D) herrscht. TARGET als risikofreie Saldierungsgröße ab- gitimierte“, „erzwungene Umverteilung“ per „Goldener zutun, kommt einer Ablehnung ordentlicher Bilanzbuch- Kreditkarte“. – Ihr eigener Wirtschaftsrat sagt das. Da hat führung gleich und damit einer Leugnung der hinter den er recht. Salden stehenden ökonomischen Zusammenhänge. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD) Unser Antrag schlägt mit der Besicherung der Forde- Die AfD-Fraktion verlangt von uns allen als Vertreter rungen eine Lösung vor. Wir sind auch für andere Vor- der deutschen Steuerzahler im Parlament ein verantwor- schläge, die teilweise schon angeklungen sind, und zwar tungsvolleres Verhalten. Und nein: Es ist kein Ausweis zu Recht angeklungen sind, offen. Aber das hier ist ein ökonomischer Verantwortung, wenn man wie neulich an durchdachter Lösungsvorschlag. Vielleicht gibt es auch dieser Stelle Kollege Binding ernsthaft und trotzig sagt: andere, vielleicht sogar bessere. Wir nehmen Gold und Forderungen sind erst dann ein Problem, wenn man sie auch andere Sicherheiten an. Wir akzeptieren auch Ober- fällig stellt. grenzen. Aber das ist der im Raum stehende Vorschlag. (Heiterkeit bei Abgeordneten der AfD) Viel Erfolg in den Ausschussdebatten. Herr Binding, Sie sprechen ja gleich. Aber ja: Auch Plu- Herzlichen Dank. tonium in der Atombombe ist völlig harmlos, solange (Beifall bei der AfD) niemand den Zünder drückt. (Beifall bei der AfD) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Dieses komplette Ausblenden von Risiken, das wir heute Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Lothar schon an anderer Stelle gehört haben, ist infantile Vo- Binding. gel-Strauß-Politik. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. (Marianne Schieder [SPD]: Unsinn bleibt Dr. André Berghegger [CDU/CSU]) Unsinn!) Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Auch die SPD und andere Fraktionen – das sage ich auch in Richtung CSU – müssen endlich einmal das Zerstö- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! rungspotenzial von faulen Krediten verstehen. Sehr verehrte Damen und Herren! Bekanntlich sind viele Leute befreundet. Aber wir wissen: Beim Geld hört die (Beifall bei der AfD) Freundschaft auf. Das ist der Ansatz des heutigen Tages- 5722 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Lothar Binding (Heidelberg) (A) ordnungspunktes: Diejenigen, die Europa nicht wollen Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): (C) und auch den Euro nicht wollen – wir wissen genau, wer Nein, das erlaube ich nicht. – Wir wissen, dass es frü- Europa und den Euro nicht will –, sind die, die glauben, her ein sehr umfangreiches Zahlungssystem mit ganz Deutschland wäre für sich allein genug. vielen einzelnen Verabredungen gab. TARGET2 hat das (Frank Schäffler [FDP]: Fehlt nur noch der alles zusammengefasst. Zollstock!) Herr Boehringer hat angekündigt, alle Argumente, Diese Menschen verbreiten Panik. Panik ist immer die heute genannt worden sind, zu entkräften. Ein Ar- gut, weil sie große Unsicherheit schafft. Bei dieser gro- gument, das der Kollege Schick, der Kollege De Masi ßen Unsicherheit kann man schauen, was dabei heraus- und die Kollegin Steffen angeführt haben, ist, dass es kommt. Man hofft immer das Beste für sich. Man ver- überhaupt keine TARGET-Salden gäbe, wenn wir keine breitet Angst und Nervosität. Man hetzt die Menschen nationalen Zentralbanken hätten. Dann würde nämlich gegeneinander. Das ist schon ein gewisses Problem, das das Verrechnungssystem in der EZB selbst vorgenom- hier existiert. Man will Europa verunsichern. Deshalb re- men, und wir hätten Zahlungsvorgänge wie eh und je den wir heute über Geld. und erst einmal gar kein Problem, jedenfalls bezogen auf die TARGET-Salden. Natürlich würden Forderungen und Ich habe gelesen: TARGET-Salden machen Deutsch- Verbindlichkeiten bestehen; das ist ja wohl logisch. Aber land handlungsunfähig. – Jetzt frage ich einmal in die die TARGET-Salden wären eben kein Problem. Runde, auch die Zuschauer: TARGET-Salden gibt es Deshalb ist es viel wesentlicher, sich um die Forderun- schon immer. Sie lagen einmal bei null. Gut, da gibt es gen, Verbindlichkeiten und deren Ursachen zu kümmern; kein Problem. Aber ab 2007 wuchsen die TARGET-Sal- darüber haben wir schon viel gehört. Wir haben nämlich den stetig an. Jetzt frage ich: Hat sich an Ihrem Lebens- einen riesigen Exportüberschuss. Das heißt, Leute kau- standard seit 2007 infolge der TARGET-Salden so viel fen in Deutschland. Das bedeutet, deren Geld kommt in verändert, dass bei Ihnen Panik aufgekommen ist? Was Deutschland an. Wenn dieses Geld in Deutschland an- hat sich überhaupt verändert? Wo ist für Sie das Pro- kommt, ruht es hier nicht, sondern es wird angelegt. Wo blem? Ich muss feststellen, dass ich damit kein Problem und von wem wird es denn angelegt? Die wesentlichen habe, meine Familie nicht und meine Freunde auch nicht. Anlagevolumina aus Deutschland im Ausland werden Also: Die TARGET-Salden sind nicht das Problem. von Leuten getätigt, die hier keine Lohnempfänger sind. (Beifall bei der SPD – Zurufe von der AfD) Jetzt merken wir: Wenn wir die Verbindung zwischen Herr Boehringer hatte recht, ich habe gesagt: Forde- Exportüberschuss, zwischen Industrialisierung, zwischen (B) rungen werden erst dann ein Problem, wenn sie fällig Digitalisierung und zwischen Lohnentwicklung anpassen (D) gestellt werden. würden, dann würde die Ursache der TARGET-Salden, nämlich dieser exorbitante Exportüberschuss, bekämpft, (Dr. Alice Weidel [AfD]: Sie sind auch noch und zwar nicht nur die Wirkung. Uns geht es um Ursa- nicht fällig und trotzdem da!) chenbekämpfung und nicht nur um Wirkungsbeschrei- bungen. Ich will mal ein Beispiel nennen. Deutschland hatte seit 1919 Schulden, und zwar exorbitante Schulden. Wä- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Fabio De ren die Schulden sozusagen fällig gestellt worden, hät- Masi [DIE LINKE]) te Deutschland sofort ein gigantisches Problem gehabt. Was ist passiert? Die Schulden wurden, wie wir sagen, in Jetzt müssen wir uns überlegen, was diese Besiche- der Rückzahlung – wir sagen „Endfälligkeit“ – prolon- rung eigentlich bedeuten würde und ob sie überhaupt giert, also die Rückzahlungsfrist wurde verlängert. Die nötig ist. Frist wurde 1953 in den Londoner Verträgen verlängert. Wann haben wir diese Schulden eigentlich beglichen? Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: 2010 haben wir die letzte Schuld aus diesem Schulden- Gestatten Sie eine Zwischenfrage vom Kollegen paket beglichen. Willsch? (Abg. Dr. Harald Weyel [AfD] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Wir sehen: Wären die Forderungen eher fällig gestellt Nein, ich möchte jetzt keine Zwischenfragen. – Die worden, hätten wir ein Problem gehabt. So war das nicht EZB hat nämlich eine ganz große Besonderheit, die wir, der Fall. Wir hatten Zeit, diese Forderung zu bedienen, wenn wir ein normales Konto bei der Sparkasse eröffnen, und hatten deshalb kein Problem. So ist das, was ich ge- gar nicht im Hinterkopf haben: Die EZB ist nämlich das sagt habe, zu verstehen. Deshalb ist es sinnvoll, wenn sogenannte „lender of last resort“. Das heißt, die EZB man nicht nur zitiert, sondern die Dinge auch in den rich- ist eine absolute Vertrauensinstitution. Deshalb braucht tigen Kontext stellt. man in einem Verrechnungssystem, das über die EZB läuft, diese Art der Besicherung nicht. Das entscheidende und schlagende Argument, warum die Besicherung nicht Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: funktionieren muss, ist, dass sie über die EZB gegeben Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage von ist. Aber die Forderung nach einer Besicherung durch dem Kollegen von der AfD? Gold sollten wir genauer untersuchen. Tatsächlich wür- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5723

Lothar Binding (Heidelberg) (A) den die Goldreserven der einzelnen Länder gar nicht aus- Das ist alte Schule. Um die Folgen eines solchen Wirt- (C) reichen, um das zu besichern. schaftens zu sehen, müssen wir nicht nach Europa gehen. Ganz Südamerika hat so gewirtschaftet. Die Folge waren (Dr. Alexander Gauland [AfD]: So weit habt Tausende Staatspleiten und Währungsschnitte. Ihr es getrieben! Ihr habt kein Wasser mehr zum Löschen! So hell ist der Brand!) Kehren Sie zurück zum ehrlichen Wirtschaften! Da Sie und Ihre Partei es nicht können und nur mit dem Geld Es ist Unsinn, eine Besicherung zu fordern, die es gar anderer Leute und prolongierten, prolongierten, prolon- nicht gibt. Das bestehende System ist ganz vernünf- gierten Krediten arbeiten, lassen Sie die Leute ran, die tig. Bretton Woods war eine schöne Idee. Aber Bretton etwas davon verstehen. Schlagen Sie eine Bresche für die Woods gibt es seit 1972 nicht mehr. Wie wir sehen, ist Vernunft, für die Rückkehr zur Realwirtschaft, für das Deutschland nach 1972 nicht zusammengebrochen. ehrliche Wirtschaften. Lassen Sie uns ehrliche Makler Auch Europa ist nicht zusammengebrochen, obwohl es für Europa, für uns selbst und die ganze Welt werden und die Golddeckung nicht mehr gibt. Die Golddeckung war nicht dieses betrügerische Haustürgeschäft fortsetzen. in einer bestimmten Phase eine ganz gute Idee zur Sta- bilisierung. Aber wie wir gesehen haben, brauchen wir Danke. sie gar nicht mehr. Europa ist stabil. Deutschland ist auf einem sehr guten Pfad. Den Besicherungsideen, die Sie (Beifall bei der AfD) haben, liegt ein sehr traditionelles Bild zugrunde, und diese Ideen entsprechen überhaupt nicht mehr der heu- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: tigen Situation. Herr Kollege Binding, wollen Sie antworten? Man darf nicht vergessen: In dem in Rede stehenden System werden täglich 1,7 Billionen Euro bewegt. Da Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): merken wir, welche enorme Kraft dieses System hat, Es muss Ihnen wohl sehr wehgetan haben, dass ich ge- um die Wirtschaft in Europa zu stärken. Das TARGET2-­ sagt habe: Deutschland war auf das Ausland angewiesen System ist eine gute Institution, eine gute Idee, um für und darauf, dass es uns Zeit gibt. Übrigens gab es noch Deutschland und Europa etwas zu erreichen. Deshalb einen Effekt ähnlicher Art. Denken Sie an die Währungs- sind wir dafür, den Euro und Europa zu erhalten und bei- reform 1948. Auch damals gab es einen Ausgleichspos- des zu stabilisieren. ten, für den uns die anderen Länder Zeit gegeben haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Also: Seien wir großzügig mit denjenigen, die der CDU/CSU) schwach sind bzw. die Sie als schwach bezeichnen. Ich habe überhaupt kein Problem mit dem System, das wir (B) (D) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: beschreiben. Ich weiß nur, dass Deutschland schon so oft auf andere angewiesen war, dass es sich lohnt, gut Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Freund zu sein mit vielen. Kollegen Dr. Harald Weyel von der AfD-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Dr. Harald Weyel (AfD): ten der CDU/CSU – Jürgen Braun [AfD]: Herr Kollege Binding, ich glaube, dass da einiges Schwach! Das war nix!) durcheinandergeraten ist. Vielleicht hätten Sie doch den 2-Meter-Zollstock mitbringen sollen; denn Sie haben Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: jedes Maß verloren. Sie haben jede Möglichkeit zu ei- Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ner gigantischen Fehldarstellung genutzt. Die Schulden ist der Kollege Dr. Hermann-Josef Tebroke, CDU/ Deutschlands 1919, die Kriegsschulden, die weginflati- CSU-Fraktion. oniert wurden, waren das Ende der Reichsmark. Dann kam die Rentenmark. Das hat zu einer gigantischen Ver- (Beifall bei der CDU/CSU) mögensvernichtung geführt. Das haben die Deutschen aus der eigenen Tasche gezahlt. Dr. Hermann-Josef Tebroke (CDU/CSU): Nun zum Young-Plan von 1929. Die letzte Rate wurde Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und im Oktober 2010 zurückgezahlt, und er wurde auch noch Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auf- durch eine Volksabstimmung genehmigt. Das ist eine gabe der Europäischen Zentralbank und des Europäi- ganz andere Art Geschäft gewesen aufgrund des Dollar- schen Systems der Zentralbanken sind die Sicherung der kredits, der sich noch an den alten Austauschverhältnis- Preis- und Geldwertstabilität sowie die Gewährleistung sen orientierte. eines reibungslos funktionierenden Zahlungssystems im Euro-Währungsgebiet. Das ESZB handelt im Ein- Sie bezeichnen uns als Feinde Europas. Sie sind der klang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft Feind Europas, wenn Sie Europa auf immer dünnere Bei- mit freiem Wettbewerb, so heißt es in der Satzung von ne stellen und zunehmend in der Logik eines betrügeri- EZB und ESZB, dessen anstehende Änderung des Ar- schen Haustürgeschäfts Sachen versprechen, tikels 22 der Satzung die AfD nun zum Anlass nimmt, einen Antrag vorzulegen, und zum Hebel, Änderungen (Marianne Schieder [SPD]: Unverschämt!) zu erreichen, und zwar nicht nur im TARGET2-System, die nicht eingehalten werden können, ein X für ein U sondern – so vermute ich – deutlich darüber hinaus. Über vormachen, alte Schulden mit neuen Schulden bezahlen. die Wirkweise des TARGET2 ist genügend vorgetragen 5724 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Dr. Hermann-Josef Tebroke (A) worden. Auch ist im Antrag bereits darauf hingewiesen Unter meines Erachtens weitreichenden und zum Teil (C) und von Herrn Kollege Berghegger noch einmal betont diffamierenden Annahmen entwickelt nun der Antrag- worden: Die Salden im TARGET2-System laufen deut- steller – besser: er deutet an – Szenarien, aus denen sich lich auseinander. Das verdient eine genauere Betrach- für die Bundesrepublik ein erhebliches, ein untragbares tung. Der deutlich angestiegene positive Saldo der Bun- Ausfallrisiko ergibt. Am Ende werde der Schaden – so desrepublik liegt bei rund plus 900 Milliarden Euro. Aber heißt es – unüberschaubar. Das System breche zusam- auch die Salden etwa Spaniens mit minus 400 Milliarden men, und der deutsche Steuerzahler werde „die Zeche für Euro und Italiens mit minus 500 Milliarden Euro müssen die Rettung der Banken in den Euro-Südstaaten zahlen“. genauer betrachtet werden. Hier geht es offensichtlich nicht mehr nur um die sachli- che Diskussion des Phänomens und möglicher Ursachen, Wie kommt es zu dieser Entwicklung? Welche Grün- sondern um das Schüren von Angst, vielleicht sogar Pa- de werden in diesem Zusammenhang genannt? Da sind nik. Aber das sind schlechte Berater. zum einen das anhaltende Leistungsbilanzungleichge- wicht zwischen den Akteuren. Da ist zum Zweiten die Der Antragsteller schlägt nun erstens vor, den Saldo Verlagerung grenzüberschreitender Zahlungen aus dem umgehend zurückzufahren – das auch zuletzt im Antrag Interbankengeschäft auf das TARGET2-System. Da gibt vom 6. Juni – und sich dafür einzusetzen, dass Zentral- es drittens das wachsende Interesse an Geldanlagen in banken mit negativen Salden – also Verbindlichkeiten – Deutschland, Stichwort „sicherer Hafen“. Meine Damen Sicherheiten weiterleiten. Um dieser Forderung Nach- und Herren, insofern ist der Befund weitgehend unstrit- druck zu verleihen, fordert die AfD die Bundesregierung tig. Strittig sind allerdings die Bewertungen und vor al- auf, ihre Zustimmung zur anstehenden Neufassung des lem auch die Schlussfolgerungen, die aus diesem Befund Artikels 22, der etwas ganz anderes zum Gegenstand hat, gezogen werden. zu verweigern. Zum Ersten. TARGET2 funktioniert. Insgesamt glei- Kann das eigentlich gewollt sein? Nur in Kürze: Sal- chen sich die Salden zu null aus. Geldpolitisch kommt denbeschränkungen in einem solchen System des Zah- es also zu keiner neuen Geldschöpfung. Für das Funkti- lungsverkehrs belasten realwirtschaftliche Lieferungs- onieren des TARGET2 sind Höhe und Unterschiede der und Leistungsbeziehungen. Dabei haben wir doch ein Salden zunächst auch gar nicht wichtig. Begrenzungen großes Interesse daran, Leistungsbeziehungen von Frik- sind sogar schädlich; denn indem das System atmen kann tionen des Finanzmarkts möglichst loszulösen. und flexibel ist, gibt es keinen Anreiz zu Spekulationen gegen Engpässe und auch nicht gegen einzelne Länder, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und wie das in Systemen fester Wechselkurse immer wieder der SPD) beobachtet wird oder beobachtet werden muss. Es funkti- (B) Also werden solche Beziehungen möglicherweise sogar (D) oniert offenbar so gut, dass es immer mehr genutzt wird. abgewürgt. Es entsteht das Risiko von Spekulationen ge- Problematisch sind möglicherweise die Gründe für diese gen den Engpass. Nein, das kann nicht gewollt sein. zunehmende Attraktivität. Da sollten wir genauer hin- schauen. Zweitens. Wenn die abnehmende Bonität der Sicher- heiten beklagt wird, wird es auch keinen Sinn machen, Die Kollegen Schick und De Masi sowie die Kollegin wie eben auch Herr Schick schon ausführte, diese Sicher- Steffen haben deutlich gemacht, dass das TARGET2-­ heiten einfach nur über die EZB an die im vorliegenden System ein wichtiger Beitrag zu wirtschaftlicher Zusam- Fall fordernde Deutsche Bundesbank weiterzuleiten. Im menarbeit, Prosperität und Integration in Europa ist. Eine Übrigen wäre das so – jetzt nehme ich als Beispiel eine solche positive Bewertung findet sich im vorliegenden Volksbank –, als würde einem Sparer bei einer Volksbank Antrag nicht. Das verwundert vielleicht auch gar nicht. die Hypothek seines Nachbarn, der bei der gleichen Bank Zum Zweiten. Zur Interpretation der Salden möchte einen Kredit aufgenommen hat, weitergereicht. ich nur eine kurze Bemerkung machen. Die AfD sieht Drittens. Wenn das Vertrauen in die Banken beein- die positiven Salden als Forderung der Notenbanken trächtigt ist, dann muss es darum gehen, das Vertrauen gegenüber der EZB und negative Salden entsprechend wieder zu begründen. Das sollten wir – das tun wir auch – als Verbindlichkeiten. So haben „die TARGET-Salden an anderer Stelle diskutieren, wenn es um die Quote der der Bundesbank einen eindeutigen Forderungscharak- Non-performing Loans geht und auch um die Bewertung ter“. Diese Einordnung ist zumindest umstritten. Man von Staatsanleihen in den Bilanzen dieser Banken, die sollte auch zur Kenntnis nehmen, dass die umfangrei- nach und nach an Vertrauen verlieren. che wissenschaftliche Diskussion durchaus gute Gründe aufweist, die Salden als einfache Rechengrößen zu be- (Beifall des Abg. Sepp Müller [CDU/CSU]) trachten. Hierauf findet sich übrigens im Antrag der AfD Viertens. Entscheidend ist für mich an dieser Stelle, gar kein Hinweis. dass ein hier gut funktionierendes System, ein Instru- (Beifall bei der CDU/CSU) mentarium der Geldpolitik, unzulässigerweise und ohne Aussicht auf den entsprechenden Erfolg bei der Bewäl- Zum Dritten. Was folgt denn nun aus dem Befund? tigung der Ursachen für den Saldenanstieg missbraucht Wenn man der Einschätzung des Antragstellers gleich- wird und seine Wirksamkeit einbüßt. wohl folgt, dann stellen sich natürlich Fragen danach, wer hier etwa kreditiert unter welchen Bedingungen und Und fünftens. Meine Damen und Herren, auch mit zu welchen Konditionen und auch, ob sich Risiken erge- der Drohung, der Änderung des Artikels 22 der Satzung ben, ob sie relevant sind und wie damit umzugehen ist. nicht zuzustimmen, erweisen wir dem System einen Bä- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5725

Dr. Hermann-Josef Tebroke (A) rendienst, weil der Artikel 22 und seine Änderung ge- dass die Redezeit eingehalten wird; denn sonst sitzen wir (C) rade darauf abzielen, das System insgesamt stabiler zu heute Abend noch nach 18 Uhr hier, was keiner von uns machen. Aber vielleicht geht es dem Antragsteller auch will. gar nicht darum, das System zu verbessern. Mit diesen doch, finde ich, beherzenswerten Worten Wenn man vor diesem Hintergrund – ich komme zum schließe ich die Aussprache. Schluss, meine Damen und Herren – auch die Dramatur- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf gie im Aufbau des Antrags und die Wortwahl betrachtet, Drucksache 19/4544 an die in der Tagesordnung aufge- dann, vorsichtig formuliert, könnte mindestens der star- führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein- ke Eindruck entstehen, dass der Antragsteller den Schutz verstanden, wie ich sehe. Das ist der Fall. Damit ist die des Vermögens der Bundesbank eher nur vorschiebt, dass Überweisung so beschlossen. er gar kein Interesse hat an einer Stabilisierung und er- folgreichen Zukunft von TARGET2 der Europäischen Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 b auf: Zentralbank sowie des Systems der Zentralbank, dass er kein Interesse hat an einem gemeinsamen Euro – das a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- ist gerade auch in der Debatte noch mal sehr deutlich gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiter- geworden – und damit auch kein Interesse hat an einer entwicklung des Teilzeitrechts – Einführung erfolgreichen wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Ko- einer Brückenteilzeit operation in Europa zum Nutzen der Bürgerinnen und Drucksache 19/3452 Bürger. Überweisungsvorschlag: (Beifall des Abg. Lothar Binding [Heidel- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend berg] [SPD]) Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und ­Kommunen Vizepräsident Wolfgang Kubicki: b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Susanne Kommen Sie jetzt bitte wirklich zum Schluss, Herr Ferschl, Matthias W. Birkwald, Fabio De Masi, Kollege. weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE (CDU/CSU): Dr. Hermann-Josef Tebroke Rückkehrrecht in Vollzeit für alle Beschäftig- Herr Präsident, ich schließe. ten Drucksache 19/4525 (B) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (D) Ja, das machen Sie bitte gleich. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Dr. Hermann-Josef Tebroke (CDU/CSU): Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Was wir wollen – darum können wir nicht einver- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für standen sein –: Wir wollen TARGET2 sichern und ge- die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre hierzu gebenenfalls nötiges Vertrauen stärken. Wir wollen die keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Risiken rational analysieren und sie auch entsprechend managen. Wir möchten die Gründe für dauerhafte struk- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst turelle Leistungsbilanzunterschiede und für Vertrau- für die Bundesregierung Herr Bundesminister Hubertus ensverluste bei den Banken nicht mit geldpolitischen Heil. Instrumenten, – (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Herr Kollege, bitte jetzt! Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Sozi- ales: Dr. Hermann-Josef Tebroke (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- – sondern mit geeigneten Mitteln innerhalb der jewei- nen und Kollegen! Wir reden heute über die Rechte von ligen Zuständigkeit regeln. Darum lehnen wir – meine Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, über die Brü- Damen und Herren, das können Sie nachvollziehen – den ckenteilzeit. Aber lassen Sie mich aus aktuellem Anlass Antrag ab. eine kurze Bemerkung machen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Ich war heute Morgen in Schönefeld bei den streiken- den Arbeitern von Ryanair. Es ist nicht üblich, dass sich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Politik und Staat oder auch die Bundesregierung in Tarif­ ordneten der SPD) auseinandersetzungen einschalten. Aber ich muss Ihnen sagen: Nach dem, was ich da heute erlebt habe, ist es Vizepräsident Wolfgang Kubicki: wichtig, dass wir in diesem Haus – es waren Vertreter der Sie haben, Herr Kollege Tebroke, meine Geduld bis CDU, der Grünen, der Linken, auch der SPD dankens- an die Grenze strapaziert, weil Sie mehr als eine Minu- werterweise da – eines deutlich machen: Wenn Arbeit- te überzogen haben. Ich bitte wirklich, darauf zu achten, nehmerinnen und Arbeitnehmer nach Artikel 9 unseres 5726 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Bundesminister Hubertus Heil (A) Grundgesetzes ihr verbrieftes Recht auf Koalitionsfrei- Teilzeit und damit Brücken in eine Teilzeitphase und (C) heit in Anspruch nehmen, wenn sie auch streiken, dann Brücken zurück in die vorherige Arbeitszeit. Diese Brü- ist das ein gutes Recht. Was ich heute erlebt habe, ist, ckenteilzeit funktioniert also in zwei Richtungen: wenn dass eine Unternehmensleitung versucht hat, streikende man in Teilzeit gehen will, aber auch, wenn man aus Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu bedrohen und der Teilzeit wieder herauswill. Wir bauen diese Brücken zu drangsalieren. Deshalb will ich an dieser Stelle im für einen bestimmten Zeitraum. Es gibt einen Rechtsan- Parlament, hoffentlich mit Ihrem Einverständnis, eines spruch, die Arbeitszeit für ein bis fünf Jahre zu verkür- deutlich sagen: Deutschland ist keine Bananenrepublik. zen, ohne das übrigens besonders begründen zu müssen, Wir sind ein sozialer Rechtsstaat. Wer Globalisierung zur um anschließend geplant in Vollzeit zurückzukehren. Ausbeutung missbraucht, wie das bei Ryanair der Fall ist, muss unseren entschiedenen Widerstand erfahren, meine Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir stärken sehr geehrten Damen und Herren. vor allen Dingen auch das Recht derjenigen, die jetzt Teilzeit als Falle erleben, aus der Teilzeitfalle herauszu- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der kommen. LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN – [FDP], an die CDU/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten CSU gewandt: Wenn er sich für die Strei- der CDU/CSU) kenden eingesetzt hätte, dann hätte ich ge- Es ist bisher schon so, dass Beschäftigte, die in Teilzeit klatscht!) sind, einen vorrangigen Anspruch haben, berücksichtigt Tagesaktuell ist heute zum Zweiten der Tag der Ar- zu werden, wenn sie den Wunsch haben, zur Vollzeit zu- beitslosenzahlen. „5 Prozent“ ist heute die Meldung aus rückzukehren. Das ist im Teilzeit- und Befristungsrecht Nürnberg, der höchste Stand sozialversicherungspflich- so vorgesehen. Aber bis dato ist es so, dass die Darle- tiger Beschäftigung seit der Wiederherstellung der deut- gungspflicht, warum das möglich ist, im Wesentlichen schen Einheit – eine Leistung, auf die wir in Deutschland bei den Beschäftigten selbst liegt. gemeinsam stolz sein können. Der entscheidende Schritt, den wir mit diesem Gesetz (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) machen, ist, dass wir bei der Darlegungspflicht sagen: Das Unternehmen, das den Anspruch verweigern will – Aber gleichzeitig wünschen sich Millionen von Men- es muss ihn aus bestimmten Gründen verweigern kön- schen mehr berufliche Flexibilität für unterschiedliche nen –, muss darlegen, warum es das nicht erlaubt. Wenn Lebensphasen. Ich meine Menschen, die beispielsweise ein Mittelständler – das ist nachvollziehbar – keinen ihre Arbeitszeit ein bisschen reduzieren wollen, weil sie freien Arbeitsplatz hat oder wenn die Qualifikation nicht (B) ein ehrenamtliches Projekt für die Gemeinschaft machen passt oder die unternehmerische Existenz gefährdet wird, (D) wollen, weil sie die Nachbarschaft oder die Gemeinde dann muss es natürlich das Recht geben, diesen Rechts- oder den Sportverein unterstützen wollen. Ich meine anspruch zu verwehren. Aber, meine sehr geehrten Da- Menschen, die aus ganz privaten Gründen gefordert sind, men und Herren, das muss zukünftig aus guten Gründen weil sie beispielsweise einen Trauerfall in der Familie zu der Arbeitgeber darlegen, und der Gesetzgeber will und verarbeiten haben oder eine Scheidung. Ich meine Men- sollte sich bewusst dafür entscheiden, den Beschäftigten schen, die ihr Haus renovieren müssen oder deren Kind an dieser Stelle den Rücken zu stärken. gerade in einer schwierigen Lebensphase steckt. Es gibt also sehr unterschiedliche Situationen, in denen Men- (Beifall bei der SPD) schen das Bedürfnis haben, in einer Lebensphase ihre Die Brückenteilzeit ist damit gleichzeitig ein Beitrag Arbeitszeit flexibel zu gestalten. zur Gleichstellung der Geschlechter in Deutschland und Alle diese Menschen, die ich genannt habe, stehen zur Vermeidung von Altersarmut. Überwiegend sind es stellvertretend für 1 Million Menschen in diesem Land, Frauen, die in Deutschland teilzeitbeschäftigt sind. Acht die aus sehr individuellen Gründen zeitlich begrenzt ihre von zehn Teilzeitbeschäftigten in Deutschland, also Arbeitszeit reduzieren wollen. Sie brauchen diese Zeit, 80 Prozent, sind Frauen. Oder umgekehrt: Die Hälfte der meine Damen und Herren, und zwar, ohne dass sie zu- abhängig beschäftigten Frauen in Deutschland, ungefähr künftig langfristig berufliche Nachteile erleiden. Teilzeit 47 Prozent, arbeitet in Teilzeit. darf nicht zur Falle werden, zur Sackgasse ohne Rück- Viele dieser Frauen würden nach einer bestimmten weg in ein Vollzeitberufsleben. Deshalb sage ich an die- Zeit gern wieder mehr arbeiten – mit Blick auf ihre be- ser Stelle: Dieses Gesetz hilft, dass die Arbeit zum Leben rufliche Entwicklung, auch mit Blick auf ihre Altersver- passt und nicht umgekehrt. sorgung. Dieser Zusammenhang liegt auf der Hand. Wer (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sein Leben lang Teilzeit gearbeitet hat – und das mögli- der CDU/CSU) cherweise noch zu schlechten Löhnen –, wird im Alter keine höheren Anwartschaften haben als die Grundsiche- Es gibt heute schon das Recht, aus bestimmten Grün- rung. Deshalb sage ich: Die Brückenteilzeit ist ein Instru- den die Arbeitszeit zu reduzieren: aus Gründen der Kin- ment, um Altersarmut in Deutschland zu vermeiden, und dererziehung, der Pflege von Angehörigen. Es gibt be- das ist auch gut so. reits seit 2001 das Recht auf Teilzeit. Aber was wir jetzt schaffen – das entspricht der Lebenswirklichkeit vieler (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Menschen in Deutschland und einem modernen Arbeits- der CDU/CSU – Norbert Kleinwächter [AfD]: markt –, ist ein Rechtsanspruch auf zeitlich begrenzte Wie naiv ist das denn?) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5727

Bundesminister Hubertus Heil (A) Aber ich sage auch: Die Brückenteilzeit hilft Unter- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (C) nehmen in Deutschland, weil sie Planungssicherheit Vielen Dank, Herr Minister. – Als nächster Redner hat schafft. Mit Blick auf die notwendige Fachkräftesiche- der Kollege Jürgen Pohl, AfD-Fraktion, das Wort. rung in Deutschland hilft sie nicht nur, die Attraktivi- tät von Unternehmen zu steigern, weil sie flexible Ar- (Beifall bei der AfD) beitszeiten, die zu Lebensphasen passen, ermöglichen, sondern auch, weil wir mit der Rückkehr in Vollzeit die Jürgen Pohl (AfD): Chance haben, das Arbeitszeitvolumen von qualifizierten Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr beschäftigten Männern und Frauen in Deutschland für Präsident! Sehr geehrter Herr Minister! Werte Genossen die Fachkräftesicherung zu nutzen. von der SPD! Deshalb sage ich: Wir haben lange gekämpft für die- (Kai Whittaker [CDU/CSU]: Sind Sie auch ei- ses Gesetz. Wir haben lange gerungen, auch in der letz- ner? – Gegenruf der Abg. Marianne Schieder ten Legislaturperiode zwischen den damaligen Koaliti- [SPD]: Nein, wir nehmen nicht jeden!) onspartnern, die die heutigen sind. Ich bin froh, dass es Der Minister hat groß herausgestellt, wie dieses Gesetz in der Regierung nach intensiven Debatten, auch nach die Frauen und Mütter dieses Landes entlasten soll, wie intensiven Gesprächen mit den Sozialpartnern, gelungen die Rechte dieser Mütter und Frauen gewahrt werden sol- ist, diesen Gesetzentwurf heute in das Parlament einbrin- len. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber bei der Lektüre gen zu können. Ich gebe zu: Ich bin ein bisschen stolz; Ihres Gesetzentwurfs habe ich vergeblich nach Vorteilen es ist mein erster Gesetzentwurf, der jetzt das Parlament für die Mütter gesucht. Ganz ehrlich: Was Sie da zusam- erreicht. mengeschrieben haben, ist eine Beschäftigungsmaßnah- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten me und Spielwiese für Rechtsanwälte, Gewerkschaftsse- der CDU/CSU) kretäre und für die Arbeitsgerichte. Aber das ist nicht wichtig, weil es nicht um mich geht. (Beifall bei der AfD) Es geht um Millionen von Menschen in Deutschland, die Es ist so sinnvoll und so notwendig, dass den Arbeit- mit diesem Gesetz bessere Arbeits- und Lebensbedin- nehmern die Möglichkeit gegeben wird, eine befristete gungen bekommen. Teilzeitbeschäftigung einzugehen, die mit dem Rechtsan- spruch auf verbindliche Rückkehr verbunden ist. Darauf Ich sage es noch einmal: Herr Präsident, meine Da- warten die Mütter seit Jahren. Und weil das so ist, setzen men und Herren, wir müssen in einer modernen Arbeits- wir uns als AfD, als Volkspartei, als Partei der kleinen gesellschaft über Flexibilität reden. Es gibt in einer mo- Leute (B) dernen, vor allem digital geprägten Arbeitswelt, auch auf (D) Unternehmensseite flexible Ansprüche und das Bedürf- (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – nis nach neuen Arbeitsformen, die auch entstehen. Der Dr. Alexander Gauland [AfD], an BÜND- Ruf nach Flexibilität kommt aus vielen Unternehmen, er NIS 90/DIE GRÜNEN gewandt: Sie haben kommt auch aus vielen Wirtschaftsverbänden, aber wenn am wenigsten zu lachen da drüben!) wir über Flexibilität reden, dann müssen wir eben auch für dieses Thema konsequent ein. – Wir gehen ins Detail, über die Flexibilitäts- und Sicherheitsbedürfnisse von dann lachen Sie weiter. Beschäftigten in Deutschland sprechen. Dafür leistet die- ses neue Gesetz, die Brückenteilzeit, einen wesentlichen (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Genau! – Beitrag. Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) Zusammenfassend möchte ich feststellen: Dieser Gesetzentwurf entspricht der Lebenswirklichkeit von Über 5,1 Millionen Mütter sind in Deutschland teil- Millionen von Menschen in Deutschland. Wir stärken zeitbeschäftigt. den Rücken derjenigen, die von Teilzeit in Vollzeit zu- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE rückkehren wollen. Er hilft zur Vermeidung von Al- GRÜNEN]: Frauen!) tersarmut. Er schafft die Chance, nach einer Weile in Teilzeit tatsächlich wieder Vollzeit arbeiten zu können. Diese Zahl zeigt den enormen Bedarf einer solchen Re- Der Gesetzentwurf schafft gleichzeitig einen Beitrag zur gelung. Von diesen 5,1 Millionen Frauen sind über 3 Mil- Fachkräftesicherung. Er schafft Planungssicherheit für lionen in Betrieben mit weniger als 50 Beschäftigten tä- Unternehmen. Kleine und mittelständische Unternehmen tig. Das heißt: Zwei Drittel dieser Frauen fallen gar nicht werden bewusst nicht überfordert; darüber haben wir ge- unter diese rechtliche Regelung. sprochen, und dafür haben wir gesorgt. (Zuruf von der SPD) Deshalb, meine Damen und Herren, bitte ich Sie in – Das wussten Sie? Warum lachen Sie? den parlamentarischen Beratungen um einen konstrukti- ven Dialog, damit ab 1. Januar 2019 die Brückenteilzeit (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: in Deutschland von den Beschäftigten genutzt werden Nein, das stimmt nicht! Die sind schon in Teil- kann. zeit! Dann können sie auch nicht zurückkeh- ren!) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Die meisten jungen Mütter werden von dieser Rege- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) lung also gar nichts haben. Bei den Arbeitgebern, die 5728 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Jürgen Pohl (A) zwischen 45 und 200 Beschäftigte haben, kann nur je- Danke schön. (C) der Fünfzehnte – also bei den kleinen Betrieben nur drei Frauen – diese Regelung in Anspruch nehmen, falls man (Beifall bei der AfD) ihnen diese Regelung nicht verwehrt, zum Beispiel aus dringenden betrieblichen Gründen. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Liebe Genossinnen und Genossen aus der Regie- Als nächster Redner hat der Kollege Wilfried Oellers rungsfraktion, echte Sozialpolitik geht anders. Aber die- für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. sen Anspruch haben Sie aufgegeben; spätestens seit den (Beifall bei der CDU/CSU) Hartz-Gesetzen ist das so. Seitdem kommen die Wähler lieber zu uns, zur AfD, statt zu Ihnen. Wilfried Oellers (CDU/CSU): (Beifall bei der AfD – Steffi Lemke [BÜND- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wählerinnen vor Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen allem! Die lachen laut! – Dr. und Herren! Wir beraten heute den Gesetzentwurf zur [DIE LINKE]: Wir sind hier nicht in der Ost- Brückenteilzeit. Mit diesem Gesetzentwurf wird ein Be- zone, wo jeder Genosse ist!) standteil unseres Regierungsprogramms aus dem letzten Ihr Gesetzentwurf sieht vor, dass der Arbeitnehmer Bundestagswahlkampf, der Einzug in den Koalitionsver- die gewünschte Verteilung der Arbeitszeit zusammen mit trag gefunden hat, umgesetzt. seinem Teilzeitwunsch angibt. Neben der Einführung der Brückenteilzeit sei der (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wir sind Vollständigkeit halber erwähnt, dass dieser Entwurf auch hier nicht in der Ostzone!) Änderungen bei den Themen „Arbeit auf Abruf“ und „Verlängerung der Arbeitszeit“ nach der bisherigen Mög- – Oh Gott! Pöbeln Sie doch weiter. Sie sehen Ihre Wahl- lichkeit, die Arbeitszeit zu verringern, beinhaltet. ergebnisse, Ihre Umfrageergebnisse. Machen Sie doch mit. Wissen Sie, ich habe diese Woche zwei Bewerbun- Die Menschen haben heutzutage den Wunsch, ihre gen zum Wahlhelfer der Woche für die AfD. Arbeitszeit flexibler zu gestalten, um privates, familiä- res Leben mit dem Arbeitsleben besser vereinbaren zu (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Haben können. Es gibt Menschen, die ihre Arbeitszeit dafür re- Sie? Ist ja super!) duzieren wollen, es gibt aber auch andere, die gerade ihre Einmal den Kollegen Schulz, einmal den Kollegen Arbeitszeit wieder erhöhen wollen. Zu diesem Ergebnis Kahrs. Wenn Sie auch einer werden wollen, dann werden kommt auch jüngst eine veröffentlichte Studie des Deut- (B) wir Sie in die Straße der Besten aufnehmen. schen Instituts für Wirtschaftsforschung. Dieser Gesetz- (D) entwurf kommt den Wünschen der Menschen entgegen. (Beifall bei der AfD – Lachen des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE] – Kai Herr Minister Heil hat bereits die Rahmenbedingun- Whittaker [CDU/CSU]: Ganz seltsame Rea- gen für Brückenteilzeit erwähnt. Ich darf mich diesen lität!) Äußerungen anschließen, vor allen Dingen den positiven Effekten, die er damit in Verbindung bringt; dem stimme Wir kommen zurück. Auch für die Arbeitgeber ist es ich unbestritten zu. dramatisch eingreifend, was der Gesetzentwurf für sie vorsieht. Erstens. Ein Wust an Bürokratie. Zweitens. Ich möchte nur eine Sache betonen – das ist mir im Unternehmerische Entscheidungsfreiheit gibt es nicht Rahmen der Befristungsthematik und der Diskussion da- mehr. Drittens. Eine sinnvolle Personalplanung wird ad rüber besonders wichtig –: Jeder, der heute diesem Ge- absurdum geführt. Sie müssen überlegen: Die Besetzung setz im Grundsatz – ich sage nicht: in allen Einzelausfüh- einer Personalstelle dauert heutzutage sechs Monate. Sie rungen – Positives abgewinnen kann, der muss natürlich haben jetzt eine Ankündigungsfrist von drei Monaten auch die Konsequenz berücksichtigen. Ich schiebe noch vorgesehen. Wie das funktionieren soll, weiß ich noch mal vorweg, dass ich die Brückenteilzeit als Flexibili- nicht. sierungsinstrument für die Arbeitnehmerinnen und Ar- beitnehmer ausdrücklich begrüße. Aber die Folge wird Zum Letzten, meine Damen und Herren von der SPD. sein, dass man im optimalen Fall aus einem unbefriste- Arbeit auf Abruf ist moderne Sklaverei und nur in eini- ten Vollzeitarbeitsverhältnis mindestens ein befristetes gen wenigen Branchen, wie zum Beispiel in der Gastro- Teilzeitarbeitsverhältnis macht, durch die Ergänzung der nomie, notwendig und akzeptiert. Das heißt: Wenn einige ausfallenden Arbeitszeit durch die Inanspruchnahme der kleine Branchen Arbeit auf Abruf benötigen, dann ist dies Brückenteilzeit eigentlich sogar zwei befristete Teilzeit- ein Regelungsbedarf für Branchentarifverträge. Dass die arbeitsverhältnisse. SPD sich hergibt, eine derartige Ausbeutung von Arbeit- nehmern in Gesetzesform zu gießen, ist meines Erach- Warum? Arbeitnehmer A möchte gerne seine Arbeits- tens der Gipfel an Unverfrorenheit für eine soziale Partei. zeit reduzieren, er ist unbefristet beschäftigt, arbeitet 100 Prozent, also Vollzeit, und möchte jetzt herunterge- ( [SPD]: Nein! Das ist der Gipfel hen auf beispielsweise 50 Prozent. Diese ausgefallene der Unkenntnis!) Arbeitszeit muss natürlich ausgeglichen werden. Dafür Und noch mal: Wenn Sie sich fragen, warum Ihnen die muss der Arbeitgeber einen anderen Arbeitnehmer – wie- Wähler weglaufen, dann lesen Sie Ihren eigenen Gesetz- derum befristet – in Teilzeit, 50 Prozent, einstellen, der entwurf durch. diese ausfallende Tätigkeit aufnimmt. Auf dem derzei- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5729

Wilfried Oellers (A) tigen Arbeitsmarkt wird es schon eine Herausforderung Herzlichen Dank. (C) sein, eine Person zu finden, die einem solchen Angebot zustimmt. Worauf möchte ich hinaus? Wir machen aus (Beifall bei der CDU/CSU) einem Vollzeitarbeitsverhältnis zwei befristete Teilzeitar- beitsverhältnisse, und das wird die Statistik, die bei der Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Befristungsthematik immer zur Diskussion steht, verän- Vielen Dank, Herr Kollege Oellers. – Als Nächster für dern. die Freien Demokraten der Kollege Till Mansmann. Bisher wird das Instrument der befristeten Teilzeit ja (Beifall bei der FDP) an den Pranger gestellt und gesagt, es sei ein schlechtes Instrument – Till Mansmann (FDP): (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen GRÜNEN]: Es soll ja nicht sachgrundlos be- und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Heil! Ein Ge- fristet werden!) setzentwurf gibt immer einen interessanten Blick darauf, wie sein Autor die Realität betrachtet. So ist es auch hier: natürlich habe ich auch lieber 100 Prozent Vollzeitbe- Ihr Gesetzentwurf für die Brückenteilzeit zeigt nicht viel schäftigte –, aber das wird es in Zukunft immer häufi- Verständnis für die Realität in den Betrieben in Deutsch- ger geben. Deswegen bin ich der Auffassung, dass es im land. Rahmen der Brückenteilzeit außerordentlich wichtig ist, (Lachen bei Abgeordneten der SPD) sehr geehrter Herr Minister, dass diese Dinge statistisch separat erfasst werden, damit wir in keine Schieflage in Dieser Entwurf der Großen Koalition geht ganz offen- der Diskussion um die Befristungsthematik insgesamt sichtlich davon aus, dass die Arbeit in Unternehmen so geraten. homogen ist, dass jeder Angestellte jeden anderen ein- fach so ersetzen kann. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Wie gesagt, das Flexibilisierungsinstrument der Brü- GRÜNEN]: So ein Quatsch!) ckenteilzeit wird ein wichtiges und wahrscheinlich auch ein sehr oft in Anspruch genommenes Flexibilisierungs- Sie unterscheiden noch nicht einmal zwischen verschie- instrument sein. In diesem Zusammenhang ist es mir denen Betriebsstätten, die ein Betrieb ja auch haben aber genauso wichtig, zu betonen: Auf der einen Seite kann. Nehmen wir den einfachen Fall eines Betriebs, der ist das ein Flexibilisierungsinstrument der Arbeitnehmer, künftig betroffen sein soll, mit knapp 50 Angestellten. (B) auf der anderen Seite muss der Arbeitgeber darauf na- Wenn 35 von ihnen in der Produktion sitzen, fünf in der (D) türlich auch entsprechend flexibel, unbürokratisch und Logistik und fünf in der Verwaltung und auch nur zwei vor allen Dingen rechtssicher reagieren können. Das Verwaltungsangestellte das Angebot, das Sie ihnen ma- ist auch ein Punkt, den das Befristungsrecht insgesamt chen wollen, nutzen, ist das Problem ein ganz anderes hergeben muss. Sosehr dem Wunsch nach Flexibilität in und sehr viel größer, als wenn zwei Mitarbeiter aus der der Arbeitszeit nachgegangen werden muss, so selbstver- viel größeren Produktionsabteilung das machen. ständlich sollte auch das Interesse des Arbeitgebers be- (Beifall bei der FDP) rücksichtigt werden, dass der Betrieb natürlich auch mit diesem Instrument weiterlaufen muss. Man könnte den sozialdemokratischen Geist, den dieses Gesetz atmet, lieber Minister Heil, einen invers Ich komme zum zweiten großen Aspekt, der dieje- mephistophelischen nennen. Sie kennen Mephisto: Der nigen betrifft, die bisher in Teilzeit sind und nach den Geist, der stets verneint, der stets das Böse will und stets bisherigen rechtlichen Möglichkeiten gerne aufstocken das Gute schafft. – Sie haben hier einen Geist, der stets wollen. Hier ist es bisher so, dass es im Rahmen der Be- bejaht, der jedem alles verspricht, der stets das Gute weislastumkehr vier Voraussetzungen gibt, von denen will – das erkennen wir ja an, dass Sie das Gute wol- zwei beim Arbeitgeber liegen. Hier sollen noch zwei len –, aber dann ein schlechtes Gesetz daraus macht. Wie weitere Voraussetzungen dazukommen; Herr Minis- der Volksmund so schön sagt: Gut gemeint ist nicht gut ter Heil hat es angesprochen. Wichtig ist mir in diesem gemacht. Zusammenhang, zu betonen, dass selbst der Nachweis des freien Arbeitsplatzes, der natürlich beim Arbeitge- (Beifall bei der FDP) ber liegt – das heißt, er muss nachweisen, dass er keinen Mit diesem Gesetz schaffen Sie sich die Probleme von freien Arbeitsplatz hat –, nicht dazu führt, dass die Or- morgen selbst. Denn wenn ein Arbeitnehmer nun ankün- ganisationshoheit des Arbeitgebers infrage gestellt wird. digt, sagen wir, in drei Monaten für drei Jahre von einer Das ist ein ganz wichtiger Punkt, der insbesondere im vollen auf eine halbe Stelle zu reduzieren, dann reagiert Kabinettsverfahren eingeführt worden ist und Einfluss in das Unternehmen natürlich auf diese Veränderung, indem die Beratungen gefunden hat. es eine Teilzeitstelle schafft. Der Kollege Oellers hat das bereits erwähnt. Wenn der Arbeitgeber die Stunden nicht Lassen Sie mich abschließend sagen: Flexibilisierung auf eine andere Teilzeitstelle verteilt, könnte er auch re- ist nötig in der Arbeitswelt, das ist überhaupt keine Fra- agieren, indem er Überstunden erzeugt. ge. Aber es muss natürlich für beide Seiten gelten: für den Arbeitnehmer und für den Arbeitgeber, um darauf (Kerstin Tack [SPD]: Wir haben einen Rechts- unbürokratisch, rechtssicher reagieren zu können. anspruch auf Teilzeit im Gesetz, schon heu- 5730 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Till Mansmann (A) te! Darum geht es gar nicht! – Dr. Martin lionen Euro jährlich geschätzt, wohlgemerkt nur den (C) Rosemann [SPD]: Vielleicht gibt es ja jemand, Aufwand, der entsteht, wenn die Anträge gestellt und be- der mehr arbeiten will!) arbeitet werden. Die Bürokratie für die Dokumentation der Arbeit – die wird nötig sein – haben Sie einfach unter Wir werden sehen, dass in ein oder zwei Jahren Ver- den Tisch fallen lassen. treter der SPD-Fraktion hier stehen und sich darüber beschweren, dass Unternehmen deutlich mehr befriste- te Stellen ausschreiben als früher oder dass immer mehr Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Überstunden entstehen. Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. (Beifall bei der FDP – Kerstin Tack [SPD]: Wir haben ein Recht auf Teilzeit im heutigen Till Mansmann (FDP): Gesetz!) Das wird der Realität in den Betrieben einfach nicht – Aber noch kein Recht auf Rückkehr. – Und dann wer- gerecht. den die Vertreter der SPD-Fraktion Gesetze ankündigen, (Beifall bei Abgeordneten der FDP) um diesen Missstand, den sie mit diesem Gesetz selbst geschaffen haben, noch weiter zu regulieren. Daher lehnt die FDP-Fraktion diesen Gesetzentwurf ab. Das tut vermutlich auch ein Teil der Fraktion der Union. (Beifall bei der FDP) Sie rufen die Geister, die Sie in ein paar Jahren hier ver- (Kerstin Tack [SPD]: Was?) treiben wollen, selbst her. Es ist eine klassische Arbeits- Aber im Gegensatz zur Unionsfraktion werden wir dem- beschaffungsmaßnahme, aber leider nur für diese und die nach dann auch nicht zustimmen. nächsten Bundesregierungen, die Betriebsjuristen und die Arbeitsgerichte. (Beifall bei der FDP – Dr. [CDU/CSU]: Das ist das Schöne an der Ver- (Kerstin Tack [SPD]: Guter Mann, da haben antwortungslosigkeit!) Sie aber ganz wenig verstanden!)

Wir von den Freien Demokraten stehen zur Tarifauto- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: nomie. Wir stehen fest hinter dem Streikrecht, geehrter Als Nächstes spricht für die Fraktion Die Linke die Minister Heil, aber eine pauschale Globalisierungskritik Kollegin Susanne Ferschl. unterstützen wir nicht. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der LINKEN) (B) (D) Die Idee der Tarifautonomie ist nicht nur eine Frage Susanne Ferschl (DIE LINKE): des Lohns, sondern auch, dass Arbeitnehmer und Ar- beitgeber gemeinsam die Erbringung der Arbeitsleistung Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolle- passend zu ihrer Branche organisieren. Das funktioniert ginnen und Kollegen! Herr Minister, wer über die Lage in Deutschland gar nicht so schlecht. Das Statistische und Dauer der Arbeitszeit bestimmt, der bestimmt über Bundesamt hat in seiner Studie zur Qualität der Arbeit die Lebenszeit der Beschäftigten. Die Bundesregierung 2017, zur sogenannten freiwilligen Teilzeit, herausge- ändert am Zugriffsrecht der Arbeitgeber auf die Lebens- funden, dass fast 90 Prozent aller Teilzeitbeschäftigten zeit der Beschäftigen so gut wie nichts. Durch den Ge- zufrieden sind mit ihrer Teilzeit, und 80 Prozent der Be- setzentwurf haben über 14 Millionen Menschen keinen triebe setzen den Wunsch nach Arbeitszeitveränderung Anspruch auf die sogenannte Brückenteilzeit, und Unter- bereits heute so schnell wie möglich um. nehmen werden weiterhin durch Arbeit auf Abruf – Dau- er, Lage und Länge der Arbeitszeit – von über 4 Milli- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) onen Beschäftigten nach eigenem Ermessen bestimmen Das Bundesministerium für Familien, Frauen, Seni- können. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Die oren und Jugend hat in seinem Unternehmensmonitor Menschen wünschen sich gute Arbeit und Arbeitszeiten, Familienfreundlichkeit schon 2013 festgestellt: Bei nur die planbar sind, und die sie selber beeinflussen können. 1,5 Prozent der Betriebe ist die Umsetzung nicht mög- (Beifall bei der LINKEN) lich. Diesen niedrigen Wert werden Sie mit Ihrem Ge- setzentwurf noch nicht einmal senken; denn auch künftig Schauen wir es uns genauer an: Die Zahl der Teil- sollen die Unternehmen solche Wünsche ja nicht umset- zeitbeschäftigten hat sich in den letzten 20 Jahren ver- zen müssen, wenn es betrieblich nicht möglich ist. Sie doppelt. Teilzeit ist nun mal eine Form der prekären Be- brummen den Betrieben ab jetzt eine fürchterliche Doku- schäftigung: Der Lohn reicht oft nicht zum Leben, die mentationsbürokratie auf. Menschen sind gezwungen, den Lohn aufzustocken, der Weg in die Altersarmut ist vorprogrammiert. (Michael Theurer [FDP]: Ja!) Gerade Frauen hängen in der Teilzeitfalle fest. Das Im Gesetzentwurf ist von dringenden Gründen die Rede, haben Sie vorher selber ausgeführt, Herr Minister. Ha- die wir bereits aus dem Teilzeitbefristungsgesetz und ben sie einmal die Arbeitszeit reduziert, haben sie keine zahllosen Arbeitsrechtsprozessen kennen. Möglichkeit oder Chance, diese wieder zu erhöhen. Sie Sie haben auch den Erfüllungsaufwand in Unterneh- haben das Problem zwar erkannt, aber Sie haben es nicht men auf zunächst 26 Millionen Euro und dann 1,81 Mil- im Sinne der Beschäftigten gelöst. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5731

Susanne Ferschl (A) Sie schaffen jetzt ein Gesetz, in dem das Rückkehr- Abruf müssen die Menschen unbezahlt zu Hause sitzen (C) recht erst für Beschäftigte in Betrieben mit mehr als und darauf warten, bis ihr Arbeitgeber anruft und sie zur 45 Mitarbeitern gilt. Beschäftigte in kleineren Betrieben Arbeit einteilt. Die Grenzen zwischen Familie, Arbeit haben Pech gehabt. Sie schließen ganze Branchen damit und Freizeit verschwimmen, und zwar im Interesse des aus, zum Beispiel den Hotel- und Gaststättenbereich, wo Arbeitgebers. zwei Drittel aller Beschäftigten in kleineren Betrieben arbeiten. Und dann schränken Sie noch mal ein: Bis zu (Wilfried Oellers [CDU/CSU]: Das ist so einer Betriebsgröße von 200 Mitarbeitern hat nur jeder nicht wahr, wie Sie das gesagt haben!) oder jede 15. Anspruch auf die Brückenteilzeit. Es gibt keine Planungssicherheit, weder beim Entgelt Diese komplizierte Regelung wirft zwei große Proble- noch bei der Arbeitszeit. Das unternehmerische Risiko me auf: wird damit auf die Beschäftigten abgewälzt. Das biss- Erstens. Können Sie mir als langjähriger Betriebsrätin chen Korrektur, das Sie da bringen, ist letztendlich nur mal erklären, wie das in der Praxis funktionieren soll? Makulatur . Wir sagen: Arbeit auf Abruf gehört abge- Wer wählt denn bei mehreren Bewerbern aus, wer den schafft. Anspruch auf Brückenteilzeit bekommt und wer nicht? Woher sollen die Beschäftigten denn wissen, ob sie jetzt (Beifall bei der LINKEN) der 15. oder 16. Bewerber sind? Wer kontrolliert eigent- lich die Einhaltung des Gesetzes, wenn in mehr als der Und wenn Arbeitgeber das für unbedingt erforderlich Hälfte dieser Betriebe kein Betriebsrat existiert? So ver- und notwendig erachten, dann sollen sie eben Rufbereit- kommt Brückenteilzeit zur Lotterie. Planungssicherheit schaft oder Bereitschaftsdienst einführen und die Flexi- sieht wirklich anders aus. bilität wenigstens entsprechend vergüten. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Wären Sie doch wenigstens so konsequent gewesen und hätten den Betriebsräten mehr Mitbestimmung und den Fazit: Mit diesem Gesetz wird die große Chance ver- Gewerkschaften ein Verbandsklagerecht eingeräumt! tan, insbesondere Frauen aus der Teilzeitfalle zu holen und Teilzeitbeschäftigten eine berufliche Entwicklung Zweitens. Sie schaffen eine Regelung, die für 96 Pro- und finanzielle Sicherheit zu bieten. Und – Herr Minister, zent aller Betriebe und somit für die Hälfte der Beschäf- ich muss Ihnen leider widersprechen –: Das Gesetz hilft tigten nichts bringt. Das Schlimmste daran ist, dass über- eben vielen Menschen nicht, die Arbeitszeiten zu bekom- wiegend Frauen betroffen sind. Sie als Bundesregierung men, die zu ihrem Leben passen. Genau das bräuchten (B) haben als Ziel im Gesetzentwurf formuliert, dass es ein wir . Wir bräuchten eine Umverteilung von Arbeit und (D) „wichtiges arbeits-, gleichstellungs-, und familienpoliti- mehr Zeitsouveränität. Deswegen fordert Die Linke ein sches Anliegen“ ist, Beschäftigten ein Rückkehrecht zu Rückkehrrecht für alle und das Verbot von Arbeit auf ermöglichen. Und dann machen Sie ein Gesetz, das für Abruf als ersten Schritt und als weiteren Schritt sichere über die Hälfte der beschäftigten Frauen und fast 70 Pro- Arbeitsverhältnisse für alle mit einer kürzeren Vollzeit zent aller erwerbstätigen Mütter nichts bringt. Manchmal bei vollem Lohnausgleich, kurz gesagt: ein neues Nor- denke ich mir echt: Vielleicht sollten Sie sich als Große malarbeitsverhältnis. Koalition besser keine Ziele mehr setzen. (Beifall bei der LINKEN – Kai Whittaker Vielen Dank! [CDU/CSU]: Manchmal denke ich, Sie soll- ten eine Fraktionsgemeinschaft mit der AfD (Beifall bei der LINKEN) gründen!) Es ist nicht das erste Mal, dass ich mich wundere, wa- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: rum die SPD dieses ganze Theater mitmacht. Sie wollten Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächste Rednerin doch eigentlich etwas ganz anderes. Blockiert hat das spricht zu uns jetzt die Kollegin Beate Müller-Gemmeke, Vorhaben in Wirklichkeit doch die Union, allen voran die Bündnis 90/Die Grünen. CSU. Sie machen Klientelpolitik für die Unternehmen, und die CSU hat ein Frauenbild, das aus dem vorigen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Jahrhundert stammt. Ich hoffe sehr, dass die bayerischen Frauen Ihnen das nicht vergessen und bei der Landtags- wahl einen entsprechenden Denkzettel verpassen. Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): (Beifall bei der LINKEN) Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Mi- Für Die Linke ist klar: Egal ob es um Erziehung von nister! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr Kindern, um die Pflege von Angehörigen oder einfach geehrte Gäste! Endlich ist sie da, die Reform des Teil- um mehr freie Zeit für das Privatleben geht: Die Mög- zeitrechts. Und ich würde Ihnen, Herr Minister, eigent- lichkeit, die Arbeitszeit vorübergehend zu reduzieren, lich sehr gerne gratulieren; denn uns Grünen ist dieses muss allen Beschäftigten offenstehen. Thema ein besonderes Anliegen. Aber was lange währt, Der Gesetzentwurf regelt dann auch noch Arbeit auf wird nicht automatisch gut. Das zeigt sich auch bei dieser Abruf – oder regelt sie eben genau nicht: Bei Arbeit auf Reform. 5732 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Beate Müller-Gemmeke (A) Was heute hier vorliegt, ist nicht mehr als ein erster Hürden. Das macht die Brückenteilzeit viel zu eng und (C) Schritt. Die Gratulation fällt also aus. zu starr.

(Dr. [SPD]: Man muss im- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mer den ersten Schritt vor dem zweiten ma- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) chen! Sonst fällt man hin!) Wer in einem Unternehmen mit bis zu 45 Beschäftig- Es ist ein Gesetz, das viel verspricht, aber wenig hält. ten arbeitet, der hat überhaupt kein Recht auf Brücken- Das ist uns Grünen einfach zu wenig. teilzeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Kerstin Tack [SPD]: Aber die Möglichkeit, Frau Kollegin!) Aber worum geht es eigentlich bei diesem Thema? Es geht in erster Linie um Frauen. Die einen wollen weniger Das ist die erste Hürde. Dabei ist die Zahl 45 völlig aus arbeiten, die anderen mehr. Es geht um die Vereinbarkeit der Luft gegriffen und willkürlich gewählt. In Unterneh- von Familie und Beruf. Es geht um Zeitsouveränität, ei- men mit 46 und bis zu 200 Beschäftigten gibt es dann genständige Existenzsicherung und um die Absicherung die sogenannte Zumutbarkeitsgrenze. Als zumutbar gilt im Alter. Das sind alles zentrale Themen, die bei einer nur eine Brückenteilzeit pro 15 Beschäftigten. Das ist die Reform im Mittelpunkt stehen müssen. zweite Hürde. Dann können die Arbeitgeberinnen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Arbeitgeber die Brückenzeit natürlich auch noch ableh- nen, und zwar ganz einfach aus betrieblichen Gründen. Mehr als 75 Prozent aller Frauen waren 2017 er- Und das ist die dritte Hürde. werbstätig. Fast die Hälfte von ihnen arbeitet in Teilzeit. Zwei Drittel aller Teilzeitbeschäftigten sind also Frauen. Erfolgversprechende Rahmenbedingungen sehen Wenn sich die Lebenslage verändert, wenn die Kinder wahrlich anders aus. Wenn Sie es mit der Brückenteilzeit beispielsweise größer geworden sind, dann wollen viele tatsächlich ernst meinen, dann müssen Sie auf doppelte Frauen wieder länger arbeiten. Das wollen sie übrigens, und dreifache Hürden verzichten. weil sie wie Männer, gleichberechtigt, am Arbeitsleben teilhaben wollen. Dann schnappt aber häufig die Teil- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zeitfalle zu – nach dem Motto: Einmal Teilzeit, immer sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Teilzeit. Das hat für die Frauen gravierende Folgen: we- Und dann ist die Brückenteilzeit auch noch zu starr niger Weiterbildung, geringere Aufstiegschancen und ein und unflexibel. Sie kann von einem Jahr bis zu fünf Jahre (B) kleineres Einkommen. Das führt häufig direkt in die Al- (D) dauern; weniger geht nicht, mehr auch nicht. Und wenn tersarmut. Damit muss endlich Schluss sein. die Brückenteilzeit einmal vereinbart wurde, sind Verän- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) derungen vom Gesetz her nicht vorgesehen. Im Voraus ist aber das Leben nicht wirklich planbar. Lebenssitua- Damit komme ich konkret zum Gesetz: Wenn es um die tionen können sich verändern. Dem wird die Brücken- Verlängerung der Arbeitszeit geht, werden die Arbeitge- teilzeit in keiner Weise gerecht. Auch das kritisieren wir; berinnen und Arbeitgeber mit dem neuen Gesetz dazu denn die Beschäftigten brauchen echte Zeitsouveränität, verpflichtet, mit den Frauen darüber zu reden. Sie müs- damit Arbeit besser ins Leben passt. sen auch Gründe darlegen, wenn sie Arbeitswünsche ab- lehnen. An dieser Stelle hätten Sie, Herr Minister, muti- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ger sein müssen; denn unter dem Motto „Schön, dass wir sowie bei Abgeordneten der LINKEN) mal darüber geredet haben“ wird sich für die Frauen, die heute schon in Teilzeit sind und länger arbeiten wollen, Sehr geehrte Regierungsfraktionen, geht es um das rein gar nichts verändern. Das kritisieren wir scharf; denn Thema Teilzeit, dann brauchen insbesondere die Frauen an dieser Stelle ist das Gesetz harmlos und schwach. eine wirkungsvolle Reform. Sie müssen gestärkt werden. Stattdessen werden mit diesem Gesetz die Arbeitgeberin- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – nen und Arbeitgeber mit Samthandschuhen angefasst und Kerstin Tack [SPD]: Das stimmt nicht! – Sven in Watte gepackt. Die Brückenteilzeit für die Beschäf- Lehmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: tigten ist viel zu eng und starr, und in der Konsequenz Zahnloser Tiger!) werden viel zu wenige davon profitieren. Für die Frauen, die schon heute in Teilzeit arbeiten und gerne ihre Ar- Neben dem Aspekt, dass Frauen länger arbeiten wol- beitszeit verlängern wollen, wird das Gesetz überhaupt len, geht es aber natürlich auch um die Beschäftigten, nichts verändern. Das ist zu wenig, das ist zu schwach. die sich beweglichere Arbeitszeiten wünschen. Damit Es ist ein Gesetz, das viel verspricht, aber nur wenig hält. meine ich Männer und Frauen. Die Lebensentwürfe der Das zeigt: Sie haben leider wieder einmal eine Chance Menschen sind unterschiedlich; auch die verschiedenen verpasst. Lebenslagen sind unterschiedlich: Pflege, Kinder, Ehren- amt, Weiterbildung. Es geht darum, dass die Beschäftig- Vielen Dank. ten kürzer und dann wieder länger arbeiten wollen. Des- halb soll es die Brückenteilzeit geben. Die Idee ist gut. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Umsetzung ist aber schlecht; denn es gibt zu viele sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5733

(A) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Ja, es ist richtig: Nicht alle Beschäftigten, nicht alle (C) Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächstes für die Frauen werden sofort von der Brückenteilzeit profitieren; SPD-Fraktion die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm. das stimmt. Kleine Unternehmen sind vorerst ausgenom- men, für Betriebe ab 45 bis 200 Mitarbeiterinnen und (Beifall bei der SPD) Mitarbeitern gibt es Einschränkungen. In Unternehmen mit über 200 Beschäftigten haben dann alle das Recht, Gabriele Hiller-Ohm (SPD): für ein bis fünf Jahre ihre Arbeitszeit zu verkürzen. Klar Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe wäre es toll, das Rückkehrrecht sofort allen Beschäftig- Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich sehr, dass wir ten zu ermöglichen, wie es die Linken fordern. Aber be- das Gesetz zur Brückenteilzeit heute auf die parlamen- denken Sie: 50 Prozent der Frauen werden dieses Recht tarische Schiene setzen. Wenn alles rundläuft, wird das erhalten. Das ist viel angesichts der derzeitigen Mehrhei- Gesetz dann schon ab 1. Januar 2019 Wirklichkeit. ten hier in diesem Haus. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Antje (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Antje Lezius [CDU/CSU]) Lezius [CDU/CSU]) Dieses Gesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Uns ist es im Gegensatz zu Ihnen auch nicht egal, lie- Meilenstein. Es wird vielen Frauen und natürlich auch be Kolleginnen und Kollegen der Linken, wie das Gesetz Männern helfen, endlich aus der Teilzeitfalle herauszu- wirken wird. Wir wollen Erfahrungen mit dem Gesetz kommen. sammeln. Eines ist doch klar: Nicht jeder kleine Hand- werksbetrieb, jedes Friseurgeschäft oder jedes Start-up (Beifall bei der SPD) kann Wünsche der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so berücksichtigen, wie es große Unternehmen können. Meine Damen und Herren, ich habe ganz persönlich erlebt, wie es ist und wie es sich anfühlt, wenn man kei- (Kai Whittaker [CDU/CSU]: So ist es!) ne gesetzlich gesicherten Ansprüche im Arbeitsleben hat. Als meine Tochter überraschend 1992 geboren wurde, Hier sollten wir auf die im Gesetz verankerte Überprü- fung der Wirksamkeit des Gesetzes vertrauen und die (Heiterkeit – Dr. Matthias Zimmer [CDU/ Ergebnisse abwarten. CSU]: Hätten wir nicht vermutet!) (Beifall der Abg. Antje Lezius [CDU/CSU]) musste ich meinen Arbeitgeber geradezu beknien, weni- ger Stunden arbeiten zu dürfen. Ein Recht auf Teilzeit Ich bin mir sicher: Gerade in Zeiten des Fachkräfteman- gab es nicht. Das wurde den Beschäftigten erst 2001 un- gels werden sich auch kleinere Betriebe Wettbewerbs- (B) ter Rot-Grün zugestanden. vorteile verschaffen, je mehr sie den Wünschen der Be- (D) schäftigten entgegenkommen. (Beifall bei der SPD – Kerstin Tack [SPD]: Genauso ist das!) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Antje Lezius [CDU/CSU]) Genauso ein Kraftakt war es dann, zwei Jahre später, wieder meinen ursprünglichen Vollzeitjob zu bekommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sorgen nicht nur Ich hatte Glück. Viele, vor allem auch alleinerziehende für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die zukünftig Frauen, haben dieses Glück nicht und bleiben in der Teil- für einen bestimmten Zeitraum in Teilzeit arbeiten möch- zeit hängen. Das ändern wir jetzt. Das ist gut, und das ist ten. Nein, wir verbessern mit diesem Gesetzentwurf auch ein ganz großer Schritt. die Situation für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die bereits heute wieder mehr arbeiten möchten, und (Beifall bei der SPD) zwar für alle ohne Einschränkung. Mit dem Gesetz verbessern wir das Leben vieler Be- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Antje schäftigter, vor allem vieler Frauen. Sie trifft es, wenn Lezius [CDU/CSU]) durch eine festzementierte Teilzeit ein Aufstieg in Füh- rungspositionen nur sehr schwer oder gar nicht möglich Zukünftig muss der Arbeitgeber nämlich beweisen, dass ist. Die verbaute Rückkehr in eine vormalige Vollzeitstel- eine Aufstockung der Arbeitszeit im Betrieb nicht mög- le ist mit ein Grund für den geringeren Lohn, den Frauen lich ist. Die Hürde für den Arbeitgeber, den Wunsch nach im Vergleich zu Männern in unserem Land bekommen. mehr Stunden abzulehnen, wird also deutlich erhöht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Kerstin Tack [SPD]: Jawohl!) Der niedrigere Verdienst durch eine dauerhaft erzwunge- Und wir greifen mit unserem Gesetzentwurf zusätzlich ne Teilzeitarbeit hat meistens katastrophale Auswirkun- ein Thema auf, das mir seit langem unter den Nägeln gen auf die Höhe der Rentenanwartschaften und damit brennt: die Arbeit auf Abruf. Auch hier werden wir mit natürlich auch auf die spätere Rente. Das, meine Damen dem Gesetz deutliche Verbesserungen für die Beschäf- und Herren, ist zutiefst ungerecht. Wir sagen: Damit muss tigten erzielen. Schluss sein. Die Brückenteilzeit ist ein großer Schritt in die richtige Richtung. Sie wird das Leben vieler Arbeit- Meine Damen und Herren, Sie sehen: Es ist ein tolles nehmerinnen und Arbeitnehmer deutlich verbessern. Gesetz. Da beißt die Maus keinen Faden ab. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) 5734 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

(A) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: beitnehmer einen Änderungsvertrag machen, der diese (C) Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin. Interessen reflektiert. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Schon Gabriele Hiller-Ohm (SPD): mal was von Machtgefälle gehört?) Ich danke allen ganz herzlich, die hieran mitgewirkt So kann man problemlos von Teilzeit in Vollzeit wech- haben. Es war wahrlich keine leichte Geburt. Bei meiner seln, schon heute. Tochter traf das zum Glück nicht zu. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das (Heiterkeit) ist doch dummes Zeug! – Niema Movassat [DIE LINKE]: Dass es ein unterschiedliches Umso schöner ist es, dass wir die Brückenteilzeit heute Machtverhältnis gibt, das ignorieren Sie völ- auf den Weg bringen. lig! – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wa- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rum gehen Sie eigentlich nicht von Vollzeit der CDU/CSU) auf Teilzeit?) Wenn das aber nicht funktioniert, dann ist das ein Hin- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: weis darauf, dass ein Interesse verletzt wird. Dann müs- Vielen Dank, Frau Kollegin Hiller-Ohm. – Ich gehe sen wir uns als Politiker hinstellen und alle Interessen davon aus, dass die Geburt Ihres Kindes doch nicht so gleichermaßen würdigen und ordentlich über die Dinge überraschend gekommen ist, wie Sie es hier dargestellt nachdenken. haben. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Sie sind (Heiterkeit – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: kein Politiker!) Manchmal ist das so, Herr Vorsitzender!) Sie aber kommen mit dem Holzhammer. – Ich habe damit keine eigenen Erfahrungen, entschuldi- (Kai Whittaker [CDU/CSU]: Ihr Kollege gen Sie das bitte. Aber normalerweise hat man mehrere wollte genau das Gegenteil von dem, was Sie Monate Zeit, sich mental darauf vorzubereiten. jetzt hier gerade sagen! Sie haben doch keinen Plan, was Sie wollen!) Als Nächstes spricht zu uns der Kollege Norbert Kleinwächter für die AfD-Fraktion. Ihr Gesetzentwurf bedeutet im Wesentlichen: Der Ar- beitnehmer kann einfach sagen – Sie können gerne zu- (Beifall bei der AfD) hören –: (B) (D) (Kai Whittaker [CDU/CSU]: Dann müssen Norbert Kleinwächter (AfD): Sie was sagen, Herr Kleinwächter!) Werter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Her- ren! Die Bundesregierung und Die Linke haben einen Ich möchte jetzt von Teilzeit auf Vollzeit gehen. Gesetzentwurf bzw. einen Antrag vorgelegt. Sie werden (Beifall bei der AfD) die Arbeitgeber deutlich stärker belasten. Sie werden den Arbeitnehmern praktisch überhaupt keinen Vorteil ver- Der Arbeitgeber hat im Wesentlichen sämtliche Nach- schaffen und die Situation in Deutschland verschlech- weispflichten. tern. Die Regierung Merkel schafft das. (Kerstin Tack [SPD]: Oh! Oh! Oh!) (Beifall bei der AfD) Er muss beweisen: Es gibt keinen entsprechenden frei- en Arbeitsplatz, die Qualifikation ist zu niedrig usw. usf. Herr Minister Heil, Sie haben in Ihrer Eingangsrede Das bedeutet: Der Arbeitgeber hat sehr viele Pflichten, davon gesprochen, dass Sie die Möglichkeit schaffen und der Arbeitnehmer – na ja, der hat einfach Bock. Aus- wollen, dass Menschen, die in Teilzeit arbeiten, wieder gewogen ist das nicht, meine Damen und Herren. in Vollzeit arbeiten können. (Beifall bei der AfD – Kerstin Tack [SPD]: (Antje Lezius [CDU/CSU]: Viele Menschen Das ist Unsinn!) profitieren davon!) Und das Schlimmste ist: Sie wagen nicht einmal eine Falls Sie vor lauter Kampf gegen rechts und Kampf ge- wirkliche Reform. Es gibt bereits Ansprüche auf be- gen die Arbeitgeber Ihre Prinzipien vergessen haben, fristete Teilzeit, zum Beispiel im Pflegezeitgesetz, im möchte ich Sie an ein Zauberwort erinnern. Familienpflegezeitgesetz, im Bundeselterngeld- und (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Arbeitge- Elternzeitgesetz, im Bundesbeamtengesetz. Sogar für ber wählen doch nicht durchgängig rechts!) Schwerbehinderte gibt es entsprechende Regelungen im SGB IX, die Teilzeit vorschreiben oder ermöglichen. Das Zauberwort in Deutschland heißt: Vertragsfreiheit. Das funktioniert so: Es gibt einen Arbeitgeber, und es (Kerstin Tack [SPD]: SGB IX! Genau! Da gibt einen Arbeitnehmer, und die machen einen Vertrag, haben richtig viele was von!) der ihren Interessen entspricht; denn sonst gäbe es die beiden Unterschriften darunter nicht. Und wenn sich die Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Interessen abändern, dann können Arbeitgeber und Ar- Herr Kollege. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5735

(A) Norbert Kleinwächter (AfD): Wenn Sie mir gerade zugehört haben: Ich habe gesagt, (C) Sie stellen dieses neue Monsterkonstrukt neben die dass wir im Wesentlichen in dem Gesetzentwurf der bestehende Gesetzeslage und schaffen damit noch mehr Bundesregierung eine Situation vorfinden, die letztend- Bürokratie, statt sie abzubauen. lich dem Arbeitnehmer ohne jeglichen Grund diese vie- len Rechte einräumt, einen Rechtsanspruch erlaubt, auch (Beifall bei der AfD – Marianne Schieder wenn die Vertragsfreiheit dies tatsächlich schon erlau- [SPD]: Sie haben doch keine Ahnung, und da- ben würde, dass aber keine sachlichen Gründe vorliegen von viel!) müssen. (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/ Vizepräsident Wolfgang Kubicki: DIE GRÜNEN]: Ohne jeglichen Grund! – Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das ist den Reihen der CDU? doch dummes Zeug! Wirres Zeug!)

Norbert Kleinwächter (AfD): Ich war gerade dabei, auszuführen, dass wir eine echte Selbstverständlich. Reform brauchen, die diese ganzen unterschiedlichen Gründe, die eine Teilzeit rechtfertigen, einmal zusam- menfassen müsste – gerne auch im Teilzeit- und Befris- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: tungsgesetz – und die insofern damit ermöglichen würde, Einen kleinen Moment. – Darf ich darauf hinweisen, in Deutschland klarzustellen: Das wollen wir. Das ist die dass es keinen Sinn macht, so viel zwischenzurufen. Ich Situation, habe keinen einzigen Zwischenruf verstanden. Das geht den Protokollanten wahrscheinlich genauso, und damit (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE verpufft die Wirkung. GRÜNEN]: Antworten Sie eigentlich noch auf die Frage?) (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Nein, das stimmt nicht! – Kerstin Tack [SPD]: Die sind so sind die Regeln bei uns, und so kann man es machen. viel schlauer!) Das wäre unser Wunsch, und diese Gelegenheit haben Sie deutlich verpasst, sehr geehrter Herr Whittaker. Herr Kollege, Sie haben das Recht zur Zwischenfrage. (Beifall bei der AfD – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frage nicht Kai Whittaker (CDU/CSU): beantwortet!) Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege (B) Kleinwächter, ich habe Ihren Kollegen Pohl vorhin so Ich finde in diesem Zusammenhang besonders lustig, (D) verstanden, dass er uns hier dafür kritisiert hat, dass wir was die Linken beantragt haben. Sie wollen sozusagen den Rechtsanspruch viel zu eng gefasst haben und er ei- ein völlig bedingungsloses Rückkehrrecht. Ich habe gentlich ausgeweitet werden müsste auf alle Frauen in spontan, als ich Ihren Antrag gelesen habe, an die Firma diesem Land. meines Onkels gedacht. Mein Onkel hat einen Heizungs- und Sanitärbetrieb. Er hat zwei Vollzeitmonteure, einen (Johann Saathoff [SPD]: Richtig!) Teilzeitmonteur, der von der Vollzeit gekommen ist, und Sie stellen sich jetzt hierhin und sagen: Es ist viel zu eine Teilzeitsekretärin. Wenn der Teilzeitmonteur jetzt ei- weitgehend. – Was um alles in der Welt wollen Sie als nen Rechtsanspruch hätte, auf Vollzeit zurückzukehren, AfD: ausweiten oder abschaffen? dann wäre mein Onkel pleite. Er könnte es nicht bezah- len. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE (Zuruf der Abg. Dr. Barbara Hendricks GRÜNEN) [SPD]) Sie müssen erst einmal Aufträge generieren; Sie müssen Norbert Kleinwächter (AfD): erst einmal Geld erwirtschaften. Arbeitsplätze wachsen Sehr geehrter Kollege Whittaker, ich danke Ihnen für nicht auf Bäumen, aber offensichtlich lernt man das nicht Ihre Disziplin, dass Sie anders als die Kollegen bei den in der sozialistischen Schule, die die Linke und die SPD Linken zum Beispiel tatsächlich Ihr Recht genutzt haben, besucht haben. hier eine Zwischenfrage zu stellen, und dass Sie nicht (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: reinrufen. Das ist schon einmal sehr löblich. Das kann er doch nur, wenn es einen Vollzeit- Ich möchte es Ihnen erklären. platz gibt! Das Gesetz lesen und die Wahrheit sprechen!) (Michael Theurer [FDP]: Da kommt der Leh- rer durch, Herr Kleinwächter! – Marianne Schieder [SPD]: Herr Lehrer, Sie sind hier Vizepräsident Wolfgang Kubicki: nicht in der Schule!) Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hendricks? Mein Kollege Pohl hat sehr viel davon gesprochen, dass wir aktuell nicht genug für die Frauen und Mütter in die- sem Land tun. Es ist keine Gruppe, die nicht definiert Norbert Kleinwächter (AfD): wäre, sondern es ist eine sehr klar definierte Gruppe. Ja, gerne nehme ich die Zwischenfrage an. 5736 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

(A) Dr. Barbara Hendricks (SPD): Deswegen appelliere ich an alle Beteiligten hier in die- (C) Sie sprechen von einem Sanitärbetrieb, der klein ist sem Haus: Machen Sie einen wirklichen Reformentwurf, und daher sowieso nicht unter die Regelung fällt. Aber (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Sie behaupten, er wäre pleite, wenn er eine Halbtagsstel- GRÜNEN]: Wir warten auf einen von der le auf eine Ganztagsstelle aufstocken müsste. Ist Ihnen AfD!) klar, dass wir im Bauhaupt- und ‑nebengewerbe in der Bundesrepublik Deutschland einen unglaublichen Auf- der das ganze Thema „Teilzeit, Befristung, Prekarität“ tragsstau haben, der gar nicht abgearbeitet werden kann, adressiert. Schaffen Sie aber kein Bürokratiemonster, das und wir um jeden Sanitärinstallateur froh wären, der zu- noch einmal gegen bestehende Regelungen gesetzt wird, sätzlich arbeitet? das die Verwirrung verstärkt, (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der (Dr. Martin Rosemann [SPD]: Der Einzige, LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der verwirrt ist, sind ja doch wohl Sie selber!) NEN – Niema Movassat [DIE LINKE]: Ihr die Arbeitgeber belastet. Onkel kann froh sein, wenn der auf Vollzeit gehen will!) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. Norbert Kleinwächter (AfD): Sehr geehrte Frau Kollegin, auch Ihnen danke ich für Norbert Kleinwächter (AfD): Ihre Disziplin. Sie tun letztendlich nichts anderes, als ihre eigene hier Ich habe mich gerade auf den Linkenantrag bezogen. bewiesene Diskursunfähigkeit auf das Verhältnis zwi- Der Linkenantrag, wie Sie wissen, unterscheidet sich schen Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu übertragen. von Ihrem Gesetzentwurf dadurch, dass die Linken ein Ich danke Ihnen. bedingungsloses Rückkehrrecht fordern. Sie haben eine Regelung, die sich auf die Unternehmensgröße bezieht, (Beifall bei der AfD) eingebaut – man muss sagen: glücklicherweise –, um die absolute Katastrophe zu verhindern. Das ist in dem Lin- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: kenantrag nicht vorhanden. Vielen Dank. – Als Nächstes für die CDU/CSU-Frak- tion die Kollegin Antje Lezius. Inwiefern sich die Auftragslage im Baugewerbe von denen in anderen Gewerben unterscheidet (Beifall bei der CDU/CSU) (B) (D) (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In der Pflege!) Antje Lezius (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Kleinwächter, eines mal zu Ihrer und inwiefern jemand froh sein müsste, dass jemand da Rede: voll arbeitet, dazu sage ich: Das ist keine arbeitsrechtli- che Diskussion, werte Kollegin. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Frau Kollegin, es wäre nett, wenn Sie das Präsidium NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber eine ökonomi- freundlicherweise begrüßen würden. sche! Sie haben keine Ahnung von Ökono- mie!) Antje Lezius (CDU/CSU): Deswegen bitte ich, heute zur Sache zurückzukehren. Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen Das tue ich nunmehr. und Herren! (Beifall bei der AfD) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Entschuldigung, ich Ich möchte bei dieser Gelegenheit überleiten zum war hier so aufgebracht. Thema Arbeit auf Abruf. Da hat die Linke mal was eini- germaßen Richtiges angesprochen. Es ist in der Tat eine Herr Kleinwächter, wir in der GroKo haben die Rech- Unverschämtheit, was wir in Deutschland zulassen. Es te der Frauen und der Mütter in der letzten Legislaturpe- gibt Arbeitnehmer, die arbeiten auf Abruf. Sie können riode gestärkt, und wir werden das in dieser Legislaturpe- jederzeit abgerufen werden, aber das gibt ihnen letztend- riode auch fortsetzen. Das können wir Ihnen versichern. lich nicht die Möglichkeit, eine weitere Stelle zu haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Insofern ist es richtig, zu fordern, dass wir bei der Ar- Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) beit auf Abruf etwas ändern und sie einschränken. Ganz abschaffen können wir sie nicht. Es gibt gewisse Bran- Nun zur Sachlage zurück. Knapp 45 Millionen Men- chen – mein Kollege Pohl hatte es ausgeführt –, die im schen in Deutschland sind erwerbstätig. Rund 15 Milli- Wesentlichen darauf angewiesen sind. Aber wir sollten onen arbeiten in Teilzeit, 7 Millionen mehr als noch vor das wirklich auf Branchentarifverträge reduzieren. Wir 20 Jahren. Flexible Arbeitszeitmodelle haben Konjunk- sollten im Wesentlichen dazu beitragen, dass Arbeit auf tur . Teilzeitarbeit wird oft schlechtgeredet. Das ist falsch. Abruf nicht mehr allgemein möglich ist. Teilzeit umfasst keineswegs nur einfache Arbeiten. Tat- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5737

Antje Lezius (A) sächlich entscheiden sich die meisten bewusst für dieses Ich sage: 62 Prozent, mehr als 23 Millionen Beschäftigte, (C) Arbeitsmodell. 87 Prozent der Frauen und 76 Prozent der profitieren davon. Männer, die es tun, gehen freiwillig einer Teilzeitbeschäf- tigung nach. Insbesondere Frauen bevorzugen flexible (Marianne Schieder [SPD]: Eben! Deswegen Teilzeitarbeit, um Familie und Beruf besser vereinbaren ist es gut!) zu können. Das habe ich in der Praxis als ehemalige Un- Warum gibt es Einschränkungen? Weil es die Aufgabe ternehmerin selbst erlebt. Es gibt eben Lebensphasen, in der Politik ist, dass das Gesamtgefüge in unserem Land denen die Arbeit nicht die oberste Priorität hat. Wichtig funktioniert. Was bringt es, wenn wir einem Kleinstbe- ist jedoch, dass Frauen auch wieder in Vollzeit zurück- trieb, zum Beispiel im Handwerk, Regeln vorschreiben, kehren können, die er kaum einhalten kann? Wem ist damit geholfen? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Oder: Wie soll ein kleines Unternehmen, das ein oder der CDU/CSU) zwei Spezialisten in seiner Belegschaft hat, die Produkti- on aufrechterhalten, wenn diesem für Jahre die Fachkräf- dass Teilzeit keinen Einbruch in der Berufsbiografie be- te fehlen? Nein, wir können die gesetzlichen Regelungen deutet und dass Teilzeit nicht zu Altersarmut führt. nicht noch weitertreiben. Damit setzen wir letztlich den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Organisations- und Planungsaufwand für kleinste und der CDU/CSU) kleinere Unternehmen so hoch, dass er nicht mehr be- werkstelligt werden kann. Tatsächlich hat bereits heute jeder Arbeitnehmer An- spruch auf eine Teilzeitstelle. Voraussetzungen sind, dass (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) er in einem Betrieb mit mehr als 15 Mitarbeitern Nein, auch die Arbeitgeber haben durchaus berechtig- (Marianne Schieder [SPD]: Oder sie!) te Interessen. Die Aufgabe von uns hier im Bundestag ist es doch, alle Aspekte von Arbeit im Auge zu haben, – oder sie – arbeitet und das Arbeitsverhältnis länger als in unserer vielschichtigen Gesellschaft für Ausgleich zu sechs Monate besteht. Das regelt heute schon das Teil- sorgen. Wir setzen den Rahmen für gute Arbeit, aber auch zeit- und Befristungsgesetz. für Wachstum und Wohlstand. Schon heute haben wir ein (Marianne Schieder [SPD]: Genau!) Rückkehrrecht nach der Pflegezeit, ein Rückkehrrecht nach der Elternzeit, ein Rückkehrrecht nach der Fami- Was bisher nicht gesetzlich garantiert ist, von Teilzeit lienpflegezeit. Das alles sind Verbesserungen, die wir in zurück in den Vollzeitjob zu wechseln, den letzten Jahren erreicht haben. Ab dem 1. Januar 2019 soll das Rückkehrrecht nach Teilzeit hinzukommen. Es (Marianne Schieder [SPD]: Richtig!) (B) wird ein Gesetz, das die Wünsche der Arbeitnehmer und (D) das wird unser Gesetzentwurf für Millionen Bürgerinnen Arbeitnehmerinnen berücksichtigt, ohne den Arbeitge- und Bürger ändern; denn die Arbeitnehmer wünschen bern das Wirtschaften unmöglich zu machen, eben ver- sich flexiblere Arbeitszeiten. 2,6 Millionen Menschen in antwortungsvoll im Sinne der Bürgerinnen und Bürger. Deutschland wollen gerne mehr arbeiten. 1,8 Millionen Erwerbstätige wollen weniger arbeiten, aber nur, wenn Danke schön. ihnen im Nachhinein wieder eine Vollzeitstelle sicher ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Das, sehr geehrte Damen und Herren, garantiert unser ordneten der SPD) Gesetzentwurf zur Einführung einer Brückenteilzeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Marianne Schieder [SPD]: Eben!) Vielen Dank, Frau Kollegin. Was sind die beiden wichtigsten Punkte der neuen Brückenteilzeit? (Antje Lezius [CDU/CSU]: Entschuldigung noch mal für den Fauxpas!) Erstens: ein Anspruch auf zeitlich begrenzte Teilzeit- arbeit mit Rückkehrrecht in Vollzeit. Er gilt für Unter- Meine Nachsicht ist grenzenlos, Frau Kollegin. – Als nehmen mit mehr als 45 Mitarbeitern, wobei die Teilzeit Nächstes für die FDP der Kollege Carl-Julius Cronenberg­ . mindestens ein Jahr und höchstens fünf Jahre betragen (Beifall bei der FDP) muss.

Zweitens: eine Darlegungspflicht gegenüber Teilzeit- Carl-Julius Cronenberg (FDP): arbeitenden, die gerne mehr arbeiten wollen. Künftig Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und muss der Arbeitgeber darlegen und gegebenenfalls be- Kollegen! Das deutsche Recht kennt bereits heute An- weisen, dass Mehrarbeit nicht möglich ist, zum Beispiel sprüche auf Teilzeit nach dem Teilzeit- und Befristungs- weil es keinen entsprechenden Arbeitsplatz gibt oder gesetz, dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz, dem weil der Teilzeitbeschäftigte für den Arbeitsplatz nicht Pflegezeitgesetz, dem Familienpflegezeitgesetz und dem qualifiziert ist. SGB IX. Herr Minister Heil, was macht Sie eigentlich Von links wird gerufen, wie ungerecht dieses Gesetz so sicher, dass Arbeits- und Sozialpolitik gerechter wird, sei. Zu viele Beschäftigte würden nicht profitieren. wenn Sie sie immer komplizierter machen? (Zuruf von der LINKEN: Genau!) (Beifall bei der FDP) 5738 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Carl-Julius Cronenberg (A) Das Gegenteil ist doch der Fall. Erst wenn Sozialpolitik tigte. Eine neue Dynamik für Deutschland entsteht so (C) so einfach ist, dass sie von allen verstanden wird, werden jedenfalls nicht. die Menschen sie auch wieder als gerecht wahrnehmen (Beifall bei der FDP) können. Dann gibt es noch diejenigen, die aus familiären Grün- (Beifall des Abg. Michael Theurer [FDP]) den mehr Zeit brauchen, um in Vollzeit zurückzukehren. Erst dann wird es etwas mit dem Zusammenhalt, den wir Es ist aber zu befürchten, dass genau diese Menschen bei alle brauchen. zukünftigen Neueinstellungen am ehesten benachteiligt werden. Das wollen Sie doch ganz sicher nicht riskieren. (Beifall bei der FDP) Das Problem, das Sie in den Blick nehmen, ist in Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Wahrheit so alt wie die Frage der Vereinbarkeit von Fa- Herr Kollege Cronenberg, kommen Sie bitte zum milie und Beruf, und genau in diesem Bereich muss es Schluss. auch gelöst werden. Kollege Mansmann hat darauf hin- gewiesen: Fast 90 Prozent der Teilzeitbeschäftigten sind Carl-Julius Cronenberg (FDP): mit ihrer Arbeitszeit zufrieden. Ihr Gesetzentwurf wiegt die Betroffenen in falscher (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Jawohl!) Sicherheit, verschärft den Fachkräftemangel und sorgt für neue Rechtsunsicherheiten. Herr Minister, Sie haben Die Bürgerinnen und Bürger sind in der Lage, sich gut eine Brücke geplant, aber eine Krücke geliefert. Lassen zu organisieren. Nicht jede Teilzeit ist eine Falle, Herr Sie dieses Gesetz weg! Minister. Gelöst werden die Probleme im Betrieb oder (Beifall bei der FDP) unter den Tarifpartnern. Vielleicht gibt es auch regiona- le Unterschiede, Frau Hiller-Ohm. Bei uns im Sauerland haben wir immer eine Lösung für junge Mütter gefunden. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Herzlichen Dank. – Als Nächstes die Kollegin Yvonne (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Kerstin Magwas, CDU/CSU-Fraktion. Tack [SPD]: Das ist ja wohl nicht zu fassen!) (Beifall bei der CDU/CSU) Die Sozialpartner wissen eben besser als Sie, Herr Minis- ter, was in ihrer jeweiligen Branche vertretbar ist. Yvonne Magwas (CDU/CSU): Nein, das wahre Problem dieser Tage ist doch längst Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (B) der Fachkräftemangel. Überall, wo Sie hinschauen, feh- Kollegen! Mit dem Gesetz, das hier im Entwurf vorliegt, (D) len Arbeitskräfte, in Industrie, Handel und Handwerk, führen wir ein Rückkehrrecht in Vollzeit nach befristeter aber eben auch in Schulen, in Krankenhäusern oder, allen Teilzeit ein. Meine Vorredner haben die konkreten Inhal- Branchen voran, in der Pflege. Herr Heil, was haben Sie te schon dargelegt. Ich möchte dies aus Sicht der Gruppe Herrn Spahn eigentlich geboten, dass er diesem Gesetz- der Frauen in der Union ergänzen. entwurf zustimmt? Oder war er gerade im Urlaub? Ja, für uns ist klar: Wir begrüßen die Einführung der Spätestens beim Thema „Zumutbarkeit für die klei- Brückenteilzeit. Sie ist ein echter Fortschritt für uns Frau- nen und mittleren Unternehmen“ fehlt es dem Entwurf en; denn – wir haben es heute öfter gehört – Teilzeitarbeit jedoch an Ausgewogenheit. Till Mansmann hat es gesagt: ist überwiegend leider noch Frauensache. Die Zahlen § 9a Absatz 2 ist, mit Verlaub, Unsinn. Nicht die Unter- wurden mehrfach genannt: Laut dem Mikrozensus 2016 nehmensgröße ist das entscheidende Maß für Zumutbar- haben 47,8 Prozent aller abhängig erwerbstätigen Frauen keit, sondern die Größe der betroffenen Abteilung. Und, eine Teilzeitbeschäftigung. Ihnen wird es zukünftig er- Herr Heil, es gibt natürlich keine Pflicht zur Rückkehr in heblich erleichtert, nach einer Phase der Kindererziehung Vollzeit. oder auch nach der Phase der Pflege von Angehörigen, in der sie ihre Arbeitszeit verkürzen, wieder zu ihrer vor- (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Doch!) herigen Arbeitszeit zurückzukehren. Ich bin sicher, dass die Frauen diese Möglichkeit auch nutzen werden. Die Deshalb kann es auch keine Planungssicherheit für die Rückkehr in Vollzeit ist das Ende der Teilzeitfalle. Unternehmen geben, wie Sie das behaupten. Meine Damen und Herren, zahlreiche Studien zeigen Drei Instrumente haben die Unternehmen, um darauf uns, dass mehr als jede zweite erwerbstätige Mutter selbst zu reagieren: Überstunden, neue befristete Teilzeitstellen dann noch ihre Arbeitszeit reduziert, wenn ihr jüngstes oder aber Arbeitnehmerüberlassung. Ein FDP-Gesetzent- Kind ein Teenager ist. Das tun Frauen oft nicht freiwillig, wurf zur Arbeitszeit hätte helfen können; den haben Sie sondern weil ihnen beispielsweise die Rückkehr in Voll- aber abgelehnt. zeit verwehrt wird oder auch die Betreuung fehlt. Diese (Beifall bei der FDP) Verkürzung der Arbeitszeit wirkt sich nicht nur negativ auf das Monatsgehalt aus. Nein, sie wirkt sich auch zu- Die Zahl der Befristungen wollen Sie einschränken, die künftig nachteilig aus; denn die heute verkürzte Arbeits- Zeitarbeit auch. Also entweder Sie geben Ihre arbeitspo- zeit bedingt später automatisch eine geringere Rente. Die litische Agenda auf – dann machen Sie sich unglaubwür- heutige Lücke im Entgelt bleibt dann bis zur Rente beste- dig –, oder Sie überfordern Unternehmen und Beschäf- hen. Das heißt, wenn wir es den Frauen heute erleichtern, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5739

Yvonne Magwas (A) schneller aus einer Teilzeittätigkeit in eine Vollzeittätig- Stephan Stracke (CDU/CSU): (C) keit zurückzukehren, werden diese Frauen auch zukünf- Grüß Gott. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten tig davon profitieren. Die Einführung der Brückenteilzeit Damen und Herren! Der vorliegende Entwurf eines Ge- ist somit zugleich auch ein weiterer wichtiger Schritt hin setzes zur Weiterentwicklung des Teilzeitrechts bedeu- zu einer eigenständigen Alterssicherung von Frauen. tet für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ganz konkrete Verbesserungen im Arbeitsleben. Wir begrüßen (Beifall bei der CDU/CSU) diesen Entwurf ausdrücklich. Ich möchte noch den Faktor Zeit anführen. Mit der (Beifall der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD]) Einführung der Brückenteilzeit ermöglichen wir auch mehr Zeitsouveränität. Erleichterte Übergänge zwischen Wir stehen für eine Arbeitswelt, die Flexibilität und Auf- Vollzeit und Teilzeit können dazu beitragen, dass die Ar- stiegs- und Qualifizierungschancen bietet. Gerade Fami- beits- und Familienzeit zwischen Frauen und Männern lien stehen vor besonderen Anforderungen, wenn es um gleichmäßiger verteilt ist. Also trägt die Brückenteilzeit die Organisation der Vereinbarkeit von Familie und Be- auch dazu bei, die Gleichstellung von Frauen und Män- ruf geht, im Hinblick auf die Kindererziehung, aber auch nern zu verbessern. im Hinblick auf die Pflege von Angehörigen. Familie zuerst, das ist der Anspruch der Union. Dazu zählt, dass Meine Damen und Herren, ich weiß, dass die Wirt- der Wechsel von Teilzeit in Vollzeit und umgekehrt für schaft diesen Gesetzentwurf kritisch beäugt. Aus diesem Frauen und Männer einfacher möglich sein muss. Grund haben wir ihn entsprechend ausgestaltet; Kollegin Lezius ist darauf eingegangen: Kleine Betriebe auszu- (Beifall der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD]) nehmen, macht absolut Sinn. Der vorliegende Entwurf ist ein großer Fortschritt im Ich möchte die aus wirtschaftlicher Sicht positi- Vergleich zur letzten Legislaturperiode, als Frau Nahles ven Aspekte der Brückenteilzeit anführen. Es ist keine als Bundesarbeitsministerin in der Sache mit dem Kopf Neuigkeit – wir haben es heute öfter gehört –, dass die durch die Wand wollte und mit ihrer Vorlage krachend deutsche Wirtschaft dringend Fachkräfte benötigt. Wir gescheitert ist. wissen auch, dass sich Arbeitnehmer in Deutschland fle- (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Na, na, na!) xiblere Arbeitszeiten wünschen, oft auch in größerem Umfang. Die Brückenteilzeit wird es den Unternehmen Nun hat die arbeitsmarktpolitische Vernunft gesiegt, weil zukünftig erleichtern, das vorhandene Potenzial ihrer wir zum einen Rücksicht auf die betrieblichen Möglich- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer besser zu nutzen. keiten gerade kleinerer Betriebe nehmen und zum ande- Auch ist sie ein wichtiger Baustein, um gut ausgebildete ren das Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- (B) und hochqualifizierte Mitarbeiterinnen zu gewinnen und mer an Flexibilität und Sicherheit nicht aus dem Blick (D) langfristig an das Unternehmen zu binden. Die Einfüh- verlieren. Wir sorgen für Sicherheit für diejenigen, die rung der Brückenteilzeit kann also auch als eine klassi- vorübergehend ihre Arbeitszeit reduzieren wollen. Wir sche Win-win-Situation bewertet werden. haben bereits einen Rechtsanspruch für Elternzeit, Pfle- gezeit, Familienpflegezeit. Diesen Rechtsanspruch er- weitern wir nun um die Brückenteilzeit. Dabei nehmen Vizepräsident Wolfgang Kubicki: wir gerade Rücksicht auf die arbeitsorganisatorischen Frau Kollegin, kommen Sie freundlicherweise zum Möglichkeiten und Fähigkeit kleinerer mittelständischer Schluss? Unternehmen. Ein einfaches Umverteilen von Arbeit, so wie häufig behauptet wird, ist dort nämlich nicht mög- Yvonne Magwas (CDU/CSU): lich. Deswegen müssen wir besonders Rücksicht neh- men. Genau diesen Aspekten tragen wir in dem Maße Jawohl, Herr Präsident. – Auf dem G‑20-Gipfel 2014 Rechnung. in Australien haben die Staats- und Regierungschefs ein weltweites Wirtschaftswachstumsziel von jährlich 2 Pro- (Beifall bei der CDU/CSU) zent vereinbart. Sie kamen auch zu der Einsicht, dass dies allein durch eine stärkere Beteiligung von Frauen Ein zweiter Aspekt: Wir erleichtern den Teilzeitbe- am Wirtschaftsleben erreicht werden kann. Nutzen wir schäftigten, die mehr arbeiten möchten, die Rückkehr dieses Potenzial, und lassen Sie uns dieses Gesetzesvor- aus Teilzeit. Wir unterstützen diejenigen, die einen Auf- haben zu einem guten Ende bringen! stockungswunsch haben. Aber nicht jeder, der Teilzeit arbeitet, befindet sich in einer Sackgasse. Wer von „Teil- Vielen Dank. zeitfalle“ spricht, erweckt häufig den Eindruck, dass ein Großteil der Teilzeitbeschäftigten in Deutschland dies ei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. gentlich ungewollt sei und lieber Vollzeit arbeiten wolle, Gabriele Hiller-Ohm [SPD]) aber nicht könne. (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Ja, davon gibt es Vizepräsident Wolfgang Kubicki: viele! – Kerstin Tack [SPD]: 1,8 Millionen!) Als nächster und letzter Redner zu diesem Tagesord- nungspunkt hat der Kollege Stephan Stracke von der Die Gründe für Teilzeit, Frau Kollegin, sind natürlich CDU/CSU-Fraktion das Wort. vielfältig. Bei Frauen spielt vor allem die Betreuung von Kindern oder Pflege eine Rolle. Bei Männern sind es (Beifall bei der CDU/CSU) eher Krankheiten und Unfallfolgen. 5740 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Stephan Stracke (A) Aber wenn bei Frauen beispielsweise die Betreuung strikte Regulierung und Umverteilung verhin- (C) von Kindern zunehmend in den Hintergrund rückt, be- dern finden sie sich dann tatsächlich in der Teilzeitfalle, in der Sackgasse, aus der sie nicht mehr herauskommen? Drucksache 19/4241 Überweisungsvorschlag: (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Ja!) Finanzausschuss (f) In Bayern nennen 2,6 Prozent der Frauen das Nichtvor- Ausschuss für Arbeit und Soziales handensein einer Vollzeitstelle als Grund für die Teil- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten zeittätigkeit. Der Hauptgrund, warum sie nicht Vollzeit Dr. Gerhard Schick, Anja Hajduk, Dr. Danyal arbeiten, liege in ganz anderen Dingen, nämlich im per- Bayaz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion sönlichen Bereich, und manche wollten auch nicht Voll- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zeit tätig sein. Das ist der Hauptgrund. Finanzwende anpacken – Den nächsten Crash (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Herr Kollege, verhindern Sie haben das Gesetz aber wirklich noch nicht verstanden!) Drucksache 19/4052 Ein ähnliches Bild ergibt sich mit Blick auf Gesamt- Überweisungsvorschlag: deutschland. Dennoch sagen wir: Die meisten Teilzeit- Finanzausschuss beschäftigten sind nicht in der Teilzeit gefangen, sondern Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für sie wollen Teilzeit arbeiten. Das ist in keiner Weise kri- die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre hierzu tikwürdig. keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU und der AfD so- Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst für wie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Barbara die Fraktion Die Linke dem Kollegen Jörg Cezanne das Hendricks [SPD]: Es ist ja kein Wunder, dass Wort. Sie sogar Beifall von der AfD bekommen!) (Beifall bei der LINKEN) – Ganz ruhig, Frau Kollegin. Ich sage es doch gleich.

Wir unterstützen diejenigen, die einen Aufstockungs- Jörg Cezanne (DIE LINKE): wunsch haben, diesen aber nicht hinreichend realisieren Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zehn Jahre können. Das ist arbeitsmarktpolitisch und gesellschafts- nach dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman politisch vernünftig. Genau deswegen legen wir einen Brothers am 15. September 2008 und der dadurch aus- (B) Gesetzentwurf mit dem Rechtsanspruch auf Brückenteil- (D) gelösten internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise zeit vor, mit den Möglichkeiten der Beweislastumkehr, ist das internationale Finanzsystem von Stabilität immer wenn es darum geht, von Teilzeit wieder aufzustocken. noch weit entfernt. Bei allen Fortschritten der Regulie- Darüber müssen wir jetzt diskutieren. rung im Einzelnen blieben die Maßnahmen insgesamt (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: halbherzig, ihre Umsetzung wurde verwässert, oder sie Heftig diskutieren!) sind gänzlich gescheitert. Auf dem Höhepunkt der Fi- nanzkrise im Jahr 2008 hatten die führenden Industrie- In diesem Sinne freue ich mich auf die Gespräche inner- und Schwellenländer in der Gruppe der G 20 beschlos- halb der Koalition und natürlich in diesem Hohen Haus. sen, dass kein Finanzplatz, kein Finanzprodukt und kein Herzlichen Dank. Finanzakteur unreguliert bleiben solle. (Beifall bei der CDU/CSU) Heute dürfen neue Finanzinstrumente weiterhin ohne vorherige Risikoprüfung in Umlauf gebracht werden. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Nach Angaben der BaFin wurden in Deutschland allein Herzlichen Dank, Herr Kollege Stracke. – Damit im Jahr 2016 3,2 Millionen neue Finanzprodukte auf den schließe ich die Aussprache. Markt gebracht. Das kann nicht so bleiben. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen (Beifall bei der LINKEN) auf den Drucksachen 19/3452 und 19/4525 an die in der Heute hat die größte Schattenbank der Welt, der Vermö- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. gensverwalter BlackRock, das verwaltete Vermögen seit Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre und sehe kei- der Krise auf insgesamt 6 300 Milliarden US-Dollar fast nen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so be- verfünffacht, und das weitgehend außerhalb jeglicher schlossen. Bankenregulierung. Das ist gefährlich und muss einge- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b auf: schränkt werden. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Cezanne, Fabio De Masi, Christine Buchholz, NIS 90/DIE GRÜNEN) weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Heute ist der Bestand der außerbörslichen Derivate – also LINKE der Kern des Finanzmarktkasinos: Spekulationen auf die Zehn Jahre nach der Pleite der Investment- Entwicklung von Zinsen, Währungen, Aktienkursen oder bank Lehman Brothers – Finanzkrisen durch Kreditausfällen – laut Bank für Internationalen Zah- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5741

Jörg Cezanne (A) lungsausgleich so hoch wie nie zuvor. Das ist noch viel dass Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern die (C) gefährlicher und muss dringend zurückgedrängt werden. Krise besser meistern konnte. Die gescheiterte Ries- ter-Rente gehört zurückgenommen. Selbstverständlich (Beifall bei der LINKEN) ist die Umverteilung von Einkommen und Vermögen Es gibt also keinen Anlass, sich zufrieden zurückzuleh- von oben nach unten – zum Beispiel durch eine Vermö- nen. Noch weniger Grund gibt es für die Behauptung, die gensteuer, zum Beispiel durch eine Neuregelung der Erb- Regulierung sei zu weit gegangen. Weitere Maßnahmen schaftsteuer – ein wichtiges und zentrales Mittel, um zu sind dringend geboten. diesem Ziel zu kommen. (Beifall bei der LINKEN) Ich danke Ihnen. Meine Damen und Herren, die Ursachen der globalen (Beifall bei der LINKEN) Finanzkrise lagen keineswegs nur im individuellen Ver- sagen großer Teile der Führungseliten der Finanzindus-

trie, nicht einmal im Kern fehlender Regulierungen für Vizepräsident Wolfgang Kubicki: die Finanzmärkte. Es waren politische Entscheidungen Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächste für die verschiedener, auch deutscher, Regierungen, die maß- CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Antje Tillmann. geblich den Treibstoff der Finanzmarktkrise produziert (Beifall bei der CDU/CSU) haben. Steuersenkungen für hohe Einkommen, Unter- nehmensgewinne und Vermögen haben immer größere Privatvermögen der Reichen und Superreichen anwach- Antje Tillmann (CDU/CSU): sen lassen. Die Beiträge aus der teilprivatisierten Ries- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ter-Rente spülen täglich hohe Geldbeträge auf die Kapi- Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist gut, dass wir talmärkte, die jeden Tag neu angelegt werden müssen. zehn Jahre nach Lehman einmal innehalten und uns ver- Schon in den 90er-Jahren wurde über Siemens als „Bank gewissern, wo wir stehen. Wir haben in den letzten zehn mit angeschlossenem Elektroladen“ gespöttelt. Die ho- Jahren über 40 Gesetze international und national auf den hen liquiden Mittel großer Konzerne zeigen überdeut- Weg gebracht, um Institute und Märkte sicher zu machen lich, dass hier Gewinne in einem Ausmaß erwirtschaftet und die Anleger zu schützen. werden, das gar nicht mehr sinnvoll in neue Produkte und Dienstleistungen mit gesellschaftlichem Nutzen in- Seit 2014 setzen wir schrittweise höhere Eigenkapi- vestiert werden kann. talanforderungen an die Banken durch. Sie müssen ab 2019 eine Quote von mindestens 10,5 Prozent aufweisen. Das Gefährdungspotenzial, das von den internationa- Der aktuelle Bericht des Ausschusses für Finanzstabilität (B) (D) len Finanzmärkten für unser demokratisches Gemeinwe- kommt zu dem Schluss, dass die Banken im Euro-Raum sen ausgeht, wird wesentlich auch durch die Größenord- besser aufgestellt sind. Die harte Kernkapitalquote stieg nung des dort gehandelten Vermögens bestimmt. Daher 2017 auf über 14 Prozent. ist jeder Euro, der durch Umverteilung von oben nach unten den Finanzjongleuren entzogen wird, auch ein Bei- Aber auch innerhalb der Bankbilanzen müssen wir trag zur Entwaffnung der Finanzmärkte. Risiken reduzieren. So ist es uns gelungen, die ausfall- gefährdeten Kredite europaweit zu reduzieren. Es ist (Beifall bei der LINKEN) aber tatsächlich noch viel zu tun; denn die Unterschiede Dass diese enorme Anhäufung von Finanzkapital in innerhalb der europäischen Länder sind noch sehr groß. den Händen weniger nicht nur Probleme im Finanzsys- Während in Deutschland 2,5 Prozent der Kredite ausfall- tem verursacht, darauf hat der damalige Bundesbankprä- gefährdet sind, sind es in Italien 15 Prozent und in Grie- sident Tietmeyer bereits 1996 hingewiesen. Sie erinnern chenland 46 Prozent. Um die Zahl dieser Kredite und sich sicher an seine Formulierung: „dass sich die meisten damit die Risiken in den Finanzmärkten weiter zu redu- Politiker immer noch nicht darüber im Klaren sind, wie zieren, müssen wir das europäische Insolvenzrecht har- sehr sie bereits heute unter der Kontrolle der Finanz- monisieren. Es muss uns gelingen, auch Staatsanleihen märkte stehen und sogar von diesen beherrscht werden“. realitätsgerecht abzubilden und mit Eigenkapital zu un- Parlamente und Regierungen müssen das Primat der Po- terlegen. Ein gutes Stück haben wir also schon geschafft; litik wiederherstellen. aber wir wissen auch, wo unsere Probleme noch sind. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – NIS 90/DIE GRÜNEN) Frank Schäffler [FDP]: Aber Sie regieren doch schon so lange! Wann kommt denn das Zusammenfassend möchte ich feststellen: Zentrale endlich?) Eckpfeiler zur Überwindung des Kasinokapitalismus sind vorhanden; sie müssen nur eingesetzt werden. Dazu Mit dem Einlagensicherungssystem ist es uns gelun- gehören die Entschleunigung und Schrumpfung der Fi- gen, auch hier auf europäischer Ebene eine Harmonisie- nanzmärkte, zum Beispiel durch eine Finanztransaktion- rung herbeizuführen. Anleger können sicher sein, dass steuer, die nach wie vor auf der politischen Tagesordnung bis 2024 in allen europäischen Staaten 0,8 Prozent der stehen muss, und die Rückbesinnung auf solidarische gedeckten Einlagen zu ihrem Schutz zurückgelegt wer- und umlagefinanzierte Sozialversicherungssysteme. Die- den. Wir haben sichergestellt, dass pro Anleger bis zu se haben sich in der Krise als stabil und widerstandsfähig 100 000 Euro, egal bei welcher europäischen Bank sie erwiesen und einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, angelegt sind, sicher sind. 5742 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Antje Tillmann (A) Wir haben die europäische Bankenunion und damit setzt haben. Wir haben schon lange den Grundsatz der (C) die EZB-Aufsicht geschaffen. Alle 120 größten europä- doppelten Proportionalität gefordert. Das heißt: Kleine ischen Banken unterliegen jetzt der EZB-Aufsicht; auch Banken, die ein nicht riskantes Geschäftsmodell fahren, das trägt zur Sicherheit bei. müssen auch weniger reguliert werden. Ich danke den Vertretern des Finanzministeriums, dass sie es, auch auf 2016 ist dem ein Abwicklungsmechanismus hinzuge- unsere Anregung hin, geschafft haben, in Europa eine so- fügt worden. Wir wollen nicht mehr, dass Steuerzahlerin- genannte Small Banking Box einzuführen. Die Sparkasse nen und Steuerzahler für in Not geratene Banken haften nebenan, die Volksbank oder die kleinere Privatbank, die müssen, sondern wir wollen, dass dies Eigentümer und kein riskantes Modell haben, sollen weniger Regulierung Gläubiger machen, die nämlich vorher auch davon pro- ertragen müssen. Das hilft diesen Kreditinstituten, in der fitiert haben. Für diesen Abwicklungsmechanismus müs- Niedrigzinsphase lukrativer dazustehen. sen Banken 8 Prozent ihres Haftungskapitals vorhalten. Allerdings müssen wir sicherstellen, dass diese Maßnah- (Frank Schäffler [FDP]: Das haben die aber men in Europa auch tatsächlich durchgesetzt werden; die noch nicht gemerkt!) Diskussion darüber ist in vollem Gange. Wir bestehen Auf diesem Weg sind wir auch. Das ist eine Forderung darauf, dass Regeln, die wir uns einmal gegeben haben, im Antrag der Grünen, die wir eigentlich schon erfüllt tatsächlich mit Leben gefüllt werden. haben. Von daher ist der Antrag an dieser Stelle einfach Der Abwicklungsfonds wird die Sicherheit mit zusätz- nicht notwendig. lichen 60 Milliarden Euro garantieren. 2023 soll dieses (Beifall der Abg. Sepp Müller [CDU/CSU] Geld vorhanden sein, sodass auch hier mehr Geld für und Cansel Kiziltepe [SPD]) Krisen zur Verfügung steht, das die Banken vorher selbst angespart haben. Die Abwicklungsbehörde – europäisch, Lebensversicherungen, ein weiteres Thema aufgrund im Rahmen der Bankenunion – stellt sicher, dass Banken der Niedrigzinssituation. Wir haben mit dem Lebensver- einheitlich abgewickelt werden können. Auch hier ist uns sicherungsreformgesetz genau das getan, was im Antrag der Schutz der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler sehr der Grünen gefordert wird: Wir haben die Risiken zwi- wichtig. schen den Versicherungen, der Versichertengemeinschaft und denjenigen, die diese Versicherung vermitteln, ver- (Frank Schäffler [FDP]: Na, da ist ja auch teilt. Mit Ausschüttungssperren und dem Halten von Be- noch nicht so viel passiert!) wertungsreserven stellen wir sicher, dass alle Versicher- Solange eine Bank in Europa aber nicht systemrelevant ten dauerhaft sicher sein können, dass sie das Geld, das ist, kann sie immer noch nach nationalen Regeln abgewi- sie aus einer Lebensversicherung erwarten, tatsächlich bekommen. Auch hier sind wir auf einem guten Weg. Al- (B) ckelt werden. Hier gibt es noch eine Lücke im europäi- (D) schen Beihilferecht, die wir zu schließen gedenken. Denn lerdings sage ich: Wir müssen beobachten – wir haben auch hier wollen wir Steuerzahlerinnen und Steuerzahler dieses Thema auch regelmäßig in unserer Arbeitsgrup- vor der Haftung für insolvent gehende Banken schützen. pe –, wie sich die Situation entwickelt. Natürlich wäre der beste Weg, wenn die Zinsen steigen würden. Wir hof- Den ESM haben wir für Staatenrettungen installiert. fen, dass die EZB diese Entscheidung kurzfristig trifft. Mit 500 Milliarden Euro an Krediten können wir Staaten kurzfristig helfen, um auf den Pfad der Solidität zurück- Nicht zuletzt haben wir die Verbraucherinnen und Ver- zukommen. Das hat bei Irland, Spanien, Portugal und braucher bessergestellt. Wir haben nämlich im Rahmen Zypern funktioniert; auch Griechenland ist auf einem des Verbraucherschutzes die Produktinformationsblätter besseren Weg. Aber wir wissen auch, dass bei größeren vereinfacht. Wir haben die Banken verpflichtet, in Ge- Krisen dieses Volumen nicht ausreicht. Deshalb müssen eignetheitsprüfungen sicherzustellen, dass Verbraucher wir sicherstellen, dass dieser ESM auch eine Letztsiche- keine Produkte angedreht bekommen, die für sie und ihre rung bekommt. Deutsche Position und damit Position der Situation nicht geeignet sind. Wir wollen, dass Banken CDU/CSU-Fraktion ist: Wir sind solidarisch; aber Vor- nachweisen, dass sie die Verbraucherinnen und Verbrau- leistung ist, dass die Staaten ihre Hausaufgaben machen. cher nur mit Produkten bedienen, die tatsächlich in das Das gilt sowohl für die Haushalte innerhalb der Staaten – Finanzsäckel des Kunden passen; das ist eine wesentli- Italien und Frankreich nenne ich an dieser Stelle –, aber che Verbesserung. Für den Fall, dass es doch einmal Pro- das gilt natürlich auch für die Banken. Wir brauchen eine bleme gibt, haben wir den Finanzmarktwächter einge- Risikominimierung. Wir wollen, dass die Hausaufgaben führt, an den sich alle Verbraucherinnen und Verbraucher gemacht werden, bevor es weitere Vergemeinschaftun- mit konkreten Problemen über die Verbraucherzentralen gen gibt. Das wird bei der Letztsicherung Ende des Jah- wenden können. Dieser Finanzmarktwächter ist konkre- res einer der Punkte sein, auf die wir besonderen Wert ter Verbraucherschutz, so wie er im Antrag der Linken legen. gefordert wird. Er ist schon in die Tat umgesetzt, sodass wir diesen Antrag im Hinblick auf dieses Thema nicht (Beifall bei der CDU/CSU – Frank Schäffler brauchen. [FDP]: Das kann ja noch dauern!) Letztes Thema: Immobilien. Auch da haben wir die Diese Regulierung ist natürlich kein Selbstzweck. Ich kritische Situation überprüft. Wir haben der BaFin als glaube, es gibt keinen Grund, die Regulierung zurück- Aufsichtsbehörde zusätzliche Möglichkeiten an die Hand zufahren. Aber wir müssen gucken, ob wir sie zielgenau gegeben, die Zahl der Kredite zu reduzieren. Was aber ausgestaltet haben. Da stellen wir fest, dass wir bei klei- am besten gegen Probleme am Immobilienmarkt hilft, ist nen Banken viel Regulierung auf ein geringes Risiko ge- Wohnungsneubau. Dafür sorgen wir: mit dem Baukin- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5743

Antje Tillmann (A) dergeld, mit der Sonderabschreibung und mit sozialem sind diese Zyklen durch Interventionen – europäische In- (C) Wohnungsbau. Auch da haben wir die Probleme im Griff. terventionen – quasi nicht mehr erkennbar, (Zurufe von der CDU/CSU) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: dies nicht etwa, weil Europa eine Erfolgsgeschichte ist, Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin? sondern wegen einer völlig verfehlten Zins- und Geld- mengenpolitik der EZB. Hiervon profitiert Deutschland Antje Tillmann (CDU/CSU): zwar kurzfristig; doch es bauen sich auf der anderen Seite gigantische Risiken und Haftungsverbindlichkeiten auf. Ich komme zum Schluss. Wir wissen: Wir haben noch viele Aufgaben vor uns. Aber heute ist auch ein Tag, um (Beifall bei der AfD) zu zeigen, dass wir viele Probleme erkannt haben und Ich möchte an dieser Stelle nur TARGET2 und die kalte angegangen sind. Ich fordere Sie auf, uns dabei weiter Enteignung unserer Sparer nennen. Ich prophezeie Ihnen zu unterstützen und diese Entwicklung in den nächsten in sehr absehbarer Zeit eine Rezession, gefolgt von ei- Jahren im Auge zu behalten. ner Depression. Aufgrund der Haftungen kann dies für Danke schön. Deutschland extremst schmerzhaft und teuer werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Ja, der deutschen Wirtschaft geht es zurzeit gut. In gu- ordneten der SPD) ten Zeiten betreibt man Vorsorge, man spart für schlechte Zeiten. Aber was macht unsere Regierung? Sie ballert das Geld raus, und zwar mit beiden Händen: für die Inte- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: gration illegaler Einwanderer Vielen Dank. – Als nächster Redner der Kollege ( [DIE LINKE]: Das Thema Stefan Keuter, AfD-Fraktion. musste ja kommen!) (Beifall bei der AfD) und für Transferzahlungen an die EU. In den großen Fra- gen unserer Zeit hat diese Regierung komplett versagt. Stefan Keuter (AfD): Sie glaubt, durch Dieselverbote und das Aufstellen von Windrädern das Weltklima verändern zu können. Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir sind jetzt in einer so gefährlichen Situation, wie wir (Beifall bei der AfD) sie noch nicht einmal 2007/2008 hatten, so der frühere Dabei werden wichtige Investitionen in Deutsch- EZB-Präsident Trichet. Das haben die Linken und Grü- lands Zukunft vernachlässigt. Deutschland wird nicht (B) nen nun auch erkannt – die Anträge liegen uns vor – und (D) zukunftssicher und zukunftsfähig gemacht. Ich möchte kommen jetzt mit ganz abstrusen Vorschlägen: „Wie soll nur einmal den mangelnden Breitbandausbau, die man- man dieses System stabiler machen?“, das Ganze ge- gelhaften Bildungssysteme und die mangelhafte Digita- spickt mit oberflächlich linkem Populismus, gewürzt mit lisierung nennen – Elementen der sozialistischen Lehre. (Zuruf von der CDU/CSU: Thema!) (Beifall bei der AfD) von der Bekämpfung der Kinder- und Altersarmut einmal Man könnte auch sagen: Das links-grüne Narrenschiff ganz zu schweigen. nimmt Fahrt auf. (Zuruf von der CDU/CSU: Thema!) (Heiterkeit bei Abgeordneten der AfD) Man streitet sich um Personalien, versucht mit Gewalt, Haben Sie belastbare Wirtschaftsprognosen? Wissen an der Macht zu bleiben. Ich möchte schon gar nicht Sie, wie sich die Wirtschaft in den nächsten Jahren ent- mehr von einer Großen Koalition sprechen, wenn ich in wickelt? Kennen Sie die Wirkungsmechanismen und ma- den Umfragen 40 Prozent plus ein ganz kleines x sehe. kroökonomischen Zusammenhänge? (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Jetzt mal ein (Zuruf von der CDU/CSU: Aber Sie, ja?) Wort zum Thema, ein einziges Wort!) Die Groko hat fertig, meine Damen und Herren. Von der AfD lernen heißt siegen lernen; also hören Sie mir zu. Liebe GrünInnen, schön, dass Sie die Folgen der Zins- politik jetzt erkannt haben. Für die Sparer und die Alters- (Heiterkeit und Beifall bei der AfD – Lachen vorsorgeprodukte ist dies eine Katastrophe. bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Antje Tillmann [CDU/CSU]: Sie wer- (Fabio De Masi [DIE LINKE]: Ihr wollt doch den auch immer geschmackloser!) mehr Riester-Rente!) In Deutschland gab es bis Anfang des Jahrtausends Es ist schier der Existenz des Euros über heterogene verlässliche Wirtschaftszyklen, etwa vier bis sieben Jah- Volkswirtschaften hinweg geschuldet. Die EZB hat das re. Seit der Machtergreifung Merkels Mandat, die Euro-Zone um jeden Preis zu retten – „what­ ever it takes“, sagt Draghi. Deutschland braucht aber ein (Niema Movassat [DIE LINKE]: Das war höheres Zinsniveau als schwächere Teilnehmerländer eine demokratische Wahl!) und eine dem Wirtschaftswachstum angemessene Geld- 5744 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Stefan Keuter (A) menge. Der einzige Weg, um dies zu erreichen, ist eine Hätte es seinerzeit keinen globalen Zusammenhalt gege- (C) unabhängige Notenbank, eine Notenbank, wie sie die ben, hätten wir seinerzeit in Europa nicht schnell mul- Deutsche Bundesbank bis 1998 war. tilaterale Entscheidungen getroffen, dann hätte es noch schwerwiegendere Folgen gehabt, dann hätten noch Die AfD stimmt der Überweisung der Anträge an den mehr Menschen ihren Arbeitsplatz oder ihr Vermögen Finanzausschuss zu. verloren. Vielen Dank, meine Damen und Herren. Wir haben wegen dieser Krise innerhalb der vergan- genen zehn Jahre wichtige europäische Institutionen ge- (Beifall bei der AfD) schaffen: eine gemeinsame Aufsicht und die gemeinsame Sanierung und Abwicklung systemrelevanter Banken, die Vizepräsident Wolfgang Kubicki: sogenannten Europäischen Autoritäten, die die Aktivitä- Vielen Dank, Herr Kollege Keuter. ten auf dem Banken-, Finanz- und Versicherungsmarkt überwachen, und den ESM, den Europäischen Stabili- Bevor ich dem Kollegen Metin Hakverdi das Wort er- tätsmechanismus, mit dem wir heute die Auswirkungen teile, möchte ich nur eine Klarstellung treffen: Die Bun- von Krisen eindämmen können. deskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland ist nicht im Wege einer Machtergreifung sozusagen zu ihrer Posi- Die Notwendigkeit dieser europäischen Institutionen tion gekommen, sondern im Wege einer demokratischen wird heute niemand, niemand Vernünftiges bestreiten. Wahl. Niemand Vernünftiges fordert heute, diese Institutio- nen zu renationalisieren. Wenn heute solche politische (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, Einigkeit über die Notwendigkeit dieser Institutionen der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE besteht, um die europäischen Finanz-, Banken- und Ver- GRÜNEN) sicherungsmärkte zu überwachen, dann müssen wir uns heute ehrlicherweise die Frage stellen: Warum war das Als Nächster für die SPD-Fraktion der Kollege Metin nicht 2008 möglich? Warum hatten wir nicht vor der Hakverdi. Krise solche Systeme? Wir hätten viele Verluste nicht (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) haben müssen, hätten wir diese Institutionen schon vor 2008 geschaffen. Warum waren wir dazu nicht in der Lage? Die Antwort ist einfach wie frappierend: Damals Metin Hakverdi (SPD): wie heute wurden politische Notwendigkeiten von einem Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und nationalstaatlichen Diskurs überlagert. Damals wie heute Kollegen! Vor zehn Jahren begann die Finanzkrise. Im wurden politische Mehrheiten innerhalb nationalstaat- (B) (D) Verlauf dieser Krise verloren viele Tausend Menschen licher Grenzen organisiert. Damals wie heute gelang es ihren Arbeitsplatz, ganze Volkswirtschaften in Europa nicht allen politischen Akteuren, zu erkennen, dass es drohten zu kollabieren. Nur unter Einsatz erheblicher uns nur mit starken europäischen Institutionen gelingen Steuermittel konnte der Absturz globaler Finanzmärkte kann, unseren eigenen, nationalen deutschen Interessen abgewendet werden. international Gehör zu verschaffen. Damals wie heute. Die Finanzkrise hat uns damals kalt erwischt. In der Das bringt mich zur aktuellen Debatte über die Weiter- Euro-Zone hatten wir weder den institutionellen noch entwicklung des Europäischen Stabilitätsmechanismus den rechtlichen Rahmen, um mit der Krise fertigzuwer- zu einem Europäischen Währungsfonds. Ich habe auch den. Die erste und wichtigste Lektion der Finanzkrise hier heute den Eindruck, dass erneut nationalstaatliche lautet heute: Der einzelne Nationalstaat kann in einer Diskurse rationale europäische Lösungen hemmen. Das globalisierten Finanzwelt nicht allein Krisen vorbeugen Gleiche gilt für die Debatte über die Einrichtung eines oder diese im Fall ihres Ausbruchs allein beherrschen. Euro-Zonen-Budgets. Wir werden nicht die notwendi- Der schnellen und engen Zusammenarbeit der Mit- gen europäischen Institutionen schaffen, wenn wir von gliedstaaten der Europäischen Union, aber auch mit den „Geldpipelines nach Brüssel“ sprechen, wenn wir von USA – hier insbesondere der amerikanischen Zentral- „Vergemeinschaftung von Schulden“ reden oder von bank – ist es zu verdanken, dass es damals nicht zu einer „Souveränitätsverlust“ sprechen. Europa ist unser ge- Kernschmelze des Finanzmarktes gekommen ist. meinsames Haus. Mit Europa gewinnen wir, ohne Euro- pa verlieren wir; so einfach ist das. Die Bewältigung der Finanzkrise ist für mich deshalb, trotz der Schwierigkeiten und der vielen Probleme, die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bis heute wirken, auch eine Erfolgsgeschichte europäi- DIE GRÜNEN – Frank Schäffler [FDP]: Was scher und darüber hinaus globaler Zusammenarbeit. Mir es kostet!) ist wichtig, dass wir den Blick auf diesen Aspekt nicht Kolleginnen und Kollegen, bei der Regulierung des verlieren. Wenn heute Populisten weltweit umherrennen Bankenmarktes dürfen wir heute nicht nachlassen! Wir und behaupten, globale Herausforderungen könnten auf müssen das Notwendige tun, damit Banken nicht auf nationalstaatlicher Ebene bewältigt werden, dann wissen Kosten der Steuerzahler gerettet werden müssen. Die wir heute, dass das Unsinn ist. SPD lehnt es ab, dass Gewinne privatisiert, aber Verluste sozialisiert werden. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der SPD – Lachen des Abg. Frank GRÜNEN) Schäffler [FDP]) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5745

Metin Hakverdi (A) Unser finanzpolitisches Denken darf nicht mit Über- hen. Es geht gerade erst richtig los. Ich freue mich auf (C) legungen zur Krisenfestigkeit von Banken und Staaten die Debatte. enden, Vielen Dank. (Frank Schäffler [FDP]: Das habt ihr doch fortdauernd gemacht!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) wir müssen immer den einzelnen Menschen im Zentrum unserer Überlegungen sehen, auch und gerade auf dem Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Finanzmarkt. Deshalb ist es richtig, dass in der Mese- Herzlichen Dank, Herr Kollege. – Und nun Frank berg-Erklärung der Finanzminister auch über eine euro- Schäffler für die FDP-Fraktion. päische Arbeitslosenrückversicherung nachgedacht wird. Dafür bin ich unserem Finanzminister Olaf Scholz au- (Beifall bei der FDP) ßerordentlich dankbar. Diese würde natürlich auch der Finanzmarktstabilität dienen. Deshalb läge sie natürlich Frank Schäffler (FDP): auch in unserem eigenen, nationalen Interesse. Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kol- Zutreffend wird in den Anträgen der Grünen bzw. der legen! Zehn Jahre Lehman-Pleite müssen uns auch ein Linken auf die wohnungsbaupolitische Dimension der Stück weit zurückblicken lassen. Wer die Situation von Finanzpolitik oder deren Einfluss auf die sozialen Siche- vor zehn Jahren vor Augen hat und sich die heutige Situ- rungssysteme hingewiesen. Kolleginnen und Kollegen, ation vor Augen führt, der muss sagen: So viel haben wir unsere sozialen Sicherungssysteme müssen in Hinblick eigentlich nicht gelernt. Die weltweite Verschuldung ist auf Konjunkturentwicklungen gedacht und weiterentwi- in diesen zehn Jahren um rund 40 Prozentpunkte gestie- ckelt werden. gen, die weltweite Steigerung der Wirtschaftskraft betrug in der gleichen Zeit 25 Prozentpunkte. Wir haben in den Es ist nicht in unserem nationalen Interesse, wenn auf letzten zehn Jahren im Kern Wirtschaftswachstum mit den Finanzmärkten auf Kosten der Umwelt und auf Kos- noch mehr Schulden produziert. ten des Klimas Gewinne gemacht werden; denn das be- deutet nichts anderes, als dass Gewinne privatisiert, aber Das, was Sie hier jetzt alles in den Papieren nieder- die Kosten der Allgemeinheit, dem Steuerzahler aufer- geschrieben haben, sind alles Kollateralschäden dieser legt werden. Entwicklung – ob es um die Lebensversicherungen, die Es ist nicht in unserem eigenen, nationalen Interesse, Banken oder die Regulierung der Banken geht. Was sa- wenn durch zu niedrige Löhne etwa Transferzahlungen gen Sie denn den Sparkassen heutzutage? Diese immer (B) im Rentenalter trotz jahrelanger Arbeit notwendig sind. stärkere Regulierung hat nicht dazu geführt, dass die (D) Auch das bedeutet nichts anderes, als dass Gewinne pri- Bausparkassen, die Lebensversicherungen, die Sparkas- vatisiert, aber die Kosten der Allgemeinheit, dem Steuer- sen vor Ort sicherer geworden sind. Ganz im Gegenteil: zahler auferlegt werden. Sie werden vom Markt gedrängt, und im Kern entstehen immer größere Konglomerate, die wir immer schwächer Green Finance im Sinne von nachhaltigem Finanz- kontrollieren können. markt und nachhaltigem Wirtschaften bedeutet heute: wirtschaftliche Nachhaltigkeit, also nachhaltige Profita- (Cansel Kiziltepe [SPD]: Keine Ahnung!) bilität, genauso wie ökologische Nachhaltigkeit, Das Kernproblem ist, dass wir dieses Ergebnis, diese (Frank Schäffler [FDP]: Das definieren Sie?!) Finanzblasen, eigentlich durch staatliche Einflussnah- me geschaffen haben. Der eine Grund ist die Zinspolitik aber eben auch soziale Nachhaltigkeit. der EZB und der Fed. Die hat im Kern zu dieser Ver- Wenn wir heute zehn Jahre zurückblicken, können schuldungsspirale geführt. Der andere Grund ist: Die, wir hoffentlich sagen, dass wir das Kind noch einmal die die Finanzkrise bei uns ausgelöst haben – ich kann geschaukelt haben, obwohl nicht alle mit einem blauen mich noch sehr gut an 2007 erinnern –, waren staatliche Auge davongekommen sind. Für die kommenden zehn Banken, zunächst die IKB. Im Herbst 2007 ist die IKB Jahre sollte uns aber klar sein: Wir müssen auf europä- als halbstaatliche Bank von heute auf morgen pleitege- ischer Ebene noch enger zusammenarbeiten, gerade in gangen, und dann waren Sie es, die diese Bank gerettet Bezug auf den Finanzmarkt. Wer heute nur dem Wettbe- haben. Anschließend kamen die WestLB und die Sach- werb um niedrigere Löhne und niedrigere Umweltstan- sen LB. Es waren immer staatliche Institutionen, die ver- dards folgt und wer heute Finanzstabilität nur national sagt haben. Das waren an dieser Stelle nicht die privaten denkt und nicht in multilateralen Zusammenhängen, ins- Banken. besondere in der Euro-Zone, wer so denkt, der hat nicht Das heißt, wir müssen dafür sorgen, dass wir wieder nur die Lektionen der letzten zehn Jahre nicht verstan- zur Haftung zurückkehren. Das ist eigentlich das Ent- den, wer so denkt, kann auch nicht die Zukunft gestalten. scheidende. Wir dürfen nicht ständig versuchen, mit (Beifall bei der SPD) billigem Geld eine Schuldenkrise zu lösen. Das hat sich in den vergangenen zehn Jahren nicht bewährt, und wir Die SPD will nachhaltige Investitionen, Klimaschutz haben jetzt ein viel, viel größeres Problem, als wir vor und Sozialstaat miteinander verknüpfen. Wir sollten zehn Jahren hatten. heute auf gar keinen Fall einen Schlussstrich unter die Debatte um die Weiterentwicklung der Finanzmärkte zie- (Beifall bei der FDP) 5746 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Frank Schäffler (A) Deshalb ist es notwendig, dass wir nicht auf eine Re- ist das Gefährliche auch für das Gesellschaftliche und (C) gulierungsspirale immer eine neue Regulierungsspirale Politische; denn wir wissen, dass Finanzkrisen – das hat heben, sondern dass wir versuchen, das Haftungsprinzip es in der Geschichte immer wieder gegeben – auch zu durchzusetzen. Das ist aus meiner Sicht das Entscheiden- politischen Verwerfungen führen und für unsere Demo- de. Ansonsten kommen wir in absehbarer Zeit, was die kratie eine enorme Herausforderung sind. Lebensversicherungen, die Bausparkassen, die Pensions- kassen betrifft, immer stärker in Schwierigkeiten. Wenn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wir dieses Problem nicht lösen, dann, glaube ich, stehen wir tatsächlich am Vorabend der nächsten Finanzkrise. Deswegen kann man jetzt nicht einfach auf die vie- len Gesetze zurückblicken, die da gemacht worden sind, Deshalb ist es notwendig, dass auch die EZB mög- auch wenn, wie zum Beispiel mit der Schaffung der Ban- lichst schnell eine Zinswende einleitet und ihr Ankauf- kenunion, die gegen den Willen dieser Bundesregierung programm noch schneller zurückführt, es nicht weiter- in Europa erreicht werden konnte, wichtige Maßnahmen führt, indem die auslaufenden Anleihen von ihr wieder ergriffen worden sind. Trotzdem müssen wir, wenn wir verlängert werden. Das darf nicht passieren, sondern wir den Strich darunterziehen und das alles bewerten, sa- müssen wieder zu einer geordneten Geldpolitik in Euro- gen: Heute sind die Finanzmärkte leider nicht stabiler pa zurückkommen. Das ist der einzige Weg, aus dieser als 2007, im Vorfeld des Ausbruchs der Finanzkrise, die Finanzkrise herauszukommen. uns heute noch beschäftigt. Die Schulden sind weiter an- Etwas anderes zu behaupten und sein Wahlprogramm gewachsen. Sie sind schneller gewachsen als die Wirt- sowie all das, was er zu der Finanzkrise schon immer schaftsleistung. Die großen Banken, die damals schon einmal sagen wollte, in diese Papiere zu schreiben, löst zu groß waren, sind teilweise weiter gewachsen, und die aus meiner Sicht nicht das Problem. Insofern haben die Menge an intransparenten Finanzprodukten hat weiter Linken, wenn ich das so qualitativ sagen darf, einen zugenommen. ziemlich schlechten Antrag vorgelegt. Die Grünen haben Deswegen kann es nicht sein, dass wir uns damit be- sich immerhin Mühe gegeben, sich mit dem Thema zu gnügen, dass wir viel gemacht haben – ja, wir selber ha- beschäftigen. Ich teile nicht alles, was in diesem Grünen- ben sehr viele Gesetze verabschiedet –, sondern wir müs- antrag steht, aber immerhin, glaube ich, haben Sie sich sen entscheidend dazu beitragen, dass das System stabil die Mühe gegeben, dieses Problem ein Stück weit zu wird, und das ist bisher nicht gelungen. durchdringen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsident Wolfgang Kubicki: sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (B) Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. (D) Vor diesem Hintergrund ist der Blick in den Koaliti- onsvertrag leider ernüchternd. Sie haben sich in Sachen Frank Schäffler (FDP): Finanzmarktregulierung leider nicht vorgenommen, die- Ich komme zum Schluss. – Ich glaube, diese Finanz- se großen Probleme wirklich anzugehen. Deswegen sa- krise kann man nur dadurch beseitigen, dass wir Haftung gen wir: Dieser zehnte Jahrestag der Lehman-Pleite muss und Verantwortung wieder in eine Hand bringen. Das ist der Anlass sein, um endlich einen neuen Anlauf für eine notwendig und die Voraussetzung für eine Besserung. echte Finanzwende hinzubekommen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP) Als eine Dimension dessen, was getan werden muss, will ich die Schnittstelle zum Immobilienmarkt nennen. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Es gab in den letzten Jahrzehnten eine massive Fehlent- Vielen Dank, Herr Kollege Schäffler. – Als Nächs- wicklung in Deutschland: Wir hatten große kommunale tes für Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Dr. Gerhard Wohnungsbestände, und diese Immobilien konnten eben Schick. nicht als Spielball von internationalen Finanzinvestoren (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) genutzt werden, sondern waren ausschließlich im Dienst der Bürgerinnen und Bürger, die da wohnen wollten. Durch das Instrument der Wohnungsgemeinnützigkeit, Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): das in den 90er-Jahren leider abgeschafft worden ist, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Er hatten wir einen großen Bestand an Wohnungen, die der wäre ja schön, wenn das ein Moment des Rückblickes Gemeinnützigkeit unterlagen, und es war damals nicht so auf eine vergangene Finanzkrise sein könnte, aber leider leicht wie heute, Immobilienpakete schnell an der Börse ist das nicht so, sondern trotz der vielen Regulierungs- zu handeln. maßnahmen, von denen Frau Tillmann gesprochen hat, ist die Finanzkrise leider nicht vorbei, gerade auch in Die drei Schritte, die das umgekehrt haben, haben Deutschland nicht. Während wir hier sitzen, laufen im- dazu beigetragen, dass die Immobilien – das, wo Men- mer noch die Bemühungen zur Stabilisierung einer Bank schen wohnen wollen – von einem Gebrauchsgut, das in Deutschland – der Nord/LB in diesem Fall –, die sich Menschen brauchen, immer mehr zu einem Finanzpro- bei Schiffsfinanzierungen verhoben hat. Wir sind immer dukt geworden sind. Diese Entwicklung müssen wir kor- noch mitten in der Bewältigung dieser Finanzkrise. Das rigieren. Wir müssen diese Fehlentwicklungen zurück- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5747

Dr. Gerhard Schick (A) drehen, um wieder dafür zu sorgen, dass es bezahlbaren Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (C) Wohnraum für die Menschen in diesem Lande gibt. Herzlichen Dank, Herr Kollege Dr. Schick. – Als (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nächstes der Kollege Alexander Radwan, CDU/ und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten CSU-Fraktion. der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Um es noch mal ganz klar zu sagen: Auch wenn vie- le andere Maßnahmen diskutiert werden: Ohne eine Fi- Alexander Radwan (CDU/CSU): nanzwende wird das Problem, dass die Immobilienpreise und die Mieten schneller steigen als die Einkommen der Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Menschen, nicht lösbar sein. Da müssen wir ran. Damen und Herren! Zehn Jahre Finanzkrise sind ein guter Anlass, auf das, was gemacht wurde, zurückzu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schauen, einen Ausblick in die Zukunft zu wagen, aber Es gibt eine zweite Dimension, und zwar im Bereich möglicherweise auch die Ursachen, warum es zu dieser des Verbraucherschutzes. Ja, da ist auch manches ent- Finanzkrise kam, zu analysieren. Ich habe vorhin gehört, standen, aber viel Papier hilft nicht immer viel. Ich er- es seien sehr stark die öffentlich-rechtlichen Banken ge- lebe immer wieder, dass sich Menschen schämen, wenn wesen, die gerettet werden mussten. Ich möchte nur da- sie am Finanzmarkt Betrügern zum Opfer gefallen sind, ran erinnern: Die Ursache der Finanzkrise liegt in einer wie jetzt gerade zum Beispiel viele Leute bei P&R, die Zeit, in der alle von Deregulierung gesprochen haben. Es einfach hinter die Fichte geführt worden sind. Ich finde war der große Hype, die Märkte zu deregulieren, nach aber nicht, dass sich die Opfer schämen sollten. Ich finde, dem Motto: Sie werden es schon selber richten. – Es gab es müssen sich die Betrüger am Finanzmarkt und diejeni- damals auch eine Koalition in Deutschland, die der Mei- gen schämen, deren Aufgabe es gewesen wäre – das sind nung war, die Deutschland AG aufgeben zu müssen und auch wir –, die Opfer vor diesen Betrügereien im Milli- an den Markt glauben zu können. Von daher hat all das ardenumfang zu schützen, es aber nicht geschafft haben. eine Vorgeschichte, und wir sollten nicht nur auf die zehn Da muss man etwas tun. Jahre zurückschauen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Cansel Kiziltepe [SPD]: Sie haben es ja in den 90ern gemacht!) Deswegen können wir uns nicht mit Beraterregister – und was es sonst noch alles gegeben hat – zufriedenge- Das Ziel ist heutzutage, die Deregulierung zurückzu- ben, sondern wir müssen dafür sorgen, dass diese intrans- führen, zu regulieren, Eigenverantwortung nach vorne (B) parenten Finanzprodukte, die Betrug Tür und Tor öffnen zu bringen und letztendlich den Steuerzahler zukünftig (D) und mit denen man Gebühren verstecken kann, der Ver- nicht mehr in die Pflicht zu nehmen, wie es bisher der gangenheit angehören und der Finanzmarkt endlich für Fall war. Die Staatsschuldenkrise war die Folge aus der die Bürgerinnen und Bürger da ist und nicht im Wesent- Finanzkrise. lichen eine intransparente Spielwiese ist, auf der sich ein paar Experten möglichst viel Geld verschaffen können. (Zuruf der Abg. Cansel Kiziltepe [SPD]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Da möchte ich schon darauf hinweisen: Dass die Be- kämpfung der Staatsschuldenkrise in Europa in eine Ich will einen letzten Punkt nennen, obwohl es noch Richtung ging, in der Eigenverantwortung und Solidari- viele weitere Beispiele gäbe: die grüne Dimension der Fi- tät im Gleichklang waren, ist insbesondere Deutschland nanzwende. Viele Unternehmen – das merke ich in vielen zu verdanken. Gesprächen mit der Branche – haben inzwischen verstan- den: Es macht keinen Sinn mehr, in veraltete Technologi- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) en zu investieren, viel Geld in Kohle und andere fossile Energien zu stecken, denn da wird man Geld verlieren. – Auch hier im Haus gibt es regelmäßig Vorstöße, mit denen man einer stabilitätsorientierten Politik auf euro- (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Das müssen päischer Ebene letztendlich eher in den Arm fallen wür- die Anleger entscheiden!) de, als sie zu unterstützen. Damit würde man weiterhin eine entsprechende Instabilität an den Märkten zulassen. Deswegen gibt es inzwischen viele Investoren, die Aus- Es ist und Wolfgang Schäuble zu verdan- stiegspläne haben. Wenn man jetzt mal schaut, wie es ken, dass die Mechanismen zur Schaffung von Stabilität beim Geldanleger Bund aussieht, dann muss man sagen: gegriffen haben. Wenn man sich anschaut, welche Staa- Die Pensionsgelder der Bundesbeamten sind immer noch ten heute aus den jeweiligen Programmen entlassen wur- ohne Nachhaltigkeitskriterien, ohne Blick auf diese Risi- den – bis hin zu Griechenland –, sehen wir, dass man ken angelegt. – Ich finde, das kann nicht sein. Es braucht hier – gerade durch das Engagement Deutschlands – endlich auch eine Finanzwende, wenn der Bund Geld Stück für Stück mühsam vorangekommen ist. anlegt. Wir müssen die ökologischen Risiken am Finanz- markt ernst nehmen. Auch da braucht es eine echte Fi- Dann – Antje Tillmann hat es angesprochen – gab es nanzwende. ein ganzes Maßnahmenpaket von Regulierungen, etwa Danke schön. Eigenkapitalanforderungen im Rahmen von Basel III. Die Bankenunion wurde entsprechend gestärkt, und das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht gegen den Willen Deutschlands. Wenn Deutschland 5748 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Alexander Radwan (A) einmal Kritik übt und schaut, wie man in die richtige zipienorientiert zu handeln, den Aufsehern grundsätz- (C) Richtung geht, liche Kompetenzen unter demokratischer Kontrolle zu geben, die dann schnell marktgerecht reagieren können, (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE statt jedes einzelne Detail mit der entsprechenden Büro- GRÜNEN]: Sie wissen es besser! Ja, klar!) kratie über Gesetze zu regeln. wenn Deutschland auf die Regionalbanken schaut, dann ist das – Sie wissen es ganz genau – ein Ringen in Europa Viertens. Wir stehen vor der Hausaufgabe und der um den richtigen Weg. Deutschland ist da nicht gegen Herausforderung der Zinswende. Jeder ist der Meinung, etwas. die Zinswende müsse kommen. Allerdings ist die Frage: Sind wir auf die Zinswende in Deutschland vorbereitet, (Beifall bei der CDU/CSU) sind die Banken darauf vorbereitet, ist die Ökonomie da- rauf vorbereitet? Das ist eine Herausforderung, die vor Wir müssen aus der Finanzkrise lernen und den Aus- uns steht und kommen wird. blick wagen. Erstens. Wichtig ist, dass wir zukünftig auf europäi- Fünftens. Wir müssen die vernetzte Welt ein Stück scher Ebene die Regeln, die wir uns geben, auch durch- weit noch transparenter machen. Die Finanzkrise ging setzen. Es hilft überhaupt nichts, immer wieder entspre- von Amerika aus; es waren die Verbriefungen aus den chende Vereinbarungen auf europäischer Ebene zu treffen USA, die hierhergekommen sind. Da waren, wie Sie, und sie dann eben nicht durchzusetzen. Deutschland und Herr Schäffler, sicherlich wissen, nicht nur öffent- die CDU/CSU-Fraktion stehen dafür, dass diese Regeln lich-rechtliche Banken dabei; es waren auch private Ban- auch zukünftig in Europa angewendet werden. ken, die daran sehr gut verdient haben. Die Vernetztheit müsste transparent und nachvollziehbar werden, insbe- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Wolfgang sondere weil der internationale Konsens, den wir nach Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Finanzkrise, nach der Pleite von Lehman, auch mit NEN]: Deutschland hat doch selber dagegen den USA hatten, Stück für Stück aufgebrochen wird. verstoßen!) Wir spüren heute, dass die Amerikaner wieder in Rich- – Ja. Ich war damals im Europäischen Parlament und war tung Deregulierung gehen. Ich halte das für einen fal- einer der Hauptkritiker der Maßnahmen von Schröder schen Weg, auch wenn er von dem einen oder anderen in unter Rot-Grün, mit denen damals der Stabilitätspakt Deutschland bereits propagiert wird. zum ersten Mal gebrochen wurde. Sie haben es hier mit Sechstens. Wir stehen vor der Herausforderung des jemandem zu tun, der das rechtzeitig kritisiert hat. Brexit: Wie wird sich der Brexit auf die Finanzmärkte (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) auswirken? Das ist ein wichtiges Thema, mit dem wir (B) uns – neben der Digitalisierung – auch im Finanzaus- (D) Zweitens. Wir müssen das, was wir bisher gemacht ha- schuss auseinandersetzen müssen. ben, evaluieren: Was haben die Gesetze, die gekommen sind, für Auswirkungen? Wir müssen dem Proportiona- Meine Damen und Herren, es kam die Finanzkrise, es litätsgrundsatz, der allen möglichen Gesetzen zugrunde kam die Wirtschaftskrise, die Deutschland gut abgefan- liegt, zur Geltung verhelfen. Es nützt nichts, den Grund- gen hat, es kam die Staatsschuldenkrise, die wir in den satz nur in europäische Verordnungen und nationale Ge- Griff bekommen haben. Ich denke, hier besteht großer setze hineinzuschreiben, sondern wir müssen Größenun- Konsens, dass wir alle miteinander daran arbeiten müs- terschiede – Unterschiede im Umgang mit den großen, sen, dass wir alles, was mit diesen Krisen zusammen- internationalen Banken und den kleinen Banken – auch hängt, so regeln, dass daraus keine Demokratiekrise tatsächlich zulassen. wird, dass das, was wir alle miteinander wollen – ein stabiles Europa und ein stabiles Deutschland mit einer Wir müssen uns die Aufsichtspraxis anschauen, die stabilen Wirtschaft –, existieren kann. Darum müssen wir jetzt so langsam in Schwung kommt. Die Europäische alle, die an einer stabilen Demokratie und an einem stabi- Zentralbank ist auf der einen Seite unmittelbar für die len Europa Interesse haben, gemeinsam daran mitwirken. großen Banken zuständig; aber wir wissen genau, dass Alle, denen es um die Demokratie in Deutschland und in ihre Maßnahmen und Vorgaben auch auf die kleinen Ban- Europa geht, sind dazu eingeladen. ken Auswirkungen haben. Ich bin hier für eine stärkere Eigenständigkeit der nationalen Aufseher und möchte, Besten Dank. dass der Proportionalitätsgrundsatz, was regionale Ban- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ken anbelangt, entsprechend berücksichtigt wird. ordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Drittens. Meine Damen und Herren, wir haben hier Vizepräsident Wolfgang Kubicki: sehr viel über legislative Maßnahmen gesprochen, über Herzlichen Dank, Herr Kollege Radwan. – Als Nächs- Gesetzgebung auf nationaler und europäischer Ebene. tes für die AfD-Fraktion die Kollegin Franziska Gminder. Alle wissen aber, dass die nächste Finanzkrise mögli- (Beifall bei der AfD) cherweise aus einer Ecke kommt, die wir heute gar nicht gesetzgeberisch geregelt haben. Die Frage ist dann, wie wir schnell handeln können. Ich möchte in diesem Haus, Franziska Gminder (AfD): gerade ausgehend von diesen Anträgen, einmal die Dis- Herr Präsident! Liebe Abgeordnete! Liebe Gäste! kussion führen, inwieweit es sinnvoll ist, zukünftig prin- Zehn Jahre sind seit der spektakulären Pleite von Leh- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5749

Franziska Gminder (A) man Brothers und der daraus folgenden katastrophalen Das Problem der Non-performing Loans, die in Län- (C) Finanzkrise vergangen. Diese Krise hat laut Bericht dern wie Griechenland über 60 Prozent aller Kredite, in der „Welt“ vom 13. September Deutschland bisher sagt man, und sogar in Italien noch rund 40 Prozent aus- 59 Milliarden Euro gekostet, jede vierköpfige Familie sei machen, wird weiterhin von allen Beteiligten verdrängt. mit 3 000 Euro belastet worden. Für die Stützung von Eine Vergemeinschaftung der Schulden, wie in der drit- Banken kommen 900 Milliarden Euro hinzu. ten Säule der Bankenunion gefordert, lehnen wir als AfD daher kategorisch ab. Und was hat es geholfen? Nichts. Heute droht ein neuerlicher Crash am Aktien- und Immobilienmarkt. Die (Beifall bei der AfD) Nullzinspolitik der EZB seit März 2016 hat die öffentli- Es herrscht Anlagenotstand, da die Notenbanken die che und private Verschuldung rasant anwachsen lassen. Märkte weltweit immer noch mit Geld überschwemmen. (Beifall bei der AfD) So werden auch jetzt wieder riskante Investments getä- tigt, nur um wenigstens ein bisschen Rendite zu ermögli- Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die in den USA bereits chen. Dabei bleibt dann oft die Sicherheit auf der Strecke. steigenden Zinsen – sie wurden zum 26. September auf Das Niedrigzinsumfeld schwächt die Altersvorsorge der 2,00 bis 2,25 Prozent erhöht, und drei weitere Erhöhun- Bürger, enteignet die Sparer, ruiniert die Versicherungen gen wurden für die nächste Zeit angekündigt – eine Re- und dient allein der Rettung des Euro. aktion in Europa auslösen. Und dann wehe der sogenann- ten schwarzen Null des Finanzministeriums und den mit Warum die Finanzaufsicht stärken, wenn sie keine 20 Prozent Eigenkapital finanzierten Immobilien! Erfolge vorweisen kann? Das Single Resolution Board ist, wie wir alle wissen, im Bericht des Europäischen Was bieten da Linke und Grüne als Heilmittel an? Die Rechnungshofes durchgefallen. Eine Fusionskontrolle Linke will Finanzkrisen durch strikte Regulierung und der Banken kommt jetzt zu spät. Wissen Sie, dass die Umverteilung von oben nach unten verhindern. Das sind Deutsche Bank aus dem EURO STOXX 50 herausgefal- die Uraltideen der sozialistischen Planwirtschaft und die len ist? Die Commerzbank ist nicht mehr im DAX ver- ewige Leier der Vermögensteuer. treten. Unsere Banken stehen also ziemlich schwach da. Ein Trennbankensystem wäre eine echte Verbesserung (Beifall bei der AfD) und wird auch seit Jahren gefordert. Aber politisch war Man kann es nicht mehr hören. das schlicht nicht umzusetzen. Leider muss man zu den Vorschlägen von Bündnis 90/ Zusammenfassend kann ich nur sagen: Grüne und Die Grünen feststellen, dass hier ideologisch und nicht Linke fordern sozialistische Plan- statt sozialer Markt- wirtschaft. (B) sachorientiert argumentiert wird. Die Finanztransaktion- (D) steuer würde Deutschlands Börsenvorhaben in Konkur- renz mit anderen Staaten, die die Finanztransaktionsteuer Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: nicht haben, kaltstellen. Die Immobilienspekulation aus- Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. bremsen: Ja wie will man das denn machen? (Dr. [BÜNDNIS 90/DIE Franziska Gminder (AfD): GRÜNEN]: Steht im Antrag! Können Sie le- Ich komme zum Schluss. – Und sie haben keine guten sen!) Lösungen zur Verhinderung von Finanzkrisen vorzuwei- sen. Ein Finanz-TÜV, keine provisionsorientierte Finanzbera- tung – all das ist kontraproduktiv zum Leistungsprinzip (Beifall bei der AfD) und würgt jede Initiative und die Selbstheilungskräfte Im Gegenteil: Mit ihren Maßnahmen schlittern wir ga- des Marktes ab. rantiert in die nächste Krise. Wer die Ursachen erkennt, muss an diese herangehen Die AfD stimmt der Überweisung der Anträge in den und nicht Symptombehandlung ausführen. Die Ursachen Finanzausschuss zu und hofft dort auf positive Einsich- für die letzte und die wahrscheinlich nächste Finanzkrise ten. liegen aber in der nichtrisikokonformen Verzinsung von Anlagen, Staatsanleihen sowie von Unternehmensanlei- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. hen, wie sie uns die EZB unter Herrn Draghi nun schon (Beifall bei der AfD) seit Jahren aufzwingt.

(Beifall bei der AfD) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Heute haben wir ein ausuferndes und völlig verfehltes Der nächste Redner ist der Kollege Mario Mieruch. Anleihekaufprogramm, das als Quantitative Easing ge- tarnt wird, und eine Gelddruckorgie. Hoffen wir auf ei- Mario Mieruch (fraktionslos): nen deutschen Nachfolger für Draghi. Deutschland ist Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und mit 27 Prozent der größte Zahler für den ESM in der EU Herren! Vielen Dank an dieser Stelle an Frank Schäffler. und darf sich nicht wieder hinter Frankreich zurückdrän- Seinen Beitrag kann ich absolut unterschreiben. gen lassen. Der Staat hat nichts gelernt. Durch immer restriktivere (Beifall bei der AfD) Gesetzgebung, ständige Eingriffe, Marktmanipulationen 5750 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Mario Mieruch (A) in Form von Subventionen, exorbitant hohe Steuern, im- Ein wichtiger Schritt war die Schaffung der Banken- (C) mer mehr Etatismus und insbesondere durch das miss- union, liebe Kolleginnen und Kollegen. Damit haben wir brauchte Geldmonopol, mit dem er sich selbst finanziert, nicht nur die systemrelevanten Banken unter die notwen- Kaufkraft umverteilt oder für fehlgeleitete Ressourcen- dige Aufsicht gestellt, sondern auch gemeinsame Regeln verwendung sorgt, erzeugt er zwar einen Boom, aber für Europa geschaffen. Kein Finanzinstitut musste vor eben keinen nachhaltigen, sondern er erzeugt eine Blase. der Krise Stresstests durchlaufen, Abwicklungspläne Diese Blasen sind allen Gesellschaften, die das bisher aufstellen und so hohe Anforderungen für Eigenkapital probiert haben, irgendwann um die Ohren geflogen und erfüllen, wie das heute der Fall ist. Außerdem gibt es jetzt haben tiefe Spuren hinterlassen. einen Abwicklungsfonds, der mit einer Bankenabgabe fi- nanziert wird, und Eigenkapitalvorschriften, die eine Be- Ich hatte ja – vielleicht im Unterschied zu dem einen teiligung sicherstellen. Mit den neuen Regeln wollen wir oder anderen, der hier sitzt – vorher einen richtigen Job. eins sicherstellen: Eigentümer von Banken müssen die Ich kann mich gut an 2007 und 2008 erinnern, wie fak- Kosten der Rettung tragen – nicht mehr und nicht we- tisch alle meine mittelständischen Kunden in die Kurzar- niger. beit gegangen sind (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ( [CDU/CSU]: Wir hatten der CDU/CSU) keine Arbeit!) Außerdem gehen wir seit der Finanzkrise massiv ge- und selbst leitende Angestellte um ihre Hypotheken gen Steuerhinterziehung und ‑vermeidung vor; denn die fürchteten und die Familien nicht mehr wussten, wie sie Krise hat uns eines gelehrt: Nur ein gut finanzierter Staat ihre Lebenshaltungskosten decken sollten. Wenn falsche kann im Zweifelsfall handeln und die Wirtschaft vor Preissignale weiterhin von der Realwirtschaft abgekop- den Folgen der Zockerei retten. Die BEPS-Initiative der pelt bleiben, werden sie dem Druck der Märkte irgend- OECD ist hier ein wichtiger Schritt. Einige Maßnahmen wann nicht mehr standhalten. Nachhaltiges Wachstum wurden bereits umgesetzt, wie Länderberichte von mul- ist mit expansiver Geldpolitik nicht zu vereinbaren. Man tinationalen Konzernen und neue Standards bei Verrech- sollte gegenüber den Bürgern ehrlich sein. Vorhin hieß nungspreisen. Andere setzen wir demnächst um, wie zum es ja wieder, bis 100 000 Euro seien die Spareinlagen Beispiel die Anzeigepflicht für Steuergestaltungen und sicher. Sind sie nicht, weil die Einlagensicherungsfonds eine bessere Besteuerung von digitalen Unternehmen. diese Sparguthaben nicht einmal im Ansatz abdecken. (Beifall bei der SPD) An die SPD adressiert: Es war Ihr Finanzminister Steinbrück, der damals maßgeblich an der Deregulierung Doch wir müssen auch feststellen: Diese Maßnahmen der Finanzmärkte beteiligt war. reichen nicht aus. Viele Menschen teilen das Gefühl, dass (B) die Banker und die Finanzindustrie viel zu gut wegge- (D) Griechenland wurde vorhin erwähnt. Was haben wir kommen sind. Das hat den Nährboden für den Populis- in Griechenland erreicht? Griechenland hat statt 107 Pro- mus, für Populisten wie die AfD geschaffen. Antworten zent vor dem ersten Rettungspaket heute 180 Prozent bieten sie zwar nicht, aber sie nutzen den Frust der Men- Staatsverschuldungsquote, 60 Prozent Jugendarbeitslo- schen. Deswegen dürfen wir die Finanzelite nicht von der sigkeit und ziemlich wenig Perspektive. Wer als über- Angel lassen; und das werden wir auch nicht tun. zeugter Europäer auftreten möchte und argumentiert, der sollte sich mal fragen, ob der Ausspruch „Deutschland (Beifall bei der SPD) profitiert von dem, was wir tun, am meisten“ fair und Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen auch sinnvoll ist. eine Finanztransaktionsteuer. Wir als SPD kämpfen seit Vielen Dank. Jahren für deren Einführung und haben sie in den Koaliti- onsvertrag für diese Legislaturperiode hineinverhandelt. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Doch der Kampf, wie sich zeigt, erweist sich als schwie- rig. Immer wieder werden uns Steine in den Weg gelegt. Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Die Finanzlobby wehrt sich mit Händen und Füßen. Ihr Cansel Kiziltepe. kommt dabei zugute, dass wir eine wirksame Finanztrans- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten aktionsteuer eben nur auf europäischer Ebene umsetzen der CDU/CSU) können. Doch wir dürfen und wir wollen uns davon nicht abhalten lassen. Mit der Finanztransaktionsteuer stellen Cansel Kiziltepe (SPD): wir nämlich sicher, dass die Krisenverursacher auch für die Kosten der Krise verantwortlich gemacht werden und Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und sich an den Kosten für das Gemeinwohl beteiligen. Wenn Kollegen! Jubiläen wie der Zusammenbruch von Lehman uns die Einführung in Europa nicht gelingt, dann müssen Brothers sollten uns zum Nachdenken anregen. Vor zehn wir eben in Deutschland mit gutem Beispiel vorangehen. Jahren hat sich die Finanzbranche verzockt, verstand ihre eigenen Produkte nicht mehr und drohte uns alle mit in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den Abgrund zu reißen. Das darf nicht noch einmal pas- der LINKEN) sieren. Um das zu verhindern, haben wir richtige Schritte Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen aber unternommen, am Ziel sind wir aber noch lange nicht auch Entwicklungen im Finanzbereich beobachten, wir angekommen. müssen aufmerksam sein; denn Finanzmarktentwicklun- (Beifall bei der SPD) gen sind nicht statisch, sondern dynamisch. Wir müssen Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5751

Cansel Kiziltepe (A) immer wieder gucken, was schiefläuft, wo Lücken ge- schaft zu finanzieren und den Menschen die Möglichkeit (C) sucht und auch gefunden werden. zu geben, Eigentum aufzubauen. Im Moment sollten uns insbesondere die Entwicklun- (Beifall bei der FDP) gen auf dem Immobilienmarkt Sorgen machen. Seit der Finanzkrise stürzt sich die Industrie auf Wohnungen in Deswegen müssen wir, die Politik und die Aufsicht, sehr Deutschland. Sie pumpt den Sektor mit Geld voll. Lei- genau beobachten, ob und welche Risiken entstehen. All der entstehen dadurch kaum neue Wohnungen, sondern dies leisten die beiden vorgelegten Anträge nicht. bestehende Mietwohnungen werden immer mehr zu Ka- (Beifall bei der FDP) pitalanlagen und handelbaren Waren. Das treibt wiede- rum die Preise in die Höhe. Das gefährdet nicht nur die Selektive Wahrnehmung ist eine Eigenschaft, bei der Finanzstabilität, sondern verdrängt auch Menschen aus nur bestimmte Aspekte der Umwelt wahrgenommen und ihren Wohnungen. Wohnen ist keine Ware. Das kann und andere ausgeblendet werden. So kommen mir die Anträge darf nicht sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. vor . Ein Beispiel: Die Kollegen von der Linken ergehen sich darin, dass „der fortgeführte Systemwechsel“ hin zu (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kapitalgedeckter Altersvorsorge „die Finanzmärkte mit der LINKEN) anlagesuchendem Kapital“ flute und „mit (kurzfristigen) Wir sollten auch nicht vergessen: Die Finanzkrise hat Renditeerwartungen“ einhergehe. Ich frage mich: In wel- auf dem amerikanischen Häusermarkt angefangen. Aber cher Realität leben Sie eigentlich? nicht nur das: Finanzkrisen zeigen auf dem Wohnungs- (Beifall bei der FDP) markt auch ihr hässlichstes Gesicht. Wir müssen nur an die Menschen in Spanien denken, die ihre Häuser, ihre In Deutschland kommen noch immer circa drei Viertel Wohnungen verloren haben. Damit wir solche Szenen der Alterseinkommen aus der umlagefinanzierten gesetz- nicht in Deutschland haben, braucht die Finanzindustrie lichen Altersvorsorge. klare und strenge Regeln für den Immobiliensektor. Das, was auf dem Wohngipfel beschlossen wurde, nämlich (Jörg Cezanne [DIE LINKE]: Das ist auch das Verbot der Umwandlung von Miet- in Eigentums- gut so!) wohnungen, ist ein erster wichtiger Schritt. Gleichzeitig gibt es Schätzungen, dass die Bürgerinnen Wir müssen aber auch Steuerschlupflöcher wie die und Bürger allein in den ersten sechs Monaten dieses Share Deals, mit denen die Grunderwerbsteuer umgan- Jahres einen Zinsverlust von circa 17 Milliarden Euro gen wird, schließen. hinnehmen mussten, weil sie eben nicht in kapitalge- deckte Produkte in entsprechendem Maße haben inves- (B) (Beifall bei der SPD) tieren können. (D) Auch das haben wir als Sozialdemokraten in den Koaliti- Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der onsvertrag hineinverhandelt. Das wurde auf dem Wohn- Linken, ist wieder einmal der Versuch, unser Wirtschafts- gipfel beschlossen, und das ist auch gut so. system nach planwirtschaftlichen Traumvorstellungen Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Wir ar- umzubauen, beiten national wie europäisch und international, um (Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Das Gegenteil Finanzkrisen in Zukunft vorzubeugen. Wir wollen die von Plan ist planlos!) Finanzwende. Unterstützen Sie uns dabei! Ich freue mich auf die Diskussion im Finanzausschuss. und das auf vier Seiten Papier. Dabei beschäftigen Sie sich noch nicht einmal mit den wirklichen Problemen Vielen Dank. und Risiken, die wir haben. Die Grünen – das muss ich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sagen – tun das etwas differenzierter. Sie reden nicht von der CDU/CSU) den Auswirkungen der Niedrigzinsphase, die für die Sta- bilität der Banken, der Versicherungen und der Sparer Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: entstehen. Sie erwähnen mit keinem Wort die Risiken der hohen Staatsverschuldung und sagen kein Wort zu der Für die FDP-Fraktion hat das Wort die Kollegin engen Verknüpfung von Banken und Staaten, die Exper- Bettina Stark-Watzinger. ten mit als eine der größten Gefahren bezeichnen! (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Bettina Stark-Watzinger (FDP): Für uns ist essenziell: Kein Akteur auf dem Finanz- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und markt darf davon ausgehen, dass andere ihn retten. Kollegen! Ja, der Jahrestag der Lehman-Insolvenz ist in der Tat ein Anlass, die bestehende Finanzmarktregulie- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: rung zu hinterfragen – Eigenkapitalunterlegung, Banken- Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Frau Kollegin? abwicklung, Verbraucherschutz, die Aufsicht. Haben wir unser Ziel erreicht, ein stabiles Finanzsystem zu schaf- fen? Klar ist: Die Kapitalmärkte müssen verantwortungs- Bettina Stark-Watzinger (FDP): voll agieren. Sie müssen aber auch ihre Aufgabe erfüllen Vielleicht gleich eine Kurzintervention. Ich habe nur können. Sie haben nämlich die Aufgabe, unsere Wirt- noch zwei Sätze. Dann aber sehr gerne. 5752 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Bettina Stark-Watzinger (A) Für uns ist essenziell: Kein Akteur auf dem Finanz- Nur so viel: Weltweit wurden Menschen um Ersparnisse (C) markt darf davon ausgehen, dass er von anderen gerettet gebracht. Es mussten Staaten enorme Summen aufbrin- wird. Das ist unser schärfstes Schwert. Verantwortung, gen, um weitere Banken vor dem Zusammenbruch zu ret- Risiko und Haftung müssen zusammenbleiben, das heißt ten. Die Weltwirtschaft stand vor dem Abgrund. Insolvenzrecht, Abwicklungsregime. Wir müssen die Ka- pitalmarktunion stärken, damit privates Kapital und nicht Diese schwere Krise und ihre Folgen haben uns vor der Steuerzahler oder der Sparer für Risiken haftet. Wir allem gelehrt, das Verhältnis von Staat und Markt im Fi- brauchen Transparenz für Anleger. Wir müssen die Anle- nanzsektor neu zu definieren, mit dem Ziel, den Finanz- ger in die Lage versetzen, die richtige Entscheidung zu märkten einen robusten Ordnungsrahmen und effiziente treffen. Strukturen zu geben. Auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene haben wir seitdem eine Vielzahl Ja, Finanzmarktregulierung ist mehr als die Orientie- von Maßnahmen umgesetzt. Deutschland ist auf diesem rung an Wettbewerbsfähigkeit oder Ertragskraft. Aber es Weg vorangegangen, um die Anfälligkeit für neue Fi- darf nicht darum gehen, der Finanzwirtschaft maximalen nanzkrisen zu reduzieren. Gerade unserem langjährigen Schaden zuzufügen. Es muss uns um Mehrwert für Sta- Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble gilt dafür bilität und Verbraucherschutz gehen. unser Dank. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP) Die Aufsicht über den Finanzmarkt hat sich seit der Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Finanzkrise tiefgreifend verändert. Eine schwache Auf- sicht hat die damalige Krise erst ermöglicht, und gera- Frau Kollegin, Sie dürfen Platz nehmen. – Das Wort zu de die grenzüberschreitende Kooperation war während einer Kurzintervention hat jetzt der Kollege Sepp Müller. der Finanzkrise völlig unzureichend. Es wurde deutlich, dass in einer immer komplexer werdenden und vernetz- Sepp Müller (CDU/CSU): ten Welt rein nationale Maßnahmen und Regulierungen Herr Präsident! Liebe Kollegin, Sie sagten, der Antrag nicht mehr ausreichen. Deshalb wurde länderübergrei- der Grünen sei differenzierter. Unter anderem geht es fend gehandelt. Der Finanzstabilitätsrat, FSB, wurde dort um das Thema Green Finance. Wir haben gehört – durch die G-20-Länder eingerichtet, um Schwachstel- das ist auch in der Diskussion –, wie zukünftig Eigenka- len des internationalen Finanzsystems zu identifizieren pital bei grünen Finanzierungen hinterlegt werden soll. und die Regulierungspolitik auf internationaler Ebene zu Sie sind Volkswirtin. Wie ist Ihre Meinung dazu, dass koordinieren. Das Europäische Finanzaufsichtssystem, (B) Realwirtschaft mit finanzwirtschaftlichen Instrumenten ESFS, hat 2011 seine Arbeit aufgenommen und sorgt für (D) unterstützt werden soll? eine einheitliche Finanzaufsicht in der EU. Die einheitli- che europäische Bankenaufsicht, SSM, agiert grenzüber- Bettina Stark-Watzinger (FDP): schreitend und präventiv unter dem Dach der EZB als zentrale Bankenaufsichtsbehörde im Euro-Raum. Lieber Kollege Müller, das ist eine wichtige Frage; denn hier kommt ein ganz großes Projekt der Europä- Aber nicht nur die Aufsicht war zu schwach. Die da- ischen Union auf uns zu. Ich glaube, wir alle sind uns malige Krise hat auch gezeigt, dass viele Finanzinstitute einig, dass es aufseiten der Verbraucher eine große Nach- nicht ausreichend in der Lage waren, Verluste zu ver- frage gibt, nachhaltig anzulegen. Die Industrie bietet kraften. Es war daher wichtig, die Finanzinstitute wider- auch schon entsprechende Produkte an. Was aber nicht standsfähiger zu machen. Dazu haben meine Kollegin passieren darf, ist, dass der Staat normativ eingreift, dass Antje Tillmann und Kollege Alexander Radwan in ihren er anfängt, Kapital zu lenken, und Risiko nicht mehr ad- Reden bereits viele wichtige Punkte angesprochen. Die- äquat mit Eigenkapital unterlegen lässt. Es darf keinen sen Weg werden wir gemeinsam in der Koalition auch Trade-off von Risiko und nachhaltiger Anlage geben. mit dem neuen Finanzminister Olaf Scholz konsequent (Beifall bei der FDP) weitergehen. Finanzkrisen verhindern – das ist unser gemeinsames Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Ziel. Leider tragen die beiden Anträge von Bündnis 90/ Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt: der Die Grünen und Die Linke dazu inhaltlich sehr wenig Kollege Matthias Hauer, CDU/CSU-Fraktion. bei. Auch viel Neues findet sich darin nicht. Gerade der (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Antrag der Linken liest sich eher wie ein allgemeines Metin Hakverdi [SPD]) Sammelsurium aus ihrem Wahlprogramm. An vielen Stellen fällt es schwer, einen Zusammenhang zum The- ma zu erkennen. Sie von den Linken wollen neue Steuern Matthias Hauer (CDU/CSU): einführen, obwohl wir niemals höhere Steuereinnahmen Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und hatten als heute. Sie versprechen jedem einen Betrag von Herren! In diesem Monat jährt sich die Insolvenz der 1 050 Euro netto – ohne irgendeine Aussage, wie das fi- amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers zum nanziert werden soll. zehnten Mal. Das war gleichzeitig der Höhepunkt der Fi- nanzkrise von 2007/2008; dazu haben wir gerade schon (Zuruf des Abg. Ralph Lenkert [DIE viel gehört. Ich will das alles natürlich nicht wiederholen. LINKE]) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5753

Matthias Hauer (A) Aber auch bei anderen Themen versprechen Sie das gen. Es gibt die Geeignetheitserklärung. Auch die Ho- (C) Blaue vom Himmel: Mindestlohn, Rente, Gesundheit, noraranlage-Beratung haben wir gestärkt. Sie kämpfen Bildung, Pflege, Wohnungsbau, Verkehr, Energie, Di- beharrlich gegen die Provisionsberatung. Die Festlegung gitales. Was hat das alles gemeinsam? Sie glauben: Das auf eine Beratungsform führt aber am Ende zu weniger hat viel mit dem Thema Lehman-Pleite zu tun. Das alles, Beratung. Lassen Sie doch den Verbrauchern die Wahl, wohlgemerkt, in einem Antrag zu diesem Thema! Das auf welche Beratungsform sie zurückgreifen wollen! spricht schon für sich. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Frank Schäffler [FDP]: Das ist schwach!) Ich komme zum Ende. – Wir brauchen keine Finanz- Sie sprechen zwar wichtige Themen an, aber Sie ha- wende oder gar ein völlig neues Finanzsystem, wie es ben leider die falschen Lösungsansätze. Die Linke möchte. Es gilt vielmehr, den bestehenden Re- gulierungsrahmen da, wo es nötig ist, fortzuentwickeln (Beifall bei der CDU/CSU – Frank Schäffler und an die neuen Herausforderungen anzupassen. Es ist [FDP]: Das stimmt!) ein Anliegen der Koalition, insbesondere kleinere Insti- Mit Ihren Vorschlägen würde es den Menschen am Ende tute zu entlasten, soweit von ihnen geringere Risiken für schlechter gehen. Eine Finanzkrise würde durch Ihre die Finanzstabilität ausgehen. Es darf keine Regulierung Vorschläge eher wahrscheinlicher als verhindert. Die um ihrer selbst willen geben. Staatsverschuldung würde durch die Decke gehen, wenn Es bleibt festzustellen: Die europäische Harmonisie- man Ihrem Forderungsbündel tatsächlich zustimmen rung hat die Finanzmärkte transparenter und robuster würde. Wir als Union werden weiter dafür kämpfen, dass gegen Krisen gemacht. Daran werden wir mit unserem Sie von der Linken niemals Gelegenheit haben werden, Koalitionspartner weiter arbeiten. Wir werden wachsam diese Forderungen durchzusetzen bleiben. (Helin [DIE LINKE]: Das ent- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. scheiden die Wählerinnen und Wähler, nicht Sie! Wo sind wir denn?) (Beifall bei der CDU/CSU) und unser Land runterzuwirtschaften. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Beifall bei der CDU/CSU) Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache. Wir wollen, dass unser Land leistungsfähig bleibt und Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf dass es den Menschen besser geht. den Drucksachen 19/4241 und 19/4052 an die in der (B) Der Antrag der Grünen befasst sich zumindest mit Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. (D) dem Thema. Damit unterscheidet er sich von Ihrem An- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann trag, von dem der Linken. Es finden sich da auch durch- ist die Überweisung so beschlossen. aus einige gute Forderungen, so die nach der Regulierung Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: von Schattenbanken. Erste Beratung des von der Bundesregierung (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Bana- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be- nenrepublik!) schleunigung von Planungs- und Genehmi- Die können Sie im Übrigen im Koalitionsvertrag nach- gungsverfahren im Verkehrsbereich lesen. Wir wollen das im Rahmen einer internationalen Drucksache 19/4459 und einer europäischen Lösung angehen; denn gleiches Geschäft muss auch gleich reguliert werden. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) Der Antrag der Grünen wirkt ein bisschen wie Wer- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz bung für den neuen Verein von Herrn Dr. Schick; er hat Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit auch einen gleichnamigen Titel. Frau Kiziltepe hat den Haushaltsausschuss Titel auch aufgegriffen. Ich hoffe, das hat nichts Nega- Interfraktionell vereinbart: 38 Minuten. – Es gibt dazu tives zu sagen. Aber wenn Ihr Verein tatsächlich so un- keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen. abhängig und überparteilich sein soll, Herr Dr. Schick, ist es vielleicht keine so gute Idee, unter dem Titel einen Ich eröffne die Aussprache. Der erste Redner ist der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen in den Bundestag Parlamentarische Staatssekretär Enak Ferlemann. Herr einzubringen. Staatssekretär, Sie haben das Wort.

(Zuruf von der CDU/CSU: Aha!) Enak Ferlemann, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Zum Bereich Verbraucher- und Anlegerschutz ist viel minister für Verkehr und digitale Infrastruktur: gesagt worden. Wir haben in den letzten Jahren da sehr Sehr geschätzter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen viel getan, zuletzt noch mit der EU-Zahlungsdienste- und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Her- richtlinie. Davon profitieren Verbraucher beim Bezahlen. ren! Die Bundesregierung legt Ihnen hiermit einen Ge- Über Risiken von Finanzprodukten wird stärker aufge- setzentwurf zur Beschleunigung von Planungsverfahren klärt, Stichwort „PRIIPs-Verordnung“. Mit MiFID II im Verkehrsbereich vor. Warum haben wir das gemacht? haben wir den Anlegerschutz verbessert. Es gibt mehr Deutschland ist Exportweltmeister. Mit einem Anteil Informationen über die Kosten von Finanzdienstleistun- an der Weltbevölkerung von knapp über 1 Prozent ha- 5754 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Parl. Staatssekretär Enak Ferlemann (A) ben wir in diesem Land eine Wirtschaft aufgebaut, die Unwort geworden: viel zu lang, viel zu kompliziert. Wir (C) ihresgleichen sucht. Wir sind das große Exportland in können mit der Plangenehmigung wesentlich schneller der Welt. Im Verhältnis zu unserer Bevölkerung produ- sein, vor allem wenn es um Ersatzneubauten geht. Auch zieren wir eine Riesenwarenmenge und bringen sie über das finden Sie in dem Gesetzentwurf wieder. den Export in alle Welt, importieren dafür Rohstoffe oder Teilfertigprodukte. Wir haben für mehr Transparenz gesorgt. Heute kön- nen und müssen alle Planungen ins Internet gestellt wer- Zugleich sind wir auch Logistikweltmeister. Darauf den, sodass sich die Bürgerinnen und Bürger, die bei sind wir besonders stolz. Das heißt, die logistischen manchen Projekten durchaus kritisch sind, genau infor- Prozesse in Deutschland sind besonders gut organisiert, mieren können: In welchem Planungsstand befindet man besonders effizient und besonders wirtschaftsnah. Aber sich? Wie weit sind die Planungsbehörden? Was kommt dafür braucht man eine sehr gute und leistungsfähige In- auf uns zu? Wo kann ich mich gegebenenfalls mit guten frastruktur. Vorschlägen zur Verbesserung beteiligen? Wir haben das sehr genau analysiert. Ich bin sehr (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Ha, ha, ha!) dankbar, dass der Deutsche Bundestag in der vergan- genen Legislaturperiode mit einer übergroßen Mehrheit Es ist eine Fülle weiterer Punkte enthalten. All das festgestellt hat, dass die Analysen richtig sind, die wir wird dazu führen, dass wir wesentlich effizienter und ef- dazu gemacht haben, wie sich die globalen Warenströme fektiver planen können, um mit weniger Planern mehr entwickeln werden, wie sich die Handelsströme entwi- auf die Straße, auf die Schiene oder auf die Wasserstra- ckeln werden und daraus folgend: Was brauchen wir an ße bringen zu können. Aber ich sage Ihnen ganz ehrlich: Verkehrsinfrastruktur, um dieses Volumen abwickeln zu Das wird nicht reichen. Da freue ich mich auf eine sehr können? intensive Beratung zu diesem Gesetz. Ich habe gesehen, dass der Verkehrsausschuss in dieser Woche bereits eine Wir haben dann einen darauf fußenden Bundesver- Anhörung beschlossen hat. Da werden wir sicher viele kehrswegeplan vorgelegt, der die Antworten auf genau Vorschläge bekommen. Ob die rechtlich funktionieren die Fragen gibt: Was müssen wir investieren in die Was- oder nicht, wird dann eine Frage der Beurteilung nach serstraßen, in die Schienenwege, in die Straßen? Wie den Anhörungen und der Beratung in den Ausschüssen schaut es mit dem Luftverkehr aus? Welche anderen sein. Infrastrukturen brauchen wir in diesem Land? – Nach- dem Sie diesen Plan sozusagen bewilligt haben, indem Ich glaube, dass wir mit diesem Gesetzentwurf eine Sie Ausbaugesetze dazu beschlossen haben, haben wir gute Grundlage gelegt haben, mit der wir auch durch den gesagt: Jetzt brauchen wir ausreichend Geld, um diese Bundesrat kommen – dieses Gesetz ist im Bundesrat ja (B) Maßnahmen auch umsetzen zu können. – Dazu hat der zustimmungsbedürftig –, sodass wir ab dem 1. Januar (D) Deutsche Bundestag in einer, wie ich finde, einmaligen nächsten Jahres bei vielen Verfahren wirklich deutlich Aktion, festgelegt: 270 Milliarden Euro darf das Bundes- schneller sein können. verkehrsministerium bis zum Jahr 2030 ausgeben, um Ich sage allerdings ganz ehrlich: Es ist nicht das Ende all die Maßnahmen, die dort enumerativ aufgelistet sind, der Kette, und es ist auch noch nicht der Weisheit letzter umsetzen zu können. Man kann also sagen: Wir haben Schluss. Wir haben ein Gutachten in Auftrag gegeben zur einen sehr guten Plan, und wir haben ausreichend Geld. Machbarkeit eines Maßnahmegesetzes. Es geht darum, Dann sind wir auf das nächste Problem gestoßen, dass wir eine Maßnahme direkt mit einem Gesetzge- nämlich dass wir gar nicht genug Planer haben, die bungsverfahren machen können – sehr ähnlich wie unse- das umsetzen können, und dass die Planverfahren in re Kollegen in Dänemark das machen, die hier durchaus Deutschland viel zu kompliziert sind, viel zu komplex ein Vorbild sind, die relativ schnell, relativ transparent, geworden sind, um diese Maßnahmen zeitnah umsetzen aber auch relativ gut Planverfahren durchziehen kön- zu können. Deswegen haben wir uns Gedanken gemacht, nen, und zwar in einer viel kürzeren Zeit, als wir das in wie wir im bestehenden System die Planungen beschleu- Deutschland gewohnt sind, ohne Abbau von irgendwel- nigen können. Das Ergebnis sehen Sie heute an dem, was chen Mitbestimmungs- und Beteiligungsrechten. wir Ihnen vorgelegt haben. Nun muss man zugeben: Das Wir werden uns genau ansehen müssen, ob wir nicht beinhaltet das, was wir im bestehenden Rechtssystem auch im Umweltbereich – der ist in diesem Gesetz nicht machen konnten. Wir haben eine sehr starke Fokussie- angesprochen – einige Verbesserungsmaßnahmen durch- rung auf den Schienenbereich. Wir haben zum Beispiel führen können. Was wir bei vielen Maßnahmen feststel- die Konzentration auf das Eisenbahn-Bundesamt als An- len, ist ja, dass es Umweltschützer gibt, die sich wirklich hörbehörde – statt 37 Behörden, die derzeit in Deutsch- engagiert für die Natur und die Landschaft einsetzen. land dafür zuständig sind. Und jede Infrastrukturmaßnahme greift ja in Natur und Mit Blick auf die Planungsbeschleunigung insbeson- Landschaft ein. Das ist gut und das ist richtig so. Es muss dere bei Schienenstrecken haben wir gesagt: Wir wollen eine Lobby für die Umwelt in Deutschland geben. nur noch eine Gerichtsinstanz, nur noch die Direktvorla- (Stephan Kühn [Dresden] [BÜNDNIS 90/ ge zum Bundesverwaltungsgericht. Auch das beschleu- DIE GRÜNEN]: Das sind wir!) nigt enorm. Das begrüßen wir außerordentlich. Enthalten ist auch, dass wir gern mehr Plangenehmi- gungen machen wollen. Wie Sie wissen: „Planfeststel- Wenn aber von Gegnern des Projektes der Umwelt- lungsverfahren“ ist in Deutschland zum Teil schon zum schutz nicht in erster Linie zum Schutz der Umwelt ge- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5755

Parl. Staatssekretär Enak Ferlemann (A) nutzt wird, sondern um das Projekt zu verhindern, dann nicht ausreichen, um eine entscheidende Beschleunigung (C) stimmt etwas im System nicht. Dann müssen wir die der Verfahren zu erreichen. Aber die brauchen wir, um Umweltbelange wieder auf das notwendige Maß zurück- wirklich voranzukommen. Es kann nicht sein, dass wir in führen, aber das Verfahren so gestalten, dass man die diesem Land Jahrzehnte für wichtige Verkehrsvorhaben Umweltpolitik nicht dazu nutzen kann, das Verfahren brauchen. auszuhebeln. Nehmen wir beispielsweise das Verkehrsprojekt Deut- Wir werden uns die Dinge genau angucken: mit Blick sche Einheit Nummer 1, die Bahnausbaustrecke von Lü- auf die Wasserrahmenrichtlinie, die Beteiligungen im beck und Hagenow Land über Rostock nach Stralsund. Umweltbereich, die Durchgriffsmöglichkeit des Um- Daran werkeln wir jetzt seit 28 Jahren. Es ist toll, dass weltrechtes, den Artenschutz und all die Fragen, mit de- die Strecke zu den Projekten gehören soll, bei denen nen wir uns tagtäglich beschäftigen. Es kann nicht richtig das Bundesverwaltungsgericht erstinstanzlich zuständig sein, dass Verkehrsplaner zu Hobbyornithologen werden wäre; aber das kommt ein bisschen spät. und dass eine Strecke nicht mehr gebaut werden kann, nur weil ein bestimmter Vogel gefunden wird. Dann muss Oder nehmen wir die A 7, unsere längste Nord-Süd-Au- man Lösungen finden, wie man der Natur zu ihrem Recht tobahn. Das letzte Stück bei Füssen hat von der Planung verhilft, aber gleichzeitig Infrastruktur schaffen kann. bis zur Vollendung des Baus fast 30 Jahre in Anspruch genommen. Man könnte sagen: Bis so eine Strecke in Die Antworten auf diese Fragen gibt dieser Gesetz- Betrieb geht, sind die ersten Planer schon weggestorben. entwurf logischerweise noch nicht. Es wird eine weitere Das ist, glaube ich, nicht richtig. intensive Beratung geben. Ich glaube, dass das bei den Anhörungen deutlich rauskommen wird. Wir werden (Beifall bei der AfD) Vorschläge machen, wie wir mit Maßnahmegesetzen bestimmte Projekte direkt im Deutschen Bundestag be- Die Ausweitung der erstinstanzlichen Zuständigkeit handeln und beraten können, um noch schneller große des Bundesverwaltungsgerichts wird nicht ausreichen. Projekte in der Infrastruktur durchzubekommen. Zwar sollen drei neue Richterstellen geschaffen wer- den, aber das Problem der Klageflut und der überlangen Aber für den heutigen Tag ist dies erst mal ein erster Prozesse wird damit eben einfach nur verlagert. Der Fla- guter Aufschlag, ein guter Anfang, um die guten Planun- schenhals bleibt. Sie werden das Problem damit nicht gen, die guten Ideen, die wir haben, das viele Geld, das lösen können. wir von Ihnen bekommen haben, möglichst effizient und schnell umsetzen zu können. Deswegen bitte ich um in- Es wäre eigentlich gar nicht so schwer. Die Bundes- tensive Beratung und Unterstützung zu diesem Gesetz- regierung könnte zum Beispiel auf den Rat der Experten (B) entwurf. hören. Das Innovationsforum Planungsbeschleunigung (D) hat ja gute Vorschläge geliefert. Ich kann die Lektüre des Herzlichen Dank. Berichts nur wärmstens empfehlen. Schaffen Sie also endlich wirksame Regelungen zur Präklusion. Vor allem: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Schränken Sie das Verbandsklagerecht ein – oder besser noch: Schaffen Sie es ab. Es sind die Verbandsklagen, die Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: oft missbraucht werden, um Bauvorhaben lahmzulegen. Für die Fraktion der AfD hat das Wort der Kollege Leif-Erik Holm. (Beifall bei der AfD – Stephan Kühn [Dres- den] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist (Beifall bei der AfD) doch Unsinn!) Ein Blick über die Ländergrenzen kann helfen. Andere Leif-Erik Holm (AfD): sind eben deutlich schneller und effizienter. Dänemark Liebe Bürger! Herr Präsident! Meine Damen und ist von Herrn Ferlemann angesprochen worden; das ist Herren! Das Thema Planungsbeschleunigung klingt erst genau das richtige Beispiel. Dort läuft es. Großprojekte mal tatsächlich nicht besonders sexy. Aber es ist eben ein wie die Fehmarnbelt-Querung liegen im Zeit- und Kos- wichtiger Baustein dafür, dass wir beim Ausbau unserer tenrahmen – und das, obwohl Dänemark unter der glei- Infrastruktur wirklich Fahrt aufnehmen. Im Moment sind chen Knute der überbordenden EU-Regelungen steht. wir ja leider im Schneckentempo unterwegs. Immerhin: Wir dagegen bekommen es nach wie vor nicht auf die Die Bundesregierung hat das jetzt auch erkannt, aber – Reihe. Wir müssen ja nur die Verkehrsanbindung zu die- um im Bild zu bleiben –: Mit Ihrem Gesetzentwurf schal- sem Tunnel bauen, den die Dänen selber finanzieren und ten Sie nicht den Turbo zu, sondern maximal in den zwei- bauen. Aber wir hängen schon jetzt meilenweit hinterher. ten Gang. Herr Ferlemann, Sie haben das ja im Prinzip Das darf nicht sein in einem Land, das früher für sei- angedeutet. ne exzellente Infrastruktur bekannt war. Wir dürfen hier Es ist sinnvoll, klar, wenn zeitraubende Doppelprü- nicht weiter zurückfallen in Europa. fungen vermieden und Planungsverfahren gebündelt (Beifall bei der AfD) werden. Es ist gut, wenn mit vorbereitenden Baumaßnah- men frühzeitig begonnen werden kann und die Verfah- Ein paar Zahlen dazu. In Dänemark liegen zum ren effizienter werden. Und es ist zu begrüßen, wenn die Bau der Fehmarnbelt-Querung 36 Einsprüche vor, in Klagewellen zumindest etwas eingedämmt werden. Aber Deutschland sind es 12 400. Genau da müssen wir ran; das Problem liegt hier im Wort „etwas“. Es wird eben da bremst es. 5756 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Leif-Erik Holm (A) Was macht die dänische Regierung besser als die nicht vernünftig dargelegt werden können. Wir brauchen (C) Merkel-Truppe? Die Bürger werden sehr frühzeitig und die Verbände, damit sie uns auf einige Dinge aufmerk- unbürokratisch einbezogen, Planungen werden dort ge- sam machen, die sonst bei der Planung überhaupt keine gebenenfalls schon dann angepasst. So wird Akzeptanz Berücksichtigung finden würden. geschaffen. Die Genehmigungs- und Planungsverfah- ren sind wesentlich schlanker als bei uns, und sie lau- Aber es gibt zwei Dinge, die wir außerhalb dieses Ge- fen komplett digital – das, was bei uns noch Neuland ist. setzes noch deutlich verändern sollten. Zum einen – das Am Ende gießt das Folketing, das Parlament vor Ort, das geht an die Länder – brauchen wir mehr Kapazitäten an Ganze in Gesetzesform. Das schafft Verlässlichkeit und den Gerichten, sodass, wenn Menschen ihr Recht wahr- sichert eine zügige Abwicklung. So kann es gehen, und nehmen, die Verfahren nicht mehr jahrelang dauern, son- daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen. dern deutlich verkürzt werden. Zum anderen müssen wir als Bund bei der Planung besser werden. Wir haben die (Beifall bei der AfD) Infrastrukturgesellschaft gegründet, um hier deutlich vo- ranzukommen. Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf greift zu kurz. Er wird die Kardinalfehler in den Planungsver- Wir wollen – das wurde schon angesprochen – eine fahren lindern, aber nicht wirklich beheben können. Wir Anhörung machen. In dieser Anhörung haben wir die wünschen uns deutlich mehr Mut, damit unsere Bürger Chance, einige Dinge, die vielleicht das ein oder ande- und Unternehmen schneller aus dem Stau kommen. re Verfahren noch kürzer, noch besser machen können, mit den Fachleuten zu erörtern. Ich spreche hier nur zwei Herzlichen Dank. Fragen an. Die eine lautet: Nach welchen Grundlagen (Beifall bei der AfD) werde ich das Ganze vor Gericht schließlich bewerten? Es geht also um den Stand von Wissenschaft und Tech- nik. Wann legen wir ihn fest? Wonach richten wir uns da? Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Die zweite Frage lautet: Können wir nicht Raumordnung Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin und Planfeststellung zusammenlegen? Das würde uns ei- Kirsten Lühmann. nen deutlichen Schritt nach vorne bringen. Liebe Kolle- (Beifall bei der SPD) gen, liebe Kolleginnen, lassen Sie uns das mit den Fach- leuten diskutieren, damit unsere Infrastruktur schneller besser wird. Kirsten Lühmann (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Herzlichen Dank. Sehr verehrte Anwesende! In meinem Wahlkreis soll es (B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D) in der Weimarer Zeit zum ersten Mal die Überlegung der CDU/CSU) einer Ortsumfahrung um Celle gegeben haben. Das ist nun nicht die durchschnittliche Dauer eines Planungspro- zesses. Aber als wir dann angefangen haben, das Ganze Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: zu verwirklichen, ergab sich nach zwei Bauabschnitten, Nächster Redner: der Kollege Torsten Herbst, dass wir den Schwerlastverkehr durch eine historische FDP-Fraktion. Innenstadt leiten mussten, die auch noch stark von Fami- (Beifall bei der FDP) lien bewohnt ist, sodass das Ganze hakte. Wir dachten, es sind wenige Jahre erforderlich, aber wir sind inzwischen bei über zehn Jahren Planung angekommen, ohne dass es Torsten Herbst (FDP): eine Ausschreibung gibt. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! In einem Punkt gebe ich dem Bundesverkehrsmi- Sie alle kennen diese Beispiele aus Ihren Wahlkrei- nisterium ausdrücklich recht: Wir bauen viel zu langsam sen. Wir brauchen dringend eine Beschleunigung der und oft zu teuer. Das müssen wir dringend ändern. Planungsverfahren, aber mit rechtzeitiger Beteiligung der Bürger und Bürgerinnen und unter Berücksichtigung (Beifall bei der FDP) der Belange der Umwelt. Nur dann wird das Ganze zum Erfolg führen. Wenn wir mittlerweile über zehn Jahre für die Planung von 2 Kilometern Radweg entlang der Elbe in meiner (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Heimatstadt Dresden brauchen, wenn wir über 20 Jah- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der re für einen 5 Kilometer langen Lückenschluss bei der CDU/CSU) B 178 in der sächsischen Lausitz brauchen und wenn wir vermutlich über 40 Jahre für den Lückenschluss auf der Unsere Verfahren sollen nicht schlechter oder unge- A 14 zwischen Magdeburg und Schwerin brauchen, dann nauer werden, sondern schneller. Darum haben wir in ist das eine Bankrotterklärung für ein entwickeltes Indus- diesem Gesetzentwurf die Verkürzung des Rechtsweges trieland. auf die Projekte beschränkt, wo das Ganze verhältnismä- ßig ist; denn nicht umsonst ist die Rechtsweggarantie ein (Beifall bei der FDP) sehr hohes Gut in unserer Verfassung. Auch wenn die Grünen da immer protestieren: Wir Auch die Möglichkeit der Verbandsklage haben wir wollen, dass Bauen schneller geht. Beispiele wie die, die erhalten. Sie ist sogar sehr wichtig, weil es Belange gibt, ich aufgezählt habe, kennt wahrscheinlich jeder aus sei- die von einem Einzelnen, einer Einzelnen überhaupt ner Region und seinem Wahlkreis. Der vorliegende Ge- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5757

Torsten Herbst (A) setzentwurf ist ohne Frage ein Anfang; auch wir meinen nigung nicht nur im Titel des Gesetzes und auf dem Pa- (C) allerdings: ein unzureichender. Wer Planung und Bau pier steht, sondern tatsächlich in der Praxis ankommt. wirklich beschleunigen will, der muss dabei auch die Handbremse lösen. (Beifall bei der FDP)

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: der AfD) Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Ich will nur einige Punkte nennen, um die es uns geht. Sabine Leidig. Warum beschränkt man beispielsweise bei der Planfest- stellung mögliche Einsprüche nicht auf den Bereich, den (Beifall bei der LINKEN) es betrifft, um nicht das gesamte Verfahren zu blockie- ren? Warum integrieren wir Raumordnungsfragen nicht Sabine Leidig (DIE LINKE): gleich in das Planfeststellungsverfahren? Warum – das Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Lie- wurde angesprochen – sorgen wir nicht dafür, dass es für be Gäste! Die Bundesregierung bringt heute einen Ge- einzelne Großprojekte gleich ein Planungsgesetz gibt, setzentwurf zur Beschleunigung von Planungs- und Ge- wo beispielsweise die Trassenführung vom Gesetzgeber nehmigungsverfahren im Verkehrsbereich ins Parlament beschlossen wird? Warum schaffen wir es nicht, bei Er- ein. Dazu eine Vorbemerkung: Wir setzen uns seit Jahren satzneubauten, wie beim Ersatz einer alten Brücke, ein dafür ein, dass besser geplant wird und dass Bürgerinnen wirklich einfaches Verfahren zu finden? und Bürger besser beteiligt werden an der längst über- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) fälligen Verkehrswende. Es ist widersinnig, heute noch mehr Autobahnen zu bauen; der umweltschädliche Stra- Und warum bekommen wir es nicht hin, die Bürgerbetei- ßenverkehr muss ja reduziert werden. ligung, die wir durchaus wollen, früher stattfinden zu las- sen? Wir müssen aber auch die Behörden dahin bekom- (Beifall bei der LINKEN) men, aktiv zu kommunizieren – das fehlt nämlich oft –, Die Alternative, den sinnvollen Ausbau von Schiene und und zwar in einer Art und Weise, dass es die Bürger auch Wasserstraßen, unterstützen wir natürlich nach Kräften. verstehen, und nicht nur in Fachchinesisch. Das scheint Das aber wird mit diesem Gesetzentwurf genau nicht mir dringend geboten. gelingen. Im Gegenteil: Sie wollen die Beteiligung von (Beifall bei der FDP) Bürgerinnen und Bürgern und von Umweltverbänden einschränken; aber das ist genau der falsche Weg. Es gibt auch andere Themen, die man diskutieren Seit 1990 sind demokratische Beteiligungsrechte (B) kann. Wenn ich mir allein den Katalog der geschützten (D) Arten anschaue, stellt sich die Frage: Ist das Umweltrecht beim Bau von Verkehrsprojekten und Industrieanlagen auf EU-Ebene noch zeitgemäß? Sind unsere Baustan- abgebaut worden – hinter dem Rücken der Öffentlich- dards eigentlich noch zeitgemäß? Warum bauen wir in keit. Aber vor ziemlich genau acht Jahren, am Schwar- Teilen so viel teurer als unsere Nachbarländer? Wie sieht zen Donnerstag, wurde im Stuttgarter Schlossgarten eine es mit der personellen Ausstattung der Behörden aus? friedliche Demonstration gegen Stuttgart 21 mit Poli- zeigewalt niedergeschlagen, und damit kam das Thema Ich glaube, niemand hier im Haus – und das schließt auf den Tisch. Das Grundproblem, das dahintersteckt, uns ein – will einen rücksichtslosen Straßenbau à la Chi- ist, dass Vorschläge und Einwände überhaupt erst am na, wo jemand was anordnet und am nächsten Tag der Ende vom Planungsverfahren eingebracht werden kön- Bagger durch den Vorgarten rollt. Aber, meine Damen nen, dann, wenn über das Ob einer Maßnahme gar nicht und Herren, wir müssen uns schon fragen: Warum ge- mehr entschieden werden kann. Damals war das Problem lingt es anderen EU-Ländern mit demselben Rechtsrah- so offensichtlich, dass selbst die Bundeskanzlerin Frau men, auf europäischer Ebene so viel schneller zu bauen Merkel gesagt hat, dass es mehr Bürgerbeteiligung ge- als wir? Da müssen wir etwas besser machen. ben muss. Ein Gesetzentwurf der Regierung aus Union und FDP, der damals vorlag und der weniger Beteiligung (Beifall bei der FDP) vorsah, ist 2011 gestoppt worden. Jetzt ein neuer Anlauf, Ich finde, wenn allein der bloße Verdacht auf eine dieses Mal mit Beteiligung der SPD? Ich hoffe, nicht. Fledermaus, auf einen Juchtenkäfer oder auf eine Zaun­ (Beifall bei der LINKEN) eidechse dazu führt, dass wirklich notwendige Verkehrs­ projekte um Jahre, teilweise sogar um ein Jahrzehnt ver- Was steht denn drin in dem Entwurf? Es soll eine zögert oder verhindert werden, dann ist das niemandem vorläufige Anordnung geben für Teilmaßnahmen, ohne mehr zu erklären, meine Damen und Herren. ordentliches Planfeststellungsverfahren. Sogar der Er- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten örterungstermin steht infrage. Sie wollen Fakten schaf- der CDU/CSU – Stefan Gelbhaar [BÜND- fen, bevor die Öffentlichkeit überhaupt von den Plänen NIS 90/DIE GRÜNEN]: Fake News!) erfährt. Sie wollen private Projektmanager einsetzen, bei denen man gar nicht weiß, welche Abhängigkeiten Wir wollen ein mobiles Land, und wir sind eine Indus- da bestehen. Sie wollen den Rechtsweg beschneiden und trienation, die darauf angewiesen ist, eine leistungsfähige Klagen generell nur vor dem Bundesverwaltungsgericht Infrastruktur zu haben. Ich hoffe, dass bei der weiteren zulassen. Und Sie wollen verhindern, dass die Belastung Behandlung des Gesetzentwurfes noch einige Bremsen durch Verkehrslärm erneut überprüft wird, wenn Jahre im Planungsrecht entfernt werden, sodass die Beschleu- nach Beginn der Planung der Bau anfängt und in Wirk- 5758 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Sabine Leidig (A) lichkeit längst viel mehr Verkehr rollt. Das geht überhaupt Der Sachverständigenrat der Bundesregierung für Um- (C) nicht. Die Bürgerinnen und Bürger müssen ihre Rechte weltfragen kommt in einer Studie zu dem Ergebnis, dass wahrnehmen können und ihren Schutz bekommen. Verbandsklagen nur in sehr geringem Umfang eingesetzt werden. Zwischen 2013 und 2016 gab es in Deutschland (Beifall bei der LINKEN) bei mehreren Hundert Verfahren lediglich 35 Klagen pro Sie haben die Vertreter von Bauherren und Bauunter- Jahr . Die hohe Erfolgsquote dieser Verbandsklagen von nehmen zusammengeholt und nennen das „Innovations- 50 Prozent zeigt nach Ansicht des Sachverständigenra- forum Planungsbeschleunigung“. Daran ist überhaupt tes für Umweltfragen, dass die Umweltverbände die Pla- nichts neu. Die Naturschutzverbände sind ausgestiegen, nungsverfahren nicht verzögern, sondern mit ihren Kla- weil es eine Mogelpackung ist; Bürgerinitiativen wurden gen wichtige Umwelt- und Naturschutzaspekte bei den überhaupt nicht einbezogen. Sie haben gar keine Analyse Planungen durchsetzen. vorgelegt, was eigentlich wirklich die konkreten Hinder- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nisse für die gute Fertigstellung von Infrastrukturprojek- und bei der LINKEN) ten sind. Vielleicht klemmt es ja bei den Planungs- und Beratungskapazitäten in den Ämtern und Behörden, viel- Was sind nun die wirklichen Gründe, warum sich Pla- leicht fehlt es an qualifizierten Planerinnen und Ingeni- nungen von Verkehrsprojekten verzögern? euren. Wir wissen, dass Projekte – und das gilt nicht nur für den BER – auch an Fehlplanungen scheitern oder am Erstens. Die Bürgerinnen und Bürger werden nicht Chaos von Sub- und Sub-Sub- und Sub-Sub-Sub-Unter- oder erst spät an den Verfahren beteiligt, oft erst, nach- nehmen und letztlich auch an fehlenden Arbeitskräften dem die Grundsatzentscheidungen bereits gefallen sind. und an schlechten Arbeitsbedingungen bei Bauunterneh- Das erhöht nicht die Akzeptanz, sondern es erhöht das men. Daran muss man doch was ändern. Risiko von Widerständen und Klagen. (Beifall bei der LINKEN) Zweitens. Die Planungs- und Genehmigungsbehör- den sind nicht ausreichend ausgestattet; jahrelang wurde Es gibt keine einzige Untersuchung, die belegt, dass Personal abgebaut. Wenn man das Eisenbahn-Bundesamt weniger Demokratie zu besseren Ergebnissen führt, auch nicht nur zur Genehmigungs- und Anhörungsbehörde nicht bei Verkehrsinfrastruktur – im Gegenteil. Unser machen will, dann braucht auch das Eisenbahn-Bundes- Nachbarland Schweiz, um mal ein anderes Land in den amt mehr Personal, Herr Ferlemann, sonst funktioniert Blick zu nehmen, steht bei den Infrastrukturprojekten die Sache nicht. deutlich besser da als wir: weniger Kostensteigerung, ziemlich genau im Zeitplan; das gilt nicht nur für den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (B) Gotthard-Basistunnel. Wir alle wissen, dass es in keinem bei der SPD und der LINKEN) (D) anderen Land Europas so viel Bürgerbeteiligung und di- rekte Demokratie gibt wie in der Schweiz. Das müsste Drittens. Auch Gerichte auf verschiedenen Ebenen doch unser Vorbild sein. sind nicht ausreichend mit Personal ausgestattet. Kom- plexe Verfahren werden nicht zeitnah bearbeitet, wenn (Beifall bei der LINKEN – Dr. Alice Weidel nicht mehr Personal zur Verfügung gestellt wird. [AfD]: Ja!) Viertens. Eine weitere Ursache für Planungsverzö- Der alte Hut, den Sie hier auf 40 Seiten auswälzen, gerungen sind Mängel in der Zusammenarbeit von Pla- bedeutet keinen Abbau von Bürokratie, sondern einen nungsbehörden mit Naturschutz- und Umweltverbänden. Abbau von Demokratie. Ich finde, das darf dieses Parla- Die Expertise der Verbände wird, wenn überhaupt, nur ment nicht zulassen. am Rande einbezogen. Danke. Packt dieser Gesetzentwurf die eigentlichen Probleme (Beifall bei der LINKEN) an? Nein. So soll jetzt bei Vorhaben, bei denen eine Um- weltverträglichkeitsprüfung durchgeführt werden muss, künftig auf Erörterungen verzichtet werden. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Der nächste Redner: Stephan Kühn, Bündnis 90/Die (Kirsten Lühmann [SPD]: Kann verzichtet Grünen. werden!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der Verzicht auf Erörterungen wird Planungen aber nicht beschleunigen. Erörterungstermine sind wichtige Be- Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- standteile effektiver Öffentlichkeitsbeteiligung. NEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und und bei der LINKEN) Kollegen! Immer wieder wird behauptet – so natürlich auch in dieser Debatte –: Die Klagen von Umweltverbän- Ohne rechtskräftiges Baurecht soll es künftig bereits vor- den verzögern Infrastrukturprojekte. Das ist falsch. bereitende Maßnahmen wie Waldrodungen geben kön- nen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen des Abg. Torsten Herbst [FDP] – Meine Damen und Herren, damit werden Tatsachen Frank Sitta [FDP]: Tatsachen!) geschaffen und statt auf Dialog auf Konfrontation ge- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5759

Stephan Kühn (Dresden) (A) setzt. So schafft man weder Akzeptanz noch Rechtssi- sensplattform zum Umweltschutz. Für Ausgleichs- und (C) cherheit für Infrastrukturvorhaben. Ersatzmaßnahmen sollten verbindliche Standards ver- einbart werden. Hierbei kann auf die Expertise der Natur- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Umweltschutzverbände zurückgegriffen werden. und bei der LINKEN) Meine Damen und Herren, für eine neue Planungs- Was mich vor allen Dingen wundert, ist, dass die Bun- kultur braucht es Kooperation statt Konfrontation. Dann desregierung viele gute Vorschläge der schon zitierten kommen wir alle schneller zum Ziel. Expertenkommission Innovationsforum Planungsbe- schleunigung überhaupt nicht aufgreift. So wird mit dem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gesetzentwurf beispielsweise die Planung von Ersatz- und bei der LINKEN – neubauten, insbesondere Brücken, nicht beschleunigt. [CDU/CSU]: Das ist Planungsverhinderung!) Dabei haben wir hier erheblichen Investitionsbedarf. Auch der öffentliche Nahverkehr spielt überhaupt Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: keine Rolle in diesem Planungsbeschleunigungsgesetz. Der nächste Redner: der Kollege Dr. Christoph Ploß, Die Planung und die Genehmigung von städtischer Infra- CDU/CSU-Fraktion. struktur für Busse und Bahnen tauchen in diesem Gesetz- entwurf nicht auf. Dabei brauchen wir für den Ausbau (Beifall bei der CDU/CSU) der Infrastruktur mit Blick auf die Verkehrswende und mit Blick auf das Erreichen der Klimaschutzziele endlich Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU): auch da eine Beschleunigung. Nichts davon steht in die- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! sem Gesetzentwurf. Bei politischen und gesellschaftlichen Debatten merken (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wir im Moment alle: Wir erleben immer mehr Polarisie- NEN sowie der Abg. Ingrid Remmers [DIE rung, und wir erleben, dass Menschen hinterfragen, ob LINKE]) unser politisches System noch in der Lage ist, den künf- tigen Herausforderungen begegnen zu können. Immer Was ist nun zu tun? Wir brauchen eine neue Planungs- häufiger hört man, dass Bürger unseres Landes sogar au- kultur . Es braucht eine verbindliche, umfassende und toritäre politische Systeme attraktiv finden und Zweifel frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung und eine Prüfung an demokratischen Strukturen äußern. von möglichen Alternativen. Das Bundesverkehrsmi- nisterium hat bereits 2012 das „Handbuch für eine gute Besonders häufig hört man das im Zusammenhang Bürgerbeteiligung – Planung von Großvorhaben im Ver- mit wichtigen Infrastrukturprojekten, die aus Sicht vieler (B) kehrssektor“ veröffentlicht. Das ist ein gutes Werk; es Bürger viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen – sowohl in (D) gibt nur keine verbindlichen Empfehlungen, die Maß- der Planung als auch in der Umsetzung. Während in Chi- nahmen, die in diesem Werk beschrieben werden, um- na oder der Türkei in kürzester Zeit geplant und gebaut zusetzen. Frühzeitige Bürgerbeteiligung bleibt für die wird, dauert das bei uns häufig Jahrzehnte. Behörden weiter fakultativ, und das muss sich ändern; (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN GRÜNEN]: Zum Glück leben wir nicht in der sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Türkei oder in China!) denn gute Bürgerbeteiligung verbessert die Planung Für die Unionsfraktion – da will ich gerne gleich auf Ih- und schafft Akzeptanz für Verkehrsprojekte, und darauf ren Zwischenruf eingehen – ist natürlich nicht nur mit kommt es an. Blick auf die Geschichte unseres Landes vollkommen klar, dass autoritäre Ansätze nicht die Lösung für unsere Als erstes Bundesland hat Baden-Württemberg die politischen Probleme sein können und einen Irrweg be- Verwaltungen der Regierungspräsidien sowie der Land- deuten. und Stadtkreise innerhalb der bestehenden Rechtslage zur frühzeitigen Öffentlichkeitsbeteiligung verpflichtet. (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Die Genau das ist der richtige Weg, meine Damen und Her- Türkei ist ein autoritärer Staat!) ren. Natürlich wollen auch wir kein Planungsrecht wie in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) China oder in anderen autoritären Staaten; das ist doch vollkommen klar. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Sind Sie ganz Gestatten Sie eine Zwischenfrage? sicher?) Aber wir müssen doch selbstkritisch festhalten, lie- Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- be Kolleginnen und Kollegen, dass unser derzeitiges NEN): Planungsrecht den Ansprüchen einer bedeutenden Wirt- Ich komme jetzt zum Ende. schaftsnation wie Deutschland nicht genügen kann; da- rum geht es doch. Die Beschleunigung von Planungen auf Kosten von Umwelt- und Naturschutz lehnen wir klar ab. Auch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hier hat das Innovationsforum Planungsbeschleunigung neten der FDP – Sabine Leidig [DIE LINKE]: den richtigen Weg aufgezeigt. Zielführend ist eine Wis- Wer hat denn da Ansprüche?) 5760 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Dr. Christoph Ploß (A) – Wenn Sie da empört reinrufen, nenne ich Ihnen mal strukturprojekten erlebt haben, darf sich in Zukunft nicht (C) drei, vier Beispiele. Elbvertiefung in meiner Heimatstadt wiederholen. : Beginn der Planung 2002, Fertigstellung ver- mutlich und hoffentlich im Jahr 2020 – vorausgesetzt, Deswegen müssen wir die genannten Punkte im Deut- die nächste Klage der Umweltverbände hat nicht wieder schen Bundestag angehen. Das wird nur gelingen, wenn Erfolg. Berliner Flughafen: Beginn der Planung 1992, wir die Abläufe im Bau- und Planungsrecht verkürzen Fertigstellung vermutlich 2020, aber auch das wissen wir und gleichzeitig die frühzeitige Einbindung von Bürger­ nicht; das ist noch offen. interessen gewährleisten, ausreichend Planungspersonal in den Behörden einsetzen und die Vorteile der Digitali- (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Die sierung nutzen. Beispiele greifen nicht!) Daher bitte ich Sie: Unterstützen Sie dieses Planungs- Bahnstrecke Berlin–München: Beginn der Planung 1991, und Beschleunigungsgesetz hier im Deutschen Bundes- Fertigstellung Ende des letzten Jahres. Man könnte auch tag! Bringen Sie sich konstruktiv in die Beratungen ein! Stuttgart 21 nennen; es gibt viele Beispiele in unserem Lassen Sie uns dieses wichtige Gesetz zeitnah verab- Land. schieden! Herzlichen Dank. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Gestatten Sie eine Zwischenfrage? (Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU): Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Jetzt nicht. Das geht nachher als Kurzintervention. – Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Meine Damen und Herren, wir sind das wirtschaftlich Kollegen Stefan Gelbhaar, Bündnis 90/Die Grünen. stärkste Land Europas. Wir sind die Industrienation; wir sind die Exportnation, das Land der Hidden Champions. Stefan Gelbhaar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber wir werden wirtschaftlich nur erfolgreich bleiben Sehr geehrter Herr Kollege! Sehr geehrter Herr Prä- und den technologischen Wandel anführen, wenn wir sident! Ich melde mich zu Wort, um eine Nachfrage zu über eine leistungsfähige und gut ausgebaute Verkehrs- stellen bzw. eine Anmerkung zu machen. Der Kollege infrastruktur verfügen. Kühn hatte vorhin ausgeführt, dass in vielen Fällen Kla- (Beifall bei der CDU/CSU) gen von Umweltverbänden eben gerade nicht zu Verzö- gerungen führen. Sie meinten jetzt, das wäre anders, und (B) Meine Damen und Herren, im November dieses Jahres führten dazu Beispiele an, zum Beispiel Stuttgart 21 und (D) werden wir den größten Investitionshaushalt in der Ge- den Berliner Flughafen. schichte der Bundesrepublik Deutschland hier im Deut- schen Bundestag beschließen. Wir stellen in den kom- Ich möchte mich auf den Berliner Flughafen konzen- menden Jahren – das hat der Staatssekretär Ferlemann trieren und Sie bitten, mir noch mal zu erläutern, wo da eben ausgeführt – für die Straßen, Schienen, Brücken durch das Planungsverfahren Verzögerungen entstanden und Wasserwege Rekordmittel zur Verfügung, damit sind, insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Flug- unsere Verkehrswege saniert, ausgebaut oder neugebaut hafen ja schon 2012 baufertig sein sollte und seitdem gar werden können. keine Planungsverfahren mehr anhängig sind. Ich würde Sie einfach bitten, hier vor allem noch mal darzustellen, Aber vor der Vollendung zahlreicher Maßnahmen welche Umweltverbände da noch geklagt haben sollen steht das Planungs- und Genehmigungsrecht für diese etc. pp. Das würde mich interessieren. Nicht, dass wir Bauvorhaben. In den letzten Jahren ist deutlich gewor- hier mit Fake News arbeiten! den: Rekordmittel bedeuten keine Rekordzeiten für den Baubeginn oder bei den Planungen. Nicht nur im welt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) weiten, sondern auch im europäischen Vergleich nehmen Planungs- und Genehmigungsverfahren in Deutschland Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU): überdurchschnittlich viel Zeit in Anspruch. Herr Kollege, ich habe das eher allgemein formuliert. Einer der Gründe – auch das hat der Staatssekretär (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ferlemann vollkommen zu Recht dargelegt – liegt in der Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wachsenden Zahl geltender bautechnischer und umwelt- NEN]: Sie haben gesagt, Berliner Flughafen!) rechtlicher Vorgaben. Einen sehr großen Aufwand für die Verwaltungen stellen die naturschutzrechtlichen Prüfun- Das können Sie sich gern gleich auch noch mal anhö- gen dar. Vieles war und ist sicherlich gut gemeint; gar ren. Ich hatte ja auch das Beispiel Elbvertiefung genannt. keine Frage. Aber das bedeutet, dass wir kaum mehr et- Dieses Beispiel aus meiner Heimatstadt Hamburg steht, was vernünftig planen und am Ende bauen können. glaube ich, in Deutschland par excellence dafür, dass Umweltverbände natürlich auch wichtige Infrastruktur- Deswegen ist für uns, die Union, vollkommen klar: projekte in unserem Land um Jahre oder Jahrzehnte ver- Wir brauchen zukünftig mehr Tempo bei Infrastruktur- zögern können. vorhaben durch ein Planungs- und Baubeschleunigungs- gesetz. Was wir bei der Elbvertiefung, bei Stuttgart 21, (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Weil Sie den beim Berliner Flughafen und bei vielen anderen Infra- Naturschutz missachten! – Oliver Krischer Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5761

Dr. Christoph Ploß (A) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo haben Wirtschaftsstandort, als Technologieland, als zentrale (C) Umweltverbände geklagt?) Verkehrsachse in Europa können wir uns das nicht länger leisten. Es wäre gut, wenn wir da einen Konsens in die- – Liebe Kollegen von den Grünen, ich habe Ihnen doch sem Haus herstellen können. eben zugehört. Sie haben mich um eine Antwort gebe- ten. Ich versuche, Ihnen diese Antwort zu geben. Wenn (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie sofort wieder reinrufen, sobald nur ein Wort gefallen der CDU/CSU) ist, wird das Ganze schwierig, und Sie können meiner Wie haben wir uns in diese Lage hineingeritten? Es Argumentation nicht folgen. Ich habe Ihnen zugehört. war nicht eine zentrale Entscheidung, es war auch nicht Ich glaube, das gebietet der Respekt, dass auch Sie mir die Konfrontation mit den Umweltverbänden. Vielmehr zuhören. waren es viele Einzelentscheidungen. Ich will drei davon (Beifall des Abg. Felix Schreiner [CDU/ nennen. CSU]) Das Erste – es ist schon genannt worden –: Insbeson- Wie gesagt, nehmen Sie das Beispiel Elbvertiefung. dere seit den 1990er-Jahren sind in den Verwaltungen Das war jetzt gar nicht auf den Berliner Flughafen be- massiv Stellen eingespart worden. Wir haben die Verfah- zogen. Da haben wir in der Tat ganz andere Probleme. ren komplexer gemacht. Insofern finde ich es schade – Aber bei der Elbvertiefung haben die Klagen über Jahre Herr Herbst unterhält sich jetzt gerade –, und mittlerweile Jahrzehnte dieses wichtige Projekt für (Torsten Herbst [FDP]: Ich höre Ihnen zu!) unser Land verzögert. Wir hoffen, dass wir es jetzt im Jahr 2020 fertigstellen können. Aber auch das ist noch dass die FDP diese Frage gar nicht angesprochen hat, nicht hundertprozentig sicher, wenn die nächste Klage weil ich sie für eine sehr zentrale halte. Da fehlen uns der Umweltverbände Erfolg hat. Mein Plädoyer war, dass Menschen, da fehlt uns Personal. Wir müssen aufpassen, wir sagen: Wir müssen das Ganze wieder in ein rechtes dass das nicht auch zukünftig eine Engstelle bleibt. Maß rücken. Natürlich haben die Umweltverbände eine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bedeutung in unserem Land, und wir wollen umweltre- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE levante Aspekte in die Planung einbeziehen. Aber vieles, GRÜNEN) was gut gemeint war – und was Sie hier sicherlich auch gut meinen –, hat teilweise dazu geführt, dass wir wichti- Das Zweite ist: Wir haben zu wenig in den Erhalt der ge Infrastrukturprojekte in unserem Land nicht mehr an- Infrastruktur investiert. Die Daehre-Kommission, die gemessen planen und fertigstellen können. Darum ging Bodewig-Kommission haben das gesagt. Das müssen wir es mir. Wenn wir das hier gemeinsam hinbekommen wol- Stück für Stück auflösen. len, lade ich Sie gerne ein, in den nächsten Wochen bei (B) Ein dritter Punkt ist, glaube ich, ganz zentral: die (D) den Beratungen mitzuwirken. Das wäre für unser Land Einstellung der Menschen gegenüber großen Infrastruk- eine großartige Sache. turvorhaben. Wir haben Stuttgart 21 angesprochen. Ich Herzlichen Dank. glaube, da müssen wir mehr bei der Bevölkerung wer- ben, damit es eine positive Einstellung zu großen In­ (Beifall bei der CDU/CSU – Kirsten Lühmann frastrukturmaßnahmen gibt. Die Dänen haben dazu eine [SPD]: Können wir uns darauf einigen, dass sehr positive Einstellung, die Schweden haben dazu eine die Elbvertiefung in meinem Heimatland ist sehr positive Einstellung. Man muss auch sehr deutlich und nicht in Ihrem?) sagen, dass am Ende 58 Prozent der Bevölkerung Stutt- gart 21 zugestimmt haben. Das müssen auch die Linken Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: einmal zur Kenntnis nehmen. Ich erteile das Wort dem Kollegen Mathias Stein von (Beifall bei der SPD – Sabine Leidig [DIE der SPD-Fraktion. LINKE]: Das stimmt nicht!) (Beifall bei der SPD) Der vorliegende Gesetzentwurf wird nicht alle He- rausforderungen der Planungsprozesse und erst recht Mathias Stein (SPD): nicht der Bauprozesse lösen können. Aber er ist ein erster Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und wichtiger Schritt. Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Gerade Zentrale Schritte sind aus meiner Sicht zum Beispiel: sind die Emotionen ja ein bisschen hochgekocht. Ich will Wir wollen es ermöglichen, dass bestimmte Maßnahmen einmal den Grundsatz nennen, den wir bisher für Planun- auch im Vorwege getroffen werden. Da sind wir anderer gen verwandt haben. Wir haben immer gesagt: Gründ- Auffassung als die Grünen; denn ich glaube schon, dass lichkeit geht vor Schnelligkeit. Ich kenne das aus meiner wir dann erfolgreich sein können. Insbesondere im Zu- eigenen Tätigkeit. Ich habe lange bei der Wasserstraßen- sammenhang mit dem Elbkonzept gibt es zum Beispiel und Schifffahrtsverwaltung gearbeitet. Das war immer Naturschutzverbände, die sagen: Können wir nicht die Maßgabe für unsere Genehmigungs- und Planungsver- naturschutzrechtlichen Maßnahmen vorziehen oder die fahren. Aber leider dauert es manchmal dann tatsäch- Kampfmittelbeseitigung? lich Jahrzehnte, bis überhaupt die ersten Bagger rollen. Die Verfahren sind kompliziert, sie sind aufwendig. Die (Stephan Kühn [Dresden] [BÜNDNIS 90/ Planungsabteilungen bei Bund und Ländern bekommen DIE GRÜNEN]: Das ist okay! Aber nicht Ro- die Projekte dadurch nicht schnell genug vom Tisch. Als dung!) 5762 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Mathias Stein (A) – Genau, das geht ja auch nur dann, wenn man das in korrigieren. Sie haben gesagt, dass bei Stuttgart 21 die (C) einem angemessenen Verfahren macht. Ich glaube schon, Bevölkerung über das Projekt abgestimmt hätte. Das ist dass wir uns in dieser Frage einigen können. nicht richtig. Die Volksabstimmung hat über die Frage stattgefunden, ob das Land Baden-Württemberg als Pro- Das Eisenbahn-Bundesamt ist angesprochen worden. jektpartner aussteigt, zu einem Zeitpunkt, als die 4,5 Mil- Da sind wir uns mit den Grünen hundertprozentig einig, liarden Euro noch als Kostenobergrenze festgestellt dass wir das auch ordentlich mit Personal ausstatten müs- waren und in den Raum gestellt wurde, dass ansonsten sen, 2 Milliarden Euro sozusagen für nichts verpulvert wor- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Stephan den wären. Die Situation ist heute eine völlig andere. Ich Kühn [Dresden] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wollte das nur richtigstellen. Also: Es wurde zu keinem NEN]) Zeitpunkt über das Projekt als solches abgestimmt. dass wir da auch versuchen müssen, an den Schnittstellen Danke. das Know-how der Länder aufzugreifen. ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Letzter Punkt. Die Frage der Ersatzneubauten ist, NEN]: Da hat sie recht!) glaube ich, eine ganz zentrale. Angesichts einer brö- ckelnden Infrastruktur müssen wir, glaube ich, nicht bei

jedem Brückenbauprojekt ein extra Planfeststellungsver- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: fahren machen und auch nicht unbedingt eine obligato- Müssen Sie dazu noch etwas sagen? risch vorgeschriebene Öffentlichkeitsbeteiligung. Denn auch die Aarhus-Konvention sagt ausdrücklich, dass man Mathias Stein (SPD): bei diesen Maßnahmen nicht unbedingt eine Planfeststel- Ich glaube, das ist ein bisschen spitzfindig. lung braucht, sondern auch eine Plangenehmigung ma- chen kann. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Christoph Ploß [CDU/CSU]) (Beifall bei der SPD) Wenn man sich die damaligen Auseinandersetzungen an- Ich will noch drei Punkte nennen, an denen wir über schaut, dann muss man sagen: Natürlich ist in der Kon- den Gesetzentwurf hinaus arbeiten müssen. sequenz für oder gegen Stuttgart 21 abgestimmt worden. Da ist erstens das Stichwort „Bürgerbeteiligung“. Wir Ich glaube, das ist an der Stelle etwas spitzfindig, weil müssen versuchen, Bürgerbeteiligung so zu gestalten, diejenigen, die Stuttgart 21 nicht wollten, was ihr gu- dass wir große Bauvorhaben mit den Menschen planen tes Recht gewesen ist, dann versucht haben, das Projekt (B) und nicht gegen sie. durch diese Abstimmung zu verhindern. Insofern glaube (D) ich schon, dass es so ist. Wir müssen zweitens versuchen, bei den Planungsver- fahren das Raumordnungs- und das Planfeststellungsver- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Gero fahren gemeinsam zu gestalten und mit der Bürgerbetei- Storjohann [CDU/CSU]) ligung zu koppeln. Drittens wäre es sinnvoll, dass wir mit Blick auf das Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Baugesetz tatsächlich auch noch einmal über Maßnah- Gut, jetzt haben wir das auch geklärt. – Ich schließe megesetze sprechen, damit wir bei wichtigen großen Ver- dann die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. kehrsprojekten von nationaler Bedeutung den Aushand- lungsprozess gestalten können. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 19/4459 an die in der Tagesordnung auf- Ich freue mich auf die Diskussion. Ich freue mich auf geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderwei- die Anhörung. Vielleicht bekommen wir es ja hin, dass tige Vorschläge? – Das ist erkennbar nicht der Fall. Dann wir über die Koalition hinaus für unseren Gesetzesvor- ist die Überweisung so beschlossen. schlag Zustimmung bekommen. Wir kommen zum Zusatzpunkt 8: Danke schön. Beratung des Antrags der Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Karlheinz Busen, Dr. Gero Clemens Hocker, der CDU/CSU) Carina Konrad, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Wälder schützen ‒ Rodungen für die Wind- Bevor ich die Aussprache schließe, erteile ich der Kol- kraft stoppen legin Sabine Leidig das Wort zu einer Kurzintervention. Drucksache 19/2802 Sabine Leidig (DIE LINKE): Überweisungsvorschlag: Ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich bei Ihnen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit­ (f) zu bedanken, Kollege Stein, weil Sie so kenntnisreich Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie aus Ihrem Erfahrungshintergrund gesprochen haben. Ich Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und möchte aber auch die Gelegenheit nutzen, Sie bei einem ­Kommunen Bereich, den Sie nicht aus eigener Erfahrung kennen, zu Federführung strittig Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5763

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für vorankommt. 1,4 Milliarden Euro wurden im vergange- (C) die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Es gibt keinen nen Jahr an die Energieversorger gezahlt für produzierten Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Strom, der nicht eingespeist wurde. Angesichts dessen ist es doch klar, dass die allgemeine Akzeptanz der Wind- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege kraft in der Bevölkerung schwindet, was auch weiterhin Karlheinz Busen von der FDP-Fraktion. der Fall ist. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der AfD – Johann Saathoff [SPD]: Das hat aber Karlheinz Busen (FDP): nichts mit dem Wind im Wald zu tun!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 4 Millio- nen Quadratmeter gerodeter Wald, 250 000 tote Fleder- Leider brauchen wir als Brückentechnologie derzeit mäuse, 12 000 erschlagene seltene Greifvögel: noch die Braunkohle, um Strom auch dann zu erzeugen, wenn der Wind nicht weht. (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Hambacher Forst?) (Beifall des Abg. Andreas Bleck [AfD]) Das ist ein kleiner Teil der jährlichen Bilanz der Wind- Dafür verlieren wir bedauerlicherweise einen Teil des energieanlagen im Wald. Und es wird nicht besser: Wäh- Hambacher Forstes. Das steht aber in keinem Verhältnis rend 2010 bundesweit circa 40 Anlagen im Wald gebaut zu den für Windenergieanlagen gerodeten Waldflächen. wurden, waren es 2016 schon über 800. Heute stehen ungefähr 2 000 Windenergieanlagen im Wald. Wenn es (Beifall bei der FDP und der AfD – Oliver nach den Planungen einzelner Länder geht, werden es Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: bald noch viel mehr sein. Hessen plant einem Bericht 4 000 Hektar! – Timon Gremmels [SPD]: zufolge mehr als 2 300 neue Anlagen. Die dafür vorge- Quatsch!) sehenen Flächen liegen zu 80 Prozent in Wäldern. Dabei Meine Damen und Herren, Windenergieanlagen im handelt es sich nicht um irgendwelche Wirtschaftswäl- Wald stellen nicht nur für Tiere eine Gefahr dar, son- der. Jahrhundertealte Bäume im Reinhardswald sollen dern für die gesamte Umwelt, auch für den Menschen. der Windenergie weichen. Im Kaufunger Wald Die Dürre in diesem Jahr zeigt, wie brandanfällig Wälder (Timon Gremmels [SPD]: Mein Wahlkreis!) sind. sollen Windenergieanlagen sogar in streng geschützten (Timon Gremmels [SPD]: Wo kommt denn FFH-Gebieten errichtet werden. die Dürre her?) (B) (D) (Timon Gremmels [SPD]: Quatsch!) Der kleinste technische Defekt an einem Windrad kann zur Katastrophe führen. Überall gelten in Sachen Brand- – Sie können es ja nachlesen. schutz höchste Maßstäbe – ich erinnere nur an einen (Timon Gremmels [SPD]: Ich komme da Flughafen, der nie fertig wird –; ausgerechnet bei den her!) Windenergieanlagen im Wald wird diese Gefahr aber heruntergespielt. Das ist ein Unding. Und wenn eine Daran sehen wir, dass es den grünen Ideologen, die Windkraftanlage havariert oder ihren Dienst erfüllt hat, diese Schutzgebiete in Hessen für die Nutzung der Wind- bleiben die Fundamente mit mehr als 3 000 Kubikmetern kraft vorsehen, nicht um Ökologie geht, sondern einzig Beton im Boden. und allein um Geschenke für die Windlobby. (Timon Gremmels [SPD]: Das stimmt nicht! (Beifall bei der FDP und der AfD – Oliver Falsch!) Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Guck mal, wer da klatscht!) – Hören Sie gut zu. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diesem ideologisch (Timon Gremmels [SPD]: Falsch!) begründeten Ausbau der Windenergieanlagen im Wald, der der Umwelt mehr schadet als nützt, muss endlich Das Gleiche gilt für Straßen, die Fahrzeugen und Krä- Einhalt geboten werden. nen mit bis zu 50 Tonnen standhalten müssen. (Beifall bei der FDP und der AfD) (Timon Gremmels [SPD]: Falsch!) Für eine Technologie, die nichts, aber auch gar nichts zur – Zeigen Sie mir etwas, das belegt, dass das nicht falsch sicheren Energieversorgung beiträgt, ist. (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ( [SPD]: Rückbaubürgschaf- DIE GRÜNEN) ten!) dürfen wir unsere Wälder nicht opfern. Meine Damen und Herren, lassen Sie uns unsere Wäl- (Beifall bei der AfD sowie bei Abgeordneten der vor grüner Ideologie bewahren. Ich bitte um Über- der FDP) weisung des Antrags. Vielfach stehen die Windräder sogar ohne einen An- (Beifall bei der FDP und der AfD sowie des schluss ans Stromnetz im Wald, weil der Ausbau nicht Abg. Manfred Grund [CDU/CSU]) 5764 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

(A) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: lich sein wie ein Windrad auf einem Acker am Waldrand. (C) Der Kollege Alois Gerig hat das Wort für die CDU/ Deshalb steht schon heute in den Genehmigungsverfah- CSU-Fraktion. ren, für die übrigens die Bundesländer zuständig sind, die naturschutzfachliche Prüfung ganz obenan. Alois Gerig (CDU/CSU): (Dr. Rainer Kraft [AfD]: Sicher nicht!) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! So ein bisschen Größere Waldrodungen, Schneisen und andere Beein- überrascht bin ich schon über die FDP-Position und die- trächtigungen sollten selbstverständlich, wo immer mög- sen Vortrag, Kollege Busen. Das ist ein bisschen eine lich, vermieden werden. verkehrte Welt. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Das geht aber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht!) sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir sollten uns noch mehr auf den Bau von Strom- Aber der Reihe nach. trassen von Nord- nach Süddeutschland konzentrieren, um den deutlich kontinuierlicher fließenden Strom aus Der FDP-Antrag hat zwei Teile. Der erste Teil des Offshorewindkraftanlagen in ganz Deutschland besser Titels lautet: „Wälder schützen“. Das wollen wir, und nutzen zu können. Dann brauchen wir auch die Debatten das müssen wir tun. Das wissen wir alle. Ein Drittel der über den Zubau bei uns im Land nicht mehr in dem Maße Fläche Deutschlands ist mit Wald bewachsen. Die Bun- zu führen. deswaldinventur zeigt uns, dass diese Fläche sogar ein wenig größer wird. Abschließend noch ein paar Worte zur aktuellen Si- tuation im deutschen Wald. Die Lage ist dramatisch, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) meine sehr verehrten Damen und Herren. Der Wald und Es wächst mehr Holz nach, als wir entnehmen. Auch das die 2 Millionen Waldbesitzer brauchen unsere politische ist eine Tatsache, die man an der Statistik ablesen kann. Hilfe. Ich bin froh darüber, dass Bundesministerin Julia Klöckner und Staatssekretär Fuchtel sich die Situation (Beifall der Abg. Dr. Franziska Brantner in den Wäldern bereits im August angesehen haben. Von [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) den 500 Millionen Baumsetzlingen, die im Frühling 2018 Wald dient als Kohlenstoffsenke, Wald ist wichtiger ausgepflanzt worden sind, ist ein Großteil vertrocknet. Rohstofflieferant – das wird zukünftig noch wichtiger Die Bäume insgesamt sind durch die große Trockenheit werden –, und Wald ist Erholungsraum für Fauna, Flora, geschädigt und geschwächt, was dem Borkenkäfer breite aber insbesondere auch für uns Menschen. Nahrung bietet. Die Bäume mussten schnell gefällt wer- (B) den, was zu einem totalen Preisverfall am Holzmarkt ge- (D) Ich sage Ihnen: Die Waldbesitzer haben angesichts des führt hat, zumal infolge des Sturmtiefs „Friederike“, das aktuellen Zustands des Walds ganz andere Sorgen, als dass im Januar in Mitteldeutschland gewütet hat, immer noch sie sich um ein paar Windräder mehr oder weniger sorgen 2 Millionen Festmeter Holz noch nicht vermarktet sind. würden; darauf komme ich gleich noch einmal zurück. Gut ist, dass sich die Agrarministerkonferenz gestern um (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) das Thema gekümmert hat. Damit zum zweiten Teil des FDP-Antrags, der mit Fazit meiner Rede: Wir lehnen den pauschalen An- „Rodungen für die Windkraft stoppen“ überschrieben trag der FDP ab. Wir sollten uns gemeinsam intensiv ist. Ja, natürlich, man kann grundsätzlich fragen, wie um das kümmern, was wirklich wichtig ist: Wir müssen viele Windenergieanlagen wir insbesondere in den wind- dem deutschen Wald bzw. den Waldbesitzern in dieser schwächeren ländlichen Regionen tatsächlich brauchen, schwierigen Situation unter die Arme greifen. wie viele gebaut werden sollen. Diese Frage ist zumin- dest so lange berechtigt, wie noch keine bezahlbaren Vielen Dank. Speichermöglichkeiten zur Verfügung stehen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Das wird noch ordneten der FDP) eine Zeit lang dauern!)

Ich mache auch keinen Hehl daraus, dass ich persönlich Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: ein eher distanziertes Verhältnis dazu habe. Das Wort hat der Kollege Andreas Bleck, AfD-Frak- tion. ( [Kleinsaara] [CDU/CSU]: Ich auch!) (Beifall bei der AfD) Wir sollten unsere landschaftlich reizvollen ländlichen Regionen unbedingt für den Tourismus und als Naher- Andreas Bleck (AfD): holungsgebiete erhalten. Gleichzeitig müssen wir in der Werter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kol- Bevölkerung Akzeptanz für Windenergieanlagen schaf- legen! fen, um sicherzustellen, dass die Bevölkerung diese An- O, du schöner Westerwald. lagenstandorte genehmigt und mitträgt. über deine Höhen pfeift der Wind so kalt; Ökologisch gesehen, kann ein Windrad im Wald unter jedoch der kleinste Sonnenschein, Umständen genauso nützlich, aber auch genauso schäd- dringt tief ins Herz hinein. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5765

Andreas Bleck (A) Ich hoffe, dass ich für dieses Zitat nicht durch den Prä- Auch die Versiegelung des Bodens durch Fundamente (C) sidenten zur Ordnung gerufen werde. Immerhin wurde aus Beton stellt ein großes Problem dar. Beim Rückbau unter anderem deswegen das Bundeswehr-Liederbuch von Windrädern bleiben diese nicht selten ganz oder teil- durch die Verteidigungsministerin weise im Boden zurück. gestoppt. Ein lächerlicher Skandal, den ich und viele an- (Beifall bei der AfD – Timon Gremmels dere Westerwälder nicht vergessen haben. [SPD]: Falsch!) (Beifall bei der AfD – Timon Gremmels Zweitens. Jährlich kommen Hunderttausende Fleder- [SPD]: Thema!) mäuse und Tausende Vögel durch Windräder in Deutsch- Das Westerwald-Lied gehört zu unserer Heimat, ist unse- land um. re Tradition und zeigt, wie wir Westerwälder den Wester- (Timon Gremmels [SPD]: Wie viele durch wald wahrnehmen. Straßen?) (Beifall bei Abgeordneten der AfD) Die Anzahl der jährlich sterbenden Tiere würde sich Aber auch losgelöst von der lokalpatriotischen Per- durch den Ausbau der Windenergieanlagen noch weiter spektive ist der Wald ein schützenswerter Raum für erhöhen. Mensch, Tier und Pflanze. Für den gestressten Menschen Drittens. Waldflächen sind für Windräder grundsätz- bietet der Wald einen offenen Raum für Regeneration lich ungeeigneter als Freiflächen, da die Verwirbelungen und Lebensfreude. Wer kennt es nicht, bei einem aus- in der Luft über den Bäumen größer sind. gedehnten Waldspaziergang in entspannter Atmosphäre plötzlich Ideen und Lösungen für knifflige Fragen zu be- (Beifall der Abg. Franziska Gminder [AfD]) kommen? Ohnehin lassen sich Windstrom und Sonnenstrom, (Timon Gremmels [SPD]: Da müssen Sie auch Zappelstrom genannt, nicht ohne Weiteres spei- aber lange in den Wald gehen!) chern. Wenn der Wind nicht bläst, die Sonne nicht scheint, dann gibt es keinen Strom. Um die Netze zu stabilisieren, Nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder erleben müssen in Reserve gehaltene Kohle- und Gaskraftwerke den Wald als Ort der Freiheit. Begeistert lassen sie sich dazugeschaltet werden. Wenn der Wind hingegen kräftig von ihrer Neugier leiten und entdecken in freier Natur bläst und die Sonne lange scheint, gibt es zu viel Strom. Waldbewohner wie Käfer, Schmetterlinge, Füchse oder Da wir diesen jedoch nicht adäquat speichern können, Rehe. Auch für Tiere und Pflanzen ist der Wald wichtig. bezahlen wir sogar für den Export des ungewollten Zap- Er bietet ihnen Lebensraum und Schutz für eine stabile pelstroms in die Nachbarländer. Reproduktion. Werte Kolleginnen und Kollegen, lassen (B) Sie uns deshalb den Wald wertschätzen und bewahren. (Beifall bei der AfD) (D) Er ist Grundlage für unser aller Leben. Deshalb haben Wind- und Sonnenstrom sind also nicht grundlastfä- Windenergieanlagen im Wald nichts zu suchen. hig. Deutschland benötigt für eine stabile und zuverläs- (Beifall bei der AfD) sige Energieversorgung jedoch grundlastfähigen Strom. Der gleichzeitige Ausstieg sowohl aus der Kernenergie Allerdings legt die Bundesregierung mit der Ener- als auch aus der Kohleenergie würde ansonsten tatsäch- giewende im wahrsten Sinne des Wortes die Axt an den lich zu einem Dunkeldeutschland führen, aber hoffent- Wald. Bei Windrädern gibt es nämlich ein Spannungsfeld lich bei Ihnen, den Verursachern. zwischen Klimaschutz auf der einen Seite und Umwelt- und Naturschutz auf der anderen Seite. Es ist offenkun- (Beifall bei der AfD) dig, dass die Windenergieanlagen der Umwelt und Natur Wenn Sie den vielen Wind, den Sie um die ideolo- schaden und die stabile und zuverlässige Energieversor- gisch motivierte Energiewende machen, nicht in den gung Deutschlands gefährden. Deutschen Bundestag, sondern in die Windräder blasen (Beifall bei der AfD – Klaus Mindrup [SPD]: würden, dann wäre uns allen geholfen. Ist das die „heute-show“?) (Beifall bei der AfD – Timon Gremmels Dies möchte ich an drei Punkten verdeutlichen. [SPD]: Was für ein Brüller! – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Realsatire!) Erstens. Aufgrund sich verdichtender Hinweise, dass der Infraschall von Windrädern bei Menschen zu ge- Auch der Bundesrechnungshof kommt in seinem ak- sundheitlichen Problemen wie Schlaflosigkeit, Kopf- tuellen Bericht zur Energiewende zu einem katastropha- schmerzen und Herzbeschwerden führt, werden die len Ergebnis. Die Kosten der Energiewende stünden, so Abstandsregelungen für Windräder zur Wohnbebauung Bundesrechnungshofpräsident Kay Scheller, in einem voraussichtlich verschärft. krassen Verhältnis zu dem bisher dürftigen Ertrag. Das Bundeswirtschaftsministerium möchte die EEG-Umlage (Timon Gremmels [SPD]: Die AfD macht mir allerdings nicht zu den Kosten der Energiewende zählen. Kopfschmerzen, nicht die Windräder!) Damit werden die Verbraucher, die im Jahr 2017 alleine Windräder müssten dann vermehrt in Wäldern gebaut für die EEG-Umlage Kosten in Höhe von 24 Milliarden werden. Für ein einziges Windrad muss dabei etwa Euro tragen mussten, auch noch verhöhnt. Das, werte 1 Hektar Wald gerodet werden. Kolleginnen und Kollegen, ist einfach ungeheuerlich. (Timon Gremmels [SPD]: Falsch!) (Beifall bei der AfD) 5766 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Andreas Bleck (A) Wir müssen endlich die Notbremse ziehen. Im Interes- Rhön wird auch die Kernzone ausgenommen. Wir nutzen (C) se der Menschen, des Waldes, seiner Tiere und Pflanzen die Möglichkeiten, die wir haben, um Erholungswald zu fordern wir ein Ende der ideologisch motivierten Ener- schützen. Dafür brauchen wir kein Bundesgesetz. Kern- giewende. Ich wiederhole: Windkraftanlagen haben in zonen sind ausgenommen und bleiben frei. Das geht alles den Wäldern nichts zu suchen. Der Überweisung in den schon heute, dort, wo wir Verantwortung tragen. Ausschuss stimmen wir zu. Ich sage Ihnen noch eines: Wenn wir Windräder in Vielen Dank. Wäldern bauen, dann müssen wir an anderer Stelle auf- (Beifall bei der AfD) forsten. Es müssen Maßnahmen getroffen werden, um Ausgleichsflächen auszuweisen. Höherwertiger Wald muss geschaffen werden, oder es muss an anderer Stel- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: le aufgeforstet werden. Es ist so – mein Vorredner von Das Wort hat der Kollege Timon Gremmels, der CDU hat es deutlich gesagt, auch der letzte Waldbe- SPD-Fraktion. richt hat es gezeigt –, dass wir sogar 50 000 Hektar mehr Waldflächen haben als im letzten Berichtszeitraum. Das (Beifall bei der SPD) zeigt, dass Windkraft und Wald Hand in Hand gehen. Ich bitte die FDP, hier keine Fake News zu verbreiten. Timon Gremmels (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ren! Ich wende mich in meiner Rede an die Kolleginnen DIE GRÜNEN) und Kollegen der FDP. Bei Ihnen habe ich wenigstens Sie haben noch etwas gesagt, worauf ich gerne einge- noch die Hoffnung, dass Sie den Argumenten folgen kön- hen möchte. In Ihrem Antrag heißt es: Windkraft, Tou- nen. Das ist bei der rechten Seite des Hauses nicht der rismus und Naherholung würden sich ausschließen. Herr Fall. Kollege Busen, Sie haben den Kaufunger Wald – er liegt (Zuruf von der AfD) in meinem Wahlkreis – angesprochen. Ich möchte Ihnen eine Ankündigung vorlesen: Wanderung zur Windkraft, Sehr geehrter Herr Busen, die Windenergie ist ein Grimmsteig-Touristik lädt zur Tour auf den Kreuzstein sehr wichtiger Wirtschaftsfaktor. Ihn wollen wir sichern ein. Die Grimmsteig-Touristik veranstaltet am Sonntag, und ausbauen. Windenergie ist außerdem eine der preis- den 30. September, eine Infowanderung zum Thema wertesten erneuerbaren Energien. Wir brauchen die Kreuzstein-Windkraftanlagen. Es wird eine Informati- Windenergie auch, um aus den fossilen Energieträgern onsveranstaltung über Energiegewinnung im Zusam- aussteigen zu können, sehr geehrter Herr Busen. Wissen menhang mit Klima-, Natur- und Artenschutz stattfinden. (B) Sie, woher ich das habe? Das habe ich aus dem Koaliti- (D) onsvertrag aus Schleswig-Holstein, den Ihre Partei unter- (Frank Sitta [FDP]: Sind zwei Leute gekom- schrieben hat. Aber dann stellen Sie sich hier vorne hin men?) und erzählen so einen Kram? Man sieht, dass die FDP So macht man das: Tourismus, Wandern, Energiewende mit sehr viel Doppelmoral ausgestattet ist, meine sehr und die Besichtigung von Windkraftanlagen – Hand in verehrten Damen und Herren. Hand. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Karlheinz (Lachen des Abg. Dr. Rainer Kraft [AfD]) Busen [FDP]: So ein Schwachsinn! Wir reden Sie sind herzlich eingeladen. Kommen Sie diesen Sonn- von Windrädern im Wald!) tag bitte um 9 Uhr an die Königs-Alm. Dann können Sie – Ja, natürlich reden wir von Windrädern im Wald. Sie sich fortbilden. Es funktioniert nämlich. kommen aus Schleswig-Holstein. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (Karlheinz Busen [FDP]: Ich nicht!) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Ich habe aus dem Koalitionsvertrag aus Schles- Werfen Sie einen Blick auf die heutige Tagesordnung. wig-Holstein zitiert. Dort gibt es 11 Prozent Waldfläche. Eben beim vorigen Tagesordnungspunkt hat die FDP für Ich komme aus Hessen. Dort gibt es 42 Prozent Wald- Verfahrensverkürzungen beim Straßenbau geworben, fläche. Wenn wir die Energiewende in Hessen umsetzen damit bitte schön alles schneller geht. Sie wollen we- wollen – und das wollen wir –, dann müssen wir auch in niger naturschutzrechtliche Vorgaben. Jetzt machen Sie den Wald gehen. bei Windrädern im Wald genau das Gegenteil! Da sieht man, was für eine Doppelmoral Sie an den Tag legen. ( [AfD]: Richtig!) Die Doppelmoral ist wirklich mit den Händen zu greifen. Und ja – das muss man an dieser Stelle so sagen –: (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Wir wollen auch im Wirtschaftswald Windkraftanlagen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Karlheinz ausbauen. Dazu stehen wir, und dafür werben wir auch. Busen [FDP]: Die Doppelmoral ist doch bei (Beifall bei der SPD) euch! Bleiben Sie bei den Fakten!) Ich mache auch Regionalplanung in der Regionalver- Was ich besonders witzig an Ihrem Antrag fand – das sammlung Nordhessen. Natürlich wird dort im National- soll mein letzter Punkt sein –, dass sich die FDP als Vo- park die Kernzone ausgenommen. Im Biosphärenreservat gelschutzpartei darstellt. Wunderbar, ich bin auch sehr Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5767

Timon Gremmels (A) für Vogelschutz. Jährlich sterben angeblich 120 000 Vö- ßem und Neurath zum Opfer, die im Jahr circa 48 Tera- (C) gel durch Windkraftanlagen. wattstunden Strom produzieren. Die Landesregierung von NRW aus CDU und FDP hat auf eine Anfrage er- (Karlheinz Busen [FDP]: Was heißt „angeb- klärt: Pro Windrad gehen etwa 0,3 Hektar Wald verloren. lich“? Nachweislich!) (Dr. Rainer Kraft [AfD]: Nein! – Karsten Wissen Sie, wer der Hauptfeind der Vögel ist? Das sind Hilse [AfD]: Also, das stimmt nicht! Da haben wild streunende Katzen. Über 1 Million Katzen reißen Sie falsch gerechnet! – Weiterer Zuruf von der Vögel. AfD: Ein ganzer Hektar!) (Dr. Alice Weidel [AfD]: Das ist unglaub- lich! Sie haben überhaupt keine Ahnung! – – 0,3 Hektar. Lesen Sie es in der Antwort der Landesre- Dr. Rainer Kraft [AfD]: Unfug! – Karsten gierung von NRW nach! Es wird nämlich wieder aufge- Hilse [AfD]: Das wird ja immer besser!) forstet. – Aber wir können weiterreden. Sie können sich ja zu einer Zwischenfrage melden. Es wäre viel effizienter gewesen, wenn Sie heute hier einen Antrag auf Zwangskastration von Katzen gestellt (Karsten Hilse [AfD]: Mach ich!) hätten. Damit hätten Sie mehr erreicht als mit Ihrem An- 10 000 Windräder erzeugen im Jahr in NRW etwa trag heute zum Thema Windkraft. In diesem Sinne: Alles 48 Terawattstunden, ähnlich wie die Kohlekraftwerke. Gute! Glück auf! Aber sie brauchen nur 3 000 Hektar Land. Und, Herr (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Busen, wenn Sie von 4 Millionen Quadratmetern reden, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Karlheinz dann klingt das zwar viel, aber es sind trotzdem 400 Hek- Busen [FDP]: Sie rutschen noch unter 10 Pro- tar. zent! Warten Sie mal ab! – Dr. Alice Weidel (Beifall bei der LINKEN – Karlheinz Busen [AfD]: Sie haben überhaupt keine Ahnung! [FDP]: Toll! Da haben Sie toll gerechnet!) Sie werden bei 5 Prozent landen, und das zu Recht! Sie werden die Fünfprozenthürde von Ich möchte noch eins dazusagen: Wenn man nachrech- unten anpeilen! Unfassbar! – Weitere Zurufe net – 3 500 Hektar gegen 3 000 –, ist es besser, Windrä- von der AfD und der FDP) der zu bauen, als im Kohletagebau auszubaggern. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der nächste Redner ist der Kollege Ralph Lenkert, Die Linke. Liebe FDP, in Ihrem Antrag schreiben Sie, dass jähr- (B) lich 12 000 Vögel durch Windräder sterben. (D) (Beifall bei der LINKEN) (Karlheinz Busen [FDP]: Greifvögel!) Ralph Lenkert (DIE LINKE): – Greifvögel. – Über 2 Millionen Vögel sterben jährlich Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kolle- im Straßenverkehr. Dazu sagen Sie nichts. gen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Wenn die selbst- ernannte Wirtschaftspartei FDP Naturschutz entdeckt, (Karsten Hilse [AfD]: Wollen Sie jetzt den wird es spannend. Straßenverkehr verbieten, Herr Lenkert?) (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN sowie Natürlich haben Sie recht, dass ein Windrad im Wald Vö- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- gel schädigen kann. Sie haben recht, dass seltene Pflan- NISSES 90/DIE GRÜNEN) zen in kleineren Biotopen leben. Und Sie haben natürlich auch recht, dass der Erholungswert in solchen Gebieten Die FDP möchte Wälder schützen – wirklich, zwar sinkt. nicht beim Straßenbau, nicht beim Bau von Flugplätzen, nicht bei Gewerbegebieten und auch nicht, wenn es um Dann stelle ich aber die Frage an Sie von der FDP und Kohletagebau geht. Aber wenn es um Windräder im Wald an Sie, die weiter rechts außen sitzen – wir haben gerade geht, dann wird sie konsequent; dann greift sie durch. gehört: Sie wollen mehr Autobahnen; Sie wollen mehr Straßen –: Welchen Erholungswert hat ein Wald neben (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem einer Autobahn? BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch von der FDP, Sie kennen doch sicher die Arbeitsgemeinschaft deut- Welchen Einfluss hat der Sperrriegel einer Autobahn auf scher Waldbesitzerverbände. Sie hat uns das Positions- die Lebensräume von Tieren? Das ist doch verheerend papier „Forderungen zur Bewältigung klimabedingter und schizophren. Wenn Sie wirklich die Wälder schützen Probleme in unseren Wäldern“ zugeschickt. Wir Linken wollen, dann kämpfen Sie gegen Autobahnen und gegen nehmen das ernst. Und es ist logisch: Ein stärkerer Kli- neue Straßen! mawandel verstärkt natürlich die Probleme. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Dann habe ich als Maschinenbautechniker mal nach- NIS 90/DIE GRÜNEN – Frank Sitta [FDP]: gerechnet. Im Hambacher Forst fielen dem Kohletagebau Dann laufen wir alle! – Zuruf von der AfD: bisher 3 500 Hektar Wald für die Kraftwerke Niederau- Fliegen wollt ihr aber auch nicht!) 5768 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Ralph Lenkert (A) Wir als Linke sind für den Kohleausstieg. Wir wollen Es ist doch zum Totlachen, dass ausgerechnet die (C) die letzten Bäume im Hambacher Forst schützen, und wir FDP – man muss ja nur einen Tagesordnungspunkt zu- wollen die Energiewende. Und wir wollen die Forderun- rückgehen – immer nur dann, wenn es um Windkraft gen der Waldbesitzer umsetzen. Denn sie sind vernünftig. geht, Natur- und Artenschutz entdeckt und bei allen an- deren Themen auf der exakt gegenteiligen Seite steht. Der Sturmbruch durch den Orkan „Friederike“ wurde schon erwähnt. Die Schädlinge belasten die Wälder sehr, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – und die Waldbesitzer fordern zu Recht mehr Holzlager- Frank Sitta [FDP]: Das ist doch Quatsch! Das flächen. ist Quatsch, und das wissen Sie!) In Fichten- oder Kiefermonobeständen haben wir Meine Damen und Herren von der FDP, dass Sie sich in diesem Sommer gesehen, wie die Waldbrandgefahr auch noch trauen, das hier als Antrag vorzulegen, ist echt wächst. Ein Waldumbau ist zwingend erforderlich. peinlich. Ganz ehrlich: Wenn man Windkraftanlagen in diesen Monowäldern platziert, dann könnte man mit etwas In- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN telligenz – die vielleicht nicht überall da ist – die Wege und bei der SPD) sowohl für die Waldbesitzer als auch für die Windkraft- anlagen nutzen. Man könnte die Aufstellflächen bei Ich weiß ja, dass es bei Ihnen vernünftige Leute gibt, und den Windkraftanlagen als temporäres Holzlager nutzen. ich hoffe, dass vielleicht der eine oder andere mal da- Ganz nebenbei kann man natürlich die Planung so ma- rüber nachdenkt, wie Sie sich hier positionieren. Denn chen, dass man Brandschutzwege ebenfalls erhält. Und das Bild Ihrer Partei – auch das muss man an der Stelle mit der Pacht ist eine Finanzierung des Waldumbaus sagen – wird noch von Leuten wie einem Herrn Minis- durchaus machbar. ter Sander aus Niedersachsen geprägt, der im Jahr 2007 höchstpersönlich mit der Kettensäge in ein FFH-Gebiet Jetzt als letztes Argument für Sie von der FDP: Nor- gegangen ist und dort Bäume umgesägt hat. So viel zum malerweise scheuen Sie Verbote wie der Teufel das Thema FDP und Schutz des Waldes, meine Damen und Weihwasser. Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass Herren. Das gehört ein Stück weit zur Wahrheit dazu. Sie jetzt zur Verbotspartei werden. Also ziehen Sie diesen Antrag zurück! Erinnern Sie sich daran, dass Sie gegen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verbote sind! sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Karlheinz Busen [FDP]: Da fragen (Beifall der Abg. Helin Evrim Sommer [DIE wir bei Joschka Fischer nach!) LINKE]) Und, ehrlich gesagt, wenn ich hier höre, dass Sie (B) Kämpfen Sie mit uns gemeinsam im Haushalt für mehr plötzlich Ihr Herz für die Greifvögel entdecken, (D) Geld für den Waldumbau! Dann schützen Sie den Wald, aber nicht mit solchen Anträgen. (Karlheinz Busen [FDP]: Immer schon!) Vielen Dank. als Hobbyornithologe – es gibt noch einen Kollegen, der sich da gut auskennt –, dann freut mich das zwar. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Aber, ehrlich gesagt, bevor Sie sich mit der Windkraft NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- beschäftigt haben, haben Sie den Rotmilan doch für ei- ten der SPD) nen serbischen Freiheitskämpfer gehalten und nicht für eine Vogelart, die in Deutschland brütet, meine Damen Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: und Herren. Der nächste Redner: der Kollege Oliver Krischer, Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Frank Sitta (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) [FDP]: Der arme Rotmilan! Das hat er nicht verdient!) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Oliver Krischer Ich sage Ihnen jetzt eines: Wenn Sie etwas für den Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Schutz der Greifvögel tun wollten – den Anspruch erhe- Präsenz der FDP-Fraktion beim eigenen Antrag ist ja ben Sie in Ihrem Antrag –, dann würden Sie in Deutsch- überschaubar, und offensichtlich ist es manchen Kolle- land ein Tempolimit auf Autobahnen fordern. Das ist gen auch peinlich, was Sie da vorlegen. nämlich die hauptsächliche Todesursache für Greifvögel. (Dr. Rainer Kraft [AfD]: Ihre Äußerung muss (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ihnen peinlich sein! Ist die Atmosphäre schon sowie bei Abgeordneten der SPD und der kaputt?) LINKEN – Karlheinz Busen [FDP]: Nicht Deshalb hat man lieber schon einmal die Flucht ins Wo- vom Thema abweichen!) chenende angetreten. Denn das, was Sie hier vorlegen – das haben die Kollegen Gremmels und Lenkert gerade Ich glaube, der Grund, warum Sie diesen Antrag vor- schon sehr deutlich gemacht –, ist echt eine peinliche legen, ist, dass Sie im Bereich Umweltenergie und Kli- Nummer. ma einfach überhaupt nichts in der Pfanne haben. Bei all Ihrem Gequatsche – Digital First und was wir noch alles (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gehört haben – ist nämlich die Wahrheit, dass Sie im fos- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5769

Oliver Krischer (A) silen Zeitalter stecken geblieben sind, und zwar nicht ein- gen Ihre Parteien und Sie durchsetzen konnte, die den (C) mal im 20., sondern teilweise sogar im 19. Jahrhundert. Hambacher Wald zerstören können, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Zuruf von der FDP: Ihr ward doch in der Regierung! Unfassbar!) Das lässt sich im Moment in Nordrhein-Westfalen be- sichtigen, dann ziehe ich mir den Schuh ganz ehrlich an. Aber ich sage Ihnen: Dass Sie jetzt hier in Berlin über den Koh- (Zuruf von der FDP: Richtig!) leausstieg verhandeln und dort zulassen, dass auf dem Rücken von Tausenden von Polizisten Fakten geschaffen wo Ihre Partei in Regierungsverantwortung nicht 1 Hek- werden, können Sie den Menschen nicht erklären, und tar, sondern 4 000 Hektar Wald zerstört. Und das ist kein das fliegt Ihnen im Moment gerade gesellschaftlich um Wirtschaftswald, sondern das ist ein naturnaher erhal- die Ohren. tungswürdiger Wald, worüber Sie zynisch hinweggehen und behaupten, es sei für die Braunkohlenutzung not- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wendig, das zu zerstören. sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. René Röspel [SPD] – Dr. Alexander (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Sie haben Gauland [AfD]: Das ist eine Frechheit! Das doch die Lizenz erteilt! Die Grünen haben sind Ihre Anhänger!) doch die Lizenz erteilt!) Da haben Sie eine Verantwortung, und vor der drücken Sie können den Menschen nicht erklären, dass wir Sie sich, indem Sie hier solche peinlichen Anträge stel- hier das Klimaabkommen ratifizieren und gleichzeitig len und Ihren Ministerpräsidenten so herumlaufen lassen. über den Kohleausstieg reden, an dem die Große Koa- Das einzige, was Ihnen da einfällt, ist, gegen Bündnis 90/ lition arbeitet, während man dort den Wald zerstört und Die Grünen zu wettern. An der Stelle würde ich erwarten, weiter abholzt. Das können Sie an der Stelle niemandem dass Sie den Versuch unternehmen, diesen gesellschaft- erklären. lichen Konflikt zu lösen. Aber dazu haben Sie weder die (Abg. Dr. Lukas Köhler [FDP] meldet sich zu Kraft noch den Willen, weil Sie nicht im 21. Jahrhundert einer Zwischenfrage) stehen, (Andreas Bleck [AfD]: Zwei Minuten geredet! – Die Zwischenfrage habe ich erwartet. Darauf freue ich Keine Antwort auf die Frage! – Dr. Alexander mich jetzt, Herr Präsident. Gauland [AfD]: Können Sie mal eine Frage beantworten, die man Ihnen gestellt hat? Das (B) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: ist nur Geschwätz, Herr Krischer! Nur Ge- (D) Dann ist es recht. schwätz!) wo Klimaschutz und Nachhaltigkeit notwendig sind, Dr. Lukas Köhler (FDP): sondern weil Sie ganz, ganz tief im fossilen Zeitalter ste- Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – cken geblieben sind, anders als Sie es immer darstellen. Wenn dem so ist, warum haben Sie dann, nachdem das Das ist, ehrlich gesagt, an der Stelle absolut ärmlich. Das Klimaschutzabkommen 2016 ratifiziert wurde, im Land- muss ich ganz klar und deutlich sagen. tag von NRW zugestimmt, dass der Landesentwicklungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) plan beschlossen wurde, in dem stand, dass der Hamba- cher Forst gerodet werden darf? Ich sage Ihnen deshalb, was hier gilt. Da will ich ein- mal die Worte der Gewerkschaft der Polizei zitieren. Die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sagt: Reden statt räumen und roden. – Das müsste die der AfD) Devise von uns allen sein. Darum sollten Sie sich küm- mern, statt hier solch peinliche Vorlagen abzuliefern. Das ist Ihre Verantwortung in Nordrhein-Westfalen, wo Sie Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): in der Landesregierung sind bzw. das wäre Ihre Verant- Herr Kollege, ich danke Ihnen für die Frage, und ich wortung, übrigens auch die von Union und SPD, die an freue mich, dass ich hier darauf hinweisen kann, dass dieser Stelle jetzt ja ganz stiekum sind, die hier über den Bündnis 90/Die Grünen als einzige Partei im nord- Kohleausstieg verhandeln, aber zulassen, dass ein gesell- rhein-westfälischen Landtag dafür gesorgt hat, dass schaftlicher Konflikt in Nordrhein-Westfalen nicht gelöst 1 400 Menschen nicht aus ihrer Heimat vertrieben wer- wird. Es kann nicht sein, dass wir am Ende einen Wald den – gegen den expliziten Willen Ihrer Partei, gegen den zerstören und nicht einmal wissen, ob wir die Kohle, die expliziten Willen der SPD, darunter liegt, überhaupt noch in Anspruch nehmen müs- (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Beantworten sen. Das können Sie den Menschen draußen nicht erklä- Sie verdammt noch mal die Frage! – Karsten ren. Deshalb sage ich: Hambi bleibt! Hilse [AfD]: Beantworten Sie die Frage, Herr Danke. Krischer!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch gegen expliziten Willen der CDU – und dass wir das und bei der LINKEN – Lachen der Abg. an der Stelle durchgekämpft haben. Ich sage Ihnen ganz Dr. Alice Weidel [AfD] – Dr. Alexander ehrlich: Wenn Sie mir vorwerfen, dass ich mich nicht ge- Gauland [AfD]: Es ist unfassbar! – Dr. Alice 5770 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Oliver Krischer (A) Weidel [AfD]: Der Energieexperte der Grü- gleichen. Das ist aus meiner Sicht ein Punkt, der dazu (C) nen! Herr Krischer, der Inbegriff von Fach- führt, dass wir aufgrund des nicht ausreichenden Flä- kompetenz!) chenpotenzials diesen Weg gehen müssen. Nichtsdesto- trotz – das hat mein Kollege Gerig schon gesagt – müssen Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: wir damit natürlich sehr sensibel umgehen und auf der Grundlage entsprechender Analysen sehr genau prüfen: Für die Fraktion der CDU/CSU hat der Kollege Welche Waldflächen sind überhaupt geeignet und welche Dr. Klaus-Peter Schulze das Wort. nicht? Das ist das Erste. (Beifall bei der CDU/CSU) Das Zweite – Herr Krischer hat schon angedeutet, dass dazu noch eine Bemerkung von mir kommen wird – ist Dr. Klaus-Peter Schulze (CDU/CSU): das Thema Artenschutz und das sogenannte Helgoländer Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Papier. Natürlich begrüße ich als Natur- und Artenschüt- Herren auf den Besucherrängen! Liebe Kolleginnen zer und als zuständiger Berichterstatter im Umweltaus- und Kollegen! Vielleicht sollten wir wieder ein bisschen schuss sehr, dass wir das Helgoländer Papier auch um- mehr in die sachliche Diskussion einsteigen. setzen. Aber wir müssen auch da schauen: Wie sind die Flächenpotenziale? Wir hatten im Jahr 2005 470 Seead- (Frank Sitta [FDP]: Ja, das stimmt aller- lerpaare; inzwischen sind es 700. Die Entwicklung ist dings! – Gegenruf des Abg. Stephan Kühn nicht ganz so rasant wie beim Wolf, aber immerhin. [Dresden] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn man weiß, dass 2 800 Hektar Fläche im Umfeld Das ist bei dem Antrag aber schwer! – Ge- eines Seeadlerbrutplatzes nicht genutzt werden können, genruf des Abg. Frank Sitta [FDP]: Das ist bei dann kann man sich schnell ausrechnen, welche Flächen- euch auch öfter so!) potenziale auch hier eingeschränkt werden. – Ja, aber man kann sich trotzdem sachlich über die Din- Was mir viel mehr Sorgen macht, ist, dass eine der eu- ge unterhalten. ropäischen Hauptzugrouten, die Via Baltica, in Mecklen- (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Das burg-Vorpommern mit Windparks bestückt werden soll. war doch sachlich!) Hier muss man sich wirklich überlegen, ob man diesen Weg gehen sollte, auch im Interesse des Natur- und Ar- Ich möchte zunächst eine Bemerkung zu Herrn Bu- tenschutzes. sen und Herrn Bleck machen. In der Regel werden Windkraftanlagen, wenn sie ihre Zeit erreicht haben, Und, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir zurückgebaut und durch andere ersetzt. Mir ist kein Fall sollten uns ehrlich machen: Wie viel Fläche haben wir (B) bekannt, in dem eine solche Anlage an ihrem Standort denn in Deutschland zur Verfügung, um Windkraftanla- (D) stehen geblieben ist. gen zu errichten? Dazu gibt es eine Studie des Umwelt- bundesamtes aus dem Jahre 2013. Da sagt man beim (Andreas Bleck [AfD]: Schleswig-Holstein!) ersten Aufschlag, es sind 14 Prozent der Landesfläche Vielmehr werden sie nachgenutzt, weil die Flächenpo- in Deutschland. Beim zweiten Aufschlag sagt man, man tenziale – dazu komme ich nachher noch – erheblich ein- weiß es nicht genau; vielleicht sind es auch bloß 2 Pro- geschränkt sind. zent, weil es die und die Restriktionen gibt – ich habe sie schon angesprochen – und weitere Flächen, zum Beispiel Ich war von 2009 bis 2013 als stellvertretender Vor- Radaranlagen der Bundeswehr, nicht bebaut werden dür- sitzender der Regionalen Planungsgemeinschaft Lau- fen. sitz-Spreewald auf einer Fläche von 7 200 Quadratkilo- metern für die Erstellung des Teilregionalplanes Windkraft Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um auf Ihren verantwortlich. Da merkt man, in welchen Zielkonflikt Antrag einzugehen. Wir sollten uns in den nächsten Wo- wir insgesamt kommen, wenn der Siedlungsbestand, chen und Monaten die Karten ansehen und schauen: Wie rechtskräftige Bebauungspläne, Wasserschutzzonen, Na- groß ist das Potenzial, das wir haben? Welche Wege sind turschutzgebiete, Landschaftsschutzgebiete usw., Wald notwendig, um den Zielkonflikt zwischen Klimaschutz, mit Schutzverordnung und stehende Gewässer als Erstes Energiewende und Natur- und Artenschutz sachgerecht ausgeschlossen werden und bei einem zweiten Überblick zu lösen? Erst wenn wir diese Zahlen verbindlich auf dann noch die Überschwemmungsgebiete, Naturparke, dem Tisch liegen haben, können wir uns darüber unter- FFH-Gebiete und Denkmalschutzbereiche herausgenom- halten, inwieweit wir in Waldflächen eingreifen müssen. men werden – alles Restriktionsflächen. Die Vorgabe, in Ich sage: Wertvolle Mischwaldbestände und reich struk- diesem Fall die des Landes Brandenburg, war: 2 Prozent turierte Nadelbestände sollten mit Sicherheit zu Restrik- der Regionalfläche sind auszuweisen. Das war mit Si- tionsflächen erklärt werden. cherheit nicht zu erreichen. Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Aus diesem Grund haben wir uns nach sehr langer (Beifall bei der CDU/CSU) Diskussion entschieden, den Weg zu beschreiten, mono- strukturierte Kiefernwälder, die sich nach Möglichkeit Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: auf nährstoffarmen Standorten befinden, auch für die Der nächste Redner: der Kollege Johann Saathoff, Windkraftnutzung freizugeben. Dieser Diskussionspro- SPD-Fraktion. zess dauerte insgesamt vier Jahre. Im Ergebnis konnten wir gerade einmal 1,8 Prozent der Regionalfläche aus- (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5771

(A) Johann Saathoff (SPD): zu belegen, dann würde eine Kapazität von 150 Giga- (C) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und watt allein auf der Zuwachsfläche der letzten zehn Jahre Kollegen! Worüber reden wir eigentlich? Wir reden über entstehen – dreimal so viel wie der Windenergiezubau in das Klimaschutzabkommen, das wir in Paris geschlossen Deutschland seit 30 Jahren. haben. (Wolfgang Kubicki [FDP]: Nein, über Wald!) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Es ist eine internationale Verpflichtung, zu der wir ge- Kubicki? meinsam stehen müssen.

(Dr. Alexander Gauland [AfD]: Darüber re- Johann Saathoff (SPD): den wir nicht! Wir reden über Wald!) Aber selbstverständlich, Herr Präsident. – Herr Kol- Deutsche sind letzten Endes immer stolz auf ihre Ver- lege Kubicki. tragstreue. Aber wenn wir jetzt schon anfangen, über solche Dinge zu sprechen, dann kann auch der ein oder andere in anderen Ländern auf die Idee kommen, dass Wolfgang Kubicki (FDP): wir vielleicht gar nicht mehr so vertragstreu sind, wie wir Lieber, sehr geschätzter Herr Kollege Saathoff, zum immer vorgeben. Ersten – da Sie ja aus Ostfriesland kommen –: Würden Sie freundlicherweise zur Kenntnis nehmen, dass die Wir reden auch über den Koalitionsvertrag, liebe Kol- FDP auch auf Offshorewindenergie setzt, die keine Ab- leginnen und Kollegen. Da steht drin: 65 Prozent erneu- holzung von Wäldern zur Folge hat? erbare Energien bis 2030. Zum Zweiten. Wie wollen wir denn glaubhaft in der (Frank Sitta [FDP]: Was hat denn das mit Welt vertreten, dass wir uns gegen die Abholzung von Naturschutz zu tun?) Regenwäldern wehren und wenden, wenn wir beginnen, Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ich finde unsere eigenen Wälder abzuholzen? es superinteressant, zu lesen, was Sie nicht wollen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der (Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Ja!) AfD – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir meinen ja die Abholzung Die Begründung dafür fand ich dann schon weniger in- in Baden-Württemberg! – Timon Gremmels teressant. Beeindruckt hätten Sie mich, wenn Sie gesagt [SPD]: Das ist unter Ihrem Niveau! – Gegen- hätten, was Sie wollen, und wenn Sie uns ein Konzept ruf des Abg. Wolfgang Kubicki [FDP]: Für Sie (B) vorgelegt hätten, wie man zum Beispiel die Klimaziele (D) reicht das Niveau!) erreichen kann; das hätte mich beeindruckt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Johann Saathoff (SPD): LINKEN sowie der Abg. Dr. [CDU/CSU] – Wolfgang Kubicki [FDP]: Das Geschätzter Kollege Kubicki, ich freue mich über Ihr machen wir die ganze Zeit!) Engagement für Offshorewindenergie; ich freue mich, dass wir wenigstens in dieser Richtung gemeinsam un- In Ostfriesland würde man dazu sagen: Wenn’t drum terwegs sind und biete Ihnen gerne an, da auch noch ein geiht, dat een wat deiht sitt dor’n Uul. – Mit anderen paar Fakten dazu zu liefern, dass wir gemeinsam in der Worten: Man kann mit dem Mund immer schnell irgend- richtigen Richtung unterwegs sind. etwas behaupten; aber wenn es dann tatsächlich um Sa- chen geht, die man umsetzen muss, traut man sich nicht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sie sollten nicht immer nur sagen, was Sie nicht wollen. Aber Brandrodungen in tropischen Wäldern mit Rodun- Sagen Sie, was Sie wollen, und vor allen Dingen, wie Sie gen für die Windräder in Deutschland zu vergleichen, ist das erreichen wollen. einfach nicht in Ordnung. Aus meiner Sicht vergleichen (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Sie hier Äpfel mit Birnen und bauen eine Angst auf, die BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- faktisch gar nicht vorhanden sein muss. geordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und Trotz der dürftigen Faktenlage in Ihrem Antrag be- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – schäftigen wir uns mit ihm. Laut Bundeslandwirtschafts- Dr. Rainer Kraft [AfD]: Weg ist weg!) ministerium haben wir 11,4 Millionen Hektar Wald in Deutschland – ein Drittel der Gesamtfläche. Das macht Das Fazit heißt: Der Wald ist durch Windenergie nicht insgesamt 90 Milliarden Bäume, die in Deutschland ste- in Gefahr; das darf man an dieser Stelle deutlich sagen. hen. In den letzten zehn Jahren hat die Waldfläche um Die FDP fordert in ihrem Antrag, Naturschutzgebiete 50 000 Hektar zugenommen. Nehmen wir einmal an, für die Gewinnung von Windenergie auszuschließen und Ihre Aussage, dass man für eine Windenergieanlage ei- eine Abstandsregelung zu Brutstätten gefährdeter Vo- nen Hektar Wald braucht, stimmt – ich stelle das infrage, gelarten zu definieren. Ich sage Ihnen: Das gibt es alles aber nehmen wir es einmal an –, und gehen wir theo- schon. retisch davon aus, wir würden nur die Zuwachsfläche der letzten zehn Jahre nutzen, um sie mit Windenergie (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 5772 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Johann Saathoff (A) Ich berichte mal aus der Praxis: Was brauchen Sie ei- Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs- (C) gentlich, wenn Sie eine Windmühle bauen wollen? Sie vorschlag der FDP, also Federführung beim Landwirt- brauchen eine Baugenehmigung oder eine Genehmigung schaftsausschuss. Wer ist für diesen Überweisungs- nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz. Dazu brau- vorschlag? – Das sind die FDP und die AfD. Wer ist chen Sie zwingend ein ornithologisches Gutachten. Da dagegen? – Das sind die übrigen Fraktionen. Damit ist wird zwölf Monate kontinuierlich geguckt, was sich dort dieser Überweisungsvorschlag abgelehnt. aufhält, und zwar in allen Bereichen. Von der Wiesen- Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungs- weihe über den Rotmilan bis zum Weißsternigen Blau- vorschlag der Fraktionen CDU/CSU und SPD, Feder- kehlchen wird da untersucht, und da, wo ornithologische führung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Hindernisse sind, werden Sie keine Windenergieanlagen nukleare Sicherheit. Wer stimmt dem zu? – Dafür haben bauen können. Darüber hinaus brauchen Sie, wenn Sie gestimmt Linke, SPD, Grüne, CDU/CSU. – Wer stimmt überhaupt einen Bauantrag stellen wollen, einen Bebau- dagegen? – Die AfD und die FDP. Damit ist dieser Über- ungsplan der Gemeinde. Das heißt, der Rat muss sich weisungsvorschlag angenommen. damit auseinandergesetzt haben und wollen, dass dort Windenergie gewonnen wird. Sie brauchen einen Flä- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: chennutzungsplan der Gemeinde, für den das Gleiche gilt. Und Sie brauchen ein Regionales Raumordnungs- Erste Beratung des von der Bundesregierung programm des Landkreises und des Bundeslandes. – Es eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur An- ist nicht so – wie Sie das suggerieren –, dass man eine passung von Finanzmarktgesetzen an die Ver- Windenergieanlage aufgrund der Außenbereichsregelung ordnung (EU) 2017/2402 und an die durch die einfach hinstellen kann, wo man will. Das ist faktisch Verordnung (EU) 2017/2401 geänderte Ver- nicht der Fall. ordnung (EU) Nr. 575/2013 Drucksache 19/4460 (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Überweisungsvorschlag: Wir brauchen, meine Damen und Herren, liebe Kolle- Finanzausschuss ginnen und Kollegen, für die Energiewende mehr Fläche Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – Sie für Windenergie. Wir brauchen mehr Windenergie im 1) Süden, und wir brauchen weniger Schaufensteranträge. sind damit einverstanden. Dann ist das so. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- (Dr. Rainer Kraft [AfD]: Sicher nicht!) wurfs auf Drucksache 19/4460 an den Finanzausschuss

Wir wollen eine umweltfreundliche, CO2-freie Stromer- vorgeschlagen. – Ich sehe keine anderweitigen Vorschlä- (B) zeugung. Liebe FDP, unsere Stromerzeugung soll keine ge. Dann ist die Überweisung so beschlossen. (D) strahlenden Müllaltlasten hinterlassen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf: (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Erste Beratung des von den Abgeordneten Irene LINKEN) Mihalic, Luise Amtsberg, Canan Bayram, wei- Die Stromerzeugung, wie wir sie uns vorstellen, soll teren Abgeordneten und der Fraktion BÜND- keine Ewigkeitskosten der Atommülllagerung beinhal- NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs ten. Die Stromerzeugung, wie wir sie uns vorstellen, soll eines Gesetzes zur fortlaufenden Untersuchung der Kriminalitätslage und ergänzenden Aus- keine Folgekosten der kostenlosen CO2-Deponierung in der Atmosphäre beinhalten. Unsere Stromerzeugung soll wertung der polizeilichen Kriminalitätsstatis- nachhaltig sein, sie soll sozial gerecht sein und generati- tik (Kriminalitätsstatistikgesetz – KStatG) onengerecht. Drucksache 19/2000 Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Inneres und Heimat (f) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Rainer Kraft [AfD]: Sagen, Hier haben die Fraktionen 38 Minuten vereinbart. – Es wie das funktioniert!) gibt keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt die Kollegin Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Dr. Irene Mihalic, Bündnis 90/Die Grünen. Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesord- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nungspunkt. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Dr. Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Drucksache 19/2802 an die in der Tagesordnung aufge- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Lie- führten Ausschüsse vorgeschlagen, allerdings ist die Fe- be Kollegen! Alle Jahre wieder erleben wir das gleiche derführung strittig. Die Fraktionen CDU/CSU und SPD Spiel: Die polizeiliche Kriminalitätsstatistik, PKS, wird wünschen eine Federführung beim Ausschuss für Um- vorgestellt, und während die einen sagen, das Land sei welt, Naturschutz und nukleare Sicherheit, die Fraktion viel, viel sicherer geworden, sagen die anderen, alles wer- der FDP Federführung beim Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft. 1) Anlage 2 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5773

Dr. Irene Mihalic (A) de immer schlimmer. Welche Aussage am Ende stimmt, ken, wenn sich die tatsächlichen Aufgaben der Sicher- (C) das weiß man nicht so genau; denn dass die Aussagekraft heitsbehörden verändern. der PKS begrenzt ist und die Daten vielseitig interpretier- bar sind, liegt leider in der Natur dieses Zahlenwerkes. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- So ist die PKS in erster Linie ein Arbeitsnachweis der SES 90/DIE GRÜNEN) Polizei und bildet daher nur einen Teil der tatsächlichen Wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse zur Krimina- Kriminalitätsbelastung ab. Aber die Daten können natür- litätslage sind übrigens auch ein ziemlich gutes Mittel lich die Grundlage für weiter gehende Untersuchungen gegen Fake News, gegen Populismus und gegen Angst- sein; das jedenfalls wäre für seriöse Schlussfolgerungen macherei. auch dringend nötig. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) Ich finde, gerade in diesen aufgeregten Zeiten könnte man damit sehr, sehr viel zur Versachlichung der Debatte Der richtige Ansatz steht schon im Koalitionsvertrag beitragen. Daher ist es mit einer einmaligen Neuaufla- von Union und SPD – das möchte ich ganz ausdrücklich ge des Periodischen Sicherheitsberichts meiner Ansicht begrüßen –: Darin verspricht die Bundesregierung eine nach nicht getan, es muss ein regelmäßiges Berichtswe- zügige Aktualisierung des Periodischen Sicherheitsbe- sen geben. Das würde helfen, längerfristige Entwicklun- richts. Falls Sie jetzt den letzten Bericht, also den aus gen bestimmter Kriminalitätsformen viel besser im Blick dem Jahr 2006, nicht zur Hand haben sollten, darf ich zu behalten und einzuordnen und daraus eben auch die mal kurz aus dem Vorwort zitieren: richtigen Strategien zur Bekämpfung abzuleiten. Um wirksame Konzepte zur Kriminalitätsbekämp- Wir haben mit dem Periodischen Sicherheitsbericht fung entwickeln zu können, braucht die Politik eine aus den Jahren 2001 und 2006, wie ich finde, sehr, sehr verlässliche, in regelmäßigen Abständen aktuali- gute Erfahrungen gemacht. Deswegen gibt es eigentlich sierte Bestandsaufnahme der Kriminalitätslage, die keinen Grund, einen solchen Bericht nicht alle zwei Jahre über die bloße Analyse der Kriminalstatistik und der regelmäßig aufzulegen. Ich jedenfalls habe keinen Zwei- Strafverfolgungsstatistiken hinausgeht. fel daran, dass der Periodische Sicherheitsbericht die Ge- setzgebung wesentlich zielgerichteter, die Arbeit unserer Dieser Satz ist ja völlig richtig; aber man fragt sich natür- Sicherheitsbehörden effektiver und somit das Land am lich, was eigentlich aus den regelmäßigen Abständen ge- Ende sicherer machen wird. worden ist; denn seit über zehn Jahren hat es eine solche (B) Analyse nicht mehr gegeben. Ganz herzlichen Dank. (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- sowie bei Abgeordneten der SPD und der SES 90/DIE GRÜNEN) LINKEN) Stattdessen erleben wir eine Kriminal- und Sicher- heitspolitik nach Gefühlslage. Leider werden Sicher- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: heitsgesetze viel zu häufig eben nicht auf Grundlage gesi- Der nächste Redner ist für CDU/CSU-Fraktion der cherter Fakten, sondern aus dem Bauch heraus gemacht. Kollege Axel Müller. Ehrlich gesagt, ich verstehe es nicht. In nahezu jedem wichtigen Politikfeld werden regelmäßig wissenschaftli- Axel Müller (CDU/CSU): che Berichte vorgelegt – nehmen wir zum Beispiel den Armuts- und Reichtumsbericht, den Jahreswirtschaftsbe- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten richt oder auch den Bildungsbericht –; daran kann sich Damen und Herren! Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf die Politik dann orientieren. Nur in dem Politikfeld, das möchten die Grünen – das hat die Kollegin deutlich ge- seit Jahren die Schlagzeilen bestimmt und bei dem sich macht – ein Kriminalitätsstatistikgesetz schaffen. Dieses alle einig sind, wie wichtig es ist, nämlich bei der inne- soll der Untersuchung der Kriminalitätslage dienen und ren Sicherheit, da verzichten wir seit Jahren auf solide die Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik er- wissenschaftliche Grundlagen und machen Politik nach gänzen und – so füge ich hinzu – bei der Kriminalitätsbe- Stimmungen und nach Wetterlage, oder was? Also, ich kämpfung unterstützen. verstehe es nicht, und ich finde, es kann nicht sein. So wie Ihr Entwurf allerdings ausgestaltet ist, wäre seine Umsetzung zum einen zu teuer, zum Zweiten zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aufwendig und zum Dritten überflüssig bzw. untauglich. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Sie kalkulieren mit voraussichtlich nicht mehr als 2 Mil- lionen Euro pro Jahr, ohne das näher, was die Kostenfol- Wer den Anspruch hat, eine Kriminal- und Sicher- genabschätzung anbelangt, zu erläutern. heitspolitik für dieses Land zu machen, die tatsächlich wirkt, und zwar auf Basis fundierter wissenschaftlicher Zentraler Bestandteil des Entwurfs ist einmal die ge- Analysen und Fakten, der kann unseren Gesetzentwurf setzliche Verpflichtung, alle zwei Jahre einen sogenann- nicht ablehnen. Die Kosten können jedenfalls kein Ar- ten Periodischen Sicherheitsbericht zu erstellen, und gument sein; denn nichts ist teurer, als auf die falschen zweitens repräsentative Befragungen der Bevölkerung innenpolitischen Instrumente zu setzen und nicht zu mer- durchzuführen, um dieses Dunkelfeld der Kriminalität zu 5774 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Axel Müller (A) erhellen, also den Bereich der Straftaten zu erhellen, den außen vor zu lassen und nicht mit aufzunehmen, was aus (C) die Polizei nicht bearbeitet, weil er bei der Polizei nicht den ganzen angezeigten Straftaten, die die Polizei bear- angekommen ist, etwa weil etwas nicht angezeigt wurde beitet hat und die die Staatsanwaltschaften zur Anklage oder weil es schlichtweg verborgen geblieben ist. gebracht haben, letztendlich geworden ist. Zunächst ist festzuhalten, dass die von Ihnen so kri- Ganz besonders hellhörig macht mich eines, wenn ich tisierte Polizeiliche Kriminalstatistik als Ergebnis einer Ihren Gesetzentwurf lese. Da steht nämlich, dass sich die Auswertung der Zahlen der Länder durch den Bund jähr- Antragsteller aus den Periodischen Berichten Erkennt- lich erstellt und veröffentlicht wird. Diese ist äußerst um- nisse für eine fortlaufende Überprüfung der gesetzlichen fangreich. Sie ist keine schnöde Auflistung von Strafta- Bestimmungen in einem für die Grundrechte sensiblen ten, sondern sehr detailliert, differenziert, beispielsweise Bereich erhoffen. Was ist das denn? Dient das Ganze am nach vollendeten oder versuchten Taten, nach Delikts- Ende nicht der Kriminalitätsbekämpfung, sondern dient gruppen, nach Tätergruppen, nach Alter der Tätergrup- das Ganze am Ende der Rechtspolitik? pen bzw. nach dem Milieu – großstädtisch oder ländlicher Ich kann mir Ihre Argumentation schon vorstellen: Raum –, nach Nationalität, nach Geschlecht. Die Opfer Unter Berufung auf den Periodischen Sicherheitsbericht, werden genau erfasst. Es bleibt also ausreichend Raum. unter Berufung auf Expertenmeinungen sagen Sie dann Auch die Kapitaldelikte werden, was die Begehungswei- am Ende: Also, das mit der Telefonüberwachung ist viel se, was die Wahl der Tatmittel betrifft, genau bezeichnet. zu exzessiv. Im Übrigen hat auch die Vorratsdatenspei- Die PKS lässt durchaus die kriminologischen Studien, cherung keinen Einfluss auf die Kriminalitätsbekämp- die Sie gerne machen würden, zu. Sie lässt es durchaus fung. zu, dass sie Basis für derartige Auswertungen ist. Alles in allem sage ich Ihnen: Da gehen wir nicht mit. Die Schwachpunkte der PKS will ich ja gar nicht ver- In dieser Form lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab. leugnen. Zum einen ist es eben nur eine Ausgangsstatis- tik. Nur das, was von der Polizei erfasst und endbearbei- Vielen Dank. tet wird, ist darin enthalten. Zum Zweiten – Sie haben es (Beifall bei der CDU/CSU) gesagt –: Das Dunkelfeld wird eben nicht erfasst.

Aber nun, meine Damen und Herren von den Grünen, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: die Sie diesen Gesetzentwurf eingebracht haben: Glau- Vielen Dank, Herr Kollege Müller. – Als Nächster ben Sie denn, dass mit der Umsetzung Ihres Vorschlags, spricht zu uns der Kollege Lars Herrmann, AfD-Fraktion. eine Bevölkerungsbefragung durchzuführen, das Dun- kelfeld wirklich erhellt wird? (Beifall bei der AfD) (B) (D) (Dr. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ja!) Lars Herrmann (AfD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Unsere Polizei genießt nach meiner Überzeugung – da- Damen und Herren! Der hier vorgelegte Gesetzentwurf für spricht auch das, was im letzten Periodischen Si- zeigt mal wieder eines ganz deutlich: Innere Sicherheit cherheitsbericht veröffentlicht war – das Vertrauen der und Grüne, das verhält sich wie Erdogan und Demokra- großen Mehrheit der Bevölkerung in diesem Land. Wer tie – es passt nicht zusammen und wird auch nie zusam- Opfer einer Straftat ist und diese nicht anzeigt, der tut menpassen. es oftmals aus höchst persönlichen Gründen und nicht, weil er kein Vertrauen in die Polizei hat. Im Periodischen (Beifall bei der AfD) Sicherheitsbericht des Jahres 2001 stand, dass gerade Zunächst muss man jedoch anerkennen, dass die Idee einmal 1,5 Prozent der Befragten angegeben hat, ihr Ver- eines Periodischen Sicherheitsberichts kein schlechter trauen in die Polizei sei nicht vorhanden gewesen. Vorschlag ist; das ist wirklich wahr. Bisher gab es zwei (Dr. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- solcher Berichte; wir haben das schon gehört. Diese Be- NEN]: Trotzdem müssen wir was über diese richte wurden von einem Gremium aus Wissenschaftlern, Straftaten erfahren!) Ministeriums- und Behördenvertretern erstellt und die- nen als wichtiges Instrument zur Politikberatung und als Des Weiteren ist es ja nicht so, dass in den letzten Jah- hilfreiche Quelle für die Praxis repressiver und präventi- ren kein Periodischer Sicherheitsbericht erstellt worden ver Kriminalitätsbekämpfung. So weit, so gut. wäre. Zwei haben auch Sie erwähnt: den von 2001 und den von 2006. Der Gesetzentwurf der Grünen ist jedoch von einem tiefen Misstrauen gegenüber unserer Polizei und unseren (Konstantin Kuhle [FDP]: Da war ich noch in Sicherheitsbehörden geprägt. So soll das Gremium, das der Schule!) bisher aus absolut hochkarätigen Experten bestand, nun- mehr eine neue Zusammenstellung erfahren. Gemäß der Ich gebe ja zu: Es wäre wünschenswert, pro Legislatur- grünen Ideologie soll die sogenannte Zivilgesellschaft periode einen solchen Sicherheitsbericht zu haben. Des- beteiligt werden und Akteneinsicht beim BKA nehmen halb haben wir in den Koalitionsvertrag geschrieben, dürfen. Bei dem Gedanken daran, was man bei den Grü- dass wir dafür sorgen wollen. Aber einen solchen Bericht nen unter Zivilgesellschaft versteht, läuft es mir aller- alle zwei Jahre zu erstellen, macht beim besten Willen dings eiskalt den Rücken runter. keinen Sinn. Und es macht auch keinen Sinn – das nur ganz am Rande bemerkt –, einfach die Strafrechtspflege (Beifall bei der AfD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5775

Lars Herrmann (A) Demnächst sollten also solche Gestalten wie kriminel- Sie sehen: Es ist ein sehr interessantes Feld. Es lohnt (C) le Ökoterroristen, wie sie derzeit auf Bäumen im Ham- sich, das zu untersuchen – gar keine Frage –; allerdings bacher Forst zu finden sind, von wo sie mit Stahlkugeln werden die von den Grünen beabsichtigten Bevölke- auf Polizeibeamte schießen oder Polizisten mit mensch- rungsbefragungen hier keine Erhellung bringen. lichen Exkrementen überziehen, auf das Fachwissen vom Bundeskriminalamt zurückgreifen und dort unbehelligt (Dr. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ein- und ausgehen können. Ein absoluter Irrsinn, meine NEN]: Wen wollen Sie denn sonst fragen? – sehr verehrten Damen und Herren! Canan Bayram [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wie denn sonst? Was denn sonst?) (Beifall bei der AfD – Jörg Cezanne [DIE Vielmehr ist die Zielrichtung klar zu erkennen: Der Po- LINKE]: Da kriege ich ja Zahnschmerzen!) lizei soll gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit unter- Auch wollen die Grünen nun eine repräsentative stellt werden. Die entlarvenden Äußerungen von Herrn Befragung der Bevölkerung zur Aufklärung des soge- Hofreiter bezüglich des unsäglichen und haltlosen Vor- nannten Dunkelfelds durchführen und das im Gesetz wurfs gegenüber der Polizei – Stichwort „institutioneller festschreiben. Obwohl ich persönlich an der Dunkel- Rassismus“ – lassen erkennen, wo die Fahrt hingehen feldforschung, also an dem Bereich der Kriminalität, der soll. nicht in der Kriminalitätsstatistik abgebildet wird, sehr (Beifall bei der AfD) interessiert bin, ist die von den Grünen beabsichtigte Me- thode der Bevölkerungsbefragung gänzlich ungeeignet. Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere Po- lizei braucht keine Diffamierung, keine Gängelung. Un- Ich räume auch gerne ein: Das Problem bei so einer sere Polizisten brauchen vernünftige Ausrüstung, Aus- Befragung – empirische Sozialforschung ist jetzt nicht stattung und unsere Rückendeckung, damit sie ihren Job unbedingt mein Spezialgebiet – ist derart offensichtlich, machen können. dass es sogar mir regelrecht ins Auge springt. Zunächst muss im Bereich des Dunkelfeldes zwischen Anzeige- (Beifall bei der AfD) und Kontrolldelikten unterschieden werden. Erstere wer- Von den Grünen ist das nicht zu erwarten. den durch die Geschädigten selbst zur Anzeige gebracht, weil diese ein ureigenes Interesse an der Strafverfolgung Vielen Dank. haben und deshalb bei der Polizei Anzeige erstatten. Die (Beifall bei der AfD) Kontrolldelikte hingegen werden durch die Polizei sel- ber festgestellt und zur Anzeige gebracht. Das bedeutet: Weniger Kontrollen sind zugleich weniger festgestellte Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (B) Straftaten. Vielen Dank. – Als Nächste spricht zu uns die Kolle- (D) gin Susanne Mittag, SPD-Fraktion. Ich möchte das in diesem Zusammenhang verdeutli- chen. So wird beispielsweise behauptet, dass die Grenz- (Beifall bei der SPD) kriminalität in meinem schönen Heimatland Sachsen auf dem niedrigsten Stand seit zehn Jahren sei und im Ver- Susanne Mittag (SPD): gleich zum Vorjahr sogar um 1,4 Prozent abgenommen Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Sehr geehrte habe. Man vergisst dabei aber, im selben Atemzug zu er- Damen und Herren! Der letzte Periodische Sicherheits- wähnen, dass die Präsenz der Bundespolizei im Grenzge- bericht – es ist schon erwähnt worden – stammt aus dem biet zu Polen und Tschechien erheblich abgebaut wurde Jahr 2006. Nur mal zur Erinnerung: Was hatten wir da und Stellen nicht nachbesetzt werden. Auch bei der Lan- vor zwölf Jahren? Das Sommermärchen der WM. Jeder despolizei Sachsen wurden Polizeireviere geschlossen, weiß, dass das schon reichlich lange her ist. Und was ist Streifenwagen reduziert oder abgezogen. alles in dieser Zeit allein im Sicherheitsbereich passiert, (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Skandal!) und wie haben sich die Sicherheitsthemen verändert, zum Beispiel, wenn man allein den Bereich der Digitali- Weniger Polizei bedeutet also weniger Straftaten in der sierung sieht? Statistik – das stimmt –; aber auf keinen Fall bedeutet dies eben mehr Sicherheit. Zwölf Jahre – dass diese Unterbrechung zu lang ist, dürfte ja wohl allen klar sein. Deswegen haben wir auch (Beifall bei der AfD) schon im Koalitionsvertrag – Frau Mihalic sagte es schon – die Weiterführung des Periodischen Sicherheits- Im Hinblick auf den Bereich der Kontrolldelikte ver- berichts beschlossen. hält es sich wie folgt – ein Beispiel –: Wenn einem Au- tohändler in Görlitz nach dem dritten Einbruch in sein (Dr. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Autohaus die Versicherung kündigt, besteht für diesen NEN]: Sehr gute Idee!) keinerlei Interesse, die Straftat bei der Polizei zur An- Damit waren vielleicht nicht alle einverstanden, aber wir zeige zu bringen und dort stundenlang seine Zeit zu finden das wichtig. verplempern. Er kann sich nach den vorausgegangenen Erfahrungen die Anzeige sparen, weil 80 Prozent der Zu Beginn der Diskussion sollten wir uns aber mal Einbrüche ohnehin nicht aufgeklärt werden und die Ver- eine Frage stellen: Wozu brauchen wir wirklich einen Pe- sicherung nicht zahlt. Auch hier würde die Statistik einen riodischen Sicherheitsbericht, und wie soll er am Ende Rückgang verzeichnen, wo in Wirklichkeit keiner ist. genutzt werden? Ein solcher Bericht richtet sich natürlich 5776 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Susanne Mittag (A) vor allem an die Politik, an uns – die Frage ist, wie wir Der Bericht muss maßgeblich verkürzt werden und (C) mit den Ergebnissen umgehen –, aber auch an die Polizei sich spezieller mit den wichtigsten und dringlichsten und die Wissenschaft. Das Ziel dieses Berichtes war und Themen beschäftigen. Denn das Ziel dieses Berichts soll- ist es, als Grundlage für alle Maßnahmen der präventiven te sein, über aktuelle Themen gut und schnell zu infor- Kriminalitätsbekämpfung, aber auch für die Erarbeitung mieren und einen Blick in die Zukunft zu ermöglichen, zukünftiger Ermittlungsmöglichkeiten zu dienen. um politisch, polizeitaktisch und präventiv auf die sich schnell ändernden Kriminalitätsschwerpunkte reagieren Otto Schily und Herta Däubler-Gmelin schrieben im zu können. Dafür brauchen wir keine 830 Seiten, sondern Vorwort des Ersten Periodischen Sicherheitsberichtes aus einen Bericht, der beispielsweise – so die Vorstellung – dem Jahre 2001 – mit Ihrer Erlaubnis darf ich zitieren –: die zehn wichtigsten Themen tiefgreifender abhandelt. Die Bundesregierung hat sich … entschieden, ei- Die Top 10 könnten sich zum Beispiel – das muss man nen wissenschaftlich fundierten, umfassenden Be- verhandeln – nach Fallhäufigkeit, Schadenssumme, richt über die Sicherheitslage in der Bundesrepublik neuen Strukturen, Vorgehensweisen von Tätern, Krimi- Deutschland zu erstellen. nalitätsfolgen aufgrund gesetzlicher Veränderungen im In- und Ausland oder finanziellen Zugriffsmöglichkeiten Leider ist dieses Projekt – das muss man nun mal lei- zusammensetzen. Man muss darüber reden, in welche der sagen – unter Unionsinnenministern wieder einge- Richtung man das macht. schlafen. (Dr. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Um den genannten Zweck zu erfüllen, darf ein solcher NEN]: Genau!) Bericht keine zwölf Jahre lang Pause haben, er darf nicht so lange liegen bleiben. Der Bericht ist für uns, die Politik, und die Polizei – für sie ist ja der Bericht – nur dann sinnvoll, wenn man sich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ auf bestimmte Themen konzentriert. DIE GRÜNEN) Schon der erste Bericht hatte ein Spezialthema, näm- Er muss auch erheblich öfter als alle fünf Jahre erschei- lich „Jugendliche als Opfer und Täter“. Im Nachgang nen. Was passiert alles in fünf Jahren! Mit einem fünfjäh- kann man ja wohl feststellen, dass das ein wirklich wich- rigen Turnus ist es unmöglich, auf kurzfristig auftretende tiges Thema ist, das uns heute noch beschäftigt. Dieser Phänomene zu reagieren. Ich denke, ein zwei- bis drei- Ansatz muss weitergeführt werden. Natürlich muss die- jähriger Turnus erscheint angemessen, ser Bericht ausführlicher sein als eine PKS, also eine Polizeiliche Kriminalstatistik, oder auch justizielle Sta- (Dr. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tistiken wie die Strafverfolgungsstatistik allein, die ja pa- (B) NEN]: Genau!) rallel laufen und überhaupt nicht miteinander verbunden (D) um kurzfristig reagieren und aktuelle Entwicklungen er- sind. Es gibt also jede Menge Statistiken, die zusammen- kennen zu können. Wenn man allein unsere sicherheits- geführt werden müssen. politischen Diskussionen in den letzten ein, zwei Jahren Das Augenmerk muss viel stärker auf den Zusammen- anguckt, dann weiß man, dass uns ein alle fünf oder sechs hängen zwischen Polizei und Justiz liegen. Der Bericht Jahre erscheinender, langjähriger Bericht überhaupt nicht darf nicht nur eine Analyse darüber sein, was passiert ist, nützt. sondern muss auf die Zukunft ausgerichtet sein: Welche Entwicklungen sind zu erwarten? Das Programm „Poli- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zei 2020“ des BKA kann zu diesen Auswertungen auch DIE GRÜNEN) einen wichtigen Beitrag leisten. Die Informationen der Auch die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage zur Länder- und Bundespolizeien können in den Bericht ein- Festlegung eines Berichtszeitraumes unterstützen wir fließen – sie können da zusammengeführt werden – und ausdrücklich. Dann schläft es nicht wieder ein. der Wissenschaft bei der Analyse, Auswertung und Wei- terentwicklung der Statistiken helfen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Eva Högl [SPD]) Für einen aussagefähigen Bericht muss den beteiligten Wissenschaftlern – natürlich unter Berücksichtigung des Beim Format des Berichtes besteht allerdings noch Datenschutzes – Zugang zu den Auszügen aus den Sta- Handlungsbedarf; da sind wir uns nicht so ganz einig. tistiken ermöglicht werden. Wichtig ist uns auch ein Be- Der erste Bericht hatte 777 Seiten, der zweite – leichte richt, in dem Wissenschaftler und Polizeipraktiker sich Steigerung – 830 Seiten. Mal ehrlich: Diese Größenord- gemeinsam mit dem Thema beschäftigen. Was nützt uns nung macht zwar Eindruck; aber durch die schiere Länge die ganze Theorie, wenn die Praxis nicht funktioniert? des Berichts und seinen allumfassenden Anspruch geht Auf diese Art und Weise kann man zu neuen Erkenntnis- der Sinn des Berichtes – er soll Grundlage für polizeipo- sen gelangen. litische Entscheidungen sein – komplett verloren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Eine rein wissenschaftliche Arbeit halte ich nicht für Das ist weder übersichtlich noch informativ, noch zeigt praxisorientiert und zielführend; denn dafür sind die Ex- es am Ende das Wesentliche auf. Auch der unterrichten- pertisen und Einschätzungen der Polizei, die erkennt, wo de und veranschaulichende Charakter des Berichtes wird Handlungsbedarf für die Politik besteht, zu zukunfts- dadurch vermindert, alles wird übertüncht. weisend. Der Bericht verlöre dann die absolut wichtig- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5777

Susanne Mittag (A) ste Aufgabe, die er hat, nämlich die Politik in der Arbeit Die subjektive Sicherheit in der Bevölkerung ist – ers- (C) zu aktuellen Themen zu unterstützen und bezüglich der tens – eine Einbruchstelle für Verhaltensänderungen. Na- möglichen Lösungen zu informieren, damit sie nicht im- türlich werde ich mein Verhalten ändern, wenn ich Opfer mer der Lage hinterherlaufen muss. einer Straftat geworden bin. Ich werde mein Verhalten aber möglicherweise auch ändern, wenn jemand aus mei- Eine Bevölkerungsumfrage halte ich in diesem Rah- ner Familie, aus meinem Umfeld, aus meiner näheren men für nicht zielführend. Ich denke, der Bericht soll- Bekanntschaft Opfer einer Straftat geworden ist, wenn te sich an Fakten orientieren und weniger an gefühlten ich darüber lese und mich in der Nachbarschaft nicht Werten. Derartig gelagerte Umfragen werden inzwischen mehr sicher fühle, wenn Fragen der Stadtplanung be- schon von Umfrageinstituten geleistet; die Ergebnisse troffen sind, wenn Fragen des Zusammenlebens betrof- kann man heranziehen. Das wäre bei Präventionsmaß- fen sind. Weil die Frage der subjektiven Sicherheit einen nahmen vielleicht hilfreich. Einfluss auf reales Verhalten haben kann, gehört auch sie (Dr. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zum Ziel- und Kernbereich der Sicherheitspolitik. NEN]: Nein!) (Beifall bei der FDP) – Ja, Frau Mihalic, wir müssen uns nicht komplett einig Die subjektive Sicherheit ist auch deswegen für uns sein; das können wir ja noch verhandeln. eine wichtige Frage, weil sie – zweitens – eine Einbruch- Abschließend möchte ich ganz deutlich unterstrei- stelle für politische Kräfte aller Art und besonders für chen, dass ich den Vorschlag grundsätzlich begrüße, die Populisten ist, die Statistik zum Gegenstand von Forde- SPD-Fraktion auch. rungen aller Art machen. Wenn man sich auf den Dun- kelfeldbereich bezieht, auf Straftaten, die gar nicht zur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kenntnis der Sicherheitsbehörden gelangen, dann kann des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) man immer Forderungen stellen, die möglicherweise gar keine statistische Grundlage haben. Ich bin froh, dass dieser Antrag zum Periodischen Si- cherheitsbericht vorliegt, weil das Thema damit wieder ( [AfD]: Meinen Sie uns ein bisschen Anschub bekommt und besprochen wird. damit? – Dr. Alexander Gauland [AfD]: Nein, Ich denke, die Etablierung eines zwei- oder dreijährigen uns meint der nie!) Sicherheitsberichtes hätte für alle große Vorteile. Es wäre Weil diese Einbruchstelle für Populisten gerade in der ein gutes Zeichen, jetzt, wo Deutschland doch Ausrichter derzeitigen Situation so gefährlich ist, bedarf es auch aus der Fußballeuropameisterschaft 2024 ist, den Grundstein unserer Sicht einer Untersuchung des Dunkelfeldes. für einen neuen Periodischen Sicherheitsbericht zu legen. (B) Er würde dann sicherlich sehr dabei helfen, die Sicher- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ (D) heitslage zu bewerten und entsprechend zu reagieren. DIE GRÜNEN) Vielen Dank. Das ist auch Teil der Auseinandersetzung, die man über die objektive und die subjektive Sicherheit in Deutsch- (Beifall bei der SPD) land führen muss. Es ist zu Recht schon darüber gesprochen worden,

Vizepräsident Wolfgang Kubicki: dass die Polizeiliche Kriminalstatistik und auch die Er- Vielen Dank, Frau Kollegin Mittag. – Als Nächstes für hebungen über die politisch motivierte Kriminalität in die FDP-Fraktion Konstantin Kuhle. Deutschland bestimmte Mängel aufweisen. Das ist vor (Beifall bei der FDP) allen Dingen der unterschiedliche Zeitpunkt. Wir haben auf der einen Seite eine Eingangsstatistik, auf der ande- ren Seite eine Ausgangsstatistik; verschiedene Statisti- Konstantin Kuhle (FDP): ken, die möglicherweise zu einem unklaren Bild führen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Inten- Deswegen kann man am Ende nur sagen: Dass der Peri- tion eines Kriminalitätsstatistikgesetzes ist doch völlig odische Sicherheitsbericht seit dem Jahr 2006 nicht er- richtig. Auf der einen Seite sind wir als Innenpolitiker der schienen ist, ist ein großer Nachteil für die Sicherheitsar- öffentlichen Sicherheit im objektiven Sinne verpflichtet. chitektur in Deutschland. Es wäre gut und richtig, wenn Objektive Sicherheit heißt: weniger Straftaten, weniger das wieder passierte. Gewalt, die man tatsächlich messen kann. Und wenn (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ man am Ende in einer objektiven Statistik feststellt, dass DIE GRÜNEN) es zu weniger Verurteilungen gekommen ist, dann ist das ein Erfolg der objektiven Sicherheitspolitik. Nun ist es so, dass wir einen Gesetzentwurf vorliegen haben. Wir als Fraktion der Freien Demokraten fragen Wir sind aber als Innenpolitiker und als Politik allge- uns ein bisschen: Ist eigentlich die Legislative der rich- mein auch der subjektiven Sicherheit verpflichtet, also tige Ansprechpartner für das Programm eines Periodi- dem Gefühl der Bevölkerung, das mit der Sicherheits- schen Sicherheitsberichts? Ist es nicht vielmehr Kernauf- situation im Lande zusammenhängt. Das ist gerade in gabe der Exekutive, so etwas in Auftrag zu geben? der aktuellen Situation nicht zu unterschätzen, weil die subjektive Sicherheit im Land eine Einbruchstelle für (Dr. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zweierlei ist: NEN]: Die macht es ja nicht!) 5778 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Konstantin Kuhle (A) Es ist richtig: Das ist seit 2006 nicht gemacht worden. se Realität muss man zur Kenntnis nehmen, gerade an- (C) Aber dann muss es doch hier in diesem Hohen Haus als gesichts der beständigen Panikmache von Rechtsaußen. Aufforderung an das Bundesministerium des Innern be- schlossen werden, so etwas auf den Weg zu bringen. (Beifall bei der LINKEN) (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Nehmen Sie lieber zur Kenntnis: Seit der Wiedervereini- NEN]: Mach dir aber keine Hoffnungen, dass gung hat es mindestens 169 Todesopfer rechter Gewalt das passiert!) gegeben und nicht nur 83, wie von der Regierung be- hauptet. Das ist traurige Realität in diesem Land. Wir haben unsere Zweifel, ob mehr Bürokratie, ob mehr gesetzliche Befugnisse für die Sicherheitsbehör- (Beifall bei der LINKEN) den immer auch zu realen Vorteilen führen. Das mag Die bisherige Polizeiliche Kriminalstatistik erlaubt vielleicht aus Sicht der Grünen so sein. Aber tatsächlich in keiner Hinsicht die Schlussfolgerung, dass Gesetze ist das eine Aufgabe der Exekutive. Da kann man im In- verschärft werden müssen. Weil es in diesem Haus eine nenausschuss über die Kriterien diskutieren. Aber ob es Fraktion gibt, die ununterbrochen den Untergang des immer ein neues Gesetz sein muss, steht doch zu bezwei- Abendlandes beschwört: Auch die jetzige Statistik liefert feln. keinen Hinweis darauf, dass es in Deutschland irgendwie In diesem Sinne stimmen wir gerne für die Überwei- gefährlicher geworden ist. sung in den Ausschuss. Da kann man am Ende gucken, (Beifall bei der LINKEN) ob man das Ganze noch um einige Kriterien und Ge- sichtspunkte anreichert. Was die erwünschten Folgen einer, wie es im Entwurf heißt, „evidenzbasierten Sicherheitspolitik“ betrifft, bin Vielen Dank. ich allerdings skeptisch. Wenn es um Kriminalität geht, (Beifall bei der FDP) kochen Emotionen hoch und schalten die Vernunft aus. Dies gilt auch für die Damen und Herren der AfD, die lieber auf Stimmungsmache und Gruselgeschichten als Vizepräsident Wolfgang Kubicki: auf Sachargumente setzen. Vielen Dank, Kollege Kuhle. – Als Nächstes für die Fraktion Die Linke: der Kollege Friedrich Straetmanns. Hier ist aber festzustellen: Auch die Bundesregierung lässt sich häufig von Stimmungen statt von Tatsachen (Beifall bei der LINKEN) leiten. Die Gesetzesverschärfungen der letzten Jahre, die sogenannten Antiterrorgesetze, der Ausbau der Video- (B) (D) Friedrich Straetmanns (DIE LINKE): überwachung usw., geschahen alle ohne ausreichende Analyse der tatsächlichen Gefahrenlage, ja sogar gegen Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- den Rat von Experten. Als Stichwort nenne ich die elek- nen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Das tronische Fußfessel für Gefährder, die selbst in Polizeik- Anliegen des hier vorliegenden Gesetzentwurfs der Grü- reisen als nutzlose Symbolpolitik bezeichnet wird. nen, die Polizeiliche Kriminalstatistik durch einen Perio- dischen Sicherheitsbericht zu ergänzen, geht in die richti- (Beifall bei der LINKEN) ge Richtung. Die bisherige Statistik hat viele Mängel und liefert nicht die Informationen, die wir für eine sachliche Nach meiner Überzeugung müssen wir uns gerade im Debatte benötigen. Bereich der Sicherheitspolitik von Fakten und nicht von Vermutungen leiten lassen. Dafür müssen wir besser und So erfasst sie nicht die reale Anzahl der Straftaten, son- exakter erfassen, ruhiger auswerten und nicht Gesetze dern basiert auf dem Anzeigeverhalten der Bevölkerung. verschärfen, nur weil es das vermeintliche Rechtsemp- So sagt eine bloße Zahl, etwa wie viele Anzeigen von finden der Bevölkerung erfordert. Trauriges Beispiel ist Gewaltverbrechen registriert worden sind, nichts darüber das bayerische Polizeiaufgabengesetz, das wir gemein- aus, ob diese Verbrechen im familiären Umfeld oder im sam mit Grünen und FDP in Karlsruhe zu Fall bringen öffentlichen Raum geschehen. Das zu wissen, ist aber für werden; da bin ich mir sehr sicher. die polizeiliche und insbesondere für die gesetzgeberi- sche Arbeit wichtig. Wir brauchen nicht nur die nackte (Konstantin Kuhle [FDP]: So ist es!) Statistik, sondern ein umfassendes vertieftes Lagebild, um zu vernünftigen Schlussfolgerungen zu kommen. Meine Damen und Herren von der CSU, den Rechts- staat schützt man nicht, indem man die Grundrechte der (Beifall bei der LINKEN) bayerischen Bürgerinnen und Bürger aushebelt, und eine Wahl gewinnt man damit hoffentlich auch nicht. Damit habe ich in meiner kommunalpolitischen Tätigkeit in Bielefeld sehr gute Erfahrungen gemacht, wo ich jähr- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- lich den Sicherheitsbericht über die Bielefelder Innen- neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE stadt von Praktikern vorgetragen bekommen habe. GRÜNEN – Konstantin Kuhle [FDP]: Deswe- gen haben die doch den Kauder abgewählt!) Aber eine gewisse Tendenz lässt sich der Statistik na- türlich entnehmen. So wurden im Jahr 2017 9,6 Prozent Dieser Gesetzentwurf dagegen ist als ein Beitrag zu mehr weniger Straftaten erfasst als noch im Jahr davor. Auch Aufklärung zu begrüßen: gegen Hass, Vorurteile und die Gewaltkriminalität ging um 2,4 Prozent zurück. Die- blinden Aktionismus. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5779

Friedrich Straetmanns (A) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ich Ihnen auch sagen: Wenn Sie schon ein Gesetz ma- (C) chen, dann machen Sie es doch richtig. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Dr. Eva Högl [SPD]: Jetzt auch nicht so ag- gressiv werden!) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Schauen wir uns das einmal unter dem Gesichtspunkt der Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächster spricht zu technischen Gesetzgebung an. Mal nachlesen: § 3 Ab- uns der Kollege Philipp Amthor, CDU/CSU-Fraktion. satz 1 Satz 1 Ihres Gesetzentwurfes enthält Feststellun- gen, keine Regelungen, gar kein normativer Gehalt. So (Beifall bei der CDU/CSU) etwas gehört in die Begründung und nicht in die Norm. Das ist halbherzig gemacht. Inhaltlich enthält Ihr Gesetz- Philipp Amthor (CDU/CSU): entwurf wenig Regelungen und allerlei krumme Sachen. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Das ist uns ein Gesetz nicht wert. Wir werden diesen Be- Kollegen! Wir diskutieren über den Entwurf eines Krimi- richt vorlegen, ohne dass wir dafür ein Gesetz brauchen, nalitätsstatistikgesetzes der Grünen. Wenn man den Ge- liebe Kolleginnen und Kollegen. setzentwurf liest und der Debatte folgt, dann könnte man ja glauben: Das ist der ganz große Wurf für die innere (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sicherheit in unserem Land. Friedrich Straetmanns [DIE LINKE]: Machen Sie doch mal! – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/ (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- DIE GRÜNEN]: Wann denn? Sie haben nur NEN]: Haben wir nicht behauptet! Hat hier noch zwei Jahre!) keiner behauptet!) Sie überbewerten die Relevanz von solchen Berich- Ich will Ihnen deutlich sagen: Ich glaube das nicht. Ich ten; denn ganz deutlich muss man sagen: Ich sehe zual- glaube das aus zwei Gründen nicht: erstens, weil ich der lererst keinen Mehrwert in dem von Ihnen geforderten Überzeugung bin, dass das Gesetz überhaupt nicht not- Bericht, sondern ich sehe, dass das ganze Projekt 2 Mil- wendig ist, und zweitens, weil ich glaube, dass Sie die lionen Euro im Jahr kosten soll, 2 Millionen Euro, von Wirkungsweise von Kriminalitätsstatistik überschätzen. denen ich überzeugt bin, dass sie bei den Polizistinnen und Polizisten in unserem Land besser angelegt wären. Warum ist das Gesetz nicht notwendig? Sie haben Ihrerseits, Frau Mihalic, immer wieder auf die Polizei- (Beifall bei der CDU/CSU) liche Kriminalstatistik verwiesen. Für diese Form der Statistik gibt es auch keine gesetzliche Grundlage, keine Ich sage Ihnen: Auch mit den besten Berichten, die Sie (B) Aufforderung dazu. Es funktioniert trotzdem. Kollege vorlegen, werden Sie die Terroristen und die Cyberkri- (D) Konstantin Kuhle hat sehr richtig ausgeführt: Für eine minalität in unserem Land nicht bekämpfen. Terror und solche Statistik braucht man kein Gesetz. Das macht die Cyberkriminalität bekämpft man nicht durch Berichte, Exekutive schon ganz von alleine. sondern durch eine Polizei, die in der Lage ist, auf der Höhe der Zeit zu operieren. (Canan Bayram [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Macht sie nicht! – Konstantin Kuhle (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Das ist [FDP]: Glauben tue ich das nicht! So einfach populistisch!) ist es nicht!) Deswegen würde ich mich freuen, wenn Sie mit uns zum – Beruhigen Sie sich. Das kommt gleich. – Ich will Ihnen Beispiel eher über eine Ausweitung der Befugnisse re- sagen: Sie müssen nur den Koalitionsvertrag lesen. Wir den. Das ist es, was wir brauchen, damit der Rechtsstaat haben vereinbart, dass wir den Periodischen Sicherheits- mithalten kann, liebe Kolleginnen und Kollegen. bericht jetzt neu vorlegen werden. Wenn Sie uns treiben (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – wollen, dann machen Sie das doch mit Dingen, die wir Dr. Eva Högl [SPD]: Was im Koalitionsver- nicht schon selbst beschlossen haben. Das würde schon trag steht, haben Sie schon gelesen?) ausreichen. Also, wir werden das entsprechend vorlegen. Aber auch Ihnen dürfte nicht verborgen geblieben sein, Dann verkennen Sie überhaupt auch die Bedeutung dass wir in den letzten Wochen und Monaten in der In- einer objektiven Sicherheit, die Sie aus diesem Gesetz- nenpolitik wichtigere Dinge hatten als das Thema mit ir- entwurf ableiten wollen. Ich sage Ihnen: Wenn ich in gendwelchen Berichtspflichten. meinem Wahlkreis an der polnischen Grenze mit einem Landwirt rede, bei dem das dritte Mal in Folge auf dem (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Hof eingebrochen wurde, dann will er nicht Ihre Statistik NEN]: Herrn Seehofer!) haben, sondern er will, dass dieser Rechtsstaat funktio- Ganz deutlich gesagt: Die Steuerung und Begrenzung der niert. Migration und der Pakt für den Rechtsstaat sind wich- (Beifall bei der CDU/CSU) tiger als Ihre Berichtspflichten, liebe Kolleginnen und Kollegen. Daran arbeiten wir. Ihren Gesetzentwurf brauchen wir nicht. (Beifall bei der CDU/CSU) Herzlichen Dank. Unabhängig davon, dass wir, um diesen Bericht vor- zulegen, Ihren Gesetzentwurf gar nicht brauchen, kann (Beifall bei der CDU/CSU) 5780 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

(A) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (C) Vielen Dank, Herr Kollege Amthor. – Als letzter Red- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der ner spricht zu uns der Kollege Christoph Bernstiel, CDU/ Kollegin Mihalic? CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Christoph Bernstiel (CDU/CSU): Gerne im Anschluss. – Doch genau das versuchen die Grünen immer wieder zu verhindern. Christoph Bernstiel (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Drei Beispiele. Im Jahr 2016 stimmten Bündnis 90/ Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Deutsch- Die Grünen gegen die erleichterte Ausweisung von straf- land ist nach wie vor eines der sichersten Länder der Welt. fälligen Ausländern. Im Juni 2017 lehnten sie die Einfüh- Die Polizeiliche Kriminalstatistik aus dem Jahr 2017 be- rung der Schleierfahndung zur Terrorismusbekämpfung legt das. Die Zahl der Straftaten ist erneut um 5 Prozent in allen Bundesländern ab. In meinem Bundesland Sach- gesunken und ist damit so niedrig wie seit 26 Jahren nicht sen-Anhalt forderte die Grünenlandtagsfraktion sogar die mehr. Dennoch fühlen sich viele Menschen unsicher in Abschaffung des Verfassungsschutzes. unserem Land. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass ( [CDU/CSU]: Hört! Hört!) die Polizeiliche Kriminalstatistik nur die Fälle erfasst, in denen unsere Ermittlungsbehörden auch tatsächlich ge- Man muss sich daher schon fragen, wie ernst die Grünen arbeitet haben. Nicht erfasst sind hingegen alle Straftaten die Kriminalitätsbekämpfung tatsächlich nehmen, wenn und Delikte, die im Verborgenen begangen werden oder sie keine Gelegenheit auslassen, um unsere Sicherheits- erst gar nicht zur Anzeige gebracht wurden. Diese Fälle behörden zu kritisieren oder sogar zu schwächen. schreibt man dem sogenannten Dunkelfeld zu. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Autorin Marlene Lufen schrieb in ihrem vielbe- Zum Abschluss möchte auch ich etwas zu den Kosten achteten Buch „Die im Dunkeln sieht man nicht“, dass sagen. Sie gehen von ungefähr 2 Millionen Euro pro Jahr alle drei Minuten eine Frau in Deutschland vergewaltigt aus, um die Kriminalitätsstatistik zu verbessern. Das sind wird. Doch nur 70 Prozent dieser Fälle werden angezeigt. 8 Millionen Euro pro Legislaturperiode. Marlene Lufen erklärt das unter anderem so – ich zitie- re –: (Dr. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist für die Sicherheit unseres Lan- ... die meisten schämen sich, rechnen sich nur gerin- des!) ge Erfolgschancen aus oder versuchen, den Vorfall Verbrechen verhindert man nicht mit Statistiken, sondern (B) schnell zu vergessen. Die Beweisaufnahme nach ei- (D) mit Polizisten auf der Straße und mit klugen Köpfen in ner Tat ist schwierig, die Polizeibefragung gleicht unseren Ermittlungsbehörden. einem Verhör und im Gerichtssaal empfinden sie das Prozedere als erniedrigend. (Beifall bei der CDU/CSU) So kann das nicht bleiben. Wir brauchen dringend eine Zusätzliche Mittel im Sicherheitsbereich sollten daher Debatte über den Umgang mit Tätern und Opfern in un- zuerst in gutes Personal und erst dann in Statistiken in- serem Land. Es kann nicht sein, dass Vergewaltiger unge- vestiert werden. Denn den meisten Opfern von Gewalt ist straft davonkommen und Frauen sich nicht trauen, solche es egal, ob sie in einer Statistik erfasst werden oder nicht. Taten zur Anzeige zu bringen. Sie wünschen sich vielmehr, dass anderen Menschen ihr eigenes Schicksal erspart bleibt. Da sollten wir ansetzen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Genau das werden wir tun. neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Danke schön. Doch den Opfern sexueller Gewalt helfen wir nicht, in- dem wir Wissenschaftlern uneingeschränkten Zugang zu (Beifall bei der CDU/CSU) sensiblen Quellen unserer Sicherheitsbehörden ermögli- chen, so wie es die Grünen in ihrem Gesetzentwurf for- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: dern. Herzlichen Dank, Herr Kollege Bernstiel. – Erlauben Mit Skepsis blicken wir im Übrigen auch auf den Vor- Sie mir kurz den Hinweis, dass man Zwischenfragen nur schlag, künftig Bevölkerungsbefragungen zur Aufklärung während der Rede und nicht am Ende der Rede zulassen des Dunkelfeldes durchzuführen; denn erfahrungsgemäß kann. Aber das wissen Sie, wie ich mir denke. sind solche Umfragen äußerst manipulationsanfällig (Christoph Bernstiel [CDU/CSU]: Klang aber und tragen nur wenig zur realen Kriminalitätsbekämp- besser als Nein!) fung bei. Sinnvoller wäre hier, eine Befragung der Op- fer durchzuführen, sich darauf zu konzentrieren und die Frau Mihalic hat darauf verzichtet, eine Kurzinterven- sogenannte deliktspezifische Forschung zu stärken. Über tion zu machen. Aber der Kollege Straetmanns möchte allen Bemühungen zur Verbesserung der Statistik muss eine machen. Ich gestatte diese Kurzintervention. jedoch das Ziel stehen, Straftaten zu verhindern. Dies können wir erreichen, indem wir unsere Sicherheitsbe- Friedrich Straetmanns (DIE LINKE): hörden stärken und mit den erforderlichen rechtlichen Danke, Herr Bernstiel, dass Sie noch anwesend sind. – Kompetenzen ausstatten. Ganz kurz und knapp: Sie haben eben den Verfassungs- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5781

Friedrich Straetmanns (A) schutz und die Polizei zusammen genannt. Ist Ihnen be- Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) kannt, welche unterschiedlichen Aufgabenbereiche diese Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Drei beiden Organisationen oder Behörden verfolgen? Der Jahre sind seit dem Bekanntwerden des Abgasskandals Verfassungsschutz hat keine polizeilichen Aufgaben. Ich nun vorüber, und das Thema beherrscht hier – anders als wollte Sie darauf nur kurz hinweisen. in den USA, dem Land, in dem der Skandal aufgedeckt wurde – immer noch permanent die öffentliche Debatte. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Das hat eine ganz einfache Ursache: Weder die Autoin- Wollen Sie antworten? – Gut, dann haben Sie jetzt das dustrie noch die Bundesregierung haben in diesen drei Wort, Herr Kollege Bernstiel. Jahren auf diesen Skandal auf angemessene Weise re- agiert, weil sie sich für das Aussitzen entschieden haben.

Christoph Bernstiel (CDU/CSU): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zuerst stelle ich einmal fest, dass meine Fraktion im sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Gegensatz zu Ihrer noch fast vollständig anwesend ist. Aber vielen Dank für den Hinweis. Das ist ein Skandal, um das ganz deutlich zu sagen. (Lachen und Widerspruch bei der SPD, der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) NEN – Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Drehen Sie sich mal um!) Sowohl die Autoindustrie als auch die Bundesregierung haben geglaubt, dass man das Thema nur so wie eine Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Grippe behandeln muss: Nach zwei Wochen ist alles vo- rüber . Aber genau das Gegenteil ist geschehen. Der Ab- Herr Kollege Bernstiel, das muss ich wirklich bestrei- gasskandal hat unsere wichtigste Industrie in die größte ten. Vertrauenskrise ihrer Geschichte geführt. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass das auch zur größten wirtschaftli- Christoph Bernstiel (CDU/CSU): chen Krise dieser Industrie führt. Dafür trägt diese Bun- Um auf Ihre Frage einzugehen: Das Trennungsgebot desregierung eine zentrale Verantwortung, weil sie nicht betreffend den Verfassungsschutz und die Polizeibehör- auf angemessene Weise handelt. den ist nicht grundgesetzlich verankert. Selbstverständ- lich sind die Punkte, die ich hier angesprochen habe, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN konsistent. und bei der LINKEN) (B) (D) Vielen Dank. Es ist ja nicht so, als ob nicht genug darüber geredet worden wäre. Nach unzähligen Dieselgipfeln – man kann (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schon fast von einem Dieselgebirge sprechen; am Wo- chenende findet wahrscheinlich wieder ein Dieselgipfel Vizepräsident Wolfgang Kubicki: statt – haben Sie das Problem immer noch nicht an der Vielen Dank, Herr Kollege Bernstiel. – Sie sollten sich Wurzel gepackt. Es fahren doch Millionen Diesel-Pkws vielleicht umdrehen – um die Frage nach der Anwesen- auf den Straßen und emittieren ein Vielfaches des Gren- heit noch einmal zu erörtern. zwertes. Es reicht eben nicht, Herr Scheuer, ein paar Elektrobusse zu fördern oder in der einen oder anderen (Heiterkeit) Stadt die Ampelschaltung zu verbessern. Sie müssen ran an die Hardware der Fahrzeuge. Sie müssen das Problem Damit schließe ich jedenfalls die Aussprache. an der Quelle bekämpfen und dafür sorgen, dass die Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Fahrzeuge sauber werden. Es kann doch nicht sein, dass wurfs auf Drucksache 19/2000 an die in der Tagesord- wir nach drei Jahren noch immer keine Entscheidung zu nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es diesem Thema haben. dazu anderweitige Vorschläge? – Das höre und sehe ich nicht. Damit ist die Überweisung so beschlossen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Felix Schreiner [CDU/ Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf: CSU]: Reiner Populismus!)

Aktuelle Stunde – Ich höre gerade: „Reiner Populismus!“ – Am Anfang auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE haben nur ein paar Umweltverbände und die Grünen GRÜNEN eine Hardwarenachrüstung gefordert. Dann auf einmal war auch die SPD dafür. Inzwischen ist auch die CDU Drei Jahre Abgasskandal – Jetzt für saubere bei dem Thema Hardwarenachrüstung angekommen. Da Luft sorgen mögen Frankfurt und die hessische Landtagswahl eine Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem Rolle spielen. Aber immerhin bewegen Sie sich in die Kollegen Oliver Krischer, Bündnis 90/Die Grünen, das richtige Richtung. Der Einzige, von dem man nicht weiß, Wort. wo er steht, und von dem man jeden Tag eine andere Mei- nung und Position – genauso wie in den letzten Minuten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ja auch wieder – hört, ist der zuständige Verkehrsminister 5782 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Oliver Krischer (A) Andi Scheuer. Ich sage: Das Problem ist personifiziert. Drei Jahre nach Dieselgate ist nicht nur die Hardwa- (C) Scheuer und sein Vorgänger sind die Ursache dafür. renachrüstung, das Dieselthema an sich ein Problem; das Hauptproblem ist, dass wir eine Verkehrspolitik haben, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die nicht Klimaschutz und Nachhaltigkeit berücksichtigt, und bei der LINKEN – Felix Schreiner [CDU/ die nicht die notwendigen Veränderungen anpackt, die CSU]: Reden Sie mal mit Winni Hermann!) die Branche insgesamt braucht, die für eine neue Mobili- Um es klar zu sagen: Ich halte es für zynisch, dass tät stehen. Es reicht nicht, ein paar Städten ein 1‑Euro-Ti- ein Verkehrsminister wochen- und monatelang durchs cket irgendwie zuzubilligen. Land läuft und sagt: Die Flottenerneuerung ist die Lö- sung. – Das müssen Sie sich mal vorstellen: Da haben Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Millionen Menschen Geld für einen Diesel ausgegeben, Herr Kollege, bitte! von dem die Automobilindustrie ihnen erzählt hat: Der ist sauber. – Diese Menschen sind betrogen worden. Jetzt kommt der Verkehrsminister und sagt: Kauft ein neues Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Auto! Dann wird die Luft sauberer. – Ich sage: Das ist Wir brauchen den Abbau von Diesel- und Dienstwa- kein Verkehrsminister. Das ist ein Verkaufsagent der Au- genprivilegien. Wir brauchen eine Investitionsoffensive tomobilindustrie. Das macht unsere Luft nicht sauberer. für den öffentlichen Verkehr und eine nachhaltige Mobi- lität. Das ist die Herausforderung. Aber die wird da über- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haupt nicht angepackt. und bei der LINKEN) Danke schön. Das Ganze ist am Ende nicht nur eine soziale Frage. Tatsächlich löst man mit einer Flottenerneuerung kein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Problem. Der eigentliche Skandal neben den nicht mit und bei der LINKEN) Hardware nachgerüsteten Fahrzeugen ist, dass nach wie vor jeden Tag Tausende neue Fahrzeuge auf unsere Stra- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: ßen kommen – und zwar mit Billigung dieses Verkehrs- Als Nächstes der Bundesminister Andreas Scheuer. ministers –, die die Grenzwerte nicht einhalten. Deshalb kann die verrückte Situation eintreten, dass ein altes (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Fahrzeug mit Flottenerneuerung aus dem Verkehr gezo- Kirsten Lühmann [SPD]) gen wird und das neue Fahrzeug sogar noch mehr emit- tiert. Das kann doch, ehrlich gesagt, nicht die Antwort Andreas Scheuer, Bundesminister für Verkehr und (B) auf die Dieselkrise sein. digitale Infrastruktur: (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! und bei der LINKEN) (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Deshalb: Herr Scheuer, ich erwarte jetzt und hier von NEN]: Dafür oder dagegen?) Ihnen eine klare Ansage, was Sie machen wollen. Dieses Herr Kollege Krischer, wie scheinheilig sind denn Sie ewige Hin-und-her-Gewankele! Ich weiß ja nicht, ob der eigentlich? Discobesuch in dieser Woche auch ein bisschen zur Ver- wirrung beigetragen hat. (Beifall bei der CDU/CSU – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und das von (Felix Schreiner [CDU/CSU]: Sie sollten Ihnen? Machen Sie sich nicht lächerlich! Die auch mal mehr Spaß im Leben haben!) Scheinheiligkeit in Person!) Es kann nicht weitergehen, dass ein Verkehrsminis- Sie spielen sich hier auf als einer, der die deutsche Auto- ter Deutschland so lange im Unklaren lässt, wie Herr mobilindustrie mit Hunderttausenden von Arbeitsplätzen Scheuer das tut, wo wir inzwischen schon die verrück- schützen möchte. In Wirklichkeit sind Sie der, als der te Situation haben, dass sogar ein Automobilhersteller Sie zum Schluss der Rede entlarvt wurden: Sie wollen selbst bereit ist; nur der liebe Andi Scheuer steht noch auf eigentlich gar keinen Diesel, gar keinen Verbrennungs- der Bremse – oder: Man weiß nicht genau, wo er steht. motor. Da erwarte ich eine klare Ansage. (Felix Schreiner [CDU/CSU]: So sieht es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aus!) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Was wäre die Folge? Allein bei Bosch hängen 50 000 Arbeitsplätze am Diesel. Wir in dieser Koalition Vizepräsident Wolfgang Kubicki: machen Wirtschaftspolitik, damit der Automobilstandort Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte. Deutschland erhalten wird. Wie unvernünftig und gewis- senlos sind Sie denn? Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe vom Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Felix Schreiner [CDU/CSU]: Gott sei Dank Aber wir haben vor allem die vielen Millionen Die- kommt er zum Schluss!) selbesitzer im Blick. Wenn Sie im Titel dieser Aktuellen Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5783

Bundesminister Andreas Scheuer (A) Stunde vorsätzlich formulieren: „Drei Jahre Abgasskan- Wir haben die Millionen Dieselbesitzer im Blick. Ich (C) dal – Jetzt für saubere Luft sorgen“, dann machen Sie frage Sie: Sind Sie für Hardwarenachrüstung von Eu- nichts anderes als beinharten Populismus; ro‑4-Fahrzeugen, Herr Krischer?

(Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Und das von der CSU! Wir lachen ganz NEN]: Wir reden über Euro 5! Das ist die Fra- laut!) ge!) Sehen Sie: 3,1 Millionen Euro-4-Fahrzeuge gibt es in denn der Abgasskandal ist ein ganz anderes Thema als Deutschland, und die sind technisch gar nicht hardware- das Thema der Grenzwerte und der Mobilität in den In- nachrüstbar; sie sind technisch nicht nachrüstbar. nenstädten. Vergackeiern Sie doch die Leute nicht! (Felix Schreiner [CDU/CSU]: So ist es!) Wir haben sofort reagiert auf die Fehler und Manipu- lationen aus der Vergangenheit. Auch mit einem Nobelpreis für Hardwarenachrüstung geht es nicht. Euro‑5-Fahrzeuge: 5,5 Millionen; davon (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nur ein Drittel hardwarenachrüstbar. NEN]: Überhaupt nichts gemacht!) Damit wir in die Breite kommen, brauchen wir eine Wir haben 6,3 Millionen Software-Updates. Wir haben andere Diskussion, nämlich dass wir den Millionen Die- eine Rückrufquote beim VW von 97 Prozent. Die Fehler selbesitzern die Botschaft geben, dass wir die Entwertung und Manipulationen werden sukzessive und konzentriert der Diesel stoppen und dass wir ihnen mit der Perspek- abgearbeitet. tive der Flottenerneuerung Sicherheit geben. Das ist das Ziel dieser Bundesregierung, meine Damen und Herren. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Warum machen Sie dann noch einen (Beifall bei der CDU/CSU) Gipfel? Dann ist doch alles gut!) Wenn Sie so geil darauf sind, dass man in altes Wa- genmaterial eine Hardwarenachrüstung reinschmeißt, Wir haben sofort gehandelt, und das belegt auch die Ent- um mit einem alten Diesel weiterhin in den Innenstädten scheidungskraft dieser Koalition. zu fahren, (Beifall bei der CDU/CSU) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Drei Jahre alte Autos?) Wenn Sie an dieser Stelle das eine, nämlich die Fehler (B) und Manipulationen, die abgestellt gehören und denen obwohl wir nicht einen Hersteller haben, der beim KBA (D) wir mit Hochdruck begegnet sind, überhaupt ein Genehmigungsverfahren laufen hat: Das ist die falsche Entscheidung, liebe Kolleginnen und Kol- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- legen. NEN]: Gar nichts haben Sie gemacht!) (Beifall bei der CDU/CSU) mit der anderen Geschichte, nämlich der Mobilität in den Deswegen freut es mich, dass diese Bundesregierung, Innenstädten, in Verbindung bringen, dann machen Sie diese Koalition – vor ein paar Stunden und am Mon- genau diesen Fehler. Bei dem einen, nämlich den Fehlern tag Thema im Koalitionsausschuss – für die Millionen und Manipulationen, ist – da haben Sie recht – viel Ver- Dieselfahrer eine Botschaft haben wird. Wir sind in der trauen zerstört worden und ein Schaden am Label „made Ausarbeitung eines guten Konzepts über die Bundesmi- in Germany“ verursacht worden. nisterien hinweg. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Und was tun Sie jetzt?) NEN]: Ja was denn?) Wir haben den Fonds „Saubere Luft“ mit 1 Milliarde Wir werden eines machen: nicht nur die Städte mit in- Euro gestartet. Ich habe heute wieder Förderbescheide tensiver Belastung im Blick haben, sondern in der Breite im Volumen von 16,5 Millionen Euro verteilt, weil die den Dieselbesitzern diesen Dieselknick ausgleichen, Maßnahmen, die wir gestartet haben, wirken, messbar wirken: bei den Werten in den Innenstädten, (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wie denn? Jetzt mal Butter bei die Fi- ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sche! Drei Jahre sind rum!) NEN]: Wo denn?) weil der Markt es regeln wird, weil wir Modernisierung und das ist die gute Botschaft. haben wollen und weil wir eine Flottenerneuerung haben wollen. Das muss die Botschaft sein. (Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer (Beifall bei der CDU/CSU) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei mir zu Hause kommt nichts an, kein Euro! – Gegen- Dabei sind auch die ausländischen Hersteller gefragt. ruf des Abg. Marian Wendt [CDU/CSU]: Zu- Wir sind mit beiden im Gespräch: mit den deutschen hören!) Herstellern und mit den 25 ausländischen Herstellern. 5784 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Bundesminister Andreas Scheuer (A) Wir sind dabei, dass wir den Dieselbesitzern ein wirkli- Sie haben dann verschiedene Optionen, wie sie sich (C) ches Angebot machen. entscheiden, und die Hersteller sind in der Pflicht. Wir sind in dieser Woche einen wirklichen Schritt weiterge- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kommen. Es geht darum, mit guten Tauschprämien, mit NEN]: Welches denn? Sagen Sie doch mal, geringen Leasingraten ein gutes Angebot zu machen, da- welches!) mit wir Euro‑4- und Euro‑5- in saubere Euro‑6-Diesel Sie wollen ja generell, dass die Diesel aus dem Markt tauschen. Das ist Wirtschaftspolitik, das ist Industriepoli- kommen. tik, und das ist Verbraucherpolitik dieser Koalition, mei- ne Damen und Herren. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie machen doch gar nichts!) (Beifall bei der CDU/CSU – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Teuer für die Ich sage: Die Handwerker, die Pendler, die Menschen, Leute! Sie lassen die Leute bezahlen! – Felix die lange Strecken fahren müssen, brauchen einen spar- Schreiner [CDU/CSU]: Der richtige Weg! – samen Diesel und am besten einen sparsamen Diesel Zuruf der Abg. [FDP]) deutscher Ingenieurskunst. Das ist unsere Herangehens- weise. Sie sind nur auf dem Trip, dass wir auf dem Umweg, den Sie ständig so verständnisvoll formulieren, die- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- se Mobilitätswende, wie Sie das nennen, herbeiführen. ordneten der FDP) Was bedeutet Mobilitätswende? Sie wollen auf Verboten Was machen wir weiter? Wir haben schon längst basierend Politik machen. Wir wollen auf Anreizen ba- Hardwarenachrüstung dort, wo es wirklich sinnvoll ist. sierend Politik machen. Das ist genau der Unterschied Die Bundesregierung hat zusammen mit den Haushalts- zwischen euch und uns, meine Damen und Herren. politikern und den Verkehrspolitikern entschieden, dass (Beifall bei der CDU/CSU – Stefan Müller wir die Fahrzeuge umrüsten, bei denen es wirklich sinn- [Erlangen] [CDU/CSU]: Verbotspartei, die voll ist, nämlich die Dieselbusse in den Innenstädten. Grünen! Immer dasselbe!) (Lachen des Abg. Oliver Krischer [BÜND- Herr Krischer, Sie wollen aussperren, und wir wollen, NIS 90/DIE GRÜNEN]) dass gut gefahren werden kann in einer Innenstadt mit Mit 92 Prozent Schadstoffreduzierung geht jetzt ein Die- sauberer Luft. Das ist unser Konzept. selbus in Düsseldorf an den Start. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) Das macht diese Koalition übers Wochenende in harter (D) NEN]: Ein Bus!) Arbeit, sodass wir am Montag nach dem Koalitionsaus- Wir haben sehr viele Förderbescheide. Wir wollen an schuss den Bürgerinnen und Bürgern eine gute Botschaft dieser Stelle umrüsten. geben können: Mit dieser Koalition gibt es gute Mobili- tät, bessere Mobilität, (Beifall bei der CDU/CSU) (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir wollen was für die Kommunalfahrzeuge tun – NEN]: Und die Leute müssen blechen!) Straßenreinigung, Müllfahrzeuge, Feuerwehr, Kranken- wagen –, damit die Fahrzeuge der öffentlichen Infra- aber obendrauf auch saubere Luft dank neuer Technolo- struktur wirklich sauber sind. Da gibt es Nachrüstsätze. gie. Das ist unsere Herangehensweise. Da gibt es Genehmigungen. Da machen wir Förderricht- (Beifall bei der CDU/CSU) linien – das wirkt wirklich –, Meine Damen und Herren, ich möchte Sie um eines (Stefan Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bitten – wahrscheinlich wird es sowieso nicht fruchten; NEN]: Und wann?) (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- damit die Werte in den Innenstädten runtergehen. NEN]: Was vertreten Sie?) (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ich komme aus einer Automobilherstellerregion, wo wir NEN]: Und was machen Sie für die Privaten? 2,7 Prozent Arbeitslosigkeit haben und in den letzten Was machen Sie für die Bürger?) Jahrzehnten Millionen von neuen Fahrzeugen produziert Wir werden das auch auf die Lieferdienste und die Hand- haben –: Wir müssen den Mitarbeiterinnen und Mitarbei- werkerfahrzeuge ausweiten. tern, den Millionen Menschen im Bereich der Automo- bilindustrie, im Bereich der Logistik und im Bereich der Das macht das Gesamtkonzept aus: Auf der einen Sei- Forschung und Entwicklung die Botschaft senden, dass te wollen wir die Fahrzeuge, die zu 100 Prozent in der dieses Hohe Haus in seiner Verantwortung für unseren Innenstadt fahren, wirklich sauberer bekommen, und auf Wirtschaftsstandort eines im Blick hat, nämlich Wohl- der anderen Seite wollen wir den Millionen Dieselbesit- stand und wirtschaftliche Prosperität, damit wir uns das, zern eine gute Botschaft geben. was wir hinsichtlich sozialer Sicherheitsstandards und vielem mehr entscheiden, überhaupt leisten können. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Die wollen keine Botschaft! Die wol- (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- len Hilfe!) NEN]: Und wer zahlt dafür?) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5785

Bundesminister Andreas Scheuer (A) Dazu brauchen wir eine gute deutsche Automobilin- Eine Schachtel entspricht also 1 Million Mikrogramm. (C) dustrie, gute deutsche Produkte für Dieselfahrer, Ben- (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ziner und – vor allem auch mit Blick auf die neue Mobi- NEN]: Sie reden gerade am Thema vorbei! lität – alternative Antriebstechnologien. Hier geht es nicht ums Rauchen!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wenn also das wahr wäre, was Sie hier behaupten, müss- Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ten alle Raucher innerhalb von ein bis zwei Monaten tot Deswegen wird mein Haus technologieoffen fördern. sein. Das ist ja ganz offensichtlich nicht der Fall. Das wird so bleiben, damit wir eines bekommen und (Beifall bei der AfD – Steffi Lemke [BÜND- verbessern: gute Mobilität und saubere Luft – nicht im NIS 90/DIE GRÜNEN]: Böser Zynismus!) Widerspruch, sondern als Exportschlager. So lautete auch das klare Ergebnis des Diesel-Untersu- Herzlichen Dank. chungsausschusses hier im Deutschen Bundestag: Unter 900 Mikrogramm pro Kubikmeter gibt es keine Gesund- (Beifall bei der CDU/CSU) heitsbeeinträchtigungen.

Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Beifall bei der AfD – Ulli Nissen [SPD]: Und die Erde ist eine Scheibe! Genau!) Vielen Dank, Herr Minister Scheuer. – Als Nächstes spricht zu uns der Kollege Marc Bernhard, AfD-Fraktion. Denn wenn der Gesundheitsschutz einen so niedrigen Grenzwert erfordern würde, wie rechtfertigen Sie dann (Beifall bei der AfD) eigentlich Ihre Tatenlosigkeit und Ihr Desinteresse da- ran, dass der Grenzwert für Arbeitsplätze in Deutschland Marc Bernhard (AfD): 950 Mikrogramm beträgt, meine sehr geehrten Damen Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! und Herren? „Zeige mir einen Lügner, und ich zeige dir einen Dieb.“ (Beifall bei der AfD – Steffi Lemke [BÜND- Sie missbrauchen die diffusen Ängste der Menschen, NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir Ihnen krank zu werden, für Ihre politischen Ziele. schon hundertmal erklärt!) (Lachen bei Abgeordneten der SPD und der Dort also, wo sich die Menschen jeden Tag acht Stunden LINKEN) und mehr aufhalten, dürfen sie mehr als das 20-Fache dessen einatmen, was sie an der Kreuzung einatmen, wo Es geht Ihnen aber nicht um Gesundheit oder Umwelt. sie nur wenige Minuten am Tag sind. Daran sieht man: Es (B) Es geht Ihnen allein darum, den Menschen die Freiheit geht Ihnen nicht um die Gesundheit der Menschen, son- (D) zu stehlen. dern einzig und allein darum, ihnen das Auto und damit (Beifall bei der AfD) die Freiheit wegzunehmen. Das Auto hat der Generation unserer Eltern und Groß- (Beifall bei der AfD) eltern eine noch nie dagewesene Freiheit gebracht – eine Dazu ist Ihnen jedes Mittel recht. Sie stellen die Mess- Freiheit, die davor nur Könige und Fürsten hatten. Ihnen stationen so manipulativ auf, dass es unweigerlich zu ist jedes Mittel recht, den Menschen diese Freiheit wie- Fahrverboten kommen muss. der wegzunehmen. Fahrverbote sind nicht gottgegeben, sondern von Ihnen politisch gewollt. (Ulli Nissen [SPD]: Genau! Logo! – Zuruf des Abg. Stefan Gelbhaar [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der AfD – Steffi Lemke [BÜND- GRÜNEN]) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie machen sich lä- Auf Ihr Betreiben wurde 2015 die EU-Richtlinie zur cherlich!) Messung der Stickoxidgrenzwerte so geändert, dass der Sie haben in Brüssel, wie Ihr damaliger Verhandlungs- Manipulation Tür und Tor geöffnet ist. Mit dieser Än- führer selbst eingeräumt hat, einem völlig willkürlich derung ist es jetzt nämlich möglich, die Messstationen festgelegten Stickstoffdioxidgrenzwert von 40 Mikro- praktisch aufzustellen, wie man will. gramm zugestimmt und 20 Jahre lang nichts unternom- (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) men, dies zu korrigieren. Dieser Grenzwert stützt sich ausschließlich auf sogenannte epidemiologische Studien, Oder wie erklären Sie sich sonst, dass von 28 EU-Mit- also rein theoretische Hochrechnungen ohne praktischen gliedstaaten neben Deutschland nur zwei wegen der Bezug. Daher sind auch sämtliche Versuche der WHO, Überschreitung der Stickoxidgrenzwerte verklagt wer- den Grenzwert von 40 Mikrogramm durch klinische Stu- den, obwohl in ganz Europa die Situation in den Innen- dien zu bestätigen, krachend gescheitert. städten ähnlich ist und überall die gleichen Autos gefah- ren werden? (Zurufe von der SPD) (Beifall bei der AfD) Zum Vergleich: Beim Rauchen einer einzigen Zigaret- te atmen Sie 50 000 Mikrogramm Stickstoffdioxid ein. Anderswo in Europa werden Messstationen zum Bei- spiel in 35 Meter Höhe, auf dem Dach eines Universitäts- (Ulli Nissen [SPD]: Ich rauche aber nicht! – gebäudes, aufgestellt. In Deutschland dagegen werden Weitere Zurufe von der SPD) Messstationen direkt am Straßenrand oder in der Stra- 5786 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Marc Bernhard (A) ßenmitte aufgestellt, um Höchstwerte an Stickstoffdioxid zung stehen, sondern weil sie dort wohnen. Wir wissen (C) zu messen, doch aus Analysen, dass gerade diejenigen, die keinen großen Geldbeutel haben, an den am meisten belasteten (Zuruf des Abg. Stefan Schmidt [BÜND- Verkehrsadern wohnen und permanent diesen Belastun- NIS 90/DIE GRÜNEN]) gen ausgesetzt sind. Deswegen müssen wir alles dafür und eben nicht, um Messwerte zu erhalten, die für die tun, saubere Luft in den Innenstädten zu haben, damit Lebenssituation der Menschen tatsächlich repräsentativ die Gesundheitsrisiken für die Menschen in Deutschland sind. sinken. (Beifall bei der AfD – Steffi Lemke [BÜND- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten NIS 90/DIE GRÜNEN]: 35 Meter Höhe!) der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE Allein wenn Sie die Messstation nur um 4 Meter wei- GRÜNEN]: Dann mal los!) ter von der Straße wegstellen, verringert sich der Stick- stoffdioxidanteil um 40 Prozent. Genau daran wird offen- Das Umweltministerium hat von Anfang an darauf sichtlich, wie Sie mit den Ängsten der Menschen spielen, hingewiesen, dass wir in den hochbelasteten Städten um ihnen ihr Auto und damit die Freiheit zu rauben. nur dann eine Chance haben, die NOx-Belastung zu sen- ken, wenn wir neben all den anderen Maßnahmen, die Vergessen Sie bitte eines nicht: Man kann viele lan- sinnvoll sind – das Softwareupdate, der Austausch von ge täuschen; man kann einige immer täuschen; aber man Dieselbussen durch Elektrobusse, der Austausch von an- kann nicht alle immer täuschen. – Schluss mit der Panik- deren Kommunalfahrzeugen und, und, und –, auch Nach- mache und falschen Fakten! rüstungen anstreben. Ohne Nachrüstungen sind Fahrver- (Zuruf der Abg. Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/ bote in vielen deutschen Städten nicht zu vermeiden. Seit DIE GRÜNEN]) über drei Jahren weisen wir als Umweltministerium auf diese Position hin. Hören Sie endlich auf, die Menschen in unserem Land mit Ihrem ideologisch motivierten Kampf gegen das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Auto und Ihren Hirngespinsten zu drangsalieren! Küm- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mern Sie sich endlich um die wahren Probleme unseres Es ist ein schönes Geschenk für meine Ministerin, die Landes! heute Geburtstag hat, dass sich nun auch das Verkehrsmi- Herzlichen Dank. nisterium dieser Position so deutlich angenähert hat, wie das bisher noch nicht der Fall war. (Beifall bei der AfD – Felix Schreiner [CDU/ (B) CSU]: Kümmern Sie sich um die Realität! – (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Steffi (D) Ulli Nissen [SPD]: Was ist denn die Realität?) Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: An- genähert! Immer noch keine Entscheidung!)

Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Darauf kommt es doch auch an. Wir wissen natürlich Vielen Dank, Herr Kollege Bernhard. – Als Nächs- eines: Ein Euro‑5-Diesel ist kein Fahrzeug, das fünf oder tes spricht zu uns der Parlamentarische Staatssekretär zehn Jahre alt ist. Die Leute haben das vor drei Jahren Florian Pronold. gekauft. Nicht alle können es sich trotz günstiger Zinsen leisten, nach drei Jahren ein neues Auto zu kaufen; (Beifall bei der SPD) (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das müssen Sie dem Scheuer erklä- Florian Pronold, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- ren! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE ministerin für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicher- GRÜNEN]: Der will das!) heit: Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Lie- das geht nicht. Deswegen muss es Nachrüstungen geben. be Kollegen! Es ist immer wieder erheiternd, wie viel (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Verschwörungstheorie man in kurze Redebeiträge pa- cken kann. Die Nachrüstungen müssen diejenigen bezahlen, die da- für verantwortlich sind, dass wir in diese Situation ge- (Ulli Nissen [SPD]: Das stimmt!) kommen sind. Das ist doch ganz klar. Ich finde, dass die Kolleginnen und Kollegen von der (Daniela Kluckert [FDP]: Deswegen sind sie AfD vielen Autofahrerinnen und Autofahrern hier einen doch verantwortlich für den Wertverlust dieser Bärendienst erweisen, die massive Wertverluste dadurch Autos!) erlitten haben, dass von Herstellern falsche Angaben ge- macht worden sind und sie im guten Vertrauen auf diese Es ist gut, dass es heute bei den Gesprächen eine deut- Angaben Dieselfahrzeuge gekauft haben. Diese Men- liche Annäherung gegeben hat und dass wir eine Vielzahl schen schauen jetzt aufgrund der Wertverluste mit dem von Maßnahmen umsetzen werden, die zu dem Ergeb- Ofenrohr ins Gebirge. nis führen, dass es bessere Luft in den Städten gibt, dass Fahrverbote in vielen Situationen mit großer Wahrschein- Außerdem haben diejenigen große Probleme, die in lichkeit vermieden werden können, aber auch dazu, dass den Innenstädten dauerhaft diesen Belastungen aus- diejenigen, die sich auf den Euro‑5-Diesel verlassen ha- gesetzt sind, weil sie eben nicht nur kurz an der Kreu- ben, zum Schluss nicht die Dummen sind. Das ist für uns Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5787

Parl. Staatssekretär Florian Pronold (A) als SPD und für das Umweltministerium die ganz, ganz so verlockend das für den einen oder anderen in diesem (C) wichtige Botschaft. Hause auch sein mag. Als Freie Demokraten sind wir be- kanntlich Anhänger der Marktwirtschaft, und der Grund- (Daniela Kluckert [FDP]: Nur merken tut satz der Vertragstreue ist ein Fundament dieser Markt- man davon nichts!) wirtschaft. Es ist gut, dass bei diesen Gesprächen der richtige Weg „Jetzt für saubere Luft sorgen“ – nun gut, der zweite eingeschlagen wurde. Teil des Titels der Aktuellen Stunde suggeriert zumindest (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- eine gewisse Aktualität. In dieser Beziehung kann von NEN]: Wann?) einem Skandal aber nicht wirklich die Rede sein; denn die Luft in unseren Städten ist in den letzten Jahren im- Ich bin mir sicher, dass wir am Montag dann auch mit ei- mer sauberer geworden. Seit 2009 sind die maximalen nem guten Ergebnis aus dem Koalitionsausschuss kom- NOx-Werte um über 30 Prozent gesunken. Wir diskutie- men werden. ren hier über Grenzwerte, die zweieinhalbmal so hoch Herzlichen Dank. sind wie im ökologisch korrekten Kalifornien. Die Höhe der Grenzwerte und wie wir sie in Deutschland messen, (Beifall bei der SPD – Steffi Lemke [BÜND- muss unserer Meinung nach dringend überprüft werden. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann kriegen die Um die dafür notwendige Zeit zu gewinnen, ist die Bun- Leute das?) desregierung unserer Meinung nach aufgefordert, auf europäischer Ebene ein Moratorium zu erwirken, die Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Grenzwerte auszusetzen und damit auch den Klagen die Herr Staatssekretär, herzlichen Dank – für die Kürze. Rechtsgrundlage zu entziehen und den Fahrzeughaltern in Deutschland eine Mobilitätsgarantie zu gewähren. (Heiterkeit) (Beifall bei der FDP) Als Nächstes hat der Kollege Frank Sitta, FDP-Frak- Ich erinnere noch einmal daran, worum es eigentlich tion, das Wort. geht: Es geht um den Gesundheitsschutz der Menschen. (Beifall bei der FDP) Es geht nicht um das Aufspüren von Rekorden an as- phaltierten Flächen, an denen sich niemand längere Zeit aufhält und an denen sich ehrlicherweise auch niemand Frank Sitta (FDP): längere Zeit aufhalten möchte. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen hier heute in einer Aktuellen (Zuruf der Abg. Dr. (B) (D) Stunde über das Thema „drei Jahre Abgasskandal“ – aus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) unserer Sicht drei Jahre zu spät. Nun ja, mit dem gewähl- Man kann sich schon wundern, wenn Städte in an- ten Titel hat auch die antragstellende Fraktion gezeigt, deren EU-Ländern, die eher nicht für eine ausgezeich- dass Aktualität ein reichlich dehnbarer Begriff ist. nete Luft bekannt sind, mit den Grenzwerten weniger (Stefan Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Probleme haben und dort nun Gebrauchtfahrzeuge aus NEN]: Das ist nicht die erste Debatte zum Deutschland unterwegs sind, die vom Vorbesitzer leider Thema!) preisgünstig abgegeben werden mussten, weil sie hier- zulande von flächendeckenden Fahrverboten betroffen Man muss Ihnen als Grünenfraktion aber zugestehen, sind. Die Panikmache, die von interessierter Seite betrie- dass der eigentliche Dieselskandal, nämlich der Be- ben wird, dient, wenn Sie ehrlich sind, doch nicht dem trugsfall, weder politisch noch juristisch endgültig abge- Gesundheitsschutz. Es sind doch andere Motive, die hier schlossen und aufgearbeitet ist. eine Rolle spielen. Ziel ist, den motorisierten Individual- Ich möchte hier für meine Fraktion klarstellen: Wer verkehr zu bekämpfen. wissentlich ein Produkt herstellt und verkauft, das von (Beifall bei Abgeordneten der FDP) vornherein nicht die versprochenen Eigenschaften be- sitzt, der betrügt den Käufer. Jetzt ist es der Diesel, in ein paar Jahren der Verbren- nungsmotor an sich, und irgendwann wird man ganz ver- (Beifall bei der FDP) blüfft feststellen, dass in den Batterien der E-Fahrzeuge Wer das tut, hat auch die Verantwortung, den Schaden nicht nur saubere Luft verbaut ist, sondern auch ungesun- entsprechend zu begleichen und/oder das Produkt durch de Chemikalien. geeignete Maßnahmen vollumfänglich in den zugesi- Die Autoindustrie muss ohne Frage ihren Anteil zur cherten Zustand zu bringen. weiteren Verringerung der Schadstoffbelastung leisten. Die anderen Fahrzeuge, die Fahrzeuge nach Euro-5- (Ulli Nissen [SPD]: Hört! Hört!) Norm, über die wir hier reden, sind zum Großteil legal nach Recht und Gesetz auf der Straße. In einem Rechts- Entwicklungspotenzial ist da auch bei den jetzt schon staat kann man niemanden dafür belangen, dass er sich zur Verfügung stehenden Technologien vorhanden. Die an die Gesetze gehalten hat, Fahrzeugindustrie ist – darauf möchte ich noch einmal hinweisen – ein Fundament des wirtschaftlichen Wohl- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Axel stands in unserem Land. Wir müssen ihre Innovations- Müller [CDU/CSU]) kraft für die Herausforderungen der Zukunft nutzen. Wir 5788 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Frank Sitta (A) sollten sie nicht zerstören, so verlockend das auch hier fach alle zusammen einen zu kleinen AdBlue-Tank und (C) für den einen oder anderen zu sein scheint. regeln die Abgasreinigung runter. Die Industrie muss sich aber auch den Fehlern der Ver- Was hat die Bundesregierung bisher unternommen, gangenheit stellen. Dazu gehört ganz klar der Komplex damit sich so etwas nicht wiederholt? Fast nichts. Aber Dieselskandal. Den meisten Herstellern war ein regel- auch in diesem zentralen Bereich der deutschen Wirt- rechter Betrug bisher nicht nachzuweisen. Einen recht- schaft müssen rechtsstaatliche Verhältnisse gelten. lichen Hebel, um sie zu einer finanziellen Beteiligung an den notwendigen Nachrüstungen zwingen zu können, (Beifall bei der LINKEN) gibt es deswegen wohl nicht. Nichtsdestotrotz liegt eine moralische Verantwortung auch bei denjenigen, die die Für die notwendigen Auseinandersetzungen mit der Au- Regeln gedehnt und zuweilen wohl auch überdehnt ha- toindustrie fehlt Ihnen, Herr Scheuer, offenbar der Mut. ben. Die Aufarbeitung eines solchen Skandals erfordert Dis­ tanz von den Betrügern. Als Buddy der Autokonzerne (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kann man die notwendigen Maßnahmen nicht treffen. NEN]: Genau!) Für Gegenmaßnahmen bekommt man selten Zustim- Mein Kollege Luksic hat Ihnen in der gestrigen De- mung der Täter. batte unsere Fondslösung noch einmal ans Herz gelegt. (Beifall bei der LINKEN) Wir glauben, Fahrverbote erschüttern das Vertrauen der Autokäufer in die Automobilindustrie. Deshalb ist die Durch eine Kleine Anfrage von uns kam erst kürzlich Branche gut beraten, sich an einer Lösung zu beteiligen, noch ans Licht, dass das Verkehrsministerium vonsei- die weitere Fahrverbote überflüssig macht. Wir fordern ten der deutschen Autoindustrie weiterhin belogen wird. daher eine ganz klare Mobilitätsgarantie für betroffene Was ist das denn für ein Neuanfang? Weiterhin erzählt Bürger. die Autoindustrie bei der Zulassung, sie würden keine Abschalteinrichtungen einsetzen. Das Kraftfahrt-Bun- Ich komme zum Schluss. Meine sehr geehrten Damen desamt muss dann den Einsatz mühselig nachweisen, und Herren, wir sind auf dem besten Weg, ohne jede Not was inzwischen immerhin einigermaßen gelingt. Aber die insgesamt immer noch mit Abstand sauberste und das kann doch so nicht bleiben. Konsequenzen vonsei- effizienteste Spitzentechnologie made in Germany sel- ten der Regierung? Fehlanzeige! Stattdessen haben Sie, ber mit voller Inbrunst zu zerstören, weil wir uns von Herr Minister Scheuer, zunächst allein auf die Billiglö- der Deutschen Umwelthilfe, die sich vom Konkurrenten sung Softwareupdates gesetzt, aber nur, um der Autoin- Toyota bezahlen lässt, treiben lassen. dustrie Kosten zu ersparen. Messungen der Deutschen (B) Vielen Dank. Umwelthilfe und auch der Europäischen Kommission (D) zeigen, dass die Softwareupdates bei weitem nicht das (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten bringen, was sie versprechen. Das heißt, es gibt weiter- der CDU/CSU und der AfD) hin Tote und Erkrankte durch Stickoxide. Die betroffe- nen Kundinnen und Kunden beklagen sich zu Recht über Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Wertverlust und drohende Fahrverbote. Letzten Endes Vielen Dank, Herr Kollege Sitta. – Als Nächstes die hat sich das Verkehrsministerium hier in eine Sackgasse Kollegin Ingrid Remmers, Fraktion Die Linke. manövriert, die ihm noch teuer zu stehen kommen wird. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Was jetzt ein mögliches Programm zur Nachrüstung Ingrid Remmers (DIE LINKE): der Dieselautos angeht, kann ich Sie wirklich nur davor Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe warnen, die betrogenen Autofahrerinnen und Autofah- Bürgerinnen und Bürger! Drei Jahre Abgasskandal – aus rer erneut zur Kasse zu bitten. Ich kann Sie nur davor meiner Sicht, aus Sicht meiner Fraktion waren dies drei warnen, wieder etwas vorzulegen, das dem Gerechtig- verlorene Jahre, drei verlorene Jahre für die Luftreinhal- keitsempfinden der Mehrheit der Bevölkerung zu Recht tung, für die betrogenen Verbraucherinnen und Verbrau- widerspricht. Wir bleiben dabei: Sie haben eine gesetzli- cher und letztendlich auch drei verlorene Jahre für die che Grundlage, die Hersteller auf eigene Kosten zu einer Autoindustrie. Bei der Aufklärung und Aufarbeitung des technischen Nachrüstung zumindest der Euro-5- und Eu- Abgasskandals haben unsere Bundesregierung und ihre ro-6-Fahrzeuge zu verpflichten. Vorgängerin vollständig versagt. Erinnern wir uns: Zunächst wollten uns Autoindus- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- trie und Bundesregierung weismachen, es handele sich neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – nur um ein Problem von VW. Mittlerweile wissen wir: Kirsten Lühmann [SPD]: Haben wir nicht!) Abschalteinrichtungen wurden unter anderem von VW, Eines möchte ich aber unbedingt betonen: Es geht uns BMW, Daimler, Fiat, Renault, Peugeot und anderen ver- nicht nur darum, Fahrverbote für die betrogenen Diesel- wendet. Das heißt, der betrügerische Einsatz von Ab- kunden zu verhindern. Es geht uns zentral darum, die Ge- schalteinrichtungen betrifft die gesamte Autoindustrie. sundheit der Bevölkerung zu schützen. Und es kann doch nicht sein, dass sich die Autoindustrie in einem Kartell zusammensetzt und beschließt: Wir hal- (Dr. Gero Clemens Hocker [FDP]: Ach herr- ten uns nicht an die Umweltgesetze. Wir verwenden ein- je!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5789

Ingrid Remmers (A) – Ja, ach herrje! – Es geht darum, dass menschliches Leid mit den kleinen Fahrzeugen können wir das eben nicht (C) durch Asthma und schwere Krankheiten zu verhindern erklären. ist. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der LINKEN) NEN]: Was macht Herr Scheuer da?) Das geht aber nur, wenn bestehende Grenzwerte auch Wir können ihm auch ganz bestimmt nicht erklären, dass eingehalten werden. Letztlich wird die Luft auf Dauer er jetzt selber Geld in die Hand nehmen muss, um seinen nur sauberer werden – da schließe ich mich den Grünen schmutzigen Diesel nachzurüsten. an –, wenn wir in den Städten weniger Autoverkehr ha- ben. Wir brauchen eine andere Mobilität, eine Mobili- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- tät mit weniger motorisiertem Verkehr. Wenn wir es in ten der LINKEN – Steffi Lemke [BÜND- Deutschland nicht schaffen, eine Lösung für den Verkehr NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! – Oliver Krischer jenseits des Verbrennungsmotors zu entwickeln, dann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, aber das werden es andere machen. will Herr Scheuer!) Die Bilanz der Bundesregierung nach drei Jahren Die- Wir haben jetzt auch nicht die Zeit, meine sehr geehrten selskandal ist verheerend. Die Probleme sind nicht ge- Damen und Herren, endlose Debatten zu führen. löst; viel Vertrauen ist verloren gegangen. Durch fehlen- (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- de Anstöße zur Innovation verspielen Sie die Zukunft der NEN]: Das machen Sie seit drei Jahren!) Autoindustrie und vor allem ihrer Arbeitsplätze. Wir brauchen jetzt schnelle Lösungen zur Luftverbes- (Beifall bei der LINKEN) serung, sonst kommen diese Fahrverbote. Da ist das Wunschkonzert der Antidieselfraktion genauso kontra- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: produktiv wie die Hinhaltetaktik der Automobilherstel- ler, die wir hier sehen. Vielen Dank, Frau Kollegin Remmers. – Als Nächs- ter spricht zu uns der Kollege Oliver Grundmann, CDU/ (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ CSU-Fraktion. CSU]) (Beifall bei der CDU/CSU – Felix Schreiner Wir müssen uns auch ehrlich machen: Volkswagen hat [CDU/CSU]: Jetzt kommt Qualität ans Red- im letzten Jahr seinen Nettogewinn verdoppelt. nerpult!) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) NEN]: Fast alles richtig, was er sagt!) (D) Oliver Grundmann (CDU/CSU): Das ist gut und wichtig für die heimische Wirtschaft. Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen Zum Glück war der Schaden nicht größer; zum Glück und Kollegen! Ich will heute einmal aus der Praxis be- konnten wir die Arbeitsplätze in den Industrieunterneh- richten. Ich bin gerade auf der Suche nach einem neuen men erhalten. Aber die fortwährenden Boni-Zahlungen Auto. Es darf gerne wieder ein Diesel sein. Ich komme auf dem Rücken unserer Dieselbesitzer sind einfach un- aus einem großen Flächenwahlkreis, der eine Distanz anständig. Das geht so nicht, und das können wir da drau- von 120 Kilometern hat, und ich bin dort ziemlich viel ßen niemandem mehr vermitteln. unterwegs. Ich habe mir in den letzten Wochen Ange- bote für meinen alten VW-Diesel machen lassen. Das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ist ein T5, ein Familienbus – wir haben drei Kinder –, der SPD – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE Baujahr 2012. Der Wertverlust allein durch diesen Die- GRÜNEN]: Was sagt die Bundesregierung selskandal liegt bei rund 5 000 Euro. Da dachte ich mir: dazu?) Danke Volkswagen! Auf einen Streich 5 000 Euro ver- nichtet. Deshalb erwarte ich nun, nach dem härtesten Ringen meines CSU-Kollegen, Andreas Scheuer, dass wir uns Unseren Autohändlern – das will ich an dieser Stel- einer sachgerechten und vernünftigen Lösung annähern; le auch einmal sagen – geht es im Grunde nicht besser. dafür steht er. Sie bekommen Leasingrückläufer wie Audi Q5, Q7, VW Touareg – das sind große Fahrzeuge –; der Verlust (Beifall bei der CDU/CSU – Steffi Lemke liegt bei 5 000 bis 10 000 Euro pro Fahrzeug. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt nicht lachen!) (Daniela Kluckert [FDP]: Ja, aufgrund Ihrer Untätigkeit!) Mit Blick auf die Grenzwertüberschreitungen und Fahrverbote sage ich an euch gerichtet, liebe Freundin- Darauf bleibt allein der Händler sitzen. Der Schaden wird nen und Freunde der grünen Partei: Das Problem kriegen ihm derzeit nicht erstattet. wir nicht allein durch Volkswagen, durch Nachrüstungen oder die Automobilhersteller vom Tisch und noch viel Wir Abgeordneten, meinen vielleicht einige da drau- weniger durch den von Ihnen geführten ideologischen ßen, können 5 000 Euro verkraften. Aber dem normalen Kampf, Bürger, der Altenpflegerin, dem Polizeibeamten, dem Pendler mit seinem Golf Diesel, dem einfachen Bürger (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Hä?) 5790 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Oliver Grundmann (A) den ideologischen Kampf gegen den Verbrennungsmo- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (C) tor, den ideologischen Kampf gegen den Individualver- Ich bitte darum. kehr, den ideologischen Kampf gegen den Diesel.

(Beifall bei der CDU/CSU – Stefan Müller Oliver Grundmann (CDU/CSU): [Erlangen] [CDU/CSU]: Verbotspartei!) Ideologie ist der natürliche Feind des Verstandes. Lieber Oliver Krischer, du weißt das – du kommst aus (Beifall bei der CDU/CSU, der AfD und der einem Flächenwahlkreis und wohnst hier in Berlin in ei- FDP) nem alten Malocherstadtteil, in Moabit –: Deutschland ist nicht nur Prenzlauer Berg mit Carsharing, Tram und Lastenfahrrädern Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Das war für die CDU/CSU-Fraktion, glaube ich, der ( [DIE LINKE]: Wer Kollege Oliver Grundmann. Ich gehe davon aus, Herr behauptet denn das?) Kollege Grundmann, dass Abgeordnete der CDU/CSU in grün-urbanen Wohlfühloasen. Deutschland ist zu auch in Städten wohnen und nicht nur im ländlichen 90 Prozent ländlicher Raum; da kommen wir her. Raum. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Als Nächstes spricht zu uns der Kollege Dr. Dirk Spaniel für die AfD-Fraktion. Dort gibt es Menschen, die auf ihr Fahrzeug angewiesen sind, weil sie arbeiten und sich ehrenamtlich engagieren. (Beifall bei der AfD) Ich bin nicht gewählt worden, um diesen Menschen ihre Freiheit zu nehmen. Dr. Dirk Spaniel (AfD): (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen Bettina Stark-Watzinger [FDP]) und Herren! Wenn ich die Reden mancher CDU-Politiker höre, frage ich mich ernsthaft, warum Sie unsere Anträge Was mich aktuell verärgert, so richtig verärgert – da- immer ablehnen. bei will ich es heute dann auch belassen –, ist diese linke Stimmungsmache gegen LNG, gegen Flüssigerdgas. (Heiterkeit und Beifall bei der AfD – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Kom- lustig!) (B) men Sie mal runter!) (D) Drei Jahre Abgasskandal liegen hinter uns. Am Da meint man, den nächsten Sündenbock ausgemacht zu 16. Oktober 2015 hat das Kraftfahrt-Bundesamt den haben. Flüssigerdgas aus den USA ist echtes Teufelszeug Rückruf von 2,4 Millionen VW-Fahrzeugen angeordnet. für unser Öko-Establishment, gerade für die Linkspartei. Der Vorwurf war, dass VW eine illegale Prüfstandserken- Da sind Sie aber auf dem Holzweg. Das ist alles andere nung verwendet habe. Als Maschinenbauingenieur und als Teufelszeug. Ich sage mal: Im Vergleich zum konven- verkehrspolitischer Sprecher der AfD-Fraktion sage ich tionellen Schweröl in der Seeschifffahrt haben wir dabei ganz klar: Das geht so nicht. Die Kunden haben ein Recht 25 Prozent weniger CO2, 99 Prozent weniger Schwefel- darauf, dass sie ein ordentlich zugelassenes Automobil verbindungen, 99 Prozent weniger Feinstaub und 85 Pro- erwerben, das der bestehenden Gesetzgebung entspricht. zent weniger Stickoxide. Das sind Zahlen und Fakten, Wir stehen hier ganz klar an der Seite der Kunden. die nicht nur für den maritimen Bereich, sondern auch für andere Fahrzeugbereiche gelten. (Beifall bei der AfD) Im Untersuchungsbericht zur Abgasaffäre steht aber Vizepräsident Wolfgang Kubicki: auch ganz klar, dass darüber hinaus keinem anderen Herr Kollege Grundmann, Sie müssen Ihren engagier- Hersteller ein illegales Verhalten nachgewiesen wer- ten Beitrag jetzt leider zu Ende bringen. den konnte. Der Fraktionsvorsitzende der Grünen, Herr Hofreiter, der sich Fachwissen ja gerne in Tageszeitun- (Heiterkeit – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/ gen anliest, behauptete hier im Bundestag: Die deutsche CSU]: Schade! – Dr. Alice Weidel [AfD]: Autoindustrie hat in großem Umfang betrogen. Als Be- Schade! Ich könnte stundenlang zuhören!) gründung dafür werden Ergebnisse von Abgasmessun- gen im realen Fahrbetrieb zitiert, die weit außerhalb der Oliver Grundmann (CDU/CSU): bei Prüfstandstests zulässigen Werte liegen. Dabei ist das ein ganz logischer Fakt. Es handelt sich bei beiden Das sind Informationen, die wir gerade von der Messungen um völlig unterschiedliche Bedingungen für IAA-Nutzfahrzeugmesse mitgebracht haben. Andreas Abgasmessungen. Scheuer hat dort eine hervorragende Figur gemacht. Es gibt diese neuen LNG-Antriebstechnologien im Lkw-Be- (Daniela Kluckert [FDP]: Jetzt kommen wie- reich. Das ist die Zukunft. In diese Richtung werden wir der die Verschwörungstheorien!) zukünftig gehen. Ich will das einmal mit einer Pulsmessung vergleichen: Ich möchte zum Schluss kommen: Ihr Ruhepuls, entspannt im blauen Sessel, ist nicht ver- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5791

Dr. Dirk Spaniel (A) gleichbar mit Ihrem Puls bei einem 25‑Meter-Sprint zum zen. Für die Zukunft gilt, dass die Abgasvorschriften mit (C) Bus. vertretbarem technischen Aufwand erreichbar sein müs- sen, damit die Autofahrer sich das auch leisten können. (Beifall bei Abgeordneten der AfD) Nachdem offensichtlich keine politische Kraft in diesem In beiden Fällen handelt es sich um Pulsmessungen. Land für unsere Arbeitsplätze in der Autoindustrie und die Autofahrer eintritt, hat die AfD-Fraktion das jetzt Abgasmessungen im realen Fahrbetrieb, die Sie im- übernommen. mer zitieren, waren bis 2017 überhaupt nicht relevant für die Zulassung eines Fahrzeugs. Seit drei Jahren erleben (Beifall bei der AfD – Ulli Nissen [SPD]: Was wir eine ideologische Hetzkampagne gegen die Automo- reden Sie da für einen Unfug! Sie wissen doch bilindustrie. An der Spitze dieser Antiautomobilkampa­ selbst, dass das nicht stimmt!) gne, die sich weitgehend gegen die deutsche Automobil- industrie richtet, stehen wieder einmal die Grünen und Die AfD steht für den Schutz deutscher Arbeitsplätze. die Linken. Dazu gehört der Erhalt des Verbrennungsmotors. Die ideologisch motivierte Nachrüstung lehnen wir als einzi- (Beifall bei der AfD) ge Fraktion in diesem Hause ab. Damit könnte ich noch leben, wenn sich wenigstens die Vielen Dank. CDU/CSU nicht hätte anstecken lassen. Aus dem Kanz- leramt höre ich seit Jahren keine kritischen Töne gegen (Beifall bei der AfD) diese ideologische Hetze. Durch das Schweigen der Kanzlerin haben es die Grünen und große Teile des Jour-

nalismus geschafft, dass die breite Öffentlichkeit denkt, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: jedes Dieselfahrzeug sei ein Luftverpester. Vielen Dank. – Als Nächstes hat die Kollegin Kirsten Lühmann, SPD-Fraktion, das Wort. (Felix Schreiner [CDU/CSU]: Herr Spaniel, ersparen Sie uns das! Jetzt wird es peinlich!) (Beifall bei der SPD) Bis auf VW haben sich alle anderen Firmen an die Ge- setzgebung gehalten und sich lediglich die unklaren Aus- Kirsten Lühmann (SPD): führungen der europäischen Abgasverordnung zunutze Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! gemacht. Auch Experten haben dem Bundestag bestätigt, Sehr verehrte Anwesende! Am 18. September 2015 wur- dass der Gesetzgeber hier unsauber gearbeitet hat. Dass de der Dieselskandal öffentlich. Der Titel dieser Aktu- Autohersteller im globalen Wettbewerb das Maximale ellen Stunde will uns glauben machen, dass seitdem (B) aus der Gesetzgebung herausholen, versteht jeder, der eigentlich gar nichts passiert ist, um die Luft besser zu (D) sein Geld schon einmal in der Privatwirtschaft verdient machen und die Gesundheit der Menschen in unserem hat. Lande zu schützen. (Ulli Nissen [SPD]: Das stimmt nicht!) Aber weit gefehlt: Bereits wenige Tage später hat das Politiker, die noch keinen Tag in ihrem Leben in der Pri- Verkehrsministerium eine Untersuchungskommission vatwirtschaft gearbeitet haben, verstehen das natürlich eingesetzt und alle großen in- und ausländischen Auto- nicht. mobilhersteller verpflichtet, ihre Fahrzeuge zur Verfü- gung zu stellen. Alle diese Fahrzeuge wurden untersucht. (Beifall bei der AfD) Dabei wurde festgestellt, dass nicht nur bei VW-Fahr- Was sagen eigentlich die Mitarbeiter der Autoindus- zeugen erstaunliche Abweichungen aufgetreten sind. trie zu der permanenten Hetze, die gegen ihre Arbeitge- Es wurden auch die Techniken dazu festgestellt. Unter ber erfolgt? Ich zitiere einmal Herrn Osterloh, Betriebs- anderem wurde das sogenannte Thermofenster gefun- rat bei Volkswagen: den. Anschließend wurden sowohl verpflichtende als auch freiwillige Rückrufaktionen eingeleitet. Es wurden Mich wundert dabei, dass der eine oder andere So- Softwareveränderungen vorgenommen, die anschließend zialdemokrat zu meinen scheint, es sei ja nicht so dafür sorgten, dass das Auto richtliniengemäß ist. Was schlimm, wenn 100 000 oder 200 000 Menschen richtliniengemäß ist und was eigentlich die Automobil- ihren Arbeitsplatz in der Automobilindustrie verlie- industrie versprochen hatte, dazu komme ich später. Auf ren … alle Fälle war es sehr gut, dass wir diese Softwareupdates Liebe Kollegen von der SPD, machen Sie ruhig weiter gemacht haben; denn dadurch ist die Luft bei uns saube- auf Ihrem Weg in die politische Bedeutungslosigkeit! rer geworden. (Beifall bei der AfD – Bärbel Bas [SPD]: Da (Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD]) freut er sich aber!) Dann haben wir am 28. April 2016, an meinem Ge- Zusammenfassend kann man sagen, dass die Skan- burtstag, mit den damals hier vertretenen Fraktionen ein- dalisierung der Abgasmessung von der Politik benutzt stimmig einen Untersuchungsausschuss eingesetzt, der wurde, um vom eigenen Fehlverhalten abzulenken. Es auch am 22. Juni 2017 Ergebnisse vorgelegt hat. Was ist wäre Aufgabe der Regierung dieses Landes gewesen, seitdem passiert? Nun, liebe Kollegen und Kolleginnen, klare und transparente Regeln für Abgasmessungen auf- die meisten dieser Schlussfolgerungen und Ergebnisse zustellen und diese europaweit einheitlich durchzuset- wurden bereits umgesetzt. 5792 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Kirsten Lühmann (A) Als Allererstes nenne ich dabei die Musterfeststel- Das geht bei nahezu allen Fahrzeugen. In Euro-1-Busse (C) lungsklage, die Eine-für-alle-Klage, die dafür sorgt, dass und Euro-2-Busse wurde es bereits eingebaut. Was wir man auf Augenhöhe mit der Automobilindustrie vor jetzt überlegen müssen, ist – das muss man ganz ehrlich deutschen Gerichten sein Recht erstreiten kann. sagen –: Lohnt es sich wirklich bei jedem Fahrzeug? Lohnt es sich bei einem Fahrzeug, das einen Restwert (Beifall bei Abgeordneten der SPD) von 2 000 Euro hat, für 3 000 Euro eine Abgasreinigung Das Zweite, was wir feststellen, ist, dass inzwischen einzubauen? Liebe Kolleginnen und Kollegen, darüber die Motorsoftware gegenüber dem Kraftfahrt-Bundes- lasse ich gerne mit mir reden, aber nicht bei den neu- amt, gegenüber der Genehmigungsbehörde, offengelegt en Euro-5- und Euro-6-Fahrzeugen, die möglicherweise werden muss, damit auch das Kraftfahrt-Bundesamt auf nach drei Jahren verschrottet werden. Was ist denn das Augenhöhe mit der Automobilindustrie prüfen kann. für eine Umweltbilanz, wenn ich ein neues Auto ver- schrotte? (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Dirk Das Dritte ist: Wir haben die Endrohrmessung an Pkw Spaniel [AfD]: Warum machen Sie es denn?) wieder eingeführt, damit keine defekten oder manipulier- ten Abgaseinrichtungen mehr durch den TÜV oder die – Nein, wir machen es auch nicht. Wir fordern ja die DEKRA geschmuggelt werden können. Nachrüstung, lieber Kollege Spaniel, und die werden wir auch kriegen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir haben das KBA gestärkt. Wir haben die realisti- (Beatrix von Storch [AfD]: Die technisch schen Straßenkontrollen deutlich früher eingeführt, als es nicht geht! Hören Sie doch mal zu!) eigentlich geplant war. Als Letztes: Wir brauchen – das hat der Untersu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) chungsausschuss gefordert – Normenklarheit. Auch hier haben wir Ideologie. Die einen erzählen: „Es ist doch Wir haben ein neues Prüfverfahren, das WLTP, einge- alles klar, wir brauchen nichts zu ändern“, die Industrie führt, zu dem mein Kollege Klare gleich noch etwas aus- baut munter anders weiter. Lassen Sie uns doch endlich führen wird. Wir haben eine Förderung aller Antriebsar- vernünftige, klare Regeln machen, ten vorgenommen, wie es der Untersuchungsausschuss gefordert hat, und zwar technologieoffen. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Bitte! Machen Sie es! Machen Sie es (Daniela Kluckert [FDP]: Und genutzt hat es einfach!) (B) trotzdem nichts! Die Fahrverbote sind trotz- (D) dem gekommen!) die wir nicht vor Gericht diskutieren müssen, sondern die für alle eindeutig sind. Dann werden wir auch dazu Wir haben ein „Sofortprogramm Saubere Luft“ auf- kommen, dass das Vertrauen in den Industriestandort gelegt, liebe Kolleginnen und Kollegen, das für die 70 Deutschland und in den Gesundheitsschutz in diesem höchstbelasteten Städte Sofortmaßnahmen vorsieht und Land wiederhergestellt werden kann. Das muss unser sehr erfolgreich ist. Ziel sein. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Daniela Herzlichen Dank. Kluckert [FDP]: Die nicht abgerufen werden, die Mittel!) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Felix Was wir jetzt machen müssen, ist, dass wir dieses Pro- Schreiner [CDU/CSU]) gramm ausweiten auf andere Städte; denn es gibt nicht nur 70 Städte, in denen die Luft besser werden muss. In Vizepräsident Wolfgang Kubicki: ganz Deutschland haben wir die Situation, dass wir im Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als nächster Redner Rahmen des Gesundheitsschutzes möchten, dass die Luft hat der Kollege Stefan Gelbhaar, Bündnis 90/Die Grü- besser wird. nen, das Wort. Wir haben aber auch noch einige Restanten. Eines (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wurde hier schon oft erwähnt, die Hardwarenachrüstung. Ich bitte Sie, liebe Kollegen und Kolleginnen: Wir kön- nen darüber diskutieren. Aber wer behauptet, das wäre Stefan Gelbhaar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): technisch nicht möglich, verkennt nicht nur die Realität, Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen sondern auch mehrere Gutachten, die unter anderem vom und Herren! Vorab ein Wort an Herrn Grundmann, der Verkehrsministerium in Auftrag gegeben wurden. Mein jetzt schon verschwunden ist. Kollege Arno Klare hat schon vor zwei Jahren hier an diesem Pult ein Gerät gezeigt, das die Abgasentwicklung (Manfred Grund [CDU/CSU]: Kommt wie- in Dieselfahrzeugen deutlich verbessert. Das ist kein He- der!) xenwerk. Das ist da, das kann eingebaut werden. – Kommt wieder, umso besser. Richten Sie ihm aus: Ich (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ingrid lade ihn gern in den Prenzlauer Berg ein, damit er da sei- Remmers [DIE LINKE] – Dr. Dirk Spaniel ne Neidreflexe oder Ähnliches ablegen kann. Wir krie- [AfD]: Das ist doch nicht Ihr Ernst!) gen das gemeinsam hin. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5793

Stefan Gelbhaar (A) Ich möchte Sie auf das Ergebnis einer Umfrage hin- Deswegen sage ich: Legen Sie diese Vereinbarung end- (C) weisen, die vor zwei Wochen in der „Berliner Morgen- lich offen – das ist ja wohl das Mindeste –, damit dieses post“ veröffentlicht wurde. Dort stand: Kasperletheater endlich ein Ende findet. 80 Prozent haben den Eindruck, dass die Politik im Damit kommen wir zu einem weiteren Treppenwitz, VW-Skandal eher die Interessen der deutschen Au- zu dieser angepriesenen Umweltprämie. Die Verbraucher toindustrie vertreten hat. … Nur drei Prozent mei- sollen ihre meist erst wenige Jahre alten Autos abgeben nen hingegen, dass die Politik dabei eher die Inte- und sich dafür ein neues, teures Auto kaufen, worauf es ressen der betroffenen VW-Dieselbesitzer vertreten dann einen Rabatt via Umweltprämie geben soll. Das ist hat. faktisch so eine Art Konjunkturprogramm für die Auto- Herr Minister Scheuer, dieses Bild haben Sie heute wie- mobilwirtschaft: Die Automobilwirtschaft hat betrogen der perfekt bestätigt. und soll dafür von der Abwrackprämie profitieren. Allein das ist unglaublich. Mich persönlich erinnert das an die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Geschichte eines anderen CSU-Ministers aus den letzten sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Tagen: Fehler machen – oder gar, wie hier, betrügen –, und die Bundesregierung springt sofort und gewährt fi- Und natürlich kennen Sie alle das Dieselurteil zu nanzielle Zulagen. Das meinen Sie doch nicht ernst, Herr Frankfurt am Main von vor drei Wochen. Mehr und mehr Scheuer! Städte müssen jetzt Fahrverbote verhängen, um die Ge- sundheit der Bevölkerung zu schützen. Meine Priorität eins sind interessante Tauschoptio- (Dr. Dirk Spaniel [AfD]: Nein!) nen, das haben Sie im „Morgenmagazin“ am Mittwoch gesagt. Was ist eigentlich Ihr Plan, wenn all die Autos – Doch, das steht da genau so drin. wirklich zurückgegeben werden? Wo sollen die hinkom- men? Haben Sie dazu irgendwelche Gedanken? Das war Herr Scheuer, vor dem Hintergrund dieser jüngsten dem „Morgenmagazin“ nicht zu entnehmen. Dazu habe Gerichtsentscheidung sowie des krachend klaren Er- ich von Ihnen, ehrlich gesagt, noch nichts gehört. gebnisses der Umfrage frage ich: Ist der Groschen nun endlich gefallen? Wir wissen ja, dass Umfragen Angela Herr Scheuer, Sie sagen immer wieder, dass die gan- Merkel immer stark beeindrucken. Aber, Herr Scheuer, zen Nachrüstungen 18 Monate dauern würden. Wir ha- kriegen auch Sie jetzt die Kurve? Zeit wäre es. ben diese Aktuelle Stunde überschrieben mit „Drei Jahre (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Abgasskandal“. Seit drei Jahren hätten Sie also die Mög- sowie des Abg. Jörg Cezanne [DIE LINKE]) lichkeit gehabt, das zu tun. Sie hätten alle Autos schon (B) zweimal nachrüsten können. Deswegen sage ich Ihnen: (D) In Deutschland werden unter Ihrer Verantwortung im- Fangen Sie endlich an; sonst erzählen Sie uns dieses mer noch Dieselneuwagen zugelassen, die die zulässi- Märchen nächstes Jahr immer noch. ge Stickoxidgrenze von 80 Mikrogramm überschreiten; denn erst die Euro-6-Norm hält auch im Realverkehr die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Grenzwerte ein. Seit September 2017 sind 40 000 dieser und bei der LINKEN) Diesel-Pkw mit Euro 6 zugelassen worden. Aber insge- Ich werde das Gefühl nicht los, Sie haben Ihre Rolle in samt wurden seit September 2017 1,4 Millionen Die- der ganzen Angelegenheit nicht verstanden. Sie gehören sel-Pkw zugelassen. Das heißt, gerade einmal 2,8 Prozent zur Bundesregierung. Selbstverständlich wird sich kein der neu zugelassenen Pkws sind so etwas wie sauber. Das Konzernchef bei Ihnen melden und sagen: Hey, Andi, ich allein ist ein rechtsstaatlich schwer verdaulicher Zustand. habe es jetzt verstanden, kein Problem, wir machen das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN freiwillig. – Das dürfen die gar nicht. Das sind internati- und bei der LINKEN) onale Aktienunternehmen. Sie sind die Bundesregierung. Ihre Rolle ist es deshalb nicht, Bitte zu sagen oder zu sa- Jetzt haben Sie sich, Herr Scheuer, angeblich mit VW gen: Wir machen einmal eine Gesprächstherapie. – Ihre geeinigt, dass die Dieselautos mit Hardware nachgerüs- Rolle ist es, die Autohersteller dazu zu verpflichten, die tet werden. Das ist gut. Die betroffenen Dieselautofahrer Nachrüstungen herbeizuführen – ohne „vielleicht“ und werden sich freuen. Aber Achtung: In der Presse sprechen „bitte“. jetzt auf einmal alle von einer generellen Dieselhardware­ nachrüstung. Der zugrundeliegende „Spiegel“-Artikel (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bezieht sich jedoch nur auf die durch Schummelsoftware und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten manipulierten Autos. Das heißt, entweder hat der „Spie- der SPD) gel“ das nicht verstanden oder fasst das zu eng, oder das Verkehrsministerium und VW versuchen, mit einem Ha- Ein Letztes noch, weil ich das an dieser Stelle einmal ckentrick die Öffentlichkeit zu täuschen. Was gilt jetzt, klarstellen will. Immer wieder wird vorgebracht: Fahr- Herr Scheuer? In den letzten Stunden kam einmal diese, verbote bedeuten Enteignung. Das habe ich von der CDU einmal jene Meldung zutage. Ihre Politik gleicht langsam gehört, das hört man von der FDP, das hört man perma- einem glitschigen Fisch. Man kriegt Sie nicht zu fassen. nent von der AfD. – Nein, das ist Quatsch, das ist juris- tisch Quatsch, das ist politischer Dummsinn. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN sowie der Abg. Ingrid Remmers [DIE (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ja, LINKE]) damit kennen sich die Grünen ja aus!) 5794 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Stefan Gelbhaar (A) Ja, mit vielen Fahrzeugen können Sie dann nicht mehr Hunderttausende Fahrer, Handwerker, Pendler, Be- (C) an bestimmten Orten fahren. Auch „flächendeckend“ fiel rufskraftfahrer, Reisende, dürfen nicht mehr durch die heute wieder, völlig irre! Aber einmal ehrlich: Auf der Straßen fahren, müssen Umwege in Kauf nehmen, und Autobahn darf auch kein Mensch mit dem Fahrrad fah- es kommt zu unübersichtlichen Situationen. ren. Deswegen frage ich Sie einmal: Werde ich durch den Bau neuer Autobahnen enteignet? (Zuruf der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE]) (Zurufe von der CDU/CSU) Es gibt noch weitere Folgen: steigende Stickoxidbelas- tungen in Ausweichstraßen, die vornehmlich in Wohn- gebieten liegen, mehr Stau, die Umweltbelastung steigt Vizepräsident Wolfgang Kubicki: insgesamt an. Sie müssen jetzt zum Schluss kommen, Herr Kollege Gelbhaar. Wenn Sie von den Linken und den Grünen jetzt em- pört dazwischenrufen,

Stefan Gelbhaar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ist Ihr Haushaltsentwurf, ist Ihr Bundesverkehrswege- NEN]: Hat gar keiner!) plan bloß ein großer Plan zur Enteignung von mir und dann kann ich Ihnen sagen: Das sind nicht die Ergebnisse meinem Fahrrad? Das ist doch Quatsch! Wow, das eröff- meiner Recherchen oder der Recherchen meiner Kolle- net völlig neue Ebenen für die politische und juristische gen aus der CDU/CSU-Fraktion, sondern das sind die Auseinandersetzung. Ich würde sagen: Das Argument Ergebnisse der Recherchen der Umweltverbände, vom der Enteignung sollten Sie stecken lassen. BUND und der Deutschen Umwelthilfe, die Sie hier bei fast jeder Debatte als Kronzeugen anführen. Deswegen Vizepräsident Wolfgang Kubicki: sage ich, meine Damen und Herren: Wir müssen uns in Herr Kollege Gelbhaar, bitte. dieser Debatte hier im Deutschen Bundestag endlich wie- der auf die Fakten konzentrieren.

Stefan Gelbhaar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei Belassen wir es dabei, und kommen wir ansatzweise und von den Grünen, Sie machen vor allem die Diesel- wieder zurück zu einem fundierten Austausch. Das wäre fahrer für das Überschreiten von Grenzwerten in zahlrei- sinnvoll. chen Städten unseres Landes verantwortlich. Zur Wahr- heit gehört – meine Kollegen haben auch in der gestrigen Vielen Dank. Debatte vollkommen zu Recht darauf hingewiesen –, (B) dass die Prüfdienststellen wie zum Beispiel die DEKRA (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu Recht darauf hingewiesen haben, dass viele Faktoren und bei der LINKEN) die Messwerte beeinflussen können, beispielsweise die Wetterlage, aber eben auch der Aufstellstandort. Wenn Vizepräsident Wolfgang Kubicki: man zum Beispiel die Messstation nur um wenige Meter Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege verschiebt, hat man teilweise völlig andere Messwerte. Dr. Christoph Ploß, CDU/CSU-Fraktion. Deswegen möchte ich mit Nachdruck die Initiative der Verkehrsminister der Länder unterstützen, die gesagt (Beifall bei der CDU/CSU) haben: Wir müssen über Stichproben ermitteln, ob die Standorte objektiven Kriterien standhalten und nicht Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU): vielmehr ideologisch motiviert ausgewählt wurden. Ge- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! rade in den Städten, über die wir hier sprechen, haben Lieber Kollege von den Grünen, wenn Sie hier den Ein- wir meiner Ansicht nach viele Standorte, die aus ideolo- druck erwecken, Fahrverbote seien keine Einschränkung gischen Gründen ausgewählt wurden. und nichts Schlimmes für die Bürger, dann muss man (Beifall bei der CDU/CSU) Ihnen enorm widersprechen. Ich kann Ihnen als Ham- burger gerne von Erfahrungen aus meiner Heimatstadt Unser Ziel muss es sein, die Luftqualität anders zu berichten. verbessern als durch Fahrverbote. Wenn wir heute da- rüber diskutieren, wie wir die Luft sauberer machen (Zurufe von der LINKEN) können, dann ist eine Aussage festzuhalten: nicht durch In Hamburg hat vor einigen Monaten die rot-grüne Re- Fahrverbote, sondern durch andere Maßnahmen, die der gierung das erste Fahrverbot für Dieselfahrzeuge in Herr Minister eben vollkommen zu Recht hier dargelegt Deutschland erlassen und damit die Mobilität in der Stadt hat und die die volle Unterstützung der CDU/CSU-Frak- eingeschränkt. Es handelte sich hierbei um eine politi- tion finden. Wir müssen Dieselbusse und kommunale sche Entscheidung, die nicht nur negative Auswirkungen Dieselfahrzeuge nachrüsten. Dieselfahrzeuge müssen auf die Mobilität gehabt hat, sondern auch auf die Um- sauberer werden. Gleichzeitig müssen wir in den Ausbau welt, und deswegen bis heute zahlreiches Kopfschütteln des öffentlichen Nahverkehrs investieren. Die Bundes- nicht nur in Hamburg, sondern in ganz Deutschland aus- regierung hat enorm viele Maßnahmen in dieser Legis- gelöst hat. laturperiode schon auf den Weg gebracht, sodass wir in vielen Städten unseres Landes Investitionen in die Infra- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) struktur des öffentlichen Nahverkehrs erleben werden. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5795

Dr. Christoph Ploß (A) Aber wir brauchen auch massive Investitionen in al- elektrisch, platziert werden können. Die Botschaft war: (C) ternative Antriebstechnologien. Deswegen müssen wir E‑Mobilität zum Dieselpreis. Die Fahrzeuge sollen nicht die Infrastruktur für den Bereich der Elektromobilität teurer sein als ein vergleichbarer Diesel. VW hat an dem ausbauen. Wir wollen deswegen noch in dieser Legisla- Tag formuliert – wörtlich –: Wir setzen alles – alles! – auf turperiode bis zu 100 000 Ladestationen in Deutschland diese Karte. Das könnte eventuell in den Schattenbereich schaffen und auch die Zahl der Wasserstofftankstellen in hineinreichen, weil man nicht mehr technologieoffen ist. unserem Land verdoppeln; denn nur, wenn die Menschen dank einer guten Infrastruktur die Möglichkeit haben, ihr (Kirsten Lühmann [SPD]: Genau!) Auto mit alternativen Antriebsstoffen schnell und unpro- Aber immerhin setzt die Tochter Audi noch auf Wasser- blematisch aufzuladen, dann wird es attraktiv sein, auf stoff. Elektroautos zu setzen. Das schaffen wir mithilfe einer guten Infrastruktur, aber eben nicht durch Fahrverbote, Zum zweiten Mal Licht. 13. März 2018. An der Rast- die Sie aus ideologischen Gründen verhängen wollen. stätte Brohltal, A 61, ziemlich unbemerkt von der Öf- fentlichkeit, sind sechs High-Power-Charger von Ioni- (Beifall bei der CDU/CSU) ty eingeweiht worden. BMW, Daimler, Ford, VW sind Meine Damen und Herren, ein weiterer wichtiger Teil dieses Joint Ventures und errichten 200 von diesen Beitrag zu einer besseren Luftqualität wird die Digita- Schnellladeeinrichtungen, jeweils sechs solcher La- lisierung unseres Verkehrs leisten. Wenn die Ampelsys- desäulen an den TEN-T-Korridoren in Deutschland, um teme in unseren Großstädten nur zur Hälfte digitalisiert die Langstreckenfähigkeit von E‑Mobilität zu sichern. würden, würde der Verkehr nicht nur flüssiger laufen, Das ist ein großes Investment. Auch das ist Licht. sondern durch eine grüne Welle, einen gleichmäßigen Jetzt zum Schatten. Kirsten Lühmann hat gerade auf Verkehrsfluss – das zeigen zahlreiche Untersuchungen – WLTP hingewiesen. Der Flughafen Berlin Branden- würden wir auch die Stickoxidbelastung bis zu knapp burg – kein besonderer Ausweis von Riesenerfolg – einem Drittel reduzieren. Lassen Sie uns solche auf die Zukunft ausgerichtete Initiativen ergreifen und nicht (Daniela Kluckert [FDP]: Auch Ihre Partei, ideologisch begründete Fahrverbote verhängen. die dafür zuständig ist!) Lassen Sie mich zum Schluss sagen, werte Kolle- wird im Moment als Parkplatz genutzt, andere Orte in ginnen und Kollegen: Fahrverbote sind wahrlich kon- dieser Republik auch. Und der gerade von mir so gelobte traproduktiv. Wir müssen jetzt mit voller Kraft in den VW-Konzern ist nicht in der Lage, emissionsarme Fahr- öffentlichen Nahverkehr, in Elektromobilität und die Di- zeuge zu liefern? Nein, man kann sie noch nicht einmal gitalisierung des Verkehrs investieren. Nur so schaffen mehr bestellen, und zwar mit der Begründung: WLTP, (B) wir saubere und auch leisere Städte in Deutschland. also der neue Fahrzyklus, kam so überraschend. (D) Herzlichen Dank. (Zuruf von der AfD: Und dem Laden vertrau- en Sie?) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich habe hier ein Protokoll der Economic Commis- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: sion for Europe. Die haben das WLTP entwickelt. Wohl- gemerkt: Das war nicht die Europäische Kommission; Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ploß. – Als Nächster das muss man fein auseinanderhalten. Das Protokoll ist für die SPD-Fraktion der Kollege Arno Klare. vom 14. Januar 2009. Es hat davor im November 2008 (Beifall bei der SPD) schon eine Sitzung gegeben. Auf der letzten Seite – das können Sie jetzt nicht sehen – ist ein sogenanntes Gantt-Diagramm, also ein Balkendiagramm zu sehen, in Arno Klare (SPD): das der Ablauf des Prozesses eingetragen ist. Auf diesem Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol- Gantt-Diagramm ist ein Entscheidungstermin, approval leginnen und Kollegen! Kirsten Lühmann hat es gerade termine, für diese Gruppe angegeben, und zwar 2015. erwähnt: Der 18. September 2015 ist in der Tat ein his- So wurde entschieden. 2017 ist das Messverfahren dann torisches Datum. An dem Tag verlor die deutsche Au- „ganz überraschend“ durch die EU-Kommission in Kraft tomobilindustrie ihren Nimbus und VW 9,8 Milliarden gesetzt worden. Aber das war natürlich nicht überra- Euro an der Börse. Letzteres hat ja auch ein gerichtliches schend. Strategisches Management von großen Konzer- Nachspiel. Gibt es seitdem eine Lernkurve? Würde ich nen muss anders aussehen als das, was wir im Moment diese Frage nicht nur rhetorisch stellen, dann wüsste ich erleben. genau, wie geantwortet würde, aber es ist natürlich eine rhetorische Frage. Ja, es gibt eine Lernkurve, aber es gibt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Licht und Schatten. der LINKEN) Zunächst zum Licht. Ziemlich genau drei Jahre nach Meine Damen und Herren, ich will noch etwas zu den dem 18. September 2015, nämlich am 24. September Messverfahren sagen, die auch schon gestern hier The- 2018, also vor wenigen Tagen, hat VW in Wolfsburg ma waren. Die 39. Verordnung zum Bundes-Immissi- im Bereich der Elektromobilität die I.D.-Serie vorge- onsschutzgesetz legt in Anhang 3 exakt fest, wo solche stellt. Das ist mehr als nur ein Auto. Das ist ein Modu- Messstationen zu stehen haben. Wenn irgendwo in Euro- larer Elektrobaukasten, also eine Plattform, auf der ganz pa eine Messstation falsch steht und man sich dafür aus- viele Fahrzeuge unterschiedlicher Größe, alle batterie­ spricht, das ebenso zu machen, dann ist das ein Aufruf zu 5796 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Arno Klare (A) illegalem Handeln. Und das hier in diesem Hohen Haus, Als Nächstes hat der Kollege Felix Schreiner, CDU/ (C) wo wir Gesetzgebung machen? CSU-Fraktion, das Wort.

(Kirsten Lühmann [SPD]: Und das von der (Beifall bei der CDU/CSU) Rechtsstaatspartei!)

Das ist doch ein Unding! Ich bitte darum, solche Äuße- Felix Schreiner (CDU/CSU): rungen hier nicht zu wiederholen. Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem gen! In Erwartung, dass die Uhr jetzt wieder geht, möch- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) te ich mich dem Thema der heutigen Debatte widmen. Mit Blick auf Frankfurt möchte ich Ihnen sagen, dass Manchmal kommt mir die Art dieser Debatte über die wir über eine Stadt mit 750 000 Einwohnern sprechen, Messwerte so vor wie das, was kleine Kinder in einer die morgen zu einer Millionenstadt wird. Zwei Drittel gewissen Phase machen. Beim Versteckspielen halten sie aller Beschäftigten pendeln täglich von außerhalb in sich die Augen zu und sagen: „Such mich mal!“ Es geht die Main-Metropole. Damit ist Frankfurt Deutschlands nicht darum, die Messstationen in Parks zu stellen, es Pendlerhauptstadt, dicht gefolgt von zwei weiteren Lan- geht darum, die Autos sauber zu machen! deshauptstädten, nämlich Stuttgart und Düsseldorf. Diese (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten drei Städte haben neben ihrem Prädikat als Pendlerhaupt- der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- städte noch etwas anderes zu bieten: Sie überschreiten NISSES 90/DIE GRÜNEN) beim Stickoxid den Grenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft im Jahresmittel, und deshalb drohen al- Die Unternehmen, mit denen ich darüber rede, sagen len drei Städten Fahrverbote. im Übrigen alle: Wir können das, das ist überhaupt kein Problem. – Ich habe die I.D.-Produktion und die Statio- Obwohl die NOx-Belastung im Straßenverkehr seit nen an der Raststätte Brohltal angesprochen. Daran sieht dem Jahr 2000 um 60 Prozent gesunken ist und wir jetzt man: Sie machen es auch. – Wir führen hier die Debat- über 66 Städte sprechen, die im letzten Jahr die Grenz- ten der Vergangenheit, während die Unternehmen schon werte nicht eingehalten haben, geht die Debatte an einer längst die Debatten der Zukunft führen. Stelle in die falsche Richtung. Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer hat gleich nach seinem Amtsantritt ein ganzes Maßnahmenbündel vorgestellt. Er hat es hier vor- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: gestellt, er hat es in den Ausschüssen vorgestellt und mit Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Ich uns diskutiert. In eine Debatte wie heute gehört auch, (B) sehe, dass Ihre Uhr, weil eine andere bei einer Minute darauf hinzuweisen, dass wir die Nachrüstung der städ- (D) stehen geblieben war, noch weiterläuft. tischen Dieselbusse vorantreiben, dass wir die kommu- nalen Fahrzeuge nachrüsten. Wenn wir diese umgerüstet Arno Klare (SPD): haben, dann führt das übrigens zu einer Schadstoffredu- zierung von bis zu 90 Prozent. Dazu gehört die angespro- Jetzt habe ich so vehement geredet, dass sogar die Uh- chene Nachrüstung von Millionen Diesel-Pkw mit Soft- ren stehen bleiben. wareupdates.

Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Aber es gehört auch dazu, hervorzuheben, dass wir Ja. Sie haben jetzt noch 20 Sekunden. einen Minister haben, der in diesen Tagen mit der Auto- mobilindustrie im Gespräch ist und gemeinsam mit ihr nach Lösungen sucht. Herr Krischer, man kann sich nicht Arno Klare (SPD): einfach hierhinstellen und etwas anderes behaupten, so Ich habe noch 20 Sekunden. – Ich erwarte von einem wie Ihr Fraktionsvorsitzender, Toni Hofreiter – ich ver- Minister, den ich, was seine Fachlichkeit angeht, im misse ihn nicht; er ist halt nicht da –, Grunde sehr schätze, (Lachen bei der FDP) (Ulli Nissen [SPD]: „Im Grunde“! – Felix Schreiner [CDU/CSU]: Was heißt da „im der Anfang der Woche ein Interview im Deutschlandfunk Grunde“?) gegeben hat. Er hat gesagt: Die Bundesregierung hat to- tal versagt und macht nichts an dieser Stelle. – Ich muss dass er nicht hinter dem zurückbleibt, was die Automo- Ihnen sagen: Das Gegenteil ist der Fall. bilindustrie schon längst zugesagt hat. (Beifall bei der SPD) (Marian Wendt [CDU/CSU]: Ja!) Der Minister hat es heute dargestellt. Er hat das Thema Vizepräsident Wolfgang Kubicki: zur Chefsache gemacht. Er verhandelt gemeinsam mit Herr Kollege, herzlichen Dank. – Die deutsche In- der Bundeskanzlerin im Kanzleramt mit den Automobil- genieurskunst versagt auch bei unserer Uhr hier, aber ich konzernen, und Sie behaupten hier: „Da passiert über- habe die zweite Uhr im Blick. haupt nichts“? (Frank Sitta [FDP]: Nachrüsten!) (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 53. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. September 2018 5797

Felix Schreiner (A) Ich finde das unseriös, meine Damen und Herren von den Ich komme, weil der Präsident schon klingelt, zum (C) Grünen. Schluss. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Sein Engagement zeigt sich auch darin, dass das Kraft- Ich blinke. Ich klingele nicht. fahrt-Bundesamt einen verpflichtenden Rückruf von 100 000 Dieselfahrzeugen angeordnet hat. Felix Schreiner (CDU/CSU): Genauso abstrus in diesem Interview ist – ich habe es Okay, er blinkt. – Lassen Sie uns aufhören, den Leuten mir übrigens echt angetan und es gelesen –, dass zwar einfache Lösungen zu versprechen, wo es keine Lösun- sehr umfangreich über Nachrüstmöglichkeiten gespro- gen gibt. Aber lassen Sie uns gemeinsam nach Lösun- chen wurde, aber über die technischen Möglichkeiten gen suchen. Lassen Sie uns unseren Verkehrsminister wurde nicht gesprochen. Der Begriff „Technik“ kommt Andreas Scheuer in diesen Diskussionen unterstützen, ein einziges Mal vor. wenn es um Rücknahmeaktionen, Tauschmöglichkei- ten und gezielte Hardware-Nachrüstungen geht, wo es (Stefan Gelbhaar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wirtschaftlich möglich ist. Aber lassen Sie uns Lösungen NEN]: Reicht doch!) mit den Herstellern und mit den Händlern finden. Denn es wird uns nicht helfen, wenn wir unseren Automobil- Stattdessen erweckt Herr Hofreiter den Eindruck, dass standort schon vorher an die Wand gefahren haben. Wenn wir die SCR-Katalysatoren quasi nur aus den Regalen wir das alles plattmachen, dann werden wir am Ende gar nehmen müssten, dann könnte man sie irgendwo einbau- nichts erreicht haben, meine Damen und Herren. en und alles funktioniert. Aber so einfach ist es nicht. Lassen Sie uns sachlich diskutieren und nach Lösun- Die technischen Experten in den Anhörungen, Kol- gen suchen. lege Klare, mit denen wir zu Recht diskutiert und nach Lösungen gesucht haben, sagen uns: Es ist in manchen Bereichen möglich, aber es ist kein einfacher Weg, meine Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Damen und Herren. Herr Kollege.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Felix Schreiner (CDU/CSU): Kirsten Lühmann [SPD]: Hätten wir ihn vor Die Leute haben ein Recht darauf, und sie schauen drei Jahren begonnen, wären wir ein ganzes heute auch auf diese Debatte. Stück weiter!) (B) Danke schön. (D) Wissen Sie, man kann das alles ignorieren und den Leuten erzählen, was alles möglich ist. Aber am Ende (Beifall bei der CDU/CSU) kann es zum Beispiel zu einem hohen Anstieg von ande- ren Schadstoffen kommen. Vorhin fiel der Begriff „Va- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: nadiumoxid“, übrigens ein krebserregender Stoff, der Herzlichen Dank, Herr Kollege Schreiner. Sie wollten beim Einbau dann zum Beispiel als weitere Folge auf- ja, dass die Uhr wieder läuft. Insofern muss ich jetzt auch treten kann. Übrigens weisen von vier umgebauten Fahr- darauf zurückkommen. – Als letzte Rednerin des heuti- zeugen des Umweltministeriums Baden-Württemberg gen Tages wird jetzt zu uns sprechen die Kollegin Ulli mittlerweile zwei Fahrzeuge genau dieses Problem auf, Nissen, SPD-Fraktion. und das habe nicht ich erfunden, sondern das hat Winne Hermann – übrigens ein grüner Verkehrsminister – be- (Beifall bei der SPD) kannt gegeben. Ulli Nissen (SPD): (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und NEN]: Das ist ein guter Mann!) Kollegen! In den letzten Jahren sind Dinge passiert, wo Bei den Euro‑4-Fahrzeugen ist es technisch gar nicht ich vorher gedacht hätte: Das kann doch nicht passieren! möglich. Bei den Euro‑5-Fahrzeugen gibt es einen höhe- Dabei denke ich unter anderem an den Brexit und an die ren Kraftstoffverbrauch. Da kann die Möglichkeit beste- unsägliche Wahl von Donald Trump zum Präsidenten hen. Es ist vielleicht möglich, aber wir müssen das dis- der USA. Und: Ich hätte auch nie damit gerechnet, dass kutieren. Und vor allem haben wir den Zeitfaktor; denn unser „Vorzeigeunternehmen“ VW seine Kundschaft so es wird nicht schnell gehen, meine Damen und Herren. massiv betrügen könnte, wie es vor drei Jahren bekannt wurde. Da habe ich als Erstes an die Belegschaft von VW (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gedacht. Allein in Deutschland sind das 270 000 Men- NEN]: Was machen Sie für die betrogenen schen. Viele von denen arbeiten schon in dritter oder Autofahrer?) vierter Generation im Betrieb. Sie waren stolz auf ihr Unternehmen. Wie musste es ihnen bei der Nachricht ge- Auch rechtlich gilt, Herr Gelbhaar – wir haben heute hen? Für den Betrug waren aber 99,9 Prozent der Mitar- gar nicht über die ausländischen Fahrzeuge in unserem beiterinnen und Mitarbeiter nicht verantwortlich. Land diskutiert –: Sie werden keinen Halter eines Fahr- zeugs rechtlich verpflichten können, für das eine Geneh- (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: migung in Deutschland vorliegt. Das ist die Wahrheit. Richtig! Die haben gute Autos gebaut!) 5798 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

Ulli Nissen (A) Der Belegschaft gilt nach wie vor meine große Solidari- Frankfurt ist Deutschlands Pendlerhauptstadt Num- (C) tät, liebe Kolleginnen und Kollegen. mer eins; das ist schon gesagt worden. 362 000 Men- schen pendeln täglich nach Frankfurt ein. Da können Sie (Beifall bei der SPD) sich vorstellen, wie viele Menschen vom angekündigten Später stellte sich zusätzlich heraus, dass andere Fahrverbot betroffen sind. Da können Sie sich vorstellen, Autohersteller ähnlich ungut mit der Gesundheit der wie viele Menschen jetzt Angst haben, ihr Fahrzeug nicht Bevölkerung umgegangen sind. Dies war für mich als mehr nutzen zu können. Umweltpolitikerin natürlich besonders empörend. Allein Menschen haben mir von ihrer Verzweiflung berich- in Deutschland gehen wir von etwa 7 000 Toten durch tet. Sie haben einen Euro‑5-Diesel gekauft, in dem Glau- Verkehrsabgase aus. ben, ein gutes, umweltfreundliches Fahrzeug zu haben. Frühzeitig haben wir von der SPD gefordert, dass ne- Viele haben den Kredit für das Fahrzeug noch längst ben einem Softwareupdate auch eine technische Nach- nicht abbezahlt. Ihnen muss es wie Hohn erscheinen, rüstung auf Kosten der Hersteller erfolgen muss. wenn man ihnen jetzt anbietet, ein neues Auto vergüns- tigt zu kaufen. Das geht doch nicht, liebe Kolleginnen (Daniela Kluckert [FDP]: Völlig unseriös!) und Kollegen. Ich erinnere mich noch, wie der ehemalige Verkehrs- (Beifall bei der SPD) minister Dobrindt kräftig bestritten hat, dass überhaupt Wovon sollen sie das bezahlen? Wer kauft ihnen ihr altes technische Nachrüstungen machbar sind. Ich habe ihm Auto ab, ohne dass hohe Verluste entstehen? damals gesagt: Wir sind vor 50 Jahren auf den Mond ge- flogen, aber eine technische Nachrüstung ist nicht mach- Leider hat die seit 19 Jahren regierende Hessen-CDU bar? – Er hat darauf bestanden. es mehrfach versäumt, genug gegen Fahrverbote zu tun. Anders als die SPD in Bund und Land hat sich die Hes- Das Gutachten vom ADAC hat bewiesen, dass tech- sen-CDU nicht frühzeitig für Hardwarenachrüstungen nische Nachrüstungen nicht nur möglich, sondern auch auf Kosten der Hersteller eingesetzt. hochwirksam sind. Die Untersuchungen ergaben, dass sich der Schadstoffausstoß innerorts bis zu 70 Prozent (Manfred Grund [CDU/CSU]: Ist jetzt schon und außerorts bis zu 90 Prozent durch Nachrüstungen wieder Wahlkampf?) reduzieren lässt. Das kann in besonders belasteten Ge- Das Urteil gegen die Stadt dokumentiert daneben das bieten zu einer Reduzierung von 25 Prozent führen. Die schwere Versagen des schwarz-grünen Luftreinhalte- hätten vielleicht ausgereicht – wenn wir es frühzeitig ge- plans für Hessen. Das Gericht hat festgestellt, dass dieser macht hätten –, um Fahrverbote zu vermeiden. Plan nichts taugt. (B) (D) (Beifall der Abg. Kirsten Lühmann [SPD]) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen jetzt die Verpflichtung der Autohersteller, dass auf deren Kos- Die Umrüstung muss natürlich auf Kosten der Autoher- ten die technische Nachrüstung zu erfolgen hat. Außer- steller erfolgen. Es gilt auch hier das Verursacherprinzip. dem muss durch das Kraftfahrt-Bundesamt umgehend Ein großer deutscher Autokonzern erzielte trotz die Zulassung der nachgerüsteten Fahrzeuge erfolgen. 20 Milliarden Euro Strafen in den USA im Jahr 2017 Natürlich müssen auch die Luftreinhalteprogramme einen Gewinn von 11 Milliarden Euro. Wie will ich da deutlich intensiviert werden. einem Autobesitzer vermitteln, dass er für seinen entstan- Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Maßnahmen denen Schaden selbst vollständig oder auch nur teilweise sind dringend nötig, um etwas für die Gesundheit und aufkommen soll? Wie soll ich ihm das vermitteln? auch für die betroffenen Autofahrer zu tun. Ich bitte dafür Das harte Urteil vom Verwaltungsgericht Wiesbaden um Ihre Unterstützung. gegen meine Stadt Frankfurt hat doch wohl viele auf- Danke schön. geschreckt. Jetzt scheint sich auf einmal einiges zu be- wegen. Die Bundeskanzlerin trifft sich mit den Spitzen (Beifall bei der SPD) der entsprechenden Ministerien. Ich bin gespannt. Ich vermute, auch die kommenden Wahlen spielen da eine Vizepräsident Wolfgang Kubicki: wichtige Rolle. Herzlichen Dank, liebe Kollegin Nissen. Viele befürchten, dass ähnliche Urteile auch gegen Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- ihre Städte erlassen werden. Falls die eingelegte Beru- ordnung. fung scheitert, dürfen zum 1. Februar 2019 keine Diesel Ich wünsche den Kolleginnen und Kollegen ein erhol- der Klasse 4 und niedriger mehr nach Frankfurt hinein- sames Wochenende und uns allen eine schöne sitzungs- fahren. Ab 1. September 2019 – also ganz knapp – gilt freie Woche. das Fahrverbot auch für Euro-5-Diesel. Ausnahmerege- lungen soll es nicht geben. Selbst mehr als 60 Prozent Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- der städtischen Linienbusse wären davon betroffen. Wir tages auf Mittwoch, den 10. Oktober 2018, 13 Uhr, ein. können bis zum 1. September 2019 gar nicht so viele ent- Die Sitzung ist geschlossen. sprechende Elektrobusse kaufen, weil sie am Markt nicht verfügbar sind. (Schluss: 17.57 Uhr) Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018 5799

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Entschuldigte Abgeordnete

Abgeordnete(r) Abgeordnete(r)

Bär, Dorothee CDU/CSU Kuffer, Michael CDU/CSU

Bartsch, Dr. Dietmar DIE LINKE Lambsdorff, Alexander Graf FDP

Beutin, Lorenz Gösta DIE LINKE Maas, Heiko SPD

Brugger, Agnieszka* BÜNDNIS 90/ Mast, Katja SPD DIE GRÜNEN Möring, Karsten CDU/CSU Buschmann, Dr. Marco FDP Mortler, Marlene CDU/CSU Bystron, Petr AfD Ortleb, Josephine SPD Ernst, Klaus DIE LINKE Petry, Dr. Frauke fraktionslos Freitag, Dagmar SPD Ramsauer, Dr. Peter CDU/CSU Gabelmann, Sylvia DIE LINKE Roth (Heringen), Michael SPD Gabriel, Sigmar SPD Rüffer, Corinna BÜNDNIS 90/ (B) (D) Gysi, Dr. Gregor DIE LINKE DIE GRÜNEN

Hartmann, Sebastian SPD Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Haug, Jochen AfD Sattelberger, Dr. h. c. Thomas FDP Held, Marcus SPD Schulz, Jimmy FDP Herdt, Waldemar AfD Schwartze, Stefan SPD

Herzog, Gustav SPD Seestern-Pauly, Matthias FDP

Heßenkemper, Dr. Heiko AfD Stamm-Fibich, Martina SPD

Hocker, Dr. Gero Clemens FDP Strasser, Benjamin FDP

Irlstorfer, Erich CDU/CSU Verlinden, Dr. Julia BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Janecek, Dieter BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Weber, Gabi SPD

Kassner, Kerstin DIE LINKE Weiler, Dr. h. c. Albert CDU/CSU

Kemmerich, Thomas L. FDP Weinberg, Harald DIE LINKE

Kessler, Dr. Achim DIE LINKE Zdebel, Hubertus DIE LINKE

Korkmaz, Elvan SPD Zimmermann, Pia DIE LINKE

Korte, Jan DIE LINKE * aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes 5800 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

(A) Anlage 2 herrschen, einen Zugang zum Kapitalmarkt. Schließlich (C) gelangen die Investoren an Papiere, an die sie ohne die Zu Protokoll gegebene Reden Verbriefungstechnik nie kämen. Kurz: Durch Verbrie- zur Beratung des von der Bundesregierung einge- fungen kann sich der Mittelstand einfacher und schneller brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung finanzieren. von Finanzmarktgesetzen an die Verordnung (EU) Durch die mangelnde Eigenkapitaldecke standen viele 2017/2402 und an die durch die Verordnung (EU) Banken am Abgrund. Das Motto, was das Handeln vieler 2017/2401 geänderte Verordnung (EU) Nr. 575/2013 Banker bestimmte – too big to fail, zu groß, um unterge- (Tagesordnungspunkt 28) hen zu können; der Staat wird es schon richten –, funktio- nierte erstmals nicht mehr. Lehman ging in die Pleite, der Sepp Müller (CDU/CSU): Mit dem von der Bundes- drohende Dominoeffekt lähmte die Welt. Folge war die regierung eingebrachten und heute hier in erster Lesung Staatsschuldenkrise. Der Verbriefungsmarkt trocknete vorgelegten Entwurf vollziehen wir eine dringend not- aus, Mittelständler konnten sich nicht mehr finanzieren. wendige europäische Standardisierung des Verbriefungs- marktes. Doch was sind Verbriefungen? Was haben Ver- Daraus haben wir gelernt, und wir haben in den letzten briefungen mit der Finanzkrise und der heute debattierten Jahren eine Reihe von Maßnahmen getroffen, die Sorge Lehman-Pleite vor zehn Jahren zu tun? dafür tragen sollen, dass solche Verwerfungen nicht noch einmal passieren. Hier sehen wir im Übrigen auch die Unter Verbriefungen versteht man allgemein die Bün- Wichtigkeit gemeinsamen europäischen Handelns, und delung eines Pakets von gleichartigen Verbindlichkei- Europa hat schnell gehandelt, sehr schnell sogar. ten – etwa gesicherte Immobiliendarlehen oder Unter- nehmenskredite –, die dann in handelbare Wertpapiere Eine der Lehren aus Lehman ist daher, dass abhängig umgewandelt werden. Zunächst verkauft ein sogenann- vom Ausfallrisiko für einen Kredit ausreichend Eigen- ter Originator, meist ein Kreditinstitut, dazu Teile seiner kapital zurückgelegt werden muss. Wir haben an vielen Forderungen an eine eigens dafür gegründete Zweckge- Stellen für mehr Transparenz gesorgt und einheitliche sellschaft. Diese Zweckgesellschaften finanzieren den Standards geschaffen, die eine bessere Bewertung sicher- Ankauf durch die Ausgabe von Wertpapieren. stellen sollen. Genau in der unklaren Zusammensetzung solcher Pa- In diese Richtung zielen auch die vorliegenden An- kete und der Beimischung vieler fauler Kredite in diesen passungsgesetze. Damit sollen Verbriefungspakete zu Paketen bestand vor zehn Jahren das große Problem. Die einfachen, transparenten, standardisierten Verbriefungen Lehman-Bank hatte undurchschaubare Paketkonstruk- umgestaltet werden. Es wird daneben ein Qualitätslabel (B) tionen aus bonitätstechnisch guten und schlechten Pa- eingeführt. Dazu werden 55 Kriterien geprüft. Erfüllt (D) pieren zusammengestellt, etwa mit Hypothekenkrediten eine Verbriefung diese, erhält es das Label. Sie wird dann von zahlungsschwachen Kunden in den USA, dies dann bei der Eigenmittelhinterlegung bevorzugt behandelt. zu immer größeren Bündeln zusammengepackt und das Dieses Label, STS, stärkt die Refinanzierung unseres Ganze dann, schön verpackt mit hohen Renditeverspre- Mittelstandes. chen, an Dritte weiterveräußert. Zu allem Überfluss wur- de dabei auch noch mit dem Einsatz von Fremdkapital, Das Verbriefungspaket ist ein zentraler Baustein der also zusätzlichen Krediten, ohne Besicherung gearbei- Kapitalmarktunion. Es ist in zwei EU-Verordnungen tet. Es waren also hochriskante und explosive Überra- geregelt, die zum 1. Januar 2019 in Kraft treten sollen. schungspakete, die die amerikanischen Banker auf den Dafür müssen die Anpassungen an diese Verordnungen Markt warfen, wobei sie sowohl die Zusammensetzung in nationales Recht umgesetzt werden. Die BaFin, die des Portfolios als auch die darin schlummernden Risiken Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, dient verschleierten. hierbei als zuständige Behörde für die Beaufsichtigung von Originatoren, Sponsoren, ursprünglichen Kreditge- Diese Bündelung von risikobehafteten Krediten und bern und Verbriefungszweckgesellschaften. Wir richten deren Verkauf am Kapitalmarkt führte dann genau vor zusätzliche Sanktionsregelungen ein. zehn Jahren zum Platzen der Bombe. Keiner traute mehr dem anderen am Kapitalmarkt. Die viel zu gerin- Durch das Gesetz kommt die Bundesregierung ihren ge Eigenkapitalausstattung der Kreditinstitute konnte europarechtlichen Verpflichtungen nach. Notwendige die Ausfallrisiken nicht abdecken. Aber gerade von der redaktionelle Änderungen bestehender Finanzmarktge- Eigenkapitalausstattung der Kreditinstitute hängen ihre setze zur Anpassung an die unmittelbar geltenden euro- Möglichkeiten ab, private Haushalte und die Wirtschaft päischen Regeln sowie der Bestimmungen zu deren Aus- mit Darlehen zu versorgen. führung sollen vorgenommen werden. Und hier kommen die Verbriefungen wieder ins Spiel. Neben der Schaffung eines Rechtsrahmens für ein- Um eine Kreditklemme der Kreditinstitute abzuwenden, fache, transparente, standardisierte Verbriefungen ist können sich Geldinstitute der Verbriefung bedienen, um die Stärkung des Rechtsrahmens zu begrüßen, der nach gebundenes Eigenkapital freizusetzen – im Zweifelsfall der Krise zur Bewältigung der von hochkomplexen, un- auch mit staatlicher Hilfe. So werden Banken Kredi- durchsichtigen und risikoreichen Verbriefungsgeschäften te los und schaffen sie in ihren Bilanzen Spielraum für ausgehenden Risiken geschaffen wurde. Die Umsetzung neue Kredite. Indirekt verschafft das selbst nicht kapital- der Vorgaben soll als Eins-zu-eins-Umsetzung erfolgen marktfähigen Unternehmen, wie sie im Mittelstand vor- bzw. bestehendes Recht soll fortgeführt werden. Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018 5801

(A) Dieses Qualitätslabel ist gut für unseren Mittelstand, Ungleich wichtiger ist jedoch die Stärkung eben je- (C) es ist gut für Europa; denn Europa kann lernen und Lö- nes Rechtsrahmens, der nach der Krise zur Überwindung sungen anbieten. Wir freuen uns auf die parlamentari- der von intransparenten, ausfallanfälligen und instabilen schen Beratungen. Verbriefungsgeschäften ausgehenden Gefahren gesetzt worden ist. Eine Rückkehr in eine hochspekulative Vor- Alexander Radwan (CDU/CSU): Der zehnte Jahres- krisenzeit darf es nicht geben. Hierbei sind die klaren tag der Finanzkrise war heute schon Anlass einer Debat- Kriterien für die Definition der sogenannten STS-Ver- te. Das sogenannte EU-Verbriefungs-Anpassungsgesetz briefungen und neue Bestimmungen zur Sorgfaltsprü- ist jetzt Thema. fung – Due Diligence –, zum Risikoselbstbehalt und zur Transparenz unumgänglich und zu begrüßen. Die Hauptursachen lagen in erster Linie in der mas- siven Deregulierung in den USA und einer auch infol- Darüber hinaus gibt das Datenregistersystem für Ver- gedessen auftretenden Schwemme an Verbriefungskon- briefungsgeschäfte gleichermaßen wie die risikogerech- strukten mit einer Komplexität, die nicht einmal von tere Gestaltung der Eigenmittelanforderungen für Ver- Experten strukturell nachvollzogen werden konnte. briefungen der Banken und Wertpapierfirmen Anlass zur Massenhaft verbriefte und in letzter Konsequenz oft Hoffnung, dass die Integrität des Finanzmarktes auch in wertlose Forderungen stellten schließlich als sogenannte diesem Sektor zunimmt. Es gilt, dieses Instrument siche- CDOs – Collateralized Debt Obligations – ein Unglück rer zu machen und damit wieder zu nutzen. dar, welches der Markt nicht verkraften konnte. So ent- standen aus jenen risikobehafteten Krediten durch diese Metin Hakverdi (SPD): Die Pleite von Lehman Bro- Umstrukturierung scheinbar risikolose Wertpapierposi- thers ist zum Synonym der Finanzkrise geworden, die tionen, und eben diese Wertpapiere – meist aus Eigen- vor zehn Jahren über den Globus hinweggefegt ist. Mit tumsrechten – sind das entscheidende Vehikel für die vielen Milliarden Euro des Steuerzahlers mussten Ban- Krise gewesen. Die enorme Skepsis ihnen gegenüber ist ken gerettet werden, um eine globale Kernschmelze der in der Retrospektive­ mehr als berechtigt. Finanzbranche zu verhindern. Dass die Immobilienkrise in den USA auch zu einer Finanzkrise auf dem europäi- In diesem Kontext gibt vor allem wieder der US-ame- schen Kontinent geworden ist, hat mit dem Verbriefungs- rikanische Markt Anlass zu Bedenken, da offensichtlich geschäft zu tun. Verbriefungen waren die Transportmittel erneut die Deregulierung der Märkte dort wieder disku- für faule Subprime-Kredite auf die Bilanzen europäi- tiert wird. Dies bedeutet, dass nicht etwa stringent der scher Banken. Weg der Sicherheit, der Solidität weiterverfolgt wird. Vielmehr widmet man sich auf diese Art und Weise erneut Noch in einer zweiten Hinsicht hat die Finanzkrise (B) einer Komplexität – ich erwähnte es eingangs bereits –, ein schlechtes Bild auf Verbriefungen geworfen. Durch (D) die, gepaart mit einem primären Fokus auf Rendite, ge- Verbriefungen und Wiederverbriefungen ist ein solches nau eines nicht ist, nämlich eine souveräne und eigentlich Geschäftsvolumen aufgebläht worden, dass eine lokale alternativlose Reaktion auf die Weltfinanzkrise. Immobilienkrise – nämlich die auf dem US-Markt – sich zu einer globalen Krise auswachsen konnte. In Europa haben wir mit dem Ziel der Kapitalmarkt- union und infolgedessen mit einem funktionierenden Gewichtig war auch ein drittes Element, warum Ver- Binnenmarkt in erster Linie die Aufgabe, dass wir Kon- briefungen während der Finanzkrise zurecht als toxische sequenzen aus der Finanzkrise ziehen und aus ihr lernen. Papiere bezeichnet wurden. Durch mehrfache Verschach- Die Stärke einer Regierung – auch in Krisenzeiten –, telung von verschiedenen Verbriefungen wurden intrans- die durch kluges Agieren bei guter Konjunkturlage die parente und komplexe Finanzstrukturen geschaffen, bei gesamtwirtschaftliche Balance aufrechterhält, kann nur denen keine angemessene Risikobewertung möglich war. dann zu Tage treten, wenn die internationalen Geldhäu- ser ebenfalls auf einem soliden Fundament stehen, und Auf alle diese Systemfehler ist nun in den beiden Ver- dies ist nur dann gegeben, wenn es die Politik im Vorfeld ordnungen reagiert worden. Wichtige Elemente dieser vollbringt, eine Evaluierung der Finanzaufsicht zu inte- Gesetzgebung sind die Schaffung von Kriterien für pri- grieren, die eine effektive und angemessene, verhältnis- vilegierte Standardverbriefungen. Denn Verbriefungen mäßige Regulierung der Märkte zur Folge hat. sind nützliche Instrumente, um auf den Finanzmärkten eine angemessene Risikoverteilung zu organisieren. Da- Das sogenannte EU-Verbriefungs-Anpassungsgesetz her ist es richtig, dass Regulierung die Verbriefungsge- stellt letztendlich die Umsetzung der zwei Verordnungen schäfte auf diese Bahnen lenkt. auf europäischer Ebene dar, die zum 1. Januar 2019 in Kraft treten. Hierbei ist also der Spielraum für den Ge- Weitere wichtige Elemente sind aus meiner Sicht das setzgeber übersichtlich; es geht um Anpassung. grundsätzliche Verbot von Wiederverbriefungen. Ich habe eingangs kurz erwähnt, dass das Wiederverbrie- Die Schaffung eines Rechtsrahmens für einfache, fungsgeschäft ein überschaubares und beherrschbares transparente, standardisierte Verbriefungen ist elementar. Problem zu einem globalen Problem aufblähen kann. So stellen diese übersichtlichen Verbriefungsprodukte Ferner finde ich wichtig und richtig die Unterscheidung eben ein gutes Vehikel für die Marktteilnehmer dar, ef- zwischen komplizierten und Standardverbriefungen im fiziente Risikostreuung zu betreiben. Hinzu kommt, dass Hinblick auf die Eigenkapitalanforderungen und schließ- derlei Finanzprodukte dann eine wichtige Finanzierungs- lich den Risikoselbstbehalt. Mit dem Risikoselbstbehalt quelle für kleine und mittlere Unternehmen darstellen wird festgelegt, welche Quote der ausgegebenen Verbrie- können, wenn sie diesen Anforderungen gerecht werden. fungen durch den verantwortlichen Emittenten gehalten 5802 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

(A) werden muss. Hierdurch soll sichergestellt werden, dass Zinserträge europäischer Staatsanleihen sind durch das (C) sich alle beteiligten Parteien stets um eine ordnungsge- Anlagekaufprogramm der EZB und die regulatorischen mäße Abwicklung der Verbriefungen bemühen. Die Quo- Ausnahmen sehr verzerrt. te von 5 Prozent erachte ich als zu gering. Das hat der europäische Gesetzgeber so entschieden. Bei einer even- Deswegen können SBBS auch kein Weg sein, die Pro- tuellen Überarbeitung sollten wir darauf hinwirken, dass bleme auf dem europäischen Staatsanleihemarkt zu be- diese Quote erhöht wird. heben. Das Gegenteil wird eintreten. Wir erwarten von Ihnen deswegen hier das einzig Richtige: Die Bundesre- Wer in die einschlägigen Publikationen der Verbrie­ gierung muss auf europäischer Ebene beim Thema SBBS fungs­branche schaut, der wird dort lesen, dass im ein ganz klares Stoppsignal senden. Jahr 2017 ein respektables Ergebnis erzielt worden sei Zum vorliegenden Gesetzentwurf aber: keine Einwän- und das Absatzvolumen ansteige. Wir sollten diesen Vo- de. Wir freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit mit lumenanstieg sehr genau im Blick behalten. Wir sollten Ihnen in der Sache. schauen, was die Ursache für den Volumenanstieg ist. Handelt es sich um eine gewollte Risikoverteilung und -diversifizierung auf den Finanzmärkten oder werden Jörg Cezanne (DIE LINKE): Der Gesetzentwurf der Finanzprodukte gehandelt, die einige wenige auf Kosten Koalition nimmt im Wesentlichen die Änderungen in den der Steuerzahler bereichern. Ich freue mich auf die wei- bestehenden Finanzmarktgesetzen vor, die durch die bei- teren Beratungen. den EU-Verordnungen bereits rechtlich bindend einge- treten sind. Viel wichtiger erscheint mir daher, noch ein- mal auf den Inhalt der dahinterstehenden Verordnungen Albrecht Glaser (AfD): Bei dem vorliegenden Ent- einzugehen, auch wenn die durch ein Umsetzungsgesetz wurf handelt es sich um zwei EU-Verordnungen, die frist- nicht mehr zu ändern sind. gerecht in nationale Rechtsnormen umgesetzt werden müssen. Damit besteht keinerlei Gestaltungsspielraum, Vor zwei Stunden haben wir hier über Lehren aus dem um in einem parlamentarischen Verfahren Einfluss zu zehnten Jahrestag der Pleite der Investmentbank Lehman nehmen, sodass sich weitere Beiträge hierzu erübrigen. Brothers geredet, die den offenen Ausbruch der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise markiert. Wir alle wissen, dass bestimmte Verbriefungen ein Hauptauslöser dieser Dr. Florian Toncar (FDP): Um es gleich vorweg- Finanzkrise waren. Risiken aus windigen Immobilienfi- zunehmen: Die Bundesregierung hat hier einen Gesetz- nanzierungen wurden wieder und wieder in Verbriefun- entwurf vorgelegt, der für uns Freie Demokraten grund- gen verpackt. Das Problem dabei war nicht nur, dass sich sätzlich zustimmungsfähig ist. Dieses Umsetzungsgesetz diese Risiken als Zahlungsausfälle realisierten, sondern stärkt das Instrument der Verbriefungen weiter, was wir im (B) vor allem, dass völlig unübersehbar war, welche Bank (D) Grundsatz für gut erachten. Denn Verbriefungen sind als welchen Teil der Risiken würde tragen müssen. Aus Ver- Finanzierungsquelle für Unternehmen, für die Entlastung briefung wurden Verschleierung und Verunsicherung, der Bankbilanzen und für die Risikostreuung unerläss- und am Ende traute keine Bank mehr der anderen, gerade lich. In der Vergangenheit, vor allem vor der Finanzkri- weil der schönfärberisch als „Risikostreuung“ bezeich- se 2008, waren Verbriefungen oft intransparent und nicht nete Prozess so gut funktionierte. ausreichend reguliert, was zu hohe Bewertungen durch Ratingagenturen zur Folge hatte. Aber das wurde nach Das Hauptproblem bei Verbriefungen ist der Fehlan- der Finanzkrise auch durch die damalige schwarz-gelbe reiz, durch Verbriefung Forderungen loszuwerden, über Bundesregierung korrigiert. Und die Fehler der Vergan- deren Qualität die verbriefende Bank mehr weiß als der genheit sind auch kein Grund, Verbriefungen per se zu Käufer der Verbriefung. Daher ist immer der Anreiz ge- verteufeln, wie das zuweilen der Fall gewesen ist; im geben, möglichst viele faule Äpfel unter das ansonsten Gegenteil. Wir haben sie weiterentwickelt und gestärkt, noch frisch aussehende Obst zu mischen. Gegen diesen beispielsweise durch einen Risikoselbstbehalt für den Fehlanreiz hilft nur ein möglichst hoher Selbstbehalt. Originator, sodass jeder, der Forderungen verbrieft, ein Dieser Selbstbehalt ist aber in den sogenannten Hochqua- Eigeninteresse an deren Qualität und Werthaltigkeit hat. litätsverbriefungen bzw. STS-Verbriefungen mit 5 Pro- Dass die Aufsicht über den Verbriefungsmarkt durch die zent viel zu gering. Der im Europaparlament zuständige BaFin mit diesem Gesetzentwurf weiter verbessert wird, Berichterstatter Paul Tang von den europäischen Sozial- ist natürlich auch immer eines unserer Anliegen gewe- demokraten hat in den Verhandlungen einen Selbstbehalt sen, und auch dieser Aspekt findet unsere Unterstützung. von 20 Prozent gefordert, Finance Watch und viele ande- re externe Sachverständige mindestens 15 Prozent. Wenn ich aber hier die Bedeutung von Verbriefun- gen positiv herausstelle, muss ich eine Einschränkung Angeblich soll die Wiederbelebung des Verbriefungs- machen: Der Vorschlag der Kommission, europäische marktes dabei helfen, dass Unternehmen – und insbeson- Staatsanleihen zu verbriefen, und so unter dem Titel dere kleine und mittelständische Unternehmen – besser SBBS die Eurobonds durch die Hintertür einführen zu an Kredite kommen. Aber schon die Analyse war falsch; wollen, findet absolut nicht unsere Zustimmung. Und denn es gab gar nicht die dramatische Kreditklemme mehr noch: Jeder, der etwas davon versteht, rät von dem für die Unternehmen. Vielmehr hatten die Unternehmen Vorhaben ab. Standard & Poor’s, eine der großen Rating­ kaum Grund zur Kreditaufnahme; denn durch die von der agenturen, würde beispielsweise für nach diesem Vor- Bundesregierung in Europa durchgesetzte Austeritätspo- schlag gebündelte deutsche Anleihen nur ein sehr mit- litik gab es in Europa eine wirtschaftliche Rezession, telmäßiges statt dem jetzigen Top-Rating vergeben. Die die ihresgleichen sucht. Alle Umfragen zeigten schon Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018 5803

(A) damals: KMUs suchten nicht in erster Linie Kredite, Das Argument, das in dieser Diskussion immer wie- (C) sondern vor allem Kunden und Absatzmärkte. Nicht eine der vorgebracht wird, lautet: Die Unternehmen haben Wiederbelebung der Verbriefungen, sondern eine Wie- nicht ausreichend Finanzierungsmöglichkeiten. Der derbelebung der Wirtschaft durch öffentliche Ausgaben Finanzmarkt muss breiter aufgestellt werden. – Das ist und insbesondere öffentliche Investitionen wäre daher aber einfach falsch. Aus einer Umfrage, die die Euro- die richtige Unterstützung für die Unternehmen. Gegen päische Zentralbank im vergangenen Winter bis in den diese Einsicht sperrt sich die Bundesregierung aber auf- März durchgeführt hat, wird ganz deutlich: Der Zugang grund ihrer Unkenntnis in Fragen der Makroökonomik zu Krediten ist das geringste Problem, das insbesondere bis heute. KMUs haben. Arbeitskräfte und Kunden sind für sie viel schwerer zu finden. Und genau darauf liegt ihr Hauptau- Unser Ziel ist und bleibt ein bankenzentriertes Finanz- genmerk. system. Und zwar von Banken, die ihr Geschäft vor Ort und gerade ihre KMU-Kunden gut genug kennen, um Das Gleiche gilt für Start-ups. Sie bekommen in der Kreditrisiken seriös einschätzen zu können. Sparkassen Regel sowieso keine Kredite und finanzieren sich über und Volksbanken sind solche Banken, und die brauchen Venture Capital. Hier Kredite zu verbriefen, macht also auch keine Wiederbelebung des Verbriefungsmarktes, wenig Sinn bzw. ist unmöglich, da es sie nicht gibt. Auch um vor Ort die Kreditversorgung der Realwirtschaft si- Untersuchungen aus den USA ergeben, dass Verbriefung cherzustellen. Ist Ihnen mal aufgefallen, dass die Kredit- solcher Kredite dort nicht praktiziert wird. Für die Ban- versorgung der Realwirtschaft in der Krise umso mehr ken, die die Kredite in einen gemeinsamen Umschlag gelitten hat, je stärker das Bankwesen des jeweiligen verpacken, ist dieser Vorgang bei Krediten für Start-ups Landes von börsennotierten Großbanken mit Investment- wegen der komplizierten Risikoberechnung viel zu auf- geschäft und entsprechendem Renditedruck geprägt war? wendig und wegen des hohen Aufwands auch nicht ren- Die Lehre daraus sollte jedem klar sein: lieber ein solides tabel. Es wird schlicht nicht gemacht. an der Realwirtschaft orientiertes Bankensystem als ano- Noch ein paar konkrete Kritikpunkte an dieser nyme Verbriefungen! EU-Vorgabe: Die Banken hätten viel mehr in die Pflicht genommen werden müssen, ihre eigenen Verbriefungen Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): auch selbst zu halten. Nur 5 Prozent ist viel zu wenig. Nachdem wir jetzt schon viel darüber gehört haben, wie Es ist sogar so wenig, dass ein Ausfallverlust eingepreist gut und wichtig diese neuen vermeintlich sicheren und werden kann. Aus unserer Sicht hätten es 25 Prozent sein transparenten Verbriefungen sind, möchte ich nochmal in müssen, und zwar horizontal von allen Tranchen. Nur Erinnerung rufen, dass Verbriefungen eine der Hauptur- dann sind die Interessen der Banken und ihrer Kunden, (B) sachen für die Kernschmelze an den Finanzmärkten vor den Investoren, gleich. (D) zehn Jahren waren. Banken waren willens, zu viele groß- Um die Verflechtung der Finanzinstitute untereinan- zügige Kredite zu vergeben, weil sie mit dem Verbrie- der zu minimieren, hätte viel mehr Fokus darauf gelegt fen das Risiko aus diesen Darlehen weiterverkaufen und werden müssen, dass die Produkte einfach gestrickt sind daran dann zweimal verdienen konnten. Die Investoren, und bleiben. Verbriefungen von Derivaten und von Wet- wie zum Beispiel auch unsere Landesbanken, haben sich ten auf schlechte Kredite – quasi Ausfallsversicherun- blind auf die viel zu guten Ratings dieser verbrieften Pro- gen – schaffen keine neue Finanzierung und nützen also dukte verlassen und hatten keine Ahnung, welche Risi- niemandem außer den Finanzjongleuren, die an den Ge- ken sie sich einkauften. Als die Kredite dann reihenweise bühren verdienen und gleichzeitig die Risiken im System ausfielen, mussten die Investoren durch den Steuerzahler erhöhen. gerettet werden. Die Transparenz über die Verbriefungen hätte höher Ich wiederhole hier kurz, was ich vorhin schon gesagt sein müssen, sodass Investoren ausreichend Auskunft da- habe: Diese Rettungen haben direkte Kosten von rund rüber erhalten, inwiefern die Produkte Nachhaltigkeits- 68 Milliarden Euro verursacht – eine erschreckende kriterien erfüllen. Zahl. Und ich will nicht erneut die noch viel höheren in- direkten Kosten aufführen. Durch das neue STS-Label – simple, transparent and standardised – soll toxischen Instrumenten neues Leben In diesem Gesetzgebungsprozess zeigt die EU sich eingehaucht werden, die nicht der Realwirtschaft, son- leider von ihrer schlechten Seite. Die Krise ist noch nicht dern nur den Interessen der Großbanken dienen. Nicht überwunden. Trotzdem geht die Kommission zur alten mit uns! Tagesordnung über und kommt reflexhaft den Forde- rungen der Finanzlobby nach. Komplexe und gefährli- Christine Lambrecht, Parl. Staatssekretärin beim che Produkte werden mit einem öffentlichen EU-Siegel Bundesminister der Finanzen: Der vorliegende Gesetz- versehen, obwohl sie den Großbanken, aber nicht der entwurf geht auf EU-Recht zurück und dient der Anpas- Realwirtschaft und schon gar nicht den KMUs nützen. sung des nationalen Rechts an die Vorgaben des soge- Das zeigt das zentrale Problem: Nach wenigen Jahren nannten EU-Verbriefungspakets. Das Verbriefungspaket der Einsicht und vermeintlichen Überzeugung der ehe- ist ein zentraler Baustein der Kapitalmarktunion. maligen Volksparteien, die Finanzmärkte wieder in den Dienst der Realwirtschaft stellen zu wollen, geht es jetzt Verbriefungen sind ein wichtiges Refinanzierungsin- schon wieder in die falsche Richtung – dem Deckmantel strument für die Realökonomie – in Europa, aber auch der Kapitalmarktunion sei Dank. in Deutschland. Das betrifft gerade auch mittelständische 5804 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018

(A) Unternehmen, die auf diese Art ihre Handelsforderungen – Gesetz zu dem Abkommen vom 24. August 2017 (C) effektiv managen und sich Liquidität beschaffen können. zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Kamerun zur Vermeidung der Dop- Das europäische Verbriefungspaket schafft zum einen pelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom den Rahmen für einfache, transparente und standardisier- Einkommen und vom Vermögen von Luftfahrtun- te Verbriefungen. Eine wichtige Lehre aus der Finanzkri- se ist, dass gerade diese Eigenschaften bei Verbriefungen ternehmen wichtig sind. Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie Das europäische Verbriefungspaket stärkt aber auch gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von generell den Rechtsrahmen weiter, der nach der Finanz- einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen krise zur Bewältigung der Risiken geschaffen wurde, die absehen: von zu komplexen und zu undurchsichtigen und risiko- Haushaltsausschuss reichen Verbriefungsgeschäften ausgegangen sind. – Unterrichtung durch die Delegation des Deutschen Lassen Sie mich hier einige Beispiele nennen: Bundestages in der Interparlamentarischen Konferenz Der Investor wird besser in die Lage versetzt, das Ri- über Stabilität, wirtschaftspolitische Koordinierung siko einer Verbriefung einzuschätzen. und Steuerung in der Europäischen Union Banken müssen Verbriefungen im Durchschnitt mit Zehnte Tagung der Konferenz im Rahmen der Eu- mehr Eigenkapital unterlegen. ropäischen Parlamentarischen Woche am 19. und 20. Februar 2018 in Brüssel Unternehmen können sanktioniert werden, wenn diese absichtlich nur schlecht laufende Forderungen verbriefen. Drucksachen 19/2446, 19/2768 Nr. 1.2 Es wird sichergestellt, dass nur Forderungen verbrieft Ausschuss für Wirtschaft und Energie werden dürfen, bei denen solide Kreditvergabestandards – Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und eingehalten wurden – eine der wichtigsten Lektionen aus Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) gemäß der Finanzkrise. § 56a der Geschäftsordnung Verbriefungen, die als „standardisiert, transparent Technikfolgenabschätzung (TA) und simpel“ gelten, (sogenannte STS-Verbriefungen), müssen eine Reihe weiterer Anforderungen erfüllen, wie Additive Fertigungsverfahren (3-D-Druck) zusätzliche Transparenzanforderungen. Auch dürfen bei Drucksachen 18/13455, 19/1409 Nr. 17 solchen Verbriefungen notleidende Kredite nicht ver- (B) brieft werden, und es werden Vorgaben gemacht, dass Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Si- (D) die Verbriefungen nicht zu komplex werden. Dieser neue cherheit Rechtsrahmen ist in zwei europäischen Verordnungen – Unterrichtung durch die Bundesregierung niedergelegt, die ab dem 1. Januar 2019 unmittelbar in allen Mitgliedstaaten gelten werden. Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung im Die Bundesregierung muss jedoch gesetzlich tätig Jahr 2015 werden, um sicherzustellen, dass auch national der Ver- Drucksache 18/13180 briefungsmarkt ordnungsgemäß beaufsichtigt werden kann. Durch das Verbriefungsgesetz wird die BaFin als Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und zuständige Aufsichtsbehörde benannt und der Sanktions- Kommunen rahmen geregelt. – Unterrichtung durch die Bundesregierung Damit diese Beaufsichtigung durch die BaFin zeit- Raumordnungsbericht 2017 gleich mit dem Inkrafttreten des EU-Verbriefungspakets beginnen kann, sollte das deutsche Gesetz ebenfalls am Drucksache 18/13700 1. Januar 2019 in Kraft treten. Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Uni- onsdokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Anlage 3 Beratung abgesehen hat. Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung

Der Bundesrat hat in seiner 970. Sitzung am 21. Sep- Innenausschuss tember 2018 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Ab- Drucksache 19/910 Nr. A.5 EP P8_TA-PROV(2017)0413 satz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen: Drucksache 19/910 Nr. A.11 – Gesetz zum Erlass und zur Änderung bundesrecht- Ratsdokument 12723/17 licher Vorschriften in Bezug auf die Übernahme Drucksache 19/910 Nr. A.12 Ratsdokument 12878/17 der Aufgaben der Deutschen Dienststelle für die Drucksache 19/910 Nr. A.15 Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Ratsdokument 14883/17 Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht Drucksache 19/910 Nr. A.16 durch das Bundesarchiv Ratsdokument 14884/17 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 53 Sitzung Berlin, Freitag, den 28 September 2018 5805

(A) Drucksache 19/1053 Nr. A.12 Ausschuss für Arbeit und Soziales (C) Ratsdokument 5657/18 Drucksache 19/1930 Nr. A.7 Drucksache 19/1053 Nr. A.14 Ratsdokument 7203/18 Ratsdokument 5663/18 Drucksache 19/2233 Nr. A.25 Drucksache 19/1053 Nr. A.15 Ratsdokument 7733/18 Ratsdokument 5689/18 Drucksache 19/2233 Nr. A.26 Drucksache 19/1053 Nr. A.17 Ratsdokument 8269/18 Ratsdokument 5845/18

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicher- heit Ausschuss für Wirtschaft und Energie Drucksache 19/3112 Nr. A.46 Drucksache 19/1252 Nr. C.32 Ratsdokument 8922/18 Ratsdokument 5358/17 Drucksache 19/3112 Nr. A.49 Drucksache 19/1252 Nr. C.36 Ratsdokument 9498/18 Ratsdokument 8998/17 Drucksache 19/3112 Nr. A.50 Drucksache 19/1252 Nr. C.38 Ratsdokument 9617/18 Ratsdokument 12252/16 Drucksache 19/3112 Nr. A.51 Drucksache 19/1780 Nr. A.22 Ratsdokument 9651/18 Ratsdokument 6717/18 Drucksache 19/2623 Nr. A.18 Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor­ Ratsdokument 8492/18 sicherheit Drucksache 18/13050 Nr. A.1 Drucksache 19/910 Nr. A.109 Ratsdokument 10058/17 Ratsdokument 14217/17 Drucksache 18/13050 Nr. A.2 Drucksache 19/1252 Nr. C.62 Ratsdokument 10109/17 Ratsdokument 9939/17

Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Kultur und Medien Drucksache 19/4344 Nr. A.36 Drucksache 19/910 Nr. A.138 Ratsdokument 9635/18 Ratsdokument 11272/17

(B) (D) Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333