Plenarprotokoll 16/144

Deutscher

Stenografischer Bericht

144. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 1: (SPD) ...... 15168 D Erste Beratung des von der Bundesregierung , Bundesminister eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur BMAS ...... 15168 D Änderung des InVeKoS-Daten-Gesetzes und des Direktzahlungen-Verpflichtungen- (CDU/CSU) ...... 15169 B gesetzes Olaf Scholz, Bundesminister (Drucksache 16/8147) ...... 15165 A BMAS ...... 15169 B Jörg Rohde (FDP) ...... 15169 D Tagesordnungspunkt 2: Olaf Scholz, Bundesminister Befragung der Bundesregierung: Gesetzent- BMAS ...... 15170 A wurf zur Verbesserung der Ausbildungschan- Krista Sager (BÜNDNIS 90/ cen förderungsbedürftiger junger Menschen DIE GRÜNEN) ...... 15170 C Olaf Scholz, Bundesminister Olaf Scholz, Bundesminister BMAS ...... 15165 B BMAS ...... 15170 C Cornelia Hirsch (DIE LINKE) ...... 15166 C Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ Olaf Scholz, Bundesminister DIE GRÜNEN) ...... 15171 A BMAS ...... 15166 C Olaf Scholz, Bundesminister Volker Schneider (Saarbrücken) BMAS ...... 15171 A (DIE LINKE) ...... 15167 A (SPD) ...... 15171 B Olaf Scholz, Bundesminister Olaf Scholz, Bundesminister BMAS ...... 15167 B BMAS ...... 15171 C Patrick Meinhardt (FDP) ...... 15167 C Cornelia Hirsch (DIE LINKE) ...... 15171 D Olaf Scholz, Bundesminister Olaf Scholz, Bundesminister BMAS ...... 15167 D BMAS ...... 15172 A Dr. (DIE LINKE) ...... 15168 A Patrick Meinhardt (FDP) ...... 15172 B Olaf Scholz, Bundesminister Olaf Scholz, Bundesminister BMAS ...... 15168 A BMAS ...... 15172 C Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 15168 B Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU) ...... 15172 D Olaf Scholz, Bundesminister Olaf Scholz, Bundesminister BMAS ...... 15168 C BMAS ...... 15172 D II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

Tagesordnungspunkt 3: Zusatzfrage (DIE LINKE) ...... 15175 D Fragestunde (Drucksachen 16/8113, 16/8174, 16/7998) . . 15173 A Mündliche Frage 27 (141. Sitzung) Dringliche Frage 1 Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) Inge Höger (DIE LINKE) Maßnahmen der Bundesregierung zur Ver- Konsequenzen aus den Bitten von Nichtre- hinderung von Versorgungslücken im deut- gierungsorganisationen an die Bundesregie- schen Stromnetz vor dem Hintergrund ei- rung hinsichtlich eines deutlichen Signals in nes stetig wachsenden Anteils erneuerbarer Form eines Moratoriums zum Verbot von Energien und einer zunehmenden Netzan- Streumunition anlässlich der Wellington schluss- und Nutzungskonkurrenz zwi- Conference on Cluster Munitions schen Erneuerbare-Energien-Anlagen und neuen fossil betriebenen Großkraftwerken Antwort bei gleichzeitig ungenügendem Ausbau der , Staatsminister AA ...... 15173 B Stromnetze Zusatzfragen Inge Höger (DIE LINKE) ...... 15173 C Antwort , Parl. Staatssekretär BMWi . . . . 15176 A Zusatzfragen Dringliche Frage 2 Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) ...... 15176 C Inge Höger (DIE LINKE) Bedeutung der Erwägungen des US-Vertei- digungsministers zum Ausschluss gemeinsa- Mündliche Fragen 1 und 2 mer NATO-Operationen unter Beteiligung Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ der USA bei einem Verbot von Streumuni- DIE GRÜNEN) tion für die Bundesregierung Gründe für die erst im Sommer 2007 er- Antwort folgte Unterrichtung des Bundesministeri- Gernot Erler, Staatsminister AA ...... 15174 A ums für Verkehr, Bau und Stadtentwick- Zusatzfragen lung durch das Bundesministerium für Inge Höger (DIE LINKE) ...... 15174 B Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 15174 C heit über die Untersuchungsergebnisse bei schadhaften Dieselrußfiltern; Zeitpunkt der Kenntnisnahme des Bundesumweltmi- Mündliche Frage 25 (141. Sitzung) nisters , des Staatssekretärs Heidrun Bluhm (DIE LINKE) Matthias Machnig und der Parlamentari- schen Staatssekretärin Astrid Klug von den Beauftragung der Kölnmesse mit der Or- Untersuchungsergebnissen der Firma TTM ganisation, dem Bau und der Gestaltung Maier zu Rußfiltern des deutschen Beitrags bei Weltausstellun- gen und vergleichbaren Veranstaltungen Antwort seit 1980 durch die Bundesregierung Astrid Klug, Parl. Staatssekretärin Antwort BMU ...... 15177 A Peter Hintze, Parl. Staatssekretär Zusatzfragen BMWi ...... 15175 A Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ Zusatzfrage DIE GRÜNEN) ...... 15180 C Heidrun Bluhm (DIE LINKE) ...... 15175 B (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 15182 B Dr. (BÜNDNIS 90/ Mündliche Frage 26 (141. Sitzung) DIE GRÜNEN) ...... 15183 C Heidrun Bluhm (DIE LINKE) Mitglieder der Auswahlkommission für die Erarbeitung des Konzepts für den deut- Mündliche Frage 3 schen Pavillon auf der Expo 2010 in Cornelia Hirsch (DIE LINKE) Schanghai Wertung der konstituierenden Sitzung der Antwort Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz am Peter Hintze, Parl. Staatssekretär 18. Februar durch die Bundesregierung BMWi ...... 15175 C und Ergebnisse Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 III

Antwort Zusatzfragen Andreas Storm, Parl. Staatssekretär Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ BMBF ...... 15184 B DIE GRÜNEN) ...... 15188 A Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE) ...... 15188 D Zusatzfragen Cornelia Hirsch (DIE LINKE) ...... 15184 C Zusatztagesordnungspunkt 1: Vereinbarte Debatte: Zukunft des Kosovos Mündliche Frage 4 nach der Unabhängigkeitserklärung Cornelia Hirsch (DIE LINKE) Dr. Frank-Walter Steinmeier, Kenntnis der Bundesregierung über die Bundesminister AA ...... 15189 C Zahl von mindestens 385 000 Altbewerbern Dr. (FDP) ...... im Jahr 2007 nach Angaben des Bundesin- 15191 A stituts für Berufsbildung, Bewertung der Dr. (CDU/CSU) . . . . 15193 B Berufsbildungspolitik der letzten Jahre Dr. (DIE LINKE) ...... 15195 A Antwort Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ Andreas Storm, Parl. Staatssekretär DIE GRÜNEN) ...... 15196 B BMBF ...... 15185 A (SPD) ...... 15197 D Zusatzfragen Cornelia Hirsch (DIE LINKE) ...... 15185 B (CDU/CSU) ...... 15199 B Monika Knoche (DIE LINKE) ...... 15200 C () (BÜNDNIS 90/ Mündliche Fragen 8 und 9 DIE GRÜNEN) ...... 15202 A Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Monika Knoche (DIE LINKE) ...... 15203 A (Wiesloch) (SPD) ...... 15203 D Bewertung der von der Regierung von Nie- derbayern vorgelegten Raumordnungsva- Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 15204 C riante für den Donauausbau zwischen Straubing und Vilshofen durch das Bun- (CDU/CSU) ...... 15205 D desministerium für Verkehr, Bau und Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) Stadtentwicklung; nächste Schritte in die- (CDU/CSU) ...... 15207 B sem Verfahren sowie Abstimmung mit dem bestehenden Bundestagsbeschluss Zusatztagesordnungspunkt 2: Antwort Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär Aktuelle Stunde auf Verlangen der Frak- BMVBS ...... 15186 A tionen DIE LINKE und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Fehlende Strategien der Zusatzfragen Bundesregierung in der Bekämpfung von Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ Steuerhinterziehung und Konsequenzen DIE GRÜNEN) ...... 15186 C aus den Steuervergehen durch Finanz- (CDU/CSU) ...... 15187 A transfers ins Ausland Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 15187 A (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . 15208 B (CDU/CSU) ...... 15209 C

Mündliche Frage 14 Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) ...... 15210 C Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ Nicolette Kressl, Parl. Staatssekretärin DIE GRÜNEN) BMF ...... 15211 C Gleichberechtigte Teilhabe der hier leben- Dr. (FDP) ...... 15213 A den Migranten als Anspruch der deutschen Integrationspolitik trotz Fehlen jeglicher (CDU/CSU) ...... 15214 B Selbstverpflichtung im Nationalen Integra- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ tionsplan, zum Beispiel zur Verbesserung DIE GRÜNEN) ...... 15215 C der Einbürgerungsmöglichkeiten der hier lebenden Migranten (SPD) ...... 15216 C Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 15217 D Antwort Dr. Maria Böhmer, Staatsministerin BK . . . . 15187 C Dr. h. c. (CDU/CSU) . . . . . 15218 D IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

Ludwig Stiegler (SPD) ...... 15220 A Anlage 5 (CDU/CSU) ...... 15220 D Mündliche Frage 10 Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ Gabriele Frechen (SPD) ...... 15221 D DIE GRÜNEN) Jörg-Otto Spiller (SPD) ...... 15222 D Gespräche über die Finanzierung des Her- rentunnels in Lübeck zwischen dem Bund und der Landesregierung Schleswig-Hol- Nächste Sitzung ...... 15223 D stein sowie Auswirkungen auf weitere Ver- kehrsprojekte Antwort Anlage 1 Achim Großmann, Parl. Staatssekretär Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 15225 A BMVBS ...... 15226 B

Anlage 6 Anlage 2 Mündliche Fragen 11 und 12 Mündliche Frage 5 Christoph Waitz (FDP) Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) Zahl der als ehemals „systemnah“ einzu- Erfordernis der Einsparung von jährlich stufenden Beschäftigten der Stasi-Unterla- 15 Milliarden Euro im Bundeshaushalt bei gen-Behörde sowie Funktionen dieser Per- der möglichen Einführung einer Schulden- sonen vor der friedlichen Revolution von bremse und dadurch notwendige Kürzun- 1989; Maßnahmen zur Verhinderung einer gen von Sozialprogrammen Tätigkeit dieser Personen in leitenden Funktionen dieser Behörde Antwort Nicolette Kressl, Parl. Staatssekretärin Antwort BMF ...... 15225 C , Staatsminister BK ...... 15226 B

Anlage 3 Anlage 7 Mündliche Frage 6 Mündliche Frage 13 Manfred Kolbe (CDU/CSU) Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Personen der Führungsebene in öffentlichen Fortgang des Projekts Sichtbares Zeichen Institutionen oder öffentlich-rechtlich bzw. nach der Absage einer Beteiligung durch privatrechtlich organisierten Unternehmen die polnische Regierung beim Warschau- und Organisationen mit Bundesbeteiligung Besuch des Staatsministers für Kultur und mit am höchsten über den Bezügen der Medien am 5. Februar 2008 sowie inhaltli- Bundeskanzlerin liegenden Bezügen che Bewertung der Bundesregierung als Antwort ein in der Sache gescheitertes Projekt Nicolette Kressl, Parl. Staatssekretärin Antwort BMF ...... 15225 D Bernd Neumann, Staatsminister BK ...... 15227 A

Anlage 4 Anlage 8 Mündliche Frage 7 Mündliche Frage 15 Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Personelle, finanzielle und logistische Un- terstützung des Volksbegehrens „Tempel- Haltung der Bundesregierung zu den Äu- hof bleibt Verkehrsflughafen“ durch die ßerungen des türkischen Ministerpräsiden- Deutsche Bahn AG sowie Kenntnis und ten Recep Tayyip Erdogan über die Not- Haltung der Bundesregierung dazu wendigkeit des Erlernens sowohl der deutschen Sprache als auch der Förderung Antwort des Erwerbs der Muttersprache vor dem Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär Hintergrund des Fehlens einer Selbstver- BMVBS ...... 15226 A pflichtung zur Förderung des Erwerbs der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 V

Muttersprache im Nationalen Integrations- Anlage 13 plan Mündliche Frage 21 Antwort Dr. Uwe Küster (SPD) Dr. Maria Böhmer, Staatsministerin BK . . . . 15227 C Haltung der Bundesregierung zu dem in Deutschland abgelaufenen Standardisie- rungsprozess vor dem Hintergrund des im Anlage 9 Januar gestarteten neuen Missbrauchsver- fahrens gegen Microsoft bezüglich des Ver- Mündliche Fragen 16 und 17 haltens des Konzerns während des ISO- (DIE LINKE) Standardisierungsverfahrens Kosten der Auslandseinsätze der Polizeien Antwort des Bundes und der Länder im Jahr 2007 Peter Hintze, Parl. Staatssekretär sowie Anzahl der bei diesen Einsätzen ver- BMWi ...... 15229 B letzten oder getöteten Polizisten Antwort , Parl. Staatssekretär Anlage 14 BMI ...... 15228 A Mündliche Frage 22 Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Anlage 10 Veröffentlichung des Monitoringberichts zur Versorgungssicherheit im Bereich der Mündliche Frage 18 leitungsgebundenen Elektrizität nach § 51 Dr. Uwe Küster (SPD) Energiewirtschaftsgesetz durch das Bun- Initiativen der Bundesregierung zur För- desministerium für Wirtschaft und Tech- derung des Austausches von elektronischen nologie Dokumenten auf der Basis von offenen Do- Antwort kumentenaustauschformaten Dagmar Wöhrl, Parl. Staatssekretärin Antwort BMWi ...... 15229 B Peter Altmaier, Parl. Staatssekretär BMI ...... 15228 B Anlage 15 Mündliche Frage 23 Anlage 11 Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Mündliche Frage 19 Beurteilung der vom Nord-Stream-Pipe- Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE) line-Konsortium eingereichten Unterlagen Anzahl der Sivas-Attentäter mit Aufent- bezüglich der Einleitung eines Genehmi- halt in Deutschland gungsverfahrens sowie Haltung der Bun- desregierung zur Vorlage von durch die Antwort schwedische Regierung angemahnten Gut- Peter Altmaier, Parl. Staatssekretär achten BMI ...... 15228 C Antwort Dagmar Wöhrl, Parl. Staatssekretärin BMWi ...... 15229 C Anlage 12

Mündliche Frage 20 Anlage 16 Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE) Mündliche Frage 24 Maßnahmen der Bundesregierung zur Fest- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ stellung des Aufenthaltsortes der in der DIE GRÜNEN) Türkei rechtskräftig verurteilten Sivas-At- tentäter und zur Überstellung an die türki- Kenntnis der Bundesregierung über Ko- schen Behörden operationsvereinbarungen des deutschen Waffenherstellers Heckler & Koch mit dem Antwort US-Unternehmen Blackwater bezüglich ge- Peter Altmaier, Parl. Staatssekretär meinsamer Waffenentwicklungen und Ver- BMI ...... 15228 D einbarkeit des Erteilens von Aufträgen an VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 die beteiligte Firma etwa zur Ausrüstung Anlage 20 der Bundeswehr mit den Rüstungsexport- grundsätzen aus dem Jahr 2000 angesichts Mündliche Fragen 29 und 30 einer solchen Kooperation Elke Reinke (DIE LINKE) Umstände des Wegfalls des Arbeitslosen- Antwort geldes sowie jeglicher sozialer Absicherung Peter Hintze, Parl. Staatssekretär bei einem in Solling aufgefundenen 58-jähri- BMWi ...... 15229 D gen Hungertoten und diesbezügliche Kennt- nisse der Bundesregierung

Anlage 17 Antwort Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär Mündliche Fragen 25 und 26 BMAS ...... 15231 B Sevim Dağdelen (DIE LINKE)

Maßnahmen der Bundesregierung zur Ver- Anlage 21 hinderung von Massenentlassungen und Standortverlagerungen von Großunterneh- Mündliche Frage 31 men wie im Fall Nokia sowie Haltung der Dr. (DIE LINKE) Bundesregierung zu einer Fristverlänge- rung von derzeit fünf auf sieben Jahre be- Höhe des Anteils der Frauen an den mo- züglich einer Bindung von Subventionsver- mentan in 1-Euro-Jobs tätigen Erwerbslo- gaben an den Erhalt von Arbeitsplätzen sen Antwort Antwort Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär Peter Hintze, Parl. Staatssekretär BMAS ...... 15231 D BMWi ...... 15230 A

Anlage 22 Anlage 18 Mündliche Frage 32 Mündliche Frage 27 Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) Manfred Kolbe (CDU/CSU) Sicherstellung des Zugangs zu arbeits- Möglichkeiten von strukturpolitischen Aus- marktpolitischen Förderleistungen und Ein- gleichsmaßnahmen der Bundesregierung im gliederungshilfen für aufgrund des Wegfalls Rahmen des Aufbaus Ost für den Messe- des Anspruchs auf ALG II wegen Anrech- standort Leipzig vor dem Hintergrund der nung des Partnereinkommens in der Be- beabsichtigten Verlagerung der Computer- darfsgemeinschaft nicht leistungsberech- spielmesse Games Convention tigte Frauen Antwort Antwort Peter Hintze, Parl. Staatssekretär Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär BMWi ...... 15230 C BMAS ...... 15232 A

Anlage 19 Anlage 23 Mündliche Frage 28 Mündliche Frage 33 Jörg Rohde (FDP) (DIE LINKE) Haltung der Bundesregierung zur Feststel- Anrechnung von gezahlten Prämien der lung der Verfassungswidrigkeit der Arbeits- gesetzlichen Krankenkassen im Rahmen gemeinschaften nach dem SGB II von Wahltarifen nach § 53 Abs. 2 SGB V gemäß § 242 Abs. 2 SGB V als Einkommen Antwort auf den Bezug von Arbeitslosengeld II, So- Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär zialhilfe und Grundsicherung sowie Aus- BMAS ...... 15232 B wirkungen auf die Wahl der Krankenkas- sen Anlage 24 Antwort Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär Mündliche Frage 34 BMAS ...... 15230 D Jörn Wunderlich (DIE LINKE) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 VII

Höhe des Prozentsatzes der Alleinerziehen- Risiken für den Betreuungsausbau aufgrund denhaushalte mit Bezug von ALG II bzw. nicht geklärter Finanzierung zwischen Bund, Sozialgeld im Vergleich zu Paarelternfami- Ländern und Kommunen; mögliche Aufsto- lien ckung der Finanzierungsbeteiligung des Bundes im Fall des Scheiterns der Geset- Antwort zesinitiative zum Ausbau der Kindertages- Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär betreuung BMAS ...... 15232 C Antwort Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär Anlage 25 BMFSFJ ...... 15233 C Mündliche Frage 35 Jörn Wunderlich (DIE LINKE) Anlage 28 Erkenntnisse der Bundesregierung hin- sichtlich der Inanspruchnahme und Wirk- Mündliche Fragen 40 und 41 samkeit der Aufnahme der Vermittlung/ Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ Bereitstellung von Kinderbetreuung in den DIE GRÜNEN) Leistungskatalog des SGB II zur Überwin- dung der Hartz-IV-Abhängigkeit von Al- Zusätzlicher Finanzbedarf für den Bundes- leinerziehenden haushalt bei Erhöhung des Kindergeldes und der Kinderfreibeträge sowie Einfüh- Antwort rung des Betreuungsgeldes; Erarbeitung Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär einer Wirkungsanalyse zum Betreuungs- BMAS ...... 15232 D geld durch das von der Bundesregierung einberufene Kompetenzzentrum für famili- enbezogene Leistungen als Entscheidungs- Anlage 26 hilfe für eine gesetzliche Verankerung Mündliche Fragen 36 und 37 Antwort Volker Schneider (Saarbrücken) Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär (DIE LINKE) BMFSFJ ...... 15234 A Anzahl der seit Einführung der 400-Euro- Minijobs von der Überzahlung ihrer Al- ters-, Erwerbsminderungs- oder Erwerbs- unfähigkeitsrente Betroffenen aufgrund Anlage 29 des Überschreitens ihrer monatlichen Hin- Mündliche Fragen 42 und 43 zuverdienstgrenze; Ermessenspielraum der (BÜNDNIS 90/ Deutschen Rentenversicherung Bund bei DIE GRÜNEN) Rückforderungen Antwort Rechtlich bindende Wirkungen über den Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär Ablauf der aktuellen Legislaturperiode BMAS ...... 15233 A hinaus für vom Bundesministerium für Fa- milie, Senioren, Frauen und Jugend abge- schlossene Verträge zur Öffentlichkeitsar- Anlage 27 beit Mündliche Fragen 38 und 39 Antwort Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär DIE GRÜNEN) BMFSFJ ...... 15234 C

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(A) (C) Redetext

144. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

Beginn: 13.00 Uhr

Vizepräsidentin : gelegenheit. Wir wollen dafür Sorge tragen, dass Die Sitzung ist eröffnet. hunderttausend Altbewerber eine Chance auf dem Aus- bildungsmarkt haben und dass sie eine Ausbildungs- Ich begrüße Sie alle sehr herzlich zu unseren heutigen stelle, die zusätzlich neu geschaffen wurde, bekommen. Beratungen, die etwas länger dauern werden, als das an einem Mittwoch üblicherweise der Fall ist. Worum geht es bei der Erörterung dieses Gesetzent- Ich rufe zunächst den Tagesordnungspunkt 1 auf: wurfs? Wir hatten im letzten Jahr eine sehr eigenartige Situation auf dem Ausbildungsmarkt. Einerseits sind Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- zwar über 625 000 neue Ausbildungsverträge abge- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- schlossen worden – das ist eine sehr gute Nachricht, rung des InVeKoS-Daten-Gesetzes und des zwar kein Rekord, aber fast. Nur 1999 sind wir seit der Direktzahlungen-Verpflichtungengesetzes Wiedervereinigung in der Bundesrepublik Deutschland, was die Zahl der Ausbildungsverträge betrifft, besser ge- – Drucksache 16/8147 – (B) wesen. Andererseits mussten wir aber feststellen, dass (D) Überweisungsvorschlag: die Zahl der Altbewerber höher war als die Zahl der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) neuen Bewerber. Haushaltsausschuss Das ist für uns Anlass gewesen, uns Gedanken da- Eine Aussprache dazu ist nicht vorgesehen. Deshalb rüber zu machen, wie wir mit besonderen Anstrengun- kommen wir gleich zur Überweisung. Interfraktionell gen dafür sorgen können, dass diese jungen Leute, die wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/8147 schon lange auf einen Ausbildungsplatz warten, eine an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse Chance bekommen. Gerade jetzt, wo die Konjunktur seit vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich zwei Jahren besser läuft, wo die Zahl der Arbeitsplätze sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be- zunimmt und die Arbeitslosenzahl sinkt, muss es uns ge- schlossen. lingen, den jungen Leuten eine Chance zu geben. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf: Dazu dient der Ausbildungsbonus. Er ist ein wichtiger Befragung der Bundesregierung Teil dieser Regelung. Er richtet sich an diejenigen, die schon lange auf einen Ausbildungsplatz warten und kei- Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka- nen Schulabschluss, einen Sonderschulabschluss, einen binettssitzung mitgeteilt: Gesetzentwurf zur Verbesse- Hauptschulabschluss oder einen schlechten Realschulab- rung der Ausbildungschancen förderungsbedürftiger schluss haben. Die Betriebe, die ihnen einen Ausbil- junger Menschen. dungsplatz zur Verfügung stellen, haben einen Rechtsan- Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht spruch auf diesen Bonus. Bei Jugendlichen, die einen hat der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Olaf besseren Abschluss haben, aber schon länger auf einen Scholz. Ausbildungsplatz warten, kann dieser Bonus auch ge- währt werden. In dem Fall wollen wir ihn allerdings als Ermessensleistung ausgestalten, um Mitnahmeeffekte Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Sozia- auszuschließen. Ich glaube, das ist ein gutes Beratungs- les: ergebnis. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Bundeskabinett hat soeben dem Gesetzentwurf zum Wichtig ist: Die jungen Leute, die eine solche Qualifi- Fünften Gesetz zur Änderung des Dritten Buches Sozial- kation mitbringen, erhalten eine Chance. Warum haben gesetzbuch zugestimmt. Das klingt ziemlich bürokra- wir das gemacht? Ein kurzer Hinweis: Jedes Jahr im tisch, dahinter verbirgt sich aber eine sehr wichtige An- Herbst erfahren wir nicht nur aus den Illustrierten, son- 15166 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

Bundesminister Olaf Scholz (A) dern auch aus den Berichten der Menschen in unseren Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C) Wahlkreisen, dass es ganze Hauptschulklassen gibt, in Wir kommen nun zu den Fragen zu diesem Themen- denen niemand einen Ausbildungsplatz gefunden hat. bereich. Dabei wäre es wichtig, dass gerade diese Jugendlichen Als Erste hat das Wort die Kollegin Hirsch. eine Chance auf einen dualen Ausbildungsplatz bekom- men. Deshalb richtet sich der Ausbildungsplatzbonus zielgenau an diese Jugendlichen und an Realschüler mit Cornelia Hirsch (DIE LINKE): einem schlechten Abschluss, die es auf dem Ausbil- Besten Dank. – Ich habe zuerst eine Nachfrage zur dungsmarkt ebenfalls schwer haben. Wir sagen: Sie wol- Zielgruppe, die mir zu unklar gefasst und zu wenig ein- len wir mit einem Bonus unterstützen. geschränkt ist. Es gibt die Kritik, dass sogar die Unter- nehmen, die Realschüler mit einem guten Abschluss ein- Dass es sich um Altbewerber handeln muss, habe ich stellen, Förderung erhalten können. Es gibt zudem die schon gesagt. Es müssen aber auch zusätzliche Ausbil- Kritik, dass die verschiedenen Kriterien, die Sie aufstel- dungsplätze sein. Das ist wichtig, weil das Mitnahme- len, eine Entweder-oder-Fassung darstellen. Hier setzt effekte vermeidet. Ob es sich um zusätzliche Ausbil- meine Nachfrage an, warum das nicht einfach konkreter dungsplätze handelt, kann man relativ unbürokratisch gefasst wird, um eine sehr breite und unspezifische För- feststellen. Wir wollen das folgendermaßen machen: Die derung zu verhindern. Kammern sollen bescheinigen, dass dieser Ausbildungs- In diesem Zusammenhang würde mich zugleich inte- platz in den letzten drei Jahren nicht vorhanden war. So ressieren: Wie soll das Kriterium „sozial benachteiligt“ kann man sicherstellen, dass es sich um neue Ausbil- definiert werden? dungsplätze für diejenigen handelt, die lange suchen und die es aufgrund ihrer Qualifikation besonders schwer ha- Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Sozia- ben. les: Wenn es uns gelingt, zusätzlich hunderttausend junge Schönen Dank für beide Fragen. Die zweite Frage be- Leute auf diese Weise in eine duale Berufsausbildung zu antwortet die erste. Das Kriterium „sozial benachteiligte bringen, dann haben wir etwas geschafft, das diesen jun- Jugendliche“ haben wir bei Berufsausbildungsförde- gen Leuten nicht nur jetzt hilft, sondern ein ganzes Be- rungsmaßnahmen schon immer – auch in der Vergangen- rufsleben lang. Deshalb, glaube ich, ist es diese Anstren- heit – angewandt. Das führt dazu, dass praktisch nie- gung wert. Ich bin sehr froh, dass wir das zustande mand identifizieren kann, um wen es sich eigentlich gebracht haben. handelt, außer natürlich diejenigen, die das als Sachbear- beiter zu begleiten haben. Die Unternehmen können mit (B) (D) Wir haben das Ganze mit der Möglichkeit von Be- diesem Kriterium nichts anfangen. rufseinstiegsbegleitern kombiniert, die wir zunächst an Darum haben wir gesagt: Wir wollen jetzt nicht kle- Tausend Schulen in Deutschland ausprobieren wollen. ckern, sondern klotzen. Selbstverständlich sollen die so- Da greifen wir etwas auf, das ehrenamtlich schon ganz zial benachteiligten Jugendlichen, diejenigen, die es auf- gut funktioniert und weiter so funktionieren soll. Wir grund verschiedenster Vermittlungshemmnisse schwer wollen das Konzept um bei Trägern angesiedelte haupt- haben, besonders gefördert werden. Bezogen auf alle an- amtliche Berufseinstiegsbegleiter ergänzen, die die jun- deren sagen wir: Sie sollen dann gefördert werden, wenn gen Leute, die Schwierigkeiten haben könnten, schon in sie schon lange nach einem Ausbildungsplatz suchen. der Schule identifizieren und dafür sorgen, dass sie in ei- Wir haben die Förderung auch am Kriterium Haupt- nem zweiten Schritt bis in die duale Berufsausbildung schulabschluss oder schlechter Realschulabschluss fest- hinein begleitet werden. Ziel ist, dass diese jungen Leute gemacht, und zwar als eine Pflichtleistung. es schaffen; dass sie durchhalten. Wir alle wissen: Es gibt viele, die kommen gar nicht an, die halten nicht Die Pflichtleistung ist für das Konzept des Ausbil- durch, die schaffen es nicht einmal durch die Probezeit. dungsplatzbonus ganz wichtig. Denn der Meister, der Unternehmer, der Betrieb muss in der Lage sein, zu sa- Für diese Fälle ist es gut, dass wir das miteinander zu- gen: Ich bekomme den Bonus, und deshalb mache ich stande gebracht haben. Es geht also um zwei große Pro- das. Wenn er sich auf ein langes bürokratisches Verfah- jekte: den Ausbildungsbonus und die Berufseinstiegsbe- ren einlassen muss, bei dem er nicht weiß, ob ihm der gleiter. Bonus wirklich zusteht, dann muss er es sich genau Zum Bonus ein Letztes: Wir haben ihn plakativ ge- überlegen: Wie wird es wohl sein? Gibt es einen Antrag? staltet. Man könnte bürokratisch sein und monatlich ab- Es darf nicht sein, dass ihm am Ende, kurz bevor der rechnen. Aber weil jeder Betrieb, jeder Unternehmer, der Ausbildungsvertrag unterschrieben wird, gesagt wird: Das klappt nicht. hier mitmacht, verstehen soll, wie die Leistung gemeint ist, haben wir gesagt: Orientiert an der Höhe der Ausbil- Darum sind wir weitergegangen. Wir sind von dieser dungsvergütung sollen es 4 000, 5 000 oder 6 000 Euro großen Zielgruppe ausgegangen, weil wir feststellen sein. Deshalb hoffen wir, dass viele mitmachen. Die jun- müssen, dass viele Voraussetzungen nicht mehr stim- gen Leute haben es verdient. Wir sollten uns alle Mühe men. Sie können jungen Leuten mit einem Hauptschul- geben. abschluss nicht erklären, warum sie den Ausbildungs- platz, den ihre Eltern vor 20 Jahren mit diesem Schönen Dank. Abschluss bekommen haben, heute nicht mehr bekom- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15167

Bundesminister Olaf Scholz (A) men. Die Situation ist viel schwieriger geworden. Darum Dieses wichtige Ziel müssen wir erreichen. Aber wir (C) haben wir an diesem Kriterium angesetzt und sind etwas werden das nicht im Detail vorschreiben, sondern wir großzügiger. wollen etwas ausprobieren, das funktionieren soll. Es wird vor Ort sicherlich ganz unterschiedliche Praktiken Bezüglich der Mitnahmeeffekte haben wir in der Be- geben, die aber alle hilfreich sind. ratung eine Veränderung gegenüber den ursprünglichen Ideen zustande gebracht. Wir haben gesagt: Die Ziel- gruppe sind hauptsächlich Hauptschüler und Realschüler Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: mit schlechten Abschlussnoten in Deutsch oder Mathe. Nächster Fragesteller ist der Herr Kollege Meinhardt. Die anderen bekommen den Bonus als Ermessensleis- tung. Das ermöglicht eine Steuerung, die Mitnahmeef- Patrick Meinhardt (FDP): fekte ausschließt. Sehr geehrter Herr Minister, Sie haben mit den Verän- derungen im Gesetzentwurf ein Stück weit auf die Kritik Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: von DGB, BDA und den Fraktionen des Hohen Hauses Die nächste Frage hat Kollege Schneider. – Bitte. reagiert. Ich habe aber trotzdem folgende Ergänzungs- fragen. Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Habe ich es richtig verstanden, dass die Zielgruppe Herr Minister, Sie haben die Berufseinstiegsbegleiter der Altbewerber in diesem Programm von Ihnen so defi- angesprochen. Ich möchte vorwegschicken: Ich finde es niert wird, dass dies diejenigen sind, die keinen Schulab- bemerkenswert, dass man auch hier festgestellt hat, dass schluss oder einen Sonderschulabschluss, einen Haupt- das ehrenamtliche Engagement, nämlich der Einsatz der schulabschluss oder einen Realschulabschluss, egal mit Ausbildungspaten, auf einer professionellen Ebene wei- welcher Abschlussnote, haben, wobei Deutsch oder Ma- tergeführt werden muss. Das ändert nichts an der Tatsa- the mit der Note Vier abgeschlossen wurde? Die Frage che, dass auch das ehrenamtliche Engagement weiter be- ist hier, ob die Fokussierung auf die beiden Fächer Ma- stehen bleiben muss. Auf diese beiden Punkte beziehen thematik oder Deutsch tatsächlich die Gesamtleistung sich meine Fragen. der Zielgruppe mit einem mittleren Bildungsabschluss widerspiegelt. Erstens. In der Qualifizierungsoffensive steht nur sehr allgemein, man werde den weiteren Einsatz der Ausbil- Meine zweite Frage schließt sich daran an: Ist es rich- dungspaten prüfen. Wie darf ich das verstehen? Wird tig, dass Sie die letztendliche Ermessensfrage, wer in dieses Projekt fortgeführt? Was haben die Ausbildungs- diesem Zusammenhang als Altbewerber zählt, den Ar- paten an diesem Punkt zu erwarten? beitsagenturen vor Ort einräumen wollen und damit die klare Fokussierung, was Altbewerber sind, aufgehoben (B) Zweitens. Von welchen Qualifikationen gehen Sie bei haben? (D) den Berufseinstiegsbegleitern aus? Wo wird dies konkre- tisiert? Sind das Personen aus der Jugendhilfe? Was habe ich mir hier vorzustellen? Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Sozia- les: Wir haben zunächst einmal gefragt: Wen wollen wir Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Sozia- fördern? Wir haben diese Gruppe breiter gefasst, als das les: in der Vergangenheit der Fall war. Das sind allemal auch Beide Fragen lassen sich leicht beantworten. Zu- die sozial Benachteiligten. Es handelt sich hier aber um nächst einmal sollen die ehrenamtlichen Strukturen, die ein sehr spezifisches Arbeitsmarktförderungskriterium, es gibt, weiterbestehen und am besten ausgebaut werden. das sich im Alltagsgebrauch nicht konkret in der Weise Was gibt es Besseres als viele engagierte Fachleute aus anwenden lässt, dass man sagen kann: „Sie sind das“ den Betrieben, die sich als Paten ehrenamtlich um die oder „Du bist das“. Das geht nicht. jungen Leute kümmern, sodass diese den Weg von der Schule in den Beruf finden? Wir wissen, dass das gerade Wir haben daher entschieden, dass wir von den Bil- in den großen Städten notwendig ist, weil die Erfahrun- dungsabschlüssen ausgehen. Die Realität ist nämlich, gen, die aus der Schule mitgenommen werden, oft nicht dass nur eine geringe Zahl von jungen Leuten mit einem ausreichen, um sich in der Realität eines Betriebsalltages Hauptschulabschluss unmittelbar im Anschluss an ihren zurechtzufinden. Deshalb helfen hier die Fachleute. Schulabschluss einen ungeförderten Ausbildungsplatz bekommt. Darum müssen wir diese jetzt in den Blick Dass wir „prüfen“ geschrieben haben, bedeutet, dass nehmen. Wir tun etwas, um ihnen einen „Schubs“ zu ge- wir die Möglichkeiten, die bisher existieren, weiter för- ben und die Betriebe zu überzeugen. Damit diese Förde- dern wollen. Dadurch, dass wir eine professionelle rung wirklich diejenigen erreicht, die sie benötigen, gibt Struktur schaffen, wollen wir die ehrenamtlichen Mitar- es das Kriterium, dass diese schon länger suchen müs- beiter nicht verdrängen, sondern all unsere Möglichkei- sen, nämlich mindestens ein Jahr. Außerdem muss es ten einsetzen. Jetzt aber geht es um die Schaffung der sich in dem entsprechenden Betrieb um einen zusätzli- gesetzlichen Grundlage dafür, dass wir befristet den Ver- chen Ausbildungsplatz handeln, den es vorher nicht ge- such starten, an Tausend Schulen solche Berufseinstiegs- geben hat. begleiter zu etablieren. Wir stellen uns hier den Einsatz von Trägern vor, die sich in diesem Bereich auskennen, Dies muss man prüfen. Wir haben versucht, das so Personen mit guter Berufserfahrung, also mit Erfahrung unbürokratisch wie möglich zu machen. Jemand hat vor- aus dem Leben in den Betrieben, Menschen, die den Jun- geschlagen, einfach dem Wort des Betriebes zu ver- gen und Mädchen sagen können, wo es langgeht. trauen. Das ist vielleicht doch ein bisschen wenig. Aber 15168 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

Bundesminister Olaf Scholz (A) auch das prüfen wir im Gesetzgebungsverfahren noch wissen möchte, weiß, dass es unterhalb des sogenannten (C) einmal. Vielleicht ist es besser, zu sagen: Wir lassen uns gegliederten Schulsystems noch sieben Sonderschulfor- das von den Kammern bescheinigen. Darauf werden wir men gibt, und zwar für Menschen mit Behinderungen uns dann verlassen und Stichproben durchführen, um zu und den verschiedensten anderen Schwierigkeiten. Sol- überprüfen, ob das gut funktioniert. Das ist in den nächs- len auch diese Menschen auf dem normalen dualen Aus- ten drei Jahren ein Versuch. Diese drei Jahre sind sehr bildungsmarkt eine Chance bekommen, und, wenn ja, wichtig. Denn gegenwärtig ist die Situation in der Wirt- wie sieht es mit weiteren Hilfen, die durchaus nötig sind, schaft gut, und die Zahl der Altbewerber, die diese Krite- aus, zum Beispiel bei der Arbeitsassistenz, der Arbeits- rien erfüllen, ist hoch. Diese Chance wollen wir nutzen, platzumgestaltung und dergleichen? um dafür zu sorgen, dass auch diese jungen Leute end- lich einen Ausbildungsplatz bekommen. Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Sozia- les: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Zunächst einmal sind alle gemeint, diejenigen mit Nun hat das Wort die Kollegin Dr. Enkelmann. schlechten Schulabschlüssen natürlich auf alle Fälle. Es ist gut, dass Sie diese Nachfrage stellen; denn das gibt Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): mir die Möglichkeit, das klarzustellen. Herr Minister, von der IG Metall ist die Sorge geäu- ßert worden, dass der Ausbildungsplatzbonus auch dann Im Gesetzentwurf wurde extra formuliert: Um einen gezahlt werden soll, wenn es im Jahr 2008 verglichen Rechtsanspruch zu bekommen, braucht man einen Son- mit 2007 zu einem Rückgang der Zahl der Ausbildungs- derschulabschluss, einen Hauptschulabschluss oder ei- plätze kommt. Trifft diese Information zu? nen schlechten Realschulabschluss. Und natürlich gilt er für diejenigen, die keinen Schulabschluss haben. Bei denjenigen, die bessere Schulabschlüsse haben, aber Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Sozia- schon lange warten, weil sie erfolglos waren, beginnt die les: Ermessensleistung. Das ist das Instrument, mit dem wir Auch ich habe diese Pressemitteilung gelesen. Ich Missbrauch verhindern wollen. Außerdem haben wir habe sie aber nicht verstanden. Wir stellen eine Berech- eine besondere Förderung vorgesehen, wenn auch eine nung über drei Jahre an. Das ist besonders gut, um im Hinblick auf das Vorjahr Willkür auszuschließen. Behinderung vorliegt. (Dr. [CDU/CSU]: Damit be- Wir werden versuchen, sicherzustellen, dass kein antwortet sich die Frage von selbst!) Sachverhalt doppelt gefördert wird. Das kann man, wie ich glaube, einigermaßen gut organisieren. Die Förde- (B) Klugen Vorschlägen, wie Missbrauch vermieden werden rungen müssen zueinander passen. Davon abgesehen (D) kann, stehen wir ganz offen gegenüber. wird es auch die Möglichkeit geben, dass die notwen- In unserem Gesetzesentwurf ist folgende Regelung dige Unterstützung, zum Beispiel im Hinblick auf die vorgesehen: Wenn man erkennen kann, dass mit Blick Assistenz, sichergestellt wird. auf die Förderung an der Zahl der Auszubildenden „ge- arbeitet“ wurde, dann kann sie verweigert werden. Hier Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: haben wir also eine Handhabe gegen Missbrauch. Zur nächsten Frage Frau Kollegin Mast. Andererseits sage ich ausdrücklich: Wir dürfen uns jetzt nicht die ganze Zeit vertieft mit den Missbrauchs- Katja Mast (SPD): fällen beschäftigen. Denn dann könnte es passieren, dass Herr Minister, inwiefern ist die Berufseinstiegsförde- wir eine Regelung treffen, die niemand mehr anwenden rung, also die Förderung des Übergangs von Schule in kann. Das ist zwar eine beliebte Gesetzestechnik, wie ich Ausbildung, eine Aufgabe der Zahlerinnen und Zahler als Abgeordneter selbstkritisch sagen muss; des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung? Das ist der erste Teil meiner Frage. (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP) eigentlich geht es aber darum, ein Problem zu lösen. Das Der zweite Teil meiner Frage ist: Wo ist das Ende der Problem ist, dass die jungen Leute darauf warten, einen Subventionierung der betrieblichen Ausbildung? Mit Ausbildungsplatz zu bekommen, um einen Einstieg ins dem Bonus für Ausbildung starten wir. Wo aber ist die Berufsleben zu schaffen. Verantwortung der Unternehmen?

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Sozia- Nächster Fragesteller ist der Herr Kollege Dr. Seifert. les: Ich fange mit der Antwort auf Ihre zweite Frage an; denn diese Frage ist sehr wichtig. Deutschland verfügt Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): über ein weltweit zu Recht gelobtes Ausbildungssystem. Herr Minister, das, was Sie vortragen, klingt durchaus Die duale Berufsausbildung beruht darauf, dass unzäh- beeindruckend. Wenn Sie das tatsächlich schaffen, dann lige Unternehmen – es handelt sich um einige Hundert- haben Sie mich bzw. uns mit Sicherheit auf Ihrer Seite. tausend Unternehmen – sagen: Wir bilden aus. Es sollte Ich möchte eine Nachfrage zum Adressatenkreis stel- jedes Jahr so sein, dass sich viele Unternehmer entschei- len. Sie sprachen von einem Hauptschulabschluss und den, in dem Maße auszubilden, dass alle jungen Leute, von einem schlechten Realschulabschluss. Jeder, der es die nach der Schule einen Ausbildungsplatz suchen, un- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15169

Bundesminister Olaf Scholz (A) terkommen, und zwar unabhängig von der konjunkturel- Absprache zu treffen. Ist das vorgesehen bzw. bereits ge- (C) len Situation und der Größe des jeweiligen Altersjahr- schehen? gangs. An den Zahlen erkennen wir aber, dass das nicht abschließend funktioniert. Hier sind also noch zusätzli- Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Sozia- che Anstrengungen notwendig. les: Ich bin sehr froh über die Leistungen, die wir mit dem Wir haben bedacht, was es in den Ländern gibt. Des- Ausbildungspakt erzielt haben, und danke für das große halb gibt es in dem Gesetzentwurf auch die Regelung, Engagement der Wirtschaft, der Kammern und all der dass das Gleiche nicht zweimal gefördert werden kann. anderen, die sich sehr bemüht haben und das auch weiter Das können wir gesetzgeberisch vorsehen. tun. Es reicht aber nicht, und weil es nicht reicht, muss Jetzt beginnt der Gesetzgebungsprozess. Damit haben man jetzt etwas tun. Darum haben wir gesagt, dass wir wir deshalb so früh begonnen, weil wir rechtzeitig fertig jetzt beginnen müssen. sein wollen, damit diese Förderung für die kommende Deshalb legen wir ein auf drei Jahre befristetes Pro- Ausbildungssaison zur Verfügung steht. In dem Gesetz- gramm auf. Wir haben heute eine große Zahl arbeitsloser entwurf ist ja vorgesehen, dass der Bonus für Ausbil- Jugendlicher, und wir müssen jetzt dafür sorgen, dass sie dungsverträge gezahlt werden kann, die nach dem 1. Juli eine Chance haben. Es wäre natürlich schrecklich, wenn dieses Jahres abgeschlossen werden. Deshalb müssen irgendwann Arbeitskräftenot herrschen und man erst wir uns beeilen. dann damit beginnen würde, Arbeitslose im Alter von Die Bundesregierung wird den Gesetzentwurf jetzt Mitte 20 auszubilden, die man schon vor zehn Jahren also vorlegen. Der Bundesrat wird daran beteiligt sein. hätte ausbilden müssen. Wir versuchen jetzt, diese Auf- All diese Fragen werden erörtert werden. Auf viele der gabe zu erfüllen. Weil wir in gewisser Weise verzweifelt Fragen, die jetzt schon gestellt worden sind und noch ge- darüber sind, dass es trotz der gestiegenen Zahl nicht ge- stellt werden, will ich im Übrigen sagen: Im weiteren nügend Ausbildungsplätze gibt, legen wir noch einmal Verfahren werden wir natürlich ganz präzise schauen nach und wagen mit dieser Förderung den Versuch. müssen, dass wir eine Punktlandung schaffen und dann Sie fragen, warum das eine Aufgabe der Arbeitsagen- der eine oder andere gute Vorschlag mit eingebaut wer- tur ist. Das ist für mich ganz klar: All denjenigen, die wir den kann. Es ist jeder willkommen, der eine intelligente jetzt nicht gut ausgebildet auf ihr Berufsleben vorberei- Idee hat. Wir müssen unser Vorhaben so gestalten, dass ten, werden wir immer wieder als Kunden der Arbeits- es funktioniert und wir das Problem lösen, das ja ganz agentur begegnen. Auch hinsichtlich der Kassenlage der offensichtlich vorhanden ist. Von selber ist es eben nicht Arbeitsagentur ist es deshalb eine erstklassige Investi- gut gegangen. (B) tion, wenn wir rechtzeitig an der Qualifizierung der jun- (D) gen Leute arbeiten. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nun hat der Kollege Rohde das Wort. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nächster Fragesteller ist der Kollege Schummer. Ich glaube es nicht!)

Uwe Schummer (CDU/CSU): – Meine Kollegin, es geht wirklich nach der Reihenfolge Herr Minister, mit dem Ausbildungsbonus folgen Sie der Meldungen. – Herr Kollege Rohde, bitte sehr. auch dem Grundsatz: So viel betriebliche Ausbildung wie möglich, so viele außerbetriebliche Maßnahmen wie Jörg Rohde (FDP): unbedingt nötig. – Durch die betriebliche Komponente Ja, auch ich habe geduldig gewartet. Danke, Frau Prä- bei den Einstiegsqualifizierungen funktioniert der Über- sidentin. – Herr Minister, es ist eine sehr knifflige Auf- gang in eine klassische, direkte Ausbildung sehr gut. gabe. Wir sind uns in der Bewertung einig, dass diese Problemgruppe, die Sie jetzt beschreiben – Jugendliche, In zwölf Bundesländern gibt es schon Ausbildungs- die einen Hauptschulabschluss haben und schon länger bonussysteme, beispielsweise auch in den FDP-regierten auf eine Ausbildungsstelle warten –, einer besonderen Ländern Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Betreuung bedarf. Das Problem ist natürlich, das so ziel- Niedersachsen. gerichtet zu tun, dass man den Punkt trifft.

Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Sozia- Eine Frage ist daher: Welche Auswirkungen erwarten les: Sie zum Beispiel für die Jugendlichen, die nicht unter die Förderung fallen und ohne das Förderprojekt, das Sie Gibt es ein FDP-regiertes Land? jetzt anschieben, eine Chance auf einen Ausbildungs- platz hätten, ihn aufgrund der Förderung aber nicht er- Uwe Schummer (CDU/CSU): halten, weil jemand anderer vorgezogen wird, weshalb Ich meinte die von der FDP mitregierten Länder. – sie allein aufgrund dieser Tatsache ein Jahr länger war- Um bei der Erfüllung des einheitlichen Kriteriums, dass ten müssen? Im nächsten Jahr werden sie im Rahmen zusätzlich ausgebildet werden muss, Bürokratiekosten dieses Förderprojektes dann vielleicht selber anspruchs- zu vermeiden, wäre es sinnvoll, mit den jeweiligen Bun- berechtigt sein. Das wäre für den betroffenen Jugendli- desländern, die auch solche Bonussysteme haben, eine chen natürlich eher eine nicht so glückliche Aussicht. 15170 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

Jörg Rohde (A) Es stellt sich natürlich auch die Frage, ob dann, wenn Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) sich, aus welchen Gründen auch immer, nur Unterneh- Herr Minister, wie beurteilen Sie das Argument, dass men aus einer ganz bestimmten Branche meldeten, die der Ausbildungsbonus zwar vielleicht einen Anreiz für sich vorstellen können, über Bedarf auszubilden – zur den Betrieb schafft, über seinen Schatten zu springen, Erläuterung: es gab beispielsweise bisher 50 durch die aber nichts im Hinblick auf die Ausbildungsreife der Kammer bestätigte Ausbildungsplätze, nun werden jungen Leute bewirkt? Was will die Bundesregierung 75 angeboten –, 25 zusätzliche Ausbildungsplätze in die- über das hinaus tun, was bisher im nationalen Pakt für sen Unternehmen gefördert werden und was passieren Ausbildung vorgesehen ist, um effektiver dazu beizutra- wird, wenn die Jugendlichen nach zwei Jahren mit der gen, dass die Ausbildungsreife der jungen Altbewerber Ausbildung fertig sein werden, ihre Ausbildung definitiv verbessert werden kann? über Bedarf war und sie dann eine Ausbildung haben, die sie nicht in einen Job führt. Auch solche Fragen muss man berücksichtigen. Wie denkt die Bundesregierung Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Sozia- darüber? les: Das halte ich für eine sehr gute Frage, weil sie zu dem Problem führt, das wir haben. Die erste Antwort ist: Wir Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Sozia- müssen im Rahmen des Ausbildungspakts neue Anstren- les: gungen organisieren, damit sich alle in der Wirtschaft Zunächst einmal denken wir, dass wir ein Problem – die vielen Hunderttausend Unternehmerinnen und Un- haben: zu wenige Ausbildungsplätze für die jungen ternehmer, über die ich schon gesprochen hatte – noch Leute. Dieses Problem kann man auch so beschreiben: einmal ins Zeug legen und anstrengen. Wir ermutigen Es ist ganz schlecht, nicht mit einer Ausbildung zu be- auch die Betriebe, die früher einmal ausgebildet haben ginnen. Es wird durchaus vorkommen, dass der eine und vor zehn oder fünf Jahren damit aufgehört haben, oder andere eine Ausbildung macht, die nachher für noch einmal neu damit zu beginnen. Diese gemeinsame seine Berufstätigkeit zwar als Ausbildung zählt, nicht Anstrengung brauchen wir; hier darf niemand nachlas- aber das, was er konkret gelernt hat. Aber auch dies ist sen. wichtig; denn wir sehen ja, wie schwierig es für viele Leute ist, unterzukommen. Ich verbinde dies mit dem Die zweite Antwort: Wir stoßen dies an und versu- Hinweis, dass die Auszubildenden früher 14, 15 oder chen, wie Sie schon gesagt haben, ergänzend anzuregen, 16 Jahre alt waren. Viele Leute, die selbst so angefangen dass Betriebe noch etwas oben drauf packen. hatten, haben dies vergessen und stellen sich heute unter Die dritte Antwort: Über die Ausbildungsreife der einem Auszubildenden einen 18-jährigen Abiturienten jungen Leute können wir als Bundesregierung natürlich (B) vor. Das hat sich in Deutschland nicht vernünftig entwi- (D) nicht verfügen, auch nicht der Bundesarbeitsminister. ckelt. Deshalb müssen wir etwas tun, damit sich die Zahl Aber es ist etwas, über das wir reden müssen. Natürlich der Ausbildungsverträge noch einmal vergrößert. Wir müssen die Länder in ihrer Verantwortung dafür sorgen, hoffen, dass dadurch viele Leute eine bessere Berufsper- dass es eine gute Ausbildung in den Schulen gibt. Wenn spektive bekommen. Planen und steuern können wir dies es uns zum Beispiel gelänge, dass nicht mehr wie heute nicht. Es wird der FDP sicherlich gefallen, dass wir das 10 Prozent der jungen Leute die Schule ohne Abschluss nicht wollen. Vielmehr wollen wir anregen, dass es viele verlassen, wäre unsere Situation sehr viel besser. Sie Ausbildungsverträge gibt. wäre auch dann besser, wenn diejenigen, die einen Müssen wir befürchten, dass jetzt darauf geachtet Schulabschluss haben, das, was sie an Qualifikation be- wird, wie man möglichst viele Benachteiligte in den Be- nötigen, um im Berufsleben mitzukommen, ebenfalls in trieb bekommt, während diejenigen, die eigentlich ein- der Schule vermittelt bekommen hätten. Dafür ist es gestellt würden, nicht eingestellt werden? Meine These dringend erforderlich, dass wir mit einem Ausbau von ist: Nein. Ob sich meine These erhärten wird, werden Kinderbetreuungsmöglichkeiten und Ganztagsschulen wir durch Begleitforschung ermitteln. Allerdings früher ansetzen. Aus der Sicht eines Arbeitsministers komme ich in vielen Betrieben herum und spreche mit und auch der Wirtschaft kann man erwarten, dass dies al- vielen, die ausbilden. Gerade unter den sehr engagierten les zustande gebracht wird. Ausbildungsbetrieben gibt es viele, die überhaupt nie- Umgekehrt bringe ich es aber nicht übers Herz, die manden nehmen, der länger gewartet hat: Sie nehmen Klage über die fehlende Ausbildungsreife – sie hat etwas die Leute direkt von der Schule mit einem sehr guten Fatalistisches nach dem Motto „So ist es nun einmal“ – Hauptschulabschluss, mit Realschulabschluss oder Abi- einfach hinzunehmen. Wir müssen auch den jungen Leu- tur und sind den anderen gegenüber skeptisch. Wir ver- ten eine Chance bieten, von denen ein Unternehmer sagt, suchen jetzt – nichts ist ideal; besser wäre es, wir hätten dass er eigentlich lieber jemand anders einstellen würde, damit gar nichts zu tun –, die Ausbildungsbetriebe, die wenn er jemanden fände. Das müssen wir jetzt zustande schon engagiert sind, dazu zu überreden, noch einen bringen. Denn wenn wir es schaffen, dass sich die Schul- Auszubildenden oder eine Auszubildende zusätzlich zu politik, die Kindergartenpolitik und die Krippenpolitik nehmen, damit wir insgesamt genug Plätze für die jun- in den Ländern so verbessern, wie wir es uns wünschen, gen Leute bekommen. dann werden wir in 15 Jahren gute Ergebnisse erzielen. Dazwischen liegen aber 15 Jahre, in denen wir dafür sor- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: gen müssen, dass diejenigen, die die Schule bereits ver- Nun hat die Kollegin Sager das Wort. lassen haben oder demnächst verlassen werden, auch Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15171

Bundesminister Olaf Scholz (A) eine Chance bekommen. Das versuchen wir unter ande- einbezogen werden können. Denn dann würden wir viel- (C) rem mit diesem Projekt und vielen anderen Maßnahmen. leicht Unternehmen motivieren, zusätzliche Ausbildungs- plätze zu schaffen, und damit möglicherweise jungen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Leute eine zusätzliche Chance bieten. Nächste Fragestellerin ist die Kollegin Brigitte Damit komme ich zum zweiten Teil meiner Frage. Pothmer. Man kann sehr gut und intensiv über Ausbildungsreife diskutieren. Man kann sich des Eindrucks nicht erweh- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ren, dass immer dann festgestellt wird, dass die Jugendli- Herr Minister, Sie haben mehrfach betont, dass es Ih- chen en masse nicht ausbildungsreif sind, wenn die Wirt- nen darum geht, zusätzliche Ausbildungsplätze zu för- schaft zu wenig Ausbildungsplätze zur Verfügung stellt. dern. Sind Sie bereit, den Vorschlag der IG Metall aufzu- Es gibt aber für junge Leute, die nicht ganz so stark sind, nehmen, das Förderkriterium nicht daran zu koppeln, die Möglichkeit der dualen Ausbildung, und es gibt das dass mehr Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt Instrument der ausbildungsbegleitenden Hilfen. Wie will werden als im Durchschnitt der letzten drei Jahre, son- Ihr Ministerium gemeinsam mit der Bundesagentur für dern daran, dass es mehr sind als in jedem der letzten Arbeit das Instrument der ausbildungsbegleitenden Hil- drei Jahre? Denn sonst würden – das besagen die detail- fen noch stärker in den Fokus bringen? Wir erleben näm- lierten Berechnungen der IG Metall – auch Betriebe ge- lich hin und wieder, dass junge Leute während der Aus- fördert, die im Vergleich zu 2007 im Jahr 2008 weniger bildung dieser Hilfe bedürfen, die aber nicht sehr oder nur die gleiche Zahl von Ausbildungsplätzen zur bekannt ist. Wie soll die sozialpädagogische Hilfe orga- Verfügung stellen. Das hängt damit zusammen, dass im nisiert werden? Jahr 2005, das in die Durchschnittsberechnung mit ein- bezogen wird, sehr wenige Ausbildungsplätze zur Verfü- Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Sozia- gung gestellt worden sind. les: Was die Verbundausbildung betrifft, schließt das eine Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Sozia- das andere nicht aus. Wir müssen nur sicherstellen, dass les: es keine Mehrfachförderung gibt, damit nicht der Staat Wir werden alle Verbesserungsvorschläge in den vor letzten Endes 150 Prozent bezahlt. Das hat, glaube ich, uns liegenden Gesetzesberatungen prüfen. Ich bitte Sie keinen Sinn. Darüber sind wir uns sicherlich alle einig. alle, das zu tun. Denn wir wollen sicherstellen, dass zu- sätzliche Ausbildungsstellen geschaffen werden. Wenn Wenn es aber eine vernünftige Gesamtstruktur gibt, man ein Problem erkannt hat, dann reicht es nicht aus, dann ist durch den Weg, den wir nun einschlagen, zu- (B) sozusagen jeden Tag ein neues Flugblatt mit der Auf- mindest teilweise garantiert, dass jemand in den Berei- (D) schrift „Es gibt ein Problem“ zu verfassen; vielmehr chen weiterqualifiziert wird, in denen der eigene Lehrbe- muss man in der Sache eine vernünftige Lösung im De- trieb es nicht zustande bringt. Das ist Teil des Konzeptes. tail erarbeiten. Ich bin etwas skeptisch, was das von Ih- nen genannte Konzept betrifft, aber ich will nicht ver- Wir sind aber dabei, alle Wege zu fördern. Das Kon- bauen, dass die Kreativität des ganzen Hauses zur zept der Bundesregierung beinhaltet ein breites Pro- Präzisierung unserer Lösung beiträgt, damit unser Geld gramm, zu dem all die Elemente gehören, die Sie eben nur für zusätzliche Ausbildungsplätze ausgegeben wird, geschildert haben. Es bedarf nicht nur unserer gesetzge- die sonst nicht entstehen würden. berischen, sondern auch unserer praktischen Anstren- gung, genau in die Richtung zu arbeiten, die Sie mit Ih- Sollte es zu Mitnahmeeffekten kommen, würde ich rer Frage aufgezeigt haben. Meine These ist: Es ist sie in geringem Umfang hinnehmen, wenn dadurch ver- notwendig. Die jungen Menschen bedürfen jetzt unserer mieden würde, dass die Regelung so bürokratisch wird, Anstrengungen. Es hilft ihnen nichts, wenn wir sie da- dass kein einziger zusätzlicher Ausbildungsplatz ent- rauf vertrösten, dass wir in 15 Jahren das richtige Kon- steht, weil jeder sofort vor Schreck aufgeben würde, zept haben werden. Wir dürfen auch Fehler machen. wenn er ein dreibändiges Manual über die Ausführungs- Aber wir müssen etwas machen. bestimmungen sieht. Wenn wir einen vernünftigen Weg finden und unsere Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: vereinte Intelligenz das zustande bringt, dann wäre das Frau Kollegin Hirsch. großartig.

Cornelia Hirsch (DIE LINKE): Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Fragesteller ist der Kollege Brase. Mich interessiert erstens, wie die Bundesregierung ausschließen will, dass Unternehmen vorrangig zweijäh- rige Ausbildungsgänge anbieten und diejenigen, die ei- Willi Brase (SPD): nen zweijährigen Ausbildungsgang absolvieren, später Herr Minister, wenn wir zusätzliche Ausbildungs- auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt sind. plätze schaffen wollen, dann stellt sich für mich erstens die Frage, ob wir auch die Verbundausbildung mit einbe- Zweitens: Warum soll die Prämie in zwei Schritten ziehen und ob nicht auch in dem einen oder anderen Fall – der eine Teil gleich beim Abschluss und der andere einzelne Anteile der außerbetrieblichen Ausbildung mit nach der Hälfte der Zeit –, in jedem Fall aber bereits vor 15172 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

Cornelia Hirsch (A) einem erfolgreichen Abschluss, gezahlt werden? Welche dungsbonus gefolgt, die eine noch stärkere Konzentration (C) Logik verbirgt sich dahinter? auf die Altbewerbergruppe vorsieht? Warum glauben Sie, dass die jetzige Initiative im Vergleich zu der des Bundes- Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Sozia- rates vorteilhafter ist? les: Wir haben sichergestellt, dass sich die Förderung an Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Sozia- der Ausbildungsvergütung orientiert. Wenn sie niedriger les: ist, gibt es weniger Geld. Das ist unsere Lösung. An- Ich gebe Ihnen auf beide Fragen die gleiche Antwort. sonsten steht es nicht in der Verfügungsmacht der Bun- Wir wollten einen Rechtsanspruch; den gibt es nun. Hier desregierung, Betriebe anzurufen und ihnen mitzuteilen, gibt es nichts zu interpretieren. Es gibt wie bei jedem an- wie viele Ausbildungsplätze sie zur Verfügung zu stellen deren Gesetz die Möglichkeit, sich vor Missbrauch zu haben. Wir sind also auf ein Konzept angewiesen, mit schützen. Es gibt aber einen klaren Anspruch. dem wir anregen und fördern. Wir wollen unsere An- Das Konzept, das dahintersteht, ist folgendes: Der strengungen bei den Betrieben, die hinsichtlich der Aus- Betrieb soll wissen, dass er dann, wenn er das macht, die bildung noch unentschlossen sind, intensivieren und sie Förderung erhält. Er soll nicht hinterher, also nachdem auffordern, mehr, Zusätzliches oder überhaupt etwas für er alles vorbereitet hat, die Lage mit der Kammer be- die Ausbildung zu tun. Alles, was in dieser Richtung ge- sprochen und den jungen Mann bzw. die junge Frau aus- schieht, nutzt; denn mit der jetzigen Situation kommen gewählt hat, möglicherweise erfahren müssen, dass man wir nicht gut zurecht. nach langer Prüfung zu dem Ergebnis kommt, dass er Ihre zweite Frage, warum wir die Auszahlung so or- den Bonus nicht bekommt. Somit bildet der Rechtsan- ganisiert haben, ist leicht zu beantworten: Wir wollen spruch die Grundstruktur dieses Instruments. Außerdem werben. Natürlich könnte man sich eine feine Bürokra- waren uns eine breite Zielgruppe und das Altbewerber- tenlösung ausdenken. Das meine ich nicht negativ. Es kriterium, das wir definiert haben, wichtig. Wir haben gibt erstklassige Bürokratien; damit da kein Missver- uns lange überlegt, wie man das am sinnvollsten gestal- ständnis entsteht. Natürlich könnten die Betriebe monat- ten kann, damit das auch nachvollziehbar wird. Das Er- lich abrechnen und dementsprechend eine Überweisung gebnis ist genau das, was wir jetzt vorgelegt haben. Wir erhalten. Aber wir wollen regelrecht Werbung machen. glauben, dass wir damit gut gelandet sind. Wir sagen den Betrieben: Wenn ihr jetzt zusätzliche Ausbildungsplätze schafft und junge Menschen einstellt, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: die ihr sonst vielleicht nicht nehmen würdet, dann gibt es Für die letzte Frage zu diesem Komplex hat der Kol- etwas. Genau das wollen wir mit unserer Förderung er- lege Meckelburg das Wort. (B) (D) reichen. Damit das Ganze nicht so abstrakt klingt und sich nicht jeder erst einen Taschenrechner oder einen Be- Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): rater holen muss, um zu wissen, wie viel er bekommt, Diese Frage eignet sich auch als letzte Frage; denn ich haben wir plakative Beträge in Höhe von 4 000, 5 000 finde, dass die Bundesregierung eine großartige Initia- und 6 000 Euro genommen. Dabei orientieren wir uns an tive aufgegriffen hat. Bei den Ausbildungsplätzen allge- der monatlichen Ausbildungsvergütung. Es gibt zudem mein haben wir ein hohes Niveau. Hier geht es um die keine monatliche Auszahlung, sondern zwei Auszah- Altbewerber, die es besonders schwer haben. Sie haben lungszeitpunkte. Der gesamte Betrag wird nicht gleich den Versuch gemacht, durch eine relativ unbürokratische zu Beginn ausgezahlt, damit wir eine Kontrollmöglich- Regelung Mitnahmeeffekte zu verhindern. Indirekt ha- keit haben. Es geht also darum, zu werben, zu überzeu- ben Sie die Antwort auf meine Frage schon gegeben. gen und dafür zu sorgen, dass möglichst viele Betriebe Sind Sie nicht mit mir der Meinung, dass es hier nicht mitmachen, damit es möglichst viele Ausbildungsplätze darauf ankommt, bürokratisch bis ins Letzte alle Mitnah- gibt. meeffekte zu verhindern, sondern darauf, dass der Be- treffende einen Arbeitsplatz bzw. Ausbildungsplatz be- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: kommt, auch wenn es hier und da möglicherweise doch Herr Meinhardt, bitte. zu Mitnahmeeffekten kommt? Denn wenn er einmal im Betrieb ist, hat er größere Chancen, hinterher weiterzu- machen. Meine Frage ist jetzt: Was unternehmen Sie, da- Patrick Meinhardt (FDP): mit die Leute wirklich die zwei oder drei Jahre durchhal- Herr Minister, Sie haben dargelegt, dass es eine Be- ten? zugsgruppe gibt, die im Gesetz klar definiert wird. Aber die Frage, ob die Agenturen für Arbeit vor Ort die Frei- heit haben, von den Kriterien, die Sie beschrieben haben, Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Sozia- abzuweichen, ist noch offen. Diese Frage halte ich für les: sehr wichtig. Das, was wir tun, damit die jungen Leute zwei, drei Jahre durchhalten, habe ich soeben schon bei der Beant- Da ich Abgeordneter aus einem von der FDP mitre- wortung der Frage zu den ausbildungsbegleitenden Hil- gierten Bundesland bin, dessen Wirtschaftsministerium fen angesprochen. Außerhalb dieses Programms ist das die Bundesratsinitiative auf den Weg gebracht hat, frage Teil der Tätigkeiten der Bundesagentur für Arbeit. Wei- ich konkret: Warum sind Sie nicht der mit großer Mehr- terhin nenne ich das Konzept der Berufseinstiegsbeglei- heit im Bundesrat entschiedenen Variante eines Ausbil- ter. Diese sollen die infrage kommenden Leute, bei de- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15173

Bundesminister Olaf Scholz (A) nen wir Schwierigkeiten vermuten, schon in der Schule Ausblendung der militärischen Notwendigkeit hat im (C) identifizieren und sie bis in den Betrieb hinein begleiten, globalen Rahmen keine Aussicht auf breite Unterstüt- um Schwierigkeiten zu beseitigen, die manchmal auftre- zung. ten, und die verhindern, dass jemand nicht durchhält. Es Die Bundesregierung hat im nationalen Rahmen be- gibt Betriebe, die jemanden ausbilden wollen, auch reits im Jahr 2006 eine sehr weitgehende Achtpunkte- wenn sie ihn immer wieder überzeugen müssen, dass es position beschlossen. Mit dieser Position wird Deutsch- gut ist, sich ausbilden zu lassen und am nächsten Tag land voraussichtlich bis zum Jahr 2015 einseitig den wiederzukommen. Vielleicht hätten diese Betriebe gern Verzicht auf Streumunition verwirklichen. Bis dahin die Telefonnummer eines Ansprechpartners, dem sie sa- sieht die Bundeswehr keine Neubeschaffung von Streu- gen können, dass es wieder Schwierigkeiten gibt, damit munition vor. Sie hat bereits mit der Vernichtung solcher sich jemand kümmert. Das ist das, was wir erreichen Modelle begonnen, die eine Blindgängerrate von über wollen. 1 Prozent aufweisen. Der Deutsche Bundestag hat diese Position durch die Entschließung vom 28. September Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: 2006 unter dem Titel „Gefährliche Streumunition verbie- Damit sind wir am Ende der Regierungsbefragung. ten – Das humanitäre Völkerrecht weiterentwickeln“, Herr Minister, ich danke Ihnen für den Bericht und für Bundestagsdrucksache 16/1995, begrüßt. die Beantwortung der Fragen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: Frau Kollegin, Sie haben das Wort zu einer Nach- Fragestunde frage. – Drucksachen 16/8113, 16/8174, 16/7998 – Inge Höger (DIE LINKE): Bevor wir mit der Fragestunde beginnen, will ich da- Die Bundesregierung könnte mit der eindeutigen For- rauf hinweisen, dass im Anschluss an die Fragestunde derung nach einem sofortigen Verbot bezüglich Herstel- eine vereinbarte Debatte zur Zukunft des Kosovo nach lung, Produktion und Lagerung von Streumunition vo- der Unabhängigkeitserklärung vorgesehen ist. Deshalb rangehen. Sind Sie mit mir der Ansicht, dass das ein wird die Fragestunde schon um 15 Uhr beendet sein. Signal in Richtung der im April stattfindenden Konfe- renz von Dublin wäre, auf der es um das Verbot von Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß Nr. 10 Streumunition geht? Mit einer solchen Forderung würde Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde die dringli- die Bundesregierung auch gegenüber anderen Staaten chen Fragen auf Drucksache 16/8174 auf. Diese betref- ein Signal aussenden. (B) fen den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Für (D) die Beantwortung der Fragen steht Herr Staatsminister Gernot Erler zur Verfügung. Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Frau Kollegin Höger, die Frage ist: Was ist das Ziel? Ich rufe die dringliche Frage 1 der Kollegin Inge Ist das Ziel, dass es nachher eine Gruppe von Staaten Höger auf: gibt, die sowieso über keine Streumunition oder über Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung anläss- sehr wenig verfügen, und dass man sich auf eine sehr ra- lich der Wellington Conference on Cluster Munitions vom dikale Position – Verzicht auf jegliche Streumunition – 18. bis 22. Februar 2008 aus den Bitten von Nichtregierungs- verständigt? Es gäbe dann gleichzeitig die großen Staa- organisationen wie dem Aktionsbündnis Landmine (Presse- ten, die Besitzer, Produzenten und Anwender von Streu- erklärung vom 17. Februar 2008), „endlich ein deutliches Sig- nal in Form eines Moratoriums zum Verbot von munition sind, dieses Verbot aber nicht beachten. Was Streumunition auszusenden und ihre Bremserrolle im Oslo- wäre daran ein Erfolg? Prozess aufzugeben“? Die Bundesregierung hat sich dazu entschlossen, ei- nen anderen Weg zu gehen: Wir machen einen vermit- Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt: telnden Vorschlag. Wir glauben, dass ein solcher Vor- Meine Antwort lautet wie folgt: Die Bundesregierung schlag die Chance beinhaltet, dass sich die großen setzt sich international sowohl beim „Oslo-Prozess zu Besitzer und Anwender von Streumunition mit ihm ein- Streumunition“ wie auch bei den laufenden Verhandlun- verstanden erklären. gen im Rahmen des VN-Waffenübereinkommens, des CCW, für einen möglichst raschen weltweiten Verzicht Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: auf Streumunition ein. Ein solcher Verzicht muss aber von einer breiten Gruppe von Ländern gestützt werden, Haben Sie eine weitere Nachfrage? – Bitte. darunter möglichst auch den großen Besitzerstaaten von Streumunition, die am Oslo-Prozess bislang nicht teil- Inge Höger (DIE LINKE): nehmen. Daher hat die Bundesregierung in beiden Ver- Es ist bekannt, dass Streumunition in erster Linie ein handlungsprozessen einen Dreistufenplan zum Verzicht Kriegsgerät ist – man kann es nicht einmal Waffe auf Streumunition vorgestellt. Mit dem Dreistufenplan nennen –, das in der Regel die Zivilbevölkerung trifft. soll der Staatengemeinschaft ein gangbarer Weg aufge- Deshalb ist es aus kriegstechnischen Gründen sicherlich zeigt werden, wie weltweit auf Streumunition verzichtet nicht unbedingt notwendig, dieses Gerät bis 2015 zu ha- und das humanitäre Völkerrecht gestärkt werden kann, ben. Sinnvoll ist vielmehr, dass es in diesem Bereich ohne dabei notwendige militärische Fähigkeiten zu ver- ganz schnell ein Moratorium gibt. Geben Sie mir da nachlässigen. Ein sofortiges übergangsloses Verbot unter recht? 15174 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

(A) Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Inge Höger (DIE LINKE): (C) In der Zielorientierung unterscheiden wir uns nicht. Sehen Sie die Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik Das Ziel der Bundesregierung ist, wie ich gesagt habe, gefährdet, wenn sie sich für ein sofortiges Verbot von ein völliger Verzicht, allerdings von allen Staaten, auf Streumunition aussprechen würde? Streumunition. Die Frage ist bloß: Wie kommen wir da- hin? Dieses Problem wird im Augenblick auch auf der Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Wellington-Konferenz debattiert. Wie Sie wissen, sind dort die wichtigsten Besitzer und auch Anwender von Nein, die Bündnisfähigkeit ist dadurch nicht gefähr- Streumunition gar nicht vertreten, Stichwort Oslo-Pro- det. Auch andere Staaten des Oslo-Prozesses haben sich zess. in dieser Weise erklärt, ohne dass dadurch ihre Bündnis- fähigkeit gefährdet wäre. Wir setzen auf zwei Stränge. Einer davon ist das UN-Waffenübereinkommen. An dem in diesem Zusam- Wir sehen das Problem bei der Erfolgsaussicht. Die menhang stattfindenden Prozess sind all diejenigen Staa- wichtigsten Länder mit Streumunition sind die Vereinig- ten, die über große Besitzstände von Streumunition ver- ten Staaten, Russland, China, Indien, Pakistan, Israel fügen, automatisch beteiligt. und Brasilien, um nur einmal die wichtigsten sieben auf- zuzählen. Sie alle nehmen nicht am Oslo-Prozess teil, sie alle wären aber einzubeziehen, weil man sonst mit dem Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Versuch, einen Verzicht auf Streumunition zu erreichen, Wir kommen zur dringlichen Frage 2 der Kollegin die Welt nicht sicherer macht. Höger: Welche Bedeutung haben für die Bundesregierung die Nicht das Problem der Bündnisfähigkeit, sondern das vom Aktionsbündnis Landmine (Presseerklärung vom 17. Fe- Problem der Inklusivität derer, die beim Thema Streu- bruar 2008) zitierten Erwägungen des US-Verteidigungs- munition anzusprechen sind, ist also das Entscheidende. ministers Dr. Robert M. Gates, dass ein Verbot von Streu- munition zukünftig gemeinsame NATO-Operationen mit Beteiligung der USA ausschließen würde? Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Eine weitere Frage dazu, der Herr Kollege Gehrcke. Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Um möglichst vielen Staaten, insbesondere den gro- Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): ßen streumunitionbesitzenden, die Möglichkeit zu eröff- Herr Staatsminister, kann die Bundesregierung mei- nen, sich einem Übereinkommen zur Streumunition an- nen Eindruck teilen, dass in der Äußerung des US-Ver- zuschließen, setzt sich die Bundesregierung dafür ein, (B) teidigungsministers Gates zu gemeinsamen NATO-Ma- (D) dass die Erhaltung der Interoperabilität im Rahmen der növern eine gewisse erpresserische Note liegt? Bemühungen um ein Übereinkommen zu Streumunition sowohl im Rahmen des Oslo-Prozesses wie auch im Rahmen der Verhandlungen zum VN-Waffenüberein- Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt: kommen gewahrt bleibt. Nein, Herr Kollege. Ein solcher Begriff lässt sich hierauf nicht anwenden. Es ist eine klare Äußerung. Da- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: raus können Sie schließen, dass die amerikanische Seite überhaupt noch nicht auf dem Weg zu einem schnellen Ihre Nachfrage, Frau Kollegin. Verzicht auf Streumunition ist. Das macht die Sinnhaf- tigkeit unseres Stufenplans, den wir vorgelegt haben, Inge Höger (DIE LINKE): noch einmal sehr deutlich. Beabsichtigt die Bundesregierung, in diesem Zusam- menhang wenigstens sicherzustellen, dass Deutschland Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sich zukünftig nicht mehr an multinationalen Militärein- sätzen beteiligt, bei denen Streumunition zum Einsatz Damit sind die dringlichen Fragen beantwortet. kommt? Herr Staatsminister, ich danke Ihnen.

Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Wir kommen jetzt gemäß Nr. 11 der Richtlinien für die Fragestunde zu den Fragen 25 bis 27 aus der Frage- Vorab: Es ist sehr schwierig, diese Frage zu beantwor- stunde am 13. Februar 2008 auf Drucksache 16/7998. ten. Unser Ziel ist es gerade, die Staaten, die über Streu- Sie sind zum Geschäftsbereich des Bundesministers für munition in größerer Zahl verfügen – auch solche, die Wirtschaft, Technologie und Verkehr. wir als besonders gefährlich einstufen, insbesondere dann, wenn die Rate der Blindgänger über 1 Prozent Für die Beantwortung steht der Parlamentarische liegt und damit eine besondere Gefährdung der Bevölke- Staatssekretär Peter Hintze zur Verfügung. rung angenommen werden kann –, dazu zu bringen, sich an diesem Prozess zu beteiligen. Das ist unser politi- Ich rufe die Frage 25 der Kollegin Heidrun Bluhm sches Ziel. auf: Bei welchen Weltausstellungen und vergleichbaren Veran- staltungen hat die Bundesregierung seit 1980 die Kölnmesse Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: mit der Organisation, dem Bau und der Gestaltung des deut- Eine weitere Nachfrage. schen Beitrags beauftragt? Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15175

(A) Peter Hintze, Parl. Staatssekretär beim Bundes- rung bestimmt worden. Seit 2005 erfolgen diese Aus- (C) minister für Wirtschaft und Technologie: schreibungen prinzipiell europaweit. Seit 1980 hat sich die Bundesrepublik an Weltausstel- lungen beteiligt – ich werde sie gleich im Einzelnen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: vortragen – und mit der technisch-organisatorischen Haben Sie eine weitere Nachfrage? – Das ist nicht der Durchführung als Ergebnis einer Ausschreibung Messe- Fall. durchführungsgesellschaften beauftragt. Bau und Ge- staltung des jeweiligen deutschen Beitrags wurden im Dann kommen wir zur Frage 26 der Kollegin Bluhm. Rahmen von Ausschreibungen an Architektur- und Ge- Wer – Name und Berufsbezeichnung – gehört der „breit staltungsbüros vergeben. Die Durchführungsgesellschaf- aufgestellten Auswahlkommission“ an, die im September 2007 die eingereichten Grobkonzepte für den deutschen ten, nach denen Sie gefragt haben, Frau Kollegin, haben EXPO-Beitrag bewertete, die Teilnehmer für die Ausarbei- weder selbst gebaut noch selbst gestaltet. Ihnen oblag tung des Feinkonzepts auswählte und im März 2008 die end- die Organisation und Durchführung des EXPO-Projekts. gültige Entscheidung über das Konzept für den deutschen Pa- villon auf der EXPO 2010 in Schanghai treffen wird? 1982: Knoxville, Tennessee, USA; Durchführungs- gesellschaft Ausstellungs-, Messe-, Kongress-GmbH, Peter Hintze, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Berlin. minister für Wirtschaft und Technologie: 1985: Tsukuba, Japan; Internationaler Messe- und Die Auswahlkommission für das Gestalterteam des Ausstellungsdienst, München. temporären deutschen Pavillons auf der Weltausstellung EXPO 2010 in Schanghai setzt sich zusammen aus 1986: Vancouver, Kanada; Kölnmesse GmbH. Institutionen, die nach Überzeugung des Bundeswirt- 1988: Brisbane, Australien; Kölnmesse GmbH. schaftsministeriums, dessen Experten über viele Jahre Erfahrungen mit erfolgreichen deutschen EXPO-Beteili- 1992: Sevilla, Spanien; Arbeitsgemeinschaft Messe gungen im Ausland verfügen, geeignet sind, über die an- Düsseldorf GmbH, ESC Kölnmesse GmbH. gemessene Darstellung Deutschlands auf der Weltaus- stellung 2010 in China zu urteilen. Die Institutionen 1992: Genua, Italien; Messe Berlin GmbH. wurden gebeten, geeignete Personen in die Auswahl- 1993: Daejeon, Südkorea; Kölnmesse GmbH. kommission zu entsenden. 1998: Lissabon, Portugal; Kölnmesse GmbH. Im Einzelnen sind es folgende Institutionen: das Aus- wärtige Amt, das Bundesministerium für Verkehr, Bau 2000: Hannover, Deutschland; Messe Düsseldorf und Stadtentwicklung, das Bundesumweltamt, der (B) GmbH. Bund-Länder-Koordinator, der in diesem Fall vom Wirt- (D) 2005: Aichi, Japan, Kölnmesse GmbH. schaftsministerium Schleswig-Holstein gestellt wird, der Ausstellungs- und Messe-Ausschuss der deutschen Wirt- 2008: Saragossa, Spanien, Hamburg Messe und Con- schaft, der Bundesverband der Deutschen Industrie, der gress GmbH. Deutsche Industrie- und Handelskammertag, die Deut- sche Zentrale für Tourismus, der Verband Deutscher Geplante Weltausstellung 2010: Schanghai, Volksre- Freizeitparks und Freizeitunternehmen, die Kölnmesse publik China; Kölnmesse GmbH. als Pavillondirektion, wie aus der Beantwortung der ers- ten Frage hervorging, das Ostasieninstitut der Fachhoch- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: schule Ludwigshafen für die Chinaexpertise sowie das Haben Sie eine Nachfrage, Frau Bluhm? – Bitte sehr. Bundeswirtschaftsministerium mit zwei Experten.

Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Staatssekretär Hintze, wenn man Ihrer Aufzäh- Sie haben das Wort zu einer Nachfrage, Frau Kolle- lung folgt, fällt auf, dass die Kölnmesse GmbH seit 1986 gin. sehr oft den Zuschlag für die Durchführung bzw. Betreu- ung zur Durchführung bekommen hat. Deshalb hätte ich Heidrun Bluhm (DIE LINKE): gerne die weitere Frage beantwortet: Wann und in wel- Herr Staatssekretär, bei Ihrer Aufzählung wird deut- cher Form hat die Bundesregierung die Organisation, lich, dass zumindest in dieser Auswahlkommission au- den Bau und die Gestaltung des deutschen Pavillons zur ßer der Expertin des Bundesministeriums für Verkehr, EXPO 2010 in Schanghai öffentlich ausgeschrieben? Bau und Stadtentwicklung keine Architekten beteiligt sind. Gehe ich recht in der Annahme, dass das so ist, Peter Hintze, Parl. Staatssekretär beim Bundes- oder macht es nur den Eindruck, als wenn keine Archi- minister für Wirtschaft und Technologie: tekten beteiligt waren? Frau Kollegin, die Frage beantworte ich wie folgt: Es ist eine europaweite Ausschreibung erfolgt – das genaue Peter Hintze, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Datum kann ich Ihnen gerne schriftlich nachliefern –, minister für Wirtschaft und Technologie: und dann ist im Ausschreibungsverfahren die Kölnmesse Frau Kollegin, zutreffend ist, dass das Bundesministe- wegen ihrer großen Erfahrung und ihrer qualifizierten rium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung eine Archi- Leistungsfähigkeit für die Organisation und Durchfüh- tektin in die Auswahlkommission entsandt hat. Weiter ist 15176 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

Parl. Staatssekretär Peter Hintze (A) ein Diplomingenieur in der Auswahlkommission. Im Peter Hintze, Parl. Staatssekretär beim Bundes- (C) Übrigen ist mir der fachliche Hintergrund der von den minister für Wirtschaft und Technologie: entsendungsberechtigten Institutionen geschickten Per- Herr Kollege Hill, die genauen Regelungen liegen lo- sonen im Hinblick auf Ihre Frage nicht bekannt. gischerweise noch nicht vor. Ich habe Ihnen eben den Zeitplan vorgetragen. Die Idee des Gesetzgebungsvorha- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: bens, das wir hier angehen, besteht darin, einen gesetzli- Da keine weiteren Nachfragen vorliegen, kommen chen Bedarfsplan für große Stromübertragungsleitungen wir zur Frage 27 des Kollegen Hans-Kurt Hill: aufzustellen sowie den Rechtsweg zu verkürzen und Musterplanungsleitlinien zu entwickeln, um die Planun- Durch welche konkreten Maßnahmen will die Bundesre- gen zu beschleunigen. Insgesamt soll sichergestellt wer- gierung sicherstellen, dass es bei einem stetig wachsenden Anteil erneuerbarer Energien und einer zunehmenden Netzan- den, dass die Übertragungskapazitäten der Höchstspan- schluss- und Nutzungskonkurrenz zwischen erneuerbaren nungsleitungen in Deutschland auch den Erfordernissen Energieanlagen und neuen fossil betriebenen Großkraftwer- entsprechen. Das wäre nicht der Fall, wenn wir nicht ent- ken bei gleichzeitig ungenügendem Ausbau der Stromnetze sprechende Maßnahmen auf den Weg bringen. nicht zu Versorgungslücken im deutschen Stromnetz kommt?

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Peter Hintze, Parl. Staatssekretär beim Bundes- minister für Wirtschaft und Technologie: Herr Kollege, haben Sie eine weitere Frage? Ich beantworte die Frage wie folgt: Der weitere Aus- bau der Windenergie – offshore und onshore –, der An- Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): schluss neuer konventioneller Kraftwerke und der ver- Ja, ich habe noch eine weitere Frage in diesem Zu- stärkte grenzüberschreitende Stromhandel machen in sammenhang. Deutschland den Bau von neuen Höchstspannungslei- tungen notwendig. Gespräche mit Planungsbehörden Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: und mit den betroffenen Vorhabenträgern haben gezeigt, Bitte sehr. dass trotz der Beschleunigungselemente im Infrastruk- turplanungsbeschleunigungsgesetz von 2006 weiterhin Verzögerungen bei den Planungsverfahren und bei der Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): Realisierung des Leitungsausbaus zu erwarten sind. Wie hoch ist der betriebswirtschaftliche Schaden bei den Betreibern von Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung im Energien in den Jahren 2005, 2006 und 2007 durch Zuge des integrierten Energie- und Klimaprogramms zwangsweise Netztrennung, und wie hoch ist der volks- (B) Eckpunkte zur Beschleunigung des Netzausbaus be- wirtschaftliche Schaden durch auf diese Weise nicht ein- (D) schlossen. Zur Umsetzung erarbeitet das Bundesministe- gesparte Klimagasemissionen? rium für Wirtschaft und Technologie einen Gesetzent- wurf. Ein Kabinettsbeschluss soll im Mai 2008 erfolgen. Peter Hintze, Parl. Staatssekretär beim Bundes- minister für Wirtschaft und Technologie: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ob ein solcher Schaden vorliegt, kann ich Ihnen hier Haben Sie eine Nachfrage, Herr Kollege Hill? jetzt nicht beantworten. Ich werde Ihnen aber gerne schriftlich antworten, falls dazu der Bundesregierung Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): entsprechende Daten vorliegen. Vielen Dank für die Beantwortung, Herr Staatssekre- tär. – Ich möchte meine Frage konkretisieren. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Konkrete Vorhaben zum Bau von Steinkohlegroß- Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen für die Beant- kraftwerken in Wilhelmshaven, Brunsbüttel, Kiel, Ham- wortung der Fragen aus der letzten Woche. burg und vor allem in Lubmin stehen faktisch in Ich rufe nun die Fragen auf der Drucksache 16/8113 Nutzungskonkurrenz zum geplanten Ausbau der Wind- in der üblichen Reihenfolge auf. energie, vor allem im Offshorebereich. Allein diese fos- silen Vorhaben lasten die vorhandenen und geplanten Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundes- Übertragungsnetze einschließlich der Vorgaben nach der ministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- Dena-Netzstudie vollständig aus, da der Kraftwerksneu- cherheit. Für die Beantwortung der Fragen steht Frau bau in Norddeutschland deutlich über die Stilllegung al- Parlamentarische Staatssekretärin Astrid Klug zur Verfü- ter Anlagen hinausgeht. Das belegen die Untersuchun- gung. gen der Bundesnetzagentur. Ich rufe die Frage 1 der Kollegin Bärbel Höhn auf: Meine Frage: Werden dann zukünftig die großen Warum hat das Bundesministerium für Umwelt, Natur- Offshorewindfelder in Nord- und Ostsee regelmäßig ab- schutz und Reaktorsicherheit, BMU, erst im Sommer 2007 geschaltet oder sollen die für den Grundlastbetrieb das zuständige Bundesministerium für Verkehr, Bau und geplanten Steinkohleblöcke nur im Mittel- und Spitzen- Stadtentwicklung über Untersuchungsergebnisse bei schad- lastbereich laufen, wenn 10 000 bis 20 000 Megawatt haften Dieselrußfiltern informiert, obwohl die Ergebnisse seit fast einem Jahr bekannt waren, und wer trägt die politische Windstrom vom Meer her, von der Küste kommen? Wie Verantwortung dafür, dass in der Zwischenzeit mehrere genau werden Sie das regeln? 10 000 nicht funktionierende Rußfilter eingebaut wurden? Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15177

(A) Astrid Klug, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- bürokratisch und ohne Kosten für den Fahrzeughalter (C) minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- durch funktionierende Systeme zu ersetzen. heit: Zu den näheren Hintergründen und den Details noch Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich erlaube mir, einige Informationen. Der Bundesminister für Verkehr, wenn Sie einverstanden sind, die Fragen 1 und 2 im Zu- Bau und Stadtentwicklung hat gemeinsam mit dem Bun- sammenhang zu beantworten; denn sie behandeln das desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- gleiche Thema, das Thema Partikelfilter. heit im Februar 2006 die 29. Änderungsverordnung zur (Zustimmung der Abg. Bärbel Höhn [BÜND- Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung inklusive der so- NIS 90/DIE GRÜNEN]) genannten, mittlerweile berühmt-berüchtigten Anla- ge XXVI erlassen, die die gesetzlichen Prüfvorschriften für offene und geschlossene Partikelminderungssysteme Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: zur Nachrüstung definiert. Nur Partikelminderungssys- Dann rufe ich auch die Frage 2 der Kollegin Bärbel teme, die von einem zertifizierten Prüfinstitut getestet Höhn auf: sind und die gesetzlichen Prüfvorschriften erfüllen, er- Wann genau haben der Staatssekretär Matthias Machnig halten demnach eine Zulassung durch das Kraftfahrt- im BMU und die Parlamentarischen Staatssekretäre Astrid Bundesamt. Eine Mindestanforderung an die zugelasse- Klug und Michael Müller beim Bundesminister für Umwelt, nen Partikelfilter ist eine Filterleistung von mindestens Naturschutz und Reaktorsicherheit und der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Sigmar 30 Prozent. Gabriel, Kenntnis von den Untersuchungsergebnissen der Firma TTM Mayer erlangt, die im Spätsommer 2006 an das Parallel zu der Finalisierung dieser Prüfvorschriften Umweltbundesamt geschickt wurden, und wann ist aus der und der Diskussion um ein gesetzliches Förderpro- Aktenlage nachweisbar, dass das BMU angewiesen hat, dass gramm für die Filternachrüstung hat das Bundesumwelt- die Rußfilter nach Anlage XXVI zur Straßenverkehrs-Zulas- ministerium das Umweltbundesamt gebeten, ein For- sungs-Ordnung zu prüfen sind? schungsvorhaben über die Wirkung der offenen Partikelminderungssysteme durchzuführen. Ziel war, die Astrid Klug, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- Wirkungsgrade unterschiedlich aufgebauter offener Par- minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- tikelminderungssysteme sowohl bezüglich der Partikel- heit: masse als auch der Partikelzahl zu ermitteln. Die Über- Verehrte Frau Abgeordnete, Frau Kollegin Höhn, ich prüfung sollte laut mehrfacher Weisung durch das erlaube mir auch, auf die Fragen etwas umfangreicher zu Bundesumweltministerium im Zeitraum Januar bis Au- antworten, als es hier normalerweise meine Art ist. Es gust 2006 ausdrücklich auch nach den Vorgaben der (B) handelt sich ja um ein sehr komplexes Thema mit einem Anlage XXVI der 29. Änderungsverordnung zur StVZO (D) sehr langen Vorlauf. Das Informationsbedürfnis ist zu stattfinden. Recht sehr groß. Ich hoffe, dass ich Ihnen mit meinen Antworten einige der aus Ihrer Sicht offenen Fragen Auftragnehmer des UBA-Forschungsvorhabens war auch beantworten kann. die Schweizer Firma TTM Mayer. Im Oktober 2006 wurden erste Teilberichte der Untersuchung vorgelegt. Sie fragen im ersten Teil der Frage 1 danach, warum Die Ergebnisse waren allerdings nicht nur nicht nach den das Bundesumweltministerium erst im Sommer 2007 Prüfvorschriften der Anlage XXVI gemessen und wären das zuständige Bundesverkehrsministerium über Unter- daher bei negativen Ergebnissen, wenn es solche gege- suchungsergebnisse bei schadhaften Dieselrußfiltern in- ben hätte, bezüglich einzelner Filteranbieter rechtlich formiert hat. Dazu meine Antwort: Es gab bis zum Sommer nicht verwertbar gewesen. Es wurde außerdem offenbar, 2007 keinen Beleg, dass sich mangelhafte Partikelfilter dass die Untersuchung gravierende methodische Mängel auf dem Markt befinden. Die ersten belastbaren Hin- aufwies. weise, dass bestimmte Partikelfilter möglicherweise die gesetzlichen Vorgaben nicht einhalten, lagen erst Anfang Für die Untersuchung wurde vom Forschungsnehmer August 2007 vor. Daraufhin wurde das Bundesverkehrs- TTM Mayer zum Beispiel ein Prüffahrzeug ausgewählt. ministerium unmittelbar informiert. Das Kraftfahrt-Bun- In das Prüffahrzeug wurden die einzelnen zu überprüfen- desamt veranlasste sofort eine Überprüfung der bean- den Partikelfilter – in der Zahl vier – nacheinander ein- standeten Partikelfilter. Dabei entstand der Verdacht, gebaut, um ihre Filterleistung zu messen. Um die Filter- dass sich zumindest ein Partikelfilterhersteller betrüge- leistung des Partikelfilters exakt bestimmen zu können, risch durch Manipulation die Allgemeinen Betriebser- ist es notwendig, dass jeweils vor und nach dem Einbau laubnisse für seine Filter erschlichen hat. Das KBA des Partikelfilters die sogenannten Rohemissionen im schaltete die Staatsanwaltschaft ein und löschte die All- Grundzustand des Fahrzeuges gemessen werden. Diese gemeinen Betriebserlaubnisse der betroffenen Partikel- Messungen wurden nicht durchgeführt. Am Ende der filter. Untersuchung stellte sich allerdings heraus, dass sich das Rohemissionsverhalten des Motors im Laufe der Unter- Auf Initiative des BMU und des BMVBS haben der suchung aufgrund eines Motorkomponentenschadens Handel und das Kraftfahrzeuggewerbe Ende November stark verändert hatte. Ebenso wurde darauf verzichtet, 2007 eine Kulanzvereinbarung für die damals bereits für die Messungen der einzelnen Partikelfilter eine ein- verbauten circa 40 000 schadhaften Systeme getroffen, heitliche Konditionierung, also gleiche Messbedingun- um im Interesse der betroffenen Fahrzeughalter und der gen, zu schaffen. Nur so wären aber vergleichbare und Umwelt möglichst viele schadhafte Systeme schnell, un- repräsentative Ergebnisse möglich gewesen. 15178 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

Parl. Staatssekretärin Astrid Klug (A) Die starken Messschwankungen in den Ergebnissen BMU hat BMVBS am 10. und 15. August, also un- (C) deuten auf sehr instabile Messbedingungen hin. Die vom mittelbar danach, über diese Untersuchungen informiert, Forschungsnehmer TTM Mayer durchgeführten Mes- die Mängel der einfacheren, preisgünstigeren Partikel- sungen und Berechnungen der partikelmassebezogenen minderungssysteme namentlich der Firmen GAT, Ten- Wirkungsgrade hatten daher keine belastbare Grundlage neco und Bosal aufzeigten. Es bestand Einigkeit zwi- und keine verwertbare Aussagekraft. schen den Ressorts, dass nur auf Basis von Messungen nach Anlage XXVI eine rechtliche Handhabe gegen Ein weiteres Ziel der Untersuchung war es, rechtlich mangelhafte Partikelminderungssysteme besteht. Um verwertbare Ergebnisse zu erzeugen für den Fall, dass die Tauglichkeit der Partikelminderungssysteme der ge- belastbare Hinweise auf unzureichende Systeme erkenn- nannten Firmen festzustellen, hat das KBA daraufhin bar geworden wären. Solche Hinweise wären natürlich unverzüglich Nachprüfungen initiiert. Dabei entstand unmittelbar an die zuständige Zulassungsbehörde wei- der Verdacht des Betrugs, und die Ergebnisse führten zu tergeleitet worden. Bestandteil der Anlage XXVI der den anfangs beschriebenen Konsequenzen. StVZO, die die deutschen Prüfvorschriften definiert, ist der sogenannte Neue Europäische Fahrzyklus. Auch Ich komme jetzt zur Antwort auf die Frage 2. Staats- wenn die TTM-Untersuchung nicht nach den kompletten sekretär Machnig hat am 20. Dezember 2006 ein Schrei- gesetzlichen Prüfvorschriften der Anlage XXVI gemes- ben der Deutschen Umwelthilfe vom 8. Dezember 2006 sen hat, so fanden doch Messungen in diesem Neuen auf Auskunft über die Ergebnisse der TTM-Studie be- Europäischen Fahrzyklus statt. In diesem für Europa gel- antwortet, dort auf das noch nicht abgeschlossene Mess- tenden Testzyklus hatten in der TTM-Studie aber alle ge- programm hingewiesen und empfohlen, sich wegen wei- prüften Systeme eine 30-prozentige Minderung und da- terer Informationen bezüglich der Prüfdaten bereits mit die Mindestanforderung nach den gesetzlichen zugelassener Partikelminderungssysteme an das Kraft- Prüfvorschriften erreicht bzw. deutlich überschritten. fahrt-Bundesamt zu wenden. Das war die erste Befas- Auch aus diesem Grund konnte aus den Ergebnissen da- sung der Hausleitung mit Daten der TTM-Studie. mals kein Verdacht auf mangelhafte Systeme abgeleitet Bis dahin und darüber hinaus war die fachlich zustän- werden. dige Abteilung IG mit dem UBA-Forschungsvorhaben befasst und Staatssekretär Machnig über den schwelen- Die methodischen Mängel und die unübersichtliche den Konflikt zwischen Bundesumweltministerium und Dokumentation und Darstellung der Ergebnisse aus der Umweltbundesamt bezüglich der Ausgestaltung des TTM-Studie wurden am 1. Dezember 2006 in einer Be- UBA-Forschungsvorhabens informiert. sprechung von Umweltbundesamt, Bundesumweltminis- terium, Partikelfilterherstellern, einem Automobilunter- In der Folge war die Frage, ob dem Auskunftsersu- (B) nehmen und dem Forschungsnehmer selbst erörtert und chen der DUH nach Umweltinformationsgesetz vom (D) von den Teilnehmern deutlich kritisiert. Es bestand Ein- 5. Februar 2007 stattgegeben und die nach Ansicht des vernehmen, dass Nachprüfungen notwendig sind, und Bundesumweltministeriums nicht abgeschlossene TTM- das Umweltbundesamt sagte Nachbesserungen der Un- Studie veröffentlicht wird, Thema bei diversen Abtei- tersuchung zu. lungsleiterbesprechungen und Rücksprachen von Staats- sekretär Machnig. Der Informationsanspruch der DUH Das UBA wurde vom BMU am 15. Dezember 2006 war abzuwägen gegen die methodischen Mängel der erneut angewiesen, wie von Beginn an gefordert Unter- TTM-Studie und die daraus zwangsläufig abzuleitenden suchungen nach Anlage XXVI durchzuführen. Es folg- Fehlinterpretationen der Ergebnisse mit entsprechenden ten von Januar bis Mai weitere Anweisungen und wirtschaftlichen Folgen für die Hersteller und möglichen Erlasse. Am 1. August 2007 wurden dem Bundesum- Regressansprüchen für den Fall der Veröffentlichung ei- weltministerium erstmals Untersuchungsergebnisse des ner aus unserer Sicht nicht abgeschlossenen Studie. Forschungsnehmers zu einem Partikelminderungssystem der Firma GAT vorgelegt, die den Anforderungen der Im Einvernehmen mit Bundesminister Gabriel wurde Anlage XXVI entsprechen sollten. Diese Ergebnisse entschieden, dass die Ergebnisse der TTM-Studie erst wurden an das Bundesverkehrsministerium weitergelei- veröffentlicht werden sollen, wenn die Vorgabe des tet und am 3. August 2007, also zwei Tage später, in ei- BMU, nach Anlage XXVI zu prüfen, durchgesetzt sei. ner gemeinsamen Besprechung von BMU, BMVBS und Am 3. Juli 2007 lehnte das Umweltbundesamt das Infor- UBA erörtert. Es wurde festgestellt, dass auch diese mationsbegehren der DUH ab. Am 23. November 2007 Messergebnisse nicht ausreichend belastbar waren, da wurde diese Entscheidung vom Verwaltungsgericht Des- die Prüfvorschriften nicht vollständig eingehalten wur- sau aufgehoben. den. Die zuständige Parlamentarische Staatssekretärin Klug, also ich, hat im Juli 2007 in Telefonaten mit dem Am 10. und 13. August erhielt das BMU Ergebnisse Geschäftsführer der DUH, Jürgen Resch – Ihnen bestens von weiteren Untersuchungen von Partikelminderungs- bekannt –, und am 7. August 2007 in einem persönlichen systemen des TÜV Süd und des TÜV Hessen, die durch Gespräch mit Herrn Resch und den zuständigen Exper- Dritte initiiert wurden. Diese wurden zwar ebenfalls ten des Bundesumweltministeriums die methodischen nicht nach Anlage XXVI durchgeführt, jedoch wurde im Mängel der TTM-Studie ausführlich diskutiert. Europäischen Fahrzyklus bei nachvollziehbaren Rah- menbedingungen ohne die vorhin erläuterten methodi- Im August 2007 wurde Bundesminister Gabriel erst- schen Mängel gemessen. mals mit dem Konflikt zwischen dem Bundesumweltmi- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15179

Parl. Staatssekretärin Astrid Klug (A) nisterium und dem Umweltbundesamt bezüglich der gen … nicht ausreichend an die 29. Verordnung ange- (C) Ausgestaltung des Forschungsvorhabens konfrontiert. lehnt“ sind. Nach Vorlage der ersten belastbaren Hinweise auf man- gelhafte Systeme und den KBA-Untersuchungen, die ich Die Überprüfung der Dauerhaltbarkeitsfunktion vorhin geschildert habe, hat Bundesminister Gabriel nach dem Schema der 29. Verordnung bleibt unbe- mich um Verhandlungen bezüglich einer Lösung für die rücksichtigt. bereits verbauten Systeme gebeten. Ergebnis war die be- Gleiches teilte der zuständige Abteilungsleiter des reits beschriebene Kulanzvereinbarung von Handel und BMU dem zuständigen Fachbereichsleiter des UBA am Kfz-Gewerbe. Der Parlamentarische Staatssekretär 17. Mai 2006 mit: Müller war zuständigkeitshalber nicht aktiv in den Vor- gang eingebunden und hat Ihnen dazu schon eine ent- Das jetzt vorgesehene Messprogramm muss auf der sprechende Auskunft im Umweltausschuss gegeben. Basis der Prüfvorschrift für die Nachrüstung von Diesel-Pkw … Fragen der Wirkung, der Dauerhalt- Zu der Frage, wann das BMU das UBA angewiesen barkeit, der Partikelzahl und der Einflüsse auf die hat, im Rahmen des Forschungsvorhabens auch nach NO2-Emissionen von Nachrüstsystemen beantwor- Anlage XXVI der StVZO zu prüfen – das war der zweite ten. Teil Ihrer Frage –, gibt es eine umfangreiche Chronolo- gie, die darüber Aufschluss gibt. Den Berichterstattern Auch dort wurde noch einmal die 29. Änderungsverord- des Umweltausschusses wurde gestern Akteneinsicht ge- nung erwähnt. währt. In einer Videotelefonkonferenz zwischen BMU und Das Bundesumweltministerium hatte sehr frühzeitig, UBA vom 18. Mai 2006, also unmittelbar am Tag da- am 6. Oktober 2005, per E-Mail das UBA um „eine enge nach, wurde ebenfalls ausdrücklich festgestellt, dass Absprache vor und während des Projektes“ zur Überprü- „mit den vom UBA beschlossenen Untersuchungen … fung von Partikelminderungssystemen gebeten. Im Ja- eine objektive Beantwortung der BMU-Fragen auf Basis nuar 2006, also kurz vor Inkrafttreten der gesetzlichen geltender nationaler und europäischer Prüfvorschriften Prüfvorschriften, ist dem UBA telefonisch vom zustän- ausgeschlossen“ ist. Am 24. Mai 2006 hat der zustän- digen Mitarbeiter des BMU mitgeteilt worden, dass das dige Abteilungsleiter im BMU infolge der Videokonfe- Messprogramm des Forschungsvorhabens auch nach renz den zuständigen Fachbereichsleiter im UBA darauf Anlage XXVI zu erfolgen habe. Der Vizepräsident des hingewiesen, UBA, Herr Dr. Thomas Holzmann, hat am 12. Dezem- dass die Mittel für das Projekt speziell für die Be- ber 2007 im Umweltausschuss bestätigt, dass dem Um- antwortung der BMU-Fragen im Zusammenhang weltbundesamt im Januar 2006 diese Vorgabe des Bun- (B) mit den Nachrüstvorschriften für Diesel-Pkw (D) desumweltministeriums bekannt war. (29. ÄVO …) bereitgestellt wurden. … Ich bitte Sie Im Februar 2006 hatte dementsprechend auch ein Mit- daher nochmals eine entsprechende Nachjustierung arbeiter des Umweltbundesamtes den Forschungsnehmer des Programms zu veranlassen. TTM darauf hingewiesen, dass das Forschungsvorhaben In einer Videokonferenz vom 27. Juni 2006 zwischen „die in der Praxis vorhandenen Rahmenbedingungen BMU und UBA wurde laut Protokoll ebenfalls festge- bezgl. Zulassung und Einbau zu berücksichtigen“ habe, stellt: „den Vorgaben aus der 29. Verordnung entsprechen“ müsse, und damit die Notwendigkeit der Prüfung auf Erste Priorität hat die Vermessung der verfügbaren Grundlage der gesetzlichen Bestimmungen nach Anla- PMS ge XXVI deutlich gemacht. Den Aktenbeleg finden Sie – dann werden die entsprechenden Firmen aufgelistet – in den Unterlagen. … entsprechend der 29. Änderungsverordnung Der zuständige Mitarbeiter im Bundesumweltministe- StZVO einschließlich der Prüfung der Dauerhalt- rium hatte dies ebenfalls schriftlich per E-Mail dem Auf- barkeit. Das derzeit laufende Messprogramm wird tragnehmer und nachrichtlich dem Umweltbundesamt kurzfristig entsprechend umgestellt. am 15. März 2006 übermittelt. Darin wurde auf die Prüf- vorschriften nach Anlage XXVI Bezug genommen und Mit E-Mail vom 19. August 2006 weist der zustän- die Notwendigkeit betont, die Arbeiten so auszugestal- dige Abteilungsleiter des BMU den Fachbereichsleiter ten, „dass sie voll nutzbar sind“. Eine enge Kooperation des UBA darauf hin, dass „der Auftrag, das Messpro- wurde angemahnt. gramm zu den Partikelfilter-Nachrüstungssystemen ab- zuändern, nicht umgesetzt“ ist. – So viel zu der umfang- Am 29. März 2006 wurde vom gleichen Mitarbeiter reichen Kommunikation zwischen BMU und UBA über nochmals darauf hingewiesen, „dass das Messprogramm E-Mail, Telefon und Videokonferenz. – bevor es endgültig beschlossen wird – nochmals mit dem BMU besprochen wird“ und „dass die Tests im We- Seit Oktober 2006 lagen dann dem BMU erste Teilbe- sentlichen Aussage darüber geben müssen, inwieweit richte der TTM-Mayer-Studie vor. Dazu fand auf Einla- Partikelminderungssysteme, die zur Nachrüstung auf dung des UBA am 1. Dezember 2006 eine Besprechung den Markt kommen, den Anforderungen der 29. Verord- zwischen UBA, BMU, Partikelfilterherstellern und Ver- nung zur Änderung der StVZO gerecht werden.“ Am tretern der Automobilindustrie und des Auftragnehmers 24. April 2006 wurde der zuständige Mitarbeiter des statt. Darin wurde von BMU und Herstellern auf eine UBA per E-Mail darauf hingewiesen, „dass die Messun- Vielzahl von Widersprüchen und Fehlern im laufenden 15180 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

Parl. Staatssekretärin Astrid Klug (A) Programm hingewiesen. Ich habe das vorhin ausgeführt. schwankende Rohemission aufwies. Außerdem (C) Dies geht auch aus einem Besprechungsvermerk der wurde die erforderliche Grundvermessung ohne Firma Emitec hervor. Daraufhin wurde vom zuständigen Partikelminderungssysteme vor dem Einbau eines Abteilungsleiter des Bundesumweltministeriums am neuen PMS nicht durchgeführt. Die erhaltenen Parti- 15. Dezember 2006 gegenüber dem UBA Folgendes kelzählungen sind vom Grundsatz her verwertbar – schriftlich festgestellt: da sie immer vor und nach dem PMS ermittelt wur- den. Insgesamt konnte aus den Untersuchungen Wie vom BMU von Beginn an gefordert, sind im aber nicht abgeleitet werden, ob ein System den Rahmen dieses Vorhabens Messungen nach Anla- Anforderungen der Anlage XXVI zur StVZO ent- ge XXVI der 29. Änderungsverordnung zur StVZO spricht. Daher hat das BMU das UBA beauftragt, ergänzend durchzuführen. Messungen nach Anlage XXVI zu ergänzen. Am 1. August 2007 erhielt das BMU vom UBA erst- mals Vermessungen eines Filters nach Anlage XXVI. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wie sich allerdings herausstellte, waren auch diese Er- Frau Staatssekretärin, ich hoffe, dass eine so ausführ- gebnisse nicht wirklich verwertbar, da sich die Rohemis- liche und lange Beantwortung der Fragen hier nicht sion des Prüffahrzeugs während der Messung verändert Schule macht. hatte. Am 3. August 2007, also zwei Tage später, fand eine Besprechung zwischen BMU, UBA, TTM und (Astrid Klug, Parl. Staatssekretärin: Ich hoffe BMVBS statt. Es bestand Einigkeit, dass die Ergebnisse, das auch nicht!) auch die nach Anlage XXVI, nicht ausreichend belastbar Sie wissen, dass die Fragestunden zeitlich begrenzt sind sind. – heute ist sie sogar zusätzlich begrenzt – und viele Kol- Frau Kollegin Höhn, diese Chronologie zeigt deut- leginnen und Kollegen Fragen haben. Gleichwohl wollte lich, dass die Vorgabe des BMU an das UBA, nach ich Sie in Ihrem Redefluss nicht unterbrechen, auch aus Anlage XXVI zu messen, an Deutlichkeit nichts zu wün- Rücksicht auf die Fragestellerin. schen übrig ließ. Trotzdem wurden die Vorgaben zuerst nicht und später nur unzureichend umgesetzt. Damit hat- Frau Kollegin Höhn, haben Sie zu diesem ausführli- ten die Messergebnisse keine Aussagekraft und waren chen Bericht noch Nachfragen? – Bitte. nicht verwertbar. Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Fazit daraus lautet: Die Entwicklung der Nach- Liebe Frau Staatssekretärin Klug, ich schätze Sie sehr. rüstung der Diesel-Pkw mit Partikelfiltern ist auch und Trotzdem muss ich ehrlich sagen: Ich habe im Aus- insbesondere aus Sicht des Bundesumweltministeriums (B) schuss zwei ganz kurze, klare Fragen gestellt. Es geht (D) mehr als bedauerlich. Wir haben uns monatelang inten- um einen schwerwiegenden Vorgang. Es geht darum, siv um dieses Thema gekümmert. Die verkehrsbedingte dass in Deutschland 40 000 Pkws herumfahren, die, ob- Feinstaubbelastung in den Großstädten lässt sich nur wohl ihr Filter nicht funktioniert, eine grüne Plakette durch technologische Verbesserungen bei den Fahrzeu- bekommen haben und behalten können. Sie dürfen in gen wirksam bekämpfen. Dafür ist auch eine Nachrüs- Umweltzonen hineinfahren, obwohl ihr Filter nicht tung der Altfahrzeuge mit Partikelfiltern notwendig. funktioniert. Wenn man die Filter austauschen würde, Der jetzige Schaden ist durch betrügerisches Verhal- entstünde ein Schaden in Höhe von ungefähr 40 Millio- ten einzelner Filterhersteller entstanden, das in dieser nen Euro. Es geht außerdem um die Frage, ob der Staats- Form zu einem früheren Zeitpunkt niemals von irgend- sekretär Machnig das Parlament in diesem Zusammen- wem geahnt werden konnte. Das Bundesumweltministe- hang belogen hat. Das sind ganz entscheidende Punkte. rium hat gemeinsam mit dem BMVBS und dem KBA Auf die Frage, ob er das Parlament belogen hat, hat der sofort nach Vorliegen belastbarer Hinweise auf schad- Staatssekretär im Ausschuss geantwortet, man habe im- hafte Systeme gehandelt, die Allgemeinen Betriebs- mer darauf hingewiesen, und zwar von Anfang an, dass erlaubnisse gelöscht und die beschriebene Kulanzverein- nach Anlage XXVI geprüft werden müsse – das ist eine barung von ZDK und GVA erwirkt, damit möglichst ganz entscheidende Frage –, und das sei im Januar 2006 viele schadhafte Systeme schnell, unbürokratisch und in einer E-Mail an das UBA weitergegeben worden. Ich für den Fahrzeughalter kostenlos durch funktionierende habe nichts anderes gemacht, als darum zu bitten, diese Filter ersetzt werden. E-Mail zu bekommen. Sie haben mir nun gestern Nacht ein dickes Paket von 45 Anlagen geschickt, Sie haben Eine seriöse Bewertung der vor dem Sommer 2007 mir heute einen Vortrag von über einer halben Stunde vorliegenden Untersuchungsergebnisse aus der jetzt viel gehalten, aber bis heute habe ich diese E-Mail von Ja- diskutierten TTM-Studie ist nicht im Lichte der heutigen nuar 2006 nicht bekommen. Erkenntnisse, sondern nur im Lichte der damals vorlie- genden unzureichenden und mit methodischen Mängeln Wann bekomme ich diese E-Mail? Was steht in dieser behafteten Messergebnisse möglich. Auch das Umwelt- E-Mail? Ich möchte Sie bitten, dass Sie mir endlich auf bundesamt hat in seiner abschließenden Stellungnahme diese einfachen Fragen eine Auskunft geben und nicht zur TTM-Untersuchung im Dezember 2007 festgestellt: eine halbe Stunde lang Sachen erzählen, die wir eigent- lich schon alle wissen. Die in der Teilstudie dargestellten Ergebnisse zu Partikelmassenminderung sind jedoch nur sehr ein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, geschränkt verwertbar, weil das Prüffahrzeug eine bei der FDP und der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15181

(A) Astrid Klug, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- schungsvorhaben so ausgestaltet sein soll oder nicht. (C) minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Aus der Aktenlage ergibt sich dies eindeutig. Das ist die heit: einzig entscheidende Frage. Zuerst. Es ist nicht meine Absicht, in Zukunft auf Fra- gen so ausführlich zu antworten. Ich hoffe, dass uns al- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: len das in Zukunft erspart bleibt. Haben Sie eine weitere Frage? (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist ja beruhigend!) Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da hier aber so viele Fragen aufgetaucht sind, über Ja, ich habe ja auch insgesamt vier. die auch in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, glaube ich, dass es notwendig war, dieses Thema an dieser Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Stelle einmal im Zusammenhang darzustellen. Der Zu- sammenhang ist wichtig, um zu wissen, wer wann auf Ja, ich weiß. was wie reagiert hat. Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie haben gestern Akten aus der Kommunikation zwi- schen dem BMU und dem UBA bekommen. Aus diesen Frau Staatssekretärin, ich stelle also fest, dass der Akten geht unmissverständlich hervor, dass es keinen Staatssekretär die Unwahrheit gesagt hat, als er behaup- Zweifel daran gab – auch hinsichtlich des von Ihnen ge- tet hat, es gebe eine E-Mail aus Januar 2006, die belegt, nannten Zeitraums; die einzelnen E-Mails sind ja dort dass nach Anlage XXVI zu prüfen ist. ganz genau aufgelistet –, dass das Bundesumweltminis- (Jörg Rohde [FDP]: So klingt es!) terium zu jedem Zeitpunkt seit Inkrafttreten der Prüfvor- schriften darauf beharrt hat, dass nach diesen Prüfvor- schriften gemessen wird, damit mit den Daten aus dieser Astrid Klug, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- Studie zum Beispiel auch zur Weiterentwicklung dieser minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Prüfvorschriften gearbeitet werden kann. Das ergibt sich heit: zweifelsfrei aus den Ihnen zur Verfügung gestellten Ak- Es gibt einen Unterschied zwischen Unwahrheit und ten. Einige Beispiele daraus habe ich eben aufgelistet. der Darstellung von Fakten. Er hat ganz sicher nicht ge- logen. Er hat das gesagt, was er damals wusste. Wir ha- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ben für Sie jetzt noch einmal die gesamte Aktenlage auf- bereitet. Daraus ergibt sich zweifelsfrei, dass dem Weitere Nachfrage? (B) Umweltbundesamt zu diesem Zeitpunkt, den der Staats- (D) sekretär im Umweltausschuss genannt hat, die Vorgabe Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): des Bundesumweltministeriums klar war. Das war die Ich bitte darum, dass meine Frage beantwortet wird. Frage, die Sie gestellt haben. Das ergibt sich aus der Ak- Ich habe jetzt drei Versuche unternommen, diese E-Mail tenlage, die wir Ihnen zur Verfügung gestellt haben. zu bekommen. Ich bitte einfach darum, dass die Staats- sekretärin mir die Fragen beantwortet, wo diese E-Mail Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ist und was darin steht. Ganz einfach. Sie haben die Möglichkeit, noch eine weitere Frage zu stellen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Staatssekretärin. Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Astrid Klug, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- Frau Staatssekretärin, ich habe mir gestern die Nacht minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- um die Ohren gehauen und habe diese Unterlagen durch- heit: gesehen. Es ergibt sich keineswegs zweifelsfrei: Weder im Januar noch im Februar noch im März gab es eine Wir haben Ihnen alle E-Mails aus dieser Kommunika- schriftliche Vorlage vom Bundesumweltministerium an tion zur Verfügung gestellt, die es in diesem Zeitraum das UBA, dass nach Anlage XXVI zu prüfen ist. Das gab. Es gab in diesem Zeitraum Telefonate und E-Mails. gibt es in den Unterlagen, die Sie mir zur Verfügung ge- Sie haben alle E-Mails, und sie betreffen den von Ihnen stellt haben, nicht. Erst in Papieren aus April und Mai genannten Zeitraum. Ich kann sie Ihnen gerne alle noch 2006 wird die Anlage XXVI explizit erwähnt. einmal vorlesen. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Nicht Bitte nennen Sie mir jetzt das Dokument von Januar noch mal!) oder Februar, das ganz klar die Anweisung enthält, dass nach Anlage XXVI zu prüfen ist. Bitte sagen Sie mir das Es ist unerheblich, ob die E-Mail, die Sie meinen, im Ja- jetzt genau. Nach den Unterlagen, die Sie mir geschickt nuar oder Februar 2006 geschrieben wurde. Alles, was haben, gibt es das nicht. Es muss offensichtlich etwas die Aktenlage hergibt, haben wir Ihnen zur Verfügung fehlen. Ich bitte jetzt um Auskunft, welche Unterlage ge- gestellt. Die entscheidende Frage ist, ob dem Umwelt- nau darlegt, dass entweder im Januar oder im Februar bundesamt zu diesem Zeitpunkt klar war, dass nach An- eine schriftliche Weisung an das UBA gegangen ist, lage XXVI gemessen werden soll und ob das For- exakt nach Anlage XXVI zu prüfen. 15182 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

(A) Astrid Klug, Parl. Staatssekretärin beim Bundesmi- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C) nister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: Herr Kollege, gestatten Sie, dass ich Sie unterbreche. Es gibt in den Unterlagen einen umfangreichen Ver- Könnten Sie sich bitte auf Ihre Frage konzentrieren? merk bezüglich der Kommunikation, die in dem genann- ten Zeitraum zwischen dem Bundesumweltministerium Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und dem Umweltbundesamt stattgefunden hat. Zu die- Meine Frage ist: Wie war das Abstimmungsverhalten sem Zeitpunkt war der Vertrag mit dem Forschungsneh- im Ministerium? Wann hat Staatssekretär Machnig zum mer noch gar nicht abgeschlossen. Gegenüber dem Um- ersten Mal erfahren, dass hier der Hase im Pfeffer liegt weltbundesamt war vom Bundesumweltministerium und dass etwas zu tun ist? immer wieder ganz klar die Vorgabe gemacht worden, dass dieser Vertrag vor seinem Abschluss mit dem Bun- Astrid Klug, Parl. Staatssekretärin beim Bundesmi- desumweltministerium abzustimmen ist. Das hat nicht nister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: stattgefunden. Darauf habe ich in meiner Antwort auf die Fragen vorhin ausführlich geantwortet. Ich habe ganz genau Der erste Hinweis darauf, dass hier die Vorgabe des aufgelistet, wer wann eingebunden war. Dabei muss man Bundesumweltministeriums nicht umgesetzt wurde, er- unterscheiden zwischen der Ausgestaltung des For- gab sich erst später, im April 2007 – ich muss das ge- schungsvorhabens – damit war in erster Linie die Fach- naue Datum heraussuchen; ich habe nicht alle Daten im ebene betraut; da war Staatssekretär Machnig eingebun- Kopf –, als dem Bundesumweltministerium auf mehrfa- den – und der Frage, die sich daraus ergeben hat, wann che Nachfrage der Vertrag vorgelegt wurde. Von da an diese Studie öffentlich zugänglich gemacht wird und wie gab es ganz konkrete Anweisungen an das Umweltbun- auf das Informationsbegehren der Deutschen Umwelt- desamt, dass dieser Forschungsauftrag nachgebessert hilfe reagiert wird. Darin war der Minister eingebunden. und ergänzt werden muss. In meinen Antworten auf die beiden Fragen habe ich (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: den entsprechenden Zeitraum ganz genau aufgelistet, der Frau Präsidentin, ich darf keine Frage mehr sich sowohl aus der Erinnerung als auch aus der Akten- stellen! Aber ich möchte – –) lage ergibt. Ich denke, damit ist keine Frage offengeblie- ben. Die Hausleitung – Staatssekretär Machnig ist Teil Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: der Hausleitung – war in diese Fragen eingebunden, als sich der Konflikt mit dem Umweltbundesamt abgezeich- Entschuldigung, Sie haben vier Fragen gestellt. Jetzt net hat, und hat sich dann auch intensiver damit befasst, hat der Kollege Hermann das Wort zu einer Zusatzfrage. (B) als das Informationsbegehren der Deutschen Umwelt- (D) hilfe an uns herangetragen wurde. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich möchte nur eines sagen: Ich finde, das ist ein absolut unbefriedigendes Verfahren, das Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: hier stattgefunden hat! Das sind keine Aus- Eine weitere Frage? künfte, die wir erwarten! – Beifall bei der FDP und der LINKEN) Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie haben sehr wortreich und detailgenau geantwor- Herr Kollege Hermann. tet. Es gibt schließlich verschiedene Methoden, wie man nichts sagen kann: Entweder man sagt nichts, oder man Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sagt sehr viel. Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, liebe Astrid, es tut Trotz dieser vielen Informationen ist eines nicht klar mir außerordentlich leid, dass ausgerechnet du für geworden: Wie kann es sein, dass ein so hochkompeten- Nichtstun bzw. Fehlhandlungen im Ministerium selbst tes Ministerium, von so hochkompetenten Menschen ge- herhalten musst und dass du jetzt versuchen musst, et- führt, zwei Bundesämter, nämlich das Kraftfahrt-Bun- was zu erklären, was eigentlich jemand anders erklären desamt und das Umweltbundesamt, sowie ein weiteres müsste, nämlich Staatssekretär Machnig. Ministerium zwei volle Jahre brauchen, um eine Studie in Angriff zu nehmen, den Auftrag genau zu beschrei- Ich will an dieser Stelle nachhaken. Es gibt in der Tat ben, die Ergebnisse auszuwerten und sie entsprechend höchst unterschiedliche und widersprüchliche Aussagen. umzusetzen? Es ist nach alledem überhaupt nicht nach- So hat Staatssekretär Machnig beispielsweise im Um- vollziehbar, dass man zwei Jahre braucht, um dem ganz weltausschuss gesagt, dass die Leitungsebene, und zwar eindeutigen Hinweis nachzugehen, dass die Filter nicht alle zuständigen Staatssekretäre und der Minister, von richtig funktionieren und dass es vielleicht sogar die Anfang an in das Problem einbezogen war. Er hat auch Möglichkeit gibt, genau das kriminell zu nutzen, weil die deutlich gemacht, dass er bestimmte Entscheidungen ge- Vorgaben der Anlage XXVI StVZO nicht präzise sind. troffen hat. So hat er beispielsweise Ende 2006 entschie- Es gab genügend Indizien aus Ihrem Hause, aus der Öf- den, dass die Untersuchungsergebnisse nicht veröffent- fentlichkeit und von Umweltorganisationen. Sie haben licht werden. Er hat aber unter anderem bei der ganze zwei Jahre gebraucht, bis daraus konkrete Politik Mitarbeiterversammlung des UBA gesagt, dass er davon geworden ist. Das ist trotz all Ihrer wortreichen Erklä- erst im August 2007 erfahren hat. rungen letztendlich nicht nachvollziehbar. Ist verzögert Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15183

Winfried Hermann (A) worden? Ist geschlampt worden? Wer war nicht kompe- inhaltliche Konflikt, der sich hinter dieser Frage ver- (C) tent? All das ist nicht nachvollziehbar. Sie haben nur be- birgt. schrieben, wie die Vorgänge sind. Aber warum gelingt es Die Vorgaben des Bundesumweltministeriums an das einem Ministerium nicht, einen Untersuchungsauftrag Umweltbundesamt waren ganz klar, aber – das wieder- präzise zu formulieren? Warum gelingt es einem Minis- hole ich – sie wurden nicht umgesetzt. Wie Sie wissen, terium nicht, einer nachgeordneten Behörde zu sagen, hat das am Ende des Verfahrens, das sicherlich viel zu was zu tun ist? Das sind doch die Fragen, die letztend- lange gedauert hat, auch zu einer personellen Konse- lich beantwortet werden müssen. quenz im Umweltbundesamt geführt.

Astrid Klug, Parl. Staatssekretärin beim Bundesmi- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: nister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: Zu einer weiteren Nachfrage erteile ich dem Kollegen Das ist auch eine sehr gute Frage. Da ich eben aber Dr. Hofreiter das Wort. eine andere Frage nicht beantwortet habe, möchte ich das nachholen, damit hier kein Missverständnis entsteht. Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich weise den Vorwurf, dass nichts unternommen NEN): wurde, um schnell ein Forschungsvorhaben auf den Weg Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, das, was Sie ge- zu bringen, das uns belastbare Ergebnisse zur Nachrüs- rade ausgeführt haben, passt ja wunderbar. In einer E-Mail tung liefert, ausdrücklich zurück. Wenn Sie ehrlich sind des Abteilungsleiters im Bundesumweltministerium an und sich die umfassenden Akten, die wir Ihnen zur Ver- das Büro von Staatssekretär Machnig heißt es wortwört- fügung gestellt haben, unvoreingenommen ansehen, lich: dann werden auch Sie bestätigen können, dass der Vor- Wie Sie beiliegendem Sachstandsvermerk entneh- wurf, hier sei nichts unternommen worden, völlig unbe- men können, hat das UBA entgegen unseren expli- gründet ist. Das Bundesumweltministerium hat sich in- ziten mehrfachen Bitten, Aufträgen und Erlassen tensiv darum bemüht, das Umweltbundesamt dazu zu ein Forschungsvorhaben so umgewandelt, dass es bewegen, das Forschungsvorhaben nach unseren Vorga- Munition gegen unsere Nachrüstungskonzeption ... ben auszugestalten. generieren kann. Der Konflikt, um den es geht – Sie wissen das, Herr Wenn man sich die gesamte Korrespondenz anschaut, Kollege Hermann –, ist inhaltlicher Natur: Was ist bei wird einem schlagartig klar, woher das kommt. Sie woll- der Nachrüstung sinnvoll und was nicht? In der letzten ten nämlich von vornherein verhindern, dass ein ver- Legislaturperiode haben wir darüber sehr intensiv disku- (B) nünftiges Ergebnis herauskommt. Es wurde allgemein (D) tiert. Damals haben wir uns gemeinsam für ein Förder- befürchtet, dass die offenen Filtersysteme teilweise nicht programm zur Nachrüstung eingesetzt. Dabei ging es vernünftig funktionieren. Staatssekretär Machnig war auch um die Frage: Fördern wir nur geschlossene oder damals, am 23. August letzten Jahres, schon darüber in- auch offene Systeme? Geschlossene Systeme sind sehr formiert. komplex; sie werden jetzt in Neufahrzeuge eingebaut. Offene Systeme sind etwas einfacher und deshalb auch Meine Frage: Wie bewerten Sie diese E-Mail vom kostengünstiger. Außerdem eignen sie sich für die Nach- 23. August an den Herrn Staatssekretär, der ja offen- rüstung, weil sie nicht an die Motorsteuerung eines Fahr- sichtlich zu entnehmen ist, dass versucht wurde, das zeugs angepasst werden müssen. In der letzten Legisla- UBA daran zu hindern, einen Test durchzuführen, durch turperiode haben wir uns gemeinsam für ein den deutlich würde, dass manche der offenen Filtersys- Förderprogramm starkgemacht, mit dem insbesondere teme nicht funktionieren? Ein solches Ergebnis stünde die Nachrüstung mit offenen Systemen gefördert wird. nämlich dem politischen Konzept entgegen; die Auswir- Damals war nicht ganz klar – das ist bis heute noch so –, kungen wären angeblich zu teuer. ob sich geschlossene Systeme tatsächlich für die Nach- rüstung eignen oder ob die Fahrzeuge dann irgendwann Astrid Klug, Parl. Staatssekretärin beim Bundesmi- stehenbleiben. Wir wollten offene Systeme attraktiver nister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: machen und sie finanziell fördern, um einen großen An- Diesen Vorwurf weise ich eindeutig zurück; das ist reiz zu schaffen, dass nachgerüstet wird. dieser E-Mail auch nicht zu entnehmen. Diese E-Mail ist ein Beleg dafür, wann die Hausleitung des Bundesum- Wie Sie wissen, gibt es Experten, die der Meinung weltministeriums über diesen Konflikt informiert wurde. sind, dass man nur das Beste vom Besten – in ihren Au- Diese Information hat auch zu einer Reaktion geführt: gen die geschlossenen Systeme – fördern darf. Dieser in- Der Fachbereichsleiter im Umweltbundesamt und der haltliche Konflikt kommt auch in der Ausgestaltung die- Präsident des Umweltbundesamtes sind einbezogen wor- ses Forschungsvorhabens zum Ausdruck. Entweder den, um diesen Konflikt zu lösen. Am Ende gab es auch erbringt man diesen Beweis im Rahmen eines entspre- eine Weisung des Präsidenten des Umweltbundesamtes chenden Forschungsvorhabens, oder man tut das, was an den zuständigen Abteilungsleiter, so zu verfahren, wir wollten. Wir wollten zu Beginn der anlaufenden wie es das Bundesumweltministerium vorgegeben hat. Nachrüstung mit einer neuen Technologie Erfahrungen sammeln und Messergebnisse erhalten, die Rückschlüsse Es gab mitnichten den Versuch, wie Sie hier unterstel- darauf zulassen, wie die Nachrüstung und die Prüfvor- len, irgendwelche Ergebnisse zu verschleiern. Es gab schriften weiterentwickelt werden müssen. Das ist der sehr wohl den Versuch, über eine sachgerechte Ausge- 15184 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

Parl. Staatssekretärin Astrid Klug (A) staltung des Forschungsvorhabens zu vermeiden, dass Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaf- (C) ganz gezielt nur in eine Richtung gemessen und dann ge- ten. sagt wird, dass bestimmte Filtersysteme – es ging gar Zweitens. Die GWK hat inhaltliche Eckpunkte als nicht um bestimmte Filter bestimmter Hersteller – für Grundlage für weitere Gespräche zu einer beabsichtigten die Nachrüstung untauglich sind. Wir wollten also ver- Fortschreibung des Paktes für Forschung und Innovation meiden, dass nur Extremzustände gemessen werden, was verabschiedet. dazu führen würde, dass selbst geschlossene Systeme dem nicht standhalten würden, um einen Beleg für die Drittens. Zur Vorsitzenden der GWK für das Jahr Hypothese zu erhalten, dass nur das Beste vom Besten 2008 ist Frau Bundesministerin Dr. ge- gefördert werden darf. Das sollte durch die klare Vor- wählt worden. Stellvertretender Vorsitzender ist Herr Se- gabe vermieden werden. Für die Markteinführung von nator Professor Zöllner. Filtersystemen ist allein entscheidend, ob die Systeme eine Minderung der Emissionen von mindestens Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: 30 Prozent gemäß den gesetzlichen Prüfvorschriften er- Frau Kollegin, haben Sie eine Nachfrage? – Bitte. bringen. Darauf hatte man sich technisch und politisch verständigt. Diese Frage sollte im Rahmen des For- Cornelia Hirsch (DIE LINKE): schungsvorhabens beantwortet werden. Man hat sich darauf konzentriert, diese Vorgabe umzusetzen, weil nur Danke schön erst einmal. – Zu meiner ersten Nach- durch die Umsetzung dieser Vorgabe die Ergebnisse po- frage. NRW hat in dieser Sitzung einen Antrag zur Ein- litisch verwertbar gewesen wären. richtung einer Arbeitsgruppe zur Erarbeitung eines na- tionalen Stipendiensystems vorgelegt. Warum wurde die Behandlung dieses Antrages vertagt? Was war die Posi- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: tion der Bundesregierung? Wie bewerten Sie jetzt aktu- Keine weiteren Fragen? ell die Vertagung der Einsetzung der Arbeitsgruppe? (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch, aber die stellen wir nicht hier!) Andreas Storm, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- ministerin für Bildung und Forschung: – Dann sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Frau Frau Abgeordnete Hirsch, in der Tat hat sich die Staatssekretärin, ich danke Ihnen. GWK mit dem Vorschlag von Minister Pinkwart aus Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesminis- Nordrhein-Westfalen befasst. Die GWK hat ihr Büro ge- teriums für Bildung und Forschung auf. Für die Beant- beten, zunächst einen Bericht zum aktuellen Sachstand wortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatsse- des Stipendiensystems in den Ländern bis zur nächsten (B) kretär Andreas Storm zur Verfügung. Sitzung der GWK am 19. Mai 2008 vorzulegen. Auf der (D) Grundlage des Ergebnisses dieses Berichts wird die Wir kommen zu Frage 3 der Kollegin Cornelia GWK dann entscheiden, wie weiter verfahren werden Hirsch: soll. Wie bewertet die Bundesregierung die konstituierende Sit- zung der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz am 18. Fe- bruar 2008, und was sind die wesentlichen Ergebnisse? Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Eine weitere Nachfrage. Andreas Storm, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- ministerin für Bildung und Forschung: Cornelia Hirsch (DIE LINKE): Ich beantworte die Frage der Abgeordneten Hirsch Dies zeigt, dass uns dieses Thema weiter beschäftigen wie folgt: Die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz, wird. Deshalb meine zweite Nachfrage: Kann die Bun- GWK, ist der Ort, an dem Bund und Länder die sie ge- desregierung definitiv ausschließen, dass sie einem Sti- meinsam berührenden Fragen der Forschungsförderung, pendienmodell zustimmen wird, bei dem es öffentliche der wissenschafts- und forschungspolitischen Strategien Zuschüsse zu privatwirtschaftlichen Stipendien geben und des Wissenschaftssystems behandeln. Wichtige wird? Weichenstellungen zur Struktur und Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems werden in der GWK vorge- Andreas Storm, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- nommen. ministerin für Bildung und Forschung: Frau Abgeordnete Hirsch, die Bundesregierung be- Folgende Ergebnisse der konstituierenden Sitzung der grüßt grundsätzlich Bemühungen, die zu einer Auswei- GWK am 18. Februar 2008 sind besonders hervorzuhe- tung von Stipendiensystemen führen. Ich nenne hier ins- ben: besondere den Eigenbeitrag des Bundes mit unserem Erstens. Die GWK hat sich auf das Konzept einer Na- Ziel, bis zum Ende dieser Wahlperiode 1 Prozent aller tionalen Akademie verständigt. Die Leopoldina wird Studierenden in die öffentlichen Stipendiensysteme zu künftig die Aufgaben einer Nationalen Akademie auf bringen. Hier befinden wir uns auf einem sehr guten dem Gebiet der Politikberatung übernehmen und die Weg, was die besonders begabten Studierenden angeht. deutschen Akademien in internationalen Gremien reprä- Alle darüber hinausgehenden Festlegungen machen zu sentieren. Dabei wird sie mit der Deutschen Akademie diesem Zeitpunkt noch keinen Sinn. Wir sollten erst ein- für Technikwissenschaften und mit Vertretern der Län- mal die Ergebnisse des von mir angesprochenen Berichts derakademien zusammenarbeiten, insbesondere mit der für die GWK am 19. Mai abwarten. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15185

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: deutliche Aufwärtsentwicklung zu verzeichnen. Mit der (C) Ich rufe die Frage 4 der Kollegin Cornelia Hirsch auf: jetzt erreichten Größenordnung von 626 000 Ausbil- Sind der Bundesregierung aktuelle Einschätzungen aus dungsverträgen wird weitestgehend dem aktuellen Be- dem Hauptausschuss des Bundesinstituts für Berufsbildung, darf entsprochen. BIBB, bekannt, wonach die Zahl der sogenannten Altbewer- berinnen und Altbewerber 2007 bei mindestens 385 000 Per- Die Bundesregierung hat mit der Qualifizierungsini- sonen lag, und wie bewertet sie vor diesem Hintergrund die tiative das angesprochene Programm für Altbewerberin- Berufsbildungspolitik der letzten Jahre? nen und Altbewerber deshalb aufgelegt, weil wir den entstandenen Rückstau abbauen wollen. Mit dem Pro- Andreas Storm, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- gramm, das Bundesminister Scholz vorhin erläutert hat, ministerin für Bildung und Forschung: wollen wir allein in den nächsten drei Jahren zusätzlich zu Ich beantworte die Frage wie folgt: Die vom Bundes- den ohnehin entstehenden Ausbildungsplätzen weitere institut für Berufsbildung veröffentlichten Zahlen zu den Ausbildungsplätze für etwa 100 000 Altbewerberinnen Altbewerberinnen und Altbewerbern sind der Bundesre- und Altbewerber bereitstellen, sodass wir, wenn dieses gierung bekannt. Die Personengruppe ist allerdings sehr Programm erfolgreich verläuft, im nächsten Jahrzehnt heterogen. Zusätzlicher öffentlicher Fördermaßnahmen hoffentlich keine generelle Altbewerberproblematik mehr bedürfen dabei insbesondere jene Altbewerbergruppen, haben werden. die sich nicht bereits in vollqualifizierenden Maßnahmen befinden. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Die Ausbildungsmarktlage im Ausbildungsjahr 2006/ Haben Sie eine weitere Frage? 2007 hat sich deutlich verbessert. Die Zahl der neu abge- schlossenen Ausbildungsverträge ist um 49 800 bzw. Cornelia Hirsch (DIE LINKE): 8,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr auf knapp 626 000 Ja. – Meine zweite Nachfrage: Kann ich Ihre Antwort angestiegen. Das ist der zweithöchste Wert seit der Wie- so verstehen, dass es nur in Zeiten guter konjunktureller dervereinigung. Damit greifen die von der Bundesregie- Entwicklungen wirklich sichergestellt ist, dass Jugendli- rung mit der Wirtschaft eingeleiteten Maßnahmen zur che einen Ausbildungsplatz bekommen, während in Zei- Steigerung des Ausbildungsangebots. Der von der Bun- ten, in denen die Konjunktur schlechter läuft, Jugendli- desregierung Anfang 2008 beschlossene Beitrag zu einer che einfach auf der Straße stehen bleiben? Oder ist die Qualifizierungsinitiative für Deutschland enthält zudem Bundesregierung der Auffassung, dass das Recht auf weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Situation von Ausbildung generell gesichert sein muss und Ausbildung Altbewerberinnen und Altbewerbern, insbesondere ei- in diesem Sinne einfach als Pflicht der Unternehmen ge- nen Ausbildungsbonus für Betriebe, die zusätzliche Aus- (B) sehen werden muss? (D) bildungsplätze schaffen und mit förderungswürdigen Altbewerberinnen und Altbewerbern besetzen. Andreas Storm, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- Im Übrigen, Frau Präsidentin, war dies ausführlich ministerin für Bildung und Forschung: Gegenstand der vorherigen Regierungsbefragung. Frau Abgeordnete Hirsch, die Bundesregierung ist der Auffassung, dass den Jugendlichen, die sich nicht für ei- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: nen anderen Ausbildungsweg – zum Beispiel im akade- Haben Sie eine Nachfrage, Frau Kollegin? mischen System – entscheiden, als erfolgreicher Start in das Arbeitsleben ein Ausbildungsplatz zur Verfügung gestellt werden sollte. Das ist kein formaler Rechtsan- Cornelia Hirsch (DIE LINKE): spruch, sondern es geht um Startchancen junger Men- Ja, ich habe noch eine Nachfrage dazu. – Es ist mir et- schen. Um dies zu erreichen, haben wir mit der Qualifi- was schleierhaft, wie die Bundesregierung zu einer der- zierungsinitiative eine Fülle von weiteren Maßnahmen art positiven Einschätzung der aktuellen Ausbildungs- ergriffen, um auch den jungen Menschen, die ohne einen lage kommen kann, wenn es doch Realität ist, worauf ich Abschluss schon längere Zeit im Arbeitsleben stehen, bereits in meiner Frage hingewiesen habe, dass im letz- eine zweite Chance dazu zu geben. ten Jahr fast 400 000 Jugendliche schon mindestens ein Jahr lang auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz Im Übrigen ist festzustellen, dass es in der ersten waren. Dazu möchte ich eine Stellungnahme der Bun- Hälfte dieses Jahrzehnts eine besondere Schwächesitua- desregierung hören. tion auf dem Arbeitsmarkt gegeben hat, die dazu geführt hat, dass die Zahl der Ausbildungsplätze deutlich niedri- Andreas Storm, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- ger war als in einer normalen konjunkturellen Situation. ministerin für Bildung und Forschung: Wir gehen davon aus, dass wir in den kommenden Jah- Frau Abgeordnete Hirsch, ich erläutere es Ihnen gern. ren wieder eine ausreichende Zahl von Ausbildungsplät- Wir haben die Altbewerberproblematik insbesondere zen haben werden, um mindestens den aktuellen Bedarf deshalb, weil zu Zeiten der konjunkturellen Schwäche in decken zu können. der ersten Hälfte dieses Jahrzehnts die Arbeitmarktkrise in vollem Umfang auf den Ausbildungsmarkt durchge- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: schlagen war, sodass in diesem Zeitraum nicht in ausrei- Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. chender Zahl Ausbildungsverträge abgeschlossen wer- Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen für die Beantwor- den konnten. In den letzten beiden Jahren war eine tung der Fragen. 15186 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C) ministeriums für Finanzen. Die Frage 5 der Kollegin Haben Sie eine Nachfrage? Dr. Gesine Lötzsch und die Frage 6 des Kollegen Manfred Kolbe werden schriftlich beantwortet. Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun- NEN): desministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Sehr geehrter Herr Staatssekretär, der Verlauf des bis- Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentari- herigen Raumordnungsverfahrens und die einzelnen Verfahren sind mir sehr wohl bekannt. Es ging bei der scher Staatssekretär Ulrich Kasparick zur Verfügung. Frage nicht darum, ob in Bayern ein Raumordnungsver- Die Frage 7 der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch wird fahren stattgefunden hat oder wie dieses Verfahren ver- schriftlich beantwortet. läuft; es ging vielmehr darum, dass – wie es aus Quellen Ihres Hauses heißt – das Bundesverkehrsministerium Ich rufe die Frage 8 des Kollegen Dr. Anton Hofreiter nach Abschluss des Raumordnungsverfahrens eine Be- auf: wertung der Variante C 280 vorgenommen hat. Deshalb Inwiefern ist es zutreffend, dass das Bundesministerium frage ich Sie nach dem Inhalt dieser Bewertung. Denn, für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung eine Bewertung der wie gesagt, wir wissen, dass sie in Ihrem Hause vorliegt. von der Regierung von Niederbayern raumgeordneten Vari- ante für den Donauausbau zwischen Straubing und Vilshofen vorgenommen hat, und wie sieht diese Bewertung aus? Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär beim Bundes- minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Ich kann Ihnen noch einmal die offizielle Meinung Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär beim Bundes- der Leitung des Hauses mitteilen: Die Varianten A, C minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: und D 2 wurden im Rahmen der vertieften Untersuchun- Herr Dr. Hofreiter, ich habe die Beantwortung Ihrer gen im Jahr 2001 Frage für meine Kollegin Roth übernommen. Die Ant- wort lautet wie folgt: Dem Raumordnungsverfahren la- (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bitte nicht!) gen nicht eine, sondern drei Varianten zugrunde, nämlich die Varianten A, C/C 280 und D 2. Die Varianten A, C vom Bund und von Bayern gemeinsam bewertet. Diese und D 2 wurden im Rahmen der sogenannten vertieften Bewertungen sind im Internet öffentlich zugänglich. Al- Untersuchungen im Jahr 2001 vom Bund und von Bay- les andere hat, glaube ich, in diesem Zusammenhang ern gemeinsam bewertet. Die Ergebnisse sind öffentlich keine Relevanz. im Internet unter www.wsv.de nachzulesen. Die Variante C 280 wurde von Bayern ohne Beteiligung des Bundes (B) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (D) aus der Variante C weiterentwickelt. Haben Sie noch eine weitere Frage?

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Haben Sie eine Nachfrage? NEN): Doch, es hat Relevanz. Ich frage Sie: Gibt es eine in- terne Bewertung des Ministeriums der Variante C 280, ja Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- oder nein? NEN): Da meine nächste Frage mit dieser Frage im Zusam- Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär beim Bundes- menhang steht, bitte ich darum, dass der Herr Staatsse- minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: kretär diese Frage auch erst beantwortet. Diese Bewertung ist mir nicht bekannt.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Dann rufe ich die Frage 9 des Kollegen Dr. Anton Gibt es weitere Fragen Ihrerseits, Herr Dr. Hofreiter? Hofreiter auf: Was sind die nächsten Schritte im Verfahren zum Ausbau Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Donau zwischen Straubing und Vilshofen, und wie sind NEN): diese Schritte auf den bestehenden Bundestagsbeschluss zum Ausbau der Donau zwischen Straubing und Vilshofen abge- Herr Staatssekretär, wir haben gerade eine Verhand- stimmt? lung erlebt, bei der es darum ging, dass Herr Staatssekre- tär Machnig mit sehr eindeutigen Aussagen in gewisse Schwierigkeiten gekommen ist. Deswegen: Sind Sie sich Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär beim Bundes- ganz sicher, dass Ihrem Haus eine solche Bewertung minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: nicht vorliegt? Diese Frage beantworte ich wie folgt: Gemäß der in der Sitzung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär beim Bundes- entwicklung des Deutschen Bundestages vom 4. Juli 2007 minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: im Einklang mit dem Beschluss des Deutschen Bundes- Ich kann nur wiederholen, was ich eben gesagt habe: tages bekannt gegebenen Entscheidung von Herrn Mi- Diese Bewertung ist mir nicht bekannt. nister Tiefensee wurde variantenunabhängig ein Förder- antrag bei der Europäischen Kommission eingereicht. (Klaus Hofbauer [CDU/CSU]: Na dann!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15187

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ist es dem in der FAZ vom 14. Februar 2008 geäußerten (C) Frau Kollegin Blank, bitte sehr. Anspruch der Staatsministerin und Beauftragten der Bundes- regierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Dr. Maria Böhmer, deutsche Integrationspolitik beruhe auf Renate Blank (CDU/CSU): der „gleichberechtigten Teilhabe“ der hier lebenden Migran- Herr Staatssekretär, es ist Ihnen doch bekannt, dass tinnen und Migranten, dienlich, wenn die Bundesregierung im Rahmen des Nationalen Integrationsplans keine einzige der Verkehrsausschuss damals – ich glaube, es war 2002 – Selbstverpflichtung übernommen hat, um zum Beispiel die die Variante A mit Mehrheit beschlossen hat und dass es Einbürgerungsmöglichkeiten für hier lebende Migrantinnen auch Gegenstimmen gab. Die entscheidende Frage be- und Migranten zu verbessern, wenn Dr. Maria Böhmer die trifft die variantenunabhängige Anmeldung bei der EU. Einführung des kommunalen Wahlrechts für langjährig hier Herr Staatssekretär, im Antrag ist auch von der Variante lebende Drittstaatsangehörige als „halbe Sache“ ablehnt C 280 die Rede. Ist Ihnen das bekannt, vielleicht nicht (ebenda) bzw. wenn türkische Staatsangehörige durch das von der Großen Koalition verschärfte Zuwanderungsgesetz – im persönlich, wohl aber Ihrem Haus? Vergleich zu zum Beispiel Staatsangehörigen aus den USA, aus Japan oder Honduras – im Hinblick auf den Ehegatten- Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär beim Bundes- nachzug benachteiligt werden (vergleiche § 41 der Aufent- minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: haltsverordnung)? Ich kann an dieser Stelle nur noch einmal sagen – das Frau Staatsministerin, bitte. war mein einleitender Satz –: Ich habe diesen Vorgang von der Kollegin Roth vor fünf Minuten übernommen. Ich sage Ihnen gerne zu, dass wir alle weiteren konkre- Dr. Maria Böhmer, Staatsministerin bei der Bundes- ten Fragen schriftlich beantworten. kanzlerin: Ich darf die Frage 14 wie folgt beantworten: Ziel der Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Integrationspolitik der Bundesregierung ist die gleichbe- Eine Frage hat der Kollege Winkler. rechtigte Teilhabe der Migrantinnen und Migranten am sozialen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben. Dieses Ziel verfolgt die Bundesregierung nicht Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zuletzt mit dem Nationalen Integrationsplan. Er dient NEN): mit vielen seiner Selbstverpflichtungen der Verbesse- Danke, Frau Präsidentin. – Ich möchte an die Frage rung der Integration und damit unmittelbar dem Ziel, von Herrn Dr. Hofreiter anschließen. Wenn Ihnen eine solche Bewertung nicht bekannt ist, wäre es Ihnen mög- eine spätere Einbürgerung zu erleichtern. Den Zielzu- lich, einen solchen Vorgang, wenn er Ihrem Haus be- sammenhang von Integration und Einbürgerung bestätigt (B) kannt ist bzw. stattgefunden hat, in schriftlicher Form § 10 Abs. 3 des Staatsangehörigkeitsgesetzes. (D) mitzuteilen, ja oder nein? Eine gelungene Integration drückt sich am stärksten in der Beantragung der deutschen Staatsangehörigkeit Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär beim Bundes- aus. Sie verleiht nicht nur das kommunale, sondern das minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: allgemeine Wahlrecht auf allen staatlichen Ebenen. Die Wie Sie wissen, haben wir im Ministerium einen Ge- Bundesregierung wirbt dafür, dass die in Deutschland le- schäftsverteilungsplan, aus dem die inhaltliche Zustän- benden ausländischen Staatsangehörigen sich verstärkt digkeit der Parlamentarischen Staatssekretäre resultiert. um ihre Einbürgerung bemühen. Die Beauftragte wird in Ich werde der Frage von Herrn Dr. Hofreiter im Ressort Kürze mit einer Einbürgerungsbroschüre über die novel- nachgehen. Sie bekommen dann eine entsprechende lierte Gesetzeslage aufklären und Migrantinnen und Mi- Antwort. granten zur Einbürgerung ermutigen.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Von Zuwanderern, die im Rahmen des Ehegatten- Die Frage 10 des Kollegen Rainder Steenblock wird nachzugs nach Deutschland kommen, sollte grundsätz- schriftlich beantwortet. lich erwartet werden können, dass sie sich bereits vor der Einreise auf die anstehende Integration angemessen vor- Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des bereiten. Dazu gehört der Erwerb deutscher Sprach- Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwick- kenntnisse. Eine Befreiung vom Nachweis einfacher lung. Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen für die Beant- deutscher Sprachkenntnisse vor der Einreise gilt unter wortung. anderem für Ehegatten von Ausländern, die auch für län- Wir kommen nun zum Geschäftsbereich der Bundes- gere Aufenthalte visumfrei einreisen können und einen kanzlerin und des Bundeskanzleramtes. Für die Beant- Aufenthaltstitel erst im Bundesgebiet beantragen müs- wortung der Fragen steht Frau Staatsministerin Professor sen. Die Befreiung knüpft damit an die bereits vor der Dr. Maria Böhmer zur Verfügung. Änderung des Ehegattennachzugs durch das Richtlinien- Umsetzungsgesetz bestehende Vergünstigung im Visum- Die Fragen 11 und 12 des Kollegen Christoph Waitz verfahren für Angehörige bestimmter Staaten nach der werden schriftlich beantwortet, ebenso die Frage 13 des sogenannten Staatenliste nach § 41 der Aufenthaltsver- Kollegen Rainder Steenblock. ordnung an. Bei den Staaten dieser Staatenliste handelt Damit rufe ich nun die Frage 14 des Kollegen Josef es sich um solche, zu denen Deutschland enge wirt- Philip Winkler auf: schaftliche Beziehungen pflegt. 15188 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Dr. Maria Böhmer, Staatsministerin bei der Bundes- (C) Herr Kollege, haben Sie eine Nachfrage? – Bitte sehr. kanzlerin: Lieber Kollege Winkler, bei der gleichberechtigten Teilhabe, wenn es um die politischen und die staatsbür- Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gerschaftlichen Möglichkeiten und speziell um Wahlen NEN): geht, habe ich sehr bewusst gesagt, dass man nicht bei Danke, Frau Präsidentin. – Danke, Frau Staatsminis- halben Sachen stehen bleiben soll; denn eine Reduzie- terin, für die Antwort. Habe ich Sie jetzt richtig verstan- rung dieser gleichberechtigten politischen Teilhabe nur den, dass Sie von Ihrem in dem Interview mit der Frank- auf die Kommunalwahl wäre mir zu wenig. Ich bin des- furter Allgemeinen Zeitung geäußerten Satz, dass halb dafür, für die Einbürgerung zu werben, weil mit der deutsche Integrationspolitik auf der gleichberechtigten Einbürgerung alle Rechte und Pflichten als Staatsbürger Teilhabe der hier lebenden Migrantinnen und Migranten verbunden sind. Das heißt, dass die Bürger nicht nur das beruhe, Abstand nehmen? Denn Sie haben gerade ge- aktive, sondern auch das passive Wahlrecht haben und sagt, dass das am Ende des Integrationsprozesses für ei- dieses nicht auf den kommunalen Bereich beschränkt ist. nige von den Migranten infrage kommt und Sie das un- Deshalb, so glaube ich, ist meine Sichtweise sehr viel terstützen wollen. Gleichzeitig scheidet dann die umfassender, als Sie es dargestellt haben. gleichberechtigte Teilhabe für die anderen ebenfalls hier zu integrierenden Ausländer aus. Das ist ein logischer Ich sehe nicht, dass wir mit den Regelungen zum ers- Widerspruch. ten Spracherwerb im Herkunftsland die Integration er- schweren. Im Gegenteil: Wir erleichtern sie; denn alle Informationen – ich war selbst in der Türkei – belegen, Dr. Maria Böhmer, Staatsministerin bei der Bundes- dass die Möglichkeiten für den ersten Spracherwerb in kanzlerin: der Türkei sehr freudig aufgenommen werden. Ich war Herr Kollege Winkler, ich sage zu der Frage, ob ich bei einem Sprachkurs im Goethe-Institut in Ankara, und Abstand nehme, ganz klar: Nein. Die gesamte Integra- ich habe dort Teilnehmerinnen und Teilnehmer erlebt, tionspolitik der Bundesregierung ist auf gleichberech- die mit großer Freude die deutsche Sprache erlernt ha- tigte Teilhabe ausgerichtet. Ich habe am Anfang in mei- ben. Sie waren sicher, dass sie relativ schnell nach nem ersten Satz, den Sie mit Sicherheit verfolgt haben, Deutschland kommen. Der Sprachkurs dauert circa drei von der gleichberechtigten Teilhabe der Migrantinnen Monate. Das heißt, es wird niemand gehindert, zum Ehe- und Migranten am sozialen, am gesellschaftlichen, poli- gatten zu ziehen. Im Gegenteil: Es ist eine gesetzliche tischen und kulturellen Leben gesprochen. Das ist ein Regelung, die die Integrationschancen in Deutschland sehr umfassender Begriff der gleichberechtigten Teil- deutlich verbessert und nicht erschwert. (B) habe. Deshalb haben wir auch einen sehr umfassenden (D) Nationalen Integrationsplan aufgelegt, der sich an alle Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: der circa 15 Millionen Menschen aus Zuwandererfami- Zu einer Nachfrage erteile ich nun noch das Wort dem lien in unserem Land richtet. Da wird keiner ausge- Kollegen Dr. Keskin. schlossen. Im Gegenteil: Wir wenden uns an alle und be- ziehen alle ein. Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE): Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Ministerin, Sie haben zu Recht von der Bedeu- tung der Einbürgerung, also des Erwerbs der deutschen Eine weitere Nachfrage? – Bitte. Staatsbürgerschaft, gesprochen. Dieser Schritt ist wich- tig, damit sich die betreffenden Menschen nicht mehr als Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Nichtdeutsche, als Ausländer in diesem Land aufhalten, NEN): sondern gleichberechtigt hier leben. Von 1999, als das neue Einbürgerungsrecht in Kraft getreten ist, bis 2007 Danke, Frau Präsidentin. – Frau Staatsministerin, wie hat sich die Zahl der Einbürgerungen – ich könnte Ihnen bewerten Sie denn vor dem Hintergrund dessen, was Sie die genauen Zahlen nennen; sie sind Ihnen sicherlich be- gerade gesagt haben, die Kritik einer Vielzahl von Ver- kannt – aber mehr als halbiert. Weshalb? Weil mit dem bänden und Organisationen an den Maßnahmen zur Er- neuen Einbürgerungsrecht erhebliche Erschwernisse bei schwerung der Einbürgerung im letzten Jahr, die Sie be- der Einbürgerung in Kraft getreten sind. Sie vertreten fürwortet haben und die Gesetz wurden, und an Ihrer Ihre Meinung aufrichtig. Meinen Sie nicht, dass in die- Äußerung, dass das kommunale Wahlrecht für langjährig sem Bereich Handlungsbedarf besteht? Müsste man hier lebende Drittstaatenangehörige eine halbe Sache nicht nachprüfen, was diese Erschwernisse sind und was sei, die Sie nicht befürworteten? Wie bewerten Sie, dass man hier machen könnte und müsste? viele Verbände bei dieser Regelung in dem Gesetz – Sie haben sie selbst genannt –, nämlich dem Deutscherwerb vor der Einreise, von einer Antitürkeiklausel gesprochen Dr. Maria Böhmer, Staatsministerin bei der Bundes- haben, weil jemand, der zum Beispiel aus Honduras kanzlerin: kommt, überhaupt keine Probleme mit dem Ehegatten- Herr Kollege, ich habe schon einmal gesagt, dass ich nachzug hat, aber jemand, der aus der Türkei kommt, in- mich mit einer Einbürgerungsbroschüre im Sinne der Er- zwischen sehr große Probleme hat, sehr viel Geld auf- mutigung zur Einbürgerung an die vielen Migrantinnen wenden und sehr lange reisen muss? und Migranten in unserem Land wende. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15189

Staatsministerin Dr. Maria Böhmer (A) Ich glaube, es ist noch ein Wort zu den Zahlen not- Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des (C) wendig. Ich will Ihnen deshalb einige der Zahlen nen- Auswärtigen: nen. Die Einbürgerungszahlen haben sich seit 2000 nach Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und anfänglichem Rückgang auf hohem Niveau stabilisiert. Herren! Mit Freudenfesten haben die Kosovo-Albaner in Im Jahr 2006 sind sie im Vergleich zum Vorjahr sogar diesen Tagen die Geburt ihres Landes als unabhängiger um 6,2 Prozent gestiegen. Wir haben hier also einen An- Staat gefeiert. Ich denke, wir müssen die Freude der stieg. Die Einbürgerungszahlen der vergangenen Jahre Menschen nach den Jahrzehnten der Gängelung, der liegen deutlich über denen, die Mitte der 90er-Jahre ver- Missachtung und der Unterdrückung verstehen. zeichnet werden konnten. (Beifall des Abg. [SPD]) Ließen sich zwischen 1995 und 1999 im Durchschnitt Ich sage auch: Die Menschen im Kosovo müssen ih- nur 98 261 Ausländer in Deutschland einbürgern, so lag rerseits verstehen, dass wir Europäer mit gemischten Ge- diese Zahl in dem Fünfjahreszeitraum zwischen 2002 fühlen, auch mit Sorge auf ihr neues Land blicken. Wir und 2006 bei 132 848 Ausländern. Das ist unbestritten haben die brennenden albanischen Fahnen in Mitrovica höher als zuvor. Durch die Staatsangehörigkeitsreform gesehen. Wir haben gewaltsame Demonstrationen und 1999 und 2000 sind die Voraussetzungen zur Erleichte- Tränengas in Belgrad gesehen. Unsere gemischten Ge- rung der Staatsangehörigkeit zudem in einigen wichtigen fühle müssen die Menschen im Kosovo deshalb verste- Bereichen erleichtert worden. Die besonders hohen Ein- hen, weil aus unserer Perspektive Grenzen in Europa bürgerungszahlen aus den Jahren 2000 und 2001 sind ihre trennende Wirkung eigentlich verlieren sollten. auch auf reformbedingte Sondereffekte, das heißt den Abbau von Altfällen, zurückzuführen. Insofern haben (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie wir einen Anstieg zu verzeichnen. Ich bitte, das endlich bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE einmal zur Kenntnis zu nehmen. GRÜNEN) (Dr. Hakki Keskin [DIE LINKE]: Darf ich Ich habe in einem der vielen Leitartikel aus den ver- eine Zwischenbemerkung machen?) gangenen Tagen gelesen: Vielleicht war ein neuer Klein- staat auf dem westlichen Balkan im Ursprung nicht das Wunschkind der Weltgemeinschaft. – All diejenigen, die Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: das sagen, haben recht. Aber ich erinnere daran: Neun Nein. Wir haben den zeitlichen Rahmen der Frage- Jahre insgesamt haben wir uns um eine einvernehmliche stunde ohnehin schon etwas überzogen, Herr Kollege. Lösung bemüht. Eine einvernehmliche Lösung hätten Deshalb bitte ich um Verständnis dafür, dass ich hier alle lieber gesehen als das Prozedere, das wir jetzt vor uns haben. Sie war aber nicht möglich. (B) jetzt Schluss mache. (D) (Dr. Hakki Keskin [DIE LINKE]: Die Zahlen Darum ist jetzt unsere Verantwortung gefordert, in ei- sind nicht korrekt wiedergegeben!) ner Situation, in der wir uns nicht in Enthaltung flüchten können, selbst wenn einige das möchten. Jetzt müssen Die restlichen Fragen, also die Fragen 15 bis 43, wer- wir mit aller Kraft gemeinsam versuchen, den Kosovo den schriftlich beantwortet. Frau Staatsministerin, ich und seine Menschen zu unterstützen und – das sage ich, danke Ihnen herzlich für die Beantwortung der Fragen. obwohl ich weiß, aus welcher Situation wir dort kom- men – das Beste daraus zu machen. Das Beste heißt: ei- Wir sind am Ende der Fragestunde, wie vereinbart. nen demokratischen Rechtsstaat zu schaffen, europäi- sche Werte im Kosovo, aber nicht nur dort, sondern auf Die Fraktionen sind übereingekommen, heute eine dem gesamten westlichen Balkan, durchzusetzen. Ich vereinbarte Debatte zur Zukunft des Kosovos nach der sage noch einmal: Nur das ist am Ende das Fundament Unabhängigkeitserklärung – Zusatzpunkt 1 – durchzu- für Stabilität und fairen Ausgleich in der gesamten Re- führen. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann gion und nicht nur im Kosovo. verfahren wir so. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich rufe den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt 1 auf: Das ist der Grund, dass sich die Bundesregierung Vereinbarte Debatte heute in ihrer Kabinettssitzung entschlossen hat, den Ko- sovo als unabhängigen Staat anzukennen. Ich sehe darin Zukunft des Kosovos nach der Unabhängig- – das habe ich auch am Montag in Brüssel gesagt – den keitserklärung Schlusspunkt aus dem – teilweise gewaltsamen – Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens und nicht einen Sonder- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für fall. Das sollte für uns alle der Ausgangspunkt europäi- die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich scher Politik sein. Wir Europäer müssen beweisen, dass sehe dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so ver- wir in der Lage sind, die Konflikte auf unserem Konti- fahren. nent wirklich dauerhaft und vor allen Dingen wirksam Als erstem Redner in der Aussprache erteile ich das zu lösen. Wort für die Bundesregierung Herrn Bundesminister (Beifall des Abg. Markus Meckel [SPD]) Frank-Walter Steinmeier. Wir sind dabei in den letzten 15 Jahren weiter gekom- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) men, als manche meinen. Es gab damals nur wenige, die 15190 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) gesagt haben: Was sich auf dem Balkan ereignet, ist ei- Führung in Russland, in dieser Situation besonnen zu (C) gentlich keine Angelegenheit von Außenpolitik, sondern bleiben. Wir alle hätten – lassen Sie mich das noch ein- ist europäische Innenpolitik. – Das war eine Position, die mal sagen – uns lieber eine Lösung gewünscht, in die die vor 15 Jahren noch allerhöchstes Erstaunen ausgelöst Positionen Russlands stärker einbezogen gewesen wä- hat, heute aber – ich finde, darüber sollte man nicht un- ren. Am Ende waren wir aber in einer Situation, in der glücklich sein – sehr viel selbstverständlicher geworden eine Güterabwägung zwischen Frieden und Stabilität in ist. der jetzigen Situation vorzunehmen war. Es ging um Frieden und Stabilität jetzt und nicht irgendwann in fer- Seit 13 Jahren – daran ist zu erinnern – leisten deut- ner Zukunft. Nach dieser Güterabwägung durften wir sche Soldaten in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo den Lauf der Geschichte jetzt nicht länger aufhalten; jeden Tag Dienst am Frieden. Das heißt auch: Seit neun denn die Risiken sind Ihnen allen, meine Damen und Jahren schweigen dort die Waffen. Ich vergesse nicht Herren, bekannt. – viele von Ihnen auch nicht – die Gräueltaten, die Men- schen dort einander angetan haben. Ich bin froh darüber, Ich erinnere hier und auch gegenüber Russland an die dass auch auf dem westlichen Balkan – das haben meine vorangegangenen mehrjährigen Beratungen über den zu- vielen Gespräche in der Region in den vergangenen Jah- künftigen Status des Kosovos innerhalb der internationa- ren gezeigt – immer mehr Menschen nach vorn schauen, len Kontaktgruppe. Gemeinsam mit Russland wurde darauf hoffen, irgendwann als gleichberechtigte Mitglie- Ahtisaari als Chefverhandler für die Vereinten Nationen der am Tisch der europäischen Nationen zu sitzen und ausgewählt. Ich erinnere an unseren Vorschlag, nachdem damit eine konkrete Perspektive für Frieden, Prosperität die Verhandlungen nicht zu einem glücklichen Ende ge- und vor allen Dingen besseres Leben zu haben. führt werden konnten, direkte Verhandlungen zwischen Serbien und dem Kosovo ein weiteres Mal zu ermögli- Sie haben die Bemühungen der europäischen Außen- chen. Wir haben für 120 Tage intensiver Verhandlungen minister am vergangenen Montag und insbesondere die zwischen Serbien und dem Kosovo geworben und sie er- Berichterstattung darüber zur Kenntnis genommen. Es möglicht, und zwar mit Vorschlägen, die wir teilweise ist gelungen, eine gemeinsame europäische Plattform zu unserer eigenen Geschichte entnommen haben, mit Ver- finden, trotz der sehr unterschiedlichen Ausgangspunkte weis auf einen Grundlagenvertrag, der nach unserer An- der 27 Mitgliedstaaten. Es ist gelungen, in dieser ge- sicht die Grundlage für eine Partnerschaft in der Region meinsamen Plattform die gemeinsame europäische Ver- hätte bieten können. Alle diese Vorschläge haben wir antwortung auf dem westlichen Balkan zum Ausdruck engagiert über Botschafter Ischinger in die Verhandlun- zu bringen. gen eingebracht. Sie kennen das Ergebnis: Es ist uns am Mit Blick darauf, dass viele geschrieben haben: „Das Ende nicht gelungen. (B) (D) ist der kleinste gemeinsame Nenner“, sage ich: Ja, das ist Jetzt müssen wir ehrlich sein. Es gibt Situationen, in der kleinste gemeinsame Nenner. Nur bestand leider denen man anerkennen muss: Es geht nicht weiter. Ich nicht die Auswahl zwischen dem größten und dem sage all denjenigen, die immer noch die Vorstellung ha- kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern nur die Aus- ben, durch noch längeres Verhandeln wäre man zu einem wahl zwischen dem kleinsten gemeinsamen Nenner und Ergebnis gekommen: Leider ist das nicht der Fall. nichts, und was das für die europäische Außenpolitik und ihre Zukunft bedeutet hätte, meine Damen und Her- Der Präsident des Kosovo hat uns in jenem Schreiben, ren, muss ich Ihnen nicht sagen. Deshalb bitte ich wert- in dem er uns zur Anerkennung seines Landes auffor- zuschätzen, dass sich die 27 Mitgliedstaaten zu einer ge- dert, ausdrücklich zugesichert, dass der neue Staat sich meinsamen Position zusammengefunden haben, die an die Klauseln des Plans der Vereinten Nationen halten natürlich nicht das bilaterale Anerkennungsverfahren er- wird, also an demokratische Prinzipien, an die Einhal- setzen kann, das aber auch nie wollte. tung der Menschenrechte und an den Schutz der Minder- heitenrechte für die Serben. Er hat zugesichert, dass das Besonnenheit und Vernunft sind jetzt das Gebot der Kosovo einer internationalen Supervision, einer breit an- Stunde. Ich habe der Führung der Kosovo-Albaner aus- gelegten EU-Mission zur Förderung des demokratischen gerichtet und ich sage auch den Verantwortlichen in Ser- Rechtsstaats nach europäischen Werten, zustimmt. In bien: Lassen Sie uns in diesen Tagen und in der kom- beiden Punkten werden wir – das versichere ich Ihnen – menden Zeit die Gespenster der Vergangenheit ruhen! den neuen Staat und seine Führung beim Wort nehmen. Gehen Sie mit uns den friedlichen Weg nach Europa! Arbeiten Sie mit uns gemeinsam an einer Region der Das bedeutet aber auch, dass wir Europäer uns jetzt Kooperation und der Zusammenarbeit, in der nicht mehr an unsere eigene Verantwortung gegenüber Kosovo-Al- wie in der Vergangenheit das Blutvergießen das Leben banern und Serben erinnern und sie ernst nehmen. Dabei der Kinder und zukünftiger Generationen bestimmt! Ich sehe ich auch Deutschland neben den anderen europäi- glaube, das ist die Hauptsache. schen Staaten in der Pflicht. Wir werden uns deshalb in Zukunft nicht nur mit Tausenden von Bundeswehrsolda- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der ten im Kosovo engagieren, sondern uns mit Polizisten, FDP) Richtern, Staatsanwälten und Regierungsberatern auch zu einem beträchtlichen Teil an der zivilen EU-Mission Ich richte mich hier in diesem Hause auch an die beteiligen müssen. Adresse Russlands. Obwohl wir am Ende trotz vieler ge- meinsamer Bemühungen die Meinungsverschiedenhei- Dies alles, meine Damen und Herren, halte ich für un- ten nicht haben ausräumen können, appelliere ich an die sere Verpflichtung, damit Frieden auf dem westlichen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15191

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) Balkan wirklich gelingt. Es liegt darüber hinaus auch in bart worden ist. Darin steckt ja überhaupt eine der we- (C) unserem ureigensten Interesse an Frieden in Deutschland sentlichen Schwierigkeiten: Es geht nicht nur um das und in ganz Europa. Deshalb hoffe ich auf breite Unter- Kosovo selber. stützung hier im Hause. Ich bin fest davon überzeugt: Wir dürfen uns jetzt nicht in die Büsche schlagen, son- Wenn wir heute zurückblicken und auflisten, was in dern wir müssen wie die 17 anderen europäischen Staa- der letzten Zeit alles falsch gelaufen ist und was nicht er- ten, die unmittelbar nach den Beschlüssen vom vergan- reicht worden ist, dann müssen wir doch bis auf das Frie- genen Montag das Anerkennungsverfahren eingeleitet densabkommen von Dayton zurückgehen und uns in die- haben, Unterstützung in einer schwierigen Situation leis- sem Hause auch eine ganz wesentliche Entscheidung in ten. Diese müssen wir wirklich leisten. Erinnerung rufen, die wir in einer einzigartigen Über- gangszeit im Deutschen Bundestag 1998 getroffen ha- Herzlichen Dank. ben: Als meine Kollegen und ich noch auf der Regie- rungsbank saßen, obgleich die Wahlen schon eine neue (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Mehrheit gebracht hatten, da haben wir gemeinsam eine bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE verantwortliche Entscheidung zum Thema Kosovo her- GRÜNEN) beigeführt. Bis in diese Zeiten zurück gehen die Folgen, mit denen wir uns jetzt herumschlagen müssen. Ich Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: glaube, für Besserwisserei ist in dieser Situation wenig Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer für Platz. die FDP-Fraktion. Es ist schon klar, dass all die Probleme, die wir in (Beifall bei der FDP) Bosnien-Herzegowina hatten und haben, die wir mögli- cherweise auch noch einmal mit Mazedonien bekommen Dr. Werner Hoyer (FDP): werden – wer weiß – und die wir jetzt im Kosovo haben, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! mit dem Abschmelzen der Eisdecke zu tun haben, die Die Bundesregierung hat heute Morgen eine außer- ein halbes Jahrhundert lang über dem Balkan und insbe- ordentlich schwerwiegende, eine außerordentlich sondere über Jugoslawien gelegen hat. Sämtliche Kon- schwierige Frage beantwortet und eine entsprechende flikte, die es schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts Entscheidung getroffen. Ich bin sicher, dass die nieman- und davor gegeben hat, werden jetzt nach dem Ab- dem am Kabinettstisch leichtgefallen ist. Auch keinem schmelzen dieser Eisdecke plötzlich sichtbar. Wundern von uns, die wir heute hier darüber debattieren, fällt die wir uns doch nicht darüber, dass es jetzt nicht gelingt, Bewertung leicht. Wir als Liberale sind bei dem, was wir nachdem alle Lösungsversuche in den letzten 150 Jahren (B) heute zu kommentieren haben, außerordentlich problem- nicht funktioniert haben, etwas Perfektes auf den Tisch (D) bewusst. Unter dem Strich kommen wir aber zu dem Er- zu legen. gebnis, dass die Bundesregierung bei allen Details, über In die Aufarbeitung der Vergangenheit, der wir uns die wir noch streiten mögen, eine wahrscheinlich unver- selbstkritisch stellen müssen, gehört auch die Forderung meidbare Entscheidung getroffen hat, eine Entschei- an unsere Partner auf dem Balkan und speziell in Ser- dung, die möglicherweise die am wenigsten schlechte bien, die eigene Vergangenheit kritisch zu reflektieren. unter vielen unbefriedigenden Lösungen darstellt. Es ist doch, auch wenn es darum geht, welche möglichen Es treten jetzt sehr viele auf den Plan, die uns sagen, Lösungen für die Kosovo-Albaner zumutbar wären, eine warum das alles schwierig und vielleicht sogar falsch ist. der Schwierigkeiten, dass von Belgrad eigentlich wenig Es treten viele exzellente Analytiker und Beobachter Bereitschaft zu erkennen gewesen ist, über die eigene auf, es treten aber auch Besserwisser auf, deren Argu- Vergangenheit Rechenschaft abzulegen und das eine mentation bei allen Stärken im Detail insgesamt eine oder andere vielleicht zu bedauern. große Schwäche hat, nämlich: Sie zeigt keine Alternati- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ ven auf, die wirklich tragen würden. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten CDU/CSU und der SPD) der CDU/CSU und der SPD) Das, was der australische Premierminister Rudd nach Wir alle wissen zum Beispiel um die Problematik, die Jahrzehnten des Aufkochens von Missverständnissen sich an großalbanische Träume anknüpft. Wir alle wis- und Unmut in Australien auf den Weg gebracht hat, sen auch um die Problematik, die die gigantische organi- nämlich die Entschuldigung gegenüber den Ureinwoh- sierte Kriminalität, die vom Kosovo ausgeht, betrifft. nern, könnte für manchen in Europa vielleicht Vorbild Die gibt es übrigens mit und ohne Anerkennung des sein. Kosovos als selbstständiger Staat. Wenn wir schon die Historie bemühen, dann kommen Wir wissen, dass wir die europäische Friedensord- wir an ein paar historischen Wahrheiten nicht vorbei, de- nung nach dem Kalten Krieg auf Kurs halten müssen nen wir uns stellen müssen. Erstens haben wir ganz und dass das, was in der Schlussakte von Helsinki steht, offensichtlich das hehre Ziel der Schaffung einer mul- nicht falsch ist, bloß weil wir wie schon früher bei der tiethnischen Gesellschaft im Kosovo nicht erreicht. Im Aufarbeitung der Vergangenheit des früheren Jugosla- Kosovo gilt ebenso bitter wie für Bosnien-Herzegowina: wien hier eine Entscheidung treffen müssen, die auf den Wir haben damals gigantische Anstrengungen unterneh- ersten Blick nicht zu dem passt, was in Helsinki verein- men müssen und unseren Soldaten, Polizisten, Beamten, 15192 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

Dr. Werner Hoyer (A) NGOs, Zivilorganisationen aufgeben müssen, weil wir haben, der nach meiner Auffassung mehr Chancen gebo- (C) die ethnischen Säuberungen und das Morden nicht ak- ten hätte als das, was jetzt als einzige Möglichkeit übrig zeptieren konnten, wollten und durften. Jetzt da wir dort geblieben ist. Deswegen geht unser Dank an Wolfgang sind – auch militärisch, mit anderem Personal und mit Ischinger. Politik –, hat man den Eindruck, das Ergebnis einer eth- nischen Säuberung wird, nur mit umgekehrten Vorzei- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der chen, militärisch abgesichert. Das kann es nicht sein. So SPD) haben wir uns unser Engagement auf dem Balkan nicht Viertens. Was Russland angeht, möchte ich sagen, vorgestellt. dass ich niemandem auf den Leim gehe. Aber man kann Wir hängen jetzt unsere Hoffnungen an einen Stroh- nicht alle Argumente, die aus Moskau kommen, von halm, an eine Selbstverständlichkeit, nämlich die des vornherein vom Tisch wischen. Was die rechtliche Schutzes der serbischen Minderheit. Wir werden genau- Dimension angeht, kann man vielleicht noch ein paar estens darauf achten müssen, dass dieser Teil des Brücken bauen; das habe ich eben dargestellt. Wir haben Ahtisaari-Plans im Bewusstsein aller Handelnden hän- versucht, an der völkerrechtlichen Beratung teilhaben zu gen bleibt, und müssen unsere kosovarischen Partner, können, nachdem die Bundesregierung entschieden hat, die dort jetzt eine Regierung bilden, auch daran messen, ihr Rechtsgutachten dem Bundestag und den zuständi- ob sie diesen Verpflichtungen gerecht werden. gen Ausschüssen nicht zur Verfügung zu stellen. Ich be- daure das sehr. Denn es kann nicht sein, dass wir uns vor (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ dem Verfassungsgericht sehen, weil die Kommunisten DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der klagen, um erst dann zu erfahren, welche Rechtsgrund- CDU/CSU und der SPD) lage die Bundesregierung zur Basis ihres Handelns ge- Wir müssen uns vielleicht auch fragen, ob wir insofern macht hat. unsere Möglichkeiten überschätzt haben, das zu verhin- (Beifall bei der FDP) dern, was in den letzten zehn Jahren passiert ist. Wir müssen die Besorgnis der Russen ernst nehmen, Vor dem Hintergrund wird auch die Einzigartigkeit dass wir hier der Erosion der Schlussakte von Helsinki des Falles Kosovo klar. Denn so schwierig die Situation das Wort reden und dass das Russland eines Tages selber von einigen Volksgruppen, die auf ihr Selbstbestim- treffen könnte – und nicht nur deswegen, weil wir den mungsrecht rekurrieren, auch sein mag: Das, was den Russen keinen Vorwand liefern wollen, möglicherweise Kosovo-Albanern in den letzten Jahrzehnten zugefügt irgendwo anders zu zündeln, sondern auch deswegen, worden ist, können sie nicht für sich reklamieren und weil Russland in der Tat ein paar ernste Sorgen auf die- brauchen es Gott sei Dank auch nicht. Insofern möchte (B) sem Gebiet hat. (D) ich jenseits der sogenannten Sui-generis-Debatte sagen: Machen wir uns nicht verrückt; der Kern der Schlussakte Die völkerrechtliche Dimension wird uns in den von Helsinki steht für uns Liberale, die wir kräftig daran nächsten Wochen noch stark beschäftigen. Wir sind nach mitgearbeitet haben, nicht zur Disposition. sorgfältigen Überlegungen zu dem Ergebnis gekommen, dass die Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrates tragen Zweitens müssen wir selbstkritisch feststellen, dass kann, wenngleich man sich ganz schön anstrengen muss, das Konzept „Standards vor Status“ für das Kosovo die- um das hinzubekommen. sen nicht auf jenen Level von Rechtsstaatlichkeit, De- mokratie und wirtschaftlicher Überlebensfähigkeit aus (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: eigener Kraft gebracht hat, den wir uns vorgestellt hat- Allerdings!) ten. Das Kosovo wird noch lange am Tropf der UNO, Aber ich komme zu dem Ergebnis, dass man die Resolu- der NATO und insbesondere der Europäischen Union tion 1244 als ein geschlossenes Konstrukt betrachten hängen, mit allen Problemen und Verantwortlichkeiten, muss. Man muss eine stabile Brücke bauen und klarstel- die damit verbunden sind. Ich habe, offen gesagt, auch len, dass das, was in der Resolution 1244 des UN- Zweifel daran, ob die Einschätzung wirklich richtig war, Sicherheitsrates auch niedergelegt ist, nämlich das Recht dass die ungelöste Statusfrage die Entwicklung der Stan- Serbiens auf Sicherheitspräsenz im Norden des Kosovo dards endgültig behindert hat. Aber das werden die His- bei den eigenen Volksgruppen, tatsächlich gilt. Die toriker eines Tages zu bewerten haben. Frage, wie man das erreichen will, erfordert noch Ant- Drittens. Wir haben in der europäischen und über- worten, die wir von der Bundesregierung und denen, die europäischen Verhandlungsstrategie darauf gesetzt, dass jetzt Verantwortung tragen, insgesamt erwarten. Russland am Ende doch mitgehen würde und dass die Sie merken, wir Liberale tun uns schwer, die Unab- Europäische Union am Ende eine gemeinsame Haltung hängigkeit im Rahmen einer einfachen Entscheidung ab- zustande bringen würde. Beide Annahmen haben sich segnen zu wollen. Wir würden uns aber vor der Ent- nicht erfüllt. Ich denke, wir müssen noch einmal prüfen, scheidung drücken, wenn wir sagen würden: Wir sehen wie es kommen konnte, dass die handelnden Regierun- Schwierigkeiten; deswegen schrecken wir vor einer Ant- gen das offenbar so falsch eingeschätzt haben. wort, die jetzt gegeben werden muss, zurück. Wir sollten In diesem Zusammenhang ist es aus deutscher Sicht vielmehr den Blick in die Zukunft richten und die Erwar- in der Tat ein Lichtblick, Herr Minister, dass wir aufbau- tungen äußern, die wir an die Kosovaren haben. Einige end auf der Kreativität, die Wolfgang Ischinger in diesen wie zum Beispiel den Schutz der Minderheiten und die Prozess eingebracht hat, zumindest einen Weg gewiesen Bekämpfung der Kriminalität habe ich schon genannt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15193

Dr. Werner Hoyer (A) Wir haben natürlich auch die Erwartung an die Serben, Um den von serbischer und russischer Seite geäußer- (C) dass sie besonnen reagieren. Ich unterstütze das, was der ten Zweifeln, dass auch wirklich alles versucht worden Minister diesbezüglich gesagt hat. ist, um zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen, Rechnung zu tragen, haben die Troika-Verhandlungen Ich habe auch Erwartungen an die Europäer, nämlich unter Beteiligung der USA, Russlands und der Europäi- dass sie jetzt auf Russland zugehen und sich ernsthaft schen Union – sie wurde durch Botschafter Ischinger darum bemühen, Russland klarzumachen, dass wir kein vertreten – stattgefunden. Dabei wurde über alle denkba- Interesse an einer Desintegration Russlands und einer ren Modelle diskutiert, und zwar neben dem von Ihnen, Verwischung dessen, was in der Schlussakte von Hel- Herr Steinmeier, erwähnten deutsch-deutschen Grundla- sinki steht, haben. genvertrag über die Zypern-Regelung und die Hong- kong-Lösung, ohne dass es zu einem Ergebnis kam. Ich erwarte auch, dass wir Europäer auf die Serben Heute müssen wir feststellen: Alle Möglichkeiten sind – und nicht nur auf die Kosovaren – zugehen und ihnen ausgeschöpft worden, und es gibt keinen Grund, anzu- klarmachen, dass sie jetzt nicht auch noch die europäi- nehmen, dass weitere Verhandlungen noch irgendwelche sche Perspektive verlieren dürfen, nachdem sie nicht zu- Erfolgsaussichten geboten hätten. Das hat übrigens auch letzt durch das eigene Verhalten das Kosovo verloren ha- der russische Vertreter der Troika festgestellt. ben. Um in diesem Punkt glaubhaft zu sein, müssen wir Wer in dieser Situation weitere Verhandlungen for- uns um die jungen Menschen in Serbien bemühen, die dert, will in Wirklichkeit keine Lösung, sondern die Sta- noch jetzt von den Entwicklungen in der Europäischen tusfrage in einem Schwebezustand halten. Union abgeschnitten sind und die in den letzten zehn Jahren einen großen Rückstand haben hinnehmen müs- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie sen. Laden wir sie nach Europa ein, aber nicht, indem bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE wir die Europäische Union für Serbien ohne Beachtung GRÜNEN) der Kopenhagener Beitrittskriterien öffnen, sondern in- Das aber liegt nicht in unserem Sicherheitsinteresse; dem wir Serbien ein Angebot machen: Seht euch diese denn ein weiteres Offenhalten der Statusfrage – das ist Europäische Union an! Wir bieten auch euch dieses Er- der zweite Grund – würde nur zu neuen Unruhen im Ko- folgsmodell für eure Zukunft an! – Wir hoffen, dass eine sovo und vielleicht darüber hinaus in der Region führen gemeinsame Zukunft von Kosovaren und Albanern in und die auf dem westlichen Balkan erzielten Stabilisie- der Europäischen Union eines Tages Wirklichkeit wird. rungserfolge infrage stellen. Das aber wäre völlig unver- antwortlich. Dies kann in niemandes Sicherheitsinte- Herzlichen Dank. resse liegen – auch nicht im Interesse Serbiens. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Drittens. Es sollte sich keiner von uns Illusionen da- (B) der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. rüber machen, wie schwierig es angesichts einer (D) Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Massenarbeitslosigkeit von 80 Prozent und einem Durchschnittsalter von 25 Jahren ist, einen sich selbst tragenden wirtschaftlichen Aufbauprozess in Gang zu Präsident Dr. : setzen. Um aber überhaupt ausländische Investitionen, Der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff ist der die zur wirtschaftlichen Entwicklung Kosovos beitragen nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. sollen, zu gewinnen, war eine Klärung der Statusfrage unverzichtbar. Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Herr Hoyer, Sie haben die Rechtsgrundlage angespro- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die chen. Es wird in Zweifel gezogen, ob die einseitige Un- CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt nachdrück- abhängigkeitserklärung des Kosovo oder die Anerken- lich die heutige Entscheidung der Bundesregierung, das nung des Landes legal seien. Diese widersprächen der Kosovo diplomatisch anzuerkennen. Auch wir hätten Kosovo-Resolution 1244. Ich sage für die CDU/CSU: uns eine Lösung auf dem Verhandlungswege gewünscht. Wir halten diese Auffassung in der Sache und politisch Aber dafür hat der Wille gefehlt. Wir sind überzeugt, für falsch. dass eine rasche Anerkennung durch möglichst viele (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Staaten geeignet ist, dauerhafte Stabilität für die gesamte der SPD – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Region zu schaffen. Diese ist aber sehr überzeugend!) Die Unabhängigkeitserklärung des kosovarischen – Nein, sie ist nicht überzeugend, Herr Kollege Gehrcke. Parlaments und die Anerkennung der eingeschränkten Erstens ist doch unstreitig, dass die Resolution 1244 Unabhängigkeit sind ein notwendiger Schritt und ohne fortbesteht, bis sie durch eine andere Resolution des Si- Alternative. Dafür gibt es aus unserer Sicht drei Gründe: cherheitsrates abgelöst wird. Das ist im Übrigen auch für das KFOR-Mandat wichtig. Für unsere Soldaten, die Erstens. Alle Verhandlungsmöglichkeiten sind ausge- dort einen schwierigen, aber erfolgreichen Dienst leis- schöpft worden; der Bundesaußenminister hat das darge- ten, ist ganz entscheidend, dass die Kosovo- legt. Durch die Verhandlungen des VN-Unterhändlers Resolution 1244 fortbesteht und sie ihren Dienst auf ei- Ahtisaari sind für die Kosovaren ganz wesentliche Auf- ner sicheren Rechtsgrundlage erfüllen. lagen, beispielsweise der Schutz der serbischen Minder- heit, festgelegt worden, zu deren Einhaltung sich das (Monika Knoche [DIE LINKE]: Wir sehen das Kosovo jetzt verpflichtet hat. anders!) 15194 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

Dr. Andreas Schockenhoff (A) Zweitens wird in der Resolution 1244 eine einseitige Kosovo mithilfe der EU zumindest ein einigermaßen (C) Unabhängigkeitserklärung nicht verboten. Sie sagt funktionierender Rechtsstaat entsteht. Ein Kosovo mit nichts zum endgültigen Status aus. Das wäre auch ab- organisierter Kriminalität, mit Menschenhandel, das surd; denn dann könnte im Umkehrschluss eine Seite Durchgangsgebiet für Drogen- und Waffenhandel ist, jede Lösung blockieren und mit einer solchen Blockade würde negativ auf ganz Europa ausstrahlen. Wir erinnern die Kosovo-Frage zu einem permanenten Frozen Con- uns alle an den Beginn der 90er-Jahre, als wir unseren flict machen. Das kann niemand wollen, weder der Si- Kommunen Kontingente von Bürgerkriegsflüchtlingen cherheitsrat noch Russland und China. zur Unterbringung zuweisen mussten. Ohne mehr Rechtsstaatlichkeit werden auch die für die wirtschaftli- Drittens ist die einseitige Unabhängigkeitserklärung che Entwicklung dringend notwendigen Investitionen des Kosovo kein Präzedenzfall, auf den sich andere be- nicht kommen. Deswegen begrüßen wir es, dass die EU rufen können. Angesichts des Konflikts, der ethnischen ihre Rechtsstaatsmission sehr schnell in das Kosovo Säuberungen und der humanitären Katastrophe in den schickt. 90er-Jahren sowie der langen Phase unter internationaler Verwaltung – neun Jahre – ist dies ein einzigartiger Fall, Ich sage es ganz offen: Ich habe nicht den Eindruck, der keine Präzedenzen schafft. Weder die Situation in dass die Politiker im Kosovo wirklich wissen, was jetzt Abchasien noch in Südossetien noch in Nagornij Kara- getan werden muss, um das Land in eine bessere Zu- bach noch in Transnistrien ist mit diesem Fall vergleich- kunft zu führen. Wir sollten realistisch sein und uns da- bar oder hat in irgendeiner Weise eine vergleichbare Be- rauf einstellen, dass die Hoffnung auf eine schnelle Bes- rufungsgrundlage. serung im Kosovo eine Illusion ist und sehr schnell in Frustration umschlagen kann, die auch gegen die EU ge- Dies gilt noch viel weniger für die ungarische Min- richtet sein könnte. derheit in Rumänien. Wenn jetzt deren politischer Ver- treter entsprechende Äußerungen macht, dann wider- Wir müssen heute auch ein Wort zu Serbien sagen. spricht das im Übrigen dem Stabilitätspakt, der in den Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion kann die Empfin- 90er-Jahren mit Ungarn, Rumänien und der Slowakei dungen der serbischen Bevölkerung sehr gut nachvoll- zur Vorbereitung ihrer EU-Mitgliedschaft geschlossen ziehen. Die Politiker in Serbien haben nichts getan, um wurde. Die ungarische Minderheit in Rumänien, zu de- ihre Bevölkerung auf diese Situation vorzubereiten. Ge- ren Schutz und zur Gewährleistung ihrer Rechte dieser walt und Aufruhr sind für Serbien aber nutzlos. Das hat der serbische Ministerpräsident Koštunica angesichts der Stabilitätspakt geschlossen wurde – es geht um den Ausschreitungen im Norden des Kosovo gesagt. Wir be- Schutz ihrer Rechte –, muss wissen: Wenn in verantwor- grüßen es sehr, dass er zu Ruhe und Ordnung aufgerufen tungsloser Weise gezündelt wird, dann schadet das ihren hat. Aber auch andere Maßnahmen nutzen Serbien nicht. (B) eigenen Interessen, und das wird auf den massiven Wi- (D) Sie werden nichts an der Tatsache ändern können, dass derstand der gesamten EU stoßen. das Kosovo seine eingeschränkte Unabhängigkeit behal- Das Kosovo hat keine vollständige Souveränität, son- ten und diese von immer mehr Ländern anerkannt wird. dern eine eingeschränkte Unabhängigkeit erlangt. Es hat Wirtschaftssanktionen oder diplomatische Maßnahmen sich zur vollständigen Umsetzung des Ahtisaari-Plans schaden nur den Serben selbst und liegen weder im ser- verpflichtet. Das betrifft insbesondere den Schutz der bischen noch im europäischen Interesse. serbischen Minderheit und ihrer Kulturgüter. Wir wer- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- den sehr genau darauf achten, dass das Kosovo diesen wie des Abg. Walter Kolbow [SPD] und der Verpflichtungen uneingeschränkt Folge leistet. Eine wei- Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜND- tere, ebenso wichtige Voraussetzung für die Anerken- NIS 90/DIE GRÜNEN]) nung der Unabhängigkeit ist, dass sich das Kosovo zur engen Zusammenarbeit mit der Internationalen Verwal- Die Zukunft Serbiens liegt ganz klar in der Europäi- tungsbehörde, der europäischen Rechtsstaatsmission, der schen Union. Serbien sollte den Prozess der Annäherung NATO und nicht zuletzt mit dem Internationalen Ge- an die EU deshalb jetzt nicht unterbrechen oder verlang- richtshof in Den Haag verpflichtet hat. samen. In dem Moment, in dem die EU bereit ist, bei- spielsweise durch Visaerleichterungen für die serbischen Wir gehen davon aus, dass Regierung und Parlament Bürger, die Tür nach Europa weiter zu öffnen, des Kosovo diesen Verpflichtungen vollständig nach- kommen werden. Wir erwarten ferner, dass die interna- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tionale Gemeinschaft nicht von ihrem Recht Gebrauch machen muss, zum Schutz der serbischen Minderheit, sollte die serbische Regierung diese Tür nicht zuschla- zur Verfolgung von Kriegsverbrechen, zur Bekämpfung gen und ihre Bürger einsperren. der organisierten Kriminalität oder gegebenenfalls zur Die Anerkennung der eingeschränkten Unabhängig- Annullierung von Gesetzen direkt exekutiv einzugreifen. keit des Kosovo löst die Probleme nicht, aber sie ist not- Wir werden uns auf eine sehr lange Mission und einen wendig und ohne Alternative. schwierigen Prozess im Kosovo einstellen müssen; ich Vielen Dank. habe die Wirtschaftsprobleme erwähnt. Wir haben aber keine Alternative, als uns mit aller Kraft zu engagieren; (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie denn es liegt im Sicherheitsinteresse Europas, dass im bei Abgeordneten der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15195

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (C) Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Norman Paech Winkelmeier [fraktionslos]) für die Fraktion Die Linke. Sie zerstören damit das grundlegende Prinzip der Völ- (Beifall bei der LINKEN) kerrechtsordnung, das Prinzip der Universalität, das be- sagt, dass das Völkerrecht für alle Staaten gleich ver- Dr. Norman Paech (DIE LINKE): bindlich ist, für große und kleine, für starke wie Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe schwache. Das Schlimme ist: Sie wissen das und ma- Kolleginnen und Kollegen! Eine Bemerkung zuvor: Wir chen es trotzdem vorsätzlich. Das dulden wir nicht. machen uns natürlich keine Illusionen. Wir wissen, dass (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert wir das Rad der Entwicklung nicht zurückdrehen können Winkelmeier [fraktionslos] – Dr. Andreas und dass wir die Abspaltung des Kosovo nicht rückgän- Schockenhoff [CDU/CSU]: Sie reden hier wi- gig machen können. Aber wir lehnen die Art ab, wie Sie der besseres Wissen!) dieses Rad drehen: mit einer Verachtung des Völker- rechts, wie wir sie jetzt schon zum zweiten Mal erleben. Die Frage ist: Was gewinnen Sie eigentlich dadurch? Auch hier noch einmal Botschafter James Bissett. Er (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert sagt: Winkelmeier [fraktionslos] – Widerspruch bei der CDU/CSU) Die Führung des Kosovo und die UCK sind in mei- nen Augen Kriegsverbrecher. Sie haben unter der Es ist nicht lange her: Im März 1999 haben Sie die NATO-Besatzung fast die gesamte nicht-albanische Zerstörung Ex-Jugoslawiens mit der völkerrechtswidri- Bevölkerung vertrieben, über 150 christliche Kir- gen Bombardierung begonnen. Neun Jahre später zerle- chen und Klöster zerstört. Die Unabhängigkeit des gen Sie nun das verbliebene Serbien in zwei Teile, Sie Kosovo wird den Traum eines „Groß-Albanien“ an- spalten den Kosovo ohne Grundlage des Völkerrechts heizen und den Balkan weiter destabilisieren. ab. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Diese Leute gehören vor Gericht und nicht auf eine Winkelmeier [fraktionslos]) Regierungsbank. Diese Regierung ist von der gleichen zweifelhaften Vasallennatur, wie wir sie schon in Afgha- Das mag, Herr Minister, dem Wunsch der Kosovaren nistan und auch im Irak haben. entsprechen. Aber wenn es danach ginge, dann hätten die Kurden, die Basken, die Katalanen, die Korsen, die (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Dr. Andreas (B) Abchasen und die Osseten schon lange ihren eigenen (D) Staat. Danach geht es allerdings nicht. Schockenhoff [CDU/CSU]: Sie ist demokra- tisch gewählt! Daran müssen Sie sich gewöh- (Michael Brand [CDU/CSU]: Sie sind ein nen!) Rechtsverdreher!) Das Kosovo – wenn Sie sich das genau überlegen – Erlauben Sie mir, den ehemaligen kanadischen Bot- ist die erste moderne Kolonie der EU. Ihr fehlt eine ef- schafter James Bissett, der in den 90er-Jahren in Jugo- fektive Staatsgewalt, eine der drei unabdingbaren Vor- slawien gewesen ist, zu zitieren. Er sagt: aussetzungen dafür, dass es sich überhaupt um einen Die Unabhängigkeit des Kosovo bricht das Völker- Staat handelt. recht. Die Charta der Vereinten Nationen und die (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schlussakte von Helsinki werden verletzt. Die terri- Castro ist zurückgetreten! Nehmen Sie sich ein toriale Unversehrtheit, Souveränität und Unverletz- Vorbild!) barkeit der Grenzen sind elementare Gesetzmäßig- keiten, die nicht nach Lust und Laune der NATO- Stattdessen muss die EU dieses lebensunfähige Gebilde Länder beiseite gewischt werden können. auf Jahre hinaus durchfüttern. Die wesentlichen Ent- wicklungen werden sowieso in Washington und Brüssel (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert entschieden und nicht in Priština. Winkelmeier [fraktionslos]) Diese Prinzipien zu ignorieren, bedeutet, die we- EULEX heißt nun die neue Mission des Rates der Eu- sentlichen Grundsätze über die Beziehungen zwi- ropäischen Union, die neben UNMIK errichtet worden schen Staaten seit Ende des Zweiten Weltkriegs zu ist. Sie ist in der Resolution 1244 gar nicht erwähnt wor- verletzen. den, soll aber die Rechtsstaatlichkeit im Kosovo auf- bauen. Das ist schon ein kurioser Vorgang. Mit der Anerkennung des Kosovo verletzen Sie nicht nur die Souveränität und die territoriale Integrität Serbi- ( [CDU/CSU]: UNMIK ist ens, sondern Sie verstoßen auch gegen die UN-Resolu- auch nicht erwähnt! So ein Unsinn!) tion 1244, die in ihrem Wortlaut die Souveränität und Wie kann ich Rechtsstaatlichkeit unter Verletzung des territoriale Integrität Serbiens garantiert. Sie legen Hand Völkerrechts aufbauen? an die gesamte Völkerrechtsordnung. Nach Gutsherren- art bedienen Sie sich der Teile der UNO-Charta, die Ih- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert nen passen. Die, die Ihnen nicht passen, ignorieren Sie. Winkelmeier [fraktionslos]) 15196 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

Dr. Norman Paech (A) UNMIK und KFOR sollen weiter im Kosovo bestehen Mich wundert immer wieder, dass eine Partei, die sich (C) bleiben; beide ohne völkerrechtliche Grundlage. selber links nennt und so etwas wie Internationalismus hochhält, zu dem schweigt, Denn Resolution 1244 ist zwar formal nicht aufgeho- ben worden, aber mit der Beendigung der Übergangsver- (Frank Spieth [DIE LINKE]: Sie sind doch auf waltung, die sie organisieren sollte, ist sie hinfällig ge- diesem Auge blind!) worden. Sie ist ohne weitere Gültigkeit und ohne weitere legitimatorische Kraft. Sie müsste für die neuen Aufga- was dort im Schoß der föderativen Republik Jugoslawien ben, die sich jetzt stellen, durch eine neue Resolution er- entstanden ist. Ein menschenverachtender Nationalismus setzt werden. Aber Sie wissen selber: Die Russen und unter dem Deckmantel linker und sozialistischer Politik auch die Chinesen werden einen Völkerrechtsverstoß muss jedem Linken und jedem Sozialisten die Schames- nicht nachträglich legitimieren. Was machen Sie? Wie röte ins Gesicht treiben. schon die NATO 1999 und die USA 2003 lassen Sie die (Frank Spieth [DIE LINKE]: Das ist einsei- UNO einfach links liegen und fahren dann mit dem Völ- tig!) kerrecht Schlitten. Das können und wollen wir so nicht durchgehen lassen. Ich finde, dazu hätten Sie ein Wort sagen können. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Winkelmeier [fraktionslos]) bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Ein Letztes. Es fehlt damit ein auch über die Beendi- Ich will mit Ihnen gar nicht darüber streiten, ob es gung der Übergangsverwaltung hinaus gültiges Bundes- richtig oder falsch ist, dass sich die Kosovaren für unab- tagsmandat. Sie können nicht einfach ohne Mandat den hängig erklärt haben. Darum geht es überhaupt nicht. Einsatz deutscher Truppen beliebig verlängern. (Frank Spieth [DIE LINKE]: Ach so!) (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Doch!) Jeder, der die Geschichte kennt, weiß, dass es gar nicht Das ist eine Verletzung der Rechte des Bundestages, was um die Frage geht, ob, sondern nur, wann sie es getan Ihnen offensichtlich noch gar nicht aufgegangen ist. Die haben. Übergangsverwaltung auf der Grundlage der Resolu- (Walter Kolbow [SPD]: Richtig!) tion 1244 – das wiederhole ich – ist mit der einseitigen Abspaltung und ihrer Anerkennung beendet worden. Ab Es ist auch kein Privileg der UÇK gewesen, sich für die jetzt agieren UNMIK und KFOR ohne UNO-Mandat Unabhängigkeit des Kosovo stark gemacht zu haben. (B) und ohne Bundestagsmandat. Das lassen wir uns nicht Das war auch und gerade das Programm des Schatten- (D) bieten. Wir werden unser Recht vor dem Bundesverfas- staates, den Rugova unter dem Druck einer brutalen Dik- sungsgericht einklagen. tatur gewaltfrei organisiert hat. Es muss im Gegenteil eher gesagt werden, dass die Kosovaren in den letzten Danke schön. Jahren ein erhebliches Maß an Geduld bewiesen haben. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Die Frage, vor der die Europäische Union und damit Winkelmeier [fraktionslos]) auch Deutschland heute steht, ist: Wollen wir den Pro- zess, dass sich das Kosovo für unabhängig erklärt hat, Präsident Dr. Norbert Lammert: weiterhin politisch mitgestalten, oder wollen wir diesen Jürgen Trittin ist der nächste Redner für die Fraktion Prozess ungesteuert laufen lassen? Vor dieser Frage steht Bündnis 90/Die Grünen. die Europäische Union. Ich verstehe an dieser Stelle die Spanier. Aber mit Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Verlaub: Die Basken brauchten keine Kosovaren, um ih- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege ren Wunsch nach Unabhängigkeit zu formulieren; so Paech, man kann sicherlich eine ganze Reihe von Ursa- viel zum Thema Präzedenzwirkung. chen benennen, warum Jugoslawien zerbrochen ist. Das Man muss doch zur Kenntnis nehmen, dass die EU hat etwas mit der Geschichte, auf die Herr Hoyer hinge- bei aller unterschiedlichen Auffassung, ob man diese wiesen hat, mit dem dortigen System und mit ökonomi- Nation bilateral anerkennen soll, eines geschafft hat: Sie schen Gründen zu tun. hat sich in dieser Frage nicht auseinanderdividieren las- (Frank Spieth [DIE LINKE]: Es hat etwas mit sen, weder von den Spekulationen aus Russland noch Herrn Genscher zu tun!) von den klammheimlichen Überlegungen aus Washing- ton. Das halte ich für eine richtige Entscheidung. Aber wenn wir uns über wirkliche Ursachen unterhal- ten wollen, dann kann man sich hier nicht hinstellen und Deswegen tragen wir es ausdrücklich mit, dass hier einen der ganz zentralen Gründe für den Zerfall Jugosla- der Versuch gemacht wird, das, was Ahtisaari ausverhan- wiens verschweigen: Das ist der brutale, menschenver- deln wollte, nämlich eine beschränkte Souveränität – es achtende serbische Nationalismus gewesen. sind nämlich zwei Dinge: die Unabhängigkeitserklärung und eine beschränkte Souveränität des Kosovo –, mit ei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ner starken und großen zivilen Sicherheits- und Rechts- bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) staatsmission durch die Europäische Union zu begleiten. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15197

Jürgen Trittin (A) Mit Verlaub, gerade das ist im Interesse der dort lebenden Ich habe mich über die Unabhängigkeitserklärung (C) Serbinnen und Serben. nicht gefreut. Ich hätte mir sogar etwas anderes ge- wünscht; das sehe ich vielleicht anders als manch andere (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in meiner Partei. Diese Unabhängigkeitserklärung war sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und absehbar und unabweisbar, insbesondere vor dem Hin- der SPD) tergrund der Geschichte. Das Kosovo war nie eine Repu- Das ist der einzige Weg, um sicherzustellen, dass ser- blik der Föderation. Es war eine autonome Region. Die bische Kulturgüter dort nicht wieder zerstört werden und Menschen dort haben erlebt, was Autonomie für sie dass es nicht erneut zu Übergriffen kommt. Nur eine in- hieß. Sie hieß Vertreibung, Schattenstaat, Vergewalti- ternationale Präsenz und der Aufbau rechtsstaatlicher gung und Mord. Die Geschichte war der Grund, aus dem Verhältnisse können die Antwort auf das sein, was Sie zu die Kosovaren das Angebot der Autonomie nicht haben Recht erwähnt haben: dass es dort auch von kosovari- annehmen können. scher Seite zu ethnischen Säuberungen, zu Übergriffen Ich würde mir sehr wünschen, dass all das, was zu etc. gekommen ist. Das beklagen Sie. Wenn es aber da- Recht zu diesem Thema gesagt worden ist, berücksich- rum geht, zu verhindern, dass sich das wiederholt, dann tigt wird. Man darf Serbien in dieser Situation nicht ins sagen Sie: Die Welt ist ein Amtsgericht, und meine Abseits stellen. Man darf nicht zulassen, dass Herr Rechtsauffassung lässt das nicht zu. Koštunica die serbische Jugend als Geisel nimmt und sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, nicht mehr nach Europa reisen lässt. bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Ich habe ja immer großen Respekt vor dem Völker- rechtler Paech. Vielleicht sollten Sie aber noch einmal Wir müssen all dies sehr ernst nehmen und Serbien ge- über Ihre Rechtsauffassung nachdenken, dass die UN- genüber offen sein. Serbien gehört zu Europa. Resolution 1244 nicht mehr gelten würde. Da sind die Russen und die Chinesen ganz anderer Auffassung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der (Dr. Werner Hoyer [FDP]: So ist es!) SPD und der FDP) Denn sie sagen: Weil sie gilt, hätte man nicht anerken- Präsident Dr. Norbert Lammert: nen dürfen. Eben hat jemand dazwischengerufen, Sie seien der Sprecher des russischen Außenministeriums. Nun spricht der Kollege Walter Kolbow, SPD-Frak- Darüber sollten Sie noch einmal nachdenken. tion. (B) (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU CDU/CSU) und der SPD – Eckart von Klaeden [CDU/ CSU]: Genau! Noch einmal anrufen!) Walter Kolbow (SPD): Der Umstand, dass es in einzelnen Bereichen auf- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die grund der Unabhängigkeitserklärung zu anderen Rege- SPD-Bundestagsfraktion stimmt der völkerrechtlichen lungen kam, darf nicht automatisch dazu führen, dass Anerkennung der Republik Kosovo durch die Bundesre- eine Resolution des Weltsicherheitsrates für ungültig er- publik Deutschland sowie der Aufnahme diplomatischer klärt wird. Wenn man über die Resolution redet, dann Beziehungen zu. Herr Kollege Hoyer und andere haben muss man sich darüber im Klaren sein, dass von Russ- recht: Das war eine der schwierigeren außenpolitischen land der Antrag gestellt wurde, zu sagen, die Unabhän- Entscheidungen, die unser Kabinett heute zu treffen gigkeitserklärung sei unzulässig. Das hat der Sicher- hatte. heitsrat aber nicht bestätigt. Sie stellen sich hier hin und sagen, das sei völkerrechtswidrig. Das hat der Sicher- Auch nach dieser Entscheidung, die wir unterstützen, heitsrat so aber nicht beschlossen. müssen wir die Kritik, die am Gesamtprozess geübt wird, aufgreifen: im Parlament, in den Fraktionen, aber (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- natürlich auch im Land. Die Defizite im Kosovo, die die SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und Bürgerinnen und Bürger den dort Verantwortlichen auch der SPD) heute vorhalten – die große Arbeitslosigkeit, die Korrup- tion und die Kriminalität –, sind auch von uns im Rah- Das soll keine juristische Spitzfindigkeit sein. Ich men der Partnerschaft, die die Europäische Union den gebe zu, dass das eine schwierige und auch völkerrecht- Kosovaren jetzt zugesagt hat, anzusprechen. lich nicht einfache Situation ist, und zwar auch mit Blick auf die dort stationierten Soldaten. Darüber schaut nie- Der Bevölkerung vom Kosovo ist zur erlangten mand hinweg. Aber die Frage ist, wie man sich in einer Selbstbestimmung zu gratulieren und alles Gute zu wün- solch schwierigen Situation verhält. Beschränkt man schen. Wir begrüßen die Republik Kosovo als Mitglied sich auf das Filibustern, oder versucht man, diese Situa- der Gemeinschaft der freien und unabhängigen Staaten tion ausgehend von den Prinzipien des internationalen der Welt. Auch im Zusammenhang mit dem, was ich zu Rechts, des Schutzes der Menschenrechte, der Herstel- Beginn kritisch gesagt habe, bin ich mir sicher, dass man lung rechtsstaatlicher Verhältnisse und der Sicherung sich bei aller Euphorie in Pristina bewusst ist, dass mit auch und gerade von Minderheitenrechten zu gestalten? dieser Unabhängigkeitserklärung und der Anerkennung 15198 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

Walter Kolbow (A) durch wichtige Staaten erst ein Anfang gemacht ist. Es sovarischen Flüchtlinge und Vertriebenen in Mazedo- (C) wird ein schwerer Weg folgen, auf dem harte Arbeit und nien, im Kosovo und in Albanien koordiniert. Damals viel politische Umsicht gefragt sind. habe ich, wie wohl kein anderer in diesem Hohen Haus, das Leid der Kosovo-Albaner tagtäglich mit eigenen Au- Ziel aller Kosovaren ist es letztlich, in nicht allzu fer- gen angesehen. Die Bilder des Unrechts und menschli- ner Zeit ein vollwertiges Mitglied der europäischen Völ- chen Elends werde ich mein ganzes Leben nicht verges- kerfamilie zu werden. Aus Sicht der SPD-Bundestags- sen. fraktion gilt auch für diesen Staat die Zusage der Europäischen Union von Thessaloniki, bei Vorliegen der Bei den damaligen Erlebnissen und vielen Begegnun- Voraussetzungen eine klare Perspektive zum Beitritt zur gen mit Opfern der serbischen Gewalt ist mir eines klar EU zu erhalten. Alle Anstrengungen der Kosovaren und geworden: Nach Jahrzehnten repressiver Unterdrückung auch der verschiedenen internationalen Missionen in durch Milošević wird keine zukünftige Statuslösung Be- Kosovo werden diesem Ziel von nun an verpflichtet stand haben, bei der das Volk der Kosovo-Albaner nicht sein. völlig selbstständig wird. Keinem Kosovaren war und ist zu vermitteln, dass der Westen einen mehrmonatigen Die Europäische Union ist mit ihrer nun beginnenden Krieg gegen ein gewalttätiges Apartheidregime führte, und im Europäischen Rat einstimmig beschlossenen um das Kosovo danach wieder unter serbische Oberho- Rechtsstaatsmission EULEX dazu gut aufgestellt. Zu- heit zu stellen. Der 16. Oktober 1998 hat sich bei denen sammen mit KFOR wird sie diesen Prozess auf der Basis tief eingebrannt, die diese Entscheidung der Intervention der von Ministerpräsident Hashim Thaçi ausgesproche- treffen mussten und mit dem internationalen Nothilfe- nen Einladungen und der fortgeltenden UN-Resolution recht begründeten. Wer mit der an diesem Tag getroffe- 1244, die im Übrigen auch der Generalsekretär der Ver- nen Entscheidung belastet ist, ist auch verpflichtet, die einten Nationen am Wochenende aufgenommen und be- Kosovaren auf ihrem Weg über die jetzt ausgesprochene stätigt hat, konstruktiv begleiten. Es ist auch gut, dass Unabhängigkeit in die Europäische Union zu begleiten. der Verteidigungsminister heute ins Kosovo gereist ist und dort unsere Soldaten besucht und politische Gesprä- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der che führt. Das ist ein richtiger Umgang mit der getroffe- FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- nen politischen Entscheidung. SES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Werner Hoyer [FDP]: Die Leute haben ein schlechtes Ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der dächtnis!) CDU/CSU sowie der Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Was zu den Wünschen, über Verhandlungen zu einem anderen Ergebnis zu kommen, gesagt worden ist, unter- (B) Ich danke auch dem Herrn Außenminister, dass er un- streiche ich an dieser Stelle. Ich weiß, dass die zu Ver- (D) ser Gewicht bei den Verhandlungslösungen immer wie- handlungslösungen ausgestreckten Hände von den Ser- der mit Umsicht in die Waagschale geworfen hat. Der ben und den Russen immer zurückgewiesen wurden; Ahtisaari-Prozess und auch das, was Wolfgang Ischinger Herr Trittin, Herr Hoyer und Herr Schockenhoff haben geleistet hat – das wurde vom Haus zu Recht mit Beifall dazu das Notwendige gesagt. Ich meine auch – um es et- bedacht –, sind immer auch im Zusammenhang mit den was volkstümlich zu formulieren –: Wann denn, wenn Wirkungsmöglichkeiten und den Anstrengungen von Ih- nicht jetzt die Unabhängigkeit des Kosovo, nicht zuletzt nen, Herr Steinmeier, zu sehen. Deshalb gebührt Ihnen im Interesse einer dauerhaften Stabilität in der gesamten auch der Dank unserer Fraktion für Ihre Arbeit. Region? (Beifall bei der SPD) Herr Kollege Trittin, ich will Ihre Rechtsargumenta- Ich glaube, dass sich daraus auch schlüssig ableiten tion nicht so aufnehmen, wie Sie es gesagt haben, um lässt, dass die Europäische Union Kosovo bei den weite- nicht ein Amtsgericht zu diskreditieren. Aber ich stimme ren Reformen und Prozessen des institutionellen Auf- Ihnen völlig zu, dass ein Amtsgericht dafür nicht zustän- baus und bei der Vermittlung eines besseren Verständnis- dig ist und man sich einer anderen Herangehensweise ses der EU-Politiken und EU-Standards unterstützen befleißigen sollte. Ich weiß auch, dass uns die Debatte wird, um so die Abkopplung von den Entwicklungen in darüber, wie wir die rechtliche Dimension bewältigen der Region zu vermeiden. Ich glaube – ich kenne ihn müssen, weiterhin beschäftigen wird, weil Irritationen persönlich –, dass der EU-Sondergesandte Pieter Feith darüber, wie wir uns rechtlich positioniert haben, mögli- bei seiner Arbeit wirkliche Unterstützung von allen ver- cherweise auch im westlichen Balkan eine Rolle spielen dient und dass er mit seiner Person auch eine Vorausset- werden. Wir haben uns mit dem Beschluss, den die Bun- zung dafür bietet, dass erfolgreich für diese Ziele gear- desregierung heute gefasst hat, rechtlich einwandfrei beitet wird. positioniert. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich möchte aber auch darauf hinweisen, dass so, wie sich die Dinge gerade in dem konkreten Fall vor und Ich bekenne an dieser Stelle, dass ich in dieser Ange- nach dem Kosovo-Krieg entwickelt haben, der Rechts- legenheit der Kosovaren nicht frei von Emotionen und gedanke einer „clausula rebus sic stantibus“ einbezogen Befangenheit bin. Als Parlamentarischer Staatssekretär werden kann und meines Erachtens im Hinblick auf die beim Bundesminister der Verteidigung habe ich im Jahr dortige Rechtsentwicklung auch einbezogen werden 1999 im Auftrag der damaligen Bundesregierung und muss. Es ist eben auf dem westlichen Balkan zwischen der Europäischen Union die humanitäre Hilfe für die ko- dem Kosovo und Serbien eine neue Lage entstanden, die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15199

Walter Kolbow (A) auch rechtlich neu zu bewerten ist. Aus diesem Rechts- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (C) verständnis, aus dieser Argumentation ist eine Causa- Es ist nahezu 20 Jahre her, dass der damalige Wortführer sui-generis-Linie der Anerkennung des Kosovo gerecht- der serbischen Kosovaren, der Serbe Milošević, am fertigt und kein Präzedenzfall abzuleiten, wie es auch die 600. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld fest- EU unterstrichen hat. stellte, es werde künftige Schlachten geben. Er hat das Meine Damen und Herren, wir müssen insbesondere Blutvergießen gewissermaßen angekündigt. Auf diese die ökonomische Entwicklung des Kosovo im Visier ha- Ankündigung hin fanden Pogrome, verbunden mit ben. Es ist wichtig, dass auch in der Erklärung des Flucht, Elend, Vertreibung und vielen Tausenden von Staatspräsidenten der Schutz der Minderheit, die Men- Toten, statt. Das hat dann die NATO zum Handeln be- schenrechte und die partnerschaftliche Standardentwick- wegt, sodass – aber erst am 24. März 1999 – diesem lung in der Europäischen Union als Voraussetzungen des Blutvergießen Einhalt geboten wurde. Mitwirkens zugesagt und nicht nur als Programm darge- Auch danach hat es weiterhin massenhafte Vertrei- stellt worden sind. Ich weiß auch, wie wichtig es ist, dass bungen gegeben. Wie Sie wissen, setzte erst nach den wir den Kosovaren unsere Unterstützungsleistung wei- gescheiterten Verhandlungen von Rambouillet im Juni terhin geben. Die SPD-Fraktion wird sich dafür einset- 1999 der Abzug der Serben ein. Ich denke, diese Vorge- zen, dass Deutschland auch weiterhin gewichtige Ent- schichte muss immer wieder – auch bei der Beurteilung wicklungshilfe leistet. Seit 1999 haben wir immerhin der heute zur Diskussion stehenden Fragen – in Erinne- 240 Millionen Euro zur Verfügung gestellt; wir werden rung gerufen werden. dies auch in Zukunft tun. Ohne das Eingreifen der USA hätte es noch mehr Die neue Staatsflagge der Republik Kosovo mit ihren Blutvergießen und Tote gegeben, und es wäre kein Ende sechs Sternen, die für sechs verschiedene Ethnien ste- absehbar gewesen. Deswegen muss man heute feststel- hen, belegt, dass sich Kosovo auf den Weg nach Europa len, dass das Kosovo aus serbischer Sicht nicht im Jahr gemacht hat. Hier finden sich – nicht nur in dieser neuen 2008, sondern 1999 verloren wurde. Das scheinen Sie Flagge – Zeichen einer vielversprechenden Symbolik. vergessen zu haben. Es ist ohne Frage eine fast bittere Es ist zu hoffen, dass diese Symbolik nun auch in der Ironie, dass das heute ausgerechnet den demokratischen Lebenswirklichkeit umgesetzt wird und dass wir alle Kräften in Serbien vor die Füße fällt und sie sozusagen miteinander – auch die Betroffenen vor Ort einschließ- die Suppe auslöffeln müssen. lich der Serben – dem westlichen Balkan eine friedliche Zukunft in Europa geben, zusammen mit der jungen, Ich sehe dennoch den Prozess in mancherlei Hinsicht nachfolgenden Generation, aber auch mit den Generatio- kritisch; das möchte ich nicht verschweigen. Denn wir nen, die in der jüngeren Vergangenheit oder auch jetzt verselbstständigen auch Strukturen, mit denen ein Staat (B) (D) direkt davon betroffen gewesen sind. auf lange Zeit nicht überlebensfähig ist. Wir haben kein Interesse an einer weiteren Fragmentisierung der Land- Das Händegeben ist unser aller Auftrag für die Ver- karte. Im Kosovo liegt die Arbeitslosigkeit bei über söhnung in der Gegenwart. Denn sie bedeutet Frieden 40 Prozent. Es gibt dort keine die Wirtschaft tragenden für die Zukunft. Strukturen; es gibt nur rudimentäre Verwaltungsstruktu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ren und ein hohes Maß an organisierter Kriminalität. der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- All das zeigt, dass die Europäische Union über Jahre SES 90/DIE GRÜNEN) hinweg in der Pflicht sein wird, wenn wir im Kosovo die Dinge verändern wollen. Auch an einem Tag wie heute Präsident Dr. Norbert Lammert: darf es, glaube ich, nicht unerwähnt bleiben, dass durch Das Wort erhält nun der Kollege Gunther Krichbaum die frühzeitige Ankündigung der Selbstständigkeit des für die CDU/CSU-Fraktion. Kosovo, durch die damalige Clinton-Regierung, die Spielräume für die nachfolgenden Verhandlungen nicht Gunther Krichbaum (CDU/CSU): gerade erweitert worden sind. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Aber es gilt, wie gesagt, den Blick nach vorne zu rich- frühere baden-württembergische Ministerpräsident ten. Was können und müssen wir seitens der Europäi- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: schen Union tun? Lassen Sie mich kurz darauf zu spre- Welcher?) chen kommen, wo wir im Kosovo ansetzen können. Wir können zunächst beim Aufbau von Sicherheitsstrukturen – Erwin Teufel – beginnen. Nur Menschen, die in Sicherheit leben kön- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nen, gewinnen für sich Perspektiven. Das beschränke ich Der Studienabbrecher!) keineswegs auf die Kosovo-Albaner, sondern beziehe es erst recht auch auf die serbischen Minderheiten, die jetzt hat einmal formuliert: Politik beginnt beim Betrachten unseren besonderen Schutz verdienen. der Realitäten. Ich denke, das zeigt auch die Ausgangs- lage, in der wir uns heute befinden. Wir müssen die Verwaltungsstrukturen aufbauen und damit die organisierte Kriminalität bekämpfen. Wir müs- Ich habe mich gewundert, Herr Kollege Paech, mit sen für den Aufbau funktionsfähiger und tragfähiger welcher eindimensionalen Geschichtsvergessenheit Sie wirtschaftlicher Strukturen sorgen; denn nur das wird in Ihrem Beitrag an die Probleme herangegangen sind. wiederum dafür sorgen, dass die Menschen von ihrer 15200 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

Gunther Krichbaum (A) Arbeit leben können und dass missliebige Erscheinun- Ich wünsche mir – genauso wie alle anderen – mehr (C) gen wie Kriminalität und Korruption bekämpft werden Normalität, und das sehr bald; denn nur mit einem inte- können. grierten Serbien und einem selbstständigen Kosovo mit europäischen Anbindungsperspektiven gewinnen wir Last, but not least: Wir müssen in dieser Region we- mehr Stabilität in dieser Region. sentlich mehr für den Aufbau funktionierender Schulen und Universitäten tun. Das sind die Investitionen für Vielen Dank. morgen. Im Kleinen können wir, der Deutsche Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie tag, dazu beitragen. Herr Präsident, ich denke dabei an bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- unser Internationales Parlamentsstipendiumprogramm. NISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich würde mich freuen, wenn wir das alsbald auf den Kosovo ausdehnten. Vizepräsidentin Petra Pau: All die genannten Maßnahmen dienen letztendlich Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin dazu, dass die Kosovo-Mission zu einer Kosovo-Vision Monika Knoche das Wort. werden kann und dass die Region langfristig an Stabilität (Beifall bei der LINKEN) gewinnt. Was erwarten wir von Serbien bzw. was können wir Monika Knoche (DIE LINKE): für Serbien tun? Es wurde bereits zu Recht die alsbaldige Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Für die Unterzeichnung des Stabilisierungs- und Assoziierungs- Fraktion Die Linke sage ich hier klipp und klar: Was mit abkommens erwähnt. Dieses Abkommen bedeutet, dass einem völkerrechtswidrigen Krieg begann, soll mit einer wir Serbien in den Vorhof der Europäischen Union füh- völkerrechtswidrigen Anerkennung fortgesetzt werden. ren. Ich appelliere: Wir sollten mutige Visionen haben. Das werden wir nicht akzeptieren. Warum sollte es nicht möglich sein, dass Serbien im (Beifall bei der LINKEN) Jahre 2014, exakt 100 Jahre nach dem Ausbruch des Ers- ten Weltkrieges, Mitglied der Europäischen Union wird? Herr Trittin, ich war damals Mitglied der Fraktion der Es ist eine mutige Vision, ohne jeden Zweifel. Wenn Grünen, als die Herren Fischer und Schröder bei Herrn aber alle Beteiligten zusammenwirken und wenn insbe- Bill Clinton zum Rapport gebeten wurden und klar war: sondere Serbien seine Hausaufgaben macht, kann sich Diese Regierung wird Krieg führen; die Verhandlungen hier einiges bewegen. in Rambouillet werden so geführt, dass als Ergebnis nichts anderes herauskommt, als den Vorratsbeschluss (B) Stichwort Visaerleichterungen: Es ist geradezu ein des alten Bundestages umzusetzen und einen Angriffs- (D) Witz, dass wir zu Zeiten des Ost-West-Konflikts, zu Zei- krieg gegen Jugoslawien zu führen, der völkerrechtswid- ten der historischen Teilung Europas den Bürgern des rig ist. Ich erinnere mich noch sehr gut. damaligen Jugoslawiens Reisefreiheit gewährten, wäh- rend wir es heute nicht mehr tun. Das passt nicht zu ei- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nem Europa, in dem der Ost-West-Konflikt nicht mehr NEN]: Ich war auch dabei! Ich erinnere mich gelten soll. gut daran!) Kommen Sie mir also nicht mit der Verantwortung der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Linken! Sie haben Ihre Verantwortung damals nicht neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- wahrgenommen. SES 90/DIE GRÜNEN) (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Stichwort Zivilgesellschaften: Wir haben gerade ein- Wo ist denn Oskar heute?) mal drei Städtepartnerschaften zwischen Orten der Bun- desrepublik Deutschland und Serbiens. Drei! Das ist viel Es ist nicht richtig, der Linken zu unterstellen, sie er- zu wenig. Auch hier kann sehr viel mehr passieren. Eur- kenne nicht an und bedauere nicht, welche Verbrechen opa ist immer nur so gut wie die Begegnungen zwischen an den Menschen im serbischen und im kosovarischen den Menschen. Namen begangen wurden. (Beifall bei der LINKEN – Jürgen Trittin Von Serbien erwarten wir ganz klar, dass Übergriffe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe wie gestern Nacht auf die Grenzstationen nicht gutgehei- nichts gegen die Linken gesagt, ich habe nur ßen werden, wie es Einzelne getan haben. Ich erwarte angesprochen!) von den Verantwortungsträgern in Serbien mehr Verant- wortung gerade im Hinblick auf die junge Generation. Jetzt gibt es also ein Kosovo, das schon 1999 verspro- Das sind alle politisch Verantwortlichen in Serbien der chen wurde. Aber was ist Kosovo für ein Staat? Es ist jungen Generation schuldig; denn diese junge Genera- gar kein eigener Staat, es ist ein Protektorat, so wie Bos- tion hat bei der letzten Präsidentenwahl dafür gesorgt, nien-Herzegowina eines ist, das keine eigene Staatsge- dass der europafreundliche Präsident Tadić eine Mehr- walt ausübt. Nein, Herr Premier Thaçi wird es nicht ver- heit bekam. Einen Rückzug der serbischen Botschafter mögen, seine Bevölkerung von der Tatsache abzulenken, aus den Ländern, die das Kosovo anerkannt haben, be- dass es die EU, die EULEX ist, die alles bestimmen und trachte ich deshalb als eine vorübergehende Erschei- Gesetze erlassen kann. Verwaltung, Polizei und Ge- nung. richtsbarkeit, alles, was Staatsgewalt ausmacht, wird Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15201

Monika Knoche (A) nicht durch das Kosovo bestimmt werden. Wenn die Be- Das ist die Alternative, und diese Alternative haben Sie (C) völkerung das einmal merkt, dann wird sich der bishe- ausgeschlagen. rige Nationalismus als nicht befriedigend erweisen. Sie haben sie ausgeschlagen – geben Sie es doch ehr- Aber Serbien und Serben werden eines nicht fühlen: lich zu –, weil bei der Entscheidung über den künftigen Sicherheit. Vielleicht wird es nationalistisch motivierte Status des Kosovo die USA handlungsleitend waren. Anschläge geben. Eines ist gewiss: In Europa wird es (Beifall bei der LINKEN – Michael Brand wieder eine geteilte Stadt geben, nämlich die Stadt Mi- [CDU/CSU]: Milošević stand am Anfang, trovica. Das ist ein Ergebnis dieser Unabhängigkeitser- nicht die USA!) klärung. Ich kann aus europapolitischen Gründen schon gar nicht akzeptieren, Wir erinnern uns doch sehr gut, dass der deutscher Bot- schafter Ischinger letztlich auf die Position einschwen- (Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist doch ken musste, die die US-Amerikaner haben. nicht das Ergebnis der Unabhängigkeitserklä- rung! Das ist doch nicht seit drei Tagen so!) (Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist ein Un- sinn!) auch aus menschenrechtlichen Gründen nicht, was den Menschen und Familien angetan wird, die jetzt getrennt – Umso schlimmer ist es, wenn das die eigene deutsche sind. Auch dazu möchte ich von Ihnen einmal etwas hö- ist. – Was wollen die US-Amerikaner? Sie wollen mit ren. dem Kosovo einen neuen NATO-Staat haben. (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Einen ame- (Beifall bei der LINKEN – Eckart von rikanischen Bundesstaat wahrscheinlich!) Klaeden [CDU/CSU]: Wie sieht es denn dort heute aus?) Es gibt ein strategisches Interesse, das zu realisieren. Das ist den Preis aber nicht wert. Wir wissen: Obwohl Serbien aufs Schärfste verurteilt, was dort geschehen ist, wird es keine Gewalt anwenden. (Beifall bei der LINKEN – Michael Brand Das ist erklärt worden. Wir wissen aber genauso gut: [CDU/CSU]: Das ist doch zynisch! Als ob die Serbien wird alles unternehmen – es wird nicht nur vor Kosovaren sich selbst vertrieben hätten!) den Internationalen Gerichtshof ziehen –, um die Le- – Ich bitte Sie. Sie sollten sich in Erinnerung rufen, wie bensumstände der Menschen, die in diesem neuen Ge- freundschaftlich Sie mit dem ehemaligen UÇK-Führer bilde leben, so stark wie nur irgend möglich zu erschwe- umgehen, der heute Premierminister ist, mit Herrn ren. Die Hoffnungen auf wirtschaftliche Prosperität, die Thaçi. (B) die Menschen dort haben, werden sich nicht erfüllen (D) können. Es werden ihnen die Augen aufgehen, was ih- (Michael Brand [CDU/CSU]: Nicht ablenken! nen diese Unabhängigkeit gebracht hat. Wahrscheinlich Reden Sie über die Täter!) gar nichts, was die Verbesserung ihrer Lebenssituation – Ich bitte Sie sehr, bleiben Sie korrekt! Erkennen Sie betrifft. Wenn hier noch nicht einmal der Zweck die Mit- an, dass Verbrecher auf beiden Seiten existieren und dass tel rechtfertigt, wie wollen Sie dann die Entscheidung man nicht mit Sympathie und Antipathie kommen kann. zur Anerkennung überhaupt noch mit Ihren eigenen Ka- tegorien rechtfertigen? Wir müssen eine eminent wichtige, europapolitische Frage klären. Was jetzt im Kosovo geschehen ist, hat mit (Michael Brand [CDU/CSU]: Reden Sie doch einem multiethnischen Europa, das Sie im EU-Reform- einmal über die Gründe der Unabhängigkeit! vertrag beschwören, nichts zu tun. Spanien, Griechen- Herr Gysi war bei Milošević!) land, Zypern, Bulgarien, Rumänien, alle diese Länder Es gibt keine Begründung, die Sie für den einseitigen sind OSZE-Mitgliedstaaten, alle sind EU-Staaten, und Schritt der Unabhängigkeit anführen können. Wir Linke alle diese Staaten sagen, dass sie das Kosovo nicht aner- haben immer klar darauf hingewiesen, dass das Völker- kennen werden, weil sie Probleme mit den eigenen na- recht keine Möglichkeit bietet, eine einseitige Sezession tionalen Minderheiten bekommen werden. für rechtens zu erklären. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der LINKEN) Kollegin Knoche, kommen Sie bitte zum Schluss. Wir stellen noch einmal fest: Die kriegsbeendende UN-Resolution 1244 hat das Kosovo als autonome Pro- Monika Knoche (DIE LINKE): vinz Serbiens ausgewiesen. Alle Kraft hätte darauf ver- Das kann doch keine europapolitische Perspektive wendet werden müssen, eine weitestgehende Autonomie sein, die Sie dem Kosovo eröffnen wollen. Sie haben zu ermöglichen und zu einer friedlichen Übereinkunft zu dem Prozess der europäischen Integration viel mehr ge- kommen, die grassierende Korruption, Kriminalität und schadet als genutzt. Probleme haben Sie keine gelöst. Arbeitslosigkeit zu beenden und dem Kosovo innerhalb (Beifall bei der LINKEN) Serbiens eine EU-Perspektive zu geben. (Michael Brand [CDU/CSU]: Reden Sie doch Vizepräsidentin Petra Pau: einmal von den Opfern und nicht von den Tä- Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck für die tern! Das ist die Tradition einer Täterpartei!) Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. 15202 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

(A) Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei (C) GRÜNEN): der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Knoche, so einfach, wie Sie sich das hier machen, Es verschlägt mir fast die Sprache, Frau Knoche, geht es nicht. (Monika Knoche [DIE LINKE]: Das glaube Wir haben es jetzt mit einer schwierigen Situation zu ich!) tun. Niemand bejubelt es, dass wir hier letztlich einen Schritt tun, der eine Realität, die nicht mehr zurückzu- dass Sie seit 1992, seit dem Überfall der jugoslawischen drehen ist, gestalten muss. Da kann man sich nicht weg- Armee auf die kroatische Stadt Vukovar, dem keine Ag- ducken und sagen: Damit wollen wir jetzt nichts zu tun gression von kroatischer Seite vorausgegangen war, an- haben, wir machen die Augen zu. Dann hat man viel- scheinend blind durch die Welt gegangen sind und nicht mehr die Verantwortung, das, was durch geschichtliches gesehen haben, wie sich in diesem zerfallenden Jugosla- Wirken, durch viele Verbrechen, durch viele Morde und wien ein Verbrechen nach dem anderen abgespielt hat. viel Niedertracht, denen EU und Vereinte Nationen hilf- los zugeschaut haben, entstanden ist, zu gestalten und, so (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei gut wir es können, in Bahnen zu lenken, die es ermögli- der CDU/CSU, der SPD und der FDP) chen, dass die Menschen wieder leben können. Europa war demgegenüber hilflos. Die UNO hatte keine Dazu gehört auch, dass wir den Menschen in Serbien völkerrechtlichen Mittel zur Verfügung, um wirklich ad- die Türen aufmachen. Damit meine ich nicht die Natio- äquat zu reagieren. nalisten, die heute noch „heizen“. Gerade erst haben wir die Nachricht bekommen, dass die aufrechten Demokra- Was passierte denn in Bosnien? Mit einem friedens- ten dort sagen: Wir, Serbien, müssen auch in die bewahrenden Mandat wurden Blauhelme in dieses Land Milošević-Zeit schauen und die historische Verantwor- geschickt, in dem kein Frieden mehr zu bewahren war, tung, die da entstanden ist, annehmen und aufarbeiten. in dem die Paramilitärs, die Arkan-Truppen unter Bei- Diese Menschen werden derzeit mit Morddrohungen be- hilfe der „jugoserbischen“ Armee innerhalb von weni- legt. Ihre Fenster werden mit Steinen eingeworfen. Die gen Wochen einen Feldzug durch Bosnien-Herzegowina Nationalisten in Serbien sind nicht unsere Partner. mit unendlich vielen Toten geführt haben. Bevor Europa verstanden hat, was dort passiert war, kam es zu den (Beifall des Abg. Detlef Dzembritzki [SPD]) Massakern in Srebrenica und in vielen anderen Orten, Unsere Partner und Partnerinnen sind die Bürgerinnen zum Beispiel in Prijedor, in Bijeljina. Wir konnten wis- und Bürger, die diese Zeit überwinden wollen, die auch (B) sen: Überall dort, wo es den Tschetniks gelungen war, in Freiheit und Demokratie wollen, die zu einem westli- (D) die Dörfer und Städte einzudringen, hat es Mord, Tot- chen demokratischen Europa gehören wollen. Ihnen schlag und Vergewaltigung gegeben. Die friedensbewah- sollten wir die Tür öffnen. Die heutige Entscheidung ist renden UN-Soldaten schauten zu, statt einzugreifen, wie dafür eine der Voraussetzungen. es, wie ich meine, ihre völkerrechtliche Verpflichtung gewesen wäre. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Kollegin Beck, lassen Sie eine Zwischenfrage der bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP – Kollegin Knoche zu? Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Gysi und Milošević!) Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Völkerrecht der Vereinten Nationen, niedergelegt Es geht nicht darum: das Kosovo gegen Serbien. Viel- in der Charta der Vereinten Nationen, die auf dem Hin- mehr sollte die Europäische Union, die hoffentlich aus tergrund des deutschen Faschismus und der verheeren- dem gelernt hat, was die 90er-Jahre des vergangenen den Verbrechen, die in seinem Namen begangen worden Jahrhunderts in fürchterlicher Weise gekennzeichnet hat, sind, verabschiedet worden ist, hat zur Aufgabe, Geno- ihre Tür sowohl für das Kosovo als auch für Serbien öff- zid zu verhindern. Was passiert denn, wenn der Sicher- nen. heitsrat dieser Aufgabe nicht nachkommt, sich dieser Aufgabe also völkerrechtswidrig verwehrt? Was soll die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Staatengemeinschaft denn da machen? Soll sie weg- bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab- schauen? Genau das war die Situation, in der die Inter- geordneten der SPD) vention im Kosovo stattfand, die – jawohl! – eine pre- Bitte, Frau Knoche. käre völkerrechtswidrige Grundlage hatte. Man hat aus Srebenica Lehren gezogen, man hat überlegt und nach- gedacht: Wollen wir jetzt so lange zuschauen, bis es im Vizepräsidentin Petra Pau: Kosovo ein zweites Srebenica gibt? Gibt es erst dann das Das war sehr geschickt für die Verlängerung der Re- Recht zur Intervention, oder besteht nicht vielmehr die dezeit. Pflicht zur Intervention? Besteht nicht die Pflicht, ein (Zuruf) zweites Srebenica zu verhindern? Über diese völker- rechtlichen Fragen haben wir zu reden. – Die Frage hatte ich vorher schon gestellt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15203

(A) Monika Knoche (DIE LINKE): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie (C) Wenn ich auch erkennen muss, Frau Kollegin Beck, des Abg. Detlef Dzembritzki [SPD]) dass Sie sich in Ihrer Rede sehr stark auf die Vergangen- Wir haben als Vorgabe der UNO zwei Grundsätze. heit von 1999 beziehen Wir haben einmal den Grundsatz, dass es eine Integrität (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: der Grenzen geben soll. Das kann man doch nicht einfach ausblenden! – (Monika Knoche [DIE LINKE]: Dann setze Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Geschichts- ich mich jetzt! – Gegenrufe von der CDU/ vergessen!) CSU: Bleiben Sie mal stehen!) und nicht auf die jetzt zu regelnde Frage eingehen, die ja Wir haben aber auch den Grundsatz, dass Genozid zu eine völkerrechtsrelevante ist, möchte ich Sie fragen: verhindern ist. Das Verhältnis dieser beiden Grundsätze Können Sie dem Argument etwas abgewinnen, dass auf- ist im Völkerrecht bisher nicht eindeutig geklärt. grund des völkerrechtswidrigen Vorgehens – Sie wissen selber, auf welch tönernen Füßen die rechtliche Regie- (Monika Knoche [DIE LINKE]: Das sind an- rungsargumentation steht; wir haben das Recht auf terri- dere Themen! Das hat mit der Frage nichts toriale Integrität bei der OSZE, beim Völkerrecht usw. –, mehr zu tun!) (Zuruf von der CDU/CSU: Und das Recht auf Was Kofi Annan uns als Vermächtnis gegeben hat, Selbstbestimmung!) nämlich: Responsibility to protect, ist die Aufgabe, Völ- kerrecht so weiterzuentwickeln, aufgrund dessen, was den Kosovo-Albanern auf ihr Be- gehren hin von westlicher Seite seit Jahren versprochen (Monika Knoche [DIE LINKE]: Das hat mit worden ist, auf beiden Seiten Nationalismen aufgewach- meiner Frage nichts mehr zu tun!) sen sind, die sich heute gefährlich entladen können, und dass wir zukünftig eine sicherere und festere Grundlage dass die demokratischen Kräfte, die es in Serbien gibt haben, auf der wir uns bei solchen Konflikten bewegen und die ich sehr schätze, können. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Schönen Dank. Die schätzen Sie mehr als die Kosovo-Alba- ner!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) geschwächt werden, indem man einseitig dem Nationa- lismus das Prä gibt? Teilen Sie die Auffassung, dass Ex- Vizepräsidentin Petra Pau: tremismus wächst, wenn man sich außerhalb des Völker- (B) Das Wort hat der Kollege Gert Weisskirchen für die (D) rechts zu solchen Entscheidungen zusammenfindet? SPD-Fraktion. (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das ist ja unglaub- lich!) Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE Ivo Andrić hat in seinem Buch „Die Brücke über die GRÜNEN): Drina“ lakonisch knapp daran erinnert, was das Problem Extremismus wächst in der Tat, wenn Recht nicht be- Serbiens und der gesamten Region ist. Die aneinander- achtet wird. geketteten Schicksale der Völker des Balkans leiden da- ran, so heißt es: Von West nach Ost ist in jedem Punkte (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Ja!) Teilung. Nur, es gibt nicht immer ganz klare völkerrechtliche Das ist das, was die Menschen in dieser Region mit- Auflösungen. Das ist das Dilemma, mit dem wir zu tun einander verbindet – an Leid, an Angst, an Schrecken haben. Das Vermächtnis von Kofi Annan ist: Entwickelt und an geschichtlicher Last, unter der sie manchmal fast das Völkerrecht endlich weiter! zusammenbrechen. (Monika Knoche (DIE LINKE): Das ist aber Heute, jetzt gerade erleben wir die schwere Geburt nicht geschehen!) des schwierigsten staatlichen Gebildes der jüngsten eu- Nehmen Sie folgendes Beispiel: Die Sozialistische ropäischen Geschichte. Immer schon war Kosova, das Republik Vietnam ist im Jahr 1978 über die Grenze nach Amselfeld, historischer Kampfplatz für Identitätspolitik. Kambodscha gegangen Zu selten vereinigten sich unterschiedliche politische Ansprüche auf gemeinsame Ziele. Häufig richteten sie (Beifall des Abg. Detlef Dzembritzki [SPD]) sich gegeneinander. Und das Schlimmste: Gewalt explo- dierte viel zu oft. und hat dort dem Mordregime Pol Pots, das innerhalb weniger Jahre 1,8 Millionen Menschen umgebracht Verheerend waren die Folgen ebenjener Gewaltaus- hatte, ein Ende bereitet. Es gab keine klare völkerrechtli- brüche. Zuletzt zwang – liebe Kollegin Knoche, das dür- che Grundlage für die Entscheidung, die die Sozialisti- fen Sie nicht vergessen – Milošević den Kosovo-Alba- sche Republik Vietnam in jenem Jahr gefällt hat. Trotz- nern seine nationalistische Diktatur auf. Wir erinnern dem würde ich sagen: Sie war richtig; denn sie hat uns doch alle noch an Ibrahim Rugova, diesen freundli- Verbrechen beendet. chen, offenen, liberalen Kosovaren, der mit seiner inne- 15204 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (A) ren Leidenschaft zum Pazifismus versucht hat, friedlich Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): (C) zu helfen, damit das Kosovo anders leben kann, als es Herzlichen Dank, Frau Präsidentin, und auch herzli- unter der Diktatur hat leben müssen. In einem Schatten- chen Dank dafür, dass ich die Zwischenfrage stellen reich, wie es der Kollege Trittin richtig gesagt hat, in ei- kann. nem inneren Exil mussten die Kosovo-Albaner leben. Sie waren gewaltsam unterdrückt. Mir liegt sehr viel an historischer Wahrheit. Man darf auch die furchtbare Zeit der ethnischen Ver- (Lachen bei der CDU/CSU und der SPD – treibung nicht vergessen, wenn hier über das Kosovo ge- Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: redet wird, Frau Knoche. Darauf kommen wir zurück, Herr Kollege!) – Man muss das ertragen können. Das sollten Sie zumin- (Monika Knoche [DIE LINKE]: Das rede ich dest unterstellen, und davon sollten Sie ausgehen. auch nicht ab!) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE – Nun reden Sie das nicht ab. Warum sagen Sie hier GRÜNEN]: Sie wollen doch mit der DKP zu- dann nicht, dass Milošević genau an diesem Punkt die sammen wieder eine Mauer bauen!) Zukunft des Kosovo innerhalb Serbiens verspielt hat? Er war es, der durch den Einsatz dieser ungeheuren Gewalt – Das sind unglaublich dumme Zwischenrufe. Ange- gegenüber den Kosovaren genau die Chance verspielt sichts dieser ernsthaften Debatte vom Wiederaufbau der hat, die bei einem anderen Zusammenschluss Serbiens Mauer zu reden, sollte sich angesichts der Würde dieses und des Kosovo hätte möglich werden können. Er hat es Hauses von selbst verbieten. Das sage ich Ihnen in aller verspielt! Ernsthaftigkeit. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP (Beifall bei der LINKEN – Josef Philip und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das muss ich mir von Ihnen bestimmt nicht sagen Wissen Sie, was meine wirkliche Sorge ist? Wir wer- lassen!) den es morgen auf den Straßen Belgrads sehen. Meine wirkliche Sorge gilt denjenigen, die daraus einen Ich sage Ihnen auch in aller Ernsthaftigkeit: Ich Schluss gezogen haben, den serbischen Demokraten, die glaube, dass an Ihrer Feststellung, dass Milošević die Zukunft Serbiens einschließlich des Kosovo verspielt den Schluss gezogen haben, ihn loszuwerden, sich hat, sehr viel dran ist. Ich sage Ihnen aber genauso ernst- durchzukämpfen gegen Milošević. Wo waren Sie denn haft, dass der Versuch von , in letzter Minute da? Ich erinnere mich gut: Gregor Gysi hat bis zuletzt Milošević klarzumachen: „Wer die UNO nicht will, wird (B) versucht, mit Herrn Milošević zu reden. (D) die NATO erhalten, wird einen Krieg erhalten“, leider (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der gescheitert ist. Wäre er erfolgreich gewesen, wäre sehr CDU/CSU – Monika Knoche [DIE LINKE]: viel Leid erspart geblieben. Genau!) (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der Haben Sie das vielleicht vergessen? Ich habe es nicht CDU: So viel zur historischen Wahrheit! – Ge- vergessen. genruf der Abg. Monika Knoche [DIE LINKE]: Ja, das ist wahr, auch wenn Sie es (Monika Knoche [DIE LINKE]: Sagen Sie nicht mögen!)) auch, was er ihm gesagt hat! – Eckart von Ich finde, darüber kann man in historischer Ernsthaftig- Klaeden [CDU/CSU]: Ein Solidaritätsbesuch keit miteinander reden. war das! Das war ein Solidaritätsbesuch beim Genossen Milošević! – Weiterer Zuruf von der Jetzt habe ich ganz vergessen, was ich fragen will. Es CDU/CSU: In den Flüchtlingslagern war er ist das Übliche: Können Sie das verstehen? aber nicht! – Monika Knoche [DIE LINKE]: Reden Sie doch keinen Unfug!) Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Ich möchte noch hinzufügen, dass zu jenem Zeitpunkt Lieber Kollege Gehrcke, manche von uns sind ja in – auch das gehört zur historischen Wahrheit – die USA dieser Debatte befangen. Walter Kolbow hat eben darauf versucht haben, Zoran Djindjic, der nachher der Wich- hingewiesen; ich darf das für mich selber auch sagen. tigste war, an die Seite zu drücken und auf Vuk Ich habe mit Zoran Djindjic noch wenige Tage vor Drašković zu setzen. seinem Tod gesprochen. Ich habe sehr genau in Erinne- rung, was ihn bewegt hat. Ihn hat die Frage bewegt, wie Vizepräsidentin Petra Pau: das demokratische Serbien es schafft, diese Schranke Herr Weisskirchen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Nationalismus zu durchbrechen, für die Milošević des Kollegen Gehrcke? stand. (Zuruf von der SPD: Ja!) Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Das war zwar eigentlich eine Maskerade. Milošević Bitte schön. war nämlich vorher Kommunist, und als er meinte, es Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15205

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (A) gehe nicht mehr anders, hat er eine Maske aufgesetzt, bisschen Entwicklungshilfe. Das ist zu wenig. Die (C) nämlich die Maske des Nationalisten. Menschen brauchen auch einen Sinn im Leben, und zwar nicht nur im einzelnen, sondern auch im kol- (Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: So war es! – Zu- lektiven Leben. Und die europäische Integration rufe von der LINKEN – Gegenrufe von der kann diese Rolle spielen, wenn sie als eine große CDU/CSU: Wie bei der Linkspartei! – Ja, das Vision entwickelt wird und nicht in einem bürokra- kann sie!) tischen Konzept erstickt. Mit solchen Leuten ernsthaft zu verhandeln – verdammt Am Ende seiner Rede sagte er: noch mal –, auf diese Idee kann niemand kommen, der wirklich versuchen will, Demokratie in diesem Lande Ohne Europa zu vervollständigen, durchzusetzen. Wie man so etwas tun kann, kann ich – er meinte damit Südosteuropa – überhaupt nicht verstehen. wird Europa nicht stabil und kann die Rolle in der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Weltgeschichte nicht spielen, die es spielen soll. Es Nein, Zoran Djindjic hat ganz deutlich gesagt, worum herrscht ein Defizit an europäischer Identität in Eu- es geht. Es ist die europäische Bestimmung Serbiens, ropa selbst. Man muss in Europa wissen, warum ein Demokratie von unten aufzubauen und dieses Land mit europäisches Modell besser ist als alle anderen Mo- seiner unendlich schweren Last der Geschichte in die delle – wir brauchen eine europäische Seele. Europäische Union zu führen. Er wusste sehr genau So Zoran Djindjic. – das hat er auch in diesem Gespräch gesagt –, wer den Preis dafür zu bezahlen hat. – Zehn Tage später wurde er Wie kann man mit Blick auf die gegenwärtige Situa- erschossen. tion klarer formulieren, worum es jetzt ganz eindeutig geht? Albaner und Serben werden dereinst einen glei- Das, was in Serbien nun geschieht – das lege ich uns chen Platz haben in der Europäischen Union, zunächst allen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ans Herz; es nebeneinander, später miteinander. So viel Mut wir jetzt wurde in dieser Debatte ja schon häufig angesprochen –, aufbringen, der Europäischen Union mit Belgrad und muss uns ganz ernst sein. Wir müssen all unsere Kräfte Mitrovica eine neue Gestalt zu geben, so viel Frieden zusammenlegen. So möchte ich gerne das aufnehmen, können wir in Europa gewinnen. Hier in der Europäi- was der Kollege Krichbaum gesagt hat: Wir müssen jetzt schen Union ist der Ort, an dem der Frieden fest wird; gemeinsam schauen, wie es uns gelingen kann, dass Ser- dort in der nationalistischen Isolation endet jede mensch- bien ebenfalls einen Weg in die Europäische Union fin- liche Zukunft. det. (B) Ich hoffe, dass der heutige Beschluss der Bundesre- (D) Zeiten wie diese können als Zeitbeschleuniger ge- gierung mithilft, dass Serbien erkennt: Gemeinsam ha- nutzt werden. Richten wir einmal einen Blick in die ge- ben wir jetzt die Chance, den Weg in die Europäische meinsame Zukunft. Wenn wir uns nun darum bemühen, Union zu gehen. Ich wünschte mir, dass wir alle das er- die Architektur der Europäischen Union zugunsten die- kennen und mithelfen, dass Serbien diese Chance hat – ser schwierigen Region Südosteuropa zu vollenden, wie alle anderen in Europa auch. dann ziehen wir aus den Ereignissen den richtigen Schluss. Ansonsten kämen vielleicht andere Zeitbe- Danke schön. schleuniger zum Zuge, nämlich diejenigen, die zurück in (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP die nationalistische Vergangenheit gehen wollen. Dieser und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Weg führt aber in die Isolation. Wir wollen, dass Serbien in Zukunft gemeinsam mit uns europäische Verantwor- tung wahrnimmt. Wenn wir aus dieser Debatte diesen Vizepräsidentin Petra Pau: Schluss ziehen, dann wäre das, wie ich finde, genau der Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Thomas richtige. Silberhorn das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Thomas Silberhorn (CDU/CSU): der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gerade GRÜNEN) die ausgewogenen Beiträge in dieser Debatte haben ge- Nachdem ich vorhin schon Zoran Djindjic erwähnt zeigt: Wir haben keine optimale Lösung für das Kosovo, habe, möchte ich auch gerne noch diejenigen, die mor- und es gibt sie auch nicht. Wir haben auch keine endgül- gen in Belgrad Reden vor vielleicht Zehntausenden von tige Lösung aller Fragen; aber es musste jetzt entschie- Menschen halten, daran erinnern, was er vielleicht in den werden. dieser Situation sagen würde, wenn er denn auf dieser Deshalb möchte ich in Erinnerung rufen, dass alle Demonstration sprechen könnte. So darf ich zitieren, Möglichkeiten einer einvernehmlichen Verhandlungslö- was er in einer großen Rede in Zürich im Oktober 2002, sung im Hinblick auf den Status des Kosovo ausge- also wenige Monate vor seinem Tod, ganz deutlich schöpft worden sind, unter maßgeblicher deutscher Be- sagte: teiligung in der Troika, die leider ergebnislos geendet ist. Was soll eine große mobilisierende Idee sein, die Auch wenn nun Staaten wie Russland und andere versu- stark genug ist, das Positive im Menschen zu bewe- chen, eine Statuslösung zu blockieren, wird das nicht gen? Man kann Menschen nicht bewegen mit ein weiterführen. Ich darf daran erinnern, dass erst kürzlich, 15206 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

Thomas Silberhorn (A) am 6. Januar, UN-Generalsekretär Ban Ki-moon geäu- gelingen sollte, werden auch wir diejenigen sein, die die (C) ßert hat, der Status quo im Kosovo könne jedenfalls Folgen zu spüren haben werden. nicht aufrechterhalten werden; eine weitere Verzögerung der Statusfrage würde noch zusätzlich Konfliktpotenzial (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und schüren. Deswegen ist die Unabhängigkeit des Kosovo der SPD) jetzt die vernünftigste und politisch wohl einzig tragfä- hige Lösung, meine Damen und Herren. Ich begrüße es, dass wir neben der Europäischen Union eine breite internationale Präsenz im Kosovo ha- Die Unabhängigkeit ist – darauf muss mit aller Deut- ben werden: die NATO, die OSZE, die Weltbank, der lichkeit hingewiesen werden – eine direkte Folge der Europarat und andere. Insbesondere der KFOR-Mission schweren Menschenrechtsverletzungen, der Massenver- der NATO wird in den nächsten Monaten die wichtige treibungen von Albanern aus dem Kosovo durch Serbien Aufgabe zukommen, einen friedlichen Übergang zu ei- unter Milošević. ner kosovarischen Verwaltung sicherzustellen. Es ist mehr als eine Fußnote, dass beispielsweise Spanien, das (Beifall bei der CDU/CSU) eine Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo ab- lehnt, ausdrücklich seine Bereitschaft erklärt hat, an der Diese schweren Menschenrechtsverletzungen begrün- KFOR-Mission weiter mitzuwirken. den, dass wir im Kosovo einen Sonderfall haben. Dass diese schweren Menschenrechtsverletzungen gegenwär- Es kommen nun gewaltige Herausforderungen auf tig nicht mehr vorkommen, weil zwischenzeitlich eine das Kosovo zu. Es darf nicht dauerhaft am Tropf der Verhandlungslösung angestrebt worden ist, die im Er- Europäischen Union hängen, sondern – das ist die Ziel- gebnis leider erfolglos geblieben ist, unterbricht nicht vorstellung – muss mit unserer Unterstützung in die den direkten Zusammenhang, dass diese der Grund dafür Lage versetzt werden, Staatsgewalt auf dem eigenen Ter- waren, dass eine andere Lösung nicht möglich war und ritorium effektiv ausüben zu können. Das Kosovo muss im Ergebnis das Kosovo einseitig seine Unabhängigkeit den Anspruch haben, selbstständig lebensfähig zu wer- erklärt hat. den. Dazu bedarf es gewaltiger Anstrengungen. Ich Diese Unabhängigkeitserklärung schreibt einen Zu- glaube, dass es wichtig ist, das jetzt exakt zu formulie- stand fest, der bereits politische Realität ist, nämlich dass ren. Wer nämlich in der Erwartung, dass großalbanische Serbien seit der Errichtung eines internationalen Protek- Träume irgendwann diskutiert werden könnten, Anstren- torats unter UN-Verwaltung durch die Resolution 1244 gungen hintanstellt, dem muss man sagen, dass solche keinen direkten Einfluss mehr auf das Kosovo ausübt. Träume die jetzt erklärte Unabhängigkeit infrage stellen würden. Dorthin kann kein Weg führen. Das muss deut- (B) Meine Damen und Herren, die Verhandlungen der lich gesagt werden. (D) Troika mögen im Blick auf das Verhandlungsziel zwar erfolglos gewesen sein; aber sie sind nicht ohne Ergebnis Eine der ersten Aufgaben für das Kosovo wird es geblieben. Ergebnis dieser Verhandlungen ist immerhin, sein, eine Verfassung zu entwerfen. Ich hoffe und rege dass beide Seiten ausdrücklich einen Gewaltverzicht er- an, dass insbesondere der Schutz der Minderheiten darin klärt haben, und Ergebnis dieser Verhandlungen ist wohl ausdrücklich Berücksichtigung findet. Das Kosovo muss auch, dass sie innerhalb der Europäischen Union den nach internationalen Standards die eigenen Minderheiten Boden dafür bereitet haben, eine gemeinsame Grundlage schützen sowie das kulturelle und christliche Erbe des für die nationalen Entscheidungen über die Anerken- Landes bewahren. nung eines unabhängigen Kosovo zu finden. Deswegen, Ich denke, wir sind uns darin einig, dass das Kosovo meine ich, wird dadurch jetzt auch eine Basis gelegt, um – wie der gesamte westliche Balkan – eine europäische den Balkan dauerhaft stabilisieren zu können. Das jeden- falls muss unser gemeinsames übergeordnetes Ziel sein. Perspektive braucht. Das gilt auch für Serbien, auch wenn in den nächsten Wochen diplomatische Spannun- Die Unabhängigkeit des Kosovo ist dazu nur ein ers- gen wohl unvermeidlich sein werden. Ich rufe die poli- ter Schritt. Es liegt jetzt vor allem am Kosovo selbst, zu tisch Verantwortlichen gerade in Serbien und insbeson- zeigen, dass es zum Aufbau stabiler staatlicher Struktu- dere die junge Generation auf, die Annäherung an die ren in der Lage ist, bei Verwaltung und Justiz, bei der Europäische Union nicht aus dem Auge zu verlieren. Beachtung von Minderheitsrechten und bei der Aus- Wir haben bislang weitgehend besonnene Reaktionen übung polizeilicher Hoheitsgewalt im gesamten Staats- aus Serbien verzeichnen können, die zumindest hoffen gebiet. Das muss im Ergebnis erreicht werden. lassen, dass es eine tragfähige Kooperation zwischen Serbien und der EU geben kann. Die Europäische Union leistet dazu vielfältige Unter- stützung gemeinsam mit anderen Staaten: mit der Ent- Allerdings muss deutlich gesagt werden, dass die ge- sendung der Polizei- und Rechtsstaatsmission, die im waltsamen Aktionen, die jetzt an Zollposten an der Einvernehmen mit allen EU-Mitgliedstaaten beschlossen Grenze zum Kosovo stattgefunden haben, nicht hin- worden ist, mit der Ernennung eines Sonderbeauftragten, nehmbar sind. Wenn der für das Kosovo zuständige ser- mit der Errichtung der internationalen Verwaltungsbe- bische Minister erklärt, dass diese Aktionen im Einklang hörde sowie mit finanzieller und wirtschaftlicher Unter- mit der allgemeinen Regierungspolitik Serbiens stünden, stützung. Kurzum: Die Leistungen der Europäischen dann muss man ihn sehr deutlich an den ausdrücklich er- Union zeigen, dass wir die Stabilisierung des Balkans als klärten Gewaltverzicht der serbischen Regierung erin- unsere eigene Aufgabe begreifen. Denn wenn sie nicht nern. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15207

Thomas Silberhorn (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Beitrag zu dieser Entwicklung ist von großer Bedeutung – (C) bei Abgeordneten der FDP) sowohl in der EU als auch in der NATO. Insbesondere die kürzlich abgehaltenen Präsident- In diesem Zusammenhang darf ich besonders den schaftswahlen in Serbien zeigen, dass eine Mehrheit der KFOR-Soldaten der Bundeswehr für ihren Beitrag zur serbischen Bevölkerung sehr wohl die Integration in Sicherung und Stabilisierung des Kosovo meinen herzli- europäische Strukturen anstrebt und sich ausdrücklich chen Dank aussprechen. gegen Isolation ausgesprochen hat. Das gilt besonders für die junge Generation. Daran sollten wir anknüpfen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Die Europäische Union hat ganz konkrete Vorschläge FDP) unterbreitet: ein politisches Abkommen hinsichtlich ei- ner Liberalisierung des Visaregimes und der Abschluss Die Soldaten – in den Kontingenten waren im Durch- eines Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens. schnitt 6 500 und jetzt am Schluss 2 800 präsent – haben unseren Dank und unsere Anerkennung verdient. Ich Kurzum: Die Stabilisierung des Balkans wird nur habe es einmal hochgerechnet: Seit 1999 waren über durch eine solche Annährung an die Europäische Union 84 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten in 30 Kontin- gelingen. Eines Tages wird man die Grenzen aufgrund genten im Einsatz. Sie waren es, die durch die Aufrecht- der Integration in die Europäische Union überwinden erhaltung der Ordnung und der Sicherheit den Rahmen können. Das muss unser gemeinsames Ziel sein. Darin gebildet haben, innerhalb dessen die Aufbauarbeit der liegt unsere gemeinsame Zukunft. zahlreichen Hilfsorganisationen überhaupt erst stattfin- den konnte. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Nicht zuletzt leisteten Soldaten der Bundeswehr vor- bei Abgeordneten der FDP und des Abg. Josef bildliche Arbeit im humanitären Bereich, beim Minen- Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- räumen und beim Wiederaufbau unzähliger Häuser. Ne- NEN]) benbei sammelten Soldaten in Deutschland und im Feldlager kontinuierlich Sach- und Geldspenden, um die Not der Bevölkerung zu lindern. Wenn das Kosovo noch Vizepräsidentin Petra Pau: immer die einzige Region in Europa ist, wo nicht einmal Der Kollege Ernst-Reinhard Beck aus der Unions- die Stromversorgung funktioniert und in der fast jeder fraktion hat nun das Wort. Zweite arbeitslos ist und mehr als ein Drittel der Bevöl- kerung mit weniger als 1,50 Euro pro Tag auskommen Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU): muss, dann lag dies nicht an den Soldaten der Bundes- (B) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- wehr. (D) ginnen und Kollegen! Die Unabhängigkeitserklärung Auch die Übergangsverwaltung der UNMIK mit dem des Kosovo ist – das sage ich ganz bewusst – der logi- Deutschen Dr. Rücker an der Spitze verdient Dank. sche und folgerichtige Abschluss einer politischen Ent- Hierbei ist auch der wichtige Beitrag zu erwähnen, den wicklung, die durch die serbische Unterdrückungs- und deutsche Polizeibeamte in diesem Zusammenhang ge- Gewaltpolitik unter Milošević ausgelöst wurde. Der Ver- leistet haben. bleib im oder die Rückkehr in den serbischen Staatsver- band waren der großen Mehrheit der kosovarischen Be- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der völkerung nicht mehr zuzumuten. Die Bilder von Flucht FDP) und Vertreibung des Jahres 1999 sind nicht nur uns, son- dern auch dort noch in schrecklicher Erinnerung. Trotz gelegentlicher Rückschläge, im März 2004 zum Beispiel, ist KFOR die schwierige Stabilisierung der Re- Bedauerlich ist – das wurde vorhin angesprochen –, gion gelungen. 16 000 Soldaten sind für diese NATO-ge- dass in Belgrad nun die Demokraten die Suppe auslöf- führte Mission mit UN-Mandat im Einsatz; 2 317 kom- feln müssen, die ihnen der Diktator Milošević einge- men aus Deutschland. Sie gehören zur multinationalen brockt hat. Wir alle hätten uns eine einvernehmliche Taskforce Süd in Prizren, an der übrigens ganz zu An- Lösung gewünscht. Eine solche war aber – dies wurde fang auch ein russisches Bataillon beteiligt war; an die- mehrfach gesagt – wegen der Haltung Russlands leider ser Stelle sollte man vielleicht einmal daran erinnern. nicht möglich. Der Schritt in die Unabhängigkeit gibt daher dieser Nach der Ausrufung der Unabhängigkeit herrscht im Durchschnitt sehr jungen Bevölkerung Hoffnung auf eine prekäre Sicherheitslage. KFOR wird zunächst den eine bessere Zukunft und endlich eine Perspektive. Die Schutz der rund 100 000 im Kosovo verbliebenen Ser- Anerkennung gerade auch durch Deutschland ist ein ben verstärken müssen und Übergriffe auf Grenzstatio- wichtiger Beitrag und ein ermutigendes Signal. nen, wie dies in den letzten Tagen geschehen ist, verhin- dern. Bereits im Vorfeld der jetzt eingetretenen Situation Gleichwohl bedarf die Entwicklung des Kosovo hin hatte KFOR vor dem Hintergrund einer möglichen kri- zu einer stabilen Demokratie weiterhin der politischen senhaften Entwicklung und ziviler Unruhen im Kosovo Begleitung durch die internationale Staatengemein- im Zusammenhang mit der noch offenen Statusfrage im schaft. Es ist daher gut und richtig, dass die EU das Ko- Dezember Vorsorge getroffen, um in einer Krise mög- sovo auf der Grundlage der im Ahtisaari-Papier enthalte- lichst abgestuft, flexibel und umfassend reagieren zu nen Vorschläge auch in Zukunft begleitet. Deutschlands können. 15208 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (A) Das KFOR-Mandat des Bundestages wird am 11. Juni aber: Der Fisch stinkt vom Kopf her, und all die Leute, (C) 2008 auslaufen. Die Bundesrepublik unterstützt bereits die kleine Steuerbetrügereien machen, werden sich heute die EULEX-Mission – European Union Rule of durch die Vorgänge, die jetzt bekannt geworden sind, ge- Law Mission in Kosovo –, die mit über 1 800 Polizisten, radezu legitimiert fühlen. Sie werden glauben, dass sie Richtern, Staatsanwälten und Zollbeamten die größte zi- das dürfen, obwohl das nicht der Fall ist, wie wir wissen. vile Operation der EU darstellen wird. Es ist zu hoffen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dass EULEX in nicht allzu ferner Zukunft eine weitere signifikante Reduzierung der KFOR-Kontingente er- Ich halte überhaupt nichts davon, wie sich Leute wie möglicht und vielleicht in noch fernerer Zukunft die Prä- Professor Kirchhof oder Herr Ramsauer von der CSU senz von KFOR völlig überflüssig macht. dazu äußern. Herr Kirchhof behauptete heute in der Süd- deutschen Zeitung, dass das am unverständlichen Steuer- Der Schritt in die Unabhängigkeit war, wie ich meine, system liege, und Herr Ramsauer sagte gestern, wir hät- unvermeidlich. Die Unabhängigkeit ist aber noch lange ten eine steuerpolitische Landschaft, die so hässlich sei, nicht der Abschluss dieser Entwicklung. Im Gegenteil: dass man es kaum aushalten könne. Wer jetzt so argu- Es wartet noch eine Menge Arbeit, vor allem auf die Ko- mentiert, setzt sich dem Verdacht aus, die Steuerhinter- sovaren selbst. Der Weg wurde eingeschlagen. Wir dür- ziehung, die jetzt rauskommt, mit unserem Steuersystem fen die Hoffnung der Bevölkerung des Kosovos auf eine zu legitimieren. bessere Zukunft, auf Recht, Ordnung, Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität nicht enttäuschen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Eduard Vielen Dank. Oswald [CDU/CSU]: Unglaublich! Schämen (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Sie sich!) FDP) Sie müssen doch bedenken, was Sie mit Ihrem Gerede anrichten. Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Logisch ist übrigens auch Oskar Lafontaine nicht. Er schlägt die Erhöhung des Spitzensteuersatzes vor, um da Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf: Abhilfe zu schaffen; als hätte das etwas damit zu tun, als Aktuelle Stunde könnte man damit Steuerhinterziehung verhindern! auf Verlangen der Fraktionen DIE LINKE und (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Aber BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Steuergerechtigkeit herstellen!) (B) Fehlende Strategien der Bundesregierung in Allerorten wird zurzeit also relativ viel Blödsinn abge- (D) der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und liefert. Konsequenzen aus den Steuervergehen durch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Finanztransfers ins Ausland Wir werden natürlich schauen – das sage ich ganz Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege klar –, ob das Verhalten und das Handeln des BND rich- Fritz Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. tig war. Es ist in einer Demokratie übrigens ganz normal, dass man das in einem parlamentarischen Verfahren Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): klärt. Wir werden das in einer Art und Weise tun, die uns Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- nicht in den Verdacht bringt, die Steuerhinterziehung, legen! Deutschland präsentiert sich in diesen Tagen als derer Herr Zumwinkel beschuldigt wird, reinwaschen zu ein Land, an dessen Spitze von Gier zerfressene wirt- wollen. Wir sehen darin einen ganz normalen parlamen- schaftliche Eliten stehen. Das muss uns Sorgen machen, tarischen Auftrag. weil es den sozialen und politischen Zusammenhalt in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) unserem Land gefährdet. Was soll sich eigentlich, so fra- gen wir uns, ein Hartz-IV-Bezieher denken, der beim Als ich gestern gehört habe, wie der Erbprinz Alois Ausfüllen eines Antrages einen kleinen Fehler macht von und zu Liechtenstein die Story verkündet hat, nach und deswegen geschröpft wird, wenn er sieht, was die der ein großes, böses und grausames Land ein kleines, in- Zumwinkels dieser Republik veranstaltet haben? tegres Land mit 30 000 Einwohnern angreift, habe ich zuerst gedacht: Das kann nicht wahr sein. Diese Aussage (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hält einer Betrachtung der Wirklichkeit aber nicht stand: sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Seit 1995 ist Liechtenstein Mitglied im europäischen Deswegen müssen die Bekämpfung der Steuerhinterzie- Wirtschaftsraum, mit allen wirtschaftlichen Vorteilen, hung und das Trockenlegen von Steueroasen in den die das Land daraus schöpft, und die sind immens. Aber nächsten Monaten und Jahren Hauptaufgaben der deut- was tut es? Es agiert faktisch wie eine Räuberhöhle, ver- schen Politik sein. weigert jede Amtshilfe bei der Verfolgung von Steuer- hinterziehung und hat ein Stiftungswesen, das zur Ano- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nymisierung beiträgt und nichts anderes ist als eine – ich Zurzeit kann man allerorten lesen, Steuerhinterzie- formuliere es bewusst so hart – staatlich organisierte Bei- hung sei ein Volkssport. Wenn man die empirischen Da- hilfe zur Steuerhinterziehung. Das sind die Fakten, um ten beurteilt, scheint das richtig zu sein. Ich sage Ihnen die wir nicht herumreden sollten. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15209

Fritz Kuhn (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich komme zum Ende. – Das, was wir alle wollen – Sicherheit, öffentliche Infrastruktur und sozialer Zu- Kollege Westerwelle, der nicht anwesend ist, hätte sammenhalt –, geht nur, wenn in der Globalisierung besser überlegen sollen, als er die Einladung der liech- klare Regeln darüber herrschen, dass alle Steuern zahlen tensteinischen Regierung, am 5. Oktober des letzten Jah- müssen. Es darf nicht sein, dass manche es nicht tun. res auf einer Tagung zu sprechen, angenommen hat. Ich zitiere den Titel der Tagung: „Veränderungen meistern: Vielen Dank. Erfolgsstrategien für Finanzplätze“. Da hätte er viel- leicht nicht sprechen sollen. Falls er das Honorar in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Höhe von 7 000 Euro versteuert, kann man immerhin sa- sowie bei Abgeordneten der SPD) gen, dass diese 42 Prozent eine kleine Rückführung von dem sind, was der liechtensteinische Staat so alles von Vizepräsidentin Petra Pau: deutschen Steuerhinterziehern einkassiert hat. Das Wort hat der Kollege Otto Bernhardt für die Uni- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- onsfraktion. NEN]: Warum sitzt er heute nicht hier? Wo ist er denn?) Otto Bernhardt (CDU/CSU): Aber im Ernst. Ich will Ihnen jetzt zum Abschluss Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und einmal sagen, was wir tun müssen. Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Kuhn, Sie fordern hier eine Strategie der Bundesregie- Erstens. Wir müssen die Steuerfahndung in Deutsch- rung, um den Eindruck zu erwecken, als passierte nichts. land stärken. (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) NEN]: Nein, weil es helfen würde!) Wir müssen die Steuerverwaltung vom Kopf auf die Sie selber waren bis vor zweieinhalb Jahren in der Re- Füße stellen. Dies bedeutet eine Bundessteuerverwal- gierung, und zwar für viele Jahre. Ich frage: Was haben tung, weil die Länderkonkurrenz zur Schwächung der Sie denn damals gemacht? Steuererhebung in Deutschland führt. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. h. c. Hans (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Was habt Michelbach [CDU/CSU]: Das sind die Maul- Ihr in sieben Jahren Rot-Grün gemacht?) helden von gestern! – Gegenruf der Abg. (B) Zweitens. Wir müssen uns in Europa stärker um eine Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) Harmonisierung der Steuersätze bei allen vergleichbaren NEN]: Und Sie sind die von heute?) Steuern und der Bemessungsgrundlagen bemühen. Ich stelle fest, dass Steuerhinterziehung in Deutsch- Drittens. Wir brauchen ein Rechtshilfeabkommen mit land nicht, wie Sie, Herr Kollege, gesagt haben, ein Ka- Liechtenstein, das dazu führt, dass auch bei Steuerhinter- valiersdelikt ist. Steuerhinterziehung bedeutet: Die Steu- ziehung Amtshilfe geleistet werden muss. Denn das ist ern, welche derjenige, der sie eigentlich zahlen müsste, gegenwärtig nicht der Fall. nicht zahlt, müssen die anderen zahlen. Das ist ein Ver- stoß gegen die Solidarität. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall des Abg. [CDU/CSU] sowie des Abg. Dr. Volker Wissing [FDP]) Viertens. Wir müssen dafür sorgen, dass Liechten- stein seinen Aufgaben im europäischen Wirtschaftsraum In Deutschland wird Steuerhinterziehung hart bestraft: nachkommt, nämlich erstens eine effektive Quellen- bis zehn Jahre Gefängnis und Gefängnisstrafe schon ab steuer zu erheben, wenn sie schon keine Kontrollmittei- 50 000 Euro. Dass dies nicht nur leere Worte sind, zei- lungen machen wollen, und diese zweitens auch auf Stif- gen die Zahlen. In jedem Jahr haben wir in Deutschland tungskapitalien auszudehnen und nicht nur auf normale 40 000 Verfahren, 17 000 Strafverfahren; über 1,5 Mil- Zinserträge. Das wissen viele gar nicht: Bei den Zins- liarden Euro kommen über diesen Weg rein. Die Steuer- erträgen gibt es eine Miniquellensteuer, bei Anlagen mit fahndung in Deutschland funktioniert. Zertifikaten und Stiftungen gibt es diese nicht. Einige geben jetzt den Oasen die Schuld. Wir müssen Fünftens und Letztens. Wir müssen in Deutschland, etwas tun, dass es möglichst keine Oasen gibt. Ich im Parlament, aber auch im Finanzministerium und bei glaube, es gibt drei in Europa. Andere geben jetzt dem der Regierung, eine systematische Strategie entwickeln, Steuersystem die Schuld. Nein, Schuld haben nicht die mit der wir Schritt für Schritt dazu kommen, dass die Oasen, und Schuld hat nicht das Steuersystem. Schuld Steueroasen in Europa und in der Welt stillgelegt werden haben diejenigen, die die Oasen nutzen oder vor unse- können. rem Steuersystem weglaufen. Das sind die eigentlich Schuldigen. Das muss man meines Erachtens in jeder Debatte mit aller Deutlichkeit betonen. Vizepräsidentin Petra Pau: Herr Kollege Kuhn, diese Strategie müssen Sie außer- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- halb Ihrer Redezeit entwickeln. neten der SPD und der FDP) 15210 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

Otto Bernhardt (A) Es ist natürlich populär, die Reichen, die mehr Steuern (Dr. Volker Wissing [FDP]: Bei den Grünen (C) zahlen, zu verteufeln. Das macht sich gut, und man be- nicht!) kommt von bestimmten Teilen dieses Hauses Applaus. Eine solche Vorverurteilung ist sicherlich nicht der Nur, meine Damen und Herren, auch in dieser Debatte richtige Weg. Deshalb sage ich: Wir werden, unserer dürfen wir nicht übersehen: Die Mehrzahl der Deutschen Grenzen bewusst, weiterhin alles tun, um die Steueroa- zahlt ehrlich ihre Steuern. sen trockenzulegen. Wunder darf man auf diesem Gebiet (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der nicht erwarten. Ich vermute allerdings, die jetzige Dis- FDP) kussion führt dazu, dass in Deutschland noch mehr Men- schen als bisher zu ehrlichen Steuerzahlern werden. Ich will bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen: Die 10 Prozent der Bevölkerung, die am meisten verdienen, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) zahlen 50 Prozent des Steueraufkommens; das können sie auch. Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch für die (Ortwin Runde [SPD]: Ja! Der Einkommen- Fraktion Die Linke. steuer! – Dr. [DIE LINKE]: Das gilt nur für die Einkommensteuer! – Frank (Beifall bei der LINKEN – Dr. h. c. Hans Spieth [DIE LINKE]: Genau! Seien Sie bitte Michelbach [CDU/CSU]: Jetzt kommt die korrekt!) Vermögensverschleierung!) – Ja, ich meine die Einkommensteuer. – Die 50 Prozent, Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): die am meisten verdienen, zahlen insgesamt 90 Prozent Liebe Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen des Einkommensteueraufkommens. Das heißt im Um- und Herren! Zur Steuerhinterziehung gehören immer kehrschluss: Die 50 Prozent, die am wenigsten verdienen, zwei: derjenige, der die Steuern hinterzieht, und derje- zahlen insgesamt nur zehn Prozent des Einkommensteu- nige, der zulässt, dass Steuern hinterzogen werden. Ich eraufkommens. Daher warne ich vor der Verteufelung der sage Ihnen: Der Bundesfinanzminister und seine Kolle- Reichen. Denn Reiche können sich der Steuerzahlung in gen in den Ländern tragen die politische Verantwortung Deutschland ganz legal entziehen; dafür, dass in diesem Land Steuern hinterzogen werden (Gabriele Frechen [SPD]: Das ist ja das Pro- können. blem!) (Beifall bei der LINKEN – Dr. h. c. Hans dafür gibt es viele Beispiele. Sie suchen sich einen ande- Michelbach [CDU/CSU]: Sagen Sie uns doch (B) ren Wohnsitz, und dann sind sie weg. An dieser Stelle mal, wo das SED-Vermögen ist!) (D) müssen wir ansetzen. Es wäre kein Problem, die grassierende Steuerflucht zu beenden, wenn die Finanzminister es wirklich woll- Denjenigen, die vor diesem Hintergrund meinen, die ten. Doch das wollen sie gar nicht. Ein aktuelles Bei- Abgeltungsteuer infrage stellen zu müssen – ich bin spiel: Der Bundesrechnungshof, also nicht unsere Frak- froh, dass das Ministerium diesen Weg nicht mitgeht –, tion, muss ich sagen: Die Abgeltungsteuer ist ein Beitrag, um sicherzustellen, dass in Zukunft mehr Geld in Deutsch- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: land bleibt. Deshalb haben wir sie eingeführt. Gar keine Fraktion!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- forderte den Finanzminister auf, erstens bei Einkünften neten der SPD – Zuruf von der LINKEN: Das von mehr als 500 000 Euro eine Pflicht zur Aufbewah- glauben Sie selbst nicht!) rung privater Belege durchzusetzen und zweitens die Pflicht zur Begründung von Außenprüfungen bei Ein- Jetzt spreche ich einen kritischen Punkt an, der mich kommensmillionären aufzuheben. Wir finden, das sind sehr nachdenklich gestimmt hat – das erinnert mich an gute Vorschläge. Doch der Finanzminister hat diese Vor- Vorverurteilungen, und ich frage mich, wer hierfür die schläge mit der Begründung zurückgewiesen, die Bun- Verantwortung trägt –: Als die Steuerfandung frühmor- desregierung wolle die Bürokratie abbauen. gens auftauchte, stand das Fernsehen schon vor der Tür. (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN) (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ins- Es ist schon erstaunlich: Wenn es um die Überwa- zenierung!) chung von Arbeitslosengeldempfängern geht, dann Mit dieser Frage muss man sich beschäftigen. Wenn man scheut die Bundesregierung keine noch so hohen büro- morgens um acht Uhr schon auf allen Programmen im kratischen Hürden und keinen Aufwand, um herauszu- Fernsehen zu sehen ist, ist das eine Art Vorverurteilung. bekommen, ob ein Arbeitsloser vielleicht 10 Euro zu viel bekommen hat. Ich nenne Ihnen eine Zahl: Inner- (Frank Spieth [DIE LINKE]: Das ist schon ein halb eines Jahres stieg die Zahl der Sanktionen gegen bisschen suspekt!) Arbeitslose um 58 Prozent. Allein im September 2007 wurden 138 700 Sanktionen gegen Arbeitslose ausge- Die Art und Weise, wie die Staatsanwaltschaft vorgegan- sprochen. Welch ein bürokratischer Aufwand und welch gen ist, ist aus meiner Sicht nicht korrekt. Denn in ein Widerspruch! Deutschland gilt immer noch der Grundsatz: Bis zum Ende eines Prozesses gilt jeder als unschuldig. (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15211

Dr. Gesine Lötzsch (A) Wenn es um Sanktionen gegen Einkommensmillionäre (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) geht, dann fürchtet der Finanzminister allerdings plötz- NEN]: Und jetzt noch ein Satz zu den SED- lich die anwachsende Bürokratie. Millionen! Dann ist der Tag perfekt!) Egal welches Politikfeld man betrachtet – ob die Es ist deutlich: Die politische Verantwortung für die Steuer- oder die Arbeitsmarktpolitik –, muss man fest- Verhinderung von Steuerhinterziehung liegt hier in die- stellen: Die Bundesregierung denkt in klaren Strukturen. sem Hause. Hier in diesem Hause müssen die entspre- Die, die nichts haben, werden schikaniert und gedemü- chenden Beschlüsse gefasst werden. Wenn wir uns da- tigt, und die, die im Geld schon fast ersticken, den Hals rauf verständigen, endlich einmal die Steuerprüfer in die nicht voll bekommen und Tag und Nacht darüber nach- Verantwortung zu nehmen und die Anzahl der Prüfer denken, wie sie das Geld am Finanzamt vorbei ins Aus- deutlich zu erhöhen, dann hätten wir auch mehr Geld im land schmuggeln können, werden von der Bundesregie- Staatssäckel rung gehätschelt und, solange sie nicht erwischt werden, als leuchtende Vorbilder mit Preisen und Ehrungen über- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- häuft. Das ist wirklich eine Beihilfe zur Steuerhinterzie- NEN]: Das SED-Geld haben Sie auch noch hung. nicht aus dem Schrank geholt!) (Beifall bei der LINKEN) und dann könnte sich auch die verehrte Kollegin Künast aus Berlin ihre unqualifizierten Zwischenrufe sparen. Die Untätigkeit der Finanzminister hinsichtlich der Prü- fung von Einkommensmillionären ist eine Beihilfe zur Vielen Dank. Steuerhinterziehung. Damit muss Schluss sein. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Es ist doch geradezu unglaublich, dass sich der Fi- Vizepräsidentin Petra Pau: nanzminister dafür feiern lässt, dass er 5 Millionen Euro Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin an einen Informanten gezahlt hat, um an die Informatio- Nicolette Kressl. nen zu kommen. Hätte er seinen Job als Finanzminister ordentlich gemacht, dann müsste er erstens nicht auf die Nicolette Kressl, Parl. Staatssekretärin beim Bun- Arbeit von Geheimdiensten zurückgreifen und zweitens desminister der Finanzen: nicht 5 Millionen Euro an Steuergeldern ausgeben. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Bei der Steuerprüfung 2006 wurden aufgrund der Prü- Kollegen! Wir führen heute sicherlich eine wichtige De- (B) fung von Steuerpflichtigen mit bedeutenden Einkommen batte, aber, Frau Kollegin Lötzsch, sie sollte schon ein (D) pro Fall zusätzlich knapp 150 000 Euro eingenommen. wenig von Sachkenntnis geprägt sein. Bei diesen Ergebnissen fragt sich doch jeder, warum es (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der so wenige Prüfer gibt. Warum wurde zum Beispiel Herr CDU/CSU) Zumwinkel nicht geprüft? Sie müssen es sich einmal vorstellen: Dieser Multimillionär hatte noch nicht einmal Dazu gehört zum Beispiel auch, zu wissen, dass die seinen Sparerfreibetrag ausgeschöpft. Das roch doch Verantwortung dafür, wie viele Steuerfahnder es gibt, bei schon förmlich nach Steuerhinterziehung. Doch dort den Ländern liegt und dass die Umsetzung und Durch- wurde nicht geprüft. führung der Gesetze Aufgabe der Länder ist. Ich bitte Sie, hier nicht um der Polemik willen die grundlegenden (Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Also bitte!) Tatsachen unseres Föderalismus und unseres Steuer- Man hat also den BND zurate gezogen und zusätzliche rechts völlig zu ignorieren. Das tut der Sache nicht gut 5 Millionen Euro an Steuergeldern ausgezahlt. Dabei und hilft uns überhaupt nicht, zu einer sachlichen und hätte doch jeder Prüfer, der es hätte sehen wollen, sehen guten Debatte zu kommen, die wirklich wichtig ist. Des- können, was da lief. Warum gibt es also so wenige Prü- halb komme ich jetzt zur Debatte selbst. fer? (Frank Spieth [DIE LINKE]: Sie haben nicht (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- verstanden, was sie gesagt hat! Sie hätten we- NEN]: Was ist das für ein Stuss! – Zuruf von niger mit Ihrem Nachbarn reden sollen!) der CDU/CSU): Steuergeheimnis!) Wir müssen diese Debatte wirklich auf drei Ebenen – Sie verteidigen solche Herrschaften. Das haben wir ja führen. Zum Ersten müssen wir sie auf der internationa- gerade gehört. Herr Kollege, durch Ihren Zwischenruf len Ebene führen. Das ist mit Sicherheit die wichtigste, haben Sie das sehr deutlich gemacht. wenn auch die schwierigste Ebene, weil dabei traditio- nell natürlich sehr dicke Bretter gebohrt werden müssen. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir können hier nicht mit einer Gesetzgebung eingrei- NEN]: Frau Lötzsch, das geht zu weit!) fen, sondern wir müssen verhandeln. Ich weise darauf Die Antwort ist ganz einfach: Die Einkommensmillio- hin, dass gerade die deutsche Bundesregierung in den näre gelten bei CDU und SPD als die Elite der Gesell- letzten Jahren auf internationalem Gebiet sehr oft initia- schaft. Die möchten Sie natürlich auf keinen Fall ver- tiv geworden ist, um in den Bereichen Steuerflucht, schrecken. Steueroase – wir haben kurz darüber gesprochen, ob 15212 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

Parl. Staatssekretärin Nicolette Kressl (A) man den Begriff „Steueroase“ nicht in einen Begriff än- det. Dies sind die Rahmenbedingungen – sie gehören (C) dern sollte, der nicht so positiv klingt – benannt –, unter denen das internationale „Steuerhinter- ziehungsgeschäft“ betrieben werden kann. Dieses Ge- ( [SPD]: Steuersumpf!) schäft betreiben Staaten und Gebiete, die solche Rah- und natürlich auch Zinsbesteuerung etwas zu erreichen. menbedingungen bieten, durchaus bewusst. Zweitens muss es um die nationalen Handlungsmög- Von diesen Rahmenbedingungen machen nicht nur in lichkeiten gehen, die zwar eingeschränkt sind, aber den- Deutschland ansässige Personen Gebrauch; es trifft viele noch nicht vernachlässigt werden dürfen. Auch dies andere vergleichbare Staaten. Dieser Hinweis ist wich- finde ich im Zusammenhang mit dieser Debatte immer tig, damit wir sehen, wie sehr internationale Zusammen- noch sehr wichtig. arbeit in diesem Bereich notwendig ist. Uns wie den an- deren betroffenen Staaten gehen große Steuerbeträge Zum Dritten ist es wichtig, zu diesem Punkt auch zum Vorteil derer verloren, die sich die Angebote der noch einmal eine gesellschaftliche Debatte zu führen, Niedrigsteuergebiete zunutze machen. Diese Problema- weil es wichtig ist, zu erfahren, wie Steuerhinterziehung tik ist nicht neu. Neu ist allerdings, dass sich in den in- bewertet und in welcher Form sie geächtet wird. ternationalen Gremien zunehmend die Erkenntnis durch- Ich beginne mit dieser gesellschaftlichen Debatte, setzt, dass es notwendig ist, sich zusammenzuschließen, weil ich mich in den letzten Tagen nicht des Eindrucks weil es keinen Sinn macht, sich gegenseitig zu unterbie- erwehren konnte, dass es ab und zu den Zungenschlag ten. Es ist allerdings nicht neu, dass es sehr schwer ist, gab, nicht mehr die wirklich Verantwortlichen, also die- von dieser Erkenntnis die jeweils betroffenen Staaten zu jenigen, die Steuern hinterziehen, als die Schuldigen zu überzeugen. benennen; vielmehr wurden plötzlich Ausweichdebatten Ich weise allerdings darauf hin, dass es Initiativen geführt. Das Steuersystem an sich oder die eine oder an- gibt, zum Beispiel die OECD-Initiative zur Eindäm- dere steuerliche Regelung als Schuldige zu benennen, mung schädlichen Wettbewerbs, die unmittelbar bei sol- gehört für mich ausdrücklich zu solchen Ausweichdebat- chen Steueroasen ansetzt. Wenn wir darüber sprechen, ten. Ich halte sie für schädlich, weil sie das falsche Si- dann ist es kein Angriff auf die Souveränität der Niedrig- gnal senden. Dazu sollten wir uns alle gemeinsam be- steuergebiete. Vielmehr ist es für mich eine Gegenwehr, kennen. weil deren Verhalten einen Angriff auf das Recht der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Staaten darstellt, ihre Steuern so zu erzielen, wie es ihre DIE GRÜNEN) Gesetzgebung vorsieht. Auch hier dürfen die Verhält- nisse nicht verdreht werden; man muss immer aus dem Deshalb sage ich noch einmal ganz deutlich: Wer in richtigen Blickwinkel darauf schauen. (B) Deutschland ansässig ist und dem Finanzamt gegenüber (D) seine Einkünfte aus ausländischen Quellen nicht erklärt, Als zweiten Punkt hatte ich angesprochen, dass wir begeht Steuerhinterziehung. auch nationales Engagement brauchen. Ich nenne hier beispielhaft nur drei Gesetzesvorhaben, die die Bundes- (Beifall des Abg. Otto Bernhardt [CDU/CSU]) regierung und der Finanzausschuss auf den Weg ge- Wer als Stifter eine ausländische Stiftung gründet und bracht haben: die Erträge, die ihm nach unseren Steuergesetzen zuzu- Erstens. Mit der Vorschrift des § 90 Abs. 3 der Abga- rechnen sind, dem Finanzamt gegenüber nicht erklärt, benordnung wurden ab 2003 erstmals eigenständige Do- begeht Steuerhinterziehung. Wir sollten uns alle darauf kumentationsvorschriften für Verrechnungspreise ge- verständigen, dies auch wirklich immer deutlich zu be- setzlich festgelegt. nennen. Zweitens. In den Jahressteuergesetzen 2007 und 2008 (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sind Maßnahmen gegen die missbräuchliche Inanspruch- der CDU/CSU) nahme von Doppelbesteuerungsabkommen enthalten. Wie wir wissen, werden Einkunftsquellen, die zu Das ist in diesem Bereich nicht unwichtig. steuerpflichtigen Einkünften führen, nicht wahllos ins Drittens haben wir mit dem Unternehmensteuerre- Ausland verlagert. Einkunftsquellen werden oft gezielt formgesetz 2008 durch umfangreiche Änderungen des in Staaten verlagert, in denen keine Steuern anfallen Außensteuergesetzes Regelungen geschaffen, die die oder, wenn doch, man sie eher als Dienstleistungsgebühr Besteuerung von Wertetransfers ins Ausland sicherstel- bezeichnen könnte. Der Anreiz der Nicht- oder Niedrig- len sollen. besteuerung allein genügt jedoch nicht – mir ist es wich- tig, auch dies hier noch einmal deutlich zu machen –, um Ich will noch einen Punkt ansprechen; denn vielleicht einen Staat oder ein bestimmtes Gebiet zu einer attrakti- bringt die Debatte auch etwas Bewegung in die eine oder ven Steueroase für dort nicht ansässige Ausländer zu andere ablehnende Position. Lassen Sie mich eine rheto- machen. Es müssen mindestens zwei weitere Bedingun- rische Frage stellen: Könnte diese Debatte nicht auch et- gen erfüllt sein, die Anonymität garantieren: erstens kein was Bewegung in die Diskussion über die Bundessteuer- Zugang zu Eigentümerinformationen und zu Bankinfor- verwaltung in der Föderalismuskommission bringen? mationen für Besteuerungszwecke und zweitens die Ge- Denn eigentlich sollten wir gemeinsam das Ziel haben, währ, dass die Behörden des betreffenden Staates oder alle Möglichkeiten der Effizienz und der besseren Nut- Gebietes mit ausländischen Steuerbehörden nicht zu- zung von Systemen auch tatsächlich umzusetzen. Es sammenarbeiten und kein Auskunftsaustausch stattfin- geht nicht um das sofortige Signal, dass wir uns auf den Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15213

Parl. Staatssekretärin Nicolette Kressl (A) Weg machen. Es ist aber sinnvoll, gemeinsam zu überle- (Beifall bei der FDP) (C) gen, wie wir die Besteuerung effizient und gezielt vor- Die FDP wird in den zuständigen Gremien mit allem nehmen können. Denn was im internationalen Vergleich Nachdruck darauf drängen. für den Steuerwettbewerb gilt, können wir auch auf die Konkurrenz innerhalb der Bundesländer übertragen. Un- Es kann aber auch nicht genügen, sich auf Hasstira- sere Verpflichtung in diesem Bereich nimmt uns nie- den zu beschränken, wie dies bei manchen der Fall ist. mand ab. Es führt auch nicht weiter, wenn reflexartig bei allem, was in der Gesellschaft nicht gut läuft, nach härteren (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Strafen gerufen wird, und wir uns dann immer wieder Wir haben die drei erwähnten Vorhaben mit den damit vonseiten der Praxis erklären lassen müssen, dass das verbundenen Maßnahmen auf den Weg gebracht. Ich nichts bringt. glaube nicht, dass darin keine Strategie zu erkennen ist, Nein, wir müssen in diesem Hause vielmehr der Frage auch wenn wir noch einen weiten Weg gehen müssen. nachgehen, welche Botschaft an den Staat ausgeht, wenn Einen Teil der Strecke haben wir schon geschafft. Ich sich immer mehr Bürgerinnen und Bürger nicht mehr an glaube, wir sind uns alle darin einig, dass sich unsere ihm beteiligen wollen. Auch dieser Seite des Skandals Bemühungen in jedem Fall lohnen werden. müssen wir uns stellen, und zwar gemeinsam. Niemand zahlt gerne Steuern. Das wird sich auch nicht ändern. Sie Vielen Dank. werden allenfalls als notwendiges Übel erachtet. Die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Steuermoral hängt aber wesentlich davon ab, ob die Bür- der CDU/CSU) gerinnen und Bürger den Eindruck haben, dass der Staat mit den Steuergeldern sparsam umgeht. Vizepräsidentin Petra Pau: Bei manchen Beispielen fragt man sich, wie es auf die Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Volker Steuerzahler wirkt, wenn sich etwa der Umweltminister Wissing das Wort. medienwirksam als Pate des Eisbären „Knut“ feiern lässt und später herauskommt, dass die Steuerzahler dafür (Beifall bei der FDP) 10 000 Euro berappen müssen. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das ist ja un- Dr. Volker Wissing (FDP): glaublich!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Kuhn, Sie haben darauf hingewiesen, dass Das rechtfertigt zwar keine Steuerhinterziehung, aber Herr Westerwelle bei einer Tagung in Liechtenstein ge- solche Beispiele machen deutlich, dass der Staat nicht immer verantwortungsvoll mit dem Geld der Bürgerin- (B) wesen ist. Ich weiß nicht, was das mit dem Thema dieser (D) Aktuellen Stunde zu tun hat, aber es wäre sinnvoll gewe- nen und Bürger umgeht. Auch an dieser Stelle kann man sen, wenn Sie dann auch erwähnt hätten, dass Otto einen Beitrag zur Steuermoral leisten. Auch dort ist eine Schily, und der Vorsitzende des Finanz- Vorbildfunktion gefragt. ausschusses, Herr Oswald, bei einer solchen Tagung wa- (Beifall bei der FDP) ren. Herr Eigen von Transparency International war ebenfalls bei einer solchen Tagung. Wir haben die Bundesregierung gefragt: Wie steht es eigentlich mit der Steuerverschwendung? Was macht der Außerdem frage ich Sie, Herr Kuhn, ob das, was Sie Staat dagegen? Denn auch Steuerverschwendung führt vorgetragen haben, ernst zu nehmen ist, nämlich dass zu Steuererhöhungen. Die Antwort lautete, der Begriff man einerseits mit Liechtenstein Abkommen schließen, „Steuerverschwendung“ sei der Umgangssprache ent- aber andererseits nicht hinfahren soll, um mit den Ver- nommen und gehöre nicht zum Sprachgebrauch der antwortlichen vor Ort zu reden. Bundesregierung. Angesichts dessen verwundert man- ches nicht mehr. Wenn die Regierung Steuerverschwen- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dung nicht kennt, wenn der Begriff noch nicht einmal in der CDU/CSU) ihrem Sprachgebrauch vorkommt, dann kann man auch Steuerhinterziehung ist kein Kavaliersdelikt, sondern nicht dagegen vorgehen. eine Straftat. Wenn es um Millionenbeträge geht, dann (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ist es eine sehr schwere Straftat. Daran gibt es keinen NEN]: Sagen Sie endlich etwas zu Liechten- Zweifel. Ich will an dieser Stelle betonen, dass es mich stein! – Gegenrufe von der FDP: Das hat er wahnsinnig stört, wenn manche davon reden, es würden schon!) Spielregeln verletzt oder es gehe um Steuersünder. Ver- letzt werden Strafvorschriften, und die handelnden Per- Die FDP begrüßt jedes sinnvolle und rechtsstaatlich sonen sind Straftäter. Das sage ich in aller Deutlichkeit. einwandfreie Engagement der Bundesregierung gegen Steuerhinterziehung. Man sollte sich aber auch der Frage (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zuwenden, wie wir in Deutschland mit Steuerverschwen- der CDU/CSU und der SPD) dung umgehen. Der Bundesfinanzminister hat – zu Recht – gesagt, er freue sich, dass mehrere Hundert Mil- Ein Rechtsstaat kann es sich nicht leisten, so etwas zu lionen Euro Steuermehreinnahmen durch Aufklärung dulden, er kann es sich aber auch nicht leisten, dass der möglich sind. Bundesnachrichtendienst in unkontrollierten, vielleicht rechtsfreien Räumen agiert. Deshalb muss das Vorgehen (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: dieser Behörde aufgeklärt werden. Oje, oje!) 15214 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

Dr. Volker Wissing (A) – Herr Kuhn, was wollen Sie denn? Sie haben hier eine Phänomen unserer heutigen Zeit. Es gibt sie schon so (C) populistische Rede gehalten und nichts zur Sache gesagt. lange, wie es Steuern gibt. (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Steuerhinterziehung – oder besser: der Betrug des NEN) Einzelnen zulasten der Allgemeinheit – ist auch nicht auf bestimmte Bevölkerungsschichten beschränkt. Es gibt Nun rufen Sie dazwischen. Hören Sie doch einmal zu! den ALG-II-Empfänger, der Vermögen verschweigt und Dann können Sie vielleicht noch etwas erfahren. dadurch Leistungen erschleicht. Es gibt den Rentner, der (Beifall bei der FDP) sein Wohnzimmer vom Handwerker ohne Rechnung ta- pezieren lässt. Es gibt den Familienvater, der beim Fahr- Ich will darauf hinweisen, dass die Finanzbehörden tenbuch schummelt. Es gibt die Studentin, die schwarz allein im Jahr 2005 auf 366 Millionen Euro freiwillig in der Kneipe jobbt. Es gibt auch den Topmanager, den – gestundet oder erlassen – verzichtet haben. Bundeslän- Spitzensportler oder den Showstar, der nach Liechten- dern wie Berlin, in denen Sie mitregieren, liebe Kollegin stein stiften geht. Lötzsch, wurden sogar besonders viele Steuern erlassen. Darüber müssen wir hier auch einmal reden. Wenn wir ( [SPD]: Aber es gibt schon unter- die Bundesländer beim Steuervollzug erwischen, dass schiedliche finanzielle Auswirkungen!) sie Standortpolitik machen, dass im Bereich der Steuer- fahndung Personal abgebaut wird, weil Mehreinnahmen Wichtig ist festzuhalten: Es sind nicht alle, sondern in im Länderfinanzausgleich verschwinden und die Kosten der Regel einige wenige. Vor Pauschalverurteilungen, vor Ort hängen bleiben, dann besteht für uns Handlungs- wie sie in den letzten Tagen und auch in den letzten bedarf. Minuten zu hören waren, sollten wir uns hüten. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) (Beifall bei der CDU/CSU) Die Betrogenen sind auch an dieser Stelle die Bürgerin- Die Ursachen für den Betrug an der Gemeinschaft al- nen und Bürger, die dann höhere Steuern zahlen müssen. ler in unserem Staat Lebenden sind vielfältig. In der Sie haben sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regel ist es eine Mischung aus zu hoher Abgabenlast Großen Koalition, kräftig zur Kasse gebeten. – nicht nur Steuern –, sich bietenden Gelegenheiten und einer moralischen Schwäche. Eine ganz wichtige Rolle (Beifall bei der FDP) dabei spielt auch das Gefühl des Steuerzahlers bezüglich Steuerhinterziehung ist eine Straftat, die zum Teil mit dessen, was mit seinem Geld passiert. Wer anständig ist erheblicher krimineller Energie begangen wird. Das lässt und ehrlich Steuern zahlt, der möchte sein hart verdien- sich nicht entschuldigen und muss mit aller Konsequenz tes Geld nicht in irgendwelchen Milliardenlöchern im (B) (D) aufgeklärt werden. Aber die Lösung besteht nicht darin, Bundeshaushalt verschwinden sehen. populistische Parolen in die Welt zu posaunen, sondern (Florian Pronold [SPD]: Lieber in darin, die Ermittlungsbehörden – das sind die Staats- Liechtenstein!) anwaltschaften und die Steuerfahnder – personell und sachlich so auszustatten, dass sie dieser Aufgabe nach- Die mittlerweile monströse Umverteilungsmaschine- gehen können. Wir müssen uns aber auch mit der Frage rie, die wir in diesem Land in Jahrzehnten gezüchtet ha- befassen, ob unser Steuersystem die notwendige Akzep- ben, gibt vielen Menschen gerade nicht das Gefühl, dass tanz hat. Wenn Sie bereit wären, mit uns über ein einfa- ihr Geld beim deutschen Fiskus in guten Händen ist. cheres und gerechteres Steuersystem mit niedrigeren (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Steuersätzen ernsthaft zu diskutieren und es auch umzu- DIE GRÜNEN) setzen, könnten wir die Akzeptanz des Steuersystems und die Steuermoral in Deutschland verbessern. Diesen Dieses Gefühl gibt es gerade bei denjenigen – Kollege Beitrag sollten wir leisten. Lassen Sie uns das gemein- Otto Bernhardt hat es vorhin schon gesagt –, die als sam tun. kleine Gruppe von weniger als 10 Prozent der Bevölke- rung mehr als die Hälfte des Einkommensteueraufkom- (Beifall bei der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: mens in Deutschland erwirtschaften. Viele haben das Hier sprach die Partei der Steuervermeider!) Prinzip „linke Tasche, rechte Tasche“ durchschaut und verlieren darüber ihre Steuermoral. Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Olav Gutting für die Uni- (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ onsfraktion. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Die Menschen wollen von ihrem Steuergeld verständli- cherweise auch etwas sehen. Keiner zahlt gerne Steuern für vermeintliche Wohltaten des Staates aus den letzten Olav Gutting (CDU/CSU): Jahren oder aus der Vergangenheit. Auch aus diesem Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- Grund hat sich die Große Koalition ein wichtiges Ziel gen! Wer die Bibel kennt, weiß: Schon Kaiser Augustus gesetzt, nämlich einen ausgeglichen Bundeshaushalt in hatte vor 2000 Jahren Schwierigkeiten, Steuern einzu- den nächsten Jahren zu erreichen. treiben. Auch im Mittelalter haben die Leute ihre Schweine und Hühner versteckt, wenn die Steuereintrei- Den Betrug am Staat, am Allgemeinwesen, werden ber des Königs kamen. Steuerhinterziehung ist also kein wir nie völlig zurückdrängen können. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15215

Olav Gutting (A) ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) NEN]: Dieser Betrug scheint Sie nicht sonder- Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! lich zu berühren!) Wenn man sich die Vorredner anhört, dann hat man wirklich das Gefühl, man ist hier im falschen Film. Solange es Steuern und Abgaben gibt, solange wird es Versuche geben, deren Zahlung zu vermeiden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Alles bleibt wie es ist!) Das Volk ist empört, die Leute sind entrüstet darüber, was in Deutschland passiert, und der eine redet von ir- Das soll nun nicht bedeuten, dass wir uns dem Schicksal gendwelchen Hausschweinen und Geflügel, und der an- der Steuerhinterziehung fügen. Selbstverständlich hat dere hält hier eine Steuerhinterziehungsschutzrede. unser Staat, haben wir als Gesetzgeber die Pflicht, zu handeln. Es ist zwischen tauglichen auf der einen und (Jan Mücke [FDP]: Was?) untauglichen Mitteln auf der anderen Seite zu unter- Da muss man sich wirklich fragen: Was ist los in diesem scheiden. Klar ist: Steueroasen innerhalb Europas kön- Haus? nen nicht mehr geduldet werden. Liechtenstein, Monaco und andere – hier ist die Europäische Union aufgerufen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die teilweise staatlich organisierte Steuerhinterziehung Wenn dann noch gesagt wird, es gebe soziale Strafen zu beenden und dieser einen Riegel vorzuschieben. Es und diese seien furchtbar, dann heißt das, dass man noch wird weiterhin andere Steueroasen geben – Cayman Verständnis für diejenigen hat, Islands, Bermudas, Singapur –, aber Geld aus Deutsch- land dorthin zu bringen, ist lange nicht so bequem, wie (Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie vielleicht!) einfach zum Nachbarn zu marschieren. Wir, die Große Koalition, werden mit dem Austrocknen illegaler euro- die seit Jahren Millionen in Steueroasen im Ausland päischer Steueroasen konsequent weitermachen. schaffen. Das dürfen wir nicht dulden; denn es geht hier um Fairness und um Gerechtigkeit in dieser Gesell- Untauglich sind hingegen höhere Strafen, die jetzt ge- schaft, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt und fordert wurden. nicht um ein soziales Verständnis für Leute, die ihr Geld ins Ausland schaffen. (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Übrigens von Herrn Pofalla!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (B) Wir sollten hier nicht den Eindruck erwecken, dass Steu- LINKEN – Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Das (D) erhinterzieher in Deutschland mit Samthandschuhen an- duldet doch keiner! Wir bestrafen die! Keiner gefasst werden. Die Realität ist eine andere. Die Justiz hat hier Verständnis!) verhängt in der Regel empfindliche Strafen gegen er- tappte Steuersünder – und das völlig zu Recht. Hinzu Ich sage, zur FDP und zu Teilen der CDU/CSU ge- kommt noch die soziale Strafe, die die Betroffenen zu- wandt: Steuerhinterziehung kann man nicht mit Steuer- sätzlich erfahren. senkungen vermeiden. Ich sage das ganz bewusst. Für diejenigen, die in den letzten Jahren die Möglichkeit hat- (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: ten, relativ gefahrlos keinerlei Steuern zu zahlen, waren Oh!) niedrige Steuersätze kein Anreiz zur Ehrlichkeit. Noch sind nicht alle Einzelheiten der aktuellen Steuer- (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das habt ihr hinterziehungsfälle bekannt. Ich möchte hier daran erin- doch mitgemacht! – Gegenruf des Abg. Fritz nern, dass in Deutschland immer noch die Unschulds- Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: vermutung gilt. Eines – das ist wichtig – hat die aktuelle Quatsch!) Debatte bereits heute gebracht, nämlich das Bewusst- Auch das muss man an dieser Stelle einmal sagen. Wir, sein, dass für eine funktionierende Gesellschaft auch Rot-Grün, haben damals eine großzügige Amnestierege- Moral und Werte wie Anständigkeit und Gemeinsinn lung geschaffen. Sie haben später die Abgeltungsteuer eine Rolle spielen. Wer sich außerhalb des Gesetzes und beschlossen. Doch all das reicht immer noch nicht. der Gemeinschaft stellt, kann sich nicht als heimlich be- wunderter Steuerakrobat fühlen, sondern muss mit der Diesen Steuerhinterziehern geht es nicht darum, Ächtung durch die Mehrheit der Ehrlichen rechnen. 25 Prozent Steuern zu bezahlen, sondern darum, höchs- tens etwas mehr als 0 Prozent Steuern zu bezahlen. Das (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Barbara können wir nicht akzeptieren. Hendricks [SPD]: Da haben Sie aber gerade noch einmal die Kurve gekriegt!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Genau diese Leute erwarten von dem Land Bundesrepu- Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die blik Deutschland nämlich, dass Straßen gebaut werden, Kollegin Christine Scheel das Wort. dass Flughäfen bereitstehen, dass die Bundesbahn fährt und dass Schulen gebaut werden. Wenn das geschehen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ist, überlegen sie sich: Welchen Beitrag möchte ich leis- 15216 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

Christine Scheel (A) ten? Sie entscheiden dann selbst, wie sie den Staat unter- Herr Wissing, dort, wo die FDP mitregiert – Sie ha- (C) stützen. ben es vorhin angesprochen –, hat man in der Finanzver- waltung Stellen abgebaut. Beispielsweise in Hamburg ist Ich finde, wir haben ein gesundes Rechtssystem. Die- es so – ich weiß, dass dem eine föderale Entscheidung sem Rechtssystem darf sich niemand entziehen. Deswe- vorausging –, dass die Zahl der durchgeführten Fahn- gen brauchen wir auch an dieser Stelle keine Strafen von dungsprüfungen im Jahr 2002 noch bei knapp 1 800 ge- 15 Jahren – diese Forderung wurde übrigens auch aus legen hat. Im letzten Jahr wurde noch nicht einmal die den Reihen der CDU erhoben –; vielmehr müssen wir Hälfte durchgeführt. Das geht natürlich auch nicht. Man den bestehenden Strafrahmen vernünftig ausschöpfen. muss einmal klipp und klar sagen: Da stimmt sehr vieles Darum geht es. in diesem Land nicht mehr. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Olav Letzte Bemerkung. Ich finde es grundfalsch und halte Gutting [CDU/CSU]: Das macht doch aber die es für eine Verkehrung der Tatsachen, wenn der Über- Justiz und nicht Sie! – Jan Mücke [FDP]: Wir bringer der schlechten Nachricht zum Alleinschuldigen haben Gewaltenteilung! So ein populistischer gemacht wird. Wer Steuern hinterzieht, macht sich Quatsch!) schuldig. Wir gehen davon aus, dass Liechtenstein Amtshilfe leistet, um das Ganze vernünftig aufzuklären. Damit es hier kein Missverständnis gibt: Es darf nicht sein, dass wir heute hier diese Debatten führen, dass das Danke schön. nach außen dringt und dass eine hochemotional geführte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Diskussion, wie sie in der Öffentlichkeit derzeit geführt sowie bei Abgeordneten der SPD) wird, folgenlos bleibt. Deswegen erwarten wir Grünen, dass es ganz konkrete Maßnahmen gibt. Vizepräsidentin Petra Pau: (Jan Mücke [FDP]: Aha!) Der Kollege Ortwin Runde spricht nun für die SPD- Fritz Kuhn hat konkrete Maßnahmen genannt. Er war Fraktion. bislang übrigens der Einzige, der dies hier getan hat. Bei uns sollten nicht nur die Zinsen einer Quellenbe- Ortwin Runde (SPD): steuerung unterliegen, sondern auch Wertpapiererträge Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! und die Erträge von Stiftungen. Genau diesen Punkt ha- Ich weiß nicht, wie es Ihnen gegangen ist. Wenn man ben die Grünen seit Jahren angesprochen: Die Zinssteu- hört, dass jemand, der 3 Millionen Euro im Jahr ver- (B) errichtlinie hat – auch wenn sie im europäischen Kontext dient, der noch Aktienoptionen hat, der im Leben richtig (D) noch so gut gemeint war – Lücken. erfolgreich gewesen ist, muss man sich doch fragen, wie (Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie reden seit Jah- so jemand auf die Idee kommen kann, sein Lebenswerk, ren immer nur!) sein Ansehen, seinen Ruf aufs Spiel zu setzen. Das ist et- was, worüber man nachdenken muss. – Sie können so viel dazwischenplärren, wie Sie wollen. – Sie haben darauf noch nie hingewiesen. Die FDP hat (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sehr sich vielmehr immer hinter den Steuerhinterziehern ver- richtig!) steckt. In letzter Zeit häuft sich das unter den Managern und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Reichen. Es gilt, darüber nachzudenken, was der sowie bei Abgeordneten der SPD – Jan Mücke Hintergrund ist. Dazu muss ich sagen: Diese unmorali- [FDP]: Das ist eine unverschämte Lüge!) schen Verhaltensweisen – die gibt es auch bei Boni oder Abfindungen oder in Form der Steuerhinterziehung – ha- Das ist doch Ihre Politik. Ich brauche mir hier gar nicht ben ein bisschen mit der Entwurzelung dieser Leute zu Ihre blöden Zwischenrufe anzuhören. tun. Sie stellen sich außerhalb der Gesellschaft. Sie sind Uns geht es darum, dass Liechtenstein und andere nicht mehr im Wertesystem unseres Gemeinwesens ver- Steueroasen Amtshilfe leisten, dass die Steuerschlupflö- ankert. Diese Erscheinungsform in der Globalisierung cher gestopft werden und dass wir letztendlich zu mehr stimmt tief nachdenklich. Steuerehrlichkeit insgesamt kommen. Die Tatsache, dass diese Leute gleichzeitig die Unter- Ich sage Ihnen auch: nehmensleitbilder bestimmen, mit denen sie den Mitar- beiterinnen und Mitarbeitern beibringen, (Dr. Volker Wissing [FDP]: Sagen Sie besser nichts mehr!) (Frank Schäffler [FDP]: Bei Staatsunterneh- Es geht natürlich nicht, dass hinter jedem Bürger und je- men! Genau!) der Bürgerin, hinter jedem Betrieb ein Betriebsprüfer wie sie sich redlich zu verhalten haben, als Vorausset- oder ein Steuerfahnder steht. zung dafür nämlich, dass das Ganze funktioniert, ist eine (Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Tolle Einsicht!) Bankrotterklärung. Wir befinden uns in einer tiefen Krise. Es ist wichtig, dass wir in diesem Bereich mehr Personal einstellen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15217

Ortwin Runde (A) Herr Wissing, in Ihrer Rede haben Sie gerade noch dass Sie wirklich etwas getan haben, um die Handlungs- (C) eingeräumt: Steuerhinterziehung ist eine Straftat; das ist fähigkeit des Staates und der staatlichen Institutionen zu nichts, worüber man irgendwie hinwegkommen kann. erhöhen. Sie müssen ein bisschen in sich gehen und sich klarmachen, was Sie dabei sind anzurichten. (Jan Mücke [FDP]: Da hat er recht! Frau Scheel, zuhören! Das hat er gesagt! – Gegen- Wenn Politiker über Raffke-Mentalität sprechen, aber rufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gleichzeitig Stellen bei der Steuerfahndung kräftig ab- bauen, ist das erschreckend. Ich war einmal Finanzsena- Aber dann haben Sie schon angefangen, alle Entschuldi- tor, ich war Bürgermeister und habe die Steuerfahndung gungsgründe aufzuzählen. Sie haben gesagt: Man muss ausgebaut. ein bisschen Verständnis haben. Man muss bedenken, dass die so gequält werden. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Seinerzeit waren die wirklich noch (Jan Mücke [FDP]: Das hat er nicht gesagt!) mehr!) Dann gibt es noch den Bund der Steuerzahler – oder, wie 2001 hatten wir in Hamburg noch 60 Steuerfahnder; man ihn besser nennen könnte, den Bund der Steuerhin- heute sind es nur noch 49. Frau Scheel hat gesagt, wie terzieher –, der immer aufführt, dass die staatlichen Mit- sich die Zahl der Verfahren verringert hat. Wir haben tel nicht vernünftig eingesetzt werden. heute 20 Prozent weniger Steuerfahnder. Dann kann ich (Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie können das mich aber nicht sonntags hinstellen und sagen: Wir müs- noch mal nachlesen! – Weiterer Zuruf von der sen die Raffkes bekämpfen. FDP: Geschichtsklitterung!) Es gilt, die Möglichkeiten des Staates wirklich zu ver- Wir bräuchten wirklich ein etwas anderes Staatsbe- bessern. Natürlich gehört dazu, eine Trutzburg wie das wusstsein. In Skandinavien etwa ist man stolz darauf, Fürstentum Liechtenstein trockenzulegen. wenn man Steuern zahlt, weil man dann etwas für sein (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Gemeinwesen, für die Zukunftsfähigkeit, für Bildungs- DIE GRÜNEN – Christine Scheel [BÜND- infrastruktur usw. leistet. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Fürstenfamilie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mit eigener Bank!) DIE GRÜNEN sowie des Abg. Otto Bernhardt [CDU/CSU]) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll für die Für jede Scheißkinokarte wird ganz selbstverständlich Fraktion Die Linke. (B) gezahlt, aber für das Gemeinwesen will man hier nicht (D) zahlen. Das ist schon eine merkwürdige Geisteshaltung. (Beifall bei der LINKEN) Da spielt auch der Professor aus Heidelberg eine Rolle. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Werte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- (Frank Schäffler [FDP]: Guter Mann!) legen! Jede Form von Steuerhinterziehung ist kriminell. Den habe ich heute im Deutschlandfunk gehört. Mir Das stelle ich klipp und klar fest. Aber zur erfolgreichen standen die Haare zu Berge! Er äußerte viel Verständnis Steuerhinterziehung gehören immer zwei: einer, der die und sagte: Wenn das Steuersystem einfacher wäre, dann dafür nötige kriminelle Energie aufbringt, und ein Staat, hätten wir diese Steuerhinterziehung nicht. – Das sind der dies zulässt. wirklich merkwürdige Ansätze. Dank der Regierungspolitik der letzten Jahre sind (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Natür- Einkommen und Vermögen in Deutschland zunehmend lich würde das helfen!) ungleicher verteilt. Entsprechend wurden auch die An- reize und die Möglichkeiten zur Steuerhinterziehung Wenn ich an die Zahl der Reden im Bundestag denke, ausgebaut. Menschen ohne Einkommen, ALG-II-Bezie- in denen mangelnder Stolz auf den Staat und die staatli- herinnen und -Bezieher, unterliegen im Prinzip einer che Leistung zum Ausdruck kommt, wird mir ein biss- vollständigen Kontrolle. Bei Arbeitseinkommen wird chen klar, woher diese Erosion von Moral und Werten die Lohnsteuer umgehend abgeführt. Aber Reiche und kommt. Vermögende haben in den letzten Jahren unter der rot- grünen und unter der Großen Koalition massive Entlas- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tungen erfahren, beispielsweise durch die Senkung des des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Spitzensteuersatzes, der bei Helmut Kohl noch Wir alle können dazu beitragen, dass sich das ändert. 53 Prozent betrug und inzwischen nur noch 42 Prozent Aber wer sich die Debatten der letzten Jahre vor Augen beträgt. führt, erkennt: Wenn es darum ging, die Handlungsfä- Das reicht Betuchten wie Herrn Zumwinkel offenbar higkeit des Staates in dem Bereich und besonders die nicht aus. Sie wenden viel kriminelle Energie auf, um Bekämpfung von Steuerhinterziehung zu verbessern, ihre Steuerpflicht auf eigene Faust noch weiter zu sen- dann waren Sie von der FDP es, die gesagt haben: „Iden- ken. Die Bundesregierungen haben dafür gesorgt, dass titätsnummer, das gibt es nicht; Kontenabfrage, das gibt entsprechende Gesetzeslücken existieren. es nicht“ usw. usf. Ich könnte ein ganzes Register aufma- chen. Sie müssen mir einmal ein Beispiel dafür nennen, (Beifall bei der LINKEN) 15218 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

Dr. Barbara Höll (A) Mit der Abgeltungsteuer wird ab 1. Januar eine zusätzli- Die Senkung von Steuersätzen kann doch wohl nicht (C) che große Lücke entstehen. Zukünftig werden insbeson- die gerechte und richtige Antwort auf Steuervermeidung dere die Besserverdienenden ihre Kapitaleinkünfte und Steuerflucht sein. – viele Menschen haben ja überhaupt keine – gar nicht (Beifall bei der LINKEN) mehr angeben. Damit erhalten die Finanzbehörden nicht einmal mehr einen Hauch von Informationen über die Hier brauchen wir eine andere Politik. Wir brauchen Kapitaleinkünfte. Nach Aussagen der Deutschen Steuer- keine direkte Beteiligung am internationalen Steuerwett- Gewerkschaft führt oft aber nur eine Spur die Finanzbe- bewerb. In den Diskussionen hört man vom Unterschied hörden zu nicht angezeigten Kapitaleinkünften. Zukünf- zwischen fairem und schädlichem Steuerwettbewerb. tig werden die Finanzbehörden vollständig im Dunkeln Wo ziehen Sie denn, bitte schön, die Grenze? tappen, und dafür sind Sie verantwortlich. Herr Huber von der CSU hat jetzt festgestellt: Ja, (Beifall bei der LINKEN – Michael Grosse- auch die Schweiz ist eine Steueroase. Ich zitiere einmal Brömer [CDU/CSU]: Völliger Unsinn!) aus dem SWR vom 29. November: Gern gesehene Kun- den von Bankfilialen in Südbaden sind Glauben Sie etwa, dass durch die Abgeltungsteuer und die Senkung des Steuersatzes auf nur noch Schweizer „Steuerflüchtlinge“. Wer seine Franken 25 Prozent, wodurch Menschen mit geringen Kapitalein- in Deutschland anlegt, spart nämlich die Quellen- künften mehr belastet und die mit hohen Einkünften zu- steuer von 35 Prozent … sätzlich entlastet werden, Aus Sicht der Schweiz ist Deutschland also durchaus (Olav Gutting [CDU/CSU]: Die können wäh- heute schon eine Steueroase. Statt weiterer Steuersen- len!) kungsrunden im internationalen Steuerwettbewerb, wie in diesem Jahr wieder durch die Unternehmensteuerre- Steuerhinterzieher veranlasst werden, jetzt auf einmal form praktiziert, gilt es, sich wirklich für eine internatio- die Steuern zu zahlen? Ich erinnere nur an den Flop von nale Steuerharmonisierung einzusetzen, zumindest auf Herrn Eichel mit der Steueramnestie. Es wurde verspro- EU-Ebene. Wir könnten das. chen, 4 Milliarden Euro kämen wieder herein, aber nichts geschah. Natürlich brauchen wir ein umfassendes, automati- sches, international installiertes Informationssystem. (Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Die hatten Dazu gehört auch die weltweite Aufhebung des Bankge- Angst vor Ihnen!) heimnisses. Ja, dazu stehen wir. Ich möchte hierzu auf Die Raffgier vieler Besserverdienender kennt offenbar Aussagen des OECD-Generalsekretärs verweisen, der keine Grenzen. sagte, ein „exzessives Bankgeheimnis“ sei ein Relikt aus (B) (D) vergangenen Zeiten und dürfte nicht mehr Gegenstand Das Problem der Steuerhinterziehung ist seit Jahren der Beziehungen demokratischer Gesellschaften sein. bekannt. Grund hierfür ist natürlich die unterschiedlich hohe Besteuerung der Kapitaleinkünfte im internationa- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: len Bereich inklusive des Vorhandenseins von Steueroa- Was ist mit dem SED-Vermögen?) sen. Die Deutsche Steuer-Gewerkschaft geht davon aus, Lassen Sie mich abschließend einmal daran erinnern, dass jährlich 400 Milliarden Euro illegal ins Ausland wie die USA agiert haben. Die USA haben durchgesetzt, verbracht werden. dass auch die Steueroase Liechtenstein gegenüber den ( [CDU/CSU]: Auch PDS-Ver- US-Steuerbehörden alle Informations- und Zahlungs- mögen!) pflichten erfüllt, die aus der US-Quellensteuer herrüh- ren; denn die USA haben Liechtenstein gedroht, andern- Daraus errechnen sich etwa 30 Milliarden Euro Steuer- falls den Zugang zum US-Kapitalmarkt zu verwehren. hinterziehung pro Jahr. Die USA haben ihre wirtschaftliche Macht entsprechend (Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Mit PDS- eingesetzt. Warum bringen wir hier nicht endlich einmal Vermögen oder ohne?) den Mut auf, tatsächlich zu handeln? Dazu fordern wir Sie auf! Solange dieses internationale Steuergefälle existiert, wird es natürlich legal über Steuervermeidung und ille- Danke. gal über Steuerhinterziehung ausgenutzt werden. Aber (Beifall bei der LINKEN) – ein ganz großes Aber – die Bundesregierungen der letzten Jahre beteiligen sich doch an der Aufrechterhal- tung dieses internationalen Steuergefälles. Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Dr. Hans Michelbach für (Beifall bei der LINKEN) die Unionsfraktion. Deutschland ist die größte Volkswirtschaft in Europa, und wir hätten natürlich die Kraft, hier Druck auszu- Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): üben. Aber seit 1998 werden immer wieder, sowohl von Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol- Rot-Grün als auch von der Großen Koalition, mit Hin- legen! Deutschland ist kein Land von Steuerhinterzie- weis auf den internationalen Steuerwettbewerb die Steu- hern. Es geht hier zuvörderst um die kriminelle Energie ersätze für Kapitaleinkünfte gesenkt. Das reicht Herrn Einzelner, die rechtsstaatlich zu verfolgen sind. Natür- Zumwinkel offenbar nicht. lich gibt es keine Rechtfertigung für Steuerbetrüger, aber Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15219

Dr. h. c. Hans Michelbach (A) ein Defekt unseres Wirtschaftssystems lässt sich aus die- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das (C) sen kriminellen Machenschaften von Steuerbetrügern wünschen sich aber die Ersten in Niedersachsen nach meiner Ansicht nicht ableiten. Den Versuch, beides schon wieder! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ miteinander in Verbindung zu bringen, wie wir ihn im DIE GRÜNEN]: Das sollten die Europapoliti- Moment erleben, müssen wir gemeinsam im Interesse ker mal hören!) unserer sozialen Marktwirtschaft und unseres freiheitli- chen Rechtsstaates zurückweisen. Letztendlich leben wir in einer freiheitlichen Gesell- schaft. Die soziale Marktwirtschaft – das ist der Kern- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- punkt – ist das Fundament unseres Wohlstandes und be- neten der SPD) deutet den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Nicht der mutmaßlich schwere Verstoß Einzelner ge- Die meisten Unternehmer erfüllen eine Vorbildfunk- gen Steuergesetze ist die größte Gefahr für unsere frei- tion; sie stehen für den moralischen Grundkonsens, für heitliche Wirtschaftsordnung. Ich bin mir ganz sicher: Anstand und für eine erfolgreiche soziale Marktwirt- Damit wird unser Rechtsstaat schon fertig. Eine weitaus schaft in Deutschland. Es wird Zeit, dass sich diese Men- größere Gefahr sehe ich in einer Diffamierungskampa- schen auch gegen vordergründige Kampagnen zur Wehr gne gegen unser Wirtschaftssystem, in der Äußerung ei- setzen. Deutschland ginge es natürlich ohne Zweifel bes- nes Generalverdachtes gegen die Wirtschaftstreibenden ser, wenn der eine oder andere hochdotierte Konzernma- oder auch in einer pauschalen Hexenjagd gegen die Un- nager das gleiche Verantwortungsbewusstsein wie der ternehmer, wie dies leider in diesen Tagen zu hören war. persönlich haftende Familienunternehmer an den Tag le- (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen würde. Aber wir müssen, wenn solche Debatten ge- NEN]: Zuerst trugen die Unternehmer, die hin- führt werden, immer bedenken: 70 Prozent der Arbeit- terzogen haben, wohl dazu bei! Wer hat das nehmer in Deutschland arbeiten in mittelständischen denn ausgelöst? Sie gehen wieder dahin, das Familienunternehmen. Deswegen können wir mit einem zu rechtfertigen!) solchen Generalverdacht und einer Hexenjagd auf Un- ternehmer großen Schaden anrichten. – Sehen Sie, Ihre Wortmeldung zeigt ja, wessen Geistes Kind Sie sind. – Ich warne ausdrücklich vor Pauschal- (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) verurteilungen der sozialen Marktwirtschaft und der gro- Deshalb muss das unterbleiben. ßen Masse der verantwortungsbewussten Unternehmer. Das ist nichts anderes als Populismus. (Beifall des Abg. Jan Mücke [FDP]) (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich kann Ihnen deutlich sagen: All das, was ich in den (B) Meine Güte!) letzten Tagen gehört habe – Ruf nach härteren Strafen, (D) nach einer Bundessteuerverwaltung, nach Druck auf Ruhige, ernsthafte und sachbezogene Bewertung der Steueroasen, nach Vereinfachung des Steuersystems –, nachlassenden Steuermoral ist jetzt gefragt. Woran das ist es wert, diskutiert zu werden. Alle diese Punkte sind liegt, muss aufgearbeitet werden, ohne Populismus und im Rahmen eines Wertekanons, einer Werteordnung zu Vorverurteilungen. diskutieren, aber nicht mit Schnellschüssen, Vorverurtei- (Beifall bei der CDU/CSU – Fritz Kuhn lungen und Generalverdacht, wie das jetzt passiert. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schütterer (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Beifall!) NEN) Ich warne ausdrücklich vor der Beschädigung der so- zialen Marktwirtschaft durch diese Steuerhinterzie- Die öffentliche Inszenierung und die politische Hetz- hungsdebatte. jagd der letzten Jahre dienen unserem Standort nicht. Lassen Sie uns eine ruhige, ernsthafte und sachbezogene (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Aufarbeitung des Problems der Steuermoral in unserem NEN]: Ich habe eine Packung „Tempo“- Land Taschentücher für Sie dabei!) (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ging in den letzten Tagen vielen doch nicht um Und bei der CSU in Bayern!) rechtsstaatliche Aufklärung, sondern um Wahlkampf, um Klassenkampf pur und natürlich um kurzfristige po- angehen. Das ist der richtige Ausgangspunkt. Alles an- litische Vorteile. Das ist die Situation. dere kann man hier nicht akzeptieren. (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Herzlichen Dank. Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU) NEN]: In welcher Welt leben Sie denn?)

Frau Höll, wie stellen Sie sich denn eigentlich Steuer- Vizepräsidentin Petra Pau: wettbewerb zwischen freien Ländern vor? Wir können Das Wort hat der Kollege Ludwig Stiegler für die doch gar nicht bestimmen, welche Steuerregeln und SPD-Fraktion. Steuergesetze im Ausland beschlossen werden. Es ist doch nicht so wie früher, dass das in Moskau beschlos- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sen wird und Sie das zu befolgen haben. NEN]: So, jetzt kommt’s!) 15220 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

(A) Ludwig Stiegler (SPD): Ein weiterer Punkt. Wir müssen auch bei uns einiges (C) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha- ändern. Das betrifft zum Beispiel die Einstellung der Be- ben ja gerade das Wilhelm-Busch-Jahr, und der hat ein- rater. Der Kollege Joachim Poß hat sich den Präsidenten mal geschrieben: Die Tugend – dieser Satz steht fest – ist des Deutschen Steuerberaterverbandes vorgenommen, stets das Böse, das man lässt. – Deshalb möchte ich mich der doch glatt erklärt hat – wie die Liechtensteiner; als auf das konzentrieren, was wir tun können, um die Tu- ob er deren Mandat hätte –, dass das kriminelle Verhal- gend zu fördern. Mangel an Gelegenheit bedeutete schon ten eine Folge nicht gerechtfertigter und zu komplizier- immer eine große Förderung der Tugend. Viele Sünden ter Steuergesetzgebung sei. Das ist schon erstaunlich. sind vermieden worden, weil sich das Gebüsch nicht bot. Als ob diese Leute die Steuergesetze nicht verstünden! Sie haben doch ganze Bataillone von Juristen, die ihnen (Heiterkeit bei der SPD sowie bei Abgeordne- sagen, wie sie die Steuergesetze umgehen können. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir brauchen deshalb eine andere Einstellung der Be- Deshalb, meine Damen und Herren, kommt es darauf rater. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Wer solche an: Was tun wir, um strukturell zu helfen? Das Erste ist: Steuersparmodelle entwirft und die Leute zur Steuerhin- Liechtenstein muss kooperieren. Ich habe da ein schönes terziehung verleitet, der muss mit berufsrechtlichen Interview von Egon Matt, Chef der Liechtensteiner Op- Konsequenzen rechnen. Man kann die Sache nicht ein- position, gelesen, in dem er sagt: fach laufen lassen, dass eine ganze Beratungsindustrie Es gibt etwa 80 000 Stiftungen im Land – das Stif- daran verdient, den Staat um seine Revenuen zu bringen. tungsgeschäft gehört zum Finanzplatz, es generiert (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 20 Prozent der Staatseinnahmen. … Eine Liechten- steiner Stiftung ist nichts anderes als ein Mantel um Ich schlage vor, dass der Finanzminister eine ein Vermögen, das man nach außen nicht deklarie- Taskforce einrichtet, die all diese Prospekte auswertet ren möchte. und all diese Seminare beobachtet, sodass man sofort re- Wenn der Großfürst jetzt den Weltsicherheitsrat an- agieren kann. ruft, weil der Bundesadler den Zaunkönig fressen will, (Jan Mücke [FDP]: Wer soll die denn (Heiterkeit bei der SPD) beobachten?) dann sagen wir ihm: Luxemburg muss mit Deutschland Was bekommen wir schon wieder täglich Anzeigen von kooperieren – – Seminaren zu sehen, bei denen es um die Hinterziehung der Quellensteuer geht. Es handelt sich regelrecht um (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Liechten- eine Beratungsindustrie, die viel Geld damit verdient. (B) stein!) Auch diesen Sumpf müssen wir austrocknen. Wir wer- (D) – Liechtenstein – die Luxemburger haben das schon frü- den nur dann auf den Pfad der Tugend zurückkehren, her gemacht, das ist wahr; sie sind zwei Jahre voraus – wenn die Zahl der Gelegenheiten, die es in den letzten muss mit Deutschland kooperieren. Die Amerikaner ha- Jahren in reichlichem Maße gab, nicht mehr so groß ist. ben es ja erzwungen. Ich empfehle die Website (Beifall bei Abgeordneten der SPD) www.irs.gov. Da sehen Sie all die Auflagen, die die Liechtensteiner gegenüber den Amerikanern erfüllen. Wir können eine Menge Lektionen lernen. Liechten- Liechtenstein will jetzt in den Schengen-Raum. Sollen stein muss kooperieren, und wir müssen mit denen, die wir zur Belohnung für ihre Leistungen jetzt die freie im Inland das Geschäft betreiben, robust umgehen. Durchfahrt für die Geldkofferautos genehmigen, ohne (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass sie kooperieren? des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Axel Vizepräsidentin Petra Pau: Troost [DIE LINKE]) Nun hat der Kollege Eckhardt Rehberg aus der Aufgrund ihrer Zollgemeinschaft mit der Schweiz Unionsfraktion das Wort. sind die Liechtensteiner darauf angewiesen, dass sie dem (Beifall bei der CDU/CSU) Schengen-Raum beitreten können. Wir sagen deshalb: Liebe Freunde, nur wenn ihr bei der Durchsetzung der Eckhardt Rehberg (CDU/CSU): Steuergesetze kooperiert, so wie ihr es im Fall Amerika Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abge- tut, dann könnt ihr dem Schengen-Raum beitreten. – Wir ordnete! Frau Kollegin Höll, ich bin ebenfalls für die machen das Schlupfloch doch nicht noch größer. Das weltweite Aufhebung des Bankgeheimnisses. Insbeson- müssen wir mit den Liechtensteiner Freunden ernsthaft dere verspreche ich mir viel davon, das Geheimnis um besprechen. Es gibt überhaupt keinen Grund für sie, sich das eine oder andere Konto in Liechtenstein zu lüften. zu beklagen. Wer sein Land quasi wie eine Räuberhöhle Ich habe dazu einen durchaus interessanten Artikel in ei- einrichtet, der darf sich nicht wundern, dass sich andere ner heute erschienenen Zeitschrift gelesen. Der Deutsche zur Wehr setzen. Das ist doch eine klare Sache. Bundestag musste sich 16 Jahre lang im Rahmen der un- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ abhängigen Kommission, die sich mit dem SED-Vermö- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Axel gen befasste, anstrengen, um 1 Milliarde herauszuholen. Troost [DIE LINKE]) Ich bin fest davon überzeugt, dass ehemaliges SED- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15221

Eckhardt Rehberg (A) bzw. PDS-Vermögen weltweit noch auftauchen würde. Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung zum Steuer- (C) Partiell in diesem Punkt stimme ich also Ihrem Vor- system machen. Das Steuersystem ist hochkompliziert. schlag ganz ausdrücklich zu. An der einen oder anderen Stelle konnte man merken, was für eine Debatte entsteht, wenn man Missbrauch (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP vorbeugen will. Ich nenne zum Beispiel die Einführung und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wi- der elektronischen Lohnsteuerkarte bzw. die Abschaf- derspruch bei der LINKEN) fung der Lohnsteuerkarte ab 2011. Was habe ich hierzu – Wer im Glashaus sitzt, der sollte nicht mit so vielen von einigen Fraktionen im Wirtschaftsausschuss gehört! Steinen werfen. Erst die Einführung der elektronischen Lohnsteuerkarte wird eine Vernetzung der Daten möglich machen, die Herr Kollege Stiegler, Sie sind aus meiner Sicht zu jetzt überwiegend nur bei den Meldebehörden vorliegen. Recht auf das eingegangen, was Liechtenstein betrifft. Manche fordern, wenn wir hinter Betrügereien – egal auf Ein Bankgeheimnis kann nicht sakrosankt sein; Kon- welcher Ebene – kommen wollen, Dinge, die natürlich trollmeldungen müssen möglich sein. Erlauben Sie mir sehr viel mit Datenschutz zu tun haben. Deswegen muss nur die Bemerkung – auch mit Blick auf Frau Scheel und derjenige, der das eine will, auch das andere akzeptieren. Herrn Kuhn –: Das wäre nicht nur eine Aufgabe ab Ja- nuar/Februar 2008, sondern man hätte auch früher schon Angesichts dessen, dass 30 Prozent der Steuerpflichti- etwas mehr Druck machen müssen und auch können. gen nicht einmal 1 Prozent des Steueraufkommens tra- Herr Kollege Stiegler, ich gebe Ihnen ausdrücklich recht, gen – auch das sollte man einmal deutlich machen; das dass der Beitritt zum Schengen-Abkommen ein richtiger sind diejenigen, die ein Jahreseinkommen von unter Zeitpunkt ist, diese Punkte anzusprechen. Ich schließe 17 000 Euro haben –, frage ich mich wirklich, Frau Kol- mich aber Ihrem Begriff „Räuberhöhle“ ausdrücklich legin Höll, was diese Neiddebatte an dieser Stelle soll. nicht an. Wir sollten hier keine Neiddebatte führen. Es ist doch so, dass die Einkommensstarken weit über die Hälfte des (Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist vom heiligen Steueraufkommens tragen. Wir sollten deutlich machen: Augustinus! – Florian Pronold [SPD]: Große Es ist mehr als zu hinterfragen, es ist verwerflich und es Räuberhöhle!) ist teilweise kriminell, wenn jemand im Sozialbereich Es kommt nicht nur im Falle Liechtensteins darauf an, oder im Steuerbereich betrügt. Es bringt dieser Gesell- für transparente Verhältnisse zu sorgen. Das gilt auch für schaft überhaupt nichts, wenn wir die eine Gruppe gegen andere Steueroasen, die es auf dieser Welt noch gibt. die andere Gruppe ausspielen. Nur, wir sollten uns an dieser Stelle nicht überheben. Danke. (B) Lassen Sie mich auf die Neiddebatte zu sprechen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D) kommen. Ich will ganz unvoreingenommen zumindest neten der SPD) eine Stimme zitieren – es gibt derer aber noch viel mehr in den Tageszeitungen –: Vizepräsidentin Petra Pau: Steuerhinterziehung ist nicht allein das Privileg von Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Gabriele Managern, Sportlern oder Künstlern, die ihre pri- Frechen das Wort. vate Rendite steigern wollen. Der bewusste Betrug (Beifall bei der SPD) des Finanzamts ist ein Massenphänomen in Deutschland. In kaum einem anderen Land verwen- den die Bürger so viel Zeit damit, den Fiskus für Gabriele Frechen (SPD): dumm zu verkaufen. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf OECD-Ebene und auf EU-Ebene – nicht Beides ist kein Kavaliersdelikt: Steuerbetrug und zuletzt mit der EU-Zinsrichtlinie – wird daran gearbeitet, auch Sozialbetrug. faire Bedingungen für die Staaten untereinander zu schaffen, damit sie ihre Steueransprüche durchsetzen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- können. Liechtenstein – so ist in den Berichten der neten der SPD) OECD zu lesen – gehört zu den unkooperativen Staaten. Wir sollten im Augenblick ein bisschen aufpassen, die Ich denke, das sollte man vor Augen haben, wenn man Gewichte nicht zu verschieben und zu verlagern, nur momentan die Ansprüche und die Aussagen der zustän- weil es auf der einen Seite nicht nur um zwei- oder drei- digen Herren aus Liechtenstein hört. Deutschland wird stellige Beträge, sondern um vier-, fünf-, sechs-, sieben-, aufgrund der internationalen Verflechtungen sicherlich acht- oder neunstellige Beträge geht. Wir müssen dem nichts im Alleingang erreichen. Aber wir haben Mög- Bürger klarmachen – da gebe ich Ihnen, Herr Kollege lichkeiten, die wir nutzen können. Nur, wir müssen sie Runde, ausdrücklich recht –, was es bedeutet, den Staat auch nutzen wollen. Ich bin kein misstrauischer Mensch zu betrügen. Auch wenn im Zusammenhang mit – ich glaube, das habe ich hier schon einmal gesagt –, Hartz IV betrogen wird, betrifft dies Steuergelder. Wenn aber ich glaube an die präventive Kraft des Ent- beim Arbeitslosengeld I betrogen wird, geht es um So- deckungsrisikos. zialbeiträge. Wer Steuern hinterzieht, entzieht dem Staat, (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) uns allen, Mittel für den Infrastrukturausbau, die Bil- dung usw. Der Bürger muss wieder sagen: Diese Mittel Das heißt: Wenn wir das Risiko, entdeckt zu werden, so braucht der Staat, weil es für uns, weil es für mich ist. hoch machen, dass man es schon allein deshalb bleiben 15222 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

Gabriele Frechen (A) lässt, dann können es meines Erachtens nur noch Steuer- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) junkies sein, die Steuerhinterziehung betreiben. Die ei- DIE GRÜNEN) nen machen Bungeejumping, die anderen gehen ins Ka- Auch die Verantwortlichen in Liechtenstein führten in sino, um alles zu verlieren, und einigen gibt es halt einen den letzten Tagen die Kompliziertheit unseres Steuer- Kick, den Staat und die Allgemeinheit zu bescheißen. rechts an. Wenn der Botschafter Liechtensteins steuerli- An die werden wir nie herankommen, egal wie niedrig che Tipps für die Überarbeitung unseres komplexen unsere Steuersätze sind. Deshalb müssen Finanzbehör- Steuersystems gibt, muss ich bei allem Respekt sagen: den in der Lage sein, im Veranlagungsbereich zu kon- Das Steuersystem Liechtensteins mag in einem Land mit trollieren und Betriebsprüfungen durchzuführen. 35 000 Einwohnern funktionieren. Dieses System auf Mein Heimatland Nordrhein-Westfalen hat im Jahr ein Land mit 82 Millionen Einwohnern zu übertragen, 2003 – wir wissen alle, dass damals Rot-Grün in NRW das ganz andere Probleme und Herausforderungen zu regierte – 2 932 Bezieher von Einkünften in Höhe von bewältigen hat, halte ich aber für ein Sandkastenspiel. mehr als 500 000 Euro geprüft, was zu Mehreinnahmen Das sage ich ganz eindeutig. Damit sollten wir uns nicht in Höhe von 67 Millionen Euro führte. Bei der Prüfung länger abgeben. von Banken betrug das Mehrergebnis 1,9 Milliarden Euro. Der Finanzminister der schwarz-gelben Regierung (Beifall bei der SPD) fährt jetzt aber den genau gegenläufigen Kurs, der mei- Das mag vielleicht daran liegen, dass zu den 35 000 Ein- nes Erachtens fatal ist: Er will 931 Stellen streichen, da- wohnern 75 000 Briefkästen hinzukommen. Die wollen von 165 im Bereich der Betriebsprüfung und 25 bei der natürlich auch verwaltet werden. Steuerfahndung. (Ludwig Stiegler [SPD]: Und (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 80 000 Stiftungen!) Steuersparmodell FDP) Führungskräfte sind Vorbilder, und eine Führungs- Sollte unsere föderale Struktur dazu führen, dass der kraft soll Werte vorleben, so zitiert die Mitarbeiterzei- Bund nur noch Gesetze macht, die die Länder nicht mehr tung der Post Klaus Zumwinkel. Wenn es nicht so verlo- vollziehen, müssten wir im Ernst über eine Bundessteu- gen wäre, könnte man glatt anfangen, zu lachen. In erverwaltung nachdenken. dieser Woche, in der die Zeitung erschienen ist, kann (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ man darüber aber noch nicht einmal lachen. DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Als Erklärung für Steuerhinterziehung habe ich in den Kollegin Frechen, kommen Sie bei aller Empörung (D) (B) letzten Tagen zwei Argumente gehört: Das eine ist, dass bitte zum Schluss. unsere Steuersätze zu hoch sind, und das andere, dass unser Steuerrecht zu komplex ist. Beides lasse ich nicht durchgehen. Wer so einen Schwachsinn glaubt, der zieht Gabriele Frechen (SPD): auch die Hose mit der Beißzange an. Unsere Steuersätze Sofort. – Was hat er eigentlich vorgelebt? Nimm alles – Frau Höll hat uns das eben vorgerechnet – sind deut- in Anspruch, gib möglichst wenig zurück! Wir verlangen lich gesunken. Nach Einführung der Abgeltungsteuer von Menschen, die zu uns kommen und bei uns leben wird der Steuersatz 25 Prozent betragen. Darum geht es wollen, dass sie unsere Werte annehmen. Ich glaube, es aber nicht. Nur wenn der Steuersatz bei 0 Prozent liegt, wird höchste Zeit, dass die Eliten in unserem Land das ist der Steuersatz für diese Verbrecher, für diese Krimi- auch wieder tun. nellen niedrig genug. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Zuruf von der LINKEN) DIE GRÜNEN – Dr. Volker Wissing [FDP]: Wer hat den eigentlich ausgesucht, Frau Kolle- – Ja, im Ernst. gin Frechen?) (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Völlig Ih- rer Meinung!) Vizepräsidentin Petra Pau: Die Komplexheit unseres Steuerrechts als Argument Kollegin Frechen, ich rege an, für die zukünftige po- anzuführen, ist das Verrückteste überhaupt. Wer so viel puläre Beschreibung von empörenden Vorgängen parla- Geld hat, dass er es irgendwohin verschieben muss – in mentarische Ausdrücke zu suchen. eine Räuberhöhle, ein Steuerparadies, eine Steueroase Das Wort hat der Kollege Jörg-Otto Spiller für die oder wie immer Sie es nennen wollen –, der hat zuvor SPD-Fraktion. garantiert mit viel Geld alle legalen Tricks ausgenutzt, um Steuern zu sparen. Das reicht solchen Leuten aber (Florian Pronold [SPD]: Welche Ausdrücke noch nicht. Daher wird der Rest von den sauer erarbeite- waren denn nicht korrekt? – Heiterkeit bei der ten Millionen nach Liechtenstein geschafft. Dafür habe SPD) ich überhaupt kein Verständnis. Das muss man beim Na- men nennen, auch die Rolle, die Liechtenstein dabei Jörg-Otto Spiller (SPD): spielt. Wer verbreitet, dass es an diesen zwei Punkten Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und liegt, der macht sich meines Erachtens zum Steigbügel- Herren! Steuergesetze sind einzuhalten – so wie alle an- halter dieser Steuerhinterzieher. deren Gesetze auch. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15223

Jörg-Otto Spiller (A) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) FDP) NEN]: Es hat Jahrzehnte gedauert!) Warum haben wir heute diese Aktuelle Stunde? Es gibt – Ja, es hat lange gedauert, und es war mühsam. einen spektakulären Erfolg bei der Durchsetzung deut- schen Steuerrechts. Ich bekunde Respekt vor der Bochu- Zu den Ländern, die sich da ein bisschen schwertun mer Schwerpunktstaatsanwaltschaft und vor der guten – sie gehören nicht zur EU –, gehört außer der Schweiz Arbeit des Bundesnachrichtendienstes. auch Liechtenstein. Dazu zitiere ich, was der Opposi- tionsführer aus Liechtenstein gesagt hat: Wir müssen mit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten unserem Nachbarn Deutschland kooperieren. – Das ist der CDU/CSU) genau der richtige Ansatz. Liechtenstein hat sich bei der Zusammenarbeit bezüglich Geldwäsche und Verbrechen Ich bin über manche selbsternannte Zumwinkel-Ad- im Bereich von organisierter Kriminalität bewegt. Der vokaten erstaunt, die uns glaubhaft machen wollen, es liege am deutschen Steuerrecht, dass so viele Leute auf nächste Schritt ist die faire Zusammenarbeit bei der Ver- folgung von Steuerhinterziehung. die Idee kommen, sich der Steuerpflicht zu entziehen. Mich hat besonders bedrückt, dass auch einige Kollegen (Beifall bei der SPD) in dieser Richtung gesprochen haben. Ich muss auch sa- gen, dass ich kein Verständnis dafür habe – Kollege Wir haben eine lange gemeinsame Vergangenheit. Stiegler hat das erwähnt –, dass der Präsident des Deut- Noch im Jahre 1848 hat Liechtenstein zwei Abgeordnete schen Steuerberaterverbandes sagt: Die Gesetze, das in die Frankfurter Paulskirche entsandt. Wir sollten also Steuerrecht verleite die Steuerzahler, sich Lücken zu su- gutnachbarschaftlich miteinander umgehen. chen und Steuern zu hinterziehen. Herr Pinne schadet (Dr. Volker Wissing [FDP]: Das sagen Sie! damit dem Ansehen seines Berufsverbandes. Meine Herr Kuhn sagt, dass man da noch nicht ein- Überzeugung ist – so wie Herr Bernhardt gesagt hat –: mal mehr hinfahren darf!) Die Masse der deutschen Bürger ist steuerehrlich, und die Masse der Steuerberater berät korrekt und gibt keine Es gibt noch eine Ermutigung: Jean-Claude Juncker, Beihilfe zur Steuerhinterziehung. der Regierungschef von Luxemburg, hat zu Recht darauf hingewiesen, dass wir auf EU-Ebene und auf OECD- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ebene eine Verbesserung der Zusammenarbeit bei der Wir haben in den vergangenen Jahren – gerade auch steuerlichen Erfassung von Kapitalerträgen brauchen. unter der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder – die In- Der Mann weiß, wovon er redet. strumente zur Durchsetzung des Steuerrechtes, des Steu- (B) eranspruches erheblich verbessert, Vizepräsidentin Petra Pau: (D) (Dr. Volker Wissing [FDP]: Wer hat denn Kollege Spiller, das Licht zeigt Ihnen an, dass Ihre Zumwinkel ausgesucht?) Redezeit vorbei ist.

und zwar gerade in dem Punkt, der besonders sensibel Jörg-Otto Spiller (SPD): war: bei der Erfassung von Kapitalerträgen, Herr Ich finde, wenn Luxemburg diesen Vorstoß macht, Wissing. Da geht es darum, dass man zunächst einmal dann liegt es an Liechtenstein, dem zu folgen. Kenntnisse hat. Wir haben durchgesetzt, dass alle Ban- ken ihren Kunden am Ende des Jahres eine Aufstellung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten über die Erträge geben. Diese Aufstellung ist dem Fi- der CDU/CSU und des Abg. Fritz Kuhn nanzamt vorzulegen. Wenn da getrickst wird, wenn das [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Finanzamt den begründeten Verdacht hat, dass vielleicht nur ein Teil der Erklärungen vorgelegt wurde und es Vizepräsidentin Petra Pau: noch Erklärungen von anderen Banken gibt, dann greift Damit ist die Aktuelle Stunde beendet. das Instrument der Kontenabfrage, wodurch die Behörde feststellen kann, wo der Bürger ein Konto hat. Die Be- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind am Schluss hörde erfährt nicht, welche Erträge oder Guthaben es unserer heutigen Tagesordnung. gibt. – Das ist ein wesentliches Instrument zur Durchset- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- zung des Steueranspruches. destages auf morgen, Donnerstag, den 21. Februar 2008, Der wunde Punkt bei Kapitalerträgen: Wie verhält es 9 Uhr, ein. sich, wenn sie im Ausland anfallen? Wir haben auf euro- Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen einen päischer Ebene mit der europäischen Zinsrichtlinie einen erfolgreichen und natürlich auch schönen Abend. Einstieg erreicht. Es gibt Mängel, aber es ist ein guter Ansatz. (Schluss: 18.26 Uhr)

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15225

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Dr. Addicks, Karl FDP 20.02.2008 Strothmann, Lena CDU/CSU 20.02.2008

Bartsch, Dietmar DIE LINKE 20.02.2008 Teuchner, Jella SPD 20.02.2008

Dr. Berg, Axel SPD 20.02.2008 * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung des Europarates Bodewig, Kurt SPD 20.02.2008 ** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung der OSZE Bollen, Clemens SPD 20.02.2008

Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 20.02.2008 Anlage 2 Gabriel, Sigmar SPD 20.02.2008 Antwort der Parl. Staatssekretärin Nicolette Kressl auf die Frage Dr. Freiherr zu CDU/CSU 20.02.2008 der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) Guttenberg, Karl- (Drucksache 16/8113, Frage 5): Theodor Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die Ein- Heil, Hubertus SPD 20.02.2008 führung einer Schuldenbremse, wie sie der Bundesminister der Finanzen plant, Einsparungen in der Größenordnung von jährlich 15 Milliarden Euro notwendig machen würden, und Hilsberg, Stephan SPD 20.02.2008 teilt die Bundesregierung meine Auffassung, dass eine Ein- (B) sparungssumme von jährlich 15 Milliarden Euro zwangsläu- (D) Ibrügger, Lothar SPD 20.02.2008 fig zu Kürzungen von Sozialprogrammen führen müsste (ver- gleiche Handelsblatt vom 13. Februar 2008)? Kauch, Michael FDP 20.02.2008 Die mit dem Bundeshaushalt 2008 beschlossene Fi- nanzplanung des Bundes sieht für das Jahr 2011 einen Kelber, Ulrich SPD 20.02.2008 Bundeshaushalt ohne Nettokreditaufnahme vor. Die vom Bundesminister der Finanzen vorgeschlagene neue Dr. Koschorrek, Rolf CDU/CSU 20.02.2008 Schuldenregel könnte auf Grundlage der bestehenden Fi- nanzplanung – ohne weitere Konsolidierungsschritte – Krummacher, Johann- CDU/CSU 20.02.2008 zu diesem Zeitpunkt eingeführt werden. Die im Finanz- Henrich planungszeitraum erwartete strukturelle Verbesserung der Haushaltslage wird vor allem durch Ausgabendiszi- Liebing, Ingbert CDU/CSU 20.02.2008 plin und im Zeitablauf steigende Steuereinnahmen er- reicht. Kürzungen von Sozialprogrammen sind hiermit Lintner, Eduard CDU/CSU 20.02.2008* nicht verbunden. Nitzsche, Henry fraktionslos 20.02.2008 Anlage 3 Pflug, Johannes SPD 20.02.2008 Antwort Poß, Joachim SPD 20.02.2008 der Parl. Staatssekretärin Nicolette Kressl auf die Frage des Abgeordneten Manfred Kolbe (CDU/CSU) (Druck- Schily, Otto SPD 20.02.2008 sache 16/8113, Frage 6): Schultz (Everswinkel), SPD 20.02.2008 Wer sind die zwölf Personen aus dem Kreis der Vorstands- Reinhard vorsitzenden, Vorstandsmitglieder und sonstigen leitenden Mitarbeiter in öffentlichen Institutionen oder öffentlich-recht- lich oder privatrechtlich organisierten Unternehmen und Or- Steenblock, Rainder BÜNDNIS 90/ 20.02.2008** ganisationen mit Bundesbeteiligung (zum Beispiel Deutsche DIE GRÜNEN Bundesbank, Kreditanstalt für Wiederaufbau, Deutsche Bahn AG, Deutsche Post AG), die mit ihren Bezügen am höchsten über den Bezügen der Bundeskanzlerin liegen, und wie hoch Steppuhn, Andreas SPD 20.02.2008 sind ihre jeweiligen Bezüge? 15226 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

(A) Der geltende Rechtsrahmen für die Offenlegung von Wie viele Beschäftigte der Stasi-Unterlagenbehörde sind als (C) Individualbezügen ist ebenso vielschichtig wie der Kreis dem ehemaligen DDR-Regime verbunden gewesen („system- nah“) anzusehen, und in jeweils welchen Funktionen waren der Institutionen, auf die das Auskunftsersuchen gerich- diese Personen vor der friedlichen Revolution von 1989 tätig? tet ist. Die Individualgehälter der Mitglieder des Vor- Welche Maßnahmen sind durch die Bundesregierung bzw. standes der Deutsche Post AG, der Deutsche Bahn AG die Leitung der Stasi-Unterlagenbehörde unternommen wor- und der Deutschen Bundesbank ergeben sich aus den je- den, um sicherzustellen, dass ehemals „Systemnahe“ nicht in weiligen aktuellen Geschäftsberichten. Als börsennotier- leitenden Funktionen der Behörde, an Stellen mit Antragstel- tes Unternehmen unterliegt die Deutsche Post AG dem lerkontakt oder unkontrolliertem Aktenzugang tätig sind? Deutschen Corporate Governance Kodex und den darin geregelten Veröffentlichungspflichten. Die Deutsche Zu Frage 11: Bahn AG und die Deutsche Bundesbank veröffentlichen Für den Begriff „systemnah“ wurden die Kriterien des die individuellen Gehälter freiwillig. Hinsichtlich der § 19 BAT-O und der Verwaltungsvorschrift des Sächsi- Kreditanstalt für Wiederaufbau sind die Gesamtbezüge schen Staatsministeriums des Innern herangezogen. Im des Vorstandes ebenfalls dem Geschäftsbericht zu ent- Zweifel wurden die Kriterien des BAT-O angewandt nehmen. Sämtliche Geschäftsberichte sind öffentlich zu- (Beispiel: Die Sächsische Verwaltungsvorschrift bewer- gänglich. tet die Tätigkeit erst ab Abteilungsleiter in einem Minis- terium als systemnah, der BAT-O spricht bereits von mittlerer oder oberer Führungskraft als „systemnah“). Anlage 4 Nicht alle ehemaligen Angehörigen des öffentlichen Antwort Dienstes oder staatsnaher Organisationen in der früheren DDR werden generell als „systemnah“ angesehen. Die des Parl. Staatssekretärs Ulrich Kasparick auf die Frage „Systemnähe“ wird nur vermutet bei ehemaligen Mitar- der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) beitern, die herausgehobene Funktionen innehatten. Als (Drucksache 16/8113, Frage 7): derartige Funktionen kommen insbesondere in Betracht Ist der Bundesregierung bekannt, ob die Deutsche Bahn eine hauptamtliche oder hervorgehobene ehrenamtliche AG das Volksbegehren „Tempelhof bleibt Verkehrsflughafen“ nicht nur personell, sondern auch finanziell und logistisch un- Funktion in der SED, dem FDGB, der FDJ oder einer terstützt, und ist die Bundesregierung der Auffassung, dass es vergleichbar systemunterstützenden Partei oder Organi- zu den Aufgaben der Deutsche Bahn AG gehört, ihre wirt- sation, eine Tätigkeit als mittlere oder obere Führungs- schaftlichen Interessen über Volksbegehren zu artikulieren? kraft in zentralen Staatsorganen, als obere Führungskraft Nach Kenntnis der Bundesregierung unterstützt die beim Rat eines Bezirkes, als Vorsitzender des Rates ei- Deutsche Bahn AG das Volksbegehren „Tempelhof nes Kreises oder einer kreisfreien Stadt (Oberbürger- (B) bleibt Verkehrsflughafen“ weder finanziell noch sonst meister) oder in einer vergleichbaren Funktion und eine (D) materiell. Tätigkeit bei bewaffneten Organen und Kampfgruppen. Aufgrund der genannten Beurteilungsmaßstäbe wurde eine Zahl von 27 Beschäftigten bei der BStU ermittelt, Anlage 5 die unter den Begriff „systemnah“ fallen. Sie waren in herausgehobenen Funktionen im Sinne der obigen Dar- Antwort stellung tätig: 15 bei der SED bzw. Blockparteien oder im des Parl. Staatssekretärs Achim Großmann auf die Frage FDGB, 8 in staatlichen Funktionen sowie 4 bei der NVA. des Abgeordneten Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Drucksache 16/8113, Frage 10): Zu Frage 12: Mit welchem Ziel führt die Bundesregierung mit der Lan- Die Bundesregierung und die Bundesbeauftragte für desregierung Schleswig-Holstein Gespräche über die Zukunft die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehema- des Herrentunnels in Lübeck, wie Günther Meienberg, Minis- terialdirigent im Kieler Verkehrsministerium, berichtet (Lübe- ligen Deutschen Demokratischen Republik haben sich cker Nachrichten vom 24. Januar 2008), und welche Verkehrs- an der Empfehlung des Gutachtens über die Beschäfti- projekte wird das Bundesministerium für Verkehr, Bau und gung ehemaliger MfS-Angehöriger bei der BStU, das Stadtentwicklung im Falle einer Übernahme des 176 Millio- von Professor Klein und Professor Schroeder im Auftrag nen Euro teuren Herrentunnels, der ursprünglich als „Public- des BKM im Mai 2007 erstellt wurde, orientiert. Danach Private-Partnership-Projekt“ geplant war, zurückstellen? sollte die Anzahl der Personen ermittelt werden, die als Bislang haben mit der Landesregierung Schleswig- dem ehemaligen DDR-Regime verbunden gewesen an- Holstein keine Gespräche über die Zukunft des Herren- zusehen sind (siehe Antwort zu Frage 11). Die Gutachter tunnels in Lübeck stattgefunden. Eine Übernahme des haben empfohlen: „Ehemals ,Systemnahe‘ (beispiels- Lübecker Herrentunnels durch den Bund wird nicht er- weise in höheren SED-Rängen oder staatlichen Funktio- wogen. nen tätig gewesene Personen) sollten in leitenden Funk- tionen der Behörde grundsätzlich nicht beschäftigt werden.“ Weitere Empfehlungen zu der Verwendung ha- Anlage 6 ben sie nicht gegeben. Bezogen auf die Verwendungen in der Vergangenheit kommen drei Personen infrage. In Antwort einem Fall wird eine Umsetzung angestrebt. Zwei üben des Staatsministers Bernd Neumann auf die Fragen des Tätigkeiten aus, die die Behördenaufgabe (das heißt Abgeordneten Christoph Waitz (FDP) (Druck- Akteneinsicht, Überprüfung, Archivverwaltung sowie sache 16/8113, Fragen 11 und 12): Bildung und Forschung) nicht unmittelbar berühren. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15227

(A) Anlage 7 kooperative Beziehungen entwickeln zu wollen, in deren (C) Rahmen auch die aus der Vergangenheit herrührenden Antwort Fragen vertrauensvoll behandelt werden können. Der des Parl. Staatsministers Bernd Neumann auf die Frage jüngste Dialog zum „Sichtbaren Zeichen“ hat gezeigt, des Abgeordneten Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ dass die Behandlung dieser schwierigen Kapitel der ge- DIE GRÜNEN) (Drucksache 16/8113, Frage 13): meinsamen Vergangenheit im gegenseitigen Respekt und Vertrauen möglich ist, und die sich insgesamt posi- Liegt es nicht nahe, angesichts der Absage einer Beteili- gung am Projekt „Sichtbares Zeichen“ durch die polnische tiv und kooperativ entwickelnden Beziehungen nicht be- Regierung den Warschaubesuch vom Staatsminister und Be- einträchtigt. auftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Bernd Neumann, am 5. Februar 2008 als gescheitert anzuerkennen und festzustellen, dass die polnische Regierung zwar beruhi- gende Worte gefunden hat, um die deutsch-polnischen Bezie- Anlage 8 hungen nicht zu belasten, dass die Bundesregierung aber in der Sache inhaltlich gescheitert ist und es sich um einen Rück- Antwort fall in nationalgeschichtliches Denken bzw. eine schlichte der Staatsministerin Prof. Dr. Maria Böhmer auf die Weiterführung rein national geprägter Erinnerung handelt? Frage des Abgeordneten Josef Philip Winkler (BÜND- Die Gespräche von Staatsminister Neumann mit NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 16/8113, Frage 15): Staatssekretär Bartoszewski in Warschau am 5. Februar Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus dienten der Verständigung über historische Fragen in den den Äußerungen des türkischen Ministerpräsidenten Recep Beziehungen zwischen den beiden Ländern und in die- Tayyip Erdogan über die Notwendigkeit des Erlernens sowohl sem Kontext auch der Unterrichtung der polnischen Re- der deutschen Sprache als auch der Förderung des Erwerbs gierung über das Konzept des geplanten „Sichtbaren der Muttersprache im Hinblick darauf, Zeichens gegen Flucht und Vertreibung“. Diese Unter- – dass auch der Nationale Integrationsplan auf Seite 48 die richtung ging auf eine Zusage der Bundeskanzlerin an Auffassung vertritt, dass „der gute Erwerb der Mutterspra- den polnischen Ministerpräsidenten Tusk bei dessen che (…) eine wesentliche Voraussetzung für die Entwick- lung von Sprachkompetenz, auch für den Erwerb der Spra- Berlinbesuch am 11. Dezember 2007 zurück. Die polni- che des Aufnahmelandes, hier also des Deutschen [ist]“, sche Seite hat für die umfassende Unterrichtung gedankt – dass aber in den hierfür maßgeblichen Arbeitsgruppen 2 und anerkannt, dass es die Absicht der deutschen Seite und 3 des Integrationsgipfels („Spracherwerb“ und „Bil- ist, die Vertreibung in ihrem historischen Zusammen- dung“) weder der Bund noch Länder oder Kommunen hang darzustellen und dabei auch die Deportation polni- eine einzige Selbstverpflichtung zur Förderung des Er- scher Bevölkerung zu berücksichtigen. Polen beabsich- werbs der Muttersprache abgegeben haben? tigt nicht, sich formell am „Sichtbaren Zeichen“ zu Für eine erfolgreiche Teilhabe am Bildungs- und Aus- (B) beteiligen, schließt jedoch eine Beteiligung polnischer (D) Historiker nicht grundsätzlich aus. Von einem Scheitern bildungssystem und im späteren Beruf ist die Beherr- der deutsch-polnischen Gespräche zum „Sichtbaren Zei- schung der deutschen Sprache unabdingbare Vorausset- chen“ kann also keine Rede sein. Die Gespräche in War- zung. Deshalb ist die Förderung der deutschen Sprache schau wie auch der Besuch des polnischen Kulturminis- vorrangiges Ziel in allen Bildungsinstitutionen von der ters Zdrojewski in Berlin am 15. Februar dienten auch Kita über Schule bis hin zu Ausbildung und Beruf. Die dem Dialog zur Frage des historischen Gedenkens, ins- natürliche Mehrsprachigkeit von Kindern aus Zuwande- besondere im Zusammenhang des bevorstehenden rerfamilien stellt eine Bereicherung für die Gesellschaft 70. Jahrestages des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges und das einzelne Individuum dar. Die Vermittlung der Beide Seiten haben ihre Absicht bekräftigt, gemeinsam Muttersprache ist originäre Aufgabe von Eltern. Durch das „Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität“ geeignete Angebote sollte die gute Beherrschung der mit neuem Leben zu erfüllen, das als europäisches Fo- Muttersprache gefördert werden. Die Bedeutung der rum des historischen Dialoges dienen soll. Darüber hi- Muttersprache wurde einvernehmlich von den Mitglie- naus wurden auch Möglichkeiten der Zusammenarbeit dern der Arbeitsgruppen 2 und 3 im Nationalen Integra- bei verschiedenen Gedenkprojekten erörtert, unter ande- tionsplan festgestellt. Die schulische Förderung der rem bei der Renovierung des Mahnmals auf der Wester- Mehrsprachigkeit ist Aufgabe der Länder. platte und den Planungen zu einem „Museum für Krieg und Frieden im 20. Jahrhundert“ in Danzig. Von einem „Rückfall in national geprägte Erinnerung“ kann also Anlage 9 ebenfalls gar keine Rede sein. Die Gespräche in War- schau haben dazu beigetragen, dass sich der Dialog zum Antwort „Sichtbaren Zeichen“ versachlicht hat und in Polen be- des Parl. Staatssekretärs Peter Altmaier auf die Fragen stehende Missverständnisse über die Planungen der Bun- der Abgeordneten Petra Pau (DIE LINKE) (Druck- desregierung ausgeräumt werden konnten. Die Bundes- sache 16/8113, Fragen 16 und 17): regierung respektiert die polnische Entscheidung, sich nicht formell am „Sichtbaren Zeichen“ zu beteiligen. Sie Auf welche Höhe beliefen sich die Kosten für die Aus- misst der Fortführung des Dialogs über das gemeinsame landseinsätze der Polizeien des Bundes und der Länder im Jahr 2007, und wie viele Polizistinnen und Polizisten wurden Gedenken mit Polen große Bedeutung bei. Dies ist beim dabei verletzt und getötet (bitte nach den Einsatzländern auf- Besuch von Kulturminister Zdrojewski erneut unterstri- listen)? chen worden. Bei den Besuchen von Ministerpräsident Wie viele der Polizistinnen und Polizisten wurden bei die- Tusk und Außenminister Sikorski im Dezember in Ber- sen Auslandseinsätzen im Jahr 2007 einsatzbedingt verletzt lin haben beide Seiten bekräftigt, partnerschaftliche und und getötet (bitte nach den Einsatzgebieten auflisten)? 15228 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

(A) Zu Frage 16: gerungen ziehen: „Für alle Beteiligten muss der Aus- (C) tausch von Dokumenten und Daten zwischen Behörden, Für die Auslandseinsätze der Polizeien des Bundes und Unternehmen und Bürgern ohne technische Hindernisse der Länder sind im Jahr 2007 die folgenden auslandsbe- möglich sein. Die öffentliche Verwaltung darf nieman- dingten Mehrkosten entstanden. Darunter sind auslands- den von der Beteiligung an einem elektronischen Verfah- bedingte Personalkosten, Reisekosten, Transportkosten, ren aufgrund der Nutzung eines bestimmten Produkts Kosten für die persönliche Ausstattung sowie für die ausschließen. Die Mitgliedstaaten sind sich darin einig, Vor- und Nachbereitung der Beamten zu verstehen. dass zukünftig der Austausch von elektronischen Doku- menten vollständig auf der Basis von offenen Dokumen- UNMIK (Kosovo) 3 391 338 Euro tenaustauschformaten erfolgen soll.“ Das BMI hat zur Umsetzung dieser Ziele im Juni 2007 eine ressortüber- UNOMIG (Georgien) 84 025 Euro greifende Arbeitsgruppe eingerichtet, deren Aufgabe es UNMIL (Liberia) 131 407 Euro ist, einen Umsetzungsplan für die Einführung offener Dokumentenformate in der Bundesverwaltung zu erar- UNMIS (Sudan) 156 043 Euro beiten. Die Arbeitsgruppe hat inzwischen technische Lö- EU-AMIS (Darfur-Sudan) 95 466 Euro sungen getestet und ist momentan damit beschäftigt, diese Tests auszuwerten und die sich daraus ergebenden EUPOL COPPS (Palästinen- Schlussfolgerungen zu ziehen. Daneben arbeiten das sische Autonomiegebiete) 30 397 Euro BMWi, das AA und das BMI in den hierfür zuständigen EU-Planning Team (Kosovo) 9 770 Euro Normierungsausschüssen des DIN mit, um die Interes- EUPOL AFG (Afghanistan) sen der Bundesregierung bei der Standardisierung von Bilaterales Projekt (GPPT) Dokumentenformaten geltend zu machen. Afghanistan 1 289 721 Euro EUPM BiH (Bosnien- Anlage 11 Herzegowina) 634 379 Euro Antwort EUBAM MD/UA (Moldavien/ Ukraine) 41 993 Euro des Parl. Staatssekretärs Peter Altmaier auf die Frage des Abgeordneten Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE) (Druck- EUBAM Rafah (Palästinensische sache 16/8113, Frage 19): Autonomiegebiete, Gaza) 121 830 Euro Wie viele Sivas-Attentäter halten sich derzeit nach Kennt- (B) Gesamt 5 986 369 Euro nis der Bundesregierung in der Bundesrepublik Deutschland (D) auf? Der Bundesregierung sind insgesamt 24 Personen na- Zu Frage 17: mentlich bekannt, die angeblich am Brandanschlag von Im Rahmen der Auslandseinsätze wurden im Jahr Sivas am 2. Juli 1993 beteiligt gewesen sind und die sich 2007 einsatzbedingt drei Polizisten (ein Beamter im Su- in der Bundesrepublik Deutschland erwiesenermaßen dan, zwei Beamte in Afghanistan) leicht verletzt. oder möglicherweise aufhalten oder aufgehalten haben. Insoweit hat sich der Kenntnisstand der Bundesregie- rung seit der Antwort der Bundesregierung vom 31. Juli Anlage 10 2006 auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke (Bundestagsdrucksache 16/2324) nicht verändert. Antwort des Parl. Staatssekretärs Peter Altmaier auf die Frage des Abgeordneten Dr. Uwe Küster (SPD) (Drucksache 16/8113, Anlage 12 Frage 18): Antwort Welche Schritte hat die Bundesregierung bisher unternom- men, um dem im Rahmen der anlässlich der deutschen EU- des Parl. Staatssekretärs Peter Altmaier auf die Frage des Ratspräsidentschaft durchgeführten Konferenz „Advancing Abgeordneten Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE) (Druck- eGovernment“ am 1. März 2007 geäußerten Willen, dass „zu- sache 16/8113, Frage 20): künftig der Austausch von elektronischen Dokumenten voll- ständig auf der Basis von offenen Dokumentenaustauschfor- Was hat die Bundesregierung seit ihren Antworten auf die maten erfolgen soll“, näher zu kommen? Kleinen Anfragen der Fraktion Die Linke (Bundestagsdruck- sachen 16/994, 16/2324) unternommen, um in der Bundes- Die Frage des Einsatzes offener Dokumentenformate republik Deutschland den aktuellen Aufenthaltsort der in der war ein wesentlicher Themenschwerpunkt der vom BMI Türkei rechtskräftig Verurteilten festzustellen und sie gemäß durchgeführten Konferenz „Advancing E-Government“ Auslieferungsersuchen den türkischen Behörden zu überstel- len? am 1. März 2007. Am Vortag der Konferenz wurde das Thema zudem in einem zusammen mit der Europäischen Die Bundesregierung entscheidet in jedem Einzelfall, Kommission veranstalteten Workshop ausführlich mit ob eingehende Ersuchen türkischer Behörden in die den EU-Mitgliedstaaten sowie Industrievertretern disku- Fahndungsinstrumente des Bundeskriminalamtes einge- tiert. Als Ergebnis konnte die deutsche Präsidentschaft stellt werden. Voraussetzung hierfür ist zunächst, dass zusammen mit den Mitgliedstaaten folgende Schlussfol- keine Auslieferungshinderungsgründe ersichtlich sind. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15229

(A) Im Falle einer Festnahme des Verfolgten auf dem Gebiet Hält die Bundesregierung die Unterlagen, die von dem (C) der Bundesrepublik Deutschland wird dann das dafür Nordstream-Pipeline-Konsortium eingereicht worden sind, für soweit ausreichend, dass die deutschen Genehmigungsbe- vorgesehene Auslieferungsverfahren in Gang gesetzt. hörden über eine Genehmigung entscheiden können, und wel- Hier prüft das zuständige Oberlandesgericht zunächst che Bedeutung misst die Bundesregierung den Gutachten zu, die Zulässigkeit der Auslieferung. Für den Fall einer die die schwedische Regierung als unerlässliche Basis für die positiven Zulässigkeitsentscheidung prüft die Bundes- Einleitung eines Genehmigungsverfahrens beim Antragsteller regierung anschließend im Bewilligungsverfahren, ob die angemahnt hat? Voraussetzungen für eine Auslieferung vorliegen. Bei ei- Den zuständigen deutschen Behörden liegen derzeit ner negativen Zulässigkeitsentscheidung ist die Bundes- noch keine Antragsunterlagen vor. Die Nord Stream AG regierung an die Entscheidung des Oberlandesgerichts ge- hat die Einreichung von umfassenden Unterlagen ein- bunden und kann eine Auslieferung nicht bewilligen. schließlich einer Umweltverträglichkeitsstudie für das erste Halbjahr 2008 angekündigt. Die Vorlage sachdien- licher Unterlagen für das nationale schwedische Geneh- Anlage 13 migungsverfahren ist Sache der Nord Stream AG. Soweit die von schwedischer Seite angemahnten Gutachten für Antwort die grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprü- des Parl. Staatssekretärs Peter Hintze auf die Frage des Ab- fung nach der ESPOO-Konvention von Relevanz sind, geordneten Dr. Uwe Küster (SPD) (Drucksache 16/8113, wird eine Bewertung im Rahmen des nationalen Geneh- Frage 21): migungsverfahrens erfolgen. Wie beurteilt die Bundesregierung den in Deutschland ab- gelaufenen Standardisierungsprozess vor dem Hintergrund des im Januar 2008 gestarteten neuen Missbrauchsverfahrens Anlage 16 gegen Microsoft, bei dem die EU-Kommission prüfen will, ob sich der Konzern während des ISO-Standardisierungsverfah- Antwort rens widerrechtlich verhalten hat? des Parl. Staatssekretärs Peter Hintze auf die Frage des Die Bundesregierung gibt zu laufenden Verfahren Abgeordneten Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ keine Stellungnahmen und Beurteilungen ab. Die Euro- DIE GRÜNEN) (Drucksache 16/8113, Frage 24): päische Kommission hat gegen die Microsoft Corporation zwei Verfahren wegen des Verdachts des Verstoßes gegen Inwieweit bestätigt die Bundesregierung Berichte/Infor- mationen des ARD-Magazins Report Mainz, wonach der Art. 82 des EG-Vertrages eingeleitet (missbräuchliche deutsche Waffenhersteller Heckler & Koch mit dem US-Un- Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung). Presse- ternehmen Blackwater, deren Söldnertruppe nach einer Unter- berichten zufolge (unter anderem heise-online vom 8. Fe- suchung des US-Parlaments im Irak viele Menschen illegal (B) bruar 2008) will die EU-Kommission dabei auch prüfen, tötete und die auch in Afghanistan schwerwiegend Menschen- (D) rechte verletzte, aufgrund einer öffentlich propagierten Ko- ob sich dieser Hersteller während des ISO-Standardisie- operationsvereinbarung gemeinsam Waffen entwickeln will rungsverfahrens für sein Dokumentenformat Open- und schon derzeit außenwirtschaftlich genehmigungspflich- OfficeXML (OOXML) „widerrechtlich“ verhalten hat. In tige Rüstungsgüter wie unter anderem ihr Sturmgewehr allen Fällen handelt es sich um noch nicht abgeschlossene HK417 an die Firma Blackwater gelangen ließ, und hielte die Untersuchungen. Die Bundesregierung wird diese Unter- Bundesregierung es angesichts solcher Kooperation sowie des Einsatzes dieser deutschen Waffen mit ihren politischen Rüs- suchungen allerdings aufmerksam beobachten. tungsexportgrundsätzen aus dem Jahr 2000 sowie ihrer politi- schen Ablehnung des Irak-Krieges für vereinbar, Bundesauf- träge etwa zur Ausrüstung der Bundeswehr weiterhin Heckler & Anlage 14 Koch zu erteilen, zumal falls deren Waffen an Blackwater un- ter Umgehung deutscher Genehmigungspflicht geliefert wor- Antwort den sind? der Parl. Staatssekretärin Dagmar Wöhrl auf die Frage Die Bundesregierung hat keine Ausfuhrgenehmigun- des Abgeordneten Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE gen für die Lieferung von Kriegswaffen oder sonstigen GRÜNEN) (Drucksache 16/8113, Frage 22): Rüstungsgütern für den Endempfänger Blackwater er- teilt, weder nach USA, Afghanistan, Irak noch in andere Wann wird das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie den Monitoringbericht zur Versorgungssicherheit Bestimmungsländer. Es entspricht der restriktiven Rüs- im Bereich der leitungsgebundenen Versorgung mit Elektrizi- tungsexportpolitik der Bundesregierung und ständiger tät nach § 51 des Energiewirtschaftsgesetzes erarbeiten, fer- deutscher Verwaltungspraxis, bei Kriegswaffenausfuh- tigstellen und veröffentlichen, nachdem bereits im September ren grundsätzlich nur staatliche Stellen als Endempfän- letzten Jahres der Monitoringbericht zum Bereich des Gas- sektors veröffentlicht wurde? ger zu akzeptieren. Genehmigungen für die Belieferung von privaten Sicherheitsunternehmen mit Kriegswaffen Voraussichtlich noch im zweiten Quartal 2008. aus Deutschland werden daher grundsätzlich nicht er- teilt. Die Zusammenarbeit der US-Tochter der Firma Heckler & Koch mit dem US-Unternehmen Blackwater Anlage 15 unterliegt allein dem US-Recht und nicht dem deutschen Kriegswaffenkontrollrecht bzw. Außenwirtschaftsrecht, Antwort da dieses nur auf deutschem Territorium anwendbar ist. der Parl. Staatssekretärin Dagmar Wöhrl auf die Frage Zur Entwicklung einer neuen Waffe durch Heckler & des Abgeordneten Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE Koch mit der Firma Blackwater liegen der Bundesregie- GRÜNEN) (Drucksache 16/8113, Frage 23): rung keine Erkenntnisse vor. Ausfuhrgenehmigungen 15230 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

(A) wurden in diesem Zusammenhang nicht erteilt. Es be- nicht dazu führen darf, dass der Standort Deutschland (C) steht nach Auffassung der Bundesregierung derzeit einseitig einen Wettbewerbsnachteil im europäischen keine Veranlassung, die Auftragsvergabepraxis gegen- und weltweiten Wettbewerb erleidet. über der Firma Heckler & Koch infrage zu stellen.

Anlage 18 Anlage 17 Antwort Antwort des Parl. Staatssekretärs Peter Hintze auf die Frage des des Parl. Staatssekretärs Peter Hintze auf die Fragen der Abgeordneten Manfred Kolbe (CDU/CSU) (Druck- Abgeordneten Sevim Dağdelen (DIE LINKE) (Druck- sache 16/8113, Frage 27): sache 16/8113, Fragen 25 und 26): Sieht die Bundesregierung im Rahmen ihrer strukturpoliti- Welche konkreten Maßnahmen gedenkt die Bundesregie- schen Verantwortung für Gesamtdeutschland und den weite- rung einzuleiten, um Massenentlassungen und Standortverla- ren Aufbau Ost Möglichkeiten, um beispielsweise bei der gerungen von Großunternehmen zur Renditesteigerung (siehe beabsichtigten Verlagerung der Computerspielmesse „Games Nokia) künftig einen Riegel vorzuschieben? Convention“ von Leipzig/Sachsen voraussichtlich nach Köln und dem damit verbundenen Verlust der wichtigsten Messe Wie steht die Bundesregierung zu einer Fristverlängerung für den einzigen großen Messestandort in den östlichen Bun- von derzeit fünf auf sieben Jahre, was die Bindung von Sub- desländern und dem damit wiederum direkt wie indirekt ver- ventionsvergaben an den Erhalt von Arbeitsplätzen angeht? bundenen Verlust von Arbeitsplätzen in einer Region mit ho- her Arbeitslosigkeit tätig zu werden? Zu Frage 25: Die Bundesregierung sieht keine Möglichkeiten, in Es ist das Ziel der Bundesregierung, die wirtschaftli- geschäftliche Aktivitäten der Messewirtschaft einzugrei- chen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass in fen. Weder hat sie dazu Rechtsgrundlagen noch ist es im Deutschland ansässige Unternehmen erfolgreich arbei- Interesse des Wirtschaftslebens, sich in Geschäftsfelder ten können. Wirtschaften ist dabei immer ein dynami- einzumischen, die zum marktwirtschaftlichen Gesche- scher Prozess und Deutschland unterliegt – wie alle hen zählen. Der Wechsel von Messen und Ausstellungen Volkswirtschaften – einem steten wirtschaftlichen Struk- zwischen Messeorten ist nicht ungewöhnlich. Eine turwandel. Wichtig ist, dass im Zusammenhang mit ei- Entscheidung zur Verlegung der „Games Convention“ nem Wegfall von Arbeitsplätzen zeitnah neue Perspekti- (Erlebnismesse für interaktive Unterhaltung, Infotain- ven für die Menschen vor Ort geschaffen werden ment, Edutainment und Hardware mit GC Developers können. Die Rahmenbedingungen müssen stimmen, da- Conference (GDC)) ist noch nicht gefallen. Sie wird mit im Strukturwandel auch neue Beschäftigungschan- letztendlich vom zuständigen Trägerverband BIU – Bun- (B) (D) cen erkannt und ergriffen werden. Die Wirtschafts- und desverband Interaktive Unterhaltungssoftware, Berlin, Finanzpolitik der Bundesregierung ist deshalb darauf getroffen. Da die „Games Convention“ im Besitz der ausgerichtet, die Rahmenbedingungen für Investitionen Messe Leipzig ist, wird diese mit Sicherheit die Veran- und Arbeitsplätze in Deutschland weiter zu verbessern. staltung – wenn es dazu kommt – nur mit Konditionen Beispielhaft sind zu nennen die Unternehmensteuer- aus ihrem Portfolio entlassen. reform, die deutliche Absenkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung und die Reduzierung bürokra- tischer Lasten für Unternehmen. Deutschland hat trotz Anlage 19 gestiegener konjunktureller Risiken allen Anlass zur Zu- Antwort versicht. Die deutsche Wirtschaft befindet sich in einem nun fast schon drei Jahre andauernden Wachstumspro- des Parl. Staatssekretärs Franz Thönnes auf die Frage des zess. Deutschland ist nach wie vor Exportweltmeister Abgeordneten Jörg Rohde (FDP) (Drucksache 16/8113, und profitiert damit selbst in erheblichem Maße von der Frage 28): Globalisierung. Derzeit entstehen in Deutschland pro Werden beim Bezug bzw. der Beantragung von Arbeitslo- Tag 1 600 neue Arbeitsplätze durch Investitionen von sengeld II (ALG II), Sozialhilfe und Grundsicherung im Rah- Unternehmen. Bei allen notwendigen Anstrengungen men von Wahltarifen nach § 53 Abs. 2 des Fünften Buches der Politik muss klar bleiben: Die Entscheidung über In- Sozialgesetzbuch (SGB V) gezahlte Prämien sowie nach Ein- führung des Gesundheitsfonds zum 1. Januar 2009 eventuelle vestitionen von Unternehmen – einschließlich der Ent- Prämien gemäß § 242 Abs. 2 SGB V der gesetzlichen Kran- scheidung über Einstellung oder Entlassung von Arbeit- kenkassen an ihre Mitglieder als Einkommen oder sonstige nehmern ebenso wie über Standortschließung oder Einnahme auf die oben genannten Leistungen angerechnet, Neuerrichtung – muss in der unternehmerischen Verant- und welche Auswirkungen auf die Wahl der Krankenkasse durch Bezieher sozialer Leistungen erwartet die Bundesregie- wortung bleiben. Diese Aufgabe kann in der sozialen rung infolge der getroffenen Regelung? Marktwirtschaft nicht vom Staat übernommen werden. Beide Prämien sind unterschiedlich zu behandeln. Zu Frage 26: Grundsätzlich gilt: Prämien nach § 242 Abs. 2 des Fünf- ten Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) werden bei Be- Der Bund wird gemeinsam mit den Ländern darüber ziehern von Arbeitslosengeld II und von Leistungen diskutieren, ob gegebenenfalls Anpassungen bei den na- nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch als Einkom- tionalen Förderregeln notwendig und sinnvoll sind. Da- men angerechnet. Hintergrund ist, dass es sich insoweit bei ist aus Sicht der Bundesregierung zu beachten, dass um Einkommen handelt, das keinem anderen Zweck eine Verschärfung der nationalen Förderregeln jedenfalls dient als die Leistungen zur Sicherung des Lebensunter- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15231

(A) halts. Dagegen wären Prämien aufgrund von Wahltarifen aus weitergehenden Recherchen ist nicht ersichtlich, (C) nach § 53 Abs. 2 SGB V grundsätzlich nicht anzurech- dass der Verstorbene seine letzte Wohnung räumen nen, da sie als zweckbestimmte Einnahme einem ande- musste. Die Bundesregierung geht daher davon aus, dass ren Zweck als die Leistungen zur Sicherung des Lebens- im Fall des Verstorbenen kein Zwangsräumungsverfah- unterhalts dienen. Allerdings ist bei der Prämie nach ren anhängig war. Einige Pressemeldungen führen aus, § 53 Abs. 2 SGB V darauf hinzuweisen, dass der ihr zu- der Verstorbene habe seine letzte Wohnung in Hannover grunde liegende Wahltarif nicht von allen in der Frage ordentlich gekündigt, um eine Arbeit in Köln aufzuneh- genannten Leistungsempfängern gewählt werden kann. men. Die Bundesregierung kann dies weder bestätigen Im Einzelnen gilt folgendes: Den Wahltarif nach § 53 noch dementieren. Abs. 2 SGB V können nur Personen wählen, deren Bei- träge zur Krankenversicherung nicht vollständig von Zu Frage 30: Dritten getragen werden. Bei krankenversicherten Emp- fängern von Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozial- Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Verstorbene gesetzbuch werden die Beiträge vollständig von Dritten nachweislich keine Leistungen der Grundsicherung für getragen. Das Gleiche gilt für Bezieher von Arbeitslo- Arbeitsuchende bei der für die Umsetzung des SGB II sengeld II, die nur aufgrund des Leistungsbezugs kran- zuständigen Stelle in Hannover beantragt hat, obwohl er kenversichert sind und deren Beiträge ausschließlich über die Möglichkeiten der Beantragung von Arbeitslo- vom Bund getragen werden. Damit besteht eine Wahl- sengeld II nach dem Ende des Bezuges von Arbeitslosen- möglichkeit nur für Arbeitslosengeld-II-Empfänger, die geld informiert wurde. In einem persönlichen Beratungs- sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind und die da- gespräch am 3. September 2007 in der Agentur für Arbeit her einen Teil ihrer Krankenversicherungsbeiträge selbst Hannover wurde dem Verstorbenen das Verfahren zur tragen. Die Bundesregierung geht davon aus, dass dieje- Beantragung von Arbeitslosengeld II erläutert, und es nigen Leistungsbezieher, die Wahltarife nach § 53 wurden die Kontaktdaten der zuständigen Arbeitsge- Abs. 2 SGB V wählen können, dies gerade im Hinblick meinschaft ausgehändigt. Darüber hinaus enthält die auf die mögliche und anrechnungsfreie Prämienzahlung standardisierte schriftliche Mitteilung über das Ende des tun werden. Damit wird dem Ziel der Förderung eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld ausführliche Informatio- gesundheitsbewussten Verhaltens und Verstärkung des nen zur Beantragung von Leistungen der Grundsiche- Wettbewerbs zwischen den Krankenkassen auch bei die- rung für Arbeitsuchende. Inwiefern die zuständigen Be- sem Personenkreis Rechnung getragen. Da die Prämien- hörden darüber hinaus weitergehende Informationen zahlung auf 20 Prozent der vom Mitglied im Jahr getra- über die soziale Absicherung des Verstorbenen nach dem genen Beiträge begrenzt ist, ist der finanzielle Anreiz für Ende seines Arbeitslosengeldbezuges hatten, ist der Bun- die in der Fragestellung genannten Personenkreise eher desregierung nicht bekannt. Zur angesprochenen Woh- gering. Die Wahl der Krankenkasse durch den Versicher- nungsräumung wird auf die Antwort zu Frage 29 hinge- (B) (D) ten hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Die bishe- wiesen. rigen Beitragssätze bzw. die zukünftig eventuell zu entrichtenden Zusatzbeiträge oder möglichen Prämien- Anlage 21 zahlungen sind dabei nur ein Entscheidungskriterium von vielen. Antwort des Parl. Staatssekretärs Franz Thönnes auf die Frage Anlage 20 der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) (Drucksache 16/8113, Frage 31): Antwort Wie hoch ist der Anteil der Frauen an den momentan in des Parl. Staatssekretärs Franz Thönnes auf die Fragen Ein-Euro-Jobs tätigen Erwerbslosen? der Abgeordneten Elke Reinke (DIE LINKE) (Druck- Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit be- sache 16/8113, Fragen 29 und 30): fanden sich im Oktober 2007 (endgültige Daten, ohne Aus welchem Grund bekam der in Solling vorige Woche Angaben der zugelassenen kommunalen Träger) aufgefundene 58-jährige Hungertote seit Oktober 2007 kein 109 076 Frauen in Arbeitsgelegenheiten mit Mehrauf- Arbeitslosengeld mehr und musste seine Wohnung räumen? wandsentschädigung gemäß § 16 Abs. 3 Satz 2 Zweites Hat die Bundesregierung Kenntnisse davon, ob die zu- Buch Sozialgesetzbuch. Dies entspricht einem Anteil ständigen Behörden Informationen darüber hatten, dass der 58-jährige erwerbslose Hungertote keine soziale Absicherung von 41,4 Prozent. mehr hatte und seine Wohnung räumen musste, und, wenn ja, wie hat sie auf diese Fakten konkret reagiert? Anlage 22 Zu Frage 29: Antwort Der Verstorbene hat bis zum Erschöpfen seines An- spruchs am 17. Oktober 2007 laufend Arbeitslosengeld des Parl. Staatssekretärs Franz Thönnes auf die Frage von der Agentur für Arbeit Hannover bezogen. Dass der der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) Verstorbene seine Wohnung räumen musste, kann die (Drucksache 16/8113, Frage 32): Bundesregierung nicht bestätigen. Der für die Vermei- Wie stellt die Bundesregierung sicher, dass Nichtleistungs- dung von Wohnungslosigkeit in der Stadt Hannover zu- empfängerinnen, die aufgrund der Anrechnung des Partner- ständigen Stelle lag keine Mitteilung des zuständigen einkommens in der Bedarfsgemeinschaft keinen Anspruch auf ALG II haben und deshalb keine Adressatinnen der Eingliede- Gerichts über den Eingang einer Räumungsklage bzw. rungsleistungen des SGB II sind, arbeitsmarktpolitische För- über einen bevorstehenden Räumungstermin vor. Auch derleistungen und Eingliederungshilfen erhalten? 15232 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

(A) Alle arbeitslosen und arbeitsuchenden Personen haben bar, da sie das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden (C) Zugang zu den Beratungs- und Vermittlungsdienstleis- und die Grenzen des zulässigen Zusammenwirkens von tungen der Bundesagentur für Arbeit. Auch der überwie- Bundes- und Landesverwaltung verletzen. Nach der Ent- gende Teil der Leistungen der aktiven Arbeitsförderung scheidung des Bundesverfassungsgerichts ist § 44 b ist nicht abhängig von einem Anspruch auf Arbeitslosen- SGB II noch bis 31. Dezember 2010 weiter anwendbar. geld. Arbeitslose, die wegen hohen Partnereinkommens Die ARGEn können also weiterarbeiten. Die Bundes- oder Vermögens nicht hilfebedürftig sind und deshalb regierung beabsichtigt, auf der Grundlage der Hinweise keine Leistungen nach dem SGB II beziehen, haben An- des Bundesverfassungsgerichts zügig eine Lösungsmög- spruch auf Beratung und Vermittlung durch die Agenturen lichkeit vorzustellen. für Arbeit. Neben Beratungs- und Vermittlungsleistun- gen können sie bei Vorliegen der sonstigen Vorausset- zungen durch Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpoli- Anlage 24 tik nach dem SGB III unterstützt werden und alle zu ihrer beruflichen Wiedereingliederung erforderlichen Antwort Leistungen erhalten (zum Beispiel Übernahme der Kos- des Parl. Staatssekretärs Franz Thönnes auf die Frage ten für die berufliche Weiterbildung, wie Lehrgangsge- des Abgeordneten Jörn Wunderlich (DIE LINKE) bühren, Fahrt- und Kinderbetreuungskosten). Die Ent- (Drucksache 16/8113, Frage 34): scheidung über die Teilnahme an Maßnahmen der aktiven Arbeitsförderung ist auf der Grundlage von För- Wie hoch ist der aktuelle Prozentsatz der Alleinerziehen- denhaushalte im ALG-II-/Sozialgeldbezug im Vergleich zu derkriterien zu treffen, die sich unter anderem an der Paarelternfamilien? Notwendigkeit und der Erfolgsaussicht einer Maßnahme orientieren. Im September 2007 gab es bei rund 3,67 Millionen SGB-II-Bedarfsgemeinschaften insgesamt 1,297 Millio- nen Bedarfsgemeinschaften mit Kindern. Davon waren Anlage 23 663 000 (51 Prozent) Bedarfsgemeinschaften von Al- leinerziehenden und 1,11 Millionen (49 Prozent) Be- Antwort darfsgemeinschaften von Elternpaaren. des Parl. Staatssekretärs Franz Thönnes auf die Frage des Abgeordneten Klaus Ernst (DIE LINKE) (Druck- Anlage 25 sache 16/8113, Frage 33): Wie bewertet die Bundesregierung den Umstand, dass ne- Antwort (B) ben der Halbierung der Arbeitslosigkeit nun durch die Verfas- (D) sungswidrigkeit der Arbeitsgemeinschaften nach dem SGB II des Parl. Staatssekretärs Franz Thönnes auf die Fragen auch ein zweites zentrales Ziel der Hartz-Reformen – die Er- des Abgeordneten Jörn Wunderlich (DIE LINKE) bringung der Hilfe aus einer Hand – verfehlt wird? (Drucksache 16/8113, Frage 35): Dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung hinsicht- 20. Dezember 2007 lag die Verfassungsbeschwerde von lich der Inanspruchnahme und Wirksamkeit der Aufnahme der Vermittlung/Bereitstellung von Kinderbetreuung in den elf Landkreisen zugrunde. Sie hatten sich dagegen ge- Leistungskatalog des SGB II zur Überwindung der Hartz-IV- wandt, dass den Kreisen und kreisfreien Städten durch Abhängigkeit von Alleinerziehenden vor? das Zweite Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) die Aufgabe zukommt, Leistungen für Heizung und Unterkunft und Die Fragestellung lässt sich derzeit nicht mit Ge- sozial flankierende Leistungen zu erbringen. Daneben schäftsdaten aus dem Bereich der Grundsicherung für war die Bildung von Arbeitsgemeinschaften und die Arbeitsuchende beantworten. Die statistische Bericht- Übertragung von Aufgaben durch die Kommunen auf erstattung zu Leistungen nach § 16 (2), zu denen auch diese Arbeitsgemeinschaften Gegenstand der Verfas- die Bereitstellung von Kinderbetreuung zählt, ist derzeit sungsbeschwerde. Die Landkreise sahen ihr Recht auf noch im Aufbau begriffen. Da es sich hier um Leistun- kommunale Selbstverwaltung verletzt. Das Bundesver- gen der kommunalen Träger handelt, kann nicht unmit- fassungsgericht hat in seinem Urteil entschieden, dass telbar auf Informationen der IT-Fachverfahren der Bun- die Zuweisung der Leistungen für Unterkunft und Hei- desagentur für Arbeit zurückgegriffen werden. Aus zung und der flankierenden Leistungen an die Kreise diesem Grund kann derzeit keine Aussage dazu getrof- und kreisfreien Städte verfassungsgemäß ist. Es hat so- fen werden, in welchem Umfang diese Leistungen in mit die Verfassungsbeschwerde in ihrem zentralen Punkt Anspruch genommen werden und inwieweit sie dazu ge- zurückgewiesen und die Auffassung der Bundesregie- eignet sind, die SGB-II-Hilfebedürftigkeit dauerhaft zu rung bestätigt. Bestätigt hat das BVerfG auch, dass die überwinden. Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und die Zusammenführung des historisch auf Bund und Kommune aufgeteilten Sachverstandes auf dem Gebiet Anlage 26 der Fürsorge und der Arbeitsvermittlung allgemein als Antwort sinnvoll und notwendig angesehen wird. Allerdings sind die aus Kommune und örtlicher Agentur für Arbeit ge- des Parl. Staatssekretärs Franz Thönnes auf die Fragen bildeten Arbeitsgemeinschaften (ARGEn) nach § 44 b des Abgeordneten Volker Schneider (Saarbrücken) SGB II nach dem Urteil nicht mit der Verfassung verein- (DIE LINKE) (Drucksache 16/8113, Fragen 36 und 37): Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008 15233

(A) Wie viele Personen waren seit Einführung der 400-Euro- Fälle, in denen eine ausnahmsweise Ermessensentschei- (C) Minijobs von der Überzahlung ihrer Altersrente, Rente wegen dung erfolgt ist, statistisch nicht erfasst worden. voller Erwerbsminderung bzw. Rente wegen Erwerbsunfähig- keit betroffen, weil sie die monatliche Hinzuverdienstgrenze um mehr als 350 Euro bzw. um mehr als 400 Euro überschrit- ten hatten (bitte aufgeschlüsselt nach Jahren und den oben ge- Anlage 27 nannten Euro-Beträgen)? Verfügt die Deutsche Rentenversicherung Bund bei den Antwort von vielen Betroffenen als unverhältnismäßig empfundenen Rückforderungen über einen Ermessensspielraum, und, wenn des Parl. Staatssekretärs Dr. Hermann Kues auf die Fra- ja, wie wurde hiervon Gebrauch gemacht (bitte aufgeschlüs- gen der Abgeordneten Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE selt nach Jahren)? GRÜNEN) (Drucksache 16/8113, Fragen 38 und 39): Zu Frage 36: Welche Finanzierungsrisiken für den Betreuungsausbau sieht die Bundesregierung darin, dass von den notwendigen Ich gehe davon aus, dass die Frage dahin gehend zu 12 Milliarden Euro bis 2013 erst 2 Milliarden Euro durch den Bund gesetzlich mit dem Sondervermögen fixiert sind, die verstehen ist, ob die relevante Hinzuverdienstgrenze von Zusage über weitere circa 2 Milliarden Euro noch nicht ge- (und nicht „um mehr als“) 350 Euro (im Jahr 2007, im setzlich verankert ist, und vor allem, dass sich Länder und Jahr 2008 wären es 355 Euro) bzw. künftig 400 Euro Kommunen noch nicht annähernd über die Verteilung der überschritten wurde. Tatsächlich gab es häufig Missver- restlichen Finanzlast von 8 Milliarden Euro verständigt ha- ständnisse bei den Arbeitnehmern und Arbeitgebern im ben? Hinblick auf die Frage, wie viel beispielsweise zu einer Plant die Bundesregierung für den Fall, dass die Gesetzes- vorgezogenen Vollrente wegen Alters hinzuverdient initiative zum Ausbau der Kindertagesbetreuung scheitert, die vom Bund vorgesehene Finanzierungsbeteiligung in Höhe werden darf. Zu Unrecht wurde angenommen, es könnte von rund 4 Milliarden Euro zur Finanzierung einer möglichen neben der Rente eine geringfügige Beschäftigung mit ei- Kindergelderhöhung heranzuziehen? nem Verdienst von bis zu 400 Euro im Monat ausgeübt werden, ohne dass dies Auswirkungen auf die Rente hat. Der Ausbau der Kinderbetreuung für die Kleinsten ist Nach bisherigem Recht besteht in diesen Fällen aber nur eines der zentralen Vorhaben der Legislaturperiode und noch Anspruch auf eine Teilrente. Das vom Deutschen entscheidend für eine bessere Vereinbarkeit von Familie Bundestag am 25. Januar 2008 beschlossene Siebte Ge- und Beruf. Mit der Erwerbstätigkeit von Eltern verrin- setz zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch gert sich zugleich das Armutsrisiko von Kindern. Die und anderer Gesetze sieht deshalb – rückwirkend zum Bundesregierung ist davon überzeugt, dass es gelingt, 1. Januar 2008 – die Anhebung der Hinzuverdienst- die noch offenen Fragen schnell zu klären und das Ge- grenze auf die Geringfügigkeitsgrenze von 400 Euro für setzgebungsverfahren bis zum Ende des laufenden Jah- (B) vor dem 65. Lebensjahr in Anspruch genommene Voll- res erfolgreich abzuschließen: Die ersten Schritte sind (D) renten vor. Der Bundesrat hat diesem Gesetz am 15. Fe- bereits im abgelaufenen Jahr mit der Errichtung eines bruar 2008 zugestimmt. Genaue statistische Angaben Sondervermögens und dem Abschluss der Verwaltungs- sind nach Auskunft der Deutschen Rentenversicherung vereinbarung über die Finanzhilfen des Bundes an die Bund in diesem Bereich nicht verfügbar. Festgehalten ist Länder vollzogen worden. Jetzt können die Länder die dort, dass im Rentenbestand zum 31. Dezember 2006 vom Bund bereitgestellten Investitionsmittel in Höhe rentenversicherungsweit 4 276 Fälle (1 770 Altersren- von 2,15 Milliarden Euro abrufen und mit der Schaffung ten, 2 506 Erwerbsminderungs- und Erwerbsunfähig- der Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren begin- keitsrenten), also rund 3 Prozent der Versichertenrenten, nen. Die weiteren rechtlichen Schritte folgen mit dem von einer Vollrente auf die nächstniedrigere Stufe herab- „Kinderförderungsgesetz“ im Laufe des Jahres 2008. gesetzt worden sind. Ob diese Betroffenen ein Einkom- Neben einer Änderung des Finanzausgleichsgesetzes für men bis 400 Euro (zum Beispiel aufgrund eines Mini- die ab 2009 vorgesehene Beteiligung des Bundes an den jobs) oder ein höheres Einkommen erzielt haben, ist Betriebsausgaben über eine Umsatzsteuerneuverteilung nicht bekannt. zugunsten der Länder enthält das Kinderförderungsgesetz die für den Ausbau notwendigen Anpassungen des Ach- Zu Frage 37: ten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe). Der Referentenentwurf des BMFSFJ Nach der maßgebenden Vorschrift des § 48 des Zehn- wird zurzeit innerhalb der Bundesregierung beraten. Wir ten Buches Sozialgesetzbuch ist die Deutsche Renten- gehen fest und sicher davon aus, dass alle notwendigen versicherung Bund im Regelfall verpflichtet, den Gesetzgebungsmaßnahmen rechtzeitig und wie geplant Rentenbewilligungsbescheid für die Vergangenheit auf- bis Ende 2008 erfolgen werden und die vom Bund zur zuheben und überzahlte Beträge zurückzufordern. Aller- Verfügung gestellten Finanzmittel für Investitions- und dings muss die Behörde ausnahmsweise in sogenannten Betriebskosten wie geplant abfließen. Die Frage der „atypischen Fällen“ (zum Beispiel bei groben Behörden- Finanzierung der Anteile von Ländern und Kommunen fehlern oder wenn der Betroffene durch die rückwir- für die Ausbauperiode in Höhe von 8 Milliarden Euro ist kende Korrektur nachträglich vermehrt sozialhilfebe- zwischen den Ländern und den Kommunen auf der dürftig wird) nach pflichtgemäßem Ermessen darüber Grundlage der jeweils geltenden landesverfassungs- entscheiden, ob wegen der besonderen Lage des Falles rechtlichen Vorschriften zu klären. Im Hinblick auf das ganz oder teilweise von einer rückwirkenden Aufhebung gemeinsame Interesse von Bund, Ländern und Gemein- des Rentenbescheides abzusehen ist. Nach Auskunft der den an der Umsetzung der vereinbarten Ausbauziele Deutschen Rentenversicherung Bund sind die atypischen geht die Bundesregierung davon aus, dass noch offene 15234 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 144. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 20. Februar 2008

(A) Fragen zwischen einzelnen Ländern und Kommunen eines Betreuungsgeldes erstellt. Dies wird die Bundesre- (C) schnellstmöglich geklärt werden. gierung zu gegebener Zeit veranlassen.

Anlage 28 Anlage 29 Antwort Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Hermann Kues auf die Fragen des Parl. Staatssekretärs Dr. Hermann Kues auf die Fra- der Abgeordneten Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ gen des Abgeordneten Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE DIE GRÜNEN) (Drucksache 16/8113, Fragen 40 und 41): GRÜNEN) (Drucksache 16/8113, Fragen 42 und 43): Inwiefern ist gewährleistet, dass alle abgeschlossenen Ver- Wie hoch schätzt die Bundesregierung den zusätzlichen träge für die Öffentlichkeitsarbeit des Bundesministeriums für Finanzbedarf für den Bundeshaushalt, wenn neben dem ge- Familie, Senioren, Frauen und Jugend keine rechtlich bindenden planten Betreuungsausbau das Kindergeld und die Kinderfrei- Wirkungen über den Ablauf der aktuellen Legislaturperiode beträge angehoben sowie das Betreuungsgeld eingeführt wer- hinaus entfalten? den sollten, und wie sollen diese Maßnahmen gegenfinanziert werden? Und, wenn nein, in welchen Fällen und mit welcher Be- gründung ist dies nicht der Fall? Hat das von der Bundesregierung einberufene „Kompetenz- zentrum für familienbezogene Leistungen“ zum Instrument Es ist gewährleistet, dass alle abgeschlossenen Ver- des Betreuungsgeldes eine Wirkungsanalyse erarbeitet oder träge für die Öffentlichkeitsarbeit keine rechtlich bin- zumindest eine fachliche Einschätzung vorgelegt, welche die Bundesregierung zur Entscheidungsfindung über eine gesetz- denden Wirkungen über die Legislaturperiode hinaus liche Verankerung des Betreuungsgeldes heranzieht, und, entfalten. Das BMFSFJ hat im Bereich Öffentlichkeits- wenn nein, warum nicht? arbeit drei Rahmenverträge abgeschlossen (1. Öffentlich- keitsarbeit allgemein, 2. Internetkommunikation, 3. Ge- Über eine Erhöhung des Kinderfreibetrages und gege- staltung Printerzeugnisse). Diese laufen wie folgt aus benenfalls Kindergeldes entscheidet die Bundesregie- bzw. sind aufgrund eines Sonderkündigungsrechts inner- rung erst, wenn im Herbst 2008 der nächste Bericht über halb von vier Wochen kündbar: die Höhe des von der Einkommensteuer freizustellenden Existenzminimums (Existenzminimumbericht) vorgelegt 1. Öffentlichkeitsarbeit allgemein (Auftragnehmer: Fa- wird. Konkrete Überlegungen der Bundesregierung zur milie Redlich): Laufzeit bis Dezember 2010, jedoch Umsetzung des Koalitionsbeschlusses vom 16. Mai Sonderkündigungsrecht innerhalb von vier Wochen, 2007 bezüglich eines Betreuungsgeldes ab 2013 liegen 2. Internetkommunikation (Auftragnehmer: Init), Lauf- nicht vor. Eine Kostenrechnung zum Betreuungsgeld zeit bis Dezember 2009 und (B) kann daher auch nicht vorliegen. Aus dem gleichen (D) Grund hat das Kompetenzzentrum für familienbezogene 3. Gestaltung Printerzeugnisse (Auftragnehmer: Kiwi), Leistungen auch keine Wirkungsanalyse zur Einführung Laufzeit bis März 2009.

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