Plenarprotokoll 14/103

Deutscher

Stenographischer Bericht

103. Sitzung

Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Inhalt:

Eintritt der Abgeordneten in Bundes gegen das Bundesland Nie- den Deutschen Bundestag ...... 9645 A dersachsen im Zusammenhang mit Baustopps für das Endlager Gorleben in den Jahren 1990 bis 1994 Tagesordnungspunkt 14: (Drucksachen 14/1375, 14/2639) . . . . 9667 A Unterrichtung durch die Bundesregierung: b) Beschlussempfehlung des Petitionsaus- Berufsbildungsbericht 2000 schusses (Drucksache 14/3244) ...... 9645 A Sammelübersicht 31 zu Petitionen , Bundesministerin BMBF 9645 B (Gegen die friedliche Nutzung der Kern- Dr.-Ing. Rainer Jork CDU/CSU ...... 9648 C energie) Ulrich Kasparick SPD ...... 9650 D (Drucksache 14/564) ...... 9667 A F.D.P...... 9652 B c) Beschlussempfehlung des Petitionsaus- Stephan Hilsberg SPD ...... 9654 C schusses Cornelia Pieper F.D.P...... 9654 D Sammelübersicht 69 zu Petitionen Ekin Deligöz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . 9655 C (Stilllegung von Atomkraftwerken und Ausstieg aus der Kernenergie) Maritta Böttcher PDS ...... 9656 D (Drucksache 14/1562) ...... 9667 A Christian Simmert BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9658 B Kurt-Dieter Grill CDU/CSU ...... 9667 B Heinz Wiese (Ehingen) CDU/CSU ...... 9659 B Monika Griefahn SPD ...... 9668 C SPD ...... 9661 A Dr. Günter Rexrodt F.D.P...... 9670 C Ina Lenke F.D.P...... 9661 D Jürgen Trittin, Bundesminister BMU ...... 9672 C Eva-Maria Bulling-Schröter PDS ...... 9662 C Eva-Maria Bulling-Schröter PDS ...... 9674 A F.D.P...... 9663 B Arne Fuhrmann SPD ...... 9674 D CDU/CSU ...... 9664 D Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) CDU/CSU . . . . 9676 B

Tagesordnungspunkt 15: Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9677 D Dr. Günter Rexrodt F.D.P...... 9678 C a) Große Anfrage der Abgeordneten Kurt-Dieter Grill, Reinhard Frhr. von Kurt-Dieter Grill CDU/CSU ...... 9680 D Schorlemer, weiterer Abgeordneter und Monika Griefahn SPD ...... 9682 A der Fraktion CDU/CSU: Schadenser- satzforderungen und -prozesse des Horst Kubatschka SPD ...... 9682 C II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Tagesordnungspunkt 16: Tagesordnungspunkt 20: Zweite und dritte Beratung des von der Antrag der Fraktion CDU/CSU: Zulassung Bundesregierung eingebrachten Entwurfs von Pflanzenschutzmitteln auf nationa- eines Gesetzes zur Neuordnung seuchen- ler und EU-Ebene beschleunigen rechtlicher Vorschriften (Seuchenrechts- (Drucksache 14/3096) ...... 9706 D neuordnungsgesetz) in Verbindung mit (Drucksachen 14/2530, 14/3194) ...... 9684 B , Bundesministerin BMG . . . . 9684 C Zusatztagesordnungspunkt 3: Dr. Sabine Bergmann-Pohl CDU/CSU . . . . . 9686 A Antrag der Abgeordneten Marita Sehn, Dr. SPD ...... 9688 A Ulrich Heinrich, weiterer Abgeordneter Detlef Parr F.D.P...... 9689 D und der Fraktion F.D.P.: Wettbewerbs- nachteile durch unterschiedliche Zulas- Dr. PDS ...... 9690 C sungspraxis von Pflanzenschutzmitteln in Europa zügig abbauen (Drucksache 14/3298) ...... 9706 D Tagesordnungspunkt 17: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Zusatztagesordnungspunkt 4: eines Zehnten Gesetzes zur Änderung Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bundes- des Arzneimittelgesetzes regierung zu Veröffentlichungen, wonach (Drucksachen 14/2292, 14/2355, 14/3320) 9691 B Bundesfinanzminister Eichel eine Er- höhung der Mehrwertsteuer im nächsten Horst Schmidbauer (Nürnberg) SPD ...... 9691 C Jahr plant ...... 9707 A Annette Widmann-Mauz CDU/CSU ...... 9693 B Dr. Barbara Höll PDS ...... 9707 A Monika Knoche BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9695 C Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin Detlef Parr F.D.P...... 9697 A BMF ...... 9708 B Dr. Ruth Fuchs PDS ...... 9697 D CDU/CSU ...... 9708 C Kristin Heyne BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9709 C Tagesordnungspunkt 18: Dr. F.D.P...... 9710 B Erste Beratung des von den Abgeordneten Klaus-Peter Willsch CDU/CSU ...... 9711 B Maritta Böttcher, Dr. , weite- Dr. PDS ...... 9712 A rer Abgeordneter und der Fraktion PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Diethard Schütze (Berlin) CDU/CSU ...... 9713 B Sicherung der Gebührenfreiheit des Nina Hauer SPD ...... 9714 C Hochschulstudiums (Drucksache 14/3005) ...... 9698 D Dr. Jürgen Gehb CDU/CSU ...... 9715 B Maritta Böttcher PDS ...... 9698 D Nächste Sitzung ...... 9716 C Stephan Hilsberg SPD ...... 9700 A Cornelia Pieper F.D.P...... 9701 C Anlage 1 CDU/CSU ...... 9702 A Liste der entschuldigten Abgeordneten ...... 9717 A BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9703 C Cornelia Pieper F.D.P...... 9705 A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten , , Thomas Tagesordnungspunkt 19: Strobl (Heilbronn), Günter Baumann, Sylvia Antrag der Abgeordneten Gudrun Kopp, Bonitz, Wolfgang Zeitlmann, Hartmut Ulrich Heinrich, weiterer Abgeordneter Koschyk, Dr. Hans-Peter Uhl, , und der Fraktion F.D.P.: Modellprojekt Hartmut Büttner (Schönebeck), Irmgard zum Heil- und Gewürzpflanzen-Anbau Karwatzki, Marie-Luise Dött, Franz Romer, in Ostwestfalen-Lippe Anita Schäfer, Norbert Schindler, Ursula (Drucksache 14/3107) ...... 9706 A Lietz, , Ingrid Fischbach, , Norbert Röttgen, Peter Gudrun Kopp F.D.P...... 9706 A Hintze, Werner Lensing, Heinz Schemken, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 III

Paul Breuer, Norbert Königshofen, Arnold Anlage 4 Vaatz, Dr. Paul Laufs, Georg Girisch, Ilse Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Aigner, Kurt-Dieter Grill, Axel E. Fischer Anträge: – Zulassung von Pflanzenschutzmitteln (Karlsruhe-Land), Bernd Siebert (alle auf nationaler und EU-Ebene beschleunigen – CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung Wettbewerbsnachteile durch unterschiedliche über den Entwurf eines Gesetzes zur Neuord- Zulassungspraxis von Pflanzenschutzmitteln in nung seuchenrechtlicher Vorschriften (Seu- Europa zügig abbauen (Tagesordnungspunkt 20 chenrechtsneuordnungsgesetz) (Tagesordnungs- und Zusatztagesordnungspunkt 3) ...... 9722 C punkt 16) ...... 9718 A SPD ...... 9722 C Anlage 3 CDU/CSU ...... 9723 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Albert Deß CDU/CSU ...... 9724 A des Antrags: Modellprojekt zum Heil- und Gewürzpflanzen-Anbau in Ostwestfalen-Lippe Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9725 C (Tagesordnungspunkt 19) ...... 9718 C Marita Sehn F.D.P...... 9726 C Marianne Klappert SPD ...... 9718 C Kersten Naumann PDS ...... 9727 B Jella Teuchner SPD ...... 9719 D Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär BML 9728 C Meinolf Michels CDU/CSU ...... 9720 B BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . 9720 D Anlage 5 Kersten Naumann PDS ...... 9721 D Amtliche Mitteilungen ...... 9730 C

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Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die Sit- ausbauen wollen, wenn wir auch künftig wettbewerbs- zung ist eröffnet. fähig sein und die bestehende Arbeitslosigkeit überwin- den wollen, brauchen wir gut und praxisnah ausgebildete Der Kollege Dr. Willfried Pennerhat am junge Menschen. 11. Mai 2000 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bun- destag verzichtet. Als seine Nachfolgerin hat die Abge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ordnete Kerstin Griese, ebenfalls am 11. Mai 2000, die DIE GRÜNEN) Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich Obwohl die demographische Entwicklung seit langem begrüße die neue Kollegin herzlich. vorhersehbar war und wir alle wussten, dass wir eine zu- (Beifall im ganzen Hause) nehmende Zahl von Jugendlichen haben werden – das ist auch gut so –, haben Sie, meine Damen und Herren von Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: der jetzigen Opposition, es leider jahrelang versäumt, die notwendige Vorsorge zu treffen, damit diese Jugendlichen (B) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- (D) gierung eine gute Ausbildung erhalten. Ihre Berufsbildungspolitik hat dazu geführt, dass heute in der Gruppe der 20- bis 29- Berufsbildungsbericht 2000 Jährigen noch immer fast 12 Prozent oder rund 1,3 Milli- – Drucksache 14/3244 – onen Menschen ohne Berufsabschluss sind. Das war und Überweisungsvorschlag: ist – lassen Sie mich das so sagen – leider gesellschaftli- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- cher Sprengstoff. zung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wir wollen, dass diese Jugendlichen eine Chance er- Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder halten; denn diese Jugendlichen wollen arbeiten und sich Ausschuss für Tourismus qualifizieren, und dazu sollen sie auch die Möglichkeit er- Haushaltsausschuss halten. Deshalb haben wir das Sofortprogramm JUMP Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen von gestartet und im Bündnis für Arbeit mit den Gewerk- SPD und Bündnis 90/Die Grünen vor. schaften und den Unternehmen Vereinbarungen getroffen, damit diesen Jugendlichen endlich auch die Chance gege- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die ben wird, die sie wollen und brauchen. Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat Bundesministerin Edelgard Bulmahn das Wort. Meine Damen und Herren, wir haben das mit Erfolg getan; denn diese Bundesregierung hat es geschafft, die Jugendarbeitslosigkeit um 9 Prozent zu senken. Das ist Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung ein großer Erfolg. Ich will aber auch gleich ganz klar sa- und Forschung: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lie- gen, dass wir uns nicht auf ihm ausruhen werden. ben Kolleginnen und Kollegen! Eine hervorragende qua- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lifizierte Berufsausbildung hat für die Bundesregierung DIE GRÜNEN) herausragende Bedeutung, weil damit über die Berufs- und Lebenschancen junger Menschen und ihre Chance Dieser Erfolg macht aber deutlich, dass es, wenn man auf gesellschaftliche Teilhabe entschieden wird. Eingezielt handelt und es politisch wirklich will, leistbar ist, Zweites: Wenn wir unseren Lebensstandard sichern und gemeinsam mit den Gewerkschaften und Unternehmen 9646 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) etwas zu ändern und den Jugendlichen dadurch eine ganz anzubieten. Deshalb habe ich die herzliche Bitte, das(C) konkrete Perspektive zu geben. schlichtweg sein zu lassen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Nach den Erhebungen der Bundesanstalt für Arbeit und DIE GRÜNEN) des Statistischen Bundesamtes ist es ganz besonders im zweiten Halbjahr des Jahres 1999 gelungen, in ganz Durch die gute und konstruktive Zusammenarbeit im Deutschland wieder Fahrt in Richtung mehr betrieblicher Bündnis für Arbeit ist es uns gelungen, die Ausbil- Ausbildungsplätze aufzunehmen. dungsplatzsituation für unsere Jugendlichen deutlich zu verbessern und die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zu erhöhen. DIE GRÜNEN) Mit konkreten Maßnahmen zur Sicherung des Ausbil- Es ist mir wichtig, noch einmal zu sagen, dass die Anzahl dungsplatzangebotes und Initiativen zur Modernisierung von betrieblichen Ausbildungsplätzen besonders in der der Berufsausbildung haben wir eine Trendwende ge-zweiten Jahreshälfte deutlich zugenommen hat, weil dies schafft: Bis zum 30. September 1999 sind bundesweit der Zeitpunkt war, in dem die Vereinbarungen des rund 631 000 neue Ausbildungsverträge abgeschlossen Bündnisses für Arbeit gegriffen haben. Wir haben den worden. Das sind rund 18 500 mehr als im Jahr zuvor. In Ausbildungskonsens im Juni des letzten Jahres ge- den alten Bundesländern war dieAusbildungsplatzbi- schlossen. Dieser Zusammenhang ist logisch. Dass in der lanz 1999 zum ersten Mal seit Jahren statistisch wieder zweiten Hälfte des Jahres 1999 deutlich mehr Fahrt in ausgeglichen. Wir haben hier inzwischen in vielen Berei- Richtung mehr Ausbildungsplätze aufgenommen worden chen ein gutes Verhältnis von Ausbildungsplatzangebot ist, ist ein Zeichen dafür, dass die Vereinbarungen Wir- und -nachfrage. Wir haben noch in einigen Regionen Pro- kung zeigen. bleme, aber insgesamt ist das Verhältnis ausgeglichen. In den neuen Bundesländern hingegen sind nach wie vor Das machen auch die Dezemberdaten des Statistischen staatliche Ergänzungsprogramme des Bundes und derBundesamtes deutlich. Diese signalisieren einen Zuwachs Länder erforderlich, um ein ausreichendes Ausbildungs- der Anzahl der betrieblichen Ausbildungsverträge in platzangebot sicherzustellen. Höhe von 1,2 Prozent. Der Zusammenhang wird noch deutlicher, wenn man sich die Zahlen des Monats April Auch die 7 150 Jugendlichen, die trotz aller Anstren- ansieht. Die Zahlen von April machen deutlich, dass das gungen unvermittelt geblieben sind, haben im Februar Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen in den alten von der Bundesanstalt für Arbeit ein Angebot für eineBundesländern um 5,2 Prozent höher lag als im Vorjahr. Qualifizierungsmaßnahme erhalten, um ihre Chancen auf Das ist ein deutlicher Zuwachs. In den neuen Bundeslän- (B) einen betrieblichen Ausbildungsplatz im Sommer zu er- dern haben wir eine Steigerung in Höhe von 9,2 Prozent (D) höhen. erreicht, die wir auch brauchen. Wir brauchen Steigerun- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen sowohl in den alten als auch in den neuen Bundes- DIE GRÜNEN) ländern. Meine Damen und Herren, das zeigt, dass unsere An- Diese Steigerungen machen aber auch deutlich, dass strengungen Wirkung gezeigt haben, dass sie sich gelohnt sich endlich in der Bundesrepublik das Bewusstsein haben. durchsetzt, dass die betriebliche Ausbildung nicht nur in der Verantwortung der öffentlichen Hand oder nur in der Die regionale Analyse, die durchzuführen wir imVerantwortung der Wirtschaft liegt, sondern dass wir ge- Bündnis für Arbeit miteinander vereinbart hatten und die meinsam in der Verantwortung stehen, um gemeinsam das auch durchgeführt worden ist, zeigt sehr deutlich, dass die Ziel zu erreichen, dass jeder, der kann und will, einen Aus- Arbeitsämter, denen ich an dieser Stelle einmal ganz bildungsplatz erhält. ausdrücklich für ihr Engagement danken möchte, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Ich denke, dieses Bewusstsein, das notwendig ist, wenn außerbetriebliche Ausbildungsplätze ganz zielgerichtet wir in Zukunft erfolgreich sein wollen, ist in der Bundes- dort geschaffen haben, wo die Ausbildungsplätze in den republik endlich geschaffen worden. Dies ist der Erfolg Betrieben fehlen. Wer also behauptet, durch das Sofort- unserer gemeinsamen Anstrengungen, gleichwohl kein programm sei die Besetzung betrieblicher Ausbildungs- Grund zum Ausruhen. plätze behindert worden, meine Damen und Herren von der Opposition, verbreitet entweder bewusst die Unwahr- Die Lehrstellensituation ist vor allen Dingen in den heit oder er polemisiert einfach ins Blaue hinein. neuen Bundesländern weiterhin unbefriedigend, wie ich das vorhin bereits gesagt habe. Die Lücke zwischen An- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gebot und Nachfrage ist immer noch zu groß. Deswegen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) brauchen wir dringend diese Steigerung in Höhe von Weder das eine noch das andere nützt den Jugendlichen. 9,2 Prozent. Wir brauchen aber noch mehr. Genauso wie Es nützt auch nicht – das sage ich ganz klar – den Ar-auch wir unsere Aufgabe wahrnehmen, sind Gewerk- beitsämtern und denjenigen, die sich vor Ort engagiert da- schaften und Unternehmen aufgefordert, hier noch mehr rum bemühen, allen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz zu tun. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9647

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Wir werden deshalb nach wie vor auchstaatliche plätze in diesem Bereich. Das ist richtig und notwendig, (C) Ergänzungsprogramme des Bundes und der Länder ein- weil die Jugendlichen, die hier ausgebildet werden, an- setzen, um ein ausreichendes Ausbildungsplatzangebot schließend eine wirklich hervorragende Beschäftigungs- sicherzustellen. Die Bundesregierung wird daher auch in chance haben. Genau den Weg müssen wir gehen. diesem Jahr mit den neuen Ländern ein Sonderprogramm Außerdem soll die innerbetriebliche Weiterbildung für für zusätzliche Ausbildungsplätze vereinbaren, um jedem internetrelevante Technologien ausgebaut und verbessert Jugendlichen ein Ausbildungsplatzangebot machen zu werden. Dabei wollen wir im Übrigen auch älteren Ar- können. Wir stehen zu diesem Versprechen, meine Damen beitnehmerinnen und Arbeitnehmern eine Chance geben. und Herren. Der Frauenanteil in der IT-Branche soll dadurch ebenfalls (Beifall bei der SPD) erhöht werden. Wir wollen die regionalen Aktivitäten zur Schaffung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ betrieblicher Ausbildungsplätze verstärken. Das haben DIE GRÜNEN) wir im Bündnis und mit den neuen Ländern vereinbart. Meine Damen und Herren, das Beispiel macht deutlich, Zugleich soll der regionale Einsatz der vielfältigen Pro- dass wir uns in unseren Aktivitäten nicht allein auf die gramme, die wir haben, besser aufeinander abgestimmt Erstausbildung beschränken, sondern dass wir auch die werden. Die Verstärkung der regionalen Aktivitäten und Brücke zur Weiterbildung bauen. die individuelle Ansprache vor Ort sind in Verbindung mit den Bündnisvereinbarungen der richtige Weg, um die (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) Ausbildungsprobleme zu überwinden. Das hat sich sehr Wenn wir heute IT-Spitzenkräfte nach Deutschland ho- deutlich gezeigt. len müssen, um die Qualifizierungsdefizite der Vergan- Es hat sich auch sehr deutlich gezeigt, dass wir selbst- genheit zu überbrücken, dann geht es nicht um die wirk- tragende regionale Strukturen brauchen, mit denen wir die lich falsche Alternative Ausbildung oder Zuwanderung, Ziele des Ausbildungskonsenses wirklich erreichen kön- mit der Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, nen. die Stammtische mobilisieren wollen. Nein, es geht um neue Ausbildungsplätze, um neue Arbeitsplätze in Meine Damen und Herren, die Erfolge, die wir erzielt Deutschland, haben, sind Erfolge der guten Zusammenarbeit mit beiden Sozialpartnern im Bündnis für Arbeit. Im Gegensatz zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, ha- DIE GRÜNEN) ben wir dabei nicht nur an die Sozialpartner appelliert, denn jede Spitzenkraft in dieser Branche bringt drei bis sondern wir haben mit ihnen gemeinsam konkrete Maß- (B) fünf neue Arbeitsplätze mit sich. Wir wollen, dass diese (D) nahmen vereinbart, und wir haben diese auch gemeinsam neuen Arbeitsplätze hier in Deutschland entstehen und mit ihnen umgesetzt, und genau das ist notwendig. nicht ins Ausland abwandern. Wir haben aber nicht nur mit dem Sofortprogramm und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ regionalen Lehrstellenaktionen für mehr Ausbildungs- DIE GRÜNEN) plätze gesorgt; wir haben dieModernisierung der Ausbildungsberufe beschleunigt und die Entwicklung Meine Damen und Herren, die Entwicklung in der in- neuer Ausbildungsberufe intensiviert. formationstechnischen Branche hat dazu beigetragen, dass wir im Vergleich zum Vorjahr vor allem bei den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dienstleistungsberufen erheblich zulegen konnten. Da- DIE GRÜNEN) von haben besonders die Bereiche Industrie und Handel Die Entwicklung des letzten Jahres hat nämlich eines profitiert. Hier ist die Zahl der betrieblichen Ausbil- sehr deutlich gezeigt: Neue Ausbildungsmöglichkeiten, dungsplätze um mehr als 10 000 gestiegen, so die Er- neue Ausbildungsplätze entstanden vor allem in den ex- folgsmeldung des DIHT. Das macht deutlich, dass wir in pandierenden Zukunftsbranchen wie zum Beispiel in der unserer Wirtschaft eine Veränderung haben. Deswegen Informations- und Kommunikationsbranche, im Dienst- brauchen wir gerade dort in Zukunft noch mehr Ausbil- leistungssektor insgesamt und in der Biotechnologie. dungsberufe und -plätze. Allein in der Informations- und Kommunikations- Bei den Fertigungsberufen sind die Zahlen der betrieb- branche sind in den letzten drei Jahren insgesamt über lichen Ausbildungsverträge zum Teil zurückgegangen. 30 000 neue Ausbildungsplätze entstanden. Wir wollen Das lag vor allem an der schlechten Entwicklung im Bau- diesen Weg weitergehen, und deshalb haben wir mit den gewerbe. Unternehmen, mit den Gewerkschaften der Informations- Gemeinsam mit den Sozialpartnern werden wir unsere und Kommunikationsbranche ein Sofortprogramm zuOffensive zur Modernisierung der Ausbildungsberufe Deckung des IT-Fachkräftebedarfs in Deutschland auf fortsetzen und weitere neue Berufe in wachsenden inno- den Weg gebracht. vativen Dienstleistungsbereichen schaffen. Wir konzen- Wir haben in sehr harten und nicht einfachen Verhand- trieren uns aber nicht nur auf den Dienstleistungsbereich. lungen erreicht, dass die Wirtschaft bis zum Jahr 2003 Wir konzentrieren uns auch auf die zukunftsträchtigen weitere 20 000 Ausbildungsplätze über die im Bündnis für Produktionsbereiche und -berufe, um Einbrüche bei der Arbeit bereits zugesagten 40 000 Plätze hinaus bereitstel- Ausbildung und den zukünftigen Fachkräften zu vermei- len wird. Es geht also um insgesamt 60 000 Ausbildungs- den, damit wir nicht noch einmal das erleben, was wir bei 9648 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) den informationstechnischen Berufen erlebt haben. Des- sehr froh darüber, dass das Engagement der Vertreter der (C) halb haben wir zum Beispiel die Ausbildungsinhalte der Wirtschaft wie auch der Vertreter der Gewerkschaften so Laborberufe im Bereich der Chemie und der Biologie groß ist, dass ich zu Recht sagen kann, dass wir auch in aktualisiert, weil wir wissen, dass wir wegen der sehrdiesem Jahr diese gute Ausbildungsbasis weiterentwi- stark wachsenden Biotechnologiebranche diese Berufe ckeln werden. Das wollen wir. Wir wollen uns auch wei- brauchen. Wir werden genauso fortfahren. Wir sind zur- ter für die Zukunft junger Menschen engagieren. Wir wol- zeit dabei, 50 Berufe den neuen Erfordernissen anzupas- len das Ziel, dass jeder, der kann und will, ausgebildet sen. werden soll, erreichen. Wir werden dieses Ziel nicht aus dem Auge verlieren, sondern wir werden den eingeschla- Ein weites Beispiel ist die in Angriff genommene Mo- genen Weg weiter fortsetzen. dernisierung der Metall- und Elektroberufe in der In- dustrie. Mit diesen Modernisierungen setzen wir die rich- Vielen Dank. tigen Maßstäbe für die Zukunftsfähigkeit unserer Berufs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ausbildung. Wir schaffen damit wieder mehr betriebliche DIE GRÜNEN) Ausbildungsplätze.

Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ver- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als folgt mit ihrer Politik einen umfassenden Ansatz. Dieser nächster Redner hat der Kollege Rainer Jork von der reicht von der Schaffung neuer Ausbildungsberufe über CDU/CSU das Wort. die Entwicklung und Nutzung neuer Medien bis zur ge- zielten Förderung von benachteiligten Jugendlichen. Wir wollen erreichen, dass auch leistungsschwächere Ju- Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Herr Präsident! gendliche eine berufliche Qualifizierung erhalten, die auf Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Berufsbil- dem Arbeitsmarkt verwertbar ist. Wir werden deshalb die dungsbericht gibt eine realistische Darstellung der Lage gezielte Förderung und Unterstützung von Jugendlichen auf dem Lehrstellenmarkt. Allerdings lassen Durch- mit schlechteren Startchancen weiter ausbauen. Wir set- schnitts- und Zuwachsangaben die Dramatik derLehr- zen dabei auf eine stärkere Kooperation aller Beteiligten stellensituation in den neuen Bundesländern überhaupt vor Ort: Schulen und Unternehmen. nicht erkennen. Hier liegt der Schwerpunkt, auf den ich mich konzentrieren möchte. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Mit dem Sonderprogramm der Bundesregierung, für Ich bin sehr froh darüber, dass es gerade in Nordrhein- das wir dankbar sind, wird die Notlage gemildert. Trotz- Westfalen gute Beispiele dafür gibt, wo Unternehmen ihre (B) dem ist die Anzahl neuer betrieblicher Ausbildungsver-(D) Verantwortung aufgreifen und nicht nur warten, sondern hältnisse „erneut deutlich rückläufig“. Früher hätten Sie, aktiv werden und mit den Schulen Partnerschaftendie jetzt an der Regierung sind, das als Katastrophe be- schließen. Sie machen Jugendlichen, die schlechte Start- zeichnet. Ich denke, wir bleiben im Sinne derer, die es be- chancen haben, das Angebot: Komm in meinen Betrieb, trifft, sachlich. mach ein oder mehrere Praktika. Du bekommst anschlie- ßend einen Ausbildungsplatz. – Genau das wünsche ich Im Handwerk gab es Rückgänge. Warum wohl? Ich mir auch für viele andere Regionen unseres Landes. möchte den Redestil des Herrn Bundeskanzlers von ges- tern nachmachen und antworten: Das hat mit der Öko- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ steuer zu tun. Das hat mit halbherzigen Gesetzen zur DIE GRÜNEN) Bekämpfung der schlechten Zahlungsmoral zu tun. Gerade bei einem zunehmenden Fachkräftebedarf – (Stephan Hilsberg [SPD]: Das ist doch Un- wir wissen, meine Damen und Herren, dass wir einen zu- sinn!) nehmenden Bedarf haben, dass unsere Volkswirtschaft von gut ausgebildeten Fachkräften abhängig ist – kommt Sehr hilfreich waren die Entwickler und die Berater. es darauf an, dass wir durch eine vorausschauende Quali- An dieser Stelle möchte ich den Mitarbeitern in den Ar- fizierung einem Fachkräftemangel vorbeugen. Das tun beitsämtern herzlich danken. wir. Das ist auch unsere Aufgabe. Es ist ebenfalls unsere (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Aufgabe, gute Rahmenbedingungen für die Berufsausbil- Ich bescheinige auch gern der ehemaligen Opposition dung zu schaffen. Auch daran arbeiten wir. Lassen Sie einen Erkenntnisgewinn. Das, was im jetzigen Berufsbil- mich aber noch einmal sagen: Entscheidend ist dasEn- dungsbericht steht, ist schon interessant. Sie gehen davon gagement der Wirtschaft. Es ist entscheidend, um eine aus – wir waren immer dieser Meinung –, dass die Pro- ausreichende Zahl von Ausbildungsplätzen zur Verfügung bleme nur partnerschaftlich lösbar seien. Sie erkennen, zu stellen, um eine gute qualifizierte Ausbildung zu leis- dass auch die Länder in der Pflicht stehen. Sie selbst sa- ten und um den Jugendlichen mehr Lernmöglichkeiten im gen nun auch, dass ausländische Mitbürger gefordert Arbeitsprozess zu eröffnen, und zwar bereits während ih- seien. Toll finde ich es zu lesen, dass jetzt auch der Bedarf rer Schulzeit. bedacht wird. Das hat vielleicht etwas mit dem Erkennt- Wir sind im letzten Jahr ein ganzes Stück weiter ge- nisgewinn auf dem Gebiet der Informationstechnologie – kommen. Wir haben im Bündnis für Arbeit, Ausbildung zuerst Schließung einer Hochschule und als logische und Wettbewerbsfähigkeit eine gute Basis gelegt. Ich bin Folge davon Import von Computerspezialisten aus dem Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9649

Dr.-Ing. Rainer Jork (A) Ausland – zu tun. Das betrifft auch die Frage der berufli- Ihr Abschwung, Herr Bundeskanzler. Da nützt uns auch (C) chen Bildung. ein „Placebo-Minister Ost“ überhaupt nichts. In dem Bericht steht: (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dabei kommt der mittelständischen Wirtschaft eine Der Hauptausschuss weist in seiner Stellungnahme zur besondere Bedeutung zu, sie bildet mit 1,2 Millionen Entwicklung des Berufsbildungsberichtes 2000 zu Recht etwa 80 % aller Auszubildenden aus. darauf hin, dass Weiter heißt es dort: Hauptanliegen ist, die Berufsbildungsstatistik nicht zwischen betriebli- chen und außerbetrieblichen Ausbildungsverhältnis- dass die mittelständische Wirtschaft ihre tragende sen differenziert. Der Hauptausschuss erwartet, dass Rolle in der Berufsausbildung beibehalten kann. das Bundesinstitut für Berufsbildung bei der nächs- Richtig! Schön wäre es! Genau darauf möchte ich hier be- ten Erhebung mit dem Stichtag 30.9.2000 diese Dif- sonders eingehen: Wer Lehrstellen mag, der muss auch ferenzierung vornimmt. die mittelständische Wirtschaft mögen. Alles andere ist Ich halte das für richtig. Weiter steht im Bericht: halbherzig. Die Versorgungslücke auf dem Ausbildungsstellen- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) markt ist nicht nur eine Folge der Krise des Arbeits- Wie sehen nun angesichts der wirtschaftlichen Aus- marktes. Für sie sind vielmehr auch strukturelle Ver- gangslage in den neuen Ländern die praktischen Konse- änderungen in der Wirtschaft verantwortlich. quenzen aus? Frau Ministerin, wenn Sie sagen, Sie wol- Worum geht es also? Es genügt nicht, die offensichtli- len das politisch anpacken, dann antworte ich Ihnen: Sie chen Probleme mit sektoralen Maßnahmen – ich deutete können so viel wollen, wie Sie möchten! Ich weiß, dass das an – zu kurieren. Die Wirtschaft, der Mittelstand und Sie und Ihr Ministerium sich bemühen. Aber das Problem das Handwerk müssen auch im Ministerienverbund un- der Lehrstellen in den neuen Bundesländern ist eine ge- terstützt werden. Man muss längerfristig planen und samtwirtschaftliche sowie überministerielle Angelegen- Lehrstellen vorsehen können. Wer nicht weiß, ob er in ei- heit. Sie ist Chefsache. Wenn Sie sich bemühen, dannnem halben Jahr noch existiert, der wird natürlich keine reicht das nicht. Ich kann nur sagen: Hier muss der Chef Lehrlinge ausbilden. „Feststellen und fortfahren“, wie es ran! Er muss den Stab zum Dirigieren in die Hand neh- der Herr Bundeskanzler gestern ausdrückte, genügt nicht. men. Wir brauchen eine neue Mittelstandskultur. Unser frühe- (Ilse Janz [SPD]: Was hat denn die CDU ge- rer Kollege Rixe sagte immer: Weiter so – aggressiv! Ge- macht? Nichts! Null!) nau das erleben wir jetzt. „Weiter so“ langt nicht; wir (B) brauchen eine neue Mittelstandskultur in den neuen Bun- (D) Im „Tagesspiegel“ vom 6. April 2000 steht: Der Auf- desländern. schwung geht am Osten vorbei. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Ilse Janz [SPD]: Das ist nicht zu fassen!) Dem Bericht der Bundesregierung zur technologischen Unter dieser Überschrift wird der Anstieg der Arbeitslo- Leistungsfähigkeit entnehme ich folgende Aussage: sigkeit in den neuen Bundesländern beschrieben. Wenn man sich die Entwicklung der Jugendarbeitslosigkeit in Dem Innovationssystem in den neuen Bundeslän- West und Ost anschaut – Herr Hilsberg, es war Ihr Hobby, dern (fehlen) wesentliche Kernelemente und Kristal- die dortigen Zahlen zu bejubeln –, dann stellt man fest, lisationspunkte der Innovationssysteme der alten dass die Jugendarbeitslosigkeit in den alten Bundeslän- Länder. Darüber hinaus leiden die kleinen und mitt- dern bei 9 Prozent und in den neuen Bundesländern bei leren Unternehmen sehr viel häufiger als in den alten 15,7 Prozent liegt. Interessant ist auch der Vergleich der Ländern unter einer geringen Rentabilität, fehlen- Entwicklung der Jugendarbeitslosigkeit in den einzelnen dem Eigenkapital und daraus resultierend auch unter Bundesländern: In Bayern liegt die Quote bei 5,8 Prozent, unzureichendem Zugang zu Fremdkapital. in Niedersachsen bei 11,1 Prozent. Was dort steht, stimmt. (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! Oh!) Wir hatten ein Gespräch mit der Handwerkskammer Für uns Ostdeutsche – das richte ich an die Adresse von Chemnitz. Zu diesem Gespräch wurden vier Forderungen Frau Müller, die gestern im Plenum gesprochen hat – ist formuliert – sie sind im Grundsatz klar –, die zeigen, wie es Schönfärberei und Ausdruck von Arroganz, wenn Frau Wirtschaft und Lehrstellen unmittelbar zusammenhän- Müller sagt: Die Arbeitslosigkeit ist um 10 Prozentgen: zurückgegangen. Ich weise noch einmal darauf hin: Erstens. Die Lehrlinge sollen – darüber haben wir Durchschnitts- und Zuwachsangaben verkleistern den früher schon gesprochen – möglichst umfassend im Be- Blick auf die extreme Situation in den neuen Bun- trieb arbeiten. desländern und gehen an der Realität vorbei. Zweitens: eine deutliche Entlastung von Steuern und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Abgaben. Einst, als es in Ostdeutschland noch aufwärts ging, Drittens: Entlastung von Nebenkosten. sagte einer, der Kanzler werden wollte: Das ist mein Auf- schwung. Er wurde Kanzler und erklärte den Aufbau zur Viertens: eine angemessene Relation des Lehrlingsent- Chefsache. Nun erleben wir den Abschwung Ost. Das ist geltes zum Gesellenlohn. 9650 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Dr.-Ing. Rainer Jork (A) Bereits in Gesprächen mit dem Arbeitsamt Pirna wurde Regierungsparteien eingebrachten Entschließungsantrag (C) vor einiger Zeit – am 14. April hatte ich ein solches Ge- steht unter Nr. 2: spräch in Meißen – festgestellt, dass wir eine Facharbei- Die Bundesregierung wird aufgefordert, Wirtschaft, terlücke haben werden. Ich freue mich, dass auch das in Handwerk, freie Berufe und öffentlichen Dienst ver- dem Bericht angesprochen wird. stärkt anzuhalten mehr Ausbildungsplätze anzubie- Wir brauchen intelligente Lösungen für dieses Pro- ten. blem. Ich gehe davon aus, dass ein größerer Schwerpunkt Ich zitiere Sie, Frau Ministerin. Sie haben eben gesagt, auf die modulare Gestaltung der Ausbildung gelegt wer- Appelle genügten nicht. Genau das ist es. Die Wirtschaft den soll. Der Vertreter der IG Metall wies in einer Bera- braucht keine Appelle. Sie will. In allen Beratungen, die tung übrigens darauf hin, dass die öffentliche Infrastruk- wir zu Hause im Wahlkreis führen, merke ich das Ringen, tur in den neuen Bundesländern einen Rückstand vonmehr Ausbildungsplätze bereit zu stellen. Den Leuten ist 30 Prozent hat und dass es vor allem Defizite im industri- schon bewusst, dass es um die eigene Zukunft geht. Aber ellen Bereich gibt. Wiederum stellt sich die Frage: Was bitte – Ihre Worte – nicht nur Appelle, bitte gemeinsame hemmt? Bestehende Hemmnisse haben mit der Steuerre- Arbeit über die Ministeriumsgrenzen hinweg! Kommen form, der Ökosteuer und hohen Lohnnebenkosten zu tun. Sie zur Sache! Appelle nützen nichts und sind überflüssig. Ich möchte Schlussfolgerungen ziehen. Unsere Frak- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tion wird auf Drucksache 14/3185 eine Vorlage mit dem Titel „Lehrstellenmangel Ost mit wirksamen Regelungen Ich möchte kurz zu zusammenfassenden Bemerkungen angehen“ in die Beratungen einbringen. Wir fordern klar: kommen. Die Zeit ist um. Es hat keinen Sinn, an den Krankheitssymptomen zu la- Es gibt im Bericht eine realistische Darstellung. Ich borieren; es geht darum, dass der Körper Berufsbildung in freue mich, dass das deutlich gesagt wird. Die Bundesre- den neuen Bundesländern insgesamt so konditioniertgierung hat an vielen Stellen über JUMPgeholfen. Wir ha- wird, dass der betriebliche Teil der dualen Ausbildung ben wiederholt gesagt, dass wir das gut finden, dass die überhaupt funktionieren kann. Ich erinnere dabei an die Nachhaltigkeit, der Effekt verbessert werden muss. Ich Vorschläge, die ich in der Debatte am 28. Januar gemacht glaube, wir sind uns darüber einig. Die Arbeit über die habe. Ministeriumsbereiche hinweg halte ich für ungenügend. Den Leuten in den neuen Bundesländern ist nicht zum Die Konsequenzen sind halbherzig, begrenzt und ober- Lachen. Die Zahlen dort sprechen eine deutliche Sprache. flächlich. Ich bin der Meinung, der Chef sollte kommen Es geht wirklich darum, dass sich die Bundesregierung als und das tun, was er versprochen hat. Regierung und der Chef der Chefsache endlich als in der Danke schön. (B) Pflicht stehend verstehen. (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich darf noch einmal darauf hinweisen – ich freue Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort mich, dass dieser Gedanke auch in den Papieren der Bun- hat nun der Kollege Ulrich Kasparick von der SPD-Frak- desregierung zunehmend Akzeptanz findet –, dass dietion. Diskussion zu Modulen in der beruflichen Bildung ge- führt wird. Ich habe in meiner Rede vom 4. März 1999 den Versuch einer Definition gemacht und der Vertreter der Ulrich Kasparick (SPD): Herr Präsident! Meine Da- SPD hat damals im Plenum gesagt, wir sollten darüber re- men und Herren! Herr Jork, nur auf den Chef zu warten den. Das hat bisher nicht stattgefunden, aber ich finde das reicht nicht, an einigen Stellen schon in den Papieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die modulare Berufsbildung hat, wenn sie von ideolo- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gischen Vorbehalten und Blockaden entkleidet wird, den sondern da muss man sich schon selber hinsetzen und sel- Vorteil, dass sie die Flexibilität der Arbeit erhöht, dass sie ber etwas unternehmen. Man muss sich mit den gutwilli- die schrittweise Modernisierung der Berufsbilder ermög- gen Menschen im Lande, die es in genügender Anzahl licht, dass es möglich wird, betriebsspezifische Aufgaben gibt, zusammentun und genauer definieren, wo die in der Ausbildung und Weiterbildung – davon ist heute Schwachpunkte sind. schon gesprochen worden – zu berücksichtigen. Außer- (Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Haben wir dem ist das – das halte ich für wichtig – eine Chance für gemacht!) die Befähigung bei unterschiedlicher Eignung. Ich stimme Ihnen in einem Punkt zu: Ich finde die Si- Abschließend möchte ich an dieser Stelle deutlich sa- tuation in Ostdeutschland nicht nur bedrückend, sondern gen, dass die modulare Berufsbildung keineswegs das Be- ausgesprochen bedrohlich, weil es Trends gibt, die auch rufsprinzip infrage stellt, sondern dieses Berufsprinzip er- im Plenum des Deutschen Bundestages noch zu wenig be- gänzt und flexibilisiert. sprochen worden sind. Deshalb erlauben Sie mir, dass ich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) auf ein paar dieser Trends heute aufmerksam mache. Ich möchte kurz auf die Drucksache eingehen, die ich Wir beobachten leider, dass Berufsschullehrer, die wir gerade in die Hand bekommen habe. In diesem von den für neue IT-Berufe dringend brauchen, das Land verlas- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9651

Ulrich Kasparick (A) sen. In Sachsen-Anhalt beispielsweise ist es so, dass von schon damit beginnen, mehr auszubilden. Das ist ein(C) 40 ausgebildeten Berufsschullehrern 30 weggehen, zum wichtiger Trend. Die Betriebe, insbesondere die Kam- Teil aggressiv abgeworben werden. Deswegen sage ich an merbetriebe, fangen an, mehr auszubilden. Wir müssen dieser Stelle: Wir müssen über den BAT reden. sie dabei allerdings unterstützen. (Beifall bei der SPD) Ich nenne nur als Beispiel dieIT-Berufe. Es ist gut, Als ich kürzlich die Fachhochschule Stralsund be-dass es da einen Aufwuchs gibt. Aber auch hier merken suchte, sagte mir der Direktor auf meine Frage, wo seine wir, dass die jungen Leute in Ostdeutschland von diesem Absolventen hingingen, dass sie zu fast 100 Prozent in die Aufwuchs noch nicht so profitieren, wie das wün- alten Länder gingen. schenswert wäre. Wir haben bei den gemeldeten Ausbil- dungsstellen in den neuen Berufen einen Aufwuchs von Wir müssen darüber reden, woran es liegt, dass die Men- etwa 3 bis 4 Prozent. Das ist zu wenig; es muss mehr wer- schen, die wir dringend für Innovationen, bei der Ent- den. Was ist zu tun? Klar ist, solche Programme wie wicklung neuer Berufe und als Ausbilder brauchen, weg- JUMP müssen fortgesetzt werden. Ich finde es gut, dass gehen. das schon zugesichert wurde. JUMP geht weiter, das ist Gut finde ich an dem Bericht der Bundesregierung, dass ganz wichtig für den Osten. die Regierung die Schwierigkeiten nicht verschweigt, son- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dern vielmehr dieses besondere Problem in Ostdeutsch- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der land genau wahrnimmt. Dafür bin ich der Regierung aus- F.D.P.) gesprochen dankbar, denn wir haben auch schon anderes erlebt. Da wurde nicht in einer solchen Offenheit über die Jeder, der etwas von der Materie versteht, weiß aller- Schwierigkeiten gesprochen. Ich wünsche mir, dass wir dings, dass die Realität der beruflichen Ausbildung in Ost- weiter untereinander so ehrlich bleiben. Es ist ein guter deutschland noch weit entfernt ist von einem wirklichen Zug zu sagen, wie die Situation wirklich ist. dualen System, denn dort ist Ausbildung fast eine rein staatliche Veranstaltung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Cornelia Pieper [F.D.P.]: Das ist richtig!) Ich will noch auf ein paar Besonderheiten aufmerksam Wenn man nämlich zu der staatlichen Ausbildung an den machen, die die Berufsbildung in Ostdeutschland betref- Berufsschulen die Pro-Kopf-Prämien, die in manchen fen: In Thüringen, so sagte mir der zuständige Referats- Ländern noch gezahlt werden, hinzuzählt, dann kommt leiter im Landesarbeitsamt, als ich ihn zur Vorbereitung man auf einen staatlichen Anteil am Ausbildungsmarkt von bis zu 80 Prozent. Von daher liegt es auf der Hand, (B) dieser Rede anrief, verhält es sich so, dass etwa 17 Pro- (D) zent der Lehrlinge in die alten Länder gehen und zusätz- dass sich der Staat da weiter engagieren muss. Ich finde lich etwa 18 Prozent pendeln. Darüber hinaus gibt es noch die Zusage der Ministerin gut – eine große Grauzone. Es gibt andere Regionen in Ost- (Bundesministerin Edelgard Bulmahn: Da gibt deutschland – ich nenne als ein Beispiel Stendal –, aus de- es auch ein neues Programm!) nen fast ein Viertel der Lehrlinge weggehen. – Das kommt noch dazu; auf das zusätzliche Programm Wenn man woanders in Deutschland eine Lehrstelle gehe ich gleich noch ein. Einige Länder, beispielsweise findet, ist das gut. Es entsteht aber zugleich ein struktur- Thüringen, haben solch ein Programm ja schon aufgelegt. politisches Problem: Wenn Menschen in den alten Län- dern – beispielsweise gehen sehr viele nach Süddeutsch- Wir müssen an einer Schlüsselstelle etwas tun, nämlich land – eine Ausbildung machen, liegt es nahe, dass sie in der Verbundausbildung. Zurzeit sieht die Situation dann auch dort bleiben. Das heißt, es entsteht nicht nur ak- folgendermaßen aus: Nur etwa die Hälfte der Betriebe in tuell ein Mangel an Fachkräften in Ostdeutschland, son- Ostdeutschland glauben, dass sie ausbildungsberechtigt dern zukünftig werden wir auf dem Arbeitsmarkt noch seien. Ich habe noch einmal mit den Handwerkskammern mehr Probleme bekommen, wenn wir nicht jetzt mehr tun, telefoniert; sie haben mir das bestätigt. Das heißt: Viele als bisher getan worden ist. Deswegen lautet mein Appell – wissen gar nicht, dass sie ausbildungsberechtigt sind. ich bin mir sehr sicher, dass der auch gehört werden wird –, Daher brauchen wir eine konzertierte Aktion.Ver- noch ein wenig mehr Gewicht auf diese Frage der Be- bünde sind dazu wichtig. Die Kammern bemühen sich rufsausbildung in Ostdeutschland zu legen. Ich denke, mit den Sozialpartnern. Die Länder sind sehr engagiert dass es eine ganze Reihe von gutwilligen Partnern gibt, und auch der Bund hilft. Wir brauchen aber an einer die dazu auch bereit sind. Schlüsselstelle eine gezielte Förderung – ich bin mir si- Wir können es uns nämlich nicht leisten, bis zum Jahre cher, dass dies mit einem Sonderprogramm jetzt zu reali- 2007 zu warten. 2007 wird sich die Situation völlig um- sieren ist –: Wie bekommt man das Management dieser drehen. Da werden wir in Ostdeutschland die Situation Verbünde angeschoben? Die Idee ist, dass man für die haben, dass mehr Ausbildungsplätze vorgehalten werden, erste Zeit eine degressive Förderung vorsieht. Man kann als sich Auszubildende bewerben. Ich fand es gut, als mir in diesem Zusammenhang – ob es nun die ersten drei Leute von der Industrie- und Handelskammer und auch Jahre sind – über Zeiträume reden. Ein Verantwortlicher von den Kreishandwerkerschaften sagten, dass die Be- muss Betriebe akquirieren und das Management der Ver- triebe in Ostdeutschland es mittlerweile verstehen, dass bundausbildung in die Hand nehmen. Er muss also auf die ab 2006/07 dieser Einbruch kommt, und deshalb jetztbeteiligten Akteure zugehen. Ich denke, eine degressiv 9652 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Ulrich Kasparick (A) gestaltete Förderung ist sinnvoll. Das Ziel muss sein, dass Ich bitte Sie, diese Tatsache einmal zur Kenntnis zu neh- (C) die Wirtschaft selber die Ausbildung übernimmt. men. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der Ich komme auf das Thema Mittelstandspolitik gleich CDU/CSU und der F.D.P.) zurück. Ich möchte noch einen zweiten Punkt kurz ansprechen. Heute haben wir darüber zu befinden, ob die neue Bun- Auch da gibt es eine große Bereitschaft zum Handeln, die desregierung – getreu dem Kanzlerwort „Wir machen nur noch mithilfe eines kleinen staatlichen Anstoßes so- nicht alles anders, aber vieles besser“ – erfolgreich gear- zusagen zusammengeführt werden muss. Es stellt sich nämlich die Frage: Wie können sich die Arbeitsplatzent- beitet hat. Am Abbau der Jugendarbeitslosigkeit möchte wickler, die Arbeitsplatzvermittler und die Menschen, die sich Herr Schröder messen lassen. In der Tat: Der Bericht für die Akquise von Ausbildungsplätzen unterwegs sind, weist einen Zuwachs gegenüber 1998 von 18 500 Ausbil- besser absprechen? Man kann häufig feststellen, dassdungsverträgen aus. Ich sage ganz deutlich: Jede Investi- diese Akteure nebeneinander agieren. Ich wünsche mir tion in die Ausbildung eines Jugendlichen ist mir das Geld daher eine bessere Absprache, was den Regionen nur hel- wert; denn die beste Sozialpolitik, die man für einen jun- fen kann. gen Menschen machen kann, ist, ihm einen Ausbildungs- platz zu verschaffen. Der zentrale Punkt ist: Wir müssen den Betrieben, die ausbildungswillig sind – es gibt sie – helfen. Das Stich- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie wort heißt: Ausbilden zum Ausbilder. Das BMBF berei- bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNIS- tet entsprechende Maßnahmen vor, die in die richtige SES 90/DIE GRÜNEN) Richtung gehen. Auch die Verbundausbildung weist in die Wir alle wissen, das Programm umfasste im vergange- richtige Richtung, möglicherweise ausgestattet mit einem nen Jahr insgesamt 2,2 Milliarden DM. Doch auch Ende degressiv gestalteten Förderprogramm. 1999 standen immerhin noch 8 100 Jugendliche ohne Aus- Ich rufe von dieser Stelle die Kammern auf, ihre eige- bildungsstelle da. Das sind die Fakten. nen Betriebe darüber zu informieren, wer eigentlich alles Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren von der Re- ausbildungsberechtigt ist. Mich hat die Zahl etwas irri- gierungskoalition: Es gibt in Deutschland eine Schieflage, tiert, dass etwa nur die Hälfte der Betriebe wissen, dass sie was die Ausbildungsplatzsituation anbelangt. Dabei han- ausbilden können. In diesem Zusammenhang wäre eine delt es sich nicht um eine Situation, die ich als Oppositio- Informationskampagne sehr sinnvoll; denn jeder Betrieb, nelle im Deutschen Bundestag sozusagen herbeirede. (B) der ausbildet, wird dringend benötigt, auch wenn er nur Diese Situation ist im Berufsbildungsbericht beschrieben. (D) einen Ausbildungsplatz zur Verfügung stellt. Wir wollen Frau Nahles und elf andere Bundestagsabgeordnete der den Betrieben dabei helfen. SPD haben dies in einem offenen Brief an Bundeskanzler Herzlichen Dank. Schröder zum Ausdruck gebracht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ist es!) DIE GRÜNEN) Das Bundesinstitut für Berufsbildung sagt: Die Verbesserung der Ausbildungsplatzbilanz ist Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms :Als nächste allerdings im starken Maße auf die Ausweitung der Rednerin hat das Wort die Kollegin Cornelia Pieper von öffentlich finanzierten Ausbildung, insbesondere auf der F.D.P.-Fraktion. das Sofortprogramm der Bundesregierung zum Ab- bau der Jugendarbeitslosigkeit, zurückzuführen. Cornelia Pieper (F.D.P.): Sehr verehrter Herr Präsi- Das heißt, Sie haben es nicht geschafft, dass Ausbil- dent! Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Es dungsplätze in kleinen mittelständischen Betrieben in der ist noch gar nicht lange her, dass wir in diesem Hause den Wirtschaft entstehen können. Berufsbildungsbericht 1999 abschließend behandelt ha- ben und ich an gleicher Stelle stand. Das ist insofern von (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Interesse, als ich mit nur knapp vier Monaten Abstand Das haben Sie nicht geschafft, und das müssen Sie sich zwei Berichte analysieren und miteinander vergleichen von der Opposition und von der deutschen Bevölkerung kann, die auf das Wirken von zwei grundverschiedenen vorwerfen lassen. Ich sage noch einmal: Die Appelle an Bundesregierungen zurückzuführen sind. die Wirtschaft werden nicht reichen, und auch Ihre Poli- Damals sagte ich Ihnen: Der Berufsbildungsbericht tik für die großen und starken Unternehmen wird nicht 1999 macht deutlich, dass die alte Bundesregierung bei reichen. Wir brauchen eine Mittelstandspolitik, die die der Schaffung von Ausbildungsplätzen eine richtige Wei- kleinen Handwerksbetriebe, die Freiberufler und die mit- chenstellung vorgenommen hat. telständische Wirtschaft unterstützt. (Stephan Hilsberg [SPD]: Versagt hat!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Mit vertrauensbildenden Maßnahmen schafft man gerade Dafür haben Sie sowohl mit dem 630-Mark-Gesetz als im Mittelstand den besseren Nährboden für Engagement. auch mit dem Gesetz über die Scheinselbstständigkeit und Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9653

Cornelia Pieper (A) mit der vorgelegten Unternehmensteuerreform die falschen Wenn Sie im Haushalt des Jahres 2000 für die Technolo- (C) Rahmenbedingungen geschaffen. gieförderung im Wirtschaftsministerium Mittel streichen und ich weiß, dass im zuständigen Ministerium in einem (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Umfang von 35 Millionen DM Anträge ostdeutscher Bringen Sie doch endlich den Mut zu echten Reformen mittelständischer Betriebe liegen, die in eine innovative auf, und hören Sie auf, mittelstandsfeindliche und damit Branche vordringen wollen, Anträge, die nicht bewilligt ausbildungsplatzvernichtende Gesetze zu verabschieden! werden können, weil das Geld nicht eingestellt worden Setzen Sie Ihren Schwerpunkt nicht allein auf noch so ist, Anträge, mit denen innovative Existenzgründungen schöne außerbetriebliche Ausbildungs- und Beschäfti- auf den Weg gebracht werden könnten, dann ist das die gungsprogramme, sondern stärken Sie den Mittelstand falsche Akzentuierung. Durch jeden Betrieb, der neu ent- vor Ort. steht, könnten Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze ge- rade im Osten Deutschlands entstehen. (Ulrich Kasparick [SPD]: Ich sage nur: Eingangssteuersatz!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Der Kollege von der SPD, der vor mir gesprochen hat, hat Das werfen wir Ihnen allerdings vor, meine Damen und es ja auch deutlich gemacht. Es kommt darauf an, dass wir Herren. den Mittelstand stärken, (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aber das be- (Ulrich Kasparick [SPD]: Machen wir ja!) trifft sie nicht, weder den Wirtschafts- noch den Aufbauminister!) damit Ausbildungsplätze geschaffen werden. Aber Sie machen es ja nicht. – Genau, weder Wirtschafts- noch Aufbauminister. Das kann auch ruhig ergänzt werden, denn dieses Thema ist (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) einfach im Zusammenhang zu sehen. Es ist nicht allein, Das ist gerade für den Osten Deutschlands von existenzi- verehrte Frau Ministerin Bulmahn, ein bildungspoliti- sches Thema, es ist ein Wirtschaftsthema. Das kann man eller Bedeutung. gar nicht genug deutlich machen. Dazu will ich in diesem Hohen Hause noch einmal fest- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – stellen: Wir behandeln heute den Berufsbildungsbericht Zuruf von der F.D.P.: Ein Wirtschaftsminister 2000, werten also das Ausbildungsjahr 1999 aus. Wir alle ist das! – Abg. Stephan Hilsberg [SPD] meldet wissen um die dramatische Situation im Osten Deutsch- sich zu einer Zwischenfrage) lands. Wir sind uns einig, dass dort die Ausbildungsplätze auch öffentlich gefördert werden müssen. Wir diskutieren – Herr Präsident, erlauben Sie mir, dass ich im Moment (B) hier, und ich vermisse die Anwesenheit des dafür zustän- keine Frage beantworten möchte. Ich möchte gern den(D) digen Ministers. Zusammenhang darstellen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Und es ist ein schulpolitisches Thema. Schulpolitik ist Aufgabe der Länder. Aber die Qualität der Schulbildung Wo ist Staatsminister Schwanitz? entscheidet über die Ausbildungsfähigkeit junger Men- (Ulrich Kasparick [SPD]: Die zuständige schen. Das will ich hier auch noch einmal sagen. Ministerin ist da!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Der Bundeskanzler dieser Bundesrepublik Deutschland Die schlechte Unterrichtsversorgung und Ausstattung an hat erklärt: Aufbau Ost ist Chefsache. Sind ihm die Aus- den Schulen Deutschlands trägt doch nicht dazu bei, dass bildungsplätze so wenig wert? Ist ihm die Mittelstands- wir gut ausgebildete und ausbildungsfähige junge Men- politik so wenig wert, dass er heute im Plenum nicht an- schen in den Berufsschulen haben. wesend ist? (Zuruf von der SPD: Daran sind doch nicht die (Zurufe von der F.D.P. und der CDU/CSU) jungen Leute schuld!) Ich fordere den Staatsminister auf, an dieser Debatte teil- 22,6 Prozent Ausbildungsabbrecher, die mit den theoreti- zunehmen. Für mich ist es ein Affront gegen die Jugend- schen Anforderungen nicht mitkommen, können uns nicht lichen, insbesondere im Osten Deutschlands, kalt lassen. Das muss uns doch bewegen. Da stimmt in der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Schulpolitik etwas nicht. dass der Minister für besondere Aufgaben Aufbau Ost an (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) dieser Debatte im Plenum nicht teilnimmt. Wir brauchen mehr praxisorientierte Schulpolitik, eine (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Er lässt Frau Schule, die auch gemeinsam mit der Wirtschaft rechtzei- Bulmahn allein, und das ist unfair!) tig Modelle entwickelt, damit Jugendliche auf ihre Aus- Ich freue mich, meine Damen und Herren, dass Sie die- bildung, auf ihren zukünftigen Arbeitsplatz vorbereitet ses Thema so begeistert. Ich will es noch einmal an einem werden. ganz konkreten Punkt deutlich machen. Aber auch die Berufsausbildung muss ihren Beitrag (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: leisten. Um den veränderten Bedingungen in der Arbeits- Big Brother Möllemann!) welt voll Rechnung tragen zu können, brauchen wir eine 9654 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Cornelia Pieper (A) stärkere Flexibilisierung und Differenzierung in der Be- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zu einer (C) rufsausbildung. Die F.D.P. – das wissen Sie – setzt sich Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Stephan schon lange für eine Modularisierung der beruflichenHilsberg von der SPD-Fraktion das Wort. Ausbildung auf der Basis von Grundberufen mit an- schließenden Spezialisierungsrichtungen nach dem Mus- ter eines Baukastensystems ein. Dabei haben wir lei- Stephan Hilsberg (SPD): Liebe Frau Pieper, nach- stungsstarke und leistungsschwache junge Menschendem Sie in Ihrer Rede beliebt haben, Nebelkerzen zu wer- gleichermaßen im Auge. EineModularisierung von fen Ausbildungsgängen mit berufsqualifizierenden Ab- (Widerspruch bei der F.D.P.) schlüssen bietet gleichzeitig die Möglichkeit, Berufsbil- der auch auf jene zuzuschneiden, die nicht durch ihre– das ist ja parlamentarisch erlaubt, das macht jeder; aber guten theoretischen Begabungen auffallen, sondern eher dann ist es auch erlaubt, zu sagen, was die andere Seite praktische Fähigkeiten und Fertigkeiten aufweisen. Diese wirklich macht –, möchte ich sagen: Sie können natürlich jungen Menschen erhalten in einem solchen System eine auf die technologische Leistungsfähigkeit ostdeutscher echte Chance für ihren Einstieg in den Beruf. Betriebe hinweisen. Sie wissen aber ganz genau, dass die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) technologische Leistungsfähigkeit der Mittelstandsbe- triebe in Ostdeutschland zum Teil exquisit und fantastisch Gerade das ist wichtig, denn die Zahl der Einfachar- ist und teilweise besser als in manchen westdeutschen Be- beitsplätze sinkt Jahr für Jahr. Ungelernte haben immer trieben. weniger Chancen. Ich sage hier noch einmal: Der Fach- kräftemangel in der Wirtschaft, der in den nächsten Jah- Sie können natürlich auch Ihren Mangel an Gegenvor- ren auf uns zukommen wird – das stellt auch der Berufs- schlägen, was die Behebung der Probleme der ostdeut- bildungsbericht fest –, wird immens sein. Deshalbschen Ausbildungsplatzsituation angeht, zu kaschieren brauchen wir mehr Flexibilisierung in der dualen Be- versuchen, indem Sie immerfort rufen, das sei Chefsache. rufsausbildung. Deswegen müssen wir zu einer echten Das ist noch kein einziger Vorschlag. Aber nehmen Sie Reform in der beruflichen Bildung kommen. doch einmal Stellung zu den Fakten! Wenn Sie schon sa- (Beifall bei der F.D.P.) gen, dass wir das JUMP-Programm brauchen, um die Lehrstellensituation in Ostdeutschland zu verbessern, Hier erwarten wir von der Bundesregierung weiter ge- warum stimmen Sie dann beispielsweise im Haushalts- hende Akzente. ausschuss dagegen? Und warum nehmen Sie zu den Ich sage aber ebenfalls, Frau Ministerin Bulmahn – Sie Nachwuchssorgen vieler ostdeutscher Betriebe, die kata- haben es auch in Ihrem Bericht erwähnt –, dass die neuen strophal und existenziell sind, spätestens 2005, 2006, in (B) (D) Berufsbilder eine echte Chance bieten, die Anzahl der keiner Weise Stellung? Wenn Sie immer so tun, als sei nur Ausbildungsplätze zu erhöhen. Die alte Koalition hatdie Bundesregierung daran schuld, dass die Betriebe zu 1997 die ersten vier neuen Berufsbilder für die IT-Berufe wenige junge Leute einstellen, dann stärken Sie deren Si- beschlossen und auf den Weg gebracht. Die 30 000 Aus- tuation noch, da die Betriebe so sagen können: Schuld ist bildungsplätze, die innerhalb der letzten drei Jahre ent- die Bundesregierung, sie unterstützt uns nicht, wir stellen standen sind, insbesondere in den IT-Berufen, sind auf diese Initiative zurückzuführen. Auch das darf noch ein- keinen ein. mal so deutlich gesagt werden. Ich möchte Sie ermutigen, Zum Schluss haben die Betriebe keinen einzigen Lehr- diesen Weg weiterzugehen und moderne Berufsbilder zu ling. Wenn die Betriebe jetzt nicht anfangen – das gilt für entwickeln. viele Betriebe; das ist wirklich als ein ernster Appell zu (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten verstehen –, sich auf die demographische Falle, die in den der CDU/CSU) Jahren 2005 bzw. 2006 einsetzt, so einzustellen, dass be- reits jetzt antizyklisch ausgebildet wird, dann werden wir – Was wir in Deutschland brauchen, ist eine Kultur der Selbstständigkeit, Mut zur Existenzgründung, gerade bei da gebe ich Ihnen Brief und Siegel – in vier Jahren über jungen Menschen in diesem Land. Wenn wir das hinbe- die Frage diskutieren, warum viele Betriebe in Ost- kommen, werden wir von denen, die eine Existenz, eine deutschland trotz hoher Arbeitslosigkeit dichtmachen Firma in diesem Land gründen, auch einen Beitrag für müssen. Das werden sie deshalb tun müssen, weil sie kei- mehr Ausbildungsplätze in Deutschland erhalten. Diese nen Nachwuchs mehr haben. Kultur der Selbstständigkeit ist nicht zu erkennen. Das (Beifall bei der SPD – Staatsminister Rolf Klima für Maßnahmen, die den Mittelstand, die Freibe- Schwanitz nimmt auf der Regierungsbank Platz – rufler, die Handwerker unterstützen, ist bei der Politik der Bundesregierung nicht befriedigend. Das stellen wir un- Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ter Kritik. Wir fordern die Bundesregierung auf, bei dem nächs- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms : Frau Kol- ten vorzulegenden Berufsbildungsbericht neue Akzente legin Pieper, zur Erwiderung, bitte schön. für zukunftsträchtige Ausbildungs- und Arbeitsplätze für junge Menschen zu setzen. Cornelia Pieper (F.D.P.): Guten Morgen, Herr Vielen Dank. Schwanitz. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9655

Cornelia Pieper (A) Ich freue mich, dass die Opposition es erreicht hat, dass Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr (C) der für die Ausbildungsplätze im Osten Deutschlands zu- Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Pieper, ständige Minister endlich anwesend ist. wenn junge Menschen hier in diesem Lande wieder eine (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Chance auf Ausbildung haben, wenn diese Jugendlichen, Lachen bei der SPD) wie es auch die Shell-Studie zeigt, wieder zuversichtlich und hoffnungsfroh in die Zukunft blicken, dann ist das der Herr Kollege Hilsberg, trotz all meiner Wertschätzung Politik der jetzigen Regierung bzw. der jetzigen Koalition Ihrer Person gegenüber möchte ich feststellen: Ich finde zu verdanken. es skandalös, dass Sie sagen, ich würde parlamentarische Nebelkerzen werfen, wo es doch um Existenzfragen für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kleine und mittelständische Handwerksbetriebe im Osten und bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU) Deutschlands geht. Das zeigen die aktuellen Zahlen. Das sollte einmal deut- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – lich gemacht werden. Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Und für Die Zahl der nicht vermittelten Jugendlichen haben wir junge Menschen!) als rot-grüne Koalition innerhalb von einem Jahr um rund Das sind keine Nebelkerzen. Ganz im Gegenteil: Das hat drei Viertel reduziert. 30 000 Ausbildungsverträge wur- etwas mit der Sorge um die Zukunft eines Teils den in 1999 in Berufen abgeschlossen, die erst in jüngster Deutschland zu tun, die für uns als Liberale ein ganzZeit entstanden und entwickelt wurden. Zurzeit sind wei- wichtiges Thema darstellt. tere 50 Berufsbilder in der Modernisierungs- bzw. Ent- wicklungsphase. (Ilse Janz [SPD]: Das hätten Sie in der Regierung tun sollen!) Das heißt aber nicht, dass wir uns zurücklehnen und Sie haben überhaupt kein Konzept für den Aufbau Ost. auf unseren Lorbeeren ausruhen. Das heißt für uns vor al- Sie haben keine Ideen, was die Entwicklung von Arbeits- lem, dass wir weiterhin tätig werden müssen, dass wir plätzen anbelangt. Sie schaffen keine entsprechendenweitermachen und dass wir weiter gestalten wollen. Vie- Rahmenbedingungen für die mittelständische Wirtschaft. les ist in diesem Bereich in der Tat noch zu tun. Die Si- Das habe ich Ihnen vorgeworfen. tuation im Osten ist angesprochen worden. Dort ist das duale System immer noch nicht so richtig in Schwung ge- In der Tat gibt es im Osten Deutschlands zum Glück kommen. Es entwickelt sich. auch leistungsfähige Betriebe. Nur ist leider deren Anzahl viel zu gering, um ausreichend Arbeits- und Ausbildungs- Mehr als 50 Prozent der Auszubildenden erlernen Be- (B) plätze insbesondere für junge Menschen zu schaffen. Eine rufe, in denen nur 25 Prozent der Berufstätigen beschäf- (D) Chancengleichheit ist nicht gegeben, wenn Sie allein an tigt sind. Die Konzentration auf geschlechtstypische Mo- die Eigenkapitaldecke ostdeutscher mittelständischer Un- deberufe ist unverändert hoch. Die Quote der Ausbil- ternehmen denken. dungsabbrecher liegt bei 25 Prozent und ist immer noch Ich habe genügend Vorschläge vorgetragen. Sie haben sehr hoch. Häufig ist es so, dass diese Menschen später uns ja vorgeworfen, wir hätten nicht genügend Vor-keine zweite Chance bekommen. schläge. Ich habe deutlich gemacht, dass das JUMP-Pro- Kritisches lässt sich sicherlich auch über die Qualität gramm, insbesondere das Sonderprogramm für die neuen der Ausbildung sagen. Kreatives Denken und Handeln, Bundesländer wichtig ist und dass ich das sogar unter- soziale Kompetenz, Team- und Kommunikationsfähigkeit stütze, dass dies aber nicht die Lösung des bestehenden kommen in der Ausbildung häufig zu kurz. Lernen Problems ist. Das ist der Punkt. lernen – eine Grundvoraussetzung in der Wissensgesell- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) schaft – wird leider noch etwas vernachlässigt. Aber ge- rade diese Herausforderungen erfordern eine koordinierte Wir brauchen eine Mittelstandspolitik, die sich sehen Anstrengung, sowohl von der politischen Seite als auch in lassen kann. Eine solche Politik der Bundesregierung ver- missen wir. Sie zocken doch immer nur diejenigen ab, die den Betrieben vor Ort, in den Ausbildungsstätten. Was wir fleißig sind und ihr Geld in Ausbildungs- und Arbeits- brauchen, sind unkonventionelle, neue Lösungen, neue plätze investieren. Ideen, neue Gestaltungskonzeptionen. Wenn dann aber Vorschläge gemacht werden wie die Wiedereinführung (Widerspruch bei der SPD und dem von Kopfnoten in den Schulen zum Beispiel, dann ist das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ein Armutszeugnis für die Politik. Das in dieser Form in Schauen Sie sich doch Ihre Steuerreform an! Diese Poli- die Diskussion zu bringen war von der Frau Merkel nicht tik können wir als F.D.P. nicht unterstützen. besonders intelligent. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hans-Werner Bertl [SPD]: Das ist ja lächerlich! – sowie bei Abgeordneten der SPD) Weitere Zurufe von der SPD) Zukunftsfähig sein heißt, auch Neues zu denken. Ein Ansatz liegt in der Modularisierung: Module als Quali- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als fikationsbausteine. Mich wundert es, dass die Opposition nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Ekin Deligöz ausgerechnet jetzt – da wir längst darüber reden und ver- vom Bündnis 90/Die Grünen. suchen, das auszugestalten – auf die Idee kommt, das 9656 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Ekin Deligöz (A) Ganze aufzugreifen. Wo waren Sie denn in den vergange- die Informationstechnologien, intelligente, vielseitige(C) nen Jahren? Konnten Sie in Ihrer Regierungszeit denn Mobilitätskonzepte und innovative soziale Dienstleistun- nichts in diesem Bereich tun? Warum fällt es Ihnen aus- gen – das sind die Ausbildungsstätten der Zukunft, das gerechnet jetzt ein, eine Modernisierungsphase einzulei- sind die Arbeitsmärkte der Zukunft. ten, wenn wir längst dabei sind? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) und bei der SPD) In diesen Bereichen entstehen nicht nur Jobs, sondern Einzelne Firmen wie Siemens haben mit der Modula- auch Ausbildungs-, Fortbildungs- und Weiterbildungs- risierung schon gute Erfahrungen gemacht, auf die wir plätze. Dadurch dass heute junge Leute in ihrem Studium, auch zurückgreifen. Dabei ist es wichtig, nicht bei der in ihrer Ausbildung nicht mehr auf Dinosauriertechnolo- Ausbildung stehen zu bleiben, sondern auch die Fort- und gien wie die Atomkraft zurückgreifen müssen, sondern Weiterbildung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an- sich mit neuen Technologien beschäftigen können, haben zugehen. Wichtig sind auch Flexibilität und Transparenz: sie viel mehr Möglichkeiten der Entwicklung und Gestal- Eine Werkzeugmacherin von heute muss sich morgen zu tung. Sie können viel kreativer sein und haben mehr Mög- einer Kfz-Meisterin ausbilden lassen können, ohne die ge- lichkeiten. samte Ausbildung wiederholen zu müssen. Gleiches gilt für die Ausbildungsabbrecher. Auch sie müssen eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Chance bekommen, ihre Qualifikation in die neue Aus- und bei der SPD) bildung einzubringen, ohne von vorne anfangen zu müs- Was wir in diesem Land brauchen, sind Handwerker, sen. Wir dürfen diese Debatte nicht auf die Leistungsstar- die Experten für Solaranlagen und für die intelligente ken reduzieren. Nutzung von Biomasse und Erdwärme sind. Wir brauchen Wenn wir über Modularisierung reden, dann müssen Spezialisten für ingenieurtechnische Grundlagen, die auch wir von vornherein ein paar Eckpunkte festhalten: Modu- Software entwickeln können. Wir brauchen Ingenieure, larisierung darf nicht zu einer Qualitätsminderung der Be- die das Zweiliterauto und umweltfreundliche Kraftstoffe rufsausbildung führen. entwickeln. Nicht zuletzt brauchen wir engagierte junge (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Leute, die optimistisch in die Zukunft sehen und neue Wege bei den sozialen Dienstleistungen gehen. Es müssen klare Linien bestehen, wie die Ausbildung ab- laufen muss, damit ein vollwertiger Berufsabschluss ge- Dafür stellt diese Regierung heute und auch in Zukunft währleistet ist. Überhaupt nicht infrage stellen wir dabei die Weichen. Um es bewusst zu unterstreichen: Wir stel- (B) das duale Ausbildungssystem. Es hat sich bewährt. Was len in der Koalition die Signale auf Grün. (D) wir in diesem Bereich brauchen, ist nicht ein Ersatz, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sondern eine Weiterentwicklung in Verbindung mit ei- und bei der SPD) ner Qualitätssicherung. Nicht zuletzt sind die Harmoni- sierungsbestrebungen auf europäischer Ebene wichtig. Wir müssen kompatibel werden mit dem Ausland; dann Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als können wir auch für unser Land einen Nutzen daraus zie- nächste Rednerin hat die Kollegin Maritta Böttcher von hen. der PDS-Fraktion das Wort. Eine gute Ausbildung findet allerdings nicht in einem luftleeren Raum statt. Eine gute Wirtschafts- und Techno- Maritta Böttcher (PDS): Herr Präsident! Liebe Kolle- logiepolitik ist die Grundlage. Da setzt bei uns die Mittel- ginnen und Kollegen! Das Erste, was mir in den dies- standspolitik an. jährigen Debatten zum Berufsbildungsbericht auffiel, war (Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: die Geschlossenheit, mit der die Ergebnisse durch den Fangen Sie mal an!) Hauptausschuss des Bundesinstituts für Berufsbildung aufgenommen wurden. Da fragt sich doch: Wo ist das kri- Wir haben in diesem Bereich Akzente gesetzt. tische Potenzial der vergangenen Jahre geblieben? Oder (Zuruf von der CDU/CSU: Wo denn?) steht es mit der Ausbildung wirklich schon zum Besten, wenn die Bilanz durch das Sofortprogramm verbessert Noch vor wenigen Jahren sind die Solarzellenhersteller werden konnte? Lediglich einige Abgeordnete der SPD- aus Deutschland ausgewandert. Was passiert heute? NRW Fraktion unternahmen einen zaghaften Versuch, die Re- hat sich seit der Regierungsbeteiligung der Grünen bei der gierung an die Ausbildungsumlage zu erinnern, die erho- Solarkapazität von null an die Bundesspitze katapultiert. ben werden sollte, wenn die Wirtschaft ihre Lehrstellen- Das ist erfolgreiche Mittelstandspolitik. zusage nicht einhält. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Obwohl in bekannter Weise mit den Unschärfen der und bei der SPD) Statistik hantiert wird – diese Hinweise gab es auch schon Das 100 000-Dächer-Programm sowie das Energie- zu Zeiten des Herrn Rüttgers –, kommt auch die neue Re- einspeisungsgesetz sind so erfolgreich, dass sie jegliche gierung nicht um das Eingeständnis herum, dass die Zahl Erwartungen sprengen. Die Erzeugung regenerativer Ener- der von den Betrieben abgeschlossenen Ausbildungsver- gien, die Energieerzeugung aus Sonne, Wind und Wasser, träge in den alten Ländern um 0,5 Prozent und in den Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9657

Maritta Böttcher (A) neuen Ländern um 5 bis 10 Prozent zurückgegangen ist. Aus- und Weiterbildung im Bündnis für Arbeit angenom- (C) Zudem muss man in diesem Zusammenhang bedenken, men hat – kommt zu gravierenden Schlussfolgerungen dass in der Berufsbildungsstatistiknicht zwischen be- hinsichtlich der Folgewirkungen einer konzeptionslosen, trieblichen und außerbetrieblichen Ausbildungsverhält- unabgestimmten staatlichen Förderpolitik. Die Autoren nissen differenziert wird – das ist einer der wenigen Kri- sprechen von einer „Förderfalle“, in die sich die staatliche tikpunkte, die im Hauptausschuss übrig geblieben sind – Berufsbildungspolitik hineinbewegt: Zum einen bilden und überdies auch die betriebliche Ausbildung vom Steu- sich bei einer zunehmenden Zahl von Unternehmen Ver- erzahler gesponsert wird. Das dürfte doch ein Alarmsig- haltensmuster heraus, für die die staatliche Förderung be- nal sein. Auf jeden Fall – da haben Sie Recht, Frauruflicher Erstausbildung nicht mehr nur eine Chance zu Bulmahn – ist dies kein Grund, sich zurückzulehnen. Mitnahmeeffekten, sondern eine Gelegenheit regulärer Einnahmeerzielung ist. Zum anderen führt die staatliche Mit Sicherheit ist diese Situation ein weiteres Indiz dafür, dass die politischen Instrumente, welche die Ar- Förderung zu einer Berufsstruktur der Auszubildenden, beitgeber zwingen, ihre Lehrstellenversprechen einzuhal- die in offenem Widerspruch zu den langfristigen Interes- ten, nicht allein Appelle und Bündnisgespräche sein kön- sen der Jugendlichen und der Wirtschaft des Landes selbst nen. steht. (Beifall bei der PDS) Eben dieser letzte Punkt sollte doch allen, die wie- derum Sonderprogramme zur Überwindung der Lehrstel- Wer sich heute Wettbewerbsvorteile verschafft, indem er lenlücken konzipieren, schwer zu denken geben. Wenn in an der Ausbildung spart, ruft morgen nach Green Cards, der Berufsstruktur der Auszubildenden jene dominieren, weil der Nachwuchs fehlt. Derweil werden mit immer für die unter allen denkbaren Annahmen nur ein begrenz- neuen Sofortprogrammen oft konzeptionslos Jugendliche ter bis sehr begrenzter Bedarf zu erwarten ist, bzw. jene beschäftigt und, wenn überhaupt, wieder in den falschen dominieren, bei denen die Ausbildung nur sehr geringe Berufen ausgebildet. Mit den viel gepriesenen Vorzügen Nettokosten verursacht – wenn sie nicht sogar deutliche des dualen Systems hat das alles schon lange nicht mehr Nettoerträge erbringt –, so kann hier wohl kaum noch die viel zu tun. Rede von „Jugend mit Perspektive“ sein. Die Verstaatlichung der Berufsausbildung schreitet Deutlich unterrepräsentiert sind demgegenüber Berufe weiter voran. In Brandenburg sind mittlerweile übermit einer hohen Verwendungsbreite der erworbenen Fer- 80 Prozent der betroffenen Ausbildungsplätze staatlich tigkeiten und Kenntnisse sowie die Vorbereitung auf subventioniert. Politik verkommt zum Löcherstopfen im Tätigkeiten mit hohem Wertschöpfungspotenzial. Hier Schlepptau der Wirtschaft, sowohl in der Ausbildung als wirken sich vor allem unzureichende Ausbildungskapa- auch bei der Behebung des aktuellen und künftig zu er- (B) zitäten großer Teile der Industrie negativ aus. (D) wartenden Fachkräftemangels. Politik ohne Perspektive wird einfach in „Jugend mit Perspektive“ umdefiniert und Angesichts des Förderdschungels, der Auszubildende das Problem ist gelöst. erster, zweiter und dritter Klasse produziert, der die Gren- zen von Ausbildung, Praktika und Erwerbstätigkeit zu- Aber so einfach geht es offensichtlich doch nicht. Auch nehmend verwischt und so der Ausnutzung Auszubilden- wenn die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitfor- schung des JUMP-Programmsnur tröpfchenweise der als billige Arbeitskräfte Vorschub leistet, ist es drin- durchsickern, wird schon deutlich, dass weder Arbeits- gend notwendig, die Ausbildungsqualitätendlich zur noch reguläre Ausbildungsplätze in nennenswertem Um- Chefsache zu machen. fang zusätzlich geschaffen wurden. Von den befragten Ju- Das Strukturproblem im Osten ist keinesfalls – das wis- gendlichen, die dieses Programm bereits bis November sen hier alle; das ist ja auch schon deutlich geworden – 1999 verlassen hatten, sind zwischen 13 und 35 Prozent durch Programme zu lösen. Dieses Problem ist nur lösbar, wieder arbeitslos. Allerdings liegt der Anteil der Über- wenn sich alle Verantwortlichen die Frage beantworten: gänge in berufliche Ausbildungen bei bis zu 50 Prozent Durch welche Maßnahmen kann es erreicht werden, dass und in Erwerbstätigkeit bei zwischen 22 und 48 Prozent; die Wirtschaft Bedingungen vorfindet, die sie ermutigt, auch das muss selbstverständlich gesagt werden. im Osten ein produzierendes Gewerbe zu schaffen? Die Vollends absurd wird das Ganze aber, wenn die Fun- duale Ausbildung verkommt ansonsten zur Farce; auch damentalkritik am Sofortprogramm ausgerechnet von den das wissen wir hier im Saal alle. Damit ich richtig ver- Arbeitgeberverbänden formuliert wird: außerbetriebliche standen werde: Es geht mir nicht um fehlendes Engage- Ausbildung ohne Beschäftigungschancen, Konkurrenz ment der in den Ausbildungszentren Tätigen; denn dieses staatlich finanzierter Wunschausbildungen gegen weniger ist sehr groß. Aber auch sie können dieses Strukturpro- attraktive Ausbildungsplätze in Kleinbetrieben sowieblem nicht lösen, weil sie daran nicht herankommen. Bindungen von Ausbildungskapazitäten in Betrieben Lassen Sie mich abschließend noch auf eine Reihe von durch Praktika des Sofortprogramms. Reformvorschlägen eingehen, die dieGEW derzeit im Ich möchte in diesem Zusammenhang auf ein beson- Zusammenhang mit dem Berufsbildungsgesetz und der deres Problem aufmerksam machen – einige haben das Handwerksordnung diskutiert. Dort geht es um Kernfra- schon angesprochen –: Eine Studie zur Evaluierung der gen wie die Dominanz der Wirtschaft, die Stellung der Be- Ausbildungsprogramme in Sachsen-Anhalt – ein Thema rufsschule, Struktur und Gestaltung der dualen Ausbil- übrigens, dem sich inzwischen auch die Arbeitsgruppe dung sowie die Einbeziehung anderer Ausbildungsgänge. 9658 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Maritta Böttcher (A) Ausgangspunkt der Analysen ist die Feststellung, dass Die Anstrengungen im Bündnis fürArbeit müssen am (C) sich die Berufsbildung in Deutschland de facto zu einem besten im vergleichbaren Rahmen verstärkt werden. Das Mischsystem von Angebotstypen entwickelt hat, die un- sind unsere Leistungen als Bundesregierung. Ich frage die terschiedlichen Regelsystemen zugeordnet sind, quantita- Opposition: Wo sind Ihre Leistungen? Noch nicht einmal tive Defizite, fehlende Auswahlmöglichkeiten, ungleiche der Zukunftsminister a. D., Herr Rüttgers, bequemt sich Akzeptanz, heterogene Ausbildungsbedingungen, feh- ins Plenum, wenn es um seinen ehemaligen Zuständigkeits- lende Transparenz, fehlende Anschlussfähigkeit und eu- bereich geht. Er scheint nach Indien gefahren zu sein oder ropäische Kompatibilität aufweisen und durch eine un- irgendwohin, wo er gerade eine Festplatte oder Ähnliches gezielte, Nachfrage-, Bedarfs- und Qualitätsaspekte außer sucht. Acht lassende staatliche Berufsbildungs- und Förderpoli- (Beifall der Abg. Ekin Deligöz tik gekennzeichnet sind. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die Antwort der PDS auf die Frage „Wozu eigentlich Wir alle wissen, dass Notprogramme allein kein Fun- Ausbildung, wenn sie auf dem Arbeitsmarkt sowieso dament für eine erfolgreiche berufliche Zukunft der jun- nichts bringt?“ kann nicht im Abbau von Bildungsmög- gen Menschen sein können. JUMP ist in die zweite Runde lichkeiten nach dem Motto „Eigenverantwortung und gegangen, weil die Bundesregierung ihre Aufgaben ernst Selbststeuerung“ bestehen. Wir fordern einen weiteren nimmt. Die jungen Menschen haben ein Recht auf diese Ausbau, eine Differenzierung und Verlängerung von Bil- Chance und wir müssen sie ihnen geben. Teil der Abma- dungsgarantien – und zwar für alle, nicht nur für die, „die chung ist aber auch, dass die Wirtschaft ihre Verantwortung können und wollen“. übernimmt und im Rahmen des dualen Ausbildungssys- (Beifall bei der PDS) tems ausreichend betriebliche Ausbildungsstellen zur Verfügung stellt. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- nächstem Redner gebe ich dem Kollegen Christian SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Simmert von Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Für die jungen Menschen, die vor der Tür stehen, reicht es nicht, Versprechungen zu machen. Sie wollen greifbare Christian Simmert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ergebnisse. Das heißt in diesem Falle: Sie wollen eine Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol- Lehrstelle, und zwar eine Lehrstelle in einem richtigen legen! Beim Berufsbildungsbericht geht es um die Start- Betrieb, in dem ihre Arbeit Sinn macht und in welchem sie chancen junger Menschen, um Ausbildung und die Mög- das Gefühl entwickeln können, ihren Platz in der Gesell- lichkeit für einen erfolgreichen Berufseinstieg. Dies ist schaft gefunden zu haben. Gerade in den neuen Bundes- (B) eine zentrale Voraussetzung für junge Frauen und Männer ländern sind inzwischen rund zwei Drittel der Lehrstellen (D) für die Teilhabe an unserer Gesellschaft. mit öffentlichen Mitteln gefördert. Beide Regierungsfraktionen waren und sind sich des- Dies bedeutet aber auch andere Probleme, zum Bei- sen bewusst. Deshalb war und ist das Ziel der rot-grünen spiel bei den Mitbestimmungsmöglichkeiten junger Men- Bundesregierung, das Recht auf Bildung möglichst für schen. Junge Menschen in der außerbetrieblichen Ausbil- alle Jugendlichen umzusetzen. dung dürfen zurzeit keine Jugendausbildungsvertretung gründen, da in den Betrieben kein Betriebsrat existiert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das wollen wir ändern und dafür werden sich Bünd- sowie bei Abgeordneten der SPD) nis 90/Die Grünen durch die Novellierung des Betriebs- Wir haben dazu mehrere wesentliche Schritte getan. verfassungsgesetzes einsetzen. Einer der zentralen ist und bleibt dasSofortprogramm (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Abbau der Jugenderwerbslosigkeit. Das ist an die- sowie der Abg. Maritta Böttcher [PDS]) ser Stelle schon angesprochen worden. Mit dem Einsatz von zum zweiten Mal 2 Milliarden DM hat Rot-Grün Die vor einem Monat veröffentlichteShell-Jugend- deutlich gemacht, was uns die Bekämpfung der Jugend- studie hat die Verbindung zwischen der Perspektivlosig- erwerbslosigkeit wert ist. Entsprechend erfreulich sind keit junger Menschen und ihren Möglichkeiten zur Teil- die statistischen Zahlen. Das Plus auf dem Lehrstellen- habe an Entscheidungen deutlich gemacht. Es geht eben markt kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass nicht nur um die Bildung einer eigenständigen Existenz- weitere Anstrengungen gerade in der beruflichen Bildung sicherung. Es geht auch um die Selbst- und Mitbestim- nötig sind. mung von jungen Menschen in Betrieben. Die Bundesregierung ist hier in Vorleistung getreten. (Beifall der Abg. Michaele Hustedt Wir reden von alleine 27 800 Ausbildungsplätzen im [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Jahre 1999, die auf JUMP zurückzuführen sind. Wir re- Um die Ausbildungssituation zu verbessern, müssen den aber auch von der Vorreiterrolle des öffentlichen wir aber auch die Beratungsstrukturen für Jugendliche Dienstes, denn die rot-grüne Bundesregierung hat ihr ausweiten. Gerade junge Frauen wählen aus der gesamten Ausbildungsplatzangebot im Bereich der Bundesverwal- Berufspalette von circa 360 Ausbildungsberufen immer tung 1999 um 12 Prozent erhöht. noch eher einen klassischen Frauenberuf. So ergreifen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- über die Hälfte von ihnen nach wie vor einen der zehn SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) häufigsten Frauenberufe. Nur gut ein Drittel ihrer männ- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9659

Christian Simmert (A) lichen Kollegen machen eine Ausbildung in einem der wenn sich herausstellt, dass dies fast ausschließlich auf(C) zehn häufigsten Männerberufe. Diese Zahlen zeigen, dass die Ausweitung der öffentlich finanzierten Ausbildung, wir hier nach wie vor Initiative ergreifen müssen. insbesondere auf das zeitlich begrenzte Sofortprogramm JUMP zurückzuführen ist. Es gibt sogar Situationen, in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN denen sich das JUMP-Programmals kontraproduktiv sowie bei Abgeordneten der SPD) erwiesen hat. So haben Ausbildungsbetriebe aufgrund Der zurzeit viel debattierte IT-Bereich muss sich die- dieses Programms weniger betriebliche Ausbildungs- sen Herausforderungen ebenfalls stellen. Frau Ministerin plätze angeboten. Bulmahn leistet hier eine sehr gute Arbeit, unter anderem mit der in diesem Bereich wegweisenden Aktion „Frauen (Christian Simmert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ans Netz“. NEN]: Das liegt natürlich an uns!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Auf diese Art und Weise sind tragfähige Strukturen zer- sowie bei Abgeordneten der SPD) stört worden. Das kann so nicht bleiben. Meine Damen und Herren, der Berufsbildungsbericht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 1999 macht deutlich, dass wir hinsichtlich der Ausbil- neten der F.D.P. – Christian Simmert [BÜND- dungsplatzsituation noch lange nicht über den Berg sind NIS 90/DIE GRÜNEN]: Welches ist die Alter- und aufpassen müssen, dass es hier nicht wieder zu einer native?) negativen Entwicklung kommt. Hier sind vor allen Din- Bei der Betrachtung der Ausbildungsplatzbilanz hin- gen die Betriebe gefragt. Die Bundesregierung hat ihre sichtlich regionaler und berufsstruktureller Gewichtun- Hausaufgaben gemacht. Die Wirtschaft hat – vor allen gen stellt man eine problematische Entwicklung fest. Die Dingen in einigen Bereichen – versprochen, ihre Haus- schwierige Situation in den neuen Bundesländern hat aufgaben zu machen. Versprechen allein reichen jedoch mein Kollege Dr. Jork bereits umfassend dargestellt. nicht aus. Der Staat darf nicht zum Ausfallbürgen für die Wirtschaft hinsichtlich ihrer Ausbildungspflicht werden. (Jörg Tauss [SPD]: Ein schweres Erbe!) Deshalb muss die Wirtschaft ihre Anstrengungen in Sa- Es gibt aber auch im Westen Defizite. So ist in Nordrhein- chen Ausbildung verstärken. Wir werden ihr dabei mit Westfalen in fast allen Sparten eine negative Entwicklung Nachdruck helfen. hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Lehrstellenange- Vielen Dank. bot und -nachfrage festzustellen. In Bayern und Baden- Württemberg dagegen werden teilweise freie Lehrstellen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN plätze nicht besetzt. Die Gründe dafür sind hinreichend und bei der SPD) (B) bekannt. (D) (Jörg Tauss [SPD]: Daran habe ich Zweifel!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Heinz Wiese von der CDU/CSU Dass wir in einigen Regionen eine positive Bilanz zie- Fraktion. hen können, haben wir den regionalen Netzwerken und den Ausbildungskonferenzen zu verdanken. Vor Ort (Jörg Tauss [SPD]: Herr Wiese, bleiben Sie wurden mit großem Engagement und Einsatz aller Betei- versöhnlich!) ligten die vielfältigen Aktivitäten gebündelt, und dadurch wurde ein besseres Ergebnis erzielt. Dafür möchte ich all Heinz Wiese (Ehingen) (CDU/CSU): Herr Präsident! denen, die sich an dieser Stelle engagiert haben, herzlich Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine der größ- danken. ten gesellschaftspolitischen Herausforderungen ist es – (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) auch Frau Ministerin hat in ihrer Rede großen Wert darauf gelegt, das deutlich zu machen –, jedem Ausbildungswil- Meine Damen und Herren, es ist ein großes Problem, ligen und Ausbildungsfähigen nach der Beendigung der dass immer noch durchschnittlich jeder fünfte Ausbil- Schulzeit eine Ausbildung und danach den Einstieg in das dungsvertrag vorzeitig aufgelöst wird. Diese Zahl ist na- Berufsleben zu ermöglichen. hezu gleich bleibend und viel zu hoch. Dies muss uns alle miteinander wachrütteln. Auch im Wirtschaftsministe- Vor dem Hintergrund der Globalisierung der Märkte, rium sollte darüber nachgedacht werden. dem rasanten Strukturwandel in der Berufs- und Arbeits- welt und nicht zuletzt dem jetzt stattfindenden Verdrän- Seit Jahren ist die Liste der Top Ten unter den Wunsch- gungswettbewerb werden die Lebensperspektiven junger berufen bei Jugendlichen – mein Vorredner hat schon da- Menschen zunehmend von Bildung und Ausbildung ge- rauf hingewiesen – nahezu unverändert. Daher muss sich prägt. Daran muss sich auch die berufliche Bildung mes- die Berufsberatung viel stärker als bisher am veränder- sen lassen. So der Berufsbildungsbericht. ten Bedarf orientieren und die jungen Menschen motivie- ren, eine bedarfsgerechte Ausbildung anzustreben. Lassen Sie mich zunächst mein Augenmerk auf die Ge- samtentwicklung richten. Die Anzahl der unversorgten Positiv zu bewerten ist die Tatsache, dass wir im Be- Jugendlichen konnte in diesem Jahr gegenüber dem Jahre reich der neuen und im Übrigen auch schon von Jürgen 1999 verringert werden. Diese vordergründig positiveRüttgers eingeführten Bereiche IT- und Kommunikations- Entwicklung ist dann ganz anders zu bewerten – diesberufe Steigerungsraten in überdurchschnittlichen Pro- wurde schon von vielen Vorrednern deutlich gemacht –, zentsätzen verzeichnen können. Den dort angebotenen 9660 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Heinz Wiese (Ehingen) (A) Stellen stehen allerdings zurzeit doppelt so hohe Zahlen Hälfte der Schulen im elektronischen Niemandsland an- (C) von Bewerbern, die in diesen modernen Informations- statt am Netz. Das ist ein Trauerspiel. technologien ausgebildet werden wollen, gegenüber. Da (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und besteht einiger Nachholbedarf. der F.D.P.) (Jörg Tauss [SPD]: Deswegen haben wir die Vereinbarung mit der Wirtschaft getroffen!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei diesem ange- sprochenen Verdrängungswettbewerb und aufgrund der Hier müssen wir alle miteinander schnell handeln. Im Be- Situation, dass die Jugendlichen individuelle Fähigkeiten sonderen müssen natürlich auch die jungen Unternehmer und Begabungen mitbringen, gibt es natürlich Gewinner in diesem Bereich aktiv werden. der Modernisierung und demzufolge auch Verlierer der Im Kommunikations- und IT-Bereich gibt es viele so Modernisierung. Gerade diese Modernisierungsverlie- genannte Senkrechtstarter, die ihr Unternehmen schnell rer sind unser Problem. und in kleinen Bereichen entwickelt haben. In diesen Be- Wir begrüßen es, dass im Bündnis für Arbeit neue reichen, in denen die jungen Unternehmer keine Quali- Wege gegangen werden fikation zum Ausbilden haben, sollten wir verstärkt dafür werben, dass sie sich an Ausbildungsverbünden beteiligen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) und dass damit natürlich über die Integration in gängige und wir nun auch neue Maßnahmen in diesem Bereich er- Wirtschafts- und Sozialstrukturen alle Möglichkeiten der kennen. Ausbildung ausgeschöpft werden. (Jörg Tauss [SPD]: Das wollten wir hören!) (Jörg Tauss [SPD]: Wer hat denn die Vereinba- rung gemacht, Herr Kollege? Die haben wir Durch die Verknüpfung von Ausbildungsvorbereitung doch gemacht!) und Berufsausbildung unter Einbeziehung betrieblicher Praktika, durch Qualifizierungsbausteine und durch die – Natürlich. Herr Tauss, das sind aber neue Wege, die wir Zertifizierung erreichter Teilqualifikationen können auch verstärkt gehen müssen. diesen schwer vermittelbaren Jugendlichen mit kogniti- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Deswegen gehen wir ven und sozialen Defiziten neue Wege eröffnet werden, die Wege ja auch! Sie haben sie nicht zustande und vor allen Dingen können sie besser motiviert werden, gebracht!) sich vor allem im Bereich deslebensbegleitenden Ler- nens zu engagieren. Frau Ministerin, ich bin Ihnen dank- Wir haben die Situation, dass sich sehr viele junge Un- bar, dass Sie auch darauf eingegangen sind. ternehmer in der IT-Branche durchaus mehr an der Aus- (B) (D) bildung beteiligen sollten, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Jörg Tauss [SPD]: Einverstanden!) Ich glaube, das ist eine der Grundkompetenzen, die wir und darauf möchte ich hinweisen. den jungen Menschen heute vermitteln müssen. (Jörg Tauss [SPD]: Deswegen reden wir mit Meine Damen und Herren, das duale Systemder Be- denen!) rufsausbildung in Deutschland insgesamt ist flexibel, aber der Berufsbildungsbericht weist natürlich mit Recht auf Meine Damen und Herren, wir haben in diesem Be- einige Defizite hin. Wir müssen uns alle anstrengen, das reich der Zukunftstechnologien ein erschreckendes Süd- duale System in Deutschland konkurrenzfähig zu machen Nord-Gefälle. Darüber muss hier noch einmal ein Wort und weiterzuentwickeln. gesagt werden. Dieses Gefälle zeigt sich bereits in den Investitionen an den Schulen. Dort muss nämlich begon- nen werden. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms : Herr Kol- lege Wiese, kommen Sie bitte zum Schluss. In Baden-Württemberg haben wir in den letzten Jahren von 1996 bis 1999 pro Schule durchschnittlich 20 000 DM in die neuen Medien investiert. Heinz Wiese (Ehingen) (CDU/CSU): Ich komme zum Schluss. – Meine Damen und Herren, Ausbildung und (Jörg Tauss [SPD]: Oje!) Qualifizierung sind im europäischen und globalen Kon- Bereits Ende 1998 waren bei uns drei von vier Schulen am text zu sehen. Fremdsprachenkompetenz, Bereitschaft zur Netz. Im gleichen Zeitraum haben in Ländern wie Nie- Mobilität und natürlich auch die Bereitschaft, sich in die- dersachsen und Nordrhein-Westfalen diese Investitionen sem Bereich des lebensbegleitenden Lernens zu engagie- gerade einmal 20 Prozent davon betragen. ren, sind unverzichtbar. (Jörg Tauss [SPD]: Traue keiner Statistik, die Die Verbesserung der Zukunftschance der jungen Ge- du nicht selbst gefälscht hast, Kollege Wiese!) neration ist unsere gemeinsame Aufgabe. Unsere Jugend braucht verlässliche Partner. Wir wollen uns daran betei- – Man kann nachlesen, dass hier im Süden besondere ligen. Investitionen getätigt worden sind. Vielen Dank. Deshalb sitzen in denjenigen Ländern, in denen dieser Bereich vernachlässigt wurde, heute noch mehr als die (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9661

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich gebe die Diskussion um die Green Card ein Anstoß in den Köp- (C) dem Kollegen Willi Brase von der SPD-Fraktion dasfen der Menschen ist. Das ist gut so, meine Damen und Wort. Herren. (Beifall bei der SPD) (SPD): Guten Morgen, Herr Präsident! Willi Brase Wir nehmen aber auch gern kritisch zur Kenntnis, dass die Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle- Debatte um die Green Card zeigt, dass das Thema IT of- gen! Ich halte es für wichtig, kurz auf einige Punkte ein- fensichtlich ein Problem im Bereich von Bildung und For- zugehen, Frau Pieper, die Sie hier in den Raum gestellt haben. Wenn man über die Ausbildungssituation in Ost- schung ist. Auch dazu werden wir uns verhalten. deutschland redet und gleichzeitig im Haushaltsausschuss Wenn wir uns den Berufsbildungsbericht zu Gemüte das JUMP-Programm finanzpolitisch ablehnt, dann frage führen, so will ich meine Ausführungen auf einige we- ich mich, welche Perspektive Sie den jungen Leuten in nige, nach meiner Auffassung wichtige Punkte begrenzen. den neuen Ländern geben wollen. Wir halten die strategische Ausrichtung im Bündnis für (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Arbeit auf den Ausbildungskonsens für absolut richtig, DIE GRÜNEN – Cornelia Pieper [F.D.P.]: Er nicht nur weil er erfolgreich ist, sondern – Sie können das hat nicht zugehört!) an den Zahlen von Nordrhein-Westfalen erkennen – weil vor allen Dingen Ausbildungsplätze im betrieblichen Wenn es so ist, dass 90 Prozent der Personengesell- Bereich organisiert wurden. schaften im kleinen und mittelständischen Bereich weni- ger als 100 000 DM versteuerbares Einkommen haben, (Beifall bei der SPD) dann ist es richtig, dass wir den Einkommensteuersatz Es ist immer wieder gefordert worden: Macht mehr Aus- senken und den Grundfreibetrag erhöhen. Das ist unser bildung in den Unternehmen. Das ist richtig so. Nord- Politikansatz, und der ist richtig. rhein-Westfalen hat die Ausbildungsquote im Bereich der (Beifall bei der SPD – Ina Lenke [F.D.P.]: neu eingetragenen Ausbildungsplätze noch einmal um Das haben Sie danach gesagt!) 5,3 Prozent erhöht. Über das Thema Abzocken würde ich nicht so laut (Beifall bei der SPD) sprechen, denn viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- Wir haben weniger vollzeitschulische Ausbildungsplätze mer haben in den 90er-Jahren vor dem Hintergrund der als Baden-Württemberg oder Bayern, weil wir in Nord- Diskussion um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall rhein-Westfalen gesagt haben: Wir wollen in die Betriebe mitbekommen, was Abzockerei ist. Deshalb haben sie gehen, denn dorthin müssen die jungen Leute, dort lernen (B) sich 1998 anders entschieden. Das ist richtig so. sie am meisten. (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD) DIE GRÜNEN)

Jetzt möchte ich Ihnen etwas zur notwendigen Flexibi- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms : Herr Kol- lisierung in der beruflichen Ausbildung sagen. Auch das lege Brase, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin hat unsere Ministerin sehr deutlich angesprochen. Zum 1. Lenke? August 2000 werden neue Ausbildungsordnungenbe- schlossen: Chemielaborant, Biologielaborant und Lackla- borant. Dort haben wir eine Flexibilisierung vorgenom- Willi Brase (SPD): Ja. men, wie wir sie immer diskutiert haben. Ich will Ihnen das an den Bausteinen verdeutlichen: Der Beruf Chemie- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte laborant wird 28 Bausteine haben, der Beruf Biologiela- schön, Frau Lenke. borant 21 Bausteine und der Beruf Lacklaborant 18 Bau- steine. Ich glaube, dass das der richtige Weg ist. Diesen (Jörg Tauss [SPD]: Die Kollegin kann lernen!) Weg werden wir weitergehen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ina Lenke (F.D.P.): Von Ihnen nicht. – Ich möchte die DIE GRÜNEN) Frage stellen, ob Sie immer noch die Ausbildungsplatz- abgabe in Ihrem Konzept haben. So wie Sie die Hand- Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kol- werker und den Mittelstand loben, müssten Sie von dem, legen, wenn man sich die Debatten der letzten Tage zu was Sie vorgeschlagen haben, jetzt Abstand nehmen. Wie Gemüte führt, dann muss man sagen, dass die Diskussion ist das mit der Ausbildungsplatzabgabe? Wie stehen die um die Green Card interessante Aspekte mit sich bringt. Bildungspolitiker dazu? Die alte Bundesregierung und insbesondere ihr Zukunfts- minister Willi Brase (SPD): Herzlichen Dank für Ihre Frage. (Jörg Tauss [SPD]: Der Rückwärtsminister!) (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) haben doch Jahre geschlafen. Ich werde darauf zurück- kommen und dies begründen. Ich will Ihre Frage sehr gern beantworten. Die neue Bundesregierung hat mit der IT-Offensive im Wir sind derAuffassung, dass wir im Bereich der beruf- letzten Jahr die Zeichen der Zeit erkannt. Ich glaube, dass lichen Bildung eine strukturelle Erneuerung vorantreiben 9662 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Willi Brase (A) müssen und dass deshalb die Forderung nach der Umla- vom derzeitigen Zustand – den Einsatz der Umlagefinan- (C) gefinanzierung, vor allem von der PDS gestellt, zum ge- zierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt abgelehnt, so wie genwärtigen Zeitpunkt nicht den Kern des ich Pro- es auch in der Vergangenheit getan habe. Ich möchte blems trifft. Ihnen das begründen, damit Sie es verstehen. (Widerspruch bei der PDS) Wir haben im Rahmen der beruflichen Bildungspolitik Wir glauben, dass wir die Probleme mit strukturellen Re- in der Region – das freut mich an diesem Ansatz beson- formen wesentlich besser lösen können und dass wir da- ders – ein Modell von unten nach oben entwickelt und durch das duale System auch zukunftssicher machen kön- festgestellt, dass es besser ist, sich gemeinsam zusam- nen. menzusetzen, statt Spiegelfechtereien über ideologische Grundsätze in der beruflichen Bildung zu führen. (Zuruf von der CDU/CSU: Frage beantwor- ten!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) – Moment, bleiben Sie ganz ruhig! Deshalb haben wir die Umlagefinanzierung abgelehnt. Die Zahlen und die Arbeitsweise in Nordrhein-Westfalen Weil wir in Nordrhein-Westfalen, wo ich herkomme, und in anderen Bundesländern geben uns Recht, den ein- schon 1994, meine Damen und Herren von der Opposi- geschlagenen Weg fortzuführen. Das halte ich für richtig. tion, im Rahmen eines Ausbildungskonsenses gemeinsam für genügend Ausbildungsplätze gesorgt haben, führen Ich antworte konkret auf Ihre Frage: Wir werden der- wir dort zurzeit auch keine Debatte über die Umlage-zeit die Umlagefinanzierung nicht einführen. finanzierung. Ich muss trotzdem feststellen, dass die Ver- besserung der Ausbildungsstellensituation außerhalb des Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms : Herr Kol- IHK-Bereichs vor allen Dingen durch die Bereitstellung lege Brase, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin öffentlicher Mittel, unter anderem durch JUMP, zustande Bulling-Schröter von der PDS-Fraktion? gekommen ist. Ich fordere auch heute die Wirtschaft auf, sich stärker für mehr Ausbildungsplätze einzusetzen. Wenn die Wirtschaft das tut, dann müssen wir über eine Willi Brase (SPD): Sehr gerne. Umlagefinanzierung nicht mehr diskutieren. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte DIE GRÜNEN) schön, Frau Bulling-Schröter.

(B) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms : Herr Kol- Eva-Maria Bulling-Schröter (PDS): Kollege Brase, (D) lege, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage der Kolle- Sie haben behauptet, dass gerade die PDS für die Umla- gin Lenke? gefinanzierung sei. Ist Ihnen bekannt, dass die Gewerk- schaften seit den 70er-Jahren die Einführung einer Umla- (Jörg Tauss [SPD]: Wenn die so gut ist wie die gefinanzierung fordern, dass führende Gewerkschaften letzte!) diese Forderung nach wie vor aufrechterhalten und dass sowohl Ihre Partei in den Beschlüssen vom letzten Partei- Willi Brase (SPD): Sehr gerne. tag als auch die Jusos diese Forderung erheben? (Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] [CDU/ Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau CSU]: Das ist eben „untausslich“! – Jörg Tauss Lenke, bitte. [SPD]: „Untausslich“? Das ist schön!)

Ina Lenke (F.D.P.): Herr Kollege, Sie haben auf meine Willi Brase (SPD): Verehrte Kollegin, mir ist bekannt, Frage nur ausweichend geantwortet. Ich konnte Ihrer Ant- dass es auch innerhalb der Gewerkschaften unterschiedli- wort nur entnehmen, dass Sie derzeit in Nordrhein-West- che Positionen zur Ausbildungsplatzumlagefinanzierung falen keine Ausbildungsplatzabgabe einführen wollen. gibt. Es gibt nicht nur Gewerkschaften, die eine Umlage- finanzierung fordern; vielmehr haben bestimmte Gewerk- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie sollen doch fra- schaften eine andere Position zur Umlagefinanzierung als gen!) zum Beispiel die IG Metall. Mir ist bekannt, dass die For- Sehen Sie das länderspezifisch? Meine Frage ist: Treten derung nach Einführung einer Umlagefinanzierung auch Sie persönlich weiter für eine Ausbildungsplatzabgabe innerhalb der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ein oder nicht? Ihre Antwort auf meine letzte Frage hat erhoben wird. Aber das ändert nichts daran, dass wir der- dazu wirklich nichts enthalten. zeit einen anderen politischen Weg gehen. Ich halte die- sen anderen politischen Weg bezüglich der Zurverfü- (Beifall bei der F.D.P. – Hans-Peter Repnik gungstellung von Ausbildungsplätzen für richtig. Deshalb [CDU/CSU]: Ja oder nein!) brauchen wir derzeit keine Umlagefinanzierung. (Ina Lenke [F.D.P.]: Derzeit!) Willi Brase (SPD): Verehrte Kollegin, ich habe – nachweislich des Protokolls – für die SPD-Bundestags- – Hören Sie doch genau zu. – Aber eines muss völlig klar fraktion und auch persönlich hier und heute – ausgehend sein: Wenn das derzeitige duale System erhalten werden Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9663

Willi Brase (A) soll, dann müssen Wirtschaft, Handwerk und die freien sen Sie, was das Schönste ist? Auch die Menschen fühlen (C) Berufe genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung stel- sich durch mich sehr gut vertreten. len. Das wollen und werden wir erreichen. (Peter Rauen [CDU/CSU]: Ob das stimmt?) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – Davon können Sie überzeugt sein. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ina Lenke [F.D.P.]: Das ist doch Erpressung!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich bitte, Die Wirtschaft, vor allen Dingen die Industrie- und jetzt fortzufahren. Handelskammern – ich hatte das eben schon gesagt –, hat in vielen Regionen und in vielen Bundesländern die im (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Rahmen des Bündnisses für Arbeit von ihr gegebenen Zu- Heute ist Freitag und wir sind mit einer sehr langen Ta- sagen eingehalten. Das Handwerk, die freien Berufe und gesordnung belastet. Es wäre nicht gut, wenn wir heute andere Berufsgruppen haben das nicht getan. Ich glaube, Nachmittag mit sehr wenigen Zuhörern hier sitzen wür- dass wir das kritisch würdigen müssen. Dies kann kein den. Dauerzustand sein. Darüber haben wir eben diskutiert.

Wir halten es für richtig, dass wir vor allem die struk- Willi Brase (SPD): Es ist richtig – das ist gesagt wor- turelle Erneuerung der beruflichen Bildung vorantreiben. den –: Wir brauchen mehr denn je zukunftsweisende Be- Ich verweise bewusst auf das Stichwort Green Card. Der rufe. Die Schwerpunkte liegen auf der Hand und sind entscheidende Effekt der Green-Card-Diskussion besteht auch im Berufsbildungsbericht aufgezeigt worden: Ge- meiner Meinung nach darin, dass wir uns noch einmal der sundheit, Umwelt, Kultur, Freizeit, Tourismus, Trans- strukturellen Entwicklung und der Defizite bei der beruf- porte, Verkehr und Logistik. Nicht zu vergessen: Insbe- lichen Bildung erinnern. sondere gehören der IT- und der Mediensektor dazu. Nicht zuletzt wird die Biotechnologie zunehmend ein Zu- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms : Herr Kol- kunftsfeld. Auch auf diesem Gebiet müssen und werden lege Brase, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage,wir Ausbildungsberufe entwickeln. Es ist zudem richtig, diesmal des Kollegen Niebel? dass die Bundesregierung der Verbesserung der Früh- erkennung ein ganz neues Gewicht beigemessen hat. Sie hat dieses wichtige Feld fest im Blick. Willi Brase (SPD): Sehr gerne. Ich möchte betonen: Strukturelle Erneuerung ist auch angesprochen, wenn wir uns dasBerufswahlverhalten (B) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte junger Frauen anschauen. Wenn Sie einmal die Untersu- (D) schön, Herr Niebel. chung der Bund-Länder-Kommission und ihre Anregun- gen betrachten, dann werden Sie feststellen, dass noch ei- Dirk Niebel (F.D.P.): Herr Kollege, Sie haben für die niges zu tun ist. Vergangenheit und für die Gegenwart eine Ausbildungs- Die Möglichkeiten des Zugangs von Frauen zu Com- platzabgabe als nicht sinnvoll erachtet. Darin stimme ich putern und Internet sind zu verbessern. Die Aktualisie- Ihnen voll und ganz zu. Jetzt sehe ich allerdings, dass Sie rung der Richtlinien zur Koedukation in Schulen und die nicht nur Landesjugendsekretär beim DGB gewesen sind, Verankerung geschlechtsspezifischer Gesichtspunkte bei sondern dass Sie auch Mitglied der ÖTV sind. Beide Or- der Berufsorientierung von Frauen, zum Beispiel im Me- ganisationen haben doch die Ausbildungsplatzabgabe für dienbereich, sind an der Tagesordnung. Wir begrüßen es, die Zukunft gefordert. Werden Sie jetzt die Gewerkschaft dass auch die Bund-Länder-Kommission den Ländern wechseln müssen? dies vorgeschlagen hat. Nicht zuletzt möchte ich in die- (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/CSU – sem Zusammenhang darauf verweisen, dass die Bundes- Lachen bei Abgeordneten der SPD und des regierung die Programme „Frauen ans Netz“ und „Frau BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und Beruf“ beschlossen hat. Bei aller gebotenen Vorsicht gegenüber kurzfristigen Willi Brase (SPD): Herr Niebel, nun machen Sie sich Modeentwicklungen ist eines unbestreitbar – wir sollten keine Gedanken über meine gewerkschaftliche Zukunft. das zur Kenntnis nehmen –: Der IT-Sektorund speziell Machen Sie sich vor allen Dingen keine Gedanken darü- das Internet werden das Arbeitsleben und unser Leben ber, dass ich meine gewerkschaftlichen Positioneninsgesamt tief greifend verändern und bestimmen. möglicherweise vergessen könnte. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Nehmen Sie eines zur Kenntnis: Die Gewerkschaften Ich habe in den letzten Tagen von der Opposition mehr- haben immer mit den Sozialpartnern, mit den Arbeitge- fach gehört, wir hätten gegenüber den USA einen Rück- bern, mit den Vertretern der berufsbildenden Schulen in stand. Ich gebe Ihnen in bestimmten Punkten Recht: Wir den berufsbildenden Ausschüssen zusammengearbeitet. haben einen gewaltigen Rückstand aufzuholen. Dieses Geschäft mache ich schon seit Jahren; von daher (Jörg Tauss [SPD]: Seit zwei Monaten!) weiß ich, was dort zu tun und zu lassen ist. Sie können also darauf setzen, dass ein Gewerkschaftswechsel nicht statt- Aber warum? Das so genannte H-1-B-Programm der finden wird. Ich fühle mich da sehr gut aufgehoben. Wis- US-Regierung im Rahmen des Non-Immigrant-Programs 9664 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Willi Brase (A) wurde als Reaktion auf den sich abzeichnenden Fachkräf- Die Schweden haben auf lange Sicht große Finanzmittel (C) temangel im IT-Bereich in den USA eingerichtet. Aber in Bildung und Forschung gesteckt mit dem Resultat, dass wann ist denn das geschehen? Das H-1-B-Programmihre Wirtschaft seit Jahren boomt und schwedische IT-Un- wurde Anfang der 90er-Jahre eingerichtet. Wenn ich es ternehmen weltweit mit an der Spitze stehen. richtig sehe: Damals waren Sie an der Regierung. Die alte Bundesregierung hat dagegen den Bildungs- Warum halten Sie uns jetzt die Leistungen der USA und Forschungsetat permanent gekürzt. Ich will es noch vor, obwohl Sie damals nichts gemacht haben? einmal deutlich sagen, weil mir mittlerweile nicht mehr klar ist, wofür die Union in dieser Frage steht. Der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ministerpräsident Müller aus dem Saarland möchte die Warum haben Sie damals diese Entwicklung in den USA Schaffung von zwei Ausbildungsplätzen pro Einsatz eines nicht erkannt? Green-Card-Mitarbeiters gesetzlich vorschreiben. Herr Rüttgers ist generell gegen die Green Card, wie wir wis- (Jörg Tauss [SPD]: Verschlafen!) sen. Herr Stoiber ist für die Green Card und für ein Ein- Haben Sie in der Regierung vielleicht geschlafen? wanderungsgesetz. Es wäre schön, in den nächsten Tagen zu erfahren, wofür die Union in dieser Frage eigentlich (Jörg Tauss [SPD]: Ja!) steht. Offensichtlich haben Sie auch diesen Reformbedarf ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rade im IT-Bereich, der schon damals erkennbar war, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nicht erkannt. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kol- (Jörg Tauss [SPD]: Genauso war es!) legen, wir werden die Reformen im Bereich der berufli- Noch eines, meine lieben Kolleginnen und Kollegen: chen Bildung anpacken. Das zeigt auch der Antrag, den Wo war denn der zuständige Minister in den letzten Jah- wir vorgelegt haben. Wir freuen uns auf fruchtbare Dis- ren? Es war doch Ihr Zukunftsminister, es war doch Herr kussionen im Ausschuss über diesen Antrag. Zeigen Sie Rüttgers, der diese Trends nicht erkannt hat. Mut zur Zukunft, unterstützen Sie uns, denn ich glaube, das ist der richtige Weg, den wir zu gehen haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte es noch einmal sagen: Die Entwicklung ei- nes Ausbildungsplatzkonsenses, geboren aus politischen Ich will es deutlich und direkt sagen: Ich möchte nicht Ansätzen und aus der Anerkennung der Realitäten in den näher auf die nach meiner Meinung schäbige und charak- Regionen, weitergeführt von der NRW-Landesregierung, terlose Hofierung des Rechtspopulismus durch Herrn hat vor allen Dingen zu einer großen Zahl betrieblicher (B) Rüttgers eingehen. Er hat ja auch die Kritik der Kirchen (D) Ausbildungsplätze geführt. Diesen Weg sollten und wer- massiv provoziert. Diese Kampagne, die in Nordrhein- den wir weitergehen. Westfalen gefahren wird, ist mit der katholischen Sozial- lehre oder mit der evangelischen Sozialethik, die Herr Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Stoiber auf Ihrem Essener Parteitag so leidenschaftlich als (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kompass ausgegeben hat, nicht vereinbar. Nein, die Kir- DIE GRÜNEN) chen haben sich zu Recht gegen diese Kampagne ge- wandt. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ab- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ekin schließend hat die Kollegin Ilse Aigner von der Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) CDU/CSU-Fraktion das Wort. Und dann erleben wir im Wahlkampf, dass dieser so genannte Zukunftsminister auch mit Ihrer Unterstützung, Ilse Aigner (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsi- Herr Merz, behauptet, zuständig für diese Entwicklung dent! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kol- sei nicht die damalige Bundesregierung gewesen, das sei legin Pieper hat schon angesprochen, dass es bemerkens- vielmehr Job der Landesregierung NRW. Ich stelle nur wert ist, dass wir den Berufsbildungsbericht 1999 im Ja- fest, liebe Kolleginnen und Kollegen: Die H-1-B-Rege- nuar 2000 beraten und verabschiedet haben und schon lung in den USA ist in Washington beschlossen worden vier Monate später der nächste Berufsbildungsbericht auf und nicht in den einzelnen amerikanischen Bundesstaa- der Tagesordnung steht. Entweder ist die Regierung so ten. Insofern war auch die damalige Bundesregierung ver- viel schneller geworden, was mich wundern würde, oder antwortlich. es könnte eventuell damit zusammenhängen, dass am (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sonntag in Nordrhein-Westfalen Wahlen stattfinden. Die zweite Variante scheint mir die wahrscheinlichere: Der Wenn man das betrachtet, muss man die Aussage tref- Bericht wird genutzt, um noch einmal kräftig Wahlkampf fen, dass die Technikfeinde von heute auf der rechten zu machen. Seite des Hauses sitzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Auch der Fall Schweden oder Finnland zeigt den großen Nachholbedarf Deutschlands in diesem Bereich. Nichtsdestotrotz ist natürlich nach wie vor festzuhal- In Schweden haben circa 45 Prozent der privaten Haus- ten, dass es zu begrüßen ist, dass Jugendliche eine Chance halte Internetanschlüsse, in Deutschland nur 17 Prozent. bekommen haben. Das ist keine Frage. Es stellt sich aber Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9665

Ilse Aigner (A) immer noch die Grundsatzfrage: Handelt es sich um nach- nehmen, miteinander, stellt man einen Unterschied von(C) haltige strukturelle Maßnahmen oder um Strohfeuer, die minus 28 000 zwischen Dezember 1999 und März 2000 irgendwann wieder erlöschen werden? Es handelt sich um fest. Die Zahl ist schlagartig heruntergegangen, man lediglich kurzfristige Maßnahmen. Der beste Beweiskönnte meinen, weil sich der Berichtszeitraum bis De- dafür ist ja, dass in den neuen Bundesländern 70 Prozent zember 1999 erstreckt. Dasselbe ist bezüglich der ju- der neu geschaffenen betrieblichen Ausbildungsplätze gendlichen Arbeitslosen anzumerken. Hier wurden im und bundesweit 40 Prozent der neu geschaffenen Plätze März 2000 453 000 registriert, im Dezember 1999 waren subventioniert sind. Das allein zeigt, dass es sich nicht um es dagegen 40 000 weniger. Auch hier ist ein schlagarti- eine nachhaltige Entwicklung, sondern um ein Strohfeuer ger Sprung zu erkennen. Man kann vielleicht davon aus- handelt, das irgendwann wieder erlöschen wird. Sie selbst gehen, dass der Bericht dementsprechend verfasst wurde, sehen das in Ihrem Bericht, den ich mir genau durchgele- um alles etwas schöner darzustellen als es in der Realität sen habe, auch sehr kritisch. Deshalb muss man bei den ist. grundsätzlichen Fragen immer wieder ansetzen. Gerade (Jörg Tauss [SPD]: Das sollte man nicht unter- die Wirtschaftspolitik kann man nicht außen vor lassen, stellen! Das haben wir bei Ihnen auch nicht ge- (Jörg Tauss [SPD]: Die ist recht erfolgreich!) tan!) besonders mit Blick auf die neuen Bundesländer, aber Des Weiteren stellt sich natürlich auch immer die Frage auch im Hinblick auf die Steuerreform. der Nachvermittlung, also wie viele Ausbildungsplatz- suchende im Zeitraum zwischen September und Dezem- Sehr geehrter Herr Brase, Sie reden zwar immer über ber nachvermittelt werden. Hier ist keine wesentliche Än- die Senkung des Spitzensteuersatzes. In diesem Zusam- derung zu erkennen. Es ist nach wie vor erfreulich, dass menhang muss ich aber einen anderen Punkt in Ihremin diesem Zeitraum circa 50 Prozent nachvermittelt wer- System ansprechen: Sie senken die Grenze, bei der der den konnten. Aber eine wesentliche Änderung zu den Jah- Spitzensteuersatz erreicht wird, von 120 000 auf 98 000 ren 1998 und 1999 ist hier nicht festzustellen. Schon 1997 DM ab. Damit verschweigen Sie geflissentlich, dass im- wurden ungefähr 50 Prozent nachvermittelt. mer mehr Steuerpflichtige wesentlich schneller von einer höheren Steuerprogression betroffen werden. Das ist je- (Jörg Tauss [SPD]: In meinem Wahlkreis minus doch gerade für den Mittelstand nach wie vor ein wesent- 25 Prozent! Das ist doch gar nicht schlecht!) liches Problem. – Ja, wunderbar, Herr Tauss. Sie sind ja bekannt für Ihre (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Die Fachar- freundlichen Zwischenrufe. Ob sie aber qualifiziert sind, beiterschaft!) ist eine andere Frage. (B) Ich kann Ihnen das gern vorrechnen, ich weiß aber nicht, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (D) ob Sie das verstehen. Jörg Tauss [SPD]: 25 Prozent ist ein Fakt!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Einen weiteren Punkt, der mir am Herzen liegt, möchte neten der F.D.P.) ich noch ansprechen. Wenn wir sehen, dass in vielen Be- rufszweigen viele Ausbildungsplätze nicht besetzt werden Die Frage, ob zusätzlich betriebliche Ausbildungs-können, stellen wir fest, dass das zum Teil regionale plätze neu geschaffen wurden, wird insbesondere in Be- Gründe hat, zum Teil aber auch daran liegt, dass manche zug auf die neuen Bundesländersehr kritisch gesehen. Ausbildungsberufe für Jugendliche erst einmal nicht so Für diese kann das nicht bejaht werden. Auch das Bun- interessant sind. Trotzdem vermisse ich intensive Maß- desinstitut für Berufsbildung kommt zu dem Schluss, dass nahmen, durch die die Jugendlichen davon überzeugt im gleichen Zeitraum in etwa ebenso viele betriebliche werden könnten, dass es sinnvoller ist, eine Berufsausbil- Ausbildungsplätze im Rahmen der regionalen und loka- dung aufzunehmen, die dann auch Weiterbeschäftigungs- len Projekte nach Art. 2 des Sofortprogramms geschaffen möglichkeiten einräumt, als irgendeinen subventionierten wie abgebaut wurden. außerbetrieblichen Ausbildungsweg einzuschlagen, der Ein ähnliches Problem stellt sich bei den Lohnkosten- keine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit bietet. Auch hier zuschüssen. Sie können sich durchaus gerne bei den In- vermisse ich konkrete Maßnahmen, durch die die Ju- dustrie- und Handelskammern und Handwerkskammern gendlichen auf diese Möglichkeiten hingewiesen werden. danach erkundigen. Viele Betriebe warten erst einmal ab, Ein nächster Punkt ist die Frage von Mobilitätshilfen. ob ihnen Lohnkostenzuschüsse angeboten werden. Erst Herr Kasparick hat ja eben freundlicherweise bestätigt, dann schaffen sie Ausbildungsplätze, die sie vielleicht so dass viele Jugendliche aus den neuen Bundesländern in oder so geschaffen hätten. Sie wären natürlich – das ist den Süden Deutschlands kommen, um hier einen Ausbil- menschlich nachvollziehbar – naiv, wenn sie diese Zu- dungsplatz zu erhalten. Das ist eine vernünftige Entwick- schüsse nicht in Anspruch nehmen würden. Aber gerade lung, denn wenn Ausbildungsplätze frei sind, sollten sie das führt nicht zu einer nachhaltigen Entwicklung; dafür auch besetzt werden. Wir könnten in diesem Zusammen- ist immer eine strukturelle Veränderung nötig. hang deshalb darüber diskutieren, ob dies in der einen oder anderen Weise, zum Beispiel durch Mobilitätshilfen, Des Weiteren ist es schon bemerkenswert, wie sich die noch weiter unterstützt werden könnte. Zahlen teilweise schlagartig zwischen Dezember 1999 und März 2000 verändert haben. Vergleicht man die Zah- Ich möchte aber auch darauf hinweisen, dass die len der Jugendlichen, die an dem Sofortprogramm teil- Jugendlichen in den Süden gehen und nicht nach 9666 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Ilse Aigner (A) Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen. Sie müssen geschaffene und 99 modernisierte Ausbildungsberufe.(C) einräumen: Zumindest gehen sie nicht in einem entspre- Zum 1. August 1999 haben Sie vier neue Berufe geschaf- chenden Ausmaß dorthin. fen. Darunter befinden sich zwei, die lediglich erst 1999 (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) anerkannt wurden, abere bereits existierten. 1999 gab es 26 modernisierte Berufe. Davon sind bei einem bereits Das könnte eventuell mit dem Schulwesen zu tun haben, 1997 die Grundlagen gelegt worden; 17 waren schon dessen Qualität sich an der Jugendarbeitslosigkei ablesen lange vorher in Vorbereitung. lässt. Die Bilanz, wer wann welche Ausbildungsordnungen (Widerspruch bei der SPD) modernisiert hat, ist eindeutig zu ziehen. Dass in den letz- Es gibt eben ein deutliches Qualitätsgefälle zwischen den ten Jahren die Anstrengungen intensiviert wurden, dass südlichen und den nördlichen Bundesländern, Sie manche Maßnahmen übernehmen und fortsetzen, ist positiv; das ist keine Frage. Aber die großen Impulse ins- (Beifall bei der CDU/CSU) besondere im IT-Bereich sind gewiss nicht von Ihnen ge- wenn Sie es noch genauer haben wollen: zwischen den kommen. Die vier neuen Berufe, die Sie immer anführen CDU- bzw. CSU-regierten und den SPD-regierten Län- und für die jetzt viele neue Ausbildungsplätze geschaffen dern. Es gibt einen sehr großen Unterschied zwischen den wurden, sind nicht Ihr Verdienst. Sie sind von der alten Ländern in diesem Bereich. Bundesregierung – Gott sei Dank rechtzeitig – eingeführt (Jörg Tauss [SPD]: Sie glauben Ihre eigenen worden. Ansonsten hätten wir selbst diese Ausbildungs- Legenden!) plätze jetzt nicht. Ich komme jetzt zu dem immer wieder vorgebrachten (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Vorwurf, wir hätten hinsichtlich derModernisierung Jörg Tauss [SPD]: „Rechtzeitig“ ist ganz doll!) nichts getan. Eine grundsätzliche Anmerkung: Ich kann Zum Schluss möchte ich Sie noch einmal auffordern, mich noch sehr gut daran erinnern, dass die Gewerk-mit uns an einer strukturellenWeiterentwicklung der schaften – diese sind bei der SPD bei weitem nicht unter- Berufsausbildung weiterzuarbeiten, damit die Betriebe repräsentiert; ich glaube, von 298 Fraktionsmitgliedern nicht gezwungen werden – es ist egal, ob von Ihrer Seite, sind 250 in Gewerkschaften organisiert; es gibt viele mit DGB oder PDS –, Ausbildungsplatzabgaben oder Ähnli- lupenreiner Gewerkschaftsvergangenheit, die von der ches zu leisten. Sie sollten sich vielmehr freiwillig bereit Schulbank in die Gewerkschaft gegangen sind und noch nie in einem Betrieb gearbeitet haben – erklären, Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Diese Erkenntnis ist bei den Betrieben vorhanden, weil sie (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU) sehr wohl wissen, dass die Zahl der Fachkräfte zurückge- jahrelang die Flexibilisierung der Ausbildungsberufe ver- hen wird. Die Zahl wird demographisch bedingt nur noch hindert haben, weil sie von einer sturen Ideologie ausge- bis zum Jahr 2006 steigen. Dann wird sie zurückgehen. gangen sind. Es war nicht möglich, neue Berufe zu schaf- Die Bereitschaft der Betriebe ist also da. Aber sie kön- fen. Diese Haltung kann ich mindestens für die letzten nen diese Arbeit nur leisten, wenn erstens die Wirt- vier Jahre bestätigen. schaftspolitik stimmt (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: (Willi Brase [SPD]: Die stimmt! Wir haben Da haben Sie wirklich keine Ahnung! – Gegen- Wachstum!) ruf des Abg. Peter Rauen [CDU/CSU]: So ist es!) und wenn zweitens ihnen die Möglichkeit gegeben wird, vernünftige Ausbildungsberufe, die sich an der Realität Es ist Gott sei Dank ein Schritt in die richtige Richtung, orientieren, anzubieten. Dann werden sie dementspre- wenn hier eine Art Bausteinsystem, Modulsystem – wie immer Sie dieses System bezeichnen wollen – jetzt lang- chend handeln. Ich appelliere an Sie, mit uns gemeinsam sam Einzug hält. Diejenigen, die schneller lernen, sollen in diesem Bereich weiterzuarbeiten. die Chance bekommen, zusätzliche Qualifikationen zu er- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – reichen. Diejenigen, die nicht so schnell sind, sollen nicht Willi Brase [SPD]: Abgerechnet wird zum überfrachtet werden. Sie sollen aber eine Chance erhalten, Schluss!) in den gewünschten Ausbildungsberuf hineinzukommen. Wir sind noch nicht am Ende dieser Diskussion. Ich freue mich auf weitere Diskussionen, damit wir in diesem Be- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich reich weiterkommen. schließe die Aussprache. Ich komme jetzt zu den Zahlen. Dabei berufe ich mich Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf auf einen Bericht des Bundesinstituts für Berufsbildung, Drucksache 14/3244 an die in der Tagesordnung aufge- der aufschlüsselt, wann welche Ausbildungsordnungen führten Ausschüsse zu überweisen. Der Entschlie- neu geschaffen bzw. reformiert wurden. In der Zeit zwi- ßungsantrag auf Drucksache 14/3331 soll an dieselben schen 1996 und 1998 – weil immer der 1. August derAusschüsse überwiesen werden. Gibt es dazu anderwei- Stichtag ist, können Sie nicht abstreiten, dass dafür die tige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind die alte Bundesregierung verantwortlich ist – gab es 28 neu Überweisungen so beschlossen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9667

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 c dokumentiert hat, innerhalb weniger Stunden versetzt(C) auf: wurde mit der Begründung, er sei krank und der Aufgabe nicht mehr gewachsen. Er hatte nichts anderes getan, als a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten aufzuschreiben, was rechtens ist und dass ein Rechtsan- Kurt-Dieter Grill, Reinhard Frhr. von Schorlemer, spruch auf eine Teilerrichtungsgenehmigung bestand. Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach), weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der CDU/CSU (Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört! – Monika Ganseforth [SPD]: Sie versuchen, Le- Schadensersatzforderungen und -prozesse des genden zu verbreiten! Damit werden Sie nicht Bundes gegen das Bundesland Niedersachsen durchkommen!) im Zusammenhang mit Baustopps für das End- lager Gorleben in den Jahren 1990 bis 1994 – Das ist keine Legende, sondern das ist die schlichte, ein- fache Wahrheit, und die tut weh. – Die Ideologie trium- – Drucksachen 14/1375, 14/2639 – phierte über das Recht. b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Die zentrale Frage übrigens, wie die Schadensersatz- ausschusses (2. Ausschuss) forderung in Höhe von circa 30 Millionen DM, die der Sammelübersicht 31 zu Petitionen Bund gegenüber dem Land hat, nun eigentlich eingetrie- (Gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie) ben werden soll, beantwortet die Bundesregierung nicht. Da gibt es nur einen Hinweis, man habe irgendwann im – Drucksache 14/564 – Februar einmal miteinander gesprochen. Aber die c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Bundesregierung hat heute Gelegenheit, in der Ausspra- ausschusses (2. Ausschuss) che über die Große Anfrage darzustellen, wie sie sich die Bezahlung der 30 Millionen DM vorstellt, Sammelübersicht 69 zu Petitionen (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Das wird (Stilllegung von Atomkraftwerken und Ausstieg verrechnet mit dem Gehalt des Kanzlers!) aus der Kernenergie) wobei alle Täter heute sozusagen Opfer sind, weil sie in – Drucksache 14/1562 – die Bundesregierung bzw. in die Mehrheit dieses Parla- Zu den Beschlussempfehlungen liegt jeweils ein Än- ments gewechselt sind. derungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor. (Peter Rauen [CDU/CSU]: Das wird bei der Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Beihilfe für Holzmann abgezogen!) Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen (B) Das, was in dieser Großen Anfrage dokumentiert ist, ist (D) Widerspruch. Dann ist so beschlossen. ja nicht das Einzige, was man unter dem Gesichtspunkt Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das der Rechtsverweigerung zulasten des Steuerzahlers doku- Wort der Kollege Kurt-Dieter Grill von der CDU/CSU- mentieren kann, sondern es gibt einen weiteren Fall, näm- Fraktion. lich die Verweigerung der zweiten Teilerrichtungsgeneh- migung für die Pilotkonditionierungsanlage in Gorleben, wo das Landgericht Hannover die Landesregierung zu ei- (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Kurt-Dieter Grill nem Vergleich gezwungen hat. Hintergrund war, dass man sehr geehrten Damen und Herren! Mit der Großen An- andernfalls den jetzigen Bundeskanzler und die damalige frage der CDU/CSU greifen wir ein Thema auf, das auch niedersächsische Umweltministerin zu 15 Millionen DM in der Antwort der Bundesregierung zu einem Dokument Schadensersatz wegen Amtspflichtverletzung verurteilt der politisch motivierten Rechtsverweigerung und des hätte. Rechtsbruchs zulasten des Steuerzahlers durch eine rot- grüne Landesregierung wird. (Monika Griefahn [SPD]: Der Firma sind 25 Verfehlungen nachgewiesen worden!) (Monika Ganseforth [SPD]: Jetzt tragen Sie aber dick auf!) Daraus ist, wie Sie wissen, Frau Griefahn, ein Vertrag des Landes Niedersachsen mit der GMS geworden, in – Ich trage nicht dick auf, Sie brauchen nur nachzulesen, dem steht: Wir halten uns in Zukunft an Recht und Gesetz. Frau Ganseforth. Die Zahlen stehen ja alle drin. (Peter Rauen [CDU/CSU]: Hört! Hört! – Ich denke, dass es ein Motiv gibt für diese Versuche der Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: In Zukunft?) damaligen niedersächsischen Umweltministerin – auch unter politischer Rückendeckung des damaligen Minis- Ich finde es schon aberwitzig, dass eine Landesregierung terpräsidenten Gerhard Schröder –, nämlich zu verhin- zur Vermeidung einer Amtspflichtverletzung – dern, dass die Wahrheit über die Eignung des Salzstockes (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Wer war Gorleben zutage gefördert wird. denn dort eigentlich Ministerpräsident, Herr Es ist ja nicht so, dass die Juristen in Niedersachsen das Kollege Grill?) nicht gesehen hätten, sondern in den Ministerien ist vor – Der jetzige Bundeskanzler, Herr Kollege Repnik. einer solchen Politik der Rechtsverweigerunggewarnt worden. In einem besonderen Fall ist es sogar so weit ge- (Horst Kubatschka [SPD]: Nicht einmal das kommen, dass ein Jurist, der diese seine Rechtsauffassung wissen Sie, Herr Repnik!) 9668 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Kurt-Dieter Grill (A) – Wenn der Herr Kollege Repnik das so gerne hört, sage regierung mit diesem Schadensersatzanspruch umgeht,(C) ich es ihm noch einmal: Für diese Frage sind verantwort- sind dargestellt. Und die entscheidende Frage, wie die lich der niedersächsische Ministerpräsident GerhardBundesregierung dieses Geld von Niedersachsen ein- Schröder und die Umweltministerin Monika Griefahn. treibt, wird die Bundesregierung jetzt sicherlich von die- sem Pult aus beantworten. (Peter Rauen [CDU/CSU]: An Recht und Ge- setz, zukünftig!) Herzlichen Dank. Meine Damen und Herren, es ist ja nicht so, dass man (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sagen könnte, Sie hätten nun etwa gelernt aus diesem Fall oder Sie hätten begriffen, dass man das Recht nicht der : Als Ideologie unterordnen kann. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms nächste Rednerin hat die Kollegin Monika Griefahn von (Monika Ganseforth [SPD]: Und das von der SPD-Fraktion das Wort. Herrn Grill!) (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Die bringt Nein, wir haben einen neueren Fall, eine Schadenser- das Geld jetzt mit!) satzklage in Höhe von 66 Millionen DM des Betreibers des Endlagers Konrad, weil dem Antragsteller die Ertei- (SPD): Das sammeln wir jetzt von lung der Genehmigung verweigert worden ist, obwohl das Monika Griefahn Ihnen ein, nämlich für die der Polizei entstandenen Kos- Land Niedersachsen und das Bundesumweltministerium ten im Zusammenhang mit den Castor-Transporten. in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages und öf- fentlich bekundet haben, dass der Schacht Konrad geneh- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- migungsfähig ist. ren! Ich bin der Fraktion der CDU/CSU sehr dankbar für die Anfrage zu den Schadensersatzforderungen des Bun- Ich denke, nachdem Sie schon etliche Male verklagt des gegenüber dem Land Niedersachsen, die in der Zeit und zu Schadensersatz verurteilt worden sind, weil Sie der Kohl-Regierung mit den Ministern Töpfer und Merkel das Recht gebrochen haben, ist es eine Ignoranz und ein gestellt worden ist. Sie bezieht sich auf die vier Atoman- Vergehen wider die Verfassung, wenn Sie weiterhin da- lagen in Gorleben. Sie geben mir und damit der Landes- rauf setzen, das Recht durch Verweigerung auszuhebeln. regierung von Niedersachsen in der damaligen Zeit, aber (Beifall bei der CDU/CSU – Monika Griefahn auch der jetzigen Bundesregierung die Möglichkeit, die [SPD]: Ja, Sie Hochleistungspolitiker!) noch immer verbreiteten Unwahrheiten richtig zu stellen. Das ist gut. Sie haben einen Amtseid zur Wahrung der Gesetze ge- (B) leistet. Das Problem ist, dass man im Zusammenhang mit Es gibt nämlich im Gegensatz zu dem, was Herr Grill (D) der Kernenergie bei Ihnen sein Recht nur bekommt, wenn gerade gesagt hat, bislang kein Urteil über die Höhe von man klagt. Zahlungen. Das heißt, die Zahlen, die immer im Raum schweben, seien es nun 100 Millionen DM, 60 Milli- In der Antwort der Bundesregierung wird alles das, onen DM oder 30 Millionen DM, existieren nicht durch was ich hier sage, überhaupt nicht bestritten. Denn wes- einen Gerichtsbeschluss, Herr Grill. Ich bitte, das endlich wegen sind Sie verurteilt worden? – Weil Sie das Recht einmal zur Kenntnis zu nehmen. Es gibt nur Urteile im gebeugt haben. Weswegen haben Sie das getan? – Weil Sinne des Gesetzes, das ein Gesetz zur Förderung der Sie die Wahrheit in Gorleben nicht zur Kenntnis nehmen Atomenergie ist und deshalb bislang für jede Landesre- mögen. Das Dritte ist, dass Sie aus den Vorgängen zwi- gierung eine Schwierigkeit dargestellt hat, überhaupt et- schen 1994 und 1999 überhaupt nichts gelernt haben. Sie was zum Ausstieg aus der Atomenergie beizutragen. Des- machen in gleicher Weise weiter. wegen sind wir froh, dass wir endlich eine rot-grüne Bun- (Peter Rauen [CDU/CSU]: Der Steuerzahler desregierung haben und den Ausstieg auf den Weg muss das zahlen! Das ist doch klar!) bringen können. Ich finde es erstaunlich, dass Sie diese Millionen zulasten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des Steuerzahlers verpulvern. DIE GRÜNEN – Peter Rauen [CDU/CSU]: Damit der Unfug Gestalt bekommt!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. [F.D.P.]) Worum geht es? Die Bevölkerung hat schon 1990 für eine rot-grüne Regierung in Niedersachsen votiert, weil Es ist vollkommen unnötig, dass Sie dieses Geldausge- sie den Ausstieg aus der Atomenergie wollte, und sie will ben. Beträge in einer Größenordnung von 30 Millionen DM ihn noch immer. Sie erwartete von der Landesregierung lassen sich auch nicht mehr unter Hinweis auf grundsätz- Maßnahmen. Der damalige Ministerpräsident von Nie- liche Bedenken gegen die Eignung des Salzstockes Gor- dersachsen, Gerhard Schröder, hat dann auch nach all den leben erklären. Auch andere Ihrer politischen Aussagen Bemühungen, die wir auf Landesebene unternommen ha- sind da nicht hilfreich. Die Begründung liegt einzig und ben, in drei Anläufen, nämlich 1994, 1995 und 1997, ver- allein in Ihrer ideologisch motivierten Politik. sucht, einen Konsens mit der damaligen Bundesregierung Deswegen reichen mir sechs Minuten aus, um zu die- über einen Ausstieg aus der Atomenergie und über eine sem Thema Stellung zu nehmen. Denn die zentralen Fra- gerechte Lastenverteilung von Endlagerkapazitäten zu gen der Politik, die hinter dieser Großen Anfrage stehen finden. Gleichzeitig hat er versucht, den Einstieg in eine und das Motiv gewesen sind, nämlich wie die Bundes- neue Energiepolitik, bestehend aus Energieeinsparung, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9669

Monika Griefahn (A) Energieeffizienz und alternativen Energien wie Sonne, hat Herr Grill erwähnt – ein völlig überdimensioniertes (C) Wind, Wasser und Biomasse, zu erreichen. Endlager für schwach Wärme entwickelnden Müll, wie sich verharmlosend die Abfälle aus nuklearen Einrichtun- Das ist von der damaligen Umweltministerin Merkel gen wie AKWs, Wiederaufarbeitungsanlagen, Kranken- abgelehnt worden. Dieser Konsens ist nicht zustande ge- häusern etc. nennen, das imSchacht Konrad errichtet kommen. Wenn also von Atomaltlast gesprochen wird, werden soll. Wenn man sich die Dimensionen anschaut, dann ist das Frau Merkel. erkennt man, dass die dort geplante Menge an Abfall die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Menge, die wir für die Bundesrepublik Deutschland pro- DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: gnostizieren, um ein Vielfaches übersteigt. Wir haben im- Aha!) mer wieder betont, dass das bedeutet, dass dies ein euro- Niedersachsen hat, um diesen Punkt umzusetzen, bereits päisches Lager wird. Frau Merkel hat damals immer 1990 das Stromeinspeisungsgesetz des Bundes – eine sehr gesagt: Nein, dies ist kein europäisches, sondern aus- lobenswerte Einrichtung – durch einen sehr ehrgeizigen schließlich ein nationales Lager. Daraufhin haben wir ge- Ökofonds ergänzt. Durch diese gute Kombination von sagt: Der Bedarf für eine solche Dimension ist nicht vor- Ökonomie und Ökologie haben wir in Niedersachsenhanden; also ist es nicht genehmigungsfähig. nicht nur den größten Anteil an Windenergie, sondern Das ist die Problematik, die hier besteht. Es wurde ein auch die wichtigsten Exportfirmen und Jointventures für viel zu hoher Bedarf geplant. Demnach ist diese Anlage Windenergieanlagen in aller Welt. Das ist eine konstruk- nicht genehmigungsfähig, wenn man von einem nationa- tive Arbeit. Denn deren Ziel ist: Man will nicht nur aus der len Lager spricht. Also sollte man auch ehrlich sein und Atomenergie aussteigen, sondern auch eine andere Ener- sagen: Frau Merkel, Sie wollten eigentlich ein europä- giepolitik. Das ist genau das, wofür wir hier streiten. isches Lager; einen diesbezüglichen Antrag haben Sie ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stellt. Das ist aber bislang nicht aktenkundig. Deswegen DIE GRÜNEN) denke ich, wir werden hier einvernehmliche Lösungen finden müssen. Alle Anlagen in Gorleben haben wir von der CDU-Re- gierung unter Ernst Albrecht geerbt. In Gorleben haben Nun zum Erkundungsschacht in Gorleben. Die ers- wir die größte Ansammlung von Endlagereinrichtungen ten Baustopps, die mit Prozessen überzogen worden sind, im Bundesgebiet, mit Verfahren, die 1990 bereits in einem sind folgendermaßen entstanden – ich will das einmal in Status waren, der irreversibel erschien und auch offen- Erinnerung rufen –: Im Erkundungsschacht des Bergwer- sichtlich ist. Ein Coup war es natürlich, dass zwischen der kes in Gorleben ist wenige Jahre zuvor ein Mensch um- gekommen, weil die Stabilität des Schachtes nicht ausrei- (B) Landtagswahl und der Einsetzung der neuen Landesre- (D) gierung sehr viele Genehmigungen noch soeben auf den chend war. Da ich als zu diesem Zeitpunkt zuständige Mi- Weg gebracht worden sind. Auch das ist einmal festzu- nisterin das Risiko eines weiteren Unfalles nicht eingehen stellen. Das ist eigentlich nicht legitim. Sie werfen uns das wollte, ließ das Ministerium unter Beteiligung des Minis- immer vor. Aber genau das hat die Regierung Albrecht ge- terpräsidenten und des Kabinetts Sicherheitsgutachten an- tan, bevor die Schröder-Regierung in Niedersachsen an- fertigen, die zweimal zu Verzögerungen beim Weiterbau treten konnte und mit diesem Erbe konfrontiert wurde. führten. Der Schutz von Menschenleben geht immer vor; das dürfte doch die Meinung aller sein. In Gorleben haben wir ein Endlager für hoch radioak- tiven Müll, ein Erkundungsbergwerk. In Bezug auf die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dortige Pilotkonditionierungsanlage, die Herr Grill ge- DIE GRÜNEN sowie der Abg. Eva Bulling- rade erwähnt hat, ist festzustellen: Hier ist – Herr Grill, Schröter [PDS] – Kurt-Dieter Grill [CDU/ das wissen Sie sehr gut –, nachdem dem Management CSU]: Das hat damit überhaupt nichts zu tun!) 25 Verfehlungen im Hinblick auf den Betrieb und das Ma- Was hätten Sie gesagt, wenn wieder etwas passiert wäre, nagement nachgewiesen werden konnten und das Mana- als es solche Vorfälle wie zum Beispiel Wassertropfen im gement ausgewechselt wurde, ein Vergleich geschlossen Schacht gab? worden, weil die Betriebsgenehmigungen bereits in ei- nem so weiten Status waren, dass man sagte: Selbst nach Auch die beiden weiteren Forderungen des Bundes wa- diesen Verfehlungen werden wir dagegen wahrscheinlich ren zu dem Zeitpunkt politisch motiviert. Bei der damali- nicht angehen können. Dass die Firma aber Verfehlungen gen Bundesregierung stand an – vergessen Sie das nicht; gemacht hat, Herr Grill, das werden Sie sicherlich nicht da gab es bei den Sozialdemokraten ja Urwahlen –: Viel- außer Acht lassen können. Es ist angesichts einer so hoch leicht wird Gerhard Schröder 1994 Kanzlerkandidat. Man sensiblen Angelegenheit, wie es eine Atomanlage ist,wollte – das muss man hier doch einmal ganz deutlich ma- wichtig, dies einmal festzustellen. chen – Gerhard Schröder eins auswischen und da hat man sich gesagt: Na, mit Atompolitik kann man ihm am besten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eins auswischen. DIE GRÜNEN) Tatsache ist: Gerhard Schröder und das niedersächsi- Weiterhin haben wir in Gorleben ein Zwischenlager für sche Kabinett, dem auch ich angehörte, haben damals schwach radioaktiven Müll, ein Zwischenlager für abge- mehrfach versucht, mit der Bundesregierung eine Eini- brannte Brennelemente, das durch die Castor-Transporte gung zu erzielen. Diese Versuche waren seitens des Bun- bekannt geworden ist, und – nicht zu vergessen; auch das des nicht gewollt. Es gab kein Interesse an der Lösung der 9670 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Monika Griefahn (A) Sache. Das Vorgehen war politisch motiviert. Das – da- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als (C) rauf wird der Umweltminister auch hinweisen – ändern nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Günter wir jetzt. Rexrodt von der F.D.P.-Fraktion. Tatsache ist, dass das Land Niedersachsen bis heute keine Mark Schadensersatz bezahlen musste. Kein Ge- Dr. Günter Rexrodt (F.D.P.): Herr Präsident! Meine richt hat bis heute ein Urteil in diesem Sinne gefällt. Viel- Damen und Herren! An erster Stelle geht es heute um ei- mehr kann man davon ausgehen: Da wir jetzt über die Per- nen volkswirtschaftlichen Schaden von 30 Millionen DM, spektiven insgesamt reden – auch über den Ausstieg –, den die ehemalige niedersächsische Umweltministerin wissen wir, wie viele weitere Endlagereinrichtungen wir Griefahn bewusst herbeigeführt hat durch Baustopps, die brauchen. Das Landgericht Hannover hat ja eine Einigung in dieser Sache angemahnt. einen eindeutigen politischen Hintergrund hatten: Aus- stieg aus der Kernenergie um jeden Preis. Tatsache ist, dass die damalige Bundesregierung unter Kohl mit den Ministern Töpfer und Merkel und einem (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Herrn Grill eine Atompolitik betrieben hat, die, wenn das Monika Griefahn [SPD]: Sicherheit gilt nicht, niedersächsische Kabinett nicht in der Weise gehandelt oder wie?) hätte, wie ich das eben beschrieben habe, dazu geführt hätte, dass wir heute gar nicht in der Lage wären, über- Dann geht es darum, dass der heutige Bundesumwelt- haupt über den Atomausstieg verhandeln zu können. Das minister Jürgen Trittin die berechtigten Schadensersatz- wäre alles schon genehmigt, wir stünden nur da und könn- ansprüche des Bundes nicht in der Weise geltend macht, ten alles über uns ergehen lassen. Ich bin froh darüber, wie er das dem Steuerzahler schuldig ist. dass wir jetzt überhaupt die Möglichkeit haben, diese Ausstiegsdebatte zu führen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Cornelia Pieper [F.D.P.]: Unglaublich!) Deshalb: In allen erwähnten Fällen habe ich im Sinne der Umwelt und der Sicherheit der Menschen vor Ort ge- Auch hier gilt: Ausstieg aus der Kernenergie um jeden handelt. Ich glaube, das ist unsere Aufgabe als gewählte Preis. Politiker. Wir müssen in die Zukunft denken, anstatt Ent- scheidungen zu treffen, die nicht rückholbar oder, wie es Frau Griefahn, auch wenn Sie hier sagen, dass kein Christine von Weizsäcker immer sagt, nicht „fehler-Schaden entstanden sei, so hat das Gericht doch eindeutig freundlich“ sind. Das aber wäre gerade der Fall gewesen. signalisiert: Vergleicht euch in einer Weise, die den Inter- essen des Bundes entgegenkommen! Diese Gespräche (Beifall bei Abgeordneten des BÜND- werden von Herrn Trittin bewusst nicht geführt. Zu dem, (B) NISSES 90/DIE GRÜNEN) (D) was Sie zu Ihren „berechtigten Maßnahmen und Anord- Insofern bin ich froh, dass wir heute in der Situation sind, nungen“ vorgetragen haben, weil jemand zu Schaden ge- diese Einsparungen vornehmen zu können. kommen sei, muss ich sagen: Noch ein letztes Wort, Herr Grill: Wo ist denn der (Horst Kubatschka [SPD]: Gilt das Schadensersatz für die Polizeikosten in Höhe von 100 Millionen DM im Zusammenhang mit den Castor- Menschenleben nichts?) Transporten, die Frau Merkel verursacht hat, weil die Cas- Leider kommen Menschen auch auf anderen Baustellen toren hinterher gestoppt werden mussten, da sie, so wie zu Schaden. Das hat gar nichts mit dem Genehmigungs- ich das immer vermutet habe, leck waren? Davon hat das verfahren zu tun. Das alles wurde nur herangezogen, um Land Niedersachsen bislang noch nichts gesehen. Dieses das politische Ziel erreichen zu können, Geld kann man – auch das sollten Sie zur Kenntnis neh- men – sicherlich einmal gegenrechnen. (Cornelia Pieper [F.D.P.]: Richtig!) das da heißt: Raus aus der Kernenergie! Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin. (Monika Griefahn [SPD]: Richtig!) Und das Instrument der Endlagerung wird benutzt, um (SPD): Ja, ich bin gleich fertig. Monika Griefahn weiter vorne im Prozess, nämlich beim Betrieb der Wir sind jetzt dabei, ein anständiges Konzept zu erar- Atomkraftwerke, zum Erfolg zu kommen. beiten. Wir wollen die dezentrale Zwischenlagerung, um dann ein Endlager zu finden, das eine Kapazität hat, die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) wir wirklich brauchen, anstatt Überkapazität zu produzie- Aber das ist ja nur ein Ausschnitt aus einem skandalö- ren. Wir nehmen die Sorgen der Menschen ernst und brin- gen den Ausstieg voran, aber eben auch den Einstieg in sen Szenario, das deutlich macht, wohin rot-grüne Politik die alternativen Energien. Dafür machen wir – das ist das führen kann, und zwar nicht nur bei der Kernenergie. Ich Entscheidende – sehr viel. habe in den letzten Tagen und Wochen inNordrhein- Westfalen mit vielen Menschen, vielen Bürgern und Mit- Danke schön. telständlern, gesprochen. Was die einem sagen, kann nicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ aus der Luft gegriffen sein. Da werden zuhauf Klagen und DIE GRÜNEN) Beschwerden über Frau Höhn geäußert, weil sie verzö- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9671

Dr. Günter Rexrodt (A) gert, verschiebt und verhindert. Hintergrund ist nichts an- Umweltgesetzbuch gearbeitet, das längst fertig sein(C) deres, als grüne Ideologie durchzusetzen. müsste. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – (Dr. Uwe Küster [SPD]: Reden Sie im Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Augenblick zur Sache?) NEN]: Die haben doch keine Atomkraftwerke Sie kommen aber nicht voran, weil dieser Mann einfach mehr! Was reden Sie denn da?) EU-Richtlinien negiert. Und in Brüssel wird dann auf Ge- Behindert wird die Erteilung von Baugenehmigungen heiß des Bundeskanzlers die Altautoverordnung verhin- und die Durchführung von Verkehrsprojekten. Behindert dert. werden gewerbliche Wünsche und andere Anliegen der (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten gewerblichen Wirtschaft und der Bürger. Und das geht zu- der CDU/CSU – Arne Fuhrmann [SPD]: Sind lasten der Arbeitsplätze. Wir müssen die Dinge beim Na- wir jetzt in Brüssel? Donnerwetter! – men nennen: Diejenigen, die in Nordrhein-Westfalen Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Arbeitsplätze erhalten und schaffen, sind in diesen Tagen NEN]: Transrapid!) tief empört und über alle Maßen verunsichert. Neuerdings faselt er auch wieder vom Tempolimit und (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – von einer Flugverkehrsabgabe. Das alles macht der Kin- Arne Fuhrmann [SPD]: Gorleben liegt aber derschreck Trittin. nicht in NRW, Herr Rexrodt! – Weiterer Zuruf (Arne Fuhrmann [SPD]: In Gorleben muss man von der SPD: Wahlkampf! Wahlkampf!) langsam fahren, damit man nicht gegen die Castoren donnert!) Was in Nordrhein-Westfalen Frau Höhn ist, ist auf Bundesebene Umweltminister Trittin. Durch den Aus- Bei seinem Lieblingskind, dem Atomausstieg, provo- stieg aus der Atomenergie soll ein Stück grüner Identität ziert er wegen der Wiederaufbereitung zunächst einen gerettet werden. Dies muss auch sein. Denn da HerrKonflikt mit Großbritannien und Frankreich; das wissen Fischer mit bedeutungsvollem Gesicht im grauen Anzug wir ja. nur noch politische Leerformeln dahersagt, Frau Fischer (Arne Fuhrmann [SPD]: Von Brüssel gehen Sie sehr bemüht immer das Falsche tut, Frau Müller mit vie- jetzt nach England – liegt Gorleben in Eng- len Worten im Grunde nichts sagt und Herr Schlauch al- land?) lenfalls noch daherklügelt, muss es ja einen geben, der die Bei der Gorleben-Angelegenheit geht überhaupt nichts grünen Prinzipien hochhält, und das ist der Umweltminis- (B) voran. Und in der Ukraine verzögert sich die Abschaltung (D) ter Trittin. des Kraftwerks in Tschernobyl, weil unsinnigerweise ein (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kreditstopp veranlasst worden ist. Gleichzeitig aber wer- NEN]: Hören Sie mal auf damit! – Dr. Uwe den Hermesbürgschaften für Kerntechnik in China über- Küster [SPD]: Ist das Herr Möllemann, der da nommen. spricht, oder wie?) (Peter Rauen [CDU/CSU]: So ist es!) Man könnte ihm sogar folgen im Sinne eines demo- Das ist Umweltpolitik à la Trittin. Er ist ein Kinder- kratischen Respekts vor anderen Positionen, wenn diese schreck, meine Damen und Herren. Positionen schlüssig vorgetragen würden. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Arne Fuhrmann [SPD]: Die geographische Ex- Abgeordneten der CDU/CSU) kursion, die Sie mit uns machen, finde ich span- nend!) Aber das geht nicht, weil Herr Trittin zu einem Bürger-, zu einem Kinderschreck geworden ist. Lassen Sie mich noch eines sagen: Nichts ist verloge- ner, als die Gespräche mit der Wirtschaft, in denen die (Beifall bei der F.D.P. – Lachen bei der SPD Stromindustrie zum Ausstieg aus der Atomenergie ge- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – bracht werden soll, als Konsensrunde zu bezeichnen. Die Dr. Uwe Küster [SPD]: Gucken Sie sich das Wirtschaft will diesen Ausstieg nicht. Die gegenwärtigen Wahlergebnis an!) Gespräche finden vor dem Hintergrund eines bewusst her- beigeführten Drucks im Zusammenhang mit den Castor- Wenn die Kinder nicht ruhig sein wollen, dann sagen die Behältern statt. Leute: Seid ruhig, sonst kommt gleich Herr Trittin! (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Haben Sie heute NEN]: Wir haben schon lange den Ausstieg be- schon in den Spiegel geguckt?) schlossen!) Das ist ja auch kein Wunder. Gleichzeitig wird die Karte gezogen und man will den (Beifall bei der F.D.P.) Ausstieg per Gesetz verordnen. Der gegenwärtige Streit um die Restlaufzeiten ist im Grunde nichts anderes als Da wird eine Ökosteuer aufgelegt, die nichts mit Öko, eine Verteidigungsposition der Unternehmen, um wenigs- sondern nur mit Abkassieren zu tun hat. Da wird an einem tens den größten volkswirtschaftlichen Unsinn einer 9672 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Dr. Günter Rexrodt (A) Ressourcenverschwendung in Milliardenhöhe und die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die (C) dreisteste Form der Staatsintervention zu verhindern. Bundesregierung hat jetzt Bundesminister Jürgen Trittin das Wort. Niemand sieht derzeit die Notwendigkeit, in Deutsch- land Atomanlagen zu errichten. Wir sagen aber: Die Ent- (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- scheidung, ob Kernkraft Bestandteil eines sinnvollen Ener- NEN]: Der Kinderschreck kommt jetzt! – giemix sein kann, kann nicht allein die rot-grüne Regie- [CDU/CSU]: Nehmt die rung für alle Ewigkeit treffen. Kinder von dem Fernseher! – Horst Kubatschka [SPD]: Erschrecken Sie nicht Herrn Rexrodt, (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der der hat sich gerade kindisch benommen!) CDU/CSU – Michaele Hustedt [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! – Monika Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur- Griefahn [SPD]: 60 Prozent wollen den Aus- schutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! Meine Da- stieg!) men und Herren! Ich war neulich im „Tigerenten-Club“. Wir müssen – dies ist unsere Option; nicht mehr undIch weiß nicht, ob Sie wissen, was das ist. Es waren viele nicht weniger, Frau Griefahn – die Option offen halten, Kinder da. Wenn ich in Ihrem Bild bleiben soll, dann muss dass die Kernenergie auch später Bestandteil einesich sagen: Diese Kinder müssen ungeheuer mutig gewe- Energiemix sein kann. Das heißt auch, dass wir diese Op- sen sein; sie haben sich nämlich gefreut, dass ich da war. tion im administrativen und im technischen Sinne offen (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Als halten müssen. Tigerente verkleidet! Das geht noch!) Ich füge hinzu – bitte hören Sie auch jetzt zu; denn Offensichtlich sind Kinder mutiger als F.D.P.-Abgeord- es ist ernst gemeint –: Jeder will so weit wie möglichnete. Einsparpotenziale nutzen. Wir wollen so viel wie möglich (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten des in regenerative Energien investieren. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der (Horst Kubatschka [SPD]: Bloß, den Gesetzen SPD) stimmen Sie nicht zu!) Sie, lieber Herr Rexrodt, haben ja gesagt, dass Sie erst zum Schluss ernst zu nehmen gewesen seien. Erst nach Aber wir können noch so viel sparen und noch so viel für den ersten sieben Minuten Ihrer regulären Redezeit haben regenerative Energien tun: Sie gesagt: Jetzt kommt etwas, was ernst zu nehmen ist. (B) (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE Von dem, was Sie in den ersten sieben Minuten gesagt (D) GRÜNEN]: Ohne Atomenergie geht es nicht!) haben, will ich nur einen Punkt aufgreifen. Sie sind ja ein- Den Energiebedarf einer explodierenden Menschheit in mal, in grauer Vorzeit, Bundeswirtschaftsminister gewe- 15 oder 30 Jahren damit decken zu wollen, das ist absolu- sen. ter Unsinn. Das wissen auch Sie. (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unverständlicherweise! – Horst Kubatschka [SPD]: Das Erbe haben wir noch!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms : Herr Kol- lege Rexrodt, kommen Sie bitte zum Schluss. Sie haben der Bundesregierung angehört. Wenn jemand, der dieser Bundesregierung angehört hat – ich kenne die Unterlagen über die Ressortabstimmungen; sie sind ja alle (F.D.P.): Ich komme zum Dr. Günter Rexrodt bei uns in den Akten –, Schluss. (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Ressortab- Noch mehr Holz, Kohle, Öl oder Gas einzusetzen geht stimmungen gibt es heute nicht mehr! Das nicht. merkt man auch!) Rot-Grün will mit ideologischen Argumenten an diese sich hier hinstellt und sagt, diese Bundesregierung trete Probleme heran. Ideologien haben die Menschen nur zu europäisches Recht permanent dadurch mit Füßen, dass oft ins Verderben geführt. Deshalb muss die rot-grüne Po- die Richtlinien nicht umgesetzt würden, dann kann ich nur litik ein Ende haben, die den Bürger in zweifelhaftersagen: Ich verbringe leider einen Großteil meiner Ar- Weise beglücken will. Es ist das Glück von Frau Höhn beitszeit damit, und Herrn Trittin. Hören Sie auf zu verhindern und zu (Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.: blockieren! Wir brauchen wettbewerbsfähige Betriebe. Oh!) Nicht grüne Heilslehren sind angesagt, sondern eine mo- derne Infrastruktur und sichere Arbeitsplätze. die von Ihnen nicht umgesetzten Richtlinien, beispiels- weise für eine integrierte Anlagenzulassung, für eine Um- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – weltverträglichkeitsprüfung – also für all das, was zwin- Dr. Uwe Küster [SPD]: Hören Sie doch auf, gendes europäisches Recht ist –, umzusetzen, während Herr Rexrodt! Das ist besser! Lassen Sie es Sie in den Jahren, in denen Sie regiert haben, nichts an- doch! Laufen Sie weg!) deres getan haben, als im Hinblick auf das europäische Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9673

Bundesminister Jürgen Trittin (A) Recht die alte Lebensweisheit zu befolgen: legal, illegal – von Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten regelmäßig(C) entschuldigen Sie –, scheißegal. Überstunden ableisten, mag man unter Klima- und allen anderen möglichen Aspekten streiten – dazu haben Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und wir unterschiedliche Positionen –, aber eine solche und bei der SPD – Eckart von Klaeden Energieform ist auf Dauer nicht demokratieverträglich. [CDU/CSU]: Ikearegal fehlt! – Dr. Günter Es gibt viele in Ihren Reihen, die das sehr genau wissen. Rexrodt [F.D.P.]: Das ist ja empörend! Das ist unparlamentarisch! Also doch ein Kinder- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schreck!) und bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Er Meine Damen und Herren, ich verstehe, ehrlich gesagt, organisiert eine Demonstration und beklagt den Anlass dieser Anfrage nicht. Es ist falsch, dass es ei- dann den Polizeieinsatz!) nen Schaden in der von Ihnen genannten Höhe gibt. Zwei Aus diesem Grund sagen wir: Voraussetzung eines ge- Urteile haben festgestellt, dem Grunde nach seien An- sellschaftlichen Konsenses in der Energiepolitik ist, wie- sprüche gegeben. Daneben gibt es die ausdrücklicheder Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung in der Frage der Empfehlung der Gerichte, sich zu vergleichen. Wir sind Entsorgung zu erlangen. Akzeptanz erhält man nicht, da auf einem guten Weg. Es muss schon ein Mensch mit wenn man Rechtsstreite – wie hier gefordert – rechtsque- schwerer querulatorischer Veranlagung sein, rulatorisch zu Ende führt und sich in jeder Debatte über (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: So wie Sie!) den Atomausstieg, werter Kollege Grill, aufführt, als wolle man sich um die Rolle des Zwerg Alberich bewer- wenn er von der Bundesregierung in dieser Situation er- ben, der auf dem Atommüllschatz im Salzstock Gorleben wartet, der Bundesumweltminister solle das Geld etwa im sitzen möchte. Wege der Taschenpfändung bei Frau Griefahn beitreiben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Zuruf von der CDU/CSU: Das hat auch keiner und bei der SPD – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: verlangt! – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das wäre Der sitzt bei Trittin vorn!) keine schlechte Idee!) Im Ernst: Das ist keine ernsthafte Art, mit diesem Problem umzu- gehen. (Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Sie sind nicht ernst zu nehmen!) Ich glaube in der Tat, dass die Unterbrechung der Er- kundung in Gorleben, die wir jetzt vorbereiten – Sie müs- Ich glaube, dass wir in der Tat noch eine Reihe von Pro- sen diese Frage sachlich sehen –, nicht zu früh kommt, blemen zu lösen haben, zum Beispiel bei der Rücknahme sondern angesichts der massiven internationalen Zweifel des von Ihrer Regierung gemeinschaftlich ins Ausland verschobenen Atommülls. Dieser Verantwortung wird (B) an einem Konzept der Trennung der Abfälle, an der Di- (D) mensionierung, an der Nichtrückholbarkeit und an der sich diese Bundesregierung, die immer vor dem Verschie- Einlagerung in Salz eher zu spät kommt. ben des Atommülls ins Ausland gewarnt hat, stellen müs- sen. Voraussetzung ist schlicht und ergreifend, dass die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von Ihnen aus politischen und nicht aus sachlichen Grün- sowie bei Abgeordneten der SPD) den getroffene präjudizierende Entscheidung in Gorleben Das ist ein Punkt, über den wir gern streiten können. rückgängig gemacht wird. Deswegen wollen wir dort un- terbrechen. Ich habe aber inzwischen den Eindruck, dass sich CDU/CSU und F.D.P. davon verabschiedet haben, zu die- Ein Letztes: Ich kann eine Haltung überhaupt nicht ak- sem Thema sachlich Stellung zu nehmen. zeptieren, die besagt: Wir wollen, dass die Atomkraft- werke möglichst lange laufen, möglichst bei uns in Süd- (Lachen bei der CDU/CSU – Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was deutschland; aber mit dem Atommüll möchten wir nichts gibt es da zu lachen? – Jürgen Koppelin zu tun haben. Den wollen wir auf jeden Fall zum Beispiel [F.D.P.]: Das glauben aber nur Sie!) nach Ahaus in Nordrhein-Westfalen schicken. – Diese Po- litik – diktiert vom heiligen Sankt Florian – ist eine Poli- Denn es scheint mir so zu sein, als fürchteten Sie, dass es tik, die von Ihnen gefordert, aber auf dem Rücken der in in diesem Land wieder zu einemKonsens in der Deutschland tätigen Polizeibeamtinnen und -beamten Energiepolitik kommen könnte. Ich sage Ihnen: Voraus- ausgetragen wird. setzung für einen Konsens in der Energiepolitik der Bun- desrepublik Deutschland ist die Lösung der Entsorgungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fragen. und bei der SPD) (Zuruf von der CDU/CSU: Atomstrom aus der Dazu sage ich Ihnen eines: Das ist eine Form von Miss- Ukraine!) brauch der Menschen in Ahaus in Nordrhein-Westfalen zugunsten sehr bornierter Lokalinteressen in Süddeutsch- Diese Lösung muss so sein, dass sie von weiten Teilen der land. Es ist absolut zynisch, die Polizeibeamtinnen und Bevölkerung akzeptiert wird. -beamten so zu missbrauchen. Dies wird es mit uns nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geben. und bei der SPD – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erpressung ist nicht Konsens!) und bei der SPD – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Über eine Energieform, die bei der Lösung ihrer Ent- Sie puschen die Leute doch auf! Sie sind ein Pu- sorgungsfragen darauf angewiesen ist, dass Zehntausende scher! Brandstifter!) 9674 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort Ihrer Regierungstätigkeit war zu erwarten, da Sie bisher (C) hat jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter von der PDS- nur mit den Eignern verhandelt haben. Mit dem bekann- Fraktion. ten Auszug der Umweltverbände ist der Energiedialog 2000 erklärtermaßen gescheitert, da Sie sich in den Augen der Verbände den Einwänden gegen Ihre Atompolitik Eva-Maria Bulling-Schröter (PDS): Herr Präsident! nicht zugänglich gezeigt haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur Großen Anfrage der CDU/CSU möchte ich bemerken, dass wir das Enga- Aus diesen Gründen ist ein schnelles Abschalten der gement der ehemaligen niedersächsischen Umweltminis- Atomkraftwerke eine Frage der Vernunft. Der längst über- terin Monika Griefahn würdigen, weil ihre Eingriffe Ge- fällige wissenschaftliche Diskurs über die Möglichkeiten legenheit schufen, den Bau des Endlagers Gorleben zu einer maximal sicheren Verbringung des Atommülls muss stoppen. Die Bundesregierung scheint das ähnlich zu se- unverzüglich beginnen. Dabei sind sowohl die verschie- hen und verspricht, Schritte in Richtung einer außerge- denen Formen der möglichen Endlagerung als auch die richtlichen Einigung über die Forderungen des Bundes an dafür infrage kommenden geologischen Formationen er- das Land Niedersachsen zu tun. Ich denke, das ist der rich- gebnisoffen zu prüfen. tige Weg. Für die früheren Endlager Asse und Morsleben,die Das ist aber auch schon alles, was der Bundesregierung zu keinem Zeitpunkt durch ein ordnungsgemäßes atom- zugute gehalten werden kann. Die Botschaften, die diese rechtliches Verfahren nach bundesdeutschem Recht ge- Bundesregierung und die Atomindustrie im Rahmen ihrer nehmigt worden sind, müssen Stilllegungsverfahren ein- Konsensgespräche an die Öffentlichkeit senden, sindgeleitet werden. Alle Risiken dieser Atomlager sollen schlichtweg alarmierend. Die Arbeiten am Endlager Gor- prinzipiell unter Beteiligung der betroffenen Öffentlich- leben sind immer noch nicht gestoppt und fürSchacht keit untersucht, offengelegt und minimiert werden. In Konrad schließt die Bundesregierung eine Genehmigung Gorleben darf die Pilotkonditionierungsanlage nicht in als Endlager nicht mehr aus. Betrieb gehen. Weit über die betroffene Region hinaus lehnen zahlreiche Menschen diese entschieden ab, weil Nach der gewonnenen Bundestagswahl wurde Gorle- der Betrieb der Anlage mit erheblichen Risiken verbun- ben plötzlich auch von SPD und Grünen zum prüffähigen den ist und darüber hinaus als Baustein und Signal für die Endlagerstandort erklärt. Zwar verspricht die Bundesre- Durchsetzung eines Endlagers in Gorleben gesehen wird. gierung, an anderen Standorten ein ergebnisoffenes Prü- fungsverfahren parallel durchzuführen; aber außer der Wenn die Bundesregierung an ihrem Beschluss fest- Einrichtung einer Arbeitsgruppe ist bisher leider nichts halten will, ein Endlager für alle radioaktiven Abfälle zu passiert. finden, dann kann dieser Standort nicht Gorleben, aber (B) auch nicht Schacht Konrad heißen. Schacht Konrad ist un- (D) Alle bisherigen Regierungen haben die Risiken der strittigerweise nicht zur Aufnahme hoch radioaktiver, Atommüllentsorgung immer heruntergespielt und einen wärmeentwickelnder Abfälle geeignet. Wenn dies so ist, ernsthaften politischen und naturwissenschaftlichen Dis- dann muss die Bundesregierung den Genehmigungsantrag kurs über die Möglichkeiten einer sicheren Entsorgung für Schacht Konrad zurückziehen. Mehr als 290 000 Men- des radioaktiven Abfalls verhindert. Doch nicht erst seit schen haben Einwendungen gegen Schacht Konrad erho- dem Gutachten des Rates der Sachverständigen für Um- ben, darunter viele tausend Einwohner der Städte Braun- weltfragen ist klar, dass kein absolut dichtes Endlager ge- schweig und Salzgitter. Auch Betriebsräte von VW schaffen werden kann. gehören zu den Einwendern. Um die Akzeptanz in der Bevölkerung für die Lage- Natürlich werden wir die Anträge der CDU/CSU hin- rung des schon angefallenen Atommülls muss nach wie sichtlich der Petition ablehnen. Zum Schluss noch: Herr vor politisch gerungen werden. Bisher hat uns der Regie- Minister Trittin hat ausgeführt, dass eine Energieform, die rungswechsel aber weder der Entsorgung noch der Polizeieinsätze nach sich zieht, nicht demokratieverträg- schnellstmöglichen Abschaltung der Atomanlagen einen lich sei. Wir werden ihn sicher daran erinnern, wenn nach Schritt näher gebracht. So soll – den letzten Meldungen der Wahl in Nordrhein-Westfalen der erste Castor-Trans- nach zu urteilen – die Frist zur Abschaltung der Atom- port rollen wird. kraftwerke durch eine variabel handelbare Atomstrom- menge bestimmt werden, die mit oder ohne Zustimmung Danke. der Betreiber jedem Atomkraftwerk ein goldenes Ende (Beifall bei der PDS) analog von etwa 30 Jahren Laufzeit garantieren soll. Viele Ihrer Wähler, liebe Kolleginnen und Kollegen : Als von den Grünen und der SPD, hatten realistischerweise Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms nächster Redner hat der Kollege Arne Fuhrmann von der erwartet, dass die Bundesregierung einige Zeit benötigt, SPD-Fraktion das Wort. um sich gut auf eine rechtlich abgesicherte Abwicklung des Ausstiegs aus der Atomindustrie vorzubereiten. Heute sind viele Menschen jedoch mehr als enttäuscht – das wis- Arne Fuhrmann (SPD): Herr Präsident! Meine sehr sen Sie auch –, da die Bundesregierung aus dem gebote- geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe nen Schutz von Leben und Gesundheit bisher kein schnel- Kollegen! Dass wir uns heute mit der Großen Anfrage der les Ende der Nutzung der Atomkraft, sondern ein Atom- CDU/CSU-Fraktion befassen, ist so etwas wie ein Uni- kraftverstromungsgesetz abgeleitet hat. Dieses Ergebnis kum, weil diese Anfrage nur nach außen hin eine Serio- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9675

Arne Fuhrmann (A) sität vorgibt. In Wirklichkeit hat sie zum Ziel, auf sehr un- sition nach dem Motto „Wasch mir das Fell, aber(C) seriöse Art und Weise die hier anwesende Kollegin mach mich nicht nass“ ist scheinheilig. Griefahn, den Umweltminister Trittin und den Kanzler zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ desavouieren. Dabei ist in der Zwischenzeit wohl jedem klar geworden, dass dies ziemlich schwierig ist und dass DIE GRÜNEN) man sich nicht lediglich mit einigen überflüssigen Fragen Wenn man davon ausgeht, dass diese politische Zwei- beschäftigen darf. gleisigkeit hinlänglich bekannt ist, dann schockiert dieje- (Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Das ist die nigen, die sich mit dem Thema intensiv auseinander set- Aufgabe des Parlaments!) zen, nur noch die Permanenz und die Penetranz, mit der Sie diese Art von Politik kontinuierlich Jahr und Tag wei- – Wissen Sie, Herr Rexrodt, bevor man den Mund auf- ter fortführen. macht, sollte man das Gehirn einschalten. Dann ist das, Die Debatte um die Situation in Gorleben zwischen was ankommt, ein bisschen intensiver und die Redner 1990 und 1994 hat im Grunde zwei Elemente. Das eine können sich damit auseinandersetzen. Element ist: Sie hat die Menschen nicht nur in der Region, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des sondern all diejenigen, die sich intensiv mit der Frage der BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Energieversorgung der nächsten Jahrzehnte auseinander gesetzt haben, dazu gebracht, nicht mehr nach dem Motto Wie wir mittlerweile gehört haben, gibt es bisher kein zu diskutieren: Hier haben wir eine stets vorhandene rechtsverbindliches Urteil. Es gibt in der ganzen Angele- Energiequelle. Vielmehr befasst sich die Diskussion seit- genheit im Augenblick lediglich ein Stillhalteabkommen, dem mit den Fragen: Was tun wir uns an? Was tun wir den damit es möglich ist, einen vernünftigen und für alle deut- nachfolgenden Generationen an? Was bedeutet eigentlich lich werdenden Konsens zwischen dem Land Nieder-eine Endlagerung? Was bedeutet der atomare Müll für die sachsen und dem Bund zu erzielen. Dies aber ist nicht Zukunft? Wir sind mit unseren Möglichkeiten, einen Kon- Kern Ihrer Anfrage. Sie wollen im Prinzip lediglich darauf sens zu finden, heute wesentlich weiter, als Sie es sich da- hinweisen, dass die derzeit laufenden Konsensgespräche mals, während Ihrer Regierungszeit, 1990, 1991, 1992, 1993, 1994 in Ihren kühnsten Träumen hätten vorstellen nach Ihrer Meinung so überflüssig seien wie ein Kropf. Es können. gelingt Ihnen hin und wieder, dies in Ihrer polemischen Art und Weise deutlich zu machen. Aber es gelingt Ihnen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Gott sei Dank nicht, der Öffentlichkeit an irgendeiner des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Stelle ein X für ein U vorzumachen. Das zweite Element ist: Die Entscheidungen, die die (B) (D) Der Ausstieg aus der Kernenergie und damit auch die niedersächsische Landesregierung in diesen Jahren ge- troffen hat, haben in der Folgezeit deutlich gemacht, dass Fragen einer zukünftigen Endlagerung haben unmittelbar sie Recht hatte. Ich erinnere an ein Zitat der damaligen etwas mit dem zu tun, was sich derzeit auf politischer und Umweltministerin Frau Merkel: „Beim Backen fällt ir- wirtschaftlicher und damit auf der Verhandlungsebene ab- gendwann auch Backpulver daneben.“ Das sie dies im Zu- spielt. Es wird versucht, einen Konsens herzustellen, der sammenhang mit der Undichtigkeit von Castorbehältern von allen Beteiligten mitgetragen und gewürdigt werden gesagt hat, sprach gegen die Qualifikation der damaligen kann. Sie wissen das so gut wie ich. Frau Merkel und Herr Umweltministerin. Wenn ich mir überlege, was Herr Grill Stoiber haben sich ja vor einiger Zeit sehr intensiv darum eben alles von sich gegeben hat, bemüht, an den Konsensgesprächen beteiligt zu werden. (Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Wenn Sie zi- Dies geschah in erster Linie, um sie zu hintertreiben. tieren, dann zitieren Sie doch bitte richtig!) Dann hat sie ihr eigener Mut eingeholt und sie haben ge- sagt: Nein, lieber nicht. – Herr Grill, wenn der liebe Gott in der Lage wäre, selbst Ihnen etwas mehr Intelligenz zu vermitteln, dann würden In diesem Zusammenhang kann man zitieren, was die Sie unter Umständen irgendwann lernen zuzuhören –, „Lüneburger Landeszeitung“, die bei Insidern – leider ist (Zurufe von der CDU/CSU) Herr Grill jetzt nicht anwesend – weiß Gott nicht als links- radikales Blatt gilt, am 20. April 2000 geschrieben hat: dann erschüttert mich die Dreistigkeit, mit der Sie Rechts- fragen im Zusammenhang mit Gorleben diskutieren. Ich Bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass die komme aus Niedersachsen und habe mich in den letzten Strategen von CDU und CSU bei ihrem Engagement Jahrzehnten gerade im Zusammenhang mit Rechtsfragen für die Atomkraft mit gespaltener Zunge reden. Denn sehr häufig auch mit Ihrer Person auseinander setzen müs- die von der Bundesregierung und den Kraftwerksbe- sen. treibern bereits vereinbarten Zwischenlager an den (Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Hoch Kraftwerksstandorten wollen sich die Unionsregie- intelligenter Mann!) rungen von Bayern, Baden-Württemberg und Hessen mit aller Macht vom Halse halten. Das heißt: Für die Das gehört aber sicher nicht in eine solche Debatte, so Entsorgungsfrage sollen weiterhin allein die sozial- wenig wie Ihre Zwischenrufe. demokratisch regierten Länder Niedersachsen und Ich bin fest davon überzeugt, dass die Fragen, die das Nordrhein-Westfalen zuständig sein. Eine solche Po- Gericht im Zusammenhang mitGeldforderungen des 9676 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Arne Fuhrmann (A) Bundes an das Land Niedersachsen zu beantworten hat, Lieber Herr Rexrodt, auch zu Ihnen noch ein Wort: Die (C) die eine Seite sind. Die andere Seite ist die Verantwor- Sache in Niedersachsen geschah unter absoluter Mehrheit tung, mit der das Land Niedersachsen in diesen Jahren der SPD. Das sollten wir nicht vergessen. Damit haben die und auch heute noch mit dem Standort Gorleben und mit Grünen ausnahmsweise nichts zu tun. Deshalb sollten Sie den Sorgen und Nöten der Bevölkerung umgeht. Dass wir sich die Leute, denen Sie vor der Landtagswahl zuzwin- nicht alles ganz falsch gemacht haben, hat das Wahler- kern, ein bisschen genauer anschauen. gebnis im Jahr 1998 gezeigt und speziell in Ihrem Wahl- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Günter kreis, Herr Grill. Rexrodt [F.D.P.]: Habe ich nicht verstanden! – (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Dr. Uwe Küster [SPD]: Er heißt ja nicht Respice finem!) Möllemann!) Sie haben damals die größte Ohrfeige bekommen, die Wie die bisherige Debatte gezeigt hat, besteht hier keine Möglichkeit, eine ideologiefreie Diskussion über man politisch bekommen kann. Ich genieße das heute die friedliche Nutzung der Kernenergie zu führen. Dies noch, weil es mir klar macht, dass wir auf dem richtigen liegt nicht zuletzt auch an dem teilweise diffusen Weg sind. Sicherheit für die Menschen hatte immer obers- Informationsstand, auf dessen Basis nicht nur hier im te Priorität für die Sozialdemokraten und die Grünen. Haus, sondern vor allem auch in der Öffentlichkeit über (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die verschiedenen Aspekte der Kernenergie diskutiert DIE GRÜNEN) wird. Dies wird auch die Prämisse unseres weiteren Handelns Es war ja hautnah zu erleben, wie die Medien vor eini- sein. Das wird auch die Zukunft insofern bestimmen, als gen Tagen den 14. Jahrestag desReaktorunfalls von wir unablässig und mit sehr viel Energie, wenn auch un- Tschernobyl „abgefeiert“ haben: Von 30 000 bis zu ter Berücksichtigung aller Schwierigkeiten in den Kon- 150 000 Opfern des Reaktorunfalls war in Zeitungen und sensgesprächen, den Ausstieg aus der unseligen Energie, im Fernsehen die Rede. Das ist eine breite Spanne. In of- nämlich der Kernenergie, erreichen werden. fiziellen Verlautbarungen wie zum Beispiel denen der ideologisch unverdächtigen UN wird im Vergleich dazu Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. von nur 31 direkten Opfern des Reaktorunglücks ausge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gangen. Ich sage das deshalb, um auch einmal in diesem DIE GRÜNEN – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Hause auf die Diskrepanz zwischen dem Kenntnisstand Hoch interessante Ausführungen!) offizieller Quellen und dem der unabhängigen deutschen Medien hinzuweisen. Es ist klar, dass angesichts solcher Horrormeldungen der Massenmedien viele Bürger der (B) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die friedlichen Nutzung der Kernenergie kritisch gegen-(D) CDU/CSU-Fraktion gebe ich dem Kollegen überstehen. das Wort. (Monika Ganseforth [SPD]: Jetzt haben wir den Grund!) (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU): Herr Axel E. Fischer Einige Bürger wenden sich sogar voll echter Besorgnis Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! an den Petitionsausschuss des Bundestages und fordern Liebe Kollegin Griefahn, zu Ihrer Rede zwei Klarstellun- die Stilllegung aller bestehenden deutschen Kernkraft- gen, die notwendig sind: Zum Ersten. Sie sind demwerke Grunde nach zu Schadensersatzzahlungen verurteilt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Monika Griefahn [SPD]: Ich nicht!) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Natürlich nicht Sie persönlich. – Die genaue Höhe die- wie auch die Verhinderung weiterer Forschungen über die ser Zahlungen mag zwar strittig sein. Aber es wird auf je- Nutzung radioaktiver Energiequellen oder das Verbot der den Fall ein zweistelliger Millionenbetrag sein. Das kön- Inbetriebnahme neuer atomtechnischer Anlagen. nen Sie nicht von der Hand weisen. Sie können nicht so tun, als sei das nichts Schlimmes. Das ist schon etwas Be- (Monika Griefahn [SPD]: Über 60 Prozent deutendes. wollen das, Herr Fischer!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die jetzige Bundesregierung vertritt einen ähnlichen Standpunkt. Zum Zweiten. In Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes ist ganz klar festgelegt, dass sich die vollziehende Gewalt an Monika Griefahn [SPD]: Dafür sind wir Recht und Gesetz halten muss. Das gilt auch für Ihre Re- gewählt worden!) gierung, ob es Ihnen gefällt oder nicht. Sie können sich Aber das ist auch ein Zeichen dafür, wie wenig die Men- zwar darüber beschweren, was im Gesetz festgeschrieben schen über die Nutzung der Kernenergie informiert sind ist, und sagen: Das gefällt mir nicht. Aber Sie sind dafür und mit welchen Qualitätsproblemen der Konsument öf- verantwortlich, dass die Gesetze eingehalten werden. Da- fentlicher Berichterstattung in Deutschland zu kämpfen ran haben Sie sich zu halten. Das haben Sie nicht getan. hat. Das sollte man hier noch einmal klarstellen. (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU – Monika Griefahn NEN]: Die Menschen sind doof! Jetzt verstehe [SPD]: Das gilt auch für die CDU!) ich!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9677

Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (A) Die heutige systematische Diffamierung eines moder- Ansatz her nichts zu finden. Es scheint Ihnen völlig egal (C) nen und eines der meistversprechenden Industrie- und zu sein, dass wir Gorleben brauchen. Forschungszweige der Welt kommt nicht von ungefähr; Auch an etwas anderes möchte ich an dieser Stelle er- vielmehr ist sie auch das Ergebnis einer jahrzehntelangen innern, wenn Sie jetzt immer wieder über die Kernenergie ideologischen Kampagne gegen die friedliche Nutzung schimpfen: Man ist doch unter Ihrer Regierung mit we- der Kernenergie. henden Fahnen in die Atomenergie eingestiegen. (Monika Ganseforth [SPD]: Auf die Idee, dass (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Günter die Leute Recht haben könnten, kommen Sie Rexrodt [F.D.P.]: Das war Helmut Schmidt! – gar nicht!) Albert Deß [CDU/CSU]: Helmut Schmidt war Lassen Sie mich dies an einigen Beispielen deutlich ma- der größte Fan der Kernenergie!) chen: Ich nenne als erstes Beispiel Atomtransporte. Sie Ich nenne als drittes Beispiel dieGrundlagenfor- machen heute wieder Stimmung gegen Atomtransporte – schung auf dem Gebiet der Atom- und Kernphysik. Mit das wird auch über die Medien verbreitet – wegen angeb- Ihrer Forderung nach dem Ausstieg treffen Sie zum Bei- licher Gefährdungen des Begleitpersonals und der Bevöl- spiel die Krebsforschung und/oder die Fusionsforschung. kerung durch solche Transporte. Die medizinische Forschung ist ohne die kern- und atom- physikalischen Forschungen nicht denkbar. Wir können (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- doch nicht ernsthaft die Beseitigung von Hirntumoren, die NEN]: Wer hat denn die Transporte gestoppt? Chemotherapien oder Ähnliches infrage stellen. War das nicht Frau Merkel?) (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dabei stellt die Bundesregierung fest, lieber Herr NEN]: Wer will denn das? Dafür braucht man Fuhrmann, dass es bei keinem der bisherigen über 1 700 Atomkraftwerke?) Transporten von bestrahlten Brennelementen zu einer Freisetzung radioaktiver Stoffe oder einer Strahlenbelas- Wer will denn heute allen Ernstes darauf verzichten? tung des Begleitpersonals oder der Bevölkerung gekom- Menschen, die entsprechende Probleme haben, sind sehr men ist. besorgt, wenn sie mitbekommen, was Sie vorhaben. (Arne Fuhrmann [SPD]: Fragen Sie doch (Dr. Uwe Küster [SPD]: Besorgter sind sie einmal die Gewerkschaft der Polizei!) über Ihre Rede!) In der gesamten Diskussion über die zukünftige Ent- Der hohe Sicherheitsstandard von Transportbehältern wicklung der Kernenergie sollten deshalb ein fairer Um- und Zwischenlagern in Deutschland schließt eine un- gang miteinander und eine ideologiefreie Diskussion (B) zulässige Freisetzung von Radioaktivität selbst nach (D) selbstverständlich werden. Dazu gehört auch, dass Fragen schwersten Unfällen aus. Eine Gefährdung für Gesund- beantwortet werden. Wie sieht es denn nun mit den heit, Leben oder Umwelt kann daher nach Maßstäben der 30 Millionen DM aus? Dazu würden wir gerne einmal praktischen Vernunft ausgeschlossen werden. eine Antwort hören. Ich nenne als zweites Beispiel die kerntechnische For- (Arne Fuhrmann [SPD]: Sind es überhaupt schung. Sie wollen die Forschung über die Nutzung ra- 30 Millionen? Oder 27 Millionen? Oder gar nur dioaktiver Energiequellen abschaffen. Sie wollen die Be- 4 Millionen?) endigung der Nutzung von radioaktivem Material zur Energieerzeugung und ein Verbot der Inbetriebnahme Ich hoffe, dass ein ideologiefreier Umgang mit diesem neuer atomtechnischer Anlagen. Damit blockieren Sie, Thema zum Wohle unserer Generation und kommender lieber Herr Trittin, auch die Transmutationsforschung, Generationen zukünftig möglich wird. also die einzige sich derzeit abzeichnende Möglichkeit, (Beifall bei der CDU/CSU) den hoch verstrahlten Atommüll so zu bearbeiten, dass der verbleibende geringe Rest mit einer Halbwertszeit von : Als 30 Jahren nicht nachfolgende Generationen belastet. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms nächste Rednerin hat die Kollegin Michaele Hustedt von Wie wollen Sie denn den Atommüll beseitigen? der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. (Monika Ganseforth [SPD]: Das hätte man sich vorher überlegen müssen!) Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die wievielte So wie es bislang aussieht, ausschließlich auf KostenGroße Anfrage zur Atomkraft ist das in dieser Legislatur- zukünftiger Generationen – sollen die doch diese Pro- periode eigentlich? Die zweite, die dritte oder sogar die bleme lösen! Sie sind sich anscheinend zu fein dafür. Es vierte? Aus Oppositionszeiten weiß ich noch, wie viel Ar- ist Trittbrettfahrerverhalten, den preiswerten Strom aus beit es bedeutet, Große Anfragen zu schreiben. Zu allen Kernkraftwerken über Jahrzehnte genossen zu haben und anderen energiepolitischen Themen, die auf der Tages- weitere 30 Jahre davon profitieren zu wollen. Die mit der ordnung stehen, gab es keine einzige Große Anfrage; Beseitigung der Abfälle einhergehenden Forschungs- und Lagerkosten wollen Sie möglichst weit in die Zukunft (Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Das stimmt schieben. Das ist Ihr Stil. Von Nachhaltigkeit, das heißt nicht!) dauerhafter Tragfähigkeit, ist in Ihrer Politik schon vom nur zur Atomkraft haben Sie dieses Mittel benutzt. 9678 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Michaele Hustedt (A) Sie machen einen Veitstanz um die Atomkraft und fi- sich im Augenblick lediglich auf die Verweigerung einer (C) xieren Ihre Kraft im gesamten energiepolitischen Bereich gesellschaftlichen energiepolitischen Debatte. allein auf dieses Thema. Damit verabschieden Sie sich von der energiepolitischen Debatte. Ich weiß nicht, ob Ih- : Gestatten Sie jetzt nen das überhaupt auffällt. Vizepräsident eine Zwischenfrage? (V o r s i t z: Vizepräsident Rudolf Seiters) Ich war gestern mit einigen Kollegen auf einer Tagung Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): über die Kraft-Wärme-Kopplung. Das ist eine Techno- Ja. logie – 10 Prozent der Stromerzeugung kommt aus die- sem Bereich –, die von dem Sofortausstieg aufgrund der : Herr Kollege Liberalisierung, die Herr Rexrodt im letzten Jahr seiner Vizepräsident Rudolf Seiters Rexrodt. Amtszeit durchgeführt hat, bedroht ist. Wir sind immer für den Wettbewerb gewesen. Dass Sie dieses Gesetzes- werk so dünn gestrickt haben – ohne Rücksicht auf Ver- Dr. Günter Rexrodt (F.D.P.): Frau Kollegin Hustedt, luste und auf umweltfreundliche Technologien –, könnte ist Ihnen – erstens – bekannt, dass die Gesetze zur Libe- jetzt, wenn wir nicht handeln würden, zum entschädi-ralisierung des Strommarktes Ausnahmeregelungen gungslosen Ausstieg aus 10 Prozent der Stromerzeugung für den Fall vorsehen, dass Umweltaspekte, insbesondere führen. Das wäre das Ergebnis Ihrer Politik, Herr Rexrodt. die Kraft-Wärme-Kopplung, eine Durchleitung von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- Fremdstrom nicht geboten erscheinen lassen? wie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Günter Wissen Sie zweitens, Frau Hustedt, dassKraft- Rexrodt [F.D.P.]: Um 25 Prozent geringere Wärme-Kopplungsanlagen immer dann einen wirt- Preise, meine Liebe!) schaftlichen Erfolg erzielen, wenn sie in Regionen eta- Auf dieser Tagung waren Anlagenbauer und Anlagen- bliert sind, in denen ein echter Bedarf an Wärme und nicht betreiber, Vertreter der Industrie mit hohem mittelständi- nur an Strom besteht, schen Anteil. Vertreten waren auch der energiepolitische (Monika Ganseforth [SPD]: Leider ist das Sprecher der SPD, Herr Hirche und ich. Von der nicht so!) CDU/CSU-Fraktion hatte keiner Zeit. aber nicht in solchen, in denen damit irgendwelchen Pre- (Monika Ganseforth [SPD]: Die haben sich stigegedanken von Stadtwerken oder wem auch immer um die Große Anfrage gekümmert!) entsprochen werden sollte? (B) (D) Sie mussten einen Mitarbeiter schicken. Dieser arme Mit- (Monika Ganseforth [SPD]: Sodawerke, arbeiter hat zwar gesagt: Ja, wir sind für die Kraft-Wärme- Papierwerke!) Kopplung; wir sehen auch die Probleme. Aber er hatte nicht eine einzige Antwort auf die Fragen, wie diese um- Ist Ihnen drittens bekannt, Frau Hustedt, dass das Ge- weltfreundliche Technologie vor dem entschädigungslo- setzeswerk zur Liberalisierung der Strommärkte bislang sen Sofortausstieg, verursacht von Herrn Rexrodt und der zu einer durchschnittlichen Senkung der Strompreise CDU, bewahrt werden kann. um mehr als 20 Prozent geführt hat, und zwar nicht nur in der Industrie, sondern auch im Gewerbe und bei den Ta- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- rifkunden, und dass in den nächsten zwei Jahren eine wie bei Abgeordneten der SPD – Lachen bei der nochmalige Senkung der Strompreise um mindestens CDU/CSU und der F.D.P.) 15 Prozent zu erwarten ist? Herr Rexrodt, wenn Sie die Grünen als Verweigerer be- Glauben Sie, Frau Hustedt, vor diesem Hintergrund zeichnen, sage ich Ihnen Folgendes: Die Grünen sind für nicht – das ist meine Frage –, dass dieses Gesetzeswerk erneuerbare Energien. Die Grünen sind für hocheffiziente mit umweltfreundlichen Aspekten und Ausnahmerege- Nutzung der fossilen Energieträger, solange wir sie noch lungen insgesamt ein enormer Erfolg für die deutsche brauchen. Die Grünen sind für Energieeinsparung. Die Volkswirtschaft und die Verbraucher war? Grünen sind für GuD-Kraftwerke. Die Grünen sind für stärkere Wärmedämmung. Die Grünen sind für Niedrig- (Beifall der Abg. Gudrun Kopp [F.D.P.] – Abg. energiehäuser und für Nullenergiehäuser. Die Grünen Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.] macht Anstalten, sind für Nullemissionsfabriken usw. sich wieder zu setzten)

Vizepräsident Rudolf Seiters: Frau Kollegin, ge- Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): statten Sie eine Zwischenfrage? Stehen bleiben, Herr Rexrodt! So ist nun einmal die Re- gel. Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Horst Kubatschka [SPD]: Er ist erschöpft von Nein. den langen Ausführungen!) Ihre Energiepolitik, vor allen Dingen die Energiepoli- Zuerst zu Ihrer Frage, ob mir bekannt ist, dass bei der tik der CDU – denn Herr Hirche hat sich gestern in der Tat Kraft-Wärme-Kopplung im Energiewirtschaftsgesetz ein sehr interessant in die Debatte eingeschaltet –, reduziert Recht zur Durchleitungsverweigerung – aus Gründen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9679

Michaele Hustedt (A) des Schutzes – besteht. Das ist mir bekannt. Nur zeigt ge- konzernen, der aus den Kampfkassen subventioniert wird, (C) rade das, wie dilettantisch Sie an diesem Gesetz gestrickt angeboten bekommt. haben. (Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- „Dumpingstrom“!) SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Daneben gibt es außerdem die Stadtwerke, die ihre Ge- Diese Regelung ist überhaupt nicht anwendbar, sie ist eine winne während der Monopolzeiten für sinnvolle Zwecke reine Placebolösung, die keine einzige Kommune anwen- verwendet haben, beispielsweise für den ÖPNV oder det. Kein Bürgermeister kann sagen: Wir haben Kraft- Freibäder. Wärme-Kopplungsanlagen; die Bürger überall um uns herum dürfen den Strom frei wählen, nur in meiner Kom- Die von Ihnen durchgeführte Liberalisierung des mune verbiete ich das. – Das ist doch politisch überhaupt Marktes führt aber nun dazu, dass im Augenblick die um- nicht durchsetzbar und das wussten Sie auch. weltfreundlichste Technologie, die fossile, endliche Ener- (Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Das kann der gieträger ersetzen kann, Schritt für Schritt vom Markt ver- Bürgermeister doch machen!) schwindet. Wenn wir nicht eingreifen, wird diese als Er- gebnis Ihrer Politik bald ganz vom Markt verschwunden Sie haben diese Regelung bewusst hineingeschrieben, sein. weil Sie keinen ernsthaften Schutz für die Kraft-Wärme- Kopplung wollten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Zweitens. Sie haben behauptet – eigentlich sollten Sie ja fragen, aber Sie haben behauptet –, es gebe kein Poten- Sie hatten in Ihrer Frage noch nach einem weiteren zial für Kraft-Wärme-Kopplung. Ich sage Ihnen Folgen- Teilaspekt gefragt, nämlich danach, ob ich wisse, dass die des: Allein durch die Modernisierung der bestehenden Strompreise gesunken seien. Darauf antworte ich: Ich Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen könnten wir mit dem weiß, dass die Strompreise gesunken sind: die von der In- gleichen Wärmepotenzial doppelt so viel Strom produzie- dustrie verlangten um 20 Prozent, die von den Stadtwer- ren, damit mehrere Atomkraftwerke CO2-frei abschalten ken verlangten um 50 Prozent, die von den Bürgern ver- und gleichzeitig diesen Industriezweig erhalten. Wirlangten um 5 bis 10 Prozent. haben über das Wirtschaftsministerium mehrere Studien in Auftrag gegeben. DasWärmepotenzial der Kraft- (Albert Deß [CDU/CSU]: Aber über die Öko- Wärme-Kopplung reicht mindestens für eine Verdopp- steuer kassiert ihr wieder ab!) lung und noch weit darüber hinaus, weil es nämlich noch Das ist gut so. Deswegen waren auch wir immer dafür, große ungenutzte Potenziale dieser umweltfreundlichen (B) Wettbewerb im Energiebereich einzuführen, weil, wie(D) Technologie zur effektiven Nutzung fossiler Energieträ- man sieht und wie vorhin schon gesagt wurde, die Mono- ger gibt, die bekanntlich endlich sind, insbesondere im Bereich Industrie für die Prozesswärme und im Bereich pole über Jahrzehnte überhöhte Preise genommen haben. dezentraler Blockheizkraftwerke. Diese Frage ist unter uns nie strittig gewesen. Das Potenzial ist vorhanden und diese Energie ist auch Ich erinnere an Ihren Entwurf zum Energiewirtschafts- wirtschaftlich. Warum aber ist sie im Augenblick sozusa- gesetz aus der letzten Legislaturperiode. In der Begrün- gen so in Schwierigkeiten? Das kann ich Ihnen auch sa- dung ist – ich habe ihn nicht mit, ich kann ihn also nicht gen: Das hängt damit zusammen, dass wir hier aufgrund wörtlich zitieren, aber ich weiß noch, was sinngemäß Ihrer Art der Liberalisierung keinen echten, fairen Wett- drinsteht – ein Verweis auf das grüne Poolmodell enthal- bewerb haben. ten, also auf unseren Vorschlag, wie die Liberalisierung durchgeführt werden könnte. Sie haben in dieser Begrün- (Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Das verstehe ich nicht!) dung eingestanden, dass dieses Poolmodell den intensiv- sten Wettbewerb bringen würde. So sieht der Sachverhalt – Das verstehen Sie nicht, das weiß ich, denn Sie haben es aus. Das heißt, wir sind immer für Wettbewerb gewesen, noch nie verstanden. Deshalb haben Sie es auch falsch ge- aber haben zugleich gesagt, Wettbewerb muss mit Um- macht. weltschutz verbunden werden. Beides zusammen ist un- Wir haben in Deutschland hohe Überkapazitäten an ser Ziel und muss umgesetzt werden. Strom. Jetzt beginnt sozusagen im Wettbewerb das Ab- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schleifen der Überkapazitäten. Das ist sehr gut so. Die sowie bei Abgeordneten der SPD) Frage ist nur, ob die Player dabei gleichberechtigt sind. Das sind sie nicht. Auf der einen Seite haben wir die großen Stromkonzerne, die jahrzehntelang überhöhte Preise ge- Vizepräsident Rudolf Seiters: Frau Kollegin, nach- nommen haben, auch von uns Bürgern, und ihre Kampf- dem Sie jetzt gerade hemmungslos die Chance genutzt kassen auch aufgrund der von Ihnen geforderten Rück- haben, Ihre Redezeit auszuweiten, könnten Sie jetzt eine stellungen prall gefüllt haben. Auf der anderen Seite ha- zweite Chance dazu bekommen, wenn Sie eine weitere ben wir die Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen Zwischenfrage der des Kollegen Rexrodt zulassen. Industrie, die kein strategisches Interesse daran hat, Strom zu erzeugen, und sofort ihre umweltverträglichen Anla- (Heiterkeit bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ gen abschaltet, wenn sie Dumpingstrom von den Strom- DIE GRÜNEN und der CDU/CSU) 9680 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

(A) Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): litik, die trotz ernst zu nehmender Kritik durchgesetzt(C) Ich glaube, ich habe den Hinweis verstanden. Ich lasse sie wurde. nicht zu. (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: „Ohne (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ Rücksicht auf Menschenleben“ ist wirklich DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der starker Tobak!) SPD – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Feige!) Die Bundesregierung wird jetzt versuchen, diesen un- – Herr Rexrodt, ich glaube nicht, dass ich feige bin. Ich soliden Entsorgungsnachweis auf eine solide Basis zu würde sie gerne zulassen, aber dann bekomme ich Ärger stellen, indem wir mit den Stromkonzernen darüber spre- mit dem Präsidium. Dennoch hat es eben Spaß gemacht. chen, dass der atomare Müll nicht sinnlos durch die Ge- gend transportiert wird. Er soll vielmehr in den Meine These ist: Ihre Politik, die einen Tanz um das Atomkraftwerken zwischengelagert werden. goldene Kalb Atomkraft darstellt, das schon lange nicht mehr golden ist, sondern längst blechern ist (Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Und dann?) In diesem Zusammenhang ist es schon interessant, dass (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/ sich Stoiber auf einmal in der Anti-Atom-Bewegung ge- DIE GRÜNEN]: Verrostet!) gen diese Zwischenlager wiederfindet. Ich kann dazu nur – „verrostet“, genau –, hindert Sie daran, aktuell in die sagen: Willkommen im Kreis derjenigen, die auf die Ver- spannende Debatte über eine neue und moderne Energie- stopfungsstrategie setzen. Ich glaube aber nicht, dass es politik einzusteigen. moralisch lange durchgehalten werden kann, im Land Bayern die meisten Atomkraftwerke zu betreiben und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gleichzeitig zu sagen, dass man mit dem Müll, der über und bei der SPD) Zehntausende von Jahren strahlt, nichts zu tun haben will, Deshalb diskutieren wir heute wieder einmal über einen dass er in Niedersachen und Nordrhein-Westfalen gela- Unteraspekt von Atomkraft, über Gorleben. gert werden soll. Was ist eigentlich die wahre Ursache für die Probleme Dieses Spiel machen wir nicht mit. Wir werden mit den Stromkonzernen ein solides Entsorgungskonzept erarbei- mit Gorleben? Die wahre Ursache ist doch, dass die Be- ten, obwohl das wahrlich nicht unsere Aufgabe ist; denn treiber von Atomkraftwerken sowohl Gorleben als auch die Grünen – das muss ja wohl jeder einsehen – sind die Wiederaufbereitung nur deswegen betrieben haben, diejenigen, die überhaupt keine Schuld daran tragen, dass weil sie kein solides Entsorgungskonzept hatten. Sie (B) wir uns jetzt in dieser Misere befinden und nicht wissen, (D) mussten nämlich nachweisen können, dass Gorleben aus- wohin mit den vielen Tonnen von Atommüll. reichend untersucht sei und die Wiederaufbereitung viel teurer wäre und noch mehr Müll produziert hätte. Anson- Danke schön. sten hätten sie nämlich keinen Entsorgungsnachweis ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN habt und dann hätte selbst eine CDU-Regierung die und bei der SPD – Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Atomkraftwerke schließen müssen. Deshalb musste Gor- Größter Unsinn aller Zeiten!) leben ohne Rücksicht auf Verluste, ohne nach rechts und links zu schauen und ohne ernst zu nehmende Kritik da- Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich gebe das Wort für ran zuzulassen, weiterbetrieben werden. die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Kurt-Dieter Grill. Es ist zum Beispiel so, dass alle aktuellen Diskussio- nen über sichere Entsorgungskonzepte davon ausgehen, Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine dass die Rückholbarkeit gesichert sein muss. Menschen sehr geehrten Damen und Herren! Es war schon ganz in- sollten sich nicht anmaßen, darüber zu entscheiden, ob ein teressant zu beobachten, dass diejenigen, die seitens der Lager tatsächlich Zehntausende von Jahren sicher ist. Das Koalition und der Bundesregierung hier geredet haben, Lager muss deshalb das Kriterium der Rückholbarkeit für zum eigentlichen Kern der Großen Anfrage und dem darin den Fall erfüllen, dass wider Erwarten ein Problem auf- angesprochenen Problem bis auf ein paar wenige Sätze taucht. Dieses Kriterium erfüllt zum Beispiel Gorleben gar nichts gesagt haben – im Gegenteil. nicht. (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Gorleben hat Frau Griefahn, Sie haben sogar noch den Versuch ge- 250 Millionen Jahre keine Veränderung zu er- macht, uns zu erklären, dass das, was von Ihnen veran- warten!) staltet wurde und was dokumentiert wurde, von Frau Nur weil die laufende Untersuchung den Entsorgungs- Merkel verursacht worden sei. Sie haben es so dargestellt, nachweis sichern konnte, brauchten solche Bedenken we- als seien Sie sozusagen in den Rechtsbruch getrieben wor- der von der alten Bundesregierung noch von der Atomin- den. Was für eine geradezu abwegige Schilderung! dustrie ernsthaft beachtet zu werden. Es ging ohne Rück- Frau Hustedt, Sie sind eigentlich intelligent genug, um sicht auf Menschenleben und ohne Rücksicht hier auf nicht das Argument vorzutragen – ich weise diesen Widerstände und Proteste vor Ort um eine Pro-Atom-Po- Vorwurf mit aller Schärfe zurück –, wir würden unsere Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9681

Kurt-Dieter Grill (A) Politik ohne Rücksicht auf Menschenleben machen. Ich Sie haben Atommüll ins Ausland verschoben. Darf ich (C) fordere Sie auf, sich dafür zu entschuldigen. Sie daran erinnern, dass die Altverträge, die ersten völ- kerrechtlich verbindlichen Verträge unter der Regierung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Helmut Schmidt entstanden sind? Das ist doch das, wo- Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Herr gegen Sie zu Felde gezogen sind. Sie haben die Leute auf Grill, jede Ihrer Reden erfordert eine Entschul- die Straße getrieben und beschweren sich hier über die digung!) Polizeikosten. Wenn Sie der alten Koalition Unfähigkeit vorwerfen, (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Gehen dann müssen Sie den Menschen an den dezentralen Zwi- Sie doch nicht immer in die graue Vorzeit schenlagerstandorten, die Sie jetzt so preisen, einmal er- zurück! Das ist doch völliger Unsinn!) klären, warum Sie für diesen Bau das Muster von Gorle- ben und Ahaus verwenden. Egal, ob Sie Fuhrmann,Im Übrigen sind die 100 Millionen DM genauso falsch Kubatschka oder wie auch immer heißen: Sie könnenwie die 50 Millionen, die der erste Transport gekostet ha- nicht behaupten, dass die CDU/CSU für alles verantwort- ben soll. Im niedersächsischen Landeshaushalt steht, was lich ist, was im Zusammenhang mit Gorleben geschieht. der erste Polizeieinsatz gekostet hat: nicht die öffentlich diskutierten 40 Millionen DM, sondern 7 Millionen DM. Darf ich Sie daran erinnern, dass etwa die SPD im nie- Um auf 100 Millionen DM zu kommen, müsste der ein- dersächsischen Landtag Ernst Albrecht in die Parade ge- gesetzte Polizist – und so wird es veranschlagt und ge- fahren ist, indem sie gesagt hat: Du kannst dich nicht mit rechnet – 120 DM pro Stunde verdienen. Gehen Sie mal den fünf niedersächsischen Kernkraftwerken schmücken; raus und sagen den Polizisten, für sie würden 120 DM pro vier davon haben wir genehmigt. – 80 Prozent der Kern- Stunde veranschlagt. Die würden sich bedanken; denn das kraftwerke in Deutschland sind zurzeit der SPD-Regie- steht nun wirklich nicht mir ihren Gehältern in Einklang. rung entstanden. Darüber hinaus, Herr Kollege Fuhrmann, will ich Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) darauf aufmerksam machen, dass Ihre Genossen in Alles, was in Deutschland im Hinblick auf die Entsorgung Lüchow-Danneberg gerade umlernen. Die haben begrif- errichtet wurde, Frau Griefahn – ob in Gorleben oderfen, dass sie jetzt eine andere Bundesregierung haben. Sie Ahaus –, ist die Folge einstimmiger Beschlüsse des Bun- haben nämlich in der letzten Kreistagssitzung gesagt, sie des und der Länder. könnten wohl nicht mehr so gegen die Transporte mar- schieren, weil das jetzt ihre Bundesregierung sei. Eine er- Sie haben als niedersächsische Umweltministerin im staunliche Erkenntnis! August 1990 durch Ihren Staatssekretär Bull und durch (B) Ihren Ministerpräsidenten einem Beschluss – es war ein (Arne Fuhrmann [SPD]: Es gibt doch noch gar (D) einstimmiger Beschluss, mit Gerhard Schröder auf keine Transporte! Was soll dieser Quatsch? Das Wunsch von Johannes Rau – zugestimmt, in dem steht: sind doch wieder solche Sprüche, die Sie gar Der Bund wird aufgefordert, schnellstmöglich ein Endla- nicht beweisen können!) ger für nicht Wärme entwickelnde Abfälle zu bauen – Wenn Herr Trittin Kokillen aus Frankreich nach Gorleben nicht zu planen, sondern zu bauen. schickt, dann sind das Transporte, die anständig und si- Konrad ist doch nur „im Geschäft“, weil der ehema- cher sind. Sie waren nur unanständig und unsicher, lige Parlamentarische Staatssekretär Stahl den Arbeits- (Arne Fuhrmann [SPD]: Sie sind doch der un- plätzen in Konrad den Vorzug gegeben hat. Das ist doch anständige Brandstifter!) die Wahrheit! Sie haben weder ein moralisches noch son- stiges Recht, sich hier hinzustellen und Ihre politische solange Frau Merkel Bundesumweltministerin war. Das Agitation gegen die Kernenergie als Rechtfertigung für ist die Logik Ihrer Argumente. den Rechtsbruch zu missbrauchen. Das stimmt doch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) vorne und hinten nicht. Frau Griefahn, Ihr Auftritt war wirklich peinlich, un- Im Übrigen kann ich, was die Frage einer modernen glaublich: Energiepolitik angeht, nur sagen: Es war die SPD-Bun- destagsfraktion, die bis zur letzten Sitzung der Steue- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ihre rungsgruppe am Energiedialog der Bundesregierung nicht Rede ist peinlich!) teilgenommen hat. Wir haben am Tisch gesessen, SieSie haben sich hier hingestellt und den Unfall im Schacht nicht. Sie haben Ihren eigenen Minister im Stich gelassen. als Anlass und Begründung für Ihre Rechtsbrüche ge- Das alles trägt im Grunde genommen überhaupt nicht. nommen. Der Bundesumweltminister hat hier – lieber Herr (Widerspruch bei der SPD) Trittin, das ist Ihnen ja eigen – sozusagen das Verhalten Sie waren zu der Zeit, als der Unfall passiert ist, gar eines Brandstifters an den Tag gelegt, der anschließend nicht im Amt. Der Unfall ist 1987 passiert. Die zwei auch noch Feuerwehr spielen will. So wie Sie hier argu- Jahre Stillstandszeit zur Überprüfung des Salzstockes mentiert haben, hält das einer Prüfung überhaupt nicht Gorleben haben Werner Remmers als Umweltminis- stand. ter von Niedersachsen – CDU – und Klaus Töpfer als (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Bundesumweltminister – ebenfalls CDU – veranlasst. 9682 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Kurt-Dieter Grill (A) Erst 1989 haben wir die Erkundung wieder aufgenom- der Union, mit Frau Merkel und Herrn Töpfer, verhandelt (C) men. hat, in seiner eigenen Partei keine Mehrheit hatte. (Zuruf von der SPD: Als ob wir hier alle ge- (Monika Ganseforth [SPD]: Das stimmt doch schichtliche Deppen wären! Für was halten Sie überhaupt nicht! Das wissen Sie auch! Das wird eigentlich das Parlament, Herr Kollege?) auch durch Wiederholung nicht besser!) Es ist unglaublich, dass Sie sich hier hinstellen und mit ei- Deswegen brauchen Sie bei uns auch nicht nachzufragen. nem Toten aus einem Bergunfall, der mit Kerntechnik gar Wenn Sie einen ernsthaften Konsens wollen, laden Sie nichts zu tun hat, Ihre Rechtsbrüche rechtfertigen. Das ist uns dazu ein. Aber Sie möchten Ihre Energiepolitik lieber der Punkt, über den wir reden. alleine machen, so sieht es jedenfalls zurzeit aus. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Vizepräsident Rudolf Seiters: Herr Kollege Grill, Vizepräsident Rudolf Seiters: Nunmehr hat der Ihre Redezeit ist abgelaufen, aber Frau Griefahn möchte Kollege Horst Kubatschka für die SPD-Fraktion das Wort. Ihnen gern eine Frage stellen. Ich gebe Ihnen gern Gele- genheit, sie zu beantworten. Horst Kubatschka (SPD): Sehr geehrter Herr Präsi- dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich auf die heutige Debatte mit einer Rede vorbereitet, die ich (CDU/CSU): Es wird mir eine Kurt-Dieter Grill jetzt leider nicht halten kann; denn man muss einigen Freude sein. Fouls, die hier von der rechten Seite begangen wurden, (Zuruf von der SPD: Unglaublich!) begegnen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Monika Griefahn (SPD): Herr Grill, in dem Moment, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) in dem es Risse im Schacht gibt und dadurch die Stand- Herr Kollege Grill, durch Wiederholungen werden Ihre sicherheit zumindest gefährdet sein kann: Finden Sie es Legenden nicht wahrer. nicht angemessen, das überprüfen zu lassen, damit nicht ein weiterer Unfall passiert? Ist das nicht unabhängig (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten davon, ob ich im Amt war oder nicht? Ist das nicht meine des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Fürsorgepflicht, Herr Grill? Sie versuchen permanent, Legenden zu bilden. Außerdem (B) betreiben Sie eine rückwärts gewandte Politik. (D) (Beifall bei der SPD – Zuruf der Abg. Monika Ganseforth [SPD]) (Monika Ganseforth [SPD]: Das ist wohl wahr!)

Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): Frau Ganseforth, die Ich gebe zu: Es ist geschichtliche Wahrheit, dass auch Intelligenz der Zwischenrufe wächst nicht mit der Laut- die Regierung Schmidt auf Kernenergie gesetzt hat. Auch stärke. die Sozialdemokratie in den 50er- und 60er-Jahren hat auf Kernenergie gesetzt. Das ist angesichts dessen, was (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- uns die Wissenschaft damals versprochen hat, auch ver- NEN]: Sie war ganz leise! – Weitere Zurufe von ständlich. der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN) (Jörg Tauss [SPD]: Das ist ja unglaublich! Jetzt geht Herr Grill!) – Ich habe mir in den letzten 20 Minuten von diesem Pult Die Wissenschaft hat uns damals eine Welt ohne Energie- aus einiges anhören müssen. probleme versprochen. Darauf ist die Politik hereingefal- Frau Kollegin Griefahn, Sie haben Recht, man muss len. das alles prüfen. Nur, als Sie im Amt waren, war das alles Außerdem hat Herr Minister Trittin überhaupt nicht da- geprüft. Das ist der Punkt. Das heißt, der Unfall von 1987 von gesprochen, dass Atommüll ins Ausland verschoben kann doch nicht die Rechtfertigung für den Rechtsbruch wird. Auch das ist wieder Legendenbildung. Aber Ihre 1990, 1991, 1992 und 1993 sein. Das war auch damals Legenden sind geplatzt wie Seifenblasen. nicht die Begründung. Diese Begründung schieben Sie erst heute nach. Herr Rexrodt, ich war sehr verwundert, dass Sie plötz- lich über Kernenergie gesprochen haben. Genauso ver- (Monika Griefahn [SPD]: Neue Risse!) wundert war ich, dass Ihre Fachpolitiker aus dem Aus- Ich will Ihnen zum Schluss, weil Sie sich hier immer schuss für Umwelt nicht da sind. Am Ende Ihrer Rede hinstellen und sagen, wir hätten keinen Energiekonsens wusste ich, warum sie nicht da sind. Sie hätten sich zu gewollt, Folgendes sagen: Alle Versuche, mit Gerhard Tode geschämt, Schröder einen Energiekonsens herzustellen, sind nicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ an der Union gescheitert sind, sondern an der Tatsache, DIE GRÜNEN – Axel E. Fischer [Karlsruhe- dass Gerhard Schröder 1993 und 1997 für das, was er mit Land] [CDU/CSU]: Oje, oje!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9683

Horst Kubatschka (A) denn Sie haben überhaupt keine Ahnung von Kernener- Sie kämpfen also für eine völlig falsche Sache. Die Kern- (C) gie. Wenn Sie in der Schule in der sechsten Klasse zu die- energie ist die Technik des letzten und nicht die des kom- sem Thema diesen Vortrag gehalten hätten, hätte die Leh- menden Jahrhunderts. rerin gesagt: Setzen, Sechs! Sie haben nämlich völlig das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Thema verfehlt. DIE GRÜNEN) Außerdem möchte ich Ihnen in Erdkunde etwas wei- Ich bitte Sie um Folgendes: Gehen Sie einmal in die Bi- terhelfen. Gorleben liegt in Niedersachsen und nicht in bliothek des Deutschen Bundestages und informieren Sie Nordrhein-Westfalen oder China. Aber diese Probleme sich in Fachbüchern über die verbleibenden Reserven an haben Sie aufgegriffen. Uran. Dann werden Sie mit Erstaunen feststellen, dass die verbliebenen Mengen an Uran nicht länger zur Verfü- (Zuruf des Abg. Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]) gung stehen, als dies vergleichsweise beim Erdöl und – Stellen Sie mir doch eine Zwischenfrage; die Chance, beim Erdgas der Fall ist. Die Kernenergie ist eine Tech- sie zu beantworten, hätte ich gerne. nik, die von einem begrenzten Rohstoff ausgeht. Deswe- gen haben wir auf zukünftige Technologien gesetzt. Sie haben behauptet, derSalzstock Gorleben sei 250 Millionen Jahre stabil gewesen. – Es hat aber Zwei- Nun möchte ich aber doch ganz kurz auf die vorlie- fel an der Stabilität gegeben, weil Risse aufgetreten sind. genden Petitionen eingehen. Ich halte es für richtig, dass Deshalb ist diese Stabilität kritisch zu hinterfragen, des- diese Petitionen der Bundesregierung als Material und halb hat man mit Erkundungen begonnen. den Fraktionen zur Kenntnis überwiesen werden. Ich halte nicht alle Forderungen der Petition Hufnagel für Jetzt noch zu Herrn Kollegen Fischer: Er hat von einer richtig. Einige sind aber bereits erfüllt worden. Ich viel versprechenden Technik gesprochen. Wenn Sie das in möchte dies an einem Beispiel aufzeigen: Die Förderung den 50er- und 60er-Jahren gesagt hätten, hätten Sie dafür umweltfreundlicher regenerativer Energien wurde Beifall bekommen. Auf diese Illusionen sind wir damals durch die Bundesregierung und die sie tragenden Koaliti- hereingefallen, auch ich als Student. Und weil Sie immer onsfraktionen auf den Weg gebracht. Wir haben die ent- von „Ideologie“ sprechen: Harrisburg war keine Ideolo- scheidenden Gesetze beschlossen, die besser wirken, als gie, Tschernobyl war keine Ideologie und auch Tokaimura wir uns das vorgestellt haben. Das ist ein Erfolg. war keine Ideologie. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, gefreut hat mich die (B) Petition der Klasse 6 der Grund- und Hauptschule mit(D) Ein hochtechnisches Land wie Japan rührt eine Atom- Werkrealschule Waldburg. bombe in Stahleimern zusammen. Das beweist doch nur: Selbst ein Land wie Japan kann mit einer solchen Technik (Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Dafür sind Sie nicht umgehen. der richtige Mann!) (Zuruf des Abg. Axel E. Fischer – Auf dieses Niveau, Herr Rexrodt, habe ich Sie gestellt. [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]) Mit Ihren Kenntnissen wären Sie in dieser Klasse durch- gefallen. – Es freut mich, dass sich junge Menschen mit – Stellen Sie bitte eine Zwischenfrage! ihrer Zukunft auseinander setzen. Dies ist in der Begrün- dung des Petitionsausschusses sehr schön formuliert. Ich Außerdem haben Sie anscheinend noch nicht mitbe- möchte aus dieser Begründung zitieren: kommen, dass die deutsche Industrie aus dieser Techno- logie ausgestiegen ist. Seit den 80er-Jahren gibt es keine Der Petitionsausschuss unterstützt das Anliegen. Er Bestellungen von Kernkraftwerken in Deutschland mehr. freut sich, dass sich Jugendliche für eine sichere Zu- kunft einsetzen und sich mit ihren Forderungen an (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ das Parlament gewandt haben. Sie unterstützen damit CSU]: Weil Sie das Klima versaut haben! – das Bemühen und den Wunsch vieler Menschen, in Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) einer intakten Umwelt zu leben und den eigenen – Herr Kollege, Sie haben bis vor kurzem regiert. Also Nachkommen die Erde wohlbehalten zu überlassen. Der Ausschuss wünscht sich und den Jugendlichen, hätten Sie es versaut. Leider haben Sie das nicht, denn Sie dass sie in ihrem Engagement nicht nachlassen. versuchen, diese rückwärts gewandte Technik fortzu- führen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich halte das für eine gute Begründung. Ich möchte die Außerdem ist doch, wie gesagt, die Industrie jungen in Menschen ermutigen, sich mit ihren Forderungen Deutschland längst ausgestiegen. Siemens arbeitet mit an das Parlament zu wenden, damit wir uns mit ihnen aus- französischen Unternehmen zusammen. Es gibt keinen einander setzen können. Noch einmal herzlichen Glück- deutschen Hersteller mehr. wunsch, dass diese Klasse so erfolgreich war. (Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Nachdem Sie sie Ein etwas bitterer Nachgeschmack ist dennoch vor- vertrieben haben!) handen: Diesen jungen Menschen hinterlassen wir ein 9684 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Horst Kubatschka (A) sehr schweres Erbe. Denn sie müssen die Probleme der zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften (C) Endablagerung lösen. Wir haben zwar eine Technik auf (Seuchenrechtsneuordnungsgesetz – den Weg gebracht, überlassen es aber der nächsten und SeuchRNeuG) übernächsten Generation, die Probleme dieser Technik zu lösen. Das ist eine sehr schwere Hypothek für die kom- – Drucksache 14/2530 – menden Generationen. (Erste Beratung 84. Sitzung) In diesem Zusammenhang möchte ich aus dem Gut- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- achten 2000 des Umweltrates zitieren: ses für Gesundheit (14. Ausschuss) Der Umweltrat hält insbesondere wegen der in wei- – Drucksache 14/3194 – ten Teilen ungelösten Entsorgungsprobleme eine Berichterstattung: weitere Nutzung der Atomenergie für nicht vertret- Abgeordnete Monika Knoche bar. Detlef Parr Das ist das Entscheidende: Dieses Problem ist nirgendwo Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die auf der Welt gelöst. Selbst die größten Atomfreaks inAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dagegen gibt Frankreich haben dafür keine Lösung. es keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst der CSU]: Da hätten Sie besser zuhören sollen!) Bundesministerin für Gesundheit, Frau Andrea Fischer, das Wort. Wir belasten zukünftige Generationen. Deswegen ist der Ausstieg aus der Kernenergie notwendig und richtig. (Unruhe) Denn damit begrenzen wir dieses Problem. – Ich darf die Kolleginnen und Kollegen, die den weite- Ich danke Ihnen für das Zuhören. ren Beratungen nicht beiwohnen möchten, bitten, den Raum zu verlassen. – Ich bitte nunmehr um Ihre Auf- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ merksamkeit für die Rednerin. DIE GRÜNEN)

Andrea Fischer, Bundesministerin für Gesundheit: Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich schließe die Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch wenn Aussprache. hier immer ein Kommen und Gehen ist, wenn das Thema Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Peti- wechselt: Ein bisschen symptomatisch für das Thema ist (B) (D) tionsausschusses, zunächst zur Sammelübersicht 31 auf das schon. „Seuchenrechtsneuordnungsgesetz“ klingt in der Tat so, dass man gerne stiften gehen möchte. Drucksache 14/564. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor, über den wir zuerst abstim- (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ men. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksa- CSU]: Kaum hört man „Seuche“, hauen sie alle che 14/3296? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – ab!) Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der SPD, des Das ist das Schicksal des Gesetzes, obwohl man, wie ich Bündnisses 90/Die Grünen und der PDS gegen die Stim- finde, gar nicht hoch genug einschätzen kann, was wir men von CDU/CSU und F.D.P. abgelehnt. heute hier vorliegen haben und hoffentlich auch verab- Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Petiti- schieden werden. Ich glaube, dass das ein wirklich großer onsausschusses? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-Schritt ist. gen? – Die Sammelübersicht 31 ist mit der gleichen Um es auch für diejenigen nachvollziehbar zu machen, Mehrheit angenommen. warum das wichtig ist, die nicht täglich mit diesen Fragen Wir kommen zur Sammelübersicht 69 auf Drucksache befasst sind, führe ich den Fall des Mannes an, der letztes 14/1562. Hierzu liegt ebenfalls ein Änderungsantrag der Jahr aus Afrika mit einer sehr schweren Infektions- Fraktion der CDU/CSU vor. Über ihn stimmen wir jetzt krankheit zurückkam. Manches von dem, was da gesche- ab. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache hen ist, hat quasi die Regelungen vorweggenommen, die in diesem Gesetzentwurf vorgesehen sind. Daran kann 14/3297? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der man, so glaube ich, erkennen, wie wichtig es ist. Änderungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen vonEs geht darum, den Schutz der Bevölkerung auf ei- CDU/CSU und F.D.P. abgelehnt. nem Gebiet, das für uns in den nächsten Jahren eher wich- tiger werden wird, nämlich beiInfektionskrankheiten, Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Petiti- zu erhöhen sowie Vorbeugung zu betreiben und Vorsorge onsausschusses? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? dafür zu treffen. – Die Sammelübersicht 69 ist mit der gleichen Mehrheit angenommen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 16 auf: Bei diesen spektakulären Fällen wird dann auch die Auf- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- merksamkeit der Öffentlichkeit auf dieses Thema gelenkt. gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Aber man sollte es noch einmal sagen: Krankheitserreger Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9685

Bundesministerin Andrea Fischer (A) sind bei der Entstehung von sehr vielen Krankheiten Voraussetzung dafür ist, das Meldesystem für über- (C) beteiligt. Wir gehen davon aus, dass etwa 25 bis 30 Pro- tragbare Krankheiten neu zu strukturieren und den ak- zent aller Diagnosen und Behandlungen mit Infektions- tuellen Erfordernissen anzupassen. Wir wissen inzwi- krankheiten zusammenhängen. Damit ist das wirklich ein schen, aufbauend auf den Erfahrungen mit der Krankheit bedeutsamer Faktor für die Gesundheitsversorgung und Aids, die im Untersuchungsausschuss aufgearbeitet wor- den Umgang damit. den sind – das wird in dieser Debatte sicher noch eine Rolle spielen –, wie bedeutsam es ist, dass wir neu auf- Viele Infektionskrankheiten werden wir nicht – was ein tretende übertragbare Krankheiten und Krankheitserreger alter Traum ist – endgültig ausrotten können; zumindest erfassen können. können wir das zurzeit nicht. Aber wir können die Infek- tionen damit vermeiden. Das geht vor allen Dingen durch Das Robert Koch-Institut spielt dabei eine wichtige Schutzimpfungen – wie gegen Masern, Diphtherie, He- Rolle; denn dort sollen die Koordinierung der Datenauf- patitis B oder Kinderlähmung – sowie durch andere For- bereitung und die Analyse erfolgen, natürlich in enger Ab- men von Vorsorge, durch Früherkennung, Aufklärungstimmung mit den Ländern. Es soll auch ein Knotenpunkt bei der Beratung sein, wie diese Erkenntnisse umgesetzt über Ansteckungsgefahren und gezielte Maßnahmen der werden können. Gesundheitsbehörden. Das alles steckt in dieser Gesetzes- änderung drin. Neben der Erweiterung unseres Wissens- und Kennt- nisstandes kommt auch der Aufklärung über die Verhü- Voraussetzung dafür, dass das möglich wird, ist eine tung von Infektionsgefahren eine wichtige Rolle zu. Wir gezielte Krankheitsüberwachung. In den 70er-Jahren un- haben den öffentlichen Gesundheitsdienst im Gesetzent- terlag man der, wie wir heute wissen, Fehleinschätzung, wurf dazu verpflichtet, diese Aufgabe wahrzunehmen. dass Infektionskrankheiten zurückgehen undSeuchen Bei den sexuell übertragbaren Krankheiten und der Tu- überhaupt keine Rolle mehr spielen würden. Das hat dazu berkulose soll den Gesundheitsämtern im Einzelfall sogar geführt, dass man den Instrumenten, die zur Verfügung die Behandlungsbefugnis eingeräumt werden. Auch in die stehen, um Vorbeugung zu betreiben und die Gefahren zu neuen Vorschriften zur Prävention von Geschlechtskrank- bekämpfen, immer weniger Aufmerksamkeit widmete. Es heiten und zur Rolle der öffentlichen Gesundheitsdienste hat auch dazu geführt, dass man den öffentlichen Ge-haben sehr stark die Erfahrungen aus dem Umgang mit sundheitsdienst vernachlässigt und ihn nicht weiterent- Aids Eingang gefunden. wickelt hat. All diese Mängel wollen wir mit diesem Ge- setz beseitigen. Es gibt auch veränderte Vorschriften, was die Infekti- onsverhütung in Krankenhäusern und die Überwachung Wir modernisieren sehr umfassend ein Seuchenrecht, medizinischer und sonstiger Einrichtungen, bei denen die (B) das weitestgehend aus den 50er- und 60er-Jahren stammt. Gefahr der Übertragung von Krankheitserregern besteht, (D) An dem Punkt sind sich, wenn ich recht informiert bin, anbelangt. alle Parteien und auch Bund und Länder einig, bei allen Unterschieden, die wir gegebenenfalls im Detail haben. Dass der öffentliche Gesundheitsdienst tatsächlich eine Ich will hier ausdrücklich sagen: Dieses Gesetz baut auf so wichtige Rolle spielen kann, setzt voraus, dass er von uns dafür besser instand gesetzt wird. Dazu gehört, dass langjährigen Vorarbeiten aus der letzten Legislaturperi- er von überflüssigen Aufgaben, die ihm in der Vergan- ode auf, wofür ich ausdrücklich meinem Vorgänger und genheit zugekommen sind, befreit werden muss, indem der ehemaligen Staatssekretärin Bergmann-Pohl danken man zum Beispiel überflüssige Routineuntersuchungen möchte. wegfallen lässt. Er soll sich auf die wichtigen Aufgaben (Beifall des Abg. Detlef Parr [F.D.P.]) konzentrieren können. Zudem setzen wir sehr stark auf die Eigenverantwortung der Personen; denn wir verlan- Selbstverständlich möchte ich mich auch bei den Mitar- gen von ihnen, dass sie auf die Aufklärung reagieren und beiterinnen und Mitarbeitern des Bundesgesundheitsmi- ihr Verhalten entsprechend ändern. nisteriums bedanken. Ich glaube, dazu haben wir allen Grund; denn sie haben viele Jahre Arbeit investiert. In den Beratungen des Bundestages zu diesem Gesetz haben wir bereits die allermeisten Vorschläge des Bun- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE desrates aufgegriffen. Es wurden auch viele Vorschläge GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.) aus den Fraktionen, und zwar nicht nur aus den Regie- Lassen Sie mich die wesentlichen Ziele dieses Gesetz- rungsfraktionen, übernommen. Für diese konstruktive entwurfes zusammenfassen: Erstens. Wir wollen die Vor- Beratung möchte ich mich ausdrücklich beim Ausschuss beugung, die Prävention stärken. Dafür soll etwas aus- für Gesundheit bedanken. Ich denke, dass wir in strittigen gebaut werden, was einen fast so schwierigen Namen hat Punkten gute Kompromisse erzielt haben, wie der Gesetzentwurf selber, nämlich die Infektionsepi- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Da haben wir demiologie. Wir wollen also unseren Kenntnisstand darü- eine etwas andere Meinung!) ber erweitern, wie groß das Problem ist, wen es betrifft und wo die Gefahren liegen. so zum Beispiel bei der Frage der Beibehaltung der na- mentlichen Meldepflicht für Hepatitis-C-Infizierte. Hier Zweitens wollen wir den öffentlichen Gesundheits- haben wir meines Erachtens einen Weg gefunden, der dienst so verändern – ich habe gerade gesagt, dass hier ein ebenso den Interessen der Betroffenen wie der Notwen- Versäumnis der letzten Jahre vorliegt –, dass er seinen be- digkeit gerecht wird, über die Verbreitung dieser Infekti- deutsamen Aufgaben besser nachkommen kann. onskrankheit zu informieren. 9686 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Bundesministerin Andrea Fischer (A) Vor dem Hintergrund der langen und ausgiebigen Be- von ihrer Reise arbeitsunfähig zurückkehren. Der Anstieg (C) ratung und der vielen Arbeit bitte ich alle Fraktionen um von Last-Minute-Fernreisen führt wegen unzureichender Zustimmung. Ich appelliere auch an die Bundesländer, die präventiver Maßnahmen zu einer gefährlichen Art von zügige Verabschiedung dieses Gesetzes zu unterstützen. Mobilität. Aber es liegt auch an jedem Einzelnen. Viele Ich glaube, es ist höchste Zeit für die Modernisierung des Erkrankungen und damit Kosten sind jedenfalls durch ein Seuchenrechts. Wir haben hier eine hinreichend große ge- gehöriges Maß an Eigenvorsorge und Prävention ver- meinsame Grundlage dafür, in diesem Bereich entschei- meidbar. dend voranzukommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich danke Ihnen. Aber auch die Öffnung Europas in Richtung osteu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ropäische Staaten, vor allem Russland, wird uns in Zu- und bei der SPD) kunft vor erhebliche Herausforderungen stellen. Dort tre- ten vermehrt Fälle von multiresistenter Tuberkulose auf. 1990 lagen zum Beispiel die Tuberkulose-Neuerkrankun- Vizepräsident Rudolf Seiters: Für die CDU/CSU- gen in Russland bei 34 je 100 000 Einwohner; bis zum Fraktion spricht die Kollegin Dr. Sabine Bergmann-Pohl. Jahre 1997 sind sie auf über 82 je 100 000 Einwohner ge- stiegen. Nur zum Vergleich: Bei uns liegt die Zahl bei Dr. Sabine Bergmann-Pohl (CDU/CSU): Herr Prä- 9,6 je 100 000 Einwohner, bei den in Deutschland leben- sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es besteht bei den Ausländern jedoch bei 44. In Teilen Russlands er- allen Beteiligten Einigkeit: Wir brauchen das neue Infek- reicht die primäre Medikamentenresistenz nahezu 30 Pro- tionsschutzgesetz mehr denn je. Nach Schätzungen des zent. Doch auch die Tatsache, dass viele bekannte Erreger Bundesgesundheitsministeriums sind – das haben wirResistenzen gegen bislang wirksame Mittel, vor allem schon gehört – infektiös verursachte Krankheiten mit ei- Antibiotika, zeigen, bereitet uns erhebliche Sorgen. nem Anteil von 25 bis 30 Prozent aller Diagnosen und Das in den Grundzügen aus dem Jahr 1961 stammende Behandlungen ein erheblicher Kostenfaktor in der ambu- Bundes- Seuchengesetz sowie das auf eine Vielzahl von lanten und stationären medizinischen Versorgung in Deut- weiteren Gesetzen und Verordnungen verteilte Seuchen- schland. Diese Schätzungen werden auch ungefähr stim- men. Aber wenn man versucht, die tatsächlichen Kosten recht bieten keine zeitgemäße Handhabe mehr. Das liegt in DM oder Euro herauszufinden, muss man plötzlich mit vor allem auch daran, dass auf der bisherigen Basis keine Erstaunen feststellen, dass beispielsweise weder derverlässlichen Daten erhoben werden können, die Rück- AOK-Bundesverband noch der VdAK, noch die KVen schlüsse auf die Verteilung bestimmter Erkrankungen auf oder die KBV ansatzweise über Zahlen zu den von den In- Bevölkerungsgruppen oder bestimmte Personenkreise zu- (B) fektionserkrankungen verursachten Kosten verfügen. lassen. (D) Übrigens nur nebenbei bemerkt: Das beweist, Budgets Epidemiologisch gesehen, ist Deutschland ein Ent- können nur undifferenziert zu Rationierungen führen,wicklungsland. Es ist schon peinlich, dass eine Masern- wenn keiner Kenntnis von differenzierten Kostenstruktu- epidemie in Mittelfranken statt von deutschen Behörden ren hat. zuerst von amerikanischen Wissenschaftlern in Atlanta entdeckt wurde. Aufmerksam wurden die Amerikaner (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] durch die Erfassung von aus Deutschland zurückgekehr- [CDU/CSU]: So ist es!) ten amerikanischen Touristen. Wir stehen vor ernsthaften epidemiologischen Proble- Das zeigt: Nur auf einer soliden epidemiologischen men. Weltweit sind in den vergangenen 20 Jahren mehr Basis mit funktionierenden Meldewegen kann eine ver- als 30 neue, oft tödlich verlaufende Infektionskrankhei- lässliche Prävention und eine effiziente Bekämpfung von ten, wie zum Beispiel Aids oder Ebola, bekannt gewor- Infektionskrankheiten erfolgen. Das Robert Koch-Insti- den. Gerade durch die zunehmendeMobilität und Mi- tut erhält deshalb durch das Gesetz eine Schlüsselfunk- gration der Menschen müssen wir unser Augenmerk auf tion. Es wird durch länderübergreifende Koordinierung diesen Problembereich richten. ein epidemiologisches Netz auf Bundesebene aufgebaut Millionen Deutscher verbringen ihren wohlverdienten und am europäischen Netzwerk beteiligt. Wie die konkre- Urlaub im Ausland. Allein 50 Millionen Auslandsreisen ten Meldewege und auch der Rückfluss von Informatio- zählte der Deutsche Reisebüro-Verband 1998. Für viele nen, zum Beispiel durch Erarbeitung von Falldefinitio- dieser Auslandsreisen werden infektionsprophylaktische nen, aussehen sollen, wird geregelt. Maßnahmen empfohlen, beispielsweise für Malaria. Seit Mir ist ganz wichtig, dass von der Bundesregierung die 1996 hat es laut Robert Koch-Institut in Deutschland je- erforderlichen zusätzlichen Personal- und Finanzmittel des Jahr etwa 1 000 eingeschleppte Malaria-Erkrankun- für die neuen Aufgaben des Robert Koch-Instituts bereit- gen gegeben. 1998 wurden 20 Malaria-Todesfälle gemel- gestellt werden. Nur so kann eine wirksame Epidemiolo- det. 57 Prozent der Erkrankten hatten nach Angaben des gie aufgebaut und kann auf bedenkliche Entwicklungen Robert Koch-Instituts überhaupt keine Chemoprophylaxe reagiert werden. vorgenommen. Jeder 350. Tropenheimkehrer leidet nach der Rückkehr an Hepatitis. Ein solches epidemiologisches Netz ist aber nur wirk- sam, wenn in den Ländern eine überschaubare und ein- Dass es sich dabei nicht allein um ein epidemiologi- heitliche Zuständigkeit besteht. sches, sondern auch um ein wirtschaftliches Problem han- delt, zeigt die Tatsache, dass 3 Prozent aller Fernreisenden (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist wahr!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9687

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (A) Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme gefordert, die Zwar sind mit einer halben Million Schulanfängern(C) Gesundheitsämter als Begriff zu eliminieren und durch 88 Prozent eines Jahrgangs einmal gegen Masern geimpft, nach Landesrecht für die Durchführung dieses Gesetzes bei der zweiten Impfung werden aber nur bis zu 15 Pro- bestimmte Behörden zu ersetzen. Ich halte das für äußerst zent eines Jahrgangs erreicht. problematisch. Impfungen dürfen nicht aus Kostengründen unterblei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und ben. Die Aufklärung eines Patienten über Schutzimpfun- der PDS) gen ist zeitintensiv. Die ärztliche Vergütung für Impflei- Die bisherigen Gesundheitsämter haben sich vor allem stungen ist im Bereich einiger kassenärztlicher Vereini- in Ihrer Struktur bewährt. Sie haben in der Vergangenheit gungen inzwischen auf 5,50 DM pro Impfung gesunken. umfassende Aufgaben bei der Gefahrenabwehr für den Wir können uns vorstellen, wohin das führt. Deshalb müs- Einzelnen oder die Allgemeinheit wahrgenommen. In der sen die Kosten der Impfungen von den Krankenkassen er- deutschen Bevölkerung ist der Begriff Gesundheitsamt stattet werden, und zwar leistungsgerecht und außerhalb geläufig. Ich kann mich des Verdachts nicht erwehren, des Budgets. Dies würde auch die Bereitschaft, sich imp- dass mit einer Abschaffung des Begriffs eine Zergliede- fen zu lassen, fördern. rung und Einsparungen von personellen und sachlichen (Beifall bei der CDU/CSU) Mitteln auf Landesebene einhergehen sollen. Deswegen sollten die Gesundheitsämter nicht zerschlagen werden Die Regierungskoalition hat mit ihrer Ablehnung un- und auch den politischen Einfluss durch die Länder sollte seres Antrags, Impfungen außerhalb der Budgets zu ver- es nicht geben. güten, deutlich gemacht, dass sie das Gesetz nicht so ernst nimmt, oder anders gesagt, die Beliebigkeit ihres Han- Meine Damen und Herren, nach wissenschaftlichen delns wird deutlich nach dem Motto: „Was interessiert Untersuchungen erkranken hierzulande pro Jahr allein mich eigentlich mein Gesetz von gestern?“ Um nicht 500 000 Menschen an nosokomialen, also in Kranken- falsch verstanden zu werden: Impfungen für Auslands- häusern oder durch medizinische Behandlung erworbe- reisen gehören auch weiterhin zur Eigenvorsorge und zum nen Infektionen. Die Behandlungskosten werden aufEigeninteresse der Bürger. 2,5 bis 3 Milliarden DM geschätzt. Ein Großteil dieser Erkrankungs- und Todesfälle – man schätzt mindestens Die Ablehnung der Regierungskoalition, eindeutigere 175 000 – sind vermeidbar. Regelungen für bestimmte Risikogruppen in § 25 aufzu- nehmen, wie von uns vorgeschlagen, halte ich ebenfalls Deshalb ist eine Überwachung und statistische Er- für nicht sachgerecht. fassung von nosokomialen Infektionensehr wichtig. Wir sind uns aber mit den Experten einig, dass zusätzlich Es gäbe zu diesem umfassenden Gesetz noch sehr viel (B) zu den im Gesetz genannten Einrichtungen auch Pflege- zu sagen, aber dazu ist die Redezeit zu kurz. Insgesamt(D) einrichtungen mit krankenhausähnlichem Charakter ein- muss festgestellt werden, dass nur durch eine konsequente bezogen werden müssen. Nur durch ein gezieltes Hygi- Aufklärung und Prävention, durch rasches und koordi- enemanagment mit entsprechenden Fachkräften und eine niertes Handeln bei Infektionsgeschehen und durch Bün- gezielte Überwachung durch die Gesundheitsämter kön- deln aller Informationen ein wirksamer Infektionsschutz nen diese Infektionsraten tatsächlich reduziert werden. gewährleistet werden kann. Ein Gesetz kann immer nur Die Regierungskoalition ist unseren diesbezüglichen Än- einen Handlungsrahmen geben. Es ersetzt nicht das ei- derungsanträgen nicht gefolgt; ich bedauere das sehr. genverantwortliche Handeln sowohl im gewerblichen als auch im privaten Bereich in der Form, dass die Regeln Noch ein paar Worte zu den Ärzten: Die gesetzlich vor- hygienischen Verhaltens eingehalten oder verpflichtende gesehenen Maßnahmen müssen praktisch realisierbar sein Kontrollen wahrgenommen werden. und auf eine Akzeptanz der Risikogruppen und der damit befassten Berufsgruppen treffen. Vor allem dieAkzep- Obwohl die Regierungskoalition einigen von uns ein- tanz der Ärzte hinsichtlich Diagnostik und Meldung gebrachten Verbesserungsvorschlägen nicht gefolgt ist, führt zu verlässlichen epidemiologischen Zahlen, um be- werden wir dem Gesetz zustimmen. Wir wollen die stimmte Gefahren frühzeitig zu erkennen und entspre- Blockadepolitik der SPD nicht bei uns fortsetzen. chende Maßnahmen einzuleiten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Durch die Einführung der Laborpauschalen ist eine ge- neten der SPD – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] genläufige Entwicklung eingetreten. Untersuchungen auf [SPD]: Ich dachte, Sie wären von der Sache Diagnostik von Infektionskrankheiten sind um 50 Prozent überzeugt!) zurückgegangen, weil sie auf das Budget der Ärzte ange- Ich möchte zum Abschluss noch einmal an alle Betei- rechnet wurden. Dies wurde jetzt zwar durch eine Reform ligten appellieren: Nehmen Sie den Infektionsschutz und der Reform geändert, ob das aber den Zustand beseitigt, die Meldeverpflichtung nicht auf die leichte Schulter, müssen wir erst noch sehr genau beobachten. denn das Gesetz kann nur so gut sein, wie die Akzeptanz Meine Damen und Herren, der Impfschutz hat bei der der Beteiligten ist und wie diese nach dessen Vorgaben Prävention nach wie vor seine Berechtigung. Ein Blick handeln. auf die Kinderkrankheiten in unserem Land veranschau- Danke. licht die Notwendigkeit von Schutzimpfungen. In Deutschland erkranken jährlich 50 000 Menschen an Ma- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sern. Als Ursache für diese hohe Inzidenz werden vor al- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ lem unbefriedigende Durchimpfungsraten angegeben. DIE GRÜNEN) 9688 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

(A) Vizepräsident Rudolf Seiters: Für die SPD-Bun- signale schneller erkannt und unverzüglich Maßnahmen (C) destagsfraktion spricht der Kollege Dr. Wolfgangzum Schutz der Bevölkerung ergriffen werden. Wodarg. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Herr Präsident! Meine Das neue Infektionsschutzgesetz, welches bereits seit Damen und Herren! Es ist noch nicht lange her, da schien mehreren Jahren, also auch schon unter der vorherigen es, als würden die Infektionskrankheitenin Zukunft Regierung – wir haben das gehört und gewürdigt –, in in- keine große Rolle mehr spielen. Als zum Beispiel die Pocken ausgerottet waren und die Tuberkulose tensiver in Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern Deutschland nicht mehr zu den Volkskrankheiten gerech- vorbereitet und formuliert wurde, soll heute endlich vom net werden konnte, meinten sogar viele Fachleute, dass Deutschen Bundestag in dritter Lesung verabschiedet die Seuchengefahr insgesamt für unser Land gebannt sei. werden. Diese optimistische Auffassung musste in den letzten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Jahren leider – für alle sichtbar – revidiert werden, nach- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dem der Aidserreger weltweit Millionen Menschen infi- Die Mitglieder des Gesundheitsausschusses – ich ziert hatte und wir am Beispiel von BSE gelernt haben, glaube, dabei kann ich alle einschließen – würdigen des- dass der weltweite Handel mit Nahrungsmitteln und de- halb heute gemeinsam die intensive und fachlich hoch ren Grundstoffen ein erhebliches Risiko darstellt. Dasqualifizierte Vorarbeit all derjenigen, die diese komplexe globale Bevölkerungswachstum und die Migration großer Materie zu einem modernen Infektionsschutzgesetz zu- Bevölkerungsgruppen – darauf hat meine Vorrednerin sammengefasst haben, und danken für die geleistete Ar- schon hingewiesen, und hiermit sind nicht nur die Flücht- beit. lingsströme, sondern auch die Touristenströme gemeint – führen jedoch dazu, dass sich einerseits alte Krankheits- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie erreger wie zum Beispiel der Tuberkuloseerreger auch in bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE den Industriestaaten wieder ausbreiten können, anderer- GRÜNEN und der PDS) seits aber neben Aids zunehmend Fälle neuer, zum Teil Das vorliegende Gesetz trägt neuesten Erkenntnissen bisher unbekannter Infektionskrankheiten auftreten, bei und Entwicklungen Rechnung. Es ist ein Gesetz aus ei- denen auch die moderne Medizin wenig Hilfe anbieten nem Guss geworden. Es bietet vorbildliche Voraussetzun- kann. gen für eine wirksame Prävention, für eine frühzeitige Die ungezielte Anwendung von Antibiotikain der Erkennung und für eine effektive Bekämpfung von Infek- (B) Medizin – das wurde hier noch nicht angesprochen – und tionskrankheiten. Das Gesetz macht die Infektionsepide- (D) die Anwendung von antibiotisch wirksamen Stoffen in der miologie zur Grundlage des Infektionsschutzes und nutzt Tiermast haben außerdem dazu geführt, dass Krankheits- dabei deutsche positive Erfahrungen ebenso wie interna- erreger zunehmend resistent gegen die zu ihrer Bekämp- tionale Vorbilder. fung eingesetzten Antibiotika werden. Viele Fälle von un- Zum Beispiel ist eine zentrale Einrichtung wie das gewollter Kinderlosigkeit, Magengeschwüren, Gebär- amerikanische Center for Disease Control für die Zusam- mutterhalskrebs und anderen Krankheiten haben sich in menfassung der Daten und für den Überblick über die in- den letzten Jahren als erregerbedingt erwiesen. Es bietet fektionsepidemiologische Lage erforderlich. Es kann mit sich also ein völlig neues Bild der Infektionskrankheiten. seinen hoch qualifizierten Fachleuten gezielten Einzelfra- Das aus der Nachkriegszeit stammende Seuchenrecht gen nachgehen oder als Infektionsfeuerwehr den örtlich wurde deshalb in den letzten Jahren durch viele Einzel- zuständigen Institutionen zu Hilfe kommen. verordnungen auf nationaler und internationaler Ebene Ein solches Zentralinstitut wäre jedoch hilflos ohne das immer wieder nachgebessert und ist dadurch ein Flicken- flächendeckende Netz von fachlich gut besetzten Ge- teppich geworden, der kaum noch überschaubar ist. Das sundheitsämtern. Die Gesundheitsämter in allen Kreisen alte Bundes-Seuchengesetz wird seiner Funktion zur Ver- der Republik haben in der Vergangenheit den Infektions- hütung und Bekämpfung der übertragbaren Krankheiten schutz erfolgreich sichergestellt. Auch das muss man nicht mehr gerecht. heute anerkennend würdigen. Sie sind auch heute noch Hinzu kommt – das ist besonders bedrückend –, dass die Basis für Prävention und Gesundheitsschutz in wir trotz modernster Medizin und modernster Datentech- Deutschland. Ihre Ortskenntnis, ihr multidisziplinärer nik für viele Infektionskrankheiten auch in Deutschland Ansatz mit infektionsepidemiologisch ausgebildeten nicht wissen, wie hoch die daraus resultierenden Risiken Amtsärzten, guten Kontakten zu Krankenhäusern und eigentlich sind. Epidemiologische Daten sind jedoch die niedergelassenen Ärzten, mit erfahrenen Gesundheitsin- Voraussetzung für wirksame und effiziente Präventions- genieuren, die zum Beispiel über die Trinkwasserhygiene maßnahmen und auch für die Planung einer angemesse- oder die Klimaanlagen wachen, und mit fachlich qualifi- nen Krankenversorgung. Strukturdefizite im Meldesy- zierten Gesundheitsaufsehern, die in ihren Bereichen sehr stem und im Risikomanagement hat zum Beispiel schon genau wissen, wo konkrete Gefahren drohen können – der 3. Untersuchungsausschuss „HIV-Infektionen durch dies alles ist eine nicht zu ersetzende Basis, die wir auch Blut und Blutprodukte“ des 12. Deutschen Bundestages für den zukünftigen modernen Infektionsschutz nutzen warnend herausgestellt. Er forderte damals, dass Risiko- und erhalten wollen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9689

Dr. Wolfgang Wodarg (A) Ich wollte heute eigentlich in Schwäbisch-Gmünd sein. wird, aber nicht notwendig ist, ist bei denjenigen, die un- (C) Dort findet nämlich zurzeit der Bundeskongress des Öf- tersucht werden, ein Akt der Körperverletzung, wenn es fentlichen Gesundheitsdienstes statt, der sich am heutigen sich zum Beispiel um eine Blutentnahme oder eine Rönt- Freitag von 16.00 bis 17.20 Uhr mit dem Thema „Schutz genaufnahme handelt. Wir sind froh, dass dies ein Ende hat. vor Infektionen – eine Schwerpunktaufgabe des ÖGD“ Einzelne Amtsärzte werden vielleicht den Wegfall die- beschäftigen wird. Ich habe das Programm vorliegen, ser Basisauslastung ihres Amtes bedauern. Aber auch sie grüße die sich auf dem Kongress befindlichen Kollegen werden feststellen können, dass ihnen durch das vorlie- und freue mich, dass wir heute die gesetzgeberische gende Gesetz sowohl fachlich als auch organisatorisch Grundlage für die zukünftige Arbeit der Gesundheitsäm- eine beträchtliche Hilfestellung geleistet wird. Den neuen ter in Deutschland schaffen können. Deshalb ein Gruß Infektionsrisiken, den Erfordernissen des modernen In- von hier an die Amtsärzte und das Personal der Gesund- fektionsschutzes wird auch die Arbeit der Gesund- heitsämter, das sich zurzeit in Schwäbisch-Gmünd mit heitsämter in Zukunft besser gerecht werden können. demselben Thema befasst! (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. (Beifall des Abg. Klaus Kirschner [SPD]) Sabine Bergmann-Pohl [CDU/CSU]) Der Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundesta- Das neue Infektionsschutzgesetz ist ein umfangreiches ges und die befragten Fachleute waren sich einig, dass die und fachlich komplexes Gesetzeswerk, welches durch Gesundheitsämter unverzichtbare und dezentrale Kompe- langjährige Vorarbeit und breite Beteiligung aller Fach- tenzzentren für den Infektionsschutz der Bevölkerung kreise gereift ist. Es stellt für die Gesundheit und die bleiben müssen. Das Robert Koch-Institut als eine dem Sicherheit der Bevölkerung eine wesentliche Verbesse- Center for Disease Control in Amerika entsprechende rung dar. Ich würde mich sehr freuen, wenn der Bundes- zentrale Einrichtung soll die Kontaktstelle für die interna- rat – ich schließe mich den Wünschen meiner Vorrednerin tionale Zusammenarbeit im Infektionsschutz werden. an – ebenfalls dazu beiträgt, dass die letzte Hürde für die Über seine Funktion ist hier schon einiges gesagt worden. Arbeit des öffentlichen Gesundheitsdienstes, des Gesund- Durch die Schaffung dieses Zentrums und durch das neue heitsschutzes, möglichst schnell passiert wird, damit wir Infektionsschutzgesetz hat Deutschland gleichzeitig sei- der Bevölkerung sagen können, dass sie sich vor Infekti- nen Beitrag zur Schaffung eines Netzes für die epidemio- onskrankheiten zu Recht sicher fühlen kann. logische Überwachung und Kontrolle übertragbarer Krankheiten in der Europäischen Gemeinschaft geleistet Ich danke Ihnen. und wichtige Grundlagen für die systematische Erfor- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schung der Zusammenhänge zwischen einer sich rasch DIE GRÜNEN) (B) wandelnden Umwelt und dem Auftreten neuer Infekti- (D) onsrisiken geschaffen. Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich gebe für die Dass dieses wichtige Gesetz heute endlich verabschie- F.D.P.-Fraktion dem Kollegen Detlef Parr das Wort. det wird, ist das Verdienst der neuen Bundesregierung. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Detlef Parr (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen Von der Sache her ist es bedauerlich, dass nicht bereits die und Herren! Der Infektionsschutz ist in den letzten Jahr- vorige Bundesregierung es für nötig befunden hat, dieses zehnten aus dem Gesichtsfeld der öffentlichen Diskussion Gesetz aus ihren Aktenschränken heraus ins Parlament zu geraten. Die großen Seuchen galten als ausgerottet oder bringen. Das hätte schon längst geschehen können. Wir man wähnte sie unter Kontrolle. Zu Unrecht, wie es sich hatten schon längst damit gerechnet, nachdem Herrgerade in letzter Zeit gezeigt hat. Ohnehin bezog sich Minister Seehofer es versprochen hatte. diese vermeintliche Sicherheit nur auf den westeuro- päischen Raum. Welche neuen Gefahren in einer Welt der Als jemand, der viele Jahre mit dem alten Bundes-Seu- kurzen Wege lauern, ist uns allen jüngst durch einige sehr chengesetz und den dazugehörigen Einzelregelungen le- tragische Fälle vor Augen geführt worden. Frau Ministe- ben musste, rin hat darauf hingewiesen. (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ Eine breite öffentliche Diskussion um einen verbesser- CSU]: Das ist nicht spurlos an Ihnen vorüber- ten Seuchenschutz tut deshalb Not. Die Anhörung hat ge- gegangen!) zeigt, dass in einem Bereich besondere Sorglosigkeit herr- – ja, das stimmt – weiß ich, wie sehnsüchtig viele meiner scht: Das ist der Bereich desImpfens. Für viele Men- ehemaligen Kolleginnen und Kollegen aus der Praxis auf schen hat das Impfen nicht mehr die Bedeutung, die es das neue Infektionsschutzgesetz gewartet haben. Natür- haben sollte. Die Eigenverantwortung wird in diesem Be- lich gibt es auch Vertreter des öffentlichen Gesundheits- reich nicht hinreichend übernommen. Das ist eine sehr be- dienstes – sie haben sich auch lautstark bemerkbar ge- dauerliche Entwicklung. Zu der großen Mobilität der macht –, die vieles lieber so gelassen hätten, wie sieMenschen kommt hinzu, dass viele Erreger heute beson- es gewohnt waren. Tausende von fragwürdigen Routine- ders aggressiv sind und ihre Gestalt rasch verändern. Her- untersuchungen bei Lehrern, Erziehern, Küchenpersonal kömmliche Therapieformen schlagen dann nicht mehr an. und Prostituierten täuschten aber eine falsche Sicherheit Leichtsinn in der Bevölkerung und gerade auch bei den vor. Sie sind aus infektionsepidemiologischer Sicht nicht Weltenbummlern trifft also mit einem erhöhten Gefähr- mehr zu rechtfertigen. Jede Untersuchung, die gemacht dungspotenzial besonders ungut zusammen. Außerdem 9690 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Detlef Parr (A) konnte man in manchen Fällen den Eindruck gewinnen, muss wieder zum Allgemeingut in unserer Gesellschaft(C) dass in Deutschland nicht schnell und nicht zielgerichtet werden. genug mit Verdachtsfällen umgegangen wird. Offenbar Zwei kurze Zusatzbemerkungen: Frau Fischer hat ge- gibt es hier Strukturdefizite. Tatsächlich muss die Zu- sagt, dass sie den öffentlichen Gesundheitsdienststär- sammenarbeit in der Bundesrepublik und auf europä- ken möchte. Warum nehmen Sie dann die Pflichtuntersu- ischer und internationaler Ebene verbessert werden, müs- chungen für Prostituierte aus dem Gesetz heraus? Warum sen Früherkennungsmaßnahmen mit der Bereitstellung nehmen Sie die Pflichtuntersuchung für Verkäuferinnen des Expertenwissens und adäquaten Behandlungsmög- und Verkäufer im Lebensmittelbereich aus dem Gesetz lichkeiten gekoppelt werden. heraus? Wir halten die Lebensmittelsicherheit aus guten Das Gesetz ist in weiten Bereichen für uns akzeptabel. Gründen besonders hoch. Hier begehen Sie aus unserer Ich muss aber ein bisschen Wasser in den Wein schütten. Sicht einen Fehler. Deshalb können wir Ihrem Gesetzent- Sie zwingen uns dennoch zur Ablehnung. Als Hauptgrund wurf nicht zustimmen. nenne ich die namentliche Nennung vonHepatitis- Ich danke Ihnen. erkrankungen. Meine Damen und Herren, Aidserkrankte werden aus guten Gründen nicht namentlich erfasst. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten Warum dann eine namentliche Meldung bei Hepatitis? der CDU/CSU) Der Nutzen einer solchen Meldung steht nach Auffassung der F.D.P. in keinem Verhältnis zu den möglichen erheb- Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort für die lichen Nachteilen für die Betroffenen. PDS-Fraktion hat die Kollegin Dr. Ruth Fuchs. (Beifall bei der F.D.P.) Das kann uns keiner sagen. Es ist nicht auszuschließen, Dr. Ruth Fuchs (PDS): Herr Präsident! Meine Damen dass sie zusätzlich zur Krankheit eine gesellschaftliche und Herren! Die Verhütung und die Bekämpfung der In- Stigmatisierung erleiden müssen. Da hilft auch eine Lö- fektionskrankheiten zu verbessern ist das Ziel des Ge- schung der Daten nach drei Jahren nicht, denn wer zum setzentwurfes. Das ist zu begrüßen. Flüchtlingsströme, Beispiel einmal am Arbeitsplatz ins Gerede gekommen Kriege, ein zunehmender Reiseverkehr, wachsende Anti- ist, wird dieses Stigma niemals wieder los. Einmal diskri- biotikaresistenzen und viele weitere Faktoren haben neue miniert, immer diskriminiert. Risiken geschaffen. Alte, schon unter Kontrolle geglaubte Probleme sind wieder akut geworden. Neue Krankheiten (Beifall bei der F.D.P.) wie Aids und BSE zeigen die Gefahren auf, die von In- Und das alles, wo doch überhaupt keine besonderen Maß- fektionskrankheiten ausgehen. (B) nahmen zum Schutz der Bevölkerung möglich sind. Ein (D) Auf der anderen Seite sind in der Vergangenheit ernst- solch weitreichender Eingriff in die Intimsphäre ist aus hafte Defizite im Kampf gegen die ansteckenden Krank- unserer Sicht nicht zu rechtfertigen. heiten entstanden. Ich nenne als Beispiele nur den nach- Demgegenüber sehen wir bei der immer größeren Zahl lässigen Umgang mit der Meldepflicht, eine zurückblei- von Individualreisen in gefährdete Gebiete zumindestbende Infrastruktur des öffentlichen Gesundheitswesens verstärkten Aufklärungsbedarf. Das haben meine Vor- und den unzulänglichen Impfstatus der Bevölkerung. rednerinnen und Vorredner schon angesprochen. Viele Erfreulicherweise kann festgestellt werden, dass in Menschen reisen viel zu sorglos und ohne eine angemes- dem vorliegenden Gesetzentwurf notwendige und zweck- sene Vorbereitung in die Welt. Hierauf sollten wir ein be- mäßige Antworten auf viele dieser angestauten Probleme sonderes Augenmerk richten. Ich bin gespannt, wie die gegeben werden. Dazu zählen ein modernisiertes Melde- Reisebüros mit der ihnen auferlegten Aufklärungspflicht system, die bessere Vernetzung der Institutionen des In- zurechtkommen. fektionsschutzes oder die Schaffung einer kompetenten Die Verbesserung der sachgerechten Behandlung von Zentrale, des Robert Koch-Instituts. Es ist auch konse- Infektionskrankheiten impliziert selbstverständlich auch quent, die Personal- und Sachmittel des Robert Koch-In- die Modifizierung der Aus- und Weiterbildung in die- stituts aufzustocken, damit es seiner künftigen Aufgabe sem Fachgebiet. Der Infektologie sollte an den Hoch-als Leitinstitution gerecht werden kann. schulen und bei der Ausbildung in medizinischen Fach- Durch die Beratungen im Ausschuss ist es gelungen, berufen wieder mehr Platz eingeräumt werden. das Gesetz in wichtigen Punkten zu verbessern. Zu be- Üblicherweise sind es nämlich nicht die Spezialisten, son- grüßen ist, dass die wichtige Rolle, welche die Gesund- dern die Hausärzte, die als Erste mit seltenen Krankheits- heitsämter auf dem Gebiet desInfektionsschutzes aus- bildern konfrontiert werden. Gerade deshalb ist es enorm zufüllen haben, nicht verwässert, sondern insgesamt deut- wichtig, dass die Hausärzte schnell den richtigen Verdacht licher herausgehoben wurde. Wünschenswert wäre schöpfen und schnell die richtigen diagnostischen und allerdings, wenn von der Beratung dieses Gesetzes im therapeutischen Maßnahmen einleiten können. Deutschen Bundestag auch Signale in Richtung personel- ler und finanzieller Stärkung der Gesundheitsämter aus- Zu guter Letzt sollte die Materie flächendeckend Ein- gehen würden. gang in die Lehrpläne der Schulen finden. Dort können wir die Grundlage für das Wissen um Infektionen und um (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten den Schutz vor Infektionen schaffen. Ein solches Wissen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9691

Dr. Ruth Fuchs (A) Wichtig ist, dass der Ausschuss die Regelungen für den Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgeset- (C) Infektionsschutz in Gemeinschaftseinrichtungen wie Al- zes ten- und Pflegeheimen weiter verschärft hat. Dazu gehört – Drucksachen 14/2292, 14/2355 – der von uns eingebrachte und mehrheitlich angenommene Vorschlag, Hygienepläne als innerbetriebliche Instru- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- mente des Infektionsschutzes verbindlich in das Gesetz ses für Gesundheit (14. Ausschuss) aufzunehmen. – Drucksache 14/3320 – Allerdings bleibt nach unserer Meinung fraglich, ob Berichterstattung: die für den Impfschutzvorgesehenen Bestimmungen Abgeordnete Annette Widmann -Mauz ausreichen, um die seit längerem beklagten Defizite zu Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die beseitigen. Diese Defizite sind auch schon von meinen Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Das Haus ist Vorrednern angedeutet worden. Fortschritte auf diesem damit einverstanden. Gebiet verlangen vor allem eine verbesserte Organisation. Der Übergang von Impfempfehlungen zu verbindlicheren Ich eröffne die Aussprache. Ich gebe zunächst dem Impfprogrammen, die politisch gemeinsam getragen und Kollegen Horst Schmidbauer für die SPD-Fraktion das von der Öffentlichkeit akzeptiert werden, könnte dafür ein Wort. entscheidender Anstoß sein. Wir bedauern, dass dieser Vorschlag keine Mehrheit gefunden hat. Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD): Herr Präsi- Abschließend ist festzustellen, dass dieses Gesetz viele dent! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute Verbesserungen für die Bekämpfung von Infektions-die 10. AMG-Novelle verabschieden, dann ist kein Jubel- krankheiten bringt. Wir stimmen ihm deshalb zu. tag; denn mit diesem Gesetz schultern wir eine Altlast der Regierung Kohl. Es ist kein Jubeltag, weil es sich um ein Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Reparaturgesetz handelt, mit dem 14 000 Altarzneimittel (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten einer gemeinschaftskonformen Nachzulassung zugeführt des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) werden müssen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich schließe die Aus- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sprache. Es handelt sich um Altarzneimittel, die in ihrem Leben Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- noch nie eine Prüfung durchlaufen haben. desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur (B) Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften auf den Dennoch haben wir Grund zur Freude, weil wir eine(D) Drucksachen 14/2530 und 14/3194. Ich weise darauf hin, Reparatur erfolgreich abschließen konnten. Wir haben Grund dass 33 Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Bun- zur Freude, weil damit eine Altlast fachgerecht entsorgt destagsfraktion eine Erklärung zur Abstimmung nachwerden kann. Sie kann so fachgerecht entsorgt werden, § 31 der Geschäftsordnung abgegeben haben. Diese Er- dass sich die Europäische Kommission nicht mehr klärung wird zu Protokoll genommen. genötigt sieht, das Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland fortzuführen. Außer- Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- dem haben wir Grund zur Freude, weil es uns mit der schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – 10. AMG-Novelle gelungen ist, im Dreieck der Anforde- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- rungen von Brüssel, von den Herstellern und von den Ver- wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des brauchern so etwas wie einen Königsweg zu finden. Hauses gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion angenom- men. (Beifall bei der SPD – Lachen bei Abgeordne- ten der CDU/CSU) Dritte Beratung Dies war dringend geboten; denn mit dem Erlass der Eu- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die diesem ropäischen Kommission vom 21. Oktober 1998 sind die Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer 14 000 deutschen Altpräparate auf dem europäischen stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Markt „illegal“. Handlungspflicht war also da. ist ebenso wie in der zweiten Beratung mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der F.D.P. angenommen. Mit diesem erfolgreichen Reparaturansatz dürfen wir nicht einfach über die Ursachen und den Auslöser für das Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 2 Vertragsverletzungsverfahren durch die Europäische seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3194 die Kommission hinwegtäuschen. Die Europäische Kommis- Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Ent- sion sah sich genötigt, dieses Vertragsverletzungsverfah- schließung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be- ren gegen die Bundesrepublik Deutschland einzuleiten, schlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses bei um die Harmonisierung des deutschen Arzneimittel- Enthaltung der F.D.P. angenommen. gesetzes mit dem europäischen Arzneimittelrecht zu er- zwingen. Das ist schon beschämend; denn Deutschland ist Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: der einzige Mitgliedstaat, der seinen gemeinschaftsrecht- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- lichen Verpflichtungen auf dem Arzneimittelsektor nicht gierung eingebrachten Entwurfs einesZehnten nachgekommen ist. 9692 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Horst Schmidbauer (Nürnberg) (A) Von der Europäischen Kommission wissen wir: Esgen und ausloten, wie weit wir Wünschen und Interessen (C) muss ein stringentes und plausibles Gesamtpaket für die der betroffenen Firmen entsprechen können, ohne dass Angleichung unseres Arzneimittelrechts an das Arznei- wir in die Gefahr kommen, dass das Vertragsverletzungs- mittelrecht der Gemeinschaft vorgelegt werden. Dasverfahren fortgesetzt wird. Nachzulassungsverfahren muss so schnell wie möglich Die Prioritätenabfolge unseres Handelns in der Koali- abgeschlossen werden; sonst würde die Europäische tion ist also der der Opposition genau entgegengesetzt. An Kommission das Vertragsverletzungsverfahren fortset- zen. In diesem Fall müsste die Bundesrepublik damiterster Stelle steht das Ziel, Millionen- oder Milliarden- rechnen, Tag für Tag eine Million Erzwingungsgeld zu be- schaden von der Bundesrepublik abzuwenden. Damit zahlen. Deshalb ist der Versuch der Opposition zu durch- aber keine Missverständnisse auftreten und keine Legen- sichtig. Sie ignorieren diese Millionen- oder Milliarden- den entstehen: Auch wir treten für die Pluralität des bedrohungen aus Brüssel in unverantwortlicher Weise. Arzneimittelangebotes ein, allerdings in dem Rahmen, Damit wollen Sie – nur so ist Ihr Verhalten verständlich – den das Gemeinschaftsrecht abgesteckt hat. Deshalb ha- von der Unverantwortlichkeit der alten Regierung ablen- ben wir zum Beispiel die Richtlinie 92/73 EWG für ken. homöopathische Arzneimittel in die 10. AMG-Novelle eingearbeitet. (Beifall bei der SPD – Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Vorsichtig!) Längerfristig können wir den Anhängern der besonde- ren Therapierichtungen allerdings die Perspektive ver- Denn unbestritten steht fest, dass die alte Bundesregie- mitteln, dass die Präparate, die wegen des fehlenden rung gegen die Handlungspflicht, die in der Richtlinie Nachweises ihrer therapeutischen Wirksamkeit ihre Ver- 65/65 EWG festgelegt ist, grob fahrlässig verstoßen hat. kehrsfähigkeit verlieren, als „Gesundheitspflegemittel“ Letzter Stichtag aus dieser Richtlinie war der 30. April wieder zur Verfügung stehen. 1990. Den Sachverhalt aber kennt man schon seit 23 Jah- ren. Bis zu ihrer Abwahl hat die alte Regierung diese Alt- (Beifall bei der SPD) last also in bewährter Weise schlichtweg ausgesessen. Das setzt aber voraus, dass auf der Ebene der Europä- Heute stellen wir fest, dass die alte Regierung unter ischen Union ein Markt für Gesundheitspflegemittel ent- Seehofer mit der 2004er Regelung Europa regelrecht pro- steht. Für nationale Alleingänge gibt es – das haben wir in voziert hatte Mit dieser Regelung hat Herr Seehofer bei Brüssel feststellen können – keinen Raum. Deshalb un- Rücknahme des Nachzulassungsantrages durch den Her- sere Bitte an Sie, Frau Ministerin, bei der Entwicklung ei- steller eine Abverkaufsfrist für die Arzneimittel bis 2004 ner Richtlinie für Gesundheitspflegemittel, an die man in gewährt. Brüssel große Erwartungen hat, aktiv mitzuwirken, damit wir hier ein Stück vorankommen. (B) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wir haben an (D) deutsche Arbeitsplätze gedacht!) Die Europäische Kommission hat – wie wir im Ge- sundheitsausschuss feststellen konnten – bereits eine Pro- Die Folgen – das sehen wir – haben in Brüssel nicht auf jektgruppe eingerichtet, die das Ob und das Wie eines sol- sich warten lassen: Die Europäische Kommission zwingt chen Marktes vorklären soll. In Brüssel konnte ich fest- nun die Bundesrepublik, diese seehofersche 2004er Rege- stellen, dass man an einer Zu- und Mitarbeit gerade aus lung abzuschaffen. Aus diesem Grund können Sie sich Deutschland aufgrund der hohen Erfahrungswerte höchs- Ihre Ratschläge sparen. Ihre Vorschläge geben keine Ga- tes Interesse hat. Deswegen unterstützen wir die Schaf- rantie dafür, die millionen- oder milliardenschwere Be- fung eines europäischen Gesundheitspflegemittelmark- drohung aus Brüssel abzuwenden. tes. Ich bin sicher, dass wir im Hinblick auf den Wettbe- Unabhängig davon haben wir eine ganze Reihe von werbsverstoß in Europa durch die Interessenabwägung Anregungen von Sachverständigen, von Pharmafirmen zwischen den Erfordernissen der betroffenen Pharmafir- und von Verbänden aufgegriffen und entsprechende Än- men und dem erforderlichen Verbraucherschutz die rich- derungsanträge eingebracht: die Frist auf ein Jahr verlän- tige Lösung gefunden haben, um Brüssel von unserem gert, innerhalb deren Arzneimittelhersteller Mängel ihrer Handeln überzeugen zu können. Durch diese Überzeu- Nachzulassungsanträge beseitigen müssen; die Möglich- gung können wir erreichen, dass das eingeleitete Ver-keit, dass Mängel der Nachzulassungsunterlagen vorran- tragsverletzungsverfahren der Europäischen Union gegen gig durch Auflagen beseitigt werden, um schneller voran- die Bundesrepublik eingestellt wird. zukommen; die Nachzulassung auf der Grundlage von Ob der Weg der 10. AMG-Novelle allerdings trägt,Arzneimittelzulassungen in anderen europäischen Mit- wird nicht allein von der Kommission und auch nicht al- gliedstaaten verfahrensmäßig zu erleichtern; eine Über- lein von der Generaldirektion abhängig sein, sonderngangsregelung für homöopathische Arzneimittel; eine auch von den Herstellern in Europa und in Deutschland. Übergangsregelung für Kombinationsarzneimittel. Warum sage ich dies? Wir wissen heute, dass es nicht vor- Nicht vergessen wollen wir, die 10. AMG-Novelle rangig die Kommission war, die in dieser Frage aktiv auch einen entscheidenden Beitrag für die Verbesserung wurde; es waren vielmehr Wettbewerbsfirmen aus Eu- der Qualität der Arzneimittelversorgung der Bevölkerung ropa, aber auch Wettbewerbsfirmen aus Deutschland, die leistet. bei der Kommission vorstellig geworden sind und diese Aktivität erzwungen haben. Deshalb müssen wir im Ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – setzgebungsverfahren sehr sorgfältig und in Stufen abwä- Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wo denn?) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9693

Horst Schmidbauer (Nürnberg) (A) Interessant ist in diesem Zusammenhang – das wird deutlich, Leute mit den dunkelsten Visionen nicht für möglich ge- (C) wenn man sich die Synopse zu diesem Gesetz ansieht –, dass halten. Auch wir haben Ihnen ja einiges zugetraut, aber Transparenz und Verbraucherschutz für die Opposition beim besten Willen nicht so ein rücksichtsloses kaltes Po- Fremdworte geblieben sind. litikverständnis. Wo bleiben soziale Gerechtigkeit und In- novation – wir erinnern uns? Dank Ihrer patienten- und Wir haben uns zwar entschieden, den Begriff „Alt- mittelstandsfeindlichen Marktbereinigungskonzeptionen arzneimittel“ herauszunehmen, weil er in dieser Form stehen wir heute vor einer nachhaltig unsoliden Gesund- ohne Erklärung diskriminierend wirken könnte. Aber wir heitspolitik. Das fängt bei Ihren mittlerweile sprichwört- mussten feststellen, dass wir selbst für den jetzt nicht auf lichen Fehlern an, geht über koalitionsinterne Streitereien der Verpackung, sondern lediglich auf dem Beipackzettel und endet bei permanenten Nachbesserungen. befindlichen Hinweis „Dieses Arzneimittel ist nach den gesetzlichen Übergangsvorschriften im Verkehr. Die be- Die Gesundheitsreform 2000 ist schon nach wenigen hördliche Prüfung auf pharmazeutische Qualität, Wirk- Monaten wieder reformbedürftig. Die Kollektivhaftung samkeit und Unbedenklichkeit ist noch nicht abgeschlos- für Budgetüberschreitungen stehe auf tönernen Füßen sen.“ keine Zustimmung vonseiten der Opposition im In- und sei ein untaugliches Steuerungsinstrument, so heißt es teresse von Transparenz und Verbraucherschutz erwarten in einem internen Arbeitspapier der SPD-Arbeitsgruppe können. Gesundheit. Zum Schluss möchte ich noch eines deutlich machen: (Detlef Parr [F.D.P.]: Da haben Sie Recht!) Ich richte meine Bitte vor allem an dasBundesinstitut Die Pflegekasse wird durch Ihren ungenierten Griff in die für Arzneimittel und Medizinprodukte und seine Ver- Rücklagen selbst zum Pflegefall. Jetzt legen Sie uns in antwortlichen in Berlin bzw. Bonn. Dieses Institut ist ver- Form der 10. Novelle zum Arzneimittelgesetz eine Geset- pflichtet, seiner Aufgabenstellung besser gerecht zu wer- zesvorlage vor, die es wahrlich in sich hat. den. Es ist nicht einsichtig, dass das BfArM trotz der jet- zigen Personalausstattung, die von 200 Stellen im Jahre Ein erster Durchbruch schien bei der 10. AMG-No- 1980 auf 900 Stellen 1995 gesteigert wurde und noch um velle geschafft. Nach mehrwöchigen Beratungen des Ge- 70 weitere Stellen gesteigert werden soll, immer nochsundheitsausschusses, nach Anhörung der Sachverständi- keine optimalen Zeiten für die Nachzulassung erreicht gen und nachdem wir von CDU/CSU konstruktive eigene hat. Es soll ausdrücklich gewürdigt werden, dass man bei Anträge zu Ihrem Entwurf eingebracht haben, sind Sie neuen innovativen Produkten dem Ziel schon sehr nahe nach mehreren langwierigen, schwierigen Anläufen zu- gekommen ist. Aber es ist bei dieser Personalausstattung mindest teilweise auf Unionskurs umgeschwenkt. Sie ha- einfach nicht hinnehmbar, dass das gleiche Ziel nicht auch ben einige unserer Positionen übernommen, aber den Kö- (B) bei der Nachzulassung erreicht wird. nigsweg, von dem Sie, Herr Schmidbauer vorher gespro- (D) chen haben, haben Sie nicht erreicht. Sie sehen also, Reparatur alleine beseitigt nicht alle Altlasten. Es gibt noch viel zu tun. Sie sind auf halbem Wege stecken geblieben. So sind es nur oberflächliche Schönheitsreparaturen, die Sie hier (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eingebracht haben. Substanziell bringt das meist nichts. DIE GRÜNEN) Aber immerhin konnten wir ein paar schlimme Brocken verhindern. Vizepräsident Rudolf Seiters: Für die CDU/CSU- Seit einigen Wochen liegen die Fakten auf dem Tisch. Fraktion spricht die Kollegin Annette Widmann-Mauz. Schon längst hätte die 10.AMG-Novelle abschließend be- raten werden können. Doch dann gab es bei Rot-Grün er- Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Herr Präsi- neuten Beratungsbedarf. dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege (Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Stellen Schmidbauer, dass Sie heute Grund zur Freude haben, Sie sich einmal Ihrer Verantwortung!) freut natürlich auch uns. Wie lange diese Freude aller- dings anhalten wird, ist eine andere Frage. Wenn sie so Unsere Argumente zeigten Wirkung; man merkt es auch kurzweilig ist wie bei den letzten gesundheitspolitischen jetzt. Die Verwirrung auf Ihrer Seite wurde größer. Reformgesetzen, die Sie hier im Hause eingebracht ha- Dabei ist das Ganze – beruhigen Sie sich wieder! – gar ben, kann sie ja nicht so wahnsinnig lange währen. Im nicht so schwierig. Mittelpunkt unseres politischen Handelns steht nicht die Europäische Kommission, sondern der Mensch in der (Susanne Kastner [SPD]: Wir regen uns nicht Bundesrepublik Deutschland, auf!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Es geht um die Beschleunigung bei derNachzulassung von Arzneimitteln. In der Zielsetzung stimmen wir ja mit sei er Patient oder Beschäftigter im Bereich der pharma- Ihnen überein. Allein der Weg, den Sie hier beschreiten zeutischen Industrie. wollen, ist bei bestem Willen nicht gangbar. Wer über die 10. AMG-Novelle reden will, darf nicht (Beifall bei der CDU/CSU) über die Gesundheitspolitik dieser Bundesregierung schweigen. Was hier an Stabilität, Vertrauen und sozialer Denn Sie gehen ganz bewusst – ich sage das sehr Gerechtigkeit kaputt gemacht worden ist, haben selbst deutlich – über die Beanstandungen der Europäischen 9694 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Annette Widmann-Mauz (A) Kommission hinaus. Wir haben entsprechende Stellun- Die Naturheilpräparate – phytotherapeutische, homöo- (C) gnahmen bei unserem gemeinsamen Besuch in Brüssel patische, anthroposophische Arzneimittel – sind keine gehört. medizinischen Second-Hand-Arzneien, Frau Ministerin. Es sind zum Teil seit Jahrzehnten bewährte Produkte. (Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Das muss eine andere Veranstaltung gewesen sein!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Hier sollen zahlreiche Arzneimittel vom Markt ver- Bereits mit der Positivliste werden Sie eine ganze schwinden. Da kann ich nur sagen: Die MoorhühnerReihe von Arzneimitteln aus dem Sortiment nehmen. Man schießen zurück und gefährden jetzt in letzter Kon-kann diese Präparate dann zwar noch bekommen, aber sequenz und in dramatischer Weise eine ganze Reihe von nicht auf Krankenschein, sondern nur gegen Bares. Das mittelständischen Unternehmen, von Arbeitsplätzen, und hat mit sozialer Gerechtigkeit im Gesundheitswesen we- sie gefährden nicht zuletzt die Therapievielfalt in unserem nig zu tun. Land. Doch jetzt schlagen Sie erst richtig zu. Mit der Ich kann es Ihnen nicht ersparen, hier klipp und klar zu 10. AMG-Novelle wollen Sie Hunderte von Produkten sagen: Wenn Sie die 10. AMG-Novelle heute so, wie sie praktisch verbieten. Das heißt, diese Präparate ver- jetzt auf dem Tisch liegt, nach Ihren verqueren Vorstel- schwinden völlig vom Markt; sie sind damit weg. Wissen lungen beschließen, dann gibt es morgen mindestens ein Sie überhaupt, was Sie tun? Ich frage Sie: Warum wollen Dutzend Unternehmen, die große wirtschaftliche Schwie- Sie ohne Not – nur so nebenbei – Änderungsmöglichkei- rigkeiten haben. Sie betreiben hier eine knallharte Markt- ten streichen, anstatt die Kooperation zwischen den bereinigung durch die Hintertür. Sie tun zwar immer an- Herstellerfirmen und den staatlichen Behörden zu verbes- ders, aber in Wirklichkeit wollen Sie die alternativen Arz- sern? Warum können wir hier nicht von den USA lernen? neimittel nicht. Dort arbeiten Hersteller und FDA bereits im Vorgriff ei- (Beifall bei der CDU/CSU – Susanne Kastner nes möglichen Mängelbescheides konstruktiv zusammen. [SPD]: Was wollen Sie denn nun?) So muss es erst gar nicht zu formalen Bescheiden kom- men. Weil Sie nicht an den entsprechenden Beratungen im Gesundheitsausschuss teilnehmen, will ich Ihnen das hier Wie wir wissen, fliegt die Ministerin demnächst in die ganz konkret an drei Punkten aufzeigen: USA zur FDA. Wenn Sie schon nicht uns glauben, dann lassen Sie sich wenigsten dort einmal erklären, wie man Der erste Punkt. Derzeit dürfen zur Abhilfe von Män- besser vorgehen kann. geln im Nachzulassungsverfahren Änderungen der arz- neilich wirksamen Bestandteile vorgenommen werden. (Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Hätten (B) Diese Änderungsmöglichkeiten wollen Sie jetzt abschaf- Sie es doch selbst gemacht in den letzten Jah- (D) fen. Wenn also das BfArM bei einem Arzneimittel hin- ren!) sichtlich der Zusammensetzung etwas bemängelt und der Der zweite Punkt: Um das Nachzulassungsverfahren Hersteller daran nichts mehr ändern darf, dann wird die zu beschleunigen, wollten Sie die Frist zur Mängelbesei- Zulassung automatisch versagt. Das Arzneimittel ver-tigung von 18 auf – man höre und staune – sechs Monate schwindet vom Markt. verkürzen. Dies haben wir noch halbwegs umbiegen kön- Von einer solchen Streichung besonders betroffen sind nen. Ihre Fristenregelung war am Anfang viel zu kurz, da vor allem Kombinationspräparate. Versetzen Sie sichwaren wir uns mit den Sachverständigen einig. Innerhalb doch einmal in die Lage eines Unternehmers, der seit Jah- von sechs Monaten wäre nämlich eine Mängelbeseitigung ren ein bewährtes Produkt hat, das er nachzulassen will praktisch ausgeschlossen. und muss! Beim BfArM konnte sein Antrag bislang nicht Nehmen Sie zum Beispiel Bioäquivalenzstudien oder bearbeitet werden. Von sich aus kann er keine Änderun- klinische Studien. Wenn dort Mängel auftreten in der Zu- gen vornehmen, weil nach wie vor unklar ist, welche Kri- lassungspraxis, die sich aufgrund der Interpretation der terien für die Kombination gelten. Eine Änderung der Zu- Studienergebnisse der Behörde ergeben, dann wären sammensetzung im Vorgriff eines Mängelbescheides ist sechs Monate einfach zu wenig, um die Mängel zu behe- ihm damit nahezu unmöglich. Die Änderung im Nach- ben. Sie können solche Studien unter keinen Umständen hinein soll jetzt verboten werden. Was hat dieses mitin sechs Monaten qualifiziert durchführen. Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung zu tun? Überhaupt nichts! Es ist praxisfern, rechtlich höchst be- Auch hat es nicht der Hersteller zu verantworten, wenn denklich und wirtschaftlich absolut katastrophal. von der Zulassungsbehörde noch kein Mängelbescheid ergangen ist. Eine Frist von sechs Monaten wäre keine (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Marktbereini- Novellierung, sondern – ich muss es Ihnen an dieser Stelle gung durch die Hintertür!) nochmals sagen – kalte Marktbereinigung durch die Hin- Mit dieser Streichung machen Sie, Frau Fischer, eine tertür. ganze Palette alternativer Medizinpräparate kaputt. Die Wir forderten in unserem Antrag von Anfang an eine SPD will die Schulmedizin; das wissen wir. Aber warum Frist von zwölf Monaten. Das ist ausgewogen. Die Frist gerade die Grünen – nach der Positivliste zum zweiten beschleunigt das Verfahren, aber sie überfordert die Her- Mal – gegen die Alternativmedizin vorgehen, müssen Sie steller nicht. Es kann nicht sein, dass Rot-Grün bei jedem Ihren Wählerinnen und Wählern schon einmal erklären. gesundheitspolitischen Schritt an den Interessen der Pati- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) enten vorbeigeht und gegen den Mittelstand auftritt. Das Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9695

Annette Widmann-Mauz (A) haben wir im Ausschuss immer wieder deutlich gemacht Wir brauchen weniger noch kompliziertere Gesetze als (C) und wir haben auch da die besseren Argumente auf unse- vielmehr eine zügige, effiziente, fachlich qualifizierte Be- rer Seite. arbeitung der Anträge beim BfArM. Diesem Gesetz kön- nen wir, auch nach Ihren wenigen Schönheitskorrekturen, Gott sei Dank übernehmen Sie jetzt unsere Position der so jedenfalls in keinem Fall zustimmen. Dieses Gesetz ge- Zwölfmonatsfrist. Aber leider war der Hintergrund wohl fährdet eine Vielzahl mittelständischer Betriebe und da- eher eine Laune von Kanzler Schröder, der irgendwo von mit auch Arbeitsplätze, schränkt die Therapievielfalt in dem Unsinn in Ihren Reihen gehört haben muss und of- Deutschland ein und nimmt kranken Menschen scho- fenbar gesagt hat: Dann lassen wir doch eben mal sechse nende, kostengünstige und alternative Behandlungsmög- zwölf sein. Aber das befriedigt uns überhaupt nicht, denn lichkeiten. hier regiert Laune und nicht Einsicht. Wir haben die Chance, dass der Bundesrat, der diesem (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Gesetz noch zustimmen muss, Einspruch erhebt. Ich bin Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Große mir sicher, er wird das mit kritisch-konstruktiven Vor- Sprüche machen und zehn Jahre nichts getan!) schlägen tun. – Ich argumentiere hier Punkt für Punkt im Blick auf Ihr (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Gesetz. Aber auch bei zwölf Monaten muss aus unserer Sicht Vizepräsident Rudolf Seiters: Für die Fraktion ein Nachreichen von Unterlagen im Rechtsmittelverfah- Bündnis 90/Die Grünen spricht nun die Kollegin Monika ren noch zulässig sein. Ihre Novelle sieht vor, dass zum Knoche. Beispiel im Klageverfahren keine neuen Unterlagen mehr vorgelegt werden dürfen. Monika Knoche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir haben hier nicht nur verfassungsrechtliche Beden- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! ken, auch von der Sache her bringt das nichts. Sie werden Zunächst einmal möchte ich auf Sie eingehen, Frau Kol- es noch erleben und ich sage es Ihnen heute schon voraus: legin Widmann-Mauz. Ich glaube, es ist völlig unstrittig, Wenn Sie die Präklusion einführen, um die Verfahren zu dass man für eine qualitativ hochwertige Arzneimittelver- beschleunigen, erreichen Sie das glatte Gegenteil. Auf- sorgung, für Innovation und Kontinuität, aber auch für die Möglichkeit, in der Arzneimittelversorgung die pluralisti- grund Ihrer Präklusion wird es zu vollständig neuen Zu- sche Grundposition zu stärken, einenMittelstand lassungsverfahren kommen. Durch diese Verzögerung braucht, der zu all dem beiträgt, und dass das immer im entstehen nicht nur ein erheblicher wirtschaftlicher Scha- Zusammenhang mit der Entwicklung des Gesundheits- (B) den bei den Unternehmen und auch eine Mehrbelastung verständnisses stehen muss. Aber ich habe sehr stark den (D) beim BfArM, sondern es werden den Patienten mögli- Eindruck gewonnen, Sie nehmen die Mittelstandspolitik cherweise wichtige Arzneimittel zunächst vorenthalten. zum Ausgangspunkt für Gesundheitspolitik. So kann es Sie gefährden die naturärztliche Versorgung in Deutsch- nicht sein. land. Das ist rot-grüne Politik von heute. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der dritte Punkt, den Sie auch angesprochen haben, und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Herr Kollege Schmidbauer: Sie wollen die besondere PDS – Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] Kennzeichnung der bisher nicht zugelassenen Arzneimit- [CDU/CSU]: Umgedreht!) tel in der Packungsbeilage. Ich will auf den irrsinnigen materiellen Aufwand gar nicht eingehen. Den will ich gar Zu dem Arzneimittelgesetz, dessen 10. Novelle nicht ansprechen, das ist mir nicht so wichtig. Ursprüng- wir hier diskutieren, möchte ich sagen, Frau Widmann- lich sollte ja in der Packungsbeilage„Altarzneimittel“ Mauz – wir kennen ja die Debatte –: Im Grunde ge- nommen sagen Sie nichts anderes aus, als dass alles so stehen. Sie haben das Wort ja heute immer wieder ver- bleiben soll, wie es ist, bannt. Das war völlig inakzeptabel und ist – Gott sei Dank – jetzt vom Tisch. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nein!) Aber auch die Formulierung, die Sie hier vorher zitiert in dem Wissen, dass es nicht so bleiben kann, wie es ist, haben, ist in der Substanz ein fragwürdiger Hinweis.weil es ganz einfach nicht europarechtskonform ist. Ich Diese Information hat für die Verbraucherinnen und Ver- halte es für ein sehr eigenwilliges Politikverständnis, sich braucher keinen praktischen Nutzen. Ich möchte heute daran nicht halten zu wollen und die jetzige Regierung nicht die Zuhörer fragen, welchen praktischen Nutzen sie deswegen zu kritisieren. aus der Zitierung dieses Satzes gezogen haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Trans- und bei der SPD) parenz schaffen! Verbraucher nicht für dumm Im Übrigen ist Ihre Kritik ein bisschen ältlich oder verkaufen!) nicht ganz en vogue. – Nein, im Gegenteil, Sie stigmatisieren lediglich Arznei- (Detlef Parr [F.D.P.]: Endlich! Bis 2002! – mittel, die noch im Nachzulassungsverfahren und damit Heiterkeit bei der CDU/CSU) lediglich vorläufig zugelassen sind. Denn Sie befassen sich nicht wirklich mit dem neuen Ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) halt dieser Novelle. Sie nehmen das eigentlich nicht gerne 9696 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Monika Knoche (A) zur Kenntnis, denn dann bleibt nicht viel von der Kritik, nen. Jetzt haben Sie sich hier hingestellt und uns das zum (C) die Sie hier vorgebracht haben, übrig. Vorwurf machen wollen. Warum? Bei der Fülle von Arzneien, die im Nachzu- Sie müssen sich schon entscheiden, auf welche Art und lassungsversagen Weise und mit welchem Ziel Sie die Regierung kritisieren (Lachen bei der CDU/CSU – Wolfgang Zöller wollen. An diesem Gesetz bleibt nicht viel zu kritteln. Da [CDU/CSU]: In dem Versprecher ist viel Wahr- ist die Rolle der Opposition schwierig; das gebe ich gerne heit!) zu. – im Nachzulassungsverfahren stecken, rufen Sie nach ei- (Zuruf von der CDU/CSU: Selbst der Kanzler ner raschen abschließenden Regelung und nach einem hat es kritisiert!) Verfahren. Dazu kommt es jetzt. Die Nachzulassung be- Aber nichtsdestotrotz ist der vorliegende Gesetzentwurf kommt Regeln, die die Herstellerfirmen erfüllen können sehr gut gelungen. und die vor allem geeignet sind, die Firmen untereinander gleichzustellen. Auch das gehört zu einer gerechten Mit- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Na, na!) telstandspolitik. Ein Argument noch: Wenn künftig die bereits in ande- Die Europäische Kommission gibt bestimmteStan- ren EU-Staaten geleistete Bewertungsarbeit für die Nach- dards vor, verbindliche Regeln also, an die sich die Re- zulassung weitestgehend genutzt werden kann, dann sind gierung in der Vorzeit mit Nonchalance nicht gehalten hat. wir in diesem Bereich, so meine ich, im europäischen Wir setzen nun Gemeinschaftsrecht um. Verständlicher- Haus angekommen. Auch hier weiß ich nicht, was es da- weise gilt unser spezielles Augenmerk denbesonderen ran zu kritisieren gibt. Therapierichtungen. Diese werden meines Erachtens in dem jetzt zur Abstimmung vorliegenden Gesetz nicht dis- Verbraucherinformationen zu verharmlosen – Herr kriminiert. Schon gar nicht trifft der Vorwurf zu, Herstel- Schmidbauer hat es schon angesprochen – ist nach Ihrem lergruppen würden marktbereinigend eliminiert. Das ist Verständnis vielleicht möglich, nach meinem Verständnis Unsinn. als Grüne nicht. Diese machen auch vor alternativen Verfahren nicht Halt. In diesem Zusammenhang sollten Sinn aber macht, dass die Unsitte aufhört, dass man so die Information der Verbraucherinnen und Verbraucher tut, als könnte für die besonderen Therapierichtungen und sowie Qualitätskriterien eine Norm sein, die man nicht ihre Präparate allgemeines europäisches Recht nicht gel- umgeht. ten, weil sie dieses nicht erfüllen könnten. Das ist falsch. Die Kommission hat ausdrücklich beanstandet, dass die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) geforderte Verpflichtung zur Vorlage der Unterlagen zur und bei der SPD) (D) Unbedenklichkeit und Wirksamkeit sowie der entspre- chenden Sachverständigengutachten nicht eingehalten Noch eine Überlegung: Wie können wir durch die No- wird und dass die so genannte 2004-Regelung erlischt. velle erreichen, langfristig auch im Pharmabereich ein pluralistisches Therapieverständnis zu sichern? Dies Nach der jetzt vorgeschlagenen Regelung kann das betrifft die Vergleichbarkeit der Kriterien. Die Monogra- Verfahren auf Antrag wieder aufgegriffen werden. Insge- phien sind nämlich geblieben. Auch an dieser Stelle also samt steht nunmehr fest: Die Nachzulassungsverfahren greift Ihre Kritik nicht so recht. werden in einem überschaubaren Zeitraum zum Ab- schluss gebracht. Eine Straffung und Beschleunigung hier Wichtig ist, dass durch die angepasste Novellierung ist richtig. Eine Sechsmonatsfrist für die Vorlage der Un- des AMG – auch betreffend die Bedingungen der beson- terlagen zur Unbedenklichkeit und Wirksamkeit ist aus- deren Therapierichtungen – europaweit klare und gefes- reichend. Ich weiß auch wirklich nicht, was man gegen tigte Marktchancen vergrößert werden. Ich sehe nicht ein, das Kriterium Unbedenklichkeit und Wirksamkeit einzu- warum, langfristig gesehen, ein Produkt, das in Deutsch- wenden hat. land besonders ausgeprägt be- und genutzt und der Berei- Die Praxis einiger pharmazeutischer Unternehmen, ein cherung sowie der Therapievielfalt im interkulturellen Arzneimittel erst nach der Entscheidung einer Behörde Bereich dienen könnte, dadurch eine europaweite zulassungsreif zu machen, soll nicht mehr möglich sein. Marktbenachteiligung behalten würde, dass wir es nicht Wer die Sache kennt, weiß, dass dieses Interesse im Kern den gleichen qualitativen Anforderungen unterstellen. dahinter steht. Erst dadurch, dass wir dies tun, haben die Produkte der be- sonderen Therapierichtungen eine realistische Chance, Was bleibt also eigentlich von Ihrer Kritik? Die Zeit für sich auf dem europäischen Markt auszudehnen. die Beseitigung der Mängel ist ausreichend. Wir haben sie auf zwölf Monate begrenzt. Damit ist den Einwen- Danke. dungen Rechnung getragen worden. Es gibt natürlich im- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mer wieder den Versuch, Frau Widmann-Mauz, etwas Po- und bei der SPD sowie der Abg. Dr. Ruth Fuchs lemik hineinzubringen. Aber wir haben, weil Sie – zu [PDS]) Recht – das Interesse der besonderen Therapierichtungen hervorgehoben haben, das Beratungsverfahren ausdrück- lich so gestaltet, dass alle Anträge und Änderungsanträge Vizepräsident Rudolf Seiters: Für die F.D.P.-Frak- von Ihnen ausreichend beraten und diskutiert werden kön- tion spricht der Kollege Detlef Parr. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9697

(A) Detlef Parr (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen stark betroffen sein werden. Der Ausweg über die Aner- (C) und Herren! Der Volksmund weiß: Reisen bildet. Wenn kennung als Gesundheitspflegemittelist ein Holzweg, der Kanzler reist, sowieso. Wenn er zu Pharmaunterneh- Herr Kollege Schmidbauer. men reist, führt der Bildungszuwachs gelegentlich auch (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) zu Änderungen von Gesetzentwürfen der Regierung. Das ist zwar ungewöhnlich, aber dies ist auch gut. Ich frage Sie: Was ist sinnvoll daran, wenn ein Medika- Wir begrüßen die Streichung einer besonders negati- ment nur deshalb keine Zulassung erhält, weil die Her- ven Verschärfung der Nachzulassungsvorschriften, die stellerfirma personell nicht in der Lage ist, in kurzer Zeit die F.D.P. bereits frühzeitig gefordert hatte. Nun haben die womöglich für mehrere Präparate gleichzeitig die gefor- Unternehmer wenigstens eine angemessene Frist, umderten Nachweise beizubringen? Mängel zu beseitigen. Andernfalls hätte es besonders für (Gudrun Schaich-Walch [SPD]: Die arbeiten viele kleine und mittelständische Betriebe, die zwar we- doch seit 20 Jahren an dem Medikament!) nig Personal, aber viele gute Ideen haben, das Aus bedeu- ten können. Mit ihnen wären mit Sicherheit viele Arznei- – Ich rede jetzt nicht von den großen Firmen, die die dafür mittel der besonderen Therapierichtungen hier vom Markt notwendigen Ressourcen vorhalten. verschwunden. (Susanne Kastner [SPD]: Von was reden Sie (Beifall bei der CDU/CSU) denn?) In diesem Punkt konnte also Schlimmes verhindert– Ich rede von den kleinen, oft auch sehr innovativen Be- werden, in anderen leider nicht. Dort blieb der wahretrieben, die wir fördern sollten, anstatt ihnen das Leben Geist des vorgesehenen Gesetzes erhalten: Es soll inunnötig schwer zu machen. Wahrheit vor allem der Marktbereinigung dienen, zumin- Es wird die Damen und Herren von der Koalition viel- dest aber drastisch verminderte Marktchancen bescheren. leicht überraschen, aber es gilt, auch dort die Arbeits- (Beifall bei der CDU/CSU) plätze zu erhalten und vielleicht sogar welche zu schaffen. Gesundheitspolitik, Frau Knoche, ist eben auch Wirt- Warum sonst, meine Damen und Herren von der Ko- schaftspolitik. alition, wollen Sie Restriktionen beschließen, die weit über das hinausgehen, was die EU gefordert hat? Warum (Monika Knoche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sonst wollen Sie bewährten Arzneimitteln, die seit vielen NEN]: Ich habe das ja nicht in Abrede gestellt!) Jahren auf dem Markt sind, den Stempel der Unseriosität Wir sollten uns darüber eigentlich einig sein. Meine Da- aufdrücken? Warum sonst wollen Sie den Firmen die men und Herren der SPD, wenn ich daran denke, wie Sie (B) Konsequenzen einer unangemessen langen Bearbeitungs- (D) den Bundestagswahlkampf geführt haben, wenn ich an Ihr zeit beim Bundesinstitut anlasten? Das alles macht keinen Plakat „Arbeit! Arbeit! Arbeit!“ denke, dann muss ich Sinn, wenn man sich die Forderungen der EU anschaut. Es macht aber sehr wohl Sinn, wenn man sich die dirigis- feststellen: Das Ergebnis Ihrer Gesundheitspolitik ist Ar- tische und in diesem Bereich wirtschaftsfeindlichebeitsverdichtung auf Kosten der Ärzte und Patienten, Ver- Grundhaltung der Bundesregierung ins Gedächtnis ruft. lust von Tausenden von Arbeitsplätzen – in zunehmendem Maße – und ein staatlich gedrosselter Gesundheitsmarkt. Bei aller berechtigten Kritik an der immer noch großen Das, meine Damen und Herren, machen wir nicht mit. Zahl der nicht nach AMG zugelassenen Arzneimittel: Die Schuld dafür darf nach Meinung der F.D.P. nicht einseitig (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) den Firmen angelastet werden. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ist es!) Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich gebe nunmehr das Wort der Kollegin Dr. Ruth Fuchs für die Fraktion der Sie haben das Recht auf eine faire Chance. Auch unter den PDS. neuen Rahmenbedingungen muss der Marktzugang mög- lich sein. Wenn sich während der langen Liegezeit der An- träge beim Bundesamt, die nicht selten mehrere Jahre be- Dr. Ruth Fuchs (PDS): Herr Präsident! Meine Damen trägt, neue Erkenntnisse ergeben, muss die Möglichkeit und Herren! Erst unter dem Druck eines Vertragsverlet- eingeräumt werden, darauf zu reagieren. So viel Flexibi- zungsverfahrens seitens der EU-Kommission und einer lität ist wohl nicht zu viel verlangt. Sie ist ein Gebot des drohenden Klage vor dem Europäischen Gerichtshof ha- fairen Umgangs mit den Unternehmen. ben Regierung und Koalition einen Gesetzentwurf vorge- legt, in dem es erneut um die Nachzulassung von Arznei- Arzneimittelvielfalt darf uns kein Graus sein. Manch- mitteln geht. – Ich werde die Frage nicht stellen, ob wir mal hat man ja diesen Eindruck. Arzneimittelvielfalt ist diese Debatte zu der 10. Novelle auch ohne diesen Druck vielmehr ein Guthaben für die Gesundheit unserer Bürger. geführt hätten. Sie muss gepflegt werden und darf nicht auf kaltem Wege beschnitten werden. (Beifall bei der PDS) Der vorliegende Gesetzentwurf wird aus unserer Sicht Nichtsdestotrotz ist grundsätzlich zu begrüßen, dass leider genau das bewirken. Ich fürchte, dass gerade die be- nunmehr auch für das Nachzulassungsverfahren die sonderen Therapierichtungen, auch wenn ich eingangs die Verpflichtung der Hersteller festgeschrieben wird, von Verlängerung der Mängelbeseitigungsfrist gelobt habe, vornherein die notwendigen pharmakologischen und 9698 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Dr. Ruth Fuchs (A) klinischen Prüfungsunterlagen sowie entsprechende Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich schließe die Aus- (C) Sachverständigengutachten einzureichen. sprache. Auch die mit der 5. Novelle zum Arzneimittelgesetz Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- noch einmal großzügig bis 2004 verlängerteAbver- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung kaufsfrist für noch nicht geprüfte Medikamente wird auf- des Arzneimittelgesetzes, Drucksachen 14/2292 und gehoben. Allerdings wird jenen Unternehmen, die end- 14/3320. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in gültig auf eine Nachzulassung verzichten – man sollte der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- einmal die Frage stellen, warum sie darauf verzich-zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der ten –, immer noch ein weiterer Abverkauf von zwei Jah- Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den ren eingeräumt. Das zeigt, dass der Gesetzgeber bemüht Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die war, nicht nur den Forderungen der EU-KommissionStimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der Rechnung zu tragen, sondern auch den heimischen Her- PDS angenommen. stellern deutliche Zugeständnisse zu machen. Wir kommen zur Während die Pharmaindustrie zunächst dennoch er- hebliche Bedenken vorbrachte, spricht sie jetzt von dritten Beratung überwiegend sachgerechten Regelungen und davon, dass und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem man sie insgesamt mittragen könne. Die Ursachen für die- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer sen Sinneswandel sind nicht schwer zu finden. Zu Beginn stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf des Gesetzgebungsverfahrens ging die Bundesregierung ist mit der gleichen Mehrheit, also mit den Stimmen von noch zwingend davon aus, dass zur Straffung der Zulas- SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von sungen kürzere Fristen für die Einreichung der Unterla- CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS, angenom- gen und für die Beseitigung von Mängeln erforderlich men. sind. Die Zeitspannen sollten deshalb auf sechs Monate verkürzt werden. Auch die massiven Proteste der Indus- Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- trie schienen die Regierung zunächst nicht zu beein-lung auf Drucksache 14/3320, die Unterrichtung durch drucken. die Bundesregierung auf Drucksache 14/2355 zur Kennt- nis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- In der Sitzung des Gesundheitsausschusses, in der der lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be- Gesetzentwurf eigentlich abschließend beraten werden schlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bünd- sollte, präsentierten die Koalitionsparteien aber plötzlich nis 90/Die Grünen und CDU/CSU gegen die Stimmen der einen weiteren Änderungsantrag. Damit wurde dieF.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen. (B) Mängelbeseitigungsfrist auf zwölf Monate angehoben. (D) Zugleich wurde die zuständige Bundesbehörde verpflich- Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 18: tet, in Zukunft anstelle von Mängelbescheiden vorrangig mit Auflagen verbundene Zulassungen zu erteilen. Natür- Erste Beratung des von den Abgeordneten lich entsprechen beide Veränderungen vor allem den In- Maritta Böttcher, Dr. Heinrich Fink, Angela teressen der Industrie. Marquardt und der Fraktion der PDS eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Fazit: Auf dem Arzneimittelsektor herrschen die ge- Gebührenfreiheit des Hochschulstudiums wohnten Kräfteverhältnisse. Im Zweifel setzt sich die Pharmaindustrie durch – wenn nötig, mit Hilfe des Bun- – Drucksache 14/3005 – deskanzlers, wie auch in diesem Fall zu hören ist. Es zeigt Überweisungsvorschlag: sich, dass der Regierungswechsel selbst in diesem Detail Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- keinen Politikwechsel gebracht hat. Für die im Interesse zung (f) Rechtsausschuss der Menschen gebotene Handlungsfähigkeit des Staates Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung in Sachen Arzneimittelsicherheit ist dies allerdings kein Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gutes Omen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist auch für Notwendig ist ein zügiger Abschluss der Nachzulas- diese Debatte eine halbe Stunde vorgesehen. – Das Haus sungsverfahren. Geringere Anforderungen an die behörd- ist einverstanden. liche Prüfung der Arzneimittel sind dabei nicht gerecht- fertigt. Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst für den Antragsteller der Kollegin Maritta Böttcher von der PDS Lieber Kollege Parr, es ist ja richtig: Die Gesundheits- das Wort. politik in diesem Land ist auch ein Wirtschaftsfaktor. Da- gegen hat niemand etwas einzuwenden. Aber unserer Meinung nach muss der Gesundheitsschutz Vorrang vor Maritta Böttcher (PDS): Herr Präsident! Sehr geehrte den Herstellerinteressen haben. Damen und Herren! Die Bundesregierung entpuppt sich zunehmend als eine Regierung der leeren Versprechen. Aus den hier genannten Gründen – der Gesetzentwurf Auf dem Gebiet der Bildungs- und Wissenschaftspolitik beinhaltet zwar Fortschritte gegenüber dem alten Zu-ist die Koalition gerade dabei, gleich drei ambitionierte stand, aber wir haben auch Kritik anzubringen – werden Reformprojekte gegen die Wand zu fahren und damit eine wir uns bei der Abstimmung enthalten. Jahrhundertchance zur Erneuerung unserer Hochschulen (Beifall bei der PDS) zu verspielen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9699

Maritta Böttcher (A) Anfang des Jahres musste sich die Bundesbildungsmi- zierten Hochschulausbildung drosseln. Studiengebühren (C) nisterin dem Druck eines Kanzlermachtwortes beugen sind sozial ungerecht und stellen die Chancengleichheit in und das Scheitern der versprochenen Strukturreform der Bildung und Wissenschaft grundsätzlich in Frage. Ausbildungsförderung eingestehen. Auch bei der Reform der aus dem vorletzten Jahrhundert stammenden Perso- (Beifall bei der PDS) nalstruktur der Hochschulen ist die Regierung drauf und Das neueste Argument der Studiengebührenbefürwor- dran, nach der Devise zu verfahren: Reparaturreförmchen ter, ohne Gebühren würde die Krankenschwester dem statt Strukturreform. Arztsohn das Studium finanzieren, ist übrigens zynisch Schließlich zeichnet sich auch in der Studiengebühren- und falsch; zynisch, weil es den erschwerten Hoch- frage ein Bruch der rot-grünen Wahlversprechen ab. In Ih- schulzugang einkommensschwacher Schichten zum An- rer Koalitionsvereinbarung haben Sie noch unmissver- lass für weitere soziale Zugangsbarrieren nimmt, falsch, ständlich angekündigt: weil eine kürzlich vom DSW vorgelegte Studie den Nach- weis erbracht hat, dass Akademikerinnen und Akademi- Wir werden das Hochschulrahmengesetz im Einver- ker nach ihrem Studium an den Staat weit mehr zurück- nehmen mit dem Bundesrat weiterentwickeln und zahlen, als ihre Ausbildung gekostet hat. dabei die Erhebung von Studiengebühren aus- schließen sowie die verfasste Studierendenschaft ab- Zu einer gesetzlichen Sicherung der Gebührenfreiheit sichern. des Hochschulstudiums gibt es keine Alternative. Der Versuch von Frau Ministerin Bulmahn, Studiengebühren Inzwischen ist beinahe die Hälfte der Legislaturperi- über einen Staatsvertrag mit den Ländern zu verhindern, ode verstrichen, aber es ist keine Gesetzesinitiative der ist gescheitert. Die Kultusminister diskutieren heute über Bundesregierung in Sicht. Ich erinnere daran, dass Sie noch vor zwei Jahren Ihre Zustimmung zur Novellierung ein Studienkontenmodell, das nichts anderes als einen des HRG verweigerten, weil der vom Rüttgers-Ministe- modern verpackten Vorstoß zur Einführung von Stu- rium vorgelegte Gesetzentwurf kein Studiengebührenver- diengebühren darstellt. Studiengebühren gefährden die bot enthielt. Damals, vor der Bundestagswahl, drohten Sie Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im Bundesge- zu Recht mit einer Verfassungsklage, weil der Bundesrat biet substanziell. Zweifel an der verfassungsrechtlichen übergangen worden ist. Heute, nach der Wahl, sehen Sie Zulässigkeit eines Studiengebührenverbots halte ich da- der schrittweisen Einführung von Studiengebühren in den her für absolut unbegründet. Ländern tatenlos zu. Das ist schon enttäuschend. Um eine unterschiedliche Entwicklung der Hochschul- Die Studentinnen und Studenten sind mit ihrer Geduld systeme der Länder in der zentralen Frage des Hoch- (B) übrigens am Ende. Das Aktionsbündnis gegen Studien- schulzugangs zu verhindern, brauchen wir eine verbindli- (D) gebühren hat bekanntermaßen 123 000 Unterschriften che Regelung im Hochschulrahmengesetz. Ich mache für ein gebührenfreies Studium ohne Wenn und Aber ge- auch nachdrücklich auf den internationalen Pakt über die sammelt. Doch die Bundesregierung stellt sich weiterwirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte auf- taub, sodass die Studierenden ihren Forderungen im Juni merksam, mit dem sich die Bundesrepublik völkerrecht- dieses Jahres mit bundesweiten Demonstrationen und Ak- lich dem Ziel der Unentgeltlichkeit des Hochschulunter- tionen Nachdruck verleihen wollen. richts verschrieben hat. (Beifall bei der PDS – Jörg Tauss [SPD]: Wen- Mit den Worten „Bei mir rennen Sie offene Türen ein“ den Sie sich doch mal darüber! Nicht die Bun- hat die Ministerin Bulmahn die Unterschriften gegen Stu- desregierung ist der Adressat!) diengebühren entgegengenommen. – Hören Sie doch einmal zu, Herr Tauss. (Jörg Tauss [SPD]: Ja, das ist die Wahrheit!) Mit dem Entwurf für ein Gesetz zur Sicherung der Ge- Frau Ministerin, meine Damen und Herren, erlauben Sie, bührenfreiheit des Hochschulstudiums unterstützt diedass sich die PDS heute als Türöffnerin betätigt. Das seit PDS-Fraktion im Bundestag den außerparlamenta-ri-Jahren chronisch unterfinanzierte Hochschulsystem steht schen Protest und fordert die Regierungskoalition auf, ihr vor einer Fülle von Problemen. Studiengebühren lösen 1998 gegebenes Wahlversprechen endlich einzulösen. kein einziges Problem, aber sie erzeugen neue. (Beifall bei der PDS) (Beifall bei Abgeordneten der PDS) Für die Sicherung der Gebührenfreiheit des Hoch- Lassen Sie uns daher mit den Studentinnen und Stu- schulstudiums gibt es gute Gründe. Es ist geradezu gro- denten die Gebührenfreiheit des Hochschulstudiums und tesk: Zu einem Zeitpunkt, zu dem in anderen Industrie- damit eine zentrale sozialstaatliche Errungenschaft in die- ländern bereits mehr als die Hälfte eines Altersjahrgangs sem Land verteidigen. eine Hochschulausbildung absolviert, wird in Deutsch- land, das gerade einmal eine Studentenquote von 30 Pro- (Stephan Hilsberg [SPD]: Die PDS verteidigt!) zent aufweisen kann, über eine Verteuerung und Priva- – Ja, notfalls mit Ihnen gemeinsam, Herr Hilsberg. tisierung des Studiums nachgedacht. Es kann doch nicht sein, dass wir als Antwort auf die in der Green Card-De- batte offen gelegte deutsche Bildungsmisere Studienge- Vizepräsident Rudolf Seiters: Für die SPD-Frak- bühren einführen und die Nachfrage nach einer qualifi- tion spricht nun der Kollege Stephan Hilsberg. 9700 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

(A) Stephan Hilsberg (SPD): Sehr geehrter Herr Präsi- nicht so viel Geld zur Verfügung haben. Wir dürfen die(C) dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die PDS beliebt Hemmschwelle, die vor der Aufnahme eines Studiums uns heute wieder einmal mit einem Gesetzentwurf zur liegt, nicht anheben. Genau das würde aber passieren, bundesweiten Verhinderung von Studiengebühren diewenn man Studiengebühren einführte. Ehre zu geben, damit wir in diesem Hohen Hause erneut (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ über Studiengebühren diskutieren. Das ist nicht neu, das haben wir immer wieder einmal getan. Wir haben auf un- DIE GRÜNEN) terschiedlichem Niveau diskutiert, aber auf einer so plat- Das war schon immer die Position der SPD. ten Grundlage, wie der PDS-Gesetzentwurf sie darstellt, haben wir es noch nie getan. Nebenbei bemerkt: Ich wünsche wirklich gute Verrich- tung bei dem Versuch, mindestens 1 Million Studenten (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Ruth zusätzlich Studiengebühren aufzudrücken. Ich kann mir Fuchs [PDS]: Weil Sie es überhaupt nicht tun!) vorstellen, was das an Aufschrei und Protest geben wird. Bevor ich hier zu unserer grundsätzlichen Haltung zu Den Versuch möchte ich lieber nicht unternehmen. Ich Studiengebühren komme, die übrigens bekannt ist und an möchte das auch aus rein machiavellistischen Überlegun- der sich überhaupt nichts ändert gen erst gar nicht erwägen. (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Aber folgen- Manchmal fragt man sich allerdings, ob einige Länder los!) an dieser Stelle wirklich wissen, worauf sie sich einlassen, wenn sie die Einführung von Studiengebühren fordern. – ich gehe davon aus, dass wir hier einen weitestgehenden Aber sie sind nicht die Einzigen. Konsens mit den Grünen und der CDU haben –, muss ich einen Einwand machen. Sie sind in einer Landesregierung (Cornelia Pieper [F.D.P.]: Meinen Sie Nieder- beteiligt und haben zu der Zeit, als Sie noch SED hießen, sachsen? – Jörg Tauss [SPD]: Baden-Württem- große Regierungserfahrung gesammelt. Man kann Ihnen berg!) vielleicht verzeihen, dass Sie nicht wissen, wie Regie- rungsgeschäfte in der Bildungspolitik in der Bundesrepu- Es ist nicht ganz einfach, unsere Position aufrechtzuer- blik laufen, es ist aber klar: Die Bildungspolitik gehört zu halten, wenn beispielsweise die Hochschulrektorenkonfe- den kompliziertesten Geschäften, die es überhaupt gibt. renz die Einführung von Studiengebühren, wie jüngst ge- schehen, verlangt. Das von Ihnen verlangte Verbot von Studiengebühren ist ohne die Länder überhaupt nicht zu machen. (Zuruf von der CDU/CSU: Deshalb ist die Mi- nisterin nicht da! – Cornelia Pieper [F.D.P.]: (Jörg Tauss [SPD]: Leider!) Niedersachsen!) (B) Deshalb brauchen Sie den Konsens in dieser Sache. – Sie sprechen das Wort „Niedersachsen“ aus, Frau(D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Pieper. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Zuruf des Abg. Thomas Rachel [CDU/CSU]) Sie haben schon darauf hingewiesen, dass ein solches Studiengebührenverbot nicht rechtskonfliktfrei ist. Sie – Herr Rachel, wir können auch noch auf Herrn von können das nicht einfach veranlassen. Wir könnten das Trotha zu sprechen kommen. natürlich einfach beschließen, aber wer garantiert Ihnen (Jörg Tauss [SPD]: In Baden-Württemberg re- dann, dass das nicht anschließend beklagt wird? Genau gieren die!) das ist doch die Situation. Wir haben gegenwärtig unterschiedlichste Entwick- (Wolfgang Gehrcke [PDS]: Das geht woanders lungen. Ich will nicht verhehlen: In jeder Partei gibt es auch!) Leute, die den großen Auftritt lieben. Auch einer meiner Wenn Sie uns wirklich unterstützen wollten, indem Sie Vorgänger beispielsweise beliebte das zu tun. sagen: „Macht das doch“, dann hätten Sie das machen sol- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Tauss! – len, als wir noch die entsprechenden Mehrheiten im Bun- Maritta Böttcher [PDS]: Außer in der desrat hatten, da wäre es vielleicht noch machbar gewe- SPD!) sen. Aber selbst damals wäre es ausgesprochen schwierig gewesen. Jetzt ist das nichts anderes als warme Luft. Nun wollen wir die Debatte mit dem richtigen Ernst be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ trachten. DIE GRÜNEN – Maritta Böttcher [PDS]: Das (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Ja, bitte, darauf ist blauäugig!) warten wir seit zehn Minuten!) Wir sind aus grundsätzlichen Erwägungen nach wie Es gibt bei denjenigen, die die Einführung von Studien- vor gegen Studiengebühren. Ich will das in aller Deut- gebühren immer wieder gefordert haben, entsprechende lichkeit betonen. Argumente. Es lohnt sich, sich mit diesen Argumenten (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Thomas auseinander zu setzen. Aber selbst wenn wir das tun, kom- Rachel [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar men wir immer wieder zu der gleichen Auffassung, dass nicht!) Studiengebühren das Falsche sind. Es ist das falsche Signal. Wir brauchen mehr Studenten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ aus den sozial einfachen Schichten, aus den Schichten, die DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9701

Stephan Hilsberg (A) Man sollte sich auch nicht von spekulativen „dpa“- Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich war gerade abge- (C) Meldungen in Panik versetzen lassen. lenkt, weil ich mit Freude gesehen habe, wie viele Kolle- gen ihre Reden zu den nächsten Tagesordnungspunkten (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Die Panik kann zu Protokoll geben. man an Ihren Schweißperlen auf der Stirn se- hen!) Frau Pieper, der Kollege Hilsberg gestattet eine Zwi- schenfrage. Bitte, Sie haben das Wort. – Herr Rachel, man sollte auch nicht auf spekulative „dpa“-Meldungen mit ebenso spekulativen „dpa“-Mel- dungen reagieren. Damit haben Sie überhaupt noch keine Cornelia Pieper (F.D.P.): Vielen Dank, Herr Präsi- Politik gemacht. Was Sie brauchen, ist der Konsens mit dent. – Herr Hilsberg, es reizt mich jetzt doch, eine Frage den Ländern. Das ist in der Tat völlig richtig. an Sie zu richten. Ich sehe, wie sehr sich der Kollege Tauss darüber freut, dass ich Ihnen eine Frage stellen Was Sie brauchen, sind Länder, die sich darüber im möchte. Klaren sind, welcher Dominoeffekt in dem Moment ein- Herr Kollege Hilsberg, da Sie die Studie des Deutschen setzen würde, in dem ein einziges Land Studiengebühren Studentenwerkes zur Hochschulfinanzierung und zu den einführte. Schon deshalb müssen die Länder selber ein Studiengebühren genannt haben, möchte ich Sie fragen, großes Interesse daran haben, zu einer Verwaltungsver- ob Ihnen die Aussage Ihres Wissenschaftsministers aus einfachung hinsichtlich der entsprechenden Studienge- Niedersachsen, Herrn Oppermann, bekannt ist, die lautet: bühren zu kommen. Sie sind jetzt auch dabei und das ist Die Verkäuferinnen und Facharbeiter bezahlen mit ihren der richtige Weg. Dabei wurden auch Signale zur Verhin- Steuern das Medizinstudium des Arztsohns. derung von Studiengebühren gesetzt. Diese müssen von den Ländern ausgehen, denn sie sind die wirklich Betrof- fenen. Ohne die Länder werden Sie das in keiner Weise Stephan Hilsberg (SPD): Diese Aussage ist mir hinbekommen. bekannt. Darauf antworte ich mit dem Satz, den ich vorhin schon gesagt habe: Es gibt in jeder Partei Leute, die den Es gibt noch ein paar Fragen, über die man sich ne- großen Auftritt lieben; aber nicht jeder große Auftritt ist benbei unterhalten kann: Es wird ideologisch debattiert, richtig und in sich logisch. Diese Aussage von Herrn und Verwaltungsgebühren werden beispielsweise mit Oppermann ist schlicht falsch und widerspricht den Tat- Studiengebühren gleichgesetzt. Sie von der PDS tun das sachen. So ist es nämlich nicht. übrigens auch. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das würde ich nicht machen. Lesen Sie sich Ihren Ge- (B) Dies wird man in aller Freundlichkeit einmal sagen kön- (D) setzentwurf durch. nen und dies sagen wir uns auch untereinander. (Maritta Böttcher [PDS]: Den habe ich ge- Wir haben unterschiedliche Meinungen. Daran kann schrieben! Den muss ich nicht durchlesen!) man feststellen, wie drängend das Problem inzwischen Darin steht, dass davon gleichzeitig das Verbot von Ver- diskutiert wird. Die jetzige Arbeitsgruppe, die eingesetzt waltungsgebühren betroffen sei. Man soll nicht Äpfel mit wurde, um die Einführung von Studiengebühren bis zum Erreichen eines ersten berufsqualifizierenden Abschlus- Birnen gleichsetzen. Dies sind schon zwei unterschiedli- ses zu verhindern, ist vermutlich die letzte Chance, um die che Sachen. Einführung von Studiengebühren in dieser Republik Ich will mich einmal in die Diskussion über die Studi- wirklich zu verhindern. Dies jedoch ist ein bildungspoli- engebühren beispielsweise mit dem CHE einmischen. Es tisches Gebot. gibt dieses schöne Gutachten vomDeutschen Studen- (Beifall bei der SPD) tenwerk, das klar die Haltung widerlegt, in unserem Land würden die armen Leute das Studium der Reichen finan- Ganz anders ist die Situation bei den privaten Hoch- zieren. Dies ist einfach nicht wahr. Wenn Sie sich dieschulen in unserem Lande, von denen ich mir mehr wün- Steuerbilanz ansehen, stellen Sie fest, dass diejenigen, die sche. Etwas ganz anderes ist es auch mit den Studenten, die Universität abgeschlossen haben, infolge des progres- die bereit sind, Studiengebühren zu zahlen, manchmal bis zu einer Höhe von 3 000 bis 4 000 DM pro Semester. siven Steuersatzes sehr viel mehr in die Steuerkasse zah- Wenn diese das gerne möchten, sollen sie es machen. len als die armen Leute. Deswegen ist die in dem Gegen- Wenn wir Angebote haben, mit denen diese gut leben kön- gutachten enthaltene Antwort des CHE darauf schlicht nen, ist das nicht schlecht. Wenn wir mehr privates Kapi- eine Frechheit, weil so getan wird, als würde sozusagen tal bekommen, um in dieser Republik entsprechende Stu- die Rendite verglichen werden. Dabei sind die Bürger die diengänge anbieten und damit das Studienangebot berei- entsprechenden materiellen Produkte, deren Rendite für chern zu können, ist auch das nicht schlecht und belebt die Bilanzierung entscheidend ist. das Geschäft. Aber natürlich kommt dadurch das gesamte (Abg. Cornelia Pieper [F.D.P.] meldet sich zu Hochschulsystem unter gewaltigen Reformdruck. Darauf einer Zwischenfrage) reagieren wir auch. Beispielsweise setzen wir mit der Dienstrechtsreform – Herr Präsident, möchten Sie eine Frage zulassen? die Hochschulen in den Stand, sich selber mehr profilie- (Heiterkeit bei der SPD und der F.D.P.) ren, ein besseres Angebot erarbeiten zu können, um an der 9702 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Stephan Hilsberg (A) Spitze exzellenter Universitäten in dieser Republik stehen Die Studiengebühren sollen nach der Deutschen(C) sowie bei dem Ranking ganz vorne mitspielen zu können, Presse-Agentur in Niedersachsen nach den Vorstellun- damit bei uns eine wichtige Voraussetzung erfüllt bleibt, gen des dortigen Wissenschaftsministers Oppermann be- nämlich dass es nicht am Geldbeutel der Eltern liegen reits ab dem Jahre 2001 erhoben werden; nach dieser Mel- darf, ob jemand ein gutes Studium absolviert oder nicht. dung wolle Oppermann mit Rücksicht auf die nordrhein- Dies muss in diesem Haus Konsens bleiben und dies war westfälischen Landtagswahlen am kommenden Sonntag es bisher auch immer. seine Absicht erst nächste Woche veröffentlichen. Das (Beifall bei der SPD und dem BÜND- heißt, Sie verschweigen Ihre politischen Vorhaben vor NIS 90/DIE GRÜNEN) dem Wahltermin. Das ist eine Sauerei! Gegen Wettbewerb ist überhaupt nichts einzuwenden. (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Wir brauchen den Wettbewerb. Wettbewerb schadet nicht, Für Sauereien sind Sie doch Fachmann!) sondern nützt und muss von uns so organisiert werden, – Herr Tauss, das ist glatter Wahlbetrug. Sie haben im dass wir unseren Studenten auch in den nächsten Jahren ein studiengebührenfreies Studium garantieren können. Bundestagswahlkampf versprochen, ein Verbot von Stu- Ich hoffe, dass Sie alle mit uns darin einig sind, dass wir diengebühren im Hochschulrahmengesetz bundesweit diesen Weg weitergehen, und Sie uns dabei unterstützen. einzuführen. In Wirklichkeit machen Sie in Niedersach- sen genau das Gegenteil. Sie haben den Bundestagswahl- Vielen Dank. kampf perfide geführt. Die SPD hat sich die Zustimmung (Beifall bei der SPD und dem BÜND- der Studierenden wissentlich durch Wahlbetrug erkauft. NIS 90/DIE GRÜNEN) (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) Die Wählerinnen und Wähler sind getäuscht worden. Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort für die Noch in der Koalitionsvereinbarung haben SPD und CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Thomas Rachel. Grüne vertraglich zugesichert – ich zitiere aus der Koali- tionsvereinbarung –: (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Thomas Rachel Wir werden das Hochschulrahmengesetz im Ein- Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mal wieder fordert die PDS-Fraktion ein bundesweites Verbot von vernehmen mit dem Bundesrat weiterentwickeln Studiengebühren im Hochschulrahmengesetz. Unsere und dabei die Erhebung von Studiengebühren aus- Haltung als Unionsfraktion ist klar: Über die Einführung schließen ... von Studiengebühren müssen nach der Aufgabenver- In Wirklichkeit wird in Niedersachsen ab Montag die (B) teilung des Grundgesetzes die Bundesländer entscheiden. Einführung von Studiengebühren vorbereitet. Was Sie(D) Die Länder sind für die Grundfinanzierung der Hoch-sich in Ihrer Regierungsverantwortung in Niedersachsen schulen zuständig. Sie finanzieren die Hochschulen aus leisten, ist ein gigantischer Wahlbetrug. ihren Länderhaushalten. Das Grundgesetz lässt eine Mischfinanzierung nur beim Hochschulbau und der (Jörg Tauss [SPD]: Für Wahlbetrug sind Sie gemeinsamen Forschungsförderung zu. Der Bundesge- doch Fachmann, in Hessen!) setzgeber hat also nicht das Recht, per Gesetz festzu- legen, ob Studiengebühren erhoben werden oder nicht. Man muss sich vor Augen führen, dass die Bundesbil- Entsprechend dieser Rechtsauffassung der CDU/CSUdungsministerin, die wir heute hier vermissen – noch haben wir schon im März 1998 den Antrag des SPD-do- nicht einmal ein Vertreter des Ministeriums scheint heute minierten Bundesrats abgelehnt, ein Verbot von Studi- das Wort ergreifen zu wollen, um diese Blamage vor dem engebühren in das Hochschulrahmengesetz aufzuneh- Parlament zu entschuldigen –, men. (Susanne Kastner [SPD]: Warum sollten wir (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jörg auf Sie antworten?) Tauss [SPD]: Das ist ehrlich!) Landesvorsitzende in Niedersachsen und damit in dem Wie schaut es nun aus? Vollmundig hatte die SPD im Land ist, in dem gerade Studiengebühren ab dem 13. Se- Bundestagswahlkampf das klare Versprechen gegeben, mester eingeführt werden. Man kann nur sagen: Wissen- in einem Bundesgesetz Studiengebühren auf Dauer zu schaftsminister Oppermann fährt Schlitten mit Frau verbieten. Was ist aus diesem hochschulpolitischen Ver- Bulmahn und macht sie damit zur Witzfigur. Das ist lei- sprechen von SPD und Grünen geworden? Schauen Sie der auch in unserem Sinne nicht erfreulich. sich einmal eine „dpa“-Meldung von heute an, – ich zi- tiere –: (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Als erstes SPD-geführtes Bundesland plant Nieder- Wie war denn Ihr eigener Anspruch? Frau Bulmahn hat sachsen die Einführung von Studiengebühren ab dem in der Debatte des Deutschen Bundestages 1997 gesagt – 13. Semester. ich zitiere –: Ich finde, es ist ein Unding, wie Sie die Öffentlichkeit Wir werden im Zusammenhang mit der Novellierung täuschen, obwohl Sie in Wirklichkeit die Einführung von des Hochschulrahmengesetzes darauf bestehen, dass Studiengebühren vorbereitet haben. ein Verzicht auf die Einführung von Studiengebühren (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) festgeschrieben wird. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9703

Thomas Rachel (A) Die Realität Ihres Regierungshandelns ist genau das alitionsvertrag, ein Verbot von Studiengebühren in einem (C) Gegenteil. Sie haben in der Koalitionsvereinbarung ver- Bundesgesetz durchzusetzen? traglich besiegelt, dass Sie Studiengebühren ausschließen (Jörg Tauss [SPD]: Sie wiederholen sich zum wollen. Das Gegenteil davon findet statt. Sie führen die achten Mal!) Studierenden an der Nase herum und das empfinden wir als Wählertäuschung. Auch die Studierenden werden das Anspruch und Wirklichkeit klaffen auch hier himmelweit so empfinden. auseinander. Sie haben die Studierenden im Bundestagswahlkampf Liebe Kolleginnen und Kollegen, selten sind das Par- 1998 getäuscht. lament und die Öffentlichkeit in einer derartigen Art und Weise nicht nur in Reden, in Bundestagswahlprogram- (Susanne Kastner [SPD]: Sagen Sie nicht lau- men und in Koalitionsvereinbarungen so getäuscht wor- fend das selbe!) den wie in diesem Falle. Rot-Grün hat die Studenten im Sie haben in der Koalitionsvereinbarung vertraglich mit Bundestagswahlkampf 1998 belogen. Dafür werden Sie Stempel und Unterschriften von undin Nordrhein-Westfalen auch von den Studenten und de- Gerhard Schröder ein Verbot von Studiengebühren ver- ren Eltern die Quittung bekommen. sprochen. In Wirklichkeit führen Sie sie in Niedersachsen Herzlichen Dank. ein. Anspruch und Wirklichkeit klaffen bei Rot-Grün him- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) melweit auseinander. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Jörg Vizepräsident Rudolf Seiters: Für die Fraktion Tauss [SPD]: Man kann Sie nicht mehr ernst Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Matthias nehmen! Das ist Ihr Problem!) Berninger. Die Situation an den Hochschulen in Deutschland hat sich in den eineinhalb Jahren Ihrer Regierungszeit nicht Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): verbessert. Ihre groß angekündigteBAföG-Reform mit Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man in Sockelmodell ist am Veto des Kanzlers gescheitert. An- dieser Woche CDU-Politiker aus Nordrhein-Westfalen statt nun im bestehenden BAföG-System grundlegende hat reden hören, dann weiß man, an welcher Stelle Verbesserungen für die Studierenden noch in diesem Jahr Anspruch und Wirklichkeit auseinander klaffen. Das wer- in Kraft zu setzen, wollen Sie die anstehende BAföG-Re- den Sie am nächsten Sonntag zu spüren bekommen. (B) form auf Mitte 2001 verschieben. Die Studenten spüren, (D) dass sie bei Ihnen leer ausgehen. Das kritisieren wir. Nun zum ThemaStudiengebühren. Herr Kollege Rachel, wir alle sind über folgende Zahlen besorgt – ich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) glaube, dass das die Fraktionen im Bundestag eint –: Von Die Diskussion über die Studiengebühren zeigt, woran 100 Kinder aus eher wohlhabenden Familien machen 84 Ihre Bildungspolitik krankt. Eine sektorale Diskussion Abitur. 72 von diesen 100 Kindern besuchen nach dem hilft uns nämlich nicht weiter. Die CDU/CSU-Bundes- Abitur die Universität. Von 100 Kindern aus einkom- tagsfraktion fordert Bundesbildungsministerin Bulmahn mensschwachen Familien machen 30 Abitur. Davon ge- auf, endlich ein umfassendes Konzept der Bundesregie- hen ganze sieben Kinder an die Universität. Würde man rung zu einer Reform der gesamtenBildungsfinanzie- ab dem ersten Semester Studiengebühren einführen, hätte das die Konsequenz, dass man die sieben Kinder durch rung vorzulegen. null ersetzen könnte. Deswegen kämpft diese Koalition (Jörg Tauss [SPD]: Ach, auf euch haben wir dafür, dass es eine bundeseinheitliche Regelung gibt, die gewartet!) die Erhebung von Studiengebühren ausschließt, damit diese Menschen studieren können. Die Grünen, Herr Tauss, haben sich jedenfalls von der SPD-Position zu den Studiengebühren verabschiedet. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wie die „Süddeutsche Zeitung“ am 18. April berichtete, und bei der SPD) haben die Grünen einen Kurswechsel vorgenommen. Ich Daran gibt es nichts zu deuteln. verstehe, dass Sie dabei blass werden. So fordert der bil- dungspolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, Die entscheidende Frage haben Sie selbst angespro- Matthias Berninger, Studiengebühren für jene Lang-chen, Herr Rachel. Sie haben den Koalitionsvertrag rich- zeitstudenten, die ihr Guthaben an Lehrveranstaltungen in tig zitiert. Es muss im Einvernehmen mit den Ländern der Regelstudienzeit bereits verbraucht haben. Damit ha- eine Regelung geben. Die ganze Diskussion, die wir heute ben sich die Grünen auf das Gebührenmodell in Baden- führen, hätte es nicht gegeben, wenn die CDU – der Herr Württemberg und des rheinland-pfälzischen Wissen-Rüttgers, der Herr Rachel – im März 1998 unserem An- schaftsministers Zöllner zubewegt. Aber, wie verträgtsinnen zugestimmt hätte und wir im Rahmen der HRG- sich das mit dem Wahlversprechen von Bündnis 90/Die Reform eine einheitliche Regelung von Bund und Län- dern erreicht hätten. Grünen zur Bundestagswahl im Jahre 1998, meine Damen und Herren? Wie verträgt sich das mit der Zusage im Ko- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 9704 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Matthias Berninger (A) Sie sind stolz darauf, dass diese Einigkeit nicht erzielt willige zur Aufnahme eines Studiums in einem anderen (C) wurde. Das finde ich absurd. Bundesland zu bewegen, trägt dagegen nicht zur Ver- wirklichung dieses Rechts bei. In Deutschland soll ein- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Sie haben doch heitlich gelten: Jeder junge Mensch hat für eine gewisse eine Ländervereinbarung im Vermittlungsaus- Zeit ein Recht auf Bildung. Diese Zeit muss ausreichen, schuss abgelehnt!) um ein Studium abzuschließen. Sie muss ausreichen, um – Der Kollege möchte mir eine Zwischenfrage stellen. ein Studienfach zu wechseln. Sie muss ausreichen, um ei- Stehen Sie einfach auf. – Nein, okay. nen Bachelor- und einen Master-Abschluss zu machen. Sie muss auch ausreichen, um das Studium mit einer Be- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Ihr wollt ein rufstätigkeit zu kombinieren, sei es, weil man ein Teil- Bundesgesetz und wisst genau, dass das nicht zeitstudium macht, sei es, weil man zur Finanzierung des geht!) Studiums darauf angewiesen ist zu jobben. Hier einen Der entscheidende Punkt ist, dass die CDU stolz darauf Konsens zwischen CDU-regierten, PDS-mitregierten, ist, einheitliche Regelungen nicht durchgesetzt zu haben, rot-grün- und rot-regierten Ländern zu finden ist aus mei- mit der Konsequenz, dass wir heute in dieser Situation ner Sicht die Herausforderung, vor der wir stehen. sind. Vor diesem Hintergrund finde ich es selbstgefällig, Ich bin aus zwei Gründen über einen gewissen Lan- wenn Sie, lieber Kollege Rachel, hier so tun, als sei die despolitiker in Hannover, der meint, StudiengebührenLösung des Problems nur Sache der Bildungsministerin einführen zu müssen, ärgerlich: Der eine Grund ist, dass Bulmahn. Sie möchte genau wie wir die Gebührenfreiheit Niedersachsen ein Land ist, aus dem die Leute weglaufen, sicherstellen, und zwar in dem Rahmen, den ich gerade in dem sie nicht studieren. Viele Niedersachsen studieren beschrieben habe. Darauf kommt es an; das wollen wir er- in Hamburg, Bremen oder Berlin. Gleichzeitig spielt er reichen. Wir wollen auf Dauer Planungssicherheit für die sich als der bedeutendste Bildungspolitiker in Deutsch- jungen Menschen schaffen. land auf. Der andere Grund ist – das ärgert mich minde- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stens genauso –, dass Herr Oppermann, genauso wie und bei der SPD) einige CDU-Politiker, eine Einigung von Bund und Ländern, die den jungen Menschen in DeutschlandDarüber hinaus werden wir im Rahmen der Reform der Planungssicherheit gibt, durch seine Manöver gefährdet. Personalstruktur an den Hochschulen ohnehin die Ände- Dem müssen Bund und Länder einen Riegel vorschieben. rung des Hochschulrahmengesetzes in Angriff nehmen. Ich bin zuversichtlich, dass das auch gelingen kann. Das Dabei werden wir uns mit weiteren Fragen zu beschäfti- kann aber nur dann gelingen, wenn man bereit ist, Kom- gen haben, etwa mit der Frage der Zuständigkeiten für die (B) promisse zu schließen. Diese Kompromisse können nicht Bildungsfinanzierung. Sie wollen uns tatsächlich weis- (D) so aussehen, wie sich das die Bildungspolitiker in Baden- machen, dass erst die CDU/CSU uns darüber die Diskus- Württemberg vorgestellt haben, und zwar nach demsion aufgezwungen habe, obwohl Sie in diesem Bereich Motto: Ich lege irgendeine Semesterzahl fest, und wer über Jahre hinweg nichts getan haben. Das ist schlicht länger als diese Semesterzahl studiert, zahlt Gebühren. lächerlich. Die Fragen, ob wir lieber Köpfe finanzieren wollen oder ob wir die Mittel lieber in die Erhaltung der Warum geht das nicht? Es geht deshalb nicht, weil die Hochschulgebäude investieren wollen, ob wir die heutige Lebenswirklichkeit der Studierenden nicht einheitlich ist. Mischfinanzierung des Hochschulbaus überhaupt erhal- Es gibt Leute, die ein Teilzeitstudium machen. Es gibt ten wollen oder ob wir ein neues System einführen wol- Leute, die während ihres Studiums Kinder erziehen. Es len, werden im Rahmen der Neuregelung des föderalen gibt Leute, die zur Finanzierung ihres Studiums gezwun- Finanzausgleiches zwischen Bund und Ländern zur Spra- gen sind zu jobben. Diese Vielfalt der Lebenswirklichkeit che kommen. von Studierenden an den Hochschulen muss man berück- Ich bin dafür, dass man Köpfe finanziert und dass man sichtigen, wenn man einen Konsens zwischen den Län- den Ländern und den Hochschulen, die viele Studierende dern sowie zwischen dem Bund und den Ländern herstel- ausbilden, auch mehr Geld als denjenigen gibt, die das len möchte. nicht tun. Wer viel ausbildet, der muss belohnt werden. Ich halte den Vorschlag von Herrn Zöllner in der Tat für Diese Belohnung muss sich an der Zahl der ausgebildeten sehr nachdenkenswert, nach dem jeder Mensch eine be- Studierenden orientieren. stimmte Zahl an Bildungsgutscheinen, also ein Bildungs- Wenn es uns gelingt, den Rechtsanspruch auf Bildung konto, erhalten soll, das er für ein Studium nutzen kann. sicherzustellen und die Bildungsfinanzierung umzustel- Dieses Bildungskonto kann er für sein Erststudium ver- len, dann bin ich sehr optimistisch, dass sich die Studien- wenden oder er kann – wenn er schneller als die vorgege- situation in Deutschland verbessert. Aber Ihren kleinka- bene Regelstudienzeit studiert – den auf dem Bildungs- rierten und parteipolitisch motivierten Streit, den Sie hier konto verbliebenen Rest nutzen, um – wir haben ja ges- anzetteln, können Sie sich für die Zukunft sparen. tern über Weiterbildung geredet – ein zweites Mal an die Hochschule zu gehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Wir sagen: Jeder Mensch hat einRecht auf Bildung. Dieses Recht wird mit Bildungskonten auch verwirklicht, und zwar in jedem Bundesland. Das Ziel einiger Bundes- Vizepräsident Rudolf Seiters: Für die Fraktion der länder, mit der Erhebung von Studiengebühren Studier- F.D.P. spricht die Kollegin Cornelia Pieper. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9705

(A) Cornelia Pieper (F.D.P.): Sehr verehrter Herr Präsi- gen Menschen wirken. Es ist nicht so, dass diese Hoch- (C) dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sage gleich in schulen Probleme damit haben, Studierende zu bekom- der ersten Lesung zum Gesetzentwurf der PDS: Wirmen – ganz im Gegenteil. Ich selber war an den Privat- lehnen es ab, Gebührenfreiheit in einem Paragraphen des universitäten in Witten-Herdecke und in Leipzig, der äl- Hochschulrahmengesetzes festzuschreiben und somit un- testen Handelshochschule. Ich habe feststellen dürfen, eingeschränkt zu gewährleisten. dass sich die Studienbewerber um die Studienplätze ( [Starnberg] [SPD]: Ihr seid reißen. In Leipzig kommen auf einen Studienplatz 20 Be- doch sonst für die Freiheit!) werber, obwohl das Studium dort nicht gerade billig ist. Es kommt noch hinzu, dass die Gebührenfreiheit auch Wir sollten den Hochschulen in Deutschland kein allzu für die Langzeitstudierenden gelten soll. Dazu sage ich enges Korsett aufzwingen. Unser Kredo war immer: mehr ganz deutlich: Das entspricht überhaupt nicht unserem Autonomie und Wettbewerb der Hochschulen. Dabei wol- Ideal von dem jungen Menschen in dieser Gesellschaft. len wir bleiben. Von daher sage ich ganz klar: Wir wollen Die jungen Menschen in unserer Gesellschaft strebenkein Verbot über ein Bundesgesetz. Das wäre rechtlich so- nicht als erstes Ziel ein Langzeitstudium an, um dann – wieso nicht machbar; Herr Rachel hat das hervorragend nach einer Tätigkeit als Fahrradbeauftragter – in den Ge- ausgeführt. nuss einer Staatspension zu kommen. Wer glaubt, dass Ich will daran erinnern, dass wir in europäischen Di- junge Menschen das wollen, der ist ein bisschen welt- mensionen leben. Demnächst wird die EU-Osterweite- fremd. Wir wollen jedenfalls nicht die Langzeitstudieren- rung stattfinden und Polen, Tschechien und Ungarn wer- den durch Studiengebührenfreiheit fördern. den der EU beitreten. Ich hatte in dieser Woche ein Ge- Ich kann auch nicht feststellen, dass die Studienge- spräch mit dem Marketingbeauftragten der privaten bührenfreiheit zur Steigerung der Attraktivität des Hoch- Fachhochschule für Verwaltung und Finanzen in Breslau. schulstandortes Deutschland beigetragen hätte. Das muss Er hat mir erzählt, wie es dort funktioniert: Die polnischen man einfach zur Kenntnis nehmen. Von daher brauchen Studenten zahlen monatlich eine Studiengebühr von wir in der Diskussion ganz neue Ansätze. 200 DM bis 400 DM. An dieser Hochschule studieren 8 000 Studenten. Das Durchschnittsgehalt in Polen be- Ich fand gut, dass Herr Berninger hier ein Modell vor- trägt 800 DM. getragen hat, das die F.D.P. schon vor drei Jahren be- schlossen hat, nämlich überBildungsgutscheine – so (Stephan Hilsberg [SPD]: Dann können Sie heißt bei uns das, was bei Ihnen Bildungskonten genannt sich vorstellen, wer da studiert!) wird – in die Köpfe zu investieren. Man gibt den jungen Das Aufkommen der Studenten halte ich für eine Menschen Gutscheine für einen Rechtsanspruch auf ein (B) enorme Leistung. Damit will ich nur deutlich machen,(D) Studium. Mit den entsprechenden Wertpapieren darf man dass der Wettbewerb zwischen den Hochschulen nicht nur bestimmte Veranstaltungen an Hochschulen besuchen. in Deutschland, sondern auch international stattfindet. Das soll bis zum ersten berufsqualifizierenden Abschluss gelten. Daraus ergibt sich unsere klare Antwort auf die Wir sollten alles daransetzen, denHochschulstandort Frage der Studiengebühren: Natürlich steht die F.D.P.Deutschland zu stärken. weiterhin für Chancengleichheit aller jungen Menschen Kurz gesagt, für mich ist wichtig, wie lange und bis zu beim Start ins Berufsleben; welchem Abschluss die staatliche Finanzierung des Stu- (Beifall bei der F.D.P.) diums gewährleistet werden soll. Wir haben die Diskus- sion über die künftige Studienstruktur noch nicht abge- deswegen wollen wir keine Studiengebühren für den ers- schlossen. Das Koalitionsversprechen, die Erhebung von ten Teil der akademischen Ausbildung, also für den Teil Studiengebühren auszuschließen, wird auch von Frau bis zum ersten berufsqualifizierenden Abschluss. Bulmahn Schritt für Schritt umgedeutet. Von der Formu- Wenn Sie Chancengleichheit tatsächlich wollen, dann lierung, Studiengebühren im ersten Studium werde man lassen Sie mich mit Blick auf die Regierungsbank, Herr ausschließen, ist man inzwischen zur Formulierung ge- Catenhusen, sagen: Wenn Sie das Studium nicht vomkommen, Ziel sei es, Studiengebühren bis zu einem be- Geldbeutel der Eltern abhängig machen wollen, dannrufsqualifizierenden Abschluss auszuschließen. Hierin stimmen Sie doch unserer BAföG-Reform, dem Dreikör- sehen wir eine gewisse Annäherung der Positionen. bemodell, zu. Danach soll jedem Studierenden inVielen Dank. Deutschland ein Ausbildungsgeld in Höhe von 500 DM ausgezahlt werden. Mit dieser Maßnahme kann man et- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) was für die Chancengleichheit insbesondere von jungen Menschen aus einkommensschwachen Elternhäusern tun. Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich schließe die (Beifall bei der F.D.P.) Aussprache. Ich will daran erinnern – auch Herr Hilsberg hat es ge- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf sagt –, dass es in Deutschland insgesamt 75 Privathoch- Drucksache 14/3005 an die in der Tagesordnung aufge- schulen mit circa 40 000 Studierenden gibt. Wenn man führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- sich die Qualität der Privathochschulen anschaut, dann verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung kann man feststellen, dass sie wie ein Magnet auf die jun- so beschlossen. 9706 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Vizepräsident Rudolf Seiters (A) Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf: Projekt im Augenblick mit der Erzeugergemeinschaft, die (C) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun noch zu gründen ist, und mit den Vertragspartnern auf der Kopp, Ulrich Heinrich, Marita Sehn, weiterer Ab- anderen Seite nach neuen Wegen der Extraktgewinnung geordneter und der Fraktion der F.D.P. suchen. Also auch technologisch soll es Fortschritte ge- ben. Modellprojekt zum Heil- und Gewürzpflanzen- Anbau in Ostwestfalen-Lippe Ich bin heute hier die Einzige, die zu diesem Tagesord- nungspunkt redet. Das mag zeigen, wie wenig wichtig die – Drucksache 14/3107 – Fraktionen dieses Thema nehmen. Gleichwohl wünsche Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin ich mir die Unterstützung von Ihnen allen. Ich wünsche Gudrun Kopp. mir auch, dass Sie sich diesem Thema ein wenig positiver nähern und auch den innovativen Aspekt entsprechend würdigen. Ich sage es noch einmal: Hier geht die Land- Gudrun Kopp (F.D.P.): Herr Präsident! Sehr geehrte wirtschaft neue Wege, wobei sie sich marktwirtschaftli- Herren und Damen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! chen Gegebenheiten stellt. Damit kann sie sich – das ist Das Modellprojekt „Heil- und Gewürzpflanzen-Anbau in unser Anliegen – ein Stück weit von der bisherigen EU- Ostwestfalen-Lippe“ ist ein Modellprojekt, das ich schon Subventionspraxis entfernen und Eigenständigkeit ge- seit über einem Jahr intensiv und akribisch verfolge und winnen. Das ist etwas, was man nicht hoch genug anrech- umzusetzen versuche. Ich wünsche mir dafür sehr viel nen kann. Ich bitte Sie also herzlich um Unterstützung mehr Aufmerksamkeit, dieses Antrages der F.D.P.-Fraktion. (Zurufe von der SPD) Vielen Dank. auch aus den Reihen dieses Gremiums. (Beifall bei der F.D.P.) Bundeslandwirtschaftsminister Funke hat – das richte ich an die Adresse der SPD-Abgeordneten – diesem Vor- Vizepräsident Rudolf Seiters: Die Kollegen schlag zur Innovation der direkten Vernetzung von Land- Meinolf Michels, Marianne Klappert, Kersten Naumann, wirtschaft und Wirtschaft sein Plazet gegeben. Er wird Helmut Heiderich, Steffi Lemke und der Parlamentari- dies fördern. Das begrüße ich ausdrücklich, denn dies ist sche Staatssekretär beim Bundesminister für Ernährung, gleichzusetzen mit der Förderung einer Existenzgrün-Landwirtschaft und Forsten Dr. Gerald Thalheim geben dung, mit einer Innovationsförderung und mit einer An- ihre Reden zu Protokoll.*) Ich kann deshalb die Ausspra- schubfinanzierung, die notwendig und sinnvoll ist. Für che schließen. die F.D.P.-Fraktion danke ich dem Landwirtschaftsminis- (B) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf(D) ter ganz herzlich dafür. Drucksache 14/3107 an die in der Tagesordnung aufge- (Beifall bei der F.D.P.) führten Ausschüsse vorgeschlagen. Ist das Haus damit einverstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlos- Wofür der Heil- und Gewürzpflanzenanbau – einesen. Säule der Landwirtschaft – genutzt werden kann, möchte ich Ihnen kurz darlegen: Dieser Pflanzenanbau soll zur Ich rufe den Tagesordungspunkt 20 sowie Zusatzpunkt Herstellung von homöopathischen Arzneimitteln, von3 auf: Biokosmetika, von Extrakten bzw. Naturheilmitteln so- wie von alternativen Dämmstoffen für die Bauwirtschaft 20. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU dienen. Nun wissen wir, dass circa 90 Prozent aller auf dem deutschen Markt benötigten Heil- und Gewürzpflan- Zulassung von Pflanzenschutzmitteln auf na- zen aus dem Ausland importiert werden, beispielsweise tionaler und EU-Ebene beschleunigen aus Südamerika, aus Indien und aus Osteuropa. – Drucksache 14/3096 – (Jörg Tauss [SPD]: Madagaskar!) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (f) Diese Abnahme erfolgt zu Weltmarktpreisen. Es stellt sich Ausschuss für Wirtschaft und Technologie natürlich die Frage, wie wir uns dem in Deutschland mit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit den 10 Prozent, die hier angepflanzt werden – dieses Mo- ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marita dellprojekt soll ja ein positives Beispiel auch für andere Sehn, Ulrich Heinrich, Ulrike Flach, weiterer Ab- Regionen geben –, stellen können. Womit haben wir eine geordneter und der Fraktion der F.D.P. Chance? – Nur mit Topqualität am heimischen Standort; denn die importierten Rohstoffe – das wissen wir alle – Wettbewerbsnachteile durch unterschiedliche sind häufig verschmutzt bzw. sogar belastet. Zulassungspraxis von Pflanzenschutzmitteln in Europa zügig abbauen Die Anschubfinanzierung soll in erster Linie eine fach- liche Betreuung dieses Projektes vom ersten Tag an ge- – Drucksache 14/3298 – währleisten – Professionalität ist gefragt – sowie eine In- Überweisungsvorschlag: vestition in Maschinen bzw. Anlagen, um dieses Projekt Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie auf die Schiene zu bringen und die Projektphase mög- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit lichst erfolgreich zu beenden. Am Projekt in der Region arbeiten auch Hochschulen mit, die bei diesem speziellen *) Anlage 3 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9707

Vizepräsident Rudolf Seiters (A) Die Kollegen Albert Deß, Gustav Herzog, MaritaErinnerung: Die letzte Mehrwertsteuererhöhung 1997(C) Sehn, Kersten Naumann und Ulrike Höfken geben ihre wurde in einer großen Koalition von Rot-Schwarz durch- Reden zu Protokoll. **) gesetzt. Sie war politisch in der Bevölkerung nur durch- zudrücken, indem man sie an die Rentendiskussion kop- Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe pelte. Nun steht zu befürchten, dass Sie trotz aller De- damit die Aussprache, die nicht stattgefunden hat. mentis vonseiten der SPD und aller Kritik vonseiten der Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufCDU/CSU bei Ihren Rentenkonsensgesprächen, von de- Drucksache 14/3096 an die in der Tagesordnung aufge- nen Sie ja die PDS ausschließen, genau in diese Richtung führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage aufmarschieren werden. Drucksache 14/3298 soll an dieselben Ausschüsse und zu- sätzlich an den Ausschuss für Gesundheit überwiesen (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Ihr seid doch alle werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. versorgt!) Dann ist die Überweisung so beschlossen. Auch beim Thema Reform der Rentenbesteuerung geht es wieder um die Frage der sozialen Gerechtigkeit. Ich rufe nunmehr den Zusatzpunkt 4 auf: Der Übergang zur nachgelagerten Besteuerung, die vor allem eine starke Entlastung von gut verdienenden Ar- Aktuelle Stunde beitnehmern und Arbeitnehmerinnen beinhalten wird, ist Haltung der Bundesregierung zu Veröffent- notwendig. Dagegen ist auch überhaupt nichts zu sagen. lichungen, wonach Bundesfinanzminister Eichel Skandalös ist aber die beabsichtigte Finanzierung durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer im nächsten eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, denn damit werden Jahr plant vor allem Menschen mit geringem Einkommen wie So- zialhilfeberechtigte, Studenten und Studentinnen, Ar- Diese Aktuelle Stunde ist von der Fraktion der PDS be- beitslose, Rentner und Rentnerinnen besonders belastet. antragt worden. Das sind die Gruppen in der Bevölkerung, die fast ihr ge- Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Kol- samtes Einkommen für ihren Konsum ausgeben müssen. legin Dr. Barbara Höll für die Fraktion der PDS. Das haben wir bisher im Bundestag nicht mitgetragen und das wird die Partei der Demokratischen Sozialistinnen und Sozialisten auch zukünftig nicht mittragen. Dr. Barbara Höll (PDS): Herr Präsident! Liebe Kolle- ginnen und Kollegen! In der vergangenen Woche infor- (Beifall bei der PDS) mierte das „Handelsblatt“ die interessierte Öffentlichkeit Ebenso wenig tragen wir die Überlegungen von Bünd- über die Pläne des Bundesfinanzministers zur Reform der nis 90/Die Grünen mit, eine erhöhte Ökosteuer als Finan- (B) Rentenbesteuerung. Besonderes Interesse fand dabei (D) zierungsquelle anzuzapfen; denn dies ist genauso unso- natürlich die Frage der Finanzierung. Man scheint im Fi- zial. Nebenbei bemerkt: Auf diese Art und Weise verab- nanzministerium bereits fündig geworden zu sein; die Lö- schieden Sie sich von Ihrer eigenen Logik, nämlich Arbeit sung lautet: Erhöhung der Mehrwertsteuer. Dies wurde zu verbilligen und Umwelt zu verteuern. Die PDS hat natürlich umgehend dementiert, da der Zeitpunkt der Ver- diese Logik von Anfang an vehement kritisiert, da sie we- öffentlichung für Rot-Grün unmittelbar vor den Land- der politisch noch ökonomisch stichhaltig ist. Noch unlo- tagswahlen in Nordrhein-Westfalen extrem ungünstig gischer ist es aber, nun zu überlegen, die Ökosteuer für die war. Als Oppositionspolitikerin musste ich in den letzten Jahren jedoch wiederholt die Erfahrung machen, dassEntlastung einer ausgewählten Gruppe von Erwerbstäti- über politische Vorhaben und ihre konkrete Umsetzung gen zu erhöhen. zuerst, gut und detailliert aus der Zeitung, unter anderem Es ist nicht gerecht, über die Erhöhung der indirekten aus dem „Handelsblatt“, Kenntnis zu beziehen war. Besteuerung nachzudenken, wenn Sie gleichzeitig in der Ausgangspunkt der heutigen Aktuellen Stunde ist eine nächsten Woche eine Unternehmensteuerreform verab- rot-grüne Politik, die in trauriger Kontinuität zu der von schieden werden, mit der Sie wieder massive Steuerge- Schwarz-Gelb steht. Bereits vor 20 Jahren, im Jahre 1980, schenke insbesondere an große Unternehmen verteilen, forderten die Verfassungsrichter den Gesetzgeber auf, für (Beifall bei der PDS) eine gleichmäßige Besteuerung aller Alterseinkünfte zu sorgen. Aber nicht eine einzige Regierung hat sich seit- ohne sicherzustellen, dass durch diese enormen Steuer- dem an die grundsätzliche Lösung dieses Problems ge- entlastungen tatsächlich Arbeitsplätze geschaffen werden, wagt. Über die Besteuerung der Alterseinkünfte zu reden und ohne zu wissen, wie die mit der Steuerreform ver- heißt nämlich, darüber zu sprechen, ob es innerhalb der bundenen Einnahmeausfälle gegenfinanziert werden sol- Bevölkerung zwischen Männern und Frauen, zwischen len. Das blinde Vertrauen auf Selbstfinanzierungseffekte verschiedenen Berufsgruppen, zwischen Arbeitnehmern haben Sie noch in der Opposition an der damaligen Re- und Arbeitnehmerinnen und Beamten sowie Unterneh- gierung immer harsch kritisiert. mern überhaupt annähernd gleiche Chancen zur Erlan- Die notwendige Diskussion über die Besteuerung der gung von Alterseinkünften gibt. Altersvorsorge kann nur im Rahmen einer tatsächlichen Die PDS hat heute diese Aktuelle Stunde nach bitterer Rentenreform umfassend stattfinden. Die unterschiedli- Erfahrung in der letzten Legislaturperiode beantragt. Zur chen Voraussetzungen zur Erlangung einer Altersvorsorge haben auch im Steuerrecht ständig zu Verzerrungen ge- **) Anlage 4 führt; Ungerechtigkeiten wurden noch verschärft. 9708 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Dr. Barbara Höll (A) Ein Beispiel sind die Freibeträge von Vorsorgeaufwen- Otto Bernhardt (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine (C) dungen! Während ein Arbeitnehmer diese mit seinensehr verehrten Damen und Herren! Wenn doch die Welt Pflichtbeiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung be- nur so einfach wäre, Frau Staatssekretärin! reits aufzehrt, stehen einem Beamten die gesamten Frei- Ich will zunächst einmal feststellen, dass zwar nach beträge zur Verfügung, um steuerlich entlastet seine zu- außen die Unterschiede zwischen den großen Volkspar- sätzliche private Vorsorge zu treffen. Hier wird ganz deut- teien immer weniger sichtbar werden, dass aber doch gra- lich: Eine Steuerreform allein reicht nicht aus, vierende um Unterschiede bestehen. Gerade bei dem Thema, umfassend soziale Gerechtigkeit herzustellen. Genauso um das es in dieser Aktuellen Stunde geht, kann man das wichtig wie die angemahnte Gleichbesteuerung aller Al- dahin gehend verdeutlichen: Wir von den Unionsparteien terseinkünfte ist die Chancengleichheit zu ihrer Erlan- wollen weniger Staat als die Sozialdemokraten. Das heißt gung. in der Konsequenz: Wir sind die Partei der Steuersenker, Es ist immer noch so, dass ein nicht unerheblicher Teil und Sie sind die Partei der Steuererhöher. der Menschen in der Bundesrepublik keine eigenen Ren- (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der tenansprüche erwirbt. Zur Frage der Steuerfreistellung SPD – Jörg Tauss [SPD]: 16 Jahre lang! Her- der Altersvorsorge werden wir noch über viele Probleme vorragend!) diskutieren müssen, um wenigstens etwas mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen. Eine Hauptaufgabe für die – Mich überrascht nicht, dass Sie dies energisch zurück- weisen. Nur: Die Fakten – und ich werde Ihnen ein paar PDS wird es sein, für eine allgemeine Rentenversiche- Zahlen nennen – unterstreichen, dass die, die lachen, die rungspflicht und eine menschenwürdige Grundsicherung Zahlen nicht kennen. im Alter für alle Menschen zu kämpfen. (Jörg Tauss [SPD]: 50 Steuererhöhungen hat- (Beifall bei der PDS) ten wir bei Ihnen!) Mit uns ist keine Finanzierung der Reform der Renten- Meine Damen und Herren, es kommt nicht darauf an, besteuerung über eine Mehrwertsteuererhöhung durchzu- wie der eine oder andere Steuersatz ist. Entscheidend ist setzen. Wir raten Ihnen vielmehr: Holen Sie das benötigte die Staatsquote insgesamt. Das wird Ihnen jeder Natio- Geld da, wo es vorhanden ist! Verzichten Sie bei den sehr nalökonom sagen, auch wenn es nicht jeder begreift. hoch Vermögenden nicht auf diese Einnahmequelle! (Jörg Tauss [SPD]: Da habt ihr Weltrekorde Ich danke Ihnen. aufgestellt!) (Beifall bei der PDS) – Einen Weltrekord haben Sie aufgestellt. (B) Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich gebe das Wort der Ich will Ihnen nur ein paar Zahlen nennen: (D) Parlamentarischen Staatssekretärin beim Bundesminister der Finanzen, Dr. Barbara Hendricks. (Jörg Tauss [SPD]: Ja, da seht ihr aber schlecht aus!)

Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim In den 70er-Jahren war die Staatsquote in Deutschland Bundesminister der Finanzen: Herr Präsident! Meine Da- immer unter 40 Prozent. Unter sozialdemokratischen Re- men und Herren! Ich wende mich an Sie, Frau Kollegin gierungen – die Staatssekretärin wird die Zahlen bestäti- gen, weil sie aus ihrem Hause kommen – hatte sich die Höll, und an die Fraktion der PDS, aber auch vorsorglich Staatsquote in Deutschland auf über 50 Prozent erhöht, als im Hinblick auf die zu erwartende Debatte an die übrigen wir 1982 die Verantwortung übernahmen. Dann ist es uni- Oppositionsfraktionen und erkläre hier für die Bundesre- onsgeführten Regierungen gelungen – hier ist insbeson- gierung: Es gibt keine Pläne der Bundesregierung zur Er- dere der Name Gerhard Stoltenberg zu nennen –, die höhung der Mehrwertsteuer. Staatsquote auf 46 Prozent zurückzufahren. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Susanne Kastner [SPD]: Die Lohnnebenkosten DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: So einfach habt ihr ständig nach oben geschraubt! Wir ha- ist das!) ben sie gesenkt.) Es gibt auch im Bundesfinanzministerium keine Ge-Im Rahmen der Wiedervereinigung ist die Staatsquote spräche über solche eventuellen Pläne. Es gibt auch keine dann allerdings wieder auf etwa 50 Prozent gestiegen, Vorlagen von Beamten an die Leitung des Hauses, die sol- che Vorschläge beinhalten würden. (Susanne Kastner [SPD]: Mein Gott, ist das ein Unsinn!) Ich bitte Sie, dies zur Kenntnis zu nehmen und uns bald ins Wochenende fahren zu lassen. aber seit 1996 rückläufig. Im letzten Jahr der Regierung Kohl betrug die Staatsquote – nach den Veröffentlichun- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen des Finanzministeriums – 48,3 Prozent. DIE GRÜNEN – Susanne Kastner [SPD]: Aus- gezeichnete Rede! – Jörg Tauss [SPD]: So ein- (Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!) fach ist das!) Und siehe da: Im ersten Jahr der Regierung Schröder ist sie wieder auf 49 Prozent gestiegen. Vizepräsident Rudolf Seiters: Für die CDU/CSU- (Susanne Kastner [SPD]: Aber die Arbeitslo- Fraktion spricht der Kollege Otto Bernhardt. sigkeit ist gesunken! Das ärgert Sie!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9709

Otto Bernhardt (A) Sie sind die Steuererhöhungspartei. Vizepräsident Rudolf Seiters: Für die Fraktion (C) (Beifall bei der CDU/CSU) Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin Kristin Heyne. Ich nenne Ihnen auch gerne die anderen Zahlen. (Jörg Tauss [SPD]: Herr Bernhardt, das hilft Kristin Heyne (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr auch nicht mehr! Das sieht nicht gut aus!) Präsident! Meine Damen und Herren! Also führen wir Nehmen wir die Zusammenfassung der Steuer- und Ab- hier zu später wochenendlicher Stunde noch ein kleines gabenquote. Die Zahlen sehen ähnlich aus. Deshalb kriti- Schattengefecht. siert – schauen Sie einmal ins „Handelsblatt“ – der Präsi- Frau Höll, wenn Sie in die Presse geguckt haben, dann dent des Bundesverbandes der Deutschen Industrie,konnten Sie natürlich auch da schon sehen – wie es die Hans-Olaf Henkel, heute zu Recht, dass im letzten Jahr Staatssekretärin gesagt hat –: Es ist weder eine Erhöhung erstmalig seit längerer Zeit die Steuer- und Abgabenquote wieder gestiegen ist. Das sind die Fakten. der Mehrwertsteuer geplant noch eine Erhöhung der Öko- steuer. Wir haben ganz klar gesagt: Was wir in dieser Le- Vor dem Hintergrund der diskutierten Mehrwertsteuer- gislaturperiode über die Ökosteuer einnehmen, werden erhöhung geht es nun um – die Kollegin Dr. Höll hat da- wir über die Lohnnebenkosten vollständig wieder ausge- rauf hingewiesen – das sich abzeichnende Urteil des Bun- ben. Das tun wir auch und das wissen Sie. desverfassungsgerichts. Alles spricht dafür, dass das Ur- teil wohl in die Richtung geht, dass die Alterseinkünfte Der Zweck der Debatte ist, Verunsicherung zu schüren. gleichmäßig zu versteuern sind. Im Gegenzug wird es si- Ich finde, dass es besonders der PDS als Partei, die soziale cher dazu führen, dass die Beiträge, die wir aufbringen, Verantwortung suggeriert, relativ schlecht ansteht, gerade steuerfrei sind. Nun wissen wir noch nicht, bei den Menschen mit geringem Einkommen Unsi- (Jörg Tauss [SPD]: Aber Sie wissen alles! – Ge- cherheit zu schüren. Dafür sollte Ihnen eine Aktuelle genruf von der CDU/CSU: Und Sie wissen Stunde eigentlich zu schade sein. nichts!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wann das Bundesverfassungsgericht entscheidet. Wir und bei der SPD) wissen auch noch nicht – das ist ein ganz wichtiger Punkt Worum es geht und worüber wir wirklich in einen für die Größenordnung –, wie die Übergangsfristen aus- Wettbewerb eintreten sollten, ist die Reform der Renten- sehen werden. Nur wenn es zu ganz kurzen Übergangs- versicherung, der Altersvorsorge. Hier besteht großer Be- fristen kommt, könnte es zu Steuerausfällen in einerdarf, dass wir auf lange Sicht Strukturen schaffen, die ge- Größenordnung von 40 Milliarden DM führen. (B) recht sind, sowohl für die Älteren als auch für die Jungen. (D) Es kann natürlich nicht überraschen – auch wenn Sie es Da wird es notwendig sein, dass wir nicht nur den Pflicht- dementieren –, dass man, wenn solche Größenordnungen versicherungsbereich haben, sondern auch den Bereich im Raum stehen, natürlich auf die Mehrwertsteuer und betrieblicher Altersvorsorge und privater Vorsorge stär- vielleicht auf die Ökosteuer guckt, weil das Steuern sind, ken. Das wird möglich sein, gerade deswegen, weil wir die zunächst einmal den Vorteil haben: Sie bringen wirk- deutlich entlasten, nicht zuletzt mit der Steuerreform, die lich viel Geld; 1 Prozent Mehrwertsteuer, 16 Milliar- wir in der nächsten Woche hier beschließen werden. Da- den DM. Aber bei beiden Steuern, bei Ökosteuer undmit – das wissen Sie genau, Frau Höll – werden die Fa- Mehrwertsteuer, besteht natürlich – wie Sie richtig gesagt milien, die kleinen und mittleren Unternehmen in großem haben, Frau Kollegin Dr. Höll – das Problem: Sie treffen Maße entlastet. Auch der Kollege von der CDU/CSU jeden, unabhängig von der Leistungsfähigkeit. weiß das natürlich. Deshalb sage ich an dieser Stelle ganz deutlich als Mit- glied einer Steuersenkungspartei: Wenn wir Anreize für die private Vorsorge schaffen wollen, müssen wir uns auch mit dem Thema Besteuerung (Lachen bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Er der Renten beschäftigen. Es macht Sinn, hier zu Verände- wiederholt sich! rungen zu kommen, damit es Geld für die private Vor- Wir werden diese Entwicklung um die Gegenfinanzie- sorge gibt. rung der Veränderungen in der Rentenbesteuerung sehr Aber es gibt noch einen zweiten Punkt, der dafür genau beobachten. spricht, die Besteuerung von Alterseinkünften zu ändern. (Susanne Kastner [SPD]: Sagen Sie mal, sind Denn gerade wenn jemand ins Erwerbsleben eintritt, Ihre fünf Minuten nicht bald rum?) braucht er viel Geld. Da lässt man sich nieder, gründet Wir werden weder einer direkten noch einer indirekten möglicherweise sogar eine Firma, gründet vielleicht eine Steuererhöhung zustimmen. Denn SteuererhöhungenFamilie. Zu diesem Zeitpunkt ist es gut, wenn die Alters- schaden der Konjunktur und damit den Arbeitsplätzen. vorsorge steuerfrei gestellt ist. Später, wenn man ein gutes Alterseinkommen erreicht hat und von den familiären Herzlichen Dank. und beruflichen Belastungen befreit ist, kann eine Steuer (Beifall bei der CDU/CSU – Susanne Kastner gezahlt werden. Deswegen ist eine solche Umstellung [SPD]: Sie schaden uns! – Jörg Tauss [SPD]: sinnvoll. Ich freue mich, wenn wir da einer Meinung sind Die Unternehmen, die Sie beraten haben, müs- und in den Rentengesprächen vielleicht zu einer Einigung sen doch alle pleite sein!) kommen können. 9710 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Kristin Heyne (A) Sie haben zu Recht gesagt, wenn man das von heute weiß natürlich, dass das nachgelagerte Besteuerungssy- (C) auf morgen machen würde, würde das etwa 40 Milliar- stem zunächst einmal zu Steuerausfällen führen muss. den DM kosten, weil für die heute Erwerbstätigen die Das ist unzweifelhaft. Dabei kommt es auf die einzelnen Steuer wegfiele. Aber die, die heute eine Rente erhalten – Gestaltungen an. das muss man ganz deutlich sagen –, werden auch nicht Wer sich in diesem Zusammenhang weiter hervorge- plötzlich besteuert. Sie haben ihr Einkommen schon ver- wagt hat, das waren die Grünen, und zwar die Steuerex- steuert, als sie eingezahlt haben. Das hieße, es würde eine pertin Scheel, die am 5. Mai dieses Jahres im „Handels- sehr große Diskrepanz bei den Steuereinnahmen entste- blatt“ gesagt hat, es gebe zwar keine konkreten Pläne und hen. Deswegen werden wir die Steuerfreibeträge allmäh- Absprachen, aber wenn es darum gehe, die Steuerausfälle lich ansteigen lassen. Es wird bei der Besteuerung der auszugleichen, die mit der nachgelagerten Besteuerung Renten einen ganz langsamen, der tatsächlich gezahlten entstünden, dann wolle man eher bei der Ökosteuer als bei Steuer entsprechenden Übergang geben. Es ist wichtig, der Mehrwertsteuer ansetzen. Es geht also gar nicht mehr das hier noch einmal zu sagen. um das Ob, sondern nur noch um die Steuerart, die erhöht Ich will aber auch ganz klar sagen: Es ist uns gelungen, werden soll. in die Konsolidierung des Haushalts einzusteigen. Wir (Beifall bei Abg. der PDS) setzen das bei dem neuen Haushalt fort. Es ist uns gelun- gen, die Belastung vor allem der kleinen und mittleren Natürlich hat der Fraktionsvorsitzende Schlauch diese Einkommen zu senken. Deswegen sind wir der Meinung, Äußerung unverzüglich dementiert. dass wir den allmählichen Übergang zur Rentenbesteue- (Kristin Heyne [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rung finanziell leisten können und dass wir dafür keine NEN]: Das war eine Ente!) zusätzlichen Steuereinnahmen benötigen. Wir haben bei unserer jetzigen Steuerreform den Grundsatz, alles aus – Nein, eine Ente war das nicht. Das war überlegt. Wir alle dem Bestehenden zu finanzieren. Wir haben ganz klar ge- denken ja über diese Probleme nach. sagt, dass es keine Verbrauchssteuererhöhung zur Sen- Einem Interview mit Ihrem Kollegen Metzger in der kung der anderen Steuern geben wird. Dabei werden wir „Zeit“ vom 11. Mai dieses Jahres – dies war eine Woche bleiben. Das gilt für die gesamte Legislaturperiode. Da- später – können Sie entnehmen, dass dieser das bestätigt. rauf können Sie sich verlassen. Er sagt – auch das will ich Ihnen nicht vorenthalten –: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich gehe von einem Modell aus, in dem der und bei der SPD) Vorsorgefreibetrag in drei oder vier Stufen angeho- ben wird. (B) Vizepräsident Rudolf Seiters: Für die F.D.P.-Frak- – Also dadurch, dass die steuerfreie Möglichkeit zum Auf- (D) tion spricht der Kollege Dr. Otto Solms. bau einer Altersversorgung geschaffen wird. In den ersten ein, zwei Stufen könnte man auf eine Dr. Hermann Otto Solms (F.D.P.): Herr Präsident! Verbrauchsteuererhöhung verzichten. Zu einem spä- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde es teren Zeitpunkt ... lässt sich eine Erhöhung der Ver- sehr erfreulich, dass nun auch im Finanzministerium die brauchsteuern der Bevölkerung vermitteln ... Erkenntnis gewachsen ist, dass man eine Rentenreform nicht ohne eine enge Verzahnung mit der Steuerpolitik Schön und gut. durchführen kann. Es ist völlig unausweichlich – das wis- (V o r s i t z : Vizepräsidentin Dr. Antje sen alle, die sich mit dieser Frage befassen –, dass wir zu Vollmer) mehr privater Altersvorsorge kommen, und deshalb klar, dass wir bei den betroffenen Arbeitnehmern und Selbst- Was entnehme ich dem? Diesem Gedanken wird ge- ständigen finanziellen Spielraum schaffen müssen, damit rade bei den Grünen weiter nachgegangen. Ich kann in sie diese zusätzlichen Anstrengungen für die Altersvor- diesem Zusammenhang nur sagen: Das ist bzw. wäre sorge leisten können. (Jörg Tauss [SPD]: Das hört sich besser an! – Deswegen müssen wir im Steuersystem darauf Rück- Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aha! Da- sicht nehmen. Da gibt es, glaube ich, auch kaum andere mit ist der spekulative Anteil Ihrer Rede klar!) Meinungen in diesem Hause. Alle Betroffenen wissen: Es – Sie haben ja einen wesentlichen Beitrag an der Regie- wird zu einem System der nachgelagerten Besteuerung rungspolitik; ich denke, dass Sie den auch einbringen wer- kommen müssen. den – eine völlig widersinnige Politik. Ich will einmal da- Nun konnten die Rentengespräche nicht weitergeführt rauf hinweisen, warum das so widersinnig wäre: Wenn werden, ohne dass die Finanzpolitiker daran beteiligt wer- Sie gerade den kleinen Einkommensbeziehern durch den. Deshalb hat die F.D.P. gefordert, dass der Bundesfi- Steuererleichterungen einen finanziellen Spielraum ver- nanzminister bei diesen Gesprächen zugezogen wird, per- schaffen, um eine zusätzliche private Altersvorsorge auf- sönlich oder vertreten durch Frau Dr. Hendricks oder wen zubauen, dann können Sie jenen diesen finanziellen Spiel- raum nicht gleichzeitig durch Verbrauchssteuererhöhun- auch immer. Das hat jetzt zum Nachdenken auf der Re- gen wieder wegnehmen. gierungsseite geführt. Ich nehme Frau Dr. Hendricks ohne weiteres ab, dass es auf Ihrer Seite keine konkreten Vor- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abg. der stellungen zur Verbrauchssteuererhöhung gibt. Aber man CDU/CSU und der PDS) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9711

Dr. Hermann Otto Solms (A) Das macht wirklich keinen Sinn. Deswegen bitte ich da- dass dieser Kuchen wächst und dass mehr verteilt werden (C) rum, über diese Fragen ernsthaft weiterzudiskutieren. kann. Frau Dr. Hendricks, wir brauchen übrigens nicht auf (Jörg Tauss [SPD]: Deswegen die das diesbezügliche Urteil des Bundesverfassungsgerichts Green Card!) zu warten. Wir wissen doch, worauf es im Prinzip hinaus- laufen muss. Die Wirtschaft ist kein Nullsummenspiel. (Beifall bei der F.D.P.) Wenn Sie bei der Steuerreform, die wir in der nächsten Woche in zweiter und dritter Lesung beraten werden, Mut Das Verfassungsgericht hat ja leider mittlerweile mitge- haben für ein wirklich durchgreifendes Reformwerk, für teilt, dass dieses Urteil in diesem Jahr nicht mehr zu er- ein Herangehen an die Einkommensteuersätze in dem warten sein wird. Wir können also darauf nicht warten. Sinne, wie wir es Ihnen vorgeschlagen haben, Wir müssen die anstehende Entscheidung im Zusam- (Jörg Tauss [SPD]: Im seriösen Sinne!) menhang mit jener über die Zukunft der Rentenversiche- rung fällen, weil das zwingend zusammengehört. Nur so wenn Sie das Steuersystem wirklich einfacher und ge- entsteht ein Gesamtbild. Das wird nicht einfach; das weiß rechter machen und die Sätze deutlich senken, dann schaf- ich wohl. Wir sind bereit, uns genauso konstruktiv wie die fen Sie die besten Voraussetzungen dafür, dass wir die uns anderen Mitglieder dieses Hauses an diesen Diskussionen gestellte Aufgabe, die Rentenbesteuerung möglichst ge- zu beteiligen. Es ist ein sehr ehrgeiziges Ziel, zu einer ver- meinsam zu regeln, bewältigen können. Aber es geht nicht nünftigen Reform der Rentenversicherung unter Einbe- so, wie Sie es vorhaben: mit einer Reform, die eben nicht ziehung der Reform des Steuersystems zu kommen. breit entlastet, sondern die auf die Körperschaften fokus- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. siert und nur mühsam versucht, auch die vielen anderen Unternehmer – 85 Prozent sind Personenunternehmen –, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) die von der strangulierenden Steuerlast betroffen sind, zu entlasten. Vizepräsidentin Dr. : Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus-Peter Willsch. Ich freue mich, dass es – leider erst nach Abschluss der Debatte im Finanzausschuss – einige Anzeichen dafür gab, noch einmal neu nachzudenken. Ich ermuntere Sie Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): Frau Präsidentin! ausdrücklich dazu, das zu tun. Sie müssen durch den Bun- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Staatsse- desrat. Wenn wir hier herangehen, können wir in Deutsch- kretärin, ich könnte es mir jetzt leicht machen und sagen: (B) land wieder wirkliches Wachstum generieren und von der (D) Wo Rauch ist, da ist auch Feuer. Nach Ihrer klaren Aus- Position des Schlusslichts, die wir in Europa hinsichtlich sage, die Sie hier soeben getroffen haben, verzichte ich natürlich darauf. der Dynamik der Wirtschaft einnehmen, endlich wieder nach vorne kommen. Es ist aber, wenn man sich den Zeitungswald anschaut und beispielsweise im „Focus“ unter der Überschrift (Beifall bei der CDU/CSU) „Furcht vor dem M-Wort“ liest, dass auf den Gängen des Herr Metzger hat immerhin schon angedeutet, was Sie Ministeriums unter den dortigen Fachleuten eine Mehr- sich konzeptionell vorstellen. Dass bei einem solchen wertsteuererhöhung stetes Thema sei im Zusammenhang Thema Spekulationen ins Kraut schießen, solange Sie mit der Neuregelung der Renten, eine Überlegung wert, nicht klar sagen, wohin Sie wollen, ist doch völlig klar. warum die Öffentlichkeit so dazu geneigt ist, diesesHerr Metzger hat ein paar Hinweise gegeben; Frau Heyne Thema aufzunehmen. Dies ist deshalb der Fall, weil sie hat das eben noch einmal aufgegriffen. Sie haben es sich die Erfahrung gemacht hat, dass es für die Regierungspo- nach der Bundestagswahl furchtbar einfach gemacht. Wir litik von SPD und Grünen typisch ist, dass dann, wenn ir- gendeine neue Aufgabe auftaucht, darüber nachgedacht haben für den Bereich der Renten – wenn auch nicht spe- wird: Wo können wir mehr Steuern einnehmen, um das zu ziell zu dem Problem der nachgelagerten Besteuerung, bewältigen? Das ist ein Kernproblem Ihrer Politik. sondern generell – eine Reform beschlossen, die Sie aus- gesetzt haben. (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg-Otto Spiller [SPD]: Das machen nicht wir! Das hat die (Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks: CDU/CSU gemacht!) Aber ganz ohne Steuerreform in dem Bereich!) Wir sollten nicht, wie Sie das tun, die Wirtschaft und Seitdem warten wir darauf, dass von Ihnen in diesem Be- das Sozialprodukt unserer Volkswirtschaft als einen kon- reich irgendetwas Konzeptionelles kommt, aber bis jetzt stanten Kuchen betrachten. Sie sind immer nur am Um- ist da Fehlanzeige. verteilen. (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der (Jörg Tauss [SPD]: Ah!) SPD: 150 Milliarden Entlastung!) Sie meinen, man müsse die Stücke kleiner schneiden, da- Legen Sie endlich ein Konzept aus einem Guss vor! mit jeder eines bekommt. Stattdessen müssen wir daran- Dann brauchen wir nicht mehr über Spekulationen zu gehen, eine Wirtschaftspolitik zu machen, die dafür sorgt, reden, dann können wir über Konzepte reden, dann 9712 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Klaus-Peter Willsch (A) können wir in den parlamentarischen Streit darüber ein- Eine Mehrwertsteuererhöhung zur Deckung der Steu- (C) treten und dann wird sich das beste System durchsetzen. erausfälle nach Umsetzung des zu erwartenden Urteils (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: 16 Jahre des Bundesverfassungsgerichts zur nachgelagerten Be- haben Sie gar nichts zustande gebracht!) steuerung der gesetzlichen Renten würde übrigens nahezu alles konterkarieren, wofür sich die Koalition, im Beson- Nur so bekommen wir die Rentenproblematik langfris- deren die Regierung, dieser Tage auf die Schultern ge- tig in den Griff. Ich fordere Sie auf: Machen Sie Ihreklopft hat, nämlich dafür, das größte Steuerentlastungs- Hausaufgaben! Sie können damit Diskussionen dieser Art volumen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutsch- ganz schnell beenden und vor allen Dingen Ihrer Pflicht, land für abhängig Beschäftigte und Unternehmen auf den eine Politik zum Vorteil dieses Landes zu machen, gerecht Weg gebracht zu haben. werden. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist Danke schön. aber so!) (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Mit der Mehrwertsteuer werden Sie es so machen wie mit Suchen Sie lieber Ihr Geld und den Pfahls!) der Ökosteuer: (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Schön, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christa Luft. dass Sie sich unsere Gedanken machen!) Mit der einen Hand werden Sie geben und mit der ande- Dr. Christa Luft (PDS): Frau Präsidentin! Verehrte ren wieder nehmen. Kolleginnen und Kollegen! Der Volksmund weiß – es ist (Beifall bei der PDS – Wilhelm Schmidt [Salz- eben schon zitiert worden –: kein Rauch ohne Feuer! gitter] [SPD]: Nein, alles Spekulieren hilft Liebe Frau Kollegin Hendricks, alle Dementis klingen nichts!) dann auch ziemlich hilflos, zumal der grüne haushalts- und finanzpolitische Sprecher, der in der Diskussion hier Herr Kollege Bernhardt, Sie haben sozusagen eine wit- schon einige Male erwähnt worden ist, die Katze kürzlich zige Bemerkung in diese Debatte eingestreut, indem Sie aus dem Sack gelassen hat. Er hat – ich verweise hier auf gesagt haben, die CDU sei die Steuersenkungspartei. ein anderes Zitat – am 5. Mai in der „Berliner Zeitung“ ge- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war sagt: Wenn die Koalition eine höhere Mehrwertsteuer wirklich witzig! – Jörg Tauss [SPD]: originell!) noch vor der Bundestagswahl beschließen würde, hätte (B) sie doch nicht alle Tassen im Schrank. Ja, die Absenkung des Körperschaftsteuersatzes, die Re- (D) duzierung des Soli und die Aussetzung der Vermögen- Damit ist, denke ich, alles gesagt. steuer gehen wirklich auf Ihr Konto. Aber Sie haben (Beifall bei der PDS) auch – leider gemeinsam mit der SPD – eine Erhöhung Das, liebe Kollegin Heyne, verunsichert die Menschen. der Mehrwertsteuer um 2 Prozent auf den Weg gebracht. Denn die zwei Jahre bis zur nächsten Bundestagswahl Somit haben Sie diesen Sack aufgebunden. Das darf hier sind ja rasch herum. Offenbar soll es doch so sein: Nach nicht unerwähnt bleiben. der Bundestagswahl kann dieses Thema aufgegriffen wer- (Zuruf von der CDU/CSU: Die Steuerquote ist den, vor der Bundestagswahl auf keinen Fall. bei uns zurückgegangen!) (Zuruf von der SPD: Nach der Bundestags- Wenn Sie in der Koalition schon über Renten und Steu- wahl gibt es wieder eine Bundestagswahl!) ern in einem Zusammenhang diskutieren, dann sollten Damit gibt es offenbar genau das umgekehrte Vorge- Sie, um keine Verwirrung zu schaffen, den heute 50- und hen im Vergleich zur Vermögensteuer. Dazu haben Sie vor 55-jährigen Männern und Frauen insbesondere in den der Bundestagswahl 1998 gesagt, Sie wollten nicht nur neuen Ländern, die hoch qualifiziert sind, die abgewickelt die Prüfung hinsichtlich der Wiedererhebung der Vermö- wurden, denen gekündigt wurde, die sich von Weiterbil- gensteuer in Angriff nehmen, sondern das nach Möglich- dung zu ABM hangeln, die keine Aussicht auf einen re- keit auch durchsetzen. Nach der Wahl war diesbezüglich gulären Job haben, der eine private Altersvorsorge er- Fehlanzeige. Hier wird es offenbar anders herum kom- möglicht, die nichts haben außer der Aussicht auf eine men. Wir werden Sie von der Koalition daran immer wie- Rente, die von Sozialhilfe abhängig macht, auch sagen, der erinnern. wovon sie im Alter leben sollen. (Jörg Tauss [SPD]: Wer foltert uns mehr, PDS Mit Verlaub: Diese große Personengruppe interessiert oder CDU?) das Thema der künftigen Rentenbesteuerung wenig; sie Es ist schon eigenartig, es verwirrt die Öffentlichkeit hat auch vom zugesagten Bestandsschutz nichts. Sie sieht und spricht, so finde ich, auch nicht für eine stringente nur einer weiteren Belastung ihres Konsums durch die in Konzeption, wenn die Koalition bei den Themen Rente Erwägung gezogene Mehrwertsteuererhöhung entgegen. und Steuern sozusagen jeden Monat einen neuen Ballon Das ist die Verwirrung, die eintritt, Frau Kollegin Heyne. steigen lässt. Sie ist nicht durch die PDS verursacht worden, (Beifall bei der PDS) (Beifall bei der PDS) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9713

Dr. Christa Luft (A) sondern sie ist aus einem Feuer entstanden, das offenbar Auch das Dementi des Herrn Eichel vom 4. Mai liest (C) hinter den Kulissen schwelt. sich ausgesprochen halbherzig, wenn es dort heißt, dass es derzeit – ich betone: derzeit – keine solchen Pläne gebe. (Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks: Von der PDS gelegt! – Dr. Barbara Höll [PDS]: (Jörg Tauss [SPD]: Diese Opposition haben Wir haben das „Handelsblatt“ lanciert, klar!) wir nicht verdient! Das ist nicht gerecht!) Die Bundesregierung geht offenbar davon aus, dass Die Frage ist also: Wann und in welcher Höhe wird die nach Ablösung der nationalen Währungen durch den Euro Mehrwertsteuererhöhung kommen? Wird es eine Er- die unterschiedlichen Steuersysteme der Länder stärker höhung um einen Punkt oder um zwei Punkte geben? ins Visier geraten und dass Deutschland im Vergleich zu Meine Damen und Herren, um die Beantwortung einer anderen Ländern noch Spielräume bei der Gestaltung der Frage haben sich die Redner der Koalition heute herum- Mehrwertsteuer hat. Ich vermute, dass das Ihr Konzept ist. gemogelt. Ich sage Ihnen: Wenn Sie die Mehrwertsteuererhöhung (Jörg Tauss [SPD]: Wir hatten noch gar angehen wollen, dann machen Sie dies nicht partiell, son- keine Redner!) dern im Komplex. Dann sagen Sie den Menschen bitte Die Frage lautet: Wie sollen die Einnahmeausfälle von schon heute, dass Sie nicht an eine Erhöhung des Mehr- bis zu 40 Milliarden DM ausgeglichen werden, wenn die wertsteuersatzes denken, mit dem die Produkte des All- Altersvorsorgeaufwendungen generell von der Steuer tags belegt sind. Das nämlich würde insbesondere die ein- freizustellen sind? Denn – das scheint ja hier Konsens zu kommensschwachen Menschen belasten. sein; davon können wir alle mit an Sicherheit grenzender (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir stel- Wahrscheinlichkeit ausgehen – das Bundesverfassungs- len also fest: Die PDS möchte eine partielle gericht wird infolge seiner bisherigen Entscheidungen in Mehrwertsteuer! Das ist ja interessant! – Ge- absehbarer Zeit, Ende dieses oder Anfang nächsten Jah- genruf der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS]: Blöd- res, feststellen, dass alle Alterseinkünfte voll zu besteuern sinn!) sind. Dann sagen Sie, dass Sie künftig arbeitsintensive Dienst- (Zuruf von der SPD: Woher wissen Sie denn, leistungen, insbesondere Reparaturleistungen, mehrwert- was die beschließen?) steuerlich begünstigen wollen. Jeder Punkt Mehrwert- Das bedeutet, dass Rentenbeitragszahlungen steuerfrei steuererhöhung würde nur die Schwarzarbeit befördern, zu stellen sind. Wie, Frau Staatssekretärin, wollen Sie und davon haben wir heute schon genug. Man muss vie- denn diese 40 Milliarden DM aufbringen? Von Ihnen ha- (B) les im Zusammenhang sehen. Zudem könnte man über ei- ben wir dazu heute keine Antwort gehört. Ich sage Ihnen: (D) nen dritten Steuersatz für außergewöhnliche Konsumgü- Keine Antwort ist auch eine Antwort. ter – ich könnte auch sagen: Luxussteuer; so liest man es (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: in der Literatur – nachdenken. Gucken wir uns mal das Urteil an, in Ruhe und Ich glaube, dass es hier, wenn es eine strukturelle Re- Sensibilität! Warten wir es ab!) form geben soll, noch viel zu debattieren gibt. Jeder par- Meine Damen und Herren, die Antwort wird heißen: tielle Schritt steht außerhalb eines Konzeptes. Sie müssen Die Mehrwertsteuererhöhung kommt. Herr Kollege endlich nachweisen, dass Sie ein stringentes, ein komple- Metzger ist bereits mehrfach zitiert worden. Er hat dies xes Konzept haben. zwischenzeitlich mehr oder weniger deutlich eingeräumt. (Beifall bei der PDS) Eine Mehrwertsteuererhöhung ist ja an sich auch die ein- fachste Lösung – so zumindest für die Allianz der Beque- men, auch rot-grüne Bundesregierung genannt, die wie- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat der einmal getagt hat. Die Bezeichnung „Allianz der Be- jetzt der Abgeordnete Diethard Schütze. quemen“ ist (Jörg Tauss [SPD]: Dümmlich!) Diethard Schütze (Berlin) (CDU/CSU): Frau Präsi- keine Bezeichnung, die von mir oder von einem Kollegen dentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Luft, aus der Opposition erfunden worden ist. Nein, es war be- das mit der Luxussteuer sollten wir am besten ganzsagter Herr Metzger, der haushaltspolitische Sprecher der schnell vergessen. Grünen höchstselbst, der seine eigene Regierungskoali- (Jörg Tauss [SPD]: Die Luft ist raus!) tion so titulierte. Dies geschah vor gut einem Jahr. Das Thema war die Mehrwertsteuererhöhung, und zwar da- Nach dem bisherigen Verlauf dieser Debatte scheint ei- mals im Zusammenhang mit der vom Verfassungsgericht nes klar zu sein: Je heftiger eine Erhöhung der Mehrwert- geforderten Entlastung der Familien. steuer von der Regierungskoalition dementiert wird – Frau Staatssekretärin hat dazu sehr grundsätzlicheMeine Damen und Herren, verkaufen Sie doch die Ausführungen gemacht –, umso wahrscheinlicher ist,Menschen nicht für dumm. Sie ziehen zwar durch die dass sie kommen wird. Tun Sie doch nicht so, als ob es Lande und erzählen immer etwas von Steuerentlastung. Was ist seither geschehen? nicht längst derartige Planspiele im Bundesfinanzministe- rium gäbe! (Jörg Tauss [SPD]: Der Oberverkäufer!) 9714 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Diethard Schütze (Berlin) (A) Der Mittelstand wird massiv benachteiligt. satzeinbußen, sondern auch den Verlust von bis (C) zu 100 000 Arbeitsplätzen. Eine höhere Mehrwertsteuer ist (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Auch Unsinn!) gleichbedeutend mit mehr Schwarzarbeit. Die Vergan- genheit hat gezeigt: Jede Mehrwertsteuererhöhung fördert Die notwendige breite Entlastung der Steuerzahler bleibt die Schattenwirtschaft und zerstört reguläre Arbeits- aus. Was den Bürgern als Nettoentlastung verkauft wird, plätze. zieht Rot-Grün ihnen auf der anderen Seite aus der Tasche. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Alles So ein Mist!) Unsinn, was Sie erzählen! Alles wider besse- res Wissen!) Meine Damen und Herren, hören Sie auf mit diesen Plä- nen! Mit uns jedenfalls wird dies nicht zu machen sein. Sie, meine Damen und Herren von der Regierungsko- alition, haben mit der Besteuerung der 630-Mark-Jobs Danke schön. und der Einführung der so genannten Ökosteuer gerade (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der den Schwachen in unserem Land den Boden unter den SPD: Starke Rede! – Starker Abgang! – Gran- Füßen weggezogen. diose Erklärung! – Jörg Tauss [SPD]: Das ist (Jörg Tauss [SPD]: Vorkämpfer der Arbeiter- eine intellektuelle Beleidigung, was Sie da ab- klasse! Ganz neue Besetzung!) liefern! Es ist nicht zu fassen! Es macht keinen Spaß! – Gegenruf des Abg. Otto Bernhardt Dazu fällt Herrn Eichel lediglich ein, der Öffentlichkeit [CDU/CSU]: Unerträglicher Dazwischenquat- mitzuteilen, dass er es allmählich leid sei – so Eichel wört- scher!) lich –, dass die Leute den Hals nicht voll kriegen können. Ich sage: Das ist blanker Zynismus. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat (Beifall bei der CDU/CSU) jetzt die Kollegin Nina Hauer. Die Ökosteuer steigt. Das Thema Erbschaftsteuer ist noch nicht ausgestanden. Nina Hauer (SPD): Frau Präsidentin! Verehrte Damen (Zuruf von der SPD: Das haben wir auch und Herren! Ich sage dies hier einmal ganz deutlich, und schon gehört!) zwar vor allen Dingen für die SPD-Fraktion: Wir wollen keine Erhöhung der Mehrwertsteuer und wir planen auch Wir wollen einmal sehen, wie es nach dem kommenden keine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Frau Luft, wir pla- Sonntag weitergehen wird. Die Mehrwertsteuererhöhung nen auch keine partielle Erhöhung der Mehrwertsteuer. (B) wird kommen. (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Der Unsinn DIE GRÜNEN) wird auch durch Wiederholen nicht besser!) Das ist die Wahrheit. So wird sich zum Ende dieser Le- Das Gegenteil ist der Fall: Wir senken die Steuersätze für gislaturperiode die dem Bürger vom Staat auferlegte Last die mittelständischen Unternehmen in unserem Land nicht vermindert haben. Sie wird – wie das „Handelsblatt“ (Zuruf von der CDU/CSU: Wo denn? – Dr. in einem Artikel vom 5. Mai dieses Jahres zutreffend fest- Barbara Höll [PDS]: Und besonders für die Mil- stellt – eher größer sein. lionäre!) Einige von Ihnen haben es schon getan. Auch ichsowie für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. möchte jedoch auch noch einmal auf die fatalen Folgen einer Mehrwertsteuererhöhung hinweisen. (Zuruf von der F.D.P.: Das glauben Sie doch selbst nicht!) (Jörg Tauss [SPD]: Der letzten oder welcher? Reden wir von der letzten?) Unsere Steuerreform 2000 sieht vor, die Körperschaft- steuer auf 25 Prozent zu senken, den großen Personenun- Sie würde in erster Linie diejenigen treffen, die schon im ternehmen die Möglichkeit zu eröffnen, die Gewerbe- letzten Jahr überproportional unter Rot-Grün zu leiden steuer in pauschalierter Form auf ihre Einkommensteuer hatten. Das sind die Einkommenschwachen, kinderreiche anzurechnen – dies entspricht einer Entlastung bei der Familien, Arbeitslose, Studenten und Rentner. Ökosteuer Einkommensteuer für die großen Unternehmen, die Per- und Mehrwertsteuer belasten gerade diese Schichten der sonengesellschaften sind, in Höhe von ungefähr 12 Pro- Bevölkerung. Sie zahlen die Zeche für die verfehlte Poli- zent –, den Grundfreibetrag in der ersten Stufe ab 2001 auf tik der Bundesregierung. 14 000 DM anzuheben, sie sieht ferner die Senkung des (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der Eingangssteuersatzes auf 19,9 Prozent und die Senkung SPD: Weil Sie die so belastet haben, sind Sie des Spitzensteuersatzes auf 48,5 Prozent vor. Ich sage das nicht mehr gewählt worden!) jetzt so ausführlich, damit das auch die Damen und Her- ren von der CDU begreifen. Bereits eine Mehrwertsteuererhöhung um einen Pro- zentpunkt hätte katastrophale Folgen für den Arbeits- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ markt. Gerade im Handwerk und im Einzelhandel, den DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Begreifen Stiefkindern dieser Koalition, bedeutet dies nicht nur Um- tun sie das nicht, aber es ist die Wahrheit!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9715

Nina Hauer (A) Unsere Steuerreform hat eine zweite Stufe. Sie tritt im lich auch eine unschöne Kehrseite, und in Anbetracht der (C) Jahre 2003 in Kraft. anstehenden Wahlen spricht man natürlich ungern über (Zuruf von der SPD: Wir senken nämlich die solche Kehrseiten. Steuern! – Jörg Tauss [SPD]: Das ist die Steu- (Jörg Tauss [SPD]: Das rettet Sie auch ersenkungspartei!) nicht mehr!) Wir senken den Eingangssteuersatz auf 17 Prozent und – Herr Tauss, bemühen Sie sich doch einmal, sich von den Spitzensteuersatz auf 47 Prozent. Ihrem fast psychopathisch anmutenden Zwang, mich pau- Wir machen eine Steuerreform, die im Jahre 2005 das senlos zu unterbrechen, zu befreien. Ergebnis haben wird, dass der Spitzensteuersatz 45 Pro- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Jörg zent und der Eingangssteuersatz nur noch 15 Prozent be- Tauss [SPD]: Das war das erste Mal! War das tragen werden. Der Grundfreibetrag, von dem vor allen jetzt höflich? „Psychopathisch“!) Dingen die kleineren Einkommen profitieren, wird auf 15 000 DM angehoben werden. Selbstverständlich ist zu erwarten, dass den Bürgern zumindest reiner Wein eingeschenkt wird. Es geht doch (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist in fünf Jahren gar nicht um die Konsequenzen der Mehrwertsteuer; dazu von der kalten Progression alles aufgefressen!) ist aus berufenem Munde schon alles gesagt worden. Ich Ich denke, diese Zahlen machen deutlich, dass wir pla- bin auch kein Steuerfachmann, nen, unsere Politik fortzusetzen, die den Mittelstand und (Zuruf von der SPD: Das merkt man! – Jörg die Arbeitseinkommen der Arbeitnehmer und Arbeitneh- Tauss [SPD]: Ach so!) merinnen entlastet, eines aber weiß ich: Ich komme aus Kassel und dort hieß (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Wo entlasten Sie der Oberbürgermeister jahrelang Eichel; den Mittelstand?) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) das Wachstum unterstützt und die Beschäftigung fördert. dort habe ich lange genug gelitten. Anschließend war er Vielen Dank. Ministerpräsident in Hessen und jetzt ist er Bundesfi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nanzminister. Was von der Glaubwürdigkeit seiner Aus- DIE GRÜNEN) sagen zu halten ist, will ich Ihnen an zwei Beispielen deut- lich machen. (B) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Das erste Beispiel: In der Wahlnacht nach der Hessen- (D) jetzt der Abgeordnete Jürgen Gehb. Er ist der letzte Red- wahl – das war übrigens das einzige Mal, dass ich für ner in der Debatte. Herrn Eichel Hochachtung empfunden habe – hat er in (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber Beifall heischender Art und Weise gesagt: Jetzt werde ich nun nehmen Sie sich zusammen, damit wir als Auslaufmodell natürlich nicht mehr die Steuerreform noch ein ordentliches Wochenende haben!) bei den Bundesratsverhandlungen blockieren; das mag mein Nachfolger Koch machen. – Drei Tage später ist er von seinem Vorgänger im Amt, Herrn Lafontaine – er war Dr. Jürgen Gehb(CDU/CSU): Frau Präsidentin! eine Weile Vorsitzender der SPD –, „eingenordet“ worden Meine Damen und Herren! Ich kann mich des Eindrucks und hat natürlich – wie Sie alle wissen – zugestimmt und nicht erwehren, dass der Bundesfinanzminister und sein spielt sich heute als Obermeister eines Reparaturbetriebs Haus allzu schnell geneigt sind, Pressemeldungenauf, in dem der Schaden reguliert werden soll, den sein unangenehmen Inhalts oder jedenfalls solche, die nach Vorgänger Lafontaine hinterlassen hat. ihrem Dafürhalten zur Unzeit erscheinen, als Rauschen im Blätterwald abzutun. Nun wissen wir alle, dass die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – „Wirtschaftswoche“ nicht zu den reißerischen Blättern in Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ein unserem Land gehört, sondern eine seriöse Wirtschafts- Quatsch! Wer hat uns denn den großen Schul- zeitung ist, bei der man nicht alles sofort in den Bereich denberg hinterlassen?) der Fantasie verweisen sollte. Das zweite Beispiel: Vor vielleicht zwei Stunden war Frau Parlamentarische Staatssekretärin, Sie sagten, es eben jener frühere Ministerpräsident und jetzige Finanz- gebe keine Pläne und es werde nicht über eine Steuer- minister in meinem Heimatort Kassel zum Spatenstich ei- erhöhung gesprochen. Das wäre nicht die erste Entschei- nes Bauabschnitts der A 44 und ließ sich dort für ein Pro- dung der Regierung, die den Eindruck hinterlässt, sie sei jekt feiern, das er und die Grünen 10 Jahre lang mit Zäh- nicht besonders besprochen oder gar geplant worden. nen und Klauen zu verhindern versuchten. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf von der CDU/CSU: So ist er!) Meine Damen und Herren, man darf uns auch nicht für so naiv halten, als wüssten wir nicht, dass der Bundesfi- In der Presse, im „Spiegel“, im „stern“ und in der nanzminister vor einer kniffligen Aufgabe steht. Die Kon- „Wirtschaftswoche“, lesen wir, dass es Pläne zur Mehr- sequenzen einer nachgelagerten Besteuerung haben natür- wertsteuererhöhung gibt. Der Finanzminister bedauert 9716 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

Dr. Jürgen Gehb (A) lediglich, dass diese Pläne vor der Nordrhein-Westfalen- Es ist jetzt kurz vor halb vier. Ich bin der letzte Redner (C) Wahl bekannt werden; dies ist also ein wahltaktisches De- für heute und ich habe noch einmal gesagt, was ich von menti. Dazu kann ich nur sagen: Das ist typisch. Ihren Dementis halte. Ich weiß auch, warum so wenige von der SPD gesprochen haben. Ich würde gerne mit al- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: len eine Wette eingehen und sehen, wie diese hinterher So ein Unsinn!) eingelöst wird. Eines kann ich Ihnen sagen: Wir von der Union werden uns nicht jedes Mal in die politische Mitverantwortung für (Jörg Tauss [SPD]: Also, wetten wir! Um was unpopuläre und unvermeidliche Maßnahmen nehmen las- wetten wir? Jetzt wetten wir!) sen, während Sie selber sich für politische Segnungen öf- – Herr Tauss, ich weiß nicht, womit man Ihnen eine fentlich feiern und huldigen lassen. So geht es nicht. Das Freude machen kann. ist hier genau so beabsichtigt. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie kön- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich muss darauf nen es nur nicht vertragen, dass es in Deutsch- achten: Es wird hier nicht öffentlich gewettet. land so gut läuft!) (Heiterkeit im ganzen Hause) Deswegen wäre es schön, wenn Sie vor einer Wahl auch einmal das sagen würden, was Sie hinterher machen wol- len. Dass das keine große Freude macht, ist klar. Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Es sollte auch nur eine symbolische Handlung sein. Ich kann nur sagen: Gegen- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ihnen über der Wandlungsfähigkeit und Wandlungsbereitschaft macht alles keine große Freude, das kann ich unseres Bundesfinanzministers – wie bei Herrn Eichel so auch richtig verstehen!) häufig – ist das Chamäleon geradezu ein farbloses Lebe- – Mir macht alles große Freude, das sehen Sie doch. Ich wesen. bin eine Frohnatur, vor allen Dingen zu dieser Zeit. Vielen Dank. (Heiterkeit im ganzen Hause – Wilhelm (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das wollen wir Ih- nen noch mindestens acht Jahre lang erhalten!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Damit sind wir Ich freue mich auch, meine Damen und Herren. Auf der am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Regierungsbank ist ja nur noch die Frau Parlamentarische Staatssekretärin da. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- (B) tages auf Mittwoch, den 17. Mai 2000, 13 Uhr, ein. (D) (Zuruf von der SPD: Das nehmen Sie eventuell zurück!) Die Sitzung ist geschlossen. – Nein, das nehme ich nicht zurück. (Schluss: 15.22 Uhr) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9717

(A) Anlagen zum Stenographischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Altmaier, Peter CDU/CSU 12.05.2000 Kossendey, Thomas CDU/CSU 12.05.2000 Dr. Bartsch, Dietmar PDS 12.05.2000 Lehn, Waltraud SPD 12.05.2000 Dr. Blank, CDU/CSU 12.05.2000 Leidinger, Robert SPD 12.05.2000 Joseph-Theodor Lippmann, Heidi PDS 12.05.2000 Brüderle, Rainer F.D.P. 12.05.2000 Marquardt, Angela PDS 12.05.2000 Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU 12.05.2000 Matschie, Christoph SPD 12.05.2000 Peter H. Dr. Meister, Michael CDU/CSU 12.05.2000 Dreßler, Rudolf SPD 12.05.2000 Moosbauer, Christoph SPD 12.05.2000 Dr. Dückert, Thea BÜNDNIS 90/ 12.05.2000 DIE GRÜNEN Müller (Berlin), Manfred PDS 12.05.2000 Dr. Eid, Uschi BÜNDNIS 90/ 12.05.2000 Neuhäuser, Rosel PDS 12.05.2000 DIE GRÜNEN Neumann (Bremen), CDU/CSU 12.05.2000 Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 12.05.2000 Bernd Fell, Hans-Josef BÜNDNIS 90/ 12.05.2000 Nickels, Christa BÜNDNIS 90/ 12.05.2000 DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN (B) (D) Flach, Ulrike F.D.P. 12.05.2000 Ohl, Eckhard SPD 12.05.2000 Friedhoff, Paul K. F.D.P. 12.05.2000 Pofalla, Ronald CDU/CSU 12.05.2000 Fuchs (Köln), Anke SPD 12.05.2000 Polenz, Ruprecht CDU/CSU 12.05.2000 Ronsöhr, Gebhardt, Fred PDS 12.05.2000 Heinrich-Wilhelm CDU/CSU 12.05.2000 Glos, Michael CDU/CSU 12.05.2000 Rühe, Volker CDU/CSU 12.05.2000 Göllner, Uwe SPD 12.05.2000 Dr. Rüttgers, Jürgen CDU/CSU 12.05.2000 Gröhe, Hermann CDU/CSU 12.05.2000 Schauerte, Hartmut CDU/CSU 12.05.2000 Haschke (Großhenners- CDU/CSU 12.05.2000 Schily, Otto SPD 12.05.2000 dorf), Gottfried Schindler, Norbert CDU/CSU 12.05.2000 Dr. Haussmann, Helmut F.D.P. 12.05.2000 Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 12.05.2000 Hoffmann (Chemnitz), SPD 12.05.2000 Hans Peter Jelena Schüßler, Gerhard F.D.P. 12.05.2000 Homburger, Birgit F.D.P. 12.05.2000 Schuhmann (Delitzsch), SPD 12.05.2000 Dr. Hornhues, CDU/CSU 12.05.2000 Richard Karl-Heinz Schulhoff, Wolfgang CDU/CSU 12.05.2000 Dr. Hoyer, Werner F.D.P. 12.05.2000 Spranger, Carl-Dieter CDU/CSU 12.05.2000 Imhof, Barbara SPD 12.05.2000 Dr. Freiherr von Stetten, CDU/CSU 12.05.2000 Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 12.05.2000 Wolfgang Klinkert, Ulrich CDU/CSU 12.05.2000 Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 12.05.2000 9718 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

(A) Dr. Thomae, Dieter F.D.P. 12.05.2000 Anlage 3 (C)

Uldall, Gunnar CDU/CSU 12.05.2000 Zu Protokoll gegebene Rede Wagner, Hans Georg SPD 12.05.2000 zur Beratung des Antrags: Modellprojekt zum Heil- und Gewürzpflanzen-Anbau in Ostwestfa- Dr. Waigel, Theodor CDU/CSU 12.05.2000 len-Lippe (Tagesordnungspunkt 19) Wieczorek (Duisburg), SPD 12.05.2000 Helmut Marianne Klappert (SPD): Auch wenn die Presse in eher despektierlicher Form über diesen F.D.P.-Antrag ge- Wieczorek-Zeul, SPD 12.05.2000 schrieben hat – von Artischocken im Bundestag war da Heidemarie die Rede oder von Würzigem aus dem Bundestag –, wol- len wir diesen Antrag dennoch ernst nehmen, weil er im Wülfing, Elke CDU/CSU 12.05.2000 Grundsatz durchaus eine richtige Zielrichtung hat: einer sich im Strukturwandel befindlichen Landwirtschaft an- Zierer, Benno CDU/CSU 12.05.2000* dere Produktions- und damit Einkommensmöglichkeiten zu eröffnen. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- lung des Europarates Ich will aber nicht verhehlen, dass mir der Zeitpunkt dieses Antrags – er datiert vom 5. April dieses Jahres – und die Tatsache, dass eine Debatte darüber bereits heute Anlage 2 stattfindet, darauf abzuzielen scheinen, nicht allein dem Heil- und Gewürzpflanzenanbau in Ostwestfalen-Lippe Erklärung nach § 31 GO auf die Sprünge zu helfen, sondern auch dem zarten Pflänzchen F.D.P. in Nordrhein-Westfalen einen Vorwahl- der Abgeordneten Beatrix Philipp, Martin Wachstums-Schub zu geben. Hohmann, (Heilbronn), Günter Baumann, Sylvia Bonitz, Wolfgang Zeitlmann, Und ohne jetzt in eine Urheberrechtsdebatte eintreten Hartmut Koschyk, Dr. Hans-Peter Uhl, Meinrad zu wollen, gestatte ich mir doch den Hinweis, dass der An- Belle, Hartmut Büttner (Schönebeck), Irmgard trag der F.D.P. an eine Idee anknüpft, die durch die Bä- Karwatzki, Marie-Luise Dött, Franz Romer, derstädte in der Region und die zuständigen Kreise und Anita Schäfer, Norbert Schindler, Ursula Lietz, damit wesentlich durch Sozialdemokraten 1997 im Hin- blick auf die EXPO 2000 geboren wurde: die Idee eines (B) Wolfgang Schulhoff, Ingrid Fischbach, Renate (D) Diemers, Norbert Röttgen, , Werner Heilkräutergartens in der Region. Lensing, Heinz Schemken, , Norbert Aber auch diese Anknüpfung ist legitim, wenn es sich Königshofen, , Dr. Paul Laufs, dabei nicht um eine parlamentarische Initiative mit Halb- Georg Girisch, Ilse Aigner, Kurt-Dieter Grill, wertzeit bis zum Wahltag handelt, sondern um ein durch- Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land), Bernd Siebert dachtes und unterstützenswertes Konzept. Daran aber (alle CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung habe ich – noch! – meine Zweifel. über den Entwurf eines Gesetzes zur Neuord- Zunächst: Wir unterstützen jede Initiative, die darauf nung seuchenrechtlicher Vorschriften (Seuchen- abzielt, neue Einkommensmöglichkeiten für die Land- rechtsneuordnungsgesetz – SeuchRNeuG) (Ta- wirtschaft zu eröffnen, jede Initiative, die durch die Be- gesordnungspunkt 16) griffe Nachhaltigkeit, Produktsicherheit und Wirtschaft- Hiermit erklären wir, dass wir in der 2. und 3. Lesung lichkeit gekennzeichnet ist. des o. a. Gesetzes mit „Nein“ stimmen werden. Deshalb ist der Anbau von Heil- und Gewürzpflanzen Wir tun dies aus der Überzeugung, dass eine Absen- in Deutschland eine gute und – darüber besteht Konsens auch mit dem Bundesminister – grundsätzlich förde- kung der seuchenrechtlichen Vorschriften und Standards, rungswürdige Sache. wie sie dieses Gesetz im Gegensatz zum bisher gültigen Seuchengesetz beinhaltet, nicht zu verantworten ist. Da der Markt für pflanzliche Arzneimittel in Deutsch- land und Europa eine steigende Tendenz aufweist, zudem Unsere Kritik bezieht sich im Wesentlichen auf fol- der Selbstversorgungsgrad in Deutschland ausgesprochen gende drei Punkte: gering ist – das schreiben Sie ja auch richtig in Ihrem An- Erstens. Auf die Einstellungsuntersuchungen bei in der trag –, bietet sich hier eine Möglichkeit für einheimische (offenen) Lebensmittelherstellung Beschäftigten soll ver- Produzenten. zichtet und diese durch eine „Belehrung“ ersetzt werden. Insofern wäre auch gegen einen Heil- und Gewürz- Zweitens. Die Untersuchungspflicht für Prostituierte pflanzenanbau in Ostwestfalen-Lippe nichts einzuwen- soll ersatzlos wegfallen. den. Dass zumindest der Gewürzpflanzenanbau dort mög- lich ist, geht nicht nur aus der Antragsbegründung hervor, Drittens. Die personenbezogenen Daten von Hepatitis- sondern auch aus der mir zugegangenen Information, dass C-Virus-Trägern sollen spätestens nach drei Jahrenin dieser Region früher schon einmal Gewürzpflanzenan- gelöscht werden. bau in größerem Stil betrieben worden ist – und das, wie Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9719

(A) mir die Landwirtschaftskammer gesagt hat, mit gutem Er- Sie formulieren in der Begründung Ihres Antrags, dass (C) folg. die EU-Agrarpolitik zu einer immer stärkeren Abhängig- keit der Landwirte von staatlichen Zuschüssen führe. Aber es bleiben Fragen, entscheidende Fragen, auf die Wenn Sie dann in Ihrem Antrag eine Anschubfinanzie- in der zukünftigen Ausschussberatung befriedigende Ant- rung fordern, dann nehme ich Ihnen ab, dass Sie auch nur worten gefunden werden müssen. eine Anschubfinanzierung meinen. Es kann ja nicht sein – Die erste wesentliche Frage: Gibt es überhaupt genü- und widerspräche Ihrem Begründungstext –, dass der An- gend geeignete Fläche zum Anbau einer solchen Sonder- bau von Heil- und Kräuterpflanzen dauerhaft am Subven- kultur in größerem Umfang? Da gibt es durchaus wider- tionstropf hinge. sprüchliche Aussagen. Einerseits berichtet die Landwirt- Aber auch sonst habe ich – ebenso wie meine Kollegin schaftskammer von durchaus vorhandenen Ackerflächen, Teuchner – Bedenken gegen eine finanzielle Förderung andererseits ist aber auch zu fragen, ob diese so ohne wei- des Projektes durch den Bund, und das nicht nur aus haus- teres kurzfristig umgewidmet werden können. Es kann haltspolitischen Überlegungen, sondern auch, um Be- dabei tatsächlich nur um frei gewordene Ackerflächen ge- nachteiligungen bereits am Markt etablierter Produzenten hen, keinesfalls darum, Grünland in Ackerfläche umzu- zu vermeiden. Aus diesem Grunde kann nach meinem wandeln. Das mittelfristige Entwicklungskonzept für Ost- Dafürhalten der Bund auch nicht sozusagen Veranstalter westfalen-Lippe weist darauf hin, dass seit vielen Jahren eines solchen Projektes sein, wie Sie es fordern. Er kann ein erheblicher Rückgang von Grünland in Ostwestfalen- aber – und darüber können wir in den Ausschussberatun- Lippe durch Umwandlung in Ackerland festzustellen sei, gen reden – entsprechende Eigeninitiativen begleitend – was für die auf diese Flächen spezialisierten Pflanzen und begleitend, aber nicht verantwortlich! – fördern, zum Bei- frei lebende Tierwelt eine hohe Gefährdung darstelle. spiel durch die Bereitstellung von Beratungsleistungen. Die zweite wesentliche Frage: Kann dauerhaft ge- Sie schreiben in Ihrem Antrag richtig, dass ein Ver- währleistet werden, dass die für die Rohstoffversorgung tragsabschluß von Landwirten mit Arzneimittelherstel- aus heimischer Produktion besonders bedeutsamenlern oder sonstigen Abnehmern die wichtigste Vorausset- Aspekte wie höchste Qualität, Liefersicherheit, Anbau zung für die erfolgreiche Produktion ist. Insofern halte ich unter hohen ökologischen und sozialen Standards undIhre Anstrengungen, Erzeuger und Verarbeiter in der Re- Schutz von bedrohten Arten – kein Raubbau an der Wild- gion Ostwestfalen-Lippe zusammenzubringen, für durch- flora – beachtet werden? aus begrüßenswert. Und dann erscheint es mir sinnvoll, Die Kollegin Teuchner hat ja schon darauf hingewie- wenn kooperationswillige Landwirte und Firmen in der sen, dass deutsche Produzenten nur wettbewerbsfähigRegion versuchen, über schon vorhandene Strukturen, (B) sind, wenn sie sich ganz auf Qualitätserzeugung konzen- zum Beispiel über den Fachausschuss für Arznei-, Ge-(D) trieren, Stichwort: Kontrollierter Integrierter Anbau, der würz- und Aromapflanzen, behutsam und strategisch und die innere und äußere Qualität der Erzeugnisse garantiert gut geplant Fuß zu fassen. und gleichzeitig umweltschonende Anbauverfahren. Wir halten die Idee, Landwirten eine Nischenproduk- Dritte Frage: Bietet die Region besonders günstigetion durch Heil- und Gewürzpflanzen zu ermöglichen, für Voraussetzungen für einen großflächigen Anbau vondurchaus begrüßenswert. Ob das allerdings in der Form Heil- und Gewürzpflanzen? Dabei sind nicht nur die Bo- der in Ihrem Antrag erhobenen Forderungen möglich ist denqualität und die klimatischen Voraussetzungen zu be- oder ob eine andere Form der Unterstützung von Eigen- achten, sondern auch die Frage, ob sich die Region Ost- initiative in diesem Bereich gefunden werden muss, darü- westfalen-Lippe gegenüber anderen Regionen besonders ber wird in den Beratungen zu reden sei. auszeichnet. Da bin ich mir nicht sicher. Die Nähe von Heilbädern allein und der Hinweis auf die Gesundheitsre- Jella Teuchner (SPD): 10 000 Hektar Arznei- und gion Ostwestfalen-Lippe spielt nach meinem Dafürhalten Gewürzpflanzen werden in Deutschland angebaut. Etli- für den erfolgeichen Anbau und die Vermarktung eine che landwirtschaftliche Betriebe haben sich mit dem An- eher untergeordnete Rolle. Zwar formuliert das mittelfris- bau dieser Sonderkulturen eine Einkommensalternative tige Entwicklungskonzept für Ostwestfalen-Lippe, dass erschließen können. Zentren des Anbaus haben sich he- die Möglichkeit des Anbaus landwirtschaftlicher Spezial- rausgebildet, vor allem in Bayern und Thüringen. Nach kulturen für Marktnischen zu verfolgen und dabei derdem Willen der F.D.P. soll in der Region Ostwestfalen- Vorteil regionaler Absatzmöglichkeiten zu berücksichti- Lippe ein weiteres Zentrum des Arznei- und Gewürz- gen sei. Aber es ist die Frage zu beantworten, ob das für pflanzenanbaus als Modellprojekt mit Anschubfinanzie- die Produktion von Heil- und Kräuterpflanzen möglich rung aus Bundesmitteln entstehen. Ich halte es für richtig, ist. den Landwirten Einkommensalternativen zu erschließen. Und die vierte wesentliche Frage: Rechnet sich das auf Arznei- und Gewürzpflanzen sind für einige Betriebe Dauer? Ein Modellprojekt macht ja nur dann Sinn, wenn eine Möglichkeit. Ich finde es allerdings interessant, dass es in absehbarer Zeit aus dem Modellstadium heraustre- gerade die Liberalen dazu Wettbewerbsverzerrungen in einem sensiblen Marktsegment in Kauf nehmen. ten und sich aus eigener Kraft am Markt behaupten kann. Das berührt unmittelbar die Frage, in welcher Weise und Arzneipflanzen gewinnen heute wieder zunehmend an auf welche Dauer ein solches Produkt durch öffentliche Bedeutung. Damit ergeben sich auch weitere Absatz- Mittel gefördert werden kann. möglichkeiten für die Hersteller der Arzneipflanzen. Der 9720 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

(A) vermehrte Anbau macht dies deutlich; er macht auch deut- gerich, Majoran, Thymian, so genannte Arznei- und Ge- (C) lich, dass etliche landwirtschaftliche Betriebe diesewürzdrogen, ist festzustellen. Auf einer Anbaufläche von Marktchance bereits für sich nutzen konnten. Der Anbau circa 6 000 Hektar werden zurzeit in Deutschland aber nur von Arznei- und Gewürzpflanzen ist eine Nische, die aus- 10 Prozent des Bedarfs gedeckt. Das bedeutet, dass circa gefüllt werden sollte. Wir müssen uns aber auch darüber 90 Prozent der Heil- und Gewürzkräuter importiert wer- klar sein, dass in einer Nische nicht unbegrenzt Platz ist. den. Hierbei handelt es sich um die Produktion von circa Ein Blick auf den Markt für Arznei- und Gewürzpflanzen 55 000 Hektar. Das Ziel muss sein: Bedarf durch eigene zeigt folgendes Bild: 95% des Anbaus von Arznei- und Produktion decken. Gewürzpflanzen erfolgt als Vertragsanbau. Der Standort- Für das Pilotprojekt muss die Bundesregierung die vorteil der deutschen Produktion ist die enge Verzahnung Rahmenbedingungen schaffen: von Produzent und Abnehmer. Sowohl Qualitätsstandards als auch Sorten können koordiniert gesetzt bzw. angebaut a) Zur EU-Konformität. Es ist zu bedenken, dass für und abgesetzt werden. Als Hemmnisse gelten aus Sicht den pflanzlichen Bereich, eingeschlossen die Heil- und der Anbauer die langjährig gewachsenen Geschäftsbezie- Gewürzpflanzen, die Harmonisierungsvorhaben zum hungen zwischen Importeuren und ausländischen Han- Pflanzenschutz, zum Saat- und Pflanzgut, zum Dünge- delspartnern, die Unkenntnis vieler Abnehmer über die mitteleinsatz und zum Lebensmittelrecht noch nicht ab- Anbaumöglichkeiten im Inland, fehlende Beratungsinsti- geschlossen sind. tutionen für die Landwirte und fehlende Sorten, Pflan- b) Eine Prüfung hat zu erfolgen, wie die Pilotmaß- zenschutzmittel und Anbautechnologien. nahme ans Laufen gebracht und die Abnahme sicherge- Ein Vertragsabschluss von Landwirten mit Arzneimit- stellt werden kann. telherstellern ist somit eine wichtige Voraussetzung für Seitens der Regierung sollte die Übernahme der Kos- eine erfolgreiche Produktion. Sie sind trotz billigerer Lie- ten im nächsten Haushalt für einen Projektberater, der als feranten aus dem Ausland wettbewerbsfähig, wenn sie Katalysator und Berater für zu bildende Erzeugergemein- eine reproduzierbare und standardisierte Qualität liefern schaften tätig ist, zugesagt werden. können. Ständige Qualitätskontrolle ist die Grundvoraus- setzung dafür, dass die Produkte auch abgesetzt werden Denn es ist richtig: Erzeugergemeinschaften sichern können. Qualitätssicherung nach ISO 9002 wird dazu ge- Weltmarktpreise; mehrjährige Vertragsbindungen wegen nauso eingesetzt wie ein abnehmerkontrollierter Vertrags- Ertragszeit sind notwendig; von der Abnehmerseite wer- anbau. den homogene Produkte und größere, marktinteressante Mengen gefragt. Wir sollten die Landwirte unterstützen, die Hemmnisse zu überwinden, wo es möglich und sinnvoll ist. Ich sehe Für die Landwirte kann der Anbau nur auf der Grund- (B) dazu verschiedene Möglichkeiten: die Unterstützung der lage sicherer Anbauverträge erfolgen. (D) Landwirte in der Qualitätssicherung, die Förderung der Zur Rentabilität. Beispiel: Bernburg in Sachsen-An- Kooperation von Landwirten und Abnehmern und diehalt. Hohe Trockenkosten bedingten den Ausstieg dieser fachliche Hilfestellung beim Einstieg in die Produktion Firma. Für einzelne Kräuterarten fallen pro Hektar im von Arznei- und Gewürzpflanzen. Eine Anschubfinanzie- Schnitt 5 000 DM Trockenkosten an; Beispiel: Johannis- rung für notwendige Erstinvestitionen für zusätzlichekraut. Voraussetzung ist daher: sinkende Energiekosten. Produktion ist dagegen problematisch: Die Pioniere im Heil- und Gewürzpflanzenanbau haben mit erheblichen Zum Beispiel hatte die Anbaugemeinschaft Bernburg Eigenmitteln Methoden und Maschinen entwickelt, ver- allein durch die Verteuerung der Energiekosten zusätzli- bessert und finanziert. Eine Finanzierung der Erstausstat- che Kosten von 32 000 DM. tung für die Konkurrenzproduktion würde den Wettbe- Der Ausblick. Der Antrag ist prüfungswürdig. Die Re- werb erheblich verzerren. Anreize zur Verbesserung der gierung muss Rahmenbedingungen festlegen und EU- Anbautechnologien würden genommen. Der unkoordi- Konformität herstellen. Unsere Fraktion beteiligt sich nierte, zusätzliche Anbau von Arznei- und Gewürzpflan- konstruktiv und fördernd an der Pilotmaßnahme. zen kann zum Einbrechen der Märkte führen. Der Anbau von Arznei- und Heilpflanzen soll unter- Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „Es stützt werden. Die Unterstützung muss die Chancen, die wird wieder spannend im Bundestag“, schrieb gestern die sich bieten, erschließen; sie darf sie allerdings nicht ge- „Berliner Morgenpost“ unter dem Titel „Liberale und ihre fährden. Leidenschaften“. In der Tat beobachtet meine Fraktion mit Spannung, wie die F.D.P. versucht, sich zwei Tage vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen noch flugs ein Meinolf Michels (CDU/CSU): Frau Kopp hat mit grünes Image zu verpassen. Bedauerlich für Sie, dass Sie ihrem Antrag eine Nische aufgezeigt. Für die Gesund- nicht schon vor der Bundestagswahl 1998 auf die Idee ge- heitsregion Ostwestfalen-Lippe mit vielfältiger Bäder- kommen sind, den Antrag zu stellen, das neue Regie- landschaft, mit ihrer landwirtschaftlichen Struktur könnte rungsviertel in Berlin – bzw. den Platz vor dem Reichs- der Anbau von Heil- und Gewürzpflanzen eine Chance tagsgebäude – mit Heil- und Gewürzpflanzen zu begrü- bedeuten. nen. Womöglich hätten Sie damit die rot-grüne Fest steht, dass die Nachfrage an Heil- und Gewürz- Bundesregierung verhindert und die Besucherinnen und pflanzen zunimmt. Steigender Bedarf der Bäder vor Ort Besucher Berlins könnten jetzt die Düfte von Rosmarin, besonders für Kamille, Fenchel, Johanniskraut, Spitzwe- Thymian oder Oregano genießen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9721

(A) Ihrem agrarpolitischen Sprecher ist aber offenbar nicht machen, der an den wirtschaftlichen Realitäten vorbei-(C) ganz wohl bei diesem Antrag, daher hat er die Brennnes- geht, wäre grundfalsch. Die Erfahrungen aus NRW zei- seln Frau Kopp überlassen. Es wundert mich schon, dass gen, dass an erster Stelle immer die Erkundung des Mark- Sie von der F.D.P., die Sie sich doch als Sachwalter des tes stehen muss. Zunächst müssen die Marktlücken und freien Marktes verstehen, hier plötzlich nach staatlicher Absatzpotenziale identifiziert sowie Abnahmeverträge Subvention rufen. Und dies für eine Produktionsnische, zwischen Landwirten und Verarbeitern ausgehandelt wer- die Sie zufällig im Wahlkreis von Frau Kopp als beson- den. Der Anbau ist dann das geringste Problem. ders geeignet lokalisieren. Bundesregierung und Landesregierung NRW stimmen An dieser Stelle muss endlich einmal darauf hingewie- hierin völlig überein, dass eine finanzielle Anbauförde- sen werden, dass auch die Region Anhalt mit den Städten rung nicht der richtige Weg ist, sondern dass neue Pro- Dessau, Wittenberg, Bitterfeld und Bernburg besonders duktlinien im Bereich der nachwachsenden Rohstoffe all- geeignet für verschiedene Modellprojekte ist. Das erheb- gemein, aber auch im Heil- und Gewürzpflanzenbereich liche Potenzial der Region mit Bauhaus, Wörlitzer Gar- nur dann langfristig zu tragfähigen wirtschaftlichen Ent- tenreich, Lutherstadt Wittenberg oder der „Stadt aus Ei- wicklungen führen, wenn zu Marktbedingungen produ- sen“ Ferropolis und den reichhaltigen Erfahrungen ihrer ziert werden kann. Wenn ich mir daraufhin den F.D.P.-An- Bewohnerinnen und Bewohner bietet vielfältige Mög- trag ansehe, so ist dieser Aspekt vollkommen ausgeblen- lichkeiten in dieser Hinsicht. det. Der Heil- und Gewürzpflanzenanbau könnte tatsächlich ein interessantes Projekt in der Region Ost- Aber sehen wir uns einmal an, worum es beim Heil- westfalen-Lippe sein, aber er stagniert ja nicht deswegen, und Gewürzpflanzenanbau geht: In Deutschland werden weil es keine Fördermittel dafür gibt, sondern weil die heute zwischen 4 000 und 10 000 Hektar Heil- und Ge- Länder Mittel- und Osteuropas hier erhebliche Preis- und würzpflanzen angebaut. Bereits die Variationsbreite die- Produktionsvorteile haben, mit denen unsere Erzeuger ser Größenordnungen weist darauf hin, dass Unterschiede häufig nicht konkurrieren können. in der Wirtschaftlichkeit von Heil- und Gewürzpflanzen zu beachten sind: Heil- und Gewürzpflanzen, deren An- Ich glaube, dass wir hier nur über das Qualitätssegment bau als nachwachsende Rohstoffe auf stillgelegtenweiterkommen. Unsere heimischen Erzeuger müssen sich Flächen erlaubt ist, haben andere wirtschaftliche Rah- so weit qualifizieren, dass sie Marktbereiche mit gehobe- menbedingungen als diejenigen, die sich ohne Stillle-nen Qualitätsansprüchen bedienen können. Hier sehe ich gungsprämie zu Weltmarktpreisen behaupten müssen.in der Tat Möglichkeiten der staatlichen Unterstützung in Form von Forschung und Beratung. Bündnis 90/Die Grü- Richtig ist, dass sich aus dem geringen Selbstversor- nen werden den Anbau von Heil- und Gewürzpflanzen in gungsgrad mit Heil- und Gewürzpflanzen in Deutschland diesem Sinne auch in Zukunft unterstützen. (B) erhebliche Anbaupotenziale ergeben. Aber die Schlüssel- (D) frage ist doch nicht, welche Mengen an Heil- und Ge- würzpflanzen wir in Deutschland aufgrund der Tempera- Kersten Naumann (PDS): Heil- und Gewürzpflan- tur- und Niederschlagsverhältnisse anbauen könnten, son- zen werden mit langer Tradition in vielen Gegenden dern: Wie wirtschaftlich ist deren Anbau für den einzelnen Deutschlands angebaut. Zu den größten Anbaugebieten Landwirt und wie finden diese Erzeugnisse ihre Abneh- gehören Bayern und Thüringen. Hier haben sich feste mer? Strukturen mit Verbänden und engen Beziehungen zur Pharmaindustrie herausgebildet. Bündnis 90/Die Grünen sehen ebenso wie die rot- grüne Bundesregierung einen Schwerpunkt zukunftsfähi- Nun argumentiert die F.D.P. in ihrem Antrag damit, ger Landwirtschaft in Deutschland im Anbau nachwach- dass der Selbstversorgungsgrad bei Arznei- und Gewürz- sender Rohstoffe. Hierzu zählt auch das Segment derpflanzen nur 10 Prozent beträgt. Sie verschweigt aber, Heil- und Gewürzpflanzen. Das Landwirtschaftsministe- dass landwirtschaftliche Betriebe, die bisher diese Roh- rium des Landes Nordrhein-Westfalen hat in diesem Be- stoffe produzieren, erhebliche Absatzschwierigkeiten ha- reich Modellprojekte gefördert, wie beispielsweise das ben. Die Hauptursache dafür sind die Einsparungsmaß- Modellprojekt zur Gewinnung ätherischer Öle aus Ge- nahmen im Gesundheitsbereich durch die alte und neue würzpflanzen im Kreis Borken. Die Erfahrungen, die dort Bundesregierung. gewonnen wurden, sind durchaus auch auf den Kreis Hinzu kommen Auseinandersetzungen um die ge- Westfalen-Lippe übertragbar. Die Landwirte zeigen einen sundheitliche Wirksamkeit von Arzneipflanzen bzw. hohen Grad an Flexibilität bei anbautechnischen und Auf- über die durch sie verursachten Nebenwirkungen. Natur- arbeitungsfragen. Hier besteht auch im Kreis Westfalen- heilverfahren haben gegen die Pharmaindustrie einen Lippe das fachmännische Know-how. Hierin sehe ichschweren Stand. Sie will ihre Präparate verkaufen und kein Problem. duldet keine Konkurrenz. Lässt sich die Wirksamkeit ei- Eine Anschubförderung für den Anbau, wie sie dienes Naturprodukts trotz gut bezahlter Wissenschaftler F.D.P. in ihrem Antrag verlangt, zielt aber am Kern des nicht widerlegen, dann wird versucht, ein Patent darüber Problems vorbei: Anbau und Absatz von Heil- und Ge- zu erwerben und am Weltmarkt Gewinn bringend umzu- würzpflanzen wird in der Region Westfalen-Lippe wie setzen. auch andernorts nur dann ein langfristig tragfähiges Der Markt für Heil- und Gewürzpflanzen ist unregu- Standbein für die regionalen Erzeuger und Verarbeiter, liert, unterliegt also ungeschützt den Schwankungen auf wenn die Wirtschaftlichkeit gegeben ist. Hier mit staat- dem Weltmarkt. Das erfahren die Anbauer von Johannis- lichen Geldern einen neuen Subventionstatbestand aufzu- kraut gerade sehr schmerzlich. Der Markt dafür ist in den 9722 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

(A) USA zusammengebrochen. In Deutschland wurden des- Druck auf die Anbauer ausüben und die Aufkaufpreise(C) halb die Anbauverträge gekündigt. Als Folge davon müs- weiter drücken. sen aktuell im Thüringer Verband für Heil- und Gewürz- Sollten Sie noch Fragen haben, dann informieren Sie pflanzen 200 Hektar Johanniskraut umgebrochen werden. sich bitte bei den Landwirten, die um den Absatz ihrer Der dadurch entstehende Schaden wir auf 1,2 Millionen Produkte kämpfen. DM geschätzt. Der Anbau von Heil- und Gewürzpflanzen ist nur wirt- schaftlich zu betreiben, wenn die Erzeuger langfristige Anlage 4 Verträge mit der Pharmaindustrie haben. Die kauft aber dort, wo die Rohstoffe oder die Grundprodukte – Essen- Zu Protokoll gegebene Reden zen – am billigsten zu bekommen sind. Und das ist bei zur Beratung der Anträge: – Zulassung von 90 Prozent des Gesamtumsatzes im Ausland, nicht zuletzt Pflanzenschutzmitteln auf nationaler und EU- in China. Ebene beschleunigen: – Wettbewerbsnachteile Besonders der Import aus Osteuropa wächst. Mit der durch unterschiedliche Zulassungspraxis von Osterweiterung der EU werden sich die Chancen für den Pflanzenschutzmitteln in Europa zügig abbauen Heil- und Gewürzpflanzenanbau in Deutschland weiter (Tagesordnungspunkt 20 und Zusatztagesord- verschlechtern. nungspunkt 3) In den vergangenen Jahren wurden in dem Thüringer Verband etwa 1 500 Hektar angebaut. Der Verband be- Gustav Herzog (SPD): Im September 1997 präsen- fürchtet in diesem Jahr einen Rückgang auf etwatierte die frühere Bundesregierung ihren Gesetzentwurf 1 000 Hektar. Wenn es den Antragstellern aus der F.D.P. zur Änderung des Pfanzenschutzgesetzes. Der damalige darum ginge, ein Beispiel für einen modernen Heil- und Parlamentarische Staatssekretär Gröbl sagte in der De- Gewürzpflanzenanbau zu schaffen, dann könnte man das batte: „Damit in den Betrieben keine Lücken bei der viel besser in Thüringen oder Bayern realisieren. DieBekämpfung von Schadorganismen auftreten, hat die Landwirtschaft in Ostdeutschland hat noch immer mit Bundesregierung im vorliegenden Gesetzentwurf Vor- dem Transformationsprozess der deutschen Einheit zu sorge getroffen“. kämpfen. 80 Prozent der Arbeitsplätze gingen verloren. Heute, meine Damen und Herren, beraten wir zwei An- Und in der Landwirtschaft Thüringens beträgt die Ar- träge der gleichen Fraktionen, die das Eingeständnis der beitslosigkeit 24 Prozent. Wenn also im Bundeshaushalt Tatsache sind, dass diese Kalkulation völlig daneben ge- Geld übrig sein sollte, dann ist ein Modellprojekt in legen hat. Das Lückenproblem besteht seit mehr als zehn (B) Thüringen besonders gut durchzuführen. (D) Jahren und die Indikationszulassung im neuen Pflanzen- Eine Verschärfung des Wettbewerbs bei Heil- und Ge- schutzgesetz, die zum 1. Juli 2001 vorgeschrieben ist, würzpflanzen mit staatlichen Mitteln halten wir für kon- würde das Problem ohne die geeigneten Lösungsstrate- traproduktiv. Der Anbau dieser Sonderkulturen setzt zum gien – mein Kollege Thalheim wird darauf eingehen – Beispiel den Aufbau geeigneter Trocknungsanlagen vo- verschärfen. raus. Soll sich durch das Modellprojekt Ostwestfalen- So ganz verstehe ich im Übrigen nicht, warum Sie, Lippe der Auslastungsgrad der Anlagen in Thüringen und meine Damen und Herren von der Opposition, nicht die Bayern weiter verschlechtern? Könnten sich die Betriebs- Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der wirtschaftler in der F.D.P. vorstellen, dass die Pharmain- F.D.P.-Fraktion im September abwarten, denn dann wer- dustrie vor allem an großen und einheitlichen Partien in- den wir ohnehin eine längere Debatte haben. Jetzt er- teressiert ist, die in Ostdeutschland besonders günstig scheint es mir eher so, dass Sie mit diesen ziemlich sub- hergestellt werden können? Halten die F.D.P.-Betriebs- stanzlosen Anträgen einfach ein bisschen Stunk machen wirtschaftler die Bauern in Ostdeutschland für so dumm, wollen und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo sich dass sie Marktchancen nicht nutzen würden, wenn es sie erste Erfolge der harten Arbeit der beteiligten Behörden denn gäbe? und aller anderen Beteiligten einstellen. Ihre Anträge zei- Abschließend kann man den Anhängern des Neolibe- gen zwar zu Recht ein Problem auf, aber leider keine ge- ralismus in der F.D.P. nur sagen: Versuchen Sie nicht, we- eignete Lösung dazu. gen eines Erfolgs bei den Landtagswahlen ein betriebs- 313 Lücken veröffentlichte der Bundesanzeiger 1993, wirtschaftliches Projekt auf die Schienen zu setzen, das davon konnten 212 geschlossen werden. Die Bundesre- Sie entsprechend Ihrer Wirtschaftsphilosophie eigentlich gierung hat alle nur möglichen administrativen Voraus- ablehnen müssten. Diese Inszenierung glaubt ihnen doch setzungen zum Schließen von Lücken geschaffen. Dazu keiner. sind in der vergangenen Zeit enorme Anstrengungen un- Die Heil- und Gewürzpflanzenanbauer in der Bundes- ternommen worden. Biologische Bundesanstalt und Um- republik brauchen das Modellprojekt nicht. Eine wirkli- weltbundesamt wurden mehrfach an einen Tisch geholt. che Hilfe für sie wäre, wenn die Pharmaindustrie dazu ge- Ich darf daran erinnern, dass wir uns auch im Ernährungs- drängt würde, mehr Verträge abzuschließen. Tatsächlich ausschuss schon öfter damit beschäftigt haben. Diese würde die F.D.P. bei der Annahme ihres Antrags diese In- Bemühungen waren in manchen Fällen bereits sehr er- dustrie bedienen. Sie könnte bei einem steigenden Ange- folgreich vor allem der Kernobstanbau hat hiervon profi- bot von Heil- und Gewürzpflanzen einen noch stärkeren tiert. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9723

(A) Im Grunde ist die Diskussion um die Lücken doch ei- Wettbewerbsbedingungen begegnen können. (C) gentlich eines der vielen „Wer hat den schwarzen Peter?“- Im Herbst werden wir uns, wie schon erwähnt, hier zu Spiele. Für mich hat einen der schwarzen Peter eindeutig einer großen Pflanzenschutzdebatte sehen. Kurz vorher die agrarchemische Industrie. Ihre Vertreter haben an- hat sich die Bundesregierung nochmals mit allen Betei- gekündigt, dass sie von den derzeit 800 alten Wirkstoffen ligten zusammengesetzt und beraten, mit wie vielen Kom- nur 200 gegenüber der EU-Kommission verteidigen wol- len, sprich: Nur mit diesen 200 will man sich Mühe geben, plikationen wir in das Jahr der Umstellung auf die Indi- und damit meine ich auch finanzielle Mühe. kationslösung gehen werden. Ich hoffe, dass es nicht so viele sind, damit wir auch andere interessante Entwick- Das heißt: Die Pflanzenschutzmittel-Industrie, die sich lungen im Pflanzenschutz diskutieren können. doch so oft und gerne als guter Freund und Helfer der Landwirtschaft versteht, versagt der Landwirtschaft und vor allem dem Obst- und Gartenbau an dieser Stelle ein Helmut Heiderich (CDU/CSU): In den Debatten um wenig Solidarität. Für große Kulturen mit gängigendie Zukunft der Landwirtschaft hört man – insbesondere Pflanzenschutzproblemen gibt es immer genügend zuge- vonseiten der Regierungsparteien – immer wieder den lassene Wirkstoffe und auch innovative, umweltfreundli- Einwurf, die bäuerlichen Betriebe müssen sich dem inter- chere Lösungen. Dafür werden dann auch zuhauf Berater nationalen Wettbewerb stellen. Abgesehen von den neuen und Vertreter herumgeschickt, denn hier sind die Profite wettbewerbsverzerrenden Belastungen, welche die Bun- zu erwarten. Für kleinere Kulturen, wie Tabak und Hop- desregierung zurzeit der deutschen Landwirtschaft auf- fen, lohnen sich weder Forschungs- und Entwicklungs- bürdet, stellt sich die Lage bei genauerem Hinsehen meist kosten noch Zulassungsverfahren für neue innovative anders dar, so auch jetzt wieder bei der Zulassung von be- Wirkstoffe. Das mag unter rein ökonomischen Gesichts- währten Pflanzenschutzmitteln im integrierten Pflanzen- punkten Sinn machen, ich nenne es trotzdem unsolida- bau. risch. Ich verspreche mir einiges davon, dass sich die In- 1991 hatte die EU beschlossen, die gut 800 Pflanzen- dustrie mit den beteiligten Behörden an einen Tisch setzt, schutzwirkstoffe auf EU-Ebene in den nächsten zwölf um so genannte „Round-Table-Gespräche“ zu führen. Jahren zu harmonisieren. Für ganze zwei Wirkstoffe ist Genauso nehmen wir an dieser Stelle ausdrücklichdies nunmehr nach neun Jahren gelungen. Diese Erfah- auch die berufsständischen Vertretungen in die Pflicht: rung können wir gar nicht anders beantworten als mit der Auch Sie, die Bauernverbände, die Gartenbau- und die Forderung, die Abschlussfrist um weitere drei Jahre auf Weinbauverbände, die Zierpflanzenbauer etc., etc. haben 2006 zu verlängern. Denn es ist für alle Beteiligten ein- sich bereits seit In-Kraft-Treten des neuen Pflanzen-deutig klar, dass es im vorgegebenen Zeitrahmen zu kei- schutzgesetzes 1998 die Möglichkeit, eigene Anträge zur ner auch nur annähernden Problemlösung kommen wird. (B) (D) Schließung von Lücken nach § 18 des Pflanzenschutzge- Hinzu kommt, dass in Deutschland Pflanzenschutzmit- setzes zu stellen. Ich habe einmal nachgefragt: Die Ant- tel ab dem 1. Juli 2001 nur noch im beantragten und fest- wort war ernüchternd: 1, in Worten: Ein einziger Antrag gesetzten Anwendungsbereich eingesetzt werden dürfen. ist von den Tabakanbauern gestellt worden! Dies hat zur Folge, dass in vielen Bereichen des inte- Wir fordern Sie dazu auf mitzuarbeiten: Befragen Sie grierten Pflanzenbaus, vor allem aber bei der Obst- und Ihre regionalen Anbauer nach den tatsächlichen Lücken! Gemüseerzeugung bewährte und zuverlässige Präparate Machen Sie eine Bestandsaufnahme und stellen Sie die nicht mehr angewandt werden dürfen. Damit entstehen, Anträge bei der Biologischen Bundesanstalt! Vor allem, wie schon jetzt absehbar, Anwendungslücken, das heißt, wenn es sich um „einfache“ Fälle handelt, zum Beispiel Situationen, in denen der Landwirt keine Möglichkeit wenn nur eine weitere Zierpflanze hinzugenommen wer- mehr hat, eintretenden Schädlingsbefall zu verhindern den soll. Solche einfachen Fälle kosten Sie in den meisten oder diesem entgegenzuwirken. Setzt der Landwirt seine Fällen nichts oder kaum etwas und erleichtern vielengute fachliche, wissenschaftlich und umweltrechtlich an- Landwirten die Arbeit. erkannte Praxis unter Nutzung der alten Präparate fort, be- gibt er sich in die Gefahr eines Gesetzesverstoßes. Kommen Sie herunter von dem Ross: Das ist Sache der Industrie, die haben die Zulassungen immer selber bean- Wir sind als CDU/CSU-Fraktion nicht bereit, die ne- tragt, die sollen auch dafür haften, wenn was schief geht, gativen Auswirkungen von überhöhten bürokratischen und der Staat soll sehen, wie er die Industrie zum Jagen Anforderungen einerseits und der Unfähigkeit, mit den trägt. Fordern Sie die agrarchemischen Unternehmenselbst vorgegebenen Zielen fertig zu werden, andererseits ebenfalls dazu auf, nicht nur an der Landwirtschaft ver- den deutschen Landwirten aufzubürden. Sie sind an die- dienen zu wollen. Und wenn Sie sich die Bilanzen der sen Problemen nicht nur unbeteiligt, sie haben im Gegen- agrarchemischen Abteilungen der großen Unternehmen teil über Jahre hinweg das System des an Schadschwellen ansehen: Man verdient gut an der Landwirtschaft! orientierten integrierten Pflanzenbaus entwickelt und da- mit deutliche Vorteile für Umwelt und Verbraucher ge- Die Bundesregierung wird derweil ihre Anstrengungen schaffen. in Brüssel intensivieren und auf die zügige Überprüfung der alten Pflanzenschutzmittelwirkstoffe drängen. Mir Ein Zustand breiter Anwendungslücken würde ihnen scheint, dass der Kommission die Brisanz der Lage immer zudem einen deutlichen Wettbewerbsnachteil gegenüber noch nicht wirklich klar ist. Außerdem brauchen wir aus anderen europäischen Ländern bringen. Dort hat man Brüssel eine schnellere Zulassung der Altwirkstoffe, da- den Einsatz der altbewährten Pflanzenschutzmittel ein- mit wir gleichzeitig den teilweise bestehenden ungleichen fach so lange für unverzichtbar erklärt, solange nicht ein 9724 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

(A) entsprechender Wirkstoff von der EU neu zugelassen ist. gebnis war nämlich, dass wichtige und nachweislich nütz- (C) Die Bundesregierung muss deshalb unverzüglich dafür lingsschonende Pflanzenschutzmittel nicht mehr oder nur Sorge tragen, dass der deutschen Landwirtschaft an dieser noch mit verlustmindernden Recycling-Geräten ange- Stelle nicht einseitig neue Nachteile aufgelastet werden. wendet werden dürfen. Mit einem Schlag wurde so der Aufbau der integrierten Produktion über den Haufen ge- Auch der Bundesrat hat bereits mit Beschluss vom ver- worfen. gangenen Dezember auf die unbefriedigende Situation im Bereich des Pflanzenschutzes hingewiesen und eine Ver- Es kann doch wohl nicht sein, dass uns in Deutschland schlankung des EU-Vorgehens eingefordert. Hier muss aufgrund besonderer Anwendungsbestimmungen und insbesondere darauf hingewirkt werden, dass das von der Auflagen in weiten Bereichen des integrierten Obst-, EU angelegte Verfahren vereinfacht, verkürzt und von un- Wein- und Gemüsebaus wichtige Pflanzenschutzmittel effektiver Doppelarbeit befreit wird. Zudem müssen die mit nützlingsschonenden Eigenschaften nicht mehr zur noch immer unterschiedlichen Mess- und Prüfanforde- Verfügung stehen. Diese Situation belastet unsere Obst-, rungen in den einzelnen Ländern angeglichen werden. Es Wein- und Gemüsebaubetriebe schwer, weil sie so ihre stellt sich in diesem Zusammenhang beispielsweise die nützlingsschonende Anbauweise nicht mehr durchführen Frage, ob ein Stoff, der im andalusischen Baumwollanbau können. Dadurch wird der Verbraucher das Vertrauen ver- eingesetzt wird, unbedingt auch unter schwedischen Ein- lieren und deshalb werden über Jahre hinweg aufgebaute satzbedingungen geprüft werden muss. Absatzwege zerstört. Bei der ganzen Problematik müssen wir natürlich auch sehen, dass es nicht nur um den Anbau Insgesamt besteht dringender Handlungsbedarf, der ja von einigen Sonderkulturen geht; letztlich – wenn hier auch von der Bundesregierung und Vertretern der Koali- nicht rasch Lösungen gefunden werden – wird es auch um tion mehrfach bestätigt worden ist. Deshalb muss ich Sie die Frage gehen, ob wir unsere Kulturlandschaft, die ja sicher nicht um Zustimmung zu unserem Antrag bitten. besonders in den Gegenden mit Sonderkulturen beson- Sie haben längst selbst erkannt, dass Sie im Interesse der ders reizvoll ist, erhalten können. deutschen Landwirtschaft hier Ihre Unterstützung geben müssen. Der Hopfenanbau prägt in ganz besonderem Maße die Landschaft, mit ihm ist auch eine traditionsreiche Kultur verbunden. Ich will deshalb nachfolgend auf die Pflan- (CDU/CSU): Mit unserem Antrag „Zulas- Albert Deß zenschutzprobleme beim Hopfenanbau zu sprechen kom- sung von Pflanzenschutzmitteln auf nationaler und EU- men. Die Hopfenanbauer haben nämlich große Sorge, Ebene beschleunigen“ tragen wir der Tatsache Rechung, dass gegen die wichtigsten Krankheiten und Schädlinge dass es derzeit in Deutschland gravierende Probleme bei bei Hopfen nur eine sehr begrenzte Mittelpalette zur Ver- der Verfügbarkeit und der Anwendung von Pflanzen- fügung steht bzw. zum Teil nur ein Mittel zugelassen ist. (B) schutzmitteln gibt. Die Ursachen dafür sind bekannt: (D) Daraus erwächst natürlich die ernsthafte Gefahr der Re- Erstens. Mit der Verabschiedung der EWG-Richtlinie sistenzbildung, so vor allem bei Blattläusen und beim 91/414-EWG vom 15. Juli 1991 hatte man sich zum Ziel Mehltau. Darüber hinaus gibt es Schwierigkeiten da- gesetzt, die Zulassung von Pflanzenschutzmittel-Wirk- durch, das Hopfen, der nach den USA ausgeführt wird, stoffen EU-weit zu harmonisieren. Dieses Vorhaben nur mit Pflanzenschutzmitteln behandelt werden darf, die sollte bis zum Jahre 2003 abgeschlossen sein. In Wirk- eine so genannte USA-Import-Toleranz besitzen, aber lichkeit sind aber bis heute lediglich zwei von 800 alten, auch gleichzeitig bei uns in Deutschland zugelassen sind. das heißt vor dem 27. Juli 1993 zugelassenen Wirkstof- Ich will berichten, was ein Vertreter von Anheuser- fen in dem vorgesehenen Anhang 1 der Richtlinie aufge- Busch, der weltgrößten Brauerei, die deutlich mehr Bier nommen. produziert als alle deutschen Brauereien zusammen, auf Zweitens. Mit der Novellierung des deutschen Pflan- einem parlamentarischen Abend zu der Pflanzenschutz- zenschutzgesetzes vom 1. Juli 1998 sind gemeinschaftli- problematik gesagt hat. Er hat darauf hingewiesen, dass che Vorschriften in nationales Recht übernommen wor- Anheuser-Busch als großer Einkäufer von Hopfen bei der den. Dies wird dazu führen, dass ab 2001 statt der vormals Qualität nie Kompromisse machen und immer schöne, gültigen Verkehrszulassung von Pflanzenschutzmitteln saubere Hopfen verlangen werde. Den werden sie aller- dann eine Zulassung mit Festsetzung von Anwendungs- dings dort kaufen, wo sie ihn bekommen können; dafür gebieten gilt, allgemein bekannt unter dem Stichwort „In- bezahlen sie auch sehr gutes Geld. Zum Z weiten wies er dikationszulassung“. Dies wird bei Nichtstun zweifellos darauf hin, dass eine große Brauerei keine großen Risiken große Anwendungslücken bringen. eingehen kann, sie braucht Verlässlichkeit; deshalb kau- fen sie Hopfen auf Vorvertragsbasis zwei Jahre in die Zu- Das neue Pflanzenschutzgesetz hatte aber auch dem kunft. Dieser Hopfen muss natürlich auch dann wirklich Umweltbundesamt eine erweiterte Kompetenz innerhalb verfügbar sein. des Zulassungsverfahren zugebilligt. Den neuen Aufga- benzuwachs hat das UBA wohl mit etwas zu viel Eifer ge- Das heißt für unsere Hopfenanbauer, dass es für sie un- nutzt. Die Folge war eine scharfe Auslegung der Umwelt- tragbar ist, wenn sie Jahr für Jahr darum bitten und betteln kriterien durch das UBA: spezifische Toxizität hinsicht- müssen, dass ihnen genügend Pflanzenschutzmittel zur lich von Lebewesen im Wasser, zum Beispiel Wasserfloh Verfügung stehen. Hopfen wächst von Anfang Mai bis oder Nicht-Zielpflanzen; daraus folgende FestsetzungEnde Juni 7 Meter hoch, am Tag bis zu 30 Zentimeter, von Mindestabständen zum nächsten Wasserlauf bzw. zur deshalb ist die Pflanzenschutzbedürftigkeit bei Hopfen nächsten Kultur. Der Schuss ging aber nach hinten los. Er- weit höher als bei anderen Kulturen. Man muss auch wis- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9725

(A) sen, dass die deutschen Hopfenpflanzer heute noch nach schaft kommen. Wenn Minister Funke immer wieder for- (C) USA mehr als 20 Prozent der Aromahopfen, die hier bei dert, dass die deutsche Landwirtschaft wettbewerbsfähig uns erzeugt werden, importieren. wird, ist er auch gefordert, alles zu unternehmen, um die deutsche Landwirtschaft nicht einseitig zu benachteili- Die Hopfenpflanzer haben in der Vergangenheit von gen. sich aus schon viel getan, um die Probleme beim Pflan- zenschutz in den Griff zu bekommen. Durch die Ein- führung des Warndienstes für Peranospera wurde erreicht, Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): An die dass heute nicht wie früher 20-mal im Jahr mit Kupfer- Zulassung von Pestiziden müssen folgende Anforderun- mitteln gespritzt wird, sondern nur noch drei- oder vier- gen gestellt werden: Sie muss Sicherheit für Verbraucher, mal. Dazu kommt die Einführung von Schadschwellen Anwender und Umwelt garantieren. Sie muss transparent und der Anbau von resistenten Sorten. Dies alles kann und überprüfbar sein. Sie muss den neuesten Stand der aber auf Dauer nicht eine möglichst breite Palette von Technik gewährleisten. Sie muss anwendungsbezogen Pflanzenschutzmitteln ersetzen, aus denen je nach Bedarf und problemgerecht sein. Und sie muss zeitnah Pla- ausgewählt werden kann und bei denen auch die Entste- nungssicherheit herstellen. hung von Resistenzen mitbedacht wird. Der CDU-Antrag beschäftigt sich ausschließlich mit Es ist also dringend notwendig, dass wir beim Hop- dem letzten Aspekt. Aber auch hier gilt: Qualität ist wich- fenanbau zu flexibleren Lösungen bei der Zulassungtiger als Geschwindigkeit. Die Überprüfung und Harmo- kommen, ebenso wie bei Obst, Wein oder Gemüse und für nisierung der Pestizidzulassungen in der EU sind aus ge- den gesamten Pflanzenbau in Deutschland. Die ganzen sundheitspolitischen, ökologischen und Wettbewerbs- Probleme sind natürlich auch bei der Politik aufgelaufen, gründen längst überfällig, und es ist gut, dass sie jetzt was wir zum Anlass genommen haben, alle Verantwortli- angegangen werden. Die hohen Anforderungen an die chen und Betroffenen seitens der Zulassung an einenEU-Wirkstoffprüfung dürfen nicht unterminiert werden. Tisch zu bringen. Es hat in der Vergangenheit dazu meh- rere Gespräche gegeben, auch der Agrarausschuss hat sich Die entsprechende Richtlinie des Rates 91/414/EWG damit beschäftigt. Ein deutliches Signal ist auch von der datiert vom 15. Juli 1991. Am 4. Mai 2000 fiel der Agrarministerkonferenz ausgegangen. Erfreulicherweise CDU/CSU-Fraktion auf, dass die Verfahren beschleu- hat beim UBA als Einvernehmungsbehörde ein gewisses nigt werden sollen. Am 5. Mai 2000 dämmerte auch der Umdenken stattgefunden. Man hat wohl eingesehen, dass F.D.P. diese Erkenntnis. Dazwischen lagen acht Jahre man mit der eingeschlagenen Strategie der Umweltbe- CDU/CSU/F.D.P.-Regierung. Die gesamte Gesetzeslage wertung der Landwirtschaft und letztlich auch dem Um- ist heute dieselbe wie vor dem Regierungswechsel (B) weltschutz einen Bärendienst erweist. Man hat sich in- 1998. Was hat die alte Bundesregierung denn für eine (D) zwischen dazu durchgerungen, die Aquatox-Kriterien – Beschleunigung der Verfahren getan? Was wollen Abstand zu Wasserläufen – in Anpassung an die landwirt- CDU/CSU und F.D.P. nun? schaftliche Praxis zu verringern. Man steht zurzeit unmit- Sehen wir uns die Vorschläge von CDU/CSU und telbar davor, die nützlingsschonenden Mittel wieder zu- F.D.P. im Einzelnen an: Auf nationaler Ebene sollen die zulassen. Dies ist zweifellos ein Erfolg, auf diesem Weg rechtlichen und administrativen Voraussetzungen für die muss weitergegangen werden. weitere Verwendung von Pflanzenschutzmitteln geschaf- Ebenso müssen wir die anderen Wege der Beschleuni- fen werden, die im integrierten Anbau – auch von Son- gung der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln nutzen, derkulturen – benötigt werden. Das hört sich ganz so an, die wir in unserem Antrag beschrieben haben. Ich fordere als ob wir in Deutschland bisher im rechts- und behör- dabei die Bundesregierung auf, besonders das schnells- denfreien Raum leben würden. tens zu tun, was in ihrer eigenen Macht steht und die Pflanzenschutzverordnung im Sinne des Antrages von Selbstverständlich ist es eine gewaltige Aufgabe für die Niedersachsen entsprechend zu ändern. EU-Behörden, alle der über 800 zugelassenen Wirkstoffe vor dem Hintergrund des neuesten Standes von Wissen- In dem Wissen, dass aufgrund der Bevölkerungsent- schaft und Technik neu zu prüfen. Aber zwischenzeitlich wicklung weltweit in den nächsten 25 Jahren die Erträge leben wir ja nicht im pestizidfreien Raum. Ganz im Ge- der wichtigsten Nahrungspflanzen um 50 Prozent gestei- genteil: Die Bundesbehörden haben bisher noch in jedem gert werden müssen, hat der Pflanzenschutz eine heraus- Fall so gehandelt, dass die wichtigsten Indikationslücken ragende Bedeutung. Gerade der integrierte Pflanzen-geschlossen werden konnten. Und der Europäische Ver- schutz mit dem gezielten Einsatz von Pflanzenschutzmit- band der Pestizide herstellenden Industrie, ECPA, hat be- teln nach dem Motto „So wenig wie möglich, so viel wie reits erklärt, dass nur noch an 220 Wirkstoffen Interesse nötig“ erfordert eine breite Palette von Wirkstoffen. Die besteht. Das wird den Anhang der EU-Richtlinie verkür- CDU/CSU-Fraktion gibt der Bundesregierung und dem zen, die künftige Anwendung übersichtlicher machen, an- Bundeslandwirtschaftsminister Rückendeckung, sichdererseits die der Landwirtschaft zur Verfügung stehen- dafür einzusetzen, dass auch in nächster Zeit ein breites den Mittel erheblich einschränken. Angebot von Wirkstoffen zur Verfügung steht, um mit dem geringstmöglichen Aufwand Pflanzenschutz auch im Erschwert wird die Situation in einigen Sonderkulturen Sinne der Agenda 21 zu ermöglichen. Auf keinen Fall darf dadurch, dass eine immer stärker auf immer weniger Kon- es durch nationale Einschränkungen und Auflagen zu ei- zerne konzentrierte Pestizidindustrie ihre Ausrichtung im- ner einseitigen Benachteiligung der deutschen Landwirt- mer stärker auf die weltweiten Märkte ausrichtet. Da ist 9726 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

(A) mangels Gewinnaussichten immer Platz für die aufwen- ein; das ist doch unser ureigenstes Anliegen. Es ist schön, (C) dige Entwicklung von speziellen Mitteln für den schma- dass auch die F.D.P. sich jetzt dafür engagiert. Wie sie al- len Einsatzbereich in Sonderkulturen. lerdings aus den Bemühungen der Bundesregierung um eine Verbesserung der EU-Wasserrichtlinie ein Verbot für Die beteiligten Bundesbehörden – BBA und UBA – ar- den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln und gar für „jegli- beiten intensiv daran, auch in Zukunft eine hinreichende ches menschliches Handeln“ herausliest, lässt an ihrer Verfügbarkeit von geeigneten Pestiziden zur Sicherstel- umweltpolitischen Kompetenz allerdings arge Zweifel lung der Lebensmittelproduktion in allen Bereichen in aufkommen. ausreichender Menge und gewünschter Qualität abzusi- chern. Wir setzen darauf, dass auch die zuständigen Län- Fazit: Die Anträge von CDU/CSU sind überflüssig und derbehörden, die landwirtschaftlichen Berufsverbände rückwärts gewandt, weil die darin gemachten Vorschläge und die Pestizidproduzenten alles dafür tun werden, glei- weder Verbraucher, noch Landwirtschaft, noch Umwelt chermaßen den Pflanzenschutz, den Umweltschutz und nutzen. Sofern sie berechtigte Problemstellungen anspre- den Verbraucherschutz sicherzustellen. chen, werden diese bereits von der Bundesregierung und den zuständigen Behörden adäquat und so gut wie derzeit Als Problem wird angesehen, dass Deutschland bei der möglich gelöst. Umsetzung harter Kriterien an die Pestizide heute schon weiter ist als andere EU-Staaten. Darin sehen einige einen Wettbewerbsnachteil. Mittelfristig ergibt sich aber daraus Marita Sehn (F.D.P.): Die Deutschen wollen den Was- ein Vorteil, wenn wir schon da sind, wo andere erst hin- serfloh schützen, sodass – ginge es nach Jürgen Trittin – kommen. Und kurzfristig werden alle Lücken über Indi- deutsche Landwirte notfalls ganz auf den Einsatz von kationszulassungen geschlossen, sodass unter dem Strich Pflanzenschutzmitteln verzichten müssten. Offensichtlich Vorteile für Verbraucher und Umwelt und keine gravie- wird der Wasserfloh von Franzosen und Niederländern – renden Nachteile für die Landwirtschaft entstehen. für uns Deutsche geradezu unvorstellbar! – nicht als eine „Frage der nationalen Sicherheit“ eingestuft. Anders ist es Der Ball für eine Beschleunigung liegt zurzeit aber bei nicht zu erklären, dass in Frankreich und den Niederlan- der Industrie. Sie verfügt über die nötigen Informationen den das seit fast einem Jahrzehnt in Deutschland aus dem und kann die Ressourcen zur Verfügung stellen, wenn ihr Verkehr gezogene Atrazin immer noch im Pflanzenschutz wirklich an schnelleren Verfahren gelegen ist. Die Zulas- eingesetzt wird. sungsverfahren werden immer wieder dadurch erschwert, dass unvollständige Anträge ohne die notwendigen wis- Was nicht ganz so ernst gemeint ist, hat doch einen senschaftlichen Unterlagen eingereicht werden. So wird wahren Kern: Wenn fast zehn Jahre nach Verabschiedung ein langwieriges Zulassungsverfahren zur sich selbst er- der EU-Richtlinie zum „Inverkehrbringen von Pflanzen- (B) füllenden Prophezeiung. Eine vorzeitige Verlängerung schutzmitteln“ in Europa solche Harmonisierungsdefizite (D) des „Altwirkstoffprogramms“, wie von der CDU/CSU herrschen, zeigt das, wie weit wir von einer wirklichen und F.D.P. jetzt vorgeschlagen, wirkt hier nur kontrapro- Harmonisierung in Europa entfernt sind. Es ist etwas faul duktiv und behindert notwendige Innovationen. im Staate Europa! Für das Problem schnellstmögliche Verfahren und Pla- Im Pflanzenschutz müssen die deutschen Landwirte nungssicherheit für die Wirtschaft einerseits und regel- ungerechtfertigte Wettbewerbsnachteile hinnehmen. Die mäßige Anpassung der Zulassung an den Stand von For- F.D.P. wird mit ihrer Großen Anfrage und ihrem Antrag schung und Technik für größtmögliche Sicherheit fürzum Pflanzenschutz dafür sorgen, dass dieser untragbare Mensch und Umwelt und effiziente Anwendung im Pflan- Missstand endlich behoben wird. Daher begrüßen wir die zenschutz andererseits gibt es keine Patentlösung. Die hat Initiative von Bundeslandwirtschaftsminister Karl-Heinz auch der Bundesrat nicht. BBA und UBA sowie die zu- Funke ausdrücklich. Allerdings werden wir sehr genau ständigen Ministerien sind dabei, eine praxistaugliche darauf achten, dass die großen Versprechen, die der Land- Strategie zu formulieren, die all diesen berechtigten Inte- wirtschaftsminister anlässlich der Internationalen Grünen ressen gerecht wird. Woche gegeben hat, tatsächlich eingelöst werden. Damit wir im Pflanzenschutz endlich einen Schritt vorwärts Unser Ziel ist es, die Probleme des Pflanzenschutzes kommen, müssen wir den Blick nach vorne richten. Die möglichst durch biologische und ökologisch verträgliche Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Ministern und Wirkstoffe und Verfahren zu lösen. Nur ein Pflanzen-dem zuständigen Umweltbundesamt, UBA, sowie der schutz, der mit der Natur und nicht gegen sie wirkt, ist für Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirt- uns langfristig zukunftsfähig. Gerade der ökologischeschaft, BBA, gehören hoffentlich der Vergangenheit an. Landbau, der trotz aller Probleme erfolgreiche Wege für Die in diesen Tagen erfolgte Zulassung des Wirkstoffs eine ökologische Produktion qualitativ hochstehender ge- Plantomycin durch die BBA ist sehr zu begrüßen. Weitere sunder Produkte aufgezeigt hat, ist dafür ein Modell, das Schritte in diese Richtung müssen dringend erfolgen, um wir weiterhin unterstützen. Wir haben ein Bundesfor-insbesondere die dramatischen Lücken im Bereich der schungsinstitut Ökologischer Landbau und andere For- Sonderkulturen zu schließen. Diese Entwicklung war je- schungsvorhaben initiiert, die ökologische Lösungen für doch nur möglich, weil die Mitglieder des Ernährungs- den Pflanzenschutz weiterentwickeln. ausschusses immer wieder auf Gespräche zwischen den Präsidenten von UBA und BBA gedrängt haben. Am Schluss noch zwei Sätze zum F.D.P.-Antrag. Selbstverständlich setzen wir uns vehement für den Im Interesse unserer Landwirte müssen wir diesen er- schnellstmöglichen Ausstieg aus der TBT-Verwendung folgversprechenden Weg weitergehen. Ansonsten wird es Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9727

(A) für die deutschen Produzenten, vor allem bei den Sonder- eine unbeantwortete Große Anfrage. Ohne die Antwort(C) kulturen im Obst-, Gemüse-, Wein- und Hopfenanbau, der Bundesregierung ist eine Debatte zur Großen Anfrage Jahr für Jahr Probleme im Pflanzenschutz geben. Dem kaum mit Erfolg zu führen. Außerdem ist für uns schwer schleichenden Verlust von Marktanteilen wegen fehlen- nachzuvollziehen, warum von der Zulassung von Pflan- der zugelassener Pflanzenschutzmittel muss endlich ein zenschutzmitteln die Zukunft der deutschen Landwirt- Riegel vorgeschoben werden. schaft abhängen soll. Ich halte es auch für eine Illusion, Die bisherige Harmonisierung der so genannten Alt- dass meine Vorredner mit ihren Beiträgen Punkte im wirkstoffe ist aus agrar-, umwelt- und europapolitischer Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen gesammelt haben. Sicht ein glatter Fehlschlag mit verheerenden Folgen für In der bisherigen Debatte war viel von Wettbewerbs- unsere Landwirte. Heute sind von über 800 auf dem Prüf- fähigkeit, Harmonisierung, bürokratischen Hindernissen stand stehenden Substanzen lediglich zwei abschließend und Versagen der Regierung die Rede. Die Probleme des beurteilt worden. Wie soll denn die Bewertung der restli- Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln für Umwelt und Ver- chen über 800 Substanzen in nicht einmal zwei Jahren ge- braucher spielten nur am Rande eine Rolle. Es wurde ver- lingen? In dieser Frage muss schnellstens ein Beschluss sucht, den Eindruck zu erwecken, als ob vom Einsatz von des EU-Ministerrates zur Änderung der entsprechenden Pflanzenschutzmitteln das Wohl und Wehe der Landwirt- EU-Richtlinie erwirkt werden, damit die Frist für die Zu- schaft abhinge. Dabei ist es noch gar nicht so lange her, lassung um drei Jahre verlängert wird. dass landwirtschaftliche Produktion ohne die Vielzahl Für den integrierten und umweltschonenden Pflanzen- dieser Mittel möglich war und in vielen Ländern noch im- schutz ist die Verfügbarkeit selektiver und nützlingsscho- mer möglich ist. nender Pflanzenschutzmittel unabdingbar. Durch den Auch in Deutschland wächst die Zahl derer, die auf den Einsatz von modernen Pflanzenschutzmittelwirkstoffen Einsatz von Pflanzenschutzmittel ganz verzichten oder konnte der Wirkstoffaufwand je Hektar von 1988 bis 1998 verzichten wollen. Der Hunger auf der Welt kann nicht von 3,1 auf 1,9 Kilogramm verringert werden. Solch in- durch die Vergiftung der Umwelt und der Nahrungsmittel novative Pflanzenschutzmittel entfalten ihre Wirksamkeit bekämpft werden. Die Umweltbelastung daran zu mes- in erheblich geringeren Mengen und sind außerdem bio- sen, wie viel Kilogramm Pflanzenschutzmittel je Hektar logisch besser abbaubar. Für einen umweltschonenden ausgebracht werden, ist einfach grotesk. Pflanzenschutz müssen möglichst spezifisch gegen den jeweiligen Schadorganismus wirkende Mittel zur Verfü- Wo die Probleme tatsächlich liegen, möchte ich ihnen gung stehen. Gleichzeitig müssen Nützlinge verschont an einigen Beispielen über die Arbeit des deutschen Che- werden, da sie zur Regulierung der Schädlinge beitragen. miekonzerns Bayer AG deutlich machen: Deshalb müssen die modernen Pflanzenschutzmittel ein Gaucho ist das meistverkaufte Pestizid des Unterneh- (B) breites zugelassenes Einsatzspektrum haben. Natürlich ist mens Bayer (weltweiter Umsatz: 460 Mio. Euro). Der(D) in erster Linie die Pflanzenschutzmittelindustrie gefor- Wirkstoff von Gaucho, Imidacloprid, wird in Deutschland dert. Allerdings hat die Politik die Aufgabe, die notwen- unter dem Namen Confidor vertrieben. Das Spritzmittel digen marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu set- wird für das Absterben von 40 Prozent aller französischen zen. Ansonsten schrecken eine übermäßige Bürokratie so- Bienenvölker während der vergangenen 5 Jahre verant- wie die damit verbundenen Kosten die Wirtschaftwortlich gemacht. Deshalb nahm das französische Land- zumindest von einem Engagement bei Sonderkulturen ab. wirtschafts-Ministerium am 15. Januar 1999 die Zulas- Sie wird sich dann auf einige wichtige große Kulturen sung des Pestizids zurück. Das Unternehmen Bayer klagte konzentrieren. Wenn wir eine wettbewerbsfähige Land- vor dem höchsten französischen Verwaltungsgericht – wirtschaft und vor allem die verschiedenen Sonderkultu- umsonst. Im Januar 2000 bestätigte der französische ren in Deutschland erhalten wollen, müssen wir auf na- Staatsrat das Verbot bis auf weiteres. Es ist nicht bekannt, tionaler und europäischer Ebene schnell und entschlossen welche Konsequenzen die deutschen Zulassungsbehör- handeln. den aus der Gefährlichkeit von Imidacloprid gezogen ha- Beim Abbau der Wettbewerbsverzerrungen wird die ben. F.D.P. die Bundesregierung unterstützen. Was allerdings Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO nicht geht, ist, die überzogenen Umweltstandards hier in erleiden jährlich Millionen Menschen schwere Pestizid- Deutschland zu kritisieren und gleichzeitig in Europa ge- Vergiftungen. Mindestens 40 000 Fälle verlaufen tödlich. nau diese Entwicklung weiter zu forcieren. Auf europä- Die Bayer AG hat vor vielen Jahren angekündigt, die ge- ischer Ebene schießen SPD und Grüne bei der EU-Was- fährlichsten Pestizide weltweit vom Markt zu nehmen. serrahmenrichtlinie weit über das Ziel hinaus. Das Vor- Dieses Versprechen wurde nicht eingehalten. Noch heute sorgeprinzip darf auch beim Gewässerschutz nicht dazu verkauft Bayer Wirkstoffe, die von der WHO als „extrem missbraucht werden, dass über die Einführung einer gefährlich“ bezeichnet werden. „Nullemission“ jegliches menschliche Handeln praktisch unmöglich gemacht wird. Abschließend fordere ich des- Am 22. Oktober 1999 wurden 22 Kinder in Peru mit halb Rot-Grün nachdrücklich auf, auch auf europäischer Parathion tödlich vergiftet. Parathion wird in Peru ohne Ebene wieder zu einer realistischen und ausgewogenen Kontrolle auf den Märkten verkauft. In Deutschland ver- Politik zurückzufinden. kauft Bayer das Pestizid unter dem Namen E 605. In Brasilien wurden Hunderte von Kaffeebauern durch Kersten Naumann (PDS): Wir sind heute in einer ei- das Pestizid Baysiston geschädigt, zwölf Fälle verliefen genartigen Situation. Zur Debatte steht ein Antrag und tödlich. Alleiniger Hersteller von Baysiston ist Bayer. 9728 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

(A) Spanische Paprika waren so stark mir dem Pestizid Drs. 14/2300 nach. Daraus nur ein Zitat: „Der Stellenwert (C) Methamidophos belastet, dass sie vernichtet werdenumweltbezogener Gesundheitsforschung in der medizini- mussten. Hersteller des Wirkstoffs ist Bayer. schen Forschung insgesamt ist zu gering“. Das Landesumweltamt NRW fand im Abwasser des Ich wünsche ihnen allen eine gute Gesundheit. Bayer-Werks Dormagen die Pestizide Diuron, Metabenz- thiazuron und Triadimefon. Dr. Gerald Thalheim (Parl. Staatssekretär beim Bun- Statt Anträge und Anfragen zu stellen, wie der Einsatz desminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten): von gesundheitsschädlichen Pflanzenschutzmitteln ver- Die Bundesregierung verfolgt auch im Agrarbereich hindert und der zugelassener weiter reduziert werdendas Ziel, Umweltbelastungen zu reduzieren. Im Pflanzen- kann, sind sich CDU/CSU und F.D.P. darin einig, dass die schutz bedeutet das vor allem, integrierte Verfahren anzu- „nationalen Anforderungen an die Zulassung nicht über wenden. Das heißt, die Anwendung von Pflanzenschutz- die entsprechenden EU-Bestimmungen hinausgehen“mitteln wird abhängig vom tatsächlichen Krankheits- und dürfen. Schädlingsauftreten auf die Fälle konzentriert, bei denen es keine Alternativen gibt, bei denen ohne Anwendung Diese EU-Bestimmungen sind ein Kompromiss zwi- chemischer Präparate nicht hinnehmbare Qualitäts- und schen den Interessen der Chemiekonzerne, der Verbrau- Ertragseinbußen eintreten würden oder bei denen die scher und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der EU- Ernte unverhältnismäßig erschwert würde. Mitgliedsländer. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik und damit verbunden das Umweltbe- Besonders im integrierten Anbau ist eine breite Palette wusstsein ihrer Bürger ist besonders hoch. Sie hat deshalb von Präparaten für die einzelnen Anwendungsgebiete not- die große Chance, eine Vorreiterrolle bei einem ökologi- wendig, um Resistenzen vorzubeugen. Gerade das wird in schen Umbau der Agrarproduktion zu spielen. Die EU- jüngster Zeit infrage gestellt, weil unter anderem für Spe- Verträge kennen mit gutem Recht das Subsidiaritätsprin- zialkulturen immer weniger Präparate zugelassen sind zip. Dänemark wendet es zum Beispiel an, indem es den bzw. frühere Zulassungen auslaufen und Folgeanträge Stickstoff besteuert. Deutschland kann nicht untersagt nicht gestellt werden. werden, beim Pflanzenschutz strengere Maßstäbe anzule- gen als in den übrigen EU-Mitgliedsstaaten. Mit ihrem Antrag fordert die Fraktion der CDU/CSU die Bundesregierung zum Handeln auf, ohne dass der Nur durch eine solche Politik kann eine höheres Ni- Sachverhalt richtig dargestellt wird, geschweige denn ge- veau bei einem umweltverträglichen Pflanzenschutz er- eignete Empfehlungen gegeben werden. Das betrifft im reicht werden. Die ausgewählten Beispiele von „An- Prinzip auch den Antrag der F.D.P. wendungslücken im Pflanzenschutz“ haben nicht unver- (B) zichtbar den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln zur So wird im Antrag der CDU/CSU die so genannte In- (D) Konsequenz. dikationszulassung problematisiert und Kritik an dem Stand der Harmonisierung auf EU-Ebene geübt. Wie so Pflanzenschutz ist auch ohne Pflanzenschutzmitteloft hilft auch hier ein Blick ins Gesetz oder – noch kon- möglich, wenn man auf andere Weise gegen die Ursachen kreter – in die Richtlinie. Mit der Zustimmung der dama- von Pflanzenerkrankungen vorgeht, zum Beispiel durch ligen CDU/CSU-geführten Bundesregierung ist 1991 mit Wiedereinführung bewährter Fruchtfolgen. der Richtlinie 91/414 folgendes für die EU verbindlich Der Einsatz von Pflanzenschutzmittel ist die Strategie festgeschrieben worden: 1. Einführung der Indikationszu- des Kampfes gegen die Natur. Was wir brauchen ist eine lassung, 2. Überprüfung der Altwirkstoffe nach EU-ein- Strategie, wieder im Einklang mit der Natur zu leben und heitlichen Kriterien, 3. Harmonisierung der Zulassungs- zu produzieren. Als Politiker sollten wir uns weniger Sor- verfahren. gen um die Profite der chemischen Industrie machen und Es ist also unseriös, die Bundesregierung wegen der mehr überlegen, wie die Leistungen der Landwirtschaft in Indikationszulassung bzw. der schleppenden Umsetzung einer naturgemäßen Weise erbracht werden können. zu kritisieren. Von 1991 bis 1998 ist so gut wie nichts ge- schehen. Erst vor 2 Jahren wurde die EU-Richtlinie in na- In diesem Sinne treten wir allen Versuchen entgegen, tionales Recht umgesetzt. Dadurch ging wertvolle Zeit Abstriche an einem hohen Niveau der Prüfung von Pflan- verloren, um auf EU-Ebene die Altwirkstoffprüfung vo- zenschutzmitteln zu machen und Ausnahmeregelungen ranzutreiben und national die Umstellung auf die Indika- zuzulassen. Wir fordern im Gegenteil eine Agrarpolitik, tionszulassung vorzubereiten. durch die Kalamitätssituationen, auf die nur noch mit Sondergenehmigungen für den Einsatz von Pflanzen- Unmittelbar nach Regierungsübernahme hat sich die schutzmitteln reagiert werden kann, von vornherein ver- rot-grüne Bundesregierung – insbesondere das BML – der mieden werden. Aufgabe gestellt: die Entscheidungen über die Aufnahme der Altwirkstoffe in Anhang 1 der Richtlinie 91/414 auf Ich bin überzeugt, wenn unsere chemischen Analyse- europäischer Ebene zu forcieren und vorrangig die methoden noch besser wären, als sie schon sind, und wir Lücken national zu schließen, die zu erheblichen Wettbe- die tatsächlichen Belastungen der Umwelt und unsere werbsnachteilen für deutsche Landwirte und Gärtner Nahrungsmittel kennen würden, dann würden die Druck- führen. Einzelheiten hierzu können Sie in dem Bericht des sacheneinbringer ihre Papiere sicher zurückziehen. BML über die Situation bei der Zulassung von Pflanzen- Lesen sie dazu bitte noch einmal im Sondergutachten schutzmitteln vom 14. Januar 2000 – Ausschussdrucksa- des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen, BT- che 14/234 – nachlesen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000 9729

(A) Ich möchte von dieser Stelle dem Fachreferat im BML werden und alle Zulassungen für diese Mittel zurückge- (C) und der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forst- zogen werden müssen. Die Kommissionsverordnung zur wirtschaft dafür danken, dass es bereits gelungen ist, mehr Überprüfung der alten Wirkstoffe sieht hierfür vorüberge- als 200 der insgesamt 313 prioritären Lücken hende zu Maßnahmen vor. schließen. Drittens. Im Rahmen eines Memorandums soll die Wir sind uns sehr wohl bewusst, dass trotz der erheb- Kommission gebeten werden, die Punkte 1. und 2. hinrei- lichen Anstrengungen damit nicht alle Probleme gelöst chend zu berücksichtigen und geeignete Vorschläge vor- sind. Aber eine einfache Lösung – wie in dem zulegen. CDU/CSU-Antrag suggeriert – existiert nicht, denn für die vorhandenen Lücken gibt es eine Reihe Gründe, zum Viertens. Wir appellieren an die Industrie, ihre An- Beispiel: Es liegt bei der BBA kein Antrag vor (zum Bei- strengungen auch in den weniger wirtschaftlich interes- spiel „Amidthin“ zur Blütenausdünnung). Oder es liegt santen Kulturen zu erhöhen, um Anträge auf Zulassung bei der BBA kein vollständiger Antrag vor (zum Beispiel und auf Ergänzung von Anwendungsgebieten einzurei- „Dimilin“ gegen Apfelwickler). Oder es sind überhaupt chen. keine geeigneten Pflanzenschutzmittel für den Anwen- Eine generelle Verlängerung der Fristen halte ich nicht dungszweck bekannt (zum Beispiel gegen Kirschfrucht- für hilfreich, da die Überprüfung der alten Pflanzen- fliege). schutzmittel-Wirkstoffe dadurch nur noch weiter hinaus- Trotz erreichter Fortschritte bleibt für die Zukunft noch gezögert wird – und damit auch die Harmionisierung. Das viel zu tun. Seitens der Bundesregierung ist positiv zu würde nicht weniger, sondern mehr Wettbewerbsverzer- werten, dass es zwischen der BBA und dem UBA inner- rungen bedeuten, da die Vorteile, die andere Mitgliedstaa- halb sehr kurzer Fristen gelungen ist, einige schwierige ten durch die Nutzung „alter Zulassungen“ haben, weiter Probleme bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln fortbestehen würden. auszuräumen. Die CDU/CSU-Fraktion hätte besser getan, während Widersprüchlichkeiten im Zulassungsverfahren müs- ihrer Regierungszeit intensiver an der Umsetzung der sen ausgeräumt werden, unverständliche Auflagen für die Richtlinie 91/414 in Deutschland zu arbeiten. Praxis sollen verschwinden und Planungssicherheit für Pflanzenschutzmittel herstellende Firmen – aber auch für Die rot-grüne Bundesregierung hat sich sofort nach die Praxis – soll wieder hergestellt werden. Regierungsübernahme bemüht, die Versäumnisse nachzu- holen. Deshalb kommt der Antrag nicht nur zu spät, son- Im Herbst wird sich die Bundesregierung darüber ver- dern die vorgeschlagenen Maßnahmen sind nur bedingt ständigen, welchen Erfolg die vereinbarten Maßnahmen für eine nachhaltige Problemlösung geeignet. (B) hatten und ob gegebenenfalls zusätzliche Maßnahmen er- (D) forderlich sein werden, um weitere Verbesserungen für Es ist das Ziel der Bundesregierung, durch eine konse- die nächste Saison zu erzielen. quente Umsetzung der Richtlinie und des Pflanzen- schutzgesetzes von 1998 die notwendige Harmonisierung Sie können den Erfolg dieser Maßnahmen bereits heute auf europäischer Ebene zu erreichen, ohne dass die deut- daran ablesen, dass insbesondere für den Obstbau – aber sche Landwirtschaft auf die für sie notwendigen Pflan- auch für andere Kulturen – von der Zulassungsbehörde zenschutzmittel verzichten muss. und den Einvernehmensbehörden gemeinsam getragene Lösungen erarbeitet wurden, die schon in dieser Saison Ich fordere deshalb an dieser Stelle nachdrücklich die wirksam sind. Als Beispiel führe ich nur das „Alte Land“ chemische Industrie auf, ihren Beitrag zu leisten und sich an, für das gemeinsam mit dem Land Niedersachsen ein nicht nur auf einige wenige gewinnträchtige Kulturen zu Weg gefunden wurde, der die Anwendung der erforderli- beschränken. chen Pflanzenschutzmittel und damit auch die Praktizie- Eine zukunftsorientierte Pflanzenschutzmittelanwen- rung integrierter Pflanzenschutzverfahren ermöglicht und dung setzt das Vertrauen der Verbraucher voraus. Die vor- gleichzeitig den erforderlichen Gewässerschutz sicher- geschlagenen Lösungen im Antrag sind eher geeignet, das stellt. Vertrauen der Verbraucher in eine umweltschonende und Daraus sind folgende Schlussfolgerungen zu ziehen: sichere Pflanzenschutzmittelanwendung zu untergraben. Deshalb empfehle ich, den Antrag abzulehnen. Erstens. Eine möglichst schnelle Überprüfung der Alt- wirkstoffe in der EU ist nach wie vor erforderlich, da nur So sehr wie wir uns gegen eine Lockerung wenden, so so die bestehenden Wettbewerbsunterschiede zwischen sehr wenden wir uns auch gegen weitere Verschärfungen, uns und den anderen Mitgliedstaaten beseitigt werden wie sie erst jüngst vom Naturschutzbund Deutschland können. Hier hilft keine Verschiebung von Terminen. veröffentlicht wurden. Zweitens. Dies hat – bezogen auf die Entscheidungen – Vor allem offenbaren die Autoren die mangelnden gleichzeitig so behutsam zu erfolgen, dass die landwirt- Kenntnisse der bereits heute geltenden Vorschriften im schaftliche Praxis nicht unnötig durch neue große Lücken Rahmen der guten fachlichen Praxis. So gehört es bereits belastet wird. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn, heute zur guten fachlichen Praxis, dass die Anwendung allein gestützt auf theoretische Risikoberechnungen, not- von Pflanzenschutzmitteln ab einer Geschwindigkeit wendige Pflanzenschutzmittelwirkstoffe die Prüfungen von mehr als 5 m/s und bei Temperaturen über 25°C un- nicht überstehen oder von der Industrie nicht „verteidigt“ terbleiben sollte, dass ausreichende Sicherheitsabstände, 9730 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 103. Sitzung. Berlin, Freitag, den 12. Mai 2000

(A) zum Beispiel zu gefährdeten Lebensräumen und Ober- Anlage 5 (C) flächengewässern, einzuhalten sind und dass Antitriftdü- sen zu verwenden sind. Amtliche Mitteilungen

Zum Verbot der flächenhaften Anwendung von Pflan- Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit- zenschutzmitteln auf Grünland ist zu sagen, dass, abgese- geteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU-Vorla- hen von Ausnahmen – Tipula-Arten und Feldmäusen –, gen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parla- ohnehin keine Ganzflächenbehandlung mehr vorgenom- ment zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung men wird. abgesehen hat. Zum Fazit: Die Zielrichtung des Antrages der Innenausschuss CDU/CSU-Fraktion unterstütze ich. Die vorgeschlagenen Drucksache 14/1936 Nr. 1.17 Maßnahmen eignen sich jedoch nicht für eine nachhaltige Finanzausschuss Problemlösung. Der Antrag ist daher abzulehnen, sodass Drucksache 14/2609 Nr. 1.18 die Bundesregierung ihren Weg zielstrebig weiterverfol- Drucksache 14/2747 Nr. 2.36 gen kann. Drucksache 14/2747 Nr. 2.39 Drucksache 14/2817 Nr. 1.1 Dies gilt gleichermaßen auch für die Forderung der Drucksache 14/2817 Nr. 2.6 Drucksache 14/2817 Nr. 2.16 F.D.P., sich für den Ausstieg aus der Verwendung von Drucksache 14/2817 Nr. 2.18 TBT einzusetzen. Auch hier hat die Bundesregierung, Drucksache 14/2952 Nr. 2.13 wenn Sie den Sachstand richtig analysieren, keinen Nach- Drucksache 14/3050 Nr. 2.8 holbedarf, sodass die Forderung ins Leere geht. Drucksache 14/3050 Nr.2.16 Haushaltsausschuss Im Antrag der F.D.P. wird auch die Wasserrahmen- Drucksache 14/2747 Nr. 2.43 richtlinie angesprochen. Nach dem derzeitigen Stand der Drucksache 14/2747 Nr. 2.49 Verhandlungen der Wasserrahmenrichtlinie steht an kei- Drucksache 14/2817 Nr. 2.2 ner Stelle des Richtlinienentwurfs die Forderung nach ei- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft ner „Nullemission“, welche die Anwendung von Pflan- und Forsten zenschutzmitteln verbieten würde. Vielmehr soll die Drucksache 14/2609 Nr. 1.10 Wasserrahmenrichtlinie dazu beitragen, eine gute Ge- Drucksache 14/2747 Nr. 2.24 wässerqualität und eine wesentliche Verminderung der Drucksache 14/2747 Nr. 2.46 anthropogen bedingten Grundwasserverschmutzung zu Drucksache 14/2817 Nr. 2.24 (B) Drucksache 14/2817 Nr. 2.25 (D) erreichen. Dabei sollen nach Verabschiedung der Wasser- Druchsache 14/3050 Nr. 1.3 rahmenrichtlinie auf Vorschlag der Kommission mit Zu- Drucksache 14/3146 Nr. 2.3 stimmung des Rates und des Europäischen Parlaments Drucksache 14/3146 Nr. 2.32 für bestimmte Stoffe, die für die aquatische Umwelt als Ausschuss für die Angelegenheiten der ein nicht akzeptables Risiko angesehen werden, europa- Europäischen Union weit Beschränkungen oder Verbote ausgesprochen wer- Drucksache 14/2747 Nr. 2.53 den. Für welche Stoffe dies gelten wird, ist derzeit völlig Ausschuss für Kultur und Medien offen. Drucksache 14/1342 Nr. 2.2

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