Plenarprotokoll 16/137

Deutscher

Stenografischer Bericht

137. Sitzung

Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 21: Dr. , Bundesministerin BMBF ...... 14447 D a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und (FDP) ...... 14449 C Technikfolgenabschätzung , Bundesminister BMAS ...... 14450 C – zu dem Antrag der Abgeordneten , , Michael Cornelia Hirsch (DIE LINKE) ...... 14452 C Kretschmer, weiterer Abgeordneter und (BÜNDNIS 90/ der Fraktion der CDU/CSU sowie der DIE GRÜNEN) ...... 14454 A Abgeordneten , Nicolette Kressl, Jörg Tauss, weiterer Abgeord- Ilse Aigner (CDU/CSU) ...... 14455 B neter und der Fraktion der SPD: Junge Patrick Meinhardt (FDP) ...... 14456 C Menschen fördern – Ausbildung schaffen und Qualifizierung sichern Willi Brase (SPD) ...... 14457 D – zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Volker Schneider (Saarbrücken) Hinz (Herborn), Britta Haßelmann, (DIE LINKE) ...... 14459 A Brigitte Pothmer, Josef Philip Winkler und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Perspektiven schaf- DIE GRÜNEN) ...... 14460 B fen – Angebot und Struktur der be- (CDU/CSU) ...... 14461 C ruflichen Bildung verbessern Dieter Grasedieck (SPD) ...... 14462 C (Drucksachen 16/5730, 16/5732, 16/7754) 14447 A Uwe Schummer (CDU/CSU) ...... 14463 B b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Aufstieg durch Bildung – Qualifizie- Jörg Tauss (SPD) ...... 14464 C rungsinitiative der Bundesregierung Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 16/7750) ...... 14447 B DIE GRÜNEN) ...... 14465 B in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 22:

Zusatztagesordnungspunkt 8: a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung zum Stand Antrag der Abgeordneten Patrick Meinhardt, der Bemühungen um Rüstungskon- Uwe Barth, , weiterer Abge- trolle, Abrüstung und Nichtverbreitung ordneter und der Fraktion der FDP: Mehr sowie über die Entwicklung der Streit- Chancen durch bessere Bildung und Quali- kräftepotenziale (Jahresabrüstungsbe- fizierung richt 2006) (Drucksache 16/7733) ...... 14447 C (Drucksache 16/5211) ...... 14467 D II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 b) Beschlussempfehlung und Bericht des h) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Auswärtigen Ausschusses zu dem Ent- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der schließungsantrag der Abgeordneten Paul Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Monika Schäfer (Köln), Monika Knoche, Hüseyin- Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: der Fraktion DIE LINKE zu der Unter- Keine neuen Raketen in Europa – statt- richtung durch die Bundesregierung: Be- dessen Stärkung der globalen Sicherheit richt der Bundesregierung zum Stand durch Rüstungskontrolle und Abrüs- der Bemühungen um Rüstungskon- tung trolle, Abrüstung und Nichtverbreitung (Drucksachen 16/5456, 16/7516) ...... 14468 D sowie über die Entwicklung der Streit- Dr. Rolf Mützenich (SPD) ...... kräftepotenziale (Jahresabrüstungsbe- 14469 A richt 2005) Dr. (FDP) ...... 14470 C (Drucksachen 16/1483, 16/2999, 16/4594) 14468 A Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg c) Beschlussempfehlung und Bericht des (CDU/CSU) ...... 14471 C Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. , Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) ...... 14473 D , Paul Schäfer (Köln), (BÜNDNIS 90/ weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE GRÜNEN) ...... 14476 A DIE LINKE: Abzug der Atomwaffen aus Deutschland Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister (Drucksachen 16/448, 16/4593) ...... 14468 B AA ...... 14477 B d) Beschlussempfehlung und Bericht des (FDP) ...... 14479 C Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag Holger Haibach (CDU/CSU) ...... 14480 C der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Jürgen Trittin, (), (BÜNDNIS 90/ weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE GRÜNEN) ...... 14482 A BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Abrüs- (SPD) ...... 14482 D tung der taktischen Atomwaffen voran- treiben – US-Atomwaffen aus Deutsch- Gert Winkelmeier (fraktionslos) ...... 14484 A land und Europa vollständig abziehen Hans Raidel (CDU/CSU) ...... 14485 A (Drucksachen 16/819, 16/4592) ...... 14468 D Andreas Weigel (SPD) ...... 14486 A e) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried Zusatztagesordnungspunkt 9: Nachtwei, (Köln), weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Antrag der Abgeordneten Jörg Rohde, DIE GRÜNEN: Nuklearen Dammbruch Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. , wei- verhindern – Indien an das Regime zur terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: nuklearen Abrüstung, Rüstungskon- Altersvorsorge für Geringverdiener attrak- trolle und Nichtweiterverbreitung he- tiv gestalten ranführen (Drucksache 16/7177) ...... 14487 D (Drucksachen 16/834, 16/4591) ...... 14468 C Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 14488 A f) Beschlussempfehlung und Bericht des Dr. (CDU/CSU) ...... 14489 D Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 14490 B Dr. Norman Paech, Monika Knoche, wei- Dr. (DIE LINKE) ...... 14492 A terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Keine Unterstützung für die in- (SPD) ...... 14494 A dische Atomrüstung Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) ...... 14494 C (Drucksachen 16/1445, 16/4590) ...... 14468 C Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 14495 B g) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag Jörg Rohde (FDP) ...... 14496 B der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Jörg Rohde (FDP) ...... 14497 B Alexander Bonde, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Gregor Amann (SPD) ...... 14497 C BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zivilbevöl- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ kerung wirksamer schützen – Streumu- DIE GRÜNEN) ...... 14498 B nition ächten (Drucksachen 16/2749, 16/4589) ...... 14468 D Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 14499 D Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 III

Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ (Münster) (FDP) ...... 14518 A DIE GRÜNEN) ...... 14500 A Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU) ...... 14519 A (CDU/CSU) ...... 14500 B Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 14520 C (Heidelberg) (SPD) ...... 14501 D , Bundesministerin BMG . . . . . 14521 D (CDU/CSU) ...... 14503 C (BÜNDNIS 90/ Rolf Stöckel (SPD) ...... 14504 D DIE GRÜNEN) ...... 14523 C (CDU/CSU) ...... 14524 D Tagesordnungspunkt 24: Dr. (FDP) ...... 14525 D Erste Beratung des von der Bundesregierung Elke Ferner (SPD) ...... 14527 A eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Max Straubinger (CDU/CSU) ...... Änderung des Waffengesetzes und weiterer 14528 B Vorschriften Peter Friedrich (SPD) ...... 14529 B (Drucksache 16/7717) ...... 14506 A Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU) ...... 14530 C (CDU/CSU) ...... 14506 B Christian Kleiminger (SPD) ...... 14531 D Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) ...... 14508 A Dr. Carola Reimann (SPD) ...... 14532 C (SPD) ...... 14509 B (DIE LINKE) ...... 14510 D Nächste Sitzung ...... 14533 D (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 14511 C Berichtigungen ...... 14533 D

Tagesordnungspunkt 26: Anlage 1 Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 14535 A schusses für Gesundheit zu dem Antrag der Abgeordneten Frank Spieth, , Dr. , weiterer Abgeordneter und Anlage 2 der Fraktion DIE LINKE: Wiedereinführung Erklärung des Abgeordneten Jan Mücke der vollständigen Zuzahlungsbefreiungen (FDP) zur Abstimmung über die Beschluss- für Versicherte mit geringem Einkommen empfehlung des Auswärtigen Ausschusses: im Wege der Härtefallregelung Keine Unterstützung für die indische Atom- (Drucksachen 16/6033, 16/7435) ...... 14512 D rüstung (Tagesordnungspunkt 22 f) ...... 14536 A Christian Kleiminger (SPD) ...... 14513 A Heinz Lanfermann (FDP) ...... 14514 B Anlage 3 Jens Spahn (CDU/CSU) ...... 14515 B Neuabdruck einer zu Protokoll gegebenen Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 14516 A Rede zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Eintreten für die Beendi- Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ gung der von den USA auferlegten Wirt- DIE GRÜNEN) ...... 14516 D schafts-, Handels- und Finanzblockade gegen Kuba (136. Sitzung, Tagesordnungspunkt 16) Zusatztagesordnungspunkt 10: Heike Hänsel (DIE LINKE) ...... 14536 B Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Gesundheitsfonds stoppen – Bei- Anlage 4 tragsautonomie der Krankenkassen be- wahren Amtliche Mitteilungen ...... 14537 B

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(A) (C) Redetext

137. Sitzung

Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. : Überweisungsvorschlag: Die Sitzung ist eröffnet. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich Auswärtiger Ausschuss begrüße Sie alle herzlich und wünsche uns einen guten Innenausschuss Finanzausschuss Tag und gute Beratungen. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Wir treten sofort in unsere Tagesordnung ein. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und b sowie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung den Zusatzpunkt 8 auf: ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick 21 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Meinhardt, Uwe Barth, Cornelia Pieper, weiterer richts des Ausschusses für Bildung, Forschung Abgeordneter und der Fraktion der FDP und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) (B) Mehr Chancen durch bessere Bildung und (D) – zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Qualifizierung Schummer, Ilse Aigner, Michael Kretschmer, – Drucksache 16/7733 – weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Willi Überweisungsvorschlag: Brase, Nicolette Kressl, Jörg Tauss, weiterer Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Abgeordneter und der Fraktion der SPD Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Junge Menschen fördern – Ausbildung die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Das schaffen und Qualifizierung sichern stößt offenkundig auf große Zustimmung. Dann ist das – zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz so beschlossen. (Herborn), Britta Haßelmann, Brigitte Pothmer, Josef Philip Winkler und der Fraktion BÜND- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst NIS 90/DIE GRÜNEN die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Frau Dr. Schavan. Perspektiven schaffen – Angebot und Struk- tur der beruflichen Bildung verbessern Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil- – Drucksachen 16/5730, 16/5732, 16/7754 – dung und Forschung: Berichterstattung: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Abgeordnete Uwe Schummer Meine Damen und Herren! Das Kabinett hat in seiner Willi Brase Sitzung am 9. Januar die Qualifizierungsinitiative Patrick Meinhardt „Aufstieg durch Bildung“ verabschiedet. Damit sind Cornelia Hirsch folgende Ziele verbunden: erstens die Bildungschancen Priska Hinz (Herborn) zu stärken, zweitens die Durchlässigkeit im Bildungs- system zu erhöhen, drittens die Gleichwertigkeit von be- b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- ruflicher und allgemeiner Bildung zu fördern, viertens gierung jedem Jugendlichen – so haben wir es auch im Koali- tionsvertrag vereinbart – eine Chance auf Schulab- Aufstieg durch Bildung – Qualifizierungsini- schluss und qualifizierte Ausbildung zu geben und tiative der Bundesregierung schließlich fünftens mit den Ländern ein Maßnahmen- – Drucksache 16/7750 – bündel zu vereinbaren, das im Herbst 2008 beim Treffen 14448 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Bundesministerin Dr. Annette Schavan (A) der Regierungschefs von Bund und Ländern verabschie- tisch zentrales Ziel, dass jeder Jugendliche in Deutsch- (C) det werden wird. land zu einem Schulabschluss kommt. Mit der Qualifizierungsinitiative, die in zwei Stufen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) durchgeführt wird, sollen alle Akteure an einen Tisch ge- Über die Gleichwertigkeit von beruflicher und all- bracht werden. Die Initiative der beiden Regierungsfrak- gemeiner Bildung wird in Deutschland seit langem ge- tionen „Jugend – Ausbildung und Arbeit“ vom letzten sprochen. Ich glaube, wir sind uns in diesem Hause ei- Sommer wurde aufgegriffen und in gemeinsamer Ver- nig: Die berufliche Bildung in Deutschland, die duale antwortung des Arbeits- und des Bildungsministeriums Ausbildung, die Zusammenarbeit zwischen Unterneh- in konkrete Maßnahmen umgesetzt. men und Schulen, ist ein Flaggschiff im deutschen Bil- Dieses Maßnahmenbündel, das vom Bund verantwor- dungssystem und einer der zentralen Gründe, warum die tet wird, wird mit den Maßnahmen der Länder zusam- Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland, verglichen mit mengebracht und ist ein wichtiges, ja zentrales Reform- internationalen Werten, deutlich niedriger ist. Das Sys- werk für die zweite Hälfte der Legislaturperiode unter tem der dualen Ausbildung muss gestärkt werden. der Überschrift „Aufstieg durch Bildung“. Denn wir Gleichwertigkeit muss erreicht werden. Wir wollen uns wollen, dass jeder Jugendliche in Deutschland zu Ab- vor allem um diejenigen kümmern, die in den letzten schluss und Qualifikation kommt. Jahren keine Chance bekommen haben. So ist es im In- novationskreis „Berufliche Bildung“ beschlossen wor- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) den. Dort haben wir – genauso wie im Antrag der Regie- Im Einzelnen geht es bei der Initiative um Folgendes: rungsfraktionen – gesagt, dass diese Gruppe in den Die Bildungschancen zu stärken heißt, vermehrt in die nächsten Jahren eine zweite Chance braucht. Dafür wer- frühkindliche Bildung zu investieren und sie zu profi- den Ausbildungsplätze geschaffen. Die Anregungen der lieren. Deshalb ist die flächendeckende Weiterbildungs- Fraktionen werden aufgegriffen. Herr Kollege Scholz initiative für Erzieherinnen und Erzieher vorgesehen. Im wird dazu gleich mehr sagen. Ich bin davon überzeugt, ersten Durchgang sollen 80 000 der insgesamt dass das eine große Chance ist, in den nächsten zwei, 230 000 Erzieherinnen und Erzieher in Deutschland wei- drei Jahren die Probleme, die sich in den letzten Jahren tergebildet werden, und zwar in gemeinsamer Verant- angehäuft haben, zielgenau anzugehen. Jeder braucht wortung des Familien- und des Bildungsministeriums, berufliche Qualifikation. Es kann nicht sein, dass mit dem Deutschen Jugendinstitut und anderen Partnern. 15 Prozent der 20- bis 29-Jährigen in Deutschland kei- nen Berufsabschluss haben. Es ist viel in Bewegung im Hinblick auf die Qualifi- kation derer, die in Kindertagesstätten arbeiten. Das ist (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (B) wichtig, um Bildung in den frühen Jahren zu stärken. (D) Diese Regierung und die sie tragenden Fraktionen haben Dazu gehört die bessere organisatorische und konzep- die Kraft, dieses Thema aufzugreifen. tionelle Verbindung zwischen Grundschulen und Kin- Dazu gehört die Stärkung sozialpädagogischer dertagesstätten. Wir werden die entsprechenden Bil- Ausbildungshilfen für Unternehmen, die eine zweite dungshäuser in mehreren Bundesländern begleiten und Chance geben. Dazu gehören die Ausbildungsbausteine fördern. Hier entsteht künftig die erste gemeinsame Bil- für diejenigen, die abgebrochen haben und wieder in dungsphase des Bildungssystems in Deutschland. eine neue Ausbildung einsteigen werden. Um Gleich- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wertigkeit zu schaffen, sind aber auch finanzielle An- neten der SPD) reize notwendig. Deshalb führen wir ein Aufstiegssti- pendium für Absolventinnen und Absolventen der Die Initiative „Haus der kleinen Forscher“ wird aus- beruflichen Bildung ein, die ein Studium absolvieren gebaut. Bis 2010 sollen von dieser Initiative 10 000 Kin- wollen. Das ist ein ganz neues Instrument mit einer eltern- dertagesstätten erreicht werden. Wer will, dass sich mehr unabhängigen Förderung. Wir sagen begabten jungen Jugendliche in Deutschland für Naturwissenschaften und Leuten aus der beruflichen Bildung: Ja, wir unterstützen Technik entscheiden, muss früh ansetzen und dafür sor- den Weg ins Studium. gen, dass der Zugang zu Naturphänomenen und allem, was in dieser Phase möglich ist, offen ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Bildungschancen stärken heißt Sorge dafür tragen, Des Weiteren geht es um die strukturelle Weiterent- dass jeder einen Schulabschluss macht. Die Kultusmi- wicklung des Meister-BAföG. Eine 10-prozentige Erhö- nisterkonferenz spricht von einer Halbierung der Zahl hung ist erfolgt. Nun geht es darum, mehr Berufe und der Schulabbrecher. Wir haben bereits einen leichten mehr Personen zu fördern, Familien stärker zu unterstüt- Rückgang in den letzten Jahren erreicht. Nun ist ein zen, die Fortbildungsmöglichkeiten für Migranten zu Schub notwendig. Dazu gibt es eine Reihe von Maßnah- verbessern, Impulse für mehr Existenzgründungen und men: flächendeckende Praxisklassen, Einrichtung von zusätzliche Arbeits- und Ausbildungsplätze zu geben. Ausbildungspaten, insgesamt 73 Projekte für rund 1 500 1996 hat Jürgen Rüttgers das Meister-BAföG eingeführt. sogenannte harte Schulverweigerer, stärkere Zusammen- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) arbeit, Erschließung des Potenzials überbetrieblicher Be- rufsbildungsstätten für die Arbeit in den Abgangsklassen Es ist ein wichtiges Signal für die Gleichwertigkeit von vor allen Dingen an Hauptschulen. Ich finde, es ist ein beruflicher und allgemeiner Bildung. Ich freue mich bildungspolitisch, gesellschaftspolitisch und jugendpoli- – ich habe das gestern in einer Pressemitteilung gelesen –, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14449

Bundesministerin Dr. Annette Schavan (A) dass es auch innerhalb der Fraktionen – die SPD-Frak- les Anliegen – zu einer deutlichen Verbesserung der Bil- (C) tion hat Eckdaten vorgelegt – einen großen Konsens da- dungschancen für Jugendliche in Deutschland beitragen. rüber gibt, das Meister-BAföG strukturell weiterzuent- Ich danke den anderen Häusern für die gute Zusam- wickeln, den Kreis derjenigen, die anspruchsberechtigt menarbeit und den Fraktionen für ihre Impulse in dem sind, zu erweitern. Antrag aus dem Juni 2007. Meine Damen und Herren, des Weiteren werden wir Vielen Dank. einzelne Maßnahmen auf den Weg bringen, die genau an den Stellen ansetzen, die heute immer wieder analysiert (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) werden: Stichwort Naturwissenschaften, Interesse für Technik. Ich habe über die frühkindliche Bildung ge- Präsident Dr. Norbert Lammert: sprochen. Die nächste wichtige Schnittstelle ist die Ich danke der Bundesministerin für die Einhaltung Schnittstelle zwischen Schule und Studium. Deshalb ist der Redezeit, was bei Mitgliedern der Bundesregierung es erforderlich, die Möglichkeit eines Freiwilligen Tech- nicht immer der Fall ist. nischen Jahres in der Zeit zwischen Abitur und Studien- beginn einzuführen. (Heiterkeit) In diesem Zusammenhang erwähne ich auch den na- Deswegen kann ich ohne unnötigen Verzug im Rahmen tionalen Pakt zur Gewinnung von mehr jungen Frauen der vereinbarten Rednerliste dem Kollegen Uwe Barth für natur- und ingenieurwissenschaftliche Berufe, an de- für die FDP-Fraktion das Wort erteilen. nen sich rund 30 Unternehmen und große Verbände be- (Beifall bei der FDP) teiligen werden, aber auch wichtige Maßnahmen für die Verbesserung der Chancen von Frauen im Bereich der Uwe Barth (FDP): Hochschulen. Als Stichworte nenne ich hier das Profes- sorinnenprogramm sowie mit Blick auf die Vereinbarkeit Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die von Familie und Beruf das Programm zur Qualifizierung Qualifizierungsoffensive der Bundesregierung ist kaum arbeitsloser Akademikerinnen und Akademiker, das ge- beschlossen, aber schon im Netz verfügbar. Wie man zielt für Berufsrückkehrerinnen geöffnet werden soll. hört, ist auch die Hochglanzbroschüre bereits auf dem Weg. Das Stärken von Bildungschancen bezieht sich auch (Jörg Tauss [SPD]: So schnell sind wir!) auf das Lernen im Lebenslauf. Der „Innovationskreis Weiterbildung“ hat gute Impulse erarbeitet, übrigens un- Ich kann direkt vor mir sehen, wie die Menschen zu ter Beteiligung der Länder. Wir werden analog zum Aus- Hause am PC und am Küchentisch sitzen und das Werk (B) bildungspakt eine Weiterbildungsallianz begründen. Der mit Spannung lesen. (D) Ausbildungspakt hat in den letzten Jahren viel Bewe- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gung im Bereich der Ausbildung geschaffen. So soll es auch im Bereich der Weiterbildung sein. Konkrete Bei- Da lesen sie dann Sätze wie die folgenden: Exzellenz in träge aller Partner werden mit Ländern, Kommunen – es der Bildung ist ein Auftrag aus unserer Geschichte und gibt sehr innovative Ansätze in den Kommunen – und Tradition, der in die Zukunft übersetzt werden muss. Bil- den Sozialpartnern vereinbart werden. Im Rahmen der dung und Qualifizierung sind der Schlüssel für die Zu- Vertiefung des Konzepts „Lernende Regionen“ soll die kunft unseres Landes und aller Bürgerinnen und Bürger. Weiterbildungsbeteiligung in Deutschland von 43 auf 50 Prozent gesteigert werden. (Beifall des Abg. Volker Kröning [SPD]) Das sind Sätze, die nun wahrlich keine neuen Er- Noch in diesem Jahr werden wir mit den großen Stif- kenntnisse darstellen und die sich in so ziemlich jedem tungen eine Initiative in Deutschland starten – das Ein- Parteiprogramm so oder so ähnlich finden lassen. verständnis aller Beteiligten liegt vor –, um regionale Weiterbildungsstrukturen aufzubauen, letztlich also Den mit der Offensive angestrebten Erkenntnis- und Sorge dafür zu tragen, dass im Bildungssystem das ge- Wissensgewinn, Frau Ministerin, wünsche ich vor allem schieht, was sich im Wissenschaftssystem schon an- dem Erfinder des Wortes „Wissensbeschleunigung“. bahnt: Alle Bildungseinrichtungen müssen sich die Dieses Wort enthüllt für mich geradezu beispielhaft die Frage stellen, welchen Beitrag sie zu lebenslanger Bil- Sinnleere und vor allem den plakativen Charakter der dung und zu lebenslangem Lernen im gesamten System ganzen Veranstaltung. Allein über dieses Wort aus dem leisten können. für Bildung zuständigen Ministerium müsste man, wenn mehr Zeit wäre, länger reden. Die Zeit habe ich leider Meine Damen und Herren, ich bin davon überzeugt, nicht. „Wissensbeschleunigung“! dass es uns mit diesem Maßnahmenbündel, das schon jetzt auch andere Akteure einschließt, gelingen wird, an Vor allem inhaltlich enttäuscht die Initiative. Die An- wichtigen Schnittstellen im Bildungssystem – in den frü- sätze und Strategien sind für die Lösung der beschriebe- hen Jahren mit Blick auf die Gleichwertigkeit der unter- nen Probleme weitgehend ungeeignet. In dem Ziel, un- schiedlichen Segmente des Bildungssystems, später an sere Bildungseinrichtungen wieder zur Weltspitze zu der Schnittstelle von beruflicher zu akademischer Bil- führen und damit unseren Kindern Chancen im globalen dung sowie von Schule und Studium – Veränderungen Wettbewerb zu eröffnen, sind wir uns völlig einig. Doch herbeizuführen, die zu einer deutlichen Verbesserung bis dahin ist es ein weiter Weg. In einer Umfrage des des Bildungssystems und vor allem – das ist ein zentra- DIHK aus dem Jahr 2006 beklagte jedes zweite Unter- 14450 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Uwe Barth (A) nehmen vor allem die mangelnde Ausbildungsreife der führten Ministeriums aus Baden-Württemberg nahezu (C) Schulabgänger. 12 Prozent der Befragten gaben an, eins zu eins übernommen. Das ist in Ordnung. dass sie nicht alle Ausbildungsplätze, die zur Verfügung stehen, besetzen können, weil die Schulabgänger unzu- (Jörg Tauss [SPD]: Nichts als Gießkanne!) reichend ausgebildet sind. Gestern Abend hat der Präsi- In Baden-Württemberg und Niedersachsen funktioniert dent des Branchenverbunds der ostdeutschen Bau- der Ausbildungsplatzzuschuss gut, und er ist ein Er- industrie gesagt, dass 22,5 Prozent der Bewerber nicht folgsmodell. Wir warten mit Spannung ab und hoffen hinreichend gut lesen oder rechnen können. Ich kann mir gemeinsam, dass möglichst viele der immerhin diese Zahl wirklich nicht vorstellen, aber der Mann 400 000 vom Ausbildungsmarkt derzeit ausgeschlosse- macht einen seriösen Eindruck, und ich habe keinen An- nen Altbewerberinnen und Altbewerber von dieser Maß- lass, anzunehmen, dass er sich die Zahlen nur ausge- nahme profitieren können. Ob letztlich die erhofften dacht hat. 100 000 Ausbildungsplätze entstehen, bleibt abzuwar- (Jörg Tauss [SPD]: Welcher Mann?) ten. Ich muss sagen, dass angesichts der aus meiner Sicht etwas unsystematischen und praxisfernen Ausgestaltung Zur Lösung des Grundsatzproblems ist das, was Sie uns des Paketes durchaus Skepsis angebracht ist. hier liefern, so brauchbar wie die Zahnspange für Rent- ner: wohl gut gemeint, aber zu spät angesetzt und des- Vielen Dank. halb oft ins Leere gehend. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Präsident Dr. Norbert Lammert: Die FDP hat mit ihrem eigenen Antrag „Mehr Chan- Das Wort erhält nun der Bundesminister für Arbeit cen durch bessere Bildung und Qualifizierung“ ihre Vor- und Soziales, Olaf Scholz. schläge hier eingebracht. Auf der Suche nach Lösungs- ansätzen haben wir uns mit Akteuren auseinander- und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vor allem zusammengesetzt. Herausgekommen ist ein der CDU/CSU) gemeinsames Positionspapier mit dem Zentralverband des Deutschen Handwerks, welches sich gerade den De- Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Sozia- fiziten im Umfeld der beruflichen Bildung widmet. Wir les: haben Ansätze formuliert, die den Bereich der vorschuli- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und schen und der schulischen Bildung umfassen, eine Neu- Kollegen! Bildung, Ausbildung und Qualifizierung sind orientierung auch im Bereich der dualen Berufsausbil- Schlüsselfragen im Hinblick auf die Chancen jedes Ein- dung einschließen und schließlich auch die Hochschule (B) zelnen und die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft. (D) und das lebenslange Lernen mit einbeziehen. Teilweise Deshalb ist die Qualifizierungsinitiative zu Recht ein gibt es dabei durchaus Parallelen, aber auch Abweichun- ganz zentrales Vorhaben der Großen Koalition. Ich will gen und neue Ansätze. hier etwas zu den arbeitsmarktpolitischen Projekten die- Wenn es darum geht, junge Menschen vor Schulver- ser Initiative sagen. Dabei stehen die Ausbildungs- und sagen, vor mangelnder Ausbildungsreife und damit vor Berufschancen junger Menschen natürlich im Mittel- Perspektivlosigkeit zu schützen, dann ist ein Professo- punkt. rinnenprogramm wenig hilfreich. Auch Fortbildungspro- Unsere Marktwirtschaft lebt davon, dass derjenige, gramme für Erzieherinnen und Erzieher gibt es hinrei- der einen Beruf lernen will, das auch kann. Deshalb ist chend viele. Das Problem ist, dass aufgrund der engen es unsere zentrale Aufgabe, dass wir dieses Versprechen Personaldecke an den Kindertagesstätten Erzieherinnen erfüllen. und Erzieher viel zu selten in der Lage sind, von den an- gebotenen Programmen Gebrauch zu machen. Ähnlich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten verhält es sich mit dem Aufstiegsstipendium für Berufs- der CDU/CSU) absolventen. Natürlich müssen mehr Absolventinnen Wir müssen jungen Menschen helfen, denen eine feh- und Absolventen für ein Studium gewonnen werden. lende Ausbildung zum Stolperstein wird, obwohl sie mit Doch scheitert dies in aller Regel nicht an den finanziel- aller Macht eine Ausbildung wollen und sich intensiv len oder rechtlichen Hürden eines Studiums. Alleine die darum bemühen. Wir müssen auch diejenigen wieder auf begrenzten Studienplatzkapazitäten stehen diesem Ziel das Gleis Richtung Arbeitswelt setzen, die eine im Wege. Gerade deswegen müssen wir im Ausschuss schlechte Schulbildung haben und denen der Wert der gemeinsam bei den Verhandlungen zum Hochschul- Ausbildung vielleicht erst vermittelt werden muss. Wir pakt II darauf drängen, dessen Volumen zu erhöhen, um dürfen uns nicht damit abfinden, dass es Jahr für Jahr hier etwas bewirken zu können. ganze Hauptschulklassen gibt, deren Schüler allesamt (Beifall bei der FDP) keine Lehrstelle finden. Wir sind schon daran gewöhnt, dass solche Hauptschulklassen am Ende der Ausbil- Frau Ministerin, zu Ihrem ursprünglichen Vorschlag, dungssaison in den Zeitungen abgebildet sind. Ich einen Ausbildungsbonus einzuführen, hatten sich Ar- glaube, dass wir uns das nicht nur anschauen sollten; beitgeberverband und Handwerksvereinigung zu Wort vielmehr muss es für uns ein Ansporn zum Handeln sein. gemeldet und vor Fehlsteuerungen und Mitnahmeeffek- ten gewarnt. Hier haben Sie tatsächlich reagiert und das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gut funktionierende Modell eines im Übrigen FDP-ge- der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14451

Bundesminister Olaf Scholz (A) Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass viele Ju- dem schon die Rede war, wurden nach vorläufigen Zah- (C) gendliche beim ersten Kontakt mit dem Berufsleben nur len 79 200 Ausbildungsverträge im Jahr 2007 neu einge- Ablehnung erfahren. Man muss sich auch die Reaktio- worben. nen der jungen Leute vorstellen, wenn einige abstrakt davon reden, dass sie selbst nicht ausbildungsgeeignet (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten seien. Alle brauchen eine Chance, wenn sie sich anstren- der CDU/CSU) gen. Ich wiederhole: alle, auch schlechte Schüler und Aber es gibt einen sehr großen Handlungsbedarf. auch solche, die keinen Abschluss erreicht haben. Wir brauchen noch mehr Ausbildungsplätze in Betrie- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ben, bei Freiberuflern und in Verwaltungen, um allen der CDU/CSU) Ausbildungswilligen und -fähigen ein Angebot im dua- len System zu machen. Ganz besonders müssen wir uns Wir wollen deshalb denen eine neue Perspektive ge- um diejenigen kümmern, die seit längerem erfolglos ben, die schon lange einen Ausbildungsplatz suchen. nach einem Ausbildungsplatz suchen. Wir werden die Berufswahlvorbereitung in den letzten Jahren der Schule und den Übergang in Ausbildung bes- Vor acht Jahren suchten rund 40 Prozent der gemelde- ser gestalten. Außerdem werden wir die Förderung und ten Bewerber seit längerem erfolglos eine Lehrstelle. Begleitung während der Ausbildung verbessern. Den Heute sind es bereits über 52 Prozent. Diese Bugwelle Anstoß dazu haben – Ehre, wem Ehre gebührt – im Som- ist bei den Berufsberatern beinahe schon sprichwörtlich. mer die Koalitionsfraktionen gegeben. Viele junge Menschen stecken in Ersatzmaßnahmen. Diese sind, wie die Einstiegsqualifizierung, hilfreich, Klar: Betriebliche Berufsausbildung ist in allererster aber sie sind eben nur ein Ersatz und nicht das, was die Linie eine Aufgabe der Unternehmen. Sie müssen sich jungen Menschen eigentlich anstreben. kümmern, übrigens schon aus wohlverstandenem Eigen- interesse. Denn indem Unternehmen jungen Menschen Ich will dazu ausdrücklich fragen: Was soll eigentlich Chancen eröffnen und die Fachkräfte von morgen aus- mit jungen Leuten geschehen, die die Schule abge- bilden, verbessern sie auch ihre eigenen Chancen im glo- schlossen haben und nach einem Ausbildungsplatz su- balen Wettbewerb und die unserer ganzen Volkswirt- chen? Es finden wichtige und gute Dinge für sie statt, schaft. aber nicht das, was sie eigentlich anstreben, nämlich – um es mit einem klassischen Wort zu sagen – endlich Es darf daher in erster Linie nicht darum gehen, ob eine Lehre. Das müssen wir für unsere jungen Leute bes- sich Ausbildung betriebswirtschaftlich rechnet. Das tut ser regeln. sie nicht immer. Trotzdem muss sie stattfinden. (Beifall bei der SPD) (D) (B) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Das Kernstück des Konzepts „Jugend – Ausbildung Sie ist in jedem Falle volkswirtschaftlich der beste Weg, und Arbeit“ ist deshalb ein Ausbildungsbonus, mit dem Fachkräftemangel zu vermeiden. Sie entscheidet mit wir bis 2010 rund 100 000 zusätzliche Ausbildungs- darüber, ob wir, als Nation, unsere volkswirtschaftlichen plätze für Altbewerber schaffen wollen – gerade weil die Potenziale nutzen können. Wer nicht ausbildet, soll über Altbewerberproblematik so groß ist, wie ich sie eben be- Fachkräftemangel nicht klagen. schrieben habe. Darum haben wir auch großzügige Kri- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LINKEN terien ausgesucht. Der Ausbildungsbonus richtet sich an und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Altbewerber, die maximal über einen Realschul- abschluss verfügen. Das Problem mit den Hauptschülern Die Politik hilft den Unternehmen dabei, ihre Verant- ist bekannt; ich habe es schon beschrieben. Aber die wortung wahrzunehmen. Wir haben gemeinsam mit den Schwierigkeit, eine Ausbildungsstelle zu finden, betrifft Unternehmensverbänden den Ausbildungspakt ins Le- immer mehr auch Realschüler. Wir haben uns bewusst ben gerufen, der jährlich 60 000 neue Ausbildungsplätze entschieden, nicht zu sagen: Wir nehmen den Noten- bringen soll. durchschnitt: 3,5; wenn jemand schlechter ist, bekommt (Ulrike Flach [FDP]: Sie wollten aber was das Unternehmen eine Förderung, wenn jemand besser anderes!) ist, soll es sie nicht bekommen. Es würde auch absurde Situationen in den Abgangsklassen der Schulen schaf- Wir unterstützen jährlich 40 000 Plätze für betriebliche fen, wenn dann eventuell die Schüler mit ihren Lehrern Einstiegsqualifizierungen, aus denen zwei Drittel der darüber verhandeln, ob sie nicht doch einen etwas Teilnehmer in einen betrieblichen Ausbildungsplatz schlechteren Durchschnitt bekommen können. wechseln – ein schöner Erfolg. Wir fördern Ausbildung und Qualifizierung mit den Mitteln der aktiven Arbeits- Darum haben wir beschlossen, die ganze Gruppe ein- marktpolitik. zubeziehen und genügend andere Kriterien zu finden, um Missbrauch und Mitnahmeeffekte zu verhindern. Er Der Erfolg ist sichtbar. Der Ausbildungsmarkt ent- soll sich an diejenigen richten, die bereits seit über zwei wickelt sich positiv. Die Zahl der neuen Ausbildungsver- Jahren vergeblich auf der Suche nach einem Ausbil- träge stieg 2007 um 8,6 Prozent gegenüber 2006. dungsplatz sind, und natürlich an diejenigen, die indivi- 625 900 Ausbildungsverträge wurden zum Stichtag duell benachteiligt sind – ein Kriterium, das die Arbeits- 30. September 2007 neu für das Ausbildungsjahr 2007/ vermittlung schon lange kennt und das hier immer weiter 2008 abgeschlossen. Allein im Ausbildungspakt, von eine Rolle spielen muss. 14452 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Bundesminister Olaf Scholz (A) Wenn ein Arbeitgeber für einen jungen Menschen aus dungsförderung auch im Hinblick auf diejenigen ein biss- (C) dieser Gruppe einen zusätzlichen Ausbildungsplatz chen zu verbessern, die aus der beruflichen Situation schafft – dadurch ist die Mitnahme von Leistungen für heraus für die Ausbildung zuständig sind. etwas, das man sowieso geplant hat, weitgehend ausge- Alles zusammen hilft den jungen Leuten. Es hilft un- schlossen –, dann bekommt er dafür einen Bonus von serer Gesellschaft. Es ist ein Stück vorsorgender Sozial- 4 000, 5 000 oder 6 000 Euro. Wir haben uns dabei an staat und hat viel mit Zukunft zu tun. Hoffnung ist das der Hälfte der Ausbildungsvergütung für ein Jahr orien- Wichtigste im Leben des einzelnen Menschen und einer tiert. Es soll eine plakative Summe sein, damit der Auf- Gesellschaft. Daran zu bauen und mitzuhelfen, dass die ruf an die Unternehmerinnen und Unternehmer in die- Hoffnungen vieler Menschen erfüllt werden können, ist sem Land, zusätzliche Ausbildungsplätze für junge eine wichtige Aufgabe. Leute zu schaffen, die es schwer haben, einen Ausbil- dungsplatz zu finden, verstanden wird und damit er auch Schönen Dank, meine Damen und Herren. Wirkung hat. Ich bin froh, dass das jetzt möglich gewor- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) den ist.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Wir unterstützen also diejenigen, die es in der Vergan- Cornelia Hirsch ist die nächste Rednerin für die Frak- genheit besonders schwer hatten, einen Ausbildungs- tion Die Linke. platz zu finden. (Beifall bei der LINKEN) Aber der Ausbildungsbonus ist nicht das Einzige, was wir planen. Wir werden die Möglichkeiten der ausbil- Cornelia Hirsch (DIE LINKE): dungsbegleitenden Hilfen, etwa die sozialpädagogische Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ei- Unterstützung, ausbauen. Wir wollen so Chancen für gentlich heißt es ja: Einsicht ist der beste Weg zur Besse- lernbeeinträchtigte und benachteiligte Jugendliche auf rung. Bei Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren von der einen Berufsabschluss schaffen. Wir werden die erfolg- Bundesregierung, ist dies offensichtlich nicht der Fall. reichen Patenmodelle zum Anlass nehmen, den Einsatz von Berufseinstiegsbegleitern besser und systematischer Auf der einen Seite kann man zwar daran, dass Sie die zu machen. So wollen wir erproben, wie leistungsschwä- Qualifizierungsinitiative gestartet haben, feststellen, chere Schüler beim Übergang in eine Ausbildung über dass bei Ihnen durchaus eine gewisse Einsicht vorhanden einen längeren Zeitraum individuell begleitet werden ist. Schließlich beschreiben Sie da, dass Sie die Sorge ha- können. Beides – sozialpädagogische Begleitung und ben, dass es zu einem Fachkräftemangel kommt. Sie (B) Einsatz von Paten – hilft einerseits den Betrieben, mit schreiben sogar ganz konkret, dass schon jetzt gut ausge- (D) jungen Leuten klarzukommen, die etwas weniger gut auf bildete Menschen fehlen. Anders und vielleicht auch für den Betriebsalltag eingestellt sind, und andererseits den die Zuhörerinnen und Zuhörer etwas deutlicher ausge- jungen Auszubildenden, sich in der nicht ganz dem drückt: Man kann das ganz klar als Einsicht werten, dass Schulalltag entsprechenden Realität des Arbeitslebens Ihre Bildungspolitik der letzten Jahre offensichtlich so zurechtzufinden. miserabel war, dass das Bildungssystem komplett gegen die Wand gefahren wurde und dass Sie jetzt die Konse- (Beifall bei der SPD) quenzen spüren. Das ist ein Stück Realität, das wir damit zur Kenntnis (Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der nehmen. FDP: Schauen Sie sich einmal Berlin an!) Jenseits all der Diskussionen, die notwendig sind, Wenn Einsicht bis zu einem gewissen Grad da ist, versteht jeder von uns den Ausbilder, den Meister oder muss man sich jetzt aber auf der anderen Seite überle- den Chef, der sagt: Ich würde ja gern, aber wenn ich mir gen, wie es um die Besserung bestellt ist. Eine Besse- all das anschaue, was ich da noch nebenbei machen rung ist nach wie vor nicht eingetreten. Das, was Sie in muss, komme ich zu dem Schluss, dass mich das über- der Qualifizierungsinitiative zusammengeschrieben ha- fordert. – Diese Leute wollen wir unterstützen und ihnen ben, stellt nichts weiter als ein mutloses Weiter-so dar, sagen: Traut euch! Wir helfen euch, damit das auch gepaart mit minimalen Trippelschritten und zahlreichen klappt. – Das ist ein gutes Bündnis, das Gesellschaft und Ankündigungen, denen, wie wir aus den Sonntagsreden Betriebe schließen können, um den jungen Leuten zu der Bundesregierung wissen, jegliche Grundlage und helfen. Wir sollten diesen Versuch weiter ausbauen. jegliche Verbindlichkeit fehlen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Jörg Tauss [SPD]: Na, na, na!) der CDU/CSU) Die Linke sagt Nein zu so einer Qualifizierungsinitia- Meine Damen und Herren, wir wollen auch die Be- tive. Wir fordern eine Qualifizierungsinitiative, die die- rufsberatung mit zusätzlichen Berufsberatern und Ver- sen Namen auch wirklich verdient. Das würde zuerst mittlern weiter verstärken, weil wir es natürlich schaffen einmal bedeuten, dass man die Qualifizierungsinitiative, müssen, dass die jungen Leute und die Ausbildungs- die Sie hier vorgelegt haben, in drei Bereichen auf eine plätze zueinanderkommen. vollkommen andere Grundlage stellt. Letztlich geht es auch darum – meine Kollegin Auf eine andere Grundlage stellen heißt zum Ersten: Schavan hat darüber schon gesprochen –, die Ausbil- auf eine andere finanzielle Grundlage. Frau Ministerin Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14453

Cornelia Hirsch (A) Schavan, Sie haben in der Presse davon gesprochen, dass hätten Sie auch wirklich mutige Schritte machen kön- (C) für die Qualifizierungsinitiative in den nächsten drei Jah- nen, um einen bildungspolitischen Schub zu geben. Da ren 500 Millionen Euro zur Verfügung stehen. Man ver- ich Sie nicht überfordern will, will ich nur fünf ganz gleiche einmal diese 500 Millionen Euro mit den Gel- konkrete Punkte anführen, dern für andere bildungspolitische Programme wie zum Beispiel für das Ganztagsschulprogramm. Hierfür wur- (Uwe Barth [FDP]: Überfordern Sie uns bitte den – selbst da sagen Expertinnen und Experten, dass nicht!) das noch zu wenig Geld ist – insgesamt 4 Milliarden die die Linke schon in mehreren Anträgen deutlich ge- Euro zur Verfügung gestellt. Auf diesem Weg ist es dann macht hat. Zur frühkindlichen Bildung werde ich nicht gelungen, dass zumindest in Ansätzen ein bisschen et- sprechen. Diesen Punkt wird nachher mein Kollege was an den Schulen in Bewegung gekommen ist. Es ist Volker Schneider aufgreifen. nun wirklich sehr interessant, wie Sie es schaffen wol- len, mit 500 Millionen Euro etwas Ähnliches – und dann Erstens. Herr Minister Scholz, was soll dieser Ausbil- auch noch bezogen auf das gesamte Bildungssystem – zu dungsbonus? Sie können doch nicht ernsthaft die jahre- erreichen. Die Linke glaubt nicht, dass das klappen wird. lange Ausbildungsverweigerung der Unternehmen jetzt auch noch mit weiteren Steuergeschenken belohnen. Sie (Zuruf von der CDU/CSU: Aus Prinzip nicht!) haben vorhin gesagt: Wer nicht ausbildet, soll nicht über Wir haben andere Vorschläge vorgelegt. Wir fordern fehlende Fachkräfte klagen. Das ist natürlich eine groß- eine grundsätzlich andere Steuerpolitik. Man könnte bei- artige Ankündigung. Die Linke würde es besser finden, spielsweise eine Börsenumsatzsteuer einführen. Auf die- wenn Sie wirklich Druck auf die Unternehmen ausüben sem Weg könnte es gelingen, eine nachhaltige, bessere würden. Die Linke sagt: Wer nicht ausbildet, soll zahlen. Bildung zu finanzieren. Wir fordern eine gesetzliche Ausbildungsplatzumlage. (Beifall bei der LINKEN – Uwe Barth [FDP]: (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Wo ist Ihr Antrag dazu?) neten der SPD) Zweitens. Frau Ministerin Schavan, Sie haben von so- – Der liegt schon seit Urzeiten vor, Herr Barth; den hät- ten Sie einmal lesen sollen, statt ihn, wie ich glaube, so- zialer Durchlässigkeit gesprochen. Auch da könnten Sie fort abzulehnen. ganz konkrete Schritte gehen. Die Linke sagt: Wir brau- chen jetzt dringend ein bundesweites Hochschulzulas- ( [FDP]: Man muss ja nicht sungsgesetz. Als wichtigster Punkt muss darin enthalten alles lesen! – Uwe Barth [FDP]: Ich finde ihn sein, dass Absolventinnen und Absolventen aus dem Be- auch gar nicht!) reich der beruflichen Bildung das Recht auf Zulassung zu Hochschulen haben. – Sie nicken. Es wäre aber noch (B) (D) Auf eine andere Grundlage stellen heißt zum Zwei- besser, wenn ein entsprechender Antrag von Ihnen vor- ten: auf eine strukturell andere Grundlage. Frau Ministe- liegen würde. rin Schavan, wenn Sie in jedem Interview, das Sie ge- ben, das gegliederte Schulsystem lobpreisen, dann führt (Beifall bei der LINKEN) das dazu, dass die Länder davon absehen, Schritte hin zu Drittens. Man kann nicht bei dieser unzureichenden einer anderen Bildung einzuleiten. Eine andere Bildung, BAföG-Novelle stehen bleiben. die Schluss macht mit einer Auslese, einer sozialen Se- lektion, und stattdessen auf individuelle Förderung setzt, (Willi Brase [SPD]: Es gibt eine Erhöhung von dafür kämpft die Linke. 10 Prozent! Sie haben dagegengestimmt! Er- klären Sie das einmal dem Parlament und den (Beifall bei der LINKEN) Studentinnen und Studenten!) Auf eine andere Grundlage stellen heißt zum Dritten: Auch da brauchen wir weitere Schritte. Stichpunkte auf eine politisch andere Grundlage. Ihr Ausgangspunkt sind: Ausbau des Schüler-BAföG und eine schrittweise ist, dass die Wirtschaft ruft, ihr fehlten gut ausgebildete Rückführung des Darlehenszuschusses. Fachkräfte. Ich habe noch zwei weitere Punkte. Da meine Redezeit (Uwe Barth [FDP]: Das ist ja auch so!) fast zu Ende ist, nur kurz: Wir brauchen schon jetzt einen Die Linke sagt: Uns geht es um das Recht auf Bildung. zweiten Hochschulpakt, mit dem es wirklich gelingt, die Das ist ein großer Unterschied. Denn in Ihrer Logik kann Studienplatzkapazitäten auszubauen. Und Punkt 5: Man es gut passieren, dass eine Absolventin das Pech hat, in darf die Weiterbildung nicht mehr länger so stiefmütter- dem Jahr ihren Schulabschluss zu machen, in dem die lich behandeln, wie Sie es tun, sondern man muss endlich Wirtschaft ebendiese Töne gerade einmal nicht von sich ein Bundesweiterbildungsgesetz auf den Weg bringen. gibt. Dieser Absolventin wird von Ihnen dann gesagt: Es (Beifall bei der LINKEN) tut uns leid; du wirst gerade nicht gebraucht. – Das kann nun wirklich nicht der Anspruch einer demokratischen Das könnte dann ein bildungspolitischer Schub nach Gesellschaft sein. Deshalb fordert die Linke ein Recht vorne sein. Dafür kämpft die Linke; dafür werden wir auf Bildung. auch weiter kämpfen. Ihre Qualifizierungsinitiative leis- tet dazu leider nur herzlich wenig. (Beifall bei der LINKEN) Besten Dank. Wenn Sie die Qualifizierungsinitiative auf diese Weise auf eine andere Grundlage gestellt hätten, dann (Beifall bei der LINKEN) 14454 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) Das Wort erhält nun der Kollege Kai Gehring für die NEN]: Das ist ja lächerlich!) Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Das ist viel zu kurz gedacht und zu wenig gemacht. Wer den Aufstieg durch Bildung wirklich ermöglichen will, Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): muss die Hochschulen endlich strukturell für möglichst Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! viele öffnen, auch für diejenigen, die nur einen Ausbil- Frau Ministerin, es ist schon beeindruckend, mit wel- dungsabschluss erworben haben. chem Engagement Sie sich für die Vermarktung Ihrer na- tionalen Qualifizierungsinitiative einsetzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Strukturell öffnen heißt, dass man ein paar Dinge der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Zu Recht!) mehr machen muss. Wir Grüne fordern das Ende der Studiengebühren, weil sie Studienberechtigte und natür- Auf sämtlichen Kanälen wird da die Lösung fast aller lich auch beruflich Qualifizierte vom Studium abschre- Probleme verkauft: von Fachkräftemangel über Bil- cken. Wir wollen das Meister-BAföG zu einem Erwach- dungsungerechtigkeit bis hin zur Jugendgewalt. Ich hätte senen-BAföG weiterentwickeln, das den zweiten und mich gefreut, wenn Sie sich mit dem gleichen Engage- dritten Bildungsweg wirklich öffnet. Wir brauchen klare ment um die Inhalte und um die Substanz Ihrer Initiative und bundeseinheitlich geregelte Zugangswege zum Stu- gekümmert hätten. dium ohne Abitur. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wer sich Ihren Papierstapel einmal genauer ansieht, Eine Übersicht über die verschiedenen Studienvo- kommt schnell zu dem Ergebnis: Viel Lärm um herzlich raussetzungen in den einzelnen Bundesländern – liebe wenig! Was Sie da zusammengetragen haben, ist ein Kolleginnen und Kollegen, schauen Sie sich das einmal Bauchladen an Modellversuchen, alten Pilotprojekten an – umfasst derzeit mehr als 40 dichtgedruckte Seiten. und Vorschlägen an die Adresse der Länder. Darunter ist Das ist noch weniger Substanz auf noch mehr Seiten als kaum eine strukturelle Reform. Das ist keine Brücke auf bei Ihrer Qualifizierungsinitiative. Das ist aber vor allen dem Weg zur Beseitigung des Fachkräftemangels. Ein Dingen eine Entmutigung für Bildungswillige, die an die roter Faden fehlt völlig, ein grüner sowieso. Hochschule kommen wollen. Anstatt das Hochschulrah- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mengesetz abzuschaffen, was Sie im Kabinett beschlos- sen haben, und den deutschen Hochschulraum weiter zu Dabei wäre eine wirksame Initiative für bessere Bil- zerfleddern, sollten Sie zusammen mit den Ländern bun- (B) dung und gerechtere Teilhabe nötiger denn je. Schließ- deseinheitliche und attraktive Zugangswege in die Hör- (D) lich haben viel zu wenig junge Menschen Zugang zu gu- säle ebnen. Das ist dringend erforderlich. ter Bildung. Wir haben viel zu viele Schulabbrecher, zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) viele Jugendliche in Warteschleifen und zu wenig Stu- dierende, sodass uns in Zukunft Hunderttausende Fach- Sie wollen auch den Übergang von der Schule in die kräfte fehlen. Dazu haben Sie mit Ihrer zögerlichen Poli- Hochschule erleichtern. Das ist schön. Es ist noch schö- tik beigetragen. ner, dass Sie nach anderthalb Jahren endlich unsere For- derung, eine Servicestelle für eine effiziente Studien- Aber schauen wir uns Ihr Ankündigungspotpourri im platzvergabe einzurichten, aufgreifen. Aber auch die Einzelnen an. Sie haben vorhin beim Punkt frühkindli- modernste Servicestelle kann letztlich nur Mangelver- che Bildung angekündigt, 80 000 Erzieherinnen und Er- waltung sein, wenn in diesem Land massenhaft Studien- zieher fortbilden zu wollen. Das ist wichtig; das klingt plätze fehlen. Eine wirksame Qualifizierungsinitiative gut. Welche Maßnahmen stehen aber dahinter? Dahinter muss in allererster Linie mehr Geld in zusätzliche Stu- steht ein Internetportal, das Sie aufbauen wollen. Das dienplätze investieren. Ihr „Hochschulpäktchen“ ist nur war’s. Das ist keine Qualifizierungsinitiative; das hat ein erster Schritt. Wir wissen doch alle, dass dieser schon fast den Charakter einer Täuschungsinitiative. Hochschulpakt völlig unterfinanziert ist. Nehmen Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) endlich mehr Geld in die Hand, sonst stehen noch mehr junge Menschen vor verschlossenen Hörsaaltüren oder Mit einer Qualifizierungsinitiative, die diesen Namen kommen nicht auf den Campus. auch verdient, müssen Sie dafür sorgen, dass diejenigen, die sich professionell um unsere kleinsten Kinder küm- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mern, endlich auf Hochschulniveau qualifiziert werden. sowie der Abg. Birgit Homburger [FDP]) Dazu ist von Ihnen aber nichts zu hören. Natürlich haben Sie auch das freiwillige technische Auch beim Hochschulzugang für beruflich Qualifi- Jahr in Ihr Sammelsurium aufgenommen. Zur Bekämp- zierte formulieren Sie nur halbherzige Ziele und wir- fung des Fachkräftemangels trägt ein solches staatlich kungsarme Maßnahmen. Wir müssen den Weg zum alimentiertes Langzeitpraktikum überhaupt nicht bei. Campus von Hindernissen befreien, gerade auch für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Menschen ohne Abitur. Was steht in Ihrem Papier? Sie wollen gerade einmal 1 000 Erwachsenen mit einem be- Anstatt für weitere Warteschleifen zwischen Schule und ruflichen Ausbildungsabschluss ein Aufstiegsstipendium Ausbildung 4 Millionen Euro zu verschwenden und da- zahlen. für das Markenzeichen des Freiwilligenjahres zu miss- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14455

Kai Gehring (A) brauchen, sollten Sie sich endlich wirksam gegen pre- dungssystems, fast ein Alleinstellungsmerkmal; das ist (C) käre und unfaire Praktika einsetzen. Auch diesbezüglich ein positiver Punkt. Es ist eine wesentliche Vorausset- warten wir seit zweieinhalb Jahren auf Initiativen von zung für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unseres Ihnen. Landes und für die Unternehmerinnen und Unternehmer eine lohnende Investition in die Zukunft ihres Betriebes. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es sichert den Nachwuchs an qualifizierten Fachkräften, Ganz am Ende Ihrer Vorlage zu einer Qualifizierungs- der auch in der Zukunft so dringend benötigt wird. initiative findet man eine alte Bekannte aus dem Bereich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Weiterbildung: die Weiterbildungsprämie. Sie wird seit der SPD) zweieinhalb Jahren von Ihnen angekündigt. Wir warten noch immer auf eine Gesetzesinitiative. Wie sieht es mit Für uns – natürlich auch für die jungen Menschen der Umsetzung aus? Nach wie vor Fehlanzeige! Sie soll- selbst – ist es wichtig, dass jeder junge Mensch eine ten endlich einmal in die Pötte kommen, Frau Schavan. Chance auf Ausbildung hat. Dazu muss einerseits das Angebot an Ausbildungsplätzen stimmen. Andererseits (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) müssen die Auszubildenden die Möglichkeit und die Fä- Wenn ich mir die Liste Ihrer unerfüllten Wünsche an higkeit haben, eine Berufsausbildung aufzunehmen. die Länder anschaue, kann ich nur festhalten: Der Bund Es wurde schon angesprochen: Natürlich liegt die hat sich mit der schwarz-roten Föderalismusreform viel Schulausbildung in der Kompetenz der Länder. Deshalb zu sehr aus der Bildungspolitik verabschiedet. Das war wird es im Herbst gemeinsam mit den Ländern eine Ini- ein großer Fehler. Wir werden die Ganztagsschulen tiative geben, durch die die Schulabbrecherquote deut- künftig nicht mehr fördern können. Die Förderung wird lich gesenkt bzw. halbiert werden soll. Auch das auslaufen. Mit dem Ausbau ist es dann wahrscheinlich geschieht unter der Federführung unserer Ministerin vorbei, wenn die Länder es nicht aufgreifen und forcie- Schavan. ren. (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Ministerin, Sie müssen beweisen, dass Sie nicht nur Chefin des größten Ankündigungsressorts sind. Sie Es wurde hier schon viel gesagt; alle möglichen alten müssen endlich einmal Taten folgen lassen und konkret Forderungen wurden aufgewärmt. Ich will auf eines hin- zur Umsetzung kommen. weisen: Es gab vor zwei Jahren 550 000 Ausbildungs- plätze. Im aktuellen Ausbildungsjahr gibt es 626 000 Aus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – bildungsplätze. Das ist ein Plus von 14 Prozent und eine Jörg Tauss [SPD]: Soll ich euch mal den grü- riesige Leistung der Unternehmerinnen und Unterneh- (B) nen Kretschmann aus Baden-Württemberg mer. (D) zum Thema Föderalismus vorzitieren? Dann seht ihr aber blass aus!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD und der FDP – [CDU/CSU]: Und der CDU!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun die Kollegin Ilse Aigner, CDU/ Das zeigt, dass die wirtschaftliche Entwicklung die Ba- CSU-Fraktion. sis für die Schaffung neuer Ausbildungsplätze ist. Des- halb sage ich ein herzliches Dankeschön an unsere Bun- (Beifall bei der CDU/CSU) deskanzlerin. Unter ihrer Führung ist ein wirtschaftlicher Aufschwung entstanden, der sich direkt auf den Ausbil- Ilse Aigner (CDU/CSU): dungsstellenmarkt auswirkt. Ein herzliches Dankeschön! Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kollegen! Wir debattieren heute über die Qualifizie- neten der SPD) rungsinitiative unserer Bundesregierung, erstellt unter der Federführung unserer Ministerin Schavan zusammen Trotzdem ist durch die schlechte wirtschaftliche mit den Ministern Scholz und Glos. Sie ist ein wichtiger Situation zu Beginn dieses Jahrzehnts leider eine – es ist Baustein für die Qualifizierung unserer jungen Men- nicht anders zu beschreiben – Bugwelle an sogenannten schen, für die Zukunft, für die Weiterbildung in unserem Altbewerbern entstanden; dies wurde schon angespro- Land und für die frühkindliche Bildung. Diese breite Pa- chen. lette wurde von der Bundesregierung auf den Weg ge- bracht. Dafür ein ganz herzliches Dankeschön! (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind Jugendliche!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Cornelia Hirsch [DIE LINKE]: Zahlreicher Die Zahl der Altbewerber lag im Jahr 2006 schon bei Beifall!) über der Hälfte aller Bewerber, die in diesem Jahr die Schule beendet hatten, und ist letztendlich so hoch ge- Ein wichtiger Baustein der Qualifizierungsinitiative blieben. Deshalb müssen wir eines der Hauptaugen- basiert auf unserem gemeinsam entwickelten Antrag merke auf die Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze „Junge Menschen fördern – Ausbildung schaffen und für diejenigen richten, die schon länger als zwei Jahre Qualifizierung sichern“. Hier geht es im Wesentlichen auf einen Ausbildungsplatz warten und sonstige Vermitt- um die berufliche Qualifizierung. Das duale Ausbil- lungshindernisse aufweisen. Dies ist ein ganz wichtiger dungssystem ist eine der tragenden Säulen unseres Bil- Punkt. 14456 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Ilse Aigner (A) Ich möchte dem Kollegen Uwe Schummer ganz herz- Patrick Meinhardt (FDP): (C) lich dafür danken, dass er bereits 2003 auf diesen Punkt Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und hingewiesen hat. Ich zitiere aus dem entsprechenden Kollegen! Frau Kollegin Aigner, wir beraten heute nicht Protokoll: nur die Qualifizierungsinitiative der Bundesregierung, Es wäre sinnvoller, diese Gelder in eine direkte Un- (Ilse Aigner [CDU/CSU]: Ein guter Antrag ist terstützung von Ausbildungsbetrieben umzulenken. das!) Lieber Uwe Schummer, ich glaube, das war schon 2003 sondern wir beraten auch den besonders guten Antrag der FDP-Fraktion mit dem Titel „Mehr Chancen durch wegweisend. bessere Bildung und Qualifizierung“. Wir haben dies jetzt in der Qualifizierungsinitiative (Beifall bei der FDP – Dieter Grasedieck [SPD]: umgesetzt. Bis zum Jahr 2010 sollen 100 000 neue Aus- Das hat aber noch keiner gemerkt!) bildungsplätze für diese Jugendlichen geschaffen wer- den. Der Hintergrund des Ganzen ist: Es ist für einen Dieser Antrag basiert auf einem gemeinsamen Posi- Ausbilder deutlich schwieriger, jemanden mit Ausbil- tionspapier des Zentralverbandes des Deutschen Hand- dungshemmnissen auszubilden. Er braucht ausbildungs- werks und der FDP-Bundestagsfraktion. Ich glaube, es begleitende Hilfen; diese sind vorgesehen. Er bekommt ist gut und richtig, dass man, wenn es um die Frage geht, auch in finanzieller Hinsicht eine Entlastung, um zusätz- wie eine gute Ausbildung und eine gute berufliche Bil- liche Ausbildungsplätze zu schaffen. Wir glauben, dass dung in Deutschland funktionieren, dorthin schaut, wo das Geld hier besser eingesetzt ist, als wenn die Betrof- tatsächlich Erfolge zu verzeichnen sind. Immerhin hat fenen an einer Maßnahme nach der anderen teilnehmen; der Mittelstand in der Bundesrepublik Deutschland, ob- denn diese haben sie alle schon durchlaufen. Deshalb ist wohl das Handwerk in zwei Jahren 10 000 Arbeitsplätze dieses Vorhaben ein Kernstück der Qualifizierungsinitia- verloren hat, bei der Ausbildung einen Aufwuchs von tive. Ich bedanke mich ganz herzlich, dass diese Rege- 10 Prozent hinbekommen. Das zeigt uns, wie verant- lung umgesetzt wird. wortliche Ausbildungspolitik aussehen kann. Dafür muss man dem Mittelstand in Deutschland dankbar sein. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der FDP) neten der SPD) In unserem Positionspapier haben wir vor allem auf Eine weitere wichtige Maßnahme, die übrigens schon drei Bereiche abgehoben: eine Rolle spielt – auch das muss man hervorheben –, ist Der erste Bereich, den ich ansprechen möchte, ist aus (B) die Einstiegsqualifizierung. Wir haben dieses Pro- (D) gramm mittlerweile auf 40 000 Plätze aufgestockt. Auch unserer Sicht in dem Konzept der Bundesregierung völ- hier zeigt sich: Von den jungen Menschen, die in die Be- lig unzureichend dargestellt. Wir haben kein Problem triebe kommen und ihre Fähigkeiten dort zeigen können damit, die Begriffe „Elite“ und „Leistung“ in den Mund – vielleicht ist es für sie auch wichtig, dass sie von der zu nehmen. Wir brauchen leistungsfördernde Maßnah- men, und wir brauchen auch bei der beruflichen Bildung Schulbank wegkommen –, erhalten sehr viele, nämlich eine Hochbegabtenförderung. Warum ruft die Bundes- 60 bis 70 Prozent, anschließend eine Ausbildungsstelle. regierung eigentlich keine Exzellenzinitiative „berufli- Diese hervorragende Maßnahme hat großen Erfolg. che Bildung“ ins Leben? Dies ist in der Bundesrepublik Auch das kann man, wie ich glaube, nicht oft genug sa- Deutschland überfällig. gen. (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Ich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dachte, das soll die Wirtschaft machen! Das neten der SPD) haben wir doch gerade gehört!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Wirtschaft Zum Zweiten ist es enorm wichtig, dass wir bei den braucht künftig noch mehr qualifiziertes Fachpersonal. Ausbildungsberufen flexibel vorgehen, verstärkt in Mo- Deshalb ist eine Ausbildung eine gute Investition in die dulen denken und mehr zwei- und dreijährige Ausbil- Zukunft. Hierbei geht es um die Zukunftsfähigkeit unse- dungsgänge anbieten. Durch die Flexibilisierung der rer Wirtschaft. Wir werden in der nächsten Zeit wahr- Ausbildung können wir dafür sorgen, dass jungen Men- scheinlich einen Fachkräftemangel zu verzeichnen ha- schen Alternativen, die sie im Augenblick noch nicht ha- ben. Deshalb dürfen wir niemanden abschreiben, ben, angeboten werden und dass ihnen der Einstieg in sondern müssen uns um jeden kümmern. Das hat sich eine Ausbildung ermöglicht wird. Das brauchen wir in die Koalition zum Ziel gesetzt. der Bundesrepublik Deutschland. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wenn wir das umsetzen wollen, dann muss es zum Dritten zu einer Stärkung der überbetrieblichen Ausbil- dung kommen. Hier verstehe ich die Bundesregierung Präsident Dr. Norbert Lammert: überhaupt nicht. Bei den Mitteln für die Förderung der Das Wort hat nun der Kollege Patrick Meinhardt, Verbundausbildung hatten wir in den letzten sieben Jah- FDP-Fraktion. ren eine Reduzierung von 69 Millionen Euro auf 29 Mil- lionen Euro zu verzeichnen. Gleichzeitig wissen wir, (Beifall bei der FDP) dass 88 Prozent der Betriebe in der Bundesrepublik Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14457

Patrick Meinhardt (A) Deutschland, die ein bis neun Beschäftigte haben, im (Jörg Tauss [SPD]: Oh!) (C) Moment nicht ausbilden, weil sie häufig keinen vollen Dies ist ein gutes Signal. Aber schauen wir uns nun Ihre Ausbildungsplatz zur Verfügung stellen können. Wir Altbewerberinitiative an. Wenn man das Zeile für Zeile, müssen in die Förderung der Verbundausbildung inves- Satz für Satz, Seite für Seite tieren, um kleinen und Kleinstbetrieben die Möglichkeit zu geben, jungen Menschen aufgrund ihrer mittelständi- (Jörg Tauss [SPD]: Wort für Wort!) schen Erfahrung eine Perspektive zu eröffnen. – Wort für Wort, Kollege Tauss – durchliest, sieht man: (Jörg Tauss [SPD]: Das haben wir doch extra Da wurde nichts anderes getan, als eins zu eins das Pa- mit hineingeschrieben!) pier des FDP-Wirtschaftsministers von Baden-Württem- berg, Ernst Pfister, abzuschreiben. Die sogenannte Nationale Qualifizierungsinitiative, Herr Kollege Tauss, soll drei Schwerpunkte haben: Alt- (Beifall bei der FDP) bewerber, Weiterbildung, Schulabbrecherquote. Frau Schauen Sie sich das Papier des Wirtschaftsministers Ministerin, ich frage mich: Wo ist Ihr Konzept bei der von Baden-Württemberg an, und Sie werden sehen: Schulabbrecherquote? Ich erwarte von der Bundesregie- rung, dass sie mehr tut, als zu verhandeln, bis am (Jörg Tauss [SPD]: Gießkanne!) Schluss irgendetwas herauskommt. Das Papier der Kul- tusministerkonferenz ist, mit Verlaub gesagt, wieder ein- Diese Initiative ist eins zu eins abgeschrieben worden. mal reine Makulatur, reiner Prosatext. Die Bildungspoli- Sagen wir einmal, es ist ein gutes Zeichen, dass die Bun- tiker verwundert es nicht, dass so etwas bei der KMK desregierung zumindest in diesem Bereich lernfähig ist herauskommt; denn wer 60 Jahre für die Festlegung von und mit liberalen Konzepten aus Baden-Württemberg Bildungsstandards beim Abitur braucht, der ist nicht auf versucht, eine Initiative in die Wege zu leiten. der Höhe der Zeit. Solch einen trägen Bürokratiemoloch (Beifall bei der FDP) kann sich die Bundesrepublik Deutschland schon lange nicht mehr leisten. Nichtsdestoweniger fehlt diesem Konzept bedauerli- cherweise eine ganze Reihe von Inhalten. Wir vermissen (Cornelia Pieper [FDP]: Richtig!) bei den Altbewerbern die Förderung durch sozialpäda- gogische Maßnahmen für all die Jugendlichen, denen Er sollte schnell durch eine flotte, schlanke Bildungs- wir helfen müssen, aus der Sackgasse herauszukommen. konferenz ersetzt werden. Deswegen kann ich für die FDP-Fraktion nur feststel- (Beifall bei der FDP) len: Diese Qualifizierungsinitiative ist ohne System, (B) Zur Weiterbildung der Erzieherinnen und Erzie- ohne roten Faden und ohne Ziel. Oder, Herr Kollege (D) her. Die 80 000 Erzieherinnen und Erzieher sollen im Tauss, um es in Worten Ihres ehemaligen Arbeitsminis- Rahmen einer Weiterbildungsoffensive die Möglichkeit ters Münte zu sagen: Altbewerber können Sie nicht, bekommen, ihre berufliche Fortbildung zu intensivieren. Weiterbildung können Sie nicht, Qualifizierungsinitia- Grundsätzlich ist das ein guter Ansatz. Ich habe mir ein- tive können Sie nicht. mal die Mühe gemacht, das mit Ihrer Weiterbildungsini- Vielen Dank. tiative zu vergleichen, für die für das Jahr 2008 gerade einmal 15 Millionen Euro zur Verfügung gestellt wer- (Beifall bei der FDP – Christel Humme [SPD]: den. Jetzt machen wir eine ganz einfache Rechnung: Was können Sie? – Jörg Tauss [SPD]: So einen Wenn in diesem Zusammenhang für die Zahlung einer Unfug hat der Münte nie gesagt!) Weiterbildungsprämie für alle Betroffenen in der Bun- desrepublik Deutschland nur 15 Millionen Euro zur Ver- Präsident Dr. Norbert Lammert: fügung stehen, Das Wort erhält nun der Kollege Willi Brase, SPD- (Jörg Tauss [SPD]: Für ein Internetportal! Kor- Fraktion. rekt bleiben! – Gegenruf des Abg. Uwe Barth (Beifall bei der SPD) [FDP]: Zuhören!) dann kommt, Herr Kollege Tauss, unter dem Strich he- Willi Brase (SPD): raus, dass diese Mittel nur für die Erzieherinnen und Er- Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- zieher reichen würden; dann könnte niemand anders von gen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bin Frau der Weiterbildungsinitiative profitieren. Einen Antrag Aigner dankbar, dass Sie auf den Schummer-Ansatz hin- der Bundesregierung, diese Mittel zu erhöhen, gibt es gewiesen hat, der jetzt als Scholz-Bonus dafür sorgen nicht. Doch ohne eine Erhöhung der Mittel ist die Wei- wird, dass 100 000 junge Leute in Deutschland eine Zu- terbildungsinitiative Makulatur. kunftsperspektive bekommen. Ich glaube, das ist eine gute Sache. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist der der CDU/CSU) große Bereich der Altbewerber. Als Erstes möchte ich sagen: Wir von der FDP sind froh, dass es keinen grund- Wir von der Koalition wollen vor dem Hintergrund sätzlichen, mittelstandsfeindlichen, bürokratiefördern- unseres gemeinsamen Antrages mit der Qualifizierungs- den Ausbildungsbonus geben wird. initiative Ausbildung organisieren. Wir wissen, dass wir 14458 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Willi Brase (A) trotz guter Zahlen – über 60 000 zusätzliche Ausbil- – das war klar – nicht auf das Gymnasium, sondern in (C) dungsplätze – noch weitere brauchen. Wenn das Jahr die duale Ausbildung, da es hieß: Dort gehört er hin. – 2007 komplett abgerechnet wird, wird sich herausstel- Solche Zustände dürfen und werden wir in diesem Land len, dass noch mehr Ausbildungsplätze geschaffen wur- nicht mehr akzeptieren. Das ist eine Verschwendung von den. Wir werden dem drohenden Facharbeitermangel be- Potenzialen und stellt Menschen in eine Ecke, in die sie gegnen und die Jugendarbeitslosigkeit weiter abbauen. nicht gehören. Nicht umsonst wurde der Quali-Kombi mit aufgenom- men, der mit dafür sorgt, dass junge Leute unter (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 25 Jahren, die arbeitslos sind, eine vernünftige Perspek- der LINKEN) tive in unserem Lande erhalten. Es wird Aufgabe dieser Koalition sein, auf diesem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Weg voranzugehen, um notwendige und bessere Chan- der CDU/CSU) cen für Kinder – egal vor welchem Hintergrund – zu er- möglichen. Wir sollten nicht vergessen: Die Bundesregierung hat auch Vorschläge der Fachleute aufgegriffen. Im Haupt- Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, der auf der ausschuss des Berufsbildungsinstituts ist die Forderung, europäischen Ebene und auch in der Debatte hier eine zukünftig vor allen Dingen auch bei der Übergangs- und Rolle spielt. Wir werden den deutschen Qualifizierungs- Nachqualifizierung wesentlich stärker auf die betriebli- rahmen entwickeln. Für die SPD will ich hier deutlich che Ausbildung und Qualifizierung zu setzen, deutlich festhalten: Wir werden das nicht unterstützen, wenn da- diskutiert und ihre Umsetzung empfohlen worden, weil mit darauf abgezielt wird, das duale Prinzip – die im dies besser und der richtige Weg ist sowie den jungen Wesentlichen drei- und dreieinhalbjährige Ausbildung – Leuten eine vernünftige Perspektive gibt. Ich glaube, in ein- und halbjährige zertifizierte Module zu zersplit- eine solche Umsetzung ist richtig. Das müssen wir ma- tern, wie es manche von der BDA gefordert haben. Dann chen. ist das Berufsprinzip tot. Ich kann jeden nur davor war- nen, dieses hohe Gut aufs Spiel zu setzen. Wir brauchen (Beifall bei der SPD) auch zukünftig das duale Prinzip in der beruflichen Aus- Wir als SPD-Fraktion sagen: Der Ausbildungsbonus bildung. ist auch ein Angebot an die Unternehmen, also die Ar- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten beitgeber, sich ein Stück weit ihrer Verantwortung zu der CDU/CSU) stellen. Dieser Bonus wird durch ausbildungsbegleitende und sozialpädagogische Hilfen unterstützt und begleitet. Ein weiterer Punkt, der uns wichtig ist und der in der Qualifizierungsinitiative eine Rolle spielt, wird durch (B) (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) (D) das Stichwort „Weniger ist mehr“ beschrieben. Ich Wenn die Unternehmen dieses Angebot in den nächs- glaube, es macht Sinn, sich endlich zu überlegen, wie ten drei Jahren nicht ausreichend wahrnehmen, dann wir die Vielfalt der Programme vor allen Dingen im müssen sie sich darauf einstellen, dass die Debatte über Übergangsbereich ein Stück weit bündeln können. Es die berufliche Bildung in eine andere Richtung geht, gibt gute Beispiele vor Ort in den Regionen unseres Lan- nämlich in Richtung einer schulischen Ausbildung. Da- des. Lassen Sie uns diese aufgreifen! Wir brauchen nicht für sind dann aber nicht die Jugendlichen verantwortlich, noch fünf, sechs oder sieben Sonderprogramme, sondern sondern die Unternehmen, die keine Ausbildungsplätze wir müssen sie, wie wir das im Koalitionsantrag be- – auch nicht, wenn sie mit staatlichem Geld unterstützt schrieben haben, gemeinsam mit den Ländern bündeln, werden – zur Verfügung stellen. und wir müssen die wesentlichen Standards festschrei- ben, damit die Effektivität größer wird und wir mehr (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Geld für mehr Plätze haben. Das hilft den jungen Leuten. der CDU/CSU) Weniger ist mehr – das ist der richtige Weg. Bildung und Qualifizierung sind für die Zukunft un- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten seres Landes notwendig. Ich vermisse bei der Debatte et- der CDU/CSU) was, was wir bei der Diskussion über PISA schon mehr- fach erwähnt haben. Ich will hier die Süddeutsche Ein letzter Punkt. Das duale Ausbildungssystem in sei- Zeitung vom 3. Januar dieses Jahres zitieren – es ging ner Gesamtheit muss sich in den nächsten Jahren bewäh- um eine Studie über Bildungschancen –: ren. Die Ausbildungsbeteiligung der Unternehmen liegt Die Aussicht eines Arbeiterkindes, einen Hoch- zwischen 24 und 25 Prozent. Ich glaube, es ist genügend schulabschluss zu erreichen, sei um das Zwölffache Potenzial vorhanden. Alle Untersuchungen des Bundes- schlechter als die eines Akademikerkindes. Um die instituts für Berufsbildung belegen: Sowohl in den alten Chancen benachteiligter Kinder zu verbessern, wie auch in den neuen Ländern gibt es einen Bereich von empfiehlt der Forscher eine gezielte Frühförderung 25 bis 28 Prozent der Unternehmen, die fachlich, sachlich sowie Ganztagsschulen. und finanziell in der Lage sind, auszubilden. Es kommt in den Regionen vor Ort darauf an – Ausbildungsmärkte Ich will gar nicht auf das Letzte, sondern auf das Erste sind regionale Märkte –, dafür zu sorgen, dass diese Un- eingehen. Ich erinnere mich an meine Kinderzeit. Da- ternehmen stärker ausbilden. Wir können sie mit dem mals war es häufig so: Wer einen bestimmten sozialen Ausbildungsbonus für die vom Arbeitsminister schon be- Hindergrund, als Kind von Arbeitern, hatte, der ging schriebenen Personen wunderbar unterstützen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14459

Willi Brase (A) Ich sage: Nutzen Sie diese Möglichkeiten! Das ist das (Beifall bei der LINKEN) (C) Beste für die berufliche Bildung. Das liest sich bei Ihnen so: Vielen Dank. Deshalb müssen alle Potenziale genutzt werden. Es (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ist ein Kernelement von Zukunftsvorsorge, allen jungen Menschen eine Chance auf eine gute Aus- Präsident Dr. Norbert Lammert: bildung zu bieten, Kindern aus bildungsfernen Ich erteile dem Kollegen Volker Schneider, Fraktion Schichten verstärkt den Zugang zu höherer Bildung Die Linke, das Wort. zu ermöglichen, für Frauen und Männer Bedingun- gen zu schaffen, unter denen sie die Anforderungen (Beifall bei der LINKEN) der eigenen Familie mit einer Ausbildung, einem Studium oder der Berufsausübung vereinbaren kön- Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): nen. Mehr Menschen muss der Aufstieg durch Bil- Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- dung ermöglicht werden. Wir brauchen Weiterbil- gen! Die Qualifizierungsinitiative ist ausweislich der dungsmöglichkeiten für alle während des gesamten Unterrichtung der Bundesregierung auch eine Antwort Lebenslaufs. auf den drohenden Fachkräftemangel. Mir persönlich ist bereits seit mindestens zehn Jahren bekannt, dass be- Richtig so. Schade ist nur, dass es weniger das Recht dingt durch die Demografie im zweiten Jahrzehnt dieses auf Bildung, sondern mehr ökonomische Notwendigkei- Jahrhunderts der Bedarf an Fachkräften in Deutschland ten sind, die Sie zu einer derart klaren Positionierung stark ansteigen wird. veranlassen. In der uns vorliegenden Unterrichtung wird dieser Auch hinsichtlich der Frage, worin die Bundesregie- Trend wie folgt präzisiert: rung die zentralen Weichenstellungen für die Zukunft sieht, können wir den von Ihnen genannten zentralen Bis zum Jahr 2013 werden 330 000 Akademikerin- Punkten nur zustimmen. nen und Akademiker im Bereich der gewerblichen Wirtschaft – davon 70 000 Naturwissenschaftlerin- Aber wie unterfüttern Sie denn diese hehren Ziele? nen und Naturwissenschaftler sowie 85 000 Ingenieu- Da sehen wir noch erheblichen Diskussionsbedarf. An- rinnen und Ingenieure – in den Ruhestand gehen. In gesichts der mir zur Verfügung stehenden Zeit kann ich den nächsten Jahren werden in den Naturwissen- nur einige Punkte kurz ansprechen. schaften nach Prognosen mindestens 30 Prozent je- Sie wollen zukünftig frühkindliche Betreuung mit (B) des Absolventenjahrgangs fehlen. Bildung verknüpfen. Richtig und gut so! Dafür brauchen (D) Ähnliche Entwicklungen sind im Übrigen auch auf Sie aber entsprechende Fachkräfte – und die bekommen der Ebene der Meister, der Techniker und bei einer Reihe Sie nicht mit den Qualifizierungsmaßnahmen, die Sie von Facharbeitern zu erwarten. hier vorschlagen. Wir brauchen auch in Deutschland Fachkräfte, die auf akademischem Niveau gebildet sind. Wie bereits gesagt, ist dies alles lange bekannt und Zusammen mit Österreich hinken wir weit hinter der eu- daher alles andere als neu. Insoweit ist es mehr als er- ropäischen Entwicklung hinterher. Das kostet Geld. Die- staunlich, wie die Wirtschaft sehenden Auges und ohne ses Geld in die Hand zu nehmen, sind Sie anscheinend frühzeitig vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen auf nicht bereit. diesen Fachkräftemangel zugesteuert ist. (Beifall bei der LINKEN) (Jörg Tauss [SPD]: Für Weitsicht sind wir zu- ständig! Die Wirtschaft kann das nicht!) Das gilt insbesondere auch für das, was Sie als frühe Wer sich nur noch am kurzfristigen Erfolg orientiert, wer Sprachförderung vorschlagen. Spätestens hier brau- chen wir entsprechend vorgebildete akademische Fach- nur von Quartalsbericht zu Quartalsbericht denkt, für kräfte. den ist die Qualifikation von Mitarbeitern nur ein Kos- tenfaktor, der den Gewinn schmälert. Wer so kurzfristig In Bezug auf das, was Sie mit den Bildungshäusern denkt, ist zu einer langfristigen und nachhaltigen Ent- beabsichtigen, kann ich nur Vermutungen anstellen. Wir wicklung von Unternehmen wahrlich nicht in der Lage. als Linke sind ja auch für gemeinsames Lernen. Das ist kein Qualitätsbeweis für einen zu großen Anteil der Führungskräfte in unserer Wirtschaft. (Zuruf von der SPD: Toll!) Nun soll die Politik es wieder richten. Es ist erstaun- Aber doch bitte nicht gemeinsames Lernen von drei bis lich, was hier nun alles kurzfristig in Bewegung versetzt zehn, sondern gemeinsames Lernen von 6 bis 18! Das werden soll. Jetzt entdecken Sie, worauf wir als Linke wäre die Zielsetzung. gebetsmühlenartig hingewiesen haben – nämlich, dass (Beifall bei der LINKEN) unser Bildungssystem in hohem Maße sozial selektiv wirkt und dass dies nicht nur eine Beeinträchtigung des Außerdem wollen Sie die regionalen Weiterbildungs- Rechts auf Bildung bedeutet, das sich für uns aus dem strukturen stärken. Das ist auch ein sehr guter Ansatz. Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung ergibt, sondern Wunderbar; aber wieder einmal mehr mit Projekten, mit auch eine nicht mehr nachvollziehbare Vergeudung von Modellen, mit Stiftungen! Das führt uns doch nicht wei- Ressourcen. ter. Was wir an dieser Stelle brauchen, sind verbindliche, 14460 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Volker Schneider (Saarbrücken) (A) klare Strukturen – und die bekommen wir nur über ein Es hat durchaus Gründe, dass die BDA das sagt. Die (C) bundesweites Weiterbildungsgesetz. Kriterien für den Ausbildungsbonus sind einfach zu weit gefasst, was dazu führt, dass mit diesem Bonus (Beifall bei der LINKEN) praktisch jeder Altbewerber und jede Altbewerberin, Bemerkenswert finde ich, dass Sie in das Papier eine (Jörg Tauss [SPD]: Nein!) Weiterbildungsallianz hineinschreiben; denn das ist doch eine Selbstverständlichkeit. Auch ohne eine solche For- sogar die leistungsstarke Realschulabgängerin, gefördert derung müssten Wirtschaft und Politik an dieser Stelle werden kann. zusammenarbeiten. Wenn Sie das dann auch noch im (Jörg Tauss [SPD]: Nein!) Sinne eines Ausbildungspakts ausgestalten wollen, lässt mich das als Linken das Übelste befürchten. Bedingung für die Förderung ist nämlich, dass die Be- werberinnen und Bewerber maximal einen Realschulab- Positiv hervorheben kann ich den Ausbau der überbe- schluss haben, dass sie sich in diesem Jahr nicht zum trieblichen Berufsbildungsstätten zu Kompetenzzentren. ersten Mal um einen Ausbildungsplatz bewerben, dass Allerdings merkt man an dieser Stelle wieder einmal, sie fünf abgelehnte Bewerbungen vorlegen können oder wie forschungslastig Ihre Bildungspolitik ist. in irgendeiner Weise einen persönlichen Nachteil haben. Gänzlich unangebracht in diesem Papier ist allerdings Ich sage Ihnen: Bei diesen Kriterien ist praktisch jede Ihr Jubel über die Weiterbildungsaktivitäten der Bun- und jeder der 380 000 Altbewerberinnen und Altbewer- desagentur für Arbeit. Sie bauen jetzt auf, was Sie zu- ber förderungsfähig. Es ist dann nicht allein davon ab- vor demontiert haben. Sie sind jetzt noch nicht einmal hängig, dass jemand leistungsschwach und aus diesem wieder auf dem Stand von 2001. Das ist wahrlich kein Grund förderungsbedürftig ist. Grund zum Jubeln. Ich prognostiziere Ihnen: Dieses Programm wird un- (Klaus Hagemann [SPD]: Belegen Sie das geheure Creamingeffekte hervorrufen; denn es werden mal!) in erster Linie die Leistungsstarken und diejenigen unter den 380 000 Altbewerberinnen und Altbewerbern davon Das Papier zur Qualifizierungsinitiative ist nicht das profitieren, die aufgrund der Tatsache, dass es zu wenig schlechteste; es ist immerhin ein Einstieg in die Diskus- Ausbildungsplätze gibt, keinen Ausbildungsplatz haben sion. Jetzt müssten Sie sich noch in den weiteren Bera- und nicht aufgrund der Tatsache, dass sie leistungs- tungen bewegen. Optimistisch bin ich in diesem Punkt schwach und in diesem Sinne förderungsbedürftig sind. nicht; meine Erfahrungen aus der Vergangenheit zeigen leider etwas anderes. Damit senden Sie auch ein falsches Signal an die Ar- (B) beitgeber. Denn was für ein Signal ist das an die Unter- (D) Vielen Dank. nehmen, die in den letzten Jahren trotz schwieriger wirt- (Beifall bei der LINKEN) schaftlicher Lage und ohne finanzielle Förderung ihrer Verantwortung für Ausbildung nachgekommen sind und jetzt nicht in der Lage sind, zusätzliche Ausbildungs- Präsident Dr. Norbert Lammert: plätze zu schaffen? Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dieses Programm zeigt den Unternehmen doch: Die Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sozial verantwortlich handelnden Unternehmen sind die Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich Dummen. Die FDP klatscht diesem Programm auch möchte noch etwas zu dem Ausbildungsbonus sagen. noch Beifall. Ich finde, Sie sind ordnungspolitisch wirk- Die Bundesregierung verspricht, in den nächsten drei lich auf den Hund gekommen. Jahren 100 000 zusätzliche Ausbildungsplätze für Altbe- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) werber zu schaffen. Erreicht werden soll das, indem sol- che Ausbildungsplätze mit 4 000 bis 6 000 Euro geför- Ich bin nicht gegen Eingliederungshilfen, wenn sie dert werden. auf die leistungsschwachen Jugendlichen konzentriert werden. Ich zitiere einmal, was die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zu diesem Programm (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD] – Jörg sagt: Dieser Ausbildungsbonus „schadet“ durch „Fehl- Tauss [SPD]: Genau das machen wir!) anreize und Mitnahmeeffekte“ der Ausbildung. – – Herr Tauss, wenn Sie das wollten, dann brauchten Sie Schlechter kann ein Urteil des Nutznießers von ver- keinen neuen Ausbildungsbonus. meintlichen Wohltaten einer Regierung wohl nicht aus- fallen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Erstens gibt es bereits eine ganze Reihe von ausbil- Jörg Tauss [SPD]: Das ist aber eine höchst ei- dungsunterstützenden Maßnahmen in den Ländern, die gentümliche Begründung! Ausgerechnet durch Ihr Programm überflüssig würden. Auch das ist BDA! Das ist ja lustig!) eine Form von Mitnahmeeffekten. – Herr Tauss, ich will das ein bisschen ausführen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14461

Brigitte Pothmer (A) Zweitens gab es bisher die Möglichkeit, unter dem Ti- Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) tel „Sonstige Maßnahmen“ im Rahmen des SGB II Aus- Michael Kretschmer erhält nun das Wort für die bildungsplätze zu fördern. Aber die rigide Auslegung CDU/CSU-Fraktion. des Bundesarbeitsministeriums hat dazu geführt, dass diese gezielten Maßnahmen nicht mehr möglich sind. Michael Kretschmer (CDU/CSU): Sie streichen diese sehr gezielten, konzentrierten Unter- stützungsmaßnahmen. Aber gleichzeitig schaffen Sie ein Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kol- Programm, mit dem Sie im Grunde das Geld mit der legin Pothmer, Ihrem Ansehen und dem Ihrer Partei hät- Gießkanne ausschütten, statt es für gezielte Förderung ten Sie mehr gedient, wenn Sie in der Sache etwas ver- einzusetzen. Das müssen Sie den Menschen erst einmal nünftiger und seriöser argumentiert hätten. erklären. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Lassen Sie mich den Unterschied deutlich machen. Der der SPD) Unterschied besteht darin, dass die gezielten einzelfall- Was wir mit dieser Qualifizierungsinitiative umset- bezogenen Bonuszahlungen tatsächlich den benachtei- zen, ist in der Tat ein breit angelegtes Programm von ligten Jugendlichen geholfen haben. Der breit angelegte Einzelmaßnahmen für Menschen, die diesbezüglich Ausbildungsbonus dagegen hilft der Bundesregierung. Schwierigkeiten haben, nämlich die knapp 400 000 Alt- Das lässt sich zwar besser verkaufen. Aber das kann doch nicht Sinn der Sache sein. bewerber. Das Programm ist mit denen abgestimmt, die seit langem in diesem Bereich arbeiten. Deswegen wird (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) es auch tatsächlich Wirkung zeigen. Alle Erfahrungen zeigen, dass ein Betrieb nur dann Es ist nicht nur das Recht, sondern auch die Aufgabe einen Auszubildenden oder eine Auszubildende einstellt, der Opposition, etwas zuzuspitzen und auf vermeintliche wenn er diese Person für geeignet hält. Sie glauben doch Fehler hinzuweisen. nicht allen Ernstes, dass eine Person, die ein Betrieb für ungeeignet hält, eingestellt wird, nur weil er eine Ein- (Uwe Barth [FDP]: Auch auf richtige Fehler!) malzahlung von 4 000 oder 6 000 Euro bekommt. Er Aber man sollte dabei so vorgehen, Herr Kollege Barth, stellt eine Person nur dann ein, wenn er sie für geeignet dass diejenigen, die uns Sorgen machen, weil sie hält, und dann nimmt er das Geld auch mit. Solche Mit- Schwierigkeiten und Probleme haben, und denen wir nahmeeffekte können wir nicht wollen. Hilfsangebote machen – die sie auch annehmen wollen –, Insofern ist es nicht richtig, bei den Betrieben anzu- nicht den Mut verlieren und die Kraft finden, diese setzen, wenn Sie etwas für die Benachteiligten tun wol- Hilfsangebote anzunehmen. Aber die Art und Weise, wie (B) len. Dann müssen Sie vielmehr bei den Benachteiligten hier und an anderer Stelle die Diskussion geführt wird (D) selber ansetzen und die ausbildungsbegleitenden Hilfen – auch von der FDP –, ist in vielen Fällen nicht dazu ge- deutlich verbessern. Aber dazu finden sich in Ihrem Pro- eignet, sondern nimmt den Menschen den Mut. gramm leider nur sehr vage Aussagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ziel unserer Politik muss sein, solche Rahmenbedin- gungen zu schaffen, dass tatsächlich jeder Jugendliche in Präsident Dr. Norbert Lammert: Deutschland einen Ausbildungsplatz, einen Studienplatz Frau Kollegin Pothmer, Sie müssen leider zum Ende oder zumindest die Möglichkeit einer weiterführenden kommen. Ausbildung bekommt. Unsere Möglichkeiten im Bun- destag dazu sind vielfältig. Wir haben zuerst die Auf- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gabe, das wirtschaftliche Umfeld zu organisieren. Wir Ich komme gleich zum Schluss. sehen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Ausbildung ist eine Investition in die Zukunft der Jugendlichen, aber Präsident Dr. Norbert Lammert: auch der Unternehmen. Jetzt, wo die Zeiten besser sind, Sofort. wo die Wirtschaft wieder wächst, steigt auch die Zahl der Ausbildungsplätze, und zwar im Vergleich zum Vor- jahr um ungefähr 10 Prozent bzw. um über 50 000. Das Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ist eine gewaltige Leistung. Ich danke der Bundesregie- Dann müssen Sie vor allen Dingen das Ausbildungs- rung und der Koalition, dass sie durch eine kluge Politik management für die kleineren Betriebe verbessern. Ge- dies ermöglicht haben. rade denen, die nicht viel Erfahrung mit Ausbildung ha- ben, müssen Sie bei den bürokratischen Hürden helfen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Mit diesem Programm werden Sie nicht in der Lage Damit komme ich zur Qualifizierungsinitiative. Wir sein, den Berg der Altbewerber abzubauen. Wenn Sie so schaffen Hilfsangebote für diejenigen, die ausgebildet weitermachen, dann wird dieser Berg zu einer Wander- werden wollen, aber auch für diejenigen, die ausbilden. düne. Dann können Sie Ihr Versprechen als Gipfelkreuz Hierzu ist eine ganze Reihe von Maßnahmen aufgezählt obendrauf nageln. worden. Darauf will ich im Einzelnen nicht mehr einge- hen, wohl aber auf die Kritik. Sie haben die Kriterien ge- Ich danke Ihnen. nannt und damit aus meiner Sicht deutlich gemacht, dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) es sich um ein Programm handelt, das zielgerichtet auf 14462 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Michael Kretschmer (A) diejenigen wirkt, die es schwer haben. Wer seit mehreren (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) Jahren einen Ausbildungsplatz sucht, ist dringend darauf neten der SPD) angewiesen, weitergebildet zu werden, eine Lösung zu bekommen. Daher ist es richtig, dass wir hier zusätzlich Präsident Dr. Norbert Lammert: Geld in die Hand nehmen, obwohl es eigentlich die Auf- Der Kollege Dieter Grasedieck ist der nächste Redner gabe der Unternehmen ist. Natürlich können solche für die SPD-Fraktion. Maßnahmen nur eine Ausnahme sein. Es kann nicht richtig sein, dass der Staat im Bereich der dualen Ausbil- (Beifall bei der SPD) dung den Unternehmen die Ausbildung in nennenswer- tem Umfang finanziert. Dieter Grasedieck (SPD): Wir sind in diesem Bereich auf einem guten Weg. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Aber wir haben noch eine ganze Reihe von Problemen Damen und Herren! Unsere Bundesregierung geht wahr- zu lösen. Das Wesentliche ist, dass wir diejenigen, die lich mutige Schritte und bietet den Jugendlichen – auch die Schule abschließen, in die Lage versetzen, sich den den benachteiligten Jugendlichen – und den Studenten richtigen Beruf auszusuchen. Hier habe ich in der Tat Hilfen an. Zusätzliche Ausbildungsplätze, Frau Pothmer, große Sorgen. Wenn ich mit den jungen Leuten an den werden angeboten. Die Jugend braucht eine Chance, sie Schulen in meinem Wahlkreis spreche, merke ich immer braucht mehr Unterstützung, Hoffnung und Perspektive. wieder, dass sie nicht wissen, welche Berufe es gibt und Genau dies greifen wir als Koalition und als Bundes- was sich hinter den verschiedenen Berufen verbirgt. regierung auf. Die Herausforderung unseres Jahrhun- Deswegen ist ein wichtiger Baustein der Qualifizie- derts, die Ausbildung einerseits und das lebenslange rungsinitiative, junge Leute schon in ihrer Schulzeit in Lernen andererseits, wird hier in den entscheidenden die Unternehmen zu bringen, sodass sie einen Eindruck Schritten angegangen. von der Firma und vor allen Dingen von den Berufen be- Das Wissen ändert sich täglich. Genau deshalb brau- kommen. Ich halte das für einen wichtigen Punkt. chen wir eine breite Unterstützung. Neue Patente, neue (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörg Tauss Berichte aus den einzelnen wissenschaftlichen Fachbe- [SPD]: Das ist ein wichtiger Hinweis!) reichen kommen täglich hinzu. Flugzeuge werden per Satellit gelenkt. Das war in den letzten Jahren ein ent- – Herr Kollege Tauss, wir haben uns ja gemeinsam da- scheidender Fortschritt. Wer hätte davon vor zehn Jahren rum bemüht. geträumt? Die Stärke und die Geschwindigkeit der Tai- fune können durch Satellitenbeobachtung vorherberech- In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinwei- net werden. Auch das ist ein entscheidender Fortschritt. (B) sen, dass der Bund nicht für alles zuständig ist. Im We- (D) sentlichen ist Bildungspolitik Länderpolitik. Die Welt wird komplexer und komplizierter. Wenn Sie die Fertigung etwa im Schweißbereich der Auto- (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) mobilindustrie von vor zehn Jahren und von heute ver- gleichen, dann erkennen Sie, dass die Schweißqualität Die Erfolge in den Bundesländern sind sehr unterschied- und die Fertigungsgeschwindigkeit besser geworden lich, wenn es um Schulabbrecher und Berufsorientierung sind. Hier werden hochqualifizierte Industriemechaniker geht. Ich glaube, dass wir in Sachsen besser sind als eingesetzt. Heute arbeiten hochqualifizierte Zerspa- manches andere Bundesland. Wir wollen uns unsere Er- nungsmechaniker an CNC-Maschinen: Die Arbeit unse- folge nicht kaputtreden lassen. rer Facharbeiter ist theoretischer, komplexer und kom- (Jörg Tauss [SPD]: Große Koalition!) plizierter geworden. Weil wir in Zukunft noch mehr hochqualifizierte Facharbeiter benötigen, haben wir die- Wir kommen auch nicht weiter, wenn wir versuchen, ei- ses Programm aufgelegt. nen Durchschnitt in Deutschland zu bilden. Vielmehr ist es wichtig, das eine oder andere zu übernehmen – ein (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gutes Beispiel ist Baden-Württemberg – der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das wird ihnen aber kaum (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: helfen!) Meinen Sie den großen Studienplatzabbau in Baden-Württemberg?) Wir brauchen mehr Qualifizierung in den verschie- densten Bereichen. Wir brauchen mehr Ausbildungs- und es anderen vorzuschlagen; das ist gar kein Problem. plätze in Deutschland, weil wir in der Zukunft Export- Wir sollten die besten Beispiele aufgreifen und für eine weltmeister bleiben wollen. Dazu wird jeder Jugendliche entsprechende Umsetzung sorgen. gebraucht. Das muss die Botschaft dieses Antrags und dieser Initiative der Bundesregierung sein. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Die Stimmung in diesem Land hat sich verbessert. Das merken wir überall, Gott sei Dank auch auf dem Auf diesem Gebiet, meine sehr verehrten Damen und Ausbildungsmarkt. Das ist ein gutes Zeichen für die jun- Herren, arbeiten wir erfolgreich auch gegen Jugendkri- gen Leute. Wir hoffen, dass es so weitergeht. minalität. Da ist die Bundesregierung ganz sicherlich er- folgreich. Sie geht mutige Schritte; das muss ich schon Vielen Dank. sagen, wenn ich mir die konkreten Maßnahmen unseres Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14463

Dieter Grasedieck (A) Ministers Scholz einmal ansehe. Es gibt 100 000 zusätz- die eine Strafsteuer für diejenigen fordert, die nicht aus- (C) liche Ausbildungsplätze für Altbewerber – das ist er- bilden, und die Forderung der anderen Seite, die Ausbil- wähnt worden –, 200 zusätzliche Berufsberater werden dungsvergütungen zu reduzieren, und am Ende dann eingestellt. Auch das ist wichtig. eine Klinkenputzaktion, um Ausbildungsplätze zu mobi- lisieren. Nein, wir als Union und SPD haben überlegt, (Beifall bei der SPD) was wir jenseits der Reflexe und ohne Ideologie als Wir machen uns über das neue Patensystem Gedan- Große Koalition entwickeln können, damit die Men- ken. Berufsbegleiter sind hier eingesetzt worden. In mei- schen konkret, praktisch und zeitnah eine Chance für nem Wahlkreis führe ich mit 14 Paten in Schulen ein Pa- eine Berufsausbildung bekommen. Diese Initiative ist tensystem durch. Dort erfolgt eine Berufsbegleitung das Ergebnis gemeinsamer Überlegungen. durch Experten, unter denen Elektriker genauso wie In- genieure, Maschinenbauer und Betriebswirte vertreten (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) sind. Wir überlegen uns gemeinsam, welcher Beruf für Im Zweijahresvergleich – das ist Markenzeichen der den Schüler richtig ist. Dies wird mit den Jugendlichen Merkel-Regierung – sank die Zahl der Arbeitslosen um diskutiert, und es werden Bewerbungen geschrieben und 1,2 Millionen. Die Zahl der Erwerbstätigen liegt bei Bewerbungsgespräche vorbereitet. Das ist wirklich Inte- etwa 40 Millionen. Zeitverzögert folgt nun auch der grationsarbeit, meine Damen und Herren. Ausbildungsmarkt. Mit 626 000 Ausbildungsverträgen (Beifall bei der SPD) haben wir einen der höchsten Stände in der letzten Zeit. Wir hatten bereits im letzten Ausbildungsjahr eine Stei- Deutschland braucht in der Zukunft kreative und in- gerung der Zahl der Ausbildungsplätze um 4,8 Prozent, novative Fachkräfte. Schon heute werden von der Indus- in diesem Ausbildungsjahr haben wir eine weitere Stei- trie 50 000 Diplomingenieure gesucht; 85 000 werden es gerung um 8,6 Prozent. Die Zahl der Arbeitslosen bis bis 2013 sein, wie vorhin in der Debatte schon erwähnt 25 Jahre sank im gleichen Zeitraum von 524 000 auf worden ist. Erforderlich ist eine kontinuierliche Verbes- 341 000, also um 35 Prozent. Auch das ist eine wichtige serung ihrer Qualifikation; denn auf der anderen Seite Botschaft für junge Menschen. Sie haben wieder ver- sind noch 20 000 Ingenieure arbeitslos, weil bei ihnen stärkt eine berufliche Perspektive. bestimmte Kenntnisse nicht vorhanden sind. Dies zeigt, dass hier noch etwas aufgearbeitet werden muss. Auch So etwas geht nur im Zusammenwirken von Politik, dies ist im Antrag festgelegt worden; wir brauchen in der Wirtschaft und den Sozialpartnern. In Deutschland in- nächsten Zeit eine kontinuierliche Weiterbildung. vestieren die Unternehmen 30 Milliarden Euro jährlich für die berufliche Qualifizierung. Jedes andere Land (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wäre dankbar, wenn eine solche Mitfinanzierung durch (B) der CDU/CSU) die Wirtschaft stattfinden würde. Auch dies ist ein Prä (D) Die Wissensexplosion, meine Damen und Herren, er- der starken dualen Ausbildung in unserem Lande. fordert lebenslanges Lernen und mehr Ausbildungs- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie plätze für junge Menschen. Eine schleichende Dequalifi- bei Abgeordneten der FDP) zierung bei älteren Fachkräften muss verhindert werden. Nur so können wir unseren Wissensvorsprung erhalten Über 60 Prozent der Schulabgänger entscheiden sich für und die Wettbewerbsfähigkeit weiter verbessern. Hier einen der 341 Ausbildungsberufe. Es sind 1,5 Millionen sind die Bundesregierung und die Koalition auf dem junge Menschen, die von 492 000 Betrieben qualifiziert richtigen Wege. werden. Das ist nicht nur Wirtschaftskultur, das ist auch (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ausbildungskultur in Deutschland. Der Ausbildungspakt ist ein Erfolgsmodell, auch Präsident Dr. Norbert Lammert: weil er von der Großen Koalition im letzten Jahr zeitlich Ich erteile dem Kollegen Uwe Schummer, CDU/ verlängert und qualitativ verbessert worden ist. Es war CSU-Fraktion, das Wort. wichtig, dass der drittstärkste Ausbilder, der Bundesver- band der Freien Berufe, in den Ausbildungspakt eingetre- (Beifall bei der CDU/CSU) ten ist. Es ist ein Fehler – das sage ich als IG-Metaller –, dass sich die Gewerkschaften immer noch nicht am Aus- Uwe Schummer (CDU/CSU): bildungspakt beteiligen. Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Es wäre undenkbar, dass die arabischen Länder ihre Ölvor- (Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Weil räte im Wüstensand versickern lassen oder die Südafri- das gescheitert ist! Nehmen Sie das zur Kennt- kaner ihre Goldnuggets in den Flussläufen belassen. Das nis!) Potenzial, das wir in unserer Volkswirtschaft haben, be- Gewerkschaften gehören nicht in die Meckerecke; Ge- steht aus kreativen, motivierten und qualifizierten Men- werkschaften gehören an den Verhandlungstisch und schen. Es ist gut, dass der Antrag „Junge Menschen för- sonst nirgendwohin. dern – Ausbildung schaffen und Qualifizierung sichern“ und auch die Qualifizierungsinitiative mit dem alten, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie ewigen Kreislauf Schluss machen, nämlich: verheerende bei Abgeordneten der SPD – Hüseyin-Kenan Ausbildungsplatzlücken Mitte des Jahres, in den Mona- Aydin [DIE LINKE]: Seit 20 Jahren wiederho- ten Juni, Juli, August, dann der Reflex der einen Seite, len Sie dasselbe!) 14464 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Uwe Schummer (A) – Kehlkopf ersetzt noch keinen Nachdenkkopf. Welche ckelt werden. Dieses Vorhaben wird systematisch umge- (C) politischen Pappnasen Sie sind, haben Sie am Mittwoch- setzt. nachmittag sinnbildlich hier im Plenum gezeigt. Ich möchte abschließend sagen: Die Wirtschaft kriti- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) siert, dass aufgrund der mangelnden Ausbildung Auf- träge in Höhe von 20 Milliarden Euro verloren gehen. Jeder zweite Ausbildungsvertrag ist mit einem Men- Die 341 000 langzeitarbeitslosen Jugendlichen kosten schen abgeschlossen worden, der vor mehr als zwölf uns etwa 8 Milliarden Euro an nicht gezahlten Steuern Monaten aus der Schule entlassen wurde. Wir müssen und Beiträgen und an notwendigen Leistungsausgaben. deshalb neben den Schulabgängern auch die sogenann- Das Teuerste ist Arbeitslosigkeit, und wir steuern dage- ten Altbewerber mit im Blick behalten. Ein wichtiges gen. Kind des Ausbildungspaktes sind die Einstiegsprak- tika, die eine Weitervermittlungsquote von 74,7 Prozent (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) zu verzeichnen haben, davon 65,5 Prozent in eine klassi- sche berufliche Ausbildung. Das zeigt den hohen Wert Präsident Dr. Norbert Lammert: dieser EQJ-Programme, der Einstiegspraktika. Wenn Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der diese jetzt mit Bausteinen der Ausbildung kombiniert Kollege Jörg Tauss, SPD-Fraktion. werden, dann bedeutet dies – kammerzertifiziert –, dass diese Zeit auch verstärkt bei der Nachvermittlung aner- (Beifall bei der SPD) kannt wird und den jungen Menschen nicht mehr Le- benszeit verloren geht. Diese kann vielmehr effizient ge- Jörg Tauss (SPD): nutzt werden. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Barth – Sie telefonieren gerade –, ich Der Qualifizierungskombilohn für langzeitarbeits- weiß gar nicht, was Sie gegen Wissensbeschleunigung lose Jugendliche aus der Werkstatt des Arbeitsministers haben. Das ist doch eigentlich ein schöner Begriff, der Karl-Josef Laumann ist ein weiteres wichtiges Instru- auch dieses Programm ziert. ment, um den 341 000 verbliebenen jungen Langzeitar- beitslosen eine Perspektive zu geben. Es wirkt unter- (Uwe Barth [FDP]: Dass Sie den schön finden, schwellig und kann eine Brücke in eine spätere berufliche wundert mich nicht! Sie haben keine Ahnung! Ausbildung sein. Das ist das Problem!) 15 Prozent der Schulabgänger werden von den Kam- Es ist übrigens kein neuer Begriff. Er stammt aus der mern als nicht ausbildungsfähig bewertet. Ich kann nur Makroökonomie und den Sozialwissenschaften. Da kön- (B) sagen: Auch da muss man vorsichtig sein. Ich habe er- nen wir Ihr Wissen noch ein wenig beschleunigen; das (D) lebt, dass sogenannte nicht ausbildungsfähige junge ist nicht das Problem. Menschen ihren Führerschein gemacht haben. Tausend Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, Fragen, Tausend Antworten – sie lesen motiviert und en- selbstverständlich ist Bildung ein Wert an sich; das ist gagiert die Bücher und bestehen eine hochkomplexe überhaupt keine Frage. Allerdings müssen wir dem dro- theoretische Fahrprüfung. Sie sehen nämlich das Auto henden Fachkräftemangel entgegenwirken. Außerdem vor der Tür und denken: Es lohnt sich. Ich habe ein Ziel; müssen wir die Bildungspolitik in den Mittelpunkt der ich möchte die Führerscheinprüfung bestehen. – Auch Integrationspolitik stellen. Das sind die zentralen He- dies ist eine Frage der Motivation. Es geht darum, ob rausforderungen, die wir bewältigen müssen. Mit dieser man sich um Menschen kümmert, ob man sie frühzeitig Qualifizierungsinitiative haben diese Bundesregierung auf die richtige Schiene setzt und ob man sie begleitet, und die Große Koalition richtige Antworten gegeben. bis sie eine vernünftige Ausbildung durchlaufen haben. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Der Versuch, beide Ziele – Bekämpfung des Fachkräfte- Wir wollen die Abbrecherquote von 20 Prozent sen- mangels und Förderung der Integration – zu erreichen, ken, und zwar unter anderem dadurch, dass – finanziert ist die Grundlage dessen, was wir hier tun. durch ein von Annette Schavan initiiertes 15-Millio- nen-Euro-Programm – zwei Jahre vor der Entlassung ein Natürlich sind damit auch Risiken verbunden; das ist Schnupperkursus in einer überbetrieblichen Ausbil- völlig klar. Wir sind bei einem großen Teil dessen, was dungswerkstatt besucht werden kann. Wo sind denn un- wir umsetzen müssen, auf die Länder angewiesen. Des- ter einem Dach Holzwerkstatt, Metallwerkstatt, Haus- wegen bin ich nicht beglückt, dass die Bundesratsbank wirtschaft, Verwaltung und auch Gartenbau, sodass man ausgerechnet während dieser Debatte sehr leer ist. in 14 Tagen alle Berufsbereiche kennenlernen kann? (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Jawohl! Sehr Wenn man diesen Kursus absolviert hat, kann man ein richtig!) Profiling für die nächsten zwei Jahre erstellen und klä- ren, welche weiteren Betriebspraktika bis zum Ausbil- Wir hoffen, dass dies kein Zeichen dafür ist, dass sich dungsabschluss für eine zielgerichtete Berufsorientie- die Länder nicht im entsprechenden Maße an dem, was rung und Berufsberatung sinnvoll sind. Ein Patenmodell wir hier anbieten, beteiligen. Ich glaube – auch da kön- soll diese jungen Menschen begleiten und unterstützen. nen wir optimistisch sein –, sie werden es tun; denn auch Das heißt, nicht wenige Wochen, sondern zwei Jahre vor die Länder wissen, dass wir uns einen bildungspoliti- der Entlassung müssen zielgerichtete Angebote entwi- schen Stillstand bis zum Bildungsgipfel im Herbst nicht Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14465

Jörg Tauss (A) leisten können. Dieses Jahr, also 2008, muss ein weiteres Jörg Tauss (SPD): (C) Jahr des Aufbruchs sein. Menschliche! (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Uwe Barth [FDP]: Warum denn das?) CDU/CSU) Man kann zu dieser Großen Koalition sagen, was man Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): will. Frau Schavan und ich konnten uns in vielen bil- Diese menschliche Enttäuschung. – In dem Positions- dungspolitischen Fragen nie so richtig leiden. Wir haben papier, das Sie gerade zitiert haben, wird ausdrücklich uns aber zu Beginn dieser Koalition zusammengesetzt, kritisiert, dass das im SGB II vorgesehene Instrument um die Frage zu klären, was wir gemeinsam erreichen – nämlich weitere Leistungen –, mit dem gezielt benach- wollen: Wir wollen gemeinsam, dass diese Große Koali- teiligte Jugendliche gefördert werden können, jetzt von tion am Ende ihrer Amtszeit dafür steht, dass Deutsch- der Bundesregierung unmöglich gemacht wird. In die- land im Bereich „Bildung, Wissenschaft und Forschung“ sem Positionspapier wird ausdrücklich darauf hingewie- vorangebracht worden ist. Das ist unser gemeinsames sen, dass neben dem Ausbildungsplatzbonus insbeson- Ziel, an dessen Erreichung wir trotz vieler unterschiedli- dere an den persönlichen Nachteilen der Jugendlichen cher Auffassungen in der Sache arbeiten. angesetzt werden muss. (Beifall bei der SPD) (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Frage?) Liebe Frau Kollegin Pothmer – Sie haben mich Ich möchte deutlich machen, wie hoch Mitnahme- menschlich richtig enttäuscht –, ich weise Ihre Kritik am effekte sein können. Die Einstiegsqualifizierungen sind Ausbildungsbonus ganz entschieden zurück. Entschul- hier mehrfach lobend erwähnt worden. digung! würde sich politisch sozusagen (Ernst Burgbacher [FDP]: Fragezeichen!) im Grabe umdrehen. Ihr wart mal eine Partei der Sozial- bewegungen. Lesen Sie das einmal nach: Der Koopera- Ist Ihnen bekannt, Herr Tauss, dass bei diesen Einstiegs- tionsverbund Jugendsozialarbeit begrüßt das aktuelle qualifizierungen, die hier so hochgehalten werden und Vorhaben, für jugendliche Altbewerber einen Ausbil- die ausdrücklich auf Schulabbrecherinnen und Schulab- dungsbonus zu schaffen. Unterschrieben haben das Deut- brecher gerichtet werden sollten, mehr als 50 Prozent der sche Rote Kreuz, die Bundesarbeitsgemeinschaft Evan- Personen mindestens einen Realabschulabschluss oder gelische Jugend, die Bundesarbeitsgemeinschaft der einen höheren Abschluss haben? So viel zu den zielge- regionalen Ausbildungsträger, der Paritätische Wohl- richteten Maßnahmen dieser Bundesregierung. Nichts, fahrtsverband, der Internationale Bund für Sozialarbeit, aber auch nichts deutet darauf hin, dass das beim Ausbil- dungsbonus besser sein wird. (B) die Katholische Jugendsozialarbeit usw. Und die Grünen (D) zitieren die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitge- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- berverbände! Ich bin ja völlig fertig, liebe Kolleginnen SES 90/DIE GRÜNEN) und Kollegen! Das kostet einen richtig Nerven. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Jörg Tauss (SPD): der CDU/CSU) Liebe Kollegin Pothmer, jetzt bin ich menschlich ein bisschen beruhigt, weil ich merke, dass es Ihnen nicht Präsident Dr. Norbert Lammert: um die Verlautbarung eines Verbandes aus der Wirt- Herr Kollege Tauss, wir wollen nicht hoffen, dass Sie schaft geht, sondern um die Sache. Dazu kann ich Ihnen völlig fertig sind, zumal Sie noch fünf Minuten Redezeit sagen: Damit rennen Sie offene Türen ein; denn genau haben. über diesen Bereich, was die Frage des Anwendungsbe- reichs von § 16 und anderes anbelangt, haben wir in der Vergangenheit vielleicht zu wenig diskutiert. Das wollen Jörg Tauss (SPD): wir nun ändern. Genau das steht übrigens in dem Schrei- Fünf Minuten und 49 Sekunden, Herr Präsident. ben; es liegt mir vor.

Präsident Dr. Norbert Lammert: (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das wäre wirklich ein Jammer, zumal Ihnen die Kol- NEN]: Mir auch!) legin Pothmer durch eine Zwischenfrage zu zusätzlicher In dem Schreiben heißt es: Redezeit verhelfen möchte. Um dies … zu gewährleisten, bedarf es dringend realitäts- und bedarfsorientierter Alternativen zur Jörg Tauss (SPD): bisherigen Ausschreibungspraxis … Kollegin Pothmer nimmt diese Kritik zurück; das finde ich prima. (Willi Brase [SPD]: Sehr richtig!) Darüber haben wir mit der Bundesagentur bereits viel- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): fach geredet. Wir haben nicht nur geredet, sondern auch Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr verbessert. – Ferner heißt es darin: Wir brauchen Aussa- Tauss, ich möchte einen Versuch unternehmen, die per- gen zur Absicherung der Förderinstrumente in der Be- sönliche Enttäuschung, die ich Ihnen zugefügt habe, et- nachteiligtenförderung. – Auch dies ist in dem Pro- was abzumildern. gramm vorgesehen. 14466 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Jörg Tauss (A) Weil Sie auf die Realschülerinnen und Realschüler beit haben gemeinsam mit den Gewerkschaften aus- (C) abgehoben haben: Ich habe die Situation bei der Schaf- drücklich gefordert, dass wir Beitragsmittel in die Hand fung eines Ausbildungsplatzes erlebt. In meinem Büro nehmen, um einen Bonus zu schaffen und damit etwas hat sich eine junge Frau als Auszubildende beworben. für die Altbewerber zu tun. Das Gemäkel aus Teilen der Sie hat einen ganz ordentlichen Realschulabschluss, Wirtschaft kann ich also nicht ganz nachvollziehen. hatte aber trotzdem über mehrere Jahre hinweg keinen Aber wir werden mit allen ruhig darüber diskutieren Ausbildungsplatz bekommen. Sie war immer zweite Sie- und, wie ich glaube, diesem Projekt zum Erfolg verhel- gerin. Sie war gar nicht schlecht, aber ihr wurde keine fen. Wir sind allerdings in der Tat darauf angewiesen, Chance gegeben. – Von daher ist es natürlich richtig, dass die Betriebe mitmachen. Aus diesem Grunde wol- dass wir uns auch um Realschülerinnen und Realschüler len wir über alle Bedenken, die in diesem Zusammen- kümmern. hang geäußert werden, sachlich diskutieren. Klar ist dabei: Die Priorität muss natürlich bei denen Kolleginnen und Kollegen, über die 80 000 Erziehe- liegen, die keinen Schulabschluss oder sonstige Defizite rinnen und Erzieher ist gesprochen worden. Was da ge- haben. Aber man kann doch die einen nicht gegen die schieht, ist doch eine prima Geschichte. Ich bitte, hier anderen ausspielen. Man muss für alle etwas tun, die in insbesondere eines zu sehen: Wir wollen dafür sorgen, den letzten Jahren nicht die Chance hatten, einen Ausbil- dass ein Internetauftritt eingerichtet wird, über den Er- dungsplatz zu bekommen. zieherinnen und Erziehern E-Learning-Angebote unter- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) breitet werden sollen. Ich weiß gar nicht, was es daran wieder auszusetzen gibt. Wir werden im Arbeitsausschuss miteinander voran- kommen. Der Minister ist der Letzte, der dem im Wege (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: steht. Das reicht hinten und vorne nicht!) (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dass dies nicht ausreicht, dass parallel dazu die Ausbil- Was sollen denn nun Schulabbrecher tun?) dung der Erzieherinnen und Erzieher verbessert werden Wir haben eine Diskussion geführt. Die Kollegin muss, ist natürlich eine Tatsache, die jeder von uns Aigner war gar nicht zufrieden, als die SPD vom Scholz- kennt; darüber mäkelt im Grunde genommen auch kei- Bonus geredet hat. Sie hat gesagt, das sollten wir nicht ner. Im Übrigen hat die Ministerin – auch das steht im tun. Das mache ich jetzt auch nicht, Programm – gesagt, dass geprüft werden soll, das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz für Sozialberufe (Heiterkeit bei der SPD) und damit auch für Erzieherinnen und Erzieher zu öff- (B) auch wenn ich es nicht schlecht finde, dass man Namen nen. Das finde ich prima. Die Ministerin hat gestern so- (D) mit Politik verbindet; Riester-Rente und wie auch im- gar angekündigt, dass sie das konkret in 2008 tun wolle. mer. Da hat sie uns auf ihrer Seite. Die entsprechende Kritik, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht also ein Stück weit (Ilse Aigner [CDU/CSU]: Nein, das ist ganz ins Leere. schlecht!) Wir müssen noch einen weiteren Aspekt, den ich Aber in der Tat – auch das ist heute schon angeklungen –: schon kurz angedeutet habe, ansprechen, nämlich die Es gibt viele Beteiligte. Wir könnten vom Schummer/ Integration junger Menschen, insbesondere solcher Brase-Bonus reden. mit Migrationshintergrund. Eines müssen wir sehen (Beifall der Abg. Ilse Aigner [CDU/CSU]) – das steht in dem Bericht auch schwarz auf weiß drin –: Jugendliche mit Migrationshintergrund, also Kinder von Wir könnten vom Müntefering-Bonus reden. Wie gesagt, Eltern, die aus dem Ausland zu uns gekommen sind, ha- Scholz-Bonus gefällt mir ganz gut. ben bei gleicher Leistung nur eine halb so große Chance, (Ernst Burgbacher [FDP]: Riester-Bonus!) eine qualifizierte Berufsausbildung aufzunehmen, wie deutschstämmige Jugendliche. Eine halb so große Wenn dieser Begriff, egal mit welchem Namen er verse- Chance! Das ist ein gesellschaftlicher Skandal; denn so hen wird, dafür steht, dass für die Jugendlichen etwas werden Bildungschancen ungerecht verteilt. getan wurde und Hunderttausende Jugendliche, die bis- her keine Chance hatten, aus der Statistik der Altbewer- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ber fallen und sich in betrieblichen Maßnahmen wieder- der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- finden, dann wäre das ein großer Erfolg. Dass wir daran NISSES 90/DIE GRÜNEN) beteiligt sind, erfüllt uns natürlich mit großem Stolz. Herr Kauder – leider sehe ich ihn gerade nicht –, wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten könnten die aktuelle Diskussion über den Populismus der CDU/CSU) von Koch in Hessen ein bisschen herunterholen und da- Wir wollen das Instrument der Ausbildungspaten, mit auch einen Konfliktpunkt in unserer Koalition berei- Frau Kollegin Pothmer, in den Mittelpunkt stellen. Hier nigen, wenn einmal anerkannt würde, dass statt Weg- gibt es eine ganze Reihe von Ansätzen. In diesem Zu- sperren, Abschieben und Vergessen die Sicherung echter sammenhang möchte ich auch noch einmal auf die von Chancengleichheit in der beruflichen Bildung insgesamt Ihnen zitierten Arbeitgeberfreunde zurückkommen. Die ein wichtiger Beitrag gegen Gewalt in diesem Lande Vertreter der Arbeitgeber in der Bundesagentur für Ar- wäre. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14467

Jörg Tauss (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten teresse an den Naturwissenschaften frühzeitig zu we- (C) der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE cken. Das ist prima. GRÜNEN) (Beifall des Abg. Uwe Barth [FDP]) Auch dies ist ein wichtiger Punkt, den wir mit unserer Last, but not least. Was die Opposition heute vorge- Initiative erreichen wollen. Das finde ich gut; denn für tragen hat, war allenfalls Gemäkel. Die Große Koalition mich ist das beste Erziehungscamp nicht besser als ein kann auf dem Bildungssektor Impulse geben. Wir haben guter Ausbildungsplatz. Gute Ausbildungsplätze erset- dies mit dem Hochschulpakt und der BAföG-Novelle zen im Zweifel keine Erziehungsmaßnahmen, getan. Wir setzen dies fort mit der Qualifizierungsinitia- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tive zur Stärkung des Ausbildungsbereiches insgesamt. Wir wollen das Meister-BAföG ausweiten. Das alles aber wir brauchen möglichst viele davon, um Chancen- verbessert die Chancengleichheit in unserem Bildungs- gleichheit herzustellen und damit auch Jugendkrimina- system, erzeugt Qualifizierungsperspektiven und sichert lität einzudämmen. All dies hängt nämlich logisch zu- die Zukunft in unserem Lande. sammen. Ich bin daher durchaus zufrieden. Wenn es dann auch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten noch schnell geht und es keine Blockaden von Länder- der LINKEN) seite oder anderer Seite gibt, dann hat die Große Koali- tion an dieser Stelle wirklich etwas bewirkt. Darauf kön- Im Übrigen ist es ja nicht nur eine soziale Tat, wenn nen wir gemeinsam stolz sein. man Auszubildende einstellt. Ich habe vorhin von mei- ner Auszubildenden geredet. Ich habe in dieser Woche Danke schön. auch wieder einen jungen Menschen eingestellt. Es (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) macht doch Spaß, mit jungen Leuten zusammenzuarbei- ten, die an der Schwelle zum Eintritt in das Berufsleben sind, die neugierig und intelligent sind. Es geht doch Präsident Dr. Norbert Lammert: nicht nur um die Sicherung des Fachkräftebedarfs, es Ich schließe die Aussprache. geht im besten Sinne des Wortes auch um Zukunfts- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- sicherung. Auch Leute meiner Generation, die mit die- schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen- sen jungen Leuten zusammenarbeiten, können etwas ler- abschätzung auf Drucksache 16/7754. Der Ausschuss nen und Spaß daran haben. Ausbildung stellt also nicht empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die nur eine Belastung dar. Sie macht natürlich Arbeit und Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und (B) fordert einen heraus. Man sollte den Ausbildungsbetrie- SPD auf der Drucksache 16/5730 mit dem Titel „Junge (D) ben sagen: Liebe Leute, macht etwas für die Auszubil- Menschen fördern – Ausbildung schaffen und Qualifi- denden! – Ich habe den Eindruck – das hat auch der Aus- zierung sichern“. Wer stimmt für diese Beschlussemp- bildungspakt gezeigt –, dass sich diese Erkenntnis in den fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der letzten Jahren in der Wirtschaft immer mehr durchge- Stimme? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit den setzt hat. Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, einen Punkt der Oppositionsfraktionen angenommen. möchte ich noch gerne ansprechen: Die Bundeskanzle- Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt rin, die ja heute Morgen hier freundlicherweise anwe- der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion send war und damit gezeigt hat, wie wichtig sie selbst Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5732 mit dieses Thema nimmt, wird zu einem Bildungsgipfel ein- dem Titel „Perspektiven schaffen – Angebot und Struk- laden. Ich begrüße dies ausdrücklich. Ich sage das mit ei- tur der beruflichen Bildung verbessern“. Wer stimmt für nem kleinen ironischen Nebenhieb, weil es noch gar diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – nicht so lange her ist, dass Frau Merkel im Rahmen der Wer enthält sich? – Damit ist auch diese Beschlussemp- Föderalismusdebatte sagte: Wenn der Tauss Schulpolitik fehlung mehrheitlich angenommen. machen will, soll er doch in den Landtag gehen. – Ich bin nicht in den Landtag gegangen und fühle mich hier Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 21 b und zum unverändert sehr wohl. Dass ich immer noch über Schul- Zusatzpunkt 8. Hier wird interfraktionell die Überweisung und Bildungspolitik reden kann und dass die Bundes- der Vorlagen auf den Drucksachen 16/7750 und 16/7733 kanzlerin zu einem Bildungsgipfel einlädt, das zeigt an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse doch, wie weit wir im Laufe der Debatte gekommen vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist sind. Ich begrüße diese Entwicklung sehr. der Fall. Dann ist das so beschlossen. (Beifall bei der SPD) Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 h auf: Die Erfolgsgeschichte der Initiative für kleine For- 22 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- scherinnen und Forscher ist schon angesprochen wor- regierung den. Ich bedanke mich sehr bei den Wirtschaftseinrich- tungen und vor allem bei der Helmholtz-Gemeinschaft, Bericht der Bundesregierung zum Stand der die diese Initiative auf den Weg gebracht hat, um bei Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung Kindern sowie deren Erzieherinnen und Erziehern ihr In- und Nichtverbreitung sowie über die Entwick- 14468 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) lung der Streitkräftepotenziale (Jahresabrüs- Dr. Rolf Mützenich (C) tungsbericht 2006) Harald Leibrecht Dr. Norman Paech – Drucksache 16/5211 – Jürgen Trittin Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Verteidigungsausschuss richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Trittin, Winfried Nachtwei, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- NIS 90/DIE GRÜNEN richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- schuss) zu dem Entschließungsantrag der Abge- Nuklearen Dammbruch verhindern – Indien ordneten Paul Schäfer (Köln), Monika Knoche, an das Regime zur nuklearen Abrüstung, Rüs- Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter tungskontrolle und Nichtweiterverbreitung und der Fraktion DIE LINKE zu der Unterrich- heranführen tung durch die Bundesregierung – Drucksachen 16/834, 16/4591 – Bericht der Bundesregierung zum Stand der Berichterstattung: Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung Abgeordnete und Nichtverbreitung sowie über die Entwick- Dr. Rolf Mützenich lung der Streitkräftepotenziale (Jahresabrüs- Harald Leibrecht tungsbericht 2005) Dr. Norman Paech – Drucksachen 16/1483, 16/2999, 16/4594 – Jürgen Trittin Berichterstattung: f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- Guttenberg schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Paul Uta Zapf Schäfer (Köln), Dr. Norman Paech, Monika Harald Leibrecht Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Dr. Norman Paech DIE LINKE Jürgen Trittin Keine Unterstützung für die indische Atom- rüstung (B) c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (D) richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- – Drucksachen 16/1445, 16/4590 – schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Norman Paech, Alexander Ulrich, Paul Berichterstattung: Schäfer (Köln), weiterer Abgeordneter und der Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Fraktion DIE LINKE Guttenberg Uta Zapf Abzug der Atomwaffen aus Deutschland Dr. Werner Hoyer – Drucksachen 16/448, 16/4593 – Dr. Norman Paech Jürgen Trittin Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu g) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Guttenberg richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- Dr. Rolf Mützenich schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Leibrecht Winfried Nachtwei, Alexander Bonde, Volker Dr. Norman Paech Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Jürgen Trittin Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Zivilbevölkerung wirksamer schützen – Streu- richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- munition ächten schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten – Drucksachen 16/2749, 16/4589 – Winfried Nachtwei, Jürgen Trittin, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Berichterstattung: Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Abrüstung der taktischen Atomwaffen voran- Uta Zapf treiben – US-Atomwaffen aus Deutschland Harald Leibrecht und Europa vollständig abziehen Wolfgang Gehrcke – Drucksachen 16/819, 16/4592 – Jürgen Trittin Berichterstattung: h) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- Guttenberg schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Paul Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14469

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Schäfer (Köln), Monika Knoche, Hüseyin-Kenan den Partnern abzustimmen. Das hat viel mit dem Iran, (C) Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion aber auch mit der Diskriminierung innerhalb der interna- DIE LINKE tionalen Gemeinschaft zu tun; Stichwort: Atomwaffen- sperrvertrag. Ich danke dem Außenminister für diese Ini- Keine neuen Raketen in Europa – stattdessen tiativen. Stärkung der globalen Sicherheit durch Rüs- tungskontrolle und Abrüstung (Beifall bei der SPD) – Drucksachen 16/5456, 16/7516 – Der eine oder andere in diesem Saal würde das vielleicht als Alleingang bezeichnen. Ich aber bin froh, dass dort Berichterstattung: ein Außenminister arbeitet, der mit Mut, Kreativität und Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Beharrlichkeit über den Tellerrand hinausschaut und die Guttenberg Dinge voranbringt. Vielen Dank! Dr. Rolf Mützenich Dr. Werner Hoyer (Beifall bei der SPD) Wolfgang Gehrcke Ich glaube, wir sollten uns auch vergegenwärtigen, Jürgen Trittin dass wir versuchen, Initiativen wie die globale Partner- Zum Jahresabrüstungsbericht 2006 der Bundesregie- schaft mit Russland voranzubringen. Im Abkommen von rung liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der Dayton zum Beispiel haben wir die Abrüstung und die FDP und der Fraktion Die Linke vor. Rüstungskontrolle verankert. Das war wichtig, damit das Instrument der Abrüstung und Rüstungskontrolle ge- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll auch nutzt werden kann. diese Aussprache eineinhalb Stunden dauern. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- Ich will an eine andere Erfahrung anknüpfen. Verge- sen. genwärtigen wir uns einmal, wie Libyen und Nordkorea auf den Weg der Abrüstung gebracht worden sind: durch Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- Dialog, durch Verhandlungen und durch Gespräche. nächst dem Kollegen Dr. Rolf Mützenich für die SPD- Eine Voraussetzung war unabdingbar: Man musste die Fraktion. Regime, die politischen Akteure anerkennen. Ich glaube, (Beifall bei der SPD) das sind wichtige Hinweise, wenn man versucht, gegen- über dem Iran die richtigen Maßnahmen zu ergreifen. Dr. Rolf Mützenich (SPD): Das Atomwaffenprogramm, das in der jetzigen Gestalt möglicherweise verdächtig ist, ist natürlich abzulehnen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Abrüstung (B) Gleichzeitig ist aber auf Dialog, Kooperation und Ange- (D) und Rüstungskontrolle sind lediglich Instrumente. Wenn bote zu setzen. Nordkorea und Libyen haben den richti- sie aber angewandt werden, können sie die Zusammen- gen Weg gewiesen. arbeit und das friedliche Zusammenleben stärken. Des- wegen ist der politische Wille die Voraussetzung für Ab- (Beifall bei der SPD) rüstung und Rüstungskontrolle. Leider hat es in den vergangenen Jahren an diesem politischen Willen ge- Ich würde mich freuen, wenn die Bundesregierung mangelt. Ich bin daher der Bundesregierung dankbar, und die hier vertretenen Parteien es mit den Vertreterin- dass sie mit all ihren Kräften versucht, dafür einzutreten, nen und Vertretern im amerikanischen Kongress schaf- dass Abrüstung und Rüstungskontrolle vorangebracht fen würden bzw. wenn die Bundeskanzlerin es mit der werden. Politische Initiativen sind notwendig. Diese ha- neuen Präsidentin oder dem neuen Präsidenten schaffen ben wir unternommen. würde, die Rüstungsbegrenzungskultur, die für die transatlantische Gemeinschaft immer gegolten hat, wie- (Beifall bei der SPD) derzubeleben. Das gehört genauso dazu wie andere Ini- tiativen. Deshalb bin ich dankbar, dass der deutsche Auf der anderen Seite müssen wir natürlich feststel- Außenminister zusammen mit dem norwegischen len, dass wir in einer Krise sind; das ist gar keine Frage. Außenminister in der NATO versucht, die Abrüstungs- Denn an diesem politischen Willen hat es immer wieder initiative voranzutreiben. Auch das ist ein gutes Signal, gemangelt. Wir sind konfrontiert mit dem Aussetzen, das von dieser Regierungsbank ausgeht. mit der Missachtung und auch mit der Kündigung von Verträgen. Wir haben bei verschiedenen Gelegenheiten (Beifall bei der SPD) schon darüber diskutiert. Gleichzeitig sind wir mit einer Wer sich für Abrüstung und Rüstungskontrolle ein- großen Aufrüstung konfrontiert. Allein im vergangenen setzt, darf dies nicht für die Innenpolitik missbrauchen. Jahr betrugen die entsprechenden Ausgaben 900 Milliar- Der eine oder andere Antrag, der heute hier vorliegt, den Euro. Daran hatten die USA einen Anteil von beschäftigt sich eigentlich nur unter dem Aspekt der In- 42 Prozent. nenpolitik mit diesem Thema. Ich glaube, deswegen Dennoch ist es gut, darauf hinzuweisen, dass – wie übersieht der eine oder andere, dass zum Beispiel in ich gerade erwähnt habe – schon Initiativen unternom- Ramstein keine Atomwaffen mehr lagern. Er übersieht, men worden sind. Ich möchte an erster Stelle daran erin- dass Sozialdemokraten wie Peter Struck dafür eingetre- nern, dass der Bundesaußenminister seit mehreren ten sind, dass in der NATO über die besondere Situation Monaten versucht, zum Beispiel zum internationalen in Deutschland diskutiert wird. Ich fordere die Bundes- Brennstoffkreislauf Vorschläge vorzulegen und sie mit regierung auf, dafür genauso einzutreten. Ich denke, das 14470 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Dr. Rolf Mützenich (A) ist der richtige Weg. Wir müssen aber auch sagen: Es Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) geht nicht nur um die wenigen Atomwaffen, die in Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer, Deutschland lagern, sondern um die taktischen Kernwaf- FDP-Fraktion. fen insgesamt. Sie müssen einer Nulllösung zugeführt werden, genauso wie damals die Mittelstreckenraketen. (Beifall bei der FDP) Das wäre die richtige politische Antwort. Dr. Werner Hoyer (FDP): (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dies ist der Jahresabrüstungsbericht. Wenn man ihn liest Gleichzeitig möchte ich darauf hinweisen, dass wir und mit den Berichten der letzten Jahre vergleicht, muss hin und wieder widersprüchliche Hinweise geben. Die man sagen: Das sind eigentlich Kapitulationsurkunden EU-Strategie gegen die Verbreitung von Massenvernich- der Völkergemeinschaft gegenüber dem, was abrüs- tungswaffen ist wichtig gewesen. Sie hat natürlich etwas tungspolitisch erforderlich wäre. mit der Invasion im Irak zu tun, mit der Diskussion, die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten die USA damals provoziert haben. Die Verbreitung von der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Kernwaffen ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die GRÜNEN) andere Seite der Medaille ist, dass die Kernwaffen- mächte weiter qualitativ aufrüsten und sich gleichzeitig Das sind Dokumentationen des Stillstandes. Wenn wir nicht an vorhandene Verträge halten. Auch das muss im nächsten Jahr über den Jahresabrüstungsbericht 2007 man ansprechen. reden, dann wird – das können wir jetzt, Anfang 2008, schon sagen – darin das Gleiche stehen wie in dem Be- (Dr. Werner Hoyer [FDP]: So ist es!) richt für das Jahr 2006, über den wir heute debattieren. Ich glaube, wir müssen die Kernwaffenstaaten von hier Seien wir ehrlich: Die letzten zehn Jahre waren für aus auffordern, zu verhandeln, ihre Rüstungen zu be- die Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik weitgehend grenzen und abzurüsten. Das wäre die richtige Antwort. verlorene Jahre. Weder in den sieben Jahren rot-grüner Koalition noch in den bisher zwei Jahren der Großen (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried Koalition hatte die Abrüstungs- und Nonproliferations- Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) politik Konjunktur. Ich freue mich, dass jetzt Signale, dass sich das ändern wird, zu sehen sind. Ich möchte versuchen, an dieser Stelle auf einen zweiten Widerspruch in Europa aufmerksam zu machen. Es ist ein Fanal und für uns Europäer und übrigens (B) Ich sehe mit Verwunderung, dass der französische Präsi- auch für die jüngere Generation von Außen- und Sicher- (D) dent bei seinen Besuchen im Nahen Osten immer wie- heitspolitikern fast beschämend, dass es die Altmeister der händeringend versucht, Atomkraftwerke anzubieten. der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik sind Das ist sein gutes Recht; das spreche ich ihm nicht ab. – es handelt sich um William Perry, Henry Kissinger, Ich wäre aber dankbar, wenn er bei diesen doch etwas Sam Nunn und andere –, die uns jetzt darauf aufmerk- aufdringlichen Verkaufstouren versuchen würde, auf das sam machen, dass wir hier einen riesigen Rückstand ha- Proliferationsrisiko hinzuweisen. ben. Der Weckruf in The Wall Street Journal dieser Wo- che ist alarmierend. Ich zitiere: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- Wir stehen in der Frage der Verbreitung nuklearer SES 90/DIE GRÜNEN) Waffen und Technologien heute an einem entschei- denden Punkt. Wir sehen uns konfrontiert mit der Deswegen wäre es gut, wenn die Bundeskanzlerin, wenn ganz realen Möglichkeit, dass die Verbreitung die- sie diese Risiken auch sieht, mit dem französischen Prä- ser tödlichsten Waffen nicht mehr kontrollierbar ist. sidenten darüber spräche. Eine gemeinsame europäische Und die Maßnahmen, die dem international entge- Initiative an dieser Stelle wäre notwendig. gengesetzt werden, sind eindeutig unzureichend. Zum Schluss möchte ich auf die Frage der Raketen- Es ist spannend und ermutigend, dass diese Debatte abwehr aufmerksam machen. Gott sei Dank hat die gerade in den Vereinigten Staaten geführt wird. Wir soll- neue Regierung in Polen Gelassenheit gegenüber diesem ten uns da nicht wegducken. Denn es sind ja – Herr Thema an den Tag gelegt und versucht, alle Beteiligten Mützenich hat zu Recht darauf hingewiesen – gerade die in diesen Prozess einzubinden. Ich glaube, die Bundesre- offiziellen Atommächte, gerade auch die, die permanent gierung tut gut daran, die polnische Regierung dabei zu im Weltsicherheitsrat sitzen, die sich an der Glaubwür- unterstützen. Denn wir brauchen Vertrauensbildung. Da- digkeit der globalen Abrüstungs- und Rüstungskontroll- für sind Abrüstung und Rüstungskontrolle notwendig. politik versündigen. Natürlich ist es richtig, darauf hin- Dafür ist auch der Dialog mit allen Partnern in diesem zuweisen, dass Länder wie der Iran den Nachweis führen Verhältnis wichtig. Ich denke, da sind wir auf einem gu- müssen, weder im Haupt- noch im Nebenzweck zivile ten Weg. Atomprogramme militärisch zu missbrauchen. Das ist völlig richtig und notwendig. Aber wie viel glaubwürdi- Vielen Dank. ger wären wir – gerade wir im Westen –, wenn sich die großen Atommächte nicht nur um die Abwehr der Ambi- (Beifall bei der SPD) tionen neuer Nuklearmächte kümmern würden, sondern Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14471

Dr. Werner Hoyer (A) wenn sie Geist und Buchstaben der gültigen Rüstungs- Wenn das so läuft, dann gibt es bei der nuklearen Pro- (C) kontrollabkommen auch tatsächlich gerecht werden wür- liferation kein Halten mehr. Die Logik, die einige veran- den? lasst, zu sagen, wenn wir diesem Deal zustimmen, dann können wir die Inder vielleicht Schritt für Schritt an die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten großen Abrüstungs- und Rüstungskontrollabkommen der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE heranführen, erweist sich als eine schiere Illusion, wo- GRÜNEN) von sich auch die Bundeskanzlerin bei ihrem Besuch in Indien überzeugen konnte. Diese Auffassung wird näm- Was ist mit Deutschland? Deutschland hat ohne Wenn lich von der Mehrheit im indischen Parlament nicht ge- und Aber auf den Besitz von und die Verfügung über teilt. Gerade weil eine Mehrheit im indischen Parlament Atomwaffen verzichtet. Ich denke, das wird niemand än- diesen Deal nur mittragen will, wenn ein solcher abrüs- dern wollen. Das ist ein Kapital für unsere Außen- und tungspolitischer und vermeintlich souveränitätsmindern- Sicherheitspolitik. Aber warum verkaufen wir das nicht der Nebeneffekt ausgeschlossen wird, überwiegen, wie offensiver? Warum ergreifen Sie, Herr Minister Sie, Herr Mützenich, zu Recht gesagt haben, die Nach- Steinmeier, nicht gemeinsam mit anderen nichtnuklearen teile und die Risiken bei weitem. Staaten – starken Industrie- und Schwellenländern – die Initiative, um gegenüber den Ländern der Dritten Welt Deshalb wird Deutschlands Haltung zu diesem in- und anderen Schwellenländern deutlich zu machen: Es disch-amerikanischen Abkommen der Lackmustest da- gibt eine gute Perspektive in der Globalisierung, ohne für sein, was wir von Ihren guten Worten über eine neue Atommacht zu sein. Abrüstungspolitik für bare Münze nehmen können. Ich wünsche Ihnen und uns allen, dass Sie diesen Lackmus- Noch in den 90er-Jahren hat eine Reihe von Staaten test bestehen. auf den Besitz von Atomwaffen verzichtet. Gegenwär- tig entwickelt es sich in die andere Richtung. Die inter- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Rolf nationalen Vertragswerke, die eigentlich die unkontrol- Mützenich [SPD]) lierte Verbreitung verhindern sollten, scheinen zu erodieren. Es ist also höchste Zeit, dass etwas geschieht. Ich freue mich, dass die Bundesregierung jetzt offenbar Vizepräsidentin : aktiver werden will. Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg das Wort. Die Münchener Sicherheitskonferenz könnte eine sehr gute Gelegenheit sein, auch von den Nuklearmäch- Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/ ten einschließlich der engsten Verbündeten eine ent- CSU): (B) schlossene Abrüstungspolitik einzufordern. Herr Minis- (D) ter, nutzen Sie diese Chance. Nutzen Sie endlich Ihre Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Möglichkeiten, Abrüstung und Rüstungskontrolle am Herren! Herr Kollege Dr. Hoyer, es ist tatsächlich eine Ratstisch in Brüssel wieder zu einem Thema zu machen, erfreuliche Entwicklung, dass ein Orchideenthema der 90er-Jahre, das uns nach dem Ende des Kalten Krieges, (Beifall bei der FDP) aber auch noch um die Jahrtausendwende herum be- schäftigt hat, nun in den Mittelpunkt unserer Aufmerk- zum Beispiel im Hinblick auf die Raketenabwehr und samkeit gerückt ist. die nukleare Roadshow, die der französische Staatspräsi- dent in Nordafrika und an anderer Stelle unternimmt. (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Eine Sensation ge- Nutzen Sie dieses Thema auch bei Ihren ernsthaften Ver- radezu!) suchen, die Ratifizierung des angepassten Vertrages über konventionelle Streitkräfte in Europa doch noch voran- Das zeigt letztlich aber auch die ganze Dramatik. Dass zubringen. Ich glaube, dass wir uns hier in eine gewisse wir dieses Thema heute nicht zum ersten Mal in der Sackgasse begeben haben, aus der wir heraus müssen. Kernzeit behandeln, ist genau der Fingerzeig, dessen es bedarf. Inhaltlich müssen wir aber mit Sicherheit noch (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Rolf weiter fortschreiten. Die Stichworte Nordkorea und Iran Mützenich [SPD]) sind schon gefallen, und auch die Ereignisse, die wir ins- besondere im letzten Jahr in Russland beobachten muss- Meine Damen und Herren, an Papieren fehlt es nicht, ten, wurden bereits erwähnt. auch nicht in Ihrer Partei, Herr Minister; der Kollege Mützenich ist dafür ein sehr gutes Beispiel. Der Lack- Herr Hoyer, Ihr genereller Eindruck von den Abrüs- mustest für die Glaubwürdigkeit der Abrüstungspolitik tungsberichten der letzten Jahre, dass im Grunde eine der Bundesregierung wird aber demnächst anstehen, gewisse Stagnation festzustellen ist, ist nicht falsch. Das wenn es um den amerikanisch-indischen Nukleardeal ändert aber nichts daran – das will ich an dieser Stelle geht. Dass dieser amerikanisch-indische Nukleardeal deutlich machen –, dass wir gleichzeitig – wir wollen ausgerechnet von Deutschland und unter deutschem Vor- nämlich niemandem den Mut nehmen – Ihren beiden sitz abgesegnet werden könnte, ist eine abenteuerliche Häusern, meine Herren Minister, eine erstklassige Arbeit Vorstellung. zu attestieren haben, was die Erstellung dieser Berichte und die notwendigen Signale anbelangt, die aus Ihren (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Häusern kommen; gelegentlich darf man in diesen Tagen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ja auch einmal loben. Unser Dank gilt den Damen und 14472 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (A) Herren, die sich auf dem Gebiet der Abrüstung engagie- Trotz dieser Einflüsse dürfen wir eines nicht verges- (C) ren. Das ist kein leichtes Brot. sen: Die Hauptakteure in diesem – ich setze das in An- führungszeichen – Spiel, und das ist fast ein zynischer (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ansatz, werden die Staaten bleiben. Die Nationalstaa- neten der SPD und des Abg. Dr. Werner Hoyer ten werden sich als Teil des internationalen Systems von [FDP]) ihrer Aufgabe der Friedenssicherung nicht entbinden Die Entwicklung im rüstungskontrollpolitischen und lassen können, gerade mit Blick darauf, dass andere Ini- im abrüstungspolitischen Bereich wird in meinen Augen tiativen entstehen. Aufgrund dieser Erkenntnis müssen von zwei wesentlichen Bewegungen bestimmt: von der wir weiterhin den Schulterschluss mit denen, die wir als Wiederbelebung alter Konfliktmuster, die wir eigent- Partner begreifen, suchen und uns mit unseren Partnern lich schon an den Rand gedrängt sahen, und davon, dass über die Differenzen, die wir in gewissen Punkten ha- neue Bedrohungslagen entstehen, die in Teilen der Welt ben, offen und klar austauschen. Wir müssen dabei wei- zu einer Modernisierung gewisser Waffenarsenale füh- terhin die Europäische Union und insbesondere die ren. Diese neuen Bedrohungslagen haben unter anderem NATO als gewachsene Plattform für rüstungskontroll- dazu geführt, dass die Staaten in ihrer Gesamtheit, vor politische Aktivitäten betrachten und sie stärken; dies er- allem aber die neuen, aufstrebenden Großmächte, nicht scheint notwendig. bereit sind – zumindest in großen Teilen nicht bereit sind –, (Beifall des Abg. Dr. Werner Hoyer [FDP]) auf die Erhaltung und den Aufbau ihrer Waffenarsenale in dem Maße zu verzichten, wie wir alle in diesem Auch in der Zukunft wird es entscheidend sein, mit Hause uns das wohl wünschen würden. Selbstverständ- dem Anspruch der Einigkeit mit unseren Partnern multi- lich wäre eine massenvernichtungswaffenfreie Welt laterale Initiativen zu lancieren und durch internatio- eine bessere Welt; darüber brauchen wir nicht zu spre- nale Regime globale Ordnungsmechanismen zu schaf- chen. Aber wir haben die Realität zu sehen. Eine inter- fen. Ich sage aber noch einmal: Die gebotenen national optimierte Rüstungskontrolle ist in meinen Abrüstungsschritte sind an den sicherheitspolitischen Augen zielgerichteter, als sich in utopische Schwärmerei Realitäten zu messen und nicht an dem, was wir uns zu begeben, romantischen Träumereien nachzuhängen möglicherweise letztlich wünschen würden. und immer die Maximalforderung in den Raum zu stel- len, ohne dabei die Schritte im Blick zu behalten, die ge- Auch die internationale Rüstungskontrolle kommt macht werden müssen, um letztlich zu einem Ergebnis nicht ohne Streit- und Konfliktlinien aus, und diese Kon- zu kommen. Denn wir müssen ergebnisorientiert arbei- flikte müssen ausgetragen werden. Aber wir müssen ten. auch sehen, dass nicht alle Mitglieder der Staatenfamilie – das gilt auch für enge Partner und solche, die wir uns (B) (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE als enge Partner wünschen – immer von den gleichen (D) GRÜNEN]: Schwärmerei?) hehren Motiven getragen sind, auch wenn sie genau diese Motive in den Vordergrund stellen. So kommt es, – Die Schwärmerei gilt nicht für die Fachleute, die wir dass rüstungspolitische Abkommen von manchen Staa- hier haben; aber sie gilt für gewisse Bewegungen, die die ten bewusst mit sachfremden Erwägungen verknüpft und Maximalforderung immer wieder gerne aufgreifen. als Druckmittel eingesetzt werden, leider teilweise mit Es gab in den letzten Jahren bei aller Ernüchterung, Erfolg. Das ist aber ein Ansinnen, dem wir mit Entschie- Herr Hoyer, einige kleinere Fortschritte zu verzeichnen, denheit entgegenzutreten haben, gerade dort, wo enge gerade im Bereich der Rüstungskontrolle. So gingen ei- Partnerschaften, möglicherweise sogar strategische Part- nige Initiativen von europäischem Boden aus. Ein Punkt, nerschaften, bestehen oder gewünscht sind. der in diesem Kontext gerne unterschätzt wird: Viele Ich möchte hier beispielhaft die einseitige Ausset- Initiativen sind aus den Bürgergesellschaften Europas, zung des KSE-Vertrages durch Russland im vergan- aus der Zivilgesellschaft heraus entstanden. Viele Ini- genen Dezember nennen. Was hier geschehen ist, halte tiativen haben sich im Bereich von Nichtregierungs- ich für eine traurige Entwicklung, die nicht zielführend organisationen entwickelt. Engagierte Bürger haben ist. Wir müssen in diesem gesamten Kontext durchaus Problemlagen aufgegriffen und zum Beispiel den rüstungs- auch die innere und außenpolitische Neuausrichtung kontrollpolitischen Aspekt mit menschenrechtlichen Russlands im Blick behalten und dort kritisch sein, wo Grundgedanken zu koppeln gesucht. Gerade in unserem Kritik angebracht ist. Ich glaube, in diesem Punkt müs- Lande gibt es hier einige Initiativen, die hervorzuheben sen wir kritisch sein. sind. Ich will beispielhaft die Hamburger Erklärung nen- nen, deren Zielsetzung sich insbesondere auf den Schutz Auch hier kann man immer wieder heraushören, dass der Städte richtet, gekoppelt mit dem Anspruch, die Wir- es auch innerhalb Russlands Kräfte geben kann – an Ab- kungen von Streubomben zu vermeiden. Solche Initiati- rüstung interessierte, in erster Linie zivilgesellschaftli- ven können durchaus Impulse setzen; das sollten wir che Kräfte –, die es zu fördern gilt. Diese tun sich aber nicht aus dem Blick verlieren. Es ist wichtig, dass wir so schwer, hier durchzudringen und bei diesem Punkt in- engagierte Menschen in unserem Lande haben. Dies sei nerhalb ihres eigenen Landes Erfolge zu erlangen. nur beispielhaft hierfür genannt. Wir dürfen uns zudem keinem vordergründigen Kalkül (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und beugen, den KSE-Vertrag und möglicherweise auch an- der SPD sowie des Abg. Paul Schäfer [Köln] dere abrüstungspolitische Regime zur Erreichung anderer [DIE LINKE]) Ziele instrumentalisieren zu lassen. In unseren Augen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14473

Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (A) bleibt der Kreml weiterhin aufgefordert, seinen interna- wir haben, um genau diese Schrittabfolge zu erreichen, (C) tionalen Verpflichtungen uneingeschränkt nachzukom- die es zwar schon gibt, die aber in meinen Augen noch men. Das umfasst die vollumfängliche Erfüllung der weitergehen könnte. Istanbul-Commitments. Das ist ein Schritt, den wir wei- terhin einzufordern haben. (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Warum gucken Sie dabei gerade die Es wird auch nicht zu Unrecht daran erinnert – auch SPD an?) in diesem Hause –, dass irgendwann einmal die Mög- lichkeit einer Ratifizierung gegeben sein könnte. Das ist – Ich gucke nicht nur die SPD an, sondern auch Sie, Herr richtig. Dies kann allerdings erst geschehen, wenn Russ- Nachtwei. Es war auch Ihr Außenminister, der im Jahre land im Gegenzug gleichzeitig seinen Verpflichtungen 2005 gemeinsam mit dem Bundeskanzler Schröder die zum völligen Abzug aus Moldau und Georgien nach- Zielsetzung der nuklearen Teilhabe nicht infrage ge- kommt. Die Istanbul-Commitments zählen für uns wei- stellt hat. Ich kann dabei also beide angucken. terhin und sollten auch eingefordert werden. Das bleibt (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Für Abrüstung hat richtig und wichtig. er sich nie interessiert!) (Beifall bei der CDU/CSU – Winfried Nachtwei Das gilt tatsächlich für alle – auch hinsichtlich der [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Verantwortung, die daraus erwächst. Munitionsdepot für Russland!) (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der Wir dürfen auch darauf hinweisen, dass von unseren rus- LINKEN: Wo er recht hat, hat er recht!) sischen Partnern hinsichtlich INF und START I, das im Jahre 2009 einer Neubestimmung bedarf, ebenfalls koo- Das größte und virulenteste Thema in diesem Jahr perative Schritte angebracht wären. bleibt der Iran. Dies wurde bereits angesprochen. Auf diesem Feld werden wir mehr Kreativität brauchen als Es bedarf in diesem Kontext aber auch des Hinweises das bisher Gegebene. Es bleibt richtig und wichtig, unter von unserer Seite, dass wir insgesamt mit einer starken dem Dach der Vereinten Nationen gemeinsam eine Lö- und glaubwürdigen westlichen Stimme zu sprechen ha- sung herbeizuführen. Deswegen halten wir auch eine ben. Mit diesem Anspruch haben auch unsere Partner dritte Sanktionsrunde weiterhin für erforderlich, Herr und Freunde in den USA immer wieder zu kämpfen. Wir Bundesaußenminister. Wir werden aber auch alles aus- dürfen das hier offen ansprechen und den Hinweis ge- schöpfen müssen, was uns an intellektuellen Impulsen ben, dass wir uns an dem einen oder anderen Punkt noch gegeben ist, um weiterhin einem doch durchschaubaren mehr Entgegenkommen und manchmal auch mehr Vor- taktischen Spiel des Irans zu begegnen. bildwirkung wünschen, um weitere Schritte einzuleiten. (B) (D) Es ist richtig, dass es hier auch den einen oder ande- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ren erfreulichen Schritt gab, zumal im vergangenen Jahr. Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Das hat in den Verhandlungen über INF und in einigen Initiativen, die mit Blick auf START I langsam und sehr Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/ schüchtern beginnen, seinen Niederschlag gefunden. CSU): Wir dürfen aber den Hinweis wagen, dass es gerade im Bereich der Rüstungskontrolle und der Abrüstung einige Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Der Jahre gab, in denen die Vereinigten Staaten gelegentlich „National Intelligence Estimate“ der Geheimdienste der einen unseligen Pfad des Unilateralismus gegangen sind. Vereinigten Staaten hat eine gewisse Entwarnung gege- Von daher nehmen wir eher erfreut zur Kenntnis, dass ben, was mögliche Reaktionen anbelangt. Eine Entwar- der Weg wieder hin zu multilateralen Ansätzen führt, so- nung in Bezug auf das iranische Nuklearprogramm gibt dass hier letztlich mit Ergebnissen gearbeitet werden es in meinen Augen nicht. kann. Herzlichen Dank. Die Vereinigten Staaten stehen eben in besonderer (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Verpflichtung, den Bestimmungen des Nichtverbrei- neten der SPD) tungsvertrages noch engagierter als bisher nachzukom- men. Sie haben eine besondere Vorbildwirkung. Ich habe Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: das bereits benannt. Diesen Ansatz dürfen wir von unse- rer Seite aus in aller Freundschaft immer wieder kund- Nächster Redner ist der Kollege Paul Schäfer für die tun. Fraktion Die Linke. In diesem Kontext ist auch noch einmal der Abzug (Beifall bei der LINKEN) von Atomwaffen aus Deutschland zu sehen. Das Herr Kollege, Sie haben heute Geburtstag. Ich gratu- kommt in dieser Debatte immer wieder. Ich glaube, auch liere Ihnen herzlich und wünsche Ihnen alles Gute. hier müssen wir realitätsnah handeln und agieren. Wir haben immer wieder darin übereingestimmt, dass uns die (Beifall) Zielsetzung eint, wir aber hinsichtlich der notwendigen Schritte möglicherweise differieren. Ich glaube, dass wir Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): uns hier immer wieder deutlich machen müssen, welche Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe tatsächlichen Einflusssphären und Einflusspotenziale Kolleginnen und Kollegen! Wer die Abrüstungsberichte 14474 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Paul Schäfer (Köln) (A) seit längerem verfolgt hat, kann sich des Eindrucks nicht Selbst mit Rüstungskontrolle hat die aktuelle Ent- (C) erwehren, das alles schon mal irgendwie gelesen zu ha- wicklung nichts zu tun. Bekanntlich geht es bei Rüs- ben. tungskontrolle ja um gesteuerte und ausgehandelte Rüs- tungsentwicklung. Das ist noch etwas völlig anderes als Zu diesem Déjà-vu gehört: Die Bundesregierung gibt Abrüstung. Aber selbst diese Art der Rüstungskontrolle sich in ihrer Darstellung in allen Foren – A-Waffen, ist gegenwärtig in einer tiefen Krise; Kollege Mützenich B-Waffen, C-Waffen – erdenkliche Mühe, um den stag- hat es gesagt. nierenden Rüstungskontrollprozess wieder in Gang zu bringen – und sei es im Schneckentempo; die Bundesre- In einem Bereich hatten wir substanzielle Einschnitte, gierung bzw. die Bundesrepublik will ja, nur die anderen und zwar bei den Antipersonenminen. Gott sei Dank nicht. sind einige Hunderttausende davon zerstört worden. Dies geschah aber auch aufgrund des Ottawa-Prozesses, Herr Außenminister, ich gestehe durchaus zu, dass also angestoßen durch zivilgesellschaftliche Initiativen, sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ihres Hauses die in diesem Zusammenhang extrem wichtig sind. dort erdenkliche Mühe geben. Das soll hier auch aus- drücklich gewürdigt werden. Ich freue mich, dass endlich auch einmal ein Kollege von der CDU ein positives Wort dazu findet und ein- Zu diesem Déjà-vu gehört aber auch: Die Bundesre- räumt, dass diese Initiativen elementar sind, wenn wir gierung versucht krampfhaft, der Öffentlichkeit eine Abrüstung voranbringen wollen. Bettelsuppe als Bouillabaisse zu verkaufen. Es hilft doch einfach nicht weiter, den Schluss zu ziehen, es gebe bei (Zuruf von der CDU/CSU: Das hat er nicht ge- der Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik eine ge- sagt! Das ist eine sehr weitgehende Interpreta- mischte Bilanz. Es gibt keine gemischte Bilanz! Das ist tion!) Schönfärberei; das ist Augenwischerei. Ansonsten frage ich mich aber: Wo ist die gemischte (Beifall bei der LINKEN) Bilanz? Die Tendenz ist eindeutig. Es wird wieder mehr Geld Es ist gut, wenn sich Staaten Zentralasiens für atom- für Waffen ausgegeben. Die Streitkräfte werden überall waffenfrei erklären. Aber welche Bedeutung hat das, radikal modernisiert, und die Geschäfte mit Waffenver- wenn gleichzeitig die bestehenden Atommächte ihre käufen laufen weltweit wieder glänzend – egal in welche Arsenale kräftig modernisieren und perfektionieren? Es Richtung wir schauen. Im Westen gehen die USA mit ih- ist ein hoffnungsvolles Zeichen, wenn – das ist schon er- ren Kriegshaushalten mit weitem Vorsprung voran, die wähnt worden – eine bemerkenswerte Reihe von ehema- NATO im Schlepptau. Um uns herum folgt die Europäi- (B) ligen US-Außen- und -Verteidigungsministern ein kräfti- (D) sche Union, die auch ein neues, militärisch gestütztes ges Umdenken in der atomaren Rüstungsfrage anmahnt. Machtzentrum werden will, diesem Rüstungstrend, Aber wir wollen, dass sich endlich einmal im Amt be- wenn auch zögerlich. Im Osten steigert Russland seine findliche Außen- und Verteidigungsminister für nukleare Militärausgaben. Im asiatisch-pazifischen Raum drohen Abrüstung einsetzen. neue Rüstungswettläufe. Und allgemein investieren alle die Staaten, die von dem Rohstoffboom der letzten (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Jahre profitiert haben, nicht zuletzt in Rüstung. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]) Zumindest für mich und für die Linke hängt dies un- verkennbar auch damit zusammen, dass die führenden In der Frage der Nuklearwaffen ist – das ist uns, Militärmächte schon länger davon abgegangen sind, glaube ich, allen klar – ein kritischer Punkt erreicht. Wir Streitkräfte für die Zwecke der Verteidigung oder der können uns in 2010 kein erneutes Scheitern der Überprü- bloßen Abschreckung bereithalten zu wollen. Nein, fungskonferenz leisten. Man muss über die Möglichkei- heute geht es allenthalben um Einsatzarmeen, um Inter- ten der Bundesrepublik Deutschland, etwas zu verän- ventionsstreitkräfte. Dafür muss in großem Stil umge- dern, reden. Lieber Herr Kollege Mützenich, da geht es rüstet werden. nicht um Innenpolitik. Wenn man konstatiert, dass wir auf diesem Feld die Situation einer umfassenden Stagna- Leider wird dieser Zusammenhang bei allen anderen tion haben, dann stellt sich doch die Frage: Wie kann Kollegen in den übrigen Fraktionen systematisch ausge- man einen Ausweg finden? Was könnte ein Schritt sein, blendet. Wenn wir heute über Abrüstung bzw. Aufrüs- um überhaupt wieder eine Dynamik anzustoßen? Ich tung reden wollen, ist dieser Zusammenhang aber zen- meine, dass eine Bundesregierung da couragiert sein und tral. mehr unternehmen muss als so einen kläglichen und zag- Mit Abrüstung hat dieser Trend also gar nichts zu tun. haften Vorstoß wie Herr Fischer damals in der NATO. Die Bundesregierung muss deutlich machen, dass die bei (Beifall bei der LINKEN) uns in Büchel und Ramstein lagernden Atomwaffen wegmüssen. Das hat niemand anderes als der Bundesaußenminister in unserer letztjährigen Debatte hier gesagt, indem er wört- (Beifall bei der LINKEN) lich erklärt hat: Mit dem Verzicht auf nukleare Teilhabe kann man Abrüstung erscheint wie ein Stichwort aus vergan- dann auch versuchen, die internationale Debatte zu be- gener Zeit. einflussen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14475

Paul Schäfer (Köln) (A) Ich finde es gut, dass die Bundesregierung zusammen Unser zweiter Vorschlag ist, die Bestände um ein (C) mit Norwegen jetzt eine Initiative gestartet hat. Denn Drittel zu reduzieren. Das klingt zunächst einmal sehr ohne eine gravierende Änderung der Sicherheitsphilo- utopisch. Aber dass das utopisch klingt, zeigt meines Er- sophie der NATO wird sich auch auf dem Feld der nuk- achtens nur, wie unser Denken wieder von mehr Waffen learen Abrüstung nichts tun. Solange die NATO Nukle- und mehr Geld für das Militär geprägt ist. Wenn man arwaffen für essenziell wichtig für unsere Sicherheit sich die Dinge anschaut, stellt man konkret Folgendes hält, wird sich nichts bewegen. fest: Über 50 000 Waffensysteme sind im KSE-Gebiet abgerüstet worden; fast dieselbe Menge ist durch einsei- (Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Dann loben Sie tige Maßnahmen der Mitgliedsländer in den 90er-Jahren doch einmal den Außenminister!) verschrottet oder abgerüstet worden. Wir haben aber im- Die Bundesregierung wird künftig, auch bei den nächs- mer noch eine Riesenmenge. ten NATO-Gipfelkonferenzen, daran gemessen werden, Eine Verringerung um ein Drittel – es geht um ein Ge- ob sie diesen Pfad wirklich verfolgt, ob sie nicht klein biet vom Atlantik bis zum Ural – würde konkret bedeu- beigibt und ob sie, gestützt auf Nichtregierungsorganisa- ten: Es gäbe immer noch über 15 000 Kampfpanzer, tionen, auf die Middle-Power-Initiative und auf kritische über 18 000 Artilleriegeschütze, über 28 000 gepanzerte Parlamentariergruppen, Druck ausübt, damit die NATO- Kampffahrzeuge, circa 4 500 Kampfflugzeuge, weit über Militärdoktrin an der Stelle geändert wird. 1 000 Kampfhubschrauber und noch immer fast 2 Mil- (Beifall bei der LINKEN) lionen Soldaten unter Waffen. Ich finde, diese solcher- maßen reduzierten Waffenarsenale sind mehr als genug, Wir müssen auch die Frage stellen: Wie sieht es bei um die Sicherheit in diesem Raum zu garantieren. der konventionellen Rüstung aus? Mit welchen drama- tischen Veränderungen wir es seit dem Ende der bipola- (Beifall bei der LINKEN) ren Konfrontation zu tun haben, zeigt sich meines Erach- Ich will das kurz begründen. Erstens ist keine akute tens gerade an der Entwicklung der konventionellen militärische Bedrohung dieser nördlichen Staaten von Rüstung im europäisch-transatlantischen Raum. Der außerhalb absehbar. Oder fühlt sich jemand von den Ma- Ausgangspunkt des KSE-Vertrages war, Überraschungs- ghreb-Staaten, Syrien oder Jordanien bedroht? offensiven zu verhindern und deshalb schweres Gerät abzubauen. Das sollte in Richtung strukturelle Nicht- Zweitens. Die möglichen Spannungen zwischen den angriffsfähigkeit gehen. Das war die Idee. Wenn man KSE-Mitgliedstaaten – beispielsweise zwischen Grie- sich die heutige Entwicklung genauer ansieht, erkennt chenland und der Türkei oder Russland und Georgien – man, dass sich das ins Gegenteil verkehrt hat. Heute geht müssen durch nichtmilitärische, diplomatische Mittel gelöst werden. Wir können es uns nicht mehr leisten, (B) es um strukturelle Angriffsfähigkeit. Man will das nicht (D) so nennen; aber was ist Interventionsfähigkeit anderes? dass solche Konflikte mit Gewalt ausgetragen werden. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Es geht um die Fähigkeit zum offensiven Eingreifen, auch wenn es heute um andere Gegner geht, kleinere Drittens. Wir brauchen in der Tat ein neues Koopera- Staaten, nichtstaatliche Akteure, Terroristen. Aber im tionsverhältnis zu Russland. Ich halte es für keine gute Sinne dieser offensiven Fähigkeiten sollen die Streit- Idee, wenn der NATO-Oberbefehlshaber mehr US-Trup- kräfte umgerüstet werden. Ich finde, dieser Entwicklung pen in Mitteleuropa belassen will und das mit der Vor- muss man Einhalt gebieten. sorge gegenüber einem wiedererstarkten Russland be- gründet. Positives Denken heißt, die Interessen der EU Nun sagt selbst die Bundesregierung, dass neu ver- und Russlands in Übereinstimmung zu bringen. Dazu handelt werden muss, dass eine neue Abrüstungsinitia- gehören meines Erachtens die Neuverhandlungen über tive geschaffen werden muss. Das finde auch ich. Man Rüstungsreduzierungen. muss damit beginnen, den Prozess der Ratifizierung des Wie tief wir mittlerweile wieder in Rüstungswettläu- KSE-Vertrages unverzüglich einzuleiten – sonst geht fen stecken, zeigt sich auch daran, dass Russland den nichts –, und man muss eine neue Abrüstungsidee prä- Status seiner Atomwaffen wieder aufgewertet hat, weil sentieren; denn sonst wird nicht einmal der Status quo zu man die drückende Überlegenheit der NATO im konven- halten sein. Davon bin ich überzeugt. tionellen Bereich kompensieren will. Das war früher ge- Der Kollege Mützenich hat im Dezember zu Recht nau umgekehrt. Wollen wir dieses Spiel endlos weiter- gesagt, dass wir ein KSE III brauchen. Ich finde, in die- spielen? ser Richtung müssen wir weitergehen. Wir machen in Auch das Beispiel Raketenabwehr zeigt, in welcher unserem Entschließungsantrag diesbezüglich konkrete Weise die Russen reagieren: Sie wollen neue Raketen Vorschläge. Der erste Vorschlag ist, den Status quo in ei- aufstellen, die die beiden Staaten Tschechien und Polen nem ersten Schritt als vertragliche Obergrenze festzule- bedrohen. Das zeigt, dass wir uns wieder mitten in einem gen. Das dürfte doch völlig unkompliziert sein. Denn die Rüstungswettlauf befinden. tatsächlichen Bestände liegen weit unter den jetzigen Obergrenzen. Aber das wäre zumindest ein erster Wir brauchen eine echte und substanzielle Trend- Schritt, um wieder Bewegung in die Sache zu bringen wende. Das heißt, die NATO muss als großer Rüstungs- und deutlich zu machen, dass wir weiter vorangehen block vorangehen. Wir brauchen eine Wiederbelebung wollen. des Konzepts der gemeinsamen Sicherheit, und wir 14476 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Paul Schäfer (Köln) (A) brauchen eine neue kooperative Sicherheitsarchitektur in Sicherheit in Europa ist. Er ermöglichte in den 90er-Jah- (C) Europa und damit die Revitalisierung der OSZE. ren – darauf wird zu Recht hingewiesen – eine beispiel- lose Abrüstung im Frieden. Inzwischen droht dieser (Beifall bei der LINKEN) Eckpfeiler aber einzustürzen. Am 12. Dezember setzte Für die Linke ist das eine prinzipielle Angelegenheit. Russland den Vertrag einseitig außer Kraft. Das war so Es geht nicht nur um die blutleeren Videosequenzen ei- kurzsichtig wie destruktiv. Nun geht es um nicht weni- nes vermeintlichen Hightech-Krieges; vielmehr geht es ger, als dieses Vertragswerk zu retten. Kollege um Massenvernichtungswaffen, um Terrorwaffen, wie Guttenberg, wer die Ratifizierungshindernisse – sie wa- die Gruppe um Hans Blix sie genannt hat. Es geht um ren sicherlich vor Jahren berechtigt – angesichts erheb- Angst und Schrecken verbreitende Brandbomben, um lich veränderter Kräfteverhältnisse zwischen der NATO Streumunition, die Zivilisten trifft, oder um mit abgerei- und Russland und angesichts dessen, dass es in Molda- chertem Uran gehärtete Munition, die Menschen über wien nur noch um ein Munitionsdepot geht, weiter an- mehrere Generationen schädigen kann. führt, verkennt den Ernst der Lage. Es ist nun notwen- dig, ohne weiteres Hin und Her zur Ratifizierung zu Es geht auch darum, dass Rüstung auch im Frieden kommen. tötet. Mit den dafür verwendeten Mitteln könnte man sehr viele wichtige Aufgaben finanzieren. Abrüstung ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein Gebot der Moral und der Vernunft. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Danke für Ihre Aufmerksamkeit. FDP und der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Im letzten Jahr wurde das Ottawa-Abkommen zum Winkelmeier [fraktionslos]) Verbot von Antipersonenminen zehn Jahre alt. In der Tat ist das Ottawa-Abkommen ein beispielloser Erfolg aus der Zivilgesellschaft heraus. Das hat es zuvor noch nie in Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: der Weltgeschichte gegeben. Inzwischen steht der huma- Nächster Redner ist der Kollege Winfried Nachtwei nitäre Skandal um die Streumunition im Mittelpunkt. für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Diese Munition wirkt unterschiedslos und trifft gerade die Zivilbevölkerung in Nachkriegsgebieten. Die Bun- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): desregierung tritt für ein Verbot von Streumunition ein; Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! das ist gut so. Allerdings wird ihr Engagement ganz er- Im Friedensgutachten 2007 schreibt Professor Harald heblich dadurch geschmälert, dass seit einem Bundestags- Müller von der Hessischen Stiftung Friedens- und Kon- beschluss, initiiert von der Großen Koalition – ich habe al- (B) fliktforschung – ich zitiere –: Rüstungskontrolle, Abrüs- lerdings eher den Eindruck, dass manche Formulierungen (D) tung und Nichtverbreitung liegen in einer beispiellosen vom Verteidigungsministerium kamen –, zwischen ge- Agonie. Die Hinrichtung der Rüstungskontrolle stand fährlicher und ungefährlicher Streumunition unterschie- auf der Agenda einer Koalition von Neokonservativen den wird. Ich sage ganz deutlich: Das ist humanitäre Au- und militärgläubigen Nationalisten, die bis zu den Kon- genwischerei. gresswahlen 2006 maßgeblich die Richtung der amerika- nischen Sicherheitspolitik bestimmten. – Dass von der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weltweiten Rüstungskontrolle wenigstens noch – ich zi- sowie bei Abgeordneten der FDP) tiere weiter – Ruinen mit brauchbarer Substanz übrigge- Es geht darum, die Bewegung gegen die Streumunition blieben seien, sei dem Widerstand anderer westlicher breit anzulegen und wirksam zu machen sowie für eine Staaten wie Kanada, Schweden und Deutschland zu ver- vollständige Ächtung von Streumunition einzutreten. danken. Zu Recht wird im Jahresabrüstungsbericht die Politik Im Jahresabrüstungsbericht wird deutlich, wie vielfäl- gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaf- tig die Politik in dem Bereich ist, wie zäh und mühsam fen und für nukleare Abrüstung an erste Stelle gesetzt. die Bemühungen auf diesem Feld sind und wie massiv Die Logik des Nichtsverbreitungsvertrages ist eigentlich und zum Teil fast deprimierend die Gegentrends sind. ganz einfach: Der Verzicht auf den Erwerb von Atom- Deshalb finde ich es angebracht, gerade den Menschen waffen ist nur möglich, wenn Atomwaffenstaaten ihr zu danken, die in diesem Bereich konkret arbeiten. Dazu Versprechen der nuklearen Abrüstung ernst nehmen und gehören hier im Auswärtigen Amt Botschafter Lüdeking zumindest schrittweise einlösen. Von Letzterem kann sowie diejenigen, die im Zentrum für Verifikationsauf- seit Jahren keine Rede mehr sein. Das Gegenteil findet gaben der Bundeswehr und vor Ort in Projekten zur De- sogar statt. Der Prozess der Verbreitung von Nuklear- militarisierung, Demobilisierung und Reintegration tä- waffen bzw. der dafür notwendigen Technologie droht tig sind, und die sich in Nichtregierungsorganisationen – darauf wurde schon mehrfach hingewiesen – völlig au- gegen Streumunition, Landminen und Atomwaffen ein- ßer Kontrolle zu geraten. Der von Präsident Kennedy setzen. formulierte Albtraum einer Welt mit Dutzenden Atom- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN waffenstaaten droht allmählich Realität zu werden. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Was kann Deutschland, was kann die Bundesregie- SPD, der FDP und der LINKEN) rung dagegen tun? Ich habe sicherlich kein Patentrezept. Wir sind uns alle einig, dass der Vertrag über kon- Aber ich möchte zwei Aspekte ansprechen, die dabei ventionelle Streitkräfte in Europa ein Eckpfeiler der sehr wichtig sind. Erstens. In der Bundesrepublik gibt es Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14477

Winfried Nachtwei (A) – das wurde schon mehrfach angesprochen – einige Dut- Wenn dies immerhin mit Blick auf die Mitarbeiterinnen (C) zend amerikanische Atomwaffen. Verglichen mit den und Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes geschehen ist, 80er-Jahren ist das sicherlich nur ein Rest. Aber im Hin- dann will ich mich dafür ausdrücklich bedanken. blick auf die Nichtverbreitungspolitik der Bundesregie- rung sind diese Atomwaffen ein enormer Klotz am Bein Außerdem sage ich heute ausnahmsweise umgekehrt der Glaubwürdigkeit unserer Politik. auch in Richtung der Opposition: Einen Großteil Ihrer Kritik kann ich sogar nachvollziehen. Auch ich bin nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zufrieden – ich kann und werde nicht zufrieden sein – sowie bei Abgeordneten der FDP) mit dem Stand, den der Abrüstungsbericht wiedergibt. Diese Atomwaffen müssen – sie waren ethisch sowieso Herr Hoyer, ich versichere Ihnen: Ich werde mich auch nie verantwortbar und sind militärisch längst nicht mehr nicht damit abfinden, dass dies so bleibt, wie es ist. zu begründen – abgezogen werden. Bringen Sie bitte ein (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) bisschen Mut auf – das gilt auch für den Verteidigungs- minister, der erfreulicherweise an der Abrüstungsdebatte Das ist letztlich der Grund dafür, warum ich in der teilnimmt –, und sorgen Sie dafür, dass diese Waffen ab- Debatte, die wir hier vor einem Jahr geführt haben, gezogen werden, die nukleare Teilhabe aufgegeben wird sagte, mir erscheine es so – Herr Schäfer, Sie haben es und alle taktischen Atomwaffen aus Europa verschwin- eben zitiert –, als redeten wir hier über ein Thema aus ei- den! ner vergangenen Zeit oder über ein, wie Herr zu Guttenberg gesagt hat, Orchideenthema, das die Reihen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hier in diesem Hause und erst recht die Titelseiten der sowie bei Abgeordneten der SPD und der Tageszeitungen nicht mehr fülle. Insofern bin ich froh, FDP) dass wir, was die letzten zwölf Monate angeht, miteinan- Ein zweiter Aspekt ist das Abkommen zwischen den der ein ganzes Stück vorangekommen sind. Nach der USA und Indien über die Zusammenarbeit auf dem zivi- Beobachtung der vielen Außenministertreffen, die ich len Nuklearsektor. Manchmal wird gesagt, mit diesem auf europäischer Ebene und international hinter mir Abkommen könne die Atomwaffenmacht Indien an das habe, glaube ich, sagen zu können, dass dies immerhin System nuklearer Nichtverbreitung herangeführt wer- wieder ein Thema der Gespräche zwischen den Außen- den. Das Motiv ist gut; aber die Tatsachen sind andere, ministern geworden ist. Wenn ich die Zeitungen in den und die Wirkung ist in völligem Gegensatz zu dem Mo- letzten Monaten richtig gelesen habe, dann ist auch die tiv eine fundamentale Schwächung dieses Systems. Nun Sensibilität der Öffentlichkeit gegenüber diesem Thema kommt es in der Tat darauf an, wie sich die Bundesregie- wieder gewachsen. Weil dies letztlich nicht nur meine, rung in der Nuclear Suppliers Group, in der Entschei- sondern auch Ihrer aller Arbeit ist, bedanke ich mich (B) (D) dungen nur im Konsens möglich sind, hierzu verhält. ausdrücklich dafür, dass wir gemeinsam daran gearbeitet Bitte nutzen Sie die Möglichkeit, diesen Schlag gegen haben, dieses wichtige Thema wieder ganz nach vorn nukleare Nichtverbreitung zu verhindern. Tun Sie dies auf die Tagesordnung zu holen. nicht, können Sie die ganze Glaubwürdigkeit Ihrer sonst (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ehrlich gemeinten nuklearen Abrüstungspolitik in der Pfeife rauchen. – Herr Minister, Sie haben jetzt direkt Dies geht natürlich nie ganz ohne Streit und Kontro- das Wort dazu. verse. Das wissen Sie, und das gilt gerade für dieses Thema. Rückblickend für die letzten zwölf Monate sage (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ich: Manchmal mag es ja sogar Sinn haben, sich etwas und bei der FDP – Heiterkeit – Eckart von von dem sicherheitspolitischen Mainstream zu entfernen Klaeden [CDU/CSU]: Aber er ist doch kein und das Schweigen, das gelegentlich mit ihm verbunden Pfeifenraucher!) ist, zu durchbrechen, wobei man aber stets versuchen sollte, realistisch zu bleiben und nicht naiv zu werden. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich rede über den Streit über Missile Defense. Herr Kollege Nachtwei, die Worterteilung erfolgt im- mer noch durch den amtierenden Präsidenten. – Für die Damit keine neuen Missverständnisse in diesem Ho- Bundesregierung hat nun Herr Bundesminister Dr. Frank- hen Haus und anderswo aufkommen, sage ich dazu: Na- Walter Steinmeier das Wort. türlich dürfen wir neue Gefahren und neue Bedrohun- gen, die entstehen, nicht ignorieren. Das ist unsere (Beifall bei der SPD – Eckart von Klaeden Pflicht; dafür haben wir uns gegenüber der deutschen [CDU/CSU]: Sie können jetzt Pfeifenraucher Bevölkerung verbürgt. Aber wir müssen schon sehr ge- des Jahres werden! – Weiterer Zuruf von der nau hinschauen, ob unsere Reaktion auf die möglicher- CDU/CSU: Abgesehen davon ist das Rauchen weise wachsenden neuen Bedrohungen wirklich einen im Deutschen Bundestag verboten!) Zuwachs an Sicherheit bringt. Das ist der einzige Grund dafür, weshalb ich im letzten Jahr gesagt habe, wir soll- Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des ten noch einmal darüber nachdenken, von wem solche Auswärtigen: Bedrohungen ausgehen, mit welchen Risiken sie für uns Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abge- verbunden sind und ob sie allein ein Risiko für Europa, ordneten! Ich bedanke mich für die doppelte Wortertei- auch ein Risiko für die USA oder, was in diesem Zusam- lung am heutigen Morgen. – Ich erwarte nicht, dass die menhang eine besondere Rolle spielt, auch ein Risiko für Regierung von der Opposition grenzenlos gelobt wird. Russland darstellen. Mein schlichtes Plädoyer vor einem 14478 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) Jahr war: Wenn das neue Bedrohungen sind, die auch Das Jahr 2008 wird uns abrüstungspolitisch nicht in (C) Russland betreffen, dann gibt es eigentlich gar keine Ruhe lassen, aber immerhin hat es mit einigen ganz posi- Notwendigkeit, hier Entscheidungen über den russischen tiven Signalen begonnen, Signalen der Unterstützung. Kopf hinweg zu treffen, sondern das bedeutet, mindes- Herr Hoyer und viele andere von Ihnen haben den Arti- tens den Versuch zu machen, Russland, das Objekt die- kel von Kissinger, Shultz, Perry und Sam Nunn über ser neuartigen Bedrohungen sein könnte, in die Gegen- eine atomwaffenfreie Welt im Wall Street Journal zi- wehr mit einzubeziehen. tiert. Das ist ein anspruchsvolles, aber nicht unrealisti- sches Programm, wie man dort hinkommt. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ Niemand, auch ich nicht, kann Ihnen sagen, ob das CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE am Ende gelingen wird. Aber in der abrüstungspoliti- GRÜNEN) schen Debatte, die wir heute Morgen führen, kann man doch sagen, dass es immerhin ein Fortschritt gegenüber Interessant ist auch – Sie alle, die Sie in den letzten Wo- dem Zustand von vor zwölf Monaten ist, dass sich die chen in den USA unterwegs waren, haben das mitbe- USA und Russland jetzt in Gesprächen befinden, in de- kommen –, dass das nicht etwas ist, was isoliert für diese nen Vorschläge ausgetauscht werden, wie man sich ge- vier Personen steht. Das ist ein Thema, das sich in der meinsam gegen eine mögliche neuartige Bedrohung zur amerikanischen Öffentlichkeit, auch auf den Titelseiten Wehr setzt. Das ist ein Fortschritt gegenüber dem letzten amerikanischer Tageszeitungen, breitmacht. Deshalb, so Jahr. glaube ich, dürfen wir durchaus hoffen, dass diese Stim- men gerade im Zuge der Vorbereitung auf die Präsident- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schaftswahl zusätzlich Gehör finden. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Diesen Fortschritt wünschte ich mir ausdrücklich der CDU/CSU und der FDP) auch beim KSE-Vertrag, Herr zu Guttenberg. Das ist mir ein wirkliches Anliegen. Ich sehe das Risiko für uns Wenn wir bei Atomwaffen sind, dann sind wir auch Europäer eigentlich darin liegen, dass es sein könnte, bei der Reform des Atomwaffensperrvertrags. Die dass Teile der vertragschließenden Parteien – sowohl der ganze Thematik können wir jetzt hier nicht behandeln, USA als auch Russlands – nicht mehr dasselbe Interesse aber ich bin einig mit denen, die vorhin hier am Mikro- an der Erhaltung dieses Vertrages haben, wie das noch fon gesagt haben, dass wir es uns nicht noch einmal leis- zum Abschluss der Fall war. ten können, dass eine nächste Überprüfungsperiode so ergebnislos ausgeht wie die letzte. Was bedeutet das für uns? Das heißt nicht, dass wir (B) uns jetzt zerknirscht hinsetzen können und diesen Pro- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D) zess beobachten können; vielmehr müssen wir daran er- der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- innern, dass dieser KSE-Vertrag im Grunde genommen SES 90/DIE GRÜNEN) das Kernstück europäischer Abrüstungsarchitektur ist. Das setzt allerdings voraus, dass, erstens, die Atom- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried mächte bereit sind, an einer Reform, die das Regime des Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Atomwaffensperrvertrages nachhaltig sichert, mitzuwir- ken, und dass, zweitens, wir, die wir auf Atomwaffen Wir dürfen für uns daraus ableiten, wenn die Bewertung verzichtet haben, mit Ideen zur Seite stehen, um eine Re- richtig ist, dass wir dieses Kernstück europäischer Ab- form möglich zu machen. Das ist der Grund dafür, dass rüstungsarchitektur auch durch den Willen der beiden wir uns beteiligen, zum Beispiel mit Vorschlägen zur In- Hauptstädte Moskau und Washington nicht in Gefahr ge- ternationalisierung des Brennstoffkreislaufes. Auch hier raten lassen dürfen. So ist es keine leichte Aufgabe, aber kann ich Ihnen ankündigen: Wir werden Ende März in immerhin haben wir uns dieser Aufgabe gestellt. Berlin eine Tagung veranstalten, auf der wir versuchen Wir sind die Ersten gewesen, die im Oktober des ver- wollen, in der internationalen Staatengemeinschaft bei gangenen Jahres nach Bad Saarow eingeladen und er- Fragen wie dieser Mehrheiten zu bekommen. staunlicherweise die Feststellung gemacht haben, dass Herr Hoyer, ich bin – wenn ich das sagen darf – nicht all diejenigen, die sich bis dahin nicht zu Wort gemeldet Ihrer Meinung, dass in der Nuklearfrage Indien/USA der hatten, das gleiche Anliegen verfolgt haben, nämlich da- Lackmustest nur dann bestanden wird, wenn wir in der nach zu suchen, wie der KSE-Vertrag in seiner Grund- Nuclear Suppliers Group bei einem schlichten Nein blei- struktur erhalten bleiben kann und wie wir in einen Pro- ben. Warum sage ich das? Die Lage ist komplex, und sie zess eintreten, in dem möglicherweise die Ratifizierung ist unbefriedigend. Sie ist aber nicht deshalb unbefriedi- Fortschritte macht. Nach Bad Saarow haben wir mittler- gend, weil wir dort eine Entscheidung zu treffen haben; weile zwei Folgekonferenzen gehabt, eine in Paris und sie ist vielmehr deswegen unbefriedigend, weil der eine in Madrid. Wir haben von den Russen, denen wir Atomwaffenstatus Indiens sich weit über den völker- vorwerfen müssen, dass sie den gegenwärtigen Zustand, rechtlichen Rahmen hinaus entwickelt hat. in dem wir sind, provoziert haben, die Zusicherung, dass sie trotz des Inkrafttretens des Moratoriums bei diesen Wir stehen jetzt vor der schwierigen Frage, wie wir Gesprächen weiterhin präsent sein werden und nach ei- darauf eigentlich reagieren. Völlig klar ist: Wir müssen ner Lösung suchen, die sich an den schon vorhin refe- von Indien gemeinsam verlangen, dass es Safeguard-Ab- rierten Kriterien orientieren muss. kommen mit der EU trifft, dass es die internationale Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14479

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) Kontrolle sicherstellt und dass es sich auch zur nuklea- Elke Hoff (FDP): (C) ren Abrüstung als Ziel bekennt. Das alles ist zwar völlig Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! richtig, nur beantwortet es die Frage noch nicht. Liebe Kollegen! Herr Minister Steinmeier, natürlich: Die Welt ist nicht einfach. Wir werden uns verheben, wenn (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Aber genau das will wir glauben, dass wir durch unsere Debatte hier die Welt es doch nicht tun!) und die Arbeit für sie einfacher machen können. Ich Das gilt auch dann, wenn es sich im Augenblick eher an- hatte in der Diskussion am heutigen Morgen den Ein- ders verhält, wie Sie ganz richtig beschreiben. druck, dass wir hier in diesem Hause zwar in Nuancen unterschiedlicher Meinung sind, dass wir aber in den Wir müssen doch fragen: Wie reihen wir uns in das Grundstrukturen der Abrüstungspolitik in vielen Punk- System internationaler Kontrolle eigentlich ein? Das ten durchaus auf einer gemeinsamen Basis aufbauen war Gegenstand meiner Gespräche, die ich erst gestern können. Wenn Sie eine belastbare Analyse der neuen Be- Vormittag in Wien mit al-Baradei geführt habe. Wir drohungsszenarien vorlegen, wenn wir gemeinsam ver- müssen mit folgendem Sachverhalt verantwortungsvoll suchen, alte Reflexe abzulegen, um zugunsten der Be- umgehen: Wenn wir die Auffassung vertreten, dass wir wältigung neuer Herausforderungen eine neue Politik zu eine internationale Kontrolle unter dem Dach der Verein- betreiben und eine neue Diskussion zu führen, dann kön- ten Nationen, ausgeübt durch die Internationale Atom- nen Sie sicherlich mit der Unterstützung dieses Hauses energie-Organisation in Wien, brauchen, dann können rechnen. wir die Interessen einer VN-Behörde bei unseren eige- nen Entscheidungen nicht ignorieren, auch nicht aus- Wir diskutieren heute über den vorliegenden Jahres- nahmsweise. Damit sage ich nicht, dass unsere Entschei- abrüstungsbericht. Wenn man ihn genauer liest, stellt dung vorprogrammiert ist. Ich sage nur: Wenn wir im man fest: Es wird auch hier vonseiten der Bundesregie- Übrigen dafür plädieren, den völkerrechtlichen Rahmen rung der Eindruck erweckt, sie käme in Krisenzeiten ih- und die Arbeit der Vereinten Nationen zu achten, dann ren selbstgesteckten Zielen einer verantwortungsvollen können wir diesen Aspekt hier nicht einfach außen vor Abrüstungs- und Nichtverbreitungspolitik in vollem lassen. Damit sage ich nicht, dass die Entscheidung vor- Umfang nach. programmiert ist. Ich sage nur: Wir sollten das berück- Wenn ich mir jetzt aber Ihre Worte vergegenwärtige, sichtigen. insbesondere in Bezug auf das Thema, das der Kollege (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Hoyer und viele andere Kollegen mit Recht auf die CDU/CSU) Agenda gesetzt haben, nämlich wie sich die Bundesre- gierung in der Nuclear Suppliers Group zum Thema Ich bedanke mich, dass Sie darauf hingewiesen ha- US-indisches-Nuklearabkommen verhält, bedaure ich es ben, dass Fragen der Streumunition, der Kleinwaffen, (B) doch sehr, dass Sie dazu hier im Plenum keine klaren (D) des Umgangs mit Landminen von dieser Bundesregie- Worte gefunden haben. In dem Moment, in dem wir von rung durchaus erfolgreich aufgegriffen worden sind. der bisherigen Linie abweichen, legen wir an die Grund- Diese Fragen zu behandeln, bleibt eine Aufgabe für das festen der Nichtverbreitung und des Nichtverbreitungs- laufende Jahr. An all diesen Aufgaben wollen wir mit vertrages wirklich Hand an. großer Hartnäckigkeit arbeiten. Wir werden hier ganz klar, wie viele andere Kollegin- Ich komme zum Schluss. Abrüstungsarbeit bleibt nen und Kollegen des Hauses auch, darauf drängen, dass wichtig. Sie wird immer Mühsal der Ebene bedeuten und Sie genauso wie andere Mitgliedstaaten – Irland und nie schnelle Erfolge hervorbringen. Abrüstung wird ei- Schweden haben beispielsweise grundlegende Bedenken nen wichtigen Beitrag zu Frieden und Stabilität aber nur angemeldet – zu diesem Thema nicht weiterhin schwei- dann leisten können, wenn wir wieder lernen, stärker in gen wie die Bundeskanzlerin anlässlich ihres Indienbe- den Kategorien von regionalen Sicherheitsstrukturen suches, sondern uns Parlamentariern rechtzeitig darüber zu denken. Klarheit verschaffen, wie Sie sich dann verhalten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deshalb plädiere ich dafür, dass sich unsere Diskussion Wir sind der Auffassung, dass die bilateralen Verein- nicht in Tagesfragen verliert. Regionaler Sicherheits- barungen zwischen Washington und Neu Delhi in ihrer strukturen bedarf es in Asien, im Mittleren Osten und jetzigen Form die Normen und Prinzipien der nuklearen auch im Nahen Osten. Auch ich wünsche mir manchmal, Nichtverbreitung unterminieren und dass sie im Wider- dass die Welt einfacher wäre, als sie es tatsächlich ist. Es spruch zu dem stehen, was der Bundestag seit vielen ist nur leider nicht so. Jahren und Jahrzehnten fordert. Durch Ihr Schweigen Vielen Dank. vergeben Sie auch eine historische Chance, Indien tat- sächlich an das Nichtverbreitungsregime heranzufüh- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ren. Solche Fragen müssen im Vorfeld geklärt werden. der CDU/CSU) Man kann es nicht dem Prozess danach überlassen, dass man sich Schritt für Schritt auf den NPT zubewegt. Ich Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: denke, es ist ein Gebot der Fairness und der Verlässlich- Das Wort hat nun für die FDP-Fraktion die Kollegin keit, im Vorfeld belastbare Signale und Reaktionen zu Elke Hoff. finden. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) 14480 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Elke Hoff (A) Wenn so etwas wie nukleare Doppelstandards ent- raler Verhandlungen konnten wir ja im Zusammenhang (C) stünden, die kaum zu erklären wären, wenn wir über die mit dem Atomprogramm Nordkoreas feststellen. Ich bin Schwierigkeiten mit Iran diskutieren, würden wir uns in der Auffassung, dass Gespräche miteinander immer eine Position begeben, mit der wir die Funktion eines nützlich sind, gerade bei solch schwierigen Themen, da- ehrlichen Maklers im Bereich der Abrüstungspolitik ver- mit, wie Sie, Herr Minister, es gesagt haben, die Welt et- lassen würden. Wir sollten uns davor hüten, unser gutes was einfacher wird. Dadurch wird nämlich die Möglich- und hohes Ansehen, das wir in der Welt auf diesem Ge- keit eröffnet, den gemeinsamen Bedenken, die beide biet haben, aufs Spiel zu setzen, um vielleicht an der ei- Partner haben – man muss alle Seiten ernst nehmen –, nen oder anderen Stelle einer Vorstellung Nahrung zu Rechnung zu tragen, auch durch neue strategische Über- geben, die wir dann nicht erfüllen können. legungen: weg von den alten Reflexen, hin zu einer Ab- rüstungspolitik, die der Realität auf unseren Welt gerecht Deutschland wird im Mai 2008 den Vorsitz haben. wird. In diesem Bereich haben Sie unsere Unterstützung; Wir erwarten von der Bundesregierung daher, dass sie denn wir alle haben ja das Interesse, Frieden zu schaffen. den Vorsitz dazu nutzt, entsprechende abrüstungspoliti- sche Bedingungen einzufordern. Ich hoffe sehr, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es uns im Jahr 2008 gelingen wird, positive Signale zu (Beifall bei der FDP) senden, und dass wir nicht immer wieder feststellen Die abrüstungspolitische Glaubwürdigkeit ist ein Kapi- müssen, dass letztendlich alle unsere guten Worte in ei- tal, das Deutschland nicht aufs Spiel setzen darf. Wenn ner Sackgasse münden. Daran wollen wir alle gemein- renommierte Außenpolitiker wie Henry Kissinger – ich sam arbeiten. darf an dieser Stelle aber auch unseren ehemaligen Bun- desaußenminister Hans-Dietrich Genscher erwähnen – Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. vor dem Zerfall der etablierten Nuklearordnung und vor (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der drohenden Gefahr einer neuen Phase der nuklearen der CDU/CSU und der SPD) Aufrüstung warnen, sollte dies für uns alle Anlass genug sein, uns heute hier Gedanken darüber zu machen, wel- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: chen Beitrag wir dazu leisten können. Nächster Redner ist nun der Kollege Holger Haibach Ich darf jetzt auf das Thema Iran noch kurz zu spre- für die CDU/CSU-Fraktion. chen kommen, auch angesichts der Redezeit. – Für einen dauerhaften Erfolg beispielsweise der Entschärfung der Holger Haibach (CDU/CSU): iranischen Nuklearkrise werden die P 5 und Deutsch- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und land, die in der nächsten Woche wieder in Berlin zu Be- (B) Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns, (D) ratungen zusammenkommen werden, auch bereit sein wie ich glaube, in der Analyse einig, dass sich die inter- müssen, neue Wege und Anreize zu finden. Deswegen nationalen Abrüstungsbemühungen in einer Krise befin- bin ich froh, dass hier heute erwähnt worden ist, dass den. Ich würde sagen, dass diese Krise Ausfluss einer über neue Strategien oder überhaupt über eine Strategie anderen Krise ist, nämlich der Krise der internationalen diskutiert wird. Machen wir uns nichts vor! Die Signale Staatengemeinschaft insgesamt. Überall, wo in interna- von Zerstrittenheit, die zurzeit gegenüber dem Iran aus- tionalen Strukturen agiert wird, sehen wir große Pro- gesendet werden, sind alles andere als hilfreich, wenn es bleme. Denken Sie nur an die Reform der UN oder an- darum geht, in absehbarer Zeit zu einem Ergebnis zu dere Dinge. All das wirkt sich eben auch an dieser Stelle kommen. aus. (Beifall bei der FDP) Natürlich ist es richtig, dass dann einem Land wie Solange einige Akteure hinter den Kulissen den An- Deutschland eine besondere Bedeutung zukommt. Herr reicherungsstopp und einen potenziellen Regime-Change Hoyer hat darauf hingewiesen, dass wir dadurch, dass immer noch miteinander verknüpfen und solange be- wir uns – richtigerweise – entschlossen haben, Atom- schlossene Wirtschaftssanktionen in der Realität von vie- waffen zu entsagen, in einer besonderen Position sind. len unterlaufen werden, wird die bisherige Drohkulisse Frau Hoff hat davon gesprochen, dass wir Deutsche so- gegenüber dem Iran langfristig wenig Wert haben. Wenn zusagen die Position des ehrlichen Maklers übernehmen die eigene, die interne Glaubwürdigkeit dadurch infrage können. Wir sollten uns aber davor hüten, deutsche Au- gestellt wird, dann müssen wir uns doch nicht wundern, ßenpolitik mit Erwartungen aufzuladen, die sie beim wenn Iran mit seinen vielfältigen internationalen Wirt- besten Willen zu erfüllen nicht in der Lage ist. Wir ha- schaftsbeziehungen Möglichkeiten suchen wird, einen ben eine wichtige Aufgabe; das ist keine Frage. Wir soll- Bypass zu finden. Das wird immer möglich sein; deshalb ten aber – das ist, wie ich glaube, auch wichtig, zu sehen – muss über die Sinnhaftigkeit solcher Maßnahmen nach- realistisch mit unseren Chancen und Möglichkeiten um- gedacht werden, auch um die eigene Glaubwürdigkeit zu gehen. Ich kann das gerne am Beispiel des amerika- erhalten. nisch-indischen Deals festmachen. Wir sind deshalb der Meinung, dass die Aufnahme Ich habe großes Vertrauen in diese Bundesregierung von bilateralen Verhandlungen zwischen Washington und gehe davon aus, dass sie sich nach besten Kräften und Teheran spätestens nach den US-Präsidentschafts- bemüht. Aber wenn der Bundesaußenminister nach Neu- wahlen zumindest in Erwägung gezogen werden muss, Delhi fliegt und seinem indischen Amtskollegen sagt: zumindest angedacht werden sollte. Einen Erfolg bilate- „Begebt euch einmal schön unter den Hut der internatio- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14481

Holger Haibach (A) nalen Gemeinschaft“, so wird das – das ist mein Ein- Der Bundesaußenminister hat recht, wenn er sagt, dass (C) druck – wohl kaum dazu führen, dass das tatsächlich so- die Welt leider nicht so einfach ist, wie wir sie uns gerne fort so geschieht. Insofern müssen wir immer schauen, machen würden, wenn wir es denn könnten. welche Möglichkeiten wir haben, auch aufgrund der Führungsrolle, die wir in der Nuclear Suppliers Group Dies gilt zum Beispiel auch – das ist ebenfalls schon haben, aber wir sollten uns nicht überschätzen. vom Kollegen zu Guttenberg deutlich gemacht worden – für das Thema Raketenabzug aus Deutschland. Wir re- Ich habe manchmal den Eindruck, dass sich diese den über amerikanische Waffen, die sich quasi auf ame- ganze Debatte irgendwo zwischen Fatalismus und Idea- rikanischem Boden befinden und die unter NATO-Kura- lismus abspielt. So müssen wir – es ist richtig, was der tel stehen. Deshalb wird es für uns nicht einfach sein, zu Bundesaußenminister da gesagt hat – versuchen, dazwi- sagen, dass diese Raketen in Deutschland nicht statio- schen einen vernünftigen Weg zu finden. Die Politik der niert bleiben können. Wir sind uns zwar im Ziel einig. Bundesregierung zeigt ja sehr deutlich, dass man sich Aber Kollege zu Guttenberg hat schon klargemacht, dass stark bemüht: Es gibt – das will ich an dieser Stelle auch wir in der Frage, auf welchem Weg wir das Ziel errei- einmal sagen – quasi keine internationale Krise und chen, unterschiedlicher Meinung sein können. quasi keine internationale Vereinbarung, an der diese Bundesregierung nicht maßgeblich beteiligt gewesen ist, Die klare Sicht auf die Dinge in der Welt, die die Bun- sei es der Nahostkonflikt, sei es der Atomstreit mit desregierung bewiesen hat, kann man auch beim Thema Nordkorea, sei es die Krise der KSE. Streumunition relativ deutlich erkennen. Der vorgelegte Dreistufenplan ist ein wichtiger Schritt in die richtige (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Richtung. All diejenigen, die kritisieren, dass das zu we- NEN]: Bei der Bewältigung hoffentlich!) nig ist und dass man Streumunition lieber heute als mor- gen verbieten sollte, dürfen nicht übersehen, dass wir – Nicht an der Krise, sondern an der Bewältigung dieser nicht die einzigen sind, die das Heft des Handelns in der Krise. – Es gibt auch noch viele andere Bereiche, in de- Hand haben. Die großen Staaten, die Streumunition pro- nen diese Bundesregierung beteiligt ist. All diejenigen, duzieren, haben sich in Wien bis zuletzt sehr stark dage- die kritisieren, dass die Erfolge nicht so gewesen sind, gen gewehrt, dass es überhaupt zu einer Vereinbarung wie sie es sich gewünscht hätten, die dürfen nie außer gekommen ist. Insofern finde ich, dass auch an dieser Acht lassen, dass wir nicht die einzig Beteiligten gewe- Stelle die Bundesregierung ihre Bereitschaft zum Han- sen sind. Dass die Bundesregierung einen großen Anteil deln und auch ihren Blick für das Machbare bewiesen an der Beilegung von Konflikten gehabt hat, steht außer hat. Frage. Das sollten wir auch deutlich machen. (B) Ein letzter Punkt, den ich in dieser Debatte anspre- (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und chen möchte. Es geht um die Frage, wie wir uns in den der SPD) internationalen Konflikten verhalten. Es geht dabei nicht Ich möchte einen zweiten Punkt erwähnen. Es wird nur um Russland und um den Raketenschild; es geht davon gesprochen, dass beispielsweise der amerika- nicht nur um Nordkorea. Viele kleine Konflikte zeigen, nisch-indische Nukleardeal eine Herausforderung für die dass wir mit unserer Strategie auf dem richtigen Wege etablierte Nuklearordnung sei. Das ist zweifelsohne sind: Einerseits müssen wir unsere Entschlossenheit zum richtig. Um dieses Thema müssen wir uns ernsthaft Handeln und andererseits die Bereitschaft zu Verhand- kümmern. Es führt uns weiter zu der Frage, ob diese Nu- lungen zeigen. klearordnung eigentlich unserer heutigen Zeit noch ge- recht wird. Sie stammt aus einer Zeit, als es nur vier Man kann über Nordkorea geteilter Meinung sein. Nuklearstaaten gab. Je nachdem, welchen Geheim- Aber eines ist klar: Der große Konflikt ist abgewendet. dienstberichten man glauben will, kann man sagen, dass Trotzdem darf man Nordkorea an dieser Stelle nicht aus es heute zehn, 15 oder 20 Staaten gibt, die in der Lage der Verantwortung entlassen. Nordkorea ist seiner Be- sind, spaltbares Material und vielleicht Bomben zu pro- richtspflicht bis heute nicht nachgekommen. Die Frist duzieren. Da stellt sich die Frage, ob wir unser interna- endete am 31. Dezember. Es ist daher richtig, dass dieser tionales Instrumentarium nicht an dieser Tatsache aus- Vorgang weiter beobachtet wird und zu internationalen richten und weiterentwickeln müssen. Denn wir werden Konsequenzen führen muss. kaum in der Lage sein, mit Instrumenten, die vor zehn Ich glaube, dass wir hier eine Debatte führen, die oder 20 Jahren wirkungsvoll gewesen sind, die Heraus- nicht viel öffentliche Aufmerksamkeit findet. Das gilt forderungen der Zukunft zu meistern. Wir müssen viel- für die Abrüstung genauso wie für die zivile Krisenprä- mehr zu Veränderungen bereit sein. vention. All das sind keine Themen, die – wie man so (Beifall des Abg. Dr. Karl-Theodor Freiherr zu schön auf Neudeutsch sagt – sexy sind. Interessanter- Guttenberg [CDU/CSU]) weise findet jede Diskussion über die Verlängerung von Militäreinsätzen in den Medien wesentlich mehr Wider- Das heißt aber nicht, dass wir von unserem Ziel ablas- hall als die Diskussion, die wir heute Morgen führen. sen, sondern dass wir die heutigen Gegebenheiten aner- Nichtsdestoweniger entbindet dies nicht von unserer kennen. Pflicht, unsere Arbeit fortzusetzen. (Uta Zapf [SPD]: Konkreter, bitte!) (Zuruf von der LINKEN) 14482 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Holger Haibach (A) – Entschuldigung, die Presse kontrollieren wir nicht. Wir Ich finde, dass es einem Bericht wie diesem gut anste- (C) haben Gott sei Dank ein freies Land. Das kann man zwar hen würde, sich mit den möglichen Konsequenzen aus- bedauern, man muss es aber zur Kenntnis nehmen. einanderzusetzen. Herr Minister, was Sie hier gesagt ha- ben, ist sehr wohltuend. Wir wüssten aber schon gerne, Wir sind alle aufgefordert, unsere Bemühungen vor- ob das die Position der gesamten Bundesregierung ist. anzutreiben und unseren Teil dafür zu tun. Bleiben wir Es war wohltuend, von Ihnen zu hören, dass Sie Gefah- dabei aber realistisch und bewahren wir uns den klaren ren sehen. Wir wüssten aber gerne, ob Sie die deutsche Blick für das, was machbar ist. Position nun endlich in den europäischen Gremien ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- treten, da die Diskussion dort schon eine ganze Weile neten der SPD) läuft. Stoßen Sie dort Warnungen aus, und werden diese ernst genommen?

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Es ist ja kein Zufall, dass auf dem Höhepunkt des Nächster Redner ist der Kollege Alexander Bonde für Kalten Krieges über die Beschränkung von Raketenab- die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. wehrsystemen verhandelt wurde. Das war ein wichtiges Element, um aus der Rüstungsspirale – Abwehr und Ab- wehr der Abwehr – auszubrechen. Mit dem, was im Mo- Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ment auf dem Tisch liegt, kommen wir potenziell auf Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! diese Position zurück. Das ist eine Fragestellung, die Eu- Da das Außenbild der Koalition in Klima und Stil nicht ropa insgesamt betrifft, die im Moment aber im Rahmen gerade von Abrüstung geprägt ist, ist es schön, dass zu- von trilateralen Verhandlungen verhandelt wird. Ich mindest in dieser Debatte über große abrüstungspoliti- kann nicht erkennen, dass die Bundesregierung alles tut, sche Linien sowohl in der Koalition als auch im ganzen was in ihrer Macht steht, um diesen Prozess in einen eu- Haus gewisse Gemeinsamkeiten festzustellen sind. ropäischen Diskussionsprozess zu überführen. Diese Dynamik birgt auch Gefahren; denn die Fragestellung Der Jahresabrüstungsbericht 2006 liefert viel Interes- setzt Anreize, Waffen, die in der Lage sind, diese Ab- santes. Es ist allerdings auch interessant, zu sehen, wie wehrsysteme zu überwinden, in größerer Stückzahl zu wenig an der einen oder anderen Stelle steht, wo es dünn produzieren. wird, und festzustellen, wo die grundsätzlichen Linien, über die wir uns einig sind, im konkreten Handeln mit Die Diskussion über diese Planungen hat es Nationen der einen oder anderen politischen Linie kollidieren. Das wie Russland natürlich erleichtert, Modernisierungspro- eine oder andere Engagement ist wohl doch zu hinterfra- gramme ihrer Waffensysteme nach innen zu legitimie- ren. Wir alle erinnern uns an den Auftritt von Präsident (B) gen. Der indische Nukleardeal ist angesprochen worden. (D) Putin im letzten Jahr. Wichtig ist aber auch die Frage der Streumunition. Die Bundesregierung hat sich mit einem Trick, mit der Wenn wir uns hier in abrüstungspolitischen Linien ei- Aufteilung in gefährliche und ungefährliche Streumuni- nig sind, erwarte ich von der Bundesregierung, dass ihre tion, aus der Bewegung herausgestohlen. Wenn man die- Handlungen dann auch in diese Linien passen und dass sen Trick durchzieht, wird man bei der Streumunition man keine gegenteiligen Signale sendet in Debatten, die am Ende nur eine Modernisierung, aber keinen Ausstieg nicht laut genug oder mit unklarer Position geführt wer- aus der Nutzung dieser gefährlichen Munition erreichen. den, und dass man sie nicht offensiv konterkariert. Ich Man muss bei dieser Koalition immer genau zwischen wünsche mir mehr abrüstungspolitische Reden von Ih- den Zeilen lesen. Ich fürchte, dass Sie auf die Position nen, auch außerhalb von abrüstungspolitischen Debat- „Streumunition ist gefährlich – Punkt“ zurückgebracht ten, nämlich in den Gremien, in denen zum Schluss tat- werden müssen. sächlich entschieden wird, in welche Richtung diese Welt läuft. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn die Bundesregierung unsere gemeinsame Posi- tion ernst nimmt, muss sie mehr offensive Initiativen vorlegen. Wir bedauern sehr, dass im Rahmen der G-8- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: und der EU-Ratspräsidentschaft in diesem Zusammen- Nächste Rednerin ist die Kollegin Uta Zapf für die hang von Deutschland wenig zu hören war. SPD-Fraktion. Ein Aspekt, der uns besonders irritiert, taucht im Ab- Uta Zapf (SPD): rüstungsbericht in einem Nebensatz auf. Es geht um die Frage der Planung von US-Raketenabwehrsystemen in Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- Europa. Ich zitiere aus dem Bericht: legen! Herr Hoyer, ich will Sie ein bisschen aufheitern; Sie waren bei Ihrer Rede so deprimiert. Neben dem Investitionsbedarf für aktuelle Einsätze (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das ist nicht meine werden umfangreiche Ressourcen für Entwicklung Art!) und Aufbau eines nationalen Raketenabwehrsys- tems und die Erzielung von sog. space dominance Am 14. Januar dieses Jahres hat Barbados den Atom- verwendet. teststoppvertrag ratifiziert. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14483

Uta Zapf (A) (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Wow! Da sind wir Ich lobe jetzt einmal mit wenigen Worten einige Ini- (C) beide ja jetzt sehr erleichtert!) tiativen, wie zum Beispiel die Initiative zum Brenn- stoffkreislauf. Ich denke, das ist eine ganz wichtige Ini- Das ist doch eine gute Nachricht. Aber vielleicht ist das tiative, bei der Deutschland eine ganz große Rolle schon das Ende der guten Nachrichten. Ich denke, des- gespielt hat. Das müssen wir voranbringen. halb sind wir hier auch so engagiert. Ich bin ein bisschen erschrocken, Kollege zu Guttenberg, als Sie gesagt ha- Man muss einmal ein bisschen hinter die Kulissen ben, das sei ein Orchideenthema. schauen. Warum ist Abrüstung so unpopulär und schwie- rig geworden? Ich glaube, es liegt an zweierlei. Es liegt (Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg [CDU/ vor allen Dingen an der Rolle der Nuklearwaffen in den CSU]: Gewesen! In den 90er-Jahren!) Strategien. Wer Nuklearwaffen zu Einsatzwaffen er- – Gut: gewesen. Das mag ja sein. klärt, wird schlicht und ergreifend andere nicht zum Ver- zicht auf diese Waffenkategorien überreden können. Ich teile diese Meinung nicht. Denn womit haben wir es hier zu tun? Mit ganz harten sicherheitspolitischen Ich glaube, das ist eine Aufgabe, über die auch inner- Realitäten. Wenn sich diese verschlechtern, wenn wir halb der NATO diskutiert werden muss. Ich bin für die nicht handeln, dann kann es tatsächlich zu einer Kata- Initiative von Norwegen und Deutschland dankbar. Man strophe kommen. Wenn Sie sagen, Visionen seien nicht muss die Bedeutung von Nuklearwaffen innerhalb der so wichtig, sondern die Schritte, die dorthin führen, dann NATO in der Tat weit „herunterzonen“. Dabei muss man möchte ich gerne die ehemalige Außenministerin von auch über den Abzug der hier stationierten amerikani- Großbritannien, Frau Beckett, zitieren, die sagt: Wir schen Waffen reden. brauchen Visionen, damit wir wissen, welche Schritte wir unternehmen müssen, um dort hinzukommen. Lassen Sie mich noch etwas intensiver auf ein Thema eingehen, das mir immer sehr am Herzen gelegen hat (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – es ist von manchen Kolleginnen und Kollegen bereits des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – angerissen worden –: Wie wird sich Deutschland in der Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Nuclear Suppliers Group in Bezug auf das US-indische [CDU/CSU]: Sie war sehr erfolgreich!) Abkommen verhalten? Das ist eine ganze schwierige Aufgabe. Hier muss man mit sehr viel Fingerspitzenge- Ich glaube, das ist was, was wir hier tun, was unser Au- fühl vorgehen. ßenminister tut und was wir in unseren Anträgen vor- schlagen. Kollege Haibach hat gesagt, die Nuklearordnung sei veraltet. Ja, sie ist veraltet. Es gibt aber viele Prinzipien, Wenn Shultz, Perry, Kissinger und Nunn in ihrem hier die auch in einer neuen Nuklearordnung Bestand haben (B) schon zitierten Aufruf in The Wall Street Journal schrei- (D) müssen. Das sind Prinzipien, die verhindern, dass Atom- ben, das das ganze System am Rande des Verderbens, waffen unter dem Deckmäntelchen der zivilen Nutzung auf der Kippe steht, dann müssen wir das, denke ich, der Energie hergestellt werden. sehr ernst nehmen. Wir müssen noch einmal ganz kon- kret die Diskussion darüber führen, was wir machen (Beifall bei der SPD und der FDP sowie des können. Dazu möchte ich gern ein paar ganz konkrete Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE Vorschläge machen. GRÜNEN]) Der erste betrifft die Frage, wie wir damit umgehen, Ich glaube, wir müssen in der Nuclear Suppliers dass bestehende Abrüstungsverträge entweder überhaupt Group in Bezug auf dieses Abkommen folgende Bedin- gar nicht umgesetzt werden, zum Beispiel START II, oder gungen stellen: Indien muss den CTBT zeichnen, ein auf der Kippe stehen, zum Beispiel INF, also der Mittel- Teststoppmoratorium einhalten und die Produktion von streckenvertrag, dass andere wie START I auslaufen waffenfähigem Material verbindlich stoppen. Ich meine, oder dass andere ohne Verbindlichkeit sind, weil sie man müsste von Indien auch verlangen, dass sich dieses schnell widerrufbar, schnell kündbar, nicht irreversibel Land ähnlich wie andere Staaten zur Abrüstung seiner und nicht überprüfbar sind wie SORT. Es gibt einen Hin- Nuklearwaffen und nicht etwa zur weiteren Aufrüstung weis: Die USA und Russland haben in Bezug auf INF verpflichtet und sicherstellt, dass die vorhandenen Arse- eine Initiative zur Multilateralisierung dieses Vertrages nale nicht mithilfe aus der zivilen Nutzung abgezweigten angekündigt. Ich denke, das ist eine gute Initiative. bzw. umgeleiteten Materials aufgestockt werden können. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das ist etwas ande- Denn das gesamte Problem beschränkt sich nicht auf res!) diese beiden Staaten, sondern hat mittlerweile wesent- Das wäre ein Weg, Indien näher an das Nichtverbrei- lich größere Dimensionen erreicht. Wenn es gelingt, tungsregime heranzuführen. Wenn das durchgesetzt wer- diese Diskussion anzustoßen, könnten wir einen Schritt den könnte, dann würde ich mich sehr freuen. Noch weiterkommen. Für START I muss man mindestens eine mehr würde ich mich freuen, wenn wir in diesem Hause Verlängerung erwirken oder versuchen, einen Nachfol- einen gemeinsamen Antrag in diesem Sinne beschließen gevertrag auszuhandeln. Darauf sollten wir bei der Über- könnten, weil das unserer Regierung ein Stück weit den prüfungskonferenz Hinweise geben. Die Folgeverträge Rücken stärken würde. müssen im Gegensatz zu SORT unumkehrbar und über- prüfbar sein. Danke sehr. 14484 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Uta Zapf (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tegiepapier. Bisher übt sich die Bundesregierung diesbe- (C) der FDP und des Abg. Dr. Karl-Theodor züglich in beredtem Schweigen. Freiherr zu Guttenberg [CDU/CSU]) Mangelnde Konsequenz aus bündnistaktischen Grün- den gibt es auch in vielen anderen Bereichen. Einige Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: möchte ich ansprechen. So werden in Büchel in Rhein- Nun hat der Kollege Gert Winkelmeier das Wort. land-Pfalz beim Jagdbombergeschwader 33 noch immer amerikanische taktische Atomwaffen vorgehalten. 18 Jahre Gert Winkelmeier (fraktionslos): nach Ende des Kalten Krieges und der Abschreckungs- strategie der gesicherten gegenseitigen Vernichtung müs- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! sen diese Waffen endlich abgezogen werden. Das wäre Beim Studium der Jahresabrüstungsberichte kann man ein glaubwürdiges Signal, dass Deutschland seine Ver- sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die jeweili- pflichtungen aus dem Atomwaffensperrvertrag ernst nimmt. gen Bundesregierungen darin stets kräftig auf die eigene Schulter klopfen. Nicht dass ich etwas dagegen hätte; (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Klappern gehört bekanntlich zum Handwerk. Wenn Sie das aber machen, dann müssen Sie auch Substanzielles Ein anderes Beispiel: Unter den Blindgängern von vorweisen können. Daran hapert es gewaltig. Streumunition haben weltweit Millionen unschuldiger Zivilisten zu leiden. Auch hier agiert die Bundesregie- Die Bundesregierung betont immer wieder das seit Er- rung halbherzig, weil sie an der Option für den Einsatz langung der vollen Souveränität gewachsene Gewicht dieser Munition weiterhin festhält. Hier kann es aber Deutschlands innerhalb der Staatengemeinschaft. Sie nicht nur darum gehen, wie Sie meinen, die Zivilbevöl- leitet daraus den Anspruch ab, in der Welt mehr als früher kerung besser zu schützen. Nein, Streumunition ist ge- mitzureden und mehr Verantwortung zu übernehmen. ächtet. Sie gehört weltweit vernichtet. In diesem Sinne Das ist an sich löblich. Doch eigenartigerweise hören wir sollte die Bundesregierung auf die NATO-Führungs- diese Begründungen meistens dann, wenn es darum geht, macht und andere Staaten einwirken. militärische Einsätze zu rechtfertigen oder einen ständi- (Zuruf von der SPD: Machen wir doch!) gen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu fordern. Das ist der wirksamste Schutz für die Zivilbevölkerung. Ich frage mich, wo die Bereitschaft zur Übernahme Ich erwarte, dass Sie dem Beispiel Österreichs und Bel- von Verantwortung beim Thema „Abrüstung und Rüs- giens folgen und Streumunition ohne Wenn und Aber tungskontrolle“ bleibt. Hier könnte Deutschland interna- ächten. Das ist nachahmenswert, hier sollten Sie abrüs- tional punkten und sein Ansehen durch rüstungskontroll- tungspolitische Verantwortung übernehmen. politische Initiativen weltweit signifikant verbessern, (B) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (D) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Was ich in Ihren Abrüstungsberichten völlig ver- wenn auch nicht bei jedem seiner Verbündeten; das will misse, ist die sogenannte DU-Munition; das ist Muni- ich gerne eingestehen. tion, die mit einem Mantel aus abgereichertem Uran um- Exemplarisch für die Kluft zwischen dem Anspruch hüllt ist. Die Bundeswehr hat so etwas nicht in ihren und dem realen Handeln der Bundesregierung ist fol- Beständen; doch die USA und andere Bündnispartner gender Vergleich: Auf Seite 4 des Jahresabrüstungsbe- setzen solche Munition ein und vergiften und verstrahlen richts 2006 steht, es bleibe das vorrangige Ziel der Bun- mit dem entstehenden Urandioxid ganze Landstriche. desregierung, „den internationalen Konsens … über die Auch auf diesem Feld übernehmen Sie keine politische … Dringlichkeit der Bekämpfung der Verbreitung von Verantwortung. Massenvernichtungswaffen zu bewahren.“ „Außenpolitik ist Friedenspolitik“, liest der Besucher Doch diesem Ziel fehlt es am notwendigen Engagement. auf der Homepage des Auswärtigen Amtes. Wer wollte Auf Seite 23 lesen wir im Zusammenhang mit dem Bio- dem widersprechen? Eine erfolgreiche Friedenspolitik waffenübereinkommen: setzt aber international Vertrauen voraus. Ob dieses Vertrauen durch eine halbherzige Abrüstungspolitik ent- Wegen der weiterhin großen Sprengkraft des The- steht, ist zu bezweifeln. Denn gleichzeitig wird die Bun- mas wurde die Einführung eines Verifikationsme- deswehr zur globalen Interventionsarmee umgebaut. Es chanismus für das BWÜ nicht weiter verfolgt. ist Abrüstungsscharlatanerie, wenn in der Bundeswehr nur Material abgerüstet wird, das nach dem Umbau zur Doch was nützt der Welt eines der umfassendsten weltweit agierenden Armee sowieso nicht mehr benötigt Waffenverbote, solange ein entsprechendes Kontroll- wird. system fehlt – und das seit über 30 Jahren! Wir wissen alle, wer hier der Hauptbremser ist. Sie rühmen sich, die Letzter Gedanke. Wir dürfen gespannt sein, ob sich Überprüfungskonferenz 2006 proaktiv vorbereitet zu ha- die Bundesregierung bei der anstehenden Ratifizierung ben. Nur, wo bleibt dieses Proaktive gegenüber der des Vertrages von Lissabon zur militärischen Aufrüstung NATO-Führungsmacht? Ist die Bundesregierung jemals verpflichten wird. Eben das wäre kein abrüstungspoliti- auf die Idee gekommen, die zynischen, menschenver- sches Signal und widerspräche der Intention dieser De- achtenden Hoffnungen des Paul Wolfowitz anzupran- batte. gern, dass biologische Waffen eines Tages zu einem po- Vielen Dank. litisch nützlichen Mittel werden könnten? Nein. Solche Sätze stehen aber seit 2000 in einem offiziösen US-Stra- (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14485

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Stellenwert zugewiesen werden kann, der ihnen eigent- (C) Nächster Redner ist der Kollege Hans Raidel für die lich innewohnt. Sie wissen, dass es verschiedene An- CDU/CSU-Fraktion. läufe dafür gab. Sie alle sind damals gescheitert. Eine Neuauflage wäre aus meiner Sicht durchaus wichtig. (Beifall des Abg. Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg [CDU/CSU]) Der nächste wichtige Punkt ist meiner Auffassung nach, die Amerikaner und die Russen, die die eigentli- chen Key-Player bei diesen ganzen Themenkreisen sind, Hans Raidel (CDU/CSU): vor einer Art Selbstisolation zu bewahren. Im Moment Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und hat man den Eindruck, als ob sie wichtige Abrüstungs- Herren! Ich glaube, auch die heutige Debatte zeigt, dass themen mehr innen- als außenpolitisch motiviert einfach Deutschland in Abrüstungsfragen ein wichtiger Schritt- hochstilisieren, wobei sich jeder mehr der eigenen Sache macher und Impulsgeber ist. Wir müssen unser Licht als dem Ganzen verpflichtet fühlt. Es wurde darauf hin- durchaus nicht unter den Scheffel stellen. gewiesen: Das war früher, in den 70er- und 80er-Jahren, Herr Minister, ich bedanke mich bei Ihrem Hause als die großen Abrüstungsthemen zielführend verhandelt sehr herzlich für die geleistete Arbeit. Es stimmt einfach werden konnten, ein bisschen anders. Man muss die nicht, wenn hier festgestellt wird, dass sich Deutschland USA wieder an diese Rolle heranführen. Auch Russland an der Fortschreibung dieser wichtigen Ideen nicht kon- muss begreifen, dass seine Position – es stellt zum Bei- sequent und nicht ausreichend beteilige. Das Gegenteil spiel Zusammenhänge zwischen der Raketenstationie- ist der Fall. Wir können viele Beispiele dafür anfügen, rung und anderen Problemen her – letztlich nicht ziel- nicht nur aus dem Bereich der Abrüstung und Nichtver- führend sein kann. breitung; wir sind auch im Bereich der Kleinwaffen tä- Wir sollten die Genfer Verhandlungen wieder mit tig. Mit dem International Code of Conduct unterstützen neuem Leben erfüllen. Sie wissen, die einzelnen Re- wir die Rüstungsexportkontrolle. Gerade an der Vernich- gime, über die dort verhandelt wird, leiden derzeit alle tung von Munition und überzähligen Waffen sind wir – ich sage es einmal ganz vorsichtig – an einer übermä- mit viel Geld und Engagement beteiligt, um beispiels- ßigen Zurückhaltung der Akteure, sodass nicht einmal weise Reste aus den vergangenen Kriegen, insbesondere Tagesordnungen gestaltet werden. in Russland, zu beseitigen. Sie haben auf das Scheitern der letzten Konferenz im Der Vorwurf, wir würden in praktischen Fragen zu Jahr 2005 hingewiesen. Auch hier trifft der Vorwurf wenig tun, trägt also mit Sicherheit nicht. Es ist natürlich nicht Deutschland. Wir haben mit unserer Arbeit dazu immer richtig, die Frage zu stellen. Wer keine Visionen beigetragen, dass die einzelnen Regime nicht gänzlich (B) hat, ist kein Realist. Wir sind aber visionär und betrach- abgelehnt worden sind, sondern wenigstens neue An- (D) ten die Dinge gleichzeitig realistisch. Das bedeutet na- läufe vereinbart worden sind. Auch darauf haben Sie türlich, dass wir uns darüber Gedanken machen, wie die hingewiesen. einzelnen Probleme im sogenannten Krisenbogen zu se- hen sind. Wir nehmen uns jedes einzelne Land vor, von Aus meiner Sicht ist wichtig, dass Deutschland hier Indien angefangen über den Iran bis hin zu Pakistan und nicht alleine als Schrittmacher auftritt, sondern dass wir anderen Ländern. Diese Themen sind uns geläufig und in all diesen Fragen den europäischen Kontext suchen; bekannt. denn ich glaube, dass sich die Effektivität und die Effi- zienz stark erhöhen könnten, wenn wir europäisch mit Natürlich wissen wir, dass wir uns neu justieren müs- einer Stimme sprächen, wenn wir hier eine gemeinsame sen. Wir wissen auch, dass wir insgesamt eine Neube- Sprache hätten. Meines Erachtens sind wir durchaus der wertung vorzunehmen haben, weil viele Instrumenta- Motor einer Europäisierung all dieser Aufgaben. rien, die in der Vergangenheit richtig waren, heute möglicherweise neu zu bewerten und einzuordnen sind. Es wurde davon gesprochen, dass das Jahr 2008 zu ei- Wir wissen, dass Verhandlungen und Dialog heute die nem Jahr des Stillstandes werden könnte. Wir müssen al- wichtigsten Instrumente sind und zum Erfolg führen, les tun, damit das nicht eintritt. In diesem Zusammen- dass Drohungen und Sanktionen nur selten wirksam sind hang gibt es zwei Eckpunkte. Das eine ist die und dass zur Problemlösung neben Sicherheitsgarantien Präsidentschaftswahl in Russland, das andere die Wahl auch Anreize gehören, die größer als die Furcht vor in Amerika. Man muss nun versuchen, das Rad weiter- Nachteilen sein müssen. Das ist ein ganz entscheidendes zudrehen. Das Jahr 2009 wird dann die Nagelprobe brin- Thema, das in dem Bereich Verhandlung und Dialog be- gen, inwieweit die neuen Regime bereit sind, sich als sonders dargestellt werden muss. Key-Player wirklich auf diese Fragen einzulassen. Denn es ist richtig, wenn festgestellt wird, wer wann Kofi Annan hat in seiner Abschlussrede als UN-Ge- wo welches Interesse hat und wer wen stützt. In diesen neralsekretär festgestellt, dass Abrüstungsschritte im Bereichen findet ein trickreiches Spiel statt. Die Frage Rahmen der bestehenden Verträge über atomare, biolo- „Wer nützt wen aus?“ ist nicht unberechtigt, vor allem gische und chemische Waffen sträflich vernachlässigt auch nicht folgende Frage: Woher kommt das Geld, um worden sind. Sein Nachfolger stellt auch fest, dass die in unliebsamen Bereichen die Finanzvorlagen zu unter- Anstrengungen verstärkt werden müssen. Vielleicht stützen? wäre es ja gut, wieder einmal den Vorschlag zu machen, im Rahmen der UNO eine weltweite Konferenz durch- Ich meine, dass Deutschland auf einem guten Weg ist. zuführen, damit diesen wichtigen Themen wieder der Wir dürfen Stillstand und Rückschritt nicht zulassen. 14486 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Hans Raidel (A) Wir sollten uns weiterhin nicht beirren lassen, Herr Mi- bar durch Minen und Blindgänger bedroht. Projekte zur (C) nister. Selbstverständlich gehören auch Seitenwind und Minenräumung führen dazu, dass Taliban das Räumper- Gegenwind dazu. Das Parlament gibt Ihnen und allen sonal beschießen, sodass mittlerweile mehr Räumperso- Einrichtungen der Bundeswehr sowie dem Außenminis- nal durch den Beschuss von Taliban als durch das Besei- terium aber den notwendigen Rückenwind. Unser Ziel tigen von Minen ums Leben kommt. muss weiter sein, dass Deutschland in all diesen Fragen Motor, Schrittmacher und Impulsgeber ist. Wir helfen Vor vier Wochen haben wir im Unterausschuss „Ab- rüstung“ eine öffentliche Anhörung zum Thema Streu- mit, wo wir helfen können. Dies liegt in unserem ureige- munition durchgeführt. Die eingeladenen Experten ha- nen Interesse. ben einhellig auf die Unzuverlässigkeit und die fehlende Vielen Dank. militärische Notwendigkeit von Streumunition hinge- wiesen. Die humanitären Schäden, die durch diese Mu- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nition verursacht werden, wiegen weit schwerer als der militärische Nutzen. Umstritten ist auch die Zuverlässig- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: keit sogenannter alternativer Munitionstypen, die nicht Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege für Flächen-, sondern für Punktziele eingesetzt werden Andreas Weigel für die SPD-Fraktion. sollen. (Beifall bei der SPD) Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss das oberste Ziel für uns ein umfassendes Verbot von Streu- Andreas Weigel (SPD): munition sein. Ziel ist, die Herstellung, Verbreitung und Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verwendung dieser Waffen zu sanktionieren. Es ist klar, Die Vielzahl der Anträge, die wir heute unter diesem Ta- dass man das nicht von heute auf morgen tun kann, son- gesordnungspunkt behandeln, kommt schon einem ab- dern nur Schritt für Schritt. Ich glaube, das, was die Bun- rüstungspolitischen Rundumschlag gleich. Von einigen desregierung in dem Bereich getan hat und tut, kann sich ist gelobt worden, dass wir das Thema Abrüstung an so sehen lassen und ist alles andere als eine trickreiche Poli- prominenter Stelle im Bundestag behandeln. Tun wir tik. dies aber immer nur dann, wenn sich eine bestimmte An- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zahl von Anträgen angesammelt hat, so halte ich das für der CDU/CSU) bedenklich. Aus meiner Sicht ist wichtig, dass wir aktu- ell Bezug auf das nehmen, was geschieht, und aktuelle Wenn wir aber Ausnahmen für alternative Munition Bewertungen vornehmen. zulassen wollen, dann geht das meines Erachtens nur, (B) wenn klare Bedingungen erfüllt werden. Ich will drei (D) Vor diesem Hintergrund ist es in meinen Augen sehr nennen: erstens eine nachgewiesene hohe technische Zu- bedenklich, dass wir in dieser Woche in einigen Aus- verlässigkeit der alternativen Munition, zweitens die schüssen noch den Jahresabrüstungsbericht 2004 behan- nachgewiesene Fähigkeit dieser Munition, militärische delt haben. Ziele tatsächlich punktgenau zu bekämpfen, und drittens In der Kürze der Zeit will ich mich auf das Thema eine strikte Begrenzung der durch die Munition verstreu- Streumunition und insbesondere auf die laufenden Ver- ten Sprengköpfe. handlungen dazu konzentrieren. Ich habe durchaus be- Unsere Fraktion begrüßt einhellig den von der Bun- rechtigte Hoffnungen – und viele in diesem Haus auch –, desregierung entwickelten Dreistufenplan für einen uni- dass wir bei diesem Thema im Jahr 2008 zu einem er- versellen Verzicht auf Streumunition. Er hat sich auch folgreichen Abschluss kommen. als nützliche Verhandlungsgrundlage herausgestellt. Er Streumunition ist für die Szenarien des kalten Krieges hat zu einem Aufbrechen der Blockade der Genfer UN- gemacht. In der Realität ist ihre Wirkung verheerend. Verhandlungen im November 2007 beigetragen. Das war 98 Prozent der Opfer sind Zivilisten. Die Selbstzerstö- ein großer Erfolg, besonders wenn man bedenkt, dass rungsmechanismen funktionieren unter realen Kampfbe- 2006 ein ähnliches Bemühen gescheitert ist. dingungen oftmals nicht so, wie wir uns das vorstellen, Darüber hinaus haben – das ist heute schon mehrfach und versagen. Eine erst jüngst veröffentlichte Studie von angesprochen worden – zivilgesellschaftliche Organisa- norwegischen Militärexperten zum Libanon-Krieg 2006 tionen mit dazu beigetragen, dass wir im Rahmen des so- hat belegt, dass die angegebene Blindgängerrate von genannten Oslo-Prozesses im vergangenen Jahr ein gan- 1 Prozent tatsächlich eine Blindgängerrate von 10 Pro- zes Stück vorangekommen sind. Außerhalb des UN- zent bedeutet. Rahmens haben sich mittlerweile 140 Staaten an Ver- Wer sich von Ihnen in den letzten Wochen im Paul- handlungen über ein internationales Abkommen zur Löbe-Haus die Ausstellung „Explosives Erbe des Krie- Ächtung von Streumunition beteiligt. Das ist ein ermuti- ges“ angeschaut hat, wird gesehen haben, welche ein- gendes Zeichen, vor allen Dingen wenn man bedenkt, drucksvollen Erfolge wir in den letzten Jahren erzielen dass es ein Jahr zuvor nicht einmal 50 Staaten waren. konnten, aber auch, vor welchen Herausforderungen wir Es ist wichtig, dass wir gemeinsam im Rahmen der noch stehen. Welche Herausforderungen wir noch zu be- UN-Verhandlungen, aber auch zivilgesellschaftlich an wältigen haben, konnte ich in den letzten Wochen bei ei- diesem Thema arbeiten. Wir sollten im Rahmen des nem meiner Besuche in Afghanistan selber erleben. In Oslo-Prozesses im Mai 2008 in Dublin zu positiven Ver- Afghanistan sind über 4 Millionen Menschen unmittel- handlungsergebnissen kommen. Ich hoffe darauf, dass Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14487

Andreas Weigel (A) durch diese Ergebnisse, ähnlich wie im Ottawa-Prozess, Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Nuklearen (C) ein Schneeballeffekt entsteht und dass wir in Zukunft Dammbruch verhindern – Indien an das Regime zur nuk- Streumunition ächten und nicht mehr zum Einsatz brin- learen Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtweiter- gen müssen. verbreitung heranführen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4591, (Beifall bei der SPD) den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/834 abzulehnen. Wer stimmt für diese Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- Ich schließe die Aussprache. gen? – Dann ist auch diese Beschlussempfehlung ange- nommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge- Zu Tagesordnungspunkt 22 a wird interfraktionell die gen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/5211 an die bei Enthaltung der Fraktion der FDP und der Fraktion in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Die Linke. schlagen. Die Entschließungsanträge auf den Drucksa- chen 16/7790 und 16/7791 sollen an dieselben Aus- Tagesordnungspunkt 22 f. Beschlussempfehlung des schüsse überwiesen werden. Sind Sie damit Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über- Die Linke mit dem Titel „Keine Unterstützung für die in- weisungen so beschlossen. dische Atomrüstung“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4590, den An- Wir kommen nun zu einer Reihe von Abstimmungen. trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/1445 ab- zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Tagesordnungspunkt 22 b. Beschlussempfehlung des Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- Auswärtigen Ausschusses zu dem Entschließungsantrag fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali- der Fraktion Die Linke zum Jahresabrüstungsbericht tionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die 2005 der Bundesregierung auf Drucksache 16/1483. Der Linke bei Enthaltung der Fraktion der FDP1) und der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Drucksache 16/4594, den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/2999 abzulehnen. Tagesordnungspunkt 22 g. Beschlussempfehlung des Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Zivilbevölke- ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- rung wirksamer schützen – Streumunition ächten“. Der nen, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf (B) Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke. Drucksache 16/4589, den Antrag der Fraktion Bünd- (D) Tagesordnungspunkt 22 c. Beschlussempfehlung des nis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/2749 abzulehnen. Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist Die Linke mit dem Titel „Abzug der Atomwaffen aus dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung Deutschland“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- ist damit angenommen mit den Stimmen der Koalitions- schlussempfehlung auf Drucksache 16/4593, den Antrag fraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/ der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/448 abzuleh- Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion der FDP und der nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer Fraktion Die Linke. ist dagegen? – Enthaltungen? – Auch diese Beschluss- Tagesordnungspunkt 22 h. Wir kommen zur Abstim- empfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Ko- mung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen alitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion dem Titel „Keine neuen Raketen in Europa – stattdessen Die Linke. Stärkung der globalen Sicherheit durch Rüstungskon- Tagesordnungspunkt 22 d. Dabei geht es um die Be- trolle und Abrüstung“. Der Ausschuss empfiehlt in sei- schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7516, den dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5456 dem Titel „Abrüstung der taktischen Atomwaffen voran- abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- treiben – US-Atomwaffen aus Deutschland und Europa lung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Be- vollständig abziehen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner schlussempfehlung ist damit angenommen mit den Stim- Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/4592, den An- men der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- Gegenstimmen der Linken und Enthaltung der Fraktion sache 16/819 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- Bündnis 90/ Die Grünen. schlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen mit den Damit rufe ich den Zusatzpunkt 9 auf: Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Rohde, Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Karl Addicks, Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Tagesordnungspunkt 22 e. Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion 1) Anlage 2 14488 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Altersvorsorge für Geringverdiener attraktiv gewiesen ist, dann macht es ökonomisch keinen (C) gestalten Sinn, eine Riester-Rente abzuschließen. Aber das ist bei der überwiegenden Mehrheit der Menschen – Drucksache 16/7177 – nicht der Fall. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Seine Einschätzung ist insofern richtig, als die private Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Vorsorge nach derzeitiger Rechtslage für diejenigen Haushaltsausschuss Menschen keinen Sinn macht, die absehbar auf Grundsi- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für cherung angewiesen sein werden; denn ihre Altersvor- die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich sorge wird zu 100 Prozent mit der Grundsicherung ver- höre dazu keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. rechnet. Diejenigen, die gering verdienen und deswegen nur geringe Rentenansprüche erwerben, erhalten somit Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- im bestehenden System den Fehlanreiz, auf private Vor- ner dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb von der FDP-Frak- sorge gänzlich zu verzichten, weil sie sich nicht lohnt. tion das Wort. Diesen Fehlanreiz wollen wir mit unserem Antrag besei- (Beifall bei der FDP) tigen. (Beifall bei der FDP) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP befasst sich übrigens mit diesem Problem Gestern hatten wir Gelegenheit, über die Rentenfinanzen nicht erst seit gestern oder seit Anfang dieser Woche. sozusagen aus der Gesamtperspektive zu debattieren. Vielmehr hat sie bereits im November letzten Jahres den Dabei wurde deutlich, dass sich die Liquidität der Ren- Antrag eingebracht, der heute Grundlage der Beratungen tenversicherung zwar insgesamt verbessert hat, dass ist. Ich sage das deswegen, weil der Kollege Lafontaine diese Verbesserung jedoch nicht auf die gute konjunktu- glaubte, die gestrige Debatte umwidmen und das Pro- relle Entwicklung, sondern ausschließlich auf die Son- blem thematisieren zu müssen. Herr Kollege Lafontaine dereffekte des Vorziehens der Fälligkeit der Sozialversi- und Herr Kollege Gysi – Sie werden gleich noch reden –, cherungsbeiträge und der Beitragssatzerhöhung Anfang seien Sie ganz ruhig! Die FDP hat das Problem klar auf 2007 zurückzuführen ist. Ein Verdienst der Bundesregie- dem Schirm. rung ist es also nicht. (Rolf Stöckel [SPD]: Aha!) (Beifall bei der FDP) Ich sage Ihnen voraus – das sollte unsere gemeinsame Heute befassen wir uns nun mit dem Thema Alters- Hoffnung sein –: Nach dem Kurswechsel bei der abga- (D) (B) vorsorge aus der Perspektive des Einzelnen, und zwar benfreien Entgeltumwandlung, bei der die Regierung unter besonderer Berücksichtigung der Frage: Lohnt sich erst jahrelang das Problem bestritt, um dann in einer die private Vorsorge auch für diejenigen Versicherten, spektakulären 180-Grad-Wende auf den zuvor allein von die vergleichsweise geringe Verdienste haben? Die Re- der FDP vertretenen Kurs einer unbefristeten Abgaben- gierung und vor allem Vertreter der SPD-Fraktion haben freiheit einzuschwenken, und nach dem Kurswechsel bei gestern bestritten, dass es bei der privaten Vorsorge von der Zwangsverrentung, bei der die Regierung erst auf Geringverdienern überhaupt ein Problem gibt, und ha- Druck der Opposition einen unerträglichen Zustand we- ben der Opposition vorgeworfen, die Menschen in un- nigstens ein Stück weit abmildern will, verantwortlicher Weise zu verunsichern. Dem halte ich (Dr. [DIE LINKE]: In die entgegen: Es gibt ein Problem bei der privaten Vorsorge falsche Richtung!) von Geringverdienern. Unverantwortlich ist alleine das beschönigende Gerede der Bundesregierung, vor allem wird es auch bei der Riester-Rente für Geringverdiener der SPD. in absehbarer Zeit Bewegung bei der Regierung geben. Das ist auch gut so. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Sie stecken den Kopf in den Sand. Sie betreiben eine Vogel-Strauß-Politik. Die Dummen sind dabei wieder Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, einmal diejenigen, die sich trotz eines geringen Ver- aller guten Dinge sind drei. Machen Sie es sich selbst dienstes nicht alleine auf den Staat verlassen wollen. Das nicht zu schwer; der Kollege Peter Weiß, der als renten- kann und darf nicht sein. politischer Sprecher für diese Frage zuständig ist, hat be- reits signalisiert, dass er Handlungsbedarf sieht, auch (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wenn sein Lösungsansatz jedenfalls für Geringverdiener der Linken) nicht zielführend ist. Das Beste, was ich Ihnen empfeh- Dabei hat der ehemalige Bundesarbeitsminister len kann, ist: Stimmen Sie dem FDP-Vorschlag zu; denn selbst gestern in einem Interview mit er ist ein Vorschlag mit Augenmaß. Im Folgenden werde Spiegel Online die Problematik grundsätzlich gut umris- ich ihn noch näher erläutern. sen: Zuvor muss ich allerdings klarstellen, dass die gestern Wenn jemand in fortgeschrittenem Alter erkennen hier gemachte Aussage des Kollegen Schaaf von der sollte, dass er nach der Pensionierung ganz sicher SPD – Herr Kollege, ich bitte Sie, zuzuhören –, man auf die Grundsicherung von 660 Euro im Monat an- müsse nur Mindestlöhne einführen und dann sei das Pro- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14489

Dr. Heinrich L. Kolb (A) blem gelöst, einfach nicht stimmt. Wir haben die Zahlen junge Menschen nicht am Sinn der privaten Vorsorge (C) in unserem Antrag aufgeführt; Sie sehen sie in der Be- zweifeln. Deswegen hat der Antrag, den wir als FDP gründung. Ein Versicherter mit einem Monatsverdienst vorgelegt haben, ein klares Leitbild: Wer freiwillig für von 1 850 Euro muss über 35 Jahre in die Rentenversi- das Alter sparen soll, für den muss sich das Sparen auch cherung einzahlen, um Grundsicherungsniveau zu errei- lohnen. Anderenfalls spart niemand freiwillig. chen. Bei 1 625 Euro Bruttomonatsverdienst sind es (Beifall bei der FDP – Anton Schaaf [SPD]: 40 Jahre, und ein Versicherter mit 1 450 Euro Monats- Was ist mit den Betriebsrenten?) verdienst muss 45 Jahre Beiträge einzahlen, um Grund- sicherungsniveau zu erreichen. Das ist aus Sicht des Einzelnen irrational. Ihm vorzu- schlagen, Herr Schaaf, er solle sparen, obwohl er nichts (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE davon hat, ist doch einfach irrational. Dies entbehrt doch LINKE]: Eingezahlt haben!) jeder Grundlage und widerspricht den Erfahrungen des – Ja, eingezahlt haben. täglichen Lebens. Ich werde den Verdacht nicht los – Herr Schaaf, ich spreche Sie an, weil Sie sich hier in 1 450 Euro brutto im Monat, Herr Schaaf, entspre- die Debatte einschalten –, dass diejenigen, die das frei- chen bei einer 38,5-Stunden-Woche – Urlaubsbezahlung, willige Sparen nicht attraktiv machen wollen, am Ende Feiertagsbezahlung, Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld sind etwas ganz anderes im Sinn haben, nämlich ein Obliga- eingerechnet – einem Stundenlohn von etwa 7,80 Euro. torium, eine Riester-Pflicht. Dagegen allerdings spre- Das liegt also deutlich über dem, was die SPD nach mei- chen wir uns ganz entschieden aus. ner Kenntnis an Mindestlohn fordert. Diese Ausrede zieht jedenfalls nicht, Herr Schaaf. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP – Rolf Stöckel [SPD]: Der Gedanke unseres Antrags ist auch: Derjenige, der Verelendungstheorie!) privat für sein Alter vorsorgt, der also einen Riester-Ver- trag abgeschlossen hat, muss mehr als derjenige haben, Es zieht auch nicht der Hinweis auf eine angeblich der nichts getan hat und sich alleine auf den Staat ver- nur geringe Zahl von Betroffenen. Dass heute nur lässt. Das ist eine Grundforderung der Gerechtigkeit. 2 Prozent der Menschen – etwa 370 000 – im Rentenal- Das widerspricht nicht dem Subsidiaritätsprinzip der ter Grundsicherung beziehen, ist nicht mehr als ein ers- Sozialhilfe; im Gegenteil, das ergänzt das Subsidiaritäts- tes Indiz. Dass der Kreis der künftig Betroffenen erheb- prinzip in sinnvoller und gerechter Weise. Unser Vor- lich größer sein wird, ergibt sich schon daraus, dass mit schlag lautet also: Wer privat oder betrieblich für das Al- dem von der rot-grünen Bundesregierung beschlossenen ter vorsorgt, der soll, wenn er Grundsicherung im Alter Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetz das Renten- bezieht, bis zu 100 Euro aus seiner Vorsorge monatlich (B) (D) niveau bis zum Jahr 2030 um rund 20 Prozent abgesenkt als Freibetrag vorab behalten dürfen. Bei Beträgen, die wird. Dazu kommt, dass mehr und mehr Erwerbsbiogra- darüber hinausgehen, sollen 80 Prozent auf die Grundsi- fien längere Zeiten von Arbeitslosigkeit und insbeson- cherung angerechnet werden. Das ist maßgeschneidert dere ALG-II-Bezug enthalten, in denen für die Alters- für die Bedürfnisse gerade von Geringverdienern, die vorsorge so gut wie nichts getan wird. auch nach langer Riester-Sparzeit in der Regel über Be- Als Drittes muss der Trend weg von der Vollzeitbe- träge von 100, 150 oder 200 Euro im Monat aus zusätzli- schäftigung bedacht werden. Bereits ein Drittel aller cher privater Vorsorge nicht hinauskommen werden. Beschäftigten arbeitet heute nicht mehr Vollzeit, hat ent- Deswegen wird das den Interessen gerade dieser Men- sprechend niedrigere Bruttogehälter und wegen der Bei- schen gerecht. tragsäquivalenz der gesetzlichen Rente auch eine ent- Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, unse- sprechend geringere Rentenerwartung. rem Antrag im Ausschuss und auch im Plenum zuzu- Herr Schaaf, Sie müssen also nicht nur einen Min- stimmen, damit die private Altersvorsorge, die ein wich- destlohn von 7,80 Euro fordern, sondern auch verlangen, tiges Standbein der Alterssicherung in Deutschland ist, dass es nur noch Vollzeitarbeitsverhältnisse gibt, um si- nicht in Misskredit gerät und sich die Menschen in unse- cherzustellen, dass das Problem, dass wir vortragen, in rem Lande, die sie gut gebrauchen können, weil sie ge- Zukunft nicht mehr relevant wird. ring verdienen, nicht von ihr abwenden. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Man muss auch wissen, dass von den 10 Millionen Riester-Sparern etwa 2,5 Millionen, also ein Viertel, ei- nen Bruttojahresverdienst von 12 000 Euro und weniger Vizepräsident Dr. : haben. Dieser Personenkreis ist aus heutiger Sicht ex- Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe trem gefährdet, im Alter in die Grundsicherung zu gera- von der CDU/CSU-Fraktion. ten und damit der vollen Anrechnung nach heutiger Ge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) setzeslage zu unterliegen. Damit ist klar, dass gehandelt werden muss. Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Es muss heute gehandelt werden, weil Rentenfragen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Vertrauensfragen sind und lange Übergangszeiträume er- FDP legt uns heute einen Antrag vor, in dem sie uns auf- forderlich sind. Wir müssen heute dafür sorgen, dass fordert, etwas zu beschließen, was schon Realität ist; 14490 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Dr. Ralf Brauksiepe (A) denn der Antrag heißt „Altersvorsorge für Geringverdie- in das Gesetz –, erklärt hat. Ich will das hier vortragen, (C) ner attraktiv gestalten“. Was ist denn attraktiv, wenn weil das völlig richtig ist: nicht eine Förderung von bis zu 90 Prozent für jeman- den, der 5 Euro Eigenbeitrag im Monat leistet? Armutsvermeidung erfolgt in der Erwerbsphase durch die Grundsicherung für Arbeitsuchende … (Jörg Rohde [FDP]: Etwas, was man auch und in der Ruhestandsphase durch die Grundsiche- behalten darf!) rung im Alter und bei Erwerbsminderung … Das ist eine attraktive Förderung. Was ausgerechnet Sie Ich betone: Armutsvermeidung. Ich will deutlich sagen: von der FDP geritten hat, hier den ansonsten völlig Kein Sozialstaat der Welt ist perfekt, auch unserer nicht. selbstverständlichen Nachrangigkeitsgrundsatz bei einer Ich bin weit davon entfernt, zu sagen, dass wir in jedem steuerfinanzierten Fürsorgeleistung aufzugeben, bleibt Fall Armut vermeiden können. Aber ich wäre dankbar, Ihr Geheimnis. wenn wir folgenden richtigen Grundsatz auch in anderen Debatten berücksichtigen würden: Derjenige, der arbei- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das haben Sie tet und eine Familie ernähren muss und, um das zu kön- bei der Zwangsverrentung auch gesagt, Herr nen, zusätzliche Sozialleistungen bekommt, ist nicht arm Brauksiepe, und schauen Sie mal, wo Sie trotz Arbeit, sondern er bekommt diese Sozialleistung, heute hinmarschieren!) damit Armut verhindert wird. Das Gleiche gilt für die Es zeigt sich jedenfalls: Ordnungspolitik ist bei uns gut Grundsicherung. Das sollten wir in der Debatte immer aufgehoben und nicht bei Ihnen. Ihre Vorschläge haben bedenken. mit Ordnungspolitik nichts zu tun. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU) neten der SPD) Die Pressemitteilungen der letzten Tage waren in die- Ich komme auf den Gesetzentwurf zurück, den die da- sem Zusammenhang wirklich sehr interessant. Ich will malige rot-grüne Regierung zu diesem Thema hier im ausdrücklich auf das verweisen, was das Bundesarbeits- Jahr 2000 eingebracht hat. Da hieß es ausdrücklich: Um ministerium in Reaktion auf einen Bericht öffentlich er- verschämte Armut, insbesondere im Alter, zu verhin- klärt hat. dern, wird die Inanspruchnahme von Hilfe zum Lebens- unterhalt dadurch erleichtert, dass auf den Unterhalts- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: rückgriff gegenüber Kindern und Eltern verzichtet Herr Kollege Brauksiepe, erlauben Sie eine Zwi- wird. – Es ging um die Vermeidung von verschämter Al- schenfrage des Kollegen Kolb? tersarmut. Wir hatten damals unsere Bedenken wegen (B) der unklaren Finanzierungslasten für die Kommunen. Da (D) haben wir leider recht behalten. Die Frage der Auftei- Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): lung der Finanzen gibt bis heute Anlass zu permanentem Bitte schön. Sie waren schon eine Minute lang nicht Streit zwischen Bund und Kommunen. dran. Daher habe ich Verständnis für die Zwischenfrage. Aber es bestand doch Einigkeit darin: Arm ist insbe- sondere derjenige im Alter, der verbriefte Rechte, die er Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): hat, nicht in Anspruch nimmt, aus Scham, aus Unwis- Herr Kollege Brauksiepe, nachdem Sie uns hier ge- senheit oder aus anderen Gründen. Wer diese Leistungen scholten und der ordnungspolitischen Nachlässigkeit ge- erhält, vermeidet, arm zu werden. Es ist falsch, in der ziehen haben, wollte ich fragen, wie Sie die Forderung Debatte ständig den Umstand, dass jemand Transfers be- Ihres Fraktionskollegen Peter Weiß beurteilen, der doch zieht, damit gleichzusetzen, dass er arm ist. Transferbe- öffentlich gefordert hat, man solle die Hälfte der Riester- zug ist kein Kennzeichen für Armut. Vorsorge bei der Anrechnung außen vor lassen. Das müsste dann mindestens ebenso verwerflich sein. Wie (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) beurteilen Sie das? Es gibt erstaunliche Pressemitteilungen. In einer Pres- (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE semitteilung der grünen Kolleginnen Christine Scheel LINKE]: Deshalb darf er heute auch nicht re- und Irmingard Schewe-Gerigk, die ich gelesen habe, den!) wird erst einmal pflichtgemäß die Regierung be- schimpft, und zwar für gesetzliche Zustände, die die rot- Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): grüne Bundesregierung herbeigeführt hat. Dann schrei- ben Sie: Wir waren schon immer der Auffassung, dass Herr Kollege Kolb, ich spreche hier als Sprecher der die private Altersvorsorge nicht auf die gesetzliche CDU/CSU-Fraktion für den Bereich Arbeit und Sozia- Grundsicherung angerechnet werden darf. – Das ist les. Was ich Ihnen sage, entspricht der Meinung der schon erstaunlich. Sie haben in dem gemeinsamen Ge- CDU/CSU-Fraktion. setzentwurf aus guten Gründen festgelegt, dass eine sol- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das erklärt, wa- che Anrechnung erfolgt. In der Begründung steht: rum der Kollege Weiß nicht redet!) Soweit das Kapital seiner Zweckbestimmung ent- Ich komme auf das zurück, was das Arbeitsministe- sprechend im Alter aufgelöst wird, werden die da- rium zu einem Fernsehbericht, in dem von Recherchen raus erzielten Einnahmen auf die Sozialhilfe ange- die Rede war – die Recherchen bestanden in einem Blick rechnet. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14491

Dr. Ralf Brauksiepe (A) Sie selbst haben das im Jahr 2001 beschlossen, und kung der betrieblichen Säule der Alterssicherung auch (C) jetzt sagen Sie, Sie seien schon immer der Auffassung im nächsten Jahr und darüber hinaus die abgabenfreie gewesen, die private Altersvorsorge dürfe nicht auf die Entgeltumwandlung für Betriebsrenten fortzuführen. gesetzliche Grundsicherung angerechnet werden. Für Wir haben auch die dritte Säule der Alterssicherung, die wie dumm oder vergesslich halten Sie die Menschen ei- private Säule, attraktiver gemacht. Wir haben zum gentlich, meine Damen und Herren von den Grünen? 1. Januar dieses Jahres die Kinderzulage in der soge- nannten Riester-Rente von 185 auf 300 Euro erhöht. Das (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der heißt, wir haben bereits gehandelt. LINKEN) Wir haben auch durch die bürokratische Entrümpe- Herr Kollege Gysi, jetzt können Sie mit dem Klat- lung des Riester-Instrumentariums dafür gesorgt, dass es schen aufhören; jetzt komme ich nämlich zu Ihnen im heute rund 10 Millionen sogenannte Riester-Verträge Zusammenhang mit der Frage: Für wie dumm oder ver- gibt, Tendenz stark steigend. Wir wissen: Die allermeis- gesslich halten Sie die Leute eigentlich? Ihre Fraktion ten von denjenigen, die noch keinen solchen Vertrag ha- hat sofort erklärt: Riester-Betrug sofort stoppen! Ich bin ben, tun etwas. Die allermeisten sparen für das Alter. zugegebenermaßen kein Jurist, aber so viel weiß ich: Be- Das ist auch richtig so. Die jungen Menschen planen trug ist eine Straftat. Jemanden nur deswegen, weil er keine Sozialhilfekarrieren. Sie überlegen sich als junge anderer Meinung in der Sache ist, als Straftäter zu be- Menschen nicht, was sie tun müssten, um am Ende mehr zeichnen, ist eines Demokraten unwürdig. als die Grundsicherung zu haben, sondern sie sorgen vor – (Beifall des Abg. Gerald Weiß [Groß-Gerau] und das mit Recht. Die allermeisten handeln so. [CDU/CSU]) Jeder weiß: Die Chance auf eine Rente über Grundsi- Ich habe herausgesucht, wie eigentlich die rentenpoli- cherungsniveau ist selbstverständlich umso größer, je tische Bilanz dieser Partei, die sich zurzeit „Die Linke“ mehr man privat tut. Deswegen muss die Botschaft lau- nennt und die auch einmal anders hieß, aussieht. Im ten: Man muss etwas für die private Altersvorsorge tun. – Jahr 1989 hat der damalige SED-Chef, Erich Honecker, Deswegen unterstützt der Staat das. Das ist genau die aus Anlass des 40. Jahrestages der DDR einmal kräftig richtige Politik. etwas auf den Tisch gelegt (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Was Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ihr werdet euch holen Sie da raus?) bewegen! Da mache ich jede Wette!) und hat kräftig die Mindestrente in der DDR auf Wir sind in der Großen Koalition selbstverständlich im Gespräch darüber, wie wir das sogenannte Riester- (B) 330 Mark erhöht. (D) Instrumentarium noch verbessern können. Dabei geht es (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ost!) auch um die Förderung des Eigenheims im Zusammen- Ich wiederhole: sage und schreibe 330 Mark, natürlich hang mit der Altersvorsorge. DDR-Mark. Die D-Mark wurde ja erst ein Jahr später Wir erwarten für Ende März den dritten Armuts- und – gegen den ausdrücklichen Widerstand von Oskar Reichtumsbericht der Bundesregierung. Der Bundes- Lafontaine – mit der Währungsunion eingeführt. arbeitsminister hat ihn in dieser Woche im Ausschuss für 330 DDR-Mark Mindestrente, das war Ihre Bilanz. diesen Termin angekündigt. Wir werden dann konkrete (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das aktuelle Zahlen dazu haben, wie groß das Problem ist, ist ein Rohrkrepierer!) sodass wir wissen, über wie viele Menschen wir jeweils reden. Die Erfahrungen und Erkenntnisse, die die Bun- Das ist das, was Sie vorzuweisen haben. 480 Mark desregierung uns mitteilt, werden selbstverständlich ein- Höchstrente nach 45 Versicherungsjahren, das ist Ihre fließen, wenn es darum geht, ob und gegebenenfalls an Rentenpolitik. Sie sind die Letzten, die einen Grund ha- welchen Stellen wir die private Altersvorsorge über die ben, uns Betrug vorzuwerfen. Die deutsche Einheit war schon heute bis zu 90-prozentige Bezuschussung hinaus ein Glücksfall für uns alle, und wir haben alle davon pro- mit staatlicher Förderung noch attraktiver machen kön- fitiert. Die DDR-Rentner haben in besonderem Maße nen. von der deutschen Einheit profitiert. Das ist eine Tatsa- che. Völlig klar ist: Es ist richtig, dass man die Förder- möglichkeiten nutzt, die schon jetzt da sind. Auch die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Verbraucherschützer sagen vor dem Hintergrund der De- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE batten in diesen Tagen völlig zu Recht: Niemand sollte GRÜNEN) auf die Zulagen verzichten, die er für seine private Al- tersvorsorge bekommt. Es ist richtig, sie in Anspruch zu Die Große Koalition muss nicht erst in Zukunft han- nehmen. Es ist politisch richtig, sie anzubieten. Es wäre deln, weil wir in diesen Fragen schon in der Vergangen- völlig falsch, auf die umfangreichen Fördermöglichkei- heit gehandelt haben und es weiter tun. Wir stellen auch ten zu verzichten. Wir werden die Debatten fortsetzen, in diesem Jahr erhebliche Zuschüsse für sämtliche Säu- wenn die neuen Erkenntnisse aus dem dritten Armuts- len der Alterssicherung zur Verfügung. Auch in diesem und Reichtumsbericht vorliegen. Jahr sind im Bundeshaushalt fast 80 Milliarden Euro Zu- schuss zur gesetzlichen Rentenversicherung vorgesehen. Völlig klar ist schon heute auch: Die Warnungen vor Wir haben schon im letzten Jahr beschlossen, zur Stär- dem Abschluss eines Vertrages über eine Riester-Rente 14492 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Dr. Ralf Brauksiepe (A) sind völlig fehl am Platze. Das Gegenteil ist richtig. gierungszeit haben Sie sie zwar wieder eingeführt und (C) „Bitte weiter riestern!“, so hat das Handelsblatt gestern die Kohl-Formel abgeschafft. einen Beitrag überschrieben. Diesen Appell teilen wir. Das ist genau der richtige Weg. (Frank Spieth [DIE LINKE]: Genauso ist es! – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herzlichen Dank. NEN]: Zurück zu Kohl!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Ein Jahr später hat sich Schröder aber bei Union und Frank Spieth [DIE LINKE]: Allianz und Co. FDP entschuldigt und die Kohl-Formel wieder einge- lassen grüßen!) führt. Das war damals die Wahrheit.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sie waren auch nicht bereit, zu sagen: Wir machen eine Rentenreform und beziehen sämtliche Einkommen Das Wort hat der Kollege Dr. Gregor Gysi von der in die Rentenzahlungen ein, so wie es in der Schweiz der Fraktion Die Linke. Fall ist. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos) Sie waren nicht bereit, die Beitragsbemessungsgren- zen anzuheben bzw. aufzuheben. Der große Vorteil wäre doch endlich einmal eine Entlastung der Mittelschicht; Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): denn die durchschnittlich Verdienenden müssen doch ei- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr nen höheren Prozentsatz bezahlen, weil Sie die Bezieher Brauksiepe hat hier von Erich Honecker gesprochen. Ich hoher Einkommen nicht in die gesetzliche Rentenversi- finde das interessant. Ich bin ihm in meinem Leben nie cherung einbeziehen. Kommen Sie mir ja nicht mit dem begegnet, aber die erste Reihe Ihrer beiden Parteien hatte Argument, dass das dann zu extrem hohen Rentenaus- ihn ja ständig auf dem Sofa. Ich hoffe, Sie erzählen mir zahlungen führen würde. Man kann die Rentensteige- mal, wie der so war. rung abflachen. Das hat auch das Bundesverfassungsge- (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN sowie richt im Rahmen einer solidarischen Versicherung des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – erlaubt. Es gäbe Lösungen. Sie aber sind den Weg der Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Sie waren Armutsrente gegangen, und zwar zum Nachteil der Ge- wahrscheinlich auch nie mit ihm in einer Par- ring- und Durchschnittsverdiener. Das ist das Problem. tei!) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Davon abgesehen geht es heute um die Riester-Rente Winkelmeier [fraktionslos]) (B) (D) und damit um die Veränderungen in der Rentenpolitik, Nun wussten Sie ja, dass damit eine geringere Rente die allerdings von SPD und Grünen eingeleitet worden verbunden ist. So sind Sie auf die Idee der Riester-Rente sind. Sie haben die Rentenformel der gesetzlichen Rente gekommen. In diesem Zusammenhang haben Sie sich verändert. Sie haben gesagt: Die Rentenentwicklung entschlossen, die Geringverdiener und andere zu unter- wird nicht mehr an die Produktivität gekoppelt. Sie be- stützen, und deshalb die staatlichen Zuschüsse einge- gründeten das mit der Demografie; aber ich sage Ihnen: führt. Nun ist es ja zum Ersten so, dass die staatlichen Produktivität schlägt Demografie. Das war Ihr entschei- Zuschüsse zunächst einmal der Allianz und anderen pri- dender Fehler, und zwar ein Fehler, der auch zur Alters- vaten Versicherungen zugute kommen. Das kann man ja armut führt. nicht leugnen. Zum Zweiten sparen Sie, sofern eine (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Riester-Rente vorhanden ist, bei den Ausgaben für die Winkelmeier [fraktionslos]) Grundsicherung, weil die Riester-Rente ja angerechnet wird. 1990 spiegelte die gesetzliche Rente 75 Prozent der durchschnittlichen Löhne und Gehälter wider. Heute (Ute Kumpf [SPD]: Wir sparen? Die Steuer- sind wir bei 51 Prozent, angestrebt werden 40 Prozent. zahler sparen!) Ergo haben Sie auch gewusst, dass Sie Altersarmut orga- nisieren. Das ist das eigentliche Problem. Ergo: Die Zuschüsse, die Sie jetzt zahlen, sparen Sie später, indem Sie weniger für die Grundsicherung auf- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert wenden müssen. Man muss nur einmal darauf hinwei- Winkelmeier [fraktionslos]) sen, damit diese Tatsachen auch der Bevölkerung be- kannt werden. Alle Veränderungen, die damit in Zusammenhang ste- hen, waren diesbezüglich durchdacht. Im Osten wird Al- (Zurufe von der SPD) tersarmut ganz verschärft auftreten, aber ebenso im Wes- ten. Auch das wissen Sie. Sie wird nicht bei den – Die Allianz Versicherung ist ja auch sehr dankbar. Ich heutigen Rentnerinnen und Rentnern auftreten – bei de- habe Ihnen das schon einmal dargelegt. Sie hat an Sie nen ist es zum Teil schon schlimm genug –, sondern bei 60 001 Euro gespendet, an die Union 60 001 Euro, die denen, die jetzt arbeiten und die dann nur Anspruch auf CSU hat diese noch einmal extra bekommen. Die Grü- Minirenten haben. nen haben 60 001 Euro bekommen. Warum? Sie von SPD und Grünen waren nicht bereit, (Ute Kumpf [SPD]: Sie haben nichts ge- die alte Formel aufrechtzuerhalten. Zu Beginn Ihrer Re- kriegt?) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14493

Dr. Gregor Gysi (A) Die FDP hat sich daneben benommen und hat nur ben: Geringverdiener, passt auf, wenn ihr später weniger (C) 50 001 Euro bekommen. als die Grundsicherung erhaltet, nutzt euch das Ganze gar nichts. Dann habt ihr zwar die Beiträge bezahlt, aber (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehen Sie!) ihr bekommt keinen Euro mehr als diejenigen, die nicht Wir haben gar nichts bekommen. Ich halte es für wich- eingezahlt haben. – Das haben Sie nie erklärt. Dazu darf tig, dass es noch eine Partei im Bundestag gibt, die nicht man – das tut mir leid – Anlagebetrug sagen. von der Allianz gesponsert wird. Das sage ich Ihnen auch ganz klar. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Wolfgang Zöller Wie könnte man das Problem lösen? Das ist ja auch [CDU/CSU]: Sie können noch von Ihren eige- spannend. Jetzt wird die ganze Anrechnungsproblematik nen Zinsen leben!) ordnungspolitisch diskutiert. Es versteht zwar draußen keiner; das Gleiche gilt ja auch für die Formeln, die Sie, Nun kommen wir auf das Beispiel aus der Sendung Herr Brauksiepe, angeführt haben. Wer soll all das nach- Monitor. Worum ging es da eigentlich? Machen wir es vollziehen? einmal ganz deutlich: Es geht um zwei Verkäuferinnen, die beide ein Einkommen von 1 000 Euro haben. Beide (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Einfacher erhalten einen Werbebrief, in dem die Riester-Rente als Populismus ist immer nachvollziehbar!) ganz toll dargestellt wird. Gerade weil sie so wenig ver- Aber das ist ja egal. Wir diskutieren jetzt ordnungspoli- dienen, sollten beide sie abschließen. Die eine entschei- tisch darüber. Da ist ja auch etwas dran; das alles ist ja det sich dafür, die Riester-Rente abzuschließen und die sehr kompliziert, und man stellt sich die Frage, warum Beiträge zu zahlen. Die andere sagt, sie habe so wenig, das eine nicht angerechnet wird, aber das andere. Ergo sie brauche das Geld, was sie für die Beiträge aufwenden brauchen wir eine andere Herangehensweise: Sie müs- müsste, für Lebensmittel und schließt keinen Riester- sen die alte gesetzliche Rentenformel wieder einführen. Vertrag ab. Beide bekommen später eine so geringe Sie müssen die Rentnerinnen und Rentner zukünftig Rente, dass sie davon gar nicht leben können. Ergo be- wieder an der gesellschaftlichen Produktivitätsentwick- kommen sie die Grundsicherung. lung beteiligen. Das ist das Entscheidende. (Ute Kumpf [SPD]: Nein! Nicht wenn sie ver- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert heiratet sind!) Winkelmeier [fraktionslos]) – Dazu, als Sozialleistung. – Nun sagen Sie den beiden: Ich sage noch einmal: Wir müssen als Nächstes alle In dem einen Fall wird die Riester-Rente angerechnet, (B) Einkommen zur Finanzierung der gesetzlichen Renten- (D) dadurch fallen die Zahlungen zur Sicherstellung der versicherung heranziehen. Wir müssen das Grundprinzip Grundsicherung etwas geringer aus. In dem anderen aus der Schweiz übernehmen, wo man sagt: Es ist zwar Fall, wo es keine Riester-Rente gibt, fallen die Zahlun- wahr, dass die Millionäre keine gesetzliche Rentenver- gen zur Sicherstellung der Grundsicherung höher aus. sicherung benötigen, aber die gesetzliche Rentenversi- Beide bekommen aber am Schluss den gleichen Betrag. cherung benötigt die Millionäre. Diesen Grundsatz müs- (Rolf Stöckel [SPD]: Ja, so ist das mit Grund- sen wir durchsetzen. sicherung!) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Sie können doch nicht leugnen, dass die Verkäuferin, die Winkelmeier [fraktionslos]) über Jahre Beiträge zur Riester-Rente gezahlt hat, sich am Ende betrogen fühlt. Das ist doch einfach so. Wir müssen darüber hinaus – ich habe es schon gesagt – die Beitragsbemessungsgrenzen an- bzw. aufheben. Zu (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert diesen mutigen Schritten sind Sie aber nicht bereit, ob- Winkelmeier [fraktionslos]) wohl sie für die Zukunft unserer Gesellschaft und für die Sie sagt sich nämlich: Hätte ich die Beiträge nicht be- Zukunft der Rentnerinnen und Rentner dringend erfor- zahlt, bekäme ich höhere staatliche Sozialleistungen und derlich wären. Neben diesen mutigen Schritten gäbe es hätte früher Monat für Monat mehr ausgeben können. aber noch eine andere Möglichkeit. Sie könnten sagen: Das ist doch ganz einfach. Wer später eine Grundsicherung bekommt und ergo nichts von seinen Beiträgen hat, der bekommt Schaden- Nun sagen Sie mir – das sagte auch schon Herr ersatz. Sie müssten dann die Beiträge mit Zinsen zurück- Riester –, das ist wie bei Sparguthaben bzw. höherer ge- zahlen. Das wäre übrigens ein Weg, der bei Betrug üb- setzlicher Rente. Das stimmt erstens bei höherer gesetz- lich ist und deswegen nicht völlig aus der Welt ist. licher Rente nicht. Hier ist es ja zunächst einmal so, dass man zu den Zahlungen verpflichtet ist; das ist ein großer (Heiterkeit bei der LINKEN) Unterschied zur Riester-Rente, die noch freiwillig ist. Diesen Weg werden Sie aber auch nicht gehen. Bei der gesetzlichen Rente muss ich zahlen, und mehr, als ich zahlen muss, darf ich auch gar nicht zahlen. Das Nun werden Anrechnungsmodelle ins Spiel gebracht. ist hier der Unterschied. Zweitens stimmt es bei Spargut- Man könnte sie ausnahmsweise – nicht im Prinzip – haben nicht: Diese haben Sie auch gar nicht beworben. rechtfertigen, weil es eine Fehlinformation durch die Aber Sie haben einen ungeheuren Werbefeldzug für die Bundesregierung gab. Aber eine Lösung bringt auch das Riester-Rente gestartet. Nirgendwo haben Sie geschrie- nicht. Eine Lösung gibt es nur, wenn Sie den mutigen 14494 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Dr. Gregor Gysi (A) Weg gehen, die Rentnerinnen und Rentner wieder an der Angst zu schüren und die Menschen zu verunsichern. (C) Produktivitätsentwicklung zu beteiligen, und den Abge- Stattdessen sollten wir sehr seriös mit den Risiken umge- ordneten, Anwälten sowie den Ärztinnen und Ärzten sa- hen, die zur Altersarmut führen können. gen, dass sie künftig ebenfalls in die gesetzliche Renten- versicherung einzahlen müssen. Es gibt dabei zwei Problemfelder. Zum einen – Herr Dr. Gysi hat es schon angesprochen – sinkt das Versor- Wir können die Beiträge sogar senken, wenn die hö- gungsniveau der gesetzlichen Rentenversicherung. Das heren Einkommen herangezogen werden. Tun Sie also ist kein Geheimnis. Ich bin sogar dafür, das allen Men- endlich etwas für die Geringverdienenden und für die schen offen zu sagen. Denn es ist kein Betriebsunfall, Durchschnittsverdiener und nicht nur für die Topverdie- sondern es ist das bewusst angestrebte Ziel von notwen- ner, wie das bisher der Fall ist. Damit können wir den digen Entscheidungen dieses Parlaments in den vergan- – so nenne ich es – Anlagebetrug beseitigen. Es ist ein genen Jahren. Anlagebetrug, weil Sie die Geringverdienenden ge- täuscht haben, indem Sie ihnen gesagt haben, dass es so (Beifall bei der SPD) wichtig ist, diese Rente abzuschließen. Jetzt sagen Sie aber: Ihr habt zwar einen Beitrag gegen Armut geleistet, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: aber er nutzt euch nichts. — Das ist nicht hinnehmbar. Herr Kollege Amann, darf ich Sie unterbrechen? Der Danke. Kollege Gysi würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Gregor Amann (SPD): Wenn es zum Erkenntnisgewinn der Linken beiträgt. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Gregor Amann von der SPD-Fraktion. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Wie herum, werden wir sehen. – Ich habe eine Frage (Beifall bei der SPD) zu einem Punkt, der schon ein bisschen zurückliegt. Würden Sie einräumen, dass der Hauptunterschied zwi- Gregor Amann (SPD): schen der Riester-Rente und der gesetzlichen Rente da- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und rin besteht, dass bei der gesetzlichen Rente die Wirt- Herren! Herr Dr. Gysi, dass Ihre Partei möglicherweise schaft die Hälfte der Beiträge zahlt und bei der Riester- keine Spende von der Allianz bekommen hat, scheint Rente die Wirtschaft gar nichts zahlen muss? Das ist der (B) eine dramatische Erfahrung für Sie zu sein. Grund, warum die Riester-Rente anders organisiert wor- (D) (Widerspruch bei der LINKEN – Frank Spieth den ist. [DIE LINKE]: Das ist auch gut so!) (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das stimmt ja Denn Sie haben darüber schon mehrfach im Parlament gar nicht!) gesprochen. Da ich aber weiß, dass Sie von dem nicht geringen Vermögen der SED genügend Geld in die Bun- Gregor Amann (SPD): desrepublik Deutschland herüberretten konnten, hält Ich gebe zu, dass es bei der Riester-Rente keinen Ar- sich mein Mitleid in engen Grenzen. beitgeberanteil gibt. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Danke schön! – und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) [FDP]: Die Steuerzahler zahlen Zu den großen historischen Errungenschaften der doch alle mit!) Bundesrepublik Deutschland gehört die Beseitigung der Ich habe nicht verstanden, worauf Sie mit Ihrer Frage hi- Altersarmut. Das bedeutet nicht, dass es in Deutschland nauswollen. Ich will daher mit meinen Ausführungen keine alten Menschen gibt, die in Armut leben. Aber es fortfahren. ist bei uns kein Massenphänomen, wie es in anderen Ländern der Fall ist und wie es zu anderen Zeiten in Die Absenkung des Versorgungsniveaus der gesetzli- Deutschland der Fall war. chen Rente – davon sprach ich gerade – ist deshalb not- wendig, weil die Grundlage unseres umlagefinanzierten (Zuruf von der LINKEN: Noch nicht!) Rentensystems seit Jahren einem dramatischen Wandel Nur knapp 3 Prozent der über 65-Jährigen leben heute unterworfen ist: auf der einen Seite die steigende Le- von der Grundsicherung im Alter. Das bedeutet umge- benserwartung – Stichwort: Rentenbezugsdauer – und kehrt, dass über 97 Prozent nicht auf staatliche Unter- auf der anderen Seite die sinkende Geburtenrate. Ohne stützung zum Lebensunterhalt angewiesen sind. Andere die Reformen, die wir vollzogen haben, würde unsere Bevölkerungsgruppen in der Bundesrepublik haben ein gesetzliche Rentenversicherung über kurz oder lang zah- deutlich höheres Armutsrisiko. Aber natürlich muss es lungsunfähig werden. Mit anderen Worten: Durch das unser Bestreben sein, diesen Erfolg auch langfristig zu bewusst herbeigeführte Absinken des Rentenniveaus ha- sichern. Insofern ist das in der Überschrift des FDP-An- ben wir überhaupt erst dafür gesorgt, dass zukünftige trags formulierte Ziel in Ordnung. Wir sollten dabei al- Rentnergenerationen aus der gesetzlichen Rentenversi- lerdings vermeiden – dabei schaue ich wieder nach links –, cherung eine Rente beziehen können. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14495

Gregor Amann (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der nur noch 11 Prozent beträgt? Der Arbeitnehmer muss (C) Abg. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE 17 Prozent leisten, nämlich 11 Prozent für die gesetzli- GRÜNEN – Zuruf von der LINKEN: Das ist chen Rentenversicherung und 6 Prozent für die private doch Unsinn!]) Absicherung. Sind Sie nicht auch der Auffassung, dass es nahe am Betrug der Öffentlichkeit ist, wenn man Das hat zu einem Paradigmenwechsel geführt. Die Al- heute behauptet, die Rentenreform von 1992 wäre nicht tersversorgung wird zukünftig auf drei Säulen beruhen lebensstandardsichernd gewesen und hätte all diese müssen: auf der gesetzlichen Rente, der privaten und der Aspekte nicht hinreichend berücksichtigt? betrieblichen Altersvorsorge. (Beifall bei der LINKEN) Das zweite Problemfeld, mit dem wir uns natürlich beschäftigen müssen, ist, dass die Zahl der Menschen mit geringem Einkommen zunimmt. Nach dem Äquiva- Gregor Amann (SPD): lenzprinzip bedeuten niedrige Löhne auch niedrige Ren- Ich glaube, Sie haben gerade die Redezeit Ihres Kol- tenansprüche. Die Zahl der Menschen mit Brüchen in legen überschritten, dem offiziell Redezeit eingeräumt der Erwerbsbiografie nimmt zu, und die Zahl der Selbst- wurde. ständigen und Scheinselbstständigen ohne irgendeine Ich bleibe bei meiner Meinung: Aufgrund des demo- Altersvorsorge steigt. grafischen Wandels käme das umlagefinanzierte System (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Er gibt mir recht, sehr wohl in Probleme und wäre auf Dauer nicht finan- Herr Schaaf!) zierbar. Natürlich gibt es Alternativen zur Absenkung des Rentenniveaus. Man kann natürlich auch den Bei- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tragssatz entsprechend in die Höhe schrauben. Ich Herr Kollege Amann, ich möchte Sie noch einmal un- glaube aber, dass das keine kluge Entscheidung wäre. terbrechen. Der Kollege Spieth möchte gerne eine Zwi- (Zurufe von der LINKEN) schenfrage stellen. Da gibt es Grenzen, weil die Lohnnebenkosten eine Rolle spielen und Arbeit unter Umständen unbezahlbar Gregor Amann (SPD): machen. Wenn die Lohnnebenkosten steigen, steigt ja Bitte. nicht nur die Belastung der Arbeitgeber, sondern auch die Belastung des einzelnen Arbeitnehmers, der das auch Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: bezahlen muss. Bitte schön. (B) (Beifall bei der SPD – Zurufe von der LIN- (D) KEN) Frank Spieth (DIE LINKE): Herr Kollege Amann, Sie sagten, dass die gesetzliche Es kann doch nicht sein, dass zukünftige Beitragszah- Rentenversicherung angesichts der demografischen Ent- ler quasi zu Sklaven zukünftiger Rentnergenerationen wicklung und der Einkommensentwicklung zukünftig werden und deren Rente bezahlen müssen. Da es für die nicht mehr in der Lage gewesen wäre, Rentenzahlungen Höhe des Rentenversicherungssatzes Grenzen gibt, ist zu gewährleisten. Sind Sie wirklich so vermessen, zu be- Ihre Alternative kein gangbarer Weg. haupten, dass diejenigen, die auf der Grundlage von um- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten fassenden Studien 1989, und zwar ausgerechnet am der CDU/CSU und des Abg. Jörg Rohde 9. November 1989, das Rentenreformgesetz verabschie- [FDP]) det haben, genau darauf keine Rücksicht genommen ha- ben? Mit Projektion auf das Jahr 2030 ist damals gesagt Wir müssen sehr wohl darüber nachdenken, wie wir worden: Wir machen eine Rentenreform – sie ist übri- Altersarmut in Zukunft verhindern können. Was ist not- gens 1992 wirksam geworden –, damit wir in Zukunft ei- wendig? Aufgrund der Kopplung von Löhnen und Ren- nen Beitrag in Höhe von 28 Prozent fordern können, ten – diese Kopplung ist sehr sinnvoll, auch wenn der aber paritätisch finanziert, von Arbeitgebern und Arbeit- Abgeordnete Lafontaine in der gestrigen Aussprache nehmern zu je 14 Prozent. In der Konsequenz sollte, meinte, diesen Zusammenhang ignorieren zu können; sie auch unter Berücksichtigung der demografischen Ent- ist sinnvoll, weil Löhne und Renten die Einnahme- und wicklung, eine lebensstandardsichernde Rente bezahlbar Ausgabenseite desselben Systems darstellen – ist die sein. Das war damals der einheitliche Wille des Deut- wichtigste Maßnahme zur Verhinderung von Altersar- schen Bundestages. Das wurde am 9. November 1989 mut eine gute Wirtschaftspolitik, die für Wachstum und beschlossen. Beschäftigung sorgt. Hier hat diese Regierung einige Er- folge vorzuweisen. Denn die daraus resultierenden Sind Sie nicht der Auffassung, dass durch die massi- Lohnsteigerungen führen auf der einen Seite zu mehr ven Veränderungen, die damals im Rentenrecht stattge- Einnahmen der Rentenversicherung und auf der anderen funden haben, eine lebensstandardsichernde Rente hätte Seite zu höheren individuellen Rentenansprüchen. gewährleistet werden können? Sind Sie nicht der Auffas- sung, dass Sie mit der Einbeziehung der Riester-Rente Es ist nicht Aufgabe der Politik, in Tarifverhandlun- am Ende zwar auch einen Beitragssatz von 28 Prozent gen einzugreifen. Dennoch wünsche ich den Gewerk- erreichen werden, der Arbeitgeberbeitrag zur paritätisch schaften von dieser Stelle aus viel Erfolg für ihre Tarif- finanzierten Rente, die nicht mehr armutsfrei ist, aber verhandlungen in diesem Jahr. Angesichts des enormen 14496 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Gregor Amann (A) Anstiegs der Unternehmensgewinne und der Manager- SPD und auch der Arbeitsminister sind der Beantwor- (C) gehälter in der jüngsten Zeit ist sehr wohl ein finanzieller tung dieser Frage bisher ausgewichen. Spielraum vorhanden, um die Arbeitnehmer am Wirt- schaftsaufschwung zu beteiligen. (Anton Schaaf [SPD]: Nein, bin ich nicht!) Genauso wichtig, um Geringverdiener vor Altersar- Deswegen frage ich Sie noch einmal ganz deutlich: Wie mut zu schützen – um die geht es in dem Antrag –, ist stehen Sie zu dieser Kernfrage? natürlich – da hatte Kollege Anton Schaaf gestern voll- (Beifall bei der FDP) kommen recht, Herr Dr. Kolb – die Einführung eines flä- chendeckenden Mindestlohns. Gregor Amann (SPD): (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich habe es Ih- Wenn ich einmal davon ausgehe, dass die FDP nicht nen doch vorgerechnet!) nur die Interessen der Versicherungswirtschaft vertritt Ich wiederhole: Höhere Löhne führen zu höheren Ren- – das würde ich Ihnen auch nie unterstellen –, tenansprüchen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie haben doch (Beifall bei Abgeordneten der SPD) viel mehr bekommen!) All das sucht man im Antrag der FDP vergebens. dann müssen Sie, wenn Sie die Riester-Rente bei der Stattdessen verstärken Sie die Verunsicherung der Men- Einkommensanrechnung nicht berücksichtigen, auf- schen, denen in unverantwortlichen und schlecht recher- grund des Grundsatzes der Gleichbehandlung alle ande- chierten Medienberichten suggeriert wird, die private ren Sparformen konsequent genauso behandeln. Altersvorsorge in Form von Riester-Verträgen lohne sich (Jörg Rohde [FDP]: D’accord!) nicht für Geringverdiener. Dabei ist die staatliche Förde- rung bei der Riester-Rente gerade für Geringverdiener Dann dürfen Sie private Sparkonten, die Betriebsrente, besonders attraktiv. Die Kombination von gesetzlicher das Häuschen, das jemand hat, und die Aktien, die er Rentenversicherung, Riester-Vertrag und einer betriebli- sich vielleicht im Laufe seines Lebens für die Altersvor- chen Altersvorsorge wird verhindern, dass Menschen in sorge gekauft hat, nicht berücksichtigen. Wenn Sie das Altersarmut geraten. alles nicht berücksichtigen, dann verwandeln Sie die Grundsicherung im Alter zu einer bedarfsunabhängigen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Grundrente.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Anton Schaaf [SPD]: So ist es! Das ist dann (B) Herr Kollege Amann, es droht eine dritte Zwischen- das Bürgergeld durch die Hintertür! – (D) frage. Herr Kollege Rohde möchte Ihnen diese stellen. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nicht umwan- deln!)

Gregor Amann (SPD): Das ist ein völlig anderes Konzept als das, das wir heute Ja, gerne. haben. Das kann man wollen; aber dann sollten Sie das auch sagen. Sie sollten den Menschen dann auch sagen, was das kostet. Das ist der falsche Weg. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörg Rohde [FDP]: Sie haben meine Frage nicht be- Jörg Rohde (FDP): antwortet!) Vielen Dank. – Herr Kollege Amann, Sie haben ge- – Aus meiner Sicht schon. rade von schlecht recherchierten Medienberichten ge- sprochen. Es gab mehrere Medienberichte, zum Beispiel Die Grundsicherung ist keine allgemeine Grundrente, von Plusminus und Monitor. Herr Rohde, sondern eine bedarfsorientierte Transfer- leistung, die denen helfen soll, die es aus eigener Kraft (Ute Kumpf [SPD]: Es wird doch nicht besser, nicht schaffen. Wir Sozialdemokraten stehen zu dieser wenn man sie wiederholt!) gesellschaftlichen Solidaritätsleistung. Ja, wir haben sie Diese Kritik wurde von den Magazinen zurückgewiesen. sogar zusammen mit den Grünen im Jahr 2003 einge- Davon einmal abgesehen, wir haben bereits zwei Mo- führt. nate vorher eine Anfrage an die Bundesregierung gerich- Aber die Forderung in Ihrem Antrag, bei der Bedürf- tet und eindeutige Aussagen erhalten, dass hier ein Pro- tigkeitsprüfung die private oder betriebliche Altersvor- blem besteht. sorge nicht oder zumindest nur teilweise zu berücksichti- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!) gen, stellt – das habe ich gerade versucht zu sagen – das Nachrangigkeitsprinzip unseres Sozialstaats auf den Die Frage, die Herr Gysi aufgeworfen hat und die auf Kopf. Denn diese Forderung räumt der aus Steuermitteln unserem Antrag basiert, lautet: Soll es möglich sein, dass finanzierten Fürsorgeleistung Vorrang ein vor der Eigen- jemand, der eine Riester-Rente abschließt, später ge- verantwortung des Einzelnen. Wenn man dies konse- nauso viel hat wie jemand, der keine Riester-Rente ab- quent zu Ende denkt, gibt es überhaupt keinen Grund, ei- schließt? Das ist die Kernfrage. Die Abgeordneten der genverantwortlich für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14497

Gregor Amann (A) solange es die Möglichkeit des Bezugs von Transferleis- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das!) (C) tungen gibt. Wir brauchen einen Freibetrag, um einen Anreiz zu Da sich die FDP in dieser entscheidenden Frage er- schaffen, damit die Leute freiwillig vorsorgen. staunlicherweise mit der Linkspartei trifft und auf der- selben Linie denkt (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Genau! Die SPD will aber lieber einen Zwang!) (Jörg Rohde [FDP]: Nein, nein! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Vorsicht! Wir sehen das Pro- Auf diese Fragen hätte ich von den Vertretern der Regie- blem!) rungsparteien gerne Antworten gehört. – Sie haben die gleiche Gedankenwelt wie die Links- Vielen Dank. partei –, (Beifall bei der FDP) (Dirk Niebel [FDP]: Jetzt sind Sie aber wirk- lich auf dem Abstellgleis!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Amann, wollen Sie erwidern? – Bitte schön. erlauben Sie mir als Sozialdemokrat zum Abschluss ei- nen gut gemeinten Rat: Ich weiß, dass es in Ihrer Partei (Dirk Niebel [FDP]: Nehmen Sie das doch ein- derzeit eine für mich durchaus nachvollziehbare große fach so hin!) Unzufriedenheit mit dem derzeitigen Parteivorsitzenden gibt. Gregor Amann (SPD): (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Lachen Einen nicht unbeträchtlichen Teil Ihrer Kurzinterven- bei der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Was ist los? – tion haben Sie dazu genutzt, uns klarzumachen, wie zu- Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Herr Amann, das frieden Sie mit Guido Westerwelle sind; ist jetzt aber wirklich lächerlich!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja, genau! Ihr Ich rate Ihnen dennoch, ihn nicht durch Oskar meuchelt eure Vorsitzenden doch einfach! Wir Lafontaine zu ersetzen. haben zumindest einen geringeren Verschleiß an Vorsitzenden als die deutsche Sozialdemo- Danke. kratie! – Dr. Werner Hoyer [FDP]: Wer ist zur- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zeit eigentlich Vorsitzender der SPD?) der CDU/CSU) das nehme ich zur Kenntnis. Da ja immer böse Berichte (B) in den Zeitungen stehen, scheint es Ihnen ein großes An- (D) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: liegen zu sein, uns das mitzuteilen. Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Zum inhaltlichen Teil Ihrer Kurzintervention. Ich Kollegen Jörg Rohde von der FDP-Fraktion. könnte Ihnen meine Rede jetzt noch einmal vorlesen; ich (Zurufe von der CDU/CSU: Ach nein! – Muss weiß nicht, ob der Herr Präsident das zulassen würde. das denn sein?) Ich überlasse es meinen beiden Kollegen, die nach mir sprechen werden, Ihnen noch einmal zu erklären, warum Jörg Rohde (FDP): das, was Sie vorschlagen, nicht sinnvoll ist. Vielen Dank, Herr Präsident. – Als Erstes muss ich (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Anton den Vorwurf zurückweisen, dass wir mit Herrn Schaaf [SPD]: Ach! Das ist doch hoffnungs- Westerwelle unzufrieden sind. los! Das haben wir gestern schon versucht!) (Lachen bei der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Jetzt hat das Wort die Kollegin Christine Scheel vom Ich möchte daran erinnern, dass wir gerade über einen Bündnis 90/Die Grünen. Antrag diskutieren, der von der FDP-Bundestagsfraktion unter Führung von Guido Westerwelle erarbeitet worden (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Jetzt ist. Wir haben diesen Antrag im November letzten Jahres kommt die Entschuldigung für die Pressemit- gemeinsam verabschiedet. Das bedeutet, dass wir als teilung! – Heiterkeit bei der CDU/CSU und Gesamtfraktion hinter unserer Forderung stehen. Das bei der FDP – Jörg Rohde [FDP]: Oder eine deckt sich nicht mit dem Populismus der Linksfraktion. neue Erkenntnis! – Dr. Norbert Röttgen [CDU/ Vielmehr handelt es sich um einen sachorientierten Vor- CSU]: Jetzt holt sie die Erinnerung ein!) schlag, wie in einer speziellen Frage, deren Beantwor- tung Sie eben ausgewichen sind, verfahren werden Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): könnte. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Ich möchte einen weiteren wesentlichen Unterschied möchte hervorheben, herausstellen: Bei der gesetzlichen Rentenversicherung (Frank Spieth [DIE LINKE]: Dass Sie es nicht handelt es sich um eine Pflichtversicherung, während die waren!) anderen Elemente, über die wir diskutieren, freiwilliger Natur sind. dass wir die Einführung der Grundsicherung im Alter 14498 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Christine Scheel (A) (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Sie waren sen sind. Diese Meinung teilen bis auf die Linkspartei (C) schon immer gegen die Politik, die Sie ge- alle Fraktionen hier; das sehe ich am Nicken der Kolle- macht haben!) gen. deswegen massiv unterstützt haben, weil dadurch ver- Das Handelsblatt hat gestern noch etwas anderes ge- schämte Altersarmut bekämpft werden kann. Menschen, schrieben, lieber Kollege Brauksiepe: „Koalition bangt die ins Rentenalter kommen, werden angeschrieben und um Ruf der Riester-Rente“. In der Tat besteht große Ver- darauf aufmerksam gemacht, dass sie möglicherweise unsicherung darüber, ob es Sinn macht, eine Riester- einen Anspruch auf Grundsicherung im Alter haben. Das Rente abzuschließen. Doch wie die Koalition immer war ein Riesenfortschritt, den wir in diesem Hause ge- sagt, brauchen wir die Bereitschaft der Leute, für das Al- meinsam beschlossen haben. ter zusätzlich vorzusorgen. Deshalb ist es ein Riesenpro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN blem, wenn wir eine solche Debatte haben. und bei der SPD) Ich teile ein Stück weit die Zielsetzung des FDP-An- Der zweite Erfolg ist, dass heute jeder Einzelne im- trages. mer wieder Mitteilungen bekommt, denen er entnehmen (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist schon kann, wie hoch seine Versorgungsansprüche im Alter mal ein guter Anfang!) sind, sodass er sich darauf einstellen kann, zusätzlich vorsorgen zu müssen; auch das ist ein Riesenfortschritt. Die Altersvorsorge muss für Bürger und Bürgerinnen Dadurch wird gewährleistet, dass im Alter keine große mit kleinem Einkommen in der Tat attraktiver gemacht Überraschung in der Form auf einen zukommt, dass man werden; das ist überhaupt keine Frage. dann denkt: Um Himmels willen, ich habe mit etwas ganz anderem gerechnet! – Vielmehr wird man jetzt kon- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jawohl!) tinuierlich unterrichtet und kann sich auf das, was einen Der konkrete Vorschlag der FDP löst bei uns allerdings erwartet, einstellen. keine Begeisterung aus. Der dritte Punkt ist, dass bis auf die Linkspartei alle (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wie sieht denn wissen, dass wir aufgrund der demografischen Entwick- Ihr Vorschlag aus?) lung (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Wir wissen Wir haben die komplizierten Hinzuverdienstregelungen es auch!) beim Arbeitslosengeld II immer kritisiert. Jetzt wollen Sie diese komplizierten Hinzuverdienstregelungen auf und in Anbetracht der Frage, welche Beitragssätze in un- die private Altersvorsorge übertragen. Das kann es auch (B) (D) serer Marktwirtschaft zumutbar sind, nicht sein. Deswegen trägt dieser Vorschlag zur Verwir- (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: rung bei. Sie müssen mehr Zeitung lesen!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir haben mit um die vorhandenen Arbeitsplätze erhalten zu können, dem Bürgergeld noch ein grundsätzlich ande- gemeinsam eine Stärkung der privaten und der betriebli- res Modell, Frau Kollegin Scheel! Wie ist chen Altersvorsorge beschlossen haben. denn Ihr Vorschlag?) Wir Grünen haben uns immer für die Riester-Rente Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: eingesetzt. Damit wurde ein Kulturwandel, ein Bewusst- Frau Kollegin Scheel, Herr Spieth würde auch Ihnen seinswandel in der Bevölkerung ausgelöst. Mittlerweile gerne eine Zwischenfrage stellen. – Sie wollen das sind, wie gesagt, 10 Millionen Riester-Verträge abge- nicht? schlossen. Das ist auch gut so. Aber ich sage an dieser Stelle ganz bewusst auch: Ich verstehe die Empörung, Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): die durch die kritischen Fernsehsendungen in der Bevöl- Nein. Da ich diese Debatte aufmerksam verfolgt kerung ausgelöst wurde, verstehe, dass man sich darüber habe, habe ich gehört, was er vorhin gesagt hat. Ich ver- wundert, dass man, obwohl man bereit ist, zusätzlich et- mute, dass er jetzt wieder darlegen will, wie die Situa- was für das Alter zu tun, später nichts mehr davon haben tion 1989 war. Dieses Argument kenne ich schon. Aus soll. Das ist das Problem, mit dem wir uns hier auseinan- diesem Grunde möchte ich gerne mit meinen Gedanken dersetzen müssen. fortfahren. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wie ist denn Ihre (Frank Spieth [DIE LINKE]: Das hätte ich Ih- Lösung, Frau Scheel? – Dr. Dagmar nen doch nicht verwehren wollen, Frau Kolle- Enkelmann [DIE LINKE]: Ihr Gesetz!) gin!) Aus diesem Grund haben wir, wie Sie wissen, schon Wichtig ist: Die private und die betriebliche Alters- während der rot-grünen Regierungszeit das Altersvor- vorsorge müssen stark sein. Sie müssen in Zukunft vor sorgekonto vorgeschlagen. Wir haben damals in den zu- allem für junge Leute eine hohe Relevanz haben, damit ständigen Ausschüssen lange darüber diskutiert, wie ein sie sich im Alter einen bestimmten Lebensstandard leis- solches Altersvorsorgekonto funktionieren kann, auf das ten können und nicht nur auf die Leistungen der gesetz- man alle möglichen Verträge – die Riester-Rente, aber lichen umlagefinanzierten Rentenversicherung angewie- auch andere Produkte – übertragen kann und das dann Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14499

Christine Scheel (A) bis zu einer bestimmten Größenordnung steuerfrei ge- und dass aus nicht existenzsichernden Löhnen keine (C) stellt wird. Renten folgen können, die über der Grundsicherung lie- gen – auch dann nicht, wenn man 50 Jahre lang arbeitet. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das können wir ja machen!) (Ute Kumpf [SPD]: So ist es! Das war schon immer so! – Jörg Rohde [FDP]: Arbeitslose Als Größenordnung schwebten uns 3 000 Euro vor; das haben auch ein Problem!) liegt über dem heutigen Niveau. Wir haben vorgeschla- gen, dass das dann geschützt ist, weil es sich um eine Darum brauchen wir eine Entlastung der Empfänger freiwillige private Altersvorsorge handelt. Sie ist nicht kleiner Einkommen. Dazu haben wir die Einführung un- verpflichtend. seres Progressivmodells – auch das hat etwas damit zu tun – und gleichzeitig eine höhere Bewertung der Ren- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Also 100-pro- tenbeiträge von Geringverdienern gefordert. zentige Freistellung? – Gegenruf des Abg. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Nur während der Ansparphase!) Wir fordern: Die umlagefinanzierte gesetzliche Rente muss sicherer werden. Das heißt, wir brauchen ein ande- Das ist die Idee, die wir hier eingebracht haben, weil wir res Bewertungssystem. sehen, dass wir angesichts des rasanten Wandels in der Arbeitswelt immer unstetere und unsicherere Erwerbs- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist die Axt biografien haben. an der Wurzel der gesetzlichen Rentenversi- cherung!) Die Vorsorgesparer fragen sich natürlich zu Recht, ob es sich überhaupt lohnt, zusätzlich etwas zurückzulegen, Mit der Halbierung der Rentenbeiträge für Langzeit- wenn dies am Ende voll mit der Grundsicherung ver- arbeitslose hat die Regierung im Übrigen dazu beigetra- rechnet wird; denn zusätzliche Vorsorge ist ja nicht zum gen, dass zukünftig mehr Bürgerinnen und Bürger im Nulltarif zu haben. Alter Grundsicherung beziehen müssen. Sie haben das mit ausgelöst. In Zukunft werden also leider mehr als (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Frau Scheel, Sie 3 Millionen Menschen Grundsicherung im Alter bezie- eiern herum!) hen. Ich finde, wer Altersarmut heute und in Zukunft vermeiden will, muss heute die entsprechenden Weichen Die Stiftung Warentest hat letztens klassische Renten- stellen. versicherungen verglichen. Wer 25 Jahre lang jedes Jahr Wir Grünen wollen die Rentenbeiträge von Gering- (B) rund 1 000 Euro einzahlt, kann mit einer garantierten (D) Rente von 120 Euro im Monat rechnen. Ich denke, wir verdienern höher bewerten und gute und attraktive Be- sollten in den Ausschüssen durchaus überlegen, wie wir dingungen für die betriebliche und private Altersvor- mit solchen Zusatzrenten umgehen. sorge schaffen; denn die Bürgerinnen und Bürger – vor allem die jungen Leute – müssen bereits heute vorsor- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie sind im Er- gen. Wer eine gute Altersvorsorge will, braucht einen gebnis relativ nah bei uns, Frau Scheel! Da langen Atem. können Sie auch gleich zustimmen!) Danke schön. Schwierig wird es für Bürger und Bürgerinnen mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kleinem Erwerbseinkommen; sie werden trotz zusätz- licher Altersvorsorge häufig kaum über das Niveau der Grundsicherung hinauskommen. Gerade für diese Bür- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ger und Bürgerinnen haben wir die Riester-Rente einge- Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem führt, bei der für die kleinen Einkommen übrigens För- Kollegen Frank Spieth. Ich erkläre aber gleichzeitig, derquoten von bis zu 90 Prozent vorgesehen sind – zu dass ich danach wegen der fortgeschrittenen Zeit an die- Recht. sem Freitagnachmittag keine weiteren Kurzinterventio- nen mehr zulassen werde. – Herr Spieth. (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Im Schnitt sind es nur 25 Prozent!) Frank Spieth (DIE LINKE): Wir müssen den Leuten aber sagen, dass es sich auch bei Danke, Herr Präsident. – Frau Scheel, ich bedauere sehr niedrigen und unsteten Erwerbseinkommen durch- es, dass Sie mir nicht die Möglichkeit eingeräumt haben, aus rechnet, ein paar Euros für das Alter beiseitezulegen. eine Zwischenfrage zu stellen, sodass ich mich zu einer Das ist der Punkt. Man kann nicht sagen: Pech gehabt, Kurzintervention melden musste; denn jetzt ist mein selbst schuld! Deswegen haben wir das Altersvorsorge- Beitrag etwas aus dem Zusammenhang gerissen. konto vorgeschlagen. Sie haben vorhin in etwa Folgendes gesagt: Jeder, der Klar ist aber auch, dass wir das Problem der Alters- von seinem Rentenversicherungsträger eine Rentenaus- armut nicht allein mit einer Begrenzung der Verrechnung kunft erhält, kann anhand der Rentenauskunft nachvoll- der Altersvorsorge mit der Grundsicherung lösen können ziehen, welche Rente er auf der Grundlage seiner geleis- teten Beiträge im Rentenalter haben wird. – Bis dahin ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) das gut und richtig. 14500 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Frank Spieth (A) Sie haben dann aber behauptet, dass der Betroffene Damit wiederholt sich manches. Das kann man den (C) daraus ableiten kann, ob er mit seinem späteren Einkom- Menschen aber natürlich nicht ersparen. Es gibt immer men möglicherweise unterhalb der Grundsicherung lie- wieder verschiedene Anträge dazu, und es ist richtig, gen wird, weshalb er Grundsicherungsleistungen erhal- dass man darüber diskutiert. ten wird. Der heutige Antrag der FDP-Bundestagsfraktion, (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Riester-Renten-Sparverträge und auch die weitere pri- NEN]: Das habe ich nicht gesagt!) vate und betriebliche Altersvorsorge gerade bei der Grundsicherung nur zum Teil anzurechnen bzw. hier ei- – Sie haben aber den Eindruck erweckt. – Mit Verlaub: nen Freibetrag vorzusehen, mag insgesamt natürlich sehr Das ist aus der Rentenauskunft nicht zu erkennen. populär sein. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist auch NEN]: Das habe ich nicht gesagt!) richtig! Populär und richtig!) Die zusätzlichen Einkommen, die möglicherweise neben Wenn jemand besser gestellt wird, ist es immer gut. den aus den Beitragszahlungen resultierenden Renten- leistungen entstehen, sind aus der Rentenauskunft nicht Trotzdem verweise ich darauf, dass wir an den zu ersehen. Insofern kann der oder die Betreffende aus Grundfesten unseres Sozialstaates und den daraus abge- der Rentenauskunft auch nicht erkennen, ob er oder sie leiteten Prinzipien festhalten sollten; ergänzende Leistungen zur Grundsicherung erhalten (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das hatten Sie bei wird. der Zwangsverrentung doch auch gesagt!) Ich will nur dieser Aussage hier widersprechen, damit denn nach unserer Meinung wird dies auch in die Zu- in der Öffentlichkeit, bei den Menschen draußen am kunft hinein tragen. Das Äquivalenzprinzip in der ge- Bildschirm, kein falscher Eindruck entsteht. setzlichen Rentenversicherung, das heute gerade von der Linken wieder angezweifelt worden ist, ist aufrechtzu- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: erhalten. In Bezug auf die soziale Unterstützung der Menschen ist auch das Nachrangigkeitsprinzip aufrecht- Frau Kollegin Scheel, zur Erwiderung. – Bitte. zuerhalten. Schließlich ist dies eine Grundvoraussetzung des Sozialstaates. Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Menschen sollen selbst für ihr Leben im Alter Herr Kollege Spieth, entweder haben Sie mich be- sorgen können. In diese Lage müssen wir sie versetzen. wusst falsch verstehen wollen, oder Sie haben mir nicht (B) Dazu hat die Bundesregierung in den vergangenen zwei (D) zugehört. Jahren einen erheblichen Beitrag geleistet: mit dem Ab- (Dirk Niebel [FDP]: Ja, richtig! Beides bau der Arbeitslosigkeit, der Stärkung der wirtschaftli- stimmt!) chen Entwicklung in Deutschland und den daraus erziel- ten Chancen für die Menschen in Deutschland. Ich habe gesagt, dass es gut ist, dass die Menschen diese Auskunft bekommen. Sie haben jetzt ja auch bestä- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) tigt, dass das eine gute Sache ist. Dann habe ich gesagt, Die Begründung der FDP ist, hiermit möglicher Al- dass man aufgrund der Auskunft erkennen kann, wie die tersarmut vorzubeugen. Ich möchte den Faktor der Al- eigene Situation ist. Es ist nicht Aufgabe der Rentenver- tersarmut nicht geringschätzen. Dass wir aber in einem sicherer, in diesem Stadium darauf hinzuweisen, ob je- der reichsten Länder der Welt permanent über Alters- mand noch etwas tun soll oder nicht. Darum geht es armut bzw. über Armutsgrenzen und dergleichen mehr überhaupt nicht. Es geht darum, dass die Menschen ein- diskutieren, wird in vielen Teilen Europas garantiert schätzen können, welche Ansprüche sie aus der gesetzli- nicht verstanden. Trotzdem ist es natürlich die Aufgabe chen Rentenversicherung bislang erworben haben – des Sozialstaates, die entsprechenden unterstützenden nicht mehr und nicht weniger. Leistungen zu gewähren; Kollege Brauksiepe hat das ja bereits dargestellt. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Vor allen Dingen sollten wir nicht von Armut spre- Das Wort hat jetzt der Kollege Max Straubinger von chen, wenn es um die Grundleistungen für Menschen, der CDU/CSU-Fraktion. also die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfä- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- higkeit, geht. Wir geben den Menschen ein Gerüst, eine neten der SPD) unterste Auffanglinie, damit sie nicht in völlige Armut fallen, sondern auch im Alter ein menschenwürdiges Auskommen haben. Das ist das Prinzip unseres Sozial- Max Straubinger (CDU/CSU): staates. Dies ist meines Erachtens hier besonders hervor- Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! zuheben. Wir diskutieren in dieser Woche bereits das dritte Mal über die Altersvorsorge der Menschen in unserem Land. Werte Damen und Herren, ich halte es auch für be- deutsam, darauf hinzuweisen, dass die Bundesregierung (Rolf Stöckel [SPD]: So ein Zufall! Sind und die sie tragenden Fraktionen bereits einiges dazu irgendwo Landtagswahlen?) beigetragen haben: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14501

Max Straubinger (A) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber erst nach- Mindestrente auf 330 Ost-Mark angehoben hat. Nur hat (C) dem wir Sie getrieben haben!) der Kollege Brauksiepe eines dabei vergessen, nämlich dass sich die Bürgerinnen und Bürger in der DDR dafür durch die Stärkung der betrieblichen Altersversorgung, nichts kaufen konnten. den Anreiz der Entgeltumwandlung – dies wird auch weiter fortgeführt – und natürlich durch die steuerliche (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) Förderung, die mit dem Riester-Sparen und der Rürup- Rente – sie wurde heute überhaupt noch nicht genannt – Das ist entscheidend. Deshalb waren sie die Betrogenen. verbunden ist. Mit diesen drei Sicherungssystemen ist es Erst unser gesetzliches Rentenversicherungssystem den vielen Menschen in unserem Land, die jeden Tag hat auch für die Menschen im Osten Deutschlands eine hart arbeiten, möglich, über die sogenannte Alters- gute, existenzsichernde, sogar weit über das Existenz- armutsgrenze zu gelangen bzw. die Grundsicherung minimum hinausgehende Grundlage geschaffen. Wir nicht in Anspruch zu nehmen. können gemeinsam stolz darauf sein, dass wir das er- Frau Kollegin Scheel hat bereits deutlich gemacht, reicht haben. was private Rentenversicherungen zu leisten imstande (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) sind. Sie hat nur vergessen, auch die zu erwartenden Ge- winne anzuführen; denn damit wird natürlich ein weit Deshalb kann ich nur dazu aufrufen, die Verunsiche- höheres Rentenniveau erzielt. rung der Menschen zu beenden und sie aufzufordern, Al- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tersvorsorge zu betreiben, mit Riester-Sparverträgen, mit NEN]: Ich habe von der garantierten Rente ge- Rürup-Sparverträgen, mit Lebensversicherungen oder sprochen!) anderen Anlageformen. Uns geht es darum, diese Viel- falt zu erhalten. Auch in diesem Sinne ist der Antrag der Wenn man bei den Riester-Sparverträgen die Gewinn- FDP-Bundestagsfraktion kontraproduktiv. erwartung mit einrechnet, sieht man, dass ein Durch- schnittsverdiener, der in die gesetzliche Rentenversiche- Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. rung einzahlt und zugleich einen Riester-Vertrag (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) abgeschlossen hat, bereits nach 20-jähriger Beitragszah- lung im Alter eine Anwartschaft erreichen wird, die über der sogenannten Grundsicherung liegt. Dabei sind noch Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nicht einmal die betriebliche Altersversorgung, private Das Wort hat der Kollege Lothar Binding von der Sparvermögen und andere möglicherweise über die SPD-Fraktion. lange Lebensarbeitszeit hinweg erworbene Ansprüche (B) (Beifall bei der SPD) (D) mit berücksichtigt. Dies herauszustellen, ist sehr bedeut- sam. Von daher darf man nicht ständig von Armut reden. Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): (Jörg Rohde [FDP]: Es geht aber nicht um den Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Durchschnittsverdiener! Es geht um den Ge- ringverdiener!) Kollegen! Wir diskutieren heute über eine sehr ernste Frage, nämlich darüber, ob es nicht einzelnen Menschen Ich bin schon bestürzt über diese Auseinanderset- in unserem Land trotz einer klugen Gesetzgebung sehr zung, insbesondere darüber, wie sie von den Linken ge- schlecht gehen kann. Wir müssen feststellen: Wir wer- führt wird. So hat Herr Dr. Gysi heute in diesem Zusam- den keine Gesetzgebung finden, bei der es allen Men- menhang wieder ausgeführt, dass Riester-Verträge schen immer gleich gut geht und die für alle Menschen Anlagebetrug seien. in gleicher Weise gerecht ist. Wir müssen aber prüfen, ob die Gesetzgebung auf Gerechtigkeit angelegt ist. (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Bestimmte!) Wir müssen erkennen, dass es einigen Menschen sehr Das stimmt in keiner Weise. Im Gegenteil: Riester-Ver- schlecht geht. Deshalb müssen wir prüfen, ob wir ein träge werden so weit wie möglich gefördert, mit bis zu Gesetz einführen sollten, um dies in Einzelfällen zu über 90 Prozent Förderleistung durch Steuergelder. Viele überwinden. Dabei müssen wir nach dem Preis fragen. Vorrednerinnen und Vorredner haben das bereits zum Die FDP macht einen Vorschlag, der einen extrem hohen Ausdruck gebracht. Steuergelder werden nicht nur von Preis hat, nämlich den Preis, dass das Sozialstaatsprinzip Privatpersonen gezahlt, sondern auch von Unternehmen, der Nachhaltigkeit aufgegeben werden müsste. Das hätte Herr Dr. Gysi. Deshalb ist hier festzustellen, dass auch zur Folge, dass es künftig nicht nur Einzelnen schlecht die Wirtschaft mit ihren Steuerlasten einen enormen Bei- geht oder sie ungerecht behandelt werden, sondern es trag zur Förderung der Riester-Rente leistet. darüber hinaus auch vielen anderen sehr viel schlechter (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- geht als heute. Deshalb ist der Ansatz der FDP nicht gut. neten der SPD) Ich warne alle Leute, denen es schlecht geht, davor, sich darauf zu verlassen, dass gerade die FDP die Armut zu Aber wenn hier schon von Betrug die Rede ist, dann überwinden hilft. möchte ich auch anführen, dass die Betrogenen in unse- rem Land die Menschen in der ehemaligen DDR unter (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dem SED-Regime waren. Kollege Brauksiepe hat darge- der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: legt, dass Honecker nach 40 Jahren Kommunismus die Wer, wenn nicht wir? Wann, wenn nicht jetzt?) 14502 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Lothar Binding (Heidelberg) (A) Das halte ich für ein gewisses Problem. Wenn man das Was wir heute einzahlen, hat mit dem, was wir künftig (C) genauer untersucht, findet man möglicherweise heraus, bekommen, nichts zu tun. dass Sie langfristig doch auf dem Weg zum Bürgergeld sind und die sonstigen Risiken privatisieren wollen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist ein biss- chen wie von hinten durch die Brust ins (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es wäre nicht Auge!) das Schlechteste, was den Menschen in diesem – Ja, von hinten durch die Brust ins Auge. Sie haben ge- Land passieren könnte, wenn das FDP-Projekt sagt, dass Sie sich um das Niveau kümmern wollen, aber in ein Bürgergeld umgesetzt würde!) Sie müssen auch angeben, von welchem Niveau Sie Das ist etwas, was wir natürlich nicht wollen. sprechen. Man muss den Niveaubegriff definieren. Of- fen gestanden habe ich lieber 60 Prozent von 200 Pro- Niemand kann behaupten, wir hätten kein Demogra- zent als 70 Prozent von 100 Prozent. fieproblem. Wir haben ein großes Demografieproblem, aber das ist nicht unser einziges Problem. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber ihr senkt es doch ab! – Weiterer Zuruf von der FDP: Wa- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Regierung rum macht ihr dann das Gegenteil?) ist auch ein Problem!) Man muss deutlich machen, worüber man redet. Bei der Was wir nicht haben, ist ein Wohlstandsproblem. Im Frage des zukünftigen Niveaus wird festgelegt, wie viel Durchschnitt geht es allen wunderbar. Wir haben aller- ein Rentner bezogen auf die dann arbeitende Generation dings ein Problem mit der Verteilung von Produktivität; hat. Deshalb ist es tausendmal wichtiger, sich darum zu das sehe auch ich so. Die Frage ist nur, ob man die Pro- kümmern, dass die Menschen in Zukunft viel verdienen duktivität über Rentenversicherungsbeiträge und ein und dass das Einkommen gerecht verteilt ist. Dann wird Rentensystem so verteilen kann, dass es anschließend es auch den Rentnern gut gehen. Vielleicht geht es ihnen gerecht zugeht. Das zu glauben, ist verrückt; denn das dann mit 30 Prozent besser als mit 50 Prozent bei einem wäre so etwas wie der Versuch, eine Länge in Kilo- anderen Rentenniveau. gramm zu messen. Das führt in der Regel nicht zu guten Ergebnissen. Deshalb ist das der falsche Weg. Wir müs- (Beifall bei der SPD) sen die Verteilung der Produktivität auf eine andere Das Niveau ist eine entscheidende Frage. Deshalb ist Grundlage stellen: Sie muss auf der gerechten Verteilung uns die Frage der Grundsicherung sehr wichtig. Denn von Lohn und Arbeit basieren. wir wollen erreichen, dass keiner die Grundsicherung Was Ihre Äußerung angeht, Herr Gysi, 28 Prozent braucht. Das ist das eigentliche Ziel. (B) (D) Rentenversicherungsbeiträge seien möglich, das sei kein (Beifall bei der SPD) großes Problem, sehe ich eine große Gefahr. Das ist lei- der nicht ganz symmetrisch. Wenn die Lohnnebenkosten Was die Grundsicherung von etwa 680 Euro monatlich in der Weise angehoben werden, dann erzeugt das Ar- angeht – dieser Betrag steht derzeit zur Diskussion –, beitslosigkeit ohne Ende. Wenn dann später die Versi- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Riester ist von cherungsbeiträge wieder gesenkt werden, dann schafft 660 Euro ausgegangen!) das noch längst keine Arbeit. wäre es eine Ungerechtigkeit, jemandem, der Rentenein- (Widerspruch der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE nahmen, Ersparnisse oder eine Riester-Rente hat, zusätz- LINKE]) lich 680 Euro als Grundsicherung zu gewähren. Die vor- Diese Asymmetrie birgt ein sehr großes Problem. geschlagene Änderung hinsichtlich der Anrechnung der Riester-Rente ist insofern schlecht. Ihre zweite Idee zeigt, dass Sie möglicherweise bezo- gen auf die unterschiedliche Verantwortung in den Alters- (Dirk Niebel [FDP]: Nein! Nur ein Freibe- kohorten die langfristigen Überlegungen aus dem Blick trag!) verloren haben. Wenn Sie jetzt die Versicherungspflicht- – Wie wird denn ein Freibetrag begründet? Worin liegt grenze anheben wollen, der Unterschied zwischen meiner Riester-Rente und meinem Sparbuch hinsichtlich der Anrechnungsmöglich- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Beitragsbe- keiten bei meiner künftigen Rente? messungsgrenze, nicht die Versicherungspflicht- grenze!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie tun sich sehr schwer, diesen guten Vorschlag abzulehnen, um die Einnahmeseite zu stärken, dann sind Sie gezwun- Herr Binding!) gen, in Zukunft das Äquivalenzprinzip aufzugeben. Das wäre so unsystematisch, dass Sie damit ein Schlag- Wenn man die Menschen heute verstärkt zur Kasse licht darauf werfen, wie viel Ihnen gewisse Prinzipien bittet, dann muss man auch damit rechnen, dass sie künf- des Sozialstaats wert sind. tig höhere Ansprüche haben. Denn eines ist klar: Wenn es um die Rente geht, dann reden wir eigentlich nie über (Anton Schaaf [SPD]: So ist es! – Dr. Heinrich Geld. Denn das, was die gegenwärtige Generation erar- L. Kolb [FDP]: Die Freiwilligkeit ist uns etwas beitet, bekommt demnächst die Generation, die bisher wert! Sie wollen in Wahrheit auf das Obligato- ihre Eltern finanziert hat, die jetzt nicht mehr arbeiten. rium hinaus!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14503

Lothar Binding (Heidelberg) (A) – Darauf will ich kurz eingehen. Vielleicht wäre es sogar Gegenruf des Abg. Frank Spieth [DIE (C) gut. Wenn Sie sich mit Familien, denen es schlecht geht, LINKE]: Wenn es hilft, Herr Niebel!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wäre ihnen mit Zwang mehr geholfen, als wenn sie sich frei- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: willig absichern?) Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Hennrich von der CDU/CSU-Fraktion. ein bisschen auskennen würden, dann wüssten Sie, dass eine solche Familie jeden Monat aufs Neue darauf ver- Michael Hennrich (CDU/CSU): zichtet, etwas anzusparen, und dies verschiebt, weil das Geld zu knapp ist. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Ich darf heute zu dem (Zuruf des Abg. Dirk Niebel [FDP]) Antrag der FDP mit dem Titel „Altersvorsorge für Ge- ringverdiener attraktiv gestalten“ sprechen. Ich habe in – Du mit deinen Zwischenrufen! Du hast gestern einen dieser Woche gelesen, dass die Apotheker in Nordrhein- Zwischenruf formuliert. Der besagte etwas ganz Schlim- Westfalen gegen die FDP Sturm laufen. Heute liegt uns mes. nun ein Antrag zu den Geringverdienern vor. Verkehrte (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Habt ihr Welt! das jetzt abgesprochen?) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Als kleine Volkspar- – Ja, das haben wir abgesprochen. Es gibt keine Debatte, tei decken wir die ganze Breite ab!) in der der Kollege Niebel keinen unanständigen Zwi- Ich freue mich aber, dass mittlerweile die sozialen Pro- schenruf formuliert. bleme in unserem Land auch bei der FDP angekommen (Beifall des Abg. Anton Schaaf [SPD]) sind. Ich bedauere nur, dass in Ihrem Antrag nicht die richtigen Relationen hergestellt wurden. Gestern hat der Kollege Riester etwas sehr Ernsthaftes gesagt: Wenn wir über das Thema Grundsicherung im Alter sprechen, sollten wir immer bedenken, dass es um Man sollte nicht immer weitere Bereiche der Er- 2 Prozent der Bevölkerung geht. 98 Prozent der Bevöl- werbsarbeit aus der Versicherungspflicht heraus- kerung beziehen keine Grundsicherung im Alter. nehmen. (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Heute! Und in Dirk Niebel ist dazu der Zuruf „Zwangs-Riester!“ einge- zehn Jahren?) fallen. Die Bild-Zeitung hat schon einmal den Gedanken (B) mit derselben Überschrift kaputt gemacht. Diese Leistung ist auf die gesetzliche Rente und Eigen- (D) vorsorge – die meisten haben die notwendigen Vorkeh- Dirk, wir kennen uns gut. Deshalb möchte ich eine rungen bei der Altersvorsorge getroffen – zurückzufüh- persönliche Bemerkung machen: Dein Denken beruht ren. Das war Ihnen in Ihrem Antrag leider keiner auf völlig anderen Grundsätzen. Erwähnung wert. Es ist richtig, über das Thema Altersar- (Dirk Niebel [FDP]: Das stimmt! Ich bin libe- mut zu sprechen. Ich bin mir darüber im Klaren, dass wir ral!) uns in Zukunft mehr Gedanken über das Rentenniveau machen müssen, als es momentan der Fall ist, weil sich Ich will das an drei Beispielen klarmachen. Du willst die die Erwerbsbiografien der Menschen dramatisch verän- Bundesagentur für Arbeit abschaffen. dern. Aber wir sollten keine Schnellschüsse wagen. Sie (Dirk Niebel [FDP]: Auflösen!) sind auf einen Zug aufgesprungen, der von Monitor und anderen Medien in Gang gesetzt wurde. Du hast den unanständigen Vergleich zwischen der Gro- (Jörg Rohde [FDP]: Wir haben es ins Rollen ßen Koalition und der Nationalen Front gezogen. Du gebracht!) hattest auch keine Scheu, eine FDP-Zentrale im Arbeits- amt, bei deinem Arbeitgeber, aufzumachen. Wer in ei- Aber das ist keine seriöse Rentenpolitik. nem solchen Korsett denkt und hier permanent solche Zurufe macht wie du, hat für mich unter sozialen Ge- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: 14. 11. 2007, das sichtspunkten jede Glaubwürdigkeit verloren. ist das Datum des Antrages!) (Beifall bei der SPD) Ihnen fehlt ein schlüssiges Gesamtkonzept. Ich möchte das gar nicht weiter vertiefen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Sie sollten beim Alterseinkommen nicht regeln, was Sie beim Arbeitseinkommen verweigern. Mit dieser For- Zuerst eine Bestandsaufnahme: Wir haben ein Alters- mel lässt sich gut beschreiben, warum Sie eine Lösung sicherungssystem, das sich über Jahre und Jahrzehnte für ein Problem vorgeben, dessen Ursachen Sie nicht be- bewährt hat. Das wird uns von der OECD ausdrücklich kämpfen wollen. bestätigt. Wir haben ein Drei-Säulen-System, einen Dreiklang aus gesetzlicher Rente sowie privater und be- (Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: trieblicher Altersvorsorge. Dieses System müssen wir Dann biete ich dem Kollegen wieder das Sie permanent nachjustieren, das will ich überhaupt nicht in- an! Ich hoffe, das steht auch im Protokoll! – frage stellen. Wir haben insbesondere in den letzten Jah- 14504 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Michael Hennrich (A) ren unser Augenmerk auf die Situation der Geringver- müssen jetzt den Alterssicherungsbericht abwarten, der (C) diener gerichtet. Ich möchte in diesem Zusammenhang im Herbst erscheinen und uns verlässliche Zahlen da- daran erinnern, dass im letzten Alterssicherungsbericht rüber geben wird, wie sich das Rentenniveau in Zukunft ausdrücklich hervorgehoben wurde, dass das Rentenni- entwickeln wird. Wir wissen doch heute schon, dass wir veau für den Durchschnittsverdiener gleichbleibt und mit der Situation zu kämpfen haben werden, dass uns die dass es sich in den nächsten Jahren für den Geringver- Erwerbstätigen ausgehen. Wie die künftigen Erwerbs- diener deutlich erhöht. Vor diesem Hintergrund passt Ihr biografien der Menschen aussehen werden, wissen wir Antrag nicht. heute nicht. Wir brauchen junge Kräfte. Da müssen wir das Geld hineinstecken, nicht aber in eine Alimentie- Ich möchte an dieser Stelle deutlich hervorheben: Sie rung. wollen die Altersvorsorge für Geringverdiener attraktiv gestalten. Vor vier Wochen haben wir im Parlament die Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Aspekt er- Dauer der Förderung der betrieblichen Altersvorsorge, wähnen, auf den Sie auch keine Antwort finden: die die Sozialversicherungsfreiheit der Entgeltumwand- Nachrangigkeit. lung, verlängert, und zwar unbefristet. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Da seid ihr noch (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber doch nicht im Zustand der Jungfräulichkeit!) freiwillig! Wir haben es euch jahrelang vorhal- Der Kollege Max Straubinger hat schon ganz deutlich ten müssen!) darauf hingewiesen. Wir haben den Grundsatz der Subsi- – Wir sind der Gesetzgeber. Dann haben wir es freiwillig diarität in der Sozialhilfe. Warum sagen Sie dann, dass gemacht. Sie im Bereich der Rentenversicherung den Subsidiari- tätsgrundsatz aushebeln wollen, und mit welcher Be- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Drei Monate vorher gründung wollen Sie ihn in der Sozialhilfe belassen? habt ihr noch das Gegenteil behauptet!) (Zuruf des Abg. Dirk Niebel [FDP]) Wir haben des Weiteren Verbesserungen bei der Riester-Rente vorgenommen. Deswegen können Sie uns – Ja, aber beim Arbeitslosengeld II ist der fundamentale nicht vorwerfen, dass wir nichts für Geringverdiener tun. Unterschied der, dass wir für die Menschen einen Anreiz schaffen wollen, dass sie in Arbeit gehen. Diese Situa- Ich möchte an einem Punkt deutlich machen, wie ab- tion haben wir bei der Rente nicht. surd Ihr Antrag ist. Sie sagen, Geringverdiener, die in die Riester-Rente oder in die betriebliche Altersvorsorge (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Es ist eine einzahlen und zum Teil zu 90 Prozent vom Staat geför- vorübergehende Leistung! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Schauen Sie sich mal an, was in (B) dert werden, sollten im Alter privilegiert werden. (D) § 82 des SGB XII drinsteht!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber nicht durchgängig, wie es Peter Weiß darstellt, son- Deswegen ist dies überhaupt nicht miteinander ver- dern relativ gering!) gleichbar. Ich schlage Ihnen vor, dass Sie Ihren Antrag in diesen vier Punkten überarbeiten. Dann können wir – Stopp, Moment, Herr Kolb! Diejenigen, die privat mit- vielleicht darüber diskutieren. Aber so, wie er vorliegt, tels eines Sparbuchs sparen oder ohne staatliche Hilfe ist er vollkommen unausgereift. eine Immobilie bauen und vermieten, werden bei Ihrem Vorschlag nicht berücksichtigt. Sie werden sogar noch Herzlichen Dank. einmal bestraft, weil sie mit ihren Steuern die spätere (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Privilegierung mehr oder weniger fördern. Das ist das Absurde an ihrem Vorschlag. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Stimmt nicht! – erteile ich dem Kollegen Rolf Stöckel von der SPD- Gegenruf des Abg. Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/ Fraktion das Wort. CSU]: Genau so ist es!) (Beifall bei der SPD – Jörg Rohde [FDP]: Ein zweiter Aspekt. In Ihrem Antrag steht nichts zum Vielleicht kriege ich jetzt ja mal eine Ant- Thema Finanzierung, keine einzige Zahl dazu, was das wort!) den Haushalt kostet. (Jörg Rohde [FDP]: Es kostet doch nichts, es Rolf Stöckel (SPD): spart! – Lachen bei der CDU/CSU) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Schluss dieser Debatte hebe ich eines hervor: Dass in ei- – Natürlich kostet es etwas. Über finanzielle Auswirkun- nigen Beiträgen die Systematik und die Prinzipien des gen steht nichts in Ihrem Antrag. Das müssen Sie einmal deutschen Sozialstaatssystems, der sozialen Sicherungs- seriös vorrechnen. systeme beleuchtet worden sind, ist ja nicht nur lehr- (Jörg Rohde [FDP]: Jederzeit!) reich, sondern auch für diejenigen wichtig, die in der Hektik einer solchen Debatte und mit Blick auf Einzel- Ein dritter Aspekt. Sie haben in Ihrem Antrag im punkte den Überblick verlieren. Die deutschen Siche- Grunde genommen überhaupt nicht die Nachhaltigkeit, rungssysteme waren und sind erfolgreich. Gleichwohl die Sicherheit für die Zukunft deutlich gemacht. Wir müssen sie weiterentwickelt werden. Dies haben wir Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14505

Rolf Stöckel (A) nicht nur mit der rot-grünen Bundesregierung unter ziale Utopien. Das wird etwa von den Grünen, der FDP (C) Gerhard Schröder begonnen, sondern auch in der Gro- und von den Linken – ich erinnere auch noch an das Mo- ßen Koalition mit den Kollegen der CDU/CSU sinnvoll dell von Althaus von der CDU – in ganz unterschiedli- weitergeführt. Wir werden uns dieser Aufgabe in jedem cher Weise vorgetragen, wobei eines allen Vorschlägen Jahr stellen müssen. Deswegen gibt es Evaluationen, bzw. Modellen, die gemacht werden, innewohnt, näm- Statistiken und Alterssicherungsberichte. lich dass die Finanzierbarkeit nicht nachgewiesen und in keiner Weise sozial gerecht dargestellt werden kann. Wir tun gut daran, dass unser Sozialstaat weiterhin Letztendlich führt das FDP-Modell des Bürgergeldes zu auf drei Säulen ruht: auf einer beitragsfinanzierten und einer schlechten Absicherung und zu einem schlechten der Arbeitsleistung äquivalenten Sozialversicherung, auf Grundeinkommen, das nicht armutsfest ist, es sei denn, dem, was Menschen privat durch Arbeit und Sparen vor- Sie erhöhen die Steuern für diejenigen, die es zu finan- sorgen können, und auf einer steuerfinanzierten Grundsi- zieren haben, so, dass alle Ihre Vorschläge zu Flattax und cherung, die das menschenwürdige Existenzminimum Vereinfachung des Steuerrechts Makulatur werden. Die- gewährleisten muss. Darüber kann man trefflich streiten, sen inneren Widerspruch Ihrer Bürgergeldträume kön- was wir auch tun. Daran werden wir auch in diesem Jahr nen Sie nicht auflösen. weiter zu arbeiten haben. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir werden das Aber dass diese steuerfinanzierte, bedarfsabhängige machen, auch wenn ihr euch jetzt noch Grundsicherung das Prinzip der Subsidiarität, der Be- sträubt!) darfsabhängigkeit – das sagt das Wort ja –, aber auch der Hilfe zur Selbsthilfe und der Mitwirkungspflicht bein- Letztendlich steht der Versuch dahinter, mit der attrakti- haltet, ist konstitutiv dafür, dass diejenigen, die Steuern ven Vorstellung eines bedarfsunabhängigen Bürgergel- und Beiträge zahlen, also die Stärkeren, ihre Solidarität des oder eines Grundeinkommens, das nicht finanziert mit den Schwächeren dokumentieren und diesen Sozial- werden kann, jedenfalls nicht sozial gerecht, den Bür- staat seit Jahrzehnten mittragen. Seit 1961 gelten diese gern Sand in die Augen zu streuen und alle anderen Risi- Prinzipien der Sozialhilfe. ken, die dieser Sozialstaat zu tragen hat, zu privatisieren. Das machen wir Sozialdemokraten nicht mit. Wir haben mit der Grundsicherung im Alter einen Grundsatz der Subsidiarität verlassen. Bei der Unter- (Beifall bei der SPD) haltspflicht wird das Einkommen oder das Vermögen der Kinder unterhalb eines Betrages von 100 000 Euro nicht Wir machen uns jetzt auch keine Gedanken beispiels- angerechnet. Das begründet auch die Unterschiede zu weise darüber – Kollege Hennrich ist darauf eingegan- dem anderen Grundsicherungssystem für Erwerbsfähige gen –, wenn wir über die Risiken der Altersarmut in 10, (B) und dem System der Sozialhilfe. Diejenigen, die nicht 15 oder 20 Jahren reden, welche Beträge bei einem Ver- (D) unter diese beiden Systeme fallen, sind nur noch eine ge- mögen angerechnet werden. Wir setzen auf Aktivierung, ringe Anzahl. Ich glaube, dass wir deutlich machen den Abbau von Arbeitslosigkeit, auf Qualifizierung, Bil- müssen, dass wir auf der einen Seite hier dem Subsidia- dung und gute Arbeitsbedingungen auch für diejenigen, ritätsprinzip Rechnung tragen, auf der anderen Seite aber die jetzt gering entlohnte Dienstleistungen verrichten nicht anfangen, an allen möglichen Stellen dieses und für Hungerlöhne arbeiten müssen. Die SPD und die Grundsicherungssystems das Subsidiaritätsprinzip ein- Gewerkschaften fordern bessere Arbeitsbedingungen, zuführen. Wir könnten auch über die Anrechnung von Mindestarbeitsbedingungen, eine gerechte Entlohnung Kindergeld beim ALG II sprechen. Wir haben heute und eine Teilhabe der Arbeitnehmerinnen und Arbeit- schon über die Anrechnung diverser anderer Alterssiche- nehmer am wirtschaftlichen Wachstum und an den Pro- rungsarten gesprochen. duktivitätszuwächsen. Das bleibt die beste Alterssiche- rung. Das bleibt die beste Versicherung dafür, nicht die Wenn Sie, Herr Kolb, sagen, das Bürgergeld wäre steuerfinanzierte Grundsicherung in Anspruch nehmen nicht gut, dann kommen wir zum Kern der Sache. zu müssen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was?) Dass ein Magazin in einem Sender, der mit GEZ-Mit- teln, also mit öffentlichen Gebühren, finanziert wird, Auch mit anderen Anträgen in diesem Hause werden das diejenigen, die im Moment von der GEZ-Gebühr wahr- Prinzip der Grundsicherung und das Prinzip der Subsi- scheinlich befreit sind, die aber nicht ihr Leben lang von diarität infrage gestellt, und zwar entweder mit Blick auf der GEZ-Gebühr befreit sein sollen, verunsichert und eine besonders gut verdienende Wählergruppe oder auf damit eine Kampagne fährt, die letztendlich etwas mit die Parteiklientel oder auf die Älteren. Das soll schon in der Landtagswahl in Hessen zu tun hat, finde ich schon allen Fraktionen vorgekommen sein. ziemlich abseitig. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich finde das (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Medienschelte Bürgergeld fantastisch, wenn es nach liberalen als Problemlösung! – Jörg Rohde [FDP]: Wir Vorstellungen kommt!) haben Zahlen der Bundesregierung!) Das alles trägt dazu bei, nicht nur die Menschen zu ver- Das gefährdet die soziale Sicherung und die Armutsbe- unsichern, sondern auch insgesamt die Solidarität dieses kämpfung in Deutschland mehr als alles andere. Systems zu untergraben. Letztendlich handelt es sich bei dem ausreichenden, bedarfsunabhängigen Grundein- Insofern bleiben wir dabei, dass bei der steuerfinan- kommen bzw. dem Bürgergeld um Hirngespinste und so- zierten Grundsicherung das Nachrangigkeitsprinzip 14506 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Rolf Stöckel (A) grundsätzlich erhalten bleibt und dass wir durch einen Die Koalitionsparteien beobachten mit Sorge, dass (C) aktivierenden und vorbeugenden Sozialstaat, gute Ar- diese Anscheinswaffen nach wie vor von zu vielen, vor beitsbedingungen und Mindestlöhne Vorsorge betreiben allen Dingen von Jugendlichen, gebraucht werden. Der und die Menschen befähigen müssen, eigenständig, aus Umgang mit diesen Waffen, die Kriegs- oder Polizeiwaf- eigener Kraft, zu leben. Da, wo das aufgrund von Krank- fen originalgetreu nachgebaut sind, ist geeignet, die heit nicht möglich ist, haben diese Menschen weiterhin Hemmschwelle im Umgang mit Waffen schlechthin sin- unsere Solidarität, und zwar in Form einer menschen- ken zu lassen. würdigen Grundsicherung. (Beifall bei der CDU/CSU) Herzlichen Dank. Außerdem weisen alle Experten zu Recht darauf hin, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) dass von diesen Waffen ein erhebliches Drohpotenzial ausgeht, weil sie zu kriminellen Zwecken eingesetzt Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: werden können. Hinzu kommt, dass Polizeibeamte die Ich schließe die Aussprache. täuschend echt wirkenden Nachbildungen im Einsatz mit echten Schusswaffen verwechseln und dann in einer ver- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf meintlichen Notwehrsituation von der Dienstwaffe Ge- Drucksache 16/7177 an die in der Tagesordnung aufge- brauch machen könnten – mit verheerenden Folgen. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Die Koalition wird mit der Änderung des Waffenge- so beschlossen. setzes alle rechtsstaatlich vertretbaren Maßnahmen be- Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 24 auf: schließen, damit von Anscheinswaffen künftig keine Ge- fahr ausgeht. Das ist kein Kinderspielzeug, und wir Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- wollen, dass diese Waffen aus dem öffentlichen Straßen- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- bild verschwinden, liebe Kolleginnen und Kollegen. rung des Waffengesetzes und weiterer Vor- schriften (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) – Drucksache 16/7717 – Wir haben uns bereits jetzt innerhalb der Koalitions- Überweisungsvorschlag: fraktionen – auch im Lichte von Empfehlungen aus dem Innenausschuss (f) Bundesrat – darauf verständigt, die Regelung des An- Sportausschuss scheinsparagrafen dadurch noch einmal zu verschärfen, Rechtsausschuss dass wir auf das Merkmal des schuss- oder zugriffsberei- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ten Führens der Waffe verzichten und den Transport in (B) Verbraucherschutz (D) Verteidigungsausschuss einem verschlossenen Behältnis vorschreiben. Dadurch wird erreicht, dass nach dem Kauf einer solchen An- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die scheinswaffe praktisch nur noch der Transport in der Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi- verschweißten Packungsfolie nach Hause und die Ver- derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das wendung dieser Waffe auf dem befriedeten Privatbesitz- so beschlossen. tum möglich sind. Wir beziehen in den Anscheinspara- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- grafen neben Lang- – das darf ich gerade der Opposition ner das Wort dem Kollegen Reinhard Grindel von der sagen – auch Kurzwaffen ein; denn es sind zum Beispiel CDU/CSU-Fraktion. Nachbildungen von Faustfeuerwaffen, wie sie bei der Polizei verwandt werden, im Umlauf. Insofern gehen wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) hier auch auf Anregungen aus dem Bundesrat ein.

Reinhard Grindel (CDU/CSU): Für den Verstoß gegen das Verbot des Führens von Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Anscheinswaffen prüfen wir die Einführung einer Buß- Waffenrecht sorgt für einen verhältnismäßigen Aus- geldvorschrift; das tut das Bundesjustizministerium. Das gleich zwischen den Interessen der legalen Waffenbesit- ist das, was der Gesetzgeber tun kann. zer einerseits, also der Jäger, der Schützen, der Sammler Ich will von dieser Stelle aus einen Appell an die El- historischer Waffen, und dem Interesse am Schutz von tern richten – es schauen ja auch einige zu –: Auch Sie öffentlicher Sicherheit und Ordnung andererseits. Das können durch intensive Gespräche mit Ihren Kindern Waffenrecht allein ist kein Instrument zur Eindämmung dazu beitragen, dass solche Waffen nicht verwandt wer- der wachsenden Gewaltkriminalität. Es muss aber zu den. Das ist nicht nur eine Aufgabe des Gesetzgebers. seiner Bekämpfung beitragen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Insofern bewegen wir uns mit dem Gesetz zur Ände- rung des Waffengesetzes nicht im politisch luftleeren Aus dem Kreis der Jäger sind wir darauf aufmerksam Raum, sondern wir müssen die aktuelle Debatte um die gemacht worden, dass es jetzt offenbar modern ist, dass Jugendkriminalität sehr genau im Blick haben. Deshalb auch Jagdwaffen sich von ihrem äußeren Erscheinungs- will ich als einen Schwerpunkt des neuen Waffenrechts bild dem von Kriegswaffen annähern und deshalb unter die Ächtung der sogenannten Anscheinswaffen hervor- den Anscheinsparagrafen fallen könnten. Wir werden heben, die wir mit dem neuen § 42 a des Waffengesetzes das mit einer Klarstellung ausschließen, wonach unter vornehmen. den entsprechenden Paragrafen nicht solche Waffen fal- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14507

Reinhard Grindel (A) len, die – wie wir es formulieren wollen – einen Antrieb ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) durch heiße Gase erhalten. NEN]: Aha!) Der Entwurf der Änderung des Waffengesetzes ent- In der Tat gibt es wissenschaftliche Studien, die belegen, hält bisher keine Regelung zum Thema Softair-Waffen. dass beim schießsportlichen Training nicht nur die Kon- Ich möchte betonen, dass sich die Koalitionsfraktionen zentrationsfähigkeit gesteigert wird, sondern auch der darauf verständigt haben, zu einer Ergänzung des Regie- verantwortungsvolle Umgang mit Waffen und der Re- rungsentwurfs zu kommen. Wir wollen, dass nunmehr spekt vor Waffen erlernt werden. Ich kann ebenfalls zum Spiel bestimmte Schusswaffen nur darunter fallen, nachvollziehen, dass der Deutsche Schützenbund auf die wenn aus ihnen bauartbedingt auch starre Geschosse Bedürfnisse der Nachwuchsarbeit hinweist und eine verschossen werden können, denen eine Bewegungs- Teilnahme an der Jugendolympiade des IOC frühes Trai- energie von nicht mehr als 0,08 Joule mitgegeben wird. ning und Ausbildung voraussetzt. Wir erfassen damit einen ganz großen Teil der Softair- Trotzdem, liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte ich Waffen und wollen auch hier erreichen, dass diese aus um Verständnis dafür, dass die Koalition diesen Vor- dem öffentlichen Straßenbild zurückgedrängt werden. schlag zur Änderung des Waffengesetzes nicht aufgrei- Das ist geboten, weil von diesen Softair-Waffen nicht fen wird. Die Debatte über die Absenkung der Alters- unerhebliche Gesundheitsgefahren ausgehen; hier wer- grenzen für den Erwerb großkalibriger Waffen im den schließlich Plastikkugeln verschossen. Eine Äch- Sommer 2007 hat gezeigt, dass wir es hier mit einem tung dieser Softair-Waffen ist aber auch unter präventi- ausgesprochen sensiblen Thema zu tun haben, das voller ven Gesichtspunkten notwendig. Verunglimpfungspotenziale steckt. Gerade im Umfeld Ich komme auf den Ausgangspunkt meiner Überle- der Debatte über die Jugendgewalt halte ich es für ausge- gungen und den Hinweis auf die Debatte um Gewaltta- schlossen, dass wir Innenpolitiker auch nur ansatzweise ten zurück. Wir können doch nicht vielfältige Überle- die Chance hätten, der Öffentlichkeit gegenüber ver- gungen darüber anstellen, wie wir auf allen Ebenen und ständlich zu kommunizieren, weshalb wir jetzt die Al- möglichst früh der wachsenden Gewaltbereitschaft und tersgrenze für das Schießen mit Druckluftwaffen senken kriminellen Energie von Kindern und Jugendlichen be- wollen. Es besteht die Gefahr, dass wir hier falsche Si- gegnen können, und gleichzeitig zulassen, dass unter gnale aussenden. Das würde möglicherweise auch den Einschluss von Gesundheitsrisiken mit Anscheins- oder Schützenvereinen schaden. Deshalb muss es beim Schie- Softair-Waffen auf öffentlichen Straßen und Plätzen in ßen mit Laserwaffen bleiben und bei den Ausnahmevor- der Gegend herumgeschossen wird. Das wäre ein völlig schriften, die das Waffengesetz heute schon vorsieht. falsches politisches Signal. Meine Erfahrung ist die – ich will das hier hervorheben –, (B) dass in vielen Bereichen hiervon unbürokratisch und an- (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) gemessen Gebrauch gemacht wird. Insoweit halte ich es für vertretbar, es bei dieser Regelung so zu belassen. Ich sage ausdrücklich: Dahinter haben wirtschaftliche Interessen, für die ich Verständnis habe, zurückzutreten. Gleichwohl will ich auch an dieser Stelle deutlich ma- Angesichts der vielfältigen öffentlichen Debatten kann chen, was ich schon bei der letzten Debatte zum Waffen- es niemanden überraschen, weder Produzenten noch recht betont habe: Die Schützenvereine in Deutschland Konsumenten, dass der Gesetzgeber in diesem Bereich leisten eine hervorragende Jugendarbeit, sie haben in entschlossen handelt. Insoweit kommen hier Fragen des vielen Städten und Gemeinden eine große Bedeutung für Vertrauensschutzes nicht in Betracht. den Zusammenhalt im Dorf und das kulturelle Leben vor Ort. Sie haben es nicht verdient, unter eine Art General- Dass solche veränderten gesetzlichen Rahmenbedin- verdacht gestellt zu werden. Auch das will ich hier aus- gungen sehr wohl etwas bewirken können, zeigt das Bei- drücklich hervorheben. spiel der Gas-, Schreckschuss- und Signalwaffen. Wir haben diese Waffen im Rahmen der letzten Gesetzesno- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie velle waffenscheinpflichtig gemacht, was zu einer Redu- bei Abgeordneten der SPD) zierung der Verkaufszahlen um rund 90 Prozent geführt hat. Insofern kann auch das Waffenrecht einen Beitrag Außerdem schaffen wir mit der Änderung des Waf- zur Bekämpfung der Gewaltkriminalität leisten. fengesetzes die grundsätzlichen Voraussetzungen für die Umsetzung des VN-Schusswaffenprotokolls. Durch ei- Ich will an dieser Stelle erwähnen, dass der Deutsche nige Übergangsregelungen werden aber bürokratische Schützenbund sich mit der Bitte an uns gewandt hat, die Hürden für Jäger, die im Ausland jagen wollen, oder Altersgrenze für das Schießen auf Schießständen unter auch für das Waffengewerbe vermieden. qualifizierter Aufsicht von zwölf auf zehn Jahre zu sen- ken, wie dies bereits bei der letzten Novelle des Waffen- Durch die Einführung entsprechender Blockiersys- gesetzes vorgesehen war, bevor der Amoklauf von Erfurt teme sorgen wir für die notwendige Sicherheit auch bei wiederum zu einer Korrektur dieses Vorschlags geführt Erbwaffen, was durch den Wegfall des Erbenprivilegs hat. notwendig geworden ist. Wir wollen dabei – ich will das hervorheben, Kollege Wolff, weil Sie das ansprechen Ich habe durchaus Verständnis für die Argumentation werden – Sammler nicht unangemessen belasten. Das des Schützenbundes, nach der eine Bedrohung der öf- will ich ausdrücklich betonen. fentlichen Sicherheit und Ordnung nicht zu befürchten wäre. (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Sehr gut!) 14508 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Reinhard Grindel (A) Wegen des Auslaufens des Erbenprivilegs müssen wir Standort Deutschland stellt eine Zumutung dar. Wo (C) das Änderungsgesetz zum Waffenrecht zügig im Aus- bleibt da der klare Sicherheitsgewinn? schuss beraten. Ich rufe dazu auf, dass wir das tun; (Dr. [SPD]: Es geht aber um selbstverständlich gehört dazu auch die Durchführung Waffen, Herr Kollege! Es geht nicht um Le- einer Anhörung. Ich sehe hier aber kein Problem, weil es bensmittel!) im Kern nicht um Ideologien geht, sondern darum, mehr Sicherheit für unsere Bürger zu schaffen. Das wollen wir Man hat den Eindruck, dass hier der wirtschaftspoliti- mit dem vorliegenden Gesetzentwurf erreichen. sche Sachverstand der Bundesregierung, insbesondere des Innenministeriums, auf der Strecke geblieben ist. Herzlichen Dank fürs Zuhören. Darüber hinaus ist die Erweiterung der Kennzeich- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nungs- und Buchführungsregelungen eindeutig gegen neten der SPD) die berechtigten Interessen der legalen Waffenbesitzer, insbesondere der Jäger, der Sportschützen und der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sammler von antiquarischen Waffen, gerichtet. Als Ziel- Das Wort hat der Kollege Hartfrid Wolff von der gruppe werden nun auch die Erben genauer ins Visier FDP-Fraktion. genommen. Man muss einfach einmal darauf hinweisen: Das Erbrecht ist eine grundrechtlich geschützte Position, (Beifall bei der FDP) die nicht einfach über Bord geworfen werden darf. Die Begründungen für Einschränkungen, die ich hier viel- Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): fach gehört habe, reichen mir nicht aus. Ich denke da zum Beispiel an den Einsatz von Blockiersystemen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die aktu- elle Diskussion über das Waffenrecht erscheint mir (Beifall bei der FDP) schon etwas schräg. Wenn das bisherige Waffengesetz Gerade bei historischen Waffen – ich freue mich, dass überhaupt geändert werden muss, dann deshalb, weil das der Herr Grindel an der Stelle Einsicht gezeigt hat – ist geltende Waffenrecht vereinfacht und verständlicher dies doppelt absurd. Erstens wird der kulturhistorische werden muss. Daran hat sich leider auch durch die rot- Wert solcher Waffen durch Blockiersysteme herabge- grüne Waffenrechtsreform vom Jahre 2002 nichts geän- setzt oder gar völlig zerstört. Zweitens geht von vielen dert. Im Gegenteil: Von Vereinfachung, Rücknahme der dieser Waffen rein technisch schon keine Gefahr mehr Regelungsdichte, Übersichtlichkeit und Lesbarkeit kann aus. Hinzu kommt, dass die entsprechenden Kosten für keine Rede sein. Die vom Kollegen Grindel gerade ge- bestimmte Sammlerstücke, bei denen die Blockiersys- nannten Bereiche, in denen nachjustiert werden soll, las- (B) teme nur individuell handgefertigt werden können, so (D) sen vermuten, dass hier keine klare Linie verfolgt wird, hoch sein dürften, dass sie an den Wert der Waffe selbst sondern es nur um Änderungen an der einen oder ande- heranreichen. Welchen Sicherheitsgewinn versprechen ren Stelle geht. Bei der nun vorliegenden Novelle hätte Sie sich von solchen Regelungen bei antiquarischen ich deshalb mehr Anstrengungen zur Entbürokratisie- Waffen? Das verstehe ich nicht. rung von der Bundesregierung erwartet. Angesichts des höchst zweifelhaften Sicherheitsge- Die amtierende Koalition meint, dass die neue Vor- winns stellt sich nicht nur die Frage nach der Verhältnis- lage neben der Umsetzung internationalen Rechts den mäßigkeit, sondern auch die nach dem Respekt vor Ei- Vollzug des Waffengesetzes erleichtern und Unklarhei- gentum und Freiheit. ten und Lücken beseitigen würde. Die FDP hat jedoch erhebliche Zweifel, dass die Bundesregierung ihr selbst (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gestecktes Ziel erreicht. Der unübersichtliche Wust des NEN]: Ach! Hängen Sie das einmal ein biss- deutschen Waffenrechts wird nur bedingt geklärt und chen tiefer! Wir sind hier nicht in den USA, zum Teil sogar unsinniger und unübersichtlicher. Herr Kollege Wolff!) So stellt sich mir schon die Frage, ob es sachlich wirk- Ich muss Ihnen sagen, es wundert mich nicht, dass dieser lich erforderlich ist, die bislang vorgesehene Kontrolle bei Respekt bei der SPD an der Stelle fehlt. Es freut mich der Verbringung von Schusswaffen ins Ausland nun zu aber, dass es bei der Union gewisse Einsichten gibt. Al- verdoppeln. Bringt es wirklich einen Sicherheitsgewinn, lerdings würde ich mich freuen, wenn etwas mehr Frei- wenn sich zwei Behörden damit beschäftigen? heit zugelassen werden würde. (Dr. Peter Danckert [SPD]: Natürlich! Zwei (Beifall bei der FDP – Wolfgang Wieland sind mehr als eine!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Freie Bürger, freies Waffenführen! Freies Schussfeld für Das Gleiche gilt für die neuen Buchführungs- Wolff!) pflichten. Es ist geradezu possierlich, wie hübsch die Herr Wieland, ich will es ganz deutlich sagen: Die Ministerialbeamten im Gesetzentwurf jeden einzelnen FDP ist bereit, ernsthaft über dieses Thema zu reden, bürokratischen Zusatzaufwand auf eine vermeintlich un- wenn es darum geht, die Sicherheit der Bürgerinnen und bedeutende Größe heruntergerechnet haben. Tatsächlich Bürger zu gewährleisten und zu verbessern. ist hiermit aber eine zusätzliche Belastung für die knapp kalkulierende mittelständische Wirtschaft verbunden. ( [SPD]: Dann fangen Sie Ein solcher Umgang mit Händlern und Herstellern am doch mal damit an!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14509

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (A) Waffengewalt muss wirksam bekämpft werden, restriktiv – das ist richtig – den Umgang mit Waffen wie (C) Messern und Schusswaffen sowie mit Munition. Es re- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gelt Erwerb, Aufbewahrung, Handel und Transport von NEN]: Wie denn?) Waffen. Es definiert als verbotene Gegenstände neben aber nicht mit dem Waffenrecht alleine. Schusswaffen zum Beispiel Würgehölzer, Springmesser und Schlagringe. Es verbietet deren Besitz und das In- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE verkehrbringen. GRÜNEN]: Aber damit sollte man mal anfan- gen! Unglaublich!) Die Regelungen des Waffengesetzes werden in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Waffengesetz Die Antwort auf die Kleine Anfrage der FDP-Fraktion näher ausgestaltet. Diese regelt die Ausnahmen und die hat gezeigt, dass nur 2 bis 3 Prozent aller im Zusammen- Vorschriften für den Umgang mit Waffen sowie die Aus- hang mit Straftaten sichergestellten Schusswaffen aus le- gestaltung von Schießstätten. In ihr ist auch die Abgren- galem Besitz stammen. Angesichts der Tatsache, dass zung von erlaubnisfreien und erlaubnispflichtigen 97 oder 98 Prozent der Schusswaffenstraftaten bereits Schusswaffen durch – unter anderem – die maximale am Waffengesetz vorbei begangen werden, ist das He- Schussenergie definiert. Nach dem Waffengesetz kann rumdoktern am Waffengesetz nicht unbedingt eine wirk- auch eine Spielzeugwaffe, zum Beispiel eine Softair- same Variante, sondern purer Aktionismus. Waffe, mit der man Kunststoffkügelchen verschießt, eine (Beifall bei der FDP – Widerspruch des Abg. Schusswaffe sein. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]) Immer wieder werden Forderungen nach einer Ver- schärfung dieses Waffenrechts laut, auch in der aktuellen Lieber Herr Wieland, Problemlösungen im Bereich Debatte. Ich finde schon, dass man die Vorschläge auf der Kriminalität müssen deshalb nicht primär das Waf- ihre Praktikabilität hin untersuchen muss und dass man fenrecht, sondern insbesondere den Zusammenhang von sich fragen muss, ob sie zu mehr Sicherheit für die Be- Straftat und Strafe sowie den Täter ins Blickfeld nehmen völkerung führen. Allerdings muss hinter dem Sicher- und auch den Bereich der Kriminalprävention – schüt- heitsbedürfnis – Herr Wolff, auch diesen Punkt muss teln Sie doch nicht den Kopf! – umfassen; denn die Kri- man erwähnen – das Interesse der Unternehmen bei der minalprävention ist an der Stelle einer der wesentlichen Herstellung von Waffen zurückstehen. Punkte. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch eine Selbstverständ- GRÜNEN) (B) lichkeit!) (D) Was tun wir in dem vorliegenden Entwurf? Wir über- Dazu haben wir noch keine Vorschläge gehört. nehmen die Regelungen des VN-Schusswaffenproto- (Beifall bei der FDP – Klaus Uwe Benneter kolls und setzen die EU-Waffenrichtlinie in nationales [SPD]: Diese Rede simsen wir original in den Recht um. In § 24 des Waffengesetzes wird die vorge- Hamburger Wahlkampf!) schriebene Art der Kennzeichnung von Waffen erwei- tert, um Rückverfolgung und Herkunft der Waffen inter- Die FDP wird bei diesem Gesetzesvorhaben die wei- national zu erleichtern. Das ist eine wichtige Hilfe zur teren Beratungen sehr genau verfolgen und beobachten, Aufklärung von Straftaten. Ich möchte noch einmal da- welche Änderungsvorhaben wirklich der Sicherheit und rauf hinweisen, dass es eine Ausnahmeregelung für der Klarstellung dienen Sammlerwaffen geben wird. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Hoffent- NEN]: Die FDP als Lobby der Waffensamm- lich! – Gegenruf des Abg. Reinhard Grindel ler!) [CDU/CSU]: Keine Sorge!) und welche insbesondere zur Vereinfachung beitragen. Waffen dürfen künftig nur noch ins EU-Ausland ver- Vielen Dank. bracht werden, wenn zum einen eine Ausfuhrerlaubnis (Beifall bei der FDP – Silke Stokar von und zum anderen eine Einfuhrgenehmigung des Emp- Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das fängerstaates vorliegen. war ein Schuss daneben, ohne Schalldämpfer!) Wir werden das Waffenrecht um ein Verbot zum Füh- ren von Anscheinswaffen ergänzen. Darunter fallen ne- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ben Kriegswaffennachbildungen auch Kurzwaffen. An- Das Wort hat die Kollegin Gabriele Fograscher von scheinswaffen sind nahezu echt aussehende Imitate von der SPD-Fraktion. echten Waffen. Von ihnen geht ein beträchtliches Droh- und Gefährdungspotenzial aus, weil selbst die Polizei im (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ernstfall nicht erkennen kann, ob es sich um ein Imitat oder eine echte Waffe handelt. Wir werden das Führen Gabriele Fograscher (SPD): von Anscheinswaffen in der Öffentlichkeit verbieten. Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Auflage, nach der diese Waffen nur noch in einem Das geltende Waffenrecht regelt detailliert und sehr verschlossenen Behältnis transportiert werden dürfen, 14510 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Gabriele Fograscher (A) soll ein deutliches Signal setzen: Diese Waffen haben im Bei den anstehenden Beratungen werden wir auch die (C) öffentlichen Raum nichts zu suchen. Berliner Initiative nochmals ernsthaft prüfen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ob das Führen von Anscheinswaffen in der Öffentlich- NEN]: Das ist sehr gut!) keit zusätzlich bußgeldbewehrt werden kann, wird im und versuchen, praktikable Lösungen zu finden. In der BMJ derzeit noch geprüft. Berliner Initiative geht es darum, Messer, die eigentlich Auch wenn das Verbot des Erwerbs und des Handels Kampfmesser oder Militärmesser sind, als Waffen zu de- mit diesen Waffenimitaten wünschenswert wäre, muss finieren und somit dem Waffenrecht zu unterwerfen. man hier die Frage nach der Verhältnismäßigkeit und der (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vereinbarkeit mit EU-Recht stellen. Erst wenn sich NEN]: Ja! Längst überfällig!) zeigt, dass sich der jetzige Regelungsvorschlag in der Praxis nicht bewährt, muss man über weitere Schritte Wir wollen natürlich nicht, dass für Angler, Taucher, Jä- nachdenken. ger und andere die Ausübung ihres Hobbys unmöglich wird. Gefährliche Messer, die ursprünglich aus dem mi- Ein weiterer Punkt, den wir nach Auslaufen der Über- litärischen Bereich kommen, haben aber im öffentlichen gangsregelung im jetzigen Gesetz regeln wollen, ist das Raum unserer Städte und Gemeinden nichts zu suchen. sogenannte Erbenprivileg. Kann der Erbe einer Schuss- waffe ein Bedürfnis nachweisen, ist er zuverlässig und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ persönlich geeignet, so wird diese Waffe entsprechend DIE GRÜNEN) jeder käuflich erworbenen behandelt. Kann der Erbe das Bedürfnis nicht nachweisen, muss er dafür sorgen, dass Ich kann für meine Fraktion sagen, dass wir die Berli- die Waffe schussunfähig gemacht wird. Dazu wird die ner Initiative zum Messerverbot genau prüfen werden. Waffe in Zukunft nicht unumkehrbar zerstört werden (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das ist müssen, sondern mithilfe eines Blockiersystems, das in- doch totaler Blödsinn! Was ist denn mit Kü- zwischen von der Industrie entwickelt wurde, schussun- chenmessern?) fähig gemacht. Damit wird die Waffe nicht zerstört, ihr Wert bleibt erhalten. Für etwa 80 Prozent aller Waffen Die vorgeschlagenen Lösungen und die Definition nach gibt es inzwischen diese Blockiersysteme. Für Waffen, Klingenlänge und -form bringen allerdings enorme Pro- für die es noch keine technische Lösung gibt, kann eine bleme bei der Abgrenzung von Alltagsgegenständen mit Ausnahmegenehmigung beantragt werden. Ich denke, sich. Wir versuchen, eine Formulierung und Definition dass wir damit eine praktikable und dem Sicherheitsbe- zu finden, die die gefährlichen Messer umfasst und (B) (D) dürfnis der Bevölkerung angemessene Regelung gefun- durch die sich das Führen dieser in der Öffentlichkeit den haben. verbieten lässt. Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zum Ge- Ich freue mich auf konstruktive Beratungen im Aus- setzentwurf gefordert, dass mit der gelben Waffenbesitz- schuss und auf die Erkenntnisse durch die Anhörung, die karte keine verbandsfremden Waffen mehr erworben wir noch durchführen werden. werden dürfen. Dieser Empfehlung werden wir nicht fol- gen. Sie würde unserer Ansicht nach die gelbe Waffen- Herzlichen Dank. besitzkarte ad absurdum führen. Es bleibt dabei: Sport- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schützen können maximal zwei Waffen pro Halbjahr der CDU/CSU) erwerben, wenn sie Mitglied in einem anerkannten Ver- band sind, seit mindestens zwölf Monaten aktiv sind und die persönlichen Voraussetzungen erfüllen. Die Waffen- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: behörde kann bei Auffälligkeiten, insbesondere bei An- Das Wort hat die Kollegin Petra Pau von der Fraktion haltspunkten für bloßes Waffenhorten, intervenieren. Die Linke. Fazit: Deutschland hat – und wird das auch in Zu- (Beifall bei der LINKEN) kunft haben – eines der strengsten und restriktivsten Waffengesetze weltweit, und das ist richtig und gut so. Petra Pau (DIE LINKE): Legale Waffenbesitzer wie Schützen, Jäger und Sammler Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In gehen verantwortungsvoll und zuverlässig mit ihren dieser Debatte geht es um zwei Anträge. Beide betreffen Waffen um. Die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatis- das Waffenrecht. Durch den ersten, den sogenannten tik und des Periodischen Sicherheitsberichts zeigen, dass Berliner Entwurf, sollen Messer, Hieb-, Stich- und Stoß- legal erworbene Waffen und Sammlerwaffen eine unbe- waffen klassifiziert werden, die bisher nicht als Waffen deutende Deliktsrelevanz haben. Sorgen machen uns die galten. Mit dem zweiten soll EU-Recht ins Binnenrecht illegalen Waffen, deren Dunkelziffer extrem hoch ist und übernommen werden. Die Linke steht beiden Anträgen die sich vorwiegend in Händen von Kriminellen befin- grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber. Ein schärferes den. Dieses Problem kann ein noch so scharfes Waffen- Waffenrecht ist zwar kein Garant für weniger Gewalt, recht nicht lösen. aber ein lockeres Waffenrecht leistet mehr Gewalt Vor- (Dr. Peter Danckert [SPD]: Das stimmt lei- schub. Das kann niemand wollen. Die Linke will es je- der!) denfalls nicht. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14511

Petra Pau (A) (Beifall bei der LINKEN – Hartfrid Wolff der in der Politik noch im Alltag etwas zu suchen. Ge- (C) [Rems-Murr] [FDP]: Ach! Das ist doch Blöd- walt ist zu ächten. Deshalb ist ein gutes Waffenrecht so sinn!) wichtig. Im Berliner Entwurf gibt es zwei entscheidende Kri- (Beifall bei der LINKEN) terien: Hieb- und Stoßwaffen, Messer und Springmesser müssen erstens eine bestimmte Klingenlänge ausweisen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: und zweitens zugriffsbereit mitgeführt werden. Trifft Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt beides zu, so kann das geächtet werden. Dagegen gibt es hat die Kollegin Silke Stokar von Neuforn vom Bünd- Kritik, zum Beispiel weil auch ein Messer, das einen hal- nis 90/Die Grünen das Wort. ben Zentimeter kürzer ist, als vorgeschlagen wird, zur Waffe werden kann. Andererseits kann man nicht jeden Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE Gegenstand, der zur Waffe taugt, als Waffe einstufen. GRÜNEN): Man müsste sonst sogar das Flaschenbier verbieten. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach den Beim EU-Recht geht es darum, unerlaubten Handel aufgeregten Debatten der vergangenen Tage zum Thema mit Waffen und Munition zu verhindern. Im Visier die- Jugendgewalt habe ich eigentlich erwartet, dass der Bun- ses Vorschlages ist zugleich die grenzüberschreitende or- desinnenminister mit der Reform des Waffenrechts einen ganisierte Kriminalität. Auch bei diesem Ansinnen dürf- überzeugenden Beitrag zur Gewaltprävention vorlegt. ten die Fraktionen nicht grundsätzlich über Kreuz liegen. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das ist Außerdem sollen weitere Waffen verboten werden, der falsche Ansatz!) zum Beispiel sogenannte Anscheinswaffen. Das sind Im Gegenteil, das ist erneut der Beweis: CDU-Innen- Waffen, denen man nicht ansehen kann, ob sie echt und minister reden gerne über innere Sicherheit. Dann, wenn scharf, ob sie Sammelstücke oder Attrappen sind. Einer sie konsequent handeln und real Verantwortung tragen Geisel dürfte es übrigens egal sein, ob eine scharfe oder könnten, handeln sie aber nicht konsequent. eine Scheinwaffe auf sie zielt. Insofern ist das ein ver- nünftiger Vorschlag. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ich habe doch Es gibt noch weitere Punkte, über die ich gern disku- gerade erst beschrieben, dass wir das tun!) tiert hätte, zum Beispiel das Waffenregister. Derzeit ist es Ländersache, Waffen, deren Besitzer oder deren Her- Wir wollen uns nicht daran gewöhnen, dass das griff- kunft zu erfassen. Ausnahmsweise denkt an dieser Stelle bereite Messer in der Tasche zu einem ganz normalen Teil unserer Alltagskultur wird. (B) die Linke – und nur in diesem Zusammenhang – über ein (D) bundesweites Zentralregister nach. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist doch auch nicht so!) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Kann man auch machen!) Wir sagen ganz klar: Das staatliche Gewaltmonopol wird aufgeweicht, wenn der Rechtsstaat vor der zuneh- Es gibt noch weitere Vorschläge. Manche sind so sim- menden Bewaffnung im öffentlichen Raum kapituliert. pel, dass man staunt. Auf dem Markt gibt es ein kleines Deswegen unterstützen wir die Initiative des Berliner In- Sicherheitsschloss. Eingesetzt, verhindert es, dass Unbe- nensenators Körting, der das Mitführen gefährlicher fugte scharfe Waffen nutzen können, etwa Jagdgewehre Messer im öffentlichen Raum verbieten will. Genau oder Sportpistolen. Eine entsprechende Maßnahme oder dazu, Herr Grindel, steht im Gesetzentwurf von Herrn Vorschrift könnte mehr Sicherheit schaffen. Schäuble nichts. Genau dazu, Herr Grindel, haben auch Im Gesetzentwurf gibt es aber auch Formulierungen, Sie nichts gesagt. bei denen ich sage: Achtung und Vorsicht. So soll be- Ich habe sehr wohl zur Kenntnis genommen – das ist straft werden können, wer beim Unterstützen von Vorbe- mein nächster Kritikpunkt –, dass Sie angekündigt ha- reitungshandlungen von Bestrebungen, die auf Gewalt ben, die Regelungen im Bereich der Anscheinswaffen gerichtet sind, ertappt wurde oder dessen verdächtigt verbessern zu wollen. Hier reicht es natürlich nicht aus, wird. Wer diese Aussage von schlichter Schönheit nicht nur Imitate von Kriegswaffen zu berücksichtigen. verstanden hat, braucht sich nicht zu grämen. Das ist ty- (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das sind pisches Rechtskauderwelsch. Aber es zielt darauf, dass mal wieder die Hardliner von den Grünen!) nicht ein Täter bestraft wird, sondern eine mögliche Un- terstützung einer möglichen Vorbereitung von einer – Herr Wolff, Ihnen von der FDP möchte ich sagen: Wir möglichen Bestrebung einer Tat. Ich warne davor, na- sind für Freiheits- und Bürgerrechte. Das Tragen von mens des Waffenrechtes Elemente des politischen Straf- Waffen im öffentlichen Raum ist aber kein Freiheits- und rechts auszuweiten. Es riecht förmlich nach § 129 Straf- Bürgerrecht. gesetzbuch. Er ist ein Fremdkörper und wird obendrein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gern missbraucht; Generalbundesanwältin Harms hat das mehrfach demonstriert. Das, was Sie hier gemacht haben, ist dumpfer Populis- mus. Kurzum: Die Linke wird die Gesetzesvorlage – wie stets – konstruktiv mitberaten und mit eigenen Vorschlä- (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Und was gen bereichern; denn grundsätzlich gilt: Gewalt hat we- machen Sie?) 14512 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Silke Stokar von Neuforn (A) Das war nichts anderes als Lobbyarbeit, Wir wollen nur nicht hinnehmen – in dieser Frage haben (C) wir übrigens den Großteil der Bevölkerung auf unserer (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Völliger Seite –, dass es immer mehr junge Männer für ein selbst- Unsinn!) verständliches Recht halten, mit sehr gefährlichen Mes- und zwar für Waffenhändler und Waffenbesitzer. sern, griffbereit in der Hosentasche, herumzulaufen. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist doch (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: So ein verboten, Frau Stokar!) Quatsch!) Wir können täglich in der Zeitung lesen – ich kenne das Die Zahlen, die Sie genannt haben, sind schon deswegen aus Hannover –, wie häufig es vorkommt, dass Jugendli- falsch, weil ein Großteil der heute illegalen Waffen ein- che das Messer, das sie in der Tasche tragen, ziehen und mal legal erworben worden ist. Sie haben in dieser Frage andere Jugendliche damit verletzen, bis hin zur Todes- null Problembewusstsein. Sie sind ein Lobbyist für die folge. Waffenindustrie und sonst gar nichts. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Alles verbo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tene Waffen!) sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]) Für dieses reale Problem bieten Sie keine Lösung an. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Werden Meine Damen und Herren, ich möchte noch auf das Sie wieder sachlich!) Hamburger Beispiel der Reeperbahn eingehen, weil es sehr deutlich zeigt, wie wenig es bringt, wenn wir nur bestimmte Räume als waffenfreie Zonen definieren. Die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zahl der Messerattacken in ist dadurch nicht Kommen Sie bitte zum Schluss. zurückgegangen; denn schwere Körperverletzungen mit dem Instrument Messer finden überall im öffentlichen Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE Raum statt: in der U-Bahn, in der Straßenbahn, vor Dis- GRÜNEN): kotheken, vor Schulen und auf den Straßen. Das ge- Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Ich habe schieht nicht nur auf der Reeperbahn. zur Kenntnis genommen, dass die Koalitionsfraktionen beim Gesetzentwurf des Ministers erheblichen Verbesse- Ich finde es absolut absurd – in dieser Diskussion rungsbedarf sehen. Wir werden uns konstruktiv an den macht sich der Staat einfach lächerlich –, wenn die Poli- weiteren Beratungen beteiligen. Wir sind der Auffas- zei auf der Reeperbahn Waffen einzieht und der Ham- sung, dass wir eine Anhörung brauchen, weil die Kom- (B) burger Senat dafür sorgt, dass genau diese Waffen we- petenz der Großen Koalition hier ganz offensichtlich (D) nige Tage später bei der öffentlichen Onlineauktion des nicht ausreichend ist. Zolls, einer staatlichen Einrichtung, zu Dumpingpreisen (Lachen des Abg. Hartfrid Wolff [Rems-Murr] wieder auf den Markt gebracht werden. Ich frage mich, [FDP]) ob die CDU-geführte Regierung in Hamburg wirklich so sehr am Ende ist, dass sie ihren Haushalt in Ordnung Danke schön. bringen muss, indem sie als öffentlicher Waffenhändler (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auftritt. Angesichts dieser Beweise aus dem Umkreis der Union stelle ich fest: So kann man mit den Themen Ju- gendgewalt, Bewaffnung und innere Sicherheit nicht Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: umgehen. Ich schließe die Aussprache. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf SES 90/DIE GRÜNEN – Hartfrid Wolff Drucksache 16/7717 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- [Rems-Murr] [FDP]: Blanker Populismus!) verstanden? – Das scheint der Fall zu sein. Dann ist die – Ich will Ihnen einmal ganz deutlich sagen: Wer den Überweisung so beschlossen. Berliner Ansatz bzw. unseren Ansatz verfolgt, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Ein Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- populistischer Ansatz ist das!) richts des Ausschusses für Gesundheit (14. Aus- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Frank der will selbstverständlich nicht – dass Sie das dennoch Spieth, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, weiterer behaupten, gehört zu Ihrem Populismus – einem Pfad- Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE finder sein Taschenmesser wegnehmen. Wiedereinführung der vollständigen Zuzah- (Lachen des Abg. Hartfrid Wolff [Rems-Murr] lungsbefreiungen für Versicherte mit gerin- [FDP]) gem Einkommen im Wege der Härtefallrege- Wir wollen auch Anglern, Campern und Jägern nicht lung ihre Messer wegnehmen. – Drucksachen 16/6033, 16/7435 – (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das tun Berichterstattung: Sie aber!) Abgeordnete Dr. Carola Reimann Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14513

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die werden. Ergebnis ist, dass sowohl die Zahl der Praxis- (C) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi- kontakte allgemein als auch die Zahl der Facharztbesu- derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be- che ohne Überweisung zurückgegangen sind – meines schlossen. Erachtens nicht unbedingt zum Schaden der Menschen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Mit der Gesundheitsreform ist außerdem der Leis- ner dem Kollegen Christian Kleiminger von der SPD- tungskatalog der Kassen erweitert worden. Kinder sind Fraktion das Wort. weiter komplett von den Zuzahlungen ausgenommen. Alle Versicherten haben einen Anspruch auf kostenlose (Beifall bei der SPD) Früherkennungsmaßnahmen und Vorsorgeuntersuchun- gen. All das gehört auch zur Wahrheit. Vor allem aber Christian Kleiminger (SPD): – hier sehe ich wirklich noch einen großen Handlungs- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In bedarf – gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten, die einem sollten wir uns einig sein, nämlich dass für Kosten für die Gesundheitsvorsorge auch durch eigenes Kranke und Menschen mit niedrigem Einkommen keine Verhalten zu mindern. Zutrittsbarrieren zu notwendiger medizinischer Versor- gung errichtet werden dürfen. Mit dem AVWG ist es möglich geworden, rezept- pflichtige Medikamente zuzahlungsfrei zu erhalten. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Werden sie Auch das Hausarztmodell ist ein gutes Instrument. Seit auch nicht!) April letzten Jahres ist jede Kasse dazu verpflichtet, ih- ren Versicherten diesen Tarif anzubieten. Ich weiß aus In Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen der meinen Gesprächen im Wahlkreis in Rostock auch, dass Linken, behaupten Sie aber, dass ein Zusammenhang be- bei vielen, die eigentlich Aufklärung betreiben müssten, stehe zwischen den Zuzahlungen einerseits und dem Ge- in diesem Punkt noch große Defizite herrschen. Das sundheitszustand der sozial Schwächsten in unserer führt dazu, dass immer noch zu wenige Menschen solche Gesellschaft andererseits. Unbestritten gibt es eine Rela- Möglichkeiten nutzen und eigenverantwortlich für ihre tion zwischen Armut und Krankheit. Arbeitslosigkeit, Gesundheit vorsorgen. Hier stehen insbesondere die schwierige Wohnsituationen, niedriges Bildungsniveau, Ärzte, die Krankenkassen und die Apotheker in der Ver- all das sind Ursachen dafür. Darum versuchen wir ja, antwortung, diese Angebote anzusprechen, die Ver- eine Politik zu machen, die genau an diesen Stellen an- sicherten zu informieren und sie vollständig aufzuklären. setzt, auch durch Prävention und Information; darauf komme ich noch zurück. Im Hinblick auf Ihren Antrag Erlauben Sie mir schließlich noch eine Bemerkung: stellt sich jedoch eine andere Frage, nämlich: Inwieweit Es fällt natürlich auf, dass Sie sich in Ihrem Antrag in (B) besteht der von Ihnen behauptete Zusammenhang zwi- keiner Form zur Finanzierung Ihres Vorschlags sowie zu (D) schen einer Zuzahlungsbefreiung und dem Gesundheits- den entstehenden Folgekosten äußern. zustand der Betroffenen? Trägt das, was Sie fordern, wirklich dazu bei, dass es für Benachteiligte im Gesund- (Jens Spahn [CDU/CSU]: Wie wahr! Wie im- heitswesen mehr soziale Gerechtigkeit gibt? mer! – Klaus Uwe Benneter [SPD]: Wer sollte denen denn dabei helfen? Von alleine kommen Zu diesem Themenfeld gibt es noch nicht besonders sie doch nicht darauf!) viele aussagekräftige Untersuchungen. Auch der Ge- sundheitsmonitor lässt keine belastbaren Schlüsse zu, ob Das hätte ich schon erwartet, wenn Sie mehr Menschen der Rückgang der Zahl der Arztkontakte mit der Vermei- die Zuzahlungen ersparen möchten. Eines will ich noch dung wichtiger oder unwichtiger Arztbesuche zu erklä- hinzufügen: Während wir hier über eine Zuzahlungsbe- ren ist. Man weiß nicht sicher, ob relevante Untersu- freiung diskutieren, hören wir in diesen Tagen Rufe aus chungen vermieden worden sind oder nur sogenannte dem Süden der Republik, mit denen sogar noch höhere Bagatelluntersuchungen. Daher halte ich es für wichtig, Zuzahlungen gefordert werden. Dem treten wir – das hierzu vermehrt Analysen durchzuführen. sollte klar sein – genauso entschieden wie Ihrem Antrag entgegen. Erinnern wir uns: Der Ausgangspunkt für die Einfüh- rung von Zuzahlungen seinerzeit war doch, wie wir alle (Beifall bei der SPD) wissen, die Erkenntnis, dass häufigere Arztbesuche nicht Wenn wir in Zukunft die notwendige medizinische in jedem Fall gesünder machen, dass man nicht bei je- Versorgung für alle gewährleisten wollen, dann müssen dem Husten gleich einen Doktor braucht. Dennoch wer- wir dafür sorgen, dass sich auch alle nach ihrer jeweili- den die Ärzte hierzulande häufiger aufgesucht als in vie- gen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit an den Kosten len anderen europäischen Ländern. Bei der Einführung des Systems beteiligen. der Regelung standen daher die Steuerungswirkungen im Vordergrund. Das mag sehr technisch klingen; doch (Beifall bei der SPD) die Absicht ist einfach: Die Versicherten – alle Ver- sicherten – sollten ein stärkeres Kostenbewusstsein ent- Zu einer solidarischen Gesellschaft gehört umgekehrt wickeln und von medizinischen Leistungen dem indi- auch, dass Benachteiligte gestützt werden. Das müssen viduellen Bedarf entsprechend Gebrauch machen. sie. Hören Sie einmal kurz zu: Meiner Meinung nach müssen wir das auch in unsere Überlegungen im Rah- Nehmen wir das Beispiel Praxisgebühr: Mit ihrer men der Diskussion über eine Anhebung des Regelsatzes Hilfe sollte die Lotsenfunktion der Hausärzte gestärkt beim AGL II einfließen lassen. 14514 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Christian Kleiminger (A) Statt über weitere Zuzahlungsbefreiungen zu diskutie- Die Wiedereinführung der alten Härtefallregelung, (C) ren, sollten wir uns lieber überlegen, wie wir im Bereich die Menschen, die von Sozialhilfe leben, von der der Prävention auch Menschen mit niedrigem Einkom- Zuzahlung befreit hat, ist ebenfalls unumgänglich. men oder mit Migrationshintergrund erreichen. Es ist ungerecht, dass Sozialhilfeempfänger von dem Betrag, den sie zur Sicherung ihres Existenz- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten minimums benötigen, ebenfalls zuzahlen müssen. der CDU/CSU) Die Obergrenze von 71 Euro bzw. 35,50 Euro bei Wir brauchen dringend mehr niedrigschwellige Ange- chronisch Kranken mögen für einen Durchschnitts- bote und breitere Informationen darüber. Es geht darum, verdiener gering erscheinen. Für einen pflegebe- die Menschen zu erreichen, die keine Infobroschüren le- dürftigen alten Menschen im Heim, der das aus sei- sen und keine Infonummern wählen; nem „Bargeldbetrag zur freien Verfügung“, also (Elke Ferner [SPD]: Wohl wahr!) seinem Taschengeld, bezahlen muss, sind sie es nicht. denn der soziale Status darf – da stimmen wir Ihnen ja zu – nicht der entscheidende Negativfaktor für den Gesund- Meine Damen und Herren, mit dieser Einschätzung heitszustand sein. haben sich die Gemeinsamkeiten mit der Linksfraktion dann aber auch erschöpft. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Zuruf von der CDU/CSU: Na, immerhin!) Deshalb sollen gerade durch das Präventionsgesetz, Der in der Begründung des Antrags der Linken zum das wir vorbereiten, in dieser Hinsicht neue Wege geeb- Ausdruck kommende Tenor, dass Zuzahlungen grund- net werden; sätzlich mit großen Problemen behaftet sind, kann so (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nicht überzeugen. denn durch Prävention wird die Gesundheit geschützt. (Beifall bei der FDP) Diese vierte Säule im Gesundheitsweisen muss gestärkt werden. Meines Erachtens werden auf diese Weise die Zuzahlungen sind eine Form der Eigenbeteiligung, existierenden Unterschiede im Gesundheitsbereich viel und Eigenbeteiligungen sind im Gegenteil vom Grund- stärker abgebaut. So schaffen wir besser als mit einer satz her durchaus ein gutes Instrument, um Menschen kurzfristigen Zuzahlungsbefreiung nachhaltig soziale dazu zu bewegen, darüber nachzudenken, ob und in wel- Gerechtigkeit. chem Umfang Gesundheitsleistungen – sprich: auch Ver- (B) sicherungs- bzw. Kassenleistungen – in Anspruch ge- (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nommen werden müssen oder sollen. Sie sind also auch der CDU/CSU) eine Maßnahme, um das Kostenbewusstsein bei den Ver- sicherten zu schärfen und die Finanzmittel im Gesund- Vizepräsident Dr. h. c. : heitssystem möglichst zielgenau und bedarfsgerecht ein- Das Wort hat nun Kollege Heinz Lanfermann, FDP- zusetzen. Fraktion. Sie sind auch nicht per se belastend oder gar unsozial; (Beifall bei der FDP) denn durch den Einsatz des Mittels der Zuzahlung oder der Eigenbeteiligung ist der Beitrag der gesetzlich kran- Heinz Lanfermann (FDP): kenversicherten Bürger geringer, als er es ohne dieses Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Instrument wäre. Das Geld wird ja nur einmal ausgege- Damen und Herren! Wir sprechen heute über die zum ben und auch nur einmal bezahlt. 1. Januar 2004 entfallene Zuzahlungsbefreiung für Här- tefälle, wie sie in den §§ 61 und 62 des SGB V in der bis Wenn die Linksfraktion nun in ihrer Antragsbegrün- zum 31. Dezember 2003 geltenden Fassung vorgesehen dung fordert, man müsse, statt das Instrument der Zuzah- war. lung zu wählen, auf eine Steuerung staatlicherseits set- zen, ist dies nur der Wunsch nach noch mehr Eines gleich vorweg: Die FDP teilt dieses spezielle Staatsmedizin, als uns die Gesundheitsministerin Anliegen, für GKV-Versicherte mit geringem Einkom- Schmidt – zunächst unter rot-grüner Flagge und jetzt so- men wieder eine Härtefallregelung in das SGB V aufzu- gar mit zwar widerwilliger, aber doch realer Unterstüt- nehmen, um zu verhindern, dass eine notwendige medi- zung der Unionsfraktion – beschert hat. zinische Versorgung wegen nicht aufbringbarer Zuzahlungen unterbleibt. Diese Politik der Rationierung und Regulierung, die (Zuruf der Abg. Elke Ferner [SPD]) die Menschen und ihre Bedürfnisse längst aus den Au- gen verloren hat und lediglich bemüht ist, Löcher zu Das haben wir übrigens – auch wenn Sie das viel- stopfen und Gelder in einem immer dirigistischeren Sys- leicht erstaunt, Frau Kollegin Ferner – im Jahr 2004 mit tem durch immer kompliziertere Einzelfallregelungen unserem Antrag vom 14. Januar, Drucksache 15/2351, umzuverteilen, ist längst gescheitert. deutlich gemacht, der die Abschaffung der Praxisgebüh- ren forderte und sich auch mit der Arzneimittelzuzah- (Elke Ferner [SPD]: Was Sie da erzählen, lung befasste. In diesem Antrag hieß es wörtlich: glauben Sie doch selber nicht!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14515

Heinz Lanfermann (A) In dem angerichteten Trümmerhaufen ist die Zuzahlungs- schnittsösterreicher oder der Durchschnittsniederländer. (C) befreiung für besondere Härtefälle nur ein weiterer unan- Dass er deswegen aber doppelt so gesund wäre, ist bis- sehnlicher Stein. her nicht festzustellen gewesen; eher das Gegenteil. Des- halb war unser Ziel, dafür zu sorgen, dass in der Zukunft (Zuruf von der FDP: Genau!) unnötige Arztbesuche möglichst vermieden werden. Der deutsche Arzneimittelmarkt ist ohnehin hochgra- Die zweite Bemerkung zu dem, was Sie in Ihrem An- dig überreguliert. Arzneimittelrichtlinien, gesetzlicher trag formulieren: Eine 1- bzw. 2-prozentige Maximalzu- Ausschluss von Arzneimitteln, Festbeträge für Arznei- zahlung vom Einkommen ist als Regelung schon per mittel und Nutzenbewertung sind nur einige Stichwörter definitionem sozial verträglich. Denn wer ein geringes für die Regulierungswut. Preisfindung geschieht real Einkommen hat und wenig hat, muss am Ende, weil schon längst nicht mehr am Markt, sondern auf den 1 Prozent oder 2 Prozent von wenig ebenfalls wenig ist, Schreibtischen des Gesundheitsministeriums. auch nur wenig Zuzahlungen leisten, während derjenige, Diese Regelungen durchschaut kein Mensch mehr der ein höheres Einkommen hat, an der Stelle erheblich wirklich. Sie bauen Ihre Politik ja auch darauf auf, dass höhere Zuzahlungen leisten muss. die Menschen das nicht mehr verstehen und Sie ihnen (Frank Spieth [DIE LINKE]: Das ist das, was suggerieren, es sei besonders sozial. Sie von der Mengenlehre verstanden haben, Der Versicherte, der im Mittelpunkt allen Wirkens ja?) stehen sollte, ist dabei längst aus dem Blick geraten. Von daher ist diese Regelung in sich sozial verträglich. Gerade deshalb wäre eine Diskussion darüber, ob das Im Übrigen ist sie mit Ausnahmen für Kinder versehen, angestrebte Ziel einer wirtschaftlich verantwortlichen die keine Zuzahlungen zu leisten haben, darüber hinaus Arzneimittelversorgung nicht auch anders, nämlich ohne – das ist wichtig; das ist nämlich in der Öffentlichkeit die vielen regulatorischen Mittel, besser zu erreichen ist, noch nicht überall angekommen – mit Ausnahmen für so wichtig. Diese Debatte führt zumindest die Bundesre- Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen. Von daher gierung jedoch nicht. läuft der Vorwurf, den Sie in Ihrem Antrag machen und mit dem Sie ihn begründen, ins Leere. Meine Damen und Herren, ich darf zusammenfassen: Da wir zwar einerseits der Forderung auf Wiedereinfüh- Nichtsdestotrotz müssen wir uns natürlich immer rung der Zuzahlungsbefreiung für Härtefälle zustimmen wieder fragen, ob das, was wir mit der Zuzahlungsrege- könnten, Sie aber andererseits Ihren Antrag mit einer lung erreichen wollten, tatsächlich erreicht wird. Im Zu- Reihe von falschen Thesen untermauert haben, ist es nur sammenhang mit der Praxisgebühr kann ich mich daran erinnern, dass ich einmal am zweiten Tag eines Quartals (B) folgerichtig, dass sich meine Fraktion enthalten wird. (D) beim Arzt war, wo ich am Tresen gefragt wurde, ob ich Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. schon einmal die Überweisungen für den Hautarzt, den (Beifall bei der FDP) Augenarzt und diverse andere Ärzte mitnehmen wolle. Als ich sagte, ich hätte eigentlich gar nicht vor, diese Ärzte anschließend aufzusuchen, sagte man mir, es sei Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: üblich, am Anfang des Quartals schon einmal die ganzen Ich erteile das Wort nun Kollegen Jens Spahn, CDU/ Überweisungen mitzugeben, damit das für jeden erledigt CSU-Fraktion. sei. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Insofern muss man da genau schauen, ob die Steue- rungswirkung, die wir wollen, tatsächlich erreicht wird. Jens Spahn (CDU/CSU): Dennoch ist das Ziel richtig, ein Bewusstsein für die Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Kosten des Systems zu schaffen und eine Beteiligung möchte zum vorliegenden Antrag der Linken drei kurze entsprechend dem Einkommen vorzusehen. Bemerkungen machen: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Erstens. Zuzahlungen sind kein Selbstzweck, sondern Drittens. Der Antrag steht in einer bestimmten Tradi- als Steuerungsinstrument gedacht. Sie sollen signalisie- tion von Anträgen, die Sie als Linkspartei regelmäßig zu ren: Gesundheit ist etwas wert. Ebenso ist die Dienstleis- den unterschiedlichsten Themen stellen. Einmal mehr tung, die in dieser Republik 24 Stunden am Tag, sieben sagen Sie im Grunde nichts zur Deckung der Kosten und Tage in der Woche, 365 Tage im Jahr flächendeckend, der Ausfälle, die damit verbunden wären. Es geht um bis in den letzten Winkel, zur Verfügung steht, etwas etwa 500 Millionen Euro. Das sind 0,05 Beitragssatz- wert. Auch sozial Schwache und chronisch Kranke sol- punkte. Das ist bemerkenswert angesichts der Tatsache, len und müssen verantwortungsbewusst mit diesen Res- dass die Opposition uns im Anschluss an diese Debatte sourcen umgehen. noch eine Debatte aufdrücken will aus Sorge um ver- Deswegen ist es von Anfang an Ziel dieser Zuzah- meintliche oder tatsächliche Beitragssatzsteigerungen. lungsregelung gewesen, dazu zu animieren, zu überle- Diese 0,05 Beitragssatzpunkte schlagen Sie hier vor, gen, etwa vor dem Hintergrund der Praxisgebühr, ob es ohne mit einem Satz zu erwähnen, wie das anschließend tatsächlich notwendig ist, den Arzt aufzusuchen. Der finanziert werden soll. Von daher fällt dieser Antrag in Durchschnittsdeutsche sucht etwa doppelt so oft einen die übliche Liste der Wünsch-dir-was-Anträge der Arzt auf wie der Durchschnittsfranzose, der Durch- Linkspartei. Sie mögen zwar populär und populistisch 14516 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Jens Spahn (A) sein, aber sie sind nicht fundiert; sie betrachten nicht die Zuzahlungen zu Arznei- und Heilmitteln und zum Kran- (C) Realität und schon gar nicht unsere Zielsetzung. Deswe- kenhausbesuch befreit. Darum geht es bei dieser Härte- gen ist der Antrag von uns abzulehnen. fallregelung im Kern. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. (Beifall bei der LINKEN) Elke Ferner [SPD]) Das haben Sie bei gleichzeitigen deutlichen Erhöhungen der Zuzahlungen Ende 2003 abgeschafft. Das halte ich Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: nach wie vor für einen sozialen Skandal. Nun hat Kollege Frank Spieth, Fraktion Die Linke, das Wort. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Wir wollen aber mit dieser Regelung nicht nur Men- schen mit geringem Einkommen schützen. Wir wollen Frank Spieth (DIE LINKE): auch Bezieher von Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe, So- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe zialgeld, Grundsicherung und Ausbildungsförderung Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich einige Anmerkun- nach BAföG oder SGB II, deren Einkünfte unterhalb der gen zu den einzelnen Beiträgen mache, noch einmal zum Einkommensgrenze liegen, von Zuzahlungen befreien, grundsätzlichen Anliegen dieses Antrags. Der „Links- wie es bis zum 31. Dezember 2003 der Fall war. sozialist und Revolutionär“ Norbert Blüm hat in den Vielleicht kann mir jemand erklären, was das, was da- 90er-Jahren die Zuzahlungen in der gesetzlichen Kran- mals von Schwarz-Gelb eingeführt und von Rot-Grün kenversicherung eingeführt. Er hat damals festgestellt, gemeinsam mit den Konservativen in diesem Hause ab- dass aus sozialer Rücksicht auf Menschen mit geringem geschafft wurde, mit Populismus zu tun hat. Es geht nur Einkommen eine Härtefallregelung notwendig sei, damit darum, den Zustand der schreienden sozialen Ungerech- diese Menschen vor Überforderung bei Zuzahlungen ge- tigkeit in diesem Land endlich aufzulösen. schützt würden. Lassen Sie mich abschließend das Beispiel einer (Dr. [DIE LINKE]: Norbert Gruppe von chronisch Kranken aus Sonneberg im südli- Blüm hat recht!) chen Thüringen anführen, die in einem Brief klipp und Er ist ein wackerer Christdemokrat. klar feststellen: Am härtesten treffen die Zuzahlungsre- gelungen immer die chronisch Kranken. Denn deren Die Sozialdemokratische Partei hat durch ihre dama- Ausgaben im Gesundheitswesen nehmen inzwischen er- ligen Vertreter gegen die Härtefallregelung argumentiert, hebliche Ausmaße an, sei es durch die Erhöhung der (B) und zwar mit der Begründung, dass sie gar keine Zuzah- Krankenkassenbeiträge, die Zuzahlung zu Medikamen- (D) lungen wolle. 15 Jahre später wird Ihre Einstellung deut- ten, medizinischen Hilfsmitteln, Brillen, Zahnersatz und lich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD: Was psycho- und physiotherapeutischen Maßnahmen, die Be- schert mich mein Geschwätz von gestern? Was interes- nachteiligung der gesetzlich Versicherten gegenüber pri- siert uns das, was wir als Partei der sozialen Gerechtig- vat Versicherten und vieles andere mehr. keit in Wahlkämpfen versprechen? In der Praxis wird dann genau das Gegenteil gemacht, leider weitgehend (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: In der Summe unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Das ist sehr bemer- bleibt es bei 1 Prozent!) kenswert. Sie scheinen die Lebensrealität der Menschen mit ge- (Beifall bei der LINKEN – Elke Ferner [SPD]: ringem Einkommen in diesem Lande nicht mehr im Fo- Sagen Sie doch einmal, wie Sie es finanzieren kus zu haben. Wir brauchen wieder Härtefallregelungen, wollen!) damit Menschen durch Armut und geringe Einkommen nicht von der Gesundheitsversorgung ausgeschlossen Welches Anliegen verfolgen wir mit der Härtefallre- werden. Das ist eine Tatsache. gelung? Damit wollen wir das, was bis zum 31. De- zember 2003 gegolten hat, wieder einführen. Übrigens (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Wer wollten Ihre Fraktion und Ihre Ministerin noch im Jahr schließt sie denn aus? Das ist ja schlimm!) 2003 die Härtefallregelung erhalten; sie wurde dann aber Danke für Ihre Unaufmerksamkeit. auf dem Altar des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes und bei den Nacht- und Nebelabsprachen mit Herrn (Beifall bei der LINKEN) Seehofer, die das Gesetz ermöglichen sollten, geopfert. Das ist die politische Realität. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Mit der Härtefallregelung sollten Menschen mit ge- Ich erteile das Wort Kollegen Harald Terpe, Fraktion ringem Einkommen vor Überforderung geschützt wer- Bündnis 90/Die Grünen. den. Wenn davon die Rede ist, die alte Regelung wieder einzuführen – also Versicherte mit einem Einkommen Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bis zu 40 Prozent der Bezugsgröße wieder von den Zu- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zahlungen zu befreien –, dann bedeutet das in Zahlen: Meine Damen und Herren! Vorab eine persönliche Ein- Wer weniger als 994 Euro Einkommen bezieht – das be- schätzung: Die Frage, ob sich mit Zuzahlungen mehr Ei- trifft die große Masse der Rentnerinnen und Rentner –, genverantwortung und ein verantwortungsbewussterer wäre endlich wieder von Eintrittsgebühren beim Arzt, Umgang mit den Gesundheitsausgaben im erhofften Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14517

Dr. Harald Terpe (A) Maße fördern lässt, lässt sich noch nicht sicher beant- wort darauf lautet nicht, die Regelleistungen isoliert über (C) worten. Ich glaube, darüber sind wir uns einig. Ziel ist das Gesundheitssystem zu finanzieren. Wir fordern eine tatsächlich gewesen, die Eigenverantwortung zu stärken Nachbesserung bei den Regelsätzen. Das heißt, wir wol- und eine Steuerung der Gesundheitskosten einzuführen. len sie anheben. Wir haben dazu schon Anträge einge- Insofern hat sich die Richtung unserer Diskussionen bracht und darüber diskutiert. Ich glaube aber, dass die über die Gesundheitspolitik in den letzten fünf Jahren Koalition die Diskussion über eine Anpassung verwei- verändert. Das muss man zur Kenntnis nehmen. gert und dass manche das Problem noch gar nicht er- kannt haben. Wir haben die Verpflichtung, auf eine möglichst ge- rechte Ausgestaltung der Zuzahlungen zu achten. Hier Wir werden uns bei der Abstimmung über den Antrag gibt es sicherlich offene Fragen, beispielsweise ob nicht der Linken enthalten, weil wir eine gründliche und ziel- die ohnehin durch Krankheit belasteten Patientinnen und orientierte Debatte darüber für notwendig halten, wie Patienten auch die Hauptlast der Zuzahlungen tragen. wir die Gesundheitschancen von Menschen mit geringen Wir müssen darüber diskutieren und uns fragen, ob wir Einkommen und geringen Bildungsabschlüssen verbes- Änderungen vornehmen müssen. Der Antrag der Linken sern können. Dieser Ansatz ist anders als der der FDP. ist aber nicht unbedingt geeignet, auf den aus unserer Sie befürwortet durchaus die Einführung einer Härtefall- Sicht unbestreitbaren Zusammenhang zwischen sozia- regelung, findet aber die Begründung der Linken völlig lem Status und Gesundheit angemessen zu reagieren. Er absurd. Wir hingegen finden einiges in der Begründung, wirft neue Gerechtigkeits- und Diskriminierungsfragen zum Beispiel den Vorschlag, über die Gesundheitschan- auf genauso wie die Frage nach der Finanzierung; darauf cen zu reden, richtig, nicht aber die Härtefallregelung. wurde schon hingewiesen. Man muss konstatieren, dass die Zuzahlungsregelungen nicht nur Nachteile, sondern Wir müssen erstens endlich ein Gesetz für eine wirk- auch Vorteile bringen. Danach müssen sich diejenigen, same Gesundheitsprävention auf den Weg bringen. Wir die chronisch krank sind und über geringe Mittel verfü- müssen zweitens die Regelsätze bedarfsgerecht anpas- gen, nicht vorher einen Schein bei irgendeiner Behörde sen. Wir müssen drittens darüber diskutieren, ob die der- besorgen, um nachzuweisen, dass sie von der Zuzahlung zeit genutzten Anreizinstrumente zur individuellen Steu- befreit sind. erung der Gesundheitsausgaben geeignet sind. Wir sind uns wahrscheinlich weitgehend über die Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und schönes Feststellung einig, dass es einen Zusammenhang von so- Wochenende. zialer Ungleichheit und unterschiedlich verteilten Ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – sundheitschancen gibt. Menschen mit einem schlechte- Zuruf: Nein, noch nicht!) ren sozialen Status sind häufiger und anders krank als (B) (D) Menschen mit hoher Bildung und einem höheren Ein- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: kommen. Darauf hat der Sachverständigenrat hingewie- sen. Das ist auch im Armuts- und Reichtumsbericht der Ich schließe die Aussprache. Bundesregierung an vielen Stellen nachzulesen. Aller- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- dings bleiben nach unserer Meinung zumindest aufseiten schusses für Gesundheit zum Antrag der Fraktion Die der Regierungsbank die nötigen Konsequenzen aus. Die Linke mit dem Titel „Wiedereinführung der vollständi- Koalition ist bislang praktische Antworten auf die Frage, gen Zuzahlungsbefreiungen für Versicherte mit gerin- was sie gegen sozial bedingte Ungleichheiten bei den gem Einkommen im Wege der Härtefallregelung“. Der Gesundheitschancen zu tun gedenkt, schuldig geblieben. Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Ich will das an zwei Beispielen deutlich machen. Ers- Drucksache 16/7435, den Antrag der Fraktion Die Linke tes Beispiel. Wir wissen, dass gut gemachte Gesund- auf Drucksache 16/6033 abzulehnen. heitsförderung und Primärprävention vor allem bei Men- (Zuruf von der LINKEN: Sehr bedauerlich!) schen mit niedrigem sozialen Status ansetzen müssen. Seit Monaten wird in der Koalition ergebnislos über den Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer Entwurf eines Präventionsgesetzes inhaltlich gestritten. stimmt dagegen? – Enthaltungen? Die Beschlussemp- Das ist keine wirksame Präventionspolitik. Ein Präven- fehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD tionsgesetz müsste über Marketingaktionen der Kran- gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthal- kenkassen oder des Bundesgesundheitsministeriums hi- tung der Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und nausgehen. FDP angenommen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf: DIE GRÜNEN) Aktuelle Stunde Das zweite Beispiel ist der Regelsatz für Bezieher auf Verlangen der Fraktion der FDP von ALG II und Sozialhilfe. In den monatlichen Regel- leistungen ist bekanntlich ein Anteil von 4 Prozent für Gesundheitsfonds stoppen – Beitragsautono- Gesundheitsausgaben vorgesehen. Das sind monatlich mie der Krankenkassen bewahren knapp 14 Euro. Man kann sich leicht ausrechnen, dass Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem dies bei einer Bevölkerungsgruppe, die ohnehin durch Kollegen Daniel Bahr, FDP-Fraktion. einen schlechteren Gesundheitszustand gekennzeichnet ist, in vielen Fällen nicht ausreichend ist. Unsere Ant- (Beifall bei der FDP) 14518 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

(A) Daniel Bahr (Münster) (FDP): (Zuruf von der FDP: Planwirtschaft, im Ge- (C) Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- genteil!) gen! Ich erinnere die schwarz-rote Koalition zunächst an Bisher entscheiden die Krankenkassen im Rahmen eines das, was sie sich selbst für diese Legislaturperiode vor- zaghaften Wettbewerbs, wie hoch ihr Beitragssatz ist. genommen hat. Im Koalitionsvertrag vom 11. November Diese Entscheidung nehmen Sie ihnen weg. Demnächst 2005, in dem sich CDU, CSU und SPD auf ihre Ziele für entscheiden Sie dann, Frau Schmidt. Jedes Jahr im diese Legislaturperiode festgelegt haben, heißt es wört- Herbst entscheidet die Bundesregierung, wie viel Geld lich: dem Gesundheitswesen im nächsten Jahr zur Verfügung Für den Bereich der gesetzlichen Krankenversiche- stehen wird. Dies wird kein leichtes Spiel sein, wenn die rung wird in 2006 ein umfassendes Zukunftskonzept Ausgaben steigen, wie es jetzt absehbar ist. In diesem entwickelt, das auch darauf angelegt ist, die Beiträge Falle müssen Sie entscheiden, wie hoch der Beitragssatz zur gesetzlichen Krankenversicherung mindestens ist. Diese Entscheidung wird sich keine Regierung leicht stabil zu halten und möglichst zu senken. machen, weil es um einen Anstieg der Lohnzusatzkosten geht, was eine weitere Belastung des Arbeitsmarkts be- Die schwarz-rote Koalition hat sich nach monatelan- deutet. Dann werden wir in jedem Jahr die Diskussion gen Verhandlungen auf eine Gesundheitsreform geeinigt, haben, auf die Sie gerade einen Vorgeschmack bekom- die seit dem 1. April 2007 in Kraft ist. Die Beiträge zur men, gesetzlichen Krankenversicherung betrugen zu Beginn Ihrer Amtszeit als Große Koalition 14,2 Prozent. Sie be- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Dann tragen mittlerweile aufgrund der Politik der schwarz-ro- brauchen wir aber keine Aktuelle Stunde ten Koalition 14,8 Prozent. Sie haben bisher mitnichten mehr!) dazu beigetragen, dass die Beiträge zur gesetzlichen nämlich den Streit darüber, wie wir kurzfristig verhin- Krankenversicherung „mindestens stabil“ geblieben oder dern können, dass der Beitragssatz angehoben werden sogar gesunken sind. Im Gegenteil, die Bürgerinnen und muss. Bürger müssen immer mehr zahlen; sie werden für eine falsche Politik von Schwarz und Rot immer mehr zur (Elke Ferner [SPD]: Machen Sie doch mal Kasse gebeten. Vorschläge! – Heinz Lanfermann [FDP]: Sie werden dann auch die Löhne festsetzen! Das (Beifall bei der FDP) ist ganz einfach!) In diesem Jahr muss die Bundesregierung erstmals ei- Sie, Frau Schmidt, haben doch schon längst eingestan- nen bundesweit einheitlichen Beitragssatz für den Ge- den, dass der Beitragssatz weiter steigen muss; denn Sie (B) sundheitsfonds festlegen. Berechnungen des Münchener fahnden bereits nach Vorschlägen, wie man diesen Bei- (D) Instituts für Gesundheitsökonomie gehen von einem Bei- tragssatzanstieg verhindern kann, indem Sie überlegen, tragssatz von 15,5 Prozent aus. Der Sachverständigenrat wie zusätzliche Steuergelder in den Gesundheitsfonds Gesundheit und andere Institute wie das des Herrn Kolle- fließen oder wie Sie Arzneimittelsparpakete planen kön- gen Lauterbach nen. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wo ist denn Das heißt, das, was Sie jetzt machen, werden wir je- der Kollege?) des Jahr erleben. Wir werden erleben, wie versucht wird, kurzfristig mit Maßnahmen Kostendämpfungspolitik zu erwarten einen Satz zwischen 15 und 15,4 Prozent. Ver- betreiben. Es werden Zuzahlungen erhöht, schiedene Krankenkassen haben einen Satz von bis zu 15,5 Prozent berechnet. Fest steht damit, meine Damen (Elke Ferner [SPD]: Wann sind Zuzahlungen und Herren, dass von Ihnen im Herbst dieses Jahres ein erhöht worden?) Beitragssatz oberhalb von 15 Prozent beschlossen wer- es werden Leistungen gekürzt, es werden Sparopfer von den müsste, damit der Gesundheitsfonds in Kraft treten Krankenhäusern, von Apothekern und von Ärzten ver- kann und die Krankenkassen aus den Zuweisungen aus langt. Die Bürgerinnen und Bürger werden dann erleben, dem Gesundheitsfonds 100 Prozent ihrer Ausgaben de- wie instabil und unsicher dieses Gesundheitswesen cken können. Damit steht also fest, dass der Beitragssatz durch die Entscheidung für den Gesundheitsfonds und gegenüber 2005 erneut deutlich steigen wird. Für die einen Einheitsbeitragssatz finanziert wird. Das macht die Bürgerinnen und Bürger wird es immer teurer, aber mit- Finanzierung des Gesundheitswesens eben nicht nach- nichten besser. haltiger – das aber haben Sie sich vorgenommen –, son- (Beifall bei der FDP) dern instabiler. Das ist der große Fehler dieser Reform. (Beifall bei der FDP – Heinz Lanfermann [FDP]: Die schwarz-rote Bundesregierung geht mit dem Ge- Es wird jetzt jedes Jahr schlimmer!) sundheitsfonds den Weg in ein staatliches und zentralis- tisches Gesundheitswesen. Demnächst wird die Regie- Demnächst sollen 50 bis 80 Krankheitsbilder bei der rung Jahr für Jahr darüber entscheiden, wie viel Geld Umverteilung des Geldes im Gesundheitsfonds berück- dem Gesundheitswesen zur Verfügung steht. Wenn Sie sichtigt werden. Das bedeutet einen enormen Dokumen- in jedem Herbst festlegen müssen, wie hoch ein bundes- tationsaufwand und schafft Bürokratie bei der Zuteilung weit einheitlicher Beitragssatz ist, dann hat dies über- der Gelder an die Krankenkassen, was das Gutachten ge- haupt nichts mit Wettbewerb zu tun. rade deutlich gemacht hat. Das wird übrigens einen An- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14519

Daniel Bahr (Münster) (A) reiz schaffen, dass die Krankenkassen möglichst viele Sie kennen das Gutachten des Wissenschaftlichen (C) Versicherte in diese Krankheitsbilder eingruppieren, und Beirats zum Risikostrukturausgleich seit gerade einmal Deutschland wird dabei wegen Ihrer Gesundheitsreform sieben Tagen. Erst seit sieben Tagen ist es nämlich veröf- kränker. fentlicht. Es handelt sich um eine hochkomplexe Mate- rie. Ich komme zum Schluss. Der Gesundheitsfonds löst kein einziges der Probleme, vor dem wir im Gesund- (Elke Ferner [SPD]: Zu kompliziert für den heitswesen stehen. Er schafft nur neue. Die Beitragszahler Herrn Bahr!) müssen für eine verkorkste schwarz-rote Gesundheits- Dass Sie schon heute den Mut haben, die Wirkungen, reform teuer bezahlen. Stoppen Sie diesen Gesundheits- insbesondere die finanziellen Wirkungen, für jede ein- fonds, damit es für die Beitragszahler nicht immer teurer zelne Kasse und damit für jeden Versicherten abzuschät- wird! zen, finde ich erstaunlich. Dazu kann ich Ihnen nur gra- Herzlichen Dank. tulieren. Wir können das nicht. Wir machen seriöse Politik. (Beifall bei der FDP) Auch über die Ausgabenentwicklung wird kräftig Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: spekuliert. Sie kennen die Ergebnisse der Honorarver- einbarungen nicht, auch ich kenne sie nicht. Wie können Das Wort hat nun Annette Widmann-Mauz, CDU/ Sie schon jetzt genau sagen, wie viele Milliarden am CSU-Fraktion. Ende dabei herauskommen? Herr Bahr, es geht schlicht- (Beifall bei der CDU/CSU) weg nicht, dass Sie morgens mit den Ärzten, seien es die niedergelassenen Ärzte oder sei es der Marburger Bund, Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): demonstrieren und sagen, dass die Ärzteschaft zu schlecht honoriert wird und die Arbeitsbedingungen zu Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! mies sind, und sich nachmittags hier ans Pult stellen und Politik beginnt zunächst einmal mit dem Betrachten der die Beitragssatzsteigerungen beklagen, die zum Beispiel Realität. aus solchen Lohnerhöhungen resultieren. So geht es (Dirk Niebel [FDP]: Hat er gerade gemacht!) nicht. Das gelingt nicht mit dem Betrachten des Gutachtens, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – das im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirt- Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Falsche Finan- schaft präsentiert wurde. zierung! Sie waren einmal dafür, dass wir die Finanzierung ändern!) (B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (D) Sie alle wissen, dass dieses Gutachten Dinge schlicht- Das neue Jahr begann mit einem gesundheitspolitischen weg übersehen hat, zum Beispiel dass der Steuerzu- Schnellschuss, einem wahren Neujahrsböller: Viel Lärm schuss im nächsten Jahr 4 Milliarden Euro betragen wird um nichts. Dieses Gutachten ist fachlich mangelhaft, und deshalb 1,5 Milliarden Euro mehr als in diesem Jahr (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sachverständi- in den Fonds fließen werden. Niemand kann heute seriös genrat! Krankenkassen!) den Beitragssatz vom 1. Januar nächsten Jahres benen- nen. Der allgemeine Beitragssatz im nächsten Jahr ergibt es ist spekulativ, es ist schlichtweg höchst unseriös. sich aus dem durchschnittlichen Beitragssatz dieses Jah- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- res. Wenn die Beiträge in diesem Jahr stabil bleiben, neten der SPD) dann hat das Auswirkungen auf das Jahr 2009. Es ist ge- nauso irrwitzig, eine Verknüpfung zwischen möglichen Tatsachen werden einfach negiert, und es wird mit Spe- Beitragssatzsteigerungen der gesetzlichen Krankenkas- kulationen gearbeitet. Sie, Herr Bahr, wissen doch sen und dem neuen Finanzierungssystem herzustellen. selbst: Die Entwicklung der beitragsrelevanten Einnah- Das ist schlichtweg unlauter. Anders ausgedrückt: Wenn men können Sie und wir im Moment überhaupt nicht ab- die Beiträge steigen, dann tun sie dies unabhängig da- schätzen. Sie kennen nicht die Zahl der sozialversiche- von, ob es einen Gesundheitsfonds gibt; rungspflichtig Beschäftigten in diesem Jahr, auch wir kennen sie nicht. Im Moment steigt sie, und das ist gut. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Sie kennen nicht die Zahl der Arbeitslosen am Ende die- der SPD) ses Jahres, auch wir kennen sie nicht. Im Moment sinkt denn ihr Anstieg hat ganz andere Gründe, die Sie ken- die Zahl der Arbeitslosen durch die gute Politik der Bun- nen. desregierung. (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – NEN]: Aber Sie übernehmen jetzt die politi- Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das ist das sche Verantwortung!) Prinzip Hoffnung, Frau Widmann-Mauz!) Ich will Ihnen ein Weiteres sagen. Sie tun hier immer Sie kennen die Lohnentwicklung in diesem Jahr nicht. so – auch heute Nachmittag wieder –, als ob der allge- Ich höre, was die Gewerkschaften fordern, und deshalb meine Beitragssatz der einzige Bestandteil des Beitrags lassen Sie uns doch erst einmal abwarten, wie sich die der Versicherten im nächsten Jahr und in der Zukunft Einnahmen in diesem Jahr entwickeln. wäre. Sie tun so, als ob jeder Versicherte bei jeder Kasse 14520 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Annette Widmann-Mauz (A) gleich viel bezahlen müsste. Aber das wird nicht der Fall Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C) sein. Das neue Finanzierungssystem besteht aus zwei Das Wort hat nun Kollege Frank Spieth, Fraktion Die Teilen, nämlich aus dem allgemeinen Beitragssatz, der Linke. einen Durchschnittssatz aller Kassen abbildet, und aus der Notwendigkeit, einen Zusatzbeitrag zu verlangen, (Beifall bei der LINKEN) oder der Möglichkeit, den Versicherten einen Pauschal- betrag zurückzugeben. Wer also heute in einer Kasse Frank Spieth (DIE LINKE): versichert ist, die wirtschaftlich effizienter arbeitet, der Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe wird auch in Zukunft – wenn diese Kasse weiterhin so Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es gut, dass die arbeitet – von Rückzahlungen profitieren können. FDP diesen Antrag zu einer Aktuellen Stunde gestellt hat; denn sie bietet die Gelegenheit, miteinander über die Das ist das neue System. Es bringt die Kassen dazu, Frage zu diskutieren, ob der Gesundheitsfonds, der hier dass sie sich jetzt auf diese Finanzierungsform vorberei- zur Debatte steht, das eigentliche Problem der vergange- ten. Sie organisieren ihre Verwaltungsstrukturen um. Sie nen „Gesundheitsreform“ ist. schließen Verträge. Das alles läuft an. Die Rabattver- träge, die geschlossen werden, bieten doch ein Einspar- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das Haupt- potenzial. Aber das beklagen Sie wiederum, weil das problem!) Einsparungen bringen könnte. Sie müssen sich entschei- den, ob Sie auf den Barrikaden bei denjenigen stehen, Ich meine, nein. die im Grunde jede Veränderung verhindern wollen – sie Der Gesundheitsfonds ist nicht das Problem. Das Pro- kämpfen an vielen Stellen dafür –, oder ob Sie dazu bei- blem ist vielmehr, dass die Koalition im vergangenen tragen, dass diese wettbewerblichen Instrumente in un- Jahr versäumt hat, eine grundlegende Neufinanzierung serem System mit dafür sorgen, Beiträge stabil zu halten der gesetzlichen Krankenversicherung auf den Weg zu und damit am Ende einen Fortschritt für die Versicherten bringen. zu erreichen. (Beifall bei der LINKEN) Unsere Maßnahmen führen auch dazu, dass Ausgaben steigen. Wir haben hier im Parlament übereinstimmend Das heißt, dass wir Privilegien abschaffen, dass wir alle festgestellt, dass wir zum Beispiel die Impfquote in in die gesetzliche Krankenversicherung einbeziehen und Deutschland steigern wollen. Dann dürfen wir aber, dass wir von allen Einkommensarten einen Beitrag ab- wenn die Ärzte jetzt mehr impfen, nicht höhere Arznei- verlangen. Das hätte zur Folge, dass man mit einer sol- mittelausgaben beklagen. chen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung – das wäre (B) das nämlich – einen Beitrag von im Durchschnitt (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) 10 Prozent realisieren könnte. Das ist die Wirklichkeit. Dass es dazu nicht gekommen ist, ist ein Problem der Zum Beispiel werden in Berlin sehr viele HPV-Impfun- letzten „Gesundheitsreform“. gen durchgeführt. Unter anderem die FDP schlägt jetzt aus nachvoll- Auch Sie wissen: Wir wollen ebenfalls, dass weiter- ziehbaren Gründen auf den Sack Gesundheitsfonds. Ei- hin genügend Ärzte für die Versorgung in Deutschland gentlich meint sie etwas ganz anderes: Der FDP geht es zur Verfügung stehen. Dazu brauchen wir ein gerechtes im Kern um die Stärkung von Privilegien – das ist meine Honorierungssystem. Wenn wir also wollen, dass den feste Überzeugung – und nicht darum, etwas mehr so- Versicherten der medizinische Fortschritt in einer altern- ziale Gerechtigkeit herzustellen. den Gesellschaft zugutekommt, dann müssen wir es jetzt schaffen, dafür das notwendige Geld zur Verfügung zu (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- stellen. neten der SPD) Ich kann Ihnen von der FDP nur sagen: Sie haben In einem Punkt allerdings hat Herr Bahr recht. Es ist heute wieder einmal demonstriert, dass Sie wissen, was nach meiner Auffassung nicht zulässig, so zu tun, als Sie nicht wollen. Das ist nichts Neues. Das können Sie würden die Beiträge zu einem Gesundheitsfonds deut- gut. Wenn Sie uns heute gesagt hätten, was Sie außer der lich unter den jetzigen Durchschnittsbeiträgen in der ge- Streichung des Fonds konkret tun wollen, um die Bei- setzlichen Krankenversicherung liegen. tragssätze in unserem Land stabil zu halten, dann wäre das wirklich eine Aktuelle Stunde wert gewesen. So ha- (Elke Ferner [SPD]: Wer hat das behauptet?) ben Sie wieder einmal mehr dazu beigetragen, die Men- Wir haben aktuell in der gesetzlichen Krankenversiche- schen mit Spekulationen und Halbwahrheiten zu verun- rung in Deutschland einen durchschnittlichen Beitrags- sichern, und Sie haben nur denen im Land wieder satz von roundabout 14 Prozent. Hoffnung gemacht, die sich immer schon gegen Verän- derungen, gegen mehr Transparenz und gegen mehr (Zuruf des Abg. Dr. Hans Georg Faust (CDU/ Wettbewerb gewehrt haben. CSU) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. – Ja, 13,8 Prozent waren es im vergangenen Jahr, 2007, Herr Dr. Faust; das wissen Sie genau. Am 1. Januar 2008 (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- haben 60 Krankenkassen die Beiträge erhöht, und des- neten der SPD) halb sind wir jetzt bei 14 Prozent. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14521

Frank Spieth (A) Das ist aber nicht die ganze Wahrheit. Tatsache ist – Sie wird nicht vorher erhöhen; davon kann man schon (C) auch, dass den Versicherten ein Zusatzbeitrag von heute ausgehen. – Ich komme zum Schluss. 0,9 Prozent zugemutet wird. Das heißt, wir sind unterm Es wird dann ein Delta von 5 Prozentpunkten geben, Strich bei einer Gesamtbelastung von 14,9 Prozent. Der das durch die Krankenkassen nicht mehr abgedeckt wer- Schätzerkreis, der vom Bundesversicherungsamt einge- den kann. Die Folgen werden sein – anders werden die setzt ist, die Kostenentwicklungen kalkuliert und daraus Krankenkassen ihre Ausgaben nicht finanzieren kön- beitragsrelevante Schlussfolgerungen zieht, sagt: In die- nen –, dass es zu massiven Leistungskürzungen kommt, sem Jahr werden die Ausgaben in der GKV und damit dass die Zuzahlungen erhöht werden oder aber im Um- die Beitragsleistungen in etwa um 0,3 Prozent steigen. – fang jener 5 Prozentpunkte zusätzlich Beiträge erhoben Dann sind wir schon bei 15,2 Prozent. werden. Das eigentliche Problem der Kopfpauschale ist (Elke Ferner [SPD]: Wenn die Ausgaben stei- die Begrenzung auf 1 Prozent, die von der SPD durchge- gen und die Einnahmen auch steigen, was ist setzt worden ist; dann?) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das ist das Das ist nicht ganz weit weg von dem, was von dem Insti- Problem!) tut in München angenommen wurde. die CDU/CSU wollte das ursprünglich auf 3 Prozent be- Ich finde, wir sollten ehrlich sein und ehrlich bleiben. grenzen. – In der Richtung liegt die Wahrheit. Es war doch unmöglich, dass wir in Deutschland je nach Es wird spätestens im Jahr 2011 eine deutliche Bei- Wohnort einen Beitragssatz von 13,5 bis 18 Prozent hat- tragssatzerhöhung oder erheblich höhere Eigenanteile ten oder je nach Industriebranche oder Handwerk einen der Versicherten geben. Das ist nach meiner Auffassung Beitragssatz von 11,3 bis 16 Prozent, inklusive allem. sozial unhaltbar. Das heißt, dass es bisher je nach Wohnort oder Betriebs- zugehörigkeit unterschiedlich hohe Beitragssätze gab. Danke. Die Leistungen in der gesetzlichen Krankenversiche- (Beifall bei der LINKEN) rung werden aber überall in Deutschland zu den gleichen Bedingungen unabhängig von der Höhe des Beitragssat- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: zes bereitgestellt. Insofern ist es schlüssig, wenn am Das Wort hat nun Bundesministerin Ulla Schmidt. Ende ein einheitlicher, deutschlandweit gleicher Bei- (Beifall bei der SPD) tragssatz erhoben wird.

(B) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Da wäre ich Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit: (D) skeptisch!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man könnte der FDP dankbar sein, Das kann doch nicht anders sein als in der Renten- und in der Arbeitslosenversicherung. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das können Sie häufig!) (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Die Linke ist für die Einheitskasse! Die dass sie uns mit dieser Aktuellen Stunde noch einmal die Koalition wird immer größer!) Gelegenheit gibt, hier über die Vorzüge eines fairen Wettbewerbs im Gesundheitswesen zu reden. Wir haben aber mit diesem Gesundheitsfonds ein ganz anderes Problem in der Tasche. Wenn denn im (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Jahr 2009 die Krankenkassen ihre Mittel zu 100 Prozent FDP) aus dem Gesundheitsfonds erhalten – sofern das gelingt, Ich gebe ja zu, dass den Zuhörern und denen, die schon auch mit dem neuen Risikostrukturausgleich –, wird es länger hier sitzen, die Verbindung der Worte „fairer möglicherweise einige Krankenkassen geben, die damit Wettbewerb“ und „FDP“ nicht auskommen. Auf die 0,9 Prozent, die schon jetzt alle Versicherten zusätzlich zahlen müssen, wird dann (Elke Ferner [SPD]: Widersprüchlich!) noch etwas draufkommen: Eine Pauschale von bis zu so wie die Verbindung der Worte „der Teufel“ und „das 1 Prozent des Einkommens, die aber mindestens 8 Euro Weihwasser“ vorkommen muss. beträgt. Aber auch das ist nur ein Teil der Wahrheit. (Dirk Niebel [FDP]: Aber Aachen ist doch erst Ein weiterer Teil der Wahrheit in diesem Gesetz wird morgen, Frau Ministerin!) überhaupt nicht diskutiert, nämlich dass die Bundes- regierung die Beitragssätze erst dann anpasst, wenn die Immer dann, wenn die FDP nämlich für mehr Wettbe- Ausgaben der zukünftigen Versicherung nur noch zu werb eintrat, ging es ihr eigentlich nur darum, Vorteile 95 Prozent durch die Einnahmen gedeckt sind. für die eigene Klientel zu schaffen. (Elke Ferner [SPD]: Das stimmt ja nicht!) (Beifall bei der SPD) – Das steht im Gesetz. Deswegen, Frau Kollegin Widmann-Mauz, passt das Verhalten der FDP sehr gut zusammen: auf der einen (Elke Ferner [SPD]: Dann muss sie! Vorher Seite für mehr Geld für die Pharmaindustrie, für Zahn- kann sie!) ärzte, für Apotheker und andere streiten, aber anderer- 14522 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Bundesministerin Ulla Schmidt (A) seits im Parlament einen Antrag auf Grundversorgung chen werden. Eine Krankenkasse hat ja überhaupt kei- (C) für alle Menschen einbringen. Das tragen dann die ar- nen Einfluss darauf, ob sie in einer Region ansässig ist, men Menschen. Diejenigen dagegen, die Geld haben, in der es hauptsächlich ein niedriges Einkommensniveau könnten sich ihren Krankenversicherungsschutz selber gibt, oder ob sie historisch bedingt fast nur Versicherte erweitern. hat, deren Einkommen oberhalb der Beitragsbemes- sungsgrenze liegt. Es ist gerecht, die Einnahmenunter- (Beifall bei der SPD – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: schiede, die sich aus den verschiedenen Einkommens- Sie werden doch zur Kasse gebeten!) strukturen ergeben, auszugleichen. Das ist FDP-Politik. Deshalb, Herr Kollege Bahr, wer- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der den wir in dieser Frage nie zusammenkommen und ge- LINKEN) meinsam etwas auf den Weg bringen. Zweitens haben wir mit dem Fonds die Möglichkeit, (Beifall bei der FDP) die Gelder der Versicherten so zu verteilen, dass in Re- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregie- gionen, in denen es besonders viele kranke Menschen rung will mit der Einführung des Gesundheitsfonds die gibt, mehr Geld für eine gute Krankenversorgung fließt Finanzierungsstrukturen der gesetzlichen Krankenversi- als in Regionen, wo überwiegend junge und gesunde cherung neu gestalten. Wenn alle in diesem Land den Versicherte leben. gleichen Anspruch auf Leistungen haben, alle im Prinzip Insofern schafft der Fonds mehr Gerechtigkeit und ins gleiche Krankenhaus gehen, alle bei einer Krankheit sorgt dafür, dass die Unterschiede zwischen Ost und die gleichen Medikamente verordnet bekommen und alle West, zwischen Stadt und Land aufgehoben werden und den gleichen Anspruch auf Kuren und Rehabilitations- eine gesamtdeutsche solidarische Finanzierung der Leis- maßnahmen haben – von all dem halte ich sehr viel –, tungen der gesetzlichen Krankenversicherung auf den (Dirk Niebel [FDP]: Das ist so gerecht!) Weg gebracht wird. dann macht es Sinn, dass auch alle Menschen den glei- (Beifall bei der SPD – Frank Spieth [DIE chen Anteil ihres Einkommens für die Finanzierung die- LINKE]: Da sind wir uns einig!) ser Versorgung aufbringen. Nur auf der Grundlage fairer Verteilung ist Wettbe- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dirk werb möglich. Niebel [FDP]: Sie sollten auch alle zum glei- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das ist doch chen Arzt geschickt werden!) kein Wettbewerb!) (B) Dass die gesetzliche Krankenversicherung eine Soli- Wir wollen Wettbewerb, um beste Qualität bei der Ver- (D) dargemeinschaft ist, wird ja manchmal vergessen. Hier sorgung zu erreichen. Wir verstehen unter Qualität ziehen wir nach und machen nun nichts anderes als bei der Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung. Dort (Dirk Niebel [FDP]: Die Einheits- haben ja auch alle Menschen die gleichen Rechtsansprü- krankenkasse!) che auf Leistungen, gute Versorgungsangebote und zugleich auch ein nie en- (Dirk Niebel [FDP]: Auch alle gleich?) dendes Bemühen der Krankenkassen, der Vertragspart- ner, jeden Euro der Versicherten so zielgenau wie mög- und zwar egal, ob sie im Osten, im Westen, im Süden lich für eine gute Versorgung einzusetzen. Eines ist doch oder im Norden dieses Landes leben. klar: In einer Gesellschaft, in der immer mehr Menschen (Dirk Niebel [FDP]: Gleiches Taschengeld! länger leben und in der alle Versicherten die Chance ha- Gleiche Arbeitszeit!) ben sollen – diesen Anspruch wollen wir als Koalitions- fraktionen garantieren –, am medizinischen Fortschritt Wir werden nicht nur die Beiträge festsetzen, sondern teilzuhaben, ist es eine immerwährende Aufgabe für alle werden zusätzlich zu den Beiträgen der Versicherten im im Gesundheitswesen Tätigen, für rationellen Einsatz Jahr 2009 4 Milliarden Euro aus Steuergeldern für die der Gelder und damit für kostengünstige, aber zugleich gesamtgesellschaftlichen Aufgaben, die heute die Bei- auch gute Versorgungsangebote mit hohen Qualitätsstan- tragszahlerinnen und -zahler alleine tragen, der GKV zu- dards zu streiten. Das ist mit Fonds und ohne Fonds der kommen lassen. Dieser Betrag wird in den kommenden Fall. Aber der Fonds sorgt für mehr Gerechtigkeit. Jahren um jeweils 1,5 Milliarden Euro erhöht, bis eine Gesamtsumme in Höhe von 14 Milliarden Euro erreicht Die Kassen haben von uns die Möglichkeit bekommen, ist. Dieser Betrag entspricht dann immerhin 10 Prozent mit einem Bündel von Instrumenten – neue Versorgungs- der derzeitigen Ausgaben der gesetzlichen Krankenver- verträge, Rabattverträge, Preisverhandlungen, Ausschrei- sicherung; so viel wird dann über Steuergelder finanziert bungen und Haushaltsverträge; ich kann die vollständige werden. Liste gar nicht nennen – möglichst effektiv und effizient mit dem Geld der Versicherten umzugehen. Wir werden (Dirk Niebel [FDP]: Einheitskasse!) mit dem Fonds dafür sorgen, dass die Kassen das Geld erhalten, das sie für die Versorgung ihrer Versicherten Der Fonds hat eine wichtige Funktion: Er soll das brauchen. Geld der Versicherten gerechter verteilen, als es heute der Fall ist, und zwar erstens, indem unterschiedliche An dieser Stelle fängt der Wettbewerb an. Die Mehr- Einkommensstrukturen bei den Versicherten ausgegli- heit der Kassen wird mit dem Geld auskommen. Es wird Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14523

Bundesministerin Ulla Schmidt (A) sogar Kassen geben, die Beiträge zurückzahlen und zum Den Arbeitgebern geht es nicht um den Fonds. Ihnen (C) Beispiel Boni einräumen. Es wird aber auch Kassen ge- geht es darum, dass sie prinzipiell aus der Finanzierung ben, die einen Zusatzbeitrag erheben, der maximal des Gesundheitswesens aussteigen wollen. Solange das 1 Prozent des Einkommens ausmachen darf. Die Versi- noch nicht der Fall ist, werden sie jede Gesundheits- cherten haben damit aber die Möglichkeit, genau zu se- reform kritisieren. hen, was mit ihrem Geld passiert. Es herrscht erstmals Viele Kassenvorstände wollen lieber Intransparenz Transparenz. Denn der Zusatzbeitrag wird nicht einfach haben, als sich in einem transparenten Verfahren der automatisch vom Gehaltskonto abgebucht. Kontrolle durch ihre Versicherten zu stellen und ihr Han- Die Versicherten können sich überlegen, ob sie mit deln begründen zu müssen. den Angeboten ihrer Kasse zufrieden sind. Die Men- Die FDP will ein Gesundheitswesen, das für die Gut- schen verhalten sich bei Beitragserhöhungen in der Re- verdienenden alles bereithält und das für die Armen nur gel solidarisch, wenn sie das Gefühl haben, dass sie bei eine Versorgung auf niedrigem Niveau sicherstellt. ihrer Kasse gut aufgehoben sind. Die Versicherten haben von uns ein umfangreiches Wechselrecht bekommen, da- (Beifall der Abg. Elke Ferner [SPD]) mit sie dann, wenn sie nicht Mitglied ihrer Kasse bleiben All das will die Bundesregierung nicht. Wir wollen wollen, mit den Füßen abstimmen können. Das ist die eine gute Versorgung für alle. Deshalb wird der Fonds in Basis für einen wirklichen Wettbewerb, weil die Men- diesem Jahr kommen. schen viel mehr Wahlfreiheiten haben und damit mehr Druck auf die Kassen ausüben können, sich verstärkt um Danke schön. gute Versorgungsangebote zu kümmern. (Beifall bei der SPD – Dr. Werner Hoyer [FDP]: Solche Reden erhöhen den Kranken- Ich sage Ihnen: Was in den ersten Monaten nach der stand!) Gesundheitsreform passiert ist, ist ermutigend. Es gibt viele neue Angebote von Telefonhotlines bis hin zu Ver- trägen, mit denen die Versorgung am Wochenende si- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: chergestellt wird. Es gibt außerdem viele Qualitätsdebat- Ich erteile das Wort Kollegin Birgitt Bender, Fraktion ten. Wir stehen hier zwar erst am Anfang. Aber die Bündnis 90/Die Grünen. Entwicklung zeigt, dass wir den richtigen Weg einge- schlagen haben. Denn das Bemühen um die Versicherten Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und um eine gute Versorgung ist wesentlich größer, als Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! es in den Jahren zuvor der Fall war. Frau Ministerin Schmidt, es sollte Ihnen eigentlich zu (B) denken geben, dass die Begeisterung für den Einheits- (D) Angesichts des Geredes im Zusammenhang mit der beitrag zu Ihrem Fonds bei der PDS-Fraktion besonders Frage, ob die Beiträge steigen oder nicht, ausgeprägt ist; (Dirk Niebel [FDP]: Logisch!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP – Daniel Bahr [Münster] muss ich fragen: Warum sagt keiner etwas zu der Tatsa- [FDP]: Aber es sollte noch mehr der Union zu che, dass viele ältere Menschen in Berlin heute um denken geben, Frau Bender!) 4 Prozentpunkte höhere Beiträge zahlen als diejenigen, die Mitglied einer anderen Krankenkasse sind oder in ei- denn die steht bekanntlich nicht für Wettbewerb, sondern ner anderen Region leben? Warum sagt keiner von de- für die Einheitskasse. Ihre enthusiastischen Ausführun- nen, die da behaupten, dass der Fonds alles teurer ma- gen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in che, etwas zu der Tatsache, dass derzeit manche Wirklichkeit kein einziges gutes Argument für diesen Versicherte Beiträge von über 16 Prozent zahlen, wäh- Fonds gibt. rend andere nur 12 Prozent zahlen? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall der Abg. Elke Ferner [SPD]) und bei der FDP) Diese Spreizung hat nichts, aber auch gar nichts mit Gäbe es einen Preis für das seltsamste Argument, der Wirtschaftlichkeit der Kassen zu tun, sondern sie hat würde ich ihn dem Minister für Landwirtschaft und Ver- braucherschutz, Herrn Seehofer, verleihen; er ist heute etwas damit zu tun, dass wir eine ungerechte Verteilung leider nicht anwesend. von Einkommen und Risiken haben. Das kann man durch vermehrte Wirtschaftlichkeit nicht ausgleichen. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Er sucht gerade ein neues Handy aus!) (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Von Herrn Seehofer durften wir jüngst erfahren, der Ge- Wir bieten also auch denjenigen, die bisher sehr hohe sundheitsfonds sei wegen des steuerfinanzierten Zu- Beiträge zahlen, eine neue Möglichkeit, entsprechend zu schusses notwendig, den man der GKV auf diese Weise reagieren. zukommen lassen werde. Herr Seehofer war bei den Ver- handlungen zum Gesundheitsmodernisierungsgesetz im Der Fonds führt zu mehr Wettbewerb. Ich sage noch Jahr 2003 dabei. einmal: Die Bundesregierung und auch die Koalitions- fraktionen haben überhaupt keinen Grund, dem Geschrei (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Wunderbare der Lobbyisten in dieser Frage nachzugeben. Nächte waren das!) 14524 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Birgitt Bender (A) Frau Widmann-Mauz, Sie erinnern sich: Damals haben (Elke Ferner [SPD]: Das hat aber mit dem (C) wir den Steuerzuschuss in nicht ganz so wunderbaren Fonds nichts zu tun, Frau Bender! Das wissen Nächten beschlossen. Sie doch genau!) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Nein? Hat Mit diesem Gesundheitsfonds wird es also zu höheren Herr Seehofer aber gesagt!) Beiträgen kommen. (Frank Spieth [DIE LINKE]: Was sind eure Seither hat es in der Großen Koalition viel Gezerre um Vorschläge? Ihr wollt doch auch die Bürger- diesen Steuerzuschuss gegeben. Einmal wurde er gecan- versicherung!) celt, ein anderes Mal erhöht, dann wieder gekürzt usw. Dass irgendwer den Fonds im Zusammenhang mit dem Es kommt ein weiteres Problem hinzu. An den Fonds Steuerzuschuss vermisst hat, ist mir aber nicht aufgefal- wird ein Finanzausgleich zwischen den Kassen angebun- len. den, der die Krankheiten berücksichtigt, den wir im Übrigen auch brauchen: der Morbi-RSA. Die Union hat In Wirklichkeit ist es doch so: Herr Seehofer weiß lange dagegen gekämpft. Schließlich ist eine Liste von sehr genau, dass dazu dieser Fonds nicht notwendig ist. 50 bis 80 Krankheiten entstanden, die uns jetzt vorliegt. Das zeigt doch nur, dass einem gestandenen Gesund- Kein Mensch weiß, warum es nur 50 bis 80 Krankheiten heitspolitiker, der heutzutage eine andere Funktion inne- und nicht mehr sind. Darin spiegelt sich der Rest der hat, schlechterdings kein vernünftiges Argument für die- Fundamentalstrategie der Union wider. Was stellen wir sen Fonds einfällt. Ich finde, das muss man sich einmal fest? Der Vorschlag berücksichtigt etliche Volkskrank- auf der Zunge zergehen lassen. heiten nicht. Asthma und koronare Herzkrankheit kom- men nicht vor. Gerade die Krankheiten, für die inzwi- Frau Ministerin Schmidt, liebe Kolleginnen und Kol- schen spezielle Behandlungsprogramme entwickelt legen von der Großen Koalition, das, was Sie da schaf- wurden, wurden nicht berücksichtigt. Mithin ist zu be- fen, ist eine Geldsammelstelle, die nichts nützt. Sie löst fürchten, dass sich die Behandlung verschlechtert. das Gerechtigkeitsproblem in der gesetzlichen Kranken- versicherung nicht, und sie löst das Finanzierungs- Also, was bringt uns der Gesundheitsfonds? Er bringt problem nicht. Es bleibt bei der einseitigen Anbindung uns keine nachhaltige Finanzierung. Er schwächt die der Beiträge an die Arbeitseinkommen, es bleibt bei der Selbststeuerungsfähigkeit des Gesundheitswesens. Er ungerechtfertigten Privilegierung der Vermögensein- bringt uns höhere Beiträge und gefährdet die Fortschritte kommen, und es bleibt beim Auseinanderklaffen von in der Behandlung von chronischen Krankheiten. Ange- Beitragsbasis und Sozialprodukt. Stattdessen bekommen sichts dessen sind Durchhalteparolen hinsichtlich des Gesundheitsfonds völlig fehl am Platz. Schaffen Sie ihn (B) wir neue Probleme: Die Bundesregierung wird jedes (D) Jahr den Beitrag festsetzen müssen. einfach wieder ab, und machen Sie eine echte Reform. Danke. (Dirk Niebel [FDP]: Das machen wir am bes- ten zusammen mit dem Mindestlohn!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Jedes Jahr wird er zum Objekt politischen Gezerres wer- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: den. Derzeit kann man beobachten, wie das aussehen Das Wort hat nun Kollege Jens Spahn, CDU/CSU- wird – die Kombattanten laufen sich schon mal warm –: Fraktion. Die CSU, Herr Zöller, beschließt, dieser Einheitsbeitrag solle möglichst niedrig sein, während die Gesundheits- ministerin verspricht, der Beitrag werde im Wahljahr so Jens Spahn (CDU/CSU): hoch sein, dass keine Kasse einen Zusatzbeitrag erheben Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! müsse. Für die nachfolgenden Jahre verspricht sie das Liebe Kollegin Bender, ich bin seit fünf Jahren im Deut- wohlgemerkt nicht. Jahr für Jahr werden Sie also zu ent- schen Bundestag. Wenn ich die letzten Jahre betrachte, scheiden haben, wie hoch der Beitrag sein soll. Die einen muss ich fragen: Ist es nicht so gewesen, dass wir hier werden schreien: „Nicht zu hoch!“, die anderen werden auch ohne Fonds in regelmäßigen Abständen über die schreien: „Nicht zu niedrig!“ Wenn Sie zu viel festset- Ausgabenentwicklung und die Beitragssatzentwicklung zen, bedeutet das Verschwendung. Setzen Sie zu wenig der gesetzlichen Krankenkassen beraten haben? Jetzt so fest, fehlt nachher Geld. zu tun, als würde die Einrichtung eines Fonds dazu füh- ren, dass wir hier im Deutschen Bundestag erstmalig De- (Dirk Niebel [FDP]: Wie bei Mindestlohn und batten darüber führen, wie sich die Ausgaben der gesetz- Brotpreisen!) lichen Krankenversicherung entwickeln, ist etwas hanebüchen. Unter anderem dafür brauchen Sie eine milliarden- schwere Schwankungsreserve. Die müssen Sie aber erst (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das wird zu einer Koalitionsentschei- einmal aufbauen, was auch wieder Geld kostet. Liebe dung! – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Jetzt Kollegin Widmann-Mauz, das ist ein Spezifikum des muss die Regierung jährlich entscheiden!) Fonds, der in der Tat eine beitragstreibende Wirkung hat. Hinzu kommen die Steigerung der Arzneimittelausgaben Politik hat sich in der Vergangenheit mit der Entwick- und die Tatsache, dass Sie den Ärzten höhere Honorare lung der gesetzlichen Krankenversicherung beschäftigt. versprochen haben. Das wird auch in Zukunft so sein. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14525

Jens Spahn (A) Als Zweites vorneweg: Bei aller persönlichen Wert- sind; darüber wundert man sich zum Teil noch viel mehr. (C) schätzung für die FDP muss ich sagen, dass es eine ge- Aber auch da liegen wir mit der Auswertung voll im wisse Paradoxie in der Argumentationslinie gibt, wenn Zeitplan. man einerseits sagt, man dürfe bei den Apothekern, bei Ein weiterer wichtiger Punkt ist die tatsächliche Wir- den Krankenhäusern, bei den Ärzten und in all den ande- kung der Konvergenzklausel, mit der wir sicherstellen ren Bereichen nicht sparen, und andererseits sagt, dass wollen, dass kein Bundesland – es wird erhebliche Ver- Beiträge nicht steigen dürfen und idealerweise sinken teilungsströme aus dem Süden des Landes vor allem in sollten. Die heutige von Ihnen beantragte Debatte zum den Osten geben; da muss man sich nichts weismachen – Gesundheitsfonds hätte besser nicht stattgefunden. benachteiligt wird. Wir müssen sehen, wie wir das Zu der Debatte über den Wettbewerb und den Sinn und Schritt für Schritt in einer Konvergenzklausel regeln Zweck des Fonds an sich: Wir wollen mit dem Fonds in können. Zukunft vermeiden – das ist vorhin schon dargestellt wor- Eine weitere wichtige Vorbedingung ist das, was wir den –, dass es für die Kassen eine unterschiedliche Aus- bezüglich der ärztlichen Vergütung wollen. Erstmals seit gangssituation im Wettbewerb – je nach der Einkom- langer Zeit soll eine feste, planbare Euro-Gebührenord- mensstruktur ihrer Versicherten – gibt. In Zukunft werden nung eingeführt werden, die morbiditätsorientiert und die Kassen für jeden Versicherten die gleiche Grundpau- nicht mehr grundlohnsummenorientiert ist. Hier ist die schale, und zwar alters-, risiko- und geschlechtsjustiert, Selbstverwaltung gefragt. erhalten und befinden sich dann sozusagen auf der glei- chen Startlinie, um im Wettbewerb um eine gute, aber Unter dem Strich – ich komme zum Ende –: Wir sind eben auch – das ist das Entscheidende – effiziente Versor- bei all diesen Vorbereitungen für den Fonds voll im Zeit- gung mit einer möglichst effizienten Verwaltung gegen- plan. einander um die Kundschaft anzutreten. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Nein, nein!) So wird dann am Ende – das wird oft vergessen, auch Es ist daher vollkommen ohne Not, dass Sie diese De- in der Argumentation des geschätzten Koalitionspart- batte am Freitagnachmittag aufgrund von Gutachten, die ners – der Wettbewerb insbesondere über die Höhe des offensichtlich auch in ihrer sachlichen Ausgestaltung bei Zusatzbeitrages stattfinden. Es wird einige Kassen ge- schon so einfachen Details wie der Höhe der steuerli- ben, in denen die Versicherten 5 oder 8 Euro zurücker- chen Zuschüsse vollkommen ins Leere zielen, vom Zaun halten, weil die Kasse schon heute besonders gut arbei- brechen. tet. Ich kann nur sagen: Wer den Fonds, auch als politisch (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Der wird Wett- Tätiger, jetzt infrage stellt, (B) bewerb verhindern!) (D) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ja, ja! Sie sind Es wird andere Kassen geben, die am Ende zusätzlich 5, voll in der Planerfüllung!) 8 oder 12 Euro Beitrag erheben müssen. Das ist Wettbe- werb mit klarer Preissignalfunktion, die wir heute bei der betreibt ein Stück weit politische Selbstaufgabe. den prozentualen Beitragssätzen nicht haben. Das müsste Denn eines kann ich Ihnen versichern: Wir wussten, was doch eigentlich die große Zustimmung der Freien Demo- wir taten, als wir uns für den Fonds entschieden haben, kraten finden. und wir werden ihn zum 1. Januar 2009 umsetzen. (Beifall bei der CDU/CSU – Daniel Bahr (Beifall bei der CDU/CSU) [Münster] [FDP]: Völlig verkehrt!) Ich kann Ihnen sagen: Der Fonds kommt zum 1. Janu- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ar 2009, wenn drei bis vier Bedingungen erfüllt sind. Das Wort hat nun Kollege Konrad Schily, FDP-Frak- tion. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha!) (Beifall bei der FDP) Eine Bedingung ist – wir arbeiten selber noch am Ge- setzgebungswerk – die Insolvenzfähigkeit der Kranken- Dr. Konrad Schily (FDP): kassen. Wir sind dabei, die entsprechenden Gespräche Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich zu führen. Wir werden das Ganze – da bin ich zuver- Herrn Spahn die Grundsatzfrage stellen höre, weiß ich: sichtlich – im entsprechenden Zeitablauf schaffen. Es ist Wir reden über zwei völlig verschiedene Systematiken. wichtig, dass alle Kassen zum 31. Dezember dieses Jah- Es gibt eine Systematik der Planwirtschaft res schuldenfrei sind, um mit gleichen Bedingungen in den Fonds starten zu können. (Lachen der Abg. Elke Ferner [SPD]) Eine zweite wichtige Voraussetzung ist, dass es ein und eine Systematik der freien, dem Einzelnen entge- vernünftiges Konzept für einen Risikostrukturausgleich genkommenden Bedürfnisbefriedigung. Letztere ist die gibt, der gerade schon mehrfach angesprochen wurde. Systematik der FDP. Ein entsprechendes Gutachten liegt vor. Darüber ist si- (Beifall bei der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Das cherlich noch zu diskutieren. Wir müssen in den nächs- hätte ich fast nicht schöner sagen können!) ten Wochen auch darüber reden, welche Krankheiten enthalten sind – man wundert sich ja, was alles Eingang Lassen Sie mich noch ein paar Vorbemerkungen ma- gefunden hat – und welche Krankheiten nicht enthalten chen. Mit Verlaub, Frau Schmidt – Sie sind mit uns nicht 14526 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Dr. Konrad Schily (A) gerade zimperlich umgegangen –: Ihr einziges Thema wird, den Empfehlungen des Gutachters Schäfer (C) war die Gleichheit. (2007) folgend, als Geburtstagsstichprobe realisiert. Die dezentral auf Stichprobenbasis erhobenen Da- (Elke Ferner [SPD]: Und die unterschiedliche ten werden vom Bundesversicherungsamt auf Plau- Versorgung!) sibilität, Vollständigkeit und Qualität geprüft. Im Ich sage Ihnen: Da kann man auch Fünfjahrespläne ein- Rahmen dieser Prüfung werden u.a. die Ausschöp- bringen. fungsquoten hinsichtlich der Versichertentage und der berücksichtigungsfähigen Leistungsausgaben (Beifall bei der FDP) jeder einzelnen datenliefernden Krankenkasse in Schauen wir uns den Vorgang doch einmal an. Sie Bezug auf ausgewählte Versichertengruppen be- rechnet. wollen alles gleichmachen, Sie wollen gleiche Bedin- gungen herstellen, und Sie wollen sozusagen jedem das (Dirk Niebel [FDP]: Na, dann kann ja nichts gleiche Brot geben. 70 Millionen Versicherte sind aber mehr schiefgehen!) nicht gleich. 70 Millionen Versicherte sind 70 Millionen einzelne Menschen und einzelne Kranke. Liegen diese Ausschöpfungsquoten außerhalb artspe- zifischer Toleranzbereiche, so führt das zum Aus- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Und sie haben schluss der Daten der betreffenden Krankenkasse unterschiedliche Bedürfnisse!) aus dem Datensatz. – Ja. Sie haben auch unterschiedliche Bedürfnisse. (Frank Schäffler [FDP]: Können Sie dazu viel- leicht noch eine Zeichnung machen? – Heiter- Frau Widmann-Mauz, wenn Sie sich das Gutachten keit bei der FDP) für die Auswahl der Krankheiten zur Berücksichtigung im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich an- Das wird zu Bürokratie führen. Damit müssen wir uns schauen – ich habe es gelesen –, beschäftigen. Es wird ungeahnt kompliziert werden. (Elke Ferner [SPD]: Aber wohl nicht verstan- (Zuruf von der LINKEN: Das ist schon jetzt den!) so!) dann stellen Sie fest, dass man natürlich 70 oder Das Leben ist schließlich komplex. 80 Krankheiten berücksichtigen kann. Man kann aber Frau Widmann-Mauz, da Sie uns Unbeweglichkeit überhaupt nicht vorhersagen, ob eine Krankheit, die in vorgeworfen haben, muss ich Ihnen sagen: Es ist unred- diesem Rahmen erfasst ist, vor Ort nicht wesentlich billi- lich, hier noch von wettbewerblichen Systemen zu spre- ger behandelt werden kann als eine Krankheit, die dort chen. (B) nicht erfasst ist. (D) (Beifall bei der FDP – Annette Widmann- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Da- Mauz [CDU/CSU]: Sie wissen es doch besser! rum geht es doch gar nicht!) Sie wissen, dass jedes Pauschalsystem einen Sie können nicht sagen, dass die Ausgabenvarianz, Risikostrukturausgleich braucht!) also die unterschiedliche Höhe der Ausgaben der Kran- Wir können die Wirklichkeit nicht „verdaten“ oder sie in kenkassen, durch den Risikostrukturausgleich abgebildet Komma- und Zehntelkommastellen fassen. wird. Dadurch lassen sich etwa 25 Prozent der unter- schiedlichen Varianz erklären. Das ist für Sie das Mittel ( [SPD]: Aber der freie Markt? zur Schaffung der großen Gleichheit. Sie möchten etwas – Elke Ferner [SPD]: Ja, ja! Der freie Markt unternehmen, um gleiche Verhältnisse herzustellen. Da- kann das alles wunderbar! – Gegenruf des für müssten Sie aber alle Menschen gleich alt, gleich Abg. Frank Schäffler [FDP]: Besser als der groß, gleich dick und am besten gleich krank machen. Sozialismus!) (Elke Fernau [SPD]: Unsinn, was Sie da erzäh- – Ja, der freie Markt, der Wettbewerb kann dem Einzel- len! – Dirk Niebel [FDP]: Und gleichge- nen entgegenkommen; er kann dem Einzelnen nämlich schlechtlich! – Heiterkeit bei der FDP) ein Produkt anbieten. Vielleicht sollten alle Menschen auch noch Mitglieder (Elke Ferner [SPD]: Wehe dem, der krank wird!) einer Einheitskasse und einer Einheitspartei werden. Möchten Sie vielleicht, dass der Arzt sagt: „Ich habe Ich möchte einen Absatz aus dem Gutachten des Wis- eine Einheitsminute für Sie“, wenn Sie zwanzig Minuten senschaftlichen Beirats zur Weiterentwicklung des Risi- oder eine Stunde bräuchten? kostrukturausgleichs beim Bundesversicherungsamt zi- tieren: (Elke Ferner [SPD]: Was Sie da erzählen, ist blanker Unsinn! Wer sagt denn so etwas?) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Genial, dieser Name!) Der Arzt kann sich beim Kranken nicht nach einer Ein- heitsnorm richten, er muss variabel bleiben. Ich denke, Die Erhebung der Daten, die zur Anpassung und Ei- dass auch Sie das wollen. Aber das Mittel, das Sie wäh- chung des Regressionsmodells für den morbiditäts- len, ist grundverkehrt. orientierten Risikostrukturausgleich benötigt wer- den, erfolgt auf Stichprobenbasis. Die Stichprobe (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14527

Dr. Konrad Schily (A) Das Mittel ist pyramidal, es ist 19. Jahrhundert. Der raussichtlich entstehen, gedeckt werden können. Künftig (C) Glaube an die Verdatung, das war der sozialistische wird die Bundesregierung den Beitragssatz festsetzen; Glaube, und der ist faszinierend gescheitert. dann wird die Verantwortung dafür übernommen wer- den. Vielen Dank. Ob die Ausgaben im Jahr 2009 stärker steigen werden (Beifall bei der FDP) als die Einnahmen, kann weder hier im Plenum noch in der Wissenschaft jemand seriös beantworten; so etwas Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: wäre Kaffeesatzleserei. Wenn Sie sich gerne als Hell- Nun hat das Wort Kollegin Elke Ferner, SPD-Frak- seher betätigen möchten, Herr Bahr, bitte schön. tion. (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Ein kleiner Zau- berlehrling!) Elke Ferner (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Aber ich würde es mir nicht zutrauen, zu prognostizie- habe bisher geglaubt, dass das Niveau und die Seriosität ren, wie die Lohnabschlüsse in diesem Jahr aussehen der Zeitung mit den großen Buchstaben, die ja heute werden; wie sich die sozialversicherungspflichtige Be- wieder so einen tollen Bericht gebracht hat, oder der Ini- schäftigung entwickeln wird; welche Einsparpotenziale, tiative „Neue Soziale Marktwirtschaft“ nicht mehr zu die wir den Kassen mit der Gesundheitsreform gegeben unterbieten ist. haben, noch mobilisiert werden; wie das Ärztehonorar- system aussehen wird; wie sich die Arzneimittelkosten (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aber jetzt re- entwickeln werden. All das wissen wir nicht. den Sie, Frau Ferner, und unterbieten das Ni- veau! Jetzt kommt der Niveauabstieg der Frau (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aber das müs- Ferner!) sen Sie demnächst jedes Jahr berücksichtigen, Die FDP hat allerdings gezeigt, dass das sehr wohl wenn Sie den Beitragssatz festlegen!) geht. Die FDP möchte die Beiträge senken, habe ich Das werden Sachverständige, wie bisher, am Ende des eben vernommen; Leistungskürzungen möchten Sie aber Jahres für das folgende Jahr schätzen; daran ändert sich nicht. Wie das funktionieren soll, haben Sie uns nicht nichts. verraten. Zum zweiten Punkt, über den ich sprechen möchte. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Wir haben da- Natürlich müssen die Einnahmen des Fonds beim Start rauf hingewiesen, was passieren wird!) im Jahr 2009 die Ausgaben zu 100 Prozent decken. (B) – Ach, Sie wollen Leistungskürzungen? Das nehme ich (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) gerne zur Kenntnis. NEN]: Bei jeder Kasse?) Es hat in den vergangenen Tagen leider auch Kran- Ich fand es schon merkwürdig, muss ich sagen, dass der kenkassen gegeben, die, obwohl sie es besser wissen Vorsitzende der CSU-Landesgruppe der Auffassung ist, müssten, behauptet haben, dass, wenn der Gesundheits- dass man ja, damit die Beiträge nicht steigen, unter den fonds eingeführt wird, Beitragserhöhungen notwendig 100 Prozent bleiben könne. Wir wissen doch gar nicht, würden. Ich sage Ihnen: Das ist grober Unfug. ob die Beiträge steigen müssen oder ob sie stabil blei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ben. Da ist es relativ egal, von welcher Seite so etwas be- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das hauptet wird. kann bis 95 Prozent gehen!) Die Beiträge müssen erhöht werden, wenn die Ausga- Außerdem wäre so etwas gesetzeswidrig. Ich gehe da- ben stärker steigen als die Einnahmen; es hat also auch von aus, dass sich die Bundesregierung nicht gesetzes- etwas mit der Einnahmeseite zu tun. Mit der Einführung widrig verhalten wird. Die Bundesregierung wird im des Fonds hat das dagegen nichts zu tun. Auch im jetzi- Herbst dieses Jahres die Beiträge so festsetzen, dass die gen System mussten die Beiträge immer dann erhöht Ausgaben des Jahres 2009 zu 100 Prozent abgedeckt werden, wenn die Ausgaben stärker gestiegen sind als werden können. die Einnahmen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Und als Sie die Da ist es schon merkwürdig, wenn jetzt einige unions- Mehrwertsteuer erhöht haben! Und als Sie den geführte Länder nicht mehr wissen wollen, was sie im Steuerzuschuss gekürzt haben! Sie haben also Bundesrat mit beschlossen haben. Beitragsanhebungen verursacht!) (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Daran können Eben haben Sie, Herr Bahr, Frau Schmidt und ande- wir sehen, dass im Herbst Wahlen in Bayern ren vorgeworfen, dass die Beiträge in der Vergangenheit sind! – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Baden- gestiegen sind. Doch die Beiträge haben nicht wir fest- Württemberg hat nicht zugestimmt!) gesetzt, sondern, wie es Gesetz ist, die Selbstverwaltung der Krankenkassen. Und auch die können das nicht nach Wir haben den Gesundheitsfonds in Koalitionsrunden Belieben machen. Die Einnahmen sind nämlich so zu beschlossen, wir haben den Gesundheitsfonds hier im gestalten, dass die Ausgaben, die im folgenden Jahr vo- Bundestag verabschiedet, und auch der Bundesrat hat 14528 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Elke Ferner (A) dem Gesundheitsfonds zugestimmt. Eine stärkere Steu- Insgesamt zum Gesundheitsfonds: Ich glaube, dass (C) erfinanzierung, die zu Beitragssatzsenkungen genutzt vor der Einführung des Gesundheitsfonds noch viel Ar- werden könnte, hätten wir haben können, wenn Herr beit vor uns liegt. Die Frau Bundesministerin hat bereits Stoiber, Herr Koch und Herr Wulff dies nicht verhindert darauf hingewiesen, was mit dem Gesundheitsfonds be- hätten. wirkt werden soll, nämlich eine gerechtere Zuordnung der Beitragsmittel, die dann insgesamt aufzubringen sind (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) und unter wettbewerblichen Gesichtspunkten von den Einer von den dreien ist schon weg, bei den anderen bei- Krankenkassen verwaltet bzw. für Gesundheitsleistun- den wird es nicht mehr lange dauern. gen ausgegeben werden. Das alles unterstreichen wir. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Herr Wulff hat Gerade als CSU stehen wir zum Gesundheitsfonds, übrigens dank der FDP nicht zugestimmt!) aber wir sagen auch ganz deutlich, dass im Zusammen- hang mit dem GKV-WSG, also dem GKV-Wettbewerbs- Insofern glaube ich, dass wir auch im Jahre 2009 wie- stärkungsgesetz, natürlich alle Hausaufgaben gemacht der eine Debatte darüber führen werden, wie wir die werden müssen. Hier mahnen wir selbstverständlich an, Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung dass verschiedenste Bereiche noch eingehend beleuchtet gerechter als bisher verteilen können. „Gerechter ver- und intensiv diskutiert werden müssen. teilen“ heißt, dass alle Einnahmen und nicht nur die Einnahmen aufgrund sozialversicherungspflichtiger Be- Das gilt gerade auch für das Gutachten, das jetzt zum schäftigung herangezogen werden, weil manche natür- Risikostrukturausgleich erschienen ist. Ich möchte lich stärkere Schultern als diejenigen haben, die heute durchaus auch anmerken, dass es nicht zeitgerecht er- ausschließlich sozialversicherungspflichtige Einnahmen schienen ist. Es war versprochen, dass es bis zum erzielen. 31. Oktober 2007 vorliegt. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha, also doch Das heißt, wir werden weiter an unserem Konzept der nicht im Plan, wie Herr Spahn gesagt hat!) Bürgerversicherung festhalten. Die Bevölkerung wird dann im Jahre 2009 Gelegenheit haben, auch darüber ab- Es liegt aber erst jetzt vor. Das zeigt sehr deutlich, dass zustimmen. wir hier noch eine intensive Arbeit zu leisten haben. Schönen Dank. Gerade als Vertreter eines starken Freistaates verhehle ich nicht – wir haben darum gekämpft, und auch unser (Beifall bei der SPD) damaliger Ministerpräsident hat sich sehr intensiv dafür eingesetzt –, dass die Umsetzung der Konvergenzklausel (B) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: natürlich ein entscheidender Gesichtspunkt für die Ein- (D) Kollege Max Straubinger, CDU/CSU-Fraktion, hat führung und den Start des Gesundheitsfonds ist. Dies jetzt das Wort. muss aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungen un- seres Gesundheitssystems in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten und aufgrund der unterschiedlichen Max Straubinger (CDU/CSU): Kassenarten, für die wir stehen, weil wir der Meinung Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die sind, dass gerade auch unterschiedliche Kassenarten für Wahl des Titels der heutigen Aktuellen Stunde, die ja den Wettbewerb wichtig sind, nachvollziehbar sein. Das von der FDP beantragt wurde, zeugt von einer gewissen gilt genauso für die private Krankenversicherung, die Unseriosität, weil dadurch vermittelt wird, dass die Bei- ebenfalls für den Wettbewerb im Gesundheitswesen ei- träge angeblich wegen des Gesundheitsfonds steigen. nen großen Stellenwert und eine große Bedeutung hat Deshalb soll die Einführung des Gesundheitsfonds ver- und dementsprechend nicht für eine wie auch immer ge- schoben bzw. die Finanzautonomie der Krankenkassen artete Bürgerversicherung geopfert werden sollte. beibehalten werden. Das ist der Antrag der FDP-Bun- destagsfraktion. Die Kollegin Bender hat heute hier einheitliche Bei- träge kritisiert. Man muss feststellen, dass auch die Bür- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sprechen Sie gerversicherung hinterher einen einheitlichen Beitrags- jetzt gegen Herrn Huber und Herrn Beckstein, satz zur Folge haben würde, was in dieser Hinsicht also Herr Straubinger? Oder was machen Sie ge- keine Abkehr vom Gesundheitsfonds bedeuten würde. rade?) (Beifall bei der CDU/CSU – Birgitt Bender Ich glaube, es wäre wichtiger und richtiger, uns in [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich gebe Ih- normalen Debatten über die Gesundheitspolitik auszu- nen gerne einmal eine Nachhilfestunde in Sa- tauschen, als dass die FDP immer dann eine Aktuelle chen Bürgerversicherung!) Stunde beantragt, wenn irgendwo wieder ein Gutachten gefertigt wird oder sich irgendeine Stimme erhebt und Ich glaube, es ist auch entscheidend, dass die Kassen Kritik übt. Ich glaube nicht, dass uns das großartig erhel- insolvenzfähig werden. Das ist ja Gesetzesgrundlage. len wird. Hier sind aber natürlich noch sehr viele Fragen offen und nicht geklärt. Natürlich haben die einzelnen Bundeslän- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – der unterschiedliche Interessenlagen, aber wenn die Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Stellen Sie sich Finanzhoheit der Krankenkassen eingeschränkt wird einmal darauf ein!) – zumindest auf den 1-Prozent-Beitrag –, dann muss Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14529

Max Straubinger (A) auch für die Pensionsrückstellungen irgendjemand ande- Seit Beginn dieses Jahres erleben wir, dass permanent (C) rer als jetzt die Länder Verantwortung übernehmen. versucht wird, von interessierter Seite einen Zusammen- hang zwischen möglichen Beitragssatzsteigerungen und Diese Frage ist nicht geklärt. Sie muss geklärt wer- dem Fonds herzustellen. Ich hatte eigentlich erwartet, den. Ich schicke hier voraus: Sie kann nicht dahin ge- dass dies hier erklärt wird; denn bei der Vorbereitung hend geklärt werden, dass dann alle Kassen aufgerufen habe ich auf der Homepage der FDP-Fraktion heute fol- sind, für eventuelle Pensionsverpflichtungen einzelner gendes Zitat von Daniel Bahr gefunden: Kassen letztendlich die Verantwortung zu übernehmen, beispielsweise über einen Fonds. Das muss schon im Schuld an dem Anstieg ist der von der Koalition ge- Verantwortungsbereich der Krankenkassen liegen – dort, plante Gesundheitsfonds, der eine neue bürokrati- wo auch die Pensionsverpflichtungen angefallen sind. sche Geldumverteilungsbehörde ist. (Frank Spieth (DIE LINKE): Das gilt dann In einer anderen Mitteilung hieß es heute Morgen: aber auch für Bayern!) Der Fonds ist schon pleite, bevor er gestartet ist. Ein Letztes: Mitentscheidend ist – das ist heute auch Man sollte ihn stoppen. schon andiskutiert worden – der künftige Beitragssatz. Es wird nichts unversucht gelassen. Bei allem Wort- Ich bin nicht der Meinung, dass der Beitragssatz unbe- geklingel ist es Ihnen allerdings heute auch nicht gelun- dingt steigen muss – schon gar nicht wegen des Fonds. gen, lieber Kollege Bahr, zu erklären, woher dieser Zu- Für diesen Beitragssatz ist aber mitentscheidend, dass sammenhang denn eigentlich kommen soll. die Bundesregierung im Rahmen der Senkung der Lohn- nebenkosten eine erfolgreiche Politik betrieben hat. Da- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) rauf sind wir stolz. Wir haben hier große Erfolge vorzu- weisen. Der Abbau der Arbeitslosigkeit schreitet voran Das wäre heute Ihre Aufgabe gewesen. usw. Es gibt diesen Zusammenhang nicht. Falls Sie uns (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Kassenbei- nicht glauben, möchte ich ein Zitat von Professor Gerd träge steigen, Rentenbeiträge steigen, Pflege- Glaeske vortragen, beiträge steigen!) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Oh Gott!) Das ist in einem solchen Prozess natürlich auch zu be- das da lautet: Für die Ausgabensteigerung ist der Fonds rücksichtigen. Insofern kann nicht argumentiert werden, nicht verantwortlich. es sei wichtig, dass der Beitragssatz hoch genug ist, da- (B) mit kein Zusatzbeitrag erforderlich wird und viele Kran- Ich finde es wichtig, zu wissen, dass genau folgender (D) kenkassen sogar noch eine Rückgewährung vornehmen Zusammenhang der Zahlen besteht: Wie viele Einzahler können; denn dies geht letztendlich zulasten der Wirt- sind da? Wie hoch ist die Grundlohnsumme? Wie hoch schaftlichkeit der Betriebe in unserem Land, und damit sind die Ausgaben? – Das hat mit Fonds überhaupt werden Arbeitsplätze vernichtet. nichts zu tun. Das ist zu beachten. Wir werden, gerade auch als Ihr bekanntes Argument, so etwas sei zu bürokratisch, CSU-Fraktion und als Unionsfraktionen, hier natürlich ist für Sie ja immer ein grundsätzliches Argument gegen auf diese Punkte Wert legen. jede Form von Regelung, die Ihnen nicht passt. Es ist aber nicht wirklich zielführend. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Die Aktuelle Stunde hat aber eines gebracht: Sie hat (Beifall bei der CDU/CSU) aus meiner Sicht sehr deutlich gemacht, dass es einen zentralen Unterschied zwischen der FDP-Fraktion und Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: dem gesamten Rest des Hauses gibt, nämlich den zentra- Das Wort hat nun Kollege Peter Friedrich, SPD-Frak- len Unterschied, dass Sie ganz offensichtlich Risiko- tion. selektion als ein legitimes Wettbewerbsinstrument be- trachten. (Beifall bei der SPD) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das ist doch völliger Unsinn!) Peter Friedrich (SPD): Mein Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Das muss man Ihren Reden ganz offensichtlich ent- Herren! Man ist versucht, schon zu Beginn allen noch nehmen. Ihre Intention, dass Sie bei dieser Lösung auch Anwesenden ein schönes Wochenende zu wünschen; weiterhin die Beitragsautonomie der Kassen beibehalten denn minütlich wird der Saal leerer. Das zeigt vielleicht wollen, heißt doch nichts anderes, als dass Sie weiterhin auch die Bedeutung der Aktuellen Stunde, die wir mo- Unterschiede von den Risken her wollen. Der Beitrag mentan hier gemeinsam verleben. von Herrn Schily war in diesem Zusammenhang wirk- lich entlarvend. Seine Ausführungen bedeuten doch (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Im Moment nichts anderes, als dass die individuell unterschiedlichen sind so viele Abgeordnete von der FDP da wie Risiken auch als Wettbewerbsvorteil von den Kassen von der SPD! Das finde ich verhältnismäßig mitgenommen werden können – Wettbewerb zwischen gut!) den Kassen. 14530 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Peter Friedrich (A) Genau dies wollen wir nicht. Deswegen wollen wir über Ausschreibung stattfindet, führt noch zu viel Un- (C) einen einheitlichen Beitragssatz. Daher gibt es den ruhe und zu vielen Klagen, weil manches sich erst ein- Fonds, den Risikostrukturausgleich. Wir wollen, dass spielen muss; ich erinnere nur an die Rabattlösungen. Je- Erfolge aufgrund der Fähigkeit des Managements der der von uns war vermutlich in der Apotheke und hat sich Kasse in Bezug auf die Versorgung der Versicherten das angeschaut. Aber verheimlichen Sie doch bitte nicht, auch im Vertragswettbewerb weitergegeben werden und dass das funktionierender Wettbewerb ist! Wenn Sie sich dass darüber Wettbewerbsvorteile und Wettbewerbs- in den Fällen, wo diese Instrumente wirken, die Preise unterschiede entstehen. Dort soll der Wettbewerb entste- anschauen, können Sie feststellen, dass das, was Sie hen, auf der Leistungsseite – aber nicht auf der Einnah- fürchten, nämlich Beitragserhöhungen aufgrund der menseite. Ausgabensteigerungen, an der Stelle am wirksamsten bekämpft wird. Herr Schily, bei allen Versuchen, das Ganze auf der grundsätzlichen Ebene zu betrachten, müssen Sie ein Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und ein schönes grundsätzliches Argument akzeptieren. Gesundheit ist Wochenende. kein frei handelbares Gut wie jedes andere. Das ist eben (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) genau nicht so.

(Beifall bei der SPD – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das hat doch keiner von uns gesagt!) Das Wort hat nun Kollege Georg Faust, CDU/CSU- In diese Richtung geht jegliche Ihrer Argumentationen. Fraktion. (Dr. Konrad Schily [FDP]: Sie hören doch nur, Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU): was Sie hören wollen!) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- – Ich höre Ihnen sehr genau zu. Ich wäre froh, Sie täten ren! Populismus allein macht nicht populär. es umgekehrt genauso. Lesen Sie vielleicht noch einmal (Heiterkeit bei der CDU/CSU) nach, was Sie gesagt haben. Sie wollen, dass die indivi- duellen Unterschiede in der Versichertenschaft über den Mit der heutigen Aktuellen Stunde wird die FDP auch Beitragssatz weitergegeben werden. Das haben Sie vor- nicht zur Lieblingspartei der gesetzlich Krankenversi- hin gesagt. cherten werden. Das wollen Sie aber vielleicht auch gar nicht. Ich muss aber auch sagen, dass ich den Widerstand der Grünen gegen den einheitlichen Beitragssatz nicht (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Dagegen hät- (B) ganz nachvollziehen kann. ten wir nichts! Darum kämpfen wir!) (D) (Frank Spieth [DIE LINKE]: Ich auch nicht!) – Natürlich. Wenn man auf der einen Seite mehr Steuerfinanzierung Wie schon zu vermuten war, gründet sich die Aufre- will – dafür bin auch ich –, dann muss man doch auf der gung der FDP auf die Expertise des Instituts für Gesund- anderen Seite politisch darum kämpfen, dass endlich heitsökonomik in München. 15,5 Prozent Krankenkas- eine politische Waffengleichheit zwischen Beitragsfest- senbeitrag wurden da vorhergesagt. Meine lieben Herren setzungen und Steuerfinanzierung hergestellt wird. Bis- von der FDP, der Gesundheitsfonds und die geweissag- her war es doch so, dass in diesem Hause nur die Steuern ten Beitragssatzerhöhungen haben herzlich wenig mit- verantwortet werden mussten. Dann konnte sich die Re- einander zu tun. Der Preis eines Kleiderschranks hängt gierung immer relativ bequem zurücklehnen und sagen: ja auch nicht davon ab, ob ich bar, mit Kreditkarte oder Entschuldigung, die Beitragssätze legen die Kassen fest; per Überweisung bezahle. wir sind empört, das wollen wir nicht mitmachen. – Aber (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – der Mut, sich stattdessen für eine Steuerfinanzierung Dr. Karl Addicks [FDP]: Das sind ja grundle- einzusetzen, war, je nach Zusammensetzung der Regie- gende Einsichten, die Sie uns hier vermitteln, rung, nicht immer in gleichem Maße vorhanden. Herr Kollege!) Deswegen macht es sehr wohl Sinn, unsere Verant- – Man muss sich eben auf dieses Niveau begeben; das ist wortung auf das gleiche Niveau zu heben. Kollegin leider so. Es gibt ja unterschiedliche Qualitäten von Bender hat gesagt, wir bänden uns da etwas ans Bein. Kleiderschränken. Ich fände es schön, wenn man die damit einhergehende Bereitschaft, hier darüber zu entscheiden, und den Mut, (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Demnächst gemeinsam Verantwortung zu tragen, anerkennen würde. wird Ihnen der Kleiderschrank zugeteilt! – Dr. Karl Addicks [FDP]: Aber kommen Sie Ein letzter Hinweis. Heute wurde schon wieder be- jetzt nicht mit dem Einheitskleiderschrank, schrieben, das sei das Ende des Wettbewerbs. Wenn Sie, Herr Kollege!) liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, all denen, die in diesen Tagen zu uns kommen, genau zuhören, – Jetzt hängen Sie nicht die Türen aus! – Die Aussagen dann werden Sie feststellen – und ich wäre Ihnen dank- des Instituts zu den Ausgaben für Arzneimittel und bar, wenn Sie das auch anerkennen würden –, dass hier Krankenhäuser schreiben im Wesentlichen die Ausga- ein funktionierender Wettbewerb existiert. Der Wettbe- bensteigerung in den letzten Jahren linear fort. Das muss werb, der über Verträge, über Versorgungsstrukturen, man bemerken, wenn man sich die einzelnen Positionen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14531

Dr. Hans Georg Faust (A) anschaut. Sie berücksichtigen auch nicht die in den (Dr. Karl Addicks [FDP]: Wie wird das mit (C) einzelnen Jahren veränderten gesetzlichen Rahmenbe- dem Ärzteinsolvenzrecht, Herr Kollege?) dingungen. Zudem wird vergessen, dass es auch Ausga- benrückgänge im Jahresvergleich gegeben hat. Die Aus- – Das Thema kann man nicht in fünf Minuten abhan- gaben im Krankenhaussektor orientieren sich an der deln. Grundlohnrate, zurzeit 0,64 Prozent. Niemand weiß, was Was die Forderung nach Beitragsautonomie der Kran- der neue ordnungspolitische Rahmen bringen wird. Das kenkassen betrifft – auch das ist Thema dieser Aktuellen ist reine Spekulation. Die Schwankungsreserve kann aus Stunde –, ist Autonomie in Zukunft deutlich mehr auf meiner Einschätzung nicht eingerechnet werden. Sie ist der Leistungs- und Vertragsseite gefordert. Die Union ist schon im bisherigen System eingepreist gewesen. Sie lag der Auffassung, dass das der richtige Weg ist. in der Verantwortung der einzelnen Krankenkassen und wurde teilweise leider mit Schulden bedient. Dafür sind Wenn schon Professor Neubauer und Herr Pfister ver- Zinsen zu zahlen. Aber diese extra anzusetzen, ist aus mutlich keine guten Wahrsager sind, so ist mein Kollege meiner Sicht nicht korrekt. Daniel Bahr erwiesenermaßen ein schlechter Prophet. Am 27. Oktober 2006 sagte er hier für 2007 einen Bei- Allerdings wird das, was wir den Ärzten mit dem tragssatzanstieg der Allgemeinen Ortskrankenkassen im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz versprochen haben, Westen von 1,5 Prozent und im Osten von 2 Prozent vo- ausgabenrelevant werden. Es ist aber im Interesse der raus. ärztlichen Versorgung in der Fläche notwendig und wird sicher auch von den Kollegen der FDP nicht in Zweifel Mein lieber Daniel, in Wirklichkeit ist der AOK-Bei- gezogen. tragssatz im Westen von Januar 2007 bis Januar 2008 gleich geblieben (Beifall bei der CDU/CSU – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das stimmt!) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Er ist im Januar gestiegen!) Auf der Einnahmenseite steht ein Plus von 1,5 Mil- und im Osten von 13,63 auf 13,55 Prozent gesunken. liarden Euro, mit dem das Institut rechnet. Das kann mehr oder weniger sein. Vergessen wurden 1,5 Milliar- Es gibt alles in allem viel Lärm um nichts. Der Fonds den Euro Steuermittel, die in dem Fonds zu verbuchen wird kommen, und ich bitte die Kollegen von der FDP, sind. über das Wochenende in sich zu gehen und sich zu fra- gen, ob wir uns solche Aktuellen Stunden zumuten müs- Alles in allem keine neuen Erkenntnisse, was den sen. Fonds betrifft. Wir können für die Zukunft nicht mehr (B) sagen als das, dass eine älter werdende Bevölkerung und (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Carola Reimann (D) verbesserte Diagnose- und Therapiemöglichkeiten ten- [SPD]: Das wird länger dauern!) denziell zu höheren Kosten im Gesundheitswesen führen werden und wir uns gemeinsam überlegen müssen, wie Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: das zu verkraften ist. Das Wort hat nun Christian Kleiminger, SPD-Frak- Ich denke, dass die Kritiker des Fonds immer noch tion. nicht verstanden haben, dass zwar der Beitragssatz ein- (Beifall bei der SPD) heitlich festgelegt wird, der Wettbewerb aber über den Leistungskatalog und die einkommensunabhängigen Rückerstattungen erfolgt. Christian Kleiminger (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Der Leistungs- Fürwahr, pünktlich zum neuen Jahr hat uns die Initiative katalog ist aber auch einheitlich!) Neue Soziale Marktwirtschaft mit einer weiteren Studie beglückt. Sie schürt die Angst vor horrenden Beitrags- Bisher konkurrieren die Kassen um die Höhe des Bei- sätzen zur gesetzlichen Krankenversicherung ab 2009. tragssatzes. In Zukunft konkurrieren die Kassen um Zu- Damit wagen Sie, Herr Bahr und die anderen Kollegin- und Abschläge. Der Versicherte spürt jetzt unabhängig nen und Kollegen von der FDP, nun den Sturm auf den von der Höhe seines Einkommens jede Einsparung der Gesundheitsfonds oder besser gesagt den Sturm im Was- Kasse in seinem Portemonnaie. Für die Kassen lohnt es serglas. sich, günstigere Tarife mit abgestuften Leistungen anzu- bieten, und für die Versicherten lohnt es sich, über solche Der Gesundheitsfonds wird in 348 Tagen eingeführt. Angebote nachzudenken. Er ist als solcher kein Allheilmittel – das behauptet auch niemand –, sondern eher ein Kompromiss. Daraus ma- Allerdings weise ich an dieser Stelle darauf hin, dass che ich persönlich auch keinen Hehl. Dennoch ist der zur Einführung des Fonds wesentliche Voraussetzungen Handlungsbedarf viel zu groß, als dass man sich aus der erfüllt werden müssen: Die Kassen müssen entschuldet Verantwortung stehlen könnte. Nichts zu tun außer laut sein. Die Vereinbarungen zur Konvergenzphase müssen nach einem Reformstopp zu rufen, ist auch keine Lö- umgesetzt werden. Der Morbi-RSA muss stehen, und die sung. offenen Fragen zum Kasseninsolvenzrecht müssen ge- klärt werden. Ich bin aber davon überzeugt, dass wir das (Dr. Karl Addicks [FDP]: Das war nicht die bis zum Jahresende schaffen werden. Alternative!) 14532 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

Christian Kleiminger (A) Der Gesundheitsfonds pur, für sich allein, ist nicht die werden soll, was bisher nicht gelungen ist. Aber so weit (C) Idee meiner Partei. Manche von uns hätten sich mutigere werden wir es sicherlich nicht kommen lassen. Schritte auf dem Weg zu einem solidarischen Gesund- heitssystem gewünscht. Auch das wird Ihnen nicht ge- Ich bleibe dabei: Unser Ziel einer solidarischen Ge- fallen. Denn ich denke dabei an eine weiter gehende Ver- sundheitspolitik ist und bleibt die Bürgerversicherung, pflichtung der privaten Versicherungen oder an eine wenn nicht heute, dann morgen. weitere Aufstockung der Bundeszuschüsse, um eine (Beifall bei der SPD) nachhaltig gerechte Absicherung im Krankheitsfall zu schaffen. Aber das hätte einigen in diesem Hause auch Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: nicht gepasst. Denn Ihre Vorschläge haben mit einem so- Nun hat als letzte Rednerin in der Aktuellen Stunde lidarischen Gesundheitssystem nichts zu tun. Kollegin Carola Reimann, SPD-Fraktion, das Wort. Vielleicht haben Sie, verehrte Kolleginnen und Kolle- gen von der FDP, bei Ihrem Sprung ins Wasserglas zum Dr. Carola Reimann (SPD): Beispiel vergessen, dass in Ostdeutschland immer noch Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- mehr Menschen ohne Arbeit sind als in Westdeutsch- ren! In den letzten Monaten nach Inkrafttreten der Ge- land. Es leben dort mehr ältere Menschen. Das Lohnni- sundheitsreform ist es erstaunlich ruhig geworden. Auch veau und damit auch die Sozialversicherungsbeiträge von der Opposition kam kaum noch etwas. Das ist wenig sind niedriger, es sei denn, Sie schließen sich noch unse- verwunderlich, weil alle Weltuntergangsszenarien, die rer Forderung nach Einführung eines Mindestlohns an; im letzten Jahr hier im Hause aufgezeigt wurden, nicht vielleicht ändert sich das dann. eingetreten sind. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Da kann ich (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ich habe im- Sie beruhigen! Das passiert nicht!) mer gesagt, im Jahr 2008 oder 2009 wird sich Angesichts dieser Situation ist der Ansatz, den der das zeigen!) Fonds verfolgt – gekoppelt an den Morbi-RSA – nicht so Die Reform ist gut angelaufen. 100 000 Menschen sind leicht von der Hand zu weisen. Die notwendige solida- wieder krankenversichert, die bisher keinen Versiche- rische Verteilung der Mittel soll in den ostdeutschen rungsschutz hatten; darauf ist noch nicht hingewiesen Ländern dem Erhalt der Struktur der gesetzlichen Kran- worden. Die Versicherten kommen in den Genuss neuer kenversicherung dienen. Gleichzeitig mit dem Gesund- Leistungen. Die Finanzentwicklung bei den Kranken- heitsfonds soll auch der einheitliche Beitragssatz einge- kassen verläuft im Wesentlichen positiv. Ich finde, das führt werden. kann sich sehen lassen. (B) (D) Die genannten Gutachter haben mit ihren Berechnun- Das ist natürlich nicht ganz nach Ihrem Geschmack, gen Angst und Schrecken verbreitet. Wir wissen, wer da Kollegen von der FDP. Daher kam Ihnen im neuen Jahr seine Interessen durchsetzen will. Natürlich sind die die sogenannte Expertise des Instituts für Gesundheits- Freunde der FDP und arbeitgebernahe Verbände gleich ökonomik gerade recht. Dass diese eklatante Fehler be- mit ins Wasser gesprungen, um hohe Wellen zu schla- inhaltet und vermutlich sogar als Hausarbeit eines Ge- gen. Dieses Getöse hat dann die vorhin erwähnte Zei- sundheitsökonomikstudenten abgelehnt würde, scheint tung mit den vier Buchstaben gerne und ungemein fach- Sie nicht zu stören. Jedenfalls scheuen Sie sich nicht, die gerecht dokumentiert. Ergebnisse dieser Expertise als Beleg für Ihre Forderun- gen in Ihren Antrag zu schreiben. Ich denke, damit ist al- Nicht interessengeleitete Fachleute – diese gibt es les zur fachlichen Basis gesagt. Trotz neuem Jahr enthält auch – halten sich jedoch mit konkreten Zahlen zurück, Ihr Antrag keine neuen Argumente und erst recht keine weil jede Vorhersage über den Beitragssatz zu diesem neuen Ideen und Vorschläge. verfrühten Zeitpunkt einzig und allein zur Spekulation wird. Dass die angesprochene Expertise zudem inhalt- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Einer unter lich und methodisch jeder Grundlage entbehrt, wurde vielen Belegen! Auch Herr Lauterbach hat ge- bereits hinlänglich erwähnt. Herr Bahr, meine eigene rechnet!) Vorhersage dagegen lautet – das meine ich rein spekula- tiv –: Sie und ich, wir werden immer älter. Das heißt, die Nun geht es wieder um den Gesundheitsfonds. Dieser Ausgaben im Gesundheitssystem werden steigen, mit erregt immer wieder die Gemüter vorrangig derjenigen oder ohne den Gesundheitsfonds. Warten Sie es ab! – diesen Eindruck habe ich –, die ihn nicht komplett ver- standen haben. Dabei ist er nichts weiter als ein techni- Der Beitragssatz wird im Spätherbst festgesetzt. Er sches Instrument der Gesundheitsreform, mit dem Gel- wird vor diesem Hintergrund schwerlich unter die ak- der für die GKV eingezogen und verteilt werden. Die tuelle Durchschnittsmarke sinken können. Aber ich sage Entwicklung des Beitragssatzes hängt deshalb auch nicht Ihnen eines: Er darf auch gar nicht zu niedrig angesetzt ursächlich vom Gesundheitsfonds ab; das ist heute sehr werden; denn umso mehr Kosten tragen dann die Arbeit- klar geworden. Sie haben für das Gegenteil keine Belege nehmerinnen und Arbeitnehmer allein in Form von Zu- anführen können. Für die Entwicklung des Beitragssat- satzbeiträgen. Ein niedriger Beitragssatz entlastet nur die zes sind vielmehr die Entwicklung der sozialversiche- Arbeitgeber. Korrigieren Sie mich, aber klingt das nicht rungspflichtigen Beschäftigung – diese steigt; das ist allzu sehr nach einer kleinen Kopfpauschale? Man ausgesprochen positiv –, die Tarifabschlüsse und die könnte den Verdacht hegen, dass hier etwas durchgesetzt Ausgabenentwicklung mit all ihren Facetten – Ausgaben Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14533

Dr. Carola Reimann (A) für Ärztehonorare, Arzneimittel usw. – maßgeblich. men aufnimmt. Für beide erhält die Kasse in Zukunft ei- (C) Trotzdem meinen schon jetzt welche, über die zukünf- nen festen Betrag von voraussichtlich 150 bis 170 Euro. tige Höhe des Beitragssatzes spekulieren zu können, Doch nicht nur der Ausgleich der Einnahmen wird ganze zwölf Monate vor dem Start des Fonds. Seriöse verbessert, was auch die regionalen Unterschiede be- Vorhersagen sind dies nicht, und ich weiß nicht, woher trifft. Der neue Risikostrukturausgleich berücksichtigt diese hellseherischen Fähigkeiten plötzlich kommen. ebenfalls schwerwiegende und kostenintensive chroni- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Herr sche Krankheiten. Für unser Beispiel bedeutet dies, dass Lauterbach!) es für eine chronisch kranke Rentnerin einen Zuschlag gibt, nicht aber für die gesunde Abgeordnete, sodass es Vielmehr wird damit versucht, die Menschen zu verun- für die Kasse gleichermaßen attraktiv ist, eine Rentnerin sichern und erneut Stimmung gegen die in diesem Hause und eine Bundestagsabgeordnete zu versichern. Diese beschlossene Gesundheitsreform zu machen. Zuschläge werden dann auf Basis des Gutachtens, das Dazu passt dann auch, dass beim Verkünden solcher hier bereits angesprochen worden ist, berechnet. Horrormeldungen ganz entscheidende Fakten bewusst Was Herrn Schily angeht, muss man einfach respek- unterschlagen werden, zum Beispiel, dass ein einheitli- tieren, dass seriöse Gutachter, die ihre Datengrundlage cher Beitragssatz nicht die Ausnahme, sondern die Regel definieren und erklären, wie die Qualität der Daten sein in unseren sozialen Sicherungssystemen ist. Man denke muss, dies nicht immer in leicht verständlichem Deutsch an die Rentenversicherung, die Pflegeversicherung und tun können. die Arbeitslosenversicherung; überall gibt es einheitliche Beitragssätze. Kolleginnen und Kollegen, meiner Ansicht nach sind wir einen guten Schritt hin zu einem gerechteren System Außerdem geht es um den Zusatzbeitrag. Eine weitere gekommen. Der Wettbewerbsvorteil von Kassen, die Tatsache ist, dass gut wirtschaftende Kassen ab dem vorrangig Gesunde versichern, wird sich merklich ver- nächsten Jahr die Möglichkeit haben, ihren Versicherten ringern. Das ist auch richtig so; das wollten wir. Wir ha- monatlich einen Betrag zurückzuzahlen. Nicht zuletzt ben immer beklagt, dass dem nicht so war. Die Kranken- hat man natürlich die Möglichkeit, die Kasse zu wech- kassen sollen schließlich ihre Energie darauf verwenden, seln, falls diese einen Zusatzbeitrag erhebt. Dies alles die bestmögliche Versorgung und Betreuung ihrer Versi- gehört mit in eine seriöse Debatte, wenn man denn eine cherten zu bieten, nicht aber darauf, in einen Wettbewerb solche führen möchte. um gesunde und gut verdienende Versicherte einzutre- ten. Mit der Verknüpfung von Fonds und verbessertem (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Risikostrukturausgleich sind wir also auf einem richti- (B) CDU/CSU) gen Weg. (D) Für uns Sozialdemokraten ist der entscheidende Fort- Ich wünsche ein schönes Wochenende. schritt dieser Reform die Verknüpfung des Gesundheits- fonds mit einem verbesserten morbiditätsorientierten (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Risikostrukturausgleich, der hier bereits mehrfach ange- klungen ist. Mit dem bislang bestehenden Ausgleich Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: konnten weder die unterschiedlichen Einnahmen der Die Aktuelle Stunde ist beendet. Wir sind damit am Mitglieder noch die unterschiedlichen Gesundheitszu- Schluss unserer heutigen Tagesordnung. stände und Versorgungsbedarfe der Versicherten einer Kasse hinreichend zielgenau ausgeglichen werden. Dies Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- wird jetzt verbessert. destages auf Mittwoch, den 23. Januar 2008, 13 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen ein gesundes Wochenende. Mit der Errichtung des Fonds wird es erstmals zu ei- nem wirklich hundertprozentigen Ausgleich der Einnah- (Iris Gleicke [SPD]: Danke! Gleichfalls, Herr men kommen. Das heißt, für eine Kasse spielt es dann Präsident!) überhaupt keine Rolle mehr, ob sie eine gut verdienende Die Sitzung ist geschlossen. freiwillig versicherte Bundestagsabgeordnete oder eine Rentnerin mit einem vergleichsweise geringen Einkom- (Schluss: 16.44 Uhr)

Berichtigungen 135. Sitzung, Seite 14242 (D) 7. Absatz; der Zwischen- ruf ist wie folgt zu lesen: Zuruf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das ist sowieso seine Abschiedsrede! 136. Sitzung, Seite 14377 (B) letzter Absatz; der zweite Satz ist wie folgt zu lesen: Es geht vielmehr darum, einen tatsächlichen Wandel in der Energiewirtschaft zu verhin- dern, indem man den Leuten weismacht, fossile Energie sei in Kürze kein Problem mehr.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14535

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Barnett, Doris SPD 18.01.2008* Jung (Konstanz), CDU/CSU 18.01.2008 Andreas Beck (Bremen), BÜNDNIS 90/ 18.01.2008 Marieluise DIE GRÜNEN Kampeter, Steffen CDU/CSU 18.01.2008

Beck (Köln), Volker BÜNDNIS 90/ 18.01.2008 Dr. h. c. Kastner, SPD 18.01.2008 DIE GRÜNEN Susanne

Behm, Cornelia BÜNDNIS 90/ 18.01.2008 Knoche, Monika DIE LINKE 18.01.2008 DIE GRÜNEN Krummacher, Johann- CDU/CSU 18.01.2008 Bluhm, Heidrun DIE LINKE 18.01.2008 Henrich

Bollen, Clemens SPD 18.01.2008 Leutheusser- FDP 18.01.2008 Schnarrenberger, Brüderle, Rainer FDP 18.01.2008 Sabine

Dr. Dehm, Diether DIE LINKE 18.01.2008 Lötzer, Ulla DIE LINKE 18.01.2008 Döring, Patrick FDP 18.01.2008 Lührmann, Anna BÜNDNIS 90/ 18.01.2008 DIE GRÜNEN Drobinski-Weiß, Elvira SPD 18.01.2008 (B) Möller, Kornelia DIE LINKE 18.01.2008 (D) Duin, Garrelt SPD 18.01.2008 Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/ 18.01.2008 Dyckmans, Mechthild FDP 18.01.2008 DIE GRÜNEN

Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 18.01.2008 Otte, Henning CDU/CSU 18.01.2008

Glos, Michael CDU/CSU 18.01.2008 Otto (Frankfurt), Hans- FDP 18.01.2008 Joachim Golze, Diana DIE LINKE 18.01.2008 Piltz, Gisela FDP 18.01.2008 Griese, Kerstin SPD 18.01.2008 Poß, Joachim SPD 18.01.2008 Dr. Happach-Kasan, FDP 18.01.2008 Christel Roth (Heringen), SPD 18.01.2008 Michael Haustein, Heinz-Peter FDP 18.01.2008 Scheelen, Bernd SPD 18.01.2008 Heller, Uda Carmen CDU/CSU 18.01.2008 Freia Schily, Otto SPD 18.01.2008

Dr. Hemker, Reinhold SPD 18.01.2008 Schultz (Everswinkel), SPD 18.01.2008 Reinhard Herlitzius, Bettina BÜNDNIS 90/ 18.01.2008 DIE GRÜNEN Seib, Marion CDU/CSU 18.01.2008

Hinz (Essen), Petra SPD 18.01.2008 Siebert, Bernd CDU/CSU 18.01.2008

Hinz (Herborn), Priska BÜNDNIS 90/ 18.01.2008 Steinbach, Erika CDU/CSU 18.01.2008 DIE GRÜNEN Stiegler, Ludwig SPD 18.01.2008 Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/ 18.01.2008 DIE GRÜNEN Strothmann, Lena CDU/CSU 18.01.2008 14536 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

(A) rung und der Exilkubaner nochmals verstärkt. Zugleich (C) entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich freue ich mich, dass auch in den USA die Stimmen aus der Zivilgesellschaft lauter werden, die ein Ende der des- truktiven Kuba-Politik ihrer Regierung, insbesondere ein Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 18.01.2008 Ende des Handels-, Wirtschafts- und Finanzembargos DIE GRÜNEN gegen Kuba fordern. Ich beziehe mich hier auf einen Appell US-amerikanischer Künstlerinnen und Künstler, Veit, Rüdiger SPD 18.01.2008 unter ihnen Sean Penn, Carlos Santana, Tom Waits und Harry Belafonte. Waitz, Christoph FDP 18.01.2008 Wie in jedem Jahr seit 1992 so hat auch im Oktober Dr. Westerwelle, Guido FDP 18.01.2008 2007 die Vollversammlung der Vereinten Nationen wie- der mit übergroßer Mehrheit das Embargo verurteilt, das Willsch, Klaus-Peter CDU/CSU 18.01.2008 die USA über Kuba verhängt haben. Nie war die Mehr- heit gegen die USA in dieser Frage so groß: 184 Staaten Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 18.01.2008 stimmten der Resolution zu, die die Aufhebung des Em- bargos verlangt. Die USA fanden lediglich drei Verbün- Zeil, Martin FDP 18.01.2008 dete. Ich finde es richtig, dass die Bundesregierung nicht dazugehörte und dass Deutschland seit einigen Jahren im * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- großen Lager derer zu finden ist, die das Embargo ableh- sammlung des Europarates nen. Die kubanische Bevölkerung erfährt durch die US- Anlage 2 Sanktionen ungeheure Einschränkungen. Alle sozialen und wirtschaftlichen Bereiche der kubanischen Gesell- Erklärung schaft werden durch das Embargo geschädigt. Der Wa- des Abgeordneten Jan Mücke (FDP) zur Ab- renaustausch mit den USA ist fast vollständig unterbun- stimmung über die Beschlussempfehlung des den, der mit anderen Staaten wird behindert – teilweise Auswärtigen Ausschusses: Keine Unterstützung durch geradezu absurde bis lächerliche Regelungen –, für die indische Atomrüstung (Tagesordnungs- ebenso Kreditgeschäfte, ausländische Investitionen und damit die Weiterentwicklung bedeutender Wirtschafts- punkt 22 f, Drucksache 16/4590) zweige wie des Tourismus. Die kubanische Regierung Ich erkläre, dass die Fraktion der FDP der Beschluss- beziffert den Schaden, der ihrem Land seit der Inkraft- (B) empfehlung zustimmt. setzung der Sanktionen im Jahr 1960 entstanden ist, auf (D) über 80 Milliarden US-Dollar. Diese Blockade ist völ- kerrechtswidrig und grausam. Sie muss fallen! Anlage 3 Die US-Regierung hat sich bisher vom fast einstim- Neuabdruck einer migen Votum der Vollversammlung nicht beeindruckt zu Protokoll gegebenen Rede gezeigt. Wir finden es deshalb wichtig, dass sich die Bundesregierung dazu durchringt, ihre Kritik an der Blo- zur Beratung der Beschlussempfehlung und des ckade, die in ihrer exterritorialen Wirkung ja auch die Berichts: Eintreten für die Beendigung der von deutschen Beziehungen zu Kuba berührt, gegenüber der den USA auferlegten Wirtschafts-, Handels- US-Regierung direkt vorzubringen. Das wäre umso not- und Finanzblockade gegen Kuba (136. Sitzung, wendiger, als der US-Präsident im Herbst die Schraube Tagesordnungspunkt 16) der Aggression noch ein Stückchen weitergedreht, Kuba als „tropischen Gulag“ bezeichnet, die Aufrechterhal- Heike Hänsel (DIE LINKE): Am 1. Januar wurde die tung der Blockade bestätigt und die Einrichtung eines kubanische Revolution 49 Jahre alt. Ich beglückwünsche milliardenschweren „Freiheitsfonds“ angekündigt hat, die Kubanerinnen und Kubaner zu den sozialen Errun- aus dem ein Regime Change finanziert werden soll. Ich genschaften, die sie in diesen 49 Jahren erkämpft haben. gehe davon aus, dass die Bundesregierung nicht auf die Ich selbst war mehrmals in Kuba und habe mit vielen Einladung des Präsidenten reagiert hat, sich an diesem Kubanerinnen und Kubanern diskutiert. Ich habe viele Fonds zu beteiligen. engagierte Kubanerinnen und Kubaner getroffen, die an Die US-Politik gegenüber Kuba ist eine unheilvolle der Überwindung der Defizite, die es in Kuba gibt, auch Mischung wirtschaftlicher Interessen, missionarischer Defizite in der demokratischen Teilhabe, selbstbestimmt, Anmaßung und totaler Ignoranz gegenüber der kubani- ohne äußere Einmischung und ihren Vorstellungen ent- schen Gesellschaft. Diese Mischung ist hochgefährlich, sprechend arbeiten. Ein Embargo, das sie stranguliert, und sie entfaltet seit vielen Jahren destruktive Wirkung. oder politische Sanktionen, die sie „erziehen“ sollen, Ich appelliere an die Bundesregierung, sich dieser Poli- sind nicht akzeptabel. tik nicht nur passiv in der UN-Vollversammlung, son- In diesen Tagen, in denen sich in Kuba ein Wechsel dern ganz klar und deutlich in der direkten Auseinander- an der Staats- und Parteispitze vollzieht, in denen aber setzung mit der US-Regierung entgegenzustellen! Das auch politische und wirtschaftliche Veränderungen vor- wäre auch ein wichtiges Signal in Richtung der Kräfte, bereitet werden, haben sich die Begehrlichkeiten und die in ganz Lateinamerika Träger eines neuen sozialen Feindseligkeiten gegenüber Kuba seitens der US-Regie- Aufbruchs sind und die sich dabei auf die Solidarität Ku- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008 14537

(A) bas stützen. Wir brauchen einen völlig neuen, auf gleich- – Gesetz über die Feststellung des Bundeshaushalts- (C) berechtigte Partnerschaft und solidarische Unterstützung plans für das Haushaltsjahr 2008 (Haushaltsgesetz abzielenden Ansatz in der deutschen Lateinamerikapoli- 2008) tik. – Sechstes Gesetz zur Änderung des Dritten Buches Die Signale der Bundesregierung sind bislang unein- Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze deutig. Von deutscher Kritik an der Kuba-Politik von Bush hat man bislang nichts gehört. Im EU-Rat zählte – Gesetz über die Feststellung eines Nachtrags zum die Bundeskanzlerin während ihrer Präsidentschaft 2007 Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2007 leider zu den Hardlinern gegen Kuba. Durchgesetzt hat (Nachtragshaushaltsgesetz 2007) sich in der EU glücklicherweise vorerst eine andere Hal- tung, die vor allem von Italien, Spanien und Belgien ge- – Neuntes Gesetz zur Änderung des Versicherungs- tragen wurde und die auf Dialog setzt. So blieben die aufsichtsgesetzes EU-Sanktionen gegen Kuba auch unter deutscher Rats- präsidentschaft weiter ausgesetzt. – Siebenundzwanzigstes Gesetz zur Änderung des Zugleich bleibt der Anspruch der EU, in Kuba auf ei- Abgeordnetengesetzes nen „friedlichen Wandel“ hinwirken zu wollen, ein Hin- dernis für die Normalisierung der Beziehungen zu Kuba. – Drittes Gesetz zur Änderung des Bundespolizei- Für eine vollständige Normalisierung der Beziehungen gesetzes zwischen der EU und Kuba wäre es notwendig, dass die Sanktionen der EU nicht nur ausgesetzt, sondern endgül- – Zweiundzwanzigstes Gesetz zur Änderung des tig aufgehoben werden und der gemeinsame Standpunkt Bundesausbildungsförderungsgesetzes (22. BAföG- der EU zu Kuba endlich aufgegeben und durch einen ÄndG) neuen Ansatz ersetzt wird. – Gesetz über die elektromagnetische Verträglich- Auf der anderen Seite sehen wir durchaus, dass es in keit von Betriebsmitteln (EMVG) letzter Zeit einige positive Signale in der deutschen Kuba-Politik gab. Insbesondere begrüßen wir, dass das – Gesetz über die umweltgerechte Gestaltung ener- 2003 auf Eis gelegte Kulturabkommen zwischen giebetriebener Produkte (Energiebetriebene-Pro- Deutschland und Kuba nun sehr bald unterzeichnet wer- dukte-Gesetz – EBPG) den soll. Auch in der Frage der Wiederaufnahme der Entwicklungszusammenarbeit hoffen wir auf mehr Be- – Gesetz zu dem Abkommen vom 26. Juli 2007 zwi- wegung. schen der Europäischen Union und den Vereinigten (B) Staaten von Amerika über die Verarbeitung von (D) Gerade auf dem Gebiet der Entwicklungszusammen- Fluggastdatensätzen (Passenger Name Records – arbeit böten sich viele Felder einer fruchtbaren Zusam- PNR) und deren Übermittlung durch die Fluggesell- menarbeit zwischen Deutschland und Kuba, von der schaften an das United States Department of Home- auch Dritte profitieren könnten. Ich denke an den Be- land Security (DHS) (PNR-Abkommen 2007) reich der regenerativen Energien, an die Unterstützung des Austauschs von Fachleuten mit noch schwächeren – Zweites Gesetz zur Änderung des Arbeitnehmer- Nachbarländern Kubas, an die Finanzierung von Stipen- Entsendegesetzes dien kubanischer Universitäten für Studentinnen und Studenten aus Entwicklungsländern etc. Als Entwick- lungspolitikerin bin ich von der Bereitschaft der Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben Kubanerinnen und Kubaner beeindruckt, ihre sozialen mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 Errungenschaften auch mit anderen, viel schwächeren der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den Gesellschaften zu teilen. In Haiti beispielsweise wird ge- nachstehenden Vorlagen absieht: rade mit kubanischer Hilfe ein groß angelegtes Alphabe- tisierungsprogramm durchgeführt. Kubanische Techni- kerinnen und Techniker bauen dort Solarkollektoren auf, Haushaltsausschuss Hunderte kubanische Ärztinnen und Ärzte, Krankenpfle- ger und -pflegerinnen versorgen die Bevölkerung selbst – Unterrichtung durch die Bundesregierung in entlegenen Regionen Haitis. Diese Süd-Süd-Solidari- Haushalts- und Wirtschaftsführung 2007 tät verdient unsere Unterstützung und kann Vorbild für Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 17 02 Titel 632 01 eine zukünftige Entwicklungszusammenarbeit sein. – Aufwendungen für Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft – – Drucksachen 16/7261, 16/7376 Nr. 5 – Anlage 4 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Amtliche Mitteilungen Haushalts- und Wirtschaftsführung 2007 Einwilligung in eine überplanmäßige Ausgabe bei Kapi- Der Bundesrat hat in seiner 840. Sitzung am 20. De- tel 60 03 Titel 632 01 zember 2007 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen – Zahlungen nach dem Strafrechtlichen Rehabilitie- zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 rungsgesetz – Abs. 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen: – Drucksachen 16/7272, 16/7376 Nr. 6 – 14538 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 137. Sitzung. Berlin, Freitag, den 18. Januar 2008

(A) – Unterrichtung durch die Bundesregierung Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (C) Haushalts- und Wirtschaftsführung 2007 Drucksache 16/7070 Nr. A.3 Außerplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 12 25 Titel 870 01 Drucksache 16/7070 Nr. A.10 – Inanspruchnahme des Bundes aus Baumaßnahmen für Gaststreitkräfte – – Drucksachen 16/7289, 16/7376 Nr. 7 – Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Drucksache 16/7070 Nr. A.20 Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Arbeit und Soziales – Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 16/5681 Nr. 1.44 Bericht der Bundesregierung über die Auswirkungen Drucksache 16/7223 Nr. A.5 der Freistellung preisgünstiger Arzneimittel von der Zuzahlung – Drucksachen 16/6045, 16/6369 Nr. 1.9 – Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Drucksache 16/6389 Nr. 1.22 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 16/6715 Nr. 1.24 Bericht der Bundesregierung zu den Auswirkungen des Gesetzes zur Einführung des Wohnortprinzips bei Honorarvereinbarungen für Ärzte und Zahnärzte Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – Drucksachen 16/6517, 16/6702 Nr. 4 – Drucksache 16/150 Nr. 1.48 Drucksache 16/6389 Nr. 1.4 Drucksache 16/6389 Nr. 1.5 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben Drucksache 16/6389 Nr. 1.6 mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU- Drucksache 16/6389 Nr. 1.26 Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Drucksache 16/6389 Nr. 1.85 Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- Drucksache 16/6501 Nr. 1.5 Drucksache 16/6715 Nr. 1.1 tung abgesehen hat. Drucksache 16/6865 Nr. 1.6 Drucksache 16/6865 Nr. 1.7 Drucksache 16/7070 Nr. A.17 Innenausschuss Drucksache 16/7070 Nr. A.18 Drucksache 16/7070 Nr. A.19 Drucksache 16/6041 Nr. 2.1 Drucksache 16/7070 Nr. C.1 Drucksache 16/6715 Nr. 1.8 (B) Drucksache 16/6715 Nr. 1.16 (D) Drucksache 16/6715 Nr. 1.20 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Drucksache 16/481 Nr. 1.3 Rechtsausschuss Drucksache 16/2555 Nr. 1.29 Drucksache 16/4939 Nr. 2.13 Drucksache 16/3060 Nr. 1.12 Drucksache 16/6389 Nr. 1.8 Drucksache 16/6041 Nr. 2.9 Drucksache 16/6389 Nr. 1.98 Drucksache 16/6041 Nr. 2.13

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