nach dem Tagebuch der von Jessica Durlacher & Leon de Winter

BEGLEITMATERIAL FÜR PÄDAGOGINNEN UND PÄDAGOGEN

SCHAUSPIEL

neues theater / Saal

Alter: ab 14 Jahre

Veranstaltungsort: neues theater Halle, Saal Große Ulrichstraße 51 06108 Halle (Saale)

Schulabonnement, Kartenreservierung und Verkauf: Karin Preuk Tel. 0345 5110-776 Fax 0345 5110-781 [email protected]

ANNE von Jessica Durlacher & Leon de Winter | Premiere am 22. September 2016

DAUER ca. 2 h, 15 Minuten, eine Pause

BESETZUNG

Regie: KATHARINA BRANKATSCHK Bühne und Kostüme: MARKUS NEESER Videografie: CONNY KLAR Musik und Sounddesign: RAFAEL KLITZING Dramaturgie: BERNHILD BENSE

DARSTELLER: ANNEMARIE BRÜNTJEN (Anne Frank), EDDA MARIA WIERSCH (, Schwester), PETRA EHLERT / KATHARINA BRANKATSCHK (, Mutter), ENRICO PETTERS (, Vater), MAX RADESTOCK (Peter van Pels), DANNE SUCKEL / SYBILLE KRESS (Frau van Pels), KARL-FRED MÜLLER (Herr van Pels), TILL SCHMIDT (Herr Pfeffer), BARBARA ZINN (), FRANK SCHILCHER (Jan Gies) u.a.

Foto: Anna Kolata

1 »WER, AUSSER MIR SELBST, WIRD JEMALS LESEN, WAS ICH HIER SCHREIBE? «

Hier liegt zu einem großen Teil der Unterschied zwischen Mutter und mir. Ihr Rat bei Schwermut ist: »Denke an all das Elend in der Welt und sei froh, dass du das nicht erlebst.« Mein Rat ist: »Geh hinaus in die Felder, die Natur und die Sonne. Geh hinaus und versuche, das Glück in dir selbst zurückzufinden. Denke an all das Schöne, das noch in dir und um dich ist, und sei glücklich!« Meiner Meinung nach kann Mutters Satz nicht stimmen, denn was tust du dann, wenn du das Elend doch erlebst? Dann bist du verloren. Ich hingegen finde, dass noch bei jedem Kummer etwas Schönes übrig bleibt. Wenn man das betrachtet, entdeckt man immer mehr Freude, und man wird wieder ausgeglichen. Und wer glücklich ist, wird auch andere glücklich machen. Wer Mut und Vertrauen hat, wird im Unglück nicht untergehen! (Tagebuch, 7. März 1944)

Ein vierjähriges Mädchen muss mit den Eltern und der großen Schwester in ein anderes Land ­fliehen. Die beiden Kinder integrieren sich dort schnell, gehen in den Kindergarten, in die Schule. Der Vater gründet eine marktgerechte Firma, beschäftigt mehrere einheimische Mitarbeiter. Der Familie geht es gut. Doch ein paar Jahre später ist Krieg, und der Staatsterror, der die Familie aus ihrer Heimat vertrieben hatte, bedroht die Flüchtlinge erneut. Aber eine weitere Flucht ist unmöglich. Kein Land der Welt will noch mehr Verfolgte aufnehmen. Hie und da gibt es knappe Flüchtlingskontingente, doch nur mit besten Beziehungen, reichlich Geld und ganz viel Glück haben die Hilfsbedürftigen die Chance, irgendwo, vielleicht in Südamerika, noch ein sicheres Asyl zu finden. Die Familie des Mädchens gehört nicht zu diesen vom Schicksal Auserwählten. Der kluge Vater muss eine andere Lösung finden, um seine Familie zu retten. Er bereitet ein Versteck vor. Die ­Familie taucht unter, überlebt dank vieler freiwilliger Helfer mehr als zwei Jahre unter schwierigsten Bedingungen und wird schließlich verraten, verhaftet, verschleppt und ermordet.

Eine schreckliche Geschichte, ein tragisches und unerträgliches Flüchtlingsschicksal, eine von ­vielen Millionen Geschichten von Verfolgung, Flucht, Krieg, Unmenschlichkeit, Menschlichkeit, Überlebenskampf, Verzweiflung und Tod. Geschichten, wie sie noch immer jeden Tag passieren. Ende des Jahres 2015 gab es laut UN-Angaben weltweit mehr als 63 Millionen Flüchtlinge – die höchste Zahl seit dem Ende des zweiten Weltkriegs.

Draußen ist es schrecklich. Tag und Nacht werden die armen Menschen weggeschleppt. Familien werden aus­einandergerissen, Männer, Frauen und Kinder werden getrennt. Kinder, die von der Schule nach Hause kommen, finden ihre Eltern nicht mehr. Frauen, die Einkäufe machen, finden bei ihrer Heimkehr die Wohnung versiegelt, ihre Familie verschwunden. Die niederländischen Christen haben auch schon Angst, ihre Söhne werden nach Deutschland geschickt. Jeder fürchtet sich. Und jede Nacht fliegen Hunderte von Flugzeugen über die Niederlande zu deutschen Städten und pflügen dort die Erde mit ihren Bomben, und jede Stunde fallen in Russland und Afrika Hunderte, sogar Tausende Menschen. Niemand kann sich

2 raushalten, der ganze Erdball führt Krieg, und obwohl es mit den Alliierten bessergeht, ist ein Ende noch nicht abzusehen. Und wir, wir haben es gut, besser als Millionen anderer Menschen. Wir sitzen sicher und ruhig und essen sozusagen unser Geld auf. Wir sind so egoistisch, dass wir über »nach dem Krieg« sprechen, uns über neue Kleider und Schuhe freuen, während wir eigentlich jeden Cent sparen müssten, um nach dem Krieg anderen Menschen zu helfen, zu retten, was noch zu retten ist. (Tagebuch, 13. Januar 1943)

Und doch ist diese eine Geschichte eine besondere geworden – »eine der größten Geschichten des 20. Jahrhunderts«. Das sagt der niederländische Autor Leon de Winter, der zusammen mit seiner Frau und Kollegin Jessica­ Durlacher vor wenigen Jahren das neue Anne-Frank-Stück schrieb. Denn diese eine Geschichte ist uns so ­authentisch und lebendig, so klug und verbindlich von Anne Frank selbst erzählt worden, von jenem ­jü­dischen Mädchen, das als Vierjährige aus Deutschland in die Niederlande floh, kurz nach seinem 13. Geburtstag in untertauchen musste und fünf- zehnjährig im KZ Bergen-Belsen sein Leben verlor.

Anne Frank wurde 1929 in Frankfurt am Main in eine weitverzweigte großbürgerliche deutsch-­ jüdische Familie hineingeboren – drei Jahre nach ihrer großen Schwester Margot. Annes Vater Otto Frank war als Bankier und Kaufmann in verschiedenen Unternehmen tätig; Annes Mutter Edith war eine »gute Partie«. Als 1933 in Deutschland die Faschisten an die Macht kamen, war Otto Frank weitsichtig genug, mit seiner Familie nach Amsterdam auszuwandern, wo er eine Niederlassung der international agierenden Lebensmittel-Firma gründete und fortan leitete. In Amster- dam lebte die Familie Frank zwar in bescheideneren Verhältnissen als in Frankfurt, aber alles war

Foto: Anna Kolata

3 gut, die Geschäfte liefen (besonders, nachdem Otto Frank den Gewürzspezialisten Hermann van Pels als Partner in die Firma holte), Anne ging erst in den Montessori-Kindergarten, später in die ­Montessori-Schule. Im Mai 1940 – ein Dreivierteljahr nach Beginn des 2. Weltkriegs – überfiel der große Nachbar Deutschland die Niederlande:­ fünf Tage waren die Kampfhandlungen beendet,­ die niederländische Königin im Exil und die ­Niederlande von den Deutschen besetzt. Wie in Deutsch- land wurden nun auch in den Niederlanden judendiskriminierende­ Gesetze­ erlassen und ange- wandt, die die Lebensmöglichkeiten der vielen emigrierten deutschen und der holländischen Juden immer weiter einschränkten. Otto Frank bemühte sich vergeblich, über Verwandte und Freunde in Amerika vielleicht doch noch ein Visum für eine Ausreise aus Europa zu bekommen. Parallel dazu bereitete er im versteckten Hinterhaus seines Firmengebäudes eine Untertauchmög- lichkeit für seine Familie vor. Im Frühsommer 1942 begann die Deportation von Juden aus den Nie- derlanden in die Konzentrationslager, meist nach Auschwitz. Die 16jährige Margot Frank erhielt am 5. Juli 1942 die schriftliche Aufforderung, sich mit gepacktem Koffer zum Abtransport in ein deutsches Arbeitslager einzufinden. Einen Tag später zog Familie Frank in das Versteck. Eine Wo- che später kam die Familie von Ottos Geschäftspartner Hermann van Pels – er, seine Frau Auguste und der 15jährige Sohn Peter – nach; einige Monate später kam auch noch der alleinstehende deutsch-jüdische Zahnarzt dazu. Genau zwei Jahre und einen Monat lebten die Franks und ihre Leidensgenossen in dem Versteck. Am 4. August 1944 wurden sie verraten und verhaftet.

Ihre im Versteck entstandenen Tagebücher machten Anne Frank unsterblich, haben die Welt beein- druckt, ­halten die Erinnerung wach an ein besonders barbarisches Kapitel europäischer ­Geschichte, sind Schullektüre, wurden in über 70 Sprachen übersetzt, millionenfach verkauft, auf die Bühne gebracht, immer wieder verfilmt. ­Jeder kennt Anne Frank. Sie ist das weltweit bekannteste Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Das Mädchen mit den dunklen halb­langen Haaren, den munteren Augen und dem breiten Lächeln ist das Gesicht für mindestens sechs ­Millionen ­ermordeter Juden, für diese unvorstellbare Anzahl vernichteter Lebensläufe. Anne Frank – das Symbol, die Ikone und der so nahe und so ferne, der uns weggenommene Mensch.

Foto: Anna Kolata

4 Zum Schluss dieser Kuddelmuddelmitteilungen noch einen besonders komischen Witz, der von Herrn van Pels stammt: Was macht 999 mal klick und einmal klack? Ein Tausendfüßler mit einem Klumpfuß! Tschüs, deine Anne (Tagebuch, 1. Oktober 1942)

Ein erneuerter, ein zeitgemäßer Blick auf den Menschen Anne Frank war auch das Ziel des ­niederländischen Autoren-Ehepaares Jessica Durlacher (geb. 1961) und Leon de Winter (geb. 1954). Beide stammten selbst aus verfolgten jüdischen Familien und schienen dem Anne-­Frank-Fond in Basel daher besonders geeignet, eine neue Theater-Fassung von Anne Franks Tagebuch und Le- bensgeschichte zu erstellen. Für ihr Stück ANNE, das am 8. Mai 2014 (kurz vor Anne Franks – so schwer vorstellbarem – 85. Geburtstag) Premiere hatte, wurde im Amsterdamer Hafen ­sogar ein ganz neues Theater gebaut. Das Publikum bestaunte ein multimediales Theater­ereignis mit mo- dernster Videotechnik und raffinierter Bühnenmaschine in originalgetreu nachgebautenRäumen ­ und historischen Kostümen« – die Kritik lobte vor allem den originellen Zugriff, den die Autoren auf das so oft bearbeitete Material gefunden haben.

DAS TAGEBUCH DER ANNE FRANK gelangte überhaupt erst durch die 1956 in New York uraufge- führte Bühnenfassung von Frances Goodrich und Albert Hackett sowie durch die wenig später ­entstandene Hollywood-­Ver­filmung dieser Fassung zu der Popularität, zu der Verbreitung auch des Buches, die wir bis heute kennen. Direkt nach dem Krieg wollte man in Europa, besonders in Deutschland, wohl erst mal nichts mehr von dem wissen, was man gerade angerichtet und über- standen hatte. Während es noch viele weitere Verfilmungen des Stoffes gab und immer wieder gibt, war Anne Franks Geschichte auf der Bühne schon länger nicht mehr erzählt worden.

Das neue Stück ANNE von de Winter/Durlacher beginnt erstaunlicherweise ein paar Jahre nach dem Krieg. Anne Frank studiert in Paris und trifft dort in einem eleganten Restaurant ihre alten Freunde aus Amsterdam: Hannah »Hanneli« Goslar, und Helmut »Hello« Silberstein – alle drei auch Opfer der Judenver­folgung, aber teilweise bis heute am Leben. Dort in dem Pariser Restaurant entdeckt Anne auch einen ­interessanten­ jungen Mann, der sie an ihre heimliche große Liebe erinnert: an jenen so gut aussehenden Peter Schiff, der sie einmal nach Hause gebracht hatte als sie 12 war und der danach bestimmt nur deshalb mit anderen Mädchen ging, um seine Gefühle für Anne vor sich selbst zu verbergen. Dieser seltsam anziehende Mann im Restaurant ist wohl Verleger und Anne Frank sieht die Gelegenheit, ihre – auf ihrem Versteck-­ Tagebuch basierenden­ – Geschichten aus dem Hinterhaus zu veröffentlichen und eine berühmte Schriftstellerin zu werden. Deshalb erzählt sie ihm von dem, was damals passierte…

So wird im Theaterstück ANNE Anne Franks Leben im Versteck ein von ihr selbst moderierter Rück- blick, eine Erzählung, eine Show, eine Episodensammlung, eine theatralische Erinnerungsreise – und verleitet nicht zu dem Versuch, auf der Bühne museal nachzubilden, wie es damals »wirklich« war. Alles, was auf der Bühne passiert, findet eigentlich in Annes Kopf statt, ist von ihrer Auswahl, ihrer Erinnerung. Erst am Ende des Stückes wird klar, dass die Vision der sich erinnernden Anne in Paris nichts war als ein Fiebertraum der an Typhus sterbenden Anne im KZ Bergen-Belsen. Und der geheimnisvolle Mann, der aussah wie Anne große Liebe Peter Schiff, war Annes Todesengel.

5 Ich frage mich immer wieder, ob es nicht besser für uns alle gewesen wäre, wenn wir nicht untergetaucht ­wären, wenn wir nun tot wären und dieses Elend nicht mitmachen müssten und es vor allem den anderen ersparten. Aber wir lieben das Leben noch, wir haben die Stimme der Natur noch nicht vergessen, wir hoffen noch, hoffen auf alles. Lass nur schnell was passieren, notfalls auch Schießereien. Das kann uns auch nicht mehr zermürben als diese Unruhe! Lass das Ende kommen, auch wenn es hart ist, dann wissen wir wenigstens, ob wir letztlich siegen werden oder untergehen. (Tagebuch, 26. Mai 1944)

Dafür, dass Anne Franks Tagebücher so wirksam werden konnten und uns auch mehr als 70 ­Jahre nach ihrem Entstehen noch immer erreichen und bewegen können, gibt es drei wesentliche ­Gründe. Erstens gelang es Otto Franks Mitarbeiterin und Hinterhaus-Helferin Miep Gies, nach der Verhaftung der Untergetauchten einen Großteil von Annes Tagebücher und Aufzeichnungen vor Beschlagnahme oder Zerstörung zu retten. Zweitens entschloss sich Otto Frank, der einzige der Hinterhäusler, der die Vernichtungslager überlebte, nach einigem Zögern (und mit einigen redak­ tionellen Eingriffen) dann doch bereits 1947 zur Veröffentlichung der Tagebücher seiner toten Toch- ter und stellte den Rest seines Lebens in den Dienst von Annes Vermächtnis. Dabei war er nicht we- nigen Anfeindungen ausgesetzt - politische Gegner von rechts unterstelltem ihm nicht nur reines Geschäftsinteresse an der Buchherausgabe, sondern sogar, die Tagebücher Annes selbst verfasst bzw. Fälschungen veranlasst und gekauft zu haben.

Vor allem aber beruht die Berühmtheit von Anne Franks Tagebuch darauf, dass sie selbst ihr ­Tagebuch zu nutzen wusste, um sich zu einer überzeugenden Schriftstellerin zu entwickeln. Sie hatte schon immer gern geschrieben, sie war neugierig, lesehungrig, konnte gut beobachten, hatte kluge Gedanken, originelle Ideen, viel Humor, ­Lebensfreude, Einfühlungsvermögen, dra­matisches Talent, einen kritischen Blick auf sich selbst und ihre Texte – sie hatte alles, was eine gute Schrift- stellerin ausmacht. Anne Franks – von ihr selbst überarbeitete – Tagebuchtexte sind nicht nur ­berührend und historisch interessant, sondern auch einfach gut. Weil die Dreizehnjährige­ im en- gen Versteck kaum etwas anderes tun konnte als Lesen und Schreiben, machte sie rasch litera­ rische Fortschritte. Annes Biografin Melissa Müller schreibt dazu:» Bei Anne wird die eigene Vor- stellungskraft, werden die eigenen Wünsche und Sehnsüchte zu einem Abbild der ganzen Welt. Es spielt sich alles »im eigenen Kopf« ab. Die Realität ist lediglich grau, beängstigend und eigentlich ziemlich ereignislos. Was Anne in ihren Texten daraus gemacht hat, ist bisher kaum erkannt und gewürdigt­ worden.«

Mir ist ganz schwindlig von all den Schimpfworten, die im letzten Monat durch dieses ehrbare Haus geflogen sind. Vater geht mit zusammengepressten Lippen herum, und wenn jemand ihn anspricht, schaut er so erschrocken hoch, als hätte er Angst, wieder eine schwierige Aufgabe lösen zu müssen. Mutter hat vor Aufregung rote Flecken auf den Backen, Margot klagt über Kopfschmerzen, Pfeffer kann nicht schlafen, Frau van Pels jammert den ganzen Tag, und ich selbst bin ganz aus der Fassung. Ehrlich gesagt, ich vergesse ab und zu, mit wem wir Streit haben und mit wem die Versöhnung bereits stattgefunden hat. Das Einzige, was mich ablenkt, ist Lernen, und das tue ich viel. (Tagebuch, 17. Oktober 1943)

6 Annes Aufzeichnungen halten auch all jene Menschen für uns lebendig, mit denen Anne die Jahre im Versteck verbrachte. Anne, ihre Eltern Edith und Otto, ihre große Schwester Margot, die Familie van Pels – Auguste, Hermann­ und Sohn Peter – sowie schließlich noch der Zahnarzt Fritz Pfeffer waren die acht untergetauchten deutschen Juden, die auf etwa 50 Quadratmetern in einem von der Straße aus nicht zu sehendem Hinterhaus von Otto Franks Firma zusammenlebten und – ­unter Kriegsbedingungen – von einigen Mitarbeitern Otto Franks versorgt worden, von Miep und Jan Gies, von , und vor allem, niederländischen Helfern, die mit ihrem illegalen Tun viel riskierten. Unser Bild von all diesen Menschen ist natürlich aus ­Annes ­Perspektive gemalt: der vergötterte Vater, die ungeliebte Mutter, die wegen ihrer »Artigkeit« zu- gleich beneidete und verachtete Schwester, dazu die exaltierte Frau van Pels, ihr streitlustiger und nikotinsüchtiger Mann, der zunächst langweilige, dann immer attraktiver werdende Peter van Pels und schließlich der nervende mittelalte Dentist, mit dem Anne ihr enges Zimmer teilen muss; dazu die Helfer, denen Anne viel Verständnis und Bewunderung entgegen bringt. Auch diese ­Menschen hat uns die Autorin Anne Frank ans Herz gelegt und so unser Interesse an deren zerstörten Lebens- geschichten über Jahrzehnte wachgehalten.

Ohne Annes Aufzeichnungen würden wir nicht darüber nachdenken, was für ein beeindrucken- der Mann Otto Frank (1889–1980) gewesen sein muss: ein Sohn aus gutem Hause, gebildet, ge- schäftstüchtig, seriös, vernünftig, seinen Töchtern zugewandt, seinem Mitarbeitern offenbar ein so guter Chef, dass sie für ihn das Risiko auf sich nahmen, die ­Untergetauchten jahrelang zu ver- sorgen. Otto Frank, der weitsichtig und verantwortungsbewusst alles richtig gemacht hatte, schon 1933 mit seiner Familie in die Niederlande gezogen war, als viele andere deutsche Juden noch glaubten, dass das mit der aggressiven Hitlerei sicher bald vorbei sein würde; der ein Versteck und alles zum Überleben Nötige für seine Familie langfristig vorbereitet hatte – und der doch am Ende alles verlor. Edith Frank (geboren 1900, gestorben ­6. Januar 1945 im KZ Auschwitz-Bir- kenau), die Tochter aus noch besserem Hause, die vielleicht am meisten unter dem Aufenthalt im fremden Land litt, wo sie plötzlich nur noch Hausfrau sein konnte und nicht mehr Teil eines weitverzweigten ­feinen ­Familienkreises und die im Versteck an der pubertierenden Tochter ver- zweifelte. Margot Frank ­(geboren 1926, gestorben Anfang März 1945 im KZ Bergen-Belsen), die kluge, stille Schönheit, die offenbar immer im Schatten ihrer aufmerksamkeitssüchtigen kleinen Schwester stand; die auch ein Tagebuch führte (das aber verloren ging) und auch viel zu wenig leben durfte. ­Hermann van Pels (geboren 1898, gestorben wahrscheinlich Anfang Oktober 1944 im KZ Auschwitz), Geschäftspartner von Otto Frank, der 1937 mit seiner Familie aus Osnabrück nach Amsterdam kam und der wohl etwas poltriger und bodenständiger war als der Gentlemen Otto Frank. Hermanns ­temperamentvolle Frau Auguste (geboren 1900, gestorben 9. April 1945 im KZ Buchenwald), die schließlich sogar Anne wegen ihrer Direktheit und Offenheit schätzen lernte. Peter van Pels (geboren­ 1926, gestorben 5. Mai 1945 im KZ Mauthausen), der auf dem offenbar einzig erhaltenen Foto so sympathisch jungenhaft lächelt. Und schließlich Fritz Pfeffer (geboren 1889, gestorben 20. Dezember 1944 im KZ Neuengamme), Zahnarzt aus Berlin, der seinen Sohn aus erster Ehe gerade noch rechtzeitig durch einen Kindertransport nach England gebracht hatte und der seine nicht-jüdische­ Lebensgefährtin Charlotte Kaletta in Amsterdam heiraten wollte, als das auch dort schon verboten war.

Alle diese Menschen sind tot – und behalten ein Leben in Annes Texten oder wie jetzt in unserer Beschäftigung mit ihnen für die Bühne. Alle Figuren im Stück ANNE haben wirklich gelebt. Die beiden Schulfreundinnen von Anne – Hanneli und Jacqueline – leben noch, sind bald 90. Theater verbindet uns mit ihnen allen, dank Anne Frank.

7 Untertauchen und Verstecken sind jetzt so normale Begriffe wie früher Papas Pantoffeln, die vor dem Ofen stehen mussten. Es gibt viele Organisationen wie »Freie Niederlande«. Sie fälschen Personalausweise, geben Untergetauchten Geld, treiben Verstecke auf und es ist erstaunlich, wie oft, wie nobel und wie uneigennützig diese Arbeit verrichtet wird und wie die Leute unter Einsatz ihres Lebens anderen helfen und andere retten. Das beste Beispiel dafür sind doch wohl unsere Helfer, die uns bis jetzt durchgebracht haben und uns hoffentlich noch ans sichere Ufer bringen. Nie haben wir von ihnen ein Wort gehört, das auf die Last hinweist, die wir doch sicher für sie sind. Niemals klagt einer, dass wir ihnen zu viel Mühe machen. Jeden Tag kommen sie herauf, machen, soweit es geht, ein fröhliches Gesicht, stehen immer und überall für uns bereit. Das ist etwas, was wir nie vergessen dürfen. Andere zeigen Heldenmut im Krieg oder gegenüber den Deutschen, aber unsere Helfer beweisen ihren Heldenmut in ihrer Fröhlichkeit und Liebe. (Tagebuch, 28. Januar 1944)

»Solange es noch Rassismus und Fremdenhass gibt, müssen wir diese Geschichte erzählen«, meint ANNE-­Koautor Leon de Winter im Interview vor der Amsterdamer Premiere seines Stückes. Solange Krieg, Fanatismus und Intoleranz Menschen ängstigt, zur Flucht zwingt, tötet, werden wir Anne Franks Geschichte auch als eine heutige lesen, werden wir Annes Lebensmut bewundern, werden wir von Anne Frank daran erinnert, welchen Wert jedes einzelne Menschenleben hat und dass jeder Mensch auf dieser Welt das Recht hat zu überleben, zu wachsen, zu lernen, nachzudenken, satt und beschützt zu werden und frei und glücklich zu sein. Von einer besseren­ Welt, wie sie sich auch Anne Frank erhoffte, sind wir noch immer so weit entfernt.

Radfahren, tanzen, pfeifen, die Welt sehen, mich jung fühlen, wissen, dass ich frei bin – danach sehne ich mich. Und doch darf ich es nicht zeigen. Denn stell dir vor, wenn wir alle acht anfingen, uns zu beklagen oder unzufriedene Gesichter zu machen, wohin sollte das führen? (Tagebuch, 24. Dezember 1943)

8 THEATERPÄDAGOGISCHE ANREGUNGEN

Die Arbeit mit dem Tagebuch der Anne Frank kann sehr vielfältig sein. Es ist sowohl Zeitzeugnis einer barbarischen­ Zeit, als auch der fast intime Einblick auf die Entwicklung eines Mädchens zur Frau. Das macht die Geschichte der Anne Frank, ihrer Familie und die Aufzeichnungen ihres Tagebuchs auch heute noch so interessant und wichtig. Nachfolgend möchten wir Ihnen und Ihren Schülern zwei Mög- lichkeiten der Betätigung mittelbar und unmittelbar zur Thematik Anne Frank und ihre Zeit aufführen. Dabei ist der Bezug zur Gegenwart sehr wichtig.

ICH PACKE MEINEN KOFFER / ICH MUSS MEINEN KOFFER PACKEN

Bilder von alltäglichen Dingen (z.B. Zahnbürste, Buch, Bettwäsche, Handy, Kleidung, Koffer, Teddybär, Flaschenöffner usw.) werden ausgeschnitten und auf Pappe geklebt. Man braucht ca. 50 unterschied- liche Gegenstände und kopiert jeden Gegenstand viermal. Das macht Arbeit, das Material kann aber immer wieder verwendet werden) Die Klasse wird in vier Gruppen geteilt. Jede Gruppe hat vor sich die 50 Pappkarten liegen. Die ­Schüler sollen sich in 15 Minuten für 15 Gegenstände entscheiden, die sie auf der Flucht mitnehmen. Die rest- lichen 35 Bilder werden nach 15 Minuten zur Seite gelegt oder eingesammelt. Jetzt hat die Gruppe ­weitere 5 Minuten Zeit die Anzahl der Gegenstände auf 10 zu reduzieren. Im Anschluss trägt jede Gruppe vor, warum sie sich für gerade diese 10 Gegenstände entschieden hat und begründet auch, warum sie die 5 anderen Gegenstände zurück lässt.

VERBOTEN! EIN TAGESABLAUF Im Vorfeld sollen die Schüler zusammentragen unter welchen Diskriminierungen und Repressalien die Juden ab 1933 zu leiden hatten. Eine Auflistung kann als Gedankenstütze aufgehängt werden.

DISKRIMINIERUNG DER JUDEN ZUR ZEIT DES NATIONALSOZIALISMUS Die ersten Gesetzte und Verfügungen auf dem Weg zur physischen Vernichtung – am 1. April 1933 wird auf Anweisung Hitlers zum Tag des »Judenboykotts« aufgerufen, überall hingen Schilder mit der Aufschrift: »Deutsche, kauft nicht beim Juden!« – eine Woche nach dem Boykott wurde das erste antijüdische Gesetz (»Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentum«) verkündet. Es besagte, dass alle »Nichtarier« aus dem öffentlichen Dienst entfernt werden sollten – Juden und sogenannte »Arier« durften nicht heiraten – an Ortseingängen war zu lesen: »Juden sind hier nicht erwünscht« 9 – an Cafés und Restaurants stand »Eintritt für Juden und Hunde verboten« – Parkbänke wurden nur für »Arier« reserviert – Juden durften nur noch in der Zeit von 15 bis 17 Uhr einkaufen – Juden durften nach 20 Uhr nicht mehr im Garten sitzen – Juden durften nicht mit der Straßenbahn fahren – Juden durften sich nicht im Haus eines Christen aufhalten – Grundstücke, Häuser und Firmen mussten an Nichtjuden unter Wert verkauft oder verschenkt werden – hatte ein Jude keinen erkennbaren »jüdischen« Vornamen, so mussten Frauen den Namen »Sarah« und Männer den Namen »Israel« annehmen – alle Personalausweise und Pässe von Juden erhielten den Stempelaufdruck »J« oder »Jude« – Juden mussten alle ihre Wertsachen und ihren privaten Schmuck bei den Behörden abliefern – sie durften kein Radio haben, nicht telefonieren, keine Haustiere halten oder ins Schwimmbad gehen, kein Fahrrad besitzen – Juden durften nur zu einem jüdischen Friseur gehen – Juden durften nicht ins Kino oder Theater gehen – Jüdische Kinder durften keine staatlichen Schulen besuchen – ab 1. September 1941 mussten alle Juden vom sechsten Lebensjahr an in der Öffentlichkeit einen Judenstern sichtbar tragen – im Oktober 1941 wurde das Auswanderungsgesetzverbot für Juden verfügt – sie durften Deutschland nicht mehr verlassen

Im Anschluss notiert jeder Schüler seinen Tagesablauf so konkret wie möglich. Nun trägt jeder Schüler nacheinander­ seinen Tagesablauf vor. Dazu tritt er vor die Klasse. Zu seiner Linken und Rechten steht je ein Mitschüler mit einem Schild auf dem VERBOTEN! steht. Bei jeder Aktivität, die einem »Verstoß« der jüdischen Bevölkerung zur Zeit des Nationalsozialismus entspricht, halten die Schüler das Schild hoch.

FRAGEN ZUR INSZENIERUNG ANNE WAS GEHT MICH DAS HEUTE NOCH AN?

IST DIE GESCHICHTE DER ANNE FRANK FÜR DIE GEGENWART UND ZUKUNFT NOCH WICHTIG? WAS MACHT DAS TAGEBUCH VON ANNE SO TRAGISCH UND DENNOCH INTERESSANT? WAS WÜRDE ICH ANNE FRANK FRAGEN, WENN ICH SIE HEUTE TREFFEN KÖNNTE? STELL DIR VOR, ANNE, IHRE FAMILIE UND FREUNDE HÄTTEN DEN HOLOCAUST ÜBERLEBT: WIE HÄTTE IHR LEBEN VERLAUFEN KÖNNEN? KANN SICH DIE GESCHICHTE SO ODER ÄHNLICH HEUTE WIEDERHOLEN? WIE AKTUELL IST RASSISMUS? WAS KANN ICH GEGEN RECHTS, GEGEN ANTISEMITISMUS, GEGEN AUSLÄNDERFEINDLICHKEIT TUN?

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