Titel als das Ergebnis ist im Nachhinein die Tat- Amt führen soll“, sagte er in seinem noch die Bestätigung der Niederlage: „23 sache, wie wenig Franz Müntefering da- Schlusswort, aber da wusste er schon, dass Stimmen für , 14 Stimmen von mitbekommen hat, was sich da zu- er nichts mehr ändern konnte. Der Allein- für Kajo Wasserhövel, eine Enthaltung.“ sammenbraute. Seine bis dahin untrügliche herrscher Müntefering stand plötzlich ganz Ein klares Misstrauensvotum gegen den Witterung für die Partei, für ihre Ängste verlassen da. Keiner seiner fünf Stellver- Parteichef, bei dem es längst nicht mehr und Bedürfnisse war ihm abhanden ge- treter stand ihm bei. war im Ur- nur um eine Personalie ging. Zum Aus- kommen. laub geblieben, Wolfgang Clement vorzei- bruch kam auch der Widerwille gegen den Bei der Sitzung des Parteivorstands am tig gegangen, Ute Vogt, Reformkurs, auf den Müntefering die Par- Montag zeichnete sich die Schlappe früh und Heidemarie Wieczorek-Zeul votierten tei nun ein zweites Mal zwingen wollte. ab. Die große Mehrheit der Redner äußer- gegen ihn. Vor allem aber war es die Antwort auf ei- te Zweifel an Wasserhövel. Müntefering Das Wahlergebnis, das Finanz-Staatsse- nen Führungs- und Kommunikationsstil, verfolgte die Debatte emotionslos. „Es ist kretärin Barbara Hendricks nach Auszäh- der auf harte Autorität und bedingungslo- meine dringende Erwartung, dass Kajo das lung der Stimmen verkündete, war nur se Loyalität zählte (siehe Seite 40). „Wir haben uns zu wenig durchgesetzt“ CDU-Vize Christian Wulff über Stoibers Rückzug und die Koalitionsverhandlungen

SPIEGEL: Herr Wulff, was sollen die Bür- ger von einem Bündnis halten, für das gleich zwei Parteichefs nicht mehr richtig verantwortlich sein wollen? Wulff: Wenn die Frage von Heide Simonis „Was wird aus mir?“ zum Leitmotiv des Jahres wird, mache ich mir natürlich Sor- gen. Die Politik erweckt den Anschein, es gehe mehr um Personen als um das Land. SPIEGEL: Edmund Stoiber begründet sei- nen Verzicht auf das Bundeswirtschafts- ministerium damit, dass der „Eckpfeiler Müntefering“ weggebrochen sei. Nehmen Sie ihm das ab? Wulff: Es mag dem einen oder anderen viel- leicht schwer fallen, seine Entscheidung für Bayern und seine offizielle Begründung in Einklang zu bringen. Edmund Stoiber wollte sich gleichzeitig für Deutschland und für Bayern einsetzen. Das war offen- bar sehr schwer zu vereinbaren. SPIEGEL: Ihr Ministerpräsidenten-Kollege Wolfgang Böhmer aus Sachsen-Anhalt reagierte auf Stoibers Rückzieher mit den Worten: „Arme Frau Merkel.“ Empfinden

Sie auch Mitleid mit ihr? RENTZ / GETTY IMAGES ANDREAS Wulff: Nein! Durch die Unruhe in der Unionspolitiker Wulff: „Das Schiff hat den Eisberg bereits gerammt“ CSU und in der SPD, die sich als Laien- spielschar präsentiert hat, erweist sich die Parteispitze verlassen können. Daher ist nig durchgesetzt. Das können wir so auf CDU als Hort der Stabilität, und Angela es so wichtig, dass die Koalitionsvereinba- keinen Fall akzeptieren. Deutschland Merkel ist der Fels in der Brandung. He- rung das Votum des SPD-Parteitags erhält. braucht mehr Freiheit, Wettbewerb und gel hat gesagt: Das Notwendige setzt sich Wir müssen vieles im Detail ausverhan- Eigenverantwortung für einen neuen Auf- oft überraschend in der Form des Zufäl- deln. Wenn wir in den entscheidenden bruch. ligen in Szene. Insofern haben wir mit nächsten Tagen nachlässig werden, fliegt SPIEGEL: Welche Bedingungen stellen Sie? dem Rückzug Stoibers und Münteferings uns die Regierung mitten in der Legisla- Wulff: Es gibt international kein einziges doch gleich zu Beginn der Großen Koali- turperiode um die Ohren, weil wir über die Beispiel dafür, dass steigende Lohnneben- tion klare Verhältnisse. notwendige Politik streiten und die SPD zu kosten, höhere Steuern, ein extrem regu- SPIEGEL: Glauben Sie, dass eine derart ge- sehr auf die Linkspartei Rücksicht nimmt. lierter Arbeitsmarkt, der Verzicht auf be- spaltene SPD vier Jahre an der Seite : Wo findet sich denn bis jetzt die triebliche Bündnisse für Arbeit, die Ab- Union durchhält? Handschrift der Union? sage an kommunale Arbeitsvermittlung Wulff: Wir haben jetzt Franz Müntefering Wulff: Wenn wir das Regierungsprogramm und zu wenig Wettbewerb im Gesund- und in dieser Woche auch Matthias Plat- der Union und die bisherigen Ergebnis- heitswesen einen Beschäftigungsboom zeck als faire Verhandlungspartner erlebt. se der Koalitionsgespräche nebenein- ausgelöst hätten. Wenn auf diesen Gebie- Aber der Putsch gegen Müntefering hat ander halten, ist die Bilanz ziemlich er- ten nichts passiert, wird es kein Wachstum uns gezeigt, dass wir uns nicht allein auf die nüchternd. Wir haben uns bisher zu we- geben. Dann wären die 35 Milliarden Euro

34 der spiegel 45/2005 Nach Verkündung der Abstimmung rea- rigide ab: „Wir brauchen nicht gierte Müntefering sofort und erklärte in zu diskutieren – da gibt es hartem Ton: „Ich unterbreche die Sitzung nichts zu diskutieren.“ und berufe das Präsidium ein.“ Entsetzt Er telefonierte mit Angela blieb der Rest-Vorstand zurück. Ein Teil- Merkel, danach ging er zurück nehmer: „Da haben Leute zur Zigarette in den Vorstandssaal. Noch gegriffen, die hab ich noch nie rauchen ge- einmal gab er seinen Ent- sehen.“ schluss bekannt. Lähmende Kaum war das Präsidium im 6. Stock zu- Stille legte sich über die An- sammengetreten, erklärte Müntefering: wesenden. „Wenn die Partei „Ich werde beim Parteitag nicht wieder für das will, bleibe ich Minister das Amt des Parteivorsitzenden kandidie- und Vizekanzler“, sagte er. ren.“ Zaghafte Wortmeldungen bügelte er Dann verließ er den Raum. Während Müntefering draußen vor den TV-Kameras strukturelles Defizit eine Verniedlichung, mit blassem Gesicht seinen denn das setzt 1,8 Prozent Wachstum vor- Rückzug verkündet, beginnt aus. Das Schiff hat den Eisberg bereits ge- noch im Vorstandssaal die Su- rammt. Jetzt können wir entweder die che nach einem Nachfolger. Musik lauter spielen lassen und noch ein , Martin paar Wohltaten verkünden – oder man Schulz, Ute Vogt, der NRW- schottet die vollgelaufenen Decks ab und Landeschef Jochen Dieck-

konzentriert sich darauf, das Schiff wieder mann, die Niedersachsen Sig- BENSCH / REUTERS FABRIZIO flottzumachen und dem Verderben zu ent- mar Gabriel und CDU-Chefin Merkel*: Alle haben sich verrechnet rinnen. Ich bin klar für Letzteres. setzen sich zusammen. SPIEGEL: Aber es blockieren doch nicht „Wir können doch hier nicht nur rum- den Vortritt lassen, sagt er, wenn der Par- nur Sozialdemokraten. Ihre eigene Trup- sitzen“, sagt Schulz in die Ratlosigkeit hin- teivorsitzender werden wolle, dann bitte. pe scheint nur bedingt reformwillig. ein. „Und was soll jetzt werden?“, fragt Aber prinzipiell stehe er bereit, „Verant- Wulff: Viele Sozialdemokraten machen in Platzeck. „Wir müssen schnell handeln“, wortung zu übernehmen“. Ein Mitarbei- den Verhandlungen kein Hehl daraus, fordert Schulz. „Und wenn wir ohne Par- ter betritt das Zimmer: Müntefering will dass sie die Große Koalition nicht wollen. teivorsitzenden sind, brauchen wir schnell Platzeck sprechen. Der verlässt das Zim- Es ist allerdings in der Tat nicht so, dass einen neuen.“ Noch im Vorstandssaal ver- mer. Als er zurückkehrt, gibt er die Emp- die Mutigen nur bei der Union sitzen und sucht Platzeck, über das Lagezentrum des fehlung Münteferings weiter: „Kurt oder die Ängstlichen bei der SPD. Einige So- Kanzleramts, Kurt Beck zu erreichen, der ich soll es machen.“ Aus Andalusien ruft zialdemokraten, Peer Steinbrück zum in Spanien im Urlaub ist. Beck zurück. „Kurt, du musst nach Berlin Beispiel, auch Franz Müntefering und kommen“, sagt Platzeck. Frank-Walter Steinmeier, haben erkannt, DER ALLEINHERRSCHER „Ich lade morgen abend eine dass es zu einem harten Konsolidierungs- MÜNTEFERING STAND PLÖTZLICH Runde in meine Landesver- kurs auf der Ausgabenseite keine Alter- tretung.“ native gibt. Andererseits gibt es auch in GANZ ALLEIN DA. Anderntags eröffnet Beck unseren Reihen Politiker, die denken: So der Runde gleich zu Beginn: schlimm wird es schon nicht sein. Der Rest der Runde hat sich in das Büro „Ich mache es nicht.“ Er habe im kom- SPIEGEL: Können die Verhandlungen noch von Ute Vogt verzogen. Aufgeregt sagt menden Jahr Landtagswahl, sagt Beck. Er scheitern? einer: „Das endet in Neuwahlen.“ Ein müsse sich jetzt auf den Wahlkampf vor Wulff: Wir sollten ins Gelingen und nicht anderer ruft: „Das hätte ich nie von Mün- Ort konzentrieren und könne nicht unent- ins Scheitern verliebt sein. Aber es braucht tefering gedacht – niemals.“ Rasch zeichnet wegt als Vorsitzender der SPD in Berlin am Ende klare Signale für wirtschaftli- sich ab: Platzeck und Beck sollen sich ei- unterwegs sein. ches Wachstum. nigen, wer den Vorsitz übernimmt. Beck Damit ist klar: Platzeck ist dran. Der SPIEGEL: Trauen Sie dem designierten gebührt der Vortritt, er ist seit elf Jahren sagt erst einmal, eigentlich habe er seiner SPD-Vorsitzenden Matthias Platzeck zu, Ministerpräsident, er ist der einflussreich- Partnerin „ruhigere Zeiten versprochen“. die verschiedenen Flügel seiner Partei ste Landesfürst, den die SPD noch hat. Aber er nimmt natürlich an. Er weiß, dass miteinander zu versöhnen? Platzeck hingegen hat das richtige Alter, Wulff: Das wird man sehen. Ich schätze er ist sympathisch und macht öffentlich UMFRAGE: NEUWAHL Platzeck, denn er ist umgänglich und prag- eine gute Figur. Niemand weiß so ganz ge- matisch. Ich habe als Ministerpräsident nau, wofür er steht, aber das heißt ande- „Würden Sie aufgrund der mit ihm gut zusammenarbeiten können. rerseits, dass er sich keine großen Feinde jetzigen politischen Situation SPIEGEL: Die beiden großen Volkspartei- in der Partei gemacht hat. Er könnte im en werden jetzt von ehemaligen DDR- nächsten Wahlkampf als Kanzlerkandidat eine Neuwahl des Bundestags Bürgern geführt. Zeichnet Pragmatismus der SPD antreten. Wann immer in den ver- befürworten?“ besonders ostdeutsche Politiker aus? gangenen Jahren eine Stelle mit einem JA Wulff: Das würde ich nicht verallgemei- Nachwuchstalent zu besetzen war, wurde nern. ist gar nicht nur sein Name genannt, zuletzt im September, 34 % pragmatisch, sondern sehr grundsatzfest. als es um den Posten des Außenministers Im Kampf für ihre Positionen habe ich ging. NEIN sie bisher schon viel energischer und kon- Platzeck ist klar, dass alles auf ihn hin- % sequenter erlebt als Platzeck. ausläuft. Er wolle dem Pfälzer Kurt Beck 63 Interview: Christoph Schult TNS Infratest für den SPIEGEL vom 1. bis 3. November; rund * Mit dem designierten CSU-Wirtschaftsminister Michael 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“ Glos.

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