Wilhelm Schussen - ein Dichter aus dem Oberland

Von Dr. Ewald Gruber, Saulgau Schussen, ein geborener Erzähler mit größter Ur- sprünglichkeit der Anschauung und der Sprache. Er I. kommt vom Oberland, ganz unliterarisch, in der Mit einer betrüblichen Feststellung müssen wir engsten Verbindung mit dem Volkstum, das ihm beginnen: Wilhelm Schussen ist heute ein vergesse- seine Sprache in die Feder diktiert, saftig, klotzig ner Dichter. Die ältere Lesergeneration erinnert und ein wahrer Humorist erster Hand. Humor und sich noch, Lexika und Literaturgeschichten archivie- Ironie hat man in Schwaben allenthalben und auch ren seinen Namen; aber seit mehr als 30 Jahren die Dichter haben sie, kaum bei einem aber ist der wurde nichts mehr von ihm gedruckt. Zu seinem 80. schwäbische Sarkasmus, die kluge und unsentimen- Geburtstag gratulierten die Heimatzeitungen, sein tale Bissigkeit, so schön und rund zu Kunst und Tod am 5. April 1956 wurde noch vermerkt, von Dichtung geworden wie bei ihm. Kein Spaßmacher, seinem 100. Geburtstag nahm niemand Notiz. Dies sondern ein Humorist und Philosoph, der das Ge- ist keine zartfühlende Einleitung; sie würde aber die dächtnis von ,Auch einer' weckt. - Seine Heimat ist Billigung Wilhelm Schussens finden, der ehrlich ge- südlich der Donau. Oberschwaben hat sonst nicht gen sich und andere war. eben viele Dichter gestellt, deren Heimat sich mehr Sein Anfang war vielversprechend. Schussens um den und seine Seitentäler gruppiert. So Erstling "Vinzenz Faulhaber" (1907) fand mehr als bringt er einen neuen Ton in die schwäbische Dich- nur freundliches Echo im ganzen deutschen Sprach- tung, dessen man sich bald herzlich freut." raum. Im Jahre 1909 gab Theodor Heuss ein "Neues Dichterbuch" heraus, das er "Sieben Schwaben" nannte. Ludwig Finkh, Cäsar Flaischlen, Hermann Hesse, Heinrich Lilienfein, Anna Schieber,Auguste Supper und Schussen waren die ausgewählten Re- präsentanten des Dichterfrühlings, der um die Jahr- hundertwende in Württemberg anzuheben schien. Die Erzählung "Häbich und Hohnerlein" , die Schussen beisteuerte, ist eine seiner besten. Als Otto v. Güntter, der Gründer des Schiller-N ational- museums in Marbach, 1911ein "Hausbuch schwäbi- scher Erzähler" zusammenstellte, nahm er auch die sieben Schwaben und ein paar andere Zeitgenossen zu Schiller, Hauff, Mörike und Ottilie Wildermuth in den schwäbischen Parnaß auf. "Ich war plötzlich oben und spürte meinen jungen Ruhm langsam und leise in die Welt treiben. Es war eine im großen und ganzen selige Zeit", konnte Schussen rückschauend sagen. "Die, denen das weitgestreckte Gebiet des Ober- landes Heimat ist, die haben in Wilhelm Schussen ihren Dichter gefunden. Ihren Dichter - jawohl!" So hieß es im "Ulmer Tagblatt", der Erscheinungs- ort erklärt den hymnischen Ton. Aber auch die "Hamburger Nachrichten" sind voll des Lobes über "eine starke und eigenartige Begabung". Schussen wurde verglichen mit Rosegger und Frenssen, mit Wilhelm Raabe, F. Th. Vischer und Jean Paul; auch Storm und Gottfried Keller müssen gelegentlich zum Vergleich herhalten.Als schwäbischer (in Süd- deutschland differenzierter als oberschwäbischer) Heimatdichter und als Humorist wurde er von An- Wilhelm Schussen. Holzschnitt von Gottfried Graf, fang an klassifiziert. Theodor Heuss schrieb im Vor- 1933. wort zu der genannten Anthologie: " ... Wilhelm Foto: Schiller-Nationalmuseum, Marbach am Neckar

33 Bevor wir uns weiter mit Wilhelm Schussen einlas- malt die Welt so, wie sie sich in diesem Querkopf sen, ist zur stofflichen Orientierung ein Ausflug in spiegelt." In der Tat ist "Vinzenz Faulhaber" der die Werkgeschichte nötig. "Vinzenz Faulhaber" ist erste moderne pikareske Roman, einer Gattung, die ein Schelmenroman. Der Sohn eines oberschwäbi- in unserem Jahrhundert wieder zur Blüte gedieh; er schen Torfstechers läuft in die Welt hinaus, in die erschien vor Hesses "Knulp" (1915), vor Klabunds Großstadt, sogar nach Frankreich, versucht sich als "Bracke" (1918), mit denen die Literaturgeschichte Schuldiener, in Geschäften, in Literatur und Liebe die Entwicklung meist beginnen läßt; er kann neben und kehrt schließlich ins Ried zurück. Er ist der den genannten Büchern durchaus bestehen und Urtyp des Schussen'schen Helden, den Hermann überragt viele des Genres, z. B. Manfred Haus- Hesse so charakterisierte: "Die Helden von Schus- manns populären "Lampioon" (1928). (Varianten sens Romanen sind fast alle schwäbische Phanta- der Schelmenfigur, der Weltläufer- und Rückkehrer- sten, Menschen der Sehnsucht und des Drangs in die handlung enthalten Schussens Romane bzw. größe- Ferne, die aber von einem guten Ballast erdhafter ren Erzählungen "Medard Rombold", 1913, "Der Erbschaften und Gebundenheiten im Flug gehemmt Roman von Doktor Firlefanz" und "Haus Mollen- und aus ihren Traumwelten zurück in die Wirklich- kopf", beide 1922,"Der abgebaute Osiander", 1925, keit des Heimatbodens geführt werden". Rudolf "Der Munding", 1938.) Krauß, Verfasser der dickleibigen "Schwäbischen Noch im gleichen Jahr wie "Vinzenz Faulhaber", Litteraturgeschichte" (1898), rezensierte im "Berli- datiert 1908, erschien "Meine Steinauer. Eine Hei- ner Tageblatt": "Der Hauptreiz beruht auf der matgeschichte", die in Schussenried spielt, in Berlin Übertragung der Manier des alten Schelmen- und als "Erzeugnis echt schwäbischer Bodenständig- Abenteuerromans auf die Schilderung des Gegen- keit" rezensiert wurde und die Schussen sein liebstes wartslebens. Es ist etwas ganz Ungewohntes, mo- Buch nannte. In die Schilderung von Land und derne Zustände ohne jede Spur moderner Empfin- Leuten ist die Entwicklungs- und Liebesgeschichte dungen vorgeführt zu sehen. Schussens Roman ist des Lehrers Leonhard Lutz und das Schicksal der rein episch, ohne Reflexionen und Gefühlsergüsse. Familie eines Rechtsanwalts eingeflochten; der au- Und der Dichter hat sein Subjekt bei der Erzählung tobiographische Zug der Erzählung ist nicht zu über- ganz ausgeschaltet. Er berichtet vielmehr vom sehen. ("Ein guter Stolperer", 1923, ist eine weitere Standpunkt seines wunderlichen Helden aus und Seminaristen-, Lehrer- und Kleinbürgergeschichte; im gleichen Milieu spielt "Der verliebte Emerit", 1917.) Im Jahre 1909 folgte Schussens originellstes Buch, "Johann Jakob Schäufeles philosophische Kuk- kuckseier", Betrachtungen über Gott und die Welt aus der Feder eines armen Schreibers, der mit einem räsen Weib, sieben hungrigen Kindern und einer Schwiegermutter geschlagen ist, in einem Dachstock seinem "Hochschulstudium" und Dichterträumen obliegt, die kleinen und größeren Schwächen seiner Mitmenschen recht genau beobachtet und viel Schnurriges und manch Bedenkenswertes zu sagen hat. (1920 gab es eine Reprise und Fortsetzung, "Freund Huchler schreibt", und nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden die größtenteils noch unge- druckten "Schriften des Hungermannes H." in der gleichen Manier. Der Schussen'sche Schelm ist in diesen Büchern seßhaft geworden und verbürger- licht, er räsoniert und abenteuert nur noch auf dem Papier. "Die spanische Reise", 1927, "Die Ge- schichte vom Apotheker Johannes", 1935, der den Gemütssprengstoff Bammertin erfindet, setzten die- se Schaffenslinie fort. Hierher gehört auch "Tübin- ger Sinfonie", 1949, Unterredungen mit dem Gogen Karrer und lyrische Spaziergänge in und um Tübin- gen mit kauzigen Meditationen, von Hermann Wel- ler zum Teil in ritmi latini übersetzt, eine Art Gegen- stück zu Haerings berühmten Plaudereien vom brau- senden Mond im Neckartal.) Schussens Selbstpor-

34 trät in "Anekdote meines Lebens", 1953, zeigt die den Flug der Wildenten verfolgt und, frech wie ich Züge seiner Schelme und Dachstubenphilosophen war, sogar Kreuzottern gejagt. Ich habe dort beim und verrät, was sie eigentlich sind:Doppelgänger Torfstechen mithelfen müssen, beim Eintragen des des Autors wie seine Seminaristen- und Lehrer- Torfes in die Hütten, bei der Abfuhr, bei der Streu- figuren. ernte und so fort. Ich habe auch daheim schon als Mit seinen ersten drei Büchern hatte Schussen als Dreizehnjähriger das Vieh gemolken und Klee ge- Schriftsteller seine Welt abgesteckt und seinen Ton mäht und habe auf einem Einspänner Bier aus der angeschlagen: oberschwäbische Heimat, eigenes Er- nahen Klosterbrauerei zu Schussenried geholt, denn leben, Humor. Sie enthalten - neben einigen späte- meine Eltern betrieben neben ihrer Landwirtschaft ren Erzählungen aus der Schussen- Welt - schon die her auch noch eine kleine Gastwirtschaft. Ich habe Essenz des Gesamtwerkes. von meinem Vater, den es nie so recht zu Hause litt, einen heftigen Drang zu äußerer und innerer Freizü- II. gigkeit ererbt. Und so habe ich natürlich schon Zu seinem 50. Geburtstag veröffentlichte Schus- frühzeitig meine engere Heimat nach allen Ecken sen einen kurzen Lebenslauf. "So möge denn dies- und Enden durchschweift.Ich glaube, es gibt kein mal der rein äußere Gang meines irdischen Daseins Dorf und keinen Flecken und keine Kirche und in aller Kürze hier Platz finden, der innere und leider auch kein Wirtshaus in diesem hohen, hellen wesentliche ist in der Hauptsache in meinen Bü- Oberschwaben, die mir nicht bekannt wären. - 0, chern aufgehoben", hieß es da. An diesen Hinweis diese Heimat! Sanftgeschwungene Ackerwellen mit wollen wir uns halten und versuchen, Schussens Feldkreuzen und Bildstöcken an den gewundenen Leben und Wesen zu skizzieren, wie es sich in sei- Fahrwegen, überwachsene, heimliche Kiesgruben nem Werk spiegelt. Er selbst hat in dieser Form mit Zigeunerlagerresten, durchlichtete, schöne Tal- Rechenschaft gegeben, im "Wilhelm-Schussen- breiten, einsame, weite nebelnde Moorflächen, Buch" (1934 und 1953 in 2. erweiterter Auflage) und blauende, schilfgerahmte Weiherbecken, dunkle in der erwähnten "Anekdote meines Lebens". Die- Tannenwälder und hin und wieder Buchenbestände ses sympathisch unprätentiöse Buch wurde von auf den eiszeitlichen, breiten Höhenrücken, und Wendelin Überzwerch damals mit einem bunt zu- dazwischen wie hingestreut Dorf um Dorf, kleinere sammengepflückten oberschwäbischen Wiesenblu- Gehöfte und einzelne große Bauernhöfe mit Kapel- menstrauß verglichen, in welchem zwischen un- len und alten Eichen, dann wieder größere Orte, scheinbaren Riedgräsern ein paar Orchideen auf- Marktflecken und kleine, schmucke, durchsonnte glühten.Das Buch will keinen Nachruhm begrün- Städte mit respektablen Kirchen, stolzen Schlössern, den, interpretiert nicht die eigene Entwicklung, ent- alten gewaltigen Klöstern, fast alle aus der Barock- hält keine Bekenntnisse oder Rechtfertigungen; zeit. So geht es fort bis an den Bodensee, bis hinauf Schussen erzählt nur Erinnerungen aus seiner Kind- zu den Höhen des Allgäus. " heit und Episoden aus seinem späteren Leben, schil- Mit 14Jahren verließ Wilhelm Frick sein Dorf, um dert Begegnungen mit Zeitgenossen; fast ganz aus- Lehrer zu werden; aber er blieb in Kleinwirmaden zu gespart bleibt der familiäre Bereich. Dem Leser tritt Hause.Die Landschaft, die er in der zitierten Passa- ein bescheidener, gütiger und feinfühliger Mensch ge idealtypisch zeichnet, hat er oft und oft in einzel- entgegen, ein bißchen kauzig manchmal, aber im nen Ausschnitten genauer, farbiger, eindringlicher Gleichgewicht, in Übereinstimmung mit sich und geschildert, die Atmosphäre von Ried und Wald und der Welt: ein Mann mit Humor. Damit ist wieder Weiher bei jedem Wetter und zu jeder Tages- und der Begriff genannt, der zur Charakterisierung Jahreszeit in Vers und Prosa eingefangen. Bauern- Schussens am häufigsten genannt wird, selbst dort, häuser, Taglöhner- und Ausdinghäuschen, Dorfwirt- wo ihm nur fünf Zeilen gewidmet sind wie im Brock- schaften und Kleinbürgerwohnungen in einem ober- haus - Grund genug, die landläufige Behauptung schwäbischen Marktflecken liefern die Vorbilder für zur Überprüfung vorzumerken. Schussens Interieurs. Die Großstadt, sogar die enger Wilhelm Frick wurde am 11.August 1874 in Klein- gebauten Dörfer und Kleinstädte des Unterlandes winnaden geboren: Klein-Wien-Athen, wenn man schildert er stets aus der Sicht des dorthin verschla- es langsam ausspricht, und natürlich ist dieser knize genen, verbannten Oberländers. Seine Helden keh- Einfall Schussens schon des langen und breiten in- ren in die Heimat zurück wie ins verlorene Paradies. terpretiert worden. Die Schussen wählte sich der Aus Kindheits- und Jugendeindrücken in der väterli- Schriftsteller als Namen, nicht ohne programmati- chen Gastwirtschaft, im Heimatdorf, in Schussen- sche Anspielung auf die Reinheit des Wassers, viel- ried stammen zum guten Teil die Personen und die leicht aber doch eher unbewußt die Heimat in seine Stoffe seiner Werke. Dort lernte er sie kennen, die Identität aufnehmend. "Ich bin als Knabe viel im Bauern und Kleinhäusler , die Riedfrauen und nahen, damals himmlisch einsamen, topfebenen, Dienstboten und Altledigen und vornehmen Ver- großen Federseernoor herumgestiefelt, habe dort wandten aus der Stadt, die kleinstädtischen Honora-

35 tioren und die sonderbaren Käuze. Dort sammelte kern und Freunden immer wieder apostrophiert. er seinen Fundus an Einzelbeobachtungen der Men- Hier liegt eine Grenze des Schriftstellers und seiner schen, ihres Verhaltens, ihrer Sprache und Denk- Entwicklungsmöglichkeiten. Von literarischen weise.Dazwischen steht immer wieder er selber mit Theorien und Programmen war Schussen nicht ge- wechselnden Namen: der Bauernbub, der zum Stu- hemmt, denn er hatte keine; den psychologischen dieren in die Fremde geht und den die Sehnsucht Ursachen nachzuspüren ist nicht leicht; man ist ver- wieder heimwärts zieht. Als Lehrer beobachtete sucht anzunehmen, daß er zeitlebens gern Torfste- Schussen die Gestalten von Kollegen, Pfarrern und eher, bäuerlicher Philosoph und Dichter gewesen Kleinbürgern; sie gliedern sich der heimatlichen Er- wäre. Denn das Dorf ist ihm ein Kosmos: "Die lebniswelt noch ein.Als freier Schriftsteller lernte er Stadt und die große Welt brauchen immer wieder auch Menschen anderer Berufsgruppen und gesell- große Führer und laute Rufer, die die Menschen mit schaftlicher Kreise kennen; er hatte freundschaftli- neuen Schlagworten von Zeit zu Zeit zur Natur che Beziehungen zu zahlreichen Schriftstellern, zurückleiten. Das Dorf hat immer alles von Anfang Künstlern und Gelehrten, Industrielle gehörten zu an und ganz von selber, und es wird es immer seinen Förderern. Diese Erfahrungen werden nicht behalten, gerade wie seine Sprache, die heute noch in das Weltbild seiner Bücher integriert. Lebensver- bis zu den Nibelungen hinabreicht. " Bei Schussen hältnisse außerhalb Etters sind bei Schussen kon- sind derlei Auslassungen nicht Schreibtischideologie struierte Kulissen; Personen, die nicht zur dörflichen des einfachen Lebens, sondern Urheimweh. und kleinstädtischen Gesellschaft gehören, bleiben fast immer schemenhafte Figurationen - es sei III. denn, sie gewinnen Leben durch den Kontrast zu Im "Guten Stolperer" erzählt Schussen, wie ein den Einheimischen; so etwa der Brauereigeschäfts- Bauernbub zum Studieren kommt: Den Hof kann führer Seyderhelm in der Erzählung "Schattenson- man nicht in Stücke reißen, der Bub ist körperlich zu ne", ein dynamischer wilhelminischer Untertan mit gering für einen Bauern,Geistlicher will er nicht doppelter Moral, der einen soliden altväterischen werden, ein Apotheker ist zu nah am Gift und säuft Familienbetrieb umkrempelt und in den Bankrott wie ein Loch, wie die Erfahrung mit dem ortsansäs- führt. sigen lehrt; was Juristen sind, weiß der Vater nicht, Wie in Schussens Menschheit, in der es nicht und die Advokaten holt alle der Teufel; ähnliche einmal Bayern gibt, die er immerhin während seiner Einwände hat er gegen den Arzt, Zahnarzt,Inge- Münchner Zeit erlebt haben muß, so fehlt in seiner nieur und Chemiker. "Also ein Pfarrer oder ein Landschaft alles Ausländische, nicht in Oberschwa- Lehrer, etwas anderes gibt's eben nicht. Es ist wie ben Heimische. Nur die Fernsicht auf die Alpen und ich gesagt habe ... Übrigens weiß ich nicht, warum die Bilder des Neckartales fängt Schussen noch ein; Du nicht solltest ein Lehrer werden können.Unser andere Landschaften vermag er sprachlich nicht zu alter Oberlehrer selig ist seinerzeit Liederkranzvor- fassen. "Ich bin schon als ganz junger Mensch quer stand gewesen; auch hat er eine reiche Bauerntoch- durch Frankreich bis ans Atlantische Meer gestiefelt ter geheiratet und die ihm zugesprochenen Rinder in und von Bregenz bis nach Wien, ich bin später nach den Geldschrank gesperrt, wo sie bekanntlich viel Italien und Spanien und Ungarn gefahren, an die weniger Arbeit machen als im Stall und dennoch Ostsee und die Nordsee, und wenn mir der Krieg ihre Milch geben." Ein humoristisches, aber zweifel- keinen Strich durch die Rechnung gemacht hätte, los realistisches Bild ländlicher Berufs- und Bil- wäre ich auch nach Wladiwostok gekommen." Ohne dungsberatung zu Schussens Jugendzeit und noch Gewinn für sein Werk! Auch in der "Spanischen lange danach. Genau so geriet Wilhelm Frick in eine Reise" bewährt sich Schussen nur als Maler von Laufbahn, für die er nicht taugte. Da er heiraten Genrebildchen, er nimmt kleine Szenen und skurrile wollte, konnte er nicht Geistlicher werden. "Ich bin Besonderheiten wahr. Den Geist und Atem des dann Volksschullehrer geworden. Etwas anderes Er- Landes erlebt der Oberschwabe nur literarisch: es strebenswertes gab es in meiner damaligen Dorfwelt eröffnet sich in der Landschaft Don Quichotes der nicht. " Sinn für dessen grandiosen Schelmenroman. Vom Sein höheres Streben führte Wilhelm Frick in die Escorial ist Schussen enttäuscht; er hat zuviel dar- Präparandie in Ochsenhausen, drei Jahre später als über gehört und gelesen und ist nicht bereit, ohne Kurskollegen Matthias Erzbergers ins Seminar nach Frühstück "die Mühsal des gewaltigen Palastes" auf Saulgau, nach bestandenem Examen 1894 in den sich zu nehmen. Volksschuldienst nach Cannstatt und Stuttgart-Gais- Fassen wir zusammen: Schussen kann zeitlebens burg. Als Provisor lernte er Französisch, ließ sich nur das Heimatliche wahrnehmen und gestalten. Er 1898 zu weiterführenden Studien beurlauben - da- ist Heimatdichter, Erz- und Oberschwabe - quod mals ging er nach Frankreich - und legte das Real- erat demonstrandum, denn als solcher wird er von lehrer-Examen ab. Er wurde Hilfslehrer an der der Literaturwissenschaft abgestempelt, von Kriti- Oberrealschule , planmäßiger Realleh-

36 rer in Weil der Stadt und 1905 am Realgymnasium in me von vielen. Und auch für Schussen gab es eine Schwäbisch Grnünd, Seine ersten Bücher erschienen Ausnahme: dem patriarchalischen Oberlehrer, Re- in der Gmünder Zeit und machten Schussen zu einer spekts- und Vertrauensperson und Mittelpunkt länd- mindestens süddeutschen Berühmtheit. Wegen licher Kultur, der geistiges Leben selbstlos weckt "verbrauchter Nerven" nahm er 1912den Abschied. und fördert, bewahrte er ein gutes Andenken. Schussens Tätigkeit als Lehrer ist nicht mehr zu Nicht nur der Ausbildung, auch Freuden und Be- dokumentieren. Daß ein "Ordinarius an der unter- rufsnöten des Lehrers widmete Schussen in seinem sten Klasse" mit seinem jungen Dichterruhm es im Werk beträchtlichen Raum - und erzählte wieder Kollegenkreis nicht leicht hatte, kann sich jeder seine eigene Geschichte, zum Beispiel in "Meine vorstellen, der das Milieu kennt. "Gildegarn", von Steinauer" und im "Guten Stolperer". Die Helden dem gleich noch zu sprechen ist, dürfte Schussen beider Bücher sind Lehrer. Der eine strebt in die unmöglich gemacht haben.Die weiteren Stationen höhere Laufbahn, wälzt hochfliegende Pläne, ein seines Lebens beeinflußten sein Werk in geringerem schriftstellernder Menschheitslehrer zu werden, ent- Maß. Schussen zog mit Frau und zwei Kindern, läuft der Schulfron und kehrt doch wieder zurück: einer Köchin und einem Notgeld von 150Mark nach Schussens Situation und Aussichten 1908; der andere Emmering und dann nach Bruck bei München; Lud- wird Verlagslektor und Geschäftsmann: Schussens wig Thoma vermittelte ihm ein Lektorat bei Albert Erfahrung und, möglicherweise, Wunschtraum 1923. Langen."Ich habe nie ein rechtes Sitzleder gehabt", Seine Doppelgänger führt Schussen durch ein Jung- bekannte Schussen; 1917gab er seine Anstellung auf lehrerdasein um die Jahrhundertwende: kleines Ge- und zog als freier Schriftsteller nach Stuttgart, 1925 halt, das für Lebensunterhalt und Erfüllung der nach Ravensburg, 1930nach Ludwigsburg, 1937nach Standespflichten kaum ausreicht, Kirchendienst, Tübingen. Dort starb er 1956 im Pauline-Krone- Sonntagsschule, Mitwirkung beim Liederkranzkon- Heim. zert. Einzelbilder und Episoden, scharf beobachtet Bildungsgang und Lehrerdasein sind neben dem und kultur- und sozialgeschichtlich von dokumenta- Heimatdorf der zweite immer wieder aufgegriffene rischem Wert, gibt es in Fülle. Wir erleben in "Gil- Stoff- und Problemkreis in Schussens Werk. Von degarn" eine Musterstunde nach der Herbart'schen Präparanden- und Seminaristenzeit weiß er nichts Methode, eine Zeugniskonferenz, in der menschen- Gutes zu berichten; selbst im hohen Alter ist ihm freundlich-pädagogische und bürokratisch-sitten- diese Zeit ein Alptraum. In der "Anekdote" bricht richterliche Standpunkte vertreten werden, Lei- noch die bittere Erinnerung an Ochsenhausen stungsdruck und Mogeleien bei der Notenjagd, durch. Das einzige, was er überhaupt für erzählens- wechselseitige Sticheleien, mit denen Geistes- und wert hält, sind Erfahrungen mit schmaler Kost, ver- Naturwissenschaftler sich profilieren, das Gerangel ständnisloser Behandlung durch Schultyrannen, auf dem Pausen hof und den spezifischen Geruch in sinnlosem Drill und Unterdrückung freien, individu- den Gängen eines Schulhauses. Das alles verdichtet ellen Bildungsdrangs. In der Erzählung "Mutters sich oft zu einer Schulatmosphäre, die wenige besser Brief" konfisziert ein Schönschreiblehrer das geschildert haben. Rauchfleisch, das die Mutter in die Socken stopfte, Die Problematik der Lehrerexistenz vermag und den "Ekkehard", den der lesehungrige Zögling Schussen eindringlich darzustellen, weil sie ihm über die Klostermauer schmuggelte; schließlich will selbst zum Schicksal wurde. Sein düsterstes Buch ist er in schulmeisterlichem Zorn über eine Lappalie "Gildegarn" (1911), auch sein geschlossenstes und dem todkranken Vater einen Brief schreiben, "an persönlichstes. Die Hauptgestalt, Doktor Ludwig dem er vollends stirbt", just als der Pate mit der Weizsäcker, aus Berufung und mit hohen Erwartun- Todesnachricht vor der Tür steht. Hermann Hesses gen Lehrer geworden, wird zermürbt zwischen päd- Anklage gegen die Schule ist nicht so grimmig. Alle agogischem Eros und der Schule als Institution. Enttäuschungen und Rückschläge seines Lebens "Wohl noch nie war so viel schöne, gutgemeinte, verkraftete Schussen ohne Klage: verblassenden lebendige Arbeit in verlogenen Statistiken, Berich- Ruhm, Verlust seines kleinen Vermögens in der ten, Programmen und Protokollen erwürgt und Inflation, selbst den Tod des einzigen Sohnes in klanglos begraben und dem eigentlichen Zweck ent- Stalingrad; der Schule grollte er bis ans Lebensende. zogen worden. Wer sich aber dagegen erhob, er- Er teilte die härtesten Urteile seiner Zeitgenossen. reichte nur, daß ein tausendundeinter Erlaß gegen "Obwohl es für jene Zeit um 1900 nicht ungewöhn- den tausendsten hinausgegeben wurde. Den Eltern lich ist, möchte ich hier doch noch einmal ausdrück- war es aber in der Mehrzahl um die Patentscheine zu lich feststellen, daß unsere sämtlichen Gymnasial- tun. Wenn nur die Jungen das Einjährige oder die professoren für mich entweder skurrile Narren oder Reife hinter sich hatten. Was brauchte man sich arme Geistesgestörte oder pathologische Sadisten dann um Bildung zu kümmern?" Dies ist die Situa- oder alles zusammen waren - mit einer einzigen tion der verwalteten Schule, wohlgemerkt im Jahre Ausnahme." Wir zitierten Willy Haas als eine Stim- 1911.,,Er besaß die trotzige Kraft nicht mehr, die

37 nun nötig gewesen wäre, die Güte und Liebe auf diesem Blickwinkel. Nur in "Gildegarn" steigern eigene Faust hochzuhalten" , heißt es von Ludwig sich die Konflikte zu existenzieller Not, und in der Weizsäcker; die Gilde der Schulbürokraten, der er Erzählung "Das Herz der Orgel" geht ein altgedien- ins Garn gegangen ist, erdrosselt ihn; seine Trauer ter Oberlehrer tragisch zugrunde, als ein neuer Pfar- um die verlorene Jugend und Heimat steigert sich rer dem enthusiastischen Musikus die Anerkennung zur Todessehnsucht, er vergiftet sich mit unauffällig versagt und ihn auf seinen Platz verweist. In den gesparten Schlaftabletten . Der Roman ist Schussens anderen Büchern vernarben die Schul-Wunden und "Werther" , Dokument einer Lebenskrise; er finden die Bedrohten zuletzt ein heimatliches und schrieb sich damit frei von eigener Gefährdung; kurz kleinbürgerliches Glück in der Idylle. nach Erscheinen des Buches quittierte er, wie er- Als Anhang zum vorstehenden Kapitel "Schussen wähnt, den Schuldienst. und die Schule" ein Streiflicht auf die Beziehungen Schussens Phantasie baute die eigene Schulerfah- der beiden prominenten Kursgenossen von 1894. rung zu einer veritablen Systematik pädagogischer Matthias Erzberger und Wilhelm Frick waren beide Schwächen und Lehreruntugenden aus, und er übte undankbare Schüler. Erzberger, die aktive Natur, herbe Kritik an der Schulwirklichkeit. Aber: die nahm zielbewußt die Bildungschance im Lehrerse- Idee des Lehrerseins strahlt nur umso heller! Gerade minar wahr, die einzige, die sich ihm bot; aber er in "Gildegarn" formulierte Schussen mit dem löste sich so rasch als möglich aus diesem Lebens- Schwung eines Reformpädagogen am Beginn des kreis und blickte kein einziges Mal zurück. Der "J ahrhunderts des Kindes" sein Programm einer introvertierte, sensible Künstler scheuerte sich humanen Schule, an dessen Verwirklichung der Au- wund: an bildungsmaterialistischer Paukerei und tor und sein Romanheld scheiterten: "Seien wir engherziger Anstaltszucht, die man für erzieherisch doch ehrlich: worin besteht denn eigentlich unsere und künftigen kleinen, schlecht bezahlten Beamten berühmte Pädagogik oder Methode oder wie man bekömmlich hielt und besonders streng für die Kin- sonst es nennen will? Wir lehren ein Stückchen, und der der Armen handhabte, die man den sozialen das können wir. Aber kaum haben wir dem Lichte Aufstieg, wieder aus erzieherischen Gründen, ein Pförtlein geöffnet, dann sind wir auch schon da schwer erkämpfen ließ. - Schussens Charakteristik mit unseren Fragen und Prüfungen und Prolokos Erzbergers von 1922, veröffentlicht kurz nach dessen und Noten und Zeugnissen ... Ich für meine Person Ermordung, dieses "unpolitische Blatt", das 1953 lebe in dem festen Glauben, daß wir mit unserem wieder ohne Retuschen in der "Anekdote" erschei- ewigen Examinieren und Fehlerzählen und Austei- nen konnte, charakterisiert auch seinen Verfasser. len von Noten, die ja doch niemals gerecht sein Erzbergers Genialität zu preisen und ihm seine können, das Beste und Lieblichste in der Jugend "wahrhaft lautere, reine Natur" zu bescheinigen, niedertreten.Und ich bin sicher, die Zeit wird noch verlangte damals Mut, wenn man als bürgerlicher aufstehen, die diesem ganzen Plunder den verdien- Schriftsteller auf breite Publikumsgunst angewiesen ten Garaus macht ... Und die Behörden und Schul- war. Schussen berichtet, daß die Verbindung völlig leitungen werden noch einsehen müssen, daß eine abriß, als beide das Seminar verließen.Aus den Saat vor allem Ruhe und Sonne braucht.Das wollte Augen verlieren konnte man Erzberger freilich ich sagen." nicht, und im Werk des unpolitischen Schussen Tyrannei der Lehrer und Leiden der Schüler war taucht der erfolgreiche Politiker mehrmals auf, z. B. ein bevorzugtes Thema der Literatur im ersten Jahr- als Kultusminister Häbich und höchster Vorgesetz- zehnt unseres Jahrhunderts. Wir erinnern an einige ter des Lehrers Hohnerlein, die miteinander die repräsentative Bücher, die zwischen 1902 und 1907 Schulbank drückten, und - seltsam verfremdet - erschienen: "Freund Hein" von Emil Strauß,"Un- als demagogischer Volksredner und Volkssänger der term Rad" von Hermann Hesse,"Professor Unrat" Roten im "Verliebten Emeriten". von Heinrich Mann, "Mao" von Friedrich Huch, schließlich Robert Musils "Törless". Schussen lie- IV. ferte seinen stark autobiographischen Beitrag zu Wilhelm Schussen hat sich nie über seine Reli- dieser Schul-Literatur; ein Meisterwerk des Genres gion, Weltanschauung, Philosophie, wie immer man gelang ihm nicht. Eigenes Erleben im württembergi- es nennen will, geäußert oder doch nur in skurriler sehen Lehrerseminar und Schuldienst eröffneten nur Verklausulierung. Die "Bayerische Volkszeitung" die ziemlich enge Perspektive des provinziellen Re- nahm ihn 1930 als "gottbegnadeten Humoristen un- allehrers, dessen Urteil durch allerlei Ressentiments ter den katholischen Dichtern der Gegenwart" in getrübt war. Weder die gesellschaftlichen Hinter- Anspruch, und ähnlich gruppierten ihn andere ein. gründe der Schulverhältnisse noch vertiefte psycho- Das ist sicher falsch. Weder im Werk noch durch logische Einsichten - über die Frustrationen des Lebenszeugnisse ist eine solche Zuordnung zum falsch behandelten Schülers und nicht ins System konfessionellen Lager zu belegen, schon eher ein eingepaßten Lehrers hinaus - erschließen sich aus dogmenfreies Lebensgefühl der Geborgenheit in ei-

38 ner göttlichen Ordnung und Ehrfurcht vor der Schöpfung. Deshalb ist auch "der tiefe sittliche Ernst", der "starke ethische Zug" in seinen Schrif- ten selbstverständlich, und das Bild Schussens wird verzeichnet, wenn man ausdrücklich darauf hin- weist, als ob Schussen tendenziös erbaulich gewesen wäre. Man hat ihn um 1925 zur religiös-moralischen Gesundung unseres Volkes empfohlen und zehn Jahre später seine "wurzelechte Volkskunst" als Beitrag zur nationalen Besinnung werten wollen - beides unhaltbare Fehldeutungen . In seiner Lebenshaltung gründete Schussens Na- turgefühl, daraus entsprang sein Optimismus, der kein oberflächliches oder naives Wohlbehagen in der vorgefundenen Welt war. Merkwürdig oft und gera- de in den heiteren Büchern Schussens kommt der Selbstmord als Versuchung vor. Schussens Men- schen sind gefährdet, durch Krankheit und Tod, durch zerstörerische Triebe, aber auch - und das ist verblüffend bei einem als Humorist und Idylliker geltenden Autor - durch ökonomische und soziale Zwänge und - ganz modern - durch Kommunika- tions- und Artikulationsschwierigkeiten. An Sprach- not geht z. B. der Sägereiarbeiter Rochus in "Auf- um Rika" (1938) zugrunde. Beim verganteten Medard Rombold bedingen sich Charakter und wirt- schaftliche Situation wechselseitig. Der Rollen- zwang, dem die "besseren Leute" unterliegen - sie schied der Riedfrauen" . Tagelöhnerinnen sagen bei setzen ihr privates Glück aufs Spiel und leiden bitte- einem Faß Bier einer auswandernden Gefährtin Le- re Not, um nicht deklassiert zu werden -, führt in bewohl. Scheu und gehemmt sind sie zu Beginn der "Meine Steinauer" beinahe zu einer blutigen Kata- Feier, dann geraten sie freud- und leidgeschüttelt strophe. Schussen war auf seine Weise ein kritischer außer Rand und Band, packen einen halbwüchsigen Schriftsteller; um als solcher zu gelten, fehlte ihm Jungen und küssen ihn reihum ab. Diese Schilde- wohl nur der ideologische Unter- oder Überbau. Er rung der Entfremdung des Menschen durch schwere sah im unzulänglichen Leben und in der widrigen Arbeit, Armut und ungenützte Liebesfähigkeit ist Wirklichkeit immer noch die Harmonie. Er fühlte aufrüttelnder als grellste Tendenzliteratur. sich Welt und Leben , identifizierte sich mit Eine schrullige Grundsatzerklärung Schussens dem Unscheinbaren, Unbedeutenden. Auch dem möge statt einer Zusammenfassung stehen. Auf ei- Unvollkommenen und Lächerlichen gab er das nem Spaziergang, erzählt Hermann Hesse, "spra- Recht zu sein, wie es eben ist, und entdeckte Schwä- chen wir dies und jenes, auch über Bäume und che und Gebrechlichkeit im Großen, Lauten,Wich- Blumen, und im Sprechen kamen wir an einer Stelle tigen, nicht um sich hämisch darüber zu mokieren, vorüber, die war dicht mit einem wuchernden Un- sondern weil solcher Defekt das Gleichgewicht der kraut bedeckt, wie man es überall an den Straßen- Weltordnung bestätigt. Wenn diese Einstellung Hu- rändern und auf Schutthalden gedeihen sieht. Dieses mor ist, dann verdient Wilhelm Schussen den Eh- Unkraut, das in Schwaben mit mehreren höchst rentitel des Humoristen! verächtlichen Namen benannt wird, wurde von In dieser so beschaffenen , wenn nicht heilen, so Schussen sehr in Schutz genommen und gerühmt. Es doch heilbaren oder zumindest erträglichen Welt sei ihm lieber als alle möglichen Blumen, es sei so Schussens haben die materiellen Güter ihren Platz voll Kraft und Zähigkeit, es wehre sich so treu und und ihren Rang.Er preist nicht die Armut, sondern tapfer um sein Leben, gedeihe noch dort, wo nichts die Zufriedenheit, das Glück im Winkel bei relativer anderes mehr gedeihe, noch im ödesten Staub, noch Sicherheit, und Wohlhäbigkeit ist die gesündeste im steinigsten Boden, noch unter Stiefelsohlen und und erstrebenswerte Lebensgrundlage. Schussen Wagenrädern, und darum liebe er es und begrüße hatte ein Herz für die Armen; aber aus seiner Welt- es, wo immer er es antreffe. Dies Lob des Unkrauts, haltung konnte weder sozialrevolutionäres Kämp- diese Liebe zum zähen stillen Kampf des Lebendi- fertum noch sentimentales Mitleid entspringen.Ei- gen um sein bißchen Leben habe ich nicht ver- nes seiner eindrucksvollsten Prosastücke ist ,,Ab- gessen."

39 V. gefangene Germanen, die wie Marktpferde als Skla- Wilhelm Schussen war ein Geschichtenerzähler, ven verhandelt werden ... und nur hier und dort ein kein Romancier. Großflächige und weiträumige Ge- vergeblicher, einsamer Beter mit emporgehobenen staltung gelang ihm nicht, seine überzeugendsten Händen und verhülltem Haupte." Das sieht sich an Leistungen sind Erzählungen und kleine Prosastük- wie ein Makart'sches Kolossalgemälde! Sogar stilrei- ke. Er sei kein Literat, der zurechtfeile, arbeite eher ner Kitsch im Sinne Walther Killys gelingt mitunter, nachlässig, was die Form angehe, seine umfangrei- wenn Schussen über die ihm vertraute Wirklichkeit chen Werke seien fragmentarisch - das stellte Wen- ausgreifen will in die Bezirke "großer" tragischer delin Überzwerch schon 1924 in einer Rezension Dichtung in neuromantischer Drapierung, z. B. im fest. In der Tat ist "Vinzenz Faulhaber" ein Episo- eben zitierten Roman oder in der Novelle "Die denkranz, wirken Romanschlüsse Schussens abrupt Liebesinsel" , in der alles - Personen, Handlung, oder angehängt. Wo er sich bemüht, die Erzählung Sprache - falsch ist und unglaubhaft; schon der zum Weltbild zu runden wie in "Aufruhr um Rika" Titel ist schön wie ein Öldruck. "Ich liebe dich" oder in der Geschichte vom "Laurokles", biegt er kann ein Schwabe nicht sagen, nicht in seiner eige- die Linien der Handlung gewaltsam zusammen. nen Sprache, stellte Martin Walser einmal fest, und Wilhelm Schussens Werk ist ausgesprochen auto- ob es gesagt wird oder nicht, macht den Unterschied biographisch, wie oben dargetan, Erfinden war seine zwischen guten und weniger guten Liebesgeschich- Stärke nicht. Er konnte beobachten, auch die klein- ten Schussens aus. Wahr sind sie, wo zwei zusam- ste Einzelheit, konnte Erlebtes und Erfahrungen menkommen, weil s' Sach zusammenpaßt, wo das schildern, auch reflektieren in der Art seines Johann Leben und nicht Erklärungen ein Pärchen zusam- Jakob Schäufele , d. h. beschaulich und mit Humor menführt. Wortscheues herzliches Sich-Verstehen zu über seine Gedanken plaudern und hintersinnig mo- schildern, gelang Schussen immer wieder, und die nologisieren.Wo er sich darauf beschränkte, ist die kritisierten Fehlleistungen sind durchaus nicht ty- sprachliche Gestaltung , sind Vers und Prosa pisch für sein Gesamtwerk. lebendig. Diese Sprache hat Stil, eine eindeutige, Wilhelm Schussen hatte kein enges Verhältnis zur klare Struktur, kurz zu charakterisieren mit den Literatur; dem Literaturbetrieb stand er ganz fern. Stichworten: Bildhaftigkeit, Dialektkolorit, humor- Dies letztere lag wohl an seiner scheuen Art, für das volle Beleuchtung des Dargestellten, ungesuchte andere ist das Seminar mitverantwortlich. Es hatte Originalität. Zwei willkürlich gewählte Miniatur- ihm eine extensive Kenntnis der Klassik und Ro- bildehen mögen das Gesagte belegen. Ein Lehrer mantik, unterrichtspraktische und moralisierende sieht während einer Klassenarbeit aus dem Fenster: Interpretationsmuster für Volksschriftsteller , Natur- "Im Hofe unten gingen ein paar Tauben pickend hin und Gedankenlyrik und Balladen vermittelt. Ob und wider und verursachten lange, schmale, drollige sein Theorie- und Bildungsdefizit dem Werk gut Schatten, wenn sie gen Norden schritten, sobald sie oder schlecht bekam, ist schwer zu sagen. Er las sehr sich aber nach Westen oder Süden drehten, wurde viel. Für seinen Zugang zur Literatur ist aber be- der Schatten breiter und breiter und ging auf und zu zeichnend, was er in der "Anekdote" über seine wie ein Fächer. Das Schullokal allein verblieb im Begegnung mit Johann Peter Hebel ausplaudert, das grauen Halblicht."-Ein Besucher beobachtet von einzige Leseerlebnis übrigens, von dem er berichtet. der Zimmertür aus: "Die Frau Plakatinstitutsinha- Er hatte in den 20er Jahren Vorträge über Literatur ber schaute immer noch durchs Fensterloch und an der Volkshochschule zu halten und überlegte sich gönnte Vinzenzen die Muße, ihre Rückenansicht zu ein Programm: "Plötzlich fiel meine Wahl mit fast genießen. Ein spärliches Haarnest mit widerspensti- geheimnisvoller Bestimmtheit auf Hebel. Das war gen Wischen. Eine wasserscheue, künstlich und na- mein Mann. Ich kannte ihn zwar selbst eigentlich türlich betupfte Bett jacke.Ein blauer SchurzbendeI. noch herzlich wenig. Ich mußte mich also vor allem Ein unmäßig ausgefüllter roter Unterrock. Ein erst selber ordentlich einleben." So vertiefte er sich mausgrauer und ein schwarzer Strumpf. Neugierige in Hebels Leben, der ein armer Bub vom Land war, Fersen und ausgetretene Schlorkschuhe." sich Bildung erwarb und "der später ein großer, Als Beweis für die Behauptung, daß sich Schus- volkstümlicher und zugleich vollklassischer Dichter sens Imagination verirrte, wenn sie frei schweifte, wurde, den auch Goethes Lob nicht aus dem Kon- möge die Vision einer versunkenen Römerstadt im zept brachte, der einst als Prälat, Ehrendoktor und "Roten Berg" (1918) dienen: "Festzüge mit Fackel- Kammermitglied auf einem Altpapier- und Lumpen- trägern und Flötenbläsern, tafelnde Schlemmer mit fuhrwerk aufsaß, sich mit dem Fuhrmann unterhielt efeu- und rosengeschmückten Häuptern auf kostbar und die Landschaft lobte. Das war mein Mann." überzogenen Lagern, exotische wilde Tänzerinnen, Ähnlichkeiten des Lebensweges und des Geistes schwüle Frauen mit künstlichen goldgelben Haaren zogen Schussen zu Hebel; sein Urteil ist bemerkens- und blitzenden Reifen, Leichenzüge mit Klagewei- wert selbständig, da der Kalendermann damals noch bern, Possenreißern und Maskenträgern, entblößte als harmloser Lesebuchschriftsteller galt, den Walter

40 Benjamin und Ernst Bloch eben wieder als großen Verkannten entdeckten. Schussen erzählt in der "Anekdote" von Begeg- nungen und Freundschaft mit einigen Autoren. Von keinem ließ sich der oberschwäbische Eigenbrötler beeinflussen. Er besaß eine gehörige Portion jenes "Eigen-Sinns", den sein Freund Hermann Hesse einmal als Tugend rühmte. Für literarische Moden hatte er nur Spott. Schon "Vinzenz Faulhaber" ist auch Satire auf Literatenrummel und Literatenbor- niertheit.Vinzenz, der Schelm, betätigt sich zeitwei- lig auch als literarischer Agent. "Er setzte Gedan- kenstriche, wo er nichts mehr dachte und ward inne, daß andere diese tintigen Schlorkschritte zu deuten suchten. Er schrieb faule, stumpige Sätze, ohne seinem Ruf zu schaden. Im Gegenteil!Und auf der Straße sah man ihn von jetzt ab nie mehr anders als mit einem unmäßig hohen Zylinder auf dem zurück- geworfenen Schädel. Diesem steifen, verschlossenen Schlot, der wie ein psychologisches Preisrätsel auf dem Gipfel thronte, hatte Vinzenz ein bedeutendes "Altstadtwinkel", handschriftliche Fassung. Teil seines Ansehens zu verdanken." Eine Karikatur Original im Schiller-Nationalmuseum, des arrivierten Schriftstellers, der zum Gefangenen Marbach am Neckar seines Images wurde, ist die Gestalt des Florian im "Verliebten Emeriten"; ihm legte Schussen Paro- weder völkisch-erzieherisch wirken, noch hatte er dien einer tiefsinnig-hohl von letzten Dingen rau- Ambitionen auf eine "Höhen kunst" im Sinne Carl nenden Lyrik in den Mund. - Schussen fand mit Muths. Heimatdichtung war für ihn kein Programm, seinen ersten Büchern seine literarische Parzelle und sondern die ihm gemäße Art des Zugriffs zur Welt. setzte sich auf ihr fest. Wer will entscheiden, ob dies Als aber die Heimatkunst in den 20er Jahren in der die Entdeckung des ihm Gemäßen oder ein zaghaf- Masse des Mittelmäßigen erstickte, wurde auch ter Rückzug auf sein Naturtalent war. Schussen von der tonangebenden Literaturkritik in die Reihe der volkstümlichen Unterhaltungsschrift- VI. steller geschoben. Es wurde stiller um ihn. Frühere Wie kam es, daß um 1950 Wilhelm Schussens Bücher wurden noch aufgelegt, die neuen Arbeiten "literarisches Sternlein gegen früher ziemlich klein fanden freundliche Aufnahme, aber allmählich zö- und unten am Horizont stand", wie er selber mit gernden Absatz, wie sich an Zahl und Zeitfolge der Gelassenheit feststellte? Zunächst lag es an äußeren Auflagen ablesen läßt. Anfang der 20er Jahre war er Dingen; es ist Schussen nie gelungen, sein Werk bei noch sehr produktiv, später wurde sein Schaffens- einem einzigen Verlag unterzubringen, der es hätte rhythmus langsamer. Er blieb bei seinem Genre, betreuen können. Der Hauptgrund lag jedoch in den seinem Stoffkreis, nicht ohne sich zu wiederholen; geistesgeschichtlichen und politischen Entwicklun- das Detail gelang und fesselt immer wieder,Ent- gen.Die Heimatkunstbewegung im ersten Jahrzehnt wicklung ist aber kaum zu beobachten. unseres Jahrhunderts trug Schussen empor, jene Im Dritten Reich erlebte die Heimatkunst eine literarische Reaktion des flachen Landes auf die Renaissance, von ihren Freunden naiv als Erfolg des Großstadt, der Provinz auf Berlin.Vieles, nicht Schönen und Guten begrüßt, von den Machthabern alles, was Schussen schrieb, überragt das Niveau der gefördert, weil das Bodenständige ins ideologische unzähligen Heimatschriftsteller, die dieser Trend er- Konzept paßte, und mißbraucht, um die nach Bü- munterte. Seine Zuordnung zur Heimatkunst ist al- cherverbrennung und Arisierung verödete Kultur- lerdings fagwürdig, denn er "pflegte" nicht Heimat- landschaft einigermaßen zu beleben.Eine Rezen- liebe, er lebte sie. Er polemisierte nicht gegen die sion der Neuauflage der "Kuckuckseier", 1933, sei Großstadt aus antizivilisatorischem Affekt, sie war angeführt als instruktives Beispiel für ideologischen ihm bloß ungemütlich. Er verklärte nicht die kleinen Quark und schwarz-weiß-rot-braune Vernebelung Leute aus Opposition zur Elendsmalerei des Natura- der Literaturszene. "Auch wenn Wilhelm Schussen lismus, das kleine Glück war für ihn Erfahrung. Er nichts anderes geschrieben hätte als dieses eine köst- wählte sich nicht dörfliche Originale aus, um Litera- liche Buch, würde ich ihm den Ehrentitel eines tur aus ihnen zu machen, er begegnete ihnen als deutschen Dichters zuerkennen. Denn dieses Buch seinesgleichen und beschrieb sie einfach. Er wollte birgt alles, was den Sinn des deutschen Dichterturns

41 ausmacht: den ganzen Zauber unserer Sprache, ihre und Veränderungen nur insofern Notiz, als sie ein- lenzliche Anmut und Unschuld, ihre sommerliche zelnen Menschen zum Schicksal wurden. So schil- Pracht und Würde, ihre herbstliche Reife und An- dert er etwa 1925 den abgebauten arbeitslosen dacht, ihre winterliche Stille und Abgeschiedenheit. Osiander, der in der Inflation auf Selbstmordgedan- Und vor allem: jene geheimnisvolle atmosphärische ken verfällt, um seiner darbenden Mutter eine Le- Zwischenwortmusik, die mal wie sanftes Flöten- bensversicherung in harten Schweizer Franken zu- spiel, mal wie ferner Liedgesang, mal wie windhar- kommen zu lassen, der die Misere jener Zeit voll fenleiser Klang und mal wie rauschender Orgelton auskosten muß und schließlich sein Glück an einem die Sätze umtönt und durchschwingt. Dieses Buch oberschwäbischen Weiher findet. Der Vergleich mit ist deutsch bis in sein schweigendes Herz, obwohl Ernst Wiecherts 1938 erschienenem, einst berühm- kaum einmal darin von Deutschland gesprochen ten Roman "Das einfache Leben" liegt nahe; wie wird, nicht gesprochen zu werden brauchte, weil es mit seiner ersten Schelmengeschichte behandelte ein deutscher Mensch schrieb." Man kann sich kaum Schussen hier ein Thema, das später andere mit vorstellen, daß Schussen über solches Lob besonders mehr Erfolg aufgriffen.Am liebsten schmolz er die glücklich war, und sicher war er auch nicht ge- Weltläufte in die Idylle ein, so etwa im "Verliebten schmeichelt durch die Anerkennung des Reichskul- Emeriten", wo er ein politisches Doppelfest schil- tursenators Gerhard Schumann, der "Aufruhr um dert: Enthüllung einer Gedenktafel für eine bürger- Rika" 1938 mit der hoch offiziellen Banalität hono- liche Parteigröße mit wilhelminischem Pathos, und rierte: " ... und wird auch, wie ich glaube, in die auf der anderen Seite des Baches ein lärmendes Literatur eingehen." Sommerfest einfacher Leute ohne steife Kragen und Wilhelm Schussen zum deutschen Dichter, wie die Zylinder, der Roten; die politische Konfrontation ist Nazis das Wort verstanden, zu stilisieren, war ein aber eigentlich eine Familienangelegenheit. Versuch am untauglichen Objekt; die "Kuckucksei- Noch aufschlußreicher sind Schussens literarische er" zumal, dieses humane und unheroische Buch, Beiträge zu den zwei Weltkriegen, die er erlebte. passen in ein friedfertiges Seldwyla und nicht ins "Im großen Jahr" war das erste einer kleinforrnati- damalige Deutschland.Schussen war selbstverständ- gen Reihe von "Zeitbüchern" eines Konstanzer lich national gesinnt wie alle Bürgerlichen seiner Verlags; es folgten kleinere Arbeiten von Hermann Generation, aber nie nationalistisch.Wie hätte auch Hesse, Ludwig Finkh, Hans Franck, und auch Theo- einem ausgesprochenen Einzelgänger ein Kollektiv dor Heuss war dabei mit dem Opusculum "Schwa- existenziell wichtig werden können! Im "Freund ben und der deutsche Geist". Schussens Kriegser- Huchler" erzählt er gerafft sein nicht immer leichtes zählungen in dem 1915erschienenen Bändchen han- Leben und fährt fort: "Warum ich dies alles so deln von der komischen Figur eines Malers, den der peinlich genau berichte?Nun, weil ich eben trotz vaterländische Raptus packt und der sich und seine aller noch so hitzigen Belehrungen in Versammlun- Kriegsbegeisterung blamiert; sodann vom heroi- gen und trotz aller noch so heißen Straßenflugblätter schen Albert, einem Schussen'schen Tunichtgut, der immer noch nicht weiß, ob ich nun ein sogenannter im Krieg einen Druckposten bekleidet und vom Bourgeois (sprich: Burschoa) bin, der zwar das Vieh Dorfklatsch zum Heiden aufgebaut wird. Und gemolken, gepflügt, Bodenkohlraben gemahlen, Schussen schrieb die Erzählung, ,Der Sturm auf G." Torf gestochen und Fabrikarbeiterskinder unterrich- um zwei Brüder; der jüngere läßt einmal kriege- tet hat, oder ob ich ein sogenannter Proletarier bin, risch-mörderischer Phantasie die Zügel schießen. der allerdings den Aristoteles und den Abälard "Was haben dir die da drüben getan? dachte der kennt, ferner zu Zeiten ein Kapital auf der Sparbank ältere Sannwald. Ich finde es im Grunde traurig, liegen hat und dann in erwählter Gesellschaft Fla- irgendeinen mir ganz unbekannten Menschen, der schenwein trinkt. - Ja, je mehr ich über diesen mir persönlich nicht das geringste zuleide getan hat, Unterschied belehrt werde und je voller die Welt niederzuknallen ... oder auf ebensolche Weise nie- von solcher Predigt ist, desto weniger kann ich ihn dergeknallt zu werden." Zum Konjunkturritter hat- für mich selber gelten lassen. Was für mich persön- te Schussen offensichtlich kein Talent. Für den lich in dieser Hinsicht immer Geltung hat, ist eben Zweiten Weltkrieg hat er nichts Martialisches ge- der ewig alte Satz, daß wir alle Menschen und also schrieben.In der Reihe der Feldpostbücher des Brüder und Schwestern untereinander sind, dazu Eher-Verlags erschien 1943 eine kleine Sammlung bestimmt und geschaffen, einander zu stützen und seiner Prosastücke: heitere zivile Urlaubsgeschich- zu tragen und gemeinsam einen Ausgang aus aller ten und erstmals "Abschied der Riedfrauen" , die Not und Bedrängnis in eine hellere Zukunft zu eher wehrkraftzersetzende Schilderung eines Ab- suchen." schieds für immer. Dies ist Schussens fast rührend naives Bekenntnis Schussens Name steht unter dem dubiosen Treue- zu humaner Solidarität, zur Brüderlichkeit und gelöbnis für Hitler vom 30. Oktober 1933, von 88 Freundlichkeit. Er nahm von politischen Zuständen deutschen Schriftstellern tatsächlich oder angeblich

42 unterschrieben. Weiter ließ er sich mit dem Regime nicht ein.Die in den 30er-Jahren erschienenen Bü- cher zeigen keinerlei Zugeständnisse an den Zeit- geist. Dabei hätte "Aufruhr um Rika", die kecke Magd südländischen Typs im Wirthaus am Schwaig- furter Weiher, die alle Männer verrückt macht und selber unglücklich in einen Theologiestudenten ver- liebt ist, für rassistische und kirchenfeindliche Ak- zentsetzungen reichlich Gelegenheit geboten, die sich ein Opportunist nicht hätte entgehen lassen; selbst der "NS-Kurier" fand in seiner Besprechung nichts politisch Relevantes heraus. Politischem Schicksal entgeht auch kein Unpoliti- scher, wie Wilhelm Schussen einer war. Es sollte eigentlich unnötig sein, expressis verbis anzumer- ken, daß es hier nicht um eine Entnazifizierung Schussens geht, sondern um die Darstellung der Auswirkungen des Zeitgeschehens auf sein Leben und Werk, um die Untersuchung eines Beispiels der ungewollten Verstrickung von Schriftstellern und Li- teratur in Politik.Der Sündenfall vieler Heimatdich- ter, die aus Charakterschwäche oder politischer Un- bedarftheit sich vor den braunen Karren spannen ließen, kompromittierte diese Art Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg. Darunter litten alle, z. B. auch Marie- Luise Fleißer, mit Schussen vergleich- bar, weil sie als Schriftstellerin ganz in einer heimat- lichen Erfahrungswelt lebte. Die Epoche der Hei- Wilhelm Schussen. Fotografie 1954. matkunst war zu Ende, die literarisch interessierte Foto: Schiller-Nationalmuseum, Marbach am Neckar Öffentlichkeit wandte sich den lange verbotenen Schriftstellern und neuen Tendenzen zu. Und wer hatte in der Ära des Wirtschaftswunders schon Zeit mantik und Heimatkunstbewegung ein, müßte fest- für Beschaulichkeit und Besinnlichkeit, wer interes- stellen, daß Naturalismus und Expressionismus so sierte sich in der Massengesellschaft ernsthaft für die gut wie spurlos vorübergingen; die Soziologie des Naturkunde von Originalen und Sonderlingen!Für klassischen Landes der Klein- und Mittelbetriebe Schussen, den nun Siebzigjährigen, waren das und Feierabendbauern könnte da einiges erklären. schlimme Erfahrungen; die Entwicklung untergrub Es müßten die Leserschichten untersucht werden, auch seine wirtschaftliche Existenz. Aber alle Nach- die "Gemeinden" und gesellschaftlichen Kreise, mit richten aus den letzen Jahren stimmen überein: er denen die Autoren Kontakt hatten und denen sie ertrug sein Los ohne Bitterkeit und Gekränktsein selber angehörten: kleinstädtisches Bildungsbürger- und resignierte keineswegs. In heiterer Ruhe war er tum, Honoratioren, Lehrer, Pfarrersfrauen, auch überzeugt, daß eine spätere Zeit sein Werk wieder Handwerker, Feierabendleser, von denen Schussen entdecken und schätzen werde. "Die Kunst des in der "Anekdote" einiges erzählt. Die Literaturso- Wartens" ist das letzte Zeitungsinterview 1954 über- ziologie ergeht sich gern in Theoremen und nimmt schrieben. wenig Notiz von Tatsachen wie der folgenden: zwei Saulgauer Handwerksmeister pilgerten um 1890 zu VII. Fuß nach Freiburg, um ihren Lieblingsautor, Hein- Es fehlen für eine eingehende kritische Würdi- rich Hansjakob, zu besuchen. gung Wilhelm Schussens noch einige Voraussetzun- So unbefangen stammes- und landschaftsgebun- gen. Der Nachlaß und die Briefwechsel mit Freun- den wie die bayerische Heimatdichtung eines Lud- den sind noch nicht aufgearbeitet. Es fehlt auch der wig Thoma oder Oskas Maria Graf ist die schwäbi- historische Kontext. "Kein Oberamt ist dichter- sche nicht. Der schreibende Schwabe zielt in der frei" , schrieb Theodor Heuss seinerzeit im Vorwort Regel höher, auf das Allgemein-Menschliche; er hat zu "Sieben Schwaben". Die Geschichte dieser süd- einen Hang zum Sentimentalischen im Sinne des westdeutschen Literatur ist aber noch nicht geschrie- großen Landsmannes Schiller, er ist einer, der die ben; wir wagen trotzdem, ihre Leitlinien zu skizzie- verlorene "Einfalt und Wahrheit der Natur" in der ren.Eine solche Darstellung ginge wohl auf Neuro- "Idee" wiederherstellt - und verdirbt damit man-

43 ches. Dies wiederum mag zusammenhängen mit auf an, was man von Literatur erwartet. Wer dem "schwäbischen Trauma", wie es Fritz Rahn BewußtseinserheIlung und Licht auf die Probleme nannte, mit dem gebrochenen Verhältnis des Gebil- der Zeit sucht, kann ihn allenfalls noch als Zeugen deten hierzulande zur angestammten Mundart und der Vergangenheit schätzen; werkimmanente Inter- damit zur heimatlichen Wirklichkeit überhaupt. Die pretation ästhetischer Werte wird manchen Makel Literaturgeschichte dürfte vor allem nicht überse- finden. Schussen war keiner von den Großen, die hen, daß die "Schwäbische Schule" um die Jahrhun- neue Horizonte des Denkens eröffnen und neue dertwende eigentlich ein Nachklang des poetischen Wirklichkeit durch schöpferische Sprachkunst ent- Realismus war, verspätet und doch originell wie die decken. Man tritt ihm mit dieser Behauptung nicht schwäbische Romantik ein halbes Jahrhundert zu nahe, er selbst schätzte sich so ein. Als ihm zuvor. Theodor Heuss 1949 schulterklopfend sagte: "Sie Schussen erfand einen Privatmythos von einem haben allmählich auch ein kleines Köpflein ge- Ahnen,"der mit ausgestreckten Armen ins Unend- kriegt", hörte er aus dieser Bemerkung ohne Emp- liche fliegen konnte... in die Ewigkeit, seinem findlichkeit "etwas Sinnbildliches" heraus und hatte Ursprung entgegen, über den Äther hinaus bis zu Verständnis, daß Heuss, einer seiner ersten Förde- Gott"; und seinen Lebensentwurf definierte er als rer, von ihm viel mehr erwartete, als er hernach Sechzigjähriger so: "Was ich nun weiter vorhabe? leistete. Schussen war ein liebenswerter Kleinmei- Nun, weiterleben und weiterschaffen und dabei ster mit einem eindringenden, nicht durchdringen- möglichst lange Bach bleiben, rein und klar wie das den Blick für eine kleine Welt: die heimatliche Schussenwasser am Ursprung, und mein Tröpflein Landschaft, durchschnittliche Menschen und ihre Helligkeit an den Strom der Zeit, der ins Meer eilt, originalen Besonderheiten, für Glück und Nöte des abgeben. Ich möchte am Ende einst sagen können, Alltags, und er sah das alles mit "Heimataugen, die daß ich meinem Erbtraum vom Flug in die Unend- ja manches mit Vergrößerungsgläsern gemein ha- lichkeit nach Möglichkeit treu gewesen bin. Ich ben", wie er wohl wußte. Ein Porträt, das sein möchte sagen können, daß alles, was ich geschrieben Wesen zu deuten versuchte, müßte ihn am Rande habe, im geheimen jene ererbten Flügel trage, eine des Weltgetriebes sitzend abbilden, wie er Menschen ererbte heimatliche Entführungslust ins Ewige und und Dinge solange betrachtet, bis er das Gute ent- Unvergängliche einschließt. Dann hätte ich genug deckt hat. Mit Erbaulichkeit hat dies nichts zu tun, erreicht. " und wir wollen nicht hoffen, daß er durch eine Aufschlußreich ist auch das Selbstverständnis der Nostalgiewelle hochgespült werde. Aber ein neues Autoren als "Dichter", ihr Ehrgeiz als Lyriker und Wilhelm-Schussen-Buch wäre wünschenswert, als Dramatiker. Beispiel Schussen: er hielt die Gedichte historisches Zeugnis einer regionalen literarischen für sein Bestes. In ihnen spricht sich überzeugend Kultur und als Sammlung des Humors, vielleicht und manchmal sogar ergreifend seine Natur- und sogar der Weisheit, die Wilhelm Schussen zu geben Heimatliebe, seine besondere Art von WeItfröm- vergönnt war. migkeit aus; aber sie schlagen keinen neuen Ton an, sind in der Form, in Sprachgestalt und Metaphorik Verfasser und Redaktion danken Frau Dorle Diesselhorst für die eben doch epigonal ("Heimwärts", 1913,"Das war Erlaubnis zur Veröffentlichung der Abbildungen, dem Schiller- mein Gang", 1921). Nationalmuseum in Marbach für die Hilfe bei der Auswahl und die Ob Schussen noch lesenswert ist? Es kommt dar- Überlassung der Druckvorlagen.

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