SWR2 MANUSKRIPT

SWR2 Musikstunde

Expressionismus der Musik (2) Der Expressionismus exploriert und expandiert

Mit Frieder Reininghaus

Sendung: 20. Februar 2018 Redaktion: Dr. Bettina Winkler

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SWR2 Musikstunde Frieder Reininghaus 19. Februar – 23. Februar 2018 Expressionismus der Musik (2) Der Expressionismus exploriert und expandiert

Er exploriert und expandiert – Über den Expressionismus der Musik – 2. Folge. Dazu begrüßt Sie Frieder Reininghaus.

Heute, liebe Hörerinnen und Hörer, soll noch einmal etwas genauer beleuchtet werden, wie der Expressionismus sich seit dem späten 19. Jahrhundert herausbildete, wie er um sich griff und expandierte. Als Begriff für gesteigertes künstlerisches Ausdruckswollen und -Vermögen kam Expressionismus ja erst im Jahr 1911 in die Welt – dann aber mit einiger Vehemenz. Größeren Bekanntheitsgrad erreichte er in Teilen des sich umkrempelnden deutschen Musiklebens erst nach dem Ersten Weltkrieg. Doch trotz mancher Achtungserfolge und punktueller Begeisterung ist er auch da nicht „explodiert“, sondern rasch durch die Herausforderungen der neuen Sachlichkeit abgekühlt worden. Zunächst nun, wie gestern an dieser Stelle in Aussicht gestellt, soll eines jener älteren Werke erklingen, die den Ausdruck im Titel führen – und das gleich doppelt: „Mit Lebhaftigkeit und durchaus mit Empfindung und Ausdruck“, schrieb statt einer Tempo-Bezeichnung über den ersten Satz seiner Klaviersonate op. 90 – und zugleich auf Italienisch „Con vivacità e sempre con sentimento ed espressione“. Friedrich Gulda spielt.

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Musik 1 Ludwig van Beethoven: Sonate für Klavier in e/E, op. 90 1. Satz Friedrich Gulda (Klavier) Amadeo 476 8767; Track 12 4’35“

Mit dem von Friedrich Gulda interpretierten Kopfsatz der Sonate Nr. 27 von Ludwig van Beethoven wird zu Beginn des 19. Jahrhunderts das musikalische Ausdruckswollens freigespielt. Von nun an gab es in Mitteleuropa für alle, die eine „Fortschrittsrichtung“ einschlagen wollten, kein Zurück. Es galt nur: Weitermachen (und sei es auf Umwegen). Oder überbieten. Hörbar wird dies in Arbeiten wie dem Gesangszyklus Gurrelieder für Soli, Chöre und Orchester nach Texten von Jens Peter Jacobsen – noch mit Überhang zugunsten der Wagneristischen Erbmasse. Hier das Vorspiel der Gurrelieder. dirigiert das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg.

Musik 2 Arnold Schönberg: Gurrelieder: Orchestervorspiel (1900–11) SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg Michael Gielen (Dirigent) CD 1, Track 1 M0096162 001 6’23”

Michael Gielen dirigierte das Vorspiel der Gurrelieder. Es spielte das in die ewigen Musikgründe eingegangene SWR Sinfonieorchester.

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Für Arnold Schönbergs Bemühung um eine Synthese von Brahms- und Wagner-Nachfolge gab es als Bindeglied die „spätromantische“ Harmonik. Doch es gab da auch starke außermusikalische Impulse – z.B. im Kontext des Wiener Jugendstils.i Insbesondere dort, wo sich Schönbergs Musik Texte einverleibt wie die Litanei von . Das ist im dritten Satz des Streichquartetts fis-moll der Fall (in wenigen Minuten wird er in Gänze erklingen – doch zuvor ein wenig Erläuterung). Noch werde da der Tonsatz „bewegt von dem Impuls der symbolistischen Dichter, eine Bilderwelt zu schaffen als reines Gleichnis der Seele, die sich verschweigt“, kommentierte Theodor W. Adorno als einer der eifrigsten Apologeten des Schuloberhaupts Schönberg. Man darf sich das auf der Zunge zergehen lassen: Musik „als reines Gleichnis der Seele, die sich verschweigt“. Die Sprache des Klangs sei, so Adorno, in der des französischen Schriftstellers Stéphane Mallarmé beheimatet.ii Aber wie dieser ließen die Werke Schönbergs dann „den Jugendstil unter sich, in dem sie entspringen. Denn der musikalische Ausdruck nimmt eine Unmittelbarkeit an, welche keines Metaphorischen mehr bedarf: die Musik verzehrt die Bilder, das Innen redet selber“.iii – Wenigstens gelegentlich darf daran erinnert werden, welcher hochtönenden Sprache die Feuilleton-Texte zugunsten der allgemeinen Anerkennung der expressionistischen Musik sich befleißigten. Neben Stéphane Mallarmé spielten für die Musik des fin de siècle Paul Verlaine, Arthur Rimbaud und eine erheblich Rolle. Natürlich eher in Frankreich als im deutschen Sprachraum. Von Edgar Varése, damals noch in Paris, existiert nur ein Klavierlied. Un grand sommeil noir stammt von 1906 und stützt sich auf einen Text von Verlaine, dem führenden Kopf des Symbolismus. Die dunkel

4 raunenden Verse vom Schwarzen Schlaf passten eigentlich gut in den Kontext des sich herausbildenden Expressionismus. Erst recht Verlaines ästhetisches Programm: „De la musique avant toute chose“. Diese Parole – „Musik, Musik vor allen Dingen“ – führte bei Varése allerdings zu einer Intonation, die sich von den Schönbergschen Klang- Resultaten weitgehend unterscheidet.

Musik 3 Edgar(d) Varèse: Un grand someil noir (Text: Paul Verlaine) von CD Verlaine héretique Anna Maria Pammer, Sopran Clemens Zeilinger, Klavier Weinberg Recors LIVA 056, Track 26 2’33“

Die Sopranistin Anna Maria Pammer sang, begleitet von Clemens Zeilinger, das Lied vom schwarzen Schlaf, das Edgar Varése 1906 nach einem Text von Paul Verlaine schrieb.

Zu den vorangegangenen Verlaine-Vertonungen gehörten die von Charles Koechlin, einem Industriellen-Sohn aus dem Elsaß, der zeitlebens Außenseiter der Pariser Musikszene blieb. Von Koechlin nun La Chanson des Ingénues – das Lied der Naiven (mit ihm ist die Linie zu Erik Satie vorgezeichnet).

Es singt Claudette Leblanc, am Flügel begleitet von Boaz Sharon.

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Musik 4: Charles Koechlin (1867–1950): La Chanson des Ingénues op. 22 Nr. 1 Claudette Leblanc (Sopran) Boaz Sharon (Klavier) CD Wergo 60 137-50 Track 14 1’50“

Soweit das kleine Pariser Verlaine-Liedchen von den Naiven. – Mit Naivität hatte das Schaffen Schönbergs um 1908 in Wien so gar nichts mehr zu tun. Es war längst hochgradig ‚sophisticated’.

Sein zweites Streichquartett schrieb Schönberg in einer Phase, in der sich der Komponist in Rivalität zu Richard Gerstl stark mit Malerei beschäftigte (und v.a. zahlreiche Selbstportraits schuf). Gerstl war ein talentierter junger Maler, der im selben Haus wohnte wie die Schönbergs. Er war auch Liebhaber der Ehefrau und tranchierte sich im November 1908 vor dem Spiegel selbst auf die Weise, wie dies Alban Bergs Oper Lulu später zeigte. Die Sprachbilder der Lyrik Stefan Georges sind im fis-moll-Quartett präsent und hinsichtlich des Künstlerseelenhaushalts aufschlussreich. „Leih deine kühle, lösche die brände,/ Tilge das hoffen, sende das licht!“, lauten die letzten Zeilen. „Gluten im herzen lodern noch offen,/ Innerst im grunde wacht noch ein schrei.../ Töte das sehnen, schliesse die wunde!“ Stefan George war, als er dergleichen zu Papier brachte, Kristallisationsfigur des von Verlaine, Rimbaud und Baudelaire beeinflussten deutschen Symbolismus (und ganz auf dem l’art-pour- l’art-Kurs). Später schwenkte er auf philosophische,

6 lebensreformerische und lebenskünstlerische Vorstellungen ein und erhob sich zum Haupt des George-Kreises. Überwölbt von Georges Litanei nun der 3. Satz von Schönbergs fis- moll-Quartetts in einer Aufnahme mit dem Asasello-Quartett und der Sopranistin Eva Resch.

Musik 5 Arnold Schönberg: Streichquartett Nr. 2 fis-moll 3. Satz Litanei (Langsam) (1907/08) Asasello-Quartett Eva Resch (Sopran) CD 2, Track 3; 6’55” M0448181 012

Sie hörten den 3. Satz von Arnold Schönbergs Streichquartett Nr. 2 fis- moll, Litanei in einer taufrischen Aufnahme mit der Sopranistin Eva Resch und dem Kölner Asasello-Quartett.

Ähnlich dem Expressionismus der bildenden Kunst widmete sich der literarische in hohem Maß Themen wie Großstadt, Angst, Zerfall des sozialen Gefüges, Ich-Verlust, Weltuntergang – und ab 1914 auch konkreter den traumatischen Kriegsereignissen. Ihnen fiel z.B. August Stramm zum Opfer. Georg Heym war schon 1912 im Wannsee ertrunken. Des Weiteren schlugen sich in der Produktion auch – nicht anders als später in der guten Rock-Musik – Wahnsinn, exzessive Liebe und Rausch nieder. Die ‚bürgerliche Kunst’ wurde mit einer ‚Ästhetik des Hässlichen’ herausgefordert und attackiert. Die Dichter des deutschen Expressionismus, so lautet ein unter Literaturkritikern

7 umlaufendes Bonmot, hätten viel im Bauch gehabt und wenig im Kopf. Ob dies nun „schnoddrig“ und „natürlich überspitzt“ (oder „künstlich überspitzt“) ist, kann dahingestellt bleiben. Wie alle funktionierende Polemik und Witzelei, so enthält auch diese zumindest einen Funken Wahrheit. Wir wollen es hier mit einer Kostprobe sein Bewenden haben lassen – mit dem ziemlich sozialrealistischen Gedicht Friedrichsstraßendirnen von Paul Boldt. Boldt, Jahrgang 1885 wie Otto Klemperer, Egon Erwin Kisch oder Ernst Bloch, entwickelte sich zu einem Dichter, der erotische Begierden und sexuelle Exzesse erhob und vertiefte.iv Unmittelbar vor Beginn des ersten Weltkriegs brachte er den Gedichtband Junge Pferde! Junge Pferde! heraus. Der nahm Fräuleins und Frauen aller Arten, Herrenreiter-Erfahrungen, die „Liebe“ im Allgemeinen und Besonderen ins Visier. Er registrierte die Kälte, den Schmutz, die unbarmherzige Realität. Mit Beginn der Kampfhandlungen wurde Paul Boldt zur Artillerie eingezogen, 1916 wegen „Verwirrungszustands“ aus der preußischen Armee entlassen. Anders als vielen anderen Expressionisten wand die Nachwelt ihm keine Kränze. Die Komponisten fanden seine Texte nicht schick (ich fürchte: da war zu viel Sozialrealismus drin).

Als Kostprobe lese ich ein formal säuberlich gearbeitetes Sonett: Friedrichstraßendirnen – von Paul Boldt, 1914.

Sie liegen immer in den Nebengassen, Wie Fischerschuten gleich und gleich getakelt, Vom Blick befühlt und kennerisch bemakelt, Indes sie sich wie Schwäne schwimmen lassen.

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Im Strom der Menge, auf des Fisches Route. Ein Glatzkopf äugt, ein Rotaug’ spürt Tortur, Da schießt ein Grünling vor, hängt an der Schnur Und schnellt an Deck einer bemalten Schute,

Gespannt von Wollust wie ein Projektil! Die reißen sie aus ihm ’ wie Eingeweide, Gleich groben Küchenfrauen ohne viel

Von Sentiment. Dann rüsten sie schon wieder Den neuen Fang. Sie schnallen sich in Seide Und steigen ernst ’ mit ihrem Lächeln nieder.

(durchatmen) Es gilt als Konsens, dass keine andere literarische Bewegung zuvor das Hässliche, Kranke, Wahnsinnige zum Gegenstand ihres Ausdruckswollens machte – hörbar ja auch in der frühen Lyrik von Else Lasker-Schüler, Gottfried Benn oder Jakob van Hoddis. Eines von dessen kleinen Gedichten ist – neben Lasker- Schülers Mein blaues Klavier – das bekannteste Beispiel: Weltende.

Der mittlerweile gänzlich aus der Mode gekommene DDR- Liedermacher Wolf Biermann hat das Weltende von 1905 gut sieben Jahrzehnte nach der Bekanntmachung mit Musik versehen. Mittlerweile residierte er für die Aussicht auf den Weltuntergang an der Hamburger Elbchaussee.

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Musik 6 Wolf Biermann: Weltende (Text: Jakob van Hoddis) CBS 83 922, Seite A Track 9 1’35“

Da das Programm des Expressionismus der Bildenden Kunst und der Literatur weitgehend negativ definiert war – nicht naturgetreu, nicht bürgerlich, nicht konventionell sollte er sein –, ergab sich daraus im Gegensatz zum Impressionismus nicht eine Kunst, die an ihren Stil- Merkmalen zu erkennen ist. Es war geistige Haltung, die Expressionismus ausmachte.v

Eine erste größere Zusammenfassung der diffusen Tendenzen, die in Summe auch musikalischen Expressionismus ergeben sollten, lieferte der Musikwissenschaftler Arnold Schering. Er veröffentlichte 1920 in einem Einführungsband zur Kunst der Gegenwart den Aufsatz Die expressionistische Bewegung in der Musik. In enger Bezugnahme auf die anderen Künsten wurde auch hier in der jüngsten Musik ein „elementarer“, „spontaner“, „triebhafter“ Expressionismus konstatiert. Er tendiere statt zu impressionistischer „Naturvermittlung“ immer stärker in Richtung „Vergeistigung“, ja: „unmittelbarer Offenbarung“.vi Schönbergs Musik symbolisiere die Triebhaftigkeit und Schrankenlosigkeit des menschlichen Innenlebens. In ihren „unberechenbaren Exaltationen“ mischten sich „Ekstasen, Erotisches, Schreckhaftes, Wunderbares, Geheimnisvolles, Mystisches, optische Sensationen, Angst, visionäre Bedrängnisse“, das heißt geradezu alles: „Sinnliches und Intellektuelles, Geistiges und Körperliches, Bewußtes und Unbewußtes“.vii

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Der in Wisconsin lehrende Musikforscher Jost Hermand verwies darauf, dass all das Divergierende dennoch zu einer Einheit verschmelzen solle. Schönberg, so resümierte Hermand, verzichte auf jede „thematische Arbeit“, vermeide alle „Wiederholungen“ und „Sequenzen“, was seiner Musik den eindrucksvollen Charakter von „Kampf, Bejahung, Fortdrängen, Handlung, Aktion, Sturm“ gebe. Aufgrund dieses Aktivismus sei bei Schönberg die „Dissonanz zur Regel, zum Prinzip, zum Inbegriff der Musik“ geworden. Hier schaffe keiner, was andere für „schön“ halten, sondern einer, der lediglich seinem „innersten Triebe“ folge. Das Ergebnis dieses Dranges sei eine totale „Demokratisierung“ der Klangwelt,viii eine Atonalität, in der „jeder nur denkbare Akkord“ möglich werde. Dennoch klinge das Ganze nicht ,anarchistisch', da in Schönbergs Seele ein „exakt funktionierender Psychometer, ein im Unterbewußten liegender Meßapparat“ am Werke sei, der stets für eine unmerkliche Ordnung sorge.ix Zu den „Herzkammern“ des musikalischen Expressionismus, zumindest den Herzkranzgefäßen, darf man das Kammermusikwerk Herzgewächse rechnen. Arnold Schönberg schrieb es – nach einem Text des belgischen Symbolisten Maurice Maeterlinck im „Schwellenjahr“ 1911. Im folgenden Ausschnitt singt Christine Schäfer, begleitet vom Ensemble InterContemporain unter der Leitung von .

Musik 7: Arnold Schönberg Herzgewächse für hohen Sopran, Celesta, Harmonium u. Harfe op. 20 (Text: Maurice Maeterlinck); Aufnahme: Christine Schäfer/ Pierre Boulez M0013973 022 3’09

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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, spielten Gaukler und Harlekin in der Bildenden Kunst wie in der Literatur und der Musik eine nicht unerhebliche Rolle. Pablo Picasso verewigte sie verschiedentlich. Beim belgischen Maler James Ensor, bei Paul Cézanne oder Juan Gris. Aber auch in Igor Strawinskys Ballett Petrouschka von 1911 treten sie in Erscheinung.

Franz Schrekers 1918 fertig gestellte Oper Der Schatzgräber bietet neben dem Narren den fahrende Sänger Elis auf. Arthur Schnitzlers 1910 in uraufgeführte Pantomime Der Schleier der Pierrette, zu dem Ernst von Dohnányi die Musik schrieb, spielt zum größten Teil im „Zimmer des “ – dort ist Arlechino „Pirettens Bräutigam“. Arnold Schönberg kannte Schnitzlers Stück ebenso wie Frank Wedekinds Erdgeist und Büchse der Pandora – bei der Wiener Aufführung erschien Lulu in einem Pierrot-Kostüm. Anfang 1912 orderte die Schauspielerin Albertine Zehme bei Schönberg dreimal sieben Miniatur-Melodramen nach Gedichten des belgischen Symbolisten Albert Giraudx in deutscher Übersetzung.xi Der Komponist stattete entgegen der Bestellung statt mit Klavierbegleitung mit einem fünfköpfigen Kammermusikensemble aus. Der Zyklus löste bei der Uraufführung in Berlin 1912 einen jener „Skandale“ aus, die seine Karriere in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg begleiteten und beförderten. Die sich anschließende Europa-Tournee erwies sich insgesamt als erfolgreich. Die Auftragsgeberin trat allemal im Pierrotkostüm auf. Strawinsky, der bei der Uraufführung anwesend war, griff in seiner Kammeroper L’histoire du soldat 1918 verschiedene Errungenschaften von Pierrot lunaire auf. Giacomo Puccini reiste schwer krank eigens zu einer Aufführung nach Florenz und machte Schönberg Komplimente.

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Musik 8: Arnold Schönberg: Pierrot lunaire für Stimme, Klavier, Flöte/Piccolo, Klarinette/Bassklarinette,Violine/ und Violoncello op. 21 Nr. 1: Mondestrunken Aufnahme: Christine Schäfer/Pierre Boulez M0013973-001 1‘37

Christine Schäfer zelebrierte eines der Lieder aus dem Zyklus Pierrot lunaire.

Arnold Schönberg hegte eine Idiosynkrasie gegen platte „Ausdeutung“ von Texten durch die Musik. 1907 hatte er sich von der traditionellen tonalen Harmonik verabschiedet. Im surrealistisch-expressionistischen Pierrot handhabte er 1912 die Freie Atonalität wie selbstverständlich. Sogar ausgesprochen spielerisch. Jenseits der technischen Kriterien beruht die Eingruppierung von einzelnen Werken in eine künstlerische Stilrichtung auf einer stillschweigenden Übereinkunft von Publikum und Experten. Die aber ist dem Wechsel der Zeiten ebenso unterworfen wie dem Paradigmenwechsel bei Beschreibungen und Zuordnungen.

Musik 9 Arnold Schönberg: Pierrot lunaire op. 21 Nr. 7: Der kranke Mond M0013973-007 2‘12

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Arnold Schönbergs Pierrot lunaire – das ist L’art-pour-l’art, in der auch bei genauem Zuhören kaum Klopfzeichen der Zeit unmittelbar vorm Ersten Weltkrieg zu vernehmen sind – weder soziale, noch politische. Nicht viel anders verhält es sich bei der Ballettsuite op. 130 von Max Reger, die 1913 entstand. Freilich deuten sich auch in diesem Orchesterwerk ‚Verschiebungen’, ‚Verzerrungen’ der ‚Irritationen’ an. Vielleicht nicht das was Michail Bulgakow „verrutsche Würde“ nannte, aber doch etwas leicht ‚Schräges’. Wie bei so Vielem in der Zivilisation und Kultur, das dann durch die Ereignisse des Jahres 14 entfesselt wurde und aus dem Lot geriet. Man mag sehr skeptisch sein hinsichtlich der Rekonstruktion von ‚Vorahnungen’ der Musik. Mitunter mag die Versuchung aber doch groß sein, wider besseres Wissen zu argwöhnen, Musik habe seismographische Qualitäten. Wie hier die Valse d’amour von Max Reger.

Musik 10 Max Reger: Valse d’amour aus: Eine Ballettsuite op. 130 Bamberger Symphoniker Horst Stein (Dir.) 3369052-018 2’52“

Absage: Mit der der Valse d’amour aus der Ballettsuite op. 130 von Max Reger ging die zweite Musikstunde dieser Woche zum Expressionismus der Musik zu Ende. Die Bamberger Symphonikern spielten unter der Leitung von Horst Stein. Und damit verabschiedet sich für heute und ggf. bis morgen: Frieder Reininghaus.

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i „Zeigt sich heute insgesamt, wie eine Dynamik vom Jugendstil in den Expressionismus treibt – in der Malerei etwa bei dem Wiener Schiele, von dem manche Fäden zu dem Schönberg der kritischen Jahre sich hinüberspinnen, und auch in dessen eigenen Bildern –, dann hat Schönbergs Musik diesen Übergang allein aus sich heraus vollzogen und, durch ihren ornamentlosen Ausdruck, den Jugendstil zu sich selbst gebracht, zum Expressionismus. Diese Bewegung seines Werks ist aber darum so authentisch, weil sie in dessen technischem Fortschritt, dem Abstoßen des schmückenden Beiwerks, sich vollzog, nicht aus Stilgesinnung. Die Lösung der strikt kom- positorischen Probleme wird zur historischen Veränderung der Stile; im Umschlag des Jugendstils in Expressionismus. ebenso wie später in dessen Versachlichung durch Konstruktion. Eine der möglichen Antworten auf die Frage nach der Dignität von Schönbergs Werk wäre, daß es, fensterlos der eigenen Tendenz sich überlassend, die gesamte Geschichte des Geistes seiner Epoche bündig in sich zusammendrängte.“ Theodor W. Adorno, Über einige Arbeiten Arnold Schönbergs (1963), nachgedruckt in: Impromptus, Frankfurt/M. 1968, S. 183. ii Ebenda, S. 182. iii Ebenda. iv Paul Boldt stammte aus einer westpreußischen Gutsbesitzerfamilie und führte nach Studium in München und Marburg in Berlin ein für die Söhne dieser Kaste nicht untypisches „unstetes“ Leben (womöglich ziemlich am Rand des Abgrunds). Vom 27 Lebensjahr an publizierte er mit Erfolg in der Aktion, Franz Pfemferts literarisch-politischer Zeitschrift. v So formulierte Ernst Ludwig Kirchner 1906 das „Programm der Brücke“ in einem Holzschnitt gleichen Titels: „Mit dem Glauben an Entwicklung, an eine neue Generation der Schaffenden rufen wir alle Jugend zusammen und als Jugend, die die Zukunft trägt, wollen wir uns Arm- und Lebensfreiheit verschaffen gegenüber den wohlangesessenen älteren Kräften. Der gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht das wiedergibt, was ihn zum Schaffen drängt.“ vi Schering, EN (10) im Text Hermand. vii ebenda (11). viii Ebenda (16). ix Jost Hermand, Stile, Ismen, Etiketten – Zur Periodisierung der modernen Kunst (Athenaion) Wiesbaden 1978, S. 67f. x (A. Kayenbergh; 1860–1929) xi Übersetzung von Otto Erich Hartleben (1864–1905)

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