Plenarprotokoll 15/59

Deutscher

Stenografischer Bericht

59. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Inhalt:

Nachträgliche Gratulation zum 60. Geburtstag Dr. FDP ...... 5027 B der Abgeordneten Erika Lotz ...... 5036 D Antje Hermenau BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 5028 D Tagesordnungspunkt 1: Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 5030 B a) Erste Beratung des von der Bundes- CDU/CSU ...... 5032 A regierung eingebrachten Entwurfs ei- Steffen Kampeter CDU/CSU ...... 5033 C nes Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Erika Lotz SPD ...... 5035 B Haushaltsjahr 2004 (Haushaltsge- Bernhard Kaster CDU/CSU ...... 5036 D setz 2004) (Drucksache 15/1500) ...... 4987 B

b) Unterrichtung durch die Bundesregie- Einzelplan 05 rung: Finanzplan des Bundes 2003 bis 2007 Auswärtiges Amt (Drucksache 15/1501) ...... 4987 B Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 5038 D Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU ...... 5042 C Einzelplan 04 Dr. Peter Struck SPD ...... 5043 D Bundeskanzleramt Günther Friedrich Nolting FDP ...... 5044 D CDU/CSU ...... 4987 C Dr. Peter Struck SPD ...... 5045 B Gerhard Schröder, Bundeskanzler ...... 4994 C Joseph Fischer (Frankfurt) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 5048 C CDU/CSU ...... 5000 D Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU ...... 5049 B Gerhard Schröder, Bundeskanzler ...... 5001 C SPD ...... 5050 A Dr. FDP ...... 5002 A Dr. FDP ...... 5051 D Katrin Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 5005 C (Wiesloch) SPD ...... 5054 B CDU/CSU ...... 5006 D CDU/CSU ...... 5055 D Dr. CDU/CSU ...... 5010 D Günter Gloser SPD ...... 5057 D Franz Müntefering SPD ...... 5018 A Dr. Gerd Müller CDU/CSU ...... 5059 C Ernst Hinsken CDU/CSU ...... 5025 D Uta Zapf SPD ...... 5061 B II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Petra Pau fraktionslos ...... 5063 A Einzelplan 23 Lothar Mark SPD ...... 5063 D Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Joachim Hörster CDU/CSU ...... 5065 A Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin BMZ ...... 5084 B CDU/CSU ...... 5086 D Einzelplan 14 Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ Bundesministerium der Verteidigung DIE GRÜNEN ...... 5088 C Dr. Peter Struck, Bundesminister BMVg . . . . 5066 B Markus Löning FDP ...... 5090 A Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ CDU/CSU ...... 5069 A DIE GRÜNEN ...... 5091 A Reinhold Robbe SPD ...... 5071 B Karin Kortmann SPD ...... 5091 C Günther Friedrich Nolting FDP ...... 5072 D Peter Weiß (Emmendingen) CDU/CSU . . . . 5092 D Jürgen Koppelin FDP ...... 5073 B Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin BMZ ...... 5094 A BÜNDNIS 90/ Detlef Dzembritzki SPD ...... 5094 B DIE GRÜNEN ...... 5075 C Dr. CDU/CSU ...... 5095 D Günther Friedrich Nolting FDP ...... 5077 A Nächste Sitzung ...... 5097 C Hans Raidel CDU/CSU ...... 5078 A

Ulrike Merten SPD ...... 5080 A Anlage 1 Thomas Kossendey CDU/CSU ...... 5081 D Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 5099 A Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 4987

(A) (C) Redetext

59. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsident Dr. : Michael Glos (CDU/CSU): Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Sitzung ist eröffnet. Herren! Vor einem Jahr konnten die Deutschen einen neuen Bundestag wählen. Heute würden sie es gerne Der Kollege Gerhard Rübenkönig hat sein Amt als wieder tun. Ich bin mir sicher: Sie würden sich ganz an- Schriftführer niedergelegt. Die Fraktion der SPD be-ders entscheiden. nennt als Nachfolgerin die KolleginRita Streb-. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wider- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – spruch. Damit ist die Kollegin Streb-Hesse als Schrift- Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Belei- führerin gewählt. digte Leberwurst!) Wir setzen die Haushaltsberatungen – Tagesord- Das zurückliegende Jahr war ein verlorenes Jahr für nungspunkt 1 – fort: Deutschland. Unser Land befindet sich dank der glorrei- (B) chen Führung von Rot-Grün in der schwerstenWirt- (D) a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- schaftskrise seiner Geschichte. Massenarbeitslosigkeit, gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieStagnation, riesengroße Löcher in den öffentlichen Feststellung des Bundeshaushaltsplans für dasHaushalten und leere Sozialkassen kennzeichnen die Haushaltsjahr 2004 Lage. Herr Bundeskanzler, Deutschland ist nicht mehr in der Champions League, sondern in der Abstiegsklasse. (Haushaltsgesetz 2004) Der Finanzminister ist zum Herrn der Löcher mutiert, vom ehemaligen selbst ernannten Sanierer zu einem – Drucksache 15/1500 – Mann, der über seinen Haushalt sagen muss, er war noch Überweisungsvorschlag: nie so voller Risiken wie heute. Das hat auch die gestrige Haushaltsausschuss Debatte gezeigt. b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- Herr Bundeskanzler, weil wir gerade beim Thema regierung Fußball sind, möchte ich feststellen: Sie haben manches mit Rudi Völler gemeinsam. Sie sind Chef einer erfolg- Finanzplan des Bundes 2003 bis 2007 losen Mannschaft. – Drucksache 15/1501 – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Überweisungsvorschlag: Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das wird Haushaltsausschuss sich heute Abend zeigen! – Weitere Zurufe von der SPD) Ich erinnere daran, dass wir gestern für die heutige Aussprache achteinhalb Stunden, für morgen acht Stun- Vor allen Dingen sprechen Sie aber die gleiche Sprache den und für Freitag eineinhalb Stunden beschlossen ha- wie Rudi Völler. Über die Grünen haben Sie nämlich ge- ben. sagt, Sie fänden sie zum Kotzen. Sie hätten wenigstens das Wort „Erbrechen“ verwenden können. Wir kommen zum Geschäftsbereich desBundes- kanzleramtes. (Lachen bei der SPD) Als erster Redner hat der Kollege Michael Glos von Ich kann verstehen, dass es einem hochkommt, wenn der CDU/CSU-Fraktion das Wort. man einen solchen Partner hat und wenn man sich mit diesen Damen und Herren abgeben muss. Zumindest ist (Beifall bei der CDU/CSU) dieses Wort aus Ihnen herausgebrochen. 4988 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Michael Glos (A) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Und das Es ist bekannt, dass Sie „out of Rosenheim“ nicht auftre- (C) ausgerechnet von Ihnen! Der bayerische ten dürfen. Rosenheim hat eine CSU-Oberbürgermeiste- Knigge!) rin. Weil die CSU liberal und tolerant ist, Bis zum Wahlabend vor einem Jahr ist die Lage (Dr. [CDU/CSU]: So ist es! schöngeredet worden. „Weiter so, Deutschland“ und Deswegen brauchen wir keine FDP!) „mit ruhiger Hand“, hieß es. Deutlich unter 3,5 Millio- waren Sie dort willkommen. In München wurden Sie nen Arbeitslose, das war Ihre Zielvorgabe, Herr Bundes- von Herrn Ude und in Nürnberg von Herrn Maly ausge- kanzler. Wir haben heute 660 000Arbeitsplätze weni- laden. Grund dafür war in erster Linie, dass die Finanz- ger in diesem Land als vor einem Jahr. Ich darf zitieren, lage der Kommunen dank einer dilettantisch gemachten was damals versprochen wurde: Körperschaftsteuerreform mindestens genauso deso- Wenn es uns nicht gelingt, in den ersten Jahren ei- lat, wenn nicht noch desolater ist als die des Bundes und nen Durchbruch zu erzielen, haben wir nicht ver- der Länder. Deutschland wird bald zur körperschaftsteu- dient, weiter zu regieren. erfreien Zone. Außerdem wurden Sie ausgeladen, weil man sich Ihre Erfolgslosigkeit nicht an die Backe kleben Dieses Wort gilt heute, nach fünf Jahren, noch genauso. will. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Das wird den Genossinnen und Genossen dort aber [SPD]: Die Leute wollten wenig helfen. Sie handeln so verkehrt, wie man verkehr- nicht von euch regiert werden!) ter nicht handeln kann: Sie entscheiden sich weder für noch gegen diese Bundesregierung. Die Wählerinnen Die Wahlversprechen werden vom Tisch gewischt. und Wähler wollen aber klar wissen, woran sie sind. Ich Aufschwung, Wachstum, mehr Beschäftigung, ausgegli- glaube, den Genossinnen und Genossen in Bayern droht chener Haushalt, gesicherte Sozialleistungen, stabiledas gleiche Schicksal, das unser Land insgesamt ergrif- Sozialbeiträge – all das ist vergessen. Doch weil die Bür- fen hat: Sie werden in eine tiefe Rezession abgleiten. gerinnen und Bürger viele dieser großspurigen Verspre- chungen nicht vergessen haben, meinen sie oft, sie seien Sie programmieren und plakatieren für viel Steuer- Zuschauer in einem falschen Film. In der Geschichte un- geld „Deutschland bewegt sich“. Diese Kampagne ist seres Landes wurden die Menschen noch nie derart skru- meiner Ansicht nach ein Stück weit das Geständnis, dass pellos hinters Licht geführt, wie es bei der Bundestags- es in Deutschland bisher Stillstand gegeben hat. wahl im letzten Jahr der Fall war. (Ludwig Stiegler [SPD]: Vor allem schwarzen!) (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La- (D) chen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE Im Grunde ist diese Kampagne ein Offenbarungseid der GRÜNEN) Regierung. Machen wir uns nichts vor: Die neue Mitte, um die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie damals geworben haben, hätte Sie nicht gewählt,Ich finde es gut, dass Sie Ihre eigenen Fehler mit dieser wenn sie gewusst hätte, wie stark die Sozialversiche- Kampagne noch bekannter machen. rungsbeiträge ansteigen und dass die Beitragsbemes- sungsgrenze heraufgesetzt würde. Der Deutsche Ge- Die misslungene Steuerreform – die Körperschaft- werkschaftsbund hätte Ihnen keine millionschweresteuer ist die Bemessungsgrundlage für die Gewerbe- Wahlhilfe gegeben, wenn er gewusst hätte, was mit der steuer – hat neben der Erhöhung der Gewerbesteuerum- Agenda 2010 kommt. Ich will damit nicht sagen, dass lage dazu geführt, dass die Kommunen wegen der das alles nicht auch ein Stück weit sein muss; man muss schwachen Wirtschaftslage derart am Krückstock gehen, das den Wählerinnen und Wählern aber vorher sagen. dass heutzutage Leistungen, die die Bürgerinnen und Bürger direkt betreffen, gestrichen werden müssen. Da- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – ran sind nicht die Kommunalverwaltungen, nicht die [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bürgermeister oder Oberbürgermeister schuld. Die Was hat die CDU denn gesagt?) Schuldigen sitzen vielmehr hier auf der Regierungsbank. Verehrter Herr Bundeskanzler, verschiedene Leute (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und haben mir gesagt, ich solle heute ein bisschen netter zu der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Redet lie- Ihnen sein. Ich will das gerne tun: Ich bedanke mich bei ber von der Kirch-Pleite! Sie hat München Ihnen ganz herzlich für die Wahlhilfe, die Sie uns in Millionen Gewerbesteuerverluste gebracht!) Bayern geben. – Herr Stiegler, es wäre besser, wenn Sie zuhören wür- (Beifall bei der CDU/CSU) den, anstatt zu schreien. Sie müssen wissen, dass man beim Selber-Reden-und-Schreien nichts lernen kann, Ich finde das großartig und eindrucksvoll. Dank dersondern nur beim Zuhören. schlechten Politik, die Sie hier, in Berlin, machen, wer- den wir in Bayern ein gutes Wahlergebnis einfahren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Woher ( [CDU/CSU]: Nicht nur kommt der Gewerbesteuerverlust in Mün- deswegen!) chen?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 4989

Michael Glos (A) Ich rufe Ihnen noch einmal in Erinnerung – wenn Sie zu- Dabei liegen auch im Bundesrat jede Menge Alternati- (C) hören können –, dass Sie alle unsere Initiativen, mithilfe ven und Initiativen vor. Bisher ist von Ihnen alles abge- derer die finanzielle Situation der Kommunen rasch schmettert worden. hätte verbessert werden können, im Deutschen Bundes- tag abgeschmettert haben. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Man kann doch ein Nichts nicht abschmettern!) (Beifall bei der CDU/CSU) Die rot-grüne Arbeitsmarktpolitik ist doch eine unendli- Trotz Riester-Rente, Ökosteuer, steigender Beiträge che Geschichte von Murks und Widersprüchen. und höherer Bemessungsgrenze steht die Rentenversi- cherung vor einem Kollaps. Das macht uns und den Nur ein Beispiel: Die Berufung von Herrn Gerster an Menschen draußen Sorgen. Ohne unsere Mitarbeit – ich die Spitze der Bundesanstalt für Arbeit sollte ein neues bedanke mich bei und seinen Mitstrei- Zeitalter einleiten. Heute sind Gersters Umbaupläne tern – stünden die Krankenversicherungsbeiträge eben- nicht einmal mehr eine Fußnote in der deutschen Ar- falls vor einer gewaltigen Explosion. beitsmarktpolitik. Ohne das Störfeuer aus geschwätzigen Kommissio- Die nächste Wunderwaffe, die dann aktiviert wurde, nen wäre die Politik für die Bürger wenigstens ein Stück war Herr Hartz. Hartz und Murks – das klingt schon so weit transparenter. Herr Bundeskanzler, bei Ihrem Hang ähnlich. zu Kommissionen wäre es passender gewesen, Sie wä- ren nicht Bundeskanzler, sondern Kommissionspräsident (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – geworden. Zurufe von der SPD: Oh!) (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Ich hoffe, dass es VW nicht schadet, wenn man diese CDU/CSU und der FDP) Dinge in eine so nahe Verbindung bringt. Die Zelebra- tion des neuen Golfs lief unlängst ähnlich ab wie die Ze- Kommissionen sind ein Ablenkungsmanöver: Deutsch- lebration des Hartz-Programms seinerzeit hier in Berlin. land hat kein Erkenntnisdefizit, Deutschland hat ein Um- Im Interesse unseres Landes hoffe ich nur, dass der neue setzungsdefizit. Golf besser einschlägt als das, was Hartz vorher gezün- Denken Sie an den immer währenden Herrn Rürup: det hat. Keine Kommission ohne Rürup. Sie wissen, dass er (Ludwig Stiegler [SPD]: Machen Sie doch seine Erkenntnisse schon sehr oft mitgeteilt hat. Reklame für BMW und nicht für VW!) (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie Die Ich-AG ist nur sehr zäh angelaufen. Die Folgen (B) haben noch nicht einmal Erkenntnisse!) für etablierte Handwerker und Dienstleister bleiben ab- (D) Wenn Sie es ernst meinen und diese Kommissionen kein zuwarten. Sie soll eine neue Wunderwaffe sein. Zum reines Ablenkungsmanöver sein sollen, müssen Sie diese Ausgleich dafür entzieht man dem Handwerk einen gro- Erkenntnisse aber auch umsetzen. ßen Teil seiner Grundlage. Das ist doch eine ungeheuer widersprüchliche und falsche Politik. Auch wenn die Grünen die neue Lehrerpartei gewor- den sind, muss man feststellen, dass die SPD immer (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt noch von den Lehrern geprägt ist. August Bebel hat ein- [Salzgitter] [SPD]: Da haben Sie aber schnell mal gesagt, die Lehrer würden die Sozialdemokraten mal das Klatschen versucht!) und die Gewerkschaften einmal kaputt machen. Von dem Jobfloater wurden 50 000 neue Stellen er- (Zurufe von der SPD) wartet. Es sind nicht einmal 10 000. Auch durch die Per- Beide Gruppen haben nicht nur ein gewaltiges Umset- sonal-Service-Agenturen sollten 50 000 Beschäfti- zungsdefizit, sondern wir haben in unserem Land auch gungsverhältnisse entstehen. Bislang sind es gerade gewaltige volkswirtschaftliche Erkenntnisdefizite. Herr einmal 608. Wissen Sie, was PSA heißt? Es bedeutet: Bundeskanzler, deswegen müssen Sie zu Sonderparteita- Pleite statt Arbeit. Das ist ein Kennzeichen Ihrer Politik. gen und Regionalkonferenzen. Sie müssen versuchen, (Beifall bei der CDU/CSU) die Menschen dort ein wenig nachzubilden. Das fällt bei den Betonköpfen in denDGB-Gewerkschaften natür- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich sage es lich sehr schwer. noch einmal: Wir haben konkrete Alternativen vorge- legt. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sagen Sie doch mal etwas über Ihre Konzepte!) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wo denn?) Quasseln ersetzt jedenfalls keine Entscheidung. Ich nenne unsere Vorschläge zur Veränderung des Kün- Ich kann Ihnen jetzt schon sagen, welche Platte Sie digungsschutzes, für betriebliche Bündnisse für Arbeit anschließend vorspielen werden. Sie werden wieder fra- und für die Zusammenführung von Arbeitslosen- und gen: Wo sind denn Ihre Alternativen? Sozialhilfe mit einer möglichst dezentralen Zuständig- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ keit. Wir wollen keine neuen Großbehörden und Büro- DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgit- kratien schaffen, wie es Grüne und Sozialisten immer ter] [SPD]: Das habe ich gerade gefragt!) anstreben. 4990 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Michael Glos (A) (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie oder wenn sie ganz sichersind, dass es ein Licht am(C) warten doch auf die nächste Kommission!) Ende des Tunnels gibt, dann werden sie den Tunnel mit immer neuen Vorschlägen und neuen Kommissionen Wir möchten, dass das bei den Kommunen bleibt und verlängern, wodurch immer mehr Pessimismus ausge- das sie für die Durchführung und Umsetzung weiterhin löst wird. hauptverantwortlich sind. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]) Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP] – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie schützen Wenn ich den regierungsamtlichen Prognosen Glau- doch die Machtkartelle!) ben schenken darf, dann müssten wir uns eigentlich statt Wir haben die Neuregelung der400-Euro-Jobs durch- in einer Rezession in einem Boom befinden; denn für gesetzt. Das ist eines der wenigen Dinge, die Erfolg ge- den Herbst 2003 wurde uns der Wirtschaftsaufschwung habt haben. Das stammt aber nicht von Rot-Grün, son- versprochen. Die Fakten sprechen eine andere Sprache: dern von der Union. 40 000 Pleiten und Insolvenzen. Herr Bundeskanzler, es gibt neue Arbeitsplätze und Investitionen in diesem (Ludwig Stiegler [SPD]: Das hat Wolfgang Land. Es gibt durchaus internationale Unternehmungen, Clement getan!) die sich in Deutschland neu niederlassen. Das sind näm- lich diejenigen, die sorgfältiger Marktanalysen betrei- Herr Bundeskanzler, Deutschland bewegt sich. Ja, ben, als das bei Ihnen der Fall ist. Ich meine die Zunft aber es bewegt sich bis jetzt immer noch in die falsche der Konkurs- und Insolvenzanwälte. Auch internationale Richtung. Bis heute konnte der Anstieg der Sozialversi- Kanzleien dieser Art lassen sich nun verstärkt in cherungsbeiträge nicht gestoppt werden. Die Löcher in Deutschland nieder, weil sie wissen, dass ihnen Rot- den öffentlichen Haushalten wachsen von Monat zu Mo- Grün Arbeit gibt und sie gewaltig Geld verdienen lässt. nat und die Wirtschaft stagniert seit über zwei Jahren. Nach gängiger Definition bezeichnet man einen Rück- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gang in zwei Quartalen hintereinander als Rezession. Die Arbeitslosenzahl bricht einen traurigen Rekord nach Die einzige Hoffnung, die Ihnen noch bleibt und die dem anderen. Für den Niedergang sind diejenigen ver- immer wieder beschworen wird, ist die Hoffnung auf ei- antwortlich, die auf der Kommandobrücke dieses Lan- nen Aufschwung in den USA. Wenn dieser eintrifft des stehen. – dies wird ein Stück weit geschehen –, wird dies aber in Deutschland ein Aufschwung ohne Schwung werden, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- weil unsere Wirtschaftsschwäche hausgemacht ist. Sie (B) neten der FDP) kommt nicht von den internationalen Märkten her, son- (D) Herr Bundeskanzler, deswegen ist es eine Drohung, dern sie resultiert, wie gesagt, aus dem Verschieben von dass Herr Fischer und Sie sagen, Sie wollten das nächste Reformen und Veränderungen, die wir brauchen. Dies Mal wieder antreten. führt zu einem Vertrauensverlust bei den Bürgerinnen und Bürgern. Die Sprunghaftigkeit und die mangelnde (Ludwig Stiegler [SPD]: Für euch ist das Wahrhaftigkeit der rot-grünen Regierung haben sicherlich eine Drohung!) Deutschland in diese Vertrauensfalle geführt. Es ist un- geheuer schwierig, verlorenes Vertrauen wiederzuge- – Wenn es nur für uns eine Drohung wäre, wäre es kein winnen. Problem; wir würden damit fertig werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Der Attentismus der Verbraucher und Investoren Joseph Fischer, Bundesminister: Nein!) ist eine zwangsläufige Folge Ihrer Politik. Die Menschen in diesem Lande schauen und warten, statt zu handeln, Deutschland wird aber nicht damit fertig werden. Dieweil sie Ihren Ankündigungen keinen Glauben schen- Bürgerinnen und Bürger wollen eine bessere Politik. Ih- ken. Es hat sich im Land zu sehr der Eindruck verfestigt: nen ist es vollkommen egal, wer oben steht. Sie sagen: Die in Berlin Regierenden haben den Überblick verlo- Tut etwas, verändert etwas und redet nicht nur! Ich habe ren. die Befürchtung, dass alles bei Ihnen beiden so bleiben würde, wie es ist, falls Sie, was die Wähler durch ihre Dazu gibt es ein ganz konkretes Beispiel, Herr Bun- Einsicht verhindern mögen, noch einmal gewählt wür- deskanzler. Ich habe unlängst zufällig im ZDF die Sen- den. Das würde für Deutschland einen gewaltigen Scha- dung „logo!“ eingeschaltet. Dort sind Sie von ein paar den bedeuten. Kindern befragt worden. Die erste Frage war, ob Sie wirklich den Ausdruck „kotzen“ verwendet haben. Die- Deutschland bewegt sich unter Ihrer Führung, Herr ser Ausdruck hat den Kindern schon Probleme bereitet, Bundeskanzler, nicht im Tempo eines Rennpferdes, son- dern im Tempo einer Schnecke. Das ist das Tempo (Lachen bei der SPD) Deutschlands. Die Wirtschaft dümpelt vor sich hin.weil sie offensichtlich aus Familien kommen, in denen Clement verkündet: Konjunkturerholung in Sicht. Der eine solche Sprache nicht gebraucht wird. Sie haben das Kanzler sieht Licht am Ende des Tunnels. Wissen Sie, ein bisschen heruntergespielt. wenn Sozialdemokraten Licht am Ende des Tunnels se- hen, dann gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder sehen (Zurufe von der SPD: Oh! – Weitere Zurufe sie den Gegenzug – denn bei ihm ist das Licht vorne – von der Regierungsbank) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 4991

Michael Glos (A) – Herr Struck, an Ihrer Stelle wäre ich ganz ruhig. Müntefering, Sie haben unlängst – ich glaube, ich habe (C) es im „Handelsblatt“ gelesen – beklagt, dass Deutsch- (Joseph Fischer, Bundesminister: Er hat doch land zu technologiefeindlich sei und dass wir zu wenig gar nichts gesagt!) Naturwissenschaftler hätten – was ja auch stimmt. Auch Sie haben unlängst in einer Talkshow ein noch vieldas erinnert an den Spruch: Haltet den Dieb! schlimmeres Wort in den Mund genommen. Wer ist denn die Ursache dafür? Warum ist das so in (Lachen bei der SPD) unserem Land? Es ist doch wie bei Goethes „Zauberlehr- ling“: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los. – Jetzt hören Sie doch einen Moment zu! – Kommen wir In die Ecke, Besen! Besen!“ wieder zurück zu Zahlen. Über Zahlen lässt sich viel schwieriger streiten. Herr Bundeskanzler, Sie sind von (Zurufe von der SPD: Oh!) einem kleinen Jungen auch gefragt worden: Wie viel verdienen Sie, Herr Bundeskanzler? Er wollte eigentlich Das läuft doch alles nicht. Sie haben diese Technikfeind- wissen, wie viel Sie bezahlt bekommen. Was Sie verdie- lichkeit, diese Zukunftsangst, diese Skepsis und den nen, steht auf einem ganz anderen Blatt. mangelnden Mut in unserer Gesellschaft zu verantwor- ten. Das war nie Unionspolitik, sondern das war die Poli- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – tik, die die Grünen nach oben gespült hat. Herr Bundes- Lachen bei der SPD) kanzler, Ihr größtes Problem ist, auch wenn Herr Fischer Sie haben als Erstes gesagt, man müsse Ihre Frau fragen. jetzt umgeschwenkt ist – – Wenn jemand durch Leistung Auch bei mir ist dies bei konkreten Dingen ein Stücknach vorne kommt, dann habe ich großen Respekt. Aber weit der Fall. mit Menschen, deren Leben zu große Brüche aufweist, habe ich Probleme. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch schon peinlich, was Sie da veranstalten!) (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Das ist nicht peinlich, sondern typisch. – Danach ha- ben Sie die Zahl von 10 000 Euro im Monat genannt.Herr Fischer, für mich stellt sich überhaupt die Frage, ob Nun weiß man, dass es bei der SPD mit brutto und netto Sie sich wirklich verändert haben oder ob Sie Ihr Ra- immer große Probleme gibt. Aber es ist in Gesetzenbaukentum nur auf einem höheren Niveau weiterpfle- nachzulesen – das Einkommen von Abgeordneten und gen. Regierungsmitgliedern ist transparent –, dass Sie circa (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: das Zweieinhalbfache bekommen. Sie haben heute wohl nichts zu sagen!) (B) (Joseph Fischer, Bundesminister: Brutto oder (D) Das weiß auch seine eigene Partei. Sie wissen doch, wie netto?) er mit Ihnen umgeht, wenn ihm irgendetwas nicht ge- – Ich weiß das schon. Aber wir sind noch nicht beifällt. 70 Prozent Steuern und Abgaben in diesem Land. Wenn Es ist die Saat der68er-Bewegung, die dafür sorgt, Sie aber noch eine Weile weiterregieren, werden wir auf dass unser Land da ist, wo es heute steht. 70 Prozent oder mehr kommen. Dann kann es passieren, dass aus 25 000 Euro brutto 10 000 Euro netto werden. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Es ist Regieren hat aber auch etwas mit Detailkenntnis zu doch alles noch peinlicher! Nur weiter so, Herr tun. Entweder fehlen Ihnen wirklich die Kenntnisse über Glos! – Zuruf des Bundesministers Joseph die Zusammenhänge, was ich nicht glaube, oder Ihnen Fischer) fehlt der Mut, das zu sagen, was richtig ist, aber im Mo- – Herr Präsident, darf ich Sie bitten, für Ruhe auf der ment vielleicht nicht opportun erscheint. Regierungsbank zu sorgen? Es reicht, wenn von den Ab- (Beifall bei der CDU/CSU) geordnetensitzen der SPD bewusst gestört wird. Mit dieser Regierung – das sage ich noch einmal, Auch die Sozialdemokraten sind vielen Irrtümern er- auch wenn Sie noch so laut rufen – kommt Deutschland legen. Die Geschichte der Sozialdemokratie ist eine Ge- nicht auf die Füße. Es fehlt an Innovationen, an Mut zum schichte von Irrtümern und von Zu-spät-Kommen. Sie Risiko und echtem Gründergeist. Die Saat der Leis-hinken den Entwicklungen hinterher. tungsfähigkeit der 68er-Bewegung ist aufgegangen. (Ludwig Stiegler [SPD]: Die Geschichte der (Joseph Fischer, Bundesminister: Genau!) Schwarzen ist eine Geschichte der Katastro- phen, lieber Mann!) Rot und Grün verfahren heute nach dem Motto: Haltet den Dieb! Dafür gibt es eine Reihe von Beispielen. – Hören Sie es sich doch an, bevor Sie Nein sagen! – Das Godesberger Programm ist zu spät gekommen. Der Frau Bulmahn beklagt die verbreitete Bildungsschwä- Zug war schon weit gefahren, als Sie erkannt haben, dass che, obwohl sie die Bildungsministerin ist. Dann soll sie die soziale Marktwirtschaft das richtige Programm ist. doch etwas dagegen tun. Frau Ministerin Künast belei- digt gleichzeitig denöffentlichen Dienst, indem sie (Ludwig Stiegler [SPD]: Gucken Sie mal in sagt, die Leistungen der Schüler würden allenfalls noch die Geschichte der Schwarzen in den letzten für den öffentlichen Dienst ausreichen. Herr100 Jahren!) 4992 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Michael Glos (A) Das war bei der NATO und der Bundeswehr ebenso.gelaufen, sondern hat auch immer für schlechtere Zeiten (C) Auch da sind Sie hinterhergehinkt. Es hat sich wieder- vorgesorgt. holt, als es um die Globalisierung ging. Diese war nicht aufzuhalten. Statt die Konsequenzen daraus zu ziehen, Menschen, die hart arbeiten und kräftig Steuern zah- hat man sie lange beklagt. Heute, 13 Jahre nach denlen, müssen mehr in der Tasche haben als diejenigen, die friedlichen Revolutionen im Osten, alle Gesetzeslücken ausnutzen. Auch in dieser Hinsicht ist bei Ihnen nichts vorangegangen. (Ludwig Stiegler [SPD]: Cheerleader!) (Ludwig Stiegler [SPD]: Wer hat denn die Ge- wächst langsam die Erkenntnis, dass mit Sozialismus setzeslücken geschlossen und wer verhindert nichts mehr zu machen ist. Das hat Herr Scholz mutig denn das Schließen der Gesetzeslücken?) ausgesprochen. – Bei Ihnen, Herr Stiegler, muss erst die „Bild-Zeitung“ (Zuruf von der SPD: Wir haben Haushalts- über „Florida-Rolf“ und „Yacht-Hans“ berichten, bis Sie beratungen!) sich in Bewegung setzen. Dann sind wieder Teile der SPD über ihn hergefallen. (Beifall bei der CDU/CSU) Sie hängen alten Chimären nach. Auch das ist eine der Schwierigkeiten unseres Landes. Die Leute haben diese Sozialschmarotzer gestrichen satt. Immer wenn ein solcher Fall bekannt wird, werden voll- Der Umverteilungsstaat hat die Grenzen der Belast- mundig entsprechende Änderungen angekündigt. Letzt- barkeit unserer Wirtschaft längst überschritten, mit fata- lich geschieht dann aber nichts. len Folgen für das Wachstum in Deutschland. Wir dürfen nicht nur auf das Heute sehen. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wenn Das ist das Allerschlimmste an Ihrer Politik, Herr Sie das schon vorher gewusst hätten, hätten Bundeskanzler. Sie sind ein Mann, der seine Popularität Sie schon einen Antrag einbringen können!) immer nur in Augenblickserfolgen sucht. Darin sind Sie So war es auch, als der Bundeskanzler festgestellt hatte, zugegebenermaßen Meister. dass Kinderschänder weggesperrt werden müssen, und (Ludwig Stiegler [SPD]: Neid ist die höchste zwar für immer. Dann hat aber Rot-Grün keine gesetzli- Form der Anerkennung!) che Grundlage geschaffen, die das erlaubt hätte. Ich hoffe, dass die Gesetzeslücken zumindest im Falle von Es geht aber nicht um Augenblickserfolge, sondern es „Florida-Rolf“ gestopft werden. geht um Nachhaltigkeit in der Politik. Die Jungen müs- sen später die Zeche dafür zahlen, dass heute immer (Beifall bei der CDU/CSU) (B) (D) noch massenhaft Kredite aufgenommen werden und das Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Eichel Tilgen dieser Schulden auf übermorgen verschobenist eine tragische Figur. wird. (Ludwig Stiegler [SPD]: Aber der Stoiber ist (Beifall bei der CDU/CSU – Ludwig Stiegler noch tragischer!) [SPD]: Das sagt einer, der 1 500 Milliarden Schulden hinterlassen hat!) Er hat die Geschichte des Hans im Glück der Gebrüder Grimm inzwischen vollendet. Lesen Sie sie einmal nach! Sie haben den von und Norbert Blüm ein- Sie beginnt mit einem Klumpen Gold und endet mit ei- geführten demographischen Faktor in der Rentenver- nem Stein, den Hans im Glück am Ende weggeworfen sicherung wieder abgeschafft. hat. Ich bin bereit, eine Wette einzugehen, dass Sie, Herr (Ludwig Stiegler [SPD]: Wir zahlen 40 Mil- Eichel, nicht mehr sehr lange im Amt sein werden. Sie liarden Zinsen für die Schwarzen!) haben nur versäumt, rechtzeitig zu gehen. Sie haben gewaltig Zeit verloren. Wir müssen auch den (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE Älteren sagen, dass sie auf Zuwächse verzichten müssen, GRÜNEN]: Das hätte Ihnen so gepasst!) damit auch die Jungen noch etwas haben. Ich bin sehr dafür, dass wir Bildung und Forschung stärker fördern Sie hätten sagen müssen, Herr Eichel: Meine Politik der und man nicht die Saatkartoffeln nimmt, um darausKonsolidierung – diesen Weg sind Sie eine Zeit lang Pommes frites zu machen, und davon noch die Hälfte recht glaubwürdig gegangen – ist mit Rot-Grün nicht zu auf dem Tisch stehen lässt. Den Zusammenhang zwi-machen; ich trete ab und stelle mich nicht zur Verfü- schen dem, was man heute tut, und dem, was sich mor- gung, das krasse Gegenteil zu machen, indem ich einen gen entwickelt, zu leugnen, ist einer der fatalen Fehler. Haushalt vorlege, zu dem ich bei der Einbringung selber feststellen muss, dass er nicht stimmt. Dabei kann ich wieder auf Bayern verweisen. Warum ist Bayern denn – zum Beispiel bei der Investitionsquote (Joseph Fischer, Bundesminister: Das habt ihr im Landeshaushalt – besser gestellt? doch jahrelang gemacht!) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Weil die CSU Das haben Sie, Herr Eichel, schließlich gesagt und Frau regiert!) Scheel und andere haben das in Interviews wiederholt. Weil eine nachhaltige Finanzpolitik betrieben worden Ich finde das nicht tragisch für Sie. Sie werden ist. Bayern ist nicht jeder modischen Entwicklung nach- schließlich durch die Addition verschiedener Bezüge aus Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 4993

Michael Glos (A) öffentlichen Kassen gut versorgt in den Ruhestand ge- Auch Sie wissen, dass die Amerikaner derzeit enorme(C) hen. Mittel an sich ziehen und Dollars horten müssen, um die gewaltigen Defizite zu finanzieren. Die Börse als Aus- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Es wird rede zu nutzen ist völlig falsch. Das, was heutzutage die immer peinlicher mit Ihnen! – Walter Schöler Börsen und die Märkte sehr stark bestimmt, sind die [SPD]: Das ist eine Riesensauerei!) Ratingagenturen; denn diese legen das Kreditranking – Entschuldigung, das ist keine Sauerei, sondern einefest. Ich befürchte, dass dann, wenn Sie so weiterma- Tatsache. Ich gönne es Ihnen ja; aber Sie werden einen chen, die Bundesrepublik Deutschland ihr gutes Kre- Scherbenhaufen und Chaos in unserem Land hinterlas- ditrating nicht wird halten können. sen. Das ist unser eigentliches Problem. (Joseph Fischer, Bundesminister: Herr Koch!) (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das darf Wenn das der Fall ist, dann müssen wir alle, also nicht Sie doch nicht wahr sein!) alleine, sondern die gesamte Bevölkerung, höhere Zinsen für Staatsanleihen zahlen; denn der Bund wird sich das Lassen Sie mich noch etwas anmerken, weil Sie so zur Deckung seiner Mehrkosten bei der Kreditaufnahme laut dazwischenrufen. Herr Eichel hat immer wieder Be- notwendige Geld wieder bei den Bürgern holen müssen. kenntnisse zu dem in Maastricht beschlossenenStabili- Auch das ist eine erschreckende Entwicklung, die uns tätspakt abgelegt. Er hat aber all diese Bekenntnisseerst recht zwingt, auf solide Finanzen zu achten. nicht eingehalten. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: In (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- Hessen!) NIS 90/DIE GRÜNEN) Stichwort Europa: Beim Verfassungsvertrag ist So haben Sie zugegeben, dass das Haushaltsdefizit inmanches erreicht worden. Andere wollen noch mehr er- diesem Jahr 3,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts be- reichen. Ich finde, Herr Bundeskanzler, dass Sie bei der tragen wird. Um davon abzulenken, haben Herr Fischer Regierungskonferenz auch unsere Forderungen einbrin- und Herr Schröder sofort erklärt, dass sie bei den nächs- gen sollten. Wir müssen zum Beispiel die Unabhängig- ten Wahlen wieder antreten werden. keit der Europäischen Zentralbank festschreiben. Das (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: halte ich für ganz entscheidend. Auch das muss im Ver- „Logo!“!) fassungsvertrag abgesichert werden. Der Vertrag von Maastricht reicht ja offensichtlich nicht; denn Sie hal- Sie werden aber tatsächlich ein Defizit von etwa 4,5 Pro- ten ihn nicht ein. 3 Prozent waren als Obergrenze eines zent erzielen; es liegt also noch höher, als angekündigt. möglichen Defizits und nicht als Normalfall gedacht. In (B) (D) (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE dem Vertrag wird explizit darauf hingewiesen, dass aus- GRÜNEN]: Gehen Sie mal zu „logo!“ und er- geglichene Haushalte anzustreben sind. Aber Sie wollen klären Sie dort, was das ist!) die Defizitobergrenze immer weiter hinausschieben. Es würde außerdem nicht schaden, wenn Sie die Verantwor- Unter diesen Umständen hat es auch keinen Wert, wenn tung vor Gott, wie sie im deutschen Grundgesetz steht, Sie – um von der Debatte abzulenken – ankündigen, bis in der europäischen Verfassung verankern würden. 2010 zu bleiben. Vielmehr müssen harte Konsolidie- rungsschritte eingeleitet werden. (Beifall bei der CDU/CSU) ( [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Wir brauchen eine realistische Europapolitik mit Au- GRÜNEN]: Davon habe ich gestern nichts ge- genmaß. Auf Europa sind sehr viele zusätzliche Belas- hört!) tungen zugekommen. Die Ost- und Südosterweiterung Wir sind alle gespannt, wenn dieSchweden am der Europäischen Union – das ist eine gewaltige Auf- Sonntag über die Einführung des Euro abstimmen. Ich gabe – ist zwar politisch sehr wünschenswert, wirt- habe gehört, dass das deutsche Beispiel als abschreckend schaftlich aber sehr gefährlich. Es ist außerdem ver- gilt. In einem Gespräch, das ich gestern mit britischen säumt worden, die Grenzen Europas zu definieren. Politikern geführt habe, haben diese erwähnt, dass sie Europa reicht nicht bis zum Ural und nach meinem Ver- zwar gern den Euro einführen würden, dass die Deut- ständnis auch nicht bis zum Kaspischen Meer oder bis schen dies aber erschwerten; denn der Euro sei baldzum Hindukusch. keine starke Währung mehr, wenn Deutschland, Frank- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) reich und andere große Länder so weitermachten. Deswegen wäre es ein Akt der Ehrlichkeit gewesen, dem (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Haben türkischen Ministerpräsidenten Erdogan bei seinem Sie schon mal in die Börse geguckt? 1,12! So Deutschlandbesuch zu sagen: Wir bleiben Freunde und ein Unsinn! Das ist lächerlich!) werden alle Beziehungen, die unsere beiden Länder ha- – Ich wiederhole Ihren Zwischenruf, weil die Zuhörer ben, ausbauen und vertiefen; aber ihr könnt aus wirt- nicht hören können, was Sie schreien. Ihr Zwischenruf schaftlichen Gründen nicht Vollmitglied in der Europäi- lautete: „Haben Sie schon mal in die Börse geguckt?“ – schen Union werden. Die Börse hatte ihren Tiefpunkt erreicht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber der Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Un- Euro doch nicht! Es ging um den Euro!) glaublich!) 4994 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Michael Glos (A) Es ist falsch, wenn Sie behaupten, eine Vollmitglied- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) schaft der Türkei liege im nationalen deutschen Inte- Das Wort hat jetzt der Bundeskanzler Gerhard resse. Das könnte höchstens im Interesse der SPD liegen, Schröder. weil Sie wissen, dass die eingebürgerten Türkinnen und Türken zum großen Teil die SPD und die Grünen wäh- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ len. DIE GRÜNEN) (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- Gerhard Schröder, Bundeskanzler: NIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Das ist doch ein Grund, warum Sie dafür sind. Herren! Diese Debatte findet in einer Zeit außergewöhn- lich schwieriger Problemlagen im internationalen wie im (Zuruf von der SPD: Pfui!) nationalen Maßstab statt. Ob die Debattenbeiträge – je- Ich sage Ihnen aber eines voraus: Es werden im Deut- denfalls der, den wir bisher gehört haben – dieser Tatsa- schen Bundestag auch türkische Parteien vertreten sein, che gerecht werden, muss jeder für sich selber entschei- wenn die Einwanderungsströme so kommen, wie es be- den. fürchtet wird. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: NIS 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank, Herr Oberlehrer!) Nur wenige Bemerkungen zu den Problemlagen. Der – Hören Sie doch zu! Sie können ja später sagen, was Sie Kampf gegen den internationalen Terrorismus ist nicht denken. gewonnen, nicht in Afghanistan, nicht in anderen Teilen (Zuruf von der SPD: Hilfe!) der Welt. Kein Zweifel: Die Situation im Irak ist außer- ordentlich besorgniserregend. Wir haben vor einem Jahr darüber geredet und wir werden auch jetzt darüber reden Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: müssen. Die Situation im Nahen Osten muss uns alle be- Herr Kollege Glos, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. sorgt machen. Das Töten und der Terrorismus gegen Is- rael haben nicht aufgehört und es wird schwierig sein, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zur so genannten Roadmap, die den Friedensprozess im DIE GRÜNEN) Nahen Osten voranbringen kann, zurückzukehren. National – das wird gar nicht bestritten – sind wir im (B) Michael Glos (CDU/CSU): dritten Jahr der Stagnation. Das hat natürlich Auswir- (D) Die Deutschen wissen nicht, dass mit einer Voll-kungen auf unser Land. Wir sind in einer ökonomischen mitgliedschaft der Türkei in der EU die Freizügigkeit Situation, in der die Steuereinnahmen eingebrochen verbunden ist. Der Publizist Scholl-Latour befürchtet, sind, weil die Arbeitslosigkeit gewachsen ist, weil wir dass dann, wenn die Türkei Vollmitglied ist, 10 Millio- kein Wachstum haben nen bis 15 Millionen rasch nach Deutschland einwan- (Michael Glos [CDU/CSU]: Warum haben wir dern werden. Das ist, wiegesagt, nicht meine Befürch- kein Wachstum, Herr Bundeskanzler? Das ist tung. Aber ich muss mich auf Menschen verlassen, die doch nicht gottgegeben!) mehr von geschichtlichen Zusammenhängen verstehen als ich. Von Geschichte verstehen Sie jedenfalls nichts. und die Aufwendungen für die Bekämpfung der Arbeits- losigkeit natürlich gestiegen sind. Nach meiner Auffassung können wir Deutsche unsere Verantwortung, die wir für Europa und die Welt haben, Herr Merz, ich möchte mich auf das beziehen, was am allerbesten wahrnehmen, wenn wir dafür sorgen,Sie gestern gesagt haben: Das ist kein Phänomen, das dass wir wirtschaftlich stark bleiben. Unsere Möglich- sich allein auf Deutschland bezieht. keiten, anderswo in der Welt zu helfen, gründen sich (Michael Glos [CDU/CSU]: Billige Aus- nämlich auf unsere wirtschaftliche Stärke. Diese müssen rede! – Gegenruf des Abg. Ludwig Stiegler wir deshalb zurückgewinnen. [SPD]: Sie haben eine Horizontverengung!) Herr Bundeskanzler, Sie haben 1998 im Wahlkampf – Das ist keine Ausrede. oft gesagt – das wird Ihnen jedenfalls zugeschrieben –: Das Volk ist viel besser als seine Regierung. – Unsere Ich habe hier die Zahlen über dasWachstum in Hoffnung ruht deshalb auf der Kraft des deutschen Vol- Europa, die vom Statistischen Amt der EG gestern ver- kes und nicht auf der rot-grünen Regierung. Sie würden öffentlicht worden sind. Das Wachstums in der Eurozone dem Land einen großen Dienst erweisen, wenn Sie den im Verhältnis vom zweiten zum ersten Quartal ist minus rot-grünen Spuk – am allerbesten durch Neuwahlen – 0,1 Prozent, Niederlande minus 0,5 Prozent, Frankreich beenden könnten. minus 0,3 Prozent, Italien, Belgien und Deutschland mi- nus 0,1 Prozent. Ich sage das nicht, um irgendetwas we- Danke schön. niger besorgniserregend darzustellen, als es ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Zuruf von der CDU/CSU: Die Basis ist nicht neten der FDP) gegeben!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 4995

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) – Ich komme gleich zu der Basis. – Ich sage das nur vor – Das war ein Fehler; keine Frage. Natürlich haben wir (C) einem Hintergrund, der in der Auseinandersetzung zwi- den zu verantworten. Die Einzigen, die keine Fehler zu schen Herrn Merz einerseits und Herrn Eichel anderer- verantworten haben, sind Sie, weil Sie – so treten Sie je- seits auch gestern eine Rolle gespielt hat. denfalls auf – keine machen. Die Zahlen, die ich Ihnen über Europa mitteile – etwa (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ über Frankreich, über die Niederlande, aber auch über DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ die anderen, die ähnliche oder gleiche Wachstumsraten CSU]: So ein Unfug!) wie wir haben –, haben natürlich einen ganz anderen Hintergrund. Ich sage das mit Bezug auf die Debatte Ich sage Ihnen mit Bezug auf diese Debatte nur eines: über die Folgen der Wiedervereinigung, die gestern Der Bericht der Rürup-Kommission liegt bereits vor. angeklungen ist. Herr Merz, der Hinweis von HerrnWenn auch das vorliegt, was Herr Herzog für Sie erar- Eichel war kein Vorwurf an irgendjemanden, sondernbeitet, dann werden wir in puncto Rente vielleicht ähn- sollte verdeutlichen, dass Deutschland im Unterschied lich rational miteinander reden können wie bei der Ge- zu den europäischen Staaten mit gleichen oder nochsundheitsreform. Eines ist doch klar – die Kenner schlechteren Wachstumsraten etwas schultern muss, was jedenfalls wissen es –, nämlich dass uns auch die Beibe- kein Land der Welt – schon gar keines in Europa – zu haltung des demographischen Faktors, den Sie seinerzeit schultern hat. beschlossen haben, die Probleme nicht vom Hals ge- bracht hätte, mit denen wir wegen der Überalterung un- Der Hinweis auf die Tatsache nämlich, dass wir we- serer Gesellschaft zu kämpfen haben. Der demographi- gen der Einheit – ich denke, Gott sei Dank haben wirsche Faktor allein hätte es nicht gebracht. sie – Ich will daran erinnern, dass wir es gewesen sind, die (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie waren doch zum ersten Mal in der deutschen Geschichte auch in Be- immer dagegen!) zug auf die Rente das gemacht haben, was man Herstel- jährlich 4 Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes von lung von Kapitaldeckung nennt. Das ist, glaube ich, ein West nach Ost transferieren, ist kein Vorwurf, dass ir- ganz wichtiger Punkt, wenn man die Rente für die Alten gendwer schuld daran sei; es ist im Grunde der Hinweis in dieser Gesellschaft so sicher wie möglich machen und darauf, dass wir – ungeachtet der Anstrengungen, die wir sie für die Jungen bezahlbar halten will. vornehmen müssen und vornehmen wollen – auf den in- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ternationalen Märkten präsenter sind als in der Vergan- DIE GRÜNEN) genheit. Unsere Volkswirtschaft hat an Kraft also nicht verloren, sondern gewonnen, und zwar sowohl absolut Wir werden uns sehr rational darüber unterhalten (B) (D) als auch relativ. Das ist doch der Zusammenhang, den müssen, welche Konsequenzen das im Übrigen hat. Um man herstellen muss. es den Menschen draußen zu erklären: Wir sind in der Situation, dass im Vergleich zu 1960 – das hat mit dem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Älterwerden zu tun – die Bezugsdauer der Altersrenten DIE GRÜNEN) heute Gott sei Dank um 70 Prozent höher ist. Dass das Ich bin stolz auf die Leistungsfähigkeit, die dahinter Druck auf die Finanzierung ausübt, liegt doch auf der steckt. Es ist nicht die Leistungsfähigkeit dieses Hohen Hand. Wir haben, bezogen auf die Probleme, die ich ge- Hauses und seiner Mitglieder; es ist die Leistungsfähig- nannt habe, zu handeln und das versuchen wir auch. keit unseres Volkes. Darauf dürfen und müssen wir auch Die Aufgabe, die wir haben, ist, unter radikal verän- einmal stolz sein, gerade in wirtschaftlich schwierigen derten Bedingungen, sowohl was das weltwirtschaftliche Zeiten. und das europäische wirtschaftliche Umfeld angeht als (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ auch was die Alterspyramide unserer Gesellschaft an- DIE GRÜNEN) geht, Wohlstand in unserem Land und Gerechtigkeit in unserem Land zu sichern. Das ist die gemeinsame Auf- Wir haben es dann – das ist der zweite Problemkreis gabe. Es mag unterschiedliche Wege geben, über die es im nationalen Maßstab; darüber ist ja nicht hinwegzuse- sich zu streiten lohnt, allerdings nicht in dem Ton wie hen – mit derÜberalterung unserer Gesellschaft zu eben, Herr Glos; tun. Das ist – das weiß ich wohl – keine neue Erkenntnis. Ich will auch zugeben, dass die Frage, ob es richtig war, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den demographischen Faktor, der seinerzeit von Ihnen DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ eingeführt worden ist – auch das haben Sie gestern schon CSU]: Das ist ja unglaublich!) angesprochen, Herr Merz –, aufzuheben, durchaus be- nur sollten wir das dann auch sehr rational tun und den rechtigt gestellt werden kann. Ich sage Ihnen: Das war Menschen klar machen, wer welche Vorschläge hat. ein Fehler. (Michael Glos [CDU/CSU]: Woher ist denn (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Ton gekommen? Von Ihrer Seite!) der FDP – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Ja, aber vorher, vor der Wahl, haben Sie die Unsere Aufgabe ist es, angesichts dieses veränderten Leute belogen! Unglaublich! – Volker Kauder Umfelds, angesichts des veränderten Altersaufbaus un- [CDU/CSU]: Damit haben Sie die Wahl ge- serer Gesellschaft dafür zu sorgen, dass wir unsere so- wonnen!) zialen Verpflichtungen erfüllen können, gleichzeitig aber 4996 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) die Ressourcen unseres Landes freisetzen, um in das zu Er liegt ja mittlerweile schon bei 19 Prozent. Daran muss (C) investieren, was wirklich über die Zukunft entscheidet, man gelegentlich einmal erinnern, denn dahinter steht ja das heißt bessere Betreuung unserer Kinder, mehr Inves- eine steuerpolitische Leistung von , die nicht titionen in Bildung, mehr Investitionen in Forschung und von Pappe ist. Wir werden außerdem – das wird den ei- Entwicklung. Das alles entscheidet jetzt darüber, obnen Teil des Hauses vielleicht mehr freuen als den ande- Deutschland in fünf, in zehn, in 20 Jahren noch ein Land ren – den Spitzensteuersatz, der 1998 bei 53 Prozent ist, das soziale Gerechtigkeit auf hohem Niveau gewähr- lag, auf 42 Prozent senken. leistet. Das ist die Aufgabe, die uns gestellt ist. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ SES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Ich sage es noch einmal, meine Damen und Herren: Um diese Aufgabe zu erfüllen, unternimmt der Haus- 1998, also zu Ihrer Regierungszeit, ein Spitzensteuersatz halt und unternehmen seine Begleitgesetze den ernsthaf- von 53 Prozent, ten und schwierigen Versuch, auf der einen Seite die (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Bleiben Sie Wachstumskräfte unseres Landes – sie sind sichtbar – einmal bei der Wahrheit! Sie haben die Sen- zu unterstützen und auf der anderen Seite dieKonsoli- kung damals verhindert!) dierung nicht aufzugeben. Es sind nämlich zwei Seiten einer Medaille, auf der einen Seite den Versuch zu unter- 2004 einer von 42 Prozent. Dies ist auf die Politik der nehmen, Wachstumskräfte, Trends, die positiv sind, zu rot-grünen Bundesregierung zurückzuführen und nicht unterstützen, und auf der anderen Seite durch Struktur- etwa einem anderen politischen Lager geschuldet. veränderungen dafür zu sorgen, dass das auch objektiv (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ möglich ist und immer mehr möglich wird. Das heißt, DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ meine Damen und Herren, dass wir uns zunächst einmal CSU]: Sie sind ein Oberverschweiger! Sie ha- darum kümmern müssen, wie wir konjunkturell das Po- ben die Senkung im Bundesrat verhindert!) sitive, das es Gott sei Dank auch gibt, unterstützen kön- nen. Das ist ja eben verschwiegen worden. So weist der – Man kann natürlich immer noch mehr fordern; aber das Ifo-Geschäftsindex zum vierten Mal in Folge eine auf- hätte man auch selber 16 Jahre lang machen können, hat es steigende Tendenz aus. aber nicht getan. Das ist ja wohlfeil, was Sie jetzt machen. Gemäß den jüngsten Zahlen steigt auch die Industrie- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ produktion wieder an. Das gilt für die Bereiche, die sich DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ jetzt gerade auf der Messe in Berlin präsentiert haben, CSU]: Reden Sie über Ihren Freund (B) das gilt aber auch für die Automobilindustrie, die opti- Lafontaine! Der hat es verhindert! – Weitere (D) mistisch auf die bevorstehende Automobilmesse schaut. Zurufe von der CDU/CSU) Ich sage nicht, dass damit die Probleme schon gelöst wä- Jetzt lautet die Frage: Schaffen wir es miteinander, ren oder so gelöst werden könnten, aber ich finde, dass wir alle miteinander die Verpflichtung haben, die positi- (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Ja, jetzt sol- ven Trends, die es in unserem Land gibt, und nicht die len wir es wieder miteinander machen!) negativen Trends zu stützen. diese wichtige und in der jetzigen Situation nötige und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mögliche Maßnahme, nämlich das Vorziehen der nächs- DIE GRÜNEN) ten Steuerreformstufe auf 2004, durchzuführen oder nicht, (Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt einmal zur Deshalb, meine Damen und Herren, appelliere ich Sache!) wirklich an die Mehrheit im Bundesrat, das, was in der jetzigen Situation nötig und möglich ist, auch mitzutra- damit der Konjunktur zusätzlichen Schub zu geben und gen, nämlich das Vorziehen der nächsten Stufe der auch auf dem Arbeitsmarkt für Bewegung zu sorgen? Steuerreform von 2005 auf 2004. Hier stehen auch Sie in der Verantwortung. Sie werden sich nicht davor drücken können, sondern Sie werden (Volker Kauder [CDU/CSU]: Machen Sie ein- immer wieder an Ihre Verantwortung erinnert werden. mal einen Finanzierungsvorschlag!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – Ja, mache ich gleich. – Warum? Ich denke, dass wir DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Gerhardt Anlass haben, davon auszugehen, dass über eine solche [FDP]: Sie wollten es doch drei Jahre nicht! – Maßnahme, wie alle Forschungsinstitute sagen, die Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt ein Finan- Wachstumsraten um zusätzlich 0,3 bis 0,5 Prozentpunkte zierungsvorschlag! Auf geht’s!) erhöht werden können. Das brauchen wir nämlich, wenn es wirklich auf dem Arbeitsmarkt vorangehen soll. – Ich komme jetzt dazu: Wir haben gesagt, wir finanzie- ren dies durch einenMix aus Privatisierungserlösen Kern unseres Vorschlages ist es, jetzt denEingang- und Neuverschuldung, welche wir, da wir sie auf ein steuersatz, der 1998 übrigens bei 26 Prozent lag, aufJahr begrenzen, für verantwortbar halten. 15 Prozent zu senken. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ja, genau! Im- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mer das Gleiche! Ein Schuldenkönig sind DIE GRÜNEN) Sie!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 4997

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) – Ich komme ja gleich dazu. – Neben Privatisierungs- man dadurch hereinbekommt, ja nicht einbehalten und(C) erlösen und Neuverschuldung ist das Ganze außerdem in nicht für konsumtive Ausgaben verwendet wird, sondern die strukturpolitischen Maßnahmen eingebettet, die mit dass es investiert wird indie Wiederherstellung der In- der Agenda 2010 verbunden sind. Das darf man ja nicht frastruktur in den betreffenden Gebieten. Das war also übersehen. ein ganz anderer Sachverhalt, als wenn man es für kon- sumtive Ausgaben verwendet hätte. Jetzt sagen Sie, man dürfe nicht die Neuverschuldung für ein Jahr erhöhen, und wollen das nicht mitmachen, Ich erwähne diese Auseinandersetzung überhaupt nur, obwohl wir Ihnen anbieten, die Zins- und Tilgungslasten um deutlich zu machen, dass die gesamte Argumentation für die Neuverschuldung dieses einen Jahres über zu-der Opposition nach dem Muster „Wir wollen das Vorzie- sätzlichen Subventionsabbau zu begrenzen. Auch dashen auch, aber der von euch konkret vorgeschlagene Weg liegt Ihnen vor, meine Damen und Herren. geht auf keinen Fall“ auf sehr, sehr tönernen Füßen steht. (Zuruf von der CDU/CSU: Uns liegt gar nichts (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ vor!) DIE GRÜNEN) Sie kritisieren das und sagen, das dürfe man auf gar Weil diese Frage für die Mobilisierung zusätzlichen keinen Fall machen. Das lässt sich hören. Jetzt will ich Wachstums von ungeheurer Bedeutung ist, bitte ich da- Ihnen aber einmal einen Beitrag aus einer Debatte vorle- rüber in diesem Zusammenhang noch einmal gründlich sen, die im letzten Jahr etwa zur gleichen Zeit wie jetzt, nachzudenken, es mit den Landesregierungen, die im Ende August, stattfand. Es ging um die Frage, ob es zu- Bundesrat das Sagen haben, zu bereden und vielleicht lässig sei, wegen der Flutkatastrophe die Steuerreform gemeinsam dafür zu sorgen, dass das gelingt, was für die zu verschieben, oder ob es zulässig sei, die notwendigen Konjunktur, für den Arbeitsmarkt und für die Wirtschaft Ausgaben über zusätzliche Neuverschuldung zu finan- in unserem Land von großer Bedeutung ist. Denn in der zieren. Einschätzung, dass das hilfreich und von großer Bedeu- tung ist, unterscheiden wir uns ja nicht; wir unterschei- Ich sage es noch einmal: Es ist ökonomisch möglich, den uns in der Frage der Finanzierung. Es sollte Ihnen darüber zu streiten, ob das eine oder das andere besser möglich sein, wenigstens tendenziell zu dem zurück- ist, aber man sollte wenigstens zugeben, dass das, was zukehren, was Sie vor einem Jahr für richtig gehalten ha- wir jetzt vorschlagen, vor dem Hintergrund eigener Aus- ben, meine Damen und Herren. sagen nun nicht wirklich der Gottseibeiuns schlechthin sein kann. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich lese einmal vor, was Herr Stoiber am 29. August (B) 2002 in der Debatte hier im Deutschen Bundestag sagte: Der zweite Punkt, um den wir uns kümmern müssen (D) „Mit unserem Konzept“, also dem der Finanzierung der und den wir angeschoben haben, hängt mit der Agenda 10 Milliarden über Nettoneuverschuldung – – 2010 zusammen. Wir müssen den Menschen im Land vor allen Dingen einmal sagen: Die notwendigen Reform- (Widerspruch bei der CDU/CSU) anstrengungen haben mit der Tatsache zu tun, dass wir, – Was ist denn die Verwendung der Bundesbankgewinne anders als in früheren Zeiten, nicht mehr oder nie mehr anderes als Nettoneuverschuldung? Machen Sie sichwerden darauf hoffen können, die sozialen Probleme doch nichts vor, meine Damen und Herren. Jeder, der et- und die Defizite, die sich in den sozialen Sicherungssys- was von Ökonomie und Haushalt weiß, muss das doch temen ergeben – ich habe die Gründe dafür genannt –, bestätigen. über Wachstum allein in den Griff kriegen zu können. Das wird nicht mehr funktionieren. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: (Volker Kauder [CDU/CSU]: Aber ohne Das ist ja Unsinn!) Wachstum funktioniert gar nichts!) Herr Stoiber sagte vor einem Jahr: Die Veränderungen in den sozialen Sicherungssyste- men, die wir dem deutschen Parlament vorgeschlagen Mit unserem Konzept werden die Schulden langsa- haben, sind notwendig. Sie sind unausweichlich wegen mer abgebaut. Zwar fallen vorübergehend höhere der Veränderung der Alterspyramide in unserer Gesell- Zinsen an, aber das ist auch gerechtfertigt und sinn- schaft. Wenn wir es schaffen wollen – und wir müssen voll. Höhere Zinsen sind ein kleineres Übel als hö- das schaffen –, den Jungen durch Bildung Chancen zu here Steuern. Höhere Steuern lähmen die Konjunk- geben, den Frauen über bessere Kinderbetreuung Mög- tur, hemmen das Wachstum und vernichten lichkeiten zu geben, am Erwerbsleben teilzunehmen, Arbeitsplätze. Das ist der entscheidende Punkt. und über massive Investitionen in Forschung und Ent- Wohl wahr, meine Damen und Herren! wicklung technologisch Spitze zu bleiben, dann müssen die Anstrengungen, die sich in der Agenda 2010 finden, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wirklichkeit werden. DIE GRÜNEN) Da hat jeder Verantwortung, wir im Bundestag genauso Ich weiß, dass wir in der gleichen Debatte gesagt ha- wie Sie im Bundesrat. ben: Es ist angemessen, die Stufe nach hinten zu ver- schieben. Ich will hier nicht verschweigen, dass wir das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mit dem Argument begleitet haben, dass das Geld, das DIE GRÜNEN) 4998 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Mir kommt es darauf an, den Zusammenhang deutlich wenn man mehr als 1 Prozent des Bruttoinlandsproduk- (C) zu machen zwischen der Chance, in Zukunftsbereiche zu tes von Brüssel überwiesen bekommt. Nebenbei gesagt: investieren und dafür Ressourcen zu mobilisieren, und der 25 Prozent davon zahlt Deutschland. Auf diese Weise Notwendigkeit, die sozialen Sicherungssysteme den radi- können Wachstumsraten natürlich leichter erzielt wer- kal veränderten Bedingungen anzupassen. Das ist die Auf- den, als wenn erstens die deutsche Einheit geschultert gabe. Im Haushalt und seinen Begleitgesetzen wird diese werden soll und muss und zweitens 25 Prozent des euro- schwierige Balance versucht, und zwar – ich will dempäischen Haushalts bestritten werden müssen. Auch die- Thema gar nicht ausweichen – unter den Gegebenheiten ser Punkt gehört in eine solche Debatte. und Notwendigkeiten, die mit Maastricht, mit dem Stabi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ litäts- und Wachstumspakt zusammenhängen. DIE GRÜNEN) Aber – wir haben das auch in der gestrigen Debatte Ich glaube, meine Damen und Herren, dass wir durch zwischen Ihnen und Hans Eichel gehört – der Pakt heißt den Zusammenhang von wachstumsfördernder Politik nicht Stabilitätspakt, sondern vielmehr Stabilitäts- und – siehe Steuerreform – einerseits und dem Versuch, die Wachstumspakt. Hinsichtlich der konjunkturellen Ent- Strukturen in unserer Gesellschaft zu verändern – Um- wicklung gibt es weltweit positive Anzeichen, sowohl in setzung der Agenda 2010 –, andererseits auf einem gu- Amerika – ob sich das dort auf den Arbeitsmarkt aus- ten Weg sind. wirkt, wird man sehen – als auch in Asien. Wir wissen, dass Europa in dieser Dreiergruppe ökonomisch hin- Außerdem will ich hier ganz klar sagen: Wir haben tenan ist. Wenn wir als Europäer unseren Beitrag zurbeim Thema Gesundheitsreform miteinander etwas zu- Entwicklung der Weltwirtschaft leisten wollen, dannwege gebracht. Dafür bin ich allen Beteiligten – in den können wir nicht nur stabilitätsfixiert agieren – wobei Koalitionsfraktionen und der Ministerin ebenso wie die Stabilität nicht aus den Augen verloren werdenHerrn Seehofer und denen, die mit ihm zusammengear- darf –, sondern dann müssen wir in dieser Situation einer beitet haben – dankbar. Das war richtig, vernünftig und Stagnation im dritten Jahr alle zusammen – ich habe hin- wichtig. sichtlich der Wachstumsschwäche auch und gerade an- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) derer Länder Zahlen genannt – etwas für das Wachstum tun. Man kann darüber streiten, ob in bestimmten ver- machteten Bereichen genügend Markt hergestellt wor- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den ist. Ich denke an die Kassenärztlichen Vereinigun- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – gen oder an die Apotheken. Im Übrigen sage ich in Volker Kauder [CDU/CSU]: Was bei Ihnen Parenthese an die Freien Demokraten gerichtet: Sogar (B) wächst, sind die Schulden! Nur das wächst!) Ihr Altmeister, Herr Lambsdorff, hat geschrieben, dass(D) Wir erbitten von der EU-Kommission in den Diskus- man aufpassen müsse, über den Markt nicht ausgerech- sionen lediglich, die Möglichkeiten für uns zu schaffen, net dann zu schweigen – Stichwort: Mehrfachbesitz und Wachstum anzustreben, ohne dass wir die Perspektive Fremdbesitz bei Apotheken –, wenn es an das Leder der der Konsolidierung aufgeben wollen. Es ist richtig, was eigenen Klientel geht. Darüber müssen Sie einmal nach- Hans Eichel gesagt hat. Wir haben uns in den guten Zei- denken, ehe Sie wieder lautstark über Marktwirtschaft ten auf Wachstum fixiert – Wachstum wird’s schon rich- mit uns reden. ten – und Konsolidierung nicht entschieden genug be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ trieben. Das geschah aber am wenigsten unter Herrn DIE GRÜNEN) Eichel, sondern eher unter anderen, die vor ihm Finanz- minister waren; da meine ich nicht nur seinen unmittel- Ich möchte über das hinaus, was ich im Hinblick da- baren Vorgänger, sondern spreche auch von Ihrer Regie- rauf deutlich zu machen versucht habe, was wir im na- rungszeit. tionalen Maßstab leisten können und leisten müssen, was wir ökonomisch mit Bezug auf den einzuhaltenden (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Stabilitäts- und Wachstumspakt an vernünftiger Interpre- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tation, an wachstumsgerechter Interpretation in Europa brauchen, noch ein paar Bemerkungen zur internatio- Es gibt Situationen, in denen die Grenze von nalen Situation machen. 3 Prozent zwar nicht überschritten werden sollte, aber doch nicht um den Preis des Abwürgens der Konjunktur, Ich habe mit Freude zur Kenntnis genommen, dass jeder volkswirtschaftlichen Vernunft zum Trotz. Das ist Herr Schäuble gesagt hat, die Union könne einem Ein- das Einzige, worauf wir hinweisen. In diesem Punkt sind satz der deutschen Soldaten in Kunduz zustimmen. wir im Übrigen einig mit anderen Ländern. Sie haben Frankreich und Italien genannt, wo wahrlich keine – wie (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Mo- Sie sagen würden, Herr Glos – strammen Sozialisten, die ment! – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie nicht mit Geld umgehen könnten, regieren. Da sind wir haben nicht genau hingehört!) uns vielleicht einig. – Ich kann es nur so sagen,wie ich es zur Kenntnis ge- nommen habe. Sie können es hier ja richtig stellen, wenn Die Wachstumsraten in anderen Ländern, die gerne es anders ist. als Beispiele angeführt werden, zum Beispiel 0,7 Pro- zent Wachstum in Spanien, sind ja ganz schön. Aber ein (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Lesen solches Wachstum ist auch nicht besonders schwierig, müsste man können!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 4999

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Ich habe das mit Freude zur Kenntnis genommen.zur Kenntnis zu nehmen, dass der Wiederaufbau des Irak (C) Warum? Es ist ja sehr interessant, einmal die Debatten, mit der Perspektive auf Stabilität und Demokratie gelin- die im letzten halben Jahr über die Bekämpfung des in- gen muss; denn das liegt in unserem, im europäischen ternationalen Terrorismus geführt worden sind, zur Interesse genauso wie im Interesse der Alliierten und des Kenntnis zu nehmen. Wir sind uns alle einig, dass Aus- irakischen Volkes. Es liegt auch im Interesse der gesam- gangspunkt der Diskussion um die Bekämpfung des in- ten Region, dass der Aufbau gelingt. ternationalen Terrorismus der 11. September war, und (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen dies völlig zu Recht. Sie kennen die Gegebenheiten. Wir [Wiesloch] [SPD]) haben damals entschieden, dass wir uns an der militäri- schen Niederwerfung derer beteiligen, die dem interna- Dabei spielt die Frage, wie man zu dem Krieg stand, tionalen Terrorismus über Ausbildung und über Schutz keine Rolle. Genugtuung wäre das Verkehrteste. eine Heimstatt geben, der Taliban also. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Zuruf des Abg. Hartmut Schauerte [CDU/ DIE GRÜNEN) CSU]) Dies vorausgeschickt, will ich darauf hinweisen, dass – Ja, richtig. – Der Kampf gegen den internationalenes auch um die Frage geht: Welchen Beitrag kann Terrorismus gerade in Afghanistan ist nicht gewonnen. Deutschland leisten? Wir engagieren uns im Bereich der Er ist alles andere als das. humanitären Hilfe. Wir können uns auch beim Wieder- aufbau im Rahmen bestimmter Projekte engagieren, die (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Richtig!) unsere Institutionen und Nichtregierungsorganisationen – Ja, jetzt kommt es. – Es ist sehr interessant, dass wäh- durchführen können und die wir natürlich finanzieren rend der gesamten Diskussion um den Irakkrieg übermüssen. Es ist keine Frage, dass wir das tun können, diesen Aspekt des Kampfes gegen den internationalen wenn die Sicherheit gewährleistet ist. Terrorismus kein Wort geredet worden ist, obwohl er Noch einmal: Bezogen auf die Sicherheit im Irak wird weiterhin notwendig war. Ich bin froh darüber, dass der es Zeit, auf internationaler Ebene darüber zu reden – das Zusammenhang jetzt wieder hergestellt wird. Man kann wird sicherlich geschehen –, was die Sicherheitslage im den Kampf gegen den internationalen Terrorismus in je- Irak wirklich verbessern könnte. Ich habe Zweifel – ich dem Land, vor allem aber in Afghanistan, verlieren. Man sage das bewusst zurückhaltend –, ob ein Aufwuchs des wird ihn dann verlieren, wenn man den Zusammenhang gegenwärtig vorhandenen Kontingentes an Soldaten, zwischen der militärischen Niederwerfung der Taliban gleichgültig von wem gestellt, ein objektives Mehr an einerseits und dem, was man Nation Building nennt, an- Sicherheit bedeuten würde. dererseits nicht sieht oder nicht hinreichend zur Kenntnis (B) (D) nimmt und nicht für eine entsprechende Ausstattung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sorgt. Das ist der Punkt. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich glaube, dass die Stimmen – sie gibt es auch in den DIE GRÜNEN) Vereinigten Staaten von Amerika – Recht haben, die sa- gen: Was wir wirklich brauchen, ist die Ausbildung der Das ist die Begründung dafür, dass wir gesagt haben: irakischen Polizei und des irakischen Militärs. Wenn es Wir können nicht uferlos Ressourcen einsetzen, weil wir trotzdem zusätzliche Kräfte geben muss, dann sollten es sie uferlos gar nicht haben. Aber wir sind bereit, der Kräfte sein, die eine engere Beziehung zum islamischen Aufforderung der Vereinten Nationen, unserer Partner zu Glauben haben, als wir sie jemals haben können. Eine folgen und zu sehen, was wir über Kabul hinaus machen solche Debatte weist in die richtige Richtung. können, immer aber unter Beachtung des Zusammen- hangs, dass sich unser Begriff der Herstellung von Si- Unsere Meinung ist, dass wir eine andere Rolle der cherheit, unser Begriff des Kampfes gegen den interna- Vereinten Nationen brauchen. Diese ist schon aus legiti- tionalen Terrorismus niemals in der militärischen Seite matorischen Gründen notwendig, weil sich sonst nur we- erschöpfen darf und erschöpft, sondern dass man dabei nig in Richtung mehr Sicherheit bewegt. Wir müssen, so immer auch die zivile Seite im Auge behalten muss. schnell es geht – es ist klar, dass man das nicht über Nacht schaffen kann –, dazu kommen, eine wirkliche (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ irakische Autorität in diesem Land zu installieren. Das DIE GRÜNEN) sind die beiden Punkte, um die es geht. Wenn wir darüber in diesem Parlament Einigkeit erzie- Ich sage mit Bezug auf das, was wir leisten können len können, dann bin ich sehr froh. und leisten wollen: Auch die deutschen Ressourcen sind Dann geht es um die Frage, über die hier vielfach dis- begrenzt. Ich sage aber mit Stolz: Mit unserem Engage- kutiert worden ist – mir liegt wirklich daran, dass wir ment auf dem Balkan, in Afghanistan und im Rahmen diese Diskussion so sachlich wie irgend möglich weiter- von Enduring Freedom leisten wir Erhebliches. Im Übri- führen können –: Wie entwickelt sich das im Irak? Was gen – das wird auch zur Kenntnis genommen – finanzie- für einen Beitrag können wir leisten? – Dazu zunächst ren wir unser Engagement selber. Unsere Partner wissen nur so viel: Ich habe nicht die geringste Lust, im Nach- das inzwischen. Vor diesem Hintergrund ist es verant- hinein in eine Diskussion darüber einzusteigen, wer in wortbar, zu sagen: Wir sind bereit, bei der Ausbildung der Bewertung des Krieges Recht hatte und wer nichtder irakischen Polizei, die in Deutschland stattfinden Recht hatte, weil das niemanden weiterbringt. Wir haben kann und die wir zusammen mit anderen oder alleine 5000 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) durchführen können, zu helfen. Wir sind auch bereit, die nicht ausreichen. Aber wir haben mehr erreicht, als man (C) für die Ausbildung unseres Militärs vorhandenen Hoch- für möglich hielt. schulen zu öffnen, soweit es die Ressourcen hergeben. Weil die Verfassung insgesamt ein ausgewogener Aber ich glaube nicht, dass wir in einer Situation sind, in Kompromiss ist, warne ich davor – uns muss man diese der wir uns im Irak militärisch beteiligen sollten. Warnung nicht sagen –, die Forderung zu erheben, das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Paket aufzuschnüren. Es wird kein besseres geben. Ich DIE GRÜNEN) bin fest davon überzeugt. Lassen Sie mich abschließend ein paar Bemerkungen Ich verstehe, dass einzelne Staaten auf Ewigkeit einen zur bevorstehenden Regierungskonferenz in Rom ma- Kommissar stellen wollen. Wenn Bulgarien und Rumä- chen – es wird Nachfolgekonferenzen in Brüssel und da- nien dazukommen, wären es 27 Kommissare. Es wäre nach vermutlich wieder in Rom geben –, die über dienicht leicht, sie – womöglich ohne Richtlinienkompe- Verfassung Europas entscheidet. Wir sind uns mit un- tenz – zu einer gemeinsamen Haltung zu bringen. Ich seren französischen Freunden und mit anderen darüber glaube, das wird jeder verstehen. Stellen Sie sich einmal einig, dass das, was der Konvent vorgelegt hat, ein wirk- ein Unternehmen mit 27 Vorstandsmitgliedern vor! lich sehr guter Verfassungsentwurf ist. Es ist der ge- glückte Versuch, das Verhältnis der Institutionen zuei- (Michael Glos [CDU/CSU]: Wie die SPD- nander unter den obwaltenden Umständen vernünftig zu Fraktion wäre das dann!) regeln. In Europa ist das natürlich schwieriger, als wenn Im Übrigen darf man nicht übersehen: Wenn man so es sich um einen Zentralstaat handeln würde. Auf der an- viele Kommissare hat, suchen sie sich alle ein Betä- deren Seite wird auch das Verhältnis zwischen der euro- tigungsfeld – und sie finden eines. päischen Ebene und den Nationalstaaten vernünftig ge- regelt. Wir sind letztlich alle davon überzeugt, dass es (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜND- gut und richtig ist, die Grundrechte-Charta in einer sol- NIS 90/DIE GRÜNEN) chen Verfassung zu verankern. Noch einmal: Es ist ein Ich will das aber nicht in extenso ausführen. wirklich geglückter Entwurf. Wenn wir das Paket aufschnüren, dann werden wir Ich will etwas zu der Frage des Gottesbezuges sagen. kein besseres zusammenbekommen, wenn überhaupt. In Ich unterstelle, dass es Ihnen damit ernst ist. Der Bun- dieser Befürchtung sind wir uns völlig einig. Deswegen desaußenminister und ich hatten damit überhaupt kein wird Deutschland auf der Regierungskonferenz dafür Problem. sorgen, das Paket zusammenzuhalten. (Unruhe bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, ich hoffe, es ist deutlich (B) (D) Nach meiner Auffassung ist der Gottesbezug nicht erfor- geworden, dass wir eine Menge internationaler Pro- derlich. bleme haben, die uns zusätzliche wirtschaftliche Schwierigkeiten machen. Wir sind mitten in einem unge- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist klar!) heuren Reformprozess im Innern. Wir tun das alles, um – Hören Sie doch einmal zu, bevor Sie den Mund so weit Ressourcen freizubekommen, um in die Zukunft zu in- aufreißen! vestieren. Diejenigen, die nach uns kommen, sollen so gute Chancen haben, wie wir sie hatten. Das ist unsere Ich bin der Auffassung, dass diejenigen, denen das Verantwortung. – ihrer Verankerung im Glauben wegen – wichtig ist, ein größeres Recht haben als die, die das nicht für so wichtig Ich gebe zu: Das ist unter den obwaltenden Bedingun- halten. So habe ich mich in der niedersächsischen Ver- gen nicht einfach. Was den Haushalt angeht, ist es in der fassungsdebatte verhalten. So verhalte ich mich auch in gegenwärtigen Situation schwierig genug. Aber ich bin dieser Debatte. fest davon überzeugt, dass wir es mit der Strategie der Unterstützung von Wachstum einerseits und des wirklich Sowohl der Außenminister als auch ich sind für den beherzten Angehens von Strukturreformen andererseits Gottesbezug eingetreten. Aber Sie kennen die Tradition schaffen werden, dass diejenigen, die nach uns kommen, anderer Länder. Was jetzt im Entwurf steht, ist das Opti- eine gute Zukunft erlangen. Das begreife ich als meine mum des Möglichen. Herr Glos, Sie wollen doch nicht und unsere Verantwortung. ernsthaft fordern, dass wir wegen dieser Tatsache die Verfassung scheitern lassen. Ich danke Ihnen für Ihr Zuhören. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem DIE GRÜNEN) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die rot-grüne Bundesregierung, der man ansonsten al- les Mögliche unterstellt, ist mit dieser Fragestellung ver- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: antwortungsbewusst umgegangen und hat getan, was sie Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem konnte. Was dabei herausgekommen ist, mag denen, die Kollegen Friedrich Merz. ganz besonders viel Wert darauf legen – ich hoffe, wirk- lich innerlich und nicht nur zum Kampf untereinander –, Friedrich Merz (CDU/CSU): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Bundeskanzler, Sie haben zu Beginn Ihres DIE GRÜNEN) Debattenbeitrags auf eine Auseinandersetzung Bezug Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5001

Friedrich Merz (A) genommen, die der Bundesfinanzminister und ich ges- chen, dass es ein Fehler war. Was Sie aber in der Wirt- (C) tern zu Beginn der Aussprache miteinander hatten. Ich schafts-, Sozial- und Rentenpolitik machen, lässt nicht möchte Ihnen zunächst Dank dafür sagen, dass Sie das darauf schließen, dass Sie aus diesem Fehler gelernt ha- richtig gestellt haben. Es onnte k gestern durchaus der ben. Deswegen kann uns das, was Sie gesagt haben, Herr Eindruck entstehen, dass der Bundesfinanzminister ei- Bundeskanzler, bei allem Respekt nicht beruhigen. nen großen Teil der Probleme, die er jetzt hat, nicht Ihrer Regierungspolitik, sondern der Tatsache zuordnet, dass (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wir die deutsche Teilung zu überwinden hatten. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Quatsch! – Katrin Göring- Zur Erwiderung der Bundeskanzler. Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur durch Sie konnte der Eindruck entstehen!) Gerhard Schröder, Bundeskanzler: – Sie haben doch alle zugehört, Herr Merz, mit Ihrer Bemerkung zu den ökonomi- schen Fragen, die im Zusammenhang mit der deutschen (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nur Sie Einheit stehen, haben Sie Recht und Unrecht zugleich. nicht!) Sie haben Recht – tun Sie es jetzt doch bei mir wenigstens 30 Sekunden (Zurufe von der SPD: Aufstehen!) lang. Ich habe mich beim Bundeskanzler dafür bedankt, dass er diese Situation richtig dargestellt hat, sodass kein – lassen Sie ihn ruhig sitzen –, wenn Sie sagen, dass die falscher Eindruck bleibt. Einheit einen Boom hätte auslösen können. Herr Bundeskanzler, in einem Punkt möchte ich Ih- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber fremdfinanziert!) nen jedoch widersprechen. Sie haben darauf hingewie- sen, dass auch andere Wachstumsschwächen haben; das Das hat sie im Übrigen auch ohne jeden Zweifel zu Be- ist richtig. Nur: Die Überwindung der deutschen Teilung ginn der 90er-Jahre. Er bezog sich insbesondere auf die kostet Geld, aber sie kostet nicht zwangsläufig Wachs- Konsumgüter und die Bauwirtschaft. tum. Das Problem der Wachstumsschwäche aber bleibt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) trotzdem bestehen, weil wir einen großen Teil der Kos- ten der Einheit über die Arbeitskosten finanziert haben. Im Gegenteil: Richtig gemacht – lassen Sie uns jetztDas hat exakt zu den Wachstumsproblemen beigetragen, nicht über Versäumnisse und Fehleinschätzungen spre- (B) die wir jetzt miteinander zu beklagen haben. Ich glaube, (D) chen; auch wir hatten Fehleinschätzungen –, man muss beides sehen; denn beides gehört zusammen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ könnte sie sogar einen Wachstumsschub auslösen. Wenn DIE GRÜNEN) die These, die Sie verschiedentlich vorgetragen haben, Ich komme nun auf den Demographiefaktor zu spre- dass nämlich diejenigen, die schlechter entwickelt sind, chen. Ich habe die Sozialministerin gebeten, das, was ein höheres Wachstumspotenzial haben, richtig wäre,Herr Rürup vorgelegt hat, bis zum Ende dieses Monats, dann müsste das in diesen Tagen und Wochen ganz be- spätestens bis Mitte des nächsten Monats auszuwerten sonders für die neuen Bundesländer gelten. Aber das Ge- und der Bundesregierung einen Vorschlag zu machen. genteil ist der Fall. Zu diesem Zeitpunkt – wenn ich den Pressemeldungen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) glauben darf – wird das vorliegen, was Herr Herzog – übrigens mit einer Kommission, Herr Glos – für die Erlauben Sie mir eine zweite Bemerkung. Sie haben CDU erarbeitet. Dann werden wir beide Vorschläge ne- heute erstmalig eingeräumt, dass es ein Fehler Ihrer Re- beneinander legen und überlegen, was wir im Interesse gierung war, den Demographiefaktor abzuschaffen. der Rentensicherheit für die älteren Menschen und mit Blick auf die Beitragsentwicklung für die jüngeren Men- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schen in unserem Land tun können. Ich habe Respekt davor, dass Sie das so deutlich gesagt Angesichts der Tatsache, dass Sie eigene Arbeiten auf haben, Herr Bundeskanzler. Sie hätten Ihrem Finanz-den Tisch legen wollen, werden Sie sich, wie ich denke, minister und Ihrer Regierung viele Probleme ersparen der Verantwortung eines gemeinsamen Abgleichs und, können, wenn Sie diesen Fehler nicht gemacht hätten. wo möglich, einer gemeinsamen Umsetzung nicht ent- Dann hätte Ihr Bundesfinanzminister gestern auch nicht ziehen können. Wir werdensehen, welche Vorschläge so laut Klage darüber führen müssen, dass mehr als ein die eine Seite und welche die andere Seite zur Lösung Drittel seines Haushalts in die Rentenversicherungder Probleme vorlegen wird. Ich bin mir ganz sicher, fließt. Gleichwohl habe ich Respekt davor, dass Sie das dass wir über unsere Vorschläge, die wir in den Deut- so gesagt haben. schen Bundestag einbringen werden, sehr rational und sehr problemorientiert streiten können. Das jedenfalls Es würde mich allerdings wesentlich mehr beruhigen, wünsche ich mir. wenn Sie nicht weitere Fehler machten; aber diese Bun- desregierung setzt die Reihe von Versuch und Irrtum fort. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Es ist schön, dass Sie heute im Nachhinein davon spre- DIE GRÜNEN) 5002 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: können, wenn Sie damals nicht einen Fehler nach dem(C) Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Guido Westerwelle anderen gemacht hätten. von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Es ist schon eine feine Arbeitsteilung in diesem Haus: Dr. Guido Westerwelle (FDP): Der Finanzminister hat hier gestern den Sündenbock ge- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- geben. Herr Eichel, das Schicksal von Herrn Scharping ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundes-wird auch Sie ereilen; das ist klar. Dann, wenn Sie nicht kanzler, Sie haben zu Beginn Ihrer Ausführungen einen mehr gebraucht werden, werden Sie abgeräumt. Bis da- Fehler eingestanden. Das fällt Ihnen ein, nachdem eshin sollen Sie noch haften. Doch für diese katastrophale fünf Jahre her ist, dass Sie diesen Fehler, wie Sie selbst Lage im deutschen Haushalt – das muss der deutschen sagen, gemacht haben. Ein Eingeständnis, in der Renten- Öffentlichkeit gesagt werden – ist nicht ein Herr Eichel politik einen Fehler gemacht zu haben, ist dann honorig, alleine verantwortlich. Dafür haftet diese Regierung ins- wenn man fahrlässig etwas falsch gemacht hat, wenngesamt, dafür haften Sie, Herr Bundeskanzler, persönlich. man es nicht besser wusste. Sie dagegen haben die da- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) malige Regierung für die Rentenpolitik in besonderer Weise beschimpft, obwohl Sie wussten, dass es in Wahr- Das ist eine Haushaltsdebatte. Deswegen will ich je- heit falsch war, was Sie gemacht haben. Sie wollten nur manden von außen, der sich heute Morgen dazu geäußert an die Macht kommen. hat, zitieren. Der Finanzwissenschaftler Rolf Peffekoven bescheinigt Ihnen, dass es einen solchen Haushalt in der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nicht Und so regieren Sie auch heute noch: Sie wissen, dass gegeben habe. Eichels Etat sei der unsolideste Haushalt Ihre Politik falsch ist, wollen sich aber an der Macht hal- der Nachkriegszeit. Genau das ist das Problem. ten. Sie meinen, es reiche, einen Fehler einzugestehen. Das sei die Volte und Deutschland verzeiht. Nein, in (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wahrheit war die Wirtschaftspolitik von Rot-Grün fünf Unterhalten wir uns nun über die weiteren Fragen, die Jahre lang ein einziger Fehler. Sie haben nicht einen Sie angesprochen haben. Es ist schon ein starkes Stück, Fehler gemacht, Ihre Regierung ist ein Fehler. dass Sie hier von einer besonders wachsenden Volks- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wirtschaft gesprochen haben. Sie sagten, die Volkswirt- schaft sei gewachsen, sie habe an Kraft zugenommen – Sie machen damit weiter: Deutschland muss sparen, (B) und das, nachdem unsere Wirtschaft über zwei Quartale mit Ausnahme – das ist erstaunlich – beimEtat für (D) hinweg geschrumpft ist. Noch nie hat ein Kanzler das Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Deutschland ist in Wirtschaftswachstum in Deutschland so bagatellisiert. Finanznot, aber für die Propaganda wird Geld ausgege- Wir leben seit zwei Quartalen in einer Rezession; Sta- ben. Die Stellen, an denen Geld ausgegeben wird, sind gnation ist noch die höfliche Umschreibung dafür. Nicht bemerkenswert. Für die Agenda 2010 gibt es eine Wer- das Ausland oder die Weltkonjunktur sind die Ursache, bekampagne. Jeder Bürger kann zurzeit die Plakate se- Ihre Politik ist die entscheidende Ursache für diese Ent- hen. Die Bundesregierung wirbt für ihre Agenda 2010 wicklung. mit Steuergeldern in Höhe von 2,3 Millionen Euro – und das, obwohl bisher nichts in trockenen Tüchern ist. Seit (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dem 14. März haben Sie viel geredet, aber nichts ge- macht. Eine Sommerpause ist vorbeigegangen. Sie ha- Wie viele Fehler wollen Sie eingestehen? ben nichts vorgelegt. (Zuruf von der SPD: Vorsicht!) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist Nur den bei der Rente? Sie sagen, Sie wollten die Steu- doch Unsinn! Das wissen Sie ganz genau! Sie ersätze senken. Einverstanden, wir werden konstruktiv haben sich doch ausgeklinkt! Sie sind ausge- daran mitarbeiten; das ist keine Frage. Das haben wir Ih- stiegen! Die FDP hat Sommerpause gemacht! nen immer wieder gesagt, auch nach Ihrer Regierungser- Wo waren Sie denn?) klärung im Bundestag zur Agenda 2010. Sie allerdings Wenn man drei Wochen vor der bayerischen Land- erwecken den Eindruck, als habe dieSteuersenkungs- tagswahl Propagandamittel in Höhe von 2,3 Millionen politik erst mit Ihnen begonnen. So wie Sie bei derEuro einsetzt, obwohl diese Politik noch gar nicht be- Rente das wider besseres Wissen aufgehoben haben, was schlossen ist, dann ist das eine eklatante Steuergeldver- richtig war, haben Sie damals mit den Petersberger Be- untreuung. Wir sagen es so,wie es ist: Sie wollen die schlüssen die Steuersenkungspolitik blockiert, obwohl Wahlkampfkassen Ihrer Partei in Bayern schonen. Das Sie wussten, wie sehr Deutschland im Interesse neuer ist alles. Arbeitsplätze auf Steuersenkungen angewiesen war. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Es ist erstaunlich, wofür Ihre Regierung Geld ausgibt: Sie machen keinen Einkommensteuertarif mit einem2,3 Millionen Euro für eine Propaganda für ein Produkt, Eingangssteuersatz von 15 Prozent. Wir hätten seit sechs das es noch gar nicht gibt. Der Antwort auf eine Anfrage Jahren Steuersätze zwischen 15 und 39 Prozent haben der FDP-Fraktion entnehmen wir, dass es ein neues Spiel Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5003

Dr. Guido Westerwelle (A) der Bundesregierung für dieökologische Vorschuler- Beleidigung! – Joachim Poß [SPD]: So ein (C) ziehung von Kindern gibt: „Kater Krümels Bauern- Jüngelchen muss das gerade sagen!) hof“. Dafür wurden 1,7 Millionen Euro zur Verfügung Die Bundesanstalt für Arbeit hat in diesem Sommer gestellt. Dafür hat die Regierung Geld! mitgeteilt, dass es fast 5 MillionenArbeitslose geben (Zuruf von der SPD: Für Kinder haben wir im- kann. Das ist die dramatische Lage, in der wir uns befin- mer Geld!) den. Wollen Sie den 5 Millionen Arbeitslosen sagen, dass alles ein Fehler war und es Ihnen Leid tut? Das sind Die Gebühren für Krippenplätze stiegen allein im letzten Schicksale und nicht nur Statistiken. Monat um über 6 Prozent. Sie sollten das Geld dort in- vestieren und nicht für Ihren Propagandaunfug ausge- (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ben, den Sie auf Kosten der Steuerzahler begehen. Das interessiert Sie aber nicht, Herr Westerwelle!) Kater Krümels Bauernhof – Kater Krümels Regie- rungserklärung. Man wundert sich, was wir in diesem Das sind Frauen, die in den Arbeitsmarkt einsteigen Sommer alles erleben mussten. möchten, nachdem vielleicht die Kinder aus dem Gröbs- ten heraus sind. Das sind junge Leute, die eine Chance (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: und eine Perspektive suchen. Das sind Menschen, die Das Aussteigen der FDP!) Mitte oder Ende 50 sind und aufgrund Ihrer Arbeits- – Frau Sager, auf Sie komme ich noch zu sprechen. Fan- marktpolitik zum alten Eisen gestempelt worden sind, gen wir doch gleich einmal mit Ihnen an. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie wa- doch unglaublich!) ren doch eben bei einem anderen Thema!) sodass sie keinen Platz mehr finden. Wollen Sie denen Liebe Frau Sager, bei allem Respekt: Rot-Grün führt sagen: Sorry, die fünf Jahre waren ein Fehler? wieder eine Debatte über die Ausbildungsplatzabgabe. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wer hat Frau Sager sagte in diesem Frühjahr dazu: Wenn die denn den Vorruhestand eingeführt? Unfass- Wirtschaft nicht spure, dann müsse man der Wirtschaft bar!) „die Folterwerkzeuge“ zeigen. Sie sagen das in einem Jahr, in dem es so viele Pleiten im Mittelstand gibt wie So leicht stehlen Sie sich nicht aus Ihrer Verantwortung. noch nie zuvor. Es gab noch niemals eine solche Pleite- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten welle wie unter dieser Bundesregierung. der CDU/CSU) (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (B) Ihre Steuerpolitik war ein Fehler, Ihre Sozialpolitik(D) Und noch nie so viele Unternehmen, die sich war ein Fehler, Ihre Haushaltspolitik war ein Fehler und gründen!) Ihre Subventionspolitik war ein Fehler – und das in Und Sie sagen, dass Sie der Wirtschaft die Folterwerk- Zeiten, in denen Deutschland sparen muss und in denen zeuge zeigen wollen. Diese Wirtschaft braucht keineder Entwurf des Subventionsberichts an die Öffentlich- Folter von Rot-Grün, sondern Freiheit. Das ist ein ent- keit kommt, aus dem wir erfahren, dass bei Ihnen die scheidender Unterschied. Subventionen sogar noch steigen, anstatt dass sie zu- rückgeführt werden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Hans Eichel, Bundesminister: Das ist doch Nur dann gibt es wieder Arbeitsplätze. das Letzte!) Es ist faszinierend, was Ihnen alles einfällt. Künftig Das ist ein Stück aus dem Tollhaus. Wir wollen Steuer- werden noch mehr Beamte eingestellt, die zu prüfen ha- senkungen! Diese sind das beste Beschäftigungspro- ben, wie viele Einstellungen in mittelständischen Betrie- gramm. ben vorgenommen werden müssen. (Joachim Poß [SPD]: Kein einziger Vorschlag! (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Alles abgelehnt!) Es gibt eine Gerechtigkeitslücke bei der Aus- bildung! Das wissen Sie!) Wir wollen sie aber nicht mit neuen Schulden, sondern durch Subventionskürzungen finanzieren. Herr Bundes- Frau Sager, so redet nur jemand, der in seinem Leben kanzler, dazu fehlt Ihnen der Mut. Genau dieser Mut ist noch niemals einen Euro selbst erwirtschaften musste. aber das Wichtigste in Ihrem Amt. Das muss Ihnen einmal gesagt werden. So sieht Ihre Po- litik aus. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie ha- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ben das Steuervergünstigungsabbaugesetz im Vom BAföG über die Grundsicherung in den Vorruhe- Bundesrat doch abgelehnt! Sie waren das stand – das ist Ihr grünes Lebensideal. doch!) (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Krista Wir haben erlebt, dass Sie den demographischen Fak- Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie ha- tor bei der Rente aufgehoben haben. Sie haben die Pe- ben richtig was beizutragen heute! – Wilhelm tersberger Beschlüsse blockiert und in Ihrer Amtszeit die Schmidt [Salzgitter] [(SPD]: Das ist eine gesamten Reformen auf dem Arbeitsmarkt und im 5004 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Dr. Guido Westerwelle (A) Arbeitsrecht beseitigt. Gott sei Dank kommt jetzt Herr (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ja, bei (C) Clement mit Vorschlägen, die nach und nach in die rich- den Apotheken!) tige Richtung gehen. Er hat dabei größte Widerstände Sorgen Sie dafür, dass die Versicherungen in einen ech- bei Ihnen zu überwinden. Das ist das Problem. Ihre Re- ten Wettbewerb miteinander treten! Dann sind wir sofort gierung ist eine einzige Momentaufnahme; sie möchte mit Ihnen dabei, auch in den Gesundheitsberufen mehr auf Stimmungswogen gleiten. Wettbewerb durchzusetzen. (Zuruf von der SPD: Wir heißen ja nicht (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: So ist das!) Westerwelle!) Wir verstehen unter Wettbewerb: frei und fair! Leider sind Sie keine Regierung, die eine verlässliche Perspektive definiert. In diesen Zeiten müsste ein deut- Sie haben gerade die Apotheken angesprochen. Wir scher Bundeskanzler bzw. eine Bundesregierung sagen: als Freie Demokraten möchten, dass auch künftig zum Wir wollen eine Staatsquote von einem Drittel erreichen, Beispiel jemand auf dem Lande einen Notdienst für ein weswegen wir die Steuersätze auf 15, 25, 35 Prozent re- Medikament seines Kindes in Anspruch nehmen kann, duzieren. Wir werden das durch Privatisierung, Subven- ohne dass er dafür zwei Stunden im Auto unterwegs sein tionsabbau und eben nicht durch neue Schulden finan- muss. zieren. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist der CDU/CSU) ein blanker Unsinn ohnegleichen! – Weiterer Auch diese Menschen brauchen jemanden in diesem Zuruf von der SPD: Sie werden gar nichts, Hause, der darauf aufmerksam macht. weil Sie nicht dran sind!) Nein, Herr Bundeskanzler, wir brauchen keine Bür- Wir werden das Ganze mit einer Reform auf dem Ar-gerversicherung. Wir brauchen mehr Wettbewerb und beitsmarkt verbinden und dazu neue bildungspolitische mehr Freiheit. Wir brauchen keine Pflichtversicherung, Akzente setzen. – All das kommt von Ihnen nicht. Sie sondern eine Pflicht zur Versicherung. Das haben wir Ih- haben keine Perspektive; Sie sind ein Stimmungskanz- nen in diesem Hause als Gegenkonzept vorgelegt. ler. Das ist das Problem für Deutschland. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Blanke (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ideologie!) Ich will die einzelnen Punkte der Gesundheitspolitik Das werden wir auch durchsetzen. ansprechen, die Sie hier selbst eingeführt haben. Herr Ich will zu einem weiteren Bereich kommen, den Sie (B) Bundeskanzler, bezogen auf die Gesundheitspolitik ha- (D) ben Sie zunächst einmal die Freien Demokraten ange- angesprochen haben. Das ist nach der Innenpolitik, der sprochen. Das war so gut wie alles, was Ihnen zur Ge- Haushaltspolitik und der Sozialpolitik die Außenpolitik. sundheitspolitik eingefallen ist. Sie sagen, dass es keine Es soll ausdrücklich anerkannt werden, Herr Bundes- Steuererhöhungen geben soll. In Wahrheit ist in diesem kanzler, dass wir Gemeinsamkeiten haben. Kompromiss vorgesehen, dass die Tabaksteuer erhöht (Jörg Tauss [SPD]: Bis die Lobbyisten wird, damit das Gesundheitssystem bezahlbar bleibt. Die kommen!) Vorstellung, dass man erst möglichst viel rauchen muss, damit man, wenn man wegen des Rauchens krank wird, Das muss auch in einer solchen Debatte, zu der der eine Behandlung bezahlt bekommen kann, ist in meinen Schlagabtausch gehört, erwähnt sein. Augen geradezu absurd. (Franz Müntefering [SPD]: Das ist kein Schlagabtausch, das ist Pöbelei, was Sie hier (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE machen! Schlagabtausch ist etwas anderes! – GRÜNEN]: Wer hat denn den Wettbewerb Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/ verhindert?) CSU]: Für Pöbeleien sind Sie Experte!) Rauchen für die Gesundheit ist auch ordnungspolitisch Aber ich sage Ihnen: Ich halte es schon für einen Feh- nur noch gaga. ler, wenn Sie bei der europäischen Verfassung den Ein- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten druck erwecken, als dürfe nichts mehr verändert werden, der CDU/CSU) obwohl doch Ihr eigener Außenminister über 50 eigene Änderungsvorstellungen zum Verfassungsentwurf des Darüber werden wir hier aber noch beschließen. Konvents vorgelegt hat. Wir teilen die sachliche Bewer- Daneben haben Sie noch einmal meine Haltung und tung, die Sie haben. Aber der Appell meiner Fraktion rich- die Haltung meiner Fraktion in der Gesundheitspolitik tet sich an Sie und das ganze Haus: Wenn wir wollen, dass angesprochen. sich die Bürgerinnen und Bürger hinter dieser europäi- schen Verfassung versammeln – das ist eine historische (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Frage –, dann sollten wir auch gemeinsam dafür sorgen, Klientelpolitik!) dass sich die Bürgerinnen und Bürger in einer Volks- abstimmung für diese Verfassung entscheiden können. Da Sie auf den Wettbewerb eingegangen sind, will ich es Ihnen gerne sagen: Sorgen Sie doch für einen echten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wettbewerb aller Versicherungen! der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5005

Dr. Guido Westerwelle (A) Auch da sollten Sie Ihren Worten Taten folgen lassen. Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) So, wie Sie das bisher in der Europapolitik gemachtNEN): haben, geht es nicht. Sie haben einiges gesagt, was an- Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Herr Prä- erkannt werden soll, insbesondere was das deutschesident! Herr Westerwelle, das Geschrei, das Sie hier ver- Engagement im Irak angeht. Auch wir sind der Überzeu- anstaltet haben, gung: Das Militärische darf Außenpolitik nicht ersetzen. Das sollten Sie mehr Ihrem Außenminister und weniger (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- diesem Haus sagen. Aber in der Europapolitik können SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Sie sich nicht zum Staatsmann aufschwingen. mag vielleicht in den eigenen Reihen ankommen. (Jörg Tauss [SPD]: Was heißt hier (Michael Glos [CDU/CSU]: Sie keifen!) „aufschwingen“?) Aber ich will auf etwas eingehen, was Sie besser ge- Das ist nach diesem Sommer vorbei. Wie Sie einen Som- tan hätten. Sie haben ein Spiel kritisiert, das die Bundes- mer lang einen wirklich drittrangigen Staatssekretär aus regierung produziert und das zur vorschulischen Erzie- Italien zum großen Themavon Regierungspolitik ge- hung gehört. Es geht um Ernährungserziehung. macht haben, indem Sie Deutschland durch regierungs- amtliche Mitteilungen Ihres Sprechers darüber rätseln Gestern sagte jemand in der Kantine – ein Erwachsener ließen, ob man denn jetzt noch an die Adria fahren darf übrigens – er wolle noch etwas von dem Blumenkohl, oder nicht, ist nur noch Operettenaußenpolitik gewesen. und er hat dabei auf den Fenchel gezeigt. Das ist die Si- tuation, mit der wir es zu tun haben. Ich finde wirklich, ein Bundeskanzler – das war bei früheren Bundeskanzlern der Fall – hat bei Irritationen (Heiterkeit – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: zwischen befreundeten Ländern die Verpflichtung, eine Das ist die Zielgruppe Ihres Sprechers! – solche Irritation aufzuarbeiten, zu begrenzen und diese Michael Glos [CDU/CSU]: Nein, war das ein nicht auch noch für innenpolitische Stimmungswogen Gag!) hochzuspielen. In diesem Zusammenhang, Herr Westerwelle, hätte es (Beifall bei der FDP) Ihnen vielleicht besser getan, wenn Sie sich mit der Herr Bundeskanzler, Urlaubsabsagen als Instrument der Frage, wer für was zuständig ist, beschäftigt hätten. Außenpolitik taugen nicht. Das ist eine Mischung aus (Michael Glos [CDU/CSU]: Herr Ober, ein Wilhelm II. und Ludwig II. Das passt nicht in unsere Brecheisen, der Witz klemmt!) Zeit, Herr Bundeskanzler. Auch das soll gesagt werden. (B) Sie sind eben nicht nur in der Innenpolitik und der Wirt- Für die Kindergartenbeiträge ist nicht die Bundesregie- (D) schaftspolitik am Ende angekommen, sondern Sie sind rung zuständig, sondern die Kommunen, wie Sie wissen. in Wahrheit auch in der Außenpolitik konzeptionslos.Insofern würde Ihnen lebenslanges Lernen gut tun, statt Hinter Ihnen liegt nicht eine Phase der Einigung Euro- hier am Morgen herumzubrüllen. pas. Hinter Ihnen liegt eine Phase, in der Europa zerstrit- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tener ist als je zuvor. Dafür tragen viele Verantwortung, und bei der SPD) Sie auch. Wir debattieren seit gestern über den Bundeshaushalt (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und ich habe sehr genau zugehört, insbesondere bei den der CDU/CSU) Redebeiträgen der Opposition. Diese Regierung ist nach fünf Jahren wirtschafts-, in- (Michael Glos [CDU/CSU]: Was?) nen- und außenpolitisch gescheitert. Sie war ein einziger Fehler, Herr Bundeskanzler. Das ist das Eingeständnis, Man könnte fast denken, alles ist wie immer. Die Regie- das kommen muss. rung legt etwas vor und die Opposition fordert erst ein- mal – fast jedenfalls, Herr Merz – den Rücktritt des Fi- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Beschimp- nanzministers oder veranstaltet ein bisschen Klamauk, fen Sie das deutsche Volk nicht!) wie das Herr Glos heute Morgen gemacht hat. Drohen Sie Deutschland nicht damit, Rot-Grün nach (Michael Glos [CDU/CSU]: Ihnen fällt auch 2006 fortzusetzen. Kündigen Sie lieber an, dass Sie sich nichts Neues ein!) nach und nach zurückziehen. Deutschland sehnt sich nicht nach vier weiteren Jahren Rot-Grün. Deutschland Dabei reden wir in wirklich schwierigen Zeiten über bräuchte Neuwahlen. Das wäre das beste Beschäfti-einen Haushalt und gleichzeitig über die Reformagenda gungsprogramm. 2010, die einen tief greifenden Reformprozess in Gang setzt und in Gang setzen muss. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (Michael Glos [CDU/CSU]: Sie Blumenkohl- [SPD]: Immer nur die alten Parolen!) analystin! – Gegenruf des Abg. Walter Schöler [SPD]: Wir sollten mal die Lohnliste von Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herrn Kirch offen legen!) Das Wort hat jetzt die Kollegin Katrin Göring-Das Land redet darüber, wie Deutschland zukunftsfähig Eckardt von Bündnis 90/Die Grünen. werden kann. Nur Sie debattieren nicht darüber, sondern 5006 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Katrin Göring-Eckardt (A) veranstalten eine Art Karneval. Das Land redet darüber, Das Spiel machen wir seit Januar. Sie beklagen, dass die (C) was wir machen müssen, damit wir vorankommen, und geplanten Steuersenkungen im nächsten Jahr überwie- Sie veranstalten nichts anderes als Affentheater. Herrgend durch Schulden finanziert werden. Auch ich bin Glos, Deutschland bewegt sich schon. darüber nicht glücklich. Das weiß hier jeder. Aber wa- rum ist das denn so? Weil Sie Anfang des Jahres verhin- (Michael Glos [CDU/CSU]: Wohin denn?) dert haben, dass überhaupt ein Subventionsabbau begon- Der Stillstand ist nur auf der rechten Seite dieses Hauses. nen werden konnte. Das war eine Größenordnung von Das ist das Problem, das wir haben. 14 Milliarden Euro. Das ist mehr, als wir zur Gegen- finanzierung für das Vorziehen der Steuerreform brau- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) chen. Das haben Sie verhindert, nicht wir. Das ist die Liebe Frau Merkel, „solide“ Finanzpolitik, die Sie machen. Ich sage: Nein, das ist sie nicht. (Michael Glos [CDU/CSU]: Rot-grüner Rin- gelpiez ist alles, was sich bewegt!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) wir hören sehr genau hin, wenn Sie Vorschläge machen. Wenn man in den letzten Tagen hinhört, was die Politik Schauen Sie sich einmal den famosen Herrn Koch an. der Union ist, dann fällt auf, dass es eigentlich nur ein Ich habe ihn heute Morgen wieder im Radio gehört. Thema gibt, das eine Rolle spielt, und das ist der Kandi- (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- datenstadl. Man liest nichts darüber, wer der beste Bun- NEN]: Viele Köche verderben den Brei!) despräsident oder die beste Bundespräsidentin ist, son- dern darüber, wer in das Machtkalkül von wem passt. Er möchte den Bundeshaushalt im Bundesrat stoppen. Ich finde, das ist dem Amt und der Lage, in der wir uns Da kann ich nur sagen: Herzlichen Glückwunsch, Herr befinden, nicht angemessen. Koch. Sie hätten in den letzten Jahren Ihren eigenen Landeshaushalt stoppen sollen, der nämlich dazu geführt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat, dass Hessen im Ranking nach unten gerutscht ist. und bei der SPD – Eckart von Klaeden [CDU/ CSU]: Das fällt Ihnen aber spät ein!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Da gibt es keine Alternativkonzepte. Sie sagen nichts zur Rente, sondern warten auf Herzog. Herr Glos sagt Wer in Wiesbaden mit dünnem Wasser kocht, der sollte noch, man müsse das alles ein Stück weit so machen,nicht versuchen, in Berlin Schaumschlägerei zu betrei- wie es von der Regierung vorgeschlagen werde. Letzten ben. Deutschland bewegt sich, Stillstand ist bei der Op- Endes bleibt eine einzige Sache übrig – position. Herr (B) (D) Westerwelle hat das eben noch einmal gemacht –: Es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) geht darum, dass Sie sich vor Ihre Klientel werfen, vor die Handwerksmeister, vor die Ärzte, vor die private Krankenversicherung und vor die Pharmaindustrie. Ich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: kann nur sagen: Mit Rot-Grün bewegt sich Deutschland. Frau Kollegin Göring-Eckardt, erlauben Sie eine Zwi- Der Stillstand ist auf Ihrer Seite. schenfrage des Herrn von Klaeden? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Dieser Haushalt birgt Risiken. Hans Eichel hat darauf Sehr gerne. hingewiesen. Das gehört zur Ehrlichkeit und das gibt es nicht oft in der Politik. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Bei Eichel ist Bitte schön. das auch eher die Ausnahme!)

Wenn Sie während Ihrer Regierungszeit darauf hinge- Eckart von Klaeden (CDU/CSU): wiesen hätten, dann wären wir heute auch schon weiter. Frau Kollegin Göring-Eckardt, da Sie seit einiger Zeit Das gehört zur Ehrlichkeit. immer wieder Hessen erwähnen, frage ich Sie: Ist Ihnen (Michael Glos [CDU/CSU]: So ein Quatsch!) bekannt, dass das von Rot-Grün regierte Schleswig-Hol- stein überhaupt nicht mehr geratet wird? Das größte Haushaltsrisiko haben wir dann, wenn Sie von der Opposition das Jahr so beenden, wie Sie es an- (Gerhard Schröder, Bundeskanzler: Noch nie gefangen haben. geratet worden ist!) (Michael Glos [CDU/CSU]: Die Grünen sind das größte Haushaltsrisiko!) Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Sie sagen: Subventionsabbau ja, aber bloß keine Sub- Herr von Klaeden, ich habe die Entwicklung in den ventionen abbauen. Das ist Ihre Politik. vergangenen Jahren dargestellt. Ich habe vor allem dar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stellen wollen, wie auf der einen Seite über solide sowie bei Abgeordneten der SPD) Finanzpolitik gesprochen und auf der anderen Seite das Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5007

Katrin Göring-Eckardt (A) Gegenteil gemacht wird. Wenn man zum Beispiel über lierten Nationalstaat leben. Das betrifft auch den welt-(C) die Einhaltung der Kriterien von Maastricht redet, dann weiten Wettbewerb um die besten Ideen, die besten Pro- muss man auch Herrn Koch in den Blick nehmen, der dukte und die besten Köpfe, in dem wir stehen. nämlich erheblich dazu beiträgt, dass wir die Kriterien nicht einhalten werden. Dafür sind nicht nur die Bundes- Von Sofortprogrammen, wie Sie es wieder im Zusam- regierung oder Hans Eichel verantwortlich. menhang mit den Gemeindefinanzen vorgeschlagen ha- ben, und einseitigen Wachstumshoffnungen müssen Sie (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Aber sehr sich verabschieden. Darüber haben wir von der rechten wesentlich, Frau Göring-Eckardt!) Seite dieses Hauses bereits genug gehört. Auch das muss der Ehrlichkeit halber berücksichtigt In den goldenen 70er- und 80er-Jahren war es wohl werden. relativ leicht, erfolgreich zu sein. Deutschland ging es gut und es gehörte zu den Spitzennationen. Die Sehn- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sucht nach diesen Zeiten springt einen regelrecht an. Das und bei der SPD) gilt nicht nur für die Nationalelf, sondern auch für die Meine Damen und Herren, der Konzeptionslosigkeit Nation. Aber um wieder vorne mitspielen zu können, der Union ist entgegenzuhalten: Wir hätten es gern ein müssen wir etwas tun und uns ändern. Wir dürfen nicht bisschen konkreter. Die Politik, die Sie hier vorstellen, auf unseren Stühlen hocken bleiben, wie Sie es tun. Aus erinnert mich an das, was wir zurzeit in den DDR-Shows meiner Sicht geht das nur, wenn alle mitmachen: die erleben: viel Nostalgie und Klamauk, aber wenig reale Kleinen, aber auch die Großen. Es geht nur, wenn wir Geschichte. nicht vergessen, was Sozialstaat für uns bedeutet: näm- lich nicht das Anspruchsdenken von allen, sondern das Frau Merkel, Ihre Vorschläge zur Atomkraft zum Bei- Eintreten für die Schwachen. spiel sind für die Energiefragen der Zukunft ungefähr so tauglich wie der Drink, den Katarina Witt in der DDR (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aus Rotwein, Eiern und Kaffeesahne gemixt hat und der sowie bei Abgeordneten der SPD) angeblich gegen Schnupfen helfen sollte. Dass die sozialen Sicherungen in Zukunft nicht mehr Lieber Herr Bundeskanzler, angeblich ist dieser Drink allein über die Arbeitskosten finanziert und bewältigt in der DDR getrunken worden. Ich möchte aber nicht, werden können, ist bekannt. Schon jetzt zahlen wir den dass Sie sich diesen Geschmack vorstellen, weil Ihnen ja hohen Preis der Massenarbeitslosigkeit. so leicht übel wird. Herr Merz, Sie haben sich sehr darüber gefreut, dass (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ der Bundeskanzler die Abschaffung desdemographi- (B) DIE GRÜNEN – Eckart von Klaeden [CDU/ schen Faktors als einen Fehler bezeichnet hat. Dabei(D) CSU]: Das ist ein roter Saft, mit Rotwein!) müssen Sie aber eines berücksichtigen: Der von Ihnen eingeführte Demographiefaktor hätte bei weitem nicht Aber zurück zu Ihnen, Frau Merkel. Beim geplanten ausgereicht, um das Rentensystem zu konsolidieren. Subventionsabbau durch die Bundesregierung hören wir Dafür brauchte man die private Vorsorge und einen Ka- von Ihnen wieder einmal, was alles nicht möglich ist:pitalstock in der Altersvorsorge. Sicherlich sind noch Die Pendlerpauschale muss bleiben und die Eigenheim- weitere Veränderungen notwendig. Sie können sich hier besitzer brauchen weiterhin die Staatsknete. So funktio- jedenfalls keinen „weißen Fuß“ machen; denn der De- niert es aber nicht. Auf der einen Seite die Steuersenkun- mographiefaktor war zwar ein richtiges, aber nicht aus- gen zu begrüßen und eine Neuverschuldung abzulehnen, reichendes Instrument. aber auf der anderen Seite jede vernünftige Gegenfinan- zierung zu blockieren ist die Quadratur des Kreises. Das (Volker Kauder [CDU/CSU]: Dann hätte man ist sozusagen Voodoo-Ökonomie, die wir nicht mehr ak- ihn erst recht nicht zurücknehmen dürfen!) zeptieren können. Sowohl Herr Blüm als auch Sie haben das schon damals (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Was heißt gewusst. Das ist Ihr Fehler gewesen. „nicht mehr“?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die konnten Sie vielleicht in Ihrer Regierungszeit noch und bei der SPD) betreiben. Jetzt aber sind Sie in der Mitverantwortung Mit der Agenda 2010 haben wir mit echten Struktur- durch den Bundesrat. Diese Verantwortung müssen Sie veränderungen begonnen. Wir brauchen weiter gehende annehmen. Wir und auch die Öffentlichkeit werden Sie Veränderungen. Für uns Grüne ist klar, dass eineBür- dazu zwingen. gerversicherung notwendig ist, in die alle einzahlen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die in stärkerem Maße von den Arbeitskosten abge- und bei der SPD) koppelt wird. So sehen soziale Systeme der Zukunft aus. Das ist auch kein grüner Traum mehr. Herr Seehofer Ich bin überzeugt, dass die Menschen von uns vor al- wird sich ja aus Vernunftgründen durchsetzen. lem eines erwarten, nämlich Ehrlichkeit. Sie wollen, dass wir deutlich sagen, welche Veränderungen notwen- Liebe Freundinnen und Freunde von der Sozialdemo- dig sind und was auf sie zukommt. Das betrifft die de- kratie, um den Kompromiss bei der Gesundheitsreform mographische Entwicklung wie auch die Tatsache, dass haben wir gemeinsam gerungen. Wir haben bei den Ver- sich die Welt verändert und wir nicht mehr in einem iso- handlungen mit den Schwarzen sicherlich viel schlucken 5008 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Katrin Göring-Eckardt (A) müssen. Aber jetzt können wir gemeinsam zeigen, was viel über Schule und Studium redet, der darf die betrieb- (C) wir unter Gerechtigkeit verstehen. Eine Bürgerversiche- liche Ausbildung nicht vergessen. rung – das ist meine ehrliche Überzeugung – ist eine echte Chance, die Lasten auf mehr Schultern und auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf diejenigen der Starken zu verteilen. Bei einer Bür- und bei der SPD) gerversicherung geht es nicht darum, mehr Geld in das Wir haben den Unternehmen wirklich sehr viel Zeit Gesundheitssystem fließen zu lassen, sondern um mehr gelassen, um neue Lehrstellen zu schaffen. Das Ergebnis Gerechtigkeit. ist – Herr Westerwelle, das müsste auch Ihrer Wettbe- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werbspartei zu denken geben –, dass gerade einmal sowie bei Abgeordneten der SPD) 30 Prozent der deutschen Unternehmen ausbilden. Die meisten Betriebe bilden also nicht aus. Damit muss Vorerst gilt trotzdem: Wir werden dem beschlossenen Schluss sein. Wenn es nicht anders funktioniert, dann Kompromiss zustimmen, damit überhaupt etwas ge-muss es eine entsprechende gesetzliche Regelung geben. schieht. Aber Sie müssen sich schon gefallen lassenDann brauchen wir eine Ausbildungsumlage, damit Ju- – das gilt auch für Sie, Herr Westerwelle –, dass mangendliche in Ausbildung kommen und damit es Gerech- deutlich macht, wer für was zuständig war. Natürlich ha- tigkeit bei den Unternehmen gibt. Darum geht es. ben Sie den Wettbewerb verhindert und sich schützend vor Ihre Klientel, die Ärzte, die Apotheker und die Phar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN maindustrie, gestellt. Die FDP als Partei der freien sowie bei Abgeordneten der SPD) Marktwirtschaft hat sich angesichts dessen, was Sie bei Sie sprechen aber noch ein anderes „Wettbe- den Verhandlungen über den gesundheitspolitischenwerbsthema“ ständig an, nämlich dieHandwerksord- Kompromiss veranstaltet haben, im Grunde genommen nung, die eigentlich eine mittelalterliche Zunftordnung bereits selbst überlebt. ist. Sie haben sich schützend vor den Meisterbrief ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN worfen. Man kann hier sicherlich unterschiedlicher Mei- und bei der SPD) nung sein. Ich halte das Ganze für sehr bürokratisch und für überkommen. Sie dürfen nicht vergessen, dass das Geld, das Sie so freizügig verteilen und mit dem Sie umspringen wollten, Aber man kann sich auch einmal mit der Realität be- als ob es keine Bedeutung hätte, nicht Ihnen gehört. Es schäftigen. Beispielsweise gibt es in Berlin einen handelt sich noch nicht einmal um Steuergelder, sondern Meister seines Faches, dem sich – ich habe das gehört um Gelder der Beitragszahler und der Versicherten. und gelesen – auch einige Mitglieder dieses Hauses an- vertrauen – nicht Herr Glos, der sich seine Haare immer (B) (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Wo ist denn von seiner Frau färben lässt, aber andere. Dieser Mann(D) bei den Versicherungen Wettbewerb? Warum hat nach Auskunft der Handwerkskammer Berlin keinen schützen Sie denn die GKV?) Meisterbrief. Es handelt sich um Udo Walz. Dass er kei- nen Meisterbrief hat, ist, wie ich finde, kein Drama. Ich – Herr Gerhardt, vielleicht gibt es Ihnen zu denken, dass hoffe, niemand hier ist anderer Meinung. Ich weiß nicht, es zwei Menschen gibt, die kritisieren, dass die Fraktio- ob sich Guido Westerwelle bei Herrn Walz die Haare nen der CDU/CSU und der FDP mehr Wettbewerb bei föhnen lässt. den Verhandlungen über den gesundheitspolitischen Kompromiss verhindert haben. Der eine ist HerrDieses Beispiel zeigt: Die Handwerksordnung hat Sommer, der DGB-Chef, und der andere ist Herrsich überlebt. Wir brauchen sie in dieser Form nicht Rogowski, der Ihnen ja sehr nahe steht. Ich kann nur sa- mehr. Man kann einen Schritt nach vorn tun, entbürokra- gen: Deutschland bewegt sich. Stillstand – das ist ein- tisieren, endlich einmal Freiheit und Wettbewerb schaf- deutig – herrscht auf Ihrer Seite. fen und die damit verbundenen Möglichkeiten aufzei- gen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Westerwelle, Sie haben sich außerdem bei einem sowie bei Abgeordneten der SPD) anderen Problem aufgeblasen, das wirklich schwerwie- Ich möchte auf ein Problem zu sprechen kommen, mit gend ist und mit dessen Lösung wir uns beschäftigen dem eine große Zukunftsfrage verbunden ist: 1,6 Millio- müssen. Das ist das ThemaAusbildungsplätze. Wenn nen Menschen, und zwar vor allen Dingen Frauen, sind es um dieses Thema geht, erzeugen Sie regelrecht einen in Deutschland vom Erwerbsleben ausgeschlossen, und Kältestrom in diesem Hohen Haus, worüber ich michzwar nur deswegen, weil die entsprechendenKinder- nur wundern kann. Ende September dieses Jahres wer- betreuungsangebote fehlen. 41 Prozent der Frauen in den vermutlich 50 000 Lehrstellen fehlen. Ich finde, dass Deutschland sind nicht erwerbstätig. Das ist in anderen wir das definitiv nicht hinnehmen können. europäischen Ländern anders: In Schweden und Groß- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN britannien arbeiten 70 Prozent. Die Schaffung der Kin- und bei der SPD) derbetreuungseinrichtungen ist insofern eine Frage der gesellschaftlichen Gerechtigkeit und eine knallharte Herr Westerwelle, die 50 000 jungen Menschen, die kei- ökonomische Frage. Das Fehlen von Kinderbetreuungs- nen Ausbildungsplatz finden, brauchen wir aber alsangeboten verhindert Wachstum und das Entstehen von Fachkräfte. Sie müssen eine Chance bekommen. WerArbeitsplätzen in Deutschland. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5009

Katrin Göring-Eckardt (A) Die Beantwortung der Frage, ob die Rahmenbedin- ein bisschen stolz darauf. Ich habe Respekt vor denjeni- (C) gungen stimmen und ob deswegen mehr Kinder geboren gen, die sich haben überzeugen lassen, alte Pfade tat- werden, ist für die Zukunft weit wichtiger als zum Bei- sächlich zu verlassen und so nicht weiterzumachen. Das spiel die Lösung der Rentenversicherungsprobleme,„Weiter so“ ist das eigentliche Problem im Zusammen- Stichwort: Renteneinstieg mit 67. hang mit sozialer Gerechtigkeit. Auch wenn es bei einzelnen Punkten schwer fällt, brauchen wir die Bereit- Auch hierbei gilt, liebe Frau Merkel: Ihre Antwort ist schaft – auch Ihre –, tatsächlich Veränderungen vorzu- wieder von gestern. Im Wahlkampf sind Sie noch für die nehmen, damit wir zukunftsfähig werden. Darauf kommt Zahlung von Familiengeld eingetreten und jetzt sollen es an. Wir können den Weg in die Sackgasse nicht weiter die Eltern warten, bis sie Rentnerinnen oder Rentner beschreiten. Es geht jetzt wirklich um ein neues sind. Dann wird bei ihnen „eine Schippe draufgelegt“. Deutschland. Fragen Sie die Frauen in Deutschland! Sie wollen heute Beruf und Familie verbinden. Die Eltern wollen, dass es Wir haben uns für beides entschieden: für Selbstbe- ihnen heute besser geht, sie wollen heute Möglichkeiten stimmung und für Solidarität, für Freiheit und für Ver- haben, sie wollen nicht warten, bis sie im Ruhestandantwortung. Sie haben sich für Klientelismus und sind, um dann dafür belohnt zu werden, dass sie Mütter Machtspiele entschieden. oder Väter gewesen sind. Ich kann nur sagen: Deutsch- land bewegt sich. Stillstand herrscht auf Ihrer Seite; Sie An die Adresse von Herrn Stoiber, der die Probleme richten den Blick zurück, und zwar sehr weit. in Deutschland auf ganz andere Weise beschreibt, will ich hier einmal sagen: Unser Problem ist nicht, dass wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein Volk von Drückebergern sind, die Sozialhilfe bezie- sowie bei Abgeordneten der SPD) hen – diese Strukturen haben wir selbst geschaffen –; un- Die Menschen wissen auch, dass wir auf Dauer nicht ser Problem ist, dass wir die Ausgrenzung hingenommen länger immer neueSchulden machen können. Neue haben und dass daraus Sozialhilfekarrieren geworden Schulden bedeuten Einengung der Bewegungsspiel-sind; räume für unsere Kinder und Kindeskinder. Wir müssen (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne heute die Möglichkeit haben, in die Zukunft zu investie- Kastner) ren. Dabei geht es um Bildung, um Familien, um For- schung und um technische Innovationen. Dabei geht es unser Problem ist, dass wir 1 Million Kinder in Deutsch- übrigens auch um Energiefragen. Dem, was Sie, Frauland haben, die von Armut bedroht sind, die von Sozial- Merkel, zum Thema Atomkraft gesagt haben, möchte hilfe leben. Wenn wir über Gerechtigkeit reden, dann ich Folgendes entgegnen: Es gibt auf der Welt kein ein- heißt das: Wir wollen Gerechtigkeit auch für diejenigen, (B) ziges privates Unternehmen, das mit eigenem Gelddie draußen sind. Die Spaltung der Gesellschaft in die,(D) Atomkraftwerke baut. Das müssen Sie sich einfach ein- die drin sind, und die, die draußen sind, zu überwinden, mal bewusst machen, wenn Sie mit solchen Vorschlägen das ist die Zukunftsaufgabe, die wir haben. Eine solche kommen. Wenn Sie den Sicherheitsaspekt nicht berück- Spaltung wollen wir nicht. Eine solche Spaltung können sichtigen wollen, dann berücksichtigen Sie bitte wenigs- wir nicht hinnehmen. Das ist dieneue Gerechtigkeits- tens das bisschen, was mit Ökonomie zu tun hat. Ihrefrage, vor der wir stehen. Art, mit Reformen umzugehen, funktioniert nach dem Motto „Zurück auf Los“. Dasfunktioniert nicht, wenn Wenn Herr Stoiber damit ein Problem hat, dann soll man den Aufbruch in Deutschland schaffen will. er sich bitte einmal die Armutsberichte anschauen und sich klar machen, was das für diese Kinder bedeutet, was (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN es für ihre Gesundheit bedeutet, was es für ihre Chancen sowie bei Abgeordneten der SPD) in der Schule, bei der Ausbildung und erst recht beim Wenn man den Aufbruch in Deutschland schaffenStudium bedeutet. Soziale Gerechtigkeit fängt bei den will, dann muss man tatsächlich nach vorn blicken und Schwächsten an und dafür steht diese Regierung ein. die Sozialreformen anpacken. Frau Merkel, Sie haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hier vor ein paar Monaten gesagt: Es muss endlich etwas und bei der SPD) vorgelegt werden. – Jetzt liegt etwas vor. Was fehlt, ist Ihre Antwort. Die Reformvorschläge liegen vor, der Letztlich ist das natürlich auch ein Potenzial, das wir Haushalt liegt vor, das Haushaltsbegleitgesetz liegt vor verschenken. Aber mit solchem ökonomischen Potenzial und Vorschläge zum Subventionsabbau liegen vor. Was hat es Bayern ja nicht so. Das betrifft im Übrigen auch fehlt, ist irgendeine Antwort aus Ihren Reihen. die Zuwanderung. Ob Deutschland ein ausländerfreund- liches Land ist oder nicht, ob Deutschland den Wettbe- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- werb um die besten Köpfe gewinnen kann oder nicht, ist SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – eine harte Standortfrage; Ihre Freunde in der Wirtschaft Michael Glos [CDU/CSU]: Das stimmt doch und Ihre eigenen Experten erzählen Ihnen das jeden Tag alles nicht! Das wissen Sie doch! So ein wirres aufs Neue. Mit der Weigerung, endlich ein modernes Zu- Zeug! Wer hat Ihnen denn diesen Schmarren wanderungsgesetz in Kraft zu setzen, schaden Sie direkt, aufgeschrieben? Entlassen Sie Ihre Referen- ganz direkt der deutschen Wirtschaft: weil die klugen tin!) Köpfe nicht hierher kommen und weil Ausländerfreund- Ich bin froh darüber, dass sich die rot-grüne Koalition lichkeit und Offenheit eines Landes ein Wirtschaftsfak- entschieden hat, ehrlich zu sein. Ich bin übrigens auch tor ist, ein Standortfaktor ist, ein Markenzeichen ist. Ein 5010 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Katrin Göring-Eckardt (A) solches Markenzeichen brauchen wir in Deutschland,schon ganz gut, wir würden gewinnen. Vor allem wollen (C) wenn wir tatsächlich Zukunft gewinnen wollen. wir eine Mannschaft sehen mit Herz, die gut kombiniert, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Michael Glos [CDU/CSU]: Das wäre dann sowie bei Abgeordneten der SPD) ein Unterschied zu Rot-Grün!) Das betrifft auch die unheimlich platte Attitüde von die kreativ und flexibel ist, in der Einzelne ihre Stärken Herrn Stoiber zu der Frage desEU-Beitritts der Tür- ausspielen können kei. Wenn es nach der CSU ginge, besonders in Wahl- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Jetzt fordert kampfzeiten, müssten wahrscheinlich erst alle Türkin- sie auch noch den Rücktritt der Bundesregie- nen und Türken Weißbier trinken und Dirndl oder rung!) Lederhose tragen, bevor man darüber überhaupt reden kann. und in der gleichzeitig Teamgeist zur Geltung kommt. (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: So ein dum- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mes Zeug! So ein dummes Geschwätz! Es ist einer Fraktionsvorsitzenden nicht würdig, so Dann kann Deutschland wieder Spitze werden – im Fuß- ein dummes Zeug daherzureden! Sie möchte ball, aber auch als Land; da sind wir sozusagen alle Mit- ich im Dirndl gar nicht sehen!) glieder des deutschen Teams. Ich finde: Das ist unverschämt. Das spaltet. Ihre Argu- Frau Merkel, wenn Sie nicht so sehr mit der Mann- mentation spaltet unser Land und spaltet auch Europa. deckung in der eigenen Mannschaft beschäftigt wären, könnten Sie vielleicht auch vorn mitspielen. Ich kann Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nur auffordern, das mit vollem Einsatz zu tun, hier im sowie bei Abgeordneten der SPD) Bundestag und im Bundesrat. Wir haben sehr klar gesagt, wohin wir mit unseren (Michael Glos [CDU/CSU]: Was verstehen Sie Reformen wollen. Wir wollen, dass Deutschland ein von Manndeckung?) Land wird, in dem sich etwas bewegt, und zwar hoffent- Edmund Stoiber leidet ja wohl noch immer darunter, lich auch die Opposition, ein Land, in dem Innovationen dass er die Qualifikation verpasst hat. Jetzt hockt er auf und Kreativität etwas wert sind, ein Land, in dem nicht der Ersatzbank und es schwant ihm, dass er bei der Gleichmacherei herrscht, sondern Unterschiede genutzt nächsten Aufstellung gar nicht mehr dabei sein wird. Ich werden, ein Land, das Querdenken fördert und Querein- kann nur sagen: Gut so! Schließlich wollen wir gewin- steiger befördert, ein offenes Land, das kinderfreundlich nen. Es geht um viel für Deutschland, nicht bloß heute (B) ist und in dem wirklich keiner mehr außen vor bleibt, ein (D) Abend in Dortmund. Land, von dem Frauen sagen können: „Das ist mein Land“, ein Land, in dem alle bei den Veränderungen, die Vielen Dank, meine Damen und Herren. nötig sind, mitmachen, so wie sie es können, und ein Land, in dem es keine Schande ist, zu den Schwachen zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gehören, sondern eine Ehre, sich der Schwachen anzu- und bei der SPD) nehmen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion. Auch und gerade das gehört dazu, wenn wir über Bewe- gung reden. (Beifall bei der CDU/CSU)

Nun bringt uns ja der Fußball in diesen Tagen manche Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Erkenntnisse. Wir haben gelernt: Es hilft nicht, zu jam- mern: Es sind viele verletzt, der Platz ist schlecht be- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr spielbar, der Druck war riesengroß usw. Wahrscheinlich Bundeskanzler, Sie haben hier heute generös einen Feh- erwartet auch niemand, dass jedes Spiel haushoch ge- ler zugegeben: die Abschaffung des demographischen wonnen wird. Aber was wir sehen wollen, ist echte An- Faktors. Die eigentlich viel spannendere Frage – die an- strengung und den Willen und die Bereitschaft, etwas zu dere Frage ist ja lange geklärt – lautet: Was lernen Sie leisten, daraus? Wie vorsichtig gehen Sie voran? Ich möchte nämlich nicht erleben, dass Sie in drei oder vier Jahren (Michael Glos [CDU/CSU]: Ein bisschen hier stehen – – Können sollte auch noch sein!) (Heiterkeit und Beifall bei der SPD – Ludwig vielleicht sogar einmal über sich hinauszuwachsen. Das Stiegler [SPD]: Da war Siegmund Freud wie- ist im Fußball wie mit Deutschland. der dabei!) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Auch bei – In vier Jahren stehen Sienicht mehr hier, aber in drei Plenarreden!) Jahren könnte es noch der Fall sein. Heute Abend geht es für die Nationalmannschaft um (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der viel. Wenn ich das richtig verstanden habe, wäre es Regierungsbank) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5011

Dr. Angela Merkel (A) – Jetzt freuen Sie sich einmal nicht zu früh, Herr Bun- (Lachen und Widerspruch bei Abgeordneten (C) deskanzler, es kann auch schneller gehen. Hochmut der SPD) kommt immer vor dem Fall; das sollten Sie beherzigen. – Ihrer! Ich spreche gerade vom sozialdemokratischen (Beifall bei der CDU/CSU) Spitzenkandidaten. Ich möchte nicht erleben, dass Sie in absehbarer Zeit (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) hier stehen und sagen müssen: Ja, dieVerletzung der Der sagt nämlich: Stabilitätskriterien der EU war ein Fehler. Ich möchte es insbesondere deshalb nicht erleben, weil es bei den Die Stimmungslage für die SPD ist derzeit überall Stabilitätskriterien der EU nicht nur um eine nationale in Deutschland beispiellos schlecht. Die Verunsi- Frage, sondern um weit mehr geht. Wenn Sie mit einem cherung der Menschen ist mit Händen zu greifen. gewissen Laisser-faire und einer gewissen Sicherheit, Recht hat er, der Herr Maget. weil Sie sich darin mit Frankreich einig wissen, diese Stabilitätskriterien Jahr für Jahr verletzen, gehen Sie die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) durchaus begründete Gefahr ein – Sie wissen das –, dass Das ist doch auch der Grund, warum man Sie, Herr Bun- in Europa Dämme brechen, die wir alle miteinander nur deskanzler, in Bayern nicht auf den Plätzen sehen will. ganz schwer wieder schließen können. Genau das be- An Ihrer Person macht sich nämlich diese Verunsiche- schäftigt uns hier. rung fest. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Er ist sie!) Die Leute spüren das doch. Irgendjemand hat eben Weil Sie, Herr Bundeskanzler, inzwischen spüren, dass gesagt, der Bundesfinanzminister habe gestern zugege- Sie auf bayerischen Plätzen entbehrlich sind, haben Sie ben, dass es Risiken gebe. Wenn man Risiken kennt,die Sorge, dass Sie überall entbehrlich werden könnten. dann muss man sie doch – das weiß jeder vernünftige Daher haben Sie sicherheitshalber schon einmal erklärt, Mensch – konservativ bewerten. Es gibt eine ganzeSie müssten 2006 wieder kandidieren. Das ist der einfa- Schar von Bundesländern in der Bundesrepublikche Grund. Sie werden entbehrlich und spüren es. Sie Deutschland, die von 1 Prozent Wachstum ausgehen.werden langsam, aber sicher für dieses Land entbehrlich, Frau Scheel hat doch gesagt, dass die Annahme überholt so wie auf den bayerischen Plätzen in diesen Tagen. sei. Damit ist es Ihre verdammte Pflicht und Schuldig- keit, nicht von 2 Prozent, sondern von 1 Prozent auszu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – gehen, Ludwig Stiegler [SPD]: Er wird öfter eingela- (B) den als Sie, Madame! – Weiterer Zuruf von der (D) (Ludwig Stiegler [SPD]: Für Wachstum zu SPD: Reines Wunschdenken!) sorgen!) Diese Bundesregierung ist in diesen Tagen fünf Jahre um die Risiken verantwortbar zu bewerten, Herr Bun- im Amt. Verunsicherung ist ihr Markenzeichen. Sie sind deskanzler. Sie aber lassen zu, dass das Gegenteil ge-damals Ihr Amt angetreten unter dem Motto, Sie wollten schieht. nicht alles anders, aber vieles besser machen. Das er- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) laubt doch nun die Frage: Was ist in diesen fünf Jahren geschehen? Das Wachstum ist von über 2 Prozent in die Es ist so, dass die Menschen – man spürt es inzwi-Stagnation abgerutscht. Wir haben die rote Laterne in schen überall – nur begrenzt belastbar sind. Übrigens gilt Europa. Sie können noch so viel reden: Es gibt Länder in das, wie man hinzufügen muss, auch für Ihre eigenenEuropa, die stehen einfach besser da – Spanien, Groß- Abgeordneten. britannen. (Joachim Poß [SPD]: Machen Sie sich da ein- (Joachim Poß [SPD]: Niederlande!) mal keine Sorgen! – Weiterer Zuruf von der SPD: Ihre Belastung reicht!) Ich sage es noch einmal: Es liegt eben nicht an der deut- schen Einheit; denn aus der deutschen Einheit heraus Dass die Grenze der Belastbarkeit, also die Grenze könnte, wie in anderen mittel- und osteuropäischen Län- dessen, was den Menschen in diesem Lande zugemutet dern, größeres Wachstum kommen, wenn man es richtig werden kann, überschritten ist, werden Sie bei der baye- machte. Sie verantworten heute in Deutschland eine rischen Landtagswahl serviert bekommen; am 21. Sep- Neuverschuldung von 87 Milliarden Euro. tember abends werden Sie es schwarz auf weiß haben. (Hans Eichel, Bundesminister: Das ist ja aben- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- teuerlich! – Joachim Poß [SPD]: Sie waren neten der FDP) doch schon bei de Maizière! Sie waren doch Nun ist es ja nicht so, dass Sie in Wahlkämpfen dazu das Mädchen von Kohl! – Gegenruf des Abg. neigen, nur die Wahrheit zu sagen. Volker Kauder [CDU/CSU]: Seien Sie mal ru- hig, Sie Flegel!) (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Den Vorwurf kann man ihm nicht machen!) – Sie müssen sich wenigstens mit den Fakten auseinan- der setzen. – Als Sie die Regierung übernommen haben, aber es gibt halt Spitzenkandidaten, die das noch tun,betrug das Defizit 2,2 Prozent und die Schulden der öf- wie zum Beispiel der bayerische. fentlichen Haushalte waren halb so hoch wie heute. 5012 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Dr. Angela Merkel (A) Am Ende dieses Jahres werden sich die Schulden ver- scheine nicht so zu sein, erklären Sie immer wieder nach (C) doppelt haben und wird das Defizit mehr als 4 Prozent einem Blick auf Ihre Umfragewerte. Ihr Problem ist Fol- betragen. Das ist die Wahrheit nach fünf Jahren Rot-gendes: Sie haben in Ihrer Politik kein Ziel und keine Grün, meine Damen und Herren. Grundausrichtung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie verantworten darüber hinaus die höchsten Kran- Sie haben kein Konzept und keine Linie. kenkassenbeiträge. Wir zahlen in diesem Jahr 18,8 Mil- liarden Euro aus dem Aufkommen der Ökosteuer als (Jörg Tauss [SPD]: Jetzt hören wir Ihr Zuschuss in die Rentenversicherung. Trotzdem sind die Konzept!) Beiträge nahe 20 Prozent und Frau Schmidt hat noch Hierzu sagt einer aus Ihren Reihen, nämlich Ihr General- nicht einmal gesagt, wie es im nächsten Jahr weiterge- sekretär, in einem zugegebenermaßen etwas verschach- hen soll. Das ist die Wahrheit, Herr Bundeskanzler. Und telten Satz: „Ich will nicht die Theorie entwickeln,“ so trotz demographisch bedingter Entlastung auf dem Ar- , „dass alles, was wir schon einmal gesagt beitsmarkt – das macht Jahr für Jahr mindestens haben, zueinander passt.“ 200 000 Menschen aus – liegt die Zahl der Arbeitslosen in diesem Jahr um 300 000 über der des Jahres 1998. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP – Das ist die Bilanz von fünf Jahren Rot-Grün. Michael Glos [CDU/CSU]: Der Mann ist ein Meine Damen und Herren, Ihre Bilanz kann man auch Genie!) so zusammenfassen: Der Mann hat es auf den Punkt gebracht. Genau das ist (Zuruf von der SPD: Sie wollten doch Vor- Ihr Problem: Die Dinge passen nicht zueinander, die schläge machen!) Leute verstehen Sie nicht, Sie sagen heute etwas anderes als gestern und morgen wieder anderes. Deshalb kom- „Es gibt keine Volkswirtschaft, die so viel Geld immen Sie nicht „aus dem Knick“, wie man so schön sagt. Kampf gegen die Arbeitslosigkeit einsetzt wie wir, und keine ist so erfolglos wie wir.“ Gesagt hat das nicht etwa (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) einer von uns, sondern gesagt hat es der Bundeswirt- schaftsminister am „Tag der offenen Tür“ der Bundesre- Der Bundeshaushalt, über den wir heute hier spre- gierung. Tage der offenen Tür scheinen zu offenen Ein- chen, sichten zu führen. Wo der Mann Recht hat, hat er Recht. (Joachim Poß [SPD]: Jetzt kommen die Vor- Es ist ernüchternd nach fünf Jahren Rot-Grün. schläge! Jetzt kommt Frau Merkel aus dem (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Quark!) Sie wollten zwar nicht alles anders, aber vieles besser ist – das ist bedauerlich – das klassische Beispiel dafür: machen. Das Ergebnis ist jedoch: Besser geworden ist so Die Grundannahme des Etatentwurfs, nämlich die gut wie nichts, dafür aber vieles komplizierter, unbere- Wachstumsprognose, ist überholt. Das ist bereits ges- chenbarer. Oder um es mit den Worten der SPD-Ober- tern gesagt worden. Frau Scheel hat versucht, sich da bürgermeisterin von Halle, Ingrid Häußler, zu sagen:wieder herauszureden, aber es wird Ihnen nicht entgan- „Alles ist besser als das,was die Bundesregierung vor- gen sein, Herr Bundeskanzler, dass sie ihre grundsätzli- schlägt.“ Das ist eine klare Aussage einer Kommunal- che Aussage nicht widerrufen hat; sie hat gestern ledig- politikerin. lich nicht mehr davon gesprochen. Die Grundannahme ist überholt und deshalb brauchen wir uns mit diesem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Haushalt nicht weiter aufzuhalten. Herr Bundeskanzler, es hätte ja heute gar nicht so (Zurufe von der SPD: Aha!) kommen müssen, denn am 14. März – ob uns als Oppo- sition das nun gepasst hat oder nicht – haben Sie einen Aber ich gehe gerne auf etwas ein, worüber Sie hier Anlauf genommen und hatten alle Trümpfe in der Hand. ausführlich gesprochen haben, nämlich die Frage: Ist es Sie hatten die Möglichkeit – und vielleicht wollten Sie richtig, angesichts der kleinen konjunkturellen Impulse, es sogar –, Ihre Politik um 180 Grad in die richtige Rich- die es weltweit vielleicht gibt, die Steuerreform vorzu- tung zu drehen. Da fielen auch die richtigen Worte: Es ziehen? Herr Bundeskanzler, ich erinnere Sie: Am war die Rede vom Kündigungsschutz, ich habe etwas14. März, als Sie die Neuausrichtung Ihrer Politik einge- von Privatisierung des Krankengeldes gehört, es fiel der läutet haben, haben Sie uns vehement gewarnt, ange- Begriff „betriebliche Bündnisse für Arbeit“. sichts der noch fehlenden Strukturreformen – die bis (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das war alles heute noch nicht wirksam sind – für einVorziehen der ein Fehler!) Steuerreform zu werben. Dann haben Sie sich anschei- nend anders entschieden. Aber, Herr Bundeskanzler, Wir waren nicht geschockt, aber doch neugierig. wenn wir damals Ihrer Argumentation, das Vorziehen der Steuerreform dürfe nicht fast ausschließlich durch (Michael Glos [CDU/CSU]: Gerührt!) Neuverschuldung finanziert werden, zugestimmt haben, Herr Bundeskanzler, von all dem, was Sie damals gesagt so dürfen Sie es uns jetzt nicht übel nehmen, dass wir bei haben, ist nicht viel übrig geblieben. Ich glaube, irgend- dieser Auffassung bleiben und sagen: Sie haben bis jetzt etwas läuft schief. Die Diskussionslage im Landenichts Anständiges auf den Tisch gelegt. Das ist für uns Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5013

Dr. Angela Merkel (A) kein Finanzierungskonzept. Sie müssen schon etwas GRÜNEN]: Nicht mit Atomkraftwerken (C) Besseres vorlegen. jedenfalls!) (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Richtig!) Klar, das Wachstumsklima ist weltweit im Augenblick Ich habe heute mit großen Ohren zugehört, weil ich nicht besonders gut. Aber wir in diesem Hause müssen dachte, zwischen den ganzen salbungsvollen Worten ste- doch miteinander darüber sprechen: Machen wir das cke vielleicht noch etwas Neues. Aber es ist nichtsaus Deutschland, was in diesem Land steckt? Ist das, Neues gekommen. Es gibt nach wie vor kein Finanzie- was wir könnten, auch wirklich Gegenstand Ihrer Poli- rungskonzept und deshalb müssen Sie weiter daran ar- tik? beiten, Herr Bundeskanzler, wenn Sie Ihr Ziel für ver- In diesem Zusammenhang müssen wir uns – da sind nünftig halten. Wann immer Sie ein Konzept vorlegen, Sie überhaupt nicht konkret geworden – doch einmal mit sind wir bereit, uns das anzuschauen. der Frage auseinander setzen: Ist es in einer Situation, in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der die Kaufkraft eines Landes sinkt und die Binnen- neten der FDP) nachfrage gering ist, eigentlich richtig, dass 1,3 Milliar- den Euro zur Unterstützung der Windkraft ausgege- Aber eines wird nicht gehen: Wir werden nicht imben werden, was die Verbraucher tragen müssen? Ist das Anschluss an eine Idee, die nicht die unsrige war, richtig? (Lachen bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ihre Arbeit machen. Das ist so, als wenn Sie sich hinstel- neten der FDP) len und sagen – ich habe das schon öfter festgestellt –: Ich sage hier ausdrücklich: Ich bin für die Förderung Wir brauchen Kirschkuchen, kennen Sie ein Backrezept der Windenergie. Aber dort, wo kein Wind weht, in den dafür? – Wenn Sie Kirschkuchen brauchen, backen Sie Tälern dieses Landes, ihn sich selbst! Wir essen dann gerne mit, Herr Bundes- kanzler. (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Da machen die (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ noch Wind!) DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Scherz- da müssen Sie nicht noch einen Windmast aufstellen und keks!) den produzierten Strom mit 9 Cent pro Kilowattstunde Sie haben die Verantwortung in diesem Haus. fördern. Es muss schon überlegt sein, ob wir da das Geld hineinstecken. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (B) neten der FDP) Wir müssen uns auch die Frage stellen, was denn ei- (D) gentlich beim Herrn Bundesverkehrsminister los ist. Aber Spaß beiseite, denn die Lage in Deutschland ist Mindestens 400 Millionen Euro sind dort – ich sage es wirklich mehr als ernst. Natürlich sind Einschnitte und etwas lax – in den letzten Monaten versäckelt worden, Kürzungen notwendig. Dadurch, dass wir mit Ihnen ge- weil dieser Mann die Warnungen der Europäischen meinsam den Weg der Gesundheitsreform gegangenUnion nicht ernst genommen hat. Das sind Gelder des sind, haben wir einen wichtigen Beitrag geleistet und ge- Steuerzahlers, die wir weiß Gott für etwas anderes hätten zeigt, dass wir uns nicht vor unangenehmen Entschei- gebrauchen können. dungen drücken. Wenn Sie das anzweifeln, sprechen Sie die Unwahrheit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Gespräche haben wir wie Sie. Die Frage vieler Herr Bundeskanzler, tun Sie wirklich alles, was Sie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist: Müsst ihr uns können, um das Gerede über pharmazeutische die das jetzt zumuten? Ist es richtig, dass ihr beim Kündi- Industrie – ständig spricht man von „Pharmalobby“ –, gungsschutz etwas macht? Wir haben betrieblich schon eine Branche, die immerhin viele Arbeitsplätze in unse- so viel miteinander vereinbart. – Natürlich müssen wir rem Lande sichert und die ausgebaut werden müsste, in diese Fragen genauso beantworten wie Sie. Aber IhrIhren Reihen einmal zu unterbinden? Haben Sie eigent- Problem ist, dass Sie eine Kürzungsagenda abarbeiten, lich schon alles getan, um in Europa auf den Tisch zu ohne das Ziel der Veranstaltung jemals deutlich nach hauen und zu sagen: Die Änderung der Chemikalien- draußen getragen zu haben. Ihr Problem ist außerdem: Richtlinie, die jetzt geplant ist, gehört weg! – Glauben Geld – das beweisen Sie mit diesem Haushalt – kannSie allen Ernstes, Sie könnten Ihr Lissabon-Ziel, wo- man sich pumpen. Vertrauen der Menschen in die Rich- nach Europa der dynamischste Kontinent der Welt wer- tung, die Sie einschlagen, kann man sich nicht pumpen. den soll, mit einem Tausende von Seiten starken Mons- Das ist das, womit Sie sich auseinander zu setzen haben. ter von Vorschriften für die chemische Industrie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Europas erreichen? Ich sage Nein. Das ist völlig offen- sichtlich. Gewisse Fragen muss man eben beantworten. Eine Frage – Sie haben sie zumindest ansatzweise gestellt – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lautet: Womit will Deutschland sein Geld verdienen? Glauben Sie eigentlich, angesichts der weltweiten (Michael Glos [CDU/CSU]: Mit Wind- Entwicklung war es richtig, der grünen Gentechnologie rädern! – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE in Deutschland einen langen Stillstand verordnet zu 5014 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Dr. Angela Merkel (A) haben? Glauben Sie nicht, dass dadurch zahlreiche zu- geben haben, damit die Linken bei Ihnen einen Grund(C) kunftsorientierte Arbeitsplätze verloren gehen? zum Feiern haben. (Joachim Poß [SPD]: Sie bauen Papp- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – kameraden auf!) Widerspruch bei der SPD) Ich sehe Sie schon irgendwann in der Opposition hier Frau Göring-Eckardt, Ihr Beispiel geht doch nach hin- stehen und sagen: Schade, dass wir daran nicht gedacht ten los: Die Tatsache, dass Herr Walz auch ohne Herrn haben. Clements neue Handwerksordnung Meister ist und ein Geschäft hat, zeigt doch, dass das Vernünftige heute Als Herr Fischer – er ist leider schon gegangen – – schon möglich ist. Es bedarf also nicht Ihres radikalen (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Nein, er sitzt Schnittes, um in Deutschland das Handwerk nach oben da hinten!) zu bringen. – Gut, da kann ich ihn ja noch besser ansprechen. – Über (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wie viele Jahre haben Sie es verhindert – es waren sie- Ich bin mir im Gegensatz zu Ihnen absolut sicher: ben! –, bis die gentechnische Produktion von Insulin bei Wenn Sie mit uns gemeinsam das Vermögensteuergesetz Hoechst in Gang gekommen ist? Sie waren stolz darauf. – es ist ohnehin nur noch ein Torso – abschaffen würden, (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE dann würde dies eine unglaublich belebende Auswir- GRÜNEN]: Ich habe es genehmigt!) kung auf sehr viele Betriebe haben; – Ja, irgendwann haben Sie es genehmigt, weil Sie gar (Lachen bei der SPD) nicht mehr daran vorbeikamen. Deutschland ist unend- lich viel Zeit verloren gegangen. Das ist die Wahrheit. denn sie wüssten dann, dass es mit diesem Spuk in Das wird bei der grünen Gentechnologie wieder so pas- Deutschland endlich vorbei ist. Das ist die Wahrheit. sieren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) neten der FDP) Herr Bundeskanzler, glauben Sie wirklich, dass es das In der heutigen Zeit, in der viele Unternehmen nicht wichtigste Ziel Ihrer Bildungsministerin sein muss, im Gewinne, sondern Verluste machen, ist die immer wie- Hochschulrahmengesetz das Verbot von Studiengebüh- derkehrende Androhung derMindestbesteuerung für ren zu verankern? Finden Sie nicht, es wäre prima, wenn alle genau das falsche Signal, um in Deutschland die Konjunktur wieder in Gang zu setzen. Unsere Alterna- (B) man den Langzeitstudenten in Deutschland ein bisschen (D) Beine machen würde – und Baden-Württemberg sähe tive ist, die Mindestbesteuerung nicht einzuführen. sich nicht vor dem Bundesverfassungsgericht entspre- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- chenden Klagen ausgesetzt –, indem ihnen Gebühren neten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Nur drohen, wenn sie mehr als 13 Semester studieren? Das wenn Gewinne da sind, gnädige Frau!) wäre doch einmal ein Weg. Nach dem 14. März haben wir eine groteske Situation (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) erleben müssen, die von den Arbeitnehmerinnen und Ar- Schlicht und ergreifend: Natürlich sind die Zeitenbeitnehmern glücklicherweise auch so empfunden schwierig. Aber es gibt serienweise Beispiele, die zei- wurde, nämlich den Streik in den neuen Bundesländern gen, dass Sie sich genau mit dem beschäftigen, was uns um die 35-Stunden-Woche, der die IG Metall in eine nicht voranbringt, und dass Sie das schleifen lassen, was tiefe Krise geführt hat. uns voranbringt. Das beklagen wir. Für die Menschen in (Ludwig Stiegler [SPD]: Das hat Schröder diesem Lande fordern wir eine andere Politik ein. angezettelt!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- – Herr Stiegler, das hat Herr Schröder zwar nicht ange- neten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Machen zettelt. Ein klares Wort von ihm gegen diesen Schwach- Sie mal Vorschläge!) sinn hat aber gefehlt. Das müssen Sie zugeben. Wir müssen uns nicht nur fragen, womit Deutschland (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sein Geld verdient, sondern auch, wie die Strukturen in Deutschland sein müssen, damit die notwendigen Ände- Ich bin mir ganz sicher, dass Herr Schröder den Streik rungen funktionieren. Es ist klar, dass wir ein Aufbre- als schwachsinnig empfunden hat. Aber er hat es er- chen des alten Denkens brauchen. Ich persönlich halte staunlicherweise nicht ausgesprochen. das Drohen mit einer Ausbildungsabgabe für das Aller- letzte, das in Deutschland Lehrstellen schaffen kann. Man kann aus dieser Angelegenheit zwei Lehren zie- hen. Die erste Lehre ist, dass die Gewerkschaften allein (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht vernünftig genug sind, als dass man den Betrieben vor Ort die Möglichkeitbetrieblicher Bündnisse für Ich halte es für einen kapitalen Fehler, dass Sie sich in Arbeit nicht gesetzlich eröffnen müsste. dem Jahr, als Sie wussten, wie schwer es wird, genügend Lehrstellen zu schaffen, ausgerechnet das Handwerk (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- vorgenommen und ihm so richtig eines vor den Kopf ge- neten der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5015

Dr. Angela Merkel (A) Aus dieser Schlussfolgerung ergibt sich unser Vorschlag, kutieren und dies ansprechen. Das ist – jedenfalls nach (C) der Ihnen Paragraph für Paragraph auf dem Tisch liegt: meinem Verständnis – die Pflicht der Politik. Änderung des Tarifvertragsgesetzes, Änderung des Be- triebverfassungsgesetzes samt einer sinnvollen Verände- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rung des Kündigungsschutzes. Was Herr Clement in Be- Dann geht es darum – zumindest im Ziel stimmen wir zug auf den Kündigungsschutz vorlegt, spottet jederüberein –, dass wir dieArbeitslosen- und die Sozial- Beschreibung. Dennoch gibt es darüber Diskussionen hilfe zusammenlegen müssen, um in Deutschland wie- bei Ihnen. Ein komplettes Arbeitsmarktreformgesetz,der bessere Leistungsanreize zu schaffen. Ich weiß wie das wir beraten können, liegt Ihnen vor. Wir bauen da- Sie, dass es gerade in neuen Bundesländern eine ver- rauf, dass Sie konstruktiv darauf eingehen. dammt schwierige Sache ist, wenn Menschen in einer Die zweite Lehre, die wir aus diesem Streik ziehen Region, in der auf einen freien Arbeitsplatz 25 oder müssen, ist, dass wir mit den Tarifvertragsparteien auch 30 Bewerbungen kommen, gesagt werden muss: Passt über das, was jenseits gesetzlicher Regelungen auf, in ihr bekommt jetzt Sozialhilfe. Deutschland notwendig ist, sprechen müssen. Wir kön- Wir müssen auf jeden Fall dafür Sorge tragen, dass nen doch nicht unsere Augen vor der Tatsache verschlie- bei Menschen, bei denen dies der Fall ist, insbesondere ßen, dass 51 Prozent der Lohnzusatzkosten in Deutsch- bei Menschen mit Familien, bei Alleinerziehenden und land nicht auf uns, den Gesetzgeber, zurückgehen,Müttern, die Bedürftigkeitsprüfung nicht die eigene Al- sondern durch Tarifverträge vereinbart sind. terssicherung einschließt. Es wäre nämlich wirklich fa- (Joachim Poß [SPD]: Das ist Tarifautonomie!) tal, wenn jemand, der für das Alter vorgesorgt hat, des- wegen, weil er Sozialhilfe bekommt, diese Vorsorge mit – Richtig, das istTarifautonomie. Aber die Tarifauto- angerechnet bekommt. Das muss beachtet werden. nomie ist deshalb genauso wie die Parteien und anderes grundgesetzlich geschützt, weil die Tarifautonomie dem (Beifall bei der CDU/CSU) Gemeinwohl verpflichtet ist. Sie kann nicht in Besitz- Wir sind uns im Ziel einig. Trotzdem haben wir einen standsdenken umdefiniert werden. Das ist die Wahrheit. anderen Gesetzentwurf eingebracht als Sie. Denn wir (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- glauben, dass dieser Prozess so weit wie möglich von neten der FDP) unten nach oben organisiert werden sollte. Die Kommu- nen sollten also so weit wie möglich die subsidiäre Ver- Es kann nicht sein – das sage ich ausdrücklich inantwortung übernehmen. Denn diese kennen die Men- Richtung der Gewerkschaften und der Wirtschaft –, dass schen und ein solcher Prozess muss nahe am Menschen uns die Wirtschaft sagt, was wir in diesem Hause zu tun stattfinden. (B) haben, (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Michael Glos [CDU/CSU]: So ist es!) neten der FDP) wir aber den Mund halten müssen, wenn wir der Mei- Es ist leider wahr: DieKommunen, durchaus auch nung sind, auch einmal sagen zu müssen, was man an von uns während unserer Regierungszeit enttäuscht, nun anderer Stelle tun könnte. aber durch das, was sie im Zusammenhang mit der Kör- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- perschaftsteuerreform unter Herrn Eichel erlebt haben, neten der FDP) völlig vor den Kopf gestoßen, sagen: Wir wollen be- stimmte Aufgaben nicht mehr übernehmen; wir trauen Genau aus diesem Grund habe ich gesagt, dass eseuch nämlich nicht zu, dass ihr uns die dafür notwendi- nicht um die Frage geht, ob in den westlichen Bundes- gen Mittel zur Verfügung stellt. ländern mehr oder weniger gearbeitet wird und ob der Osten so werden muss wie der Westen. Es geht vielmehr Deshalb schlagen wir vor, eineGrundgesetzände- darum, dass wir insgesamt inDeutschland länger ar- rung vorzunehmen, in der die finanzielle Ausstattung beiten müssen. Daran führt kein Weg vorbei. der Kommunen klar geregelt wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr gut!) neten der FDP) Dazu legen wir Ihnen den Gesetzentwurf des Landes Herr Bundeskanzler, an dieser Stelle brauchen wirHessen vor; Weiteres werden wir beraten müssen. Das glücklicherweise nicht das Prinzip „Hire and fire“ bzw. ist eine ganz andere Grundlage als das, was Sie vorse- Amerika als Abschreckung zu instrumentalisieren. Wir hen. Sie wollen die Bundesanstalt für Arbeit um 12 000 müssen nur in die Schweiz gehen, die noch nicht wegen Leute aufstocken. Diese wurde schon bisher ihren Auf- Asozialität und Unsozialität weltweit bekannt geworden gaben nicht gerecht. Wir haben erhebliche Zweifel, dass ist. Dort arbeitet man mehr als 220 Tage pro Jahr; wir sie ihre Arbeit mit 12 000 bzw. 16 000 Leuten mehr bes- arbeiten 175 Tage pro Jahr. Dort arbeitet man pro Woche ser bewältigen kann. Das ist der Unterschied. im Durchschnitt 40,5 Stunden und bei uns 37,5 Stunden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Glauben Sie, alle deutschen Arbeitnehmerinnen und Ar- neten der FDP) beitnehmer seien so viel schneller und unsere Maschinen so viel besser, dass wir dies aufholen könnten? Es ist Frau Göring-Eckardt, bitte erzählen Sie nicht, wir hät- sinnvoll und notwendig, dass wir auch bei uns ohne ten keine Alternative. Unsere Alternative steht samt dem Schaum vor dem Mund über einen solchen Prozess dis- Arbeitsmarktreformgesetz und dem Soforthilfeprogramm 5016 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Dr. Angela Merkel (A) für die Kommunen in einem großen Konvolut, daseuropäisch, aber in vielen Fragen auch deutsch definie- (C) 300 Seiten dick ist. Insbesondere in einem Punkt sind ren – welches sind die deutschen Interessen? –, damit wir unterschiedlicher Meinung im Vergleich zu Ihnen: wir unseren Anteil in Europa bekommen. Das ist über- Wir halten es für einen ziemlichen Schwachsinn, jetzt haupt keine Frage. auch noch alle Freiberufler zu besteuern. Dies ist im (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Übrigen nicht finanzwirksam für die Kommunen. Des- neten der FDP) halb hören wir mit Freude, dass Sie als Fraktion – Herr Müntefering, alle Achtung, wir haben es vier Mal einge- Ich komme jetzt auf einen Punkt zu sprechen, der viel bracht – die Gewerbesteuerumlage jetzt wieder auf den mit unserem Selbstverständnis zu tun hat. alten Stand bringen wollen. Das wäre nämlich für die (Jörg Tauss [SPD]: „Tagesspiegel“!) Kommunen eine verlässliche Einkommensquelle. Dieses Selbstverständnis hat für mich mit unserer Ge- (Beifall bei der CDU/CSU) schichte und unserem Umgang mit ihr zu tun. Herr Eichel, es war einer Ihrer großen Finanzierungs- (Joachim Poß [SPD]: Noch ein Pappkamerad!) tricks: Sie haben den Kommunen den Anteil an der Gewerbesteuer weggenommen und eine Ihrer beliebten Es gibt eine Initiative zumZentrum gegen Vertrei- Luftbuchungen, nämlich irgendetwas mit AfA, gemacht bung. Diese Initiative ist wirklich nicht parteilich orga- und dabei nicht bedacht, dass wir dem nicht zustimmen nisiert, sondern vertritt ganz unterschiedliche Richtun- werden, weil es mittelstandsfeindlich ist. Dadurch haben gen. Diese Initiative hat gesagt: 12,5 Millionen Sie die Kommunen auf dem Trocknen sitzen lassen. Das Menschen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg vertrie- ist die Genesis der finanziellen Entmachtung der Kom- ben. Die Gründung eines solchen Zentrums ändert über- munen durch diese Bundesregierung. haupt nichts an der Auseinandersetzung mit dem Un- recht, das Deutschland über die Welt gebracht hat. Aber (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – auch Deutschen ist Unrecht passiert. Joachim Poß [SPD]: Deshalb wollen Sie die Gewerbesteuer abschaffen!) Die Frage, ob wir in Deutschland und in Berlin die Kraft haben, uns in einem solchen Zentrum mit diesem Im Zusammenhang mit den Fragen danach, wer für Teil unserer Geschichte auseinander zu setzen was verantwortlich ist und wie wir die Bundesrepublik unter den neuen Bedingungen organisieren, möchte ich (Jörg Tauss [SPD]: Was Sie da treiben, ist eine Mahnung an den Bundeswirtschaftsminister aus- geschichtslos!) sprechen. oder ob wir einen Bundeskanzler haben, der als Erstes (B) (Joachim Poß [SPD]: Der nächste Papp- mit subtilen Unterstellungen erklärt, dies würde nur aus (D) kamerad!) rückwärts gewandter Geschichtsklitterung stattfinden, ist eine entscheidende Frage bis ins nächste Jahrhundert Herr Wirtschaftsminister, Sie haben im Augenblick ei- hinein. nen Fall auf dem Tisch liegen, der sich mit dem befasst, was man Pressefreiheit und Wettbewerb im Pressebe- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- reich nennt. Ich rate Ihnen dringend, sich an dieser Stelle neten der FDP) nicht über das Votum des Kartellamtes und der Mono- Deshalb – das sage ich ganz ruhig – habe ich es für polkommission hinwegzusetzen; denn wenn in der deut- verantwortungslos gehalten, dass Sie die Besorgnisse, schen Hauptstadt die Presselandschaft durch Eingriff des die es in Polen und Tschechien gab, genutzt haben, um Bundeswirtschaftsministers so geordnet wird, wie es die einseitig Stellung zu beziehen und keinen Beitrag – jetzt Bundesregierung gerne hätte, wäre es das schlechtest- versucht es der Innenminister – zur Versöhnung in dieser mögliche Signal für Deutschland. Das können wir imFrage zu leisten. Moment wirklich nicht gebrauchen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) neten der FDP) Nichts, aber auch gar nichts spricht gegen ein euro- Wenn wir die Fragen „Womit wollen wir unser Geld päisches Netz solcher Gedenkstätten. Aber auch in verdienen?“ Deutschland – mit 12,5 Millionen Betroffenen – müssen (Walter Schöler [SPD]: Mit Leo Kirch usw., wir doch die Kraft haben, damit verantwortungsvoll um- das ist doch bekannt!) zugehen. Deshalb unterstütze ich ausdrücklich mit unse- rer Fraktion die Initiative des Bundes der Vertriebenen. und „Wie müssen wir das Land organisieren?“ beant- wortet haben, dann müssen wir uns die Frage stellen: (Beifall bei der CDU/CSU) Wie ist unser Verständnis von unserem Land und von Herr Bundeskanzler, es war immer die Politik von Europa? Union und SPD, dass man den Kampf gegen Terror nicht (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) alleine militärisch führt. Das möchte ich hier noch ein- mal sagen, obwohl ich glaube, dass Sie es wissen. Es Der Bundesaußenminister hat neulich gesagt, dass wir war immer unsere Politik, dass wir Entwicklungshilfe, unsere Interessen europäisch definieren müssen. IchAufbauhilfe und Wirtschaftshilfe brauchen. Aber wir stimme ihm teilweise zu. Wir müssen sie zunehmendbrauchen auch militärische Komponenten. Deshalb wer- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5017

Dr. Angela Merkel (A) den wir uns in allen anstehenden Fragen verantwor-leistet, muss wissen, dass seine Leistung von denjeni-(C) tungsvoll entscheiden. Wolfgang Schäuble wird dazugen über ihm auch anerkannt wird. Daran fehlt es in heute sicherlich noch Stellung nehmen. Deutschland bis heute. Herr Bundeskanzler, wo wir beim Thema Verantwor- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tung sind: Ich fand, Ihr Auftritt mit dem türkischen Genau das verstehe ich unter fair ändern. Wenn Sie das Ministerpräsidenten bei dessen Staatsbesuch in einer ge- beherzigen würden – Sie tun das nicht oder können es meinsamen Pressekonferenz und die Beschimpfungen nicht, warum weiß ich nicht –, dann brauchten Sie auch von CDU und CSU waren einmalig und wieder einmal keine Phantomdebatten zu führen. verantwortungslos. (Joachim Poß [SPD]: Das machen Sie jetzt die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ganze Zeit!) neten der FDP) In einer dieser Phantomdebatten geht es um den Sie tun so, als seien die Kopenhagener Kriterien, die in demokratischen Sozialismus. Der SPD-General- Europa für die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten gelten, sekretär hat in der „FAZ“ vom 21. August 2003 gesagt, von der Türkei einfach so zu erfüllen. Ich denke dabei der demokratische Sozialismus sei „eher so’n Sprech- nicht an die Anstrengungen, die die Türkei macht; das unfall“. habe ich Herrn Erdogan gesagt. Es gibt unter den Ko- penhagener Kriterien vielmehr ein Kriterium, das mit (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU der Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union, so wie und der FDP) sie heute besteht, zu tun hat. Wollen Sie bestreiten, dass Mir ist der Atem gestockt, und zwar aus zwei Gründen: zu einem Zeitpunkt, zu dem wir gerade einmal 25 Mit- Zum einen scheint der demokratische Sozialismus für gliedstaaten geworden sind, keine Probleme bestehen? manche von Ihnen das Erbstück sozialdemokratischer Ich muss Ihnen sagen, dass wir diesen Kurs gegenüber Identität zu sein. der Türkei nicht mitmachen werden. Ich möchte, dass wir redlich miteinander umgehen, gerade weil es (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das war in Freunde sind. zwei Wahlkämpfen erkennbar!) (Beifall bei der CDU/CSU) Zum anderen kann ich nur sagen, dass ich Sozialismus aus persönlicher Erfahrung heraus wirklich nicht als Die Mitglieder der Bundesregierung und Sie selbst, Sprechunfall bezeichnen kann. Das war ein Realunfall Herr Bundeskanzler, sprechen davon, Deutschlandmit grausamen Auswirkungen für Millionen von Men- (B) müsse sich bewegen. Diese Aussage ist nicht falsch, ist schen, die ich persönlich nicht zu vergessen beabsich- (D) aber, wie man in der Mathematik sagen würde, nicht hin- tige. reichend. Zickzackbewegungen helfen uns nicht, Bewe- gungen nach unten auch nicht. Deutschland muss sich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nach oben bewegen. Das muss die Richtung sein. Im Übrigen füge ich hinzu: Die Leute haben die (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Richtig!) Schnauze voll von Sprechunfällen Ihrer Regierung. Dazu müssen wir Deutschland verändern; das ist rich- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tig. Aber wir müssen Deutschland – das geht darüberDie Leute wollen sehen, dass endlich etwas passiert. hinaus – fair ändern. Die Menschen erwartenFairness Deshalb lautet unser Motto „Deutschland fair ändern“. bei dem, was ansteht. Das wird auch die Grundlage unserer Oppositionspolitik (Beifall bei der CDU/CSU) und unserer Mitarbeit im Bundesrat sein. Damit es hier zu Innovationen kommt und das Ganze Ich sage Ihnen ganz klar: Blockieren, wie Sie es zu die richtige Richtung bekommt, habe ich Ihnen amLafontaines Zeiten gemacht haben, passt nicht zur 14. März dieses Jahres ein Angebot gemacht, auf dasUnion. Sie leider nicht eingegangen sind. Ich habe gesagt, das (Joachim Poß [SPD]: Werbeagentur Merkel!) werde ein Prozess, der nicht ein halbes Jahr oder ein Jahr dauert, sondern zehn oder zwölf Jahre. Lassen Sie Das geht gar nicht zusammen, das passt nicht, das ist uns Größen für Investitionskraft, Beschäftigung, Bil-völlig unmöglich. Das geht weder mit unseren Wählern, dung und Forschung finden, anhand derer wir mit den noch mit unseren Mitgliedern und schon gar nicht mit Menschen Jahr für Jahr überprüfen können, ob wir auf der Bundestagsfraktion von CDU/CSU. dem richtigen Weg sind. Das würde Verlässlichkeit in (Lachen bei Abgeordneten der SPD) die Sache bringen. Auf die Frage, die die Menschen stellen, wozu und warum das Ganze gemacht wird, Wenn wir zustimmen, dann stimmen wir begründet müssen wir eine Antwort haben. Diese Antwort musszu. Das haben wir bei vielen außenpolitischen Gemein- glaubhaft sein. Dazu brauchen wir eine Gerechtigkeit, samkeiten schon getan. Was wir verbessern können die im Gegensatz zu dem, was Sie im Moment machen – Beispiel Gesundheitsreform –, das werden wir verbes- – Sie sprechen nur über Chancengerechtigkeit, was wir sern. Was wir ablehnen, das lehnen wir begründet ab. dagegen schon viele Jahre verfolgt haben –, leistungs- Deshalb können Sie sich einer Sache sicher sein: Diesen gerecht ist. Der Bürger, der unten an der Basis etwasHaushalt und wahrscheinlich noch so manches mehr 5018 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Dr. Angela Merkel (A) lehnen wir ab, weil es Begründungen für genau die Ab- ben nämlich einen Trick angewendet und den Kommu- (C) lehnung gibt. nismus, die Diktatur der DDR, der SED, mit der Tradi- tion der deutschen Sozialdemokratie verglichen. Herzlichen Dank. (Zuruf von der SPD: Pfui!) (Lang anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der FDP) Ich sage Ihnen: Hier sollten wir unsere Empfindlich- keiten offen aussprechen. Sie sagen, Sie hätten den de- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: mokratischen Sozialismus als eine reale kommunistische Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Franz Diktatur erlebt. Das wissen wir und das beurteilen wir so Müntefering, SPD-Fraktion. wie Sie. Die Geschichte dieser deutschen Sozialdemo- kratie hat es aber nicht nötig, sich von Ihnen mit den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kommunisten, die in dem Lande geherrscht haben, ver- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gleichen zu lassen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Franz Müntefering (SPD): DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter [CDU/ Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und CSU]: Wer sich mit der SED so gemein ge- Herren! Die am Mittwoch einer Haushaltswoche stattfin- macht hat wie Sie, sollte sehr vorsichtig sein!) dende Debatte ist üblicherweise das, was man die Stunde der Opposition nennt. Wir stehen vor spannenden Monaten. Solange ich zu- rückdenken kann, hat es das noch nie gegeben, dass so (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) viele wichtige Dinge in so kurzer Zeit im Deutschen Deshalb waren wir heute Morgen um 9 Uhr alle ge- Bundestag vorgetragen, diskutiert und zur Entscheidung spannt auf die Rede von Frau Merkel. Sie hat es abergebracht werden mussten. Dieser Herausforderung ha- vorgezogen, Herrn Glos vorzuschicken und sich in die ben wir uns alle zu stellen. Die Monate bis Weihnachten relative Ruhe der zweiten Runde zurückzuziehen. werden außerordentlich spannend sein. Es wird um drei große Komplexe gehen, die Hans Eichel gestern hier er- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Zur Sache, läutert hat. Schätzchen!) Erstens geht es um den Haushalt 2004 und dessen So- Trotzdem haben wir gehofft, es könnte etwas kommen. lidität sowie um unser Bemühen, ihn so knapp wie nur Frau Merkel, wenn die Probleme des Landes so groß möglich zu schneidern. (B) sind, wie Sie sie beschrieben haben, dann war dieZweitens geht es darum, große Strukturreformen,(D) Münze, mit der Sie hier gezahlt haben, viel zu klein. Das die die Voraussetzung dafür sind, dass die Realisierung war nicht die Lösung der Probleme, die vor uns liegen. dieses Haushaltes im nächsten Jahr und in den dann (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kommenden Jahren auch gelingen kann, voranzutreiben des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und zu beschließen. Ich möchte mich dafür bedanken, dass Sie auf den Drittens geht es darum, dass Wachstumsimpulse ge- Vorschlag des Bundeskanzlers eingegangen sind, mit- geben werden, damit mehr Geld in die öffentlichen Kas- zustimmen, wenn es in diesem Herbst darum geht, den sen fließen kann. Nachhaltigkeitsfaktor – Sie sprechen vom Generatio- An der Verwirklichung dieses Dreiklangs arbeiten nenfaktor – in der Rente zu beschließen. Ich kann das wir. Das läuft in diesen Wochen zeitgleich. Es ist richtig: nur so verstehen: Sie haben gesagt, das wäre schon vor Nicht alles, was für den Haushalt wichtig ist, wurde auch vier oder fünf Jahren richtig gewesen. Herr Westerwelle schon beschlossen. Es wurde aber alles auf den Weg ge- und Sie haben das jetzt noch einmal unterstützt. Wirbracht. Wir haben uns viel vorgenommen; das wissen werden in wenigen Wochen hier über diesen Gesamt-wir. Wir sind uns aber sicher, dass der Weg, den wir ge- komplex zu sprechen haben. Ich gehe davon aus, dass hen, richtig ist und dass wir es in diesem Jahr gemein- der Deutsche Bundestag eine Rentenlösung finden kann, sam schaffen, dieses Land weiter in die richtige Rich- die auch die Generationengerechtigkeit bzw. den Nach- tung zu bringen und dafür zu sorgen, dass Deutschland haltigkeitsfaktor beinhaltet. Ich freue mich und bedanke in eine gute Zukunft gehen kann. Wir sind fest entschlos- mich bei Frau Merkel, dass sie das in diesem Sinne auf- sen, das zu tun. genommen hat. Wir wissen, dass es auf dieser Strecke in den nächsten (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Wochen und Monaten noch viele Unebenheiten gibt. Wir Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- werden in der politischen Diskussion an manchen Stel- NEN]) len untereinander und mit Ihnen zu streiten haben. Es ist Frau Merkel, ich bitte Sie um Ihre Aufmerksamkeit. für dieses Land gar nicht schlecht, wenn es begreift, dass Sie sind noch einmal auf den demokratischen Sozialis- wir in einer Auseinandersetzung von außerordentlicher mus eingegangen. Dazu möchte ich einige Sätze sagen. Bedeutung stehen. Das ist nicht schlecht für die Demo- Ich weiß nicht, ob Ihnen bewusst ist, dass Sie in demkratie. Im Jahre 2003 werden wir im Deutschen Bundes- zweiten Teil Ihrer Ausführungen etwas gesagt haben,tag und im Bundesrat dafür sorgen, dass Deutschland ei- das wir uns untereinander nicht zumuten sollten. Sie ha- nen guten Weg in die Zukunft gehen kann. Das ist unser Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5019

Franz Müntefering (A) Ziel; das haben wir uns vorgenommen und das schaffen als sei in Bayern alles in Ordnung. Fahren Sie einmal(C) wir auch miteinander. durch die bayerischen Lande. Dann sehen Sie, dass es in keinem anderen Bundesland ein solches Gefälle zwi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schen den Regionen wie in Bayern gibt. DIE GRÜNEN) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Aber, aber!) Die Opposition muss sich entscheiden. Frau Merkel, ich höre von Ihnen und auch von anderen manche nach- Dass in München und in Freising alles in Ordnung ist, denkliche Worte. Wir wollen sie gerne bedenken undglaube ich. Aber wenn Sie in die Oberpfalz fahren, dann nicht alles beiseite schieben, was da kommt. Manches ist werden Sie schon sehen, was da los und wie hoch dort aber auch Wolkenschieberei und verdeutlicht Ihren Un- die Arbeitslosigkeit ist. Dort hat man erkannt, dass die willen, wirklich dazuzulernen und die Rolle der Opposi- Staatsregierung in München nicht in der Lage ist, die tion anzunehmen. Frau Merkel, Opposition ist in diesem Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen in Bayern zu Jahr etwas anderes als das Synonym für „dagegen sein“. organisieren. Das ist das große Problem in Bayern. Auch Sie werden sich entscheiden müssen. Sie werden (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht damit durchkommen, dass Sie solche Reden halten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ernst wie heute hier, Reden, die einzig und allein darauf aus- Hinsken [CDU/CSU]: Darum wählen die Bay- gerichtet sind, hie und da ein bisschen zu mäkeln, zu ha- ern am 21. September richtig!) keln und zu versuchen, den einen oder anderen Fehler von uns zu beschreiben. Darum geht es überhaupt nicht. Zur Opposition gehört auch die FDP. Man hat das an Wir wissen, dass wir nichtvollkommen sind, dass wir der Ratlosigkeit gemerkt, Herr Westerwelle, mit der Sie Fehler gemacht haben und dass wir wahrscheinlich auch hier agiert haben. wieder dabei sind, den einen oder anderen zu machen. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Bitte?) Sie aber eben auch. Ich finde, Ihr Beitrag sollte dringend den Ältestenrat be- Ich warne davor, mit Hochmut an die Sache heranzu- schäftigen, und zwar unter der Fragestellung: Wie kön- gehen. Wir werden in diesem Halbjahr miteinander den nen Sensoren in dieses Mikrofon eingebaut werden, die richtigen Weg in wichtigen zentralen Fragen des Landes bei der Überschreitung einer bestimmten Phonstärke die finden müssen. Dabei ist die Opposition gefordert. Sie Lautstärke automatisch herunterregulieren? Ihre Laut- werden sich davor nicht drücken können. stärke war das Interessanteste an dem, was Sie heute (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Morgen vorgetragen haben. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) Was Herr Glos heute Morgen dazu gesagt hat, war des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (D) jenseits dessen, lieber Kollege Glos, was Sie uns in die- Die FDP hat ein Problem. sem Deutschen Bundestag zumuten sollten. (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Nur eines?) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) – Eigentlich zwei: Sie und noch etwas. Ich will mich damit nicht über Gebühr lange aufhalten, (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der weil es andere wichtige Dinge gibt. Ich will Ihnen aber SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- sagen: Der Hinweis darauf, dass dieBayernwahl aus- NEN) gehe, wie sie Ihrer Meinung nach ausgeht, Zu dem komme ich jetzt. Ich kenne Ihr Problem und be- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie rechnen greife es auch. Sie sind zur Schau in die Kommission doch mit einer Zweidrittelmehrheit!) Gesundheitsreform gegangen. Mich hat das gewundert, weil klar war, dass dieser Auftritt mit Ihrer Ausgangs- liege an uns, ist in doppelter Weise mit einer interessan- lage nicht gut gehen kann. Sie sind zur Schau wieder he- ten Dialektik versehen: rausgegangen. Ihr Problem: Das hat keinen interessiert Erstens. Herrn Stoiber trauen Sie diesen Sieg nicht zu. und es hat keiner gemerkt. Das ist der Zustand der FDP. (Heiterkeit bei der SPD – Michael Glos [CDU/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten CSU]: Das wird lustig!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zweitens. Auch die Zahlen in Bayern sollte man sich Ihr Problem ist, dass es egal ist, was Sie machen. Des- einmal ansehen. Die Menschen können sich auch über halb sind Sie hier so laut geworden. Hören Sie es noch den 21. September dieses Jahres hinaus mit diesen Zah- einmal nach. Ich glaube, wir kennen uns lange genug, len beschäftigen. Die Arbeitslosigkeit stieg zwischendamit Sie verstehen, was ich damit meine. August 2002 und 2003 in Deutschland um 7,4 Prozent. (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Wenn ich in Sie stieg in Bayern um 14,2 Prozent. Ihrem Alter bin, bin ich auch so ruhig!) (Michael Glos [CDU/CSU]: Bezugsgrößen!) – Jugendlicher Leichtsinn und Altersweisheit können sich gut mischen, Herr Westerwelle. Bayern ist ein schönes Land und Sie haben auch viele gute Dinge getan. Aber ich sage Ihnen: Seien Sie vor- (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der sichtig mit dem Bemühen, den Eindruck zu erwecken, SPD) 5020 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Franz Müntefering (A) Es geht um dieErneuerung unseres Landes. Dies len, gehören zu den zentralen Fragen für die Zukunftsfä- (C) steht im Mittelpunkt der Debatte und dieser Haushalts- higkeit unseres Landes. woche überhaupt. Es geht dabei nicht nur um das, was die Politik macht, sondern auch um das, was die Gesell- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Einverstan- schaft insgesamt macht. Wir werden diesen Prozess der den!) Erneuerung und Veränderung Deutschlands nur dann er- Wir müssen mehr darüber nachdenken und daran arbei- folgreich führen können, wenn die Gesellschaft insge- ten. Die Politik selbst ist auch gefordert. samt begreift, dass dies nicht nur von den Bundesgeset- zen abhängt, die wir machen, sondern dass viele andere (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dinge mit dazukommen müssen. Die Gesellschaft darf DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nicht abwarten, was der Politik einfällt und was sie tut. FDP) Vielmehr muss sie die Maßnahmen mittragen, die nötig Die Globalisierung, von der manche in Deutschland sind, damit dieses Land eine gute Zukunft hat. noch glauben, man könne sie ignorieren oder beiseite Ich glaube, dass wir uns alle miteinander in den letz- schieben, ist faktisch da. Die Mobilität, die die Mensch- ten zehn oder 20 Jahren in Deutschland zu sehr auf dem heit gewonnen hat, die Fähigkeit, Güter, Informationen ausgeruht haben, was wir erreicht und als sicher empfun- und Menschen schnell zu transportieren, hat dazu ge- den haben. Die deutsche Einheit – ein schönes Ereignis – führt, dass die Globalisierung Fakt ist. Darauf werden hat dazu beigetragen, dass wir die Friedensdividende, wir uns einzustellen haben. Wir werden uns insbeson- wenn man so will, in der Annahme verteilt haben, es sei dere dadurch einzustellen haben, dass wir Europa zu ei- alles in Ordnung. Nun merken wir, Sie und das ganzener Wohlstands-, Wirtschafts- und Finanzregion organi- Land, dass wir uns anstrengen müssen, um aus der Krise sieren, die aus sich selbst heraus Wohlstand garantiert. rauszukommen. Die Chancen sind da. Deutschland ist (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Fangt kein schwaches, sondern ein starkes Land. Aber Verän- endlich an!) derungen können nicht nur durch Bundesgesetze erreicht werden. Dazu müssen wir mit all dem, was wir in diesen Wochen und Monaten tun, den Sinn schärfen und den Menschen Ich will zwei Dinge ansprechen, die man nicht von draußen unser Handeln verdeutlichen. Wir werden nicht diesem Pult aus im Wege der Gesetzgebung lösen kann. allein mit nationaler Gesetzgebung die Dinge in Es gibt bei uns in Deutschland viele Menschen, die viel Deutschland richten können. Den Wohlstand, den wir in Zeit haben. Es gibt in Deutschland auch viele Menschen, Deutschland dauerhaft sichern wollen, die soziale Ge- die sehr allein und einsam sind. Wenn es in dieser älter rechtigkeit und den Sozialstaat, den wir in seiner Sub- werdenden Gesellschaft nicht gelingt, ein Bewusstsein (B) stanz haben wollen, werden wir nur dann erhalten, wenn (D) dafür zu schaffen, dass die Menschen füreinander dawir EU-Europa zu einer großen Wohlstandsregion ma- sind und dass man sich für Menschen nicht nur auf der chen, die dauerhaft funktioniert. Das ist eine große Grundlage von Gesetzen, sondern auch unabhängig von Chance. Gesetzen ehrenamtlich in der Gesellschaft engagieren kann und dass alte Menschen nicht einsam und allein (Beifall bei der SPD) sein müssen, dann wird es in dieser Gesellschaft keine Dieses Europa, das in der zweiten Hälfte des vergange- Lebensqualität geben. Dieses Bewusstsein zu schaffen nen Jahrhunderts entstanden ist, ist wahrscheinlich die ist eine große und schwere Aufgabe, vor der wir stehen. größte historische Leistung auf diesem Stern gewesen. Wir müssen die Menschen ansprechen und ihnen zeigen, Wir sind uns dessen immer noch nicht ganz bewusst. dass das Lebensqualität in diesem Lande ausmacht. Dass wir seit 58 Jahren hier in Europa Frieden haben, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gab es noch nie oder seit Jahrhunderten nicht. Schauen DIE GRÜNEN) Sie in die Geschichtsbücher. Wir haben die unglaubliche Chance, aus diesem Europa eine Wohlstands-, Friedens-, Ich will einen zweiten Punkt ansprechen. Es geht um Finanz- und eine Sozialregion zu machen, die zukunfts- die Kinder und wie die Kleinen zwischen uns Großen fähig ist und sich gegenüber anderen großen Regionen in groß werden. Vor wenigen Jahren habe ich mir eine Sta- der Welt behauptet. Deshalb gehört das Thema Europa tistik angesehen. Damals hatten in Nordrhein-Westfalen ganz eng zu dem, was wir in diesem Halbjahr zu be- 51 Prozent der Kinder, die in Kindergärten gingen, keine schließen haben. Geschwister. In früheren Generationen hatten die Kinder drei, vier oder fünf Geschwister. Geschwister erzogen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Geschwister. Heute werden Kinder einzeln zwischen Er- DIE GRÜNEN) wachsenen groß. Wenn man mit denen spricht, die sie Es geht um die demographische Entwicklung. 1960 einschulen, dann weiß man, dass sich die Kinder nicht bekamen Männer in Deutschland im Durchschnitt zwei- mehr so gut ausdrücken können wie früher und nicht einhalb Jahre Rente. Sie bekommen heute im Durch- mehr die Motorik haben, die die Kinder früher hatten. schnitt zwischen zehn und zwölf Jahren Rente und wer- Das hängt mit der Erziehung und dem Umgang mit den den im Jahr 2025, wenn das Renteneintrittsalter so Kindern zusammen. bleibt, 17 oder 18 Jahre Rente bekommen. Wir arbeiten Warum sage ich das in dieser Debatte? Die Frage der aber nicht mehr im Durchschnitt 50 Jahre wie 1960, son- Erziehung und die Frage, was wir mit den Kindern ei- dern 39 bis 40 Jahre. Man muss keine Mathematik kön- gentlich machen und wie wir uns auf die Kinder einstel- nen, sondern nur zwei Jahre Rechnen gelernt haben, um Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5021

Franz Müntefering (A) zu begreifen, dass das nicht mehr geht. Deshalb werden Sie haben schließlich gefordert, es müsse in der Zwi-(C) wir in diesem Zusammenhang Entscheidungen zu treffen schenzeit etwas passieren. Acht Gesetze liegen vor. In und Dinge zu verändern haben. dem Gesetzentwurf Hartz III geht es um den Umbau der Bundesanstalt für Arbeit zu einer Vermittlungsagentur. Hinzu kommt die lang anhaltende Wachstumsdelle Der Entwurf Hartz IV regelt die Zusammenlegung von in den Industrieländern, Arbeitslosen- und Sozialhilfe, durch die erwerbsfähige (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Der Sachver- Sozialhilfeempfänger stärker als bisher und auch unmit- halt ist bekannt!) telbar Zugang zum ersten Arbeitsmarkt erhalten. Die Arbeitsmarktreform hat auch intern zu Kämpfen ge- die nicht nur uns, sondern die ganze Welt berührt. Man führt; denn es geht dabei um die Verkürzung der Bezugs- weiß nicht, ob das eine Delle ist oder ob es sich um ein dauer des Arbeitslosengeldes für Ältere und um die lang anhaltendes niedriges Wachstum handeln wird. Frage, wie weit man gehen kann und darf, um die nötige Weiterhin kommen die leeren Kassen von Bund, Län- dern und Gemeinden hinzu, die wir leer vorgefunden ha- Flexibilität am Arbeitsmarkt zu schaffen, ohne die Ar- ben, aber auch bisher nicht haben füllen können. Dasbeitnehmerrechte in unzulässigem Maße zu beschrän- sind die Rahmenbedingungen, denen wir uns ausgesetzt ken. sehen, wenn wir jetzt handeln. Bei der Gesundheitsreform, die wir gestern disku- Es kommt der Vorwurf, dass wir spät dran sind. Ja, tiert haben, geht es um die Verbesserung der Effizienz spät ist richtig, aber nicht zu spät. Die Chance ist da. Es im System und um die Erhaltung der Qualität des Ge- kommt weiterhin der Vorwurf, wir hätten die eine oder sundheitswesens. Als Messlatte soll beibehalten werden, andere Position verändert, die wir vor einem, drei oder dass diejenigen, die auf medizinische Versorgung ange- fünf Jahren noch eingenommen hätten. Das stimmt. Das wiesen sind, das aus medizinischen Gründen Notwen- ist aber keine Schande. Wenn sich Rahmenbedingungen dige auch erhalten. verändern, dann muss man daraus die Konsequenzen für Unabhängig davon, worüber wir mittelfristig in der die Politik und das Instrumentarium ziehen. Koalition oder darüber hinaus diskutieren – sei es die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bürgerversicherung oder was auch immer –, ist das, was DIE GRÜNEN) wir derzeit tun, nicht entbehrlich. Man darf jetzt nicht unter Verwendung bestimmter Begriffe vor der Verant- Nur diejenigen, die sich nicht bewegen können und auch nicht zu bewegen sind, haben es schon immer besser ge- wortung davonlaufen, die wir haben. Das ist für uns wusst. schwer zu vermitteln. Aber ich sage ausdrücklich: Die Sozialdemokratie wird keine Wolkenschieberei begin- (B) Ich habe bei der Rede von Herrn Merz gestern dennen. Vielmehr werden wir den Menschen klipp und klar (D) Eindruck gehabt, auch er habe schon immer alles ge-mitteilen, was möglich und nötig ist, was wir tun werden wusst, und zwar besser. Manche erscheinen bereits inund dass wir es in der Weise, in der wir es umsetzen, ver- seinem Alter älter als ihre eigenen Großväter. Das bleibt antworten können. Davor werden wir nicht weglaufen. dabei nicht aus. (Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ [CDU/CSU]: Das wäre neu, Herr DIE GRÜNEN) Müntefering!) Was die Reaktion von Herrn Gerhardt angeht, weiß Die Handwerksordnung ist ein interessantes Kapi- ich, dass die Aussage, man dürfe und müsse seine Mei- tel, und zwar für Frau Merkel und Herrn Westerwelle nung auch ändern können, als Opportunismus interpre- gleichermaßen. Denn dabei geht es um die Freiheit und tiert werden kann. um die gleichen Chancen der Menschen – in diesem Fall (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Nein, Sie die der Gesellen – am deutschen Arbeitsmarkt. Junge hätten es 1997 wissen können!) männliche oder weibliche Gesellen, die beispielsweise in Aachen wohnen, können in Deutschland keinen Das wäre schlecht. Aber das Motto „Was einmal gesagt Handwerksbetrieb gründen. Dagegen können ihre Kolle- wurde, gilt immer“ gilt in der Politik nicht in Bezug auf die Instrumente. ginnen und Kollegen aus dem benachbarten Belgien oder Holland hier einen Betrieb eröffnen. Man könnte Über die Grundwerte kann man mit mir nicht ver- vielleicht den deutschen Gesellen empfehlen, nach Bel- handeln. Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit bilden gien oder Holland zu ziehen, um dort einen Betrieb zu die Messlatte für das, was wir tun. Auch die Ziele sind gründen und von dort aus ch au in Deutschland einen klar: Wir wollen dauerhaften Wohlstand und einen dau- Handwerksbetrieb aufbauen zu können. Was für ein Irr- erhaften Sozialstaat für dieses Land. Aber darüber, wie sinn! diese Ziele zu erreichen sind, darf und muss man mitein- ander streiten. Genau das machen wir zurzeit. (Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/ CSU]: Das stimmt ja gar nicht!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wer es mit Europa ernst meint, Herr Hinsken, muss wissen: Wenn es um die kunftsfähigkeit Zu der Euro- Was ist seit dem 14. März passiert, Frau Merkel oder päischen Union geht, dann müssen gleiche Berufs- und – ersatzweise – Herr Glos? Lebenschancen für die jungen Menschen in Deutsch- (Michael Glos [CDU/CSU]: Doppelpack!) land wie auch in den anderen europäischen Ländern 5022 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Franz Müntefering (A) geschaffen werden. Sie aber verteidigen alte Bestände. jeder Kleinigkeit zum Sozialamt rennen, was unwürdig (C) Sie stehen in der konservativen Ecke. wäre. Alle Leistungen, auf die ein Sozialhilfeempfänger Anspruch hat, sollen deshalb in einem Betrag ausgezahlt (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das stimmt werden. nicht!) Das, was Sie immer wieder beschreien – nämlich Offen- Das waren bislang acht Gesetzentwürfe. Im Oktober heit, Liberalität und Flexibilität –, fehlt Ihnen an dieser dieses Jahres werden zwei weitere hinzukommen, die Stelle, Herr Westerwelle und Herr Hinsken. die Pflegeversicherung und die Rentenversicherung betreffen werden. Zur Rentenversicherung habe ich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schon eben etwas gesagt. Deshalb nur so viel: Die hier DIE GRÜNEN) anstehenden Entscheidungen sind schwierig. Das gilt auch für die Pflegeversicherung. Für beide Versiche- Wir haben gerade den Gesetzentwurf zum Vorziehen der Steuerreform von 2005 auf 2004 vorgelegt. Da-rungsbereiche müssen wir Entscheidungen treffen, die rüber ist hier wie auch über die Sinnhaftigkeit und das mittel- und langfristig tragen. Ich sage ganz deutlich: Bemühen, das vorhandene Wachstum zu unterstützenKeine Entscheidung für 50 Jahre! Man muss immer wie- und ihm zusätzliche Luft unter die Flügel zu geben, ge- der einmal nachsteuern. Wir müssen etwas schaffen, was sprochen worden. über das aktuelle Jahrzehnt hinausweist. Wir nehmen das ernst, was die Rürup-Kommission vorgelegt hat. Das ist Wir beraten in diesen Tagen und Wochen über die Ge- nämlich eine beachtliche Grundlage. Das möchte ich an- meindefinanzreform. Wir sind dabei, zu prüfen undgesichts dessen, was schon zu den Vorschlägen dieser auszuloten, wie das, was bereits vorliegt, optimiert wer- Kommission gesagt worden ist, ausdrücklich betonen. den kann. Es geht darum, dass die Gemeinden schnell, Es lohnt sich, die Vorschläge dieser Kommission zu le- deutlich und nachhaltig entlastet werden und so zusätz- sen und sie sich in Ruhe zu Gemüte zu führen. Das heißt liches Geld bekommen. Denn wir alle sind uns sicherlich nicht, dass wir alles umsetzen werden, was vorgeschla- einig, dass in den Kommunen viele Investionen brach- gen worden ist. Aber es ist sinnvoll, sich auf die bevor- liegen, die eigentlich getätigt werden müssen. Übrigens stehenden Entscheidungen, die die Rentenversicherung sollten die Investitionen zielgenauer an die kleinen und betreffen, gut vorzubereiten. Das gilt für die Pflegeversi- mittleren Unternehmen vor Ort gegeben werden. cherung in gleicher Weise. Wir alle sind froh über die großen Investitionen auf Die Menschen leben im Schnitt länger. Wir klopfen der Bundesebene, über die 25 Milliarden bis 26 Milliar- auf Holz und hoffen, dass auch wir sehr alt werden. Aber den Euro. Aber das betrifft Aufträge, die europaweit aus- wir wissen, dass viele Menschen, die 85 oder älter sind, (B) geschrieben werden müssen. Man weiß also vorherin sehr starkem Maße der Pflege bedürfen, während nur (D) nicht, woher das Unternehmen kommt, das den Auftrag 7 bis 8 Prozent der unter 85-Jährigen auf unmittelbare erhält. Außerdem geht es hier um Aufträge, für deren Er- Hilfe angewiesen sind. Das Problem ist, dass die Pflege füllung man große Maschinen benötigt. Die Kommunen nicht mehr wie früher hauptsächlich im Familienverbund haben aber die Möglichkeit – sofern sie über die notwen- geleistet werden kann. Schließlich kann man den Ange- dige Investitionskraft verfügen –, in kleinen Losen aus- hörigen das nicht immer zumuten. Man weiß sehr genau, zuschreiben und dafür zu sorgen, dass die kleinen und dass diejenigen, die zu Hause einen Bettlägerigen pfle- mittleren Unternehmen vor Ort die Aufträge erhalten. gen, eher in eine Klinik kommen als die Pflegebedürfti- Genau das wollen wir: Die Arbeit, die es vor Ort gibt, gen. Pflegen ist nun einmal nicht leicht. Deshalb muss soll auch vor Ort getan werden können. Wir wollen hier man hier vernünftige Lösungen finden. etwas bewegen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir wollen außerdem die Gewerbesteuer nicht auf- Ich möchte noch nicht andeuten, was wir vorschlagen geben. Im Gegenteil: Sie soll bestehen bleiben; denn sie werden. Nur so viel: Es wäre gut, wenn wir uns in die- ist eine wichtige Verbindung zwischen den Kommunen sem Hohen Haus darauf verständigten, dass menschen- und den Unternehmen. Es ist gut, wenn man weiß, dass würdige Pflege ein Menschenrecht ist. Das darf bei al- man aufeinander angewiesen ist. Deshalb sollte das be- lem, über das wir entscheiden werden, nicht auf der stehende Band zwischen Kommunen und Unternehmen Strecke bleiben. nicht zerschnitten werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Was wollen wir mit der Agenda 2010, dem vorliegen- Wir haben des Weiteren den Entwurf eines Gesetzes den Haushaltsentwurf und dem Haushaltsbegleitgesetz zur Reform des Sozialhilferechts eingebracht, über den erreichen? Ich möchte das an ein paar Dingen deutlich in der Öffentlichkeit bislang wenig diskutiert worden ist. machen. Wir wollen zum Beispiel erreichen, dass alle Es geht hierbei im Wesentlichen um Entbürokratisierung Jugendlichen Arbeit bzw. Ausbildung haben. und insbesondere darum, dass zukünftige Sozialhilfe- empfänger das, was ihnen zusteht, in Form eines indivi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ duellen Budgets erhalten. Sie müssen also nicht wegen DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5023

Franz Müntefering (A) Dazu ist sicherlich schon etwas gesagt worden. Ich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) möchte aber unterstreichen, wie wichtig es ist, dass wir DIE GRÜNEN) die jungen Menschen nicht von der Schulbank in die Ar- Dass diese jungen Menschen eine Chance haben, das beitslosigkeit schicken. Herr Ludwig Georg Braun, der wollen wir; das ist die beste Lösung, die man sich vor- Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammer- stellen kann. tages, hat in einem Schreiben an uns Abgeordnete fest- gestellt – wir alle haben es bekommen –, dass es ein Manche unterstellen uns etwas anderes, nämlich dass Skandal sei, dass nach wie vor jedes Jahr rund 90 000 wir vorhaben, die Ausbildung der jungen Menschen zur Schüler die Schule ohne Abschluss verlassen. Hier seien Staatsaufgabe, zur Pflicht für den Bund oder für die Län- insbesondere die Länder und Kommunen gefordert;der, zu machen. Das entspricht aber nicht unserer Interes- denn Betriebe könnten zwar vieles, dürften aber nicht senlage. Wir wollen, dass das duale Ausbildungssystem die Reparaturbetriebe der Nation für Versäumnisse von funktioniert. Die Ausbildung, die in einer Kombination Schule und Elternhaus sein. Herr Braun hat Recht: Das von Berufsschule und Arbeit im Betrieb besteht, ist das ist ein sehr wichtiger Gesichtspunkt. Beste, was wir haben. Daraus ist übrigens auch die deut- sche Facharbeiterschaft gewachsen. Es gibt unterhalb der Gruppe, über die wir reden, wenn wir über Ausbildungsplätze sprechen, eineAm schlimmsten finde ich das, was ich vom Zentral- Gruppe, die überhaupt keine Chance hat, an Ausbildung verband des Deutschen Handwerks höre. Man will uns heranzukommen: Es sind diejungen Menschen ohne geradezu bestrafen. Dieser Verband sagt: Wenn ihr die Schulabschluss – 6 bis 8 Prozent –, die durch weitere Handwerksordnung ändert, dann werden wir nicht mehr Vorbereitungen in Qualifizierungsmaßnahmen der ver- so viele Jugendliche einstellen. – Was ist das für eine zy- schiedensten Art in Hilfskonstruktionen vermittelt wer- nische Einstellung? Das kann ich nicht akzeptieren. den. Auch dabei darf es cht ni bleiben. Herrn Brauns (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Aufforderung, dass wir uns Gedanken darüber zu ma- DIE GRÜNEN) chen haben, wie wir erreichen können, dass nicht so viele die Schule unfertig verlassen, werde ich nicht wi- Klar sein muss aber auch Folgendes: Bis Ende Sep- dersprechen. tember, Anfang Oktober werden wir uns bemühen, Dinge in Bewegung zu setzen. Wenn nicht genügend Bei aller Wertschätzung für ihn will ich doch feststel- Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen, dann werden len, dass nur etwa 30 Prozent aller Betriebe überhaupt wir uns auch an dieser Stelle melden, auch mitgesetz- ausbilden. Wenn die Tatsache, dass 90 000 Schüler die geberischen Vorschlägen. Diese Vorschläge sollten Schule unfertig verlassen, ein Skandal ist, dann ist es möglichst im Einklang mit den Unternehmen, mit den (B) auch ein Skandal, dass es die Unternehmen in Deutsch- Kammern und mit den Branchen entwickelt werden.(D) land nicht zustande bringen, die im Augenblick nochFest steht: Wir werden dann Vorschläge machen. vorhandene Lücke zu schließen. Dazu, dass von Frau Merkel und auch aus der FDP (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ immer wieder der Hinweis kommt, man dürfe mit den DIE GRÜNEN) Unternehmen so nicht umgehen, sage ich: Ja, das ist klar. Zuallererst müssen wir allerdings die Interessen der Das Angebot an Ausbildungsplätzen ist in den beiden Mädchen und der Jungen berücksichtigen, die mit 16 letzten Jahren von 600 000 auf 510 000 zurückgegangen. oder mit 17 die Schule verlassen. Es darf nicht so sein, Die Anzahl der nicht Versorgten ist zwischen demdass man sie zur Seite nimmt, um ihnen zu sagen: Du 31. Juli 2002 und dem 31. Juli 2003 um 35 000 gestie- hast zwar auf der Schule gelernt; aber es gibt leider kei- gen. Ich begrüße, dass sich viele sich von uns, Mitglieder nen Ausbildungsplatz für dich. der Bundesregierung und Abgeordnete, gemeinsam mit den Unternehmen – ein Teil der Unternehmen ist gutwil- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lig; ich will die Unternehmen gar nicht pauschal angrei- DIE GRÜNEN) fen – bemühen, die vorhandene Lücke zu schließen,Wir vertreten in erster Linie deren Interessen. Das hat indem sie dafür sorgen, dass die erforderlichen Ausbil- Vorrang. dungsplätze noch zur Verfügung gestellt werden. Diese Lücke umfasst im Ergebnis etwa 30 000 Ausbildungs- Mit dem Haushaltsgesetz 2004 und mit den Gesetzen plätze, vielleicht ein paar mehr oder weniger. Angesichts zur Agenda 2010 wollen wir erreichen, dass alle Kinder eines Angebots von 510 000 Ausbildungsplätzen geht es gleiche Bildungschancen haben. Der Bund wird den darum, dass etwa 6, 7 oder vielleicht 8 Prozent der jungen Kommunen in dieser Legislaturperiode – freiwillig – Menschen noch nicht versorgt sind. 8,5 Milliarden Euro für die Verbesserung des Ganztags- angebots für die Betreuung von unter Dreijährigen und Wenn es die deutsche Wirtschaft – den öffentlichen von Kindern in Grundschulen zukommen lassen. 8,5 Mil- Bereich zähle ich dazu – in einer solchen Ausgangssitua- liarden Euro, das ist eine stolze Zahl. Es liegt vielleicht an tion – der Versorgungsgrad liegt bei etwa 94 Prozent – uns, dass wir darüber nicht genug sprechen und bewusst im September und im Oktober nicht zustande bringt, die machen, worum es dabei eigentlich geht. Es geht dabei restlichen 6 Prozent zu versorgen, dann liegt dem, so be- nicht um Klein-Klein, sondern darum, dass wir den Kom- haupte ich, ein fehlender Wille zugrunde. Wenn jeder ein munen bei der Bewältigung einer riesigen Aufgabe, vor bisschen dazutut, dann muss es möglich sein, auch die- der wir stehen, Hilfestellung geben. Wenn immer mehr sen jungen Menschen eine Chance zu geben. Eltern tagsüber keine Zeit haben, ihre Kinder zu 5024 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Franz Müntefering (A) betreuen, dann ist es umso wichtiger, dass diese Kinder 55 sind, überlegen sich, wie man am schnellsten raus(C) die Chance haben, in Ganztagseinrichtungen zu gehen. kann. Das geht nicht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Bei allem, was wir zu Arbeitsmarkt und Rente zu dis- kutieren haben, müssen wir sehen: Die Frage ist nicht, Nicht alle Eltern werden das wollen. Es wird Situatio- wann und wie man die Altersgrenze auf über 65 anheben nen geben, in denen diese Betreuung nicht möglich ist. kann, sondern die Frage ist, wie man und wann man mit Wir haben uns vorgenommen, in diesem Jahrzehnt dafür welchen Instrumenten dafür sorgt, dass die Leute nicht zu sorgen, dass alle unter Dreijährigen und alle Grund- mehr mit 55 mit einem Sozialplan nach Hause und mit schüler, deren Eltern das wollen, die Chance haben, eine 60 in die vorgezogene Rente geschickt werden. Da liegt Ganztagsbetreuungseinrichtung zu besuchen. Wir wer- der Hase im Pfeffer. Da müssen wir ran. Da müssen wir den dieses Vorhaben nicht in dieser Legislaturperiode al- für Veränderung sorgen. lein umsetzen können. Wir wollen es in diesem Jahr- zehnt schaffen. Die Umsetzung dieses Vorhabens wäre (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eine große gesellschaftliche Innovation. DIE GRÜNEN) Dies ist eine Idee, die im Hinblick auf die Bildungschan- Diese 55- und 60-Jährigen sind übrigens die deutsche cen der Kinder großartig ist und die auch für die Verein- Facharbeiterschaft, die „Made in “ geschaffen barkeit von Familie und Beruf unendlich wichtig ist. Da- und dafür gesorgt hat, dass Deutschland unter diesem bei geht es um eine große politische Vision. Markenzeichen einen guten Namen in der Welt be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kommen hat. Die laufen nicht mehr so schnell wie die DIE GRÜNEN) 25-Jährigen, aber sie haben Wissen, Erfahrung und Kön- nen und werden weiß Gott noch gebraucht. Es ist ein Wenn man nicht aufpasst, dann geht das im Klein-großer Fehler gewesen, dass wir in dieser Gesellschaft in Klein des Alltags unter. Man sitzt in Runden beieinander den letzten Jahren diesen Weg gegangen sind. – Bund, Länder und Gemeinden – und hat nach einer halben Stunde den Eindruck: Es geht nur noch um die (Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr! End- Frage, wer eigentlich wem welches Geld aus der Tasche lich stimmt mal was!) ziehen kann und wer eigentlich wo Zuständigkeiten hat. Ich will dieses Beispiel mit den Bildungschancen für die Wir wollen, dass der Solidarpakt Ost steht. Bei all- Kinder zum Anlass nehmen, noch einmal zu sagen: Wir dem, was wir über den Haushalt und über die Frage, wie müssen darüber sprechen und müssen Entscheidungen man ihn in Zukunft noch knapper schneiden kann, zu treffen, damit wir in den Anstrengungen im Hinblick auf diskutieren haben, muss unter uns eines klar sein – da- (B) die gesellschaftspolitischen Herausforderungen, vor de- rüber ist aus verschiedenen Anlässen schon gesprochen (D) nen wir stehen, in der Vielfalt und in der Komplexität so- worden; bei uns ist das klar –: Wir werden an der verein- wie in den Verpflichtungen unserer föderalen Ebenenbarten Regelung zum Solidarpakt nichts verändern. Das nicht aufgehalten werden. Die großen politischen Ideen heißt, die Länder im Osten der Bundesrepublik Deutsch- müssen durch alle föderalen Ebenen hindurch getragen land und die Gemeinden dort können verbindlich damit werden können. Daran müssen wir arbeiten. Da müssen rechnen, dass bis tief ins nächste Jahrzehnt hinein die wir in Deutschland besser werden. Solidarität in dieser Gesellschaft gilt. Es ist wichtig, dass man das einmal feststellt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wir wollen mit dem, was wir tun, dafür sorgen, dass die 50-, 55- und 60-jährigen Arbeitnehmer nicht mehr Wir wollen erreichen, dass Arbeitnehmer und Unter- abgeschoben werden. Das Abschieben entspricht einer nehmer ihre Interessen auch zukünftig wirkungsvoll or- Mentalität, die sich in den 90er-Jahren ausgebreitet hat. ganisieren können. Unsere Gesellschaft hat in der alten Wir haben da nicht immer klug gehandelt, Sie von der Bundesrepublik und auch in den vergangenen 13 Jahren Opposition auch nicht; vielleicht sollten Sie das einmal gut damit gelebt, glauben wir, dass sich auf der Arbeit- zugeben. Die Ideen, die es da gab – ganz lange Arbeits- geber- und auf der Arbeitnehmerseite an Tischen Leute losengeld zahlen und mit kleinen Sozialplänen die Men- gegenübersitzen, die was im Kreuz haben, und Dinge schen mit 60 in die Frühverrentung schicken –, sind von aushandeln, die für ihr Unternehmen, für ihre Branche, Ihnen gekommen. Es war damals nur eine Organisation, für ihre Region und für das ganze Land wichtig sind. die dagegen protestiert und sogar geklagt hat. Das war Deshalb muss bei allem, was an Flexibilität am Arbeits- meine IG Metall. So verkehren sich die Fronten auf der markt möglich und nötig ist, was in vielen Branchen und Strecke. Die IG Metall hat richtigerweise gesagt: Mitin vielen Betrieben, besonders in Ostdeutschland, auch dem, was ihr da macht, sorgt ihr dafür, dass mit Beiträ- passiert, eines im Blick bleiben: Wir müssen dafür sor- gen aus der Arbeitslosenversicherung die Personalpolitik gen, dass bei allen Entscheidungen, die wir treffen, eines der großen Unternehmen unterstützt wird. – So ist das unmissverständlich klar bleibt: Arbeitnehmer und Ar- passiert. beitgeber begegnen sich auf gleicher Augenhöhe. Das darf sich nicht verschieben. Das Endergebnis ist, dass heute in Deutschland die Mentalität vorherrscht: Die, die über 50 sind, können für (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die Arbeit nicht mehr gebraucht werden. – Die, die über des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5025

Franz Müntefering (A) Im Letzten ist Wirtschaft – das ist nur bedingt eine Frage Franz Müntefering (SPD): (C) des Standpunktes – für die Menschen da und nicht um- Ich möchte den Gedanken zunächst zu Ende bringen. gekehrt. Daran werden wir uns bei all unseren zukünfti- Danach gerne, Herr Kollege. gen Entscheidungen messen lassen. Es wäre eine falsche Entscheidung – davon bin ich fest überzeugt –, wenn wir Wenn wir in den nächsten Wochen und Monaten über in Deutschland einen Weg einschlagen würden, der die Rente, über Nachhaltigkeitsfaktor und Generationenge- Wirtschaft total individualisiert. Eine solche Forderung rechtigkeit sprechen, dann muss uns klar sein – das müs- höre ich ja bei der FDP immer wieder heraus. Derensen wir auch in der Debatte nach außen vermitteln –, Botschaft lautet: Wenn jeder für sich selbst sorgt, dann dass nicht so wichtig ist, ob in dem Gesetz von 67 Pro- ist für alle gesorgt. zent, 60 Prozent oder 50 Prozent die Rede ist, sondern wichtiger ist die Antwort auf die Frage: 67 Prozent bzw. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Ein Quatsch!) 60 Prozent von was? Wenn im Jahre 2020 bzw. 2030 in Deutschland das gleiche Wohlstandsniveau wie heute – Das ist Quatsch. Das sehen Sie völlig richtig. Abervorherrscht – wir sind nicht zu reich, aber wir sind wohl- dann lassen Sie solche Sprüche auch sein. habender als vor 20 oder 50 Jahren; das wissen wir alle miteinander –, dann werden die Alten und die Jungen in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wohlstand leben können und wir müssen nur über die DIE GRÜNEN) gerechte Verteilung streiten. Wenn es aber anders käme, dann hätten sowohl die Alten wie die Jungen weniger. Wir wollen erreichen, dass dieses Land wieder fähi- Das muss man wissen, aber das hat sich in der politi- ger wird, technische Innovationen zu entwickeln, sie in schen Diskussion noch nicht durchgesetzt. Wer die Sub- Arbeitsplätze umzumünzen und damit die Zukunftsfä- stanz des Sozialstaates erhalten will, wer soziale Gerech- higkeit unseres Landes zu sichern. Auch das ist im Übri- tigkeit auf hohem Niveau will, der muss dafür sorgen, gen Gegenstand der Agenda 2010. Dass darüber nicht dass es bei diesem hohenNiveau bleibt. Das heißt, gesprochen wird, liegt an uns, aber auch an anderen. Der Wohlstandssicherung muss durch Investitionen in Bil- Bundeskanzler hat nämlich in der Agenda 2010 klarge- dung, in Qualifizierung und durch technologische und stellt, dass der Zuschlag für die Großforschungseinrich- gesellschaftliche Innovationen erarbeitet werden. Daran tungen ab 2004 weiter erhöht wird und die Frage, wie werden wir in dieser Legislaturperiode arbeiten müssen. wir uns in Deutschland zu technologischen und auch ge- sellschaftlichen Innovationen stellen, eine Grundfrage in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE Bezug auf die Sicherung der Zukunftsfähigkeit unseres GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU) Landes ist. Hier müssen wir aufholen. – Ihre munteren Hinweise deuten darauf hin, dass wir darüber sprechen können. (B) Ich habe es schon woanders gesagt, möchte es hier (D) aber noch einmal wiederholen, da ich es an diesem Pult Herr Hinsken, wenn Sie jetzt noch eine Zwischen- noch nicht gesagt habe: Die schlimmste Botschaft der frage stellen möchten, lasse ich sie gerne zu. letzten Jahre lautete doch, dass seit dem Jahr 2001 mehr Hochtechnologie nach Deutschland eingeführt als aus- Ernst Hinsken (CDU/CSU): geführt wurde. Sie können natürlich jetzt sagen – auf Werter Herr Müntefering, es passt vielleicht jetzt so- diesen Einfall kommen Sie bestimmt –, dass wir da re- gar noch besser, als es vor fünf Minuten gepasst hätte. – giert haben. Aber wir müssen wohl nicht lange darüber Sie haben ja für Ihre Fraktion eine richtungsweisende streiten, dass diese Entwicklung schon in den 90er-Jah- Rede gehalten. ren einsetzte. Damals ist zu wenig in diesem Bereich in- vestiert worden. Wir haben also alles zusammengekratzt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und der Bildungs-, Forschungs- und Wissenschafts- DIE GRÜNEN) ministerin in der letzten Legislaturperiode 25 ProzentIch habe aufmerksam zugehört, auch wenn ich nicht alle mehr zur Verfügung gestellt. Dieser Weg wird fortge- Ihre Ansichten teile. setzt. Das hat der Kanzler heute hier unterstrichen. Auch ich will für die Fraktion ausdrücklich noch einmal fest- Meine Frage an Sie lautet nun: Haben Sie deshalb die Außenpolitik ausgeklammert, weil es der Vizekanzler stellen: Wer über Altersversorgung und Zukunftssiche- und Bundesaußenminister vorzieht, über eine Stunde im rung des Landes spricht, der muss wissen, dass wir einen Restaurant zu sitzen, statt dem Führer der größten Frak- Teil dessen, was wir heute erwirtschaften, in die Köpfe tion zuzuhören, um mitzubekommen, welche Vorstellun- und in die Herzen der Jungen investieren müssen: in gen Sie haben? Ausbildung, in Bildung, in Forschung und Technologie, in neue Unternehmen. Damit sichern wir die Zukunftsfä- (Widerspruch bei der SPD) higkeit Deutschlands. Franz Müntefering (SPD): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Darüber machen Sie sich mal keine Sorgen. Wir sit- zen so oft beieinander und sprechen so oft miteinander, dass er alles, was ich hier gesagt habe, schon weiß. Da Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: können Sie ganz sicher sein. Herr Kollege Müntefering, gestatten Sie eine Zwi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schenfrage des Kollegen Hinsken? DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ 5026 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Franz Müntefering (A) CSU]: Das ist beim Kanzler nicht der Fall, Weil Herr Hinsken eben angesprochen hat, dass er zu- (C) oder? – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Des- hört, aber möglicherweise nicht alles, was ich sage, teilt, wegen sitzt der Kanzler jetzt hier!) will ich auch dazu ein offenes Wort sagen, was vielleicht ungewöhnlich ist. Manchmal wird mir gesagt: Du sagst Mich hat nur erschreckt, dass Sie mich „Führer“ genannt etwas, das könnte auch von der CDU oder von der FDP haben. Das ist für mich ein schwieriges Wort. sein. Ich sage dann: Das stört mich nicht. Das, was wir in (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des diesem Haus zu leisten haben, ist nicht die Antwort auf BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die Frage, wer sich von wem durch was unterscheidet, sondern vielmehr die Antwort auf die Frage, was für die- Ich will abschließend noch kurz ein Kapitel anspre- ses Land nötig ist. chen, das man in der Politik ernst nehmen muss. Man muss nicht nur gute Politik machen, sondern man muss (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ auch verstehen, sie zu vermitteln. Dabei gibt es Schwie- DIE GRÜNEN) rigkeiten, weil in einer Situation, in der es acht Gesetz- Wir haben, demokratisch legitimiert, die Aufgabe, in entwürfe gibt, zwei weitere Gesetze vorbereitet werden diesem Land Politik zu machen. Das tun wir. Falls Sie, und über das Haushaltsgesetz diskutiert wird, in der Öf- aus welchen Gründen auch immer, ab und zu derselben fentlichkeit nicht immer unterschieden wird und auch Meinung sein sollten wie wir und etwas eigentlich doch nicht unterschieden werden kann: Ist das jetzt eine Idee? ganz gut finden, dann werfen Sie Ihr Herz über die Ist es ein Vor-Vorschlag? Ist es ein Vorschlag? Ist es ein Hürde und machen Sie dabei mit. Dann bekommen wir Entwurf? Ist es ein Referentenentwurf? Ist es ein Be- vernünftige Gesetze, denen auch im Bundesrat zuge- schluss? Ist es ein Gesetz? stimmt wird. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Frau Merkel, Sie haben von den zweiten Gründerjah- Das wissen Sie manchmal selber nicht!) ren der Republik gesprochen. Ich glaube, das ist nicht Oft steht etwas in großen Buchstaben auf Seite 1 einer ganz verkehrt, darin steckt ein Stückchen Wahrheit. großen Zeitung und die Menschen glauben, das sei (Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Eine Har- schon beschlossen, obwohl es möglicherweise dann monie ist das heute!) noch anders kommt. Wenn das aber so ist, dann war das, was Sie heute Mor- Ich finde, dass man mit der Situation offen umgehen gen vorgetragen haben, zu wenig. muss. Es stellt sich die Frage, ob man versucht, alles heimlich, still und leise vorzubereiten, oder ob man eine (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) öffentliche und offene Debatte führt. Ich kann mir nur (D) vorstellen, dass man die Debatte offen führt. Ich finde, Wir hören ganz gespannt zu, was Sie zu den Gründerjah- es gereicht der Koalition sowie meiner Partei und meiner ren, die jetzt in Deutschland vor uns liegen, zu sagen ha- Fraktion zur Ehre, dass wir in der Lage sind, solche Dis- ben. Vor allen Dingen geht es darum – das fehlte in Ihrer kussionen offen zu führen mit der klaren Zielrichtung, Rede völlig –, Zuversicht zu vermitteln in die Gestalt- irgendwann in der Fraktion und im Deutschen Bundes- barkeit der Dinge und in die Zukunft, Zuversicht für die tag Entscheidungen zu treffen, damit dann das gilt, was nächsten Jahre. Das ist der Kern all dessen, worauf wir wir gemeinsam beschlossen haben. So muss das laufen uns stützen können. und so wird es in den nächsten Monaten auch sein. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das ist der Kern bei all den Problemen und bei all den Man muss einfach zugeben, dass es objektiv schwie- Sorgen, die wir haben, auch bei all dem Streit, den wir rig ist, Entscheidungen zu treffen, die ökonomisch ver- um die richtigen Schritte an der einen oder anderen nünftig, finanzwirtschaftlich notwendig und sozial ge- Stelle zu führen haben. recht sind. Es ist ja nicht eine Frage des guten Willens, wie das aufeinander wirkt. Einige der Gesetze, über die Dieses Land Deutschland ist stark, hat tüchtige Unter- wir jetzt sprechen, haben viele Schnittmengen zueinan- nehmer und tüchtige Arbeitnehmer, der. Wir werden Ende des Jahres das Puzzle wirklich zu- ( [CDU/CSU]: Aber eine sammenlegen und das Gesamtbild erkennbar machen schlechte Regierung!) können. es hat ein gutes Bildungssystem, es hat hohe Mobilität, Ich bin mir der Komplexität der derzeitigen Situation es hat Erfahrung, es hat auch Entwicklung. Dieses Land bewusst. Wir alle müssen zur Orientierung beitragen.ist in der Lage, seinen Weg gut nach vorne zu gehen. Das Dabei stellt sich auch die Frage, was Demokratie leisten werden wir tun. Dazu werden die Schritte, die wir in die- kann und leisten will. Wir müssen den Menschen deut- sem Jahr gehen, ganz wesentlich beitragen. lich machen, was wir wollen, wohin die Reise geht, aber man muss auch über Einzelheiten und Feinheiten mitei- Herr Glos hat am Anfang seiner Rede auf die Ent- nander sprechen dürfen. scheidung im vorigen Jahr hingewiesen. Dazu sage ich zum Schluss: Noch heute vor einem Jahr, am 10. Sep- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Da haben Sie tember 2002, zwölf Tage vor der Wahl, haben mir Zei- aber noch viel zu tun!) tungen, wissenschaftlich untermauert, weismachen wol- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5027

Franz Müntefering (A) len, dass wir dieBundestagswahl auf keinen Fall längeren Lebenserwartung waren ihm genauso bekannt (C) gewinnen könnten. Wir haben sie aber doch gewonnen. wie uns. Er hat nicht die Wahrheit gesagt; das ist der Nun ärgern Sie sich und das freut mich. Kern. (Michael Glos [CDU/CSU]: Das glaube ich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ihnen sogar!) Nun diskutieren wir in diesen Debatten über die Folie Jedenfalls kündige ich Ihnen für das Jahr 2006 schoneines Haushalts, den Herr Peffekoven als schlechtesten einmal an – auch Frau Merkel hat darauf hingewiesen; Haushaltsentwurf in der Geschichte der Bundesrepublik vermutlich wird sie am 11. Januar wieder irgendwo zum Deutschland bezeichnet hat. Frühstück eingeladen sein und etwas unterschreiben müssen –, (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Recht hat er!) ( [CDU/CSU]: Ist dann wie- Dieser schlechteste Entwurf ist zustande gekommen der Hochwasser?) durch den stetigen Kampf der Sozialdemokraten mit der Wirklichkeit in ihrer zweiten Legislaturperiode. Sie ha- dass dann wieder das Gleiche wie 2002 stattfinden wird. ben nicht Fehler gemacht, sondern sie haben die Wirk- Wir wissen, dass wir bei der Aufgabe, die wir jetzt über- lichkeit nicht zur Kenntnis nehmen wollen nommen haben, nicht in jedem Augenblick Volkes Lieb- ling sein können. Das müssen wir auf einer gewissen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Strecke aushalten. Aber das, was wir beschließen und voranbringen, wird die Anerkennung der Menschen in und diejenigen, die die tatsächliche Lage öffentlich be- diesem Lande finden. Da bin ich ganz zuversichtlich. Sie schrieben haben, beschimpft. werden sehen, dass die Sozialdemokraten im Jahre 2006 Als wir damals in BonnSubventionsabbau vorge- weiterregieren werden. schlagen haben, haben sich Herr Fischer und Herr Vielen Dank und Glück auf. Lafontaine – nach dem Modell: verhinderter Arbeiter- führer – gar nicht schnell genug zu der Kundgebung der (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem Kumpels aus dem Ruhrgebiet begeben können und die- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos sen wider besseres Wissen in Kenntnis des Alters der [CDU/CSU]: Das glauben Sie doch selber Belegschaften und der Stellung der Kohle in der Zukunft nicht!) Zusagen gemacht, die zulasten des Steuerzahlers gingen und unredlich waren, wie sich herausgestellt hat. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (B) Das Wort hat der Herr Kollege Dr. Wolfgang (D) Gerhardt, FDP-Fraktion. Herr Eichel hat davon gesprochen, man müsse jetzt wegen der Kurspflege vorsichtig Privatisierung betrei- Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): ben. Einverstanden. Ich will aber daran erinnern: Als wir Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist erwähnt haben, dass man Privatisierung haben müsse, immer wieder ein schönes Zeichen parlamentarischerdass man Post, Bahn und die Energiemärkte privatisie- Gepflogenheiten, dass, wenn ein Redner aus der Opposi- ren müsse, mussten wir uns den härtesten Vorwürfen aus tion in einer der wichtigsten Debatten zum Schicksals- den Reihen der Sozialdemokraten stellen, obwohl sie buch der Nation ans Rednerpult tritt, nahezu die Hälfte auch schon wussten, dass kein Weg daran vorbeiführt. der SPD-Abgeordneten den Raum verlässt. Es war kein Argument zu klein, um es nicht zu erwäh- nen. Das ging bis hin zu dem Vorwurf von ausgewachse- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu- nen heutigen Regierungsmitgliedern, das seien dann ja ruf von der SPD: Oder umgekehrt bei der nur die Telekom-Rosinenpicker, die die Grundversor- CDU! – Walter Schöler [SPD]: Von der FDP gung für die Großmutter im Bayerischen Wald nicht si- sind 14 Abgeordnete anwesend!) cherstellen würden. Diese hatte vom Enkelkind schon Das gehört nicht zum guten Stil. Das sage ich geradelängst ein Handy geschenkt bekommen, als das von So- deshalb, Herr Kollege Müntefering, weil Sie über einige zialdemokraten noch vorgetragen wurde. Prinzipien gesprochen haben. Ich würde darauf gerne (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) eingehen, aber dazu ist die Zeit viel zu kurz. Sie reden über Wettbewerb. Das Folgende sage ich Eines möchte ich allerdings sagen, weil Sie die Wahl insbesondere in Richtung der Grünen. Sie sagen, wir 2006 angesprochen haben. Hier geht es nicht darum,seien nicht in ausreichendem Maße bereit, Wettbewerb dass die Kollegin Merkel, die Kolleginnen und Kollegen im Gesundheitswesen herzustellen, weil wir nicht die von der CDU/CSU oder wir von der FDPFehler ge- Courage hätten, den Abschluss von Einzelverträgen mit macht hätten. Unser Vorwurf bezieht sich nicht aufÄrzten zu ermöglichen. Diese Courage haben wir. Sie menschliche Schwächen oder Fehler. Unser Vorwurfmüssen nur auf Ihrer Seite die Courage haben, die ge- richtet sich zentral an den Bundeskanzler, der das, was er setzliche Krankenversicherung nicht weiterhin als Mo- in zwei Wahlkämpfen gemacht hat, nicht durch die Be- nopol bestehen zu lassen; zeichnung „Fehler“ beschönigen kann; denn die Daten bezüglich struktureller Veränderungen, der Globalisie- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten rungsprozesse, des demographischen Aufbaus und der der CDU/CSU) 5028 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Dr. Wolfgang Gerhardt (A) denn es geht nicht an, einen Monopolanbieter hinzustel- Debatte über Solidarität im Strukturwandel der Gesell- (C) len, der mit dem Abschluss oder Nichtabschluss eines schaft. Einzelvertrages über die Zukunft des freien Berufes Arzt in Deutschland entscheidet. Ich sage Ihnen: Wir sind verpflichtet – auch wir als Opposition –, alles daran zu setzen, damit Deutschland Wenn Sie die Beitragsbemessungsgrenzen zurückfüh- wieder stärker wird, im Übrigen nicht nur aus Gründen ren und die gesetzlichen Krankenkassen in einen Wett- der Wettbewerbsfähigkeit. Sie spüren doch, dass wir au- bewerb setzen, dann können wir über Einzelverträge re- ßen- und europapolitisch rasant an Gewicht verlieren. den. Früher hatten wir außenpolitisches Gewicht nicht we- gen der Teilnahme an Konferenzen und großer Rhetorik. Eine Bürgerversicherung – im Übrigen ist der Posten Von uns hat man etwas gehalten wegen der Nachkriegs- des Vorstandsvorsitzenden einer Bürgerversicherung der leistung und des Aufbauwillens der Bevölkerung. Das sicherste Job, den die junge Generation haben kann: alle hat uns international Reputation verschafft. Wenn wir müssen hinein, die Beiträge sind nicht transparent, sie das nicht ändern, dann nutzt die Teilnahme an Konferen- können erhöht werden und niemand kann heraus – ent- zen nichts. Wir sind heute das Problemkind in der Euro- spricht nicht unserer Vorstellung von einem freiheitli- zone. Früher wären wir Problemlöser Europas gewesen. chen und wettbewerblichen Gesundheitswesen. Da un- Das hat sich komplett verschoben. terscheiden wir uns. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP) Zum Abschluss: Es führt kein Weg, auch keine Erklä- Es kann gern die Möglichkeit zum Abschluss vonrung von guten Absichten und keine Beschreibung von Einzelverträgen geschaffen werden. Eröffnen Sie denZielen daran vorbei, dass die rot-grüne Bundesregierung Wettbewerb auf der anderen Seite. diesem Parlament einen Haushalt vorgelegt hat, der schon bei der Vorlage hinten und vorne nicht stimmt, Herr Kollege Müntefering, vielleicht können Sie ei- und zwar nicht in der Dimension früherer Haushaltsrisi- nen Moment zuhören; denn ich möchte Ihnen Folgendes ken, die es schon immer gegeben hat, sondern in zwei- sagen: Verwechseln Sie bitte nicht den Flächentarif mit stelliger Milliardenhöhe. Ich muss mich also fragen: Tarifautonomie. Das wäre eine Fehler. Tarifautonomie Welches Selbstverständnis muss diese Regierung haben, ist auch mit anderen Modellen als dem gegenwärtigen dass sie dem Parlament so gegenübertritt und einen sol- Flächentarif denkbar. chen Haushalt vorlegt? Das entspricht nicht im Entfern- Wenn Sie schon über Menschenwürde sprechen wie testen ihrem eigenen Anspruch. ich auch – da unterscheiden wir uns nicht –, dann sage (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (B) ich Ihnen, dass es für die Existenz von Arbeitsplätzen in (D) kleinen mittelständischen Betrieben in regional schwie- Den Haushalt müssen Sie sowieso noch korrigieren und rigen Zonen ein Gesichtspunkt der Menschenwürde ist, Ihre Ziele uns in Gesetzesform vorlegen. dass, wenn zwei Drittel der Belegschaft anders wollen Um auf die Situation der Kommunen einzugehen, als die Spitze der IG Metall, ihnen das der Deutsche Herr Minister Eichel: Sie wollen die Gewerbesteuer re- Bundestag auch ermöglicht. Das ist dann auch eine Not- vitalisieren. Wir halten das für problematisch. Wir sind wendigkeit. eher dafür, den Kommunen ein eigenes Hebesatzrecht zu (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) geben und sie deutlicher an der Umsatzsteuer zu beteili- gen. Sie könnten doch einmal Ihr Herz über die Hürde Der Zufall, der bei der Kombination unserer Erbanla- werfen und unserem Vorschlag zustimmen. Verantwor- gen waltet, macht uns alle einzigartig. Wir sind unter- tung zu zeigen heißt nicht, dass wir Ihren Vorschlägen zu- schiedlich, auch unterschiedlich leistungsfähig. Sie müs- stimmen müssen. Wenn wir die besseren Vorschläge ma- sen jetzt den demokratischen Sozialismus etwas beiseite chen, sollten Sie denen zustimmen. Also machen Sie es! schieben. Definieren Sie auch Solidaritätneu. Die größte Solidarität ist nicht die Größe der kollektiven Si- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. cherungssysteme in Deutschland. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der FDP) der CDU/CSU)

Die größte Solidarität, die jemand einem anderen unter Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dem Gesichtspunkt der Menschenwürde geben kann, ist seine eigene Leistungsbereitschaft, bevor er andere in Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Hermenau, Anspruch nimmt. Bündnis 90/Die Grünen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Deshalb ist die Solidarität nichts, was wir zwischen Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau unseren Parteien im großen Schlagabtausch diskutieren Merkel hat vorhin in ihrer Rede gesagt, England stünde müssen. Wir wissen doch alle, dass die alten solidari-besser da. Wissen Sie, Frau Merkel: England hatte in den schen Systeme nicht mehr tragen. Sie haben es erlebt. 80er- und 90er-Jahren Maggie Thatcher und wir hatten Sie machen doch den schmerzhaften Prozess in IhrerHelmut Kohl. In den 90er-Jahren waren Sie doch im Ka- Partei durch. Begeben Sie sich deshalb in eine offenebinett. Sie standen zwar im Schatten, aber Sie hätten Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5029

Antje Hermenau (A) zum Beispiel Herrn Blüm bei seiner Volksverdum-prozyklischen Geschichte haben wir schon seit Jahr-(C) mungskampagne „Die Rente ist sicher!“ stoppen kön- zehnten zu hohe Beiträge zur Krankenversicherung, zur nen, wenn Sie damals so viel Verantwortung gezeigt hät- Rentenversicherung und zu hohe Ausgaben für die Fi- ten, wie Sie heute eingefordert haben. Das haben Sienanzierung der Arbeitslosigkeit. Diese Tatsache holt uns aber nicht gemacht. Sie geben auch keinen Fehler zu und in regelmäßigen Abständen ein. Die Folge ist eine hohe machen außerdem nicht den Eindruck, dass Sie einen Er- Neuverschuldung, wenn wir daran nicht arbeiten. Des- kenntnisgewinn gehabt haben. wegen muss das strukturelle Defizit abgebaut werden und deswegen brauchen wir die jetzt anstehenden Struk- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wo ist bitte turreformen. das Sachargument?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich erinnere mich sehr wohl daran, dass ein jüngerer Kollege der CDU/CSU-Fraktion, der Kollege Storm, erst Ich kann versuchen, für Leute, die sich nicht jeden dann die Chance bekam – nämlich im Frühjahr 1998 –, Tag mit diesen Fragen beschäftigen, einmal weniger den demographischen Faktor in die Rentenversiche- ökonomisch zu argumentieren. Was hat es mit dem rung einzuarbeiten und damit Herrn Blüm auf das histo- Strukturumbau auf sich? Ich vergleiche die Situation rische Abstellgleis zu setzen, als Herr Kohl die Wahlmit der einer Familie. Eine Familie hat zum einen mo- 1998 verloren gab. Das sind Ihre Reformanstrengungen. natliche Fixkosten und zum anderen hat sie Ausgaben Sie haben Reformen nur angekündigt. Dann wurden Sie für Dinge, die nicht unbedingt notwendig sind. Wenn auf sozusagen erlöst und mussten sie nie durchsetzen. Das einmal das Einkommen der Familie sinkt, dann kann ist die Wahrheit. man schlecht etwas an den monatlichen Fixkosten än- dern. Die Miete und die Stromrechnung müssen nämlich (Michael Glos [CDU/CSU]: Ei verbibsch!) bezahlt werden. Wenn das Familieneinkommen zurück- geht, haben sie natürlich die Möglichkeit, weniger zum Um zu erkennen, wie schwierig es ist, Reformen poli- Essen auszugehen oder auch den Kinobesuch zu strei- tisch durchzusetzen, kann man einen aktuellen Vergleich chen. Die Freizeitmöglichkeiten werden also einge- anstellen. Frankreich wird konservativ regiert. Aber der schränkt. Das ist die normale Verhaltensweise, wenn das Premierminister Raffarin kneift; er will keine strukturel- Familieneinkommen sinkt. len Reformen durchführen. Wir können uns noch aus- führlicher darüber unterhalten, wie die Situation inner- Wenn das monatelang so anhält, ist die Folge, dass halb der EU ist. der Missmut in der Familie steigt. Alle sind unzufrieden; keiner hat mehr richtig Lust. Dann kommt irgendwann Die deutsche Bundesregierung steht zu Ihrem Ziel. der Punkt, dass man sich in der Familie am Küchentisch Sie will strukturelle Reformen durchführen und legt fast sagt: Wir müssen etwas grundsätzlich ändern. Irgendwie (B) jede Woche einen neuen Gesetzesvorschlag dazu auf den sind alle unzufrieden, weil wir uns mit unserem Einkom- (D) Tisch. Herr Gerhardt, das Parlament hat die Möglichkeit, men nicht mehr all das leisten können, was wir wollen. die Vorschläge gründlich zu beraten. Das scheint mirDann kommt die Frage auf: Müssen wir eigentlich in der besser zu sein, als einen Haushaltsentwurf vorzulegen, großen Wohnung wohnen bleiben oder sollen wir uns der so verabschiedet wird, wie er zwei Monate vorher eine kleinere suchen? Werden wir den Zweitwagen be- eingebracht wurde. halten oder schaffen wir den ab? (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das tröstet Solche Vorschläge hat jetzt Rot-Grün auf den Tisch mich wenig!) gelegt. Wir wollen nicht, dass alle Generationen in die- sem Land weitere Jahre missmutig bleiben, nur weil das Wir haben alle etwas davon, wenn sich die Parlamenta- Bruttoinlandsprodukt nicht die Höhenflüge erreicht, wie rier in die entsprechenden Diskussionen verantwortlich dies zum Teil in den 80er- und 90er-Jahren der Fall war. einbringen können. Damit muss man sich auseinander setzen. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das Funda- Wir haben dazu Vorschläge vorgelegt. Wir haben sie ment stimmt nicht, Frau Kollegin Hermenau! übrigens nicht in rot-grünen Hinterzimmern dunkel er- Das wissen Sie besser als viele andere!) sonnen. Sie sind vielmehr im Erfahrungsaustausch mit unseren europäischen Kollegen und Freunden entstan- Wenn man sich anschaut, wo die strukturellen Pro- den. Ich glaube, dass dies der richtige Weg ist. bleme liegen, von denen wir immer wieder sprechen, dann wird deutlich, dass Länder mit hohen automati- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schen Stabilisatoren – das sind hohe Beiträge zur Kran- sowie bei Abgeordneten der SPD) kenversicherung, Rentenversicherung und hohe Ausga- ben zur Finanzierung der Arbeitslosigkeit – immer dann Das Vertrauen der Kommission in Brüssel gegen- Probleme bekommen, wenn die Konjunktur schlechtüber Deutschland ist deutlich größer als das gegenüber läuft. Frankreich. Ich nehme das mit einer gewissen Befriedi- gung zur Kenntnis, weil es bedeutet, dass wir auf dem Es stellt sich nun heraus, dass es in den anderen In- richtigen Weg sind, Strukturreformen durchzusetzen, dustrieländern im Falle einer schlechten Konjunktur eine egal wie schwierig es sein wird. Sie haben wieder deut- Dämpfungswirkung von durchschnittlich einem Viertel lich gemacht, dass Brüssel mit seiner Einschätzung, die gibt, wenn die automatischen Stabilisatoren voll wirken. Opposition und die Länder in Deutschland seien das Deutschland hingegen weist eine Dämpfung von einem größte Strukturumbau- und Defizitbereinigungsproblem, Drittel auf. Umgekehrt gesagt: Nach einer 30-jährigen richtig liegt. Ich kann das nachvollziehen. 5030 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Antje Hermenau (A) Wir werden versuchen, den Empfehlungen des Euro- plappern es ihm nach. Aber keiner fragt: Wer ist eigent- (C) päischen Rates zu folgen. Es ist zum Beispiel starke Kri- lich „wir“? Wer ist gemeint? Die „Bild“-Zeitung hat na- tik daran geübt worden – dies ist klar im nationalen Sta- türlich eine Antwort: Es ist „Florida-Rolf“, der Sozial- bilitätsprogramm ausgewiesen worden –, dass hilfeempfänger die als der Schmarotzer der Nation. Wir Schulden auch deswegen gestiegen sind, weil es imerlebten in diesem Sommer eine Sozialneidkampagne Gesundheitswesen eine große Ausgabensteigerung gab. ohne Beispiel. Diejenigen, die wenig haben, werden ge- Hier haben wir einen ersten Schritt getan, obwohl Herr gen diejenigen ausgespielt, die noch weniger haben. Seehofer inzwischen Bodyguards beantragen muss, nachdem er die Meinung seiner Fraktion nicht eins zu Wenn wir, die PDS, immer wieder vorschlagen, zum eins durchgesetzt haben soll. Immerhin ist ein ersterBeispiel eine Vermögensteuer einzuführen, dann hört Schritt getan worden. man von der rechten Seite des Hauses gern den Vorwurf, wir schürten eine Sozialneidkampagne. Doch was Herr Als Nächstes wird über die Frage der Bürgerversi- Stoiber und Frau Merkel zusammen mit der „Bild“-Zei- cherung zu diskutieren sein. Das können wir gerne im tung veranstalten, erinnert mich an den Film „Nur Pfer- Detail machen; aber ein solidarisches System muss es den gibt man den Gnadenschuss“. Der Arbeitslose soll schon sein. sich nicht nur elend fühlen; er soll auch elend aussehen. (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das ist Wett- Ist es nicht bezeichnend, dass „Florida-Rolf“ zum bewerb!) Symbol für Schmarotzertum hochgespielt wird, obwohl – Sie werden natürlich immer dann Wettbewerb haben, er gegen kein Gesetz verstoßen hat? Er hat die geltenden wenn Sie nur Gesunde, nur Fitte haben. Nur, was ist mit Gesetze genutzt, aber keine übertreten. Da frage ich den armen Kranken? Herr Gerhardt, wir können dasmich: Warum gibt es keine Kampagne gegen Menschen, gerne ausdiskutieren. Es wird Gelegenheit geben, über die bewusst immer wieder gegen Gesetze verstoßen? die Einführung von Kopfpauschalen und über die Bür- Was ist zum Beispiel mit den Bürgern, die das Gesetz gerversicherung richtig zu streiten. Wir werden einenübertreten und tagtäglich Steuern hinterziehen oder Geld produktiven Weg finden müssen. Die Grünen sind sehr schwarz ins Ausland schaffen? Wo sind da der Kanzler, engagiert und sehr interessiert daran, einen vernünftigen Herr Stoiber und die „Bild“-Zeitung? Vorschlag zu unterbreiten. (Beifall der Abg. [fraktionslos]) Ich komme auf die Frage derLänder zurück. Denn Für diese Leute wird noch ein roter Teppich ausge- die EU-Kommission hat festgestellt, dass diese ein gro- rollt, ßes Risiko für den Abbau desstrukturellen Defizits in Deutschland sind. Sie hat uns beauftragt, alle staatlichen (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: So ein (B) (D) Ebenen an einem strikteren Haushaltsvollzug zu messen. Quatsch!) Das hat inzwischen auch Herr Koch zur Kenntnis ge-damit sie mit ihrem Geld zurückkommen, natürlich nommen, aber eher deswegen, weil Herr Stoiber ihn zu- straffrei und mit Steuernachlass. Dafür findet man so sammengepfiffen hat, und vielleicht auch deswegen, weil blumige Worte wie „Brücke zur Steuerehrlichkeit“. die Kreditwürdigkeit des Landes Hessen herabgestuft worden ist. Genannt wurden aber auch die Systeme der Nehmen wir Herrn Schoeps – ein Beispiel aus der sozialen Sicherung. Dazu haben wir uns zu verhalten. Hauptstadt –, den langjährigen Chef der Immobilien- töchter der Berliner Bankgesellschaft. Einer der Kon- Über die Länder sollten wir noch einmal sprechen. strukteure dieser Skandalbank sitzt übrigens – im Au- Ich komme auf mein Beispiel mit der Familie zurück: Es genblick ist er nicht anwesend – auf den Bänken der reicht nicht, nur in die kleinere Wohnung zu ziehen und SPD. Es ist der Parlamentarische Staatssekretär Dietmar vielleicht die Oma zu bitten, dass sie ein wenig dazugibt. Staffelt. Darüber sollten Sie übrigens in Ihrer Fraktion Es wird vielmehr wichtig sein, dass alle in der Familie noch einmal diskutieren. genau schauen, was die Prioritäten sind und was die wichtigsten Dinge sind, die finanziert werden müssen. Herr Schoeps hat Immobilien aus Großeinkäufen, die Ich bin sehr dafür, dass wir uns gemeinsam entscheiden, für den Fonds der Bank bestimmt waren, in sein privates das Studium des Nachwuchses zu finanzieren. Vermögen übernommen; der Wert beträgt rund 35 Millio- nen Euro. Herr Schoeps meint, das sei alles rechtens ge- Danke. wesen. Wo sind die Leute, die hier sofort die Gesetze än- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dern? Wo ist Herr Stoiber, der den Kanzler in seinen For- und bei der SPD) derungen um 100 Prozent übertrifft? Wo ist die „Bild“- Zeitung mit einer entsprechenden Schlagzeile? Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wo ist die PDS?) Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine– Die PDS ist hier und spricht gerade zu Ihnen. Lötzsch. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Und im Berliner Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Abgeordnetenhaus?) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und– Im Berliner Abgeordnetenhaus ist die PDS sehr inten- Herren! Sehr geehrte Gäste! Der Bundeskanzler sagtsiv damit beschäftigt, diesen Bankenskandal aufzuklä- gern: Wir leben über unsere Verhältnisse. Alle Getreuen ren, den wir der CDU und der SPD in Berlin zu verdan- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5031

Dr. Gesine Lötzsch (A) ken haben. CDU und SPD haben in Berlin gemeinsam über ihre Verhältnisse leben. Wenn es zur Zusammenle- (C) diese Bank konstruiert und wir müssen mit unserer Re- gung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe kommt, gierung in Berlin versuchen, diesen Scherbenhaufen auf- dann betrifft das besonders viele Ostdeutsche; denn der zuräumen. Das ist schwer genug, das kann ich Ihnen ver- große Teil der Arbeitslosenhilfeempfänger lebt im Os- sichern. ten. Das macht ungefähr einen Kaufkraftverlust – allein im Osten – von 1,6 Milliarden Euro aus. Da helfen auch (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] – keine netten Ostalgieshows und keine netten Worte von Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Wer ist denn da der Regierungsbank, wie wir sie gestern und heute ge- Ihr Koalitionspartner?) hört haben. Die so genannte Arbeitsmarktreform wird Ich habe Ihnen gerade erklärt, dass Vertreter, die diese die Menschen härter, aber geräuschloser treffen als die Bank mit konstruiert haben, heute noch immer in den Flut im letzten Jahr. Reihen der Fraktion der SPD hier im Bundestag sitzen. Der Einzige, der nicht über seine Verhältnisse lebt, ist Vielleicht erinnern Sie sich: Ich habe das schon mehrmals der Fraktionsvorsitzende der SPD, Herr Müntefering. Er angesprochen. Ich werde auch nicht müde, das zu tun. ist bescheiden. Er gibt zu, dass er Marx nie gelesen hat. (Walter Schöler [SPD]: Aber eine Bank ist So war es in der „Berliner Zeitung“ nachzulesen. Ihm vom Grundsatz her nichts Schlechtes!) reicht Nächstenliebe als Programm der SPD. Der Kanzler hat unter dem Diktat der „Bild“-Zeitung (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Dafür würde angekündigt, dass es bald keine Sozialhilfe mehr unter ich ihn nicht kritisieren!) Palmen geben wird. Das hört sich gut an. PopulismusIch denke, Herr Müntefering, dass Sie damit schlecht für kommt immer gut an. Aber wo leben wir eigentlich? Ich das 21. Jahrhundert ausgestattet sind. Denn wenn Sie habe manchmal den Eindruck, dass das Haus Springer Marx gelesen hätten, würden Sie schnell erkennen, dass das tägliche Drehbuch für die Bundesregierung schreibt. diese Regierung und insbesondere Herr Clement ökono- Das ist aber nur möglich, weil die Bundesregierung kein mischen Unsinn betreiben. Es ist seit Marx völlig klar, eigenes Drehbuch hat. dass immer mehr Menschen durch Rationalisierung aus Nicht wir alle leben über unsere Verhältnisse, sondern dem Arbeitsprozess herausgedrängt werden. Das betrifft man kann ganz konkret benennen, wer über seine Ver- nicht nur die Produktionsprozesse, sondern auch die hältnisse lebt. Ich fange einmal hier im Hause an. Herr Dienstleistungsprozesse. Wenn Herr Clement das Struck und Frau Beer – sie gehört zwar dem Hause nicht wachsende Heer der Arbeitslosen und Sozialhilfeemp- an, ist aber einer Partei sehr verbunden – leben über ihre fänger drangsaliert und durch das Land treibt, obwohl es Verhältnisse, 1,3 Milliarden Euro geben sie fürAus- keine Arbeitsplätze gibt, dann zeigt das, dass auch er (B) landseinsätze der Bundeswehr aus. Wenn es nach Frau nichts von dem gelesen hat, worauf sich auch die Sozial- (D) Beer ginge, würden diese Einsätze bald noch mehr Geld demokratische Partei gründet. kosten. Frau Beer will bekanntermaßen die Bundeswehr Meine Damen und Herren von der Koalition, Ihre ge- in den Irak schicken. samte Politik, ob nun auf dem Gebiet der Steuern, der (Marianne Tritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gesundheit oder des Arbeitsmarktes, hat eines gemein- NEN]: Das ist doch Blödsinn, das wissen Sie sam: Sie ist unsozial. Kollege Kuhn vom Bündnis 90/ auch!) Die Grünen hat das im Rahmen eines Interviews in der „Berliner Zeitung“ zugegeben. Warum fragt eigentlich keiner, warum Herr Struck und Frau Beer bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr Ihre Politik ist aber nicht nur unsozial; schlimmer ist, über ihre Verhältnisse leben dürfen? dass sie dabei ist, aus unserer solidarischen Gesellschaft eine Angstgesellschaft zu machen. Natürlich ist Angst Auch Herr Eichel lebt über seine Verhältnisse. Diese eine gewaltige Triebkraft, die das Letzte aus den Men- Regierung ist immer schnell dabei, Steuern zu senken schen herausholen kann. Die Frage ist nur, ob die Men- und Ausgaben im sozialen Bereich zu kürzen. Doch sie schen in unserem Land in Angst leben wollen. Ich bin hat total darin versagt, ihre Einnahmen zu sichern, ge- mir sicher, viele wären sogar bereit, auf Reichtum zu schweige denn zu erhöhen. Ich erinnere nur an die Kör- verzichten, wenn man ihnen die tagtägliche Angst vor perschaftsteuer, die Sie von rund 25 Milliarden Euro in der Zukunft nehmen würde.Denn diese Zukunftsangst einem Jahr auf unter null Euro gefahren haben. haben nicht nur Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger, sie trifft auch immer mehr die Menschen aus der Mittel- Nehmen wir Herrn Stolpe. Herr Stolpe lebte bekannt- schicht, die um ihre Jobs fürchten. Wir als PDS wollen lich schon immer über seine Verhältnisse. SeineGroß- keine Gesellschaft, die auf Angst basiert. Wir wollen projekte in Brandenburg brechen alle zusammen und eine solidarische Gesellschaft. Ich bin der festen Über- nun droht auch das GroßprojektLKW-Maut zu einem zeugung, dass eine solidarische Gesellschaft gesünder, Desaster zu werden. Doch ihn allein trifft nicht die glücklicher und letztlich auch dauerhafter als diese Schuld; denn offensichtlich leben auch einige beauf- Angstgesellschaft ist. tragte Konzerne über ihre Verhältnisse. Wo ist das Ge- schrei darüber? Vielen Dank. Herr Stolpe ist nicht nur für den Verkehr zuständig, (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] – sondern auch für Ostdeutschland. Den Arbeitslosenhilfe- Marianne Tritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- empfängern kann man wirklich nicht vorwerfen, dass sie NEN]: Schwach!) 5032 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: meninsolvenzen nehmen zu. Inzwischen kommen sogar (C) Nächster Redner ist der Kollege Arnold Vaatz, CDU/ Insolvenzen von Familien hinzu. Die Zwangsversteige- CSU-Fraktion. rungen häufen sich. Die Generaltendenz – das ist eigentlich das Arnold Vaatz (CDU/CSU): Schlimmste –, dass sich der Abstand zwischen Ost und Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DerWest weiter vergrößert, anstelle sich zu verkleinern, hat Bundeskanzler hat heute versucht, uns zu vermitteln,in den letzten Jahren keine Umkehrung erfahren. Die dass es ein Missverständnis sei, wenn man die Aus-Menschen in Ostdeutschland wissen, dass es mit der An- führungen des Finanzministers von gestern so verstehe, gleichung langsam gehen wird; dass die Tendenz aber dass Ostdeutschland an der desolaten Haushaltslagenach unten zeigt, das ist nicht hinzunehmen. Diese Ent- schuld sei. Der Kanzler hat gesagt, die Bundesrepublik wicklung haben Sie im letzten Jahr wiederum nicht än- Deutschland habe mit der Wiedervereinigung ein Pro- dern können, obwohl Sie dafür meines Erachtens jede blem, das die anderen europäischen Staaten in dieser Art Menge Möglichkeiten hatten. nicht hätten. So in etwa hat er sich ausgedrückt, wenn Es gibt in Ostdeutschland nämlich sehr wohl Situatio- ich mich richtig erinnere. Das stimmt ungefähr, obwohl nen, die man politisch nutzen könnte, weil mit ihnen man, wenn man in die Geschichtsbücher sieht, feststel- eine enorme Aufbruchstimmung verbunden ist. Im Früh- len muss, dass es auch in anderen europäischen Staaten jahr dieses Jahres hat die Stadt Leipzig den Zuschlag als wie in Italien und Polen Wiedervereinigungsprozessedeutsche Bewerberstadt für dieOlympischen Spiele gegeben hat, die sich allerdings über viele Generationen 2012 erhalten. hingezogen haben. Wenn ich aber die Maßnahmen der Bundesregierung Wenn man das gelten lässt, dann ist aber die Frage be- betrachte, mit denen sie dieser Bewerbung Nachdruck rechtigt, was dazu geführt hat, dass die Bundesrepublik verleihen will, kommt bei mir allmählich der Gedanke Deutschland auf die Wiedervereinigung so wenig vor- auf, dass das Spiel schon verloren ist, bevor es begonnen bereitet war. Meines Erachtens ist es notwendig, darauf hat. Wenn man diese Maßnahmen nämlich mit den Ak- hinzuweisen, dass in den 60er- und 70er-Jahren in der tionen von Herrn Chirac in Frankreich, Herrn Blair oder damaligen Bundesrepublik Deutschland ein großer kol- Herrn Aznar vergleicht, die vieles dafür tun, damit ihre lektiver Irrtum in Bezug auf die Überlebensfähigkeit der jeweilige Bewerberstadt bei der internationalen Aus- DDR entstanden ist. Wenn man die damaligen poli-scheidung für den Austragungsort der Olympischen tischen Debatten mit Blick darauf durchliest, wer amSpiele am Ende den Vorzug erhält, dann muss man fest- Entstehen und an der Aufrechterhaltung dieses kollekti- stellen, dass die Bundesregierung im Grunde nichts (B) ven Irrtums am meisten mitgewirkt hat, dann kommtmacht. (D) man auf die deutsche Sozialdemokratie. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Fragen (Beifall bei der CDU/CSU) Sie doch einmal Herrn Tiefensee! Hören Sie Damit tragen Sie an den Schwierigkeiten schon von An- doch auf mit der Jammerei! Das ist doch fang an eine große Mitverantwortung. fürchterlich! Wenn Sie das alles nach außen tragen, dann kann das ja nicht funktionieren!) (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. ) Im Haushalt sind keine Mittel dafür vorgesehen. Auch Zurück zu den Ereignissen vor der letzten Wahl. Ich der Bundesverkehrswegeplan sieht keinerlei Infrastruk- habe damals auf Wahlkampftour, auf der wir sicherlich turmaßnahmen vor, um Leipzig einen Vorzug zu ver- alle waren, einen Bekannten gesprochen, der unter dem schaffen. Sie haben überhaupt nichts getan. Eindruck des Hochwassers und der Versprechungen der (Beifall bei der CDU/CSU) Regierung sagte, er wähle dieses Mal SPD. Seine Be- gründung: Die SPD habe in den letzten vier Jahren ein Von allen Seiten wurde ein Angebot unterbreitet. Wir so großes Chaos angerichtet, dass er es sich allein schon wollen überhaupt keinen politischen Streit über diese aus Gründen der Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht an- Frage. ders vorstellen könne, als dass sie aus ihren Fehlern ge- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ach lernt habe und bei ihr der Knoten geplatzt sei. Das Hoch- nein! Erst erzeugen Sie den Streit und dann wasser müsse quasi als Katalysator wirken, sodass sich wollen Sie ihn nicht! Was denn nun?) die ganzen katastrophalen Zahlen in Ostdeutschland un- ter dieser Regierung höchstwahrscheinlich verbessern Wir wollen bei Ihnen nur ein Minimum an Bewegung würden. sehen, ein Zeichen, dass Sie an dieser Sache tatsächlich interessiert sind. Dieses Zeichen steht seit einiger Zeit Nun habe ich mit diesem Mann ein Jahr später wieder aus. Das muss ich Ihnen einmal sagen. geredet. Die Katastrophe ist perfekt: An seine Ausfüh- rungen von vor einem Jahr will er gar nicht mehr erin- (Walter Schöler [SPD]: Deswegen sitzen wir nert werden. doch hier! Dass wir während Ihrer Rede hier sitzen, ist ein deutliches Zeichen!) Die Zahlen für Ostdeutschland sind katastrophaler denn je. Die Arbeitslosigkeit hat sich auf dem doppelten Sie haben den 50. Jahrestag des 17. Juni in diesem Niveau Westdeutschlands verstetigt. Die Abwanderung Jahr verstreichen lassen, ohne ein weiteres Zeichen nach hat nicht abgenommen, sondern zugenommen. Die Fir- Ostdeutschland zu geben. Sie hätten das Zeichen geben Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5033

Arnold Vaatz (A) können, dass Sie das Unrecht, das Menschen länger als bände weitere 50 000 Arbeitslose zur Folge haben. An- (C) eine Generation lang angetan wurde, in irgendeinergesichts einer solchen Regierung kann ich verstehen, Weise von Staats wegen zur Kenntnis nehmen. Sie hät- dass sich viele Ostdeutsche in die Nostalgiewelle flüch- ten den Opfern eine gewisse Anerkennung zuteil werden ten und sagen, dass sie von diesen Leuten wohl nichts lassen können. mehr erwarten können. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was ha- Vielen Dank. ben Sie denn bis 98 gemacht? Nichts!) (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ja, ja!) Diesen Gesetzentwurf hätten wir gemeinsam beschlie- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ßen können. Sie haben das nicht getan. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Steffen Kampeter. Der Herr Bundespräsident hat gesagt, dass viele der Menschen, die damals Nachteile hätten erleiden müssen, Steffen Kampeter (CDU/CSU): erwartet hätten, nach der deutschen Einheit eine Ent- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und schädigung zu bekommen. Sie haben sie aber nicht be- Herren! Der Kollege Müntefering hat sich vorhin dage- kommen. Dasselbe hat der Herr Bundesratspräsident ge- gen verwahrt, dass die Sozialdemokratische Partei für sagt. Auch der Bundestagspräsident hat sich ähnlichdas SED-Unrecht in Anspruch genommen wird. Das hat ausgedrückt. Die einzige, die in dieser Frage nicht han- hier kein Redner aus dem Bereich der CDU/CSU auch delt, ist die Bundesregierung. Sie haben uns auf Ihrernur versucht. Herr Kollege Müntefering, Sie müssen sich Seite, wenn Sie auf diesem Gebiet etwas machen wollen. aber schon daran erinnern lassen, dass es keine relevante Wir können das gemeinsam tun. Sie tun es aber nicht. politische Organisation in der Bundesrepublik Deutsch- Die Tatsache, dass Sie keine Zeichen nach Ost-land gegeben hat, die so sehr die Nähe des SED-Re- deutschland schicken, trübt den Optimismus dort noch gimes gesucht hat wie die Sozialdemokratische Partei wesentlich weiter ein. Mittlerweile befinden wir uns an Deutschlands. einem Punkt, an dem wir zahlreiche Ideen, um den Ar- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – beitsmarkt in Ostdeutschland in Gang zu bringen, als Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ein Luftblasen identifizieren können: Es ging los mit den Quatsch!) Bündnissen für Arbeit, die nichts wurden; dann kam das Job-AQTIV-Gesetz, das nichts wurde; dann kamen die Ich erinnere insbesondere an dieGeraer Forderungen (B) (D) Personal-Service-Agenturen, die im Grunde Menschen nach der doppelten deutschen Staatsangehörigkeit. schneller zwischen nicht vorhandenen Arbeitsplätzen (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie hin und her vermitteln sollten; schließlich hatte man die können ja noch was draufsetzen! Typisch Idee für das Programm „Kapital für Arbeit“, wobei hoch Kampeter!) verschuldeten Unternehmen weitere Kredite angeboten wurden. Sie haben Konzepte für Ostdeutschland vorge- Herr Müntefering, Sie waren – ähnlich wie der amtie- schlagen, die ganz offensichtlich nicht funktionierenrende Bundespräsident – zu dieser Zeit leitend in der konnten. deutschen Sozialdemokratie tätig. Es ist selbstverständlich, dass sich die Menschen bei (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sprechen uns im Osten allmählich auf den Arm genommen und Sie jetzt gerade auch für Frau Merkel?) von dieser Regierung in keiner Weise ernst genommen und vertreten fühlen. Sie haben noch wenige Monate vor dem Fall der Mauer mit Einheitspapieren deutlich gemacht, dass Sie im Her- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist zen Ihrer linken Seele mehr für die deutsche Teilung als doch unglaublich! Nehmen Sie den Solidar- für die deutsche Einheit eintreten. pakt II!) (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt Damit Sie das einmal aus Ihren eigenen Reihen hören, [Salzgitter] [SPD]: Unverschämt ist das! Aber sage ich Ihnen, wie der Kollege Hilsberg heute in der das ist typisch Kampeter!) „Freien Presse“ zitiert wird: Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Haus- Nach Einschätzung des ostdeutschen SPD-Poli- halt 2004 ist eigentlich nicht das Papier wert, auf dem er tikers Hilsberg werden die Probleme in den neuen dem Parlament vorgelegt worden ist. Wesentliche Ländern nicht mehr ernst genommen. So habe sich Grundlagen, das Fundament dessen, was uns der Finanz- die Bundesregierung inzwischen damit abgefunden, minister heute auch im Kanzleramtsetat vorgelegt hat, dass die Arbeitslosigkeit im Osten doppelt so hoch stimmen nicht. Es ist schon wiederholt darauf hingewie- sei wie im Westen. sen worden, dass die Wachstumsprognose viel zu opti- Sie sind im Augenblick dabei, die Arbeitslosigkeit da- mistisch ist. Auch die Annahme der Bundesregierung, durch weiter zu erhöhen, dass Sie durch das Mindest- dass wir im nächsten Jahr durchschnittlich 4,4 Millionen lohngesetz die Mindestlöhne im Baubereich festlegen Arbeitslose haben werden, ist nach Auffassung aller wollen. Das würde nach Auffassung der Spitzenver-Wirtschaftsforschungsinstitute fatal. 5034 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Steffen Kampeter (A) Der Kollege Glos und ich sind deswegen der Auffas- mit Haushaltspolitik beschäftigt, weiß, dass Schulden(C) sung, dass es das Anständigste wäre, überhaupt keinen die Steuern von morgen sind. Die Bürgerinnen und Bür- Cent für den Kanzleramtsetat auszugeben. Das wäre die ger wissen: Wenn heute viele Schulden gemacht werden, gerechteste und vernünftigste Lösung bei einer solch fal- werden morgen die Steuern erhöht. Deswegen ist es schen Politik. wirtschaftspolitisch geradezu verwegen, dass der Bun- desfinanzminister im Jahr 2003, für das er bereits eine (Beifall bei der CDU/CSU) Rekordverschuldung zu verantworten hat, vorgeschlagen In dieser Debatte ist bereits verschiedentlich darauf hat, die vierte Stufe der Steuerreform auf das Jahr 2004 hingewiesen worden, dass der Stabilitäts- und Wachs- vorzuziehen und dies ausschließlich über Schulden zu tumspakt kein reiner Stabilitätspakt sei; das ist richtig. finanzieren. So steht es zumindest im gegenwärtigen Die Akzentverschiebung, die damit einhergeht, dass der Haushaltsentwurf. Eine Steuersenkung durch Schulden Bundeskanzler heute hier erklärt hat, dass man ein biss- zu finanzieren ist wirtschaftspolitisch unsolide. Die Bür- chen weniger Stabilität und dafür mehr Wachstum haben gerinnen und Bürger wissen, dass das ein ungedeckter möchte, halte ich aber wirtschaftspolitisch für ausge-Wechsel auf die Zukunft ist. sprochen gefährlich. (Beifall bei der CDU/CSU – Hans Eichel, Bun- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist desminister: Seit wann wissen sie das?) eine sehr merkwürdige Auslegung der Rede Jetzt höre ich, dass man zur Verringerung der Schul- des Bundeskanzlers!) den mehr privatisieren will. Herr Eichel, das große Man darf die Stabilität nicht gegen das Wirtschafts-Privatisierungsvermögen von Post und Telekom haben wachstum ausspielen. Ohne Stabilität wird es kein dau- Sie bereits ausgegeben. Wir haben hier im Deutschen erhaftes Wirtschaftswachstum in der Eurozone geben. Bundestag beschlossen, dass wir dieses Geld für die Al- Wie gesagt: Der Bundeskanzler hat hier und heute for- ters- und Versorgungslasten der Mitarbeiterinnen und muliert, dass er ein bisschen weniger Stabilität für ein Mitarbeiter in den Unternehmen Post und Telekom ver- bisschen mehr Wachstum haben möchte. Ich glaube,wenden. Nach dem gegenwärtigen Stand reicht das Ka- dann würden wir beides erhalten: weniger Stabilität und pital dafür nicht einmal aus. Jetzt also wollen Sie zum weniger Wachstum für Deutschland. zweiten Mal Post- und Telekomaktien aus Ihrem Be- stand ausgeben. Das ist unsolide und wirtschaftspolitisch (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der verwegen. Die Menschen in Deutschland werden das SPD: Komm jetzt mal zu deinen Vorschlägen! nicht goutieren. Genug gejammert!) Der Haushalt 2004 enthält auch einige Forderungen Die Sozialdemokraten fordern in diesem Zusammen- (B) im Zusammenhang mit dem Subventionsabbau.Wir (D) hang eine Wachstumsinitiative. Ich glaube, darüber wer- werden uns einem soliden Vorschlag zum Subventions- den wir alle hier vortrefflich streiten. Das scheint mirabbau im Zusammenhang mit der Steuerreform nicht aber ein Synonym für zusätzliche schulden- und defizit- verschließen; das ist selbstverständlich. In der Debatte finanzierte Aktionsprogramme zu sein, die auch dadurch ist deutlich gemacht worden, dass Blockade und Union nicht besser oder wirksamer werden, dass sie jetzt ge- zwei Dinge sind, die einander ausschließen. samteuropäisch initiiert werden. Eine solche Politik hat (Walter Schöler [SPD]: Sie sollen Vorschläge bereits in den 70er-Jahren einen Fehlschlag erlitten. Sie machen!) kostet die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland zumeist mehr, als sie ihnen nützt. Deswe- Aber ich will auf eine der zwei größten Steuersubven- gen werden wir einen solchen defizitfinanzierten Aktio- tionierungen hinweisen, die in Ihrem Subventionsbericht nismus ablehnen. enthalten sind, nämlich die Ausnahmetatbestände bei der Ökosteuer. (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn Sie unter Subventionsabbau verstehen, die Öko- Es muss vielmehr darum gehen, dass wir die ver-steuer weiter drastisch zu erhöhen, insbesondere in den schütteten Quellen des Wirtschaftswachstums durchenergieintensiven Bereichen, dann werden Sie selbstver- Strukturreformen wieder freilegen. Ich weise bei-ständlich nicht auf die Zustimmung der CDU/CSU-Bun- spielsweise darauf hin, dass insbesondere die Struktur- destagsfraktion stoßen; denn hier wird eine Steuererhö- reformen für neue Technologien in der Bundesrepublik hung unter dem Titel Subventionsabbau verkauft. Wir Deutschland bei einer niedrigen Regelungsdichte anset- wollen den Standort Deutschland durch niedrigere zen müssen. Ich weise darauf hin, dass Strukturreformen Steuer- und Abgabensätze stärken und nicht die energie- bei eigenverantwortlich gestalteten Sozialsystemen an- und technologieintensiven Branchen vertreiben, indem setzen müssen, die Wirtschaftswachstum ermöglichen. hier noch weiter an der Steuerschraube gedreht wird. Zudem weise ich darauf hin, dass die Strukturreformen bei einer sinkenden Staatsquote ansetzen müssen, wobei (Beifall bei der CDU/CSU) Privatisierung als ordnungspolitische Aufgabe und nicht Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion scheint schon so sehr vor dem Hintergrund fiskalischer Zwänge zu se- zu Beginn der Haushaltsberatungen klar zu sein, dass hen ist. das, was Herr Eichel hier vorzulegen wagt, nicht bera- tungsreif ist. In diesem Zusammenhang wird auch heute gelegent- lich über das Vorziehen dervierten Stufe der Steuer- (Franz Müntefering [SPD]: Ihnen scheint zu reform streitig diskutiert. Jeder, der sich ein bisschen viel!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5035

Steffen Kampeter (A) Wir raten Ihnen: Machen Sie erst einmal Ihre Arbeit und mit diejenigen, die nach uns kommen, auch eine gute(C) bringen Sie dann einen soliden und anständigen Etat in Zukunft haben. dieses Haus ein! Erledigen Sie Ihre Gesetzgebungs- arbeit, die Grundlage Ihres Etats ist. Ja, wir haben eine große Aufgabe, auch im sozialen Bereich. Wir haben Veränderungen mit dem Ziel ange- (Lachen des Abg. Wilhelm Schmidt [Salz- packt, Lohnnebenkosten zu senken, um Voraussetzungen gitter] [SPD]) für die Entstehung von mehr Arbeitsplätzen zu schaffen. Das ist nicht einfach. Der Opposition müsste das auch Legen Sie dann dem Parlament einen Etat vor, der zu- noch in guter Erinnerung sein. Sie haben es doch zum mindest den Grundanforderungen von Haushaltsklarheit Beispiel fertig gebracht, von 1994 bis 1998 den Renten- und Haushaltswahrheit entspricht! versicherungsbeitrag von 19,2 Prozent auf 20,3 Prozent (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie sind steigen zu lassen. Eine Mehrwertsteuererhöhung von ein Ignorant!) 1 Prozent für die Rente kam damals noch hinzu. Sie haben uns für 2003 noch einenNachtragsetat Gestern haben wir nun das Gesundheitsmodernisie- vorzulegen. Ersparen Sie uns, dass Sie jedes Jahr nach rungsgesetz auf die Schiene gesetzt. Wir erreichen da- dem ordentlichen Etat zum Jahresende noch einmal ei- mit mehr Qualität, Patientensouveränität, Strukturver- nen Nachtragsetat vorlegen müssen. besserungen, den Abbau von Fehl-, Über- und Unterversorgung und wir haben dabei die Prämisse, die (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie for- Lohnnebenkosten zu senken. Das Ganze ist ein Kompro- dern ihn doch ständig! Was wollen Sie denn ei- miss. Jeder hat noch Wünsche; für jeden bleiben Wün- gentlich?) sche offen. Ich hätte mir gewünscht, dass die Leistungs- Ein Nachtragsetat ist das Schädlichste, was es im Be-anbieter stärker einbezogen werden. Auf der anderen reich der Konsolidierung geben kann. Wenn Sie amSeite passt der CDU/CSU beispielsweise das Institut für Ende eines Jahres einen Nachtragsetat vorlegen, können Qualitätssicherung nicht. Sie bei den Ausgaben überhaupt nichts mehr einsparen. Wir, auch ich, müssen dabei Kröten schlucken: beim Sie erhöhen vielmehr ausschließlich die Schulden. Diese Krankengeld und beim Zahnersatz. Dies zu beschließen Politik führt in die Irre. Damit werden Sie bei der CDU/ fällt schwer; aber es ist wichtig, dass die Maßnahmen in CSU keine Zustimmung finden. Wir wollen eine solide einem solidarischen Rahmen bleiben. Wichtig ist, dass Haushaltspolitik und fordern die neue Vorlage Ihres Ent- es eine Überforderungsklausel gibt. So beträgt der wurfes für 2004. Eigenanteil der Patienten nicht mehr als maximal 2 Pro- Herzlichen Dank. zent des Bruttoeinkommens. Es wird berücksichtigt, (B) wenn Kinder in der Familie sind und wenn ein Ehegatte (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nicht erwerbstätig ist und deshalb keine Einnahmen hat. neten der FDP) Für chronisch Kranke gilt ein maximaler Eigenanteil von 1 Prozent. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Was wäre denn die Alternative? Die Alternative wä- Das Wort hat jetzt die Kollegin Erika Lotz. ren höhere Beiträge mit all den Folgen für die Arbeits- plätze. Wir werden dieses Gesetz gemeinsam verab- Erika Lotz (SPD): schieden müssen, damit mehr Arbeitsplätze entstehen und sich damit auch die Einnahmen der Sozialversiche- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- rung verbessern. gen! Herr Vaatz, ich habe mich bei Ihrer Rede gefragt, warum Sie all Ihre Forderungen nicht umgesetzt haben, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ als Sie noch die Regierung gestellt haben. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich erachte es im Sinne von Gerechtigkeit und Solida- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) rität für wichtig, dass das Ganze wirkungsgleich umge- setzt wird, auch für Abgeordnete, für Minister und für Ich fand Ihre Rede vor dem Hintergrund der Wirkung Beamte. Dieses werden wir auf die Schiene bringen. des Solidarpakts II nicht angemessen. Sie ist auch hin- sichtlich des Ausgleichs bei den Sozialversicherungs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ systemen nicht angemessen. DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir haben bei der Arbeitsmarktpolitik neue Wege ein- Nun hat die Opposition heute hier herbe Kritik geäu- geschlagen: Hartz-Gesetz I und II, dem folgend die Zu- ßert. Das war nicht anders zu erwarten. Uns und sicher- sammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. lich auch der Öffentlichkeit ist aber aufgefallen, dass die Beides sind steuerfinanzierte Systeme. Vorausgegangen Alternativen dünn gesät waren. Auch das war nicht an- sind Modelle wie MoZArT. Ich habe in Arbeitsämtern, in ders zu erwarten. Das ist die Wahrheit. denen diese Modellversuche liefen, Gespräche geführt. Mir wurde gesagt, dass Sozialhilfeempfänger geäußert Bundeskanzler Schröder hat zu unserer Politik heute hätten, dass sich endlich einmal jemand richtig um sie geäußert: Wir tun dies alles, damit diejenigen, die nach kümmere. Das ist wichtig. Es ist wichtig, dafür zu sor- uns kommen, eine Chance haben; wir tun dies alles, da- gen, dass Menschen aus der Sozialhilfe herauskommen 5036 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Erika Lotz (A) und existenzsichernde Arbeit haben. Das ist das Ziel und Ich halte diese Diskussion für schädlich, weil dadurch (C) das werden wir auch erreichen. bei den Alten, aber sicherlich auch bei den Jüngeren Ängste ausgelöst werden. Machen wir uns doch nichts (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ vor: Wir alle wollen doch alt werden und würden gege- DIE GRÜNEN) benenfalls selber einer solchen Situation ausgesetzt wer- Herr Glos hat genau dieses Projekt heute Morgen be- den. mäkelt. Ich stelle mir wirklich die Frage, warum es nicht Solidarität heißt aber auch, dass viele einzahlen müs- früher angepackt wurde, wenn man dazu Gedanken sen, damit diejenigen, die Hilfe bedürfen, diese auch be- hatte. Ich denke, man kommterst hinter das eine oder kommen. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass Ver- andere, wenn man auf den Oppositionsbänken sitzt. änderungen auch von der Bevölkerung getragen werden, Demographische Veränderungen machen ein Umden- wenn sie solidarisch und gerecht sind. Dafür sind wir der ken notwendig. Ich halte es auch für nötig, dass sich in Garant. Ich lade alle dazu ein, daran mitzuwirken, dass der Gesellschaft, in erster Linie aber in den Personal-die notwendigen Veränderungen vorgenommen werden. abteilungen der Unternehmen dieEinstellung zum Diese sollten aber so erfolgen, dass die Menschen keine Alter ändert. In 60 Prozent der Unternehmen wird nie- Angst vor Veränderungen bekommen. Denn diese mand mehr über 50 Jahre beschäftigt. Es sind doch ge- Angst bedeutet wiederum ein Problem für das Wachs- rade die Unternehmer, die die hohen Lohnnebenkosten tum, wenn sie dazu führt, dass Anschaffungen zurückge- beklagen. Sie haben aber sehr viel zu dem Anstieg der stellt werden, weil die Menschen nicht wissen, was auf Frühverrentung beigetragen und damit auch die Misere sie zukommt. der Sozialkassen mit verursacht. Deshalb müssen auch Deshalb richte ich an dieser Stelle meine Bitte an die sie sich der Verantwortung stellen und ihre Mentalität Opposition: Schüren Sie keine Ängste! Das ist für unsere ändern. Gesellschaft und für das gesamte System nicht gut. Wir Als frisch gebackene 60-Jährige stelle ich fest: Mit alle wissen, dass wir schwierige Aufgaben zu schultern 60 ist man für die Parkbank zu schade. Denn man kann haben. Das wird nur möglich sein, wenn es uns gelingt, noch sehr viel bewegen – in der Politik, aber vor allen den Menschen Sicherheit zu geben. Wir sollten sie nicht Dingen auch in den Unternehmen. noch zusätzlich verunsichern. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Danke schön. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Unsere Gesellschaft wird älter. Das Durchschnitts- DIE GRÜNEN) alter der Beschäftigten bleibt konstant. Auch hierbei (B) (D) muss sich etwas bewegen. Wir stellen uns unserer Ver- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: antwortung bei der Krankenversicherung und der Ren- tenversicherung. Mit der zusätzlich geförderten Riester- Liebe Frau Kollegin Lotz, nachdem Sie in Ihrer Rede Rente haben wir bereits den Weg eingeschlagen, um den darauf hingewiesen haben und ich in den Unterlagen ge- Lebensstandard im Alter zu sichern. rade gesehen habe, dass Sie gestern Ihren 60. Geburtstag gefeiert haben, möchte ich Ihnen dazu noch gratulieren. Wir haben auch Verbesserungen für Mütter erreicht. Dafür ist es ja nicht zu spät. Wir haben von dieser Reform erwartet, dass sie sich auch in neuen Arbeitsplätzen niederschlägt; aber dieser (Beifall) Faktor allein war dafür nicht entscheidend. Neue Ar- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Bernhard Kaster. beitsplätze sind nicht in dem Maße entstanden, wie wir es uns erhofft hatten. Das hat auch Auswirkungen auf die Einnahmen in der Rentenversicherung. Dabei müs- Bernhard Kaster (CDU/CSU): sen wir zudem den Doppeltrend von Geburtenlücke und Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- Alterung berücksichtigen. Entsprechende Vorschläge, gen! „Deutschland bewegt sich“ – wieder einmal ist un- die bereits vorliegen, müssen wir beraten. Veränderun- ser Land durch eine von unzähligen Plakat- und Anzei- gen sind notwendig. Ich denke, daran führt kein Weggenkampagnen der Bundesregierung zugeklebt worden. vorbei. Was Ankündigungen von Bundeskanzler und Bundesre- gierung wert sind, hat in diesem Jahr die mit großem Ge- Ich meine aber auch, dass wir keinen Zweifel daran töse angekündigte Hauruckrede vom 14. März gezeigt. aufkommen lassen dürfen, dass Solidarität nach wie vor gilt, Herr Gerhardt. Solidarität heißt für mich, dass die (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Lang ist’s Jungen für die Alten und Gesunde für Kranke einstehen her und nichts ist passiert!) und dass starke Schultern mehr tragen als schwache. Ich Von da an bewegte sich bis zum Sommer nämlich gar finde, eine Diskussion, in der infrage gestellt wird, dass nichts mehr. Zum nicht beratungsfähigen Haushalt 2004 jemand medizinisch notwendige Leistungen bekommt, liegen nunmehr Haushaltsbegleitgesetze vor, für deren weil er ein gewisses Alter erreicht hat, ist schädlich für Themen bereits sehr viel Zeit verloren ging. Aber: die Gesellschaft insgesamt. „Deutschland muss sich ja bewegen.“ Deshalb konnte die (Beifall bei der SPD – Dr. Wolfgang Gerhardt Bundesregierung es wieder nicht lassen, sich vor der [FDP]: Richtig! Das hat doch nichts mit mei- Politik und vor den Inhalten erst einmal um die Verpa- ner Haltung zu tun!) ckung zu kümmern. Seit August dieses Jahres hat die Re- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5037

Bernhard Kaster (A) gierung Deutschland mit 82 Busplakatierungen, 642 so Informationsamtes der Bundesregierung, kurz BPA, (C) genannten Mega-light-Plakaten und 17 435 Großflächen- gestellt werden. plakaten überzogen. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist eine (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Was hat es Propagandazelle!) genutzt? Nichts!) Die Aufgabe des BPA ist eigentlich die Koordination der „Wieder Arbeit“, „Später eine Rente“ oder „Mehr Jobs“, Außendarstellung von Ministerien und Kanzleramt. das sind die plakativen Sprüche, die im drastischenDoch unter Leitung von Staatssekretär Bela Anda be- Widerspruch zur Realität in Deutschland stehen. herrschte das BPA in den vergangenen Monaten selbst die Schlagzeilen und wurde zur Mitteilung. Es gab fast (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- keine Zeitung und Zeitschrift, die in diesem Jahr nicht neten der FDP) über Skandale rund um oder im Bundespresseamt be- Sie mögen sagen, Wirtschaftspolitik sei immer auch richtet hat. Psychologie. Aber die besten Motivationskünstler, eine Ich erinnere daran: DerBundesrechnungshof stellte noch so gute PR-Arbeit und inszenierte Medienauftritte gleich mehrfach eklatante Rechtsverstöße bei Auftrags- können keine Inhalte ersetzen. Herr Bundeskanzler, Po- vergaben im BPA fest. Die Staatsanwaltschaft ermittelte litik kann auf Dauer nicht durch PR-Arbeit ersetzt wer- wegen dubioser Vorgänge um verschwundene Disketten. den. Politik gehört hier in den Bundestag, nicht auf Lit- Immer wieder gibt es gravierende Verstöße gegen das faßsäulen, in Kinos und in Anzeigen. Vergaberecht. Erst das Bundeskartellamt konnte im 2004 soll die PR-Arbeit aber noch gesteigert und auf Frühjahr das von Staatssekretär Anda willkürlich abge- die absolute Spitze getrieben werden. Nach dem vorlie- brochene Vergabeverfahren wieder in Gang setzen. genden Haushaltsentwurf steigen alleine die Mittel für (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist ja ein Öffentlichkeitsarbeit, die unsere Minister unmittelbar Skandal!) zur Verfügung haben, um 20 Prozent. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Ich habe in- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Was?) zwischen eine Loseblattsammlung angelegt, die man Insgesamt gibt die Bundesregierung nächstes Jahr fast demnächst binden lassen könnte. Seit dem Amtsantritt 100 Millionen Euro für Werbung aus. von Herrn Anda herrschen beispiellose Rechtsverstöße und Chaos im Bundespresseamt. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Hört! Hört!) (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ganz schlimm! – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: (B) Die Mittel für die Öffentlichkeitsarbeit des Bundespres- (D) Rechtsbruch als Prinzip! Das ist ja unglaub- seamtes sollen um 10,4 Prozent, für die des Gesund- lich! – Petra-Evelyne Merkel [SPD]: Sonst heitsministeriums um 26,5 Prozent und für die des nichts zu tun?) Finanzministeriums sogar um 120,5 Prozent steigen. Das ist im letzten Fall mehr als eine Verdoppelung. Vor allen Dingen ist aber auch die Selbstversorgungs- mentalität ohne Beispiel. Sie hat mittlerweile einen Was- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das nen- serkopf im BPA geschaffen, mit dem kaum noch ein Mi- nen die Sparen! – Steffen Kampeter [CDU/ nisterium mithalten kann. Im Bundespresseamt gibt es CSU]: Unglaublich!) inzwischen einen Chef, einen stellvertretenden Sprecher Aber damit nicht genug: Die Haushaltsansätze werden und stellvertretenden Leiter, einen zweiten stellvertre- von der Bundesregierung auch noch verschleiert und auf tenden Sprecher, einen Chef vom Dienst und einen stell- unzählige Haushaltstitel verteilt. vertretenden Chef. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die täuschen (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Da ist doch immer!) mehr als die Hälfte überflüssig!) Millionenbeträge werden zum Beispiel im Umweltmi- Möge auch der eine oder andere Posten seine Berechti- nisterium für Broschüren oder für so aussagekräftigegung haben, so muss man sich doch fragen, was bei- Haushaltstitel wie „Kommunikative Begleitung undspielsweise den stellvertretenden Leiter vom stellvertre- Evaluation wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischer Vor- tenden Chef unterscheidet. haben“ veranschlagt. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ja! – (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Außer den Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Und der Steu- Werbeagenturen versteht das doch keiner erzahler zahlt!) mehr!) Das ist eine Frage, die sich inzwischen auch die Mit- Dahinter verbirgt sich nichts anderes als arbeiter eine stellen und die bei uns die Befürchtung aufkom- 15 Millionen Euro teure Werbekampagne für das alsmen lässt, nach dem stellvertretenden Leiter und dem Flop bezeichnete Hartz-Konzept. stellvertretenden Chef könnte demnächst noch die Stelle eines stellvertretenden Bosses geschaffen werden. Angesichts der Veranschlagung von über 100 Millio- nen Euro für PR-Zwecke quer durch den Haushalt muss (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – die Frage nach Bedeutung und Rolle des Presse- und Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Sehr gut! 5038 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Bernhard Kaster (A) Sehr gut! – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Auswär- (C) muss dann aber eine Frau sein!) tigen Amtes. Das Wort hat zunächst Herr Bundesminis- ter . Eine überzogene Öffentlichkeitsarbeit darf und kann nicht die Hauptaufgabe von Bundeskanzleramt und Bun- despresseamt sein. Laut Art. 65 des Grundgesetzes be- Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: stimmt der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik und Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sowohl trägt dafür die Verantwortung. Zu dieser Verantwortung die Außen- und Sicherheitspolitik als auch die Europa- muss es gehören, bei einem seit Jahren sichtlich überfor- politik stehen im Mittelpunkt dieser Debatte. Sie stehen derten Finanzminister hart einzugreifen, sprich: den Fi- seit einiger Zeit – morgen jähren sich die Terroran- nanzminister zu entlassen, weil er – bei einerBundes- schläge vom 11. September – auch im Mittelpunkt der verschuldung von 800 Milliarden Euro und einemArbeit, die der Deutsche Bundestag und die Bundesre- gesamtstaatlichen Defizit von 1,3 Billionen Euro – mitt- gierung zu leisten haben. lerweile im dritten Jahr in Folge verfassungswidrig die Verschuldung in zweistelliger Milliardenhöhe hoch- Ich möchte die Außenpolitik der Bundesregierung in treibt. dieser Debatte vor allem in drei Schwerpunkten darstel- len. Der eine Schwerpunkt ist dereuropäische Eini- Der Gipfel ist: Bereits der Entwurf des Haushalts für gungsprozess, der mit dem erfolgreichen Abschluss des 2004 weist – das gab es indieser Form noch nie – eine Verfassungskonvents einen entscheidenden Schritt nach verfassungswidrige Höchstverschuldung aus. vorn gekommen ist. Wir stehen jetzt vor einem weiteren Schritt. Die Regierungskonferenz muss durch die Vertre- (Beifall bei der CDU/CSU – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Unglaublich!) ter der Mitgliedstaaten juristisch das umsetzen, was der Konvent in einem Entwurf vorbereitet hat. Eine gesamtstaatliche Neuverschuldung aller Ebenen von 80 bis 90 Milliarden Euro in diesem Jahr ist unseren Ein weiterer Schwerpunkt sind die anhaltende He- Bürgern überhaupt nicht mehr vermittelbar. Herr Bun- rausforderung des Kampfes gegen den Terrorismus deskanzler, angesichts dieser Verschuldung, dieses Hin- und dabei – im Gesamtzusammenhang von europäi- treibens zum Staatsbankrott müssen wir unsere Kinder schem Einigungsprozess, zusammenwachsendem Europa vor diesem Finanzminister schützen. und gemeinsamen neuen Bedrohungen durch Terroris- mus, Massenvernichtungswaffen, Fundamentalismus, ja Ich möchte eine Schlussbemerkung machen. Vor kur- einen neuen Totalitarismus – auch die Neudefinition zem wurde die Drohung ausgesprochen, der Bundes-der transatlantischen Beziehungen. (B) kanzler und sein Außenminister träten 2006 noch einmal (D) an. Der letzte Schwerpunkt ist die Frage, wie sich die Welt von morgen tatsächlich organisieren soll. Wir mei- (Petra-Evelyne Merkel [SPD]: Gut so! – Zuruf nen mit unseren europäischen Partnern, dass sich eine vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wie gut!) Welt mit 6 Milliarden Menschen und nahezu 200 souve- ränen Staaten nur im Rahmen eines effektivenMultila- Ich will in diesem Zusammenhang auf die Kinderseiten teralismus wird organisieren können. Wir sind auch der der Homepage des Bundeskanzlers verweisen, die den Meinung, dass die Vereinten Nationen ihre Zukunft Titel „Kanzler für Kids“ tragen. Dort wird für die Kinder nicht hinter sich haben, sondern unter diesen Bedingun- in unserem Land erklärt: gen ihre eigentliche Zukunft erst noch vor sich haben: als die entscheidende Instanz dieses effektiven Multila- Der Kanzler ist ein Repräsentant. Deshalb ist esteralismus. ganz gut, dass ein Bundeskanzler nicht sein ganzes Leben Bundeskanzler ist, sondern nur ein paar (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jahre. und bei der SPD) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist gut! – Lassen Sie mich zunächst aufEuropa zu sprechen Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Fünf Jahre kommen. Es ist völlig klar – wir können das auch an den waren schon zu viel!) aktuellen Krisen sehen; die ganze Debatte heute Mor- gen, in der es um die wirtschaftliche Erneuerung ging, Herr Bundeskanzler, ein paar Jahre sind 2006 mit Si-hat das gezeigt –, dass selbst die größten Staaten unseres cherheit vorbei. Was man den Kindern verspricht, das Kontinents – die Bundesrepublik Deutschland, Frank- sollte man auch halten. reich, Großbritannien, Italien, Polen, Spanien, um nur Vielen Dank. die sechs größten zu nehmen – ohne den europäischen Einigungsprozess, ohne die feste Einbindung in Europa (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wohlstand, Sicherheit, Bildung und Ausbildung, soziale neten der FDP – Peter Hintze [CDU/CSU]: Sicherheit und nachhaltige Entwicklung nicht mehr ga- Sehr gut geredet!) rantieren könnten. Im Klartext: Unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts werden auch die größten Mitglied- staaten nicht mehr die kritische Betriebsgröße haben. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wenn der europäische Einigungsprozess nicht zustande Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. käme, würden wir alle gemeinsam verlieren. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5039

Bundesminister Joseph Fischer (A) Europa steht jetzt vor der Erweiterung. Die Erweite- sens über Verbesserungsvorschläge geben, dann werden (C) rung bedeutet, dass wir 25 Mitgliedstaaten bekommen. wir die Ersten sein, die diese mittragen würden, denn für Vielen Menschen, auch bei uns im Land, stellt sich die Verbesserungen sind wir immer zu haben. Frage – ich möchte nochmals darauf zurückgreifen –: Zugleich sollten wir aber den Fehler von Nizza nicht Warum diese Erweiterung? wiederholen. Die große Leistung, die derKonvent er- Nicht nur unter dem Gesichtspunkt von Stabilität,bracht hat, ist, dass zum ersten Mal 28 Beteiligte, nämlich von Frieden und Sicherheit hat sich unsere Lage nach die Repräsentanten der Parlamente und der Regierungen der deutschen Einheit durch den europäischen Eini-der jetzigen und der künftigen Mitgliedstaaten und Bei- gungsprozess dramatisch zum Positiven verändert.trittskandidaten, des Europaparlaments und der Kommis- Deutschland liegt heute inmitten eines zusammenwach- sion, also das institutionelle Quadrat der Europäischen senden Europas – eine historisch völlig andere Situation, Union, zusammengearbeitet haben. Nachdem es in Nizza als wir sie in den vergangenen Jahren, Jahrzehnten, ja nicht gelungen ist, mehr als einen Minimalkonsens zu Jahrhunderten gehabt haben. Gleichzeitig bedeutet esformulieren, ist ein Konsens über denVerfassungs- eine enorme wirtschaftliche wie auch politische Chance, entwurf im Rahmen der 28 erzielt worden. Deswegen ist dass sich dieses Europa erweitert. Es ist auch eine der die Bundesregierung so entschieden dafür, diesen Ent- Verpflichtungen, die sich aus dem Ende des Kalten Krie- wurf zu akzeptieren; ansonsten besteht die Gefahr, dass ges und der Erfahrung der Spaltung Europas ergeben. es zu Verschlechterungen kommt. Natürlich wäre es her- vorragend, wenn wir ihn im Rahmen der 25 verbessern Ich möchte noch auf etwas anderes hinweisen. Wir könnten. Wenn nicht, sollten wir aber die Stärke besitzen, mussten auch erkennen, dass dieses Europa nicht zwei zuzulassen, dass dieser Entwurf, den ich als einen sehr unterschiedlichen Prinzipien folgen kann, dass dasguten Kompromiss ansehe, auf der Regierungskonferenz Europa der Integration nicht mit dem Europa des Natio- tatsächlich staatsrechtlich finalisiert wird. nalismus koexistieren kann. Es war dies Anfang der 90er-Jahre – auf dem Balkan – eine schlimme Lektion, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die viele unschuldige Menschen das Leben gekostet hat, und bei der SPD) die die Europäer, wir alle gemeinsam, zu lernen hatten. Hätten Sie mich vor dem 11. September 2001 gefragt, Es war dringend notwendig, zu erkennen, dass diesem hätte ich Ihnen drei Punkte genannt, die den europäi- Morden nicht weiter zugeschaut werden konnte. Dass schen Einigungsprozess dynamisieren: die Erweiterung, wir heute auch für den westlichen Balkan die Perspek- der Druck, der sich durch die Einführung des Euro für tive hin zum Europa der Integration haben, ist für unsere die weitere Integration ergibt, und internationale Krisen- Sicherheit ebenfalls von zentraler Bedeutung. situationen. Heute stehen dieinternationalen Krisen (B) Damit dieses Europa der 25 und mehr Mitgliedstaaten neben der Erweiterung fast an der Spitze der Agenda.(D) funktioniert, damit die Erweiterung erfolgreich sein kann, Auch hier müssen wir sehen, dass die Europäer insge- sind drei Schritte notwendig, die nicht in einer formellen samt in der Frage des Kampfes gegen den internationa- Verbindung, aber in einem politischen Zusammenhang len Terrorismus gefordert sind. Es war für uns völlig stehen. Nach der Erweiterung ist der zweite Schritt die klar, dass wir nach dem mörderischen Angriff auf die grundlegende Reform der europäischen Institutionen. Menschen und die Regierung der Vereinigten Staaten Ursprünglich waren die europäischen Institutionen für von Amerika das Äußerste unternehmen müssen – das sechs Mitgliedstaaten, später für zwölf Mitgliedstaaten haben wir dann ja auch unternommen –, um unseren An- gedacht und jetzt sind sie für 15 Mitgliedstaaten da.teil im Kampf gegen den Terrorismus zu leisten, und Schon mit 15 ist es sehr, sehr schwierig. Es wird aberzwar nicht nur aus Bündnisverpflichtungen, sondern extrem schwierig, wenn nicht fast unmöglich, sich eine auch aus der Erkenntnis, dass sich dieser Terrorismus, effiziente, eine transparente und eine im Interesse derbasierend auf einem neuen islamischen Totalitarismus, Menschen und der Mitgliedstaaten wirkungsvolle Euro- nicht nur gegen die Vereinigten Staaten von Amerika päische Union mit 25 und mehr Mitgliedstaaten ohne eine und ihre Menschen richtet, sondern auch gegen uns. grundsätzliche Reform und ohne eineErneuerung der Deswegen müssen wir hier gemeinsam dieser Gefahr Demokratie in diesem erweiterten Europa zu denken. entgegentreten und dort, wo es notwendig ist, diesem Terrorismus auch mit bewaffneten Mitteln das Hand- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werk legen und seine Strukturen zerstören. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Darin liegt die eigentliche Leistung des Konvents. und bei der SPD) Ich möchte das aufnehmen, was der Bundeskanzler Für uns war aber auch immer klar, dass es damit nicht heute Morgen gesagt hat. Zugleich weiß ich nicht, was sein Bewenden haben darf. Wenn wir den Kampf gegen sich der bayerische Ministerpräsident eigentlich vor-den Terrorismus ernst nehmen, müssen wir auch die Ur- stellt. Es lehrt uns doch die Erfahrung – das sage ich aus sachen entsprechend bekämpfen und dort, wo er Kraft eigener Anschauung, aber auch Sie haben diese Erfah- aus unhaltbaren Zuständen zieht und seine territoriale rung während der Regierungszeit Kohls häufig genug Rückzugsbasis findet, so lange stabilisierend eingreifen, gemacht –, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die Staaten bis solche Bedingungen hergestellt sind, dass die Wur- bei der anstehenden Regierungskonferenz etwas Besse- zeln des Terrorismus im Boden keinen Halt mehr finden res produzieren, aufgrund der jeweils legitimen nationa- und die vorhandenen entweder ausgerissen werden oder len Interessen sehr gering ist. Sollte es tatsächlich Kon- vertrocknen. 5040 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Bundesminister Joseph Fischer (A) Der Afghanistan-Konflikt war lange Zeit ein verges- – Kein Vorwurf! Ich möchte Ihnen hier nur direkt ant-(C) sener Konflikt. Er war eine Sache für humanitäre Orga- worten. – In Kunduz haben wir die Zustimmung des re- nisationen, für die Vereinten Nationen und für die Refe- gionalen Machtinhabers, um es einmal so zu formulieren. rate für humanitäre Hilfe in den zuständigen Ministerien, In Herat sind die Bedingungen, was die Sicherheitslage stellte zugleich aber auch eine große menschliche Kata- betrifft, ebenfalls gegeben, aber es stellt sich die Frage, strophe vor allen Dingen für die Kinder, die Krankenob wir dahin im Konsens gehen oder nicht. Das war letzt- und die Alten im Winter, eines jeden Jahres dar. Dieser endlich entscheidend in der Abwägung zwischen Kunduz Konflikt war ebenso vergessen, wie andere Konflikteund Herat. vergessen wurden. Exakt aus solch einem vergessenen Konflikt entstand am 11. September eine Gefahr für die So wichtig die NGOs sind:Es geht nicht hauptsäch- internationale Stabilität und Ordnung. Daraus müssen lich darum, NGOs zu schützen. In erster Linie geht es wir die Konsequenz ziehen, dass solche Konflikte nicht um den politischen Prozess. Wir werden im nächsten mehr dem Vergessen anheim fallen dürfen. Genau daraus Jahr einen höheren mobilen Faktor bei ISAF brauchen, ergibt sich der Stabilisierungsauftrag. um die Wählerregistrierung und die Wahlvorbereitung entsprechend umzusetzen. Aber auch das ist es nicht al- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lein, sondern hinzu kommt die Ausdehnung des Institu- und bei der SPD) tionenbaus; ich nenne Polizeiaufbau, Ziviladministra- tion, Infrastruktur. In dem Zusammenhang spielen dann In der heutigen Welt haben wir es mit drei Ebenen zu auch die NGOs eine ganzgewiss nicht unwesentliche tun: Auf der untersten Ebene der vergessenen Konflikte Rolle. Das ist der Gesamtansatz. stehen Staaten mit zusammengebrochenen Strukturen. Auf der zweiten Ebene stehen die Konflikte, wo regio- Es gibt zwei andere Alternativen: Entweder wir blei- nale Akteure agieren: Der Nahostkonflikt ist dabei einer ben nur auf Kabul begrenzt – das würde bedeuten, dass der gefährlichsten, aber auch der Kaschmirkonflikt und wir den Petersberg-Prozess an einem bestimmten Punkt die Konflikte im nördlichen und südlichen Kaukasus und abbrechen, das kann allen Ernstes niemand wollen – an vielen anderen Stellen der Welt, insbesondere oder in aber wir brauchen einen Aufwuchs um 10 000 und Afrika, zählen dazu. mehr zusätzliche Soldaten, was ich schlicht und einfach Die oberste Ebene sind die großen Mächte und ihre unter praktischen Gesichtspunkten in der internationalen Bündnisse. Wir Europäer werden uns, wenn wir unsere Gemeinschaft als nicht darstellbar und nicht machbar an- Sicherheit und die Sicherheit unserer Kinder ernst neh- sehe. Wir müssen dann auch Acht geben, dass wir nicht men, engagieren müssen, vor allen Dingen in unserem die Frage nach der Hilfe zur Selbsthilfe, nach der Hilfe strategischen Umfeld. Wir dürfen nicht einen neuen To- zur Wiedergewinnung der Souveränität schließlich über- (B) talitarismus zulassen. Deswegen sind wir in Afghanis- lagern durch etwas, was Besatzung heißt. (D) tan. In Afghanistan sein bedeutet, dass wir umsetzen Das sind die Entscheidungsalternativen, vor denen die müssen, was Brahimi gelungen ist, nämlich einen Kon- Bundesregierung steht. Ich würde mich freuen, wenn wir sens herbeizuführen und ihn in den Petersberg-Vereinba- nach einer intensiven Diskussion der noch offenen Fra- rungen entsprechend auszuformulieren. gen auf eine breite Unterstützung des Hauses zurück- Dazu wird auch gehören, dass wir jetzt über Kabul hi- greifen könnten. naus Anstrengungen unternehmen. Das heißt im Klar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN text, dass wir sehr sorgfältig prüfen, wie weit wir uns be- und bei der SPD) teiligen können, nachdem die NATO dort die Führung des ISAF-Einsatzes übernommen hat, wie weit wir uns Lassen Sie mich zwei weitere Punkte ansprechen: in dem vor uns liegenden Jahr, in dem es in RichtungAuf den Irak ist der Bundeskanzler heute Morgen schon Wahlen geht – vorher gibt es noch die verfassungsge- eingegangen. Ich möchte die Debatte nicht rückblickend bende Loya Jirga –, über Kabul hinaus mit einer soführen, weil wir den Frieden gemeinsam gewinnen müs- genannten ISAF-Insel oder mit einem Rekonstruktions- sen. Nur nützt es nichts, jetzt wieder eine militärisch ver- team auf Provinzebene verstärkt engagieren können. kürzte Debatte zu führen. Uns wurde offensichtlich – ich sage das in Richtung der Opposition – lange vorgehal- Kollege Schäuble, ich habe nicht ganz verstanden,ten, für uns seien wesentlich wahltaktische Gründe aus- was ich gestern in der „FAZ“ gelesen habe. Sie sagten, schlaggebend gewesen. Ich habe Ihnen immer wieder die Begründung für den Einsatz in Kunduz sei falsch. gesagt: Es waren nicht wesentlich wahltaktische Gründe. Ich habe es zweimal gelesen und immer noch nicht ver- standen. Das mag ja an mir liegen. ( [CDU/CSU]: Doch Überwiegend!) (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ein drit- tes Mal!) – Ich will Ihnen einmal etwas sagen. Ich finde es völlig Aber ich will Ihnen sagen, warum die Entscheidung für legitim – das würde ich Ihnen nie vorwerfen –, dass de- Kunduz richtig ist. Sie haben gesagt: Herat und nichtmokratische Parteien selbstverständlich Wahltermine Kunduz. Da Sie gestern nicht im Ausschuss waren,und die Frage nach Mehrheit oder nicht Mehrheit in möchte ich hier die Gelegenheit nutzen. Wahlen als ein ganz wesentliches Datum ihrer Politik veranschlagen. Das geschieht nicht nur bei uns, das ge- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ich war schieht, Gott sei Dank, auch bei Ihnen so. Das geschieht in Paris! Grüße von Ihrem Kollegen!) nicht nur hier so, das geschieht auch bei europäischen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5041

Bundesminister Joseph Fischer (A) und amerikanischen Partnerstaaten so. Das ist völlig und erst recht nicht darum, ob das westliche oder deut- (C) klar. sche Truppen sein sollten.An erster Stelle steht die Frage, ob die Strategie, die erwiesenermaßen eine Ent- ( [CDU/CSU]: Aber nicht, indem wicklung eingeleitet hat, die man nicht als gut bezeich- sie die Außenpolitik instrumentalisieren!) nen kann – um es diplomatisch zu formulieren –, nicht – Was heißt hier „instrumentalisieren“? notwendigerweise geändert werden muss. (Zuruf von der CDU/CSU: Innenpolitisch in- Deswegen begrüßen wir die Initiative der amerika- strumentalisieren!) nischen Regierung in Form eines neuen Resolutions- entwurfes; denn das ist ein sehr gutes Element. Wir sind – Haben Sie sich einmal überlegt, wo wir heute wären, der Meinung, dass der möglichst schnelleWiederauf- wenn wir Ihrem Ratschluss gefolgt wären? Ich habe Ih- bau der irakischen Souveränität und Autorität an ers- nen schon im Februar letzten Jahres gesagt, welcheter Stelle stehen muss. Der Bundeskanzler hat heute Punkte für uns die wesentlichen waren: erstens, Be-Morgen in seiner Rede darauf hingewiesen. kämpfung des Terrorismus. Wurden bei dieser Entschei- dung im Kampf gegen den Terrorismus wirklich die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN richtigen Prioritäten gesetzt? Würde ein Krieg im Irak zu und bei der SPD) diesem Zeitpunkt den Terrorismus eher stärken oder Vorher muss es einen Übergangszeitraum geben. Der di- schwächen? Das war eine ganz entscheidende Frage, mit rekte Abzug der Truppen würde zu einem Vakuum füh- der wir nicht irgendetwas instrumentalisieren wollten, ren, das hochgefährlich wäre – milde ausgedrückt. sondern die mehr als legitim war, wie wir jetzt sehen. Wir sind der Meinung, dass dieVereinten Nationen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN während dieses Übergangszeitraums – Kofi Annan hat und bei der SPD) das gestern dankenswerterweise öffentlich gesagt – die Der zweite Punkt betraf die regionale Stabilität. Wie zentrale Rolle spielen sollten. Das halte ich aufgrund der sehen die Konsequenzen aus? im Vordergrund stehenden Befreiung und der Transfor- mation zu einer irakischen Souveränität für sehr wichtig. Die dritte Frage, die wir immer gestellt haben, lautete: Darin besteht übrigens einer der zentralen Unterschiede Sind die Gründe belastbar? In Demokratien sind diezum Prozess in Afghanistan. Dort ist es gelungen, einen Gründe ganz entscheidend für die Unterstützung durch Konsens zu erreichen, der zwar fragil ist und enorme die Mehrheit der Bevölkerung, also für die Durchhalte- Schwierigkeiten birgt, aber immerhin existiert. Es gibt fähigkeit, vor allem wenn es schwierig wird. Unsereeinen politischen Prozess der Wiedererlangung der af- (B) Sorge war immer, dass dies zu einer Entwicklung bei- ghanischen Souveränität und das ist von ganz entschei- (D) trägt, die die Region alles andere als stabilisiert. Bedeu- dender Bedeutung. tet es instrumentalisieren, wenn wir das immer wieder gesagt haben? Oder waren das nicht, vor allem im Nach- Ich halte es ferner für dringend geboten, die modera- hinein im Lichte der bitteren Erfahrungen, zwingende ten arabischen und islamischen Staaten einzubeziehen, Gründe? sowohl in der Frage des Wiederaufbaus als auch in der Frage der Sicherheit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ich führe einen weiteren Punkt an, mit dem wir, wie ich befürchte, ebenfalls zu tun bekommen werden, näm- Des Weiteren sind wir bereit zur aktiven Beteiligung lich die Frage der territorialen Integrität des Iraks. Auch an der humanitären Hilfe, wie es der Bundeskanzler das ist bezüglich der Konsequenzen für die regionalegesagt hat, und zum Wiederaufbau. Wir sind bereit, uns Stabilität keine unwichtige Frage. zu engagieren, wenn die Bedingungen klar sind. Dabei müssen allerdings Transparenz und internationale Kon- Auf diesen Gründen haben wir unsere Position aufge- trolle herrschen. Das ist für uns ein wesentlicher Ge- baut. Ich finde, das sind sehr gute und zwingendesichtspunkt. Gründe. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Nun möchte ich nicht über die Haltung der Union SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) diesbezüglich diskutieren; es geht nicht darum, zurück- zublicken. Aber Sie sollten zumindest für die Zukunft Ich sehe mit großer Sorge, dass gleichzeitig imNa- aus diesen Erfahrungen lernen. Aus meiner Sicht wird es hen Osten eine dramatische Eskalation droht. Der Ter- entscheidend darauf ankommen, ob die Anwesenheitror muss ein Ende haben. Das Existenzrecht Israels ist fremder Truppen im Irak vonder Bevölkerung eher als für uns als Bundesregierung von entscheidender Bedeu- Besatzung oder als Befreiung empfunden wird. Das ist tung. die politische Grundfrage. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) CDU/CSU und der FDP) Das heißt, es geht nicht hauptsächlich um die Frage, Seine Menschen müssen in Frieden leben können. Damit ob weitere Truppen in den Irak geschickt werden sollten, das möglich wird, werden auch die Palästinenser eine 5042 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Bundesminister Joseph Fischer (A) Perspektive brauchen. Sie brauchen einen eigenen de- lateralismus, dem sich die Bundesregierung verpflichtet (C) mokratischen Staat, eine eigene Zukunft. weiß, eingebunden in das zusammenwachsende Europa und eingebunden in das transatlantische Bündnis. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ich danke Ihnen. Deswegen wird es am Endenicht anders gehen als mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einem solchen Kompromiss. Ich möchte daher an die und bei der SPD) Konfliktparteien appellieren, vor allem an die palästi- nensische Seite, alles zu tun, um den Terror zu unterbin- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: den, ihn zu beenden. Gleichzeitig appelliere ich auch an Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang die andere Seite, alles zu tun, um eine Rückkehr zum Schäuble. Verhandlungstisch zu ermöglichen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Gerade diese Krisen machen klar, wie wichtig die transatlantischen Beziehungen sind. Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Erklärungen von Außenministern haben es gelegentlich (Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang Schäuble an sich, dass sie so allgemein und rundgeschliffen sind, [CDU/CSU]) dass sie noch nicht einmal falsch sind. Das war jetzt in weiten Teilen auch so, Herr Bundesaußenminister. Aber – Ich will es Ihnen gerne sagen. Wenn wir Ihrem Rat ge- das, was Sie zum Schluss zum transatlantischen Verhält- folgt wären, dann würden wir uns heute in einer Situa- nis gesagt haben, hat die Union ziemlich genau so schon tion befinden, in der andere Staats- und Regierungschefs vor einem Jahr gesagt. sind. Ich wollte diese Debatte nicht anfangen. Aber ich habe die Zitate alle da, auch von Ihnen, Verehrter. Ich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) habe alle Zitate zu dem da, was Sie vorgeschlagen ha- ben. Ich bin einmal gespannt, was Sie dazu sagen. Ich Sie haben damals aus Wahlkampfgründen das transatlan- kann nur sagen: Es würde Ihnen gut anstehen, sich an tische Verhältnis und die europäische Einigung mutwil- dem Punkt etwas zurückzuhalten. lig und nachhaltig beschädigt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – und bei der SPD – Dr. Friedbert Pflüger [CDU/ Joseph Fischer, Bundesminister: Unglaublich! – (B) CSU]: Was soll denn das?) Gegenruf des Abg. Jörg van Essen [FDP]: Zu- (D) rufe von der Regierungsbank sind nicht zu- – Das will ich Ihnen sagen. Herr Pflüger, ich werde Ihren lässig!) Auftritt in München nicht vergessen. Das sollte man sich noch einmal anschauen. Darüber hinaus ist das, was Sie gesagt haben, in sei- ner Allgemeinheit mit den konkreten Widersprüchen der (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Dito!) Politik der Bundesregierung schwer in Übereinstim- mung zu bringen, was man übrigens schon an Folgen- Offensichtlich drängen Sie das alles weg. dem merkt – das nur als Beispiel aus der Debatte von Für mich ist von entscheidender Bedeutung: Dieheute Morgen –: Zu ein und demselben Gespräch, abge- transatlantischen Beziehungen sind ein Eckpfeiler für druckt in einer großen deutschen Tageszeitung, für das Frieden und Stabilität. Das heißt, dass wir uns als Partner mich der Bundeskanzler heute Morgen gelobt hat, haben begegnen müssen. Sie jetzt gesagt, Sie hätten es nicht verstanden. Können Sie sich nicht wenigstens darauf verständigen, wie Sie (Beifall bei Abgeordneten der SPD) die wenigen Sätze, die da von mir zitiert waren, interpre- Das heißt aber auch, dass wir den neuen Bedingungen, tieren? Das ist aber nicht so wichtig. den neuen Herausforderungen und den neuen Gefahren Frau Merkel hat in der Debatte heute Vormittag dem Rechnung tragen müssen. Für unsere Freunde in den Bundeskanzler und der Bundesregierung vorgeworfen, Vereinigten Staaten heißt das: Ein zusammenwachsen- die Politik der Bundesregierung ermangele eines klaren des Europa löst einerseits Sorgen aus, bringt aber, wie Ziels und einer klaren Grundausrichtung. Das ist auch in wir auf dem Balkan gesehen haben, auch Partnerschafts- der praktischen Ausgestaltung Ihrer Außen-, Sicher- gewinn mit sich. Mit diesem dynamischen Faktor heits- und Europapolitik der Fall. müssen wir umgehen. Daher brauchen wir eine neue strategische Debatte, eine Grundsatzdebatte im trans- Ich will das am BeispielAfghanistan erläutern. Sie atlantischen Verhältnis. haben gesagt, Sie hätten unsere Haltung nicht verstan- den. Unsere Position ist völlig klar. Wir teilen die Ein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schätzung, dass es nicht nur unsere amerikanischen Part- und bei der SPD) ner, sondern uns alle betrifft – auch der Bundeskanzler Wenn dies partnerschaftlich und auf der Grundlage ge- und Sie haben das heute glücklicherweise gesagt –, meinsamer Interessen und gemeinsamer Werte geschieht, wenn es in Afghanistan oder im Irak schief geht. Wir sit- dann, denke ich, werden wir einen wichtigen Beitrag zu zen in einem Boot; wir sind in dieser globalisierten Welt einem effektiven Multilateralismus leisten, einem Multi- eine Schicksalsgemeinschaft im Kampf gegen den inter- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5043

Dr. Wolfgang Schäuble (A) nationalen Terrorismus und gegen Instabilitäten. Die Ich sage noch einmal, um sicherzustellen, dass wir(C) Entwicklung in Afghanistan, im Irak und im Nahen und nicht aneinander vorbeireden: Wir teilen die Einschät- Mittleren Osten berührt nicht nur amerikanische Interes- zung, dass die Bemühungen in Afghanistan nicht schei- sen, sondern auch unsere. Deswegen haben wir ein ge- tern dürfen, dass ein Rückzug eine Katastrophe für uns meinsames Interesse, dass das Engagement in diesenalle wäre und dass man deswegen das Engagement nicht Regionen erfolgreich ist. allein auf Kabul beschränken darf. Aber wir sind der Meinung, dass die Begründung stimmiger sein muss, da- (Beifall bei der CDU/CSU) mit wir die Verantwortung übernehmen können, wenn wir den Soldaten der Bundeswehr diese gefährlichen Die Entwicklung in Afghanistan ist so, wie Sie sie be- Einsätze zumuten. schrieben haben. Wir haben folgende Alternative – der Verteidigungsminister hat es vor einiger Zeit gesagt –: Ich will noch ein Weiteres sagen. Sie haben vor der Entweder wir erweitern unser Engagement über Kabul Sommerpause die Zustimmung der Fraktionsführungen hinaus und schaffen auch an anderen Orten Stabilitätzu einer Fact Finding Mission in Herat erbeten. Wir oder wir beschränken uns ausschließlich auf Kabul.haben sie erteilt. Aber wir haben bis heute keinen Be- Aber das macht auf Dauer gesehen keinen Sinn, weilricht über das Ergebnis dieser Fact Finding Mission in von einer „Insel“ keine positive Entwicklung ausgehen Herat bekommen. Sie müssen sich Folgendes schon vor- kann. halten lassen: Wenn Sie so ausführlich über das Ergebnis der Mission in Kunduz berichten, aber kein Wort über Herr Bundesaußenminister, Sie haben noch nicht er- das Ergebnis der Mission in Herat verlieren, dann müs- klärt – auch heute nicht –, was sich eigentlich geändert sen wir den Verdacht hegen, dass irgendetwas an Ihrer hat. Ich erinnere mich genau, dass der deutsche Außen- Begründung nicht stimmt. minister anlässlich der Petersberg-II-Konferenz im De- zember vergangenen Jahres erklärt hat, eine Ausweitung (Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- von ISAF über Kabul hinaus komme nicht infrage. NEN): Das haben wir doch gestern im Aus- wärtigen Ausschuss diskutiert! Das war doch (Joseph Fischer, Bundesminister: Das habe ich alles völlig eindeutig! – Gegenruf von der gestern im Ausschuss erklärt!) CDU/CSU: Wie soll man das denn machen? Wir waren doch im Plenum des Bundestages! – Ich war gestern in Paris, wo ich mit Ihrem französi- Haben Sie das nicht kapiert?) schen Kollegen gesprochen habe. Die deutsche Bot- schaft war auch vertreten. Sie werden sicherlich ihren Sie legen doch die Unterlagen nicht vor. Sie haben Bericht bekommen. Fragen Sie doch einmal Ihren fran- uns noch nicht einmal den Bericht des zuständigen Bun- (B) zösischen Kollegen, was er von Ihrer Politik in Afgha- deswehrgenerals vorgelegt. Ich habe ihn trotz Anforde- (D) nistan hält. Ich darf Ihnen sagen – ich sage es ganz vor- rung vom Verteidigungsministerium nicht bekommen. sichtig; ich komme gleich noch darauf zurück Sie –: haben mehr zu verbergen, als Sie offenbaren wollen. ziemlich wenig. Das wird auch in dem Bericht der Bot- Wenn wir diese Entscheidung treffen wollen, brauchen schaft über dieses Gespräch stehen. wir Klarheit. Das Konzept muss stimmig sein. Reden Sie nicht an der Sache vorbei! Ich möchte Ihnen nun die Widersprüche aufzeigen. Sie müssen sagen, was sich in der Zwischenzeit geändert (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hat. Geändert hat sich die Einschätzung – wahrschein- Wir stimmen darin überein, dass sich deutsche lich richtigerweise –, was das Verhältnis der Zentralre- Außenpolitik im Wesentlichen im europäischen Verbund gierung in Kabul, der Übergangsregierung Karzai, zuvollziehen muss. Für die europäische Außen- und den regionalen Machthabern betrifft. Sie wollen sich vor Sicherheitspolitik ist die Beziehung zu unserem atlanti- der Antwort auf die Frage drücken, wie sich Ihre Ein- schen Partner der entscheidende Punkt. Wir müssen uns schätzung geändert hat. Sie stoßen dann nämlich schnell besser verständigen, als es im vergangenen Jahr der Fall auf Fragen bezüglich des Drogenanbaus und auf diegewesen ist. Die atlantische Partnerschaft wurde mutwil- Frage, wie das Verhältnis dieser regionalen Machthaber lig beschädigt. Die Fehler sind auf beiden Seiten und zum internationalen Terrorismus ist. nicht nur auf einer Seite gemacht worden. Das haben wir (Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!) immer gesagt.

Warum müssen wir eigentlich ausgerechnet in derje- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: nigen Provinz, in der der starke Mann im Kabinett Herr Kollege Schäuble, gestatten Sie eine Zwischen- Karzai das Sagen hat – er unterhält eine Privatarmee in frage des Abgeordneten Struck? einem beträchtlichen Umfang –, die Autorität der Regie- rung Karzai stärken? Das sind Widersprüche, die Sie uns erklären müssen. Sie müssen das nicht nur uns – der Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Bundestag muss diesem Einsatz zustimmen –, sondern Bitte sehr. auch den Soldaten der Bundeswehr erklären, denen wir gemeinsam diese gefährlichen Einsätze zumuten. Das ist Dr. Peter Struck (SPD): doch der Punkt. Herr Kollege Schäuble, Sie haben gerade ange- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sprochen, die Bundesregierung habe nicht über die 5044 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Dr. Peter Struck (A) Ergebnisse des Fact Finding Teams in Bezug auf Herat, zwar Sinn machen; aber man sollte begründen, warum(C) Charikar und zuletzt Kunduz berichtet. das eine zu unsicher ist, um die Bundeswehr dort hinzu- schicken, und warum man die Bundeswehr an den ande- Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): ren Ort schickt. Ihre bisherige Begründung macht keinen Sinn. Über Kunduz schon. Ich wollte damit sagen: Wir wollen gemeinsam unse- Dr. Peter Struck (SPD): ren Beitrag dazu leisten, Afghanistan zu stabilisieren. Dabei sollten die Dinge nicht vermischt werden. Sie Gut, dann eben nur über die ersten beiden Orte nicht. sollten genauere und stimmigere Begründungen liefern. Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, Herr Kol- Diese fehlen uns und sollten nachgereicht werden. lege Schäuble, dass die Bundesregierung über beide Missionen, also über die in Bezug auf Herat und die in Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bezug auf Charikar, berichtet hat, und zwar der Außen- minister im Auswärtigen Ausschuss und ich den Obleu- Herr Kollege Schäuble, gestatten Sie noch eine Zwi- ten des Verteidigungsausschusses – in Sondersitzun-schenfrage des Abgeordneten Nolting? gen –, und dass wir in dem Afghanistanpapier, das wir den Fraktionen zugeleitet haben, die Gesamtsituation in Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): dieser Region dargestellt haben? Ich wollte eigentlich noch etwas zu Herrn Struck sa- Herr Kollege Schäuble, ich möchte Sie bitten, dengen. Vorwurf, wir hätten nicht ausführlich informiert, im Hin- blick auf die Informationen, die wir in den Fachaus- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: schüssen gegeben haben, zurückzunehmen. Entschuldigung, ich habe Ihre letzten Sätze als Ende Ihrer Antwort auf die Frage des Herrn Struck empfun- Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): den. Ich habe die Redezeit bisher gestoppt. Sie können Wenn das gestern gewesen ist, so entzieht sich dasweiter auf Herrn Struck eingehen. meiner Kenntnis. (CDU/CSU): (Dr. Peter Struck [SPD]: Gestern, aber auch in Dr. Wolfgang Schäuble Sitzungen vor der Sommerpause, Herr Kollege Ich werde gleich noch etwas dazu sagen. – Herr Schäuble!) Nolting. (B) – Vor der Sommerpause konnten Sie nicht über das Er- (D) gebnis der Herat-Mission berichten. Die hat nämlich erst Günther Friedrich Nolting (FDP): im Sommer stattgefunden. Herr Kollege Schäuble, teilen Sie mein Unverständnis darüber, dass es Bundesminister Struck gestern abge- (Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr richtig! Das lehnt hat, den Bericht des Generals Riechmann an das stimmt!) Parlament weiterzuleiten, mit dem Hinweis, dies sei ein Verdrehen Sie die Dinge nicht! Bericht für die Regierung? In der Unterrichtung, die die Bundesregierung den Vorsitzenden der Fraktionen gegeben hat und an der Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Frau Merkel und Herr Glosfür unsere Fraktion teilge- Das hatte ich soeben angesprochen. Dieses Unver- nommen haben, ist nicht über Herat, sondern nur über ständnis teile ich ausdrücklich; ich rüge es. Denn die Kunduz berichtet worden. Bundesregierung kann so nicht mit dem Parlament um- gehen, da wir als Parlament als Ganzes die Verantwor- (Dr. Peter Struck [SPD]: Nein, das stimmt tung für gefährliche Einsätze der Bundeswehr tragen nicht!) müssen. Sie können äußerstenfalls sagen, Sie hätten gestern darü- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ber unterrichtet. Ich bin heute Morgen aus Paris zurück- gekommen und weiß nicht, was gestern gewesen ist. Da Herr Bundesverteidigungsminister, ich habe gerade war ich nicht anwesend. von meinem Kollegen Friedbert Pflüger eine Agentur- meldung gereicht bekommen – dies ist eine Meldung der Mein Kenntnisstand ist: In der Unterrichtung der „Financial Times“ –, in der ich lese, dass Sie beabsich- Fraktionsvorsitzenden über Kunduz haben Sie nicht über tigen, schon in den nächsten Tagen ohne ein Mandat des Herat berichtet. Ich vermute, Sie haben dafür Gründe. Bundestages ein Organisationsvorauskommando nach Denn es war bemerkenswert, dass an dem Tag, an dem Kunduz zu entsenden. Sie gesagt haben, die Mission in Kunduz könne man durchführen, weil es dort hinreichend sicher sei, sodass (Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- man diese Mission den Soldaten der Bundeswehr zumu- NEN]: Das haben wir doch völlig einvernehm- ten könne, während man die Bundeswehr nicht nach He- lich im Ausschuss besprochen! Pflüger hat ge- rat schicken könne, die Entwicklungshilfeministerin hat schlafen! – Gernot Erler [SPD]: Sie können streuen lassen, nach Herat könne man eine zivile Mis- uns doch nicht dafür haftbar machen, dass Sie sion ohne militärische Absicherung schicken. Das mag nicht da sein konnten! Das geht jetzt zu weit, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5045

Dr. Wolfgang Schäuble (A) Herr Schäuble! – Uta Zapf [SPD]: Es haben ISAF-Mandat erlaubt auch eine Bewegung deutscher(C) alle zugestimmt! Es ist doch verlogen, was Sie Soldaten außerhalb Kabuls, wenn es darum geht, Ab- jetzt machen!) stimmungsgespräche zu führen. Ich werde Ihnen das nachher in der Verteidigungsdebatte ausführlich erläu- – Machen Sie doch hier kein Ablenkungsmanöver! tern können. Im Übrigen bin ich nicht für Agenturmel- (Uta Zapf [SPD]: Alle haben genickt und ha- dungen verantwortlich. ben zugestimmt! Es hat nicht einer etwas da- gegen gesagt!) Ich habe übrigens veranlasst, dass auch Ihr Büro ei- nen Brief, den ich an die Fraktionsvorsitzenden ge- Frau Präsidentin, ich würde jetzt gerne die Agentur- schrieben habe – das haben wir gestern im Auswärtigen meldung vom 10. September vorlesen: Ausschuss verabredet –, erhält. In diesem Brief infor- (Gernot Erler [SPD]: Wir brauchen keine miere ich über das Vorhaben der Bundesregierung und Agenturmeldungen! Wir waren dabei!) lege dar, dass wir, wenn unsere Zielrichtung eingehalten werden soll, noch vor Eintritt des Winters in Afghanistan Für die Entsendung eines Organisationsvorauskom- eine Art Vorauskommando installieren müssen, das da- mandos unter einem noch weitgehend auf Kabulfür sorgen soll, dass im März das Wiederaufbauteam in beschränkten Bundestagsmandat wolle der Minister voller Funktion tätig werden kann. in den nächsten Tagen Jetzt sollen ganz praktische Fragen geklärt werden: – also nicht gestern – Können wir das Gehöft der Amerikaner in Kunduz über- alle Fraktionschefs um Zustimmung bitten, schreibt nehmen? Was ist mit dem Flugplatz in Kunduz? Wie das Blatt. Mit dem Marschbefehl für ein Voraus- sieht die Zusammenarbeit mit den Amerikanern in Ba- kommando ohne Abstimmung im Bundestags-gram und mit der NATO in Kabul aus? Darüber hinaus plenum definiere Struck die bisherige Parlaments- müssen viele andere Dinge geklärt werden. praxis im Interesse einer raschen Ausweitung des Die Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses werden Afghanistan-Einsatzes um. bestätigen, dass ich das ausführlich dargelegt habe. Ich sage Ihnen: Ich glaube nicht, dass Sie die Zustim- (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Sie haben mung der CDU/CSU-Fraktion bekommen werden. kein Wort dazu gesagt!) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Unglaublich! – Zu- Darüber gab es keinen Beschluss und ich habe auch kei- rufe von der SPD: Warum nicht?) nen erbeten. Mein Eindruck war aber – diesem kann – Weil Sie damit vollendete Tatsachen schaffen. – Zuerst durchaus widersprochen werden; wir diskutieren ja (B) (D) müssen die Fragen geklärt werden, dann können wirnachher über den Verteidigungshaushalt –, dass unab- über den Einsatz in Kunduz entscheiden. Das kannhängig davon, ob der Bundestag – wir vermuten, im Ok- schnell geschehen, aber zuerst müssen Sie unsere Fragen tober – zustimmen wird oder nicht, geklärt werden muss, beantworten. Sie sollten nicht durch die Hintertür die unter welchen Bedingungen – sie beziehen sich auf die Zustimmung des Parlaments unterlaufen. dortigen Verhältnisse und auf die Kosten, die auf uns zu- kommen werden – wir vor Ort sein können. Unter Be- (Beifall bei der CDU/CSU) rücksichtigung dessen ist die Maßnahme, die ich ange- ordnet habe, sinnvoll. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich bitte Sie also, Ihren Vorwurf, ich wolle das Parla- Herr Kollege Schäuble, gestatten Sie noch eine Zwi- ment umgehen, zurückzunehmen. schenfrage des Abgeordneten Struck? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): DIE GRÜNEN) Bitte. Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Dr. Peter Struck (SPD): Auch ich will keine Schärfe in die Debatte bringen. Herr Kollege Schäuble, manche Ihrer ÄußerungenWenn es darum geht, Fragen zu klären, die die Entschei- kann ich mir nur dadurch erklären, dass Sie an Sitzun- dung ermöglichen, dann ist das in Ordnung. Allerdings gen, in denen die Bundesregierung informiert, nicht teil- fragt man sich, was die Fact Finding Mission getan hat, nehmen. wenn jetzt schon wieder erkundet werden soll. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist etwas anderes!) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das ist eine zweite Frage. Wir werden das klären, aber Ich will aber keine Schärfe in die Debatte bringen; denn das ist nicht der entscheidende Punkt. ich glaube, wir sind uns in der Zielrichtung einig. Wir alle, unsere Fraktionsvorsitzende, der Kollege Ich habe gestern im Auswärtigen Ausschuss in einer Pflüger, ich und andere, haben gesagt: Wir sind im Sondersitzung, an der Sie wegen Ihrer Paris-Reise nicht Grundsatz der Meinung, dass wir unseren Beitrag, so- teilnehmen konnten, und am Morgen den Obleuten des weit er verantwortbar ist, leisten müssen, um über Kabul Verteidigungsausschusses Folgendes erläutert: Dashinaus Stabilität zu schaffen. Wir glauben aber, es muss 5046 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Dr. Wolfgang Schäuble (A) eine in sich stimmige und gegenüber den Soldaten be- nig. Es muss uns aber auch darum gehen, unseren wich- (C) gründbare Politik sein. tigsten und verlässlichsten Partner in der ganzen Nachkriegsgeschichte, die Vereinigten Staaten von Ich wünsche mir, Herr Bundesaußenminister, dass ich Amerika, in dem Sinne zu beeinflussen, dass er sich auch in dieser Frage in der Realität etwas mehr von ge- stärker multilateralen Entscheidungen anvertraut und meinsamer europäischer Politik sehe. Davon ist in Be- keine – ich glaube, das ist in seinem Interesse – falsche zug auf Afghanistan überhaupt nichts zu sehen. Deswe- Zuflucht in unilateralen Entscheidungen sucht. Dazu gen sind die schönen Reden, dass das alles gemeinsames muss man den Amerikanern das Gefühl verlässlicher europäisches Vorgehen ist, nicht mit der Praxis in Über- Partnerschaft vermitteln. einstimmung zu bringen. Das ist einer der Punkte, die wir kritisieren müssen. (Uta Zapf [SPD]: So ein Schwachsinn!) Eine gemeinsame Haltung der Europäer in den Wer das nicht tut, der stärkt in Washington keine multila- zentralen Fragen von Außen- und Sicherheitspolitik ist teralen Tendenzen, sondern erreicht das Gegenteil. genau das, was im vergangenen Jahr gefehlt hat, was mutwillig zerstört worden ist. Wenn dies jetzt von allen (Uta Zapf [SPD]: Das ist schon eine gewagte Seiten, so gut es geht, repariert wird, ist das richtig; wir Figur! – Lothar Mark [SPD]: Glauben Sie ei- begrüßen das. Wir unterstützen es auch, wenn sich der gentlich selbst, was Sie sagen?) deutsche Bundeskanzler möglichst bald mit dem ameri- Das war ein Fehler der Politik der Bundesregierung. kanischen Präsidenten trifft. Das ist gut und richtig. Es ist schlimm, dass daraus überhaupt ein Ereignis werden Wir müssen ein starkes Europa bilden und so zu ei- musste. Das zeigt, wie falsch diese Politik gewesen ist. nem stärkeren europäischen Partner werden. Wenn der Wir möchten allerdings den Verdacht widerlegt haben, europäische Partner stärker wird, wird die Bereitschaft dass die Außenpolitik der Bundesregierung im Augen- in den Vereinigten Staaten von Amerika größer werden, blick nur darin besteht, einen Termin für ein solcheszu gemeinsamen Entscheidungen zu kommen, anstatt Treffen zustande zu bringen. Das ist zu wenig, um Sol- unilateral Entscheidungen zu treffen, die am Ende nicht daten einzusetzen. im Interesse der Vereinigten Staaten von Amerika, von (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Europa, des Westens und der Welt insgesamt sind. Aber [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE dazu brauchen wir ein einiges Europa, müssen einen hö- GRÜNEN]: Das ist unter Niveau!) heren Beitrag leisten und müssen verlässliche Partner sein. Herr Bundesaußenminister, Sie haben viele Zitate ge- bracht. Ich will Ihnen etwas zu unserer Position sagen. Es gibt eine Chance. Ich habe in Paris mit großer Be- (B) (D) Ich habe hier einmal gesagt, dass man mit guten Grün- friedigung gehört, dass Sie beabsichtigen, im Rahmen den unterschiedlicher Meinung sein kann. Das gilt auch der bilateralen Gespräche zwischen Frankreich und für die Frage, ob die Politik der amerikanischen Regie- Deutschland mit Großbritannien über eine Stärkung der rung und des amerikanischen Präsidenten richtig oder Zusammenarbeit in der Europäischen Sicherheits- falsch ist. Wir haben es aber mit der Politik der deut-und Verteidigungspolitik zu sprechen. Das ist meiner schen Regierung zu tun. Für die Politik der deutschen Meinung nach der richtige Weg, Großbritannien stärker Regierung in diesem Zeitraum fehlen mir noch immer einzubeziehen. Ich glaube, dass die britische Regierung die Argumente. Es geht nicht um die Frage, ob die Poli- auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Irakkrie- tik der amerikanischen ministration Ad richtig oder ges gut beraten ist, eine Mahnung des früheren britischen falsch war, sondern um die Frage, ob die Politik derAußenministers Douglas Hurd – heute ist er Lord – zu Bundesregierung geeignet war, um die Rolle der Verein- beherzigen, der gesagt hat, Großbritannien werde die at- ten Nationen zu stärken. Durch das Vorgehen des deut- lantischen Bindungen besser dadurch stärken, dass es ei- schen Bundeskanzlers, der gesagt hat, was immer die Ver- nen größeren Beitrag zu einer gemeinsamen europäi- einten Nationen beschließen, wir werden uns nichtschen Politik leiste. Alleine is t auch Großbritannien nicht beteiligen, wurden die Vereinten Nationen nicht gestärkt, stark genug, um in Washington einen ausreichend großen sondern geschwächt. Das war unser Vorwurf. Einfluss auszuüben. Ein gemeinsames Europa ist dazu in der Lage. Das muss Ziel der Politik sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir müssen uns in Europa aber darüber verständigen, Wir haben Sie immer ermahnt, keine Popanze aufzu- dass dieses Europa nicht eine Alternative zur atlanti- bauen. Die Politik der CDU/CSU war, dass für die Ent- schen Partnerschaft ist, sondern ein wesentlicher Pfeiler scheidung, notfalls auch militärische Mittel einzusetzen, zur Verstärkung, Vertiefung und Verstetigung der atlanti- ein UNO-Mandat Voraussetzung ist. Dabei hatten wir schen Partnerschaft. Das ist der entscheidende Punkt. immer die Hoffnung, dass eine klare und geschlossene Wenn das klar ist, dann werden wir auch weiter voran- Haltung des Westens und der Vereinten Nationen denkommen. Einsatz militärischer Mittel entbehrlich machen würde. So ist es leider nicht gekommen. Dazu hat die Spaltung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) des Westens einen entscheidenden Beitrag geleistet. Ich will einen weiteren Punkt anfügen. Es ist im Ver- Herr Bundesaußenminister, ich stimme mit Ihnenhältnis zu unseren künftigen Mitgliedern in der Europäi- überein, wenn Sie sagen, die Rolle der Vereinten Natio- schen Union, zu unseren Nachbarn im Osten und ins- nen müsse gestärkt werden. Darin sind wir uns völlig ei- besondere zu Polen viel überflüssiges Porzellan Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5047

Dr. Wolfgang Schäuble (A) zerschlagen worden. Ich will auf die verschüttete Milch dem aber so ist, dürfen wir den Amerikanern nicht die(C) nicht wieder zu sprechen kommen; es ist passiert. notwendige Partnerschaft verweigern. (Uta Zapf [SPD]: O je!) (Uta Zapf [SPD]: Das ist doch Unsinn, was Sie reden!) – Diese Kritik müssen Sie sich schon gefallen lassen. Es sind schwerwiegende Fehler passiert. Ich könnte jetzt so – Entschuldigung, vor einem Jahr hieß es: Was auch im- diplomatisch sein wie der Außenminister und sagen, wer mer die Vereinten Nationen beschließen, wir werden uns welchen Anteil daran hat. Es war jedenfalls falsch, dass nicht beteiligen. Dieses Jahr klang es noch eine ganze der Eindruck entstanden ist, es bestehe eine Achse Ber- Weile so. Heute Morgen klang es ein bisschen besser; lin-Paris-Moskau. das habe ich ausdrücklich begrüßt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Uta Zapf [SPD]: Das ist nett! Auf einmal!) Es war falsch, dass unsere polnischen Nachbarn eineIch will Sie ermuntern, auf genau diesem Weg weiterzu- Zeit lang das Gefühl hatten, sie müssten sich dafür ent- gehen, weil es uns allen nützt und weil wir gar kein Inte- schuldigen, dass sie als künftiges Mitglied der Europäi- resse daran haben, künstliche Gräben auszuheben. Wir schen Union gute Beziehungen zu Amerika haben. At- wollen vielmehr vorankommen. lantische Partnerschaft und europäische Einigung sind (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen des Abg. keine Gegensätze, sondern sind zwei Seiten derselben Jörg Tauss [SPD]) Medaille. Sie bedingen sich gegenseitig. Das eine funk- tioniert nicht ohne das andere. Ich will noch eine Bemerkung machen: Wir sind hier in einer Haushaltsdebatte und irgendwo müssen sich die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lothar hehren Grundsätze auch in Zahlen ausdrücken; sonst ist Mark [SPD]: Das muss man auch in den USA alles nur schöngeredet, aber in der Wirklichkeit stimmt sagen!) es nicht. Das ist ein Problem, das wir bei der Bundesre- gierung öfter feststellen. Im Zusammenhang mit dem – Richtig, aber wir sindnicht der amerikanische Kon- Brüsseler „Pralinengipfel“, von dem wir noch immer gress, sondern der Deutsche Bundestag. Deswegen dis- finden, dass er nicht die richtige Form verstärkter Zu- kutieren wir über die Politik der Bundesregierung. sammenarbeit war, weil er das Missverständnis der Ex- Ich möchte Ihnen gern einen Vorschlag machen, Herr klusivität zunächst nicht vermeiden konnte, hat damals Bundesaußenminister. Wir haben das Weimarer Dreieck, sogar der deutsche Bundeskanzler davon gesprochen, das wir nach dem Fall der Mauer und des eisernen Vor- dass es notwendig sei, die Mittel für Verteidigungs- und (B) hangs in der Überlegung begonnen haben, dass es nicht Sicherheitspolitik im Bundeshaushalt zu erhöhen. Wenn (D) nur bilaterale Beziehungen geben sollte und dass wir un- ich in den Haushaltsentwurf hineinschaue – was auch seren wichtigen polnischen Nachbarn in die privilegierte immer der für eine reale Grundlage hat; darüber ist deutsch-französische Zusammenarbeit einbeziehen müs- schon viel gesagt worden –, sen, weil das im Interesse aller in Europa ist. Sollten wir ( [CDU/CSU]: Keine!) nicht die Chance einer stärkeren Beteiligung Großbritan- niens nutzen, um vorzuschlagen, das Weimarer Dreieck stelle ich fest: Nichts davon ist im Haushaltsentwurf zu zu einem Viereck zu machen und Großbritannien einzu- finden. beziehen? Ich glaube, manches würde einfacher und Ich habe schon gelegentlich darauf aufmerksam ge- wäre gegen Missverständnisse eher gefeit, wenn ausmacht – das Problem ist nicht in Ihrer Regierungszeit dem Weimarer Dreieck ein Viereck unter Einbeziehung entstanden, sondern ist ein generelles Problem der Bun- von Großbritannien würde. London, Paris, Warschaudesrepublik Deutschland und damit von uns allen –, dass und Berlin könnten zusammen ein wichtige Rolle spie- die Haushalte von Auswärtigem Amt, Verteidigungsmi- len und auch dazu beitragen, die Erweiterung, Stärkung nisterium und Entwicklungszusammenarbeit zusammen- und Stabilisierung einer gemeinsamen europäischen Au- gefasst 1990 noch einen Anteil von über 20 Prozent am ßen- und Sicherheitspolitik voranzubringen. Ich würde Bundeshaushalt hatten. Im Jahre 2002 war der Anteil das in diesem Zusammenhang gern anregen. dieser drei Haushalte auf unter 12 Prozent am Bundes- Zum Thema Irak will ich noch sagen: Ich begrüße, haushalt zurückgegangen. Ich habe mir jetzt die aktuel- dass der Bundeskanzler heute in der Tonlage andereslen Zahlen angeschaut: Von 2003 auf 2004 steigt das Vo- geredet hat als in den zurückliegenden Wochen. Wirlumen des Bundeshaushaltes um rund 3 Milliarden Euro, stimmen ja darin überein, dass wir eine stärkere Rolle die Ausgaben für Auswärtiges, Verteidigung und der Vereinten Nationen brauchen. Ich habe vor demEntwicklungszusammenarbeit zusammengenommen Krieg im Irak gesagt: Die Amerikaner werden vielleicht sinken aber um 463 Millionen Euro. Das heißt, auch im den Krieg alleine gewinnen können, aber den Frieden kommenden Jahr geht der relative Anteil unserer Ausga- nicht. ben in der Bundespolitik für die äußeren Interessen und für die äußere Verantwortung der Bundesrepublik (Uta Zapf [SPD]: So ist es!) Deutschland weiter signifikant zurück. Das ist der fal- sche Weg. Ich fürchte, dass sich das bestätigt. Wenn sie scheitern, ist es aber auch unser Scheitern. Deswegen haben wir (Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- das gemeinsame Interesse, dass dies nicht eintritt. Wenn NEN]: Wo er Recht hat, hat er Recht!) 5048 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Dr. Wolfgang Schäuble (A) Ich bin ganz davon überzeugt: Wenn wir es nicht Wir müssen zehn neue Mitglieder in der Europäi-(C) schaffen, unserer Bevölkerung wieder und wieder dieschen Union erst einmal verkraften. Wer jetzt schon in Überzeugung zu vermitteln – das ist die Aufgabe politi- einer nicht sehr verantwortlichen Weise über die nächste scher Führung –, dass die Wahrnehmung außenpoliti-Erweiterungsrunde redet, der untergräbt die Bereitschaft scher Interessen, die Wahrnehmung unserer Verantwor- der Menschen, sich der europäischen Schicksalsgemein- tung in dieser enger zusammenrückenden Welt eineschaft anzuvertrauen, die wir brauchen, wenn wir eine prioritäre staatliche Aufgabe ist, eine Aufgabe, derenPolitik für die Zukunft betreiben wollen. Priorität auch im Haushalt erkennbar sein muss, dann Herzlichen Dank. werden wir die Tendenzen in unserer Gesellschaft, de- nen wir alle unterliegen, dass wir weniger wettbewerbs- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fähig und zukunftsfähig sind, eher stärken. Eine Gesell- schaft, die der Versuchung zur Introvertiertheit nachgibt Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: und sagt: „Wir haben viele große Probleme, sodass wir uns um andere nicht kümmern können“, wird im Zweifel Zu einer Kurzintervention erhält der Abgeordnete nur ihre Besitzstände verteidigen. Aber eine Gesell-Joschka Fischer das Wort. schaft, die nur ihre Besitzstände verteidigt, wird zu den notwendigen Veränderungen nicht bereit sein. Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Sie sagen, Deutschland müsse sich mehr bewegen. Herr Kollege Schäuble, ich respektiere völlig – das Doch Sie untergraben in der Außen-, Sicherheits- und gilt für uns alle –, dass wir nicht immer bei allen Sitzun- Europapolitik mit Ihrer mangelnden Führungskraft und gen dabei sein können und dass Sie einen wichtigen Ter- der Unfähigkeit, die notwendigen Prioritäten zu setzen, min in Paris hatten. Das ist völlig akzeptabel. die Reformfähigkeit unserer Gesellschaft. Auch in die- sem Sinne hängen die Außen- und Innenpolitik zusam- Ich kann es aber nicht akzeptieren, dass wir im Aus- men. Es ist natürlich auch wahr: Wenn wir nicht in der schuss unterrichten und Sie am nächsten Tag – ich weiß Lage sind, unsere inneren Probleme zu lösen sowie un- nicht, woran das liegt – offensichtlich nicht informiert sere wirtschaftliche Wettbewerbs- und Leistungsfähig- sind. Alle Fragen, die Sie gestellt haben, wurden disku- keit zu verbessern, dann wird auch unser außenpoliti-tiert. Sie können der Meinung sein, dass sie unzurei- scher Handlungsspielraum wesentlich geringer. chend beantwortet worden sind. Das würde ich zwar nicht teilen, aber diese Meinung wäre legitim und akzep- Deswegen spreche ich noch einen letzten Punkt an. tabel. Sie haben hier aber eine Rede gehalten, als ob wir Wenn die europäische Politik von so schicksalhafter Be- diese Fragen gestern nicht behandelt hätten. Angesichts deutung für uns alle ist – darin stimme ich überein –, (B) der Botschafterkonferenz und all der anderen Verpflich- (D) dann bitte ich Sie: Untergraben Sie doch um Himmels tungen war es für mich nicht einfach, fast eineinhalb willen die Perspektiven und Chancen für eine Stärkung Stunden gemeinsam mit dem Verteidigungsminister im der Europäischen Union nicht mutwillig. Mit Ihrer Poli- Ausschuss darüber Rede undAntwort zu stehen. Inso- tik, die Sie gegenüber dem Stabilitätspakt betreiben, le- fern finde ich Ihren Vorhalt nicht akzeptabel. gen Sie die Axt an die Wurzeln der europäischen Leis- tungsfähigkeit und an die Wurzeln des Vertrauens der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Menschen in die Solidität des europäischen Einigungs- und bei der SPD) werks. Deswegen will ich hier den Eindruck nicht stehen las- Gerade derjenige, der ein starkes Europa will, darfsen, als hätte die Bundesregierung, wissend um die Fra- mit dem Stabilitätspakt nicht so leichtfertig umgehen, gen der Opposition, nicht zu jedem einzelnen Punkt Stel- wie Sie das tun. lung genommen. Es würde den Zeitrahmen sprengen, dies jetzt noch einmal ausführlich zu tun. (Beifall bei der CDU/CSU) Sie haben zum Beispiel die Frage gestellt, warum es Kunduz und nicht Herat sein soll. Ich habe es vorhin ge- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sagt. Es geht dabei auch um die Akzeptanz durch den Herr Kollege Schäuble, achten Sie bitte auf die Zeit. dortigen regionalen Machthaber. Kollege Schäuble, in Afghanistan gibt es überall in der Provinz Privatarmeen, Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): weil sie ein Element dessen sind, was im Widerstand ge- gen die sowjetische Okkupation und später im Bürger- Frau Präsidentin, ich hoffe, ich darf noch einige Sätze krieg eine Rolle spielte. Wenn man sich den Charakter sagen. – Wer die Zustimmung der Menschen zum euro- Afghanistans mit seiner multiethnischen und multireli- päischen Einigungswerk und zur Erweiterung, die so be- giösen Gesellschaft anschaut, dann weiß man natürlich deutend ist – das hat auch der Außenminister richtig for- nur zu gut, dass auch die tribalistische Struktur eine we- muliert –, wieder und wieder gewinnen will, der sollte sentliche Rolle spielt. auch erklären, dass es in unserem Interesse liegt. Er sollte nicht unsere Haushaltsschwierigkeiten mit unseren Auch das Verhältnis der Zentrale zu den Regional- Zahlungsbeiträgen an die Europäische Union begründen, strukturen wurde von uns ausführlich angesprochen. Es wie es der Kanzler heute Morgen getan hat, und er sollte ist eine irrige Vorstellung, zu meinen, in Afghanistan die Bereitschaft der Menschen, Veränderungen zu ak- würde es so etwas wie einen Zentralstaat geben. Diesen zeptieren, nicht überfordern. gab es nur zu Zeiten der Diktatur durch die Taliban. Die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5049

Joseph Fischer (Frankfurt) (A) Fragen der Verflechtung und des selbsttragenden Kon- waren, erklären, dass Sie all diese Fragen gestern in der (C) senses werden also eine Rolle spielen. Hierzu haben wir Ausschusssitzung nicht beantwortet haben. unsere Position ausführlich dargestellt. Daneben haben wir hinsichtlich der anderen Provincial Reconstruction (Uta Zapf [SPD]: Das ist überhaupt nicht wahr! – Teams auch die Entscheidungsalternativen ausführlich Dr. Uwe Küster [SPD]: Pflüger ohne pf! – Gernot dargestellt und erklärt, warum es dort notwendig ist. Erler [SPD]: Dann könnten wir mit dem Parla- ment wirklich aufhören! – Lothar Mark [SPD]: Opium und dieRauschgiftproduktion allgemein Wenn das Aufnahmevermögen so beschränkt sind nicht nur Probleme in dieser Region. Wir müssen ist, dann brauchten wir keine Sitzungen zu ma- realistischerweise sagen, dass das sowohl in Kabul als chen!) auch überall in diesem Land eine – und zwar keine uner- hebliche Rolle spielt. – Entschuldigung, das sagen die doch. Kollege Schäuble, es liegt in unserem Interesse, dort Herr Kollege Fischer, ich möchte Ihnen gerne antwor- den Polizeiaufbau voranzubringen. Das ist ein wesentli- ten. Bitte schenken Sie mir Ihre geschätzte Aufmerk- ches Element für Kunduz und für Kabul, für das unsere samkeit, wenn ich Ihnen antworte. Polizeibeamten eine große Anerkennung erhalten. Ich Zweitens. Ich bin sehr dafür, dass wir die Fragen, die habe das mehrmals in Washington gehört. wir auch gegenüber der Öffentlichkeit und insbesondere (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegenüber den Soldaten der Bundeswehr verantworten und bei der SPD) müssen, in öffentlichen Sitzungen hier im Deutschen Bundestag und nicht nur invertraulichen Ausschusssit- Aber der entscheidende Punkt ist ein anderer, Kollege zungen behandeln. Schäuble. Rauschgift ist dort gegenwärtig der ökonomi- sche Faktor Nummer eins. Das heißt, wir reden hier (Beifall bei der CDU/CSU) nicht nur über eine üble kriminelle Erscheinung, sondern Drittens. Es bleibt dabei: Die Bundesregierung hat wir reden über den Aufbau einer wirtschaftlichen Alter- unter dem Vorsitz des Bundeskanzlers die Vorsitzenden native. Diese wirtschaftliche Alternative ist an die er-aller Fraktionen in der vergangenen oder vorvergange- folgreiche Umsetzung der Petersberger Beschlüsse ge- nen Woche über Kunduz unterrichtet. Das ist die Grund- bunden. Auch das wurde ausführlich dargestellt. lage. In dieser Unterrichtung ist über Herat überhaupt nicht gesprochen worden. Ich konnte Ihre Worte nicht unwidersprochen stehen lassen und sage auch im Namen des Kollegen Struck: Viertens. Herr Bundesaußenminister, Sie haben auch (B) Diese Bundesregierung und die beiden Minister bemü- in Ihrer Kurzintervention kein Wort dazu gesagt, was(D) hen sich intensiv darum – wir haben ein Interesse daran, sich seit Petersberg II in Ihrer Bewertung zum Verhält- dass das Parlament eingebunden ist –, auf Einwände ein- nis von Zentralregierung in Kabul und Provinz bzw. re- zugehen; denn im Interesse der Soldaten wollen wir ei- gionalen Machthabern verändert hat. Damals haben Sie nen Konsens erreichen. erklärt, dass eine Ausweitung des Einsatzes über Kabul hinaus nicht infrage kommt. Jetzt sagen Sie das Gegen- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: teil. Meine Vermutung ist, dass Sie genau darauf nicht eingehen wollen, weil Sie dann zugeben müssten, dass Herr Abgeordneter Fischer, als Abgeordneter haben das so viel gepriesene Petersbergkonzept nicht ganz so Sie für Ihre Kurzintervention nur drei Minuten Zeit. stimmig war. Wahrscheinlich ist auch die Roadmap im Nahen Osten nicht ganz so erfolgreich, wie es bisher Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ausgesehen hat. NEN): Das Drogenproblem können Sie nicht als ökonomi- Letzter Satz. Wenn wir solche intensiven Beratungen in schen Faktor hinstellen. Ich sage Ihnen: Die Drogenver- den Sitzungen durchführen, dann müssen wir uns schon breitung ist eine der großen Gefahren für die Weltpolitik darauf verlassen können, dass wir uns danach keine Vor- insgesamt und eine Finanzquelle für den internationalen würfe von jemandem anhören müssen, der – meinetwegen Terrorismus. aus guten Gründen – nicht dabei sein konnte. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ich will nicht, dass am Ende Soldaten der Bundeswehr regionale Machthaber und Drogenbosse unterstützen und schützen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Detlef Dzembritzki [SPD]: Wer hat denn das Herr Kollege Schäuble, Sie haben das Recht zur Ant- gesagt? – Zuruf von der SPD: Unverschämt- wort. heit!)

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Dazu darf es nicht kommen. Herr Kollege Fischer, vier Punkte. Erstens. Es hilft al- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- les nichts: Meine Kollegen, die in der Sitzung anwesend neten der FDP) 5050 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: stimmt hat, dass sie versucht hat, ihn zu verhindern, und (C) Mir liegen hierzu mehrere Wortmeldungen vor. Ich dass sie nicht an ihm teilgenommen hat. bin aber gehalten, zu verhindern, dass sich aus Kurzin- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ terventionen zusätzliche Debattenschlaufen ergeben. Da DIE GRÜNEN) noch zehn Redner das Wort haben, glaube ich, dass noch genügend Gelegenheit besteht, den Sachverhalt während Auch vier Monate nach dem Ende des Krieges fehlt dieser angemeldeten Reden zu klären. jeder Hinweis auf Querverbindungen des ehemaligen Regimes von Saddam Hussein zu al-Qaida, fehlt jede Ich erteile nun dem Abgeordneten Gernot Erler das Spur von den angeblichen Massenvernichtungswaffen, Wort. die an Terroristen hätten weitergegeben werden können. Ja, es fehlt sogar jeder Beleg dafür, dass es entspre- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) chende Programme oder Anlagen für solche Waffen ge- geben hat. Gernot Erler (SPD): Das bedeutet aber: Der Irakkrieg hatte nichts mit dem not- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wendigen Kampf gegen den internationalen Terrorismus Wir sprechen heute über dieinternationale Politik der zu tun. Wir weisen weiterhin jeden Versuch zurück, ihn Bundesregierung, besonders über die Außen- und Si-da einzuordnen oder ihn so zu legitimieren. cherheitspolitik. Ich möchte im Namen der SPD-Bun- destagsfraktion erklären: Diese Politik folgt klaren Prin- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zipien. Sie ist verlässlich. Sie ist getragen vom DIE GRÜNEN) Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Menschen in Vielmehr sind nach dem Irakkrieg unsere Voraussagen in unserem Lande, besonders auch gegenüber den Soldatin- schlimmster Weise eingetroffen, nämlich dass die inter- nen und Soldaten, die wir in gefährliche Auslandsein- nationale Terrorbekämpfung einen Rückschlag erlitten sätze schicken, und vom Verantwortungsbewusstsein ge- hat und dass jetzt im Irak die Netzwerke ein neues Betä- genüber der Weltgemeinschaft, die nach wie vor große tigungsfeld finden, wo siedie Verzweiflung der Men- Herausforderungen zu bestehen hat. Weil das alles so ist, schen über die chaotischen Verhältnisse vor Ort erbar- findet die deutsche Politikin der Welt, die Politik von mungslos nutzen, wo sie viele, auch so genannte weiche Bundeskanzler Gerhard Schröder, von Außenminister Ziele finden und mit ihren Anschlägen Amerika treffen, Joschka Fischer, von Verteidigungsminister Peter Struck aber auch die ganze Weltgemeinschaft herausfordern und Entwicklungsministerin Frau Wieczorek-Zeul auch können. Der Irakkrieg hat dem Kampf der Weltgemein- eine breite Zustimmung in der deutschen Bevölkerung schaft gegen den weltweit agierenden Terrorismus ge- (B) und hohe Anerkennung in der internationalen Gemein- schadet. (D) schaft. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Ich hatte gehofft, dass der amerikanische Präsident Herr Kollege Schäuble, daran können Sie mit Ihrer Rede die Gelegenheit seiner Rede vom letzten Sonntag nutzen nichts ändern, die Sie im Wesentlichen dazu benutzt ha- würde, um sich offen mit dieser Entwicklung auseinan- ben, Informationen einzuholen, über die andere Mitglie- der zu setzen. „Offen“ hätte bedeutet, sich auch zu den der dieses Hauses schon verfügen. Das ist nicht der Sinn Fehleinschätzungen zu bekennen, was die unmittelbare einer Plenardebatte. Gefahr, die von diesem Regime ausging, und was die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Massenvernichtungswaffen angeht. Das ist leider nicht DIE GRÜNEN) passiert. Stattdessen sind wir erneut mit dem Versuch konfron- Morgen jährt sich zum zweiten Mal der 11. Septem- tiert worden, den Irakkrieg als Teil des Kampfes gegen ber 2001. Das erinnert uns an schreckliche, schwer er- den internationalen Terrorismus darzustellen. Folgerich- trägliche Bilder und erinnert uns an die vielen unschuldi- tig kam dann die Aufforderung an die Verbündeten und gen Opfer des 11. September und der späteren die Länder, die sich nicht an diesem Krieg beteiligt ha- Anschläge. Das ist Gelegenheit, noch einmal zu betonen: ben, jetzt die Gelegenheit zur Umkehr zu ergreifen und Die Bundesrepublik Deutschland hat dem angegriffenen ihre Pflicht zu erfüllen. Amerika von der ersten Minute an beigestanden, hat um- fangreiche Beiträge im Kampf gegen den global agieren- (Uta Zapf [SPD]: Zur Buße!) den Terrorismus geleistet und tut dies auch heute. Heute, zwei Jahre nach dem 11. September 2001, ist dieser Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Amerika selbst, Kampf noch immer nicht gewonnen. Darauf hat deraber auch anderswo gibt es Zweifel an der Wirksamkeit Bundeskanzler heute Morgen mit Recht hingewiesen. Es solcher Empfehlungen. Das zeigen übrigens auch die sind sogar neue, verlustreiche Fronten entstanden, soKommentare im In- und Ausland. Die „Frankfurter etwa im Irak. Rundschau“ hat zum Beispiel von Patzigkeit gespro- chen, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ titelte einen Ich stelle hier noch einmal für die SPD-Bundestags- Kommentar mit „Rhetorik der Zumutung“. Ich mache fraktion fest: Es war richtig, dass die Bundesregierung mir diese Bewertung überhaupt nicht zu Eigen, aber ich mit vielen anderen Staaten dem Irakkrieg nicht zuge- nehme dieses alles noch einmal zum Anlass, um festzu- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5051

Gernot Erler (A) stellen: Die Bundesrepublik Deutschland erfüllt ihrehinaus Handlungsbedarf festgestellt und die Bildung von (C) Pflichten im Kampf gegen den internationalen Terroris- Regionalen Wiederaufbauteams beschlossen haben, mus. Sie wird dies auch weiterhin tun und braucht dafür um der Bevölkerung zu zeigen, dass die Übergangsre- keinerlei Ermahnung, egal von wem. gierung Karzai nicht nur in Kabul etwas zu sagen hat und dass es auch in den Provinzen ankommen muss, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass sie etwas für die Bevölkerung tun kann. Das ist der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Schwerpunkt der Regionalen Wiederaufbauteams. Da- Es wäre im Übrigen sehr gefährlich, sich jetzt an dem mit ein vernünftiger Wahlkampf mit fairer Betätigung Prozess zu beteiligen, alle internationalen Ressourcen al- von verschiedenen Parteien stattfinden kann, ist eine At- lein auf den Irakkonflikt zu konzentrieren. In Wirklich- mosphäre der Freiheit notwendig. keit gibt es derzeit fünf verschiedene Regionen, in denen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) die Fragen des Weltfriedens und des Kampfes gegen den Terrorismus entschieden werden. Zu diesen Regionen Das ist die inhaltliche Begründung für die Wiederauf- zählt neben dem Irak zweifellos Afghanistan. Hinzubauteams. Ich bedauere, dass diese Begründung immer kommt – der Bundesaußenminister hat eben darauf hin- noch nicht bei Ihnen angekommen ist. Wir werden die gewiesen – der Nahe Osten mit dem israelisch-palästi- Ausweitung unseres Einsatzes in Afghanistan in aller nensischen Konflikt, in dem die Friedensbemühungen Verantwortung gegenüber unseren Soldatinnen und Sol- gegenwärtig einen Tiefpunkt erreicht haben, übrigens daten, die dort tätig sind, sehr gründlich vorbereiten und entgegen allen Voraussagen, dass die Beseitigung desberaten. Das ist bereits auf dem Weg. Dies und nichts an- Regimes Saddam Husseins den Weg für den Friedenderes ist der Testfall im Kampf gegen den Terrorismus. freimachen würde. Eine weitere Region, die nicht ver- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gessen werden darf, ist Afrika, Ich bin froh darüber, dass Sie dem im Prinzip zustim- (Beifall der Abg. Christa Nickels [BÜND- men. Meine Fraktion wird die Arbeit der Bundesregie- NIS 90/DIE GRÜNEN]) rung zu dieser notwendigen Ausweitung unseres Einsat- da wir doch wissen, dass die dortigen Bürgerkriege nicht zes vor Ort konstruktiv und sehr sorgfältig begleiten und unbeantwortet bleiben können und dass man sich dort unterstützen. engagieren muss, weil solche Kriege dem Terrorismus Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Möglichkeiten bieten, ja geradezu Biotope für den Ter- rorismus darstellen. Schließlich meldet sich gerade in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ diesen Tagen der Balkan mit den neuen Problemen in DIE GRÜNEN) (B) Mazedonien in schmerzlicher Weise zurück und erinnert (D) uns daran, dass die Aufgaben auch dort noch nicht erfüllt Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sind. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Werner Deswegen ist es eine völlig falsche Betrachtungs-Hoyer. weise, etwa unseren Einsatz inAfghanistan als zweit- rangig anzusehen. Es ist vielmehr erstrangig und not- Dr. Werner Hoyer (FDP): wendig, nicht alle Ressourcen im Irak einzusetzen, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sondern die anderen Aufgaben als gleichrangig anzuse- An die Kolleginnen und Kollegen im Auswärtigen Aus- hen und sie prioritär zu erfüllen. schuss gewandt, möchte ich anmerken: Mir wird angst und bange, wenn ich heute höre, was wir gestern angeb- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lich alles in der notwendigen Tiefe behandelt haben. Um DIE GRÜNEN) ein bisschen transparenter zu machen, wie das wirklich Ich kann nur immer wieder feststellen: Der wirkliche vor sich geht, weise ich darauf hin, dass der Ausschuss Testfall im Kampf gegen den Terrorismus ist die Frage, gestern von 17.05 bis 18.15 Uhr getagt hat, ob wir in Afghanistan Erfolg haben werden oder nicht. (Uta Zapf [SPD]: Zu einem Thema!) (Beifall der Abg. Uta Zapf [SPD]) wobei von vornherein klar war, dass der Bundesminister Deswegen ist es richtig, dass wir die Kontinuität beibe- des Auswärtigen um 18.00 Uhr würde gehen müssen, halten und dass nach der umfangreichen humanitärenwas er aber dankenswerterweise erst um 18.15 Uhr getan Hilfe, dem Petersberg-Prozess und unserem Engagement hat. in der Operation Enduring Freedom und vor allem bei Zunächst hat uns Minister Struck zehn Minuten prä- ISAF tatsächlich eine Antwort darauf gegeben wird,zise und knapp zu dem Themenbereich berichtet, der zu Herr Schäuble, wie die nächsten Stufen des Normalisie- diskutieren ist. Dann hat uns der Bundesminister des rungs- und Stabilisierungsprozesses in Afghanistan ab- Auswärtigen 25 Minuten lang äußerst ausführlich die gesichert werden können. Die nächsten Stufen sind der Weltläufe erklärt. Danach haben die Vertreter der vier Verfassungsprozess in der Loya Jirga und – das ist jeden- Fraktionen insgesamt 15 Minuten Gelegenheit gehabt, falls in Petersberg vereinbart worden – Wahlen, die im ihre Position darzustellen und Fragen zu stellen. An- Juni nächsten Jahres stattfinden sollen. schließend wurden ihre Fragen in der üblichen arrogan- ten Art abgebürstet bzw. bramarbasierend beantwortet. Es waren die Amerikaner, Herr Schäuble, die als erste über die auf dem Petersberg getroffenen Vereinbarungen (Uta Zapf [SPD]: Also!) 5052 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Dr. Werner Hoyer (A) Da keine weiteren Beratungsmöglichkeiten bestanden, Das haben mittlerweile alle begriffen. Auch dieVer- (C) einigten Staaten haben das schmerzlich lernen müssen. (Uta Zapf [SPD]: Wir sind wohl auf verschie- Wir sollten darüber keine Häme empfinden, sondern das denen Veranstaltungen gewesen!) als eine Chance betrachten; denn wir haben ein nachhal- gab es auch keine Gelegenheit mehr, zu dem präzisen tiges Interesse daran, dass unsere amerikanischen Bericht von Herrn Struck über dasStandorterkun- Freunde Erfolg haben. dungsteam Stellung zu nehmen. Wir müssen mit dem Gejammer über Unipolarität und (Uta Zapf [SPD]: Es haben doch alle mit dem Hegemonie aufhören. Das Bild der Polarität stimmt Kopf genickt, inklusive Sie!) heute nicht mehr. Wir stellen fest: Es gibt eine Macht, – Auch ich kann die Aufregung nicht verstehen, Fraudie alle anderen Staaten wirtschaftlich und militärisch Kollegin Zapf. überragt, die gleichwohl auf Kooperation angewiesen ist. Erfreulicherweise sind wir mit dieser Macht sehr eng Ich finde, das, was vom Standorterkundungsteam ge- verbündet und befreundet. Darin liegt für uns auch eine leistet werden soll, ist erforderlich, wenn die Bundesre- Chance; denn Amerika merkt, dass es Freunde, Allian- gierung nach einem entsprechenden Beschluss des Kabi- zen und sogar die Vereinten Nationen braucht. Wenn netts und der Einbringung in den Deutschen Bundestag selbst Amerika überfordert ist, seine Interessen im Al- unsere Fragen beantworten soll. Von der Form her istleingang zu vertreten, dann gilt das für eine regionale diese Angelegenheit nach meiner Auffassung sowohlMacht wie Deutschland erst recht. Das müssen wir uns durch das ISAF-Mandat als auch durch den Beschluss klar machen, wenn wir unsere Chance nutzen wollen. des Bundestages gedeckt. Für uns Deutsche bedeutet das, unsere Interessen mit de- (Uta Zapf [SPD]: Genau das ist es!) nen unserer Freunde und Nachbarn zu bündeln und ge- meinsam zu vertreten. DieBündnisfähigkeit ist für Außerdem bin ich der Auffassung, dass dieser Vor- Deutschland deshalb Staatsräson. gang erneut bestätigt, dass wir uns im Rahmen der Bera- tungen des Geschäftsordnungsausschusses über das Ent- (Beifall bei der FDP) sendegesetz präziser mit der Frage befassen müssen, wann ein Einsatz bewaffneter Streitkräfte vorliegt. Es ist in unserem vitalen nationalen Interesse, dass die Europäische Union, die NATO und die Vereinten Natio- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nen intakt sind, funktionieren und die von ihnen erwarte- Nach meiner Auffassung ist das kein Einsatz bewaffne- ten Rollen spielen können. Genau daran hat es in den ter Streitkräfte; denn ein solcher soll ja erst vorbereitet letzten Jahren gehapert, woran die Regierung der Bun- desrepublik Deutschland alles andere als unschuldig ist. (B) werden. Daher halte ich die Aufregung für verfehlt. (D) Zur Sache selber: Dass die Herausforderungen für un- (Uta Zapf [SPD]: Das ist absolut daneben!) sere Außenpolitik und für die internationale Politik in den nächsten Jahren gigantisch sein werden, ist klar. Die Nach dem 11. September 2001 rief das Bündnis den Aufgaben im Zusammenhang mit der Bekämpfung des Bündnisfall aus und ward danach nicht mehr gefragt. internationalen Terrorismus sind bei weitem nicht be- Auch das hat die Bundesregierung zugelassen. Wir haben wältigt. Die regionalen Konflikte, gepaart mit religiö- das immer kritisiert. Die Europäische Union macht ge- sem Fanatismus und teilweise finanziert aus Quellen der rade einen Quantensprung in ihrer Integrationsentwick- organisierten Kriminalität und des Terrorismus, drohen lung. Ich finde übrigens, dass der Verfassungsentwurf ein auszuarten, bis hin zum Kampf der Kulturen. Wenn die- beachtlicher Text ist. Fast alle größeren Änderungswün- ser nicht eingedämmt werden kann, dann wird er eines sche, die jetzt von den Partnern in der Europäischen Tages nicht mehr nur in fernen Ländern, sondern auch Union vorgetragen worden sind – hier stimme ich dem vor unserer eigenen Haustür stattfinden oder sogar in un- Bundeskanzler zu –, führen in die falsche Richtung. So- sere eigenen Häuser hineingetragen werden. Deswegen sehr die eine oder andere Änderung auch aus unserer müssen wir uns den diesbezüglichen Fragen sehr inten- Sicht wünschenswert erscheint: Wer das jetzt vorlie- siv zuwenden. gende Paket noch einmal aufschnürt, wird das Gesamt- vertragswerk, die europäische Verfassung nicht verbes- Hochgefährliche Waffen, insbesondere Massenver- sern, sondern verschlimmbessern. nichtungswaffen, vagabundieren durch die Welt. Wir ha- ben, wie der Fall des neulich gesunkenen russischen (Beifall bei der FDP) Atom-U-Bootes zeigt, bis heute noch nicht einmal ernst zu nehmende Konzepte, aus denen hervorgeht, wie wir Gerade in der Phase, wo die Europäische Union mit den Gefahren, die von den Waffen der ehemaligen außenpolitisch noch nicht voll handlungsfähig ist – lei- Sowjetunion ausgehen, fertig werden können. Neue Ini- der enthält der Verfassungsentwurf, was die Verfahren tiativen im Bereich von Abrüstung und Nichtverbreitung der Entscheidung über die Außenpolitik angeht, eine sind nicht in Sicht. Schwäche –, brauchten wir eine handlungsfähige, sich Zu diesen drei Themenkomplexen könnte man noch auf einfachere Entscheidungsverfahren abstützende euro- vieles ergänzen. Aber eines verbindet alle drei: Niemand päische Außen- und Sicherheitspolitik; sie ist nötiger wird sich diesen Herausforderungen alleine stellen kön- denn je. nen. Das können wir nur zusammen. In dieser Zeit stecken dieVereinten Nationen in (Beifall bei der FDP) einer tiefen Krise. Das haben wir in den letzten Jahren Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5053

Dr. Werner Hoyer (A) gemerkt. Kofi Annan macht jetzt aus der Not eine Tu- Deutschland sollte dabei in Abstimmung mit seinen(C) gend. Wir sollten ihn dabei nach Kräften unterstützen. europäischen Partnern und im Rahmen der NATO einen eigenen Beitrag nicht von vornherein verweigern. Dies (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Lothar muss keineswegs ein militärischer Beitrag sein. Man Mark [SPD]) sollte ihn erst recht nicht herbeireden; aber man kann Das ist die Chance, die Entscheidungskompetenz, die und darf ihn auch nicht a priori und auf Dauer ausschlie- Führungsrolle in den Rahmen der Vereinten Nationen ßen. zurückzuholen, und es ist die Chance, das nachzuholen, (Beifall bei der FDP) was in den 90er-Jahren leider verpasst worden ist, näm- lich die Reform der Vereinten Nationen voranzutreiben. Vielleicht werden wir allerdings zu der Erkenntnis kommen, dass wir objektiv nicht in der Lage sind, einen (Jörg van Essen [FDP]: Ja!) militärischen Beitrag zu leisten, weil die Kräfte der Bun- Als nicht mehr jede Initiative dem Veto- oder demdeswehr schon völlig überdehnt sind. Aber dann muss Blockadeautomatismus sofort unterworfen war, war das man sich sehr ernsthaft die Frage stellen, wie es mit doch das „Fenster der Gelegenheit“. Wir müssen jetzt Finanzierung, Ausrüstung, Ausbildung und Struktur der schnell dabei vorankommen, das, was verpasst worden Bundeswehr aussieht. Auf Dauer wird es dem deutschen ist, nachzuholen. Steuerzahler und international nicht zu vermitteln sein, dass von einer Armee mit 290 000 aktiven Soldatinnen Auch Deutschland hat nach meiner Auffassung zur und Soldaten nur 10 000 oder – setzt man den Regenera- Schwächung der internationalen Organisationen bei-tions- und Ausbildungsfaktor mit fünf an – 50 000 für getragen, nicht etwa, weil man deutlich gemacht hat,solche Missionen einsetzbar sind. Hier muss über die dass der Krieg im Irak nicht gerechtfertigt ist – das war Reform der Bundeswehr weiter gestritten werden. sowohl meine als auch die Meinung der gesamten FDP- Fraktion –, sondern weil Deutschland mit der Kategori- (Beifall bei der FDP – Herbert Frankenhauser [CDU/ sierung seiner eigenen Position – man hat gesagt, dass CSU]: So ist es! Jawohl! Sehr richtig!) sich Deutschland an einem militärischen Einsatz im Irak Ich plädiere keineswegs für Bundeswehreinsätze auf keinen Fall beteiligt, egal wie UNO, NATO oder EU weltweit. Ich bin überhaupt überrascht, dass diejenigen, entscheiden – die Chance verpasst hat, Einfluss auszu- die noch bis vor kurzem eine sehr dezidierte Meinung üben und Verantwortung zu übernehmen. Die Bundes- über Soldaten geäußert haben, mittlerweile sehr schnell regierung hat der Arroganz der Macht die Arroganz der dabei sind, die Bundeswehr durch die Welt zu schicken. Ohnmacht entgegengesetzt. Das war ein schwerer Feh- Ich verlange Streitkräfte für Deutschland, die hoch effi- ler. zient sind und jeden Steuergroschen tatsächlich verdient (B) (D) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten haben. Was sollen denn leistungsfähige und leistungs- der CDU/CSU, Lothar Mark [SPD]: Das ist willige Soldatinnen und Soldaten machen, wenn ihnen eine falsche Interpretation!) die Regierenden durch krampfhaftes Festhalten an der Wehrpflicht eine falsche Streitkräftestruktur verordnen Wir müssen zusehen, dass wir im Irak tatsächlich und wenn dadurch das Geld für eine auftragsgerechte vorankommen. Natürlich ist es kaum vorstellbar – diese Ausrüstung und Bewaffnung fehlt? Auffassung teile ich –, dass diejenigen, die den Irakkrieg – anders als die Amerikaner – für durchaus vermeidbar Den Angehörigen der Bundeswehr schulden wir gehalten haben, nunmehr unter amerikanischem Oberbe- Dank und Anerkennung. Sie machen die Fehler der Re- fehl Besatzungsmacht spielen. Aber eine Mandatierung gierung durch vorbildliche Leistungen wett; aber auf der NATO durch die Vereinten Nationen, eine Führung Dauer werden sie überfordert sein. der UNO-mandatierten NATO-Mission durch den (Beifall bei der FDP) SACEUR könnten immerhin zwei sonst konfligierende Bedingungen – nämlich amerikanischen Oberbefehl und Die Bundesregierung scheint ja noch ein paar Solda- NATO-geführte Operation – auf charmante Weise mit- ten gefunden zu haben, die sie in derRegion Kunduz einander verbinden. Ich halte auch eine Trennung dereinsetzen kann. Wir Freien Demokraten sind von dem Operation nach dem Vorbild von ISAF und EnduringKonzept der Bundesregierung für Kunduz alles andere Freedom, wie wir sie in Afghanistan erleben, durchaus als überzeugt. für ein Modell, das man diskutieren kann. Das eigentliche Problem Afghanistans, das in der Tat Es geht auf jeden Fall nicht mehr darum, die altennie ein Zentralstaat war, besteht doch darin, dass die Auseinandersetzungen über die vermeintlich nachträgli- Zentralregierung jenseits der Stadtgrenzen Kabuls über- che Legitimation des Irakkrieges fortzuführen. Jetzt gilt haupt nichts zu melden hat, dass dort die regionalen es, beherzt anzupacken, den Menschen in diesem ge-Warlords und Drogenbosse das Sagen haben und die schundenen Land eine Perspektive zu geben, und vor al- Szene bestimmen. Mit ihnen werden die Soldaten der re- len Dingen geht es darum, ihnen nach Jahrzehnten der gionalen Wiederaufbauteams keinerlei Probleme haben, Unterdrückung ihre Würde zurückzugeben. Daran hat solange sie deren Kreise nicht stören. Spannend wird es es vor dem Krieg und, wie ich finde, auch nach demerst dann, wenn die Zentralregierung bestimmte Dinge Krieg gefehlt. in der Fläche durchsetzen muss, was notwendig sein kann, wenn die neue Verfassung nicht von vornherein (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zum Scheitern verurteilt sein soll. Das wird die Völker- der CDU/CSU) gemeinschaft militärisch nicht schaffen. Ich sehe auch 5054 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Dr. Werner Hoyer (A) nirgendwo in der Welt die Bereitschaft, dort mit vielen Schauen wir noch einmal, wie in der ersten Schreck- (C) Zigtausend Mann hineinzugehen. Die Erfahrungen der sekunde auf die beiden zentralen, wirklich großen Ge- Russen dort sollten auch vor unbedachten Entscheidun- fahren reagiert worden ist, die wir im Rückblick erken- gen warnen. nen können, nämlich auf die neuen Formen von Bürgerkriegen – zu erinnern ist an die Kriege der Nach- Spannend wird die Frage, ob die deutschen Soldaten folgestaaten des ehemaligen Jugoslawien, die uns alle in der Region Kunduz der Drogenproduktion tatenloserschüttert haben – und auf den 11. September 2001! In zusehen wollen, so wie es gegenwärtig die Amerikaner der ersten Schrecksekunde haben die Nationalstaaten als in der Region Kunduz nach eigenem Bekunden tun. Der Nationalstaaten darauf geantwortet. Es ist ja auch ver- Artikel in „Spiegel Online“ über die Aktivitäten dortständlich – keine Frage, dass musste so sein –, dass im sollte uns sehr nachdenklich machen. Fall des 11. September die USA darauf zuallererst eine Schließlich ist auch die Frage spannend, ob wir den nationale Antwort gegeben haben. Aber allein dadurch, zivilen Aufbauhelfern mit einer militärischen Begleitung dass wir als Nationalstaaten darauf reagieren, können überhaupt einen Gefallen tun. wir die Probleme nicht in den Griff bekommen. Es kann nicht nur eine unilaterale Antwort geben, sondern es gilt, (Vorsitz: Präsident ) die Kraft der Völkergemeinschaft zu mobilisieren, um diese Probleme auch wirklich anzugehen. Ich weiß nicht, Die FDP lehnt die Vorstellungen der Bundesregierung woher Sie die Kritikpunkte inhaltlich nehmen, Herr zum Einsatz in der Region Kunduz ab. Das Konzept ist Dr. Hoyer. Die Bundesregierung hat genau die richtigen in sich nicht schlüssig. Es ist keineswegs ungefährlich. Instrumente entwickelt: Krisenprävention, ziviler Es überdehnt die Möglichkeiten der Bundeswehr weiter. Friedensdienst. Sie hat Sorge dafür getragen, dass mul- Es droht, die Soldaten der Bundeswehr zu Geiseln der tilaterales Denken erweitert, vertieft und gestärkt wird. örtlichen Warlords und Drogenbarone zu machen. Das ist das Markenzeichen dieser Bundesregierung und (Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- es ist gut, dass sie dazu auch die entsprechenden Instru- NEN]: Was ist die Alternative?) mente zur Verfügung gestellt hat. Das unterstützen wir politisch. Ich sehe nichts, was daran substanziell zu kriti- Das ist nichts Halbes und nichts Ganzes und deswegen sieren wäre. Im Gegenteil: Wir unterstützen die Bundes- werden wir das ablehnen. regierung bei ihrem multilateralen Handeln. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP) Mit den neuen lokalen Bürgerkriegen und dem global (B) (D) agierenden Terrorismus erleben wir in der Tat einen An- Präsident Wolfgang Thierse: griff auf unsere Zivilisation der offenen Gesellschaft. Ich erteile dem KollegenGert Weisskirchen, SPD- Diese Zivilisation soll zerbrochen werden. Das ist das Fraktion, das Wort. Ziel derer, die durch ihre Angriffe lokale Bürgerkriege in Gang setzen oder global terroristisch tätig sind. Die Feinde der Zivilisation wollen, dass sich Chaos verbrei- Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): tet. Deswegen setzen sie mit ungeheurer Wucht neue Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Formen von Gewalt ein. Was sie aber wirklich wollen, Herr Dr. Hoyer, ich knüpfe an den Punkt an, den Sie un- verbergen sie. Sie wollen politische Macht erobern. gefähr in der Mitte Ihrer Rede angesprochen haben. Wir Schwache Staaten sehen sie als ihre Beute. Sind diese sollten wirklich zu der Idee zurückkehren, die UNO zu dann erobert, werden sie zu Stützpunkten ausgebaut, da- reformieren, und grundsätzlich neu darangehen. Es ist mit der gewaltsame Raubzug transnational weitergeführt gut, zu sehen, dass Kofi Annan in diesem Punkt wieder werden kann. zu der Debatte zurückkehrt, die vor zehn Jahren stattge- funden hat. Wenn wir uns die letzten zehn Jahre vor Augen füh- ren, können wir doch erkennen, an welchen Punkten das Wenn wir uns anschauen, welche Gefahrenlagen sich geschieht: Das geschieht im Zentrum Afrikas, das ist auf abgezeichnet haben, und noch einmal einen Blick zurück dem Balkan und in Afghanistan geschehen. Überall hier auf die Situation von vor zehn Jahren werfen, dann kön- gab es Versuche, Nationalstaaten von innen bzw. von un- nen wir erkennen, dass wir es heute mitneuen Formen ten gewaltsam zu erobern, um diese als Stützpunkte für von Gewalt zu tun haben. Die entstehen und wachsen das Vorantreiben von transnationalem Chaos durch kri- gerade im Schatten dessen, was doch die große Chance minelle Machenschaften, Bürgerkriege und Terrorismus für die gesamte Welt sein könnte. Im Schatten der Glo- zu gewinnen. Wir müssen darauf klar und deutlich ge- balisierung wächst eine ungeheure neue Gefahr heran: meinsam multilateral antworten. So verständlich es auch Kriminalität, Terrorismus, Bürgerkriege in völlig neuen sein mag, wenn die USA im Terrorismus mit Recht ei- Formen. Die Staatengemeinschaft hat versucht, darauf nen Angriff auf ihre eigene Existenz sehen, so kann die eine Antwort zu finden. Mit dem Blick zurück auf diese Antwort auf diesen nicht in unilateralem Handeln beste- letzten zehn Jahre können wir heute sagen: Es waren nur hen. Die Antwort kann nur, weil der Terrorismus die Versuche. Das gemeinsame, in sich schlüssige Konzept, ganze Welt, also uns alle, treffen soll, eine gemeinsame wie wir diesen neuen Gefahren wirklich gemeinsam bes- sein. Jetzt im Irak erleben wir doch – das kann man an- ser begegnen können, ist noch nicht gefunden worden. gesichts der Konflikte, die dort zutage treten, sagen –, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5055

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (A) dass der unilaterale Weg in die Sackgasse führt. Auch viel bedeutsamer sind als zuvor. Und warum? Weil in-(C) die USA muss das jetzt erkennen. nerhalb des Weltsicherheitsrats die wirklichen Debatten geführt werden. Statt abgeschottet in Nationalstaaten Wir müssen die UNO stärken, sie muss das Heft des darüber zu diskutieren, wird innerhalb des Weltsicher- politischen Handelns in die Hand nehmen, damit die Lö- heitsrats ein Forum geboten, in dem die Argumente aus- cher, wie es der Bundesaußenminister zu sagen pflegte, getauscht werden und um Zustimmung gerungen wird. in der Ordnungsstruktur der Welt geschlossen werden Vielleicht ist das die wichtigste Erkenntnis aus den letz- können. Nicht unilaterales Handeln, sondern gemeinsa- ten zehn Jahren. mes Handeln der Nationalstaaten und Stärkung der UNO sind der entscheidende Schlüssel. Die Bundesre- Wir als Politiker können die Herausforderungen nur gierung unterstützt dies. Deshalb war der Dissens in der dann wirklich annehmen und die richtigen Instrumente Irakfrage, wie ich finde, auch so etwas wie ein gemein- einsetzen, wenn es in der Weltöffentlichkeit und in der samer Lernprozess, welche Schlussfolgerungen für zu- Öffentlichkeit der unterschiedlichen Nationen die Be- künftiges Handeln zu ziehen sind. reitschaft gibt, die Probleme ernst zu nehmen und die Gefahren richtig zu erkennen. Erst dann sind wir, die Po- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten litik, ist die UNO in der Lage, angemessene neue Instru- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mente einzusetzen. Das ist der ungeheure demokratische Dabei kann man auf zwei zentrale Sicherheitsinstitu- Fortschritt, den wir jetzt erkennen können. tionen zurückgreifen: zum einen auf exklusive Sicher- Ich bitte darum, in dieser Debatte und besonders mit heitsinstitutionen wie etwa die NATO, zum anderen auf dem Blick auf die Außenpolitik der Bundesregierung das inklusive Sicherheitsinstitutionen wie die UNO. Warum ernst zu nehmen, was vor 25 Jahren in sei- sind gerade die inklusiven so wichtig? Weil sie alle Nati- nem Report „Das Überleben sichern“ geschrieben hat. onalstaaten miteinbeziehen, deren Möglichkeiten und „Die Zukunft wird gefährlicher“, hieß es im letzten Ka- Kräfte mobilisieren und sie auf die entscheidendenpitel seines Reports. Darauf eine vernünftige Antwort zu Punkte konzentrieren können. Das ist der entscheidende geben, multilaterales Handeln zu stärken, das ist die ent- Vorzug. Statt immer nur zu sagen – natürlich gibt es im- scheidende Herausforderung. Die Bundesregierung mer wieder die Kritikmöglichkeiten –, wie unvollkom- arbeitet daran und die SPD-Bundestagsfraktion unter- men die Instrumente seien, die die UNO einsetzen kann, stützt sie dabei. sollte man lieber die UNO stärken und ihr helfen, dass sie bessere Instrumente entwickeln und diese stärker ein- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ setzen kann. Der große Vorzug von inklusiven Sicher- DIE GRÜNEN) heitsinstitutionen – wir sehen gerade plastisch an dem Beispiel Irak, wie dringend erforderlich das ist – ist, dass (B) Präsident Wolfgang Thierse: (D) sie politische Legitimation haben. Diese ist notwendig, Ich erteile das Wort Kollegen Peter Hintze, CDU/ bevor Militär als Instrument zur Befriedung eingesetzt CSU-Fraktion. werden kann. Genauso ist es zwingend erforderlich, dass man beispielsweise auch im nationalen Parlament breite (Beifall bei der CDU/CSU) Unterstützung bekommt. Umso wichtiger ist es, das auf der globalen Ebene zu Peter Hintze (CDU/CSU): organisieren. Denn wie anders sollte politische Legiti- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- mation beschaffen sein, wenn nicht auf der Grundlage ren! Die deutsche Europapolitik ist auf drei Pfeilern auf- eines globalen Austauschs der Argumente, um die Kraft gebaut: erstens der Freundschaft zu Frankreich, zweitens dieser Argumente dann auf die richtigen Punkte zu kon- der transatlantischen Partnerschaft und drittens einem zentrieren? Es gibt keine andere und keine bessere Orga- fairen Umgang mit den kleinen Mitgliedstaaten. Ich nisation als die UNO, diese Legitimation zu beschaffen. muss heute kritisch feststellen, dass Bundesaußenminis- Wenn es sie nicht gäbe, sie müsste geradezu erfunden ter Fischer, Arm in Arm mit dem Bundeskanzler, zwei werden, dieser drei Pfeiler zum Einsturz gebracht hat. Das Ver- (Beifall des Abg. Hans Büttner [Ingolstadt] hältnis zu Amerika ist nachhaltig gestört und der Gegen- [SPD]) gipfel der 15 kleineren Mitgliedstaaten unter Führung von Wien und Prag signalisiert einen Klimasturz in der obwohl wir wissen, welche Schwächen es innerhalb der EU. Deshalb meine Aufforderung: Die deutsche Europa- UNO gibt. Aber die UNO ist immer nur so stark, wie wir politik muss dringend zu der Balance zurückkehren, die sie selber machen. Die UNO lebt davon, dass die Mit- von Adenauer bis Kohl selbstverständlich war und die gliedstaaten der UNO die Chance haben, über anderedie deutsche Politik ausgezeichnet hat, liebe Kollegin- und neue Instrumente zu verfügen. Gerade wenn es neue nen und Kollegen. Gefahren, neue Herausforderungen, neue Formen von Bürgerkrieg und Terrorismus gibt, müssen wir mit dafür (Beifall bei der CDU/CSU) sorgen, dass die UNO die Chance hat, gemeinsam mit al- Diese Balance ist durch ein weiteres Projekt der rot- len Nationalstaaten dafür auch die richtigen Instrumente grünen Regierung gefährdet: das offene Eintreten für zu entwickeln. den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union. Ich Wer die Kontroverse um den Irakkrieg ernst nimmt, will hier nicht davon sprechen, dass dieselbe Bundes- der wird, wie ich meine, daraus einen richtigen Schluss regierung unserem NATO-Partner Türkei Militärhilfe ziehen können, nämlich dass die VN für die Welt heute verweigert. Ich will nicht davon sprechen, dass deutsche 5056 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Peter Hintze (A) Gerichte die Türkei noch in diesen Tagen als einen Staat tem einer Gesellschaft. Es geht darum, sicherzustellen, (C) qualifizieren, in den rechtskräftig abgeurteilte Verbre- dass Europa in allen Mitgliedstaaten der Europäischen cher nicht abgeschoben werden dürfen. Es liegt natürlich Union tatsächlich gelebt wird. Formale Rechtsanglei- in unserem Interesse, dass der Weg zur vollen Einhal- chung ist das eine, das Leben in einem Wertesystem, wie tung der Menschenrechte, zu Demokratie und einer sta- wir es für richtig halten, ist das andere. bilen Marktwirtschaft in der Türkei konsequent weiter- gegangen wird. Ich habe die Sorge, dass die Europäische Union im Falle eines Türkeibeitritts an dem Spagat zwischen Ver- (Zuruf von der SPD: In der Reihenfolge?) tiefung und Erweiterung zerbrechen könnte. Mir geht es aber um eineganz grundsätzliche Frage. (Beifall bei der CDU/CSU) Die zentrale Frage, vor der die Europäische Union steht, ist die nach dem Verhältnis zwischen Vertiefung und Ich appelliere an die Bundesregierung, dem Deutschen Erweiterung. Jeder neue Beitritt zur EuropäischenBundestag und auch der Öffentlichkeit ausreichend Zeit Union ist unter dem Gesichtspunkt der Integrationsfä- zu geben, diese Frage zu erörtern. higkeit zu prüfen und daran zu messen, ob das, was wir Die Regierung hat auf den Vorschlag der Christlich- mit der Europäischen Union wollen, mit diesem neuen Sozialen Union in Bayern hin, dieses Thema im Wahl- Mitglied auch umgesetzt werden kann. kampf anzusprechen, erklärt, das sei kein Thema für ei- Wir haben gerade eine große Erweiterungsrunde be- nen Wahlkampf. Ich sage Ihnen dazu in Ruhe: Das hät- schlossen. 75 Millionen Menschen aus zehn Staaten aus ten Sie wohl gerne, dass zentrale, wichtige Themen, die Mittel- und Osteuropa und dem Mittelmeerraum gehören das Schicksal und die Zukunft unseres Landes betreffen, bald zu uns. Vor jeder zukünftigen Entscheidung bedarf im Wahlkampf nicht behandelt werden! Ich finde, alle es auch einer gründlichen Auswertung des Beitrittspro- wichtigen Themen müssen im Wahlkampf behandelt zesses. werden, damit die Menschen wissen, was sie wählen, wenn sie sich für eine Partei entscheiden. Mich bewegen in der Frage des Türkeibeitritts zwei Gedanken. Ich habe den Verdacht, dass die Bundesregie- (Beifall bei der CDU/CSU – Hartmut rung diesen Beitritt so massiv forciert, weil sie sich da- Schauerte [CDU/CSU]: Wo denn sonst? Die von ureigene Vorteile verspricht, Jünger von der Basis, jetzt schauen sie Kabinettsstückchen – Gegenruf des Abg. (Lothar Mark [SPD]: Sie haben doch vor Dr. Uwe Küster [SPD]: Schauerlich!) 15 Jahren gesagt, dass er kommt!) – Bei dem Zwischenruf des Kollegen Schauerte fällt mir (B) nicht für Deutschland, nicht für Europa, sondern für Rot- ein: Ich hatte vorgestern Nacht das Vergnügen, Herr(D) Grün. Ich kann verstehen, dass gute Werte von Umfra- Bundesminister, in der Wiederholung einer „Tages- gen unter türkischstämmigen Wählern in Deutschland schau“-Ausgabe von vor 20 Jahren einen durchaus se- für Sie eine arge Verlockung sind. Aber in der Frage der henswerten Parlamentsauftritt von Ihnen zu erleben. Aufnahme eines schnell wachsenden Staates mit weite- Eine gewisse Differenz zwischen damals und heute so- ren 70 Millionen, 80 Millionen oder gar 100 Millionen wohl im äußeren Habitus wie auch in Ihrer inhaltlichen Bürgern in die EU ist hoffentlich der Aspekt bedeutsa- Positionierung ist durchaus festzustellen. Aber ab und an mer, ob die Europäische Union das verkraftet, ob es ihr sollten wir Sie an einige Ihrer eigenen Demokratieforde- gut tut und ob in dem dann neuen Mitgliedstaat Europa rungen erinnern, auch wenn Sie jetzt in einer anderen so gelebt werden kann und wird, wie wir uns EuropaRolle sind, als Sie es damals waren. vorstellen. Eines hat mich besonders amüsiert: Sie haben sich da- Diese Frage haben Sie ignoriert, als Sie der Türkeimals mit Herrn Zimmermann, dem Bundesinnenminis- 1999 in Helsinki – an der Bevölkerung und übrigenster, auseinander gesetzt. Heute Morgen saßen Sie neben auch am Parlament vorbei – in einer Blitzaktion den Bei- Herrn Schily, beide leicht ergraut und deutlich ruhiger. trittsstatus verliehen haben. Daran kann man sehen, was im Rahmen der Zeitabläufe mit Menschen alles passiert. Aber das eine oder andere (Gernot Erler [SPD]: Wir?) Ideal, das Sie vertreten haben, sollten Sie sich doch noch Diese Frage haben Sie auch in Kopenhagen ignoriert, wo einmal vergegenwärtigen. Sie 2002 einen festen Ablaufplan für den Beitritt verein- ( [SPD]: Sie lernen nicht bart haben. Und Sie haben diese Frage ignoriert, als Sie dazu!) Herrn Ministerpräsidenten Erdogan in Berlin vorige Wo- che öffentlich Zusagen gemacht haben. – Da wäre ich etwas optimistischer. Aber es freut mich, dass Sie dem noch Aufmerksamkeit schenken. Wenn Sie Die Bundesregierung versucht in der Diskussion, die einmal der Meinung sind, es sei nach Ihrem Urteil einge- Frage zu tabuisieren, ob ein islamisch geprägter Groß- treten, dann können Sie das ja vermelden. staat Mitglied der Europäischen Union werden kann. Dagegen wird eingewendet, die Europäische Union sei Am Sonntag werden dieSchweden entscheiden, ob kein christlicher Klub. Dieser Einwand geht in die fal- sie den Euro einführen. Das ist natürlich eine wichtige sche Richtung. Natürlich geht es bei der Beitrittsfrage Frage, die auch eine Signalwirkung für andere in Europa nicht um religiöse Überzeugungen. Es geht vielmehr um hat. Wir wissen aus den Umfragen, dass es in Schweden die prägende Wirkung einer Religion auf das Wertesys- einen beträchtlichen Widerstand gegen die Einführung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5057

Peter Hintze (A) des Euro gibt. Warum wird mit einem knappen Ergebnis siv um die Entwicklung s de europäischen diplomati- (C) gerechnet? Der Grund liegt auf der Hand – der Bundes- schen Dienstes – Schaffung einer Flugbereitschaft usw. – außenminister hat es von der Regierungsbank schongekümmert. Deswegen sind in der letzten Runde einige unparlamentarisch herübergerufen –: Die Schwedenandere wichtige deutsche Anliegen auf der Strecke ge- schauen natürlich darauf, wie die deutsche Regierung blieben, wie etwa die Klarstellung der Binnenmarktklau- mit einer gewissen Leichtfertigkeit die Stabilitätskrite- sel, die Wünsche der Europäischen Zentralbank oder rien von Maastricht ignoriert und verletzt. Sie fragenaber die Abwehr der im letzten Moment eingefügten Ge- sich mit Grauen, ob man in einem solchen Verbund nicht setzgebungskompetenz der Europäischen Union für die möglicherweise verloren ist. Daseinsvorsorge. Es bleibt ein Mangel der neuen Verfas- sung, dass die Verantwortung des Menschen vor Gott (Beifall bei der CDU/CSU) und der ausdrückliche Bezug auf das christliche Erbe Ich wünsche mir sehr, dass die schwedische Bevölke- Europas keinen rechten Platz fanden. rung am Sonntag Ja sagt, damit wir die Euro-Zone er- Gleichwohl müssen wir natürlich entscheiden, wie es weitern und um Schweden verstärken können. Aberweitergeht. Ich halte es für richtig, dass man den Versuch wenn es am Sonntag ein Nein gibt, dann hat das – das unternimmt, den gefundenen Kompromiss zu verteidi- kann ich schon sagen – die Bundesregierung mit auf dem gen und als Verfassung durchzubringen. Gewissen. Wenn dieses Paket allerdings wieder aufgeschnürt wer- (Beifall bei der CDU/CSU – Lothar Mark den sollte – wir haben schon viele Änderungswünsche [SPD]: Wofür wir weltweit alles verantwort- gehört –, dann erwarten wir natürlich, dass unsere Kri- lich sind, das ist Wahnsinn! – Uta Zapf [SPD]: tikpunkte in diesen Prozess eingehen. Hitzewelle!) Ein letzter Punkt, Herr Präsident. Es geht in Zukunft – Die freudig erregten Zwischenrufe aus der SPD-Frak- noch stärker um die Rechte des Deutschen Bundestages. tion möchte ich gerne einmal aufgreifen: Natürlich ist Der Verfassungsentwurf sieht vor, dass der Europäische Deutschland als das größte Land in der Euro-Zone in ho- Rat jene Bereiche, die bisher der Einstimmigkeit unterla- hem Maße für den Euro verantwortlich. Es ist geradezu gen, in das Mehrheitsprinzip überführen kann. Wir wol- eine Ironie der Geschichte, dass das Land, das 1997 den len deshalb im Ratifizierungsgesetz sicherstellen, dass Stabilitätspakt erwirkt hat, dasjenige ist, das diesen als der Deutsche Bundestag beteiligt wird, bevor der Bun- erstes massiv und dauerhaft verletzt. Ich meine, dasdeskanzler für unser Land in einer solchen Frage eine muss uns doch alle erschrecken. Anstatt solche Zwi-Entscheidung trifft. Es handelt sich um eine Änderung schenrufe zu machen, sollten Sie lieber sagen: Da istder EU-Verfassung. Daher ist es wichtig, dass der Deut- (B) wirklich eine Korrektur fällig. – Es ist ein Drama, dass sche Bundestag seine Rechte wahrt. Wir erwarten von(D) Rot-Grün es geschafft hat, Deutschland in wenigen Jah- der Regierung hierzu konstruktive Vorschläge. ren von einem Hort der Stabilität zu einem Verletzer des Stabilitätspakts zu machen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Gernot Erler [SPD]: Schlagen Sie doch ein- (Beifall bei der CDU/CSU) mal etwas vor!) Präsident Wolfgang Thierse: Die Haushaltsdebatte ist die erste Möglichkeit, hier auf die Ergebnisse des Brüsseler Konvents zu reagie- Ich erteile das Wort dem Kollegen Günter Gloser, ren und sie zu würdigen. Ich freue mich, dass der Kol- SPD-Fraktion. lege Altmaier bei uns ist, der uns – wie Jürgen Meyer – in allen Sitzungen des Europaausschusses über die Ar- Günter Gloser (SPD): beiten unterrichtet und uns intensiv am Prozess beteiligt Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! hat. Ich glaube, es ist eine große Leistung, dass Parla- Lieber Kollege Hintze, wenn Sie schon die Behauptung mentarier und Regierungsvertreter aus 28 Staaten einaufstellen, die Bundesregierung sei schuld daran, dass es solches Werk geschaffen haben und nun ein Vorschlag zu diesen Veranstaltungen in Wien und Prag gekommen für eine europäische Verfassung vorliegt. In der Gesamt- ist, dann hätten Sie Belege dafür anführen müssen. Die bewertung komme ich zu einem positiven Urteil. DieFrage, wofür diese Bundesregierung noch alles verant- Verschmelzung der bestehenden Verträge ist geglückt. wortlich sein soll, ist natürlich berechtigt. Man kann es Die Aufnahme der Grundrechtecharta ist richtig. Es ist sich ja so einfach machen. Wir sollten diese Dinge, wie eine klare Normenhierarchie entwickelt worden. Diees in den Debattenbeiträgen heute Vormittag schon der Entscheidungsverfahren sind transparenter und die Ab- Fall war – ich rechne den Beitrag von Herrn Glos aus- stimmungsregeln demokratischer. drücklich nicht dazu –, etwas differenzierter betrachten. (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Bun- Nach der sehr fruchtbaren Diskussion im Europaaus- desministers Joseph Fischer) schuss hatte ich eigentlich geglaubt, dass Sie heute nicht einfach undifferenziert Behauptungen in den Raum stel- – Der Bundesaußenminister, der sich in der zweitenlen. Darauf komme ich noch zurück. Hälfte dieses Konvents ja auch sehr intensiv beteiligt (Beifall bei der SPD) hat, fordert mich, gewissermaßen von der Bank aus, auf, ich solle doch noch etwas Freundliches zu ihm sagen. Für die Öffentlichkeit war es wichtig, zu erfahren, Sie haben sich nach meinem Geschmack etwas zu mas- dass wir vor einigen Wochen im Deutschen Bundestag 5058 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Günter Gloser (A) nahezu einstimmig das Ratifizierungsgesetz zum Beitritt großen, aus alten und neuen Mitgliedsländern – sowie(C) von zehn Staaten verabschiedet haben. Das war ein sehr von Vertretern der Kommission. Warum sagt Herr gutes Signal, das vom Deutschen Bundestag ausgegan- Stoiber plötzlich, er wolle nicht nur Notar spielen? Herr gen ist. Stoiber spielt ihn schon gar nicht. Wenn, dann ist es un- sere Regierung. Aber dieRegierung hat deutliche Zei- Große Übereinstimmung gab es auch in der Beurtei- chen gegeben: Wir wollen dieses Paket nicht aufschnü- lung der Ergebnisse des Konvents. Es muss einmal ge- ren. Darin werden die SPD und, wie ich denke, auch sagt werden – von mir wird das eher erwartet als vonBündnis 90/Die Grünen die Bundesregierung unterstüt- Ihnen –, dass die Bundesregierung und die rot-grüne Ko- zen. alition in der Tat in diesem Bereich die Weichen gestellt haben. Zum einen wurden Hindernisse in Bezug auf den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Beitrittsprozess beiseite geräumt und zum anderen DIE GRÜNEN) wurde der Anstoß gegeben, aus den Fehlern von Nizza Vor diesem Hintergrund möchte ich ein – nicht über- die Konsequenzen zu ziehen und einen Konvent einzu- raschendes – Signal an die vielen Länder geben, die im berufen. Auch das sollte an dieser Stelle einmal heraus- Jahre 2004 beitreten wollen. Man hört jetzt Kritik aus gestellt werden. Prag und aus Wien. Wir haben mit diesen Ländern im (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried Auswärtigen Ausschuss und in anderen Fachausschüs- Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) sen, in Arbeitsgruppen und auf europäischer Ebene ei- nen intensiven Dialog geführt, wie es sich gehört. Das Leitmotiv von Nizza hieß Vertiefung und Erwei- terung. Wir alle wissen, dass wir dieses Ziel auf dieser Auch wir haben diesen Prozess mitgemacht. Auf der Regierungskonferenz nicht erreicht haben. Die Frageeinen Seite ist es völlig legitim, ein nationalstaatliches, war, wie man dieses Ziel auf andere Weise erreichenmitgliedschaftliches Interesse zu formulieren. Auf der konnte. Die Antwort auf diese Frage war die Einberu- anderen Seite steht das europäische Interesse. Wir alle fung des Konvents. Nun stellt sich die Frage – eine Ant- tragen sozusagen einen Doppelhut. Irgendwann muss ich wort darauf ist auch Herr Hintze schuldig geblieben –, aber entscheiden, welcher Hut mir wichtiger ist. Die Ver- wie wir mit diesem Ergebnis umgehen. Sie haben gesagt, antwortung für Europa muss wichtiger sein als das allei- man sollte möglichst bei diesem Ergebnis bleiben und nige mitgliedschaftliche Interesse. Das sollten wir in den alles so belassen. So lautete auch Ihre Aussage im Aus- nächsten Wochen noch intensiv mit unseren Kolleginnen schuss. und Kollegen aus den Beitrittsländern diskutieren. Aber wie verhält sich die Union insgesamt, also CDU (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) und CSU, dazu? Sie sind doch eine Fraktionsgemein- DIE GRÜNEN) (D) schaft. Gestern sagte der bayerische Ministerpräsident, Ich will darauf nicht im Einzelnen eingehen; das wird Bayern wolle neu verhandeln. Zunächst einmal der ganz die Kollegin Zapf noch tun. Aber es ist interessant, wie formale Einwand: Bayern kann nicht verhandeln. Bay- vor dem Hintergrund des Wahlkampfes in Bayern be- ern ist zwar größer als Estland und andere Länder; trotz- stimmte Themen aus dem Hut gezaubert werden. Aber dem verhandelt Bayern nicht. Natürlich wird die Bun- man sollte nicht nur mit Blick auf den 21. September desregierung Einwände, Anregungen und Anstöße der dieses Jahres handeln. Bundesländer aufnehmen. Das ist auch richtig so. Aber die Nachverhandlungen, die Herr Stoiber fordert, kann Für mich ist klar, dass die Europäische Union keine es nicht geben. Er will das Paket sozusagen aufschnüren. Religionsgemeinschaft im klassischen Sinne des Aber er macht keine Vorschläge, wie man es wieder zu- Wortes ist. Für mich ist klar, um das mal salopp zu schnüren kann. Ich sage ganz deutlich: Die Union aus formulieren, dass die Europäische Union kein CDU und CSU sollte sich erst einmal darüber einig wer- Christenverein ist. den, wie sie mit dem Paket umgehen will. Am besten (Beifall der Abg. Uta Zapf [SPD]) würde sie Ihren Vorschlag, Herr Hintze, aufgreifen, das Paket nicht mehr aufzuschnüren; denn ich glaube, dass Für mich macht die Vorstellung an sich auch Sinn, der Konvent eine gute Arbeit geleistet hat. dass wir ein islamisches Land von der Größe, der Bevölkerungsdichte der Türkei in die Europäische (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried Union integrieren, um uns selbst und der Welt zu Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) zeigen, dass das machbar ist, dass Menschen unter- Herr Stoiber sagt, man könne nicht erwarten, dass die schiedlicher religiöser Ausprägung sehr gut mitein- Teilnehmer dieser Regierungskonferenz, die Staats- und ander in einer von integrationsweiterführenden Regierungschefs, nur wie Notare handeln. Was soll diese Ambitionen getragenen europäischen Konstruktion Feststellung eigentlich? War es nicht vielmehr so, dass zusammenleben können. in der Vergangenheit wir Parlamentarier uns als Notare Wie stellt sich die Union dazu? Diese Aussage stammt verstanden haben, weil wir an den Ergebnissen, die auf von Jean-Claude Juncker. Soviel ich weiß, ist auch er Regierungskonferenzen erarbeitet worden waren, nichts Mitglied der christlich-sozialen Volkspartei. mehr ändern konnten? Demgegenüber hat dieser Kon- vent jetzt auf demokratische Weise einen Verfassungs- Ohne Zweifel kann man über viele Dinge streiten. entwurf erarbeitet, unter Beteiligung von Parlamentari- Aber sowohl vom Kollegen Dr. Schäuble als auch vom ern und von Regierungsvertretern – aus kleinen undKollegen Hintze erwarte ich eine etwas differenziertere Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5059

Günter Gloser (A) Betrachtungsweise. Dass meine bayerischen FreundeParteigrenzen hinweg verständigt. Es wäre gut, wenn die (C) von der CSU immer mit der Holzhammermethode kom- Regierungskonferenz in diesem Jahr, unter italienischer men, ist schon klar. Darauf will ich nicht mehr viel ge- Ratspräsidentschaft, über den Verfassungsentwurf ent- ben. Das liegt quasi in ihren Genen. Die können nicht scheiden könnte, damit er dann auch den Parlamenten mehr anders. zugeleitet werden kann. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vielen Dank. Die wollen einfach immer nur draufhauen. Sie wollen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ vor allem immer Befürchtungen schüren, die überhaupt DIE GRÜNEN) nicht anstehen. Auch Herr Dr. Schäuble hat heute wieder vor dem Präsident Wolfgang Thierse: Parlament den Eindruck erweckt, als stehe im nächsten Ich erteile dem Kollegen Gerd Müller, CDU/CSU- Jahr der Beitritt der Türkei zur Europäischen Union an. Fraktion, das Wort. Das ist überhaupt nicht der Fall. Sie wissen doch viel besser, dass die Europäische Union im nächsten Jahr erst Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): einmal darüber entscheiden wird, ob überhaupt Beitritts- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- verhandlungen aufgenommen werden. Wie lange diese ren! Als ich die Rede des Bundesaußenministers gehört dauern, wissen wir. Was umgesetzt werden muss, wissen habe, konnte ich feststellen: Vieles ist sehr richtig und wir auch. Insofern sollte auch von der Union eine etwas findet unsere Zustimmung – insbesondere seine Ankün- differenziertere Betrachtung kommen. digung, das Verhältnis zu Amerika zur Grundlage der Ich will den Kollegen aus der CDU/CSU-FraktionAußen- und Sicherheitspolitik zu machen. Viele interna- nicht erwähnen – sonst hat er vielleicht nur Schaden –, tionale Fragestellungen sowie die großen Probleme in der für eine differenziertere Betrachtungsweise eintritt. der Wirtschaft, in der Sozial-, in der Klimapolitik, aber Darüber bin ich froh. Es gibt auch eine Arbeitsgruppe in insbesondere auch bei der Terrorismusbekämpfung kön- der CDU, die sagt: Wir müssen mit dem Thema umge- nen wir nur auf der Basis eines guten transatlantischen, hen, aber differenzierter. – Warum dann immer vor der europäisch-amerikanischen Freundschaftsverhältnisses Öffentlichkeit diese undifferenzierte Art und Weise, die- angehen. Darin stimmen wir Ihnen hundertprozentig zu. ses kurzfristige Spielchen, dieses Angsteinjagen vor ei- Herr Bundesaußenminister, als Sie Ihre Ausführungen nem Wahltermin – als ob die Türken wieder vor Wien lä- zum Thema Wahlkampf gemacht haben – nach dem gen? Motto „Naja, da ist man halt ein Stück weit bereit, über (B) Liebe Kolleginnen und Kollegen vor allem von der das Ziel hinauszuschießen“ –, habe ich eine Zeit lang ge- (D) CSU, Sie sollten endlich Ihren Kurs ändern. dacht: Jetzt zeigt der Mann Charakter. Heute früh hat der Bundeskanzler beim Thema Rente seinen Fehler einge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ standen. Wenn Sie, wie der Bundeskanzler, Ihren Fehler DIE GRÜNEN) eingestanden und gesagt hätten, dass der deutsche Son- Wenn Sie schon für Aufklärung sind, dann können wir derweg einer Vorfestlegung in der Irakfrage auf einer sie in der Tat in der Debatte betreiben. Frau Merkel sagt Wahlkampfkundgebung falsch war, dann hätten Sie Cha- dem türkischen Ministerpräsidenten: Nein, wir möchten rakter gezeigt. natürlich nicht diesen Wahlkampf missbrauchen. Von (Beifall bei der CDU/CSU – Lothar Mark der Union aus München höre ich etwas ganz anderes. [SPD]: Es war richtig, dass er das gemacht Einer der gestrigen Vorwürfe aus München lautete, hat!) Rot-Grün sei schuld daran, dass keine öffentliche De- So sind wir jetzt in einer Situation, in der es heißt – so batte über die europäische Verfassung geführt werde. ein Sprecher des Auswärtigen Amtes –: Es kann nicht Liebe Kolleginnen und Kollegen, dann lasst uns in den ausgeschlossen werden, dass es bei der nächsten UN- nächsten Monaten bis Mai/Juni 2004 eine Debatte über Vollversammlung zu einem Händedruck zwischen dem diese europäische Verfassung führen! Sie muss mögli- deutschen Bundeskanzler und dem US-Präsidenten cherweise in folgenden Punkten fortentwickelt werden: kommt. Was heißt das für die nationalstaatliche Ebene? Was heißt das für die Außenbeziehungen? Man kann das aber (Zuruf von der CDU/CSU: Ist ja toll!) nicht immer auf diese dumpfe, dreiste Art machen, auf Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir rufen die es der vermeintliche Alpenherkules, Herr Stoiber,Ihnen zu: Bringen Sie das deutsch-amerikanische Ver- machen will. hältnis schnell wieder in Ordnung. Wir wollen Sie dabei unterstützen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU – Lothar Mark [SPD]: Dazu gehören zwei Seiten!) Ich würde dafür plädieren, dass wir, wie schon in den letzten Wochen und Monaten, auch durch die Bundesre- In der Außen- und Europapolitik ist das grundlegende gierung einen intensiven Dialog über den Fortgang der Prinzip das Vertrauen der Partner zueinander. Sie haben Regierungskonferenz führen. Wir haben uns, denke im transatlantischen Verhältnis und im europäischen ich, eindeutig – auch was den Zeitplan angeht – über die Binnenverhältnis – darauf komme ich noch zurück – viel 5060 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Dr. Gerd Müller (A) davon zerstört. Herr Gloser, bei den früheren Bundesre- nachvollziehen, nach dem 15 000 Ärzte zusätzlich ein- (C) gierungen war es auch so, dass es in der Außenpolitik gestellt werden müssen. Grund ist die Auslegung der Ar- Vertrauen im Parlament gab. Ihre Auslassungen, Herr beitsrechtrichtlinien. Mit dem neuen Verfassungsentwurf Fischer, zur gestrigen Sitzung des Auswärtigen Aus-gibt es so gut wie keinen Politikbereich – ich nenne nur schusses und der Versuch, den Kollegen Schäuble hier die Bereiche Kultur, Zivilschutz, Sport, Wirtschaftspoli- vorzuführen, weil er nicht da war – er war in Paris und tik, Kompetenz für Zuwanderung, Daseinsvorsorge und hat dort Gespräche geführt–, entsprachen nicht dem Sozialpolitik –, in dem die EU zukünftig nicht aus- Verlauf der Sitzung. Auch darauf komme ich noch ein- schließliche oder konkurrierende Zuständigkeiten hat. mal zu sprechen. Das war nicht das ursprüngliche Ziel des Schäuble- Bocklet-Entwurfes. Wir haben ein geschlossenes Ge- Wir müssen Europa vereinen, nicht spalten. Sie spalten. samtkonzept mit einer klarenKompetenzabgrenzung Auch innerhalb von Europa ist es Ihnen gelungen, Ver- der verschiedenen Ebenen vorgelegt. Wir sind der Mei- trauen zu zerstören. Der Kollege Hintze hat darauf auf- nung, dass in den Verhandlungsprozess an bestimmten merksam gemacht. Der „Pralinengipfel“ mit Belgien und Punkten, die ich zum Teil genannt habe, durchaus deut- Luxemburg – eine europäische Sicherheitsinitiative –, die sche Positionen eingebracht werden müssten. Ich nenne Neuauflage des Achsendenkens – Paris–Berlin–Moskau –, als Beispiel noch einmal die Daseinsvorsorge. Hierbei (Peter Hintze [CDU/CSU]: Peking!) haben Sie uns im Europaausschuss im Übrigen aus- drücklich unterstützt. Ihr Verhalten gegenüber Österreich und das Urlaubsthea- ter des Bundeskanzlers gegenüber Italien: Dass Sie das christliche Wertefundament Europas und einen Gottesbezug leugnen, das ist keine Überraschung. (Lothar Mark [SPD]: Sagen Sie mal was zu Dass Sie sich mit aller Kraft für die Aufnahme der Tür- Berlusconi!) kei stark machen, das ist auch keine Überraschung. Herr All diese Aktionen zerstören Vertrauen, insbesondereGloser, das ist aber kein Wahlkampfthema. das Vertrauen unserer kleinen EU-Mitgliedspartner in Deutschland. (Zurufe von der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) – Ich verstehe die Erregung nicht. Ich komme gerade aus einer Diskussionsrunde mit türkischen Professoren. Deshalb ist die EU tief verunsichert. Es geht ein Riss durch die Staatengemeinschaft. (Uta Zapf [SPD]: Ganz normale Menschen!) Der Verfassungsentwurf ist eine gute Grundlage für Mit den Türken kann man diese Frage viel vernünftiger die Regierungskonferenz. Wenn ich diesen Entwurf aber diskutieren als mit der SPD-Bundestagsfraktion. (B) (D) an Ihrer Rede in der Humboldt-Universität messe, für (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die Sie sich ja schon den Nobelpreis zuschreiben lassen neten der FDP) wollten – als freier Bürger –, In der Türkei wird durchaus der Standpunkt vertreten, (Uta Zapf [SPD]: Ist doch was Gutes!) dass dieser Prozess aus türkischer Sicht auch kritisch zu dann bin ich doch einigermaßen enttäuscht. Es kommt bewerten ist. Zum Beispiel müssten aufgrund des nicht von ungefähr, dass Sie selber acht Tage vor derEuGH-Urteils die Arbeitsrechtrichtlinien auch in der Schlussberatung 56 Änderungsanträge in den Konvent Türkei in den dortigen Krankenhäusern umgesetzt wer- eingebracht haben. den. Angesichts dessen möchte ich die Frage stellen, ob der acquis communautaire, diese 40 000 Gesetze und Meine Damen und Herren, in welcher Demokratie le- Verordnungen, die wir in 45 Jahren in Europa entwickelt ben wir eigentlich? Die Bundesregierung und der Bun- haben, aus heutiger Sicht wirklich die Antwort auf die desaußenminister, der Spontidemokrat der früheren Jahr- Fragen bezüglich der Entwicklung der Türkei in dem zehnte, wollen uns, dem Parlament, verbieten, mit dem kommenden Jahrhundert ist. Ich bin der Meinung, dass Volk in Dialog zu treten und dieses Verfassungswerk of- er das nicht ist. Wir müssen an dieser Frage weiterarbei- fen zu diskutieren. Demokratie heißt doch Dialog mitten. Deswegen sagen wir Nein zur Aufnahme, bieten der dem Bürger und nicht Geheimdiplomatie des Außenmi- Türkei aber eine privilegierte Partnerschaft, eine Zusam- nisters. Deshalb müssen wir, wenn wir beim Bürger Ak- menarbeit auf allen Feldern an. zeptanz für den europäischen Verfassungsprozess erhal- ten wollen, den Dialog, das Gespräch und die Öffnung Im Rahmen der Haushaltsdebatte gäbe es noch viel in suchen. Man kann doch ganz offen miteinander reden. der Europapolitik anzumahnen. Wir treiben die Ost- erweiterung weiter voran. Es gibt jedoch kein Konzept Es gibt natürlich noch offene Fragen. Darauf möchten zur Förderung der deutschen Grenzregionen, obwohl das wir hinweisen. 15 Mitgliedstaaten haben Änderungsbe- von Bundeskanzler Schröder in Weiden groß verkündet darf angekündigt. Deutschland dagegen sagt Nein, es wurde. Es gibt keine Reform des Finanzsystems. Es gibt werde das Paket nicht aufmachen. Es werde darüber keine Reform der Strukturförderung. Wir haben eine nicht gesprochen, weder im Parlament noch in der Öf- völlig unzureichende Haushaltskontrolle. Ihre grüne EU- fentlichkeit. Geschweige denn, dass eine Volksabstim- Kommissarin erhält vom Europäischen Rechnungshof mung stattfinden werde. nicht ein einziges Jahr das Testat der Zuverlässigkeit der Brüssel bekommt gewaltige Macht. Die Bürger kön- Rechnungsführung. Das muss man sich einmal vorstel- nen das in der Praxis anhand des neuesten EuGH-Urteils len! Für 10 Prozent der europäischen Ausgaben im EU- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5061

Dr. Gerd Müller (A) Haushalt gibt es nicht einmal einen Verwendungsnach- (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wies- (C) weis; und das unter Verantwortung einer grünen EU- loch] [SPD]) Haushaltskommissarin. Das ist ein echter Skandal, den Dies zeigt sich doch zum Beispiel an der Institution in Europa niemand wahrnimmt. Es scheint keine Rolle NATO und deren Erweiterung aus stabilitätspolitischen zu spielen. Gründen. Dies zeigt sich an der EU und ihrer Erweite- Einige Schlussbemerkungen zum ThemaAuslands- rung aus stabilitätspolitischen Gründen; das ist unter an- einsätze der Bundeswehr:Wir teilen hier die vonderem aber auch ein wichtiges Argument. Das zeigt sich Wolfgang Schäuble vorgetragenen Positionen. Ich habe am Balkan und dem Stabilitätspakt bzw. den Stabilitäts- nicht ausreichend Zeit, Einzelheiten zu vertiefen. und Assoziationsabkommen mit der Perspektive, in die europäischen Institutionen integriert zu werden, um dort (Uta Zapf [SPD]: Gott sei Dank!) Stabilität zu bewirken. Deshalb, Kollege Schäuble, ver- Vor einer Zustimmung müssen Sie uns aber natürlich stehe ich nicht, warum Sie dieser Regierung einen leicht- noch entscheidende Fragen beantworten. Der Bürgerfertigen Umgang mit dem Stabilitätspakt unter der Prä- möchte ein Gesamtkonzept. Welches ist die nationale In- misse vorwerfen, dass man Europa schwäche, wenn man teressenlage? Können unsere Soldaten die Belastungen zu vielen die Perspektive des Beitritts signalisiere. überhaupt noch tragen? Terrorismusbekämpfung ist das Ich vermute allerdings, liebe Kolleginnen und Kolle- wohl nicht in Kunduz. Drogenbekämpfung oder Be- gen von der Opposition, die Sie sich so vehement an die- kämpfung der Drogenbosse ist es ja wohl auch nicht. Für ser Stelle äußern, dass Sie sich vor allen Dingen auf den humanitäre Hilfe werden die Soldaten nicht gebraucht. Beitritt der Türkei beziehen. Das haben die Kollegen Ich zitiere die „Berliner Zeitung“: „Wir werden miss- Schäuble, Glos, Hintze und jetzt auch noch einmal der braucht für eine Politik der militärischen Symbolik“.Kollege Müller entsprechend vorgeführt. Ich möchte Ferner sagt Ulrich Delius von der Gesellschaft für be- dann einmal darum bitten, dass Sie in Bezug auf die drohte Völker, „das eigentliche Ziel der Stationierung Frage nach der Integration der Türkei in die Europäische deutscher Truppen in Kunduz sei die Verbesserung der Union ein bisschen geschichtsbewusst denken. Beziehungen zu den USA“. Er nennt den Einsatz „ein (Beifall des Abg. Lothar Mark [SPD]) idiotisches Konzept“. Ich nenne es kein idiotisches Kon- zept; denn ich sehe noch kein Konzept. Sie sind uns hier Seit 1993 läuft ein Prozess der Annäherung der Tür- die Antworten auf die von Herrn Schäuble angemahnten kei an die EU mit vielen Versprechen, Fragen schuldig geblieben. Dieser jetzt angestrebte Af- (Lothar Mark [SPD]: Die von der CDU stam- ghanistan-Einsatz darf aber kein Kompensationsgeschäft men!) (B) für eine Verweigerung im Irak sein. Er muss in sich sel- (D) ber logisch begründet sein. Nur dann können Sie von uns die jetzt plötzlich nicht mehr wahr sein sollen. Auch die eine Zustimmung erhalten. Regierung Kohl hat sich ausdrücklich für eine Integra- tion der EU eingesetzt. Vielen Dank. (Lothar Mark [SPD]: Genau so ist es! – (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Nicht als Voll- mitglied) Präsident Wolfgang Thierse: Was passiert jetzt? Herr Glos hat heute früh auf unge- Ich erteile das Wort der Kollegin Uta Zapf, SPD-heuer subtile Art eine Xenophobie mit dem Argument Fraktion. geschürt, die Türkenflut stehe vor der Tür. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Uta Zapf (SPD): Gerade eben haben wir das auch noch einmal bei Herrn Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Hintze erlebt. Ich halte das für eine unerhörte Diskussion Ost-West-Konfrontation ist vorbei, aber Frieden willund empfehle Ihnen zwei Dinge: Zum einen empfehle sich überhaupt nicht einstellen. Wir haben es mit neuen ich Ihnen das kurze Papier des deutsch-türkischen Fo- Bedrohungen vielfältiger Art zu tun. Wir haben diesrums Ihrer eigenen Partei, der CDU, in dem mit sehr ver- heute schon alles angesprochen: instabile, zerfallenenünftigen Argumenten, auch stabilitäts- und sicherheits- Staaten, Proliferation von Massenvernichtungswaffen, politischen Argumenten, Erwägungen zum Beitritt der internationaler Terrorismus. Wir haben es zunehmend Türkei in die EU angestellt werden. mit asymmetrischen Kriegen zu tun, mit nicht staatli- chen Akteuren und mit Terroranschlägen. Der Krieg ist Zum anderen empfehle ich Ihnen einen Blick in die im ehemaligen Jugoslawien nach Europa zurückgekehrt. Fortschrittsberichte bzw. in die Berichte über die Refor- men, die die Türkei in den letzten zwei Jahren mit einer Wir und alle Institutionen, sowohl die EU als auch die großen Vehemenz und mit einem Erfolg betrieben hat, NATO und auch die UN, haben unsere Lektionen ausder unterstützt und nicht konterkariert gehört. diesen Konflikten gelernt oder müssen sie dringend ler- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nen. Ich glaube, eine der wichtigsten Erkenntnisse heißt, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dass wir Stabilität nur schaffen können, indem wir Inte- gration und Kooperation auf nationaler und internatio- Man ist das Problem der Folter mutig angegangen; das naler Ebene betreiben. haben wir immer verlangt. Daneben haben wir immer 5062 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Uta Zapf (A) verlangt, dass das Militär litisch po kontrolliert wird. senvernichtungswaffen eine Bedrohung darstellen und(C) Amnesty International und die anderen Menschenrechts- dass die Verhütung von Proliferation eine der wichtigen organisationen sagen, dass das alles in der Praxis noch Zukunftsaufgaben für uns ist. Wir sind uns darüber ei- nicht in dem Maße, wie wir es verlangen, unten ange- nig, dass wir alle uns dort engagieren müssen. kommen ist. Wir erwarten ja auch nicht, dass dieser Pro- zess bereits morgen abgeschlossen ist. Jetzt müssen erst Es gibt aber keinen Konsens über die Strategien, In- einmal die politischen Kriterien, die Kopenhagener Kri- strumente und Prioritäten. Wir plädieren dafür, multila- terien, erfüllt werden. Wir sollten die Türkei unterstüt- teral zu arbeiten, wenn man diese Gefährdungen bewäl- zen, sodass die Umsetzung ihrer Vorhaben dort auch ge- tigen will. Man muss die staatlichen Akteure mit lingt, und es nicht zu nem ei Prozess der Entmutigung multilateralen Abkommen erreichen. Wir wissen aller- kommen lassen. Die Türkei hat die Schwächen selbst er- dings auch, dass die nicht staatlichen Akteure mit ande- kannt. Wenn Sie mit Herrn Erdogan gesprochen hätten, ren Maßnahmen erreicht werden müssen. dann wüssten Sie, dass er selbst sagt, dass noch nicht al- les implementiert ist, dass sie das aber implementieren Abrüstung, Rüstungskontrolle und Abrüstungshilfe werden. sind wichtige Stichpunkte, wenn wir darüber reden, wie wir die Proliferation von Massenvernichtungswaffen Werfen Sie einen Blick auf die gesamte Geschichte verhindern können. Wir müssen in diesem Bereich zu ei- der Türkei in den letzten 70 Jahren. Dies ist ein islami- nem Konsens zurückkommen. Ich möchte noch einmal sches Land mit einer Westorientierung und einem laizis- erwähnen, dass ich die globale Partnerschaft der G 8 für tischen System. Da wir die Austarierung mit den islami- eine wichtige Aktion halte, um die Proliferation an nicht schen Staaten suchen, sind wir gut beraten, die Türkei staatliche Akteure zu verhindern. als einen ganz engen Partner zu gewinnen, um diese Pro- bleme, die bis hin zum Terrorismus reichen, zu bewälti- Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Gesamtkonzept gen. der Bundesregierung heißt Prävention statt Präemp- tion. Ich glaube, wir sind an einer Stelle angekommen, (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Sollen wir an der wir keinen internationalen Konsens mehr haben, Israel auch aufnehmen?) an der wir diesen internationalen Konsens aber dringend Wir werden diese Diskussion noch weiter führen müs- suchen müssen, weil wir eine gemeinsame Bedrohungs- sen; das sehe ich auch so. analyse und eine multilaterale Kooperation brauchen. Das geht nur, wenn wir gemeinsame Strategien haben, In den letzten paar Minuten, die ich für meine Rede die wir auch gemeinsam umsetzen. Ansonsten kann we- noch habe, möchte ich noch ein paar Dinge zu anderen der für den Irak noch für Afghanistan eine Strategie (B) politischen Themen sagen, die für die zukünftige Ent- entwickelt werden, die in dieser Zeit der Diskussion(D) wicklung unserer Sicherheitspolitik eine Rolle spielen. durch den Aufbau von Institutionen ein innenpolitisch sicheres Umfeld schafft, in dem Rechtsstaatlichkeit, Ich bedauere es wirklich sehr, dass das Gesamtkon- Menschenrechte und Demokratie gelten. zept der Außen- und Sicherheitspolitik dieser Bundes- regierung offensichtlich nicht wahrgenommen wird. Wir Ein letztes Stichwort: Der Aufbau der Wirtschaft ist diskutieren über bestimmte Teile. Es gibt aber immerdringend erforderlich. Ich bin der tiefen Überzeugung, wieder Missverständnisse oder auch Nichtkenntnis. Des- dass nur wirtschaftliche Teilhabe die den Konflikten zu- halb empfehle ich allen Kolleginnen und Kollegen die grunde liegenden Probleme beseitigen kann. Keiner darf Lektüre des vom Bundessicherheitsrat am 28. Juni die- von der wirtschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen wer- ses Jahres abgesegneten Gesamtkonzepts zur zivilenden. Wenn wir Ursachenbekämpfung wollen, dann müs- Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsoli- sen wir auch an dieser Stelle ansetzen. Organisierte Kri- dierung. minalität und Korruption sind wichtige Stichworte, die Ich glaube, wenn wir die Dinge auf der militärischen in ein sicherheitspolitisches Konzept hineingehören. Seite und die zivilen Konzepte endlich einmal als ein Um diesen Punkt abzuschließen: Ich halte das Kon- Gesamtkonzept betrachten, dann werden wir auch in an- zept, das die Bundesregierung für Afghanistan vorgelegt deren Dingen nicht mehr so stark differieren. hat, für richtig, weil es die sicherheitspolitische Kompo- (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Sagen Sie das nente und den zivilen Aufbau zusammenbindet. Wir doch einmal den drei betroffenen Ministerien, müssen uns bemühen, im Konsens mit den Vereinten die gegeneinander arbeiten!) Nationen ein Konzept für den Irak zu finden. Wir alle sind darauf angewiesen, die Gefahren, die uns sicher- – Das ist doch überhaupt nicht wahr. heitspolitisch global drohen, gemeinsam zu bekämpfen. Herr Fischer hat heute früh ausdrücklich gesagt, dass Danke. bei der akuten Bekämpfung des internationalen Terro- rismus auch militärische Instrumente benötigt werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Sie haben ja des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nicht einmal die Mittel dafür!) Präsident Wolfgang Thierse: Es gab eine große internationale Einigkeit bezüglich der UN-Resolution in dieser Frage und darüber, dass Mas- Ich erteile der Kollegin Petra Pau das Wort. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5063

(A) Petra Pau (fraktionslos): Die Politik wird militarisiert, das Völkerrecht verbogen (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der und die Vernunft immer mehr vertrieben. Das muss in Haushalt ist in Zahlen gegossene Politik, heißt es. Die die Sackgasse führen und dafür können Sie von der PDS PDS im Bundestag hat sich deshalb die Teile besonders keine Zustimmung erwarten, ganz im Gegenteil. angesehen, die sich mit Verteidigungs-, Außen- und Ent- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- wicklungspolitik befassen. Ich komme daher gleich auf tionslos]) die politischen Differenzen zu sprechen, die sich anhand der Zahlen und auch heute in der Debatte zeigen. Ich habe gerade in aktuellen Agenturmeldungen gele- sen, Minister Struck wolle einen Voraustrupp der Bun- CDU/CSU drängen auf einen in absoluten Zahlendeswehr nach Kunduz in Afghanistan schicken – völlig größeren Verteidigungshaushalt. ohne Mandat, wohlgemerkt. Wo sind wir hier eigentlich: (Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/ im Bundestag oder im Tollhaus? Noch gilt das Grundge- CSU]: So ist es!) setz und es ist höchste Zeit, dass der Bundeskanzler und der Herr Innenminister die Verfassung vor diesem Ver- Rot-Grün hat einen relativ, also im Verhältnis zu den an- teidigungsminister schützen. deren Posten größeren Verteidigungshaushalt vorgelegt. Wir aber wollen einenkleineren Verteidigungshaus- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- halt – absolut und auch relativ. tionslos]) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Gegen diesen Militärgeist, gegen dieses neue Kapitel tionslos] – Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] deutscher Außenpolitik und gegen dieses neue Europa [CDU/CSU]: Um Gottes willen!) haben in diesem Jahr Millionen Menschen demonstriert, auch die PDS. Das ist der dritte Grund, warum wir die- Das ist der erste Grund, warum wir diesen Haushalt ab- sen Haushaltsteil ablehnen. lehnen. Es gibt eine Grundoption, die auch diesen Haushalt Nun gehöre ich nicht zu den Linken, die die Mittel im prägt. Sie wollen im Marschkonzert der mächtigen Mili- Verteidigungshaushalt zigmal verteilen wollen, um alle tärmächte wenigstens die zweite Tuba spielen und welt- Übel dieser Welt zu bekämpfen. Das ändert aber nichts weit mit auf Tournee gehen. Das ist kein Geheimnis. Das an der Frage, wofür wir die Milliarden ausgeben, wäh- sagen die geltenden Militärdoktrinen. Sie sind der vierte rend sie zugleich an allen Ecken und Enden fehlen. Der Grund, warum die PDS im Bundestag diesen Haushalts- Bundesrechnungshof hat dieser Tage denEurofighter teil ablehnt. moniert, weil er nicht die versprochenen militärtechni- (B) schen Parameter erfülle. Ich kritisiere nicht die Parame- Schließlich, haben Sie schon einmal verglichen, wie (D) ter des Eurofighters, sondern den Eurofighter an sichviele Milliarden Sie für Rüstung, für Bundeswehr und und die Milliarden Euro an Steuergeldern, die dafür Auslandseinsätze planen und wie wenig Geld für Kon- sinnlos hinausgeworfen werden. Dieselbe Rechnungfliktforschung, Prävention, Entwicklungshilfe oder, wie ließe sich noch an weiteren Posten aufmachen. Das ist die Kollegin Zapf eben in ihrem letzten Redeteil gesagt der zweite Grund, warum wir diesen Haushalt ablehnen. hat, Abrüstungshilfe? Die absolut ungleichen Zahlen verraten die tatsächlichen Schwerpunkte Ihrer Politik. Nun möchte ich an eine Debatte erinnern, die wir hier Wir finden sie grundfalsch. Das ist der fünfte Grund, wa- vor knapp einem Jahr geführt haben. Ich habe sie gut in rum wir diesen Haushalt ablehnen. Erinnerung, weil der Kollege Schäuble von der CDU/ CSU-Fraktion dafür plädierte, Präventivkriege, also An- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- griffskriege künftig nicht mehr auszuschließen, sondern tionslos]) sich im Gegenteil darauf vorzubereiten. Das war eine Bundestagspremiere. Ich erinnere mich auch deshalb so Präsident Wolfgang Thierse: gut an die Debatte, weil bei Rot-Grün plötzlich das Ich erteile dem Kollegen Lothar Mark, SPD-Fraktion, große Schweigen ausbrach, als hätte man nichts gehört. das Wort. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Hier kann jeder er- zählen, was er möchte! Es muss aber im Rah- Lothar Mark (SPD): men bleiben!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Inzwischen wurde die Präventivkriegsoption über den Liebe Kollegin Pau, ich muss zumindest darauf hinwei- Umweg EU politisch manifestiert. Sie wird auch mit die- sen, dass der Voraustrupp, den Sie ansprachen, durch das sem Haushalt verfolgt. Herr Minister Fischer, Sie haben ISAF-Mandat abgedeckt ist. Deswegen gehen diese An- kürzlich auf der Botschafterkonferenz gesagt, dass Sie schuldigungen ins Leere. den Status quo nicht mehr akzeptieren können und ein (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ neues Kapitel deutscher Außenpolitik begonnen habe. DIE GRÜNEN) Ich stelle besorgt fest: DieDifferenz, die es wegen des Irakkrieges mit den USA gab, schmilzt. Ich will zum Haushalt des Auswärtigen Amtes reden, der heute auf der Tagesordnung steht. Es wurde sehr viel (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- indirekt dazu gesagt. tionslos] – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Keine Spur!) (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr indirekt!) 5064 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Lothar Mark (A) Bei weltweit über 8 000 Beschäftigten einschließlichAbsenkung um 35 000 Euro für die Friedrich-Ebert-Stif- (C) Orts- und Sicherheitskräften weist der Haushalt des Aus- tung vorgesehen. wärtigen Amtes einen überdurchschnittlich hohenPer- sonalkostenanteil auf. Mehr als ein Viertel des Haus- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Was sagt halts des Auswärtigen Amtes ist durch Pflichtbeiträge an denn der Fischer dazu?) internationale Organisationen mit durchlaufenden Pos- Nach dem Protokoll des Stiftungsgesprächs vom 12. Fe- ten gebunden. Zusammen mit den Ansätzen für instituti- bruar 2003 müsste es umgekehrt sein. Ich denke, das ist onelle Förderungen, ebenfalls überwiegend Personalaus- ein Versehen; hier muss eine Korrektur erfolgen. gaben, besteht der Haushalt des AA zu über zwei Dritteln aus rechtlich gebundenen Ausgaben und damit Eine zweite Korrektur muss auf Seite 20 vorgenom- nicht disponiblen Mitteln. men werden. In den Erläuterungen zum Haushaltstitel „Demokratisierungs- und Ausstattungshilfe“ wird ange- Der AA-Haushalt liegt im laufenden Jahr mit einem führt, dass für Minenbeseitigungsprogramme 4,75 Mil- Gesamtvolumen von 2,24 Milliarden Euro um 83 Millio- lionen Euro vorgesehen sind. Tatsächlich sind es aber nen Euro bzw. 3,9 Prozent über dem Ansatz von 2002. 9,75 Millionen Euro. Der Anteil am Gesamthaushalt stieg damit von 0,85 auf (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: 0,90 Prozent. Ursachen hierfür waren in erster Linie die Schlampiger Druck!) Veranschlagung von bisher im Einzelplan 60 etatisierten Mitteln aus dem Antiterrorpaket im Einzelplan 05 sowie Unter diesem Haushaltstitel sind 5 Millionen Euro für die Neuveranschlagung von Mitteln für das G-8-Pro-die Ausstattungshilfe vorgesehen und die restlichen Mit- gramm „Globale Partnerschaft“ zur Beseitigung ehema- tel stehen der Demokratisierungshilfe zur Verfügung. liger Massenvernichtungswaffen und -materialien. Die Leistungen im Rahmen des Stabilitätspakts für Der Haushaltsentwurf 2004 führt allerdings für das Südosteuropa betrugen 2003 47 Millionen Euro. Für 2004 sind sie vermeintlich auf null gesetzt, aber tatsäch- AA zu einer Absenkung um 2,1 Prozent. Somit steht ein lich sind sie beim BMZ etatisiert und stehen ebenso wie Volumen von 2,18 Milliarden Euro zur Verfügung. Das die Mittel für die Afghanistanhilfe dem AA zur Verfü- sind 0,87 Prozent des Gesamthaushalts. Diese Reduktion gung. ist ohne substanzielle und strukturelle Veränderung mög- lich, da alleine im Beitrag an die Vereinten Nationen Kritisch ist aus meiner Sicht anzumerken, dass die durch Änderung des Wechselkurses über 45 Millionen Mittel für die aktuelle Konfliktbewältigung im Rahmen Euro gegenüber 2003 eingespart werden können und das der Vereinten Nationen aufgrund zunehmender interna- Haus durch Kosten-Leistungs-Rechnung in wesentlichen tionaler Einsätze und Verpflichtungen zwar stetig an- (B) Teilen sehr effizient wirtschaftet. wachsen, die finanzielle Ausstattung der Krisenpräven- (D) tion demgegenüber aber nicht in der Größenordnung Während das Deutsche Archäologische Institut einen wächst, wie sie angemessen und nachhaltig wäre. Ich Aufwuchs erfährt, werden die Mittel für das Goethe-In- denke, in diesem Bereich muss über neue Konzepte und stitut im In- und Ausland leicht gekürzt. Die Mittel für Strategien nachgedacht werden, da ich fest davon über- Stipendien und den Schulfonds werden jedoch verstetigt. zeugt bin, dass letztendlich eine intelligente und mit den Partnern abgestimmte Prävention kostengünstiger wäre, Probleme sehe ich derzeit bei derAusstattung der mehr Probleme dauerhaft gelöst und militärische Kon- Botschaften in der Programmarbeit, die – schon jetztflikte eher verhindert werden könnten. auf niedrigem Niveau – von 1,37 Millionen Euro auf 0,65 Millionen Euro halbiert wurde, und im Bereich Fa- Präsident Wolfgang Thierse: cility Management. Jetzt nicht vorgenommene Instand- setzungen, Reparaturen und Erneuerungen rächen sich Lieber Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen. später mit einem immens hohen Kostenaufwand, wenn- gleich ich mit großer Freude zur Kenntnis nehme, dass Lothar Mark (SPD): der Titel für Liegenschaften im Ausland um fast 7 Mil- Ich sehe gerade, dass meine Redezeit leider abgelau- lionen Euro erhöht wurde.Das heißt, an dieser Stelle fen ist. stimmt die Linie. Ich möchte abschließend festhalten, dass ich sehr er- Über die Stellungnahme des Bundesrechnungshofes freut darüber bin, dass im Haushalt des AA die gegensei- zum Facility Management des Auswärtigen Amtes wird tige Deckungsfähigkeit und Übertragbarkeit großenteils an anderer Stelle zu reden sein. Allerdings steht daserreicht worden ist und dass der Haushalt insgesamt so- Thema – wenn auch nicht unter diesem Begriff, sondern lide ist und von großem Verantwortungsbewusstsein des dem des Liegenschaftsmanagements – schon seit min- AA gegenüber dem Gesamthaushalt zeugt. destens 20 Jahren auf der Agenda und tangiert sicherlich (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ich weiß nicht! fast alle Ministerien. Das AA hat sehr schnell auf den Da sind doch lauter Druckfehler drin!) Bericht reagiert und für Abhilfe gesorgt. Deswegen kann man ihm sehr wohl zustimmen. Im Entwurf zum Einzelplan 05 scheinen zwei redak- Vielen Dank. tionelle Fehler vorzuliegen. Auf Seite 41 sind in dem Haushaltstitel zu den Stipendienfonds eine Erhöhung um (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 87 000 Euro für die Konrad-Adenauer-Stiftung und eine des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5065

(A) Präsident Wolfgang Thierse: rem über die Fragen zerstritten haben, welchen Beitrag (C) Ich erteile dem Kollegen Joachim Hörster, CDU/die Türkei zum Einsatz im Irak leisten soll und welchen CSU-Fraktion, das Wort. Einfluss ein solcher Beitrag auf die Kurdenfrage haben wird. In Anbetracht aller Schwierigkeiten muss man feststellen, dass es keinen Indikator gibt, der auch nur Joachim Hörster (CDU/CSU): annähernd die Hoffnung aufkommen lässt, dass die Tür- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! kei Ich eine Chance hat, der Wertegemeinschaft der Europäi- möchte mich nicht wie mein Vorredner konkret zumschen Union anzugehören. Haushalt äußern, sondern einige Aspekte streifen, die vorhin schon angesprochen worden sind, allerdings nicht Im Übrigen hat die Türkei– man muss sich nur die so intensiv. Landkarte genau anschauen – eine völlig andere geopo- litische Aufgabe. Sie hat gemeinsame Grenzen mit dem Der Kollege Gloser hat vorhin in seinem Beitrag aus- Iran – es besteht also die Möglichkeit, auf die Turkvöl- geführt, wir würden über den Beitritt der Türkei reden, ker einzuwirken – und mit Syrien, das noch immer zur als stünde er unmittelbar bevor und als müsste man sich so genannten Achse des Bösen gehört. Es gibt also über- direkt damit auseinander setzen. haupt keinen vernünftigen Ansatzpunkt, der es rechtfer- (Gernot Erler [SPD]: Da hat er Recht!) tigt, die Europäische Union in diesem Bereich auszuwei- ten. Das ist zweifelsohne nicht so. Aber die Türkei ist ein langjähriger treuer Verbündeter innerhalb der NATO, der Die Notwendigkeit, die Verhältnisse im Irak vernünf- in den Zeiten des Kalten Krieges verlässlich an unserer tig zu regeln, betrifft uns alle. Ich kann die Bundesregie- Seite gestanden hat. Deshalb sollte man ehrlich mit ihr rung nur auffordern, sich der dortigen Mithilfe nicht zu umgehen. Ich finde, zur Ehrlichkeit gehört, dass man der verweigern. Ich bin kein Anhänger des militärischen Türkei sagt, dass sie kein europäisches Land ist. Auch Teils unserer Hilfe. Aber ich bin der Auffassung, dass die innere Beschaffenheit der Türkei lässt nicht die Hoff- wir als Deutsche aufgrund unseres Ansehens in dieser nung zu, dass sie auf absehbare Zeit beitrittsfähig wird. Region einen wichtigen Beitrag zum Aufbau ziviler Es gibt hier eine Reihe von Brüchen. Strukturen leisten können; denn man bringt uns Ver- trauen entgegen, und zwar nicht nur in den „normalen“ In den letzten Wochen ist mit großer GenugtuungBevölkerungsschichten, sondern auch in den gebildeten festgestellt worden, dass der Einfluss des Militärs auf die Kreisen. Da Deutschland keine ehemalige Kolonial- türkische Politik – angeblich – zurückgegangen sei. Ich oder Hegemonialmacht ist, können wir beim Aufbau der möchte darauf hinweisen, dass es gerade dem türkischen zivilen Infrastruktur sehr viel leisten. Ich bin deswegen Militär weitestgehend zu verdanken ist, dass die Türkei der Auffassung, dass es gut wäre, wenn die UNO – ich (B) (D) noch heute ein laizistischer Staat ist; denn es hat in der persönlich halte die Weltorganisation nicht für ein All- Geschichte der Türkei zweimal eingegriffen, um dieheilmittel; wenn man sich anschaut, wie viele Demokra- Übernahme durch Islamisten zu verhindern. Hier gibt es tien im Sicherheitsrat vertreten sind, dann müsste man einen Widerspruch: Um die Stabilität des Landes zu ge- eigentlich manches hinterfragen – ein Mandat für den währleisten, braucht man einerseits das Militär mögli- Wiederaufbau im Irak erteilen würde und wenn sich cherweise auch im Innern. Auf der anderen Seite wollen Deutschland zusammen mit der Europäischen Union im wir natürlich eine von staatlicher Macht unbeeinflusste Rahmen eines solchen Mandats am Wiederaufbau im Demokratie. Dieser Widerspruch wird sich auf dieIrak beteiligen würde. Schnelle nicht lösen lassen. Das sollte man auch unseren türkischen Verbündeten deutlich machen. Im Übrigen bin ich davon überzeugt, dass die Pro- bleme nicht alleine mit Soldaten gelöst werden können. Ich möchte nicht auf die Widersprüche zwischen Pan- Wenn die Menschen im Irak nicht sehen, dass die Le- zerverkäufen, Auslieferungen und der Wertegemein-bensverhältnisse nach dem Sturz von Saddam Hussein schaft der Europäischen Union hinweisen, die jedem ge- spürbar besser werden, wenn also die Friedensdividende radezu ins Auge springen, der sich mit diesem Thema ausbleibt, dann wird es dort keinen Frieden geben. befasst. (Beifall bei der CDU/CSU) (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist aber ein interessanter Hinweis!) Das Problem Irak hängt mit dem Problem Naher Os- ten immanent zusammen. Ich sage das, auch wenn das Aber ich möchte auf einen Punkt näher eingehen: Die von einer bestimmten Seite nicht so gern gehört wird. Türkei hat eine gemeinsame Grenze mit dem Irak. Wenn Eine Lösung des Nahostproblems ist nach den Entwick- man also die Türkei als Verbündeten und künftiges Mit- lungen der letzten Tage kaum mehr zu erreichen. Die glied der Europäischen Union für denkbar hält, dannRoadmap scheint im Prinzip gescheitert zu sein. Das be- kann man sich nicht einem Beitrag zur Ordnung der Ver- rühmte Quartett aus USA, Russland, der UNO und der hältnisse im Irak verweigern; denn sonst würde manEuropäischen Union hat einen wunderbaren Fahrplan beim türkischen Verbündeten für Unsicherheit sorgen. aufgestellt, um Frieden zwischen Israelis und Palästinen- Auch die Türkei braucht sichere Verhältnisse im Irak. sern zu erreichen und um den Weg zu einem selbststän- Aber in diesem Zusammenhang sind die Beziehungen digen palästinensischen Staat bei gleichzeitiger Sicher- ebenfalls spannungsgeladen. Zu diesem Schluss kommt heit für Israel – wir haben uns für dieses Land verbürgt – man, wenn man daran denkt, wie sich die amerikanische zu ebnen. Wir müssen aber leider Gottes feststellen, dass Administration und die türkische Regierung unter ande- dieses Quartett nichts unternommen hat, um sozusagen 5066 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Joachim Hörster (A) durch eine Art Monitoring mit dafür zu sorgen, dass die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C) Roadmap Schritt für Schritt umgesetzt wird. der FDP – Jürgen Koppelin [FDP]: Selbst ver- schuldet!) (Beifall bei der CDU/CSU) Auch ich hätte natürlich gerne mehr Geld; aber jeder von So hat man das Schicksal der Roadmap am Schluss den Ihnen weiß, dass wir in einer bestimmten Finanzsitua- extremen Flügeln – sowohlder terroristischen Hamas tion sind. auf der palästinensischen Seite als auch dem radikalen Flügel auf der israelischen Seite – überlassen. Ich würde sagen, wenn ich ihm antworten dürfte – aber ich bringe den Haushalt ein; deshalb rede ich als Es ist gut zwei Jahre her, dass Dr. Carlo Strenger, Psy- Erster –: Wenn Sie mir Vorschläge machen, wie Ihre zu- chologieprofessor an der Universität von Tel Aviv – er sätzlichen Forderungen finanziert werden sollen, bin ich gehört zur israelischen Friedensbewegung –, in einem immer dabei. Ich weiß allerdings aus der letzten Haus- mahnenden Artikel, der in der „Welt“ erschienen ist,haltsberatung – die erste, die ich als Minister miterleben schrieb: „Ohne Druck von außen wird es keinen Frieden durfte –, dass Ihre Finanzierungsvorschläge unseriös geben.“ Das heißt, sowohl die deutsche als auch diesind. europäische Politik müssen sich der Frage annähern, ob es weiterhin bei gut gemeinten Erklärungen und trauri- Er wird dann drittens auf Veröffentlichungen von gem Stirnrunzeln bleiben kann, wenn wieder ein oder, Rechnungshofberichten zum Eurofighter und zu anderen wie in den letzten Tagen, gar zwei Selbstmordattentate Dingen hinweisen. Dazu will ich, um das gleich aufzu- begangen worden sind oder wenn der palästinensische greifen, sagen: Wir werden eine Stellungnahme zum Regierungschef zurücktritt, weil er keine Chance für die Rechnungshofbericht abgeben. Wir werden im Haus- Schaffung von Frieden sieht. haltsausschuss darüber zu diskutieren haben. Wir kön- nen sicher auch, wenn Sie das wünschen, im Rechungs- Es stellt sich darüber hinaus die Frage, ob sich nicht prüfungsausschuss darüber diskutieren. Manches von auch die internationale Staatengemeinschaft auf diesem dem, was der Rechnungshof aufgeschrieben hat, ist ab- Gebiet in einer anderen Weise engagieren muss, als sie solut nicht zu verantworten.Ich will es bei dieser Be- es bisher getan hat. Nur so kann dieser Teufelskreis – die merkung belassen. Wir werden es noch im Einzelnen zu gegenwärtige Situation kostet jeden Tag Menschenleben erörtern haben. und erzeugt zusätzlich Hass, Neid und Misstrauen – be- endet werden. Ich denke, dass sich die deutsche Außen- Die Situation der Bundeswehr wird durch folgende politik im Rahmen der Europäischen Union mit dieser Punkte gekennzeichnet: Wir befinden uns in einer Re- Frage intensiv befassen sollte. form der Bundeswehr, die wir konsequent fortsetzen (B) werden; da werden wir auch nachjustieren. Unsere inter- (D) Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. nationalen Einsätze werden fortgesetzt werden. Wir wer- den internationale Verpflichtungen im Rahmen der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) NATO und der Europäischen Union haben. Wir werden auch zusätzlich gefordert werden, zum Beispiel bei der Präsident Wolfgang Thierse: im Aufbau befindlichen NATO-Response-Force, im Zu- sammenhang mit den Dauervereinbarungen zwischen Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich NATO und EU über eine EU-Eingreiftruppe und über liegen nicht vor. die Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO sowie im Zusammenhang mit der Umsetzung der von mir am Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun- 21. Mai dieses Jahres erlassenen verteidigungspoliti- desministeriums der Verteidigung. schen Richtlinien. Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung, Ich habe in den vergangenen Wochen zahlreiche Peter Struck. Truppenbesuche durchgeführt und dabei Folgendes festgestellt: Die Angehörigen der Bundeswehr haben die Dr. Peter Struck, Bundesminister der Verteidigung: Notwendigkeit der umfassenden Reform akzeptiert und unterstützen sie ausdrücklich. Ich habe hoch motivierte Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Soldatinnen und Soldaten sowie zivile Mitarbeiter ken- Herren! Ich will dem Kollegen Austermann nicht vor- nen gelernt. Das gilt trotz schmerzlicher Eingriffe für greifen; aber ich will einmal prognostizieren, was er sa- Tausende Angehörige der Bundeswehr als Folge der not- gen wird. wendigen Stationierungsentscheidungen. Das gilt auch Er wird erstens sagen: Die Soldaten der Bundeswehr trotz der enormen Belastungen, die die laufenden Ein- – gerade im Auslandseinsatz, aber auch im Inland – ver- sätze für alle Verbände mit sich bringen, nicht nur für dienen höchsten Respekt sowie Dank und Anerkennung die, die im Auslandseinsatz sind, sondern auch für die, für ihre Arbeit. Das sehe ich ganz genauso. die zu Hause geblieben sind und die Aufgaben der ande- ren mit übernehmen müssen. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP) Wir sind im Augenblick mit etwa 8 200 Soldaten im Auslandseinsatz und damit nach wie vor einer der größ- Er wird zweitens sagen: Aber dafür steht im Haushalt ten Truppensteller für internationale Friedenseinsätze. nicht genügend Geld bereit. Es geht nicht darum, sich überall und jederzeit an inter- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5067

Bundesminister Dr. Peter Struck (A) nationalen Einsätzen zu beteiligen, aber unser Engage- Ich will an dieser Stelle eine Frage des Kollegen(C) ment ist wichtig – auch für unsere Sicherheit. Darum tun Schäuble aus der vorherigen Debatte beantworten. wir das, (Gernot Erler [SPD]: Leider ist er nicht mehr (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten da!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Er hat gefragt: Gibt es denn Möglichkeiten der Betei- ligung anderer Nationen, entweder in unserem regio- im weltweiten Kampf gegen internationalen Terrorismus nalen Wiederaufbauteam oder in Form eines eigenen genauso wie auf dem Balkan oder beim Aufbau in Af- Teams? Ich bin mit vielen europäischen Amtskollegen ghanistan. im Gespräch und – das habe ich auch gestern im Aus- Über die aktuelle Situation in Afghanistan haben wir wärtigen Ausschuss vorgetragen – halte es durchaus für heute Morgen und auch vorhin in der Debatte über den denkbar, dass sich entweder ein europäischer Partner an Einzelplan des Kollegen Fischer diskutiert. Ich will dazu unserem Team in Kunduz beteiligt oder dass andere deshalb nur noch auf die Entscheidung hinweisen, die europäische Staaten eigene regionale Aufbauteams in ich getroffen habe, nämlich ein so genanntes Standort- Afghanistan installieren. untersuchungsteam zu entsenden. Ich habe die Obleute Ich bin – das habe ich dem Kollegen Hoyer eben auch des Auswärtigen Ausschusses und des Verteidigungsaus- schon in einem privaten Gespräch gesagt – nicht glück- schusses sowie die Fraktionsvorsitzenden schriftlichlich darüber, dass die FDP einen Einsatz schon jetzt klar über die beabsichtigte Aufgabe informiert. Ich will die ablehnt. Ich halte diese Entscheidung für vorschnell und Aufgabe auch dem Gesamtparlament noch einmal kurz falsch. Man sollte doch lieber zunächst abwarten, bis darstellen. man weiß, wie die konkrete Situation dort aussieht – möglicherweise können wir im Oktober auch schon sa- Es geht um die Frage: Können wir die derzeit durch gen, welche anderen europäischen Nationen sich beteili- die USA genutzte Infrastruktur in Kunduz übernehmen? gen wollen –, und erst dann eine Entscheidung treffen. In dem Zusammenhang stellen sich folgende Fragen: Wie wird diese ISAF-Insel in Kunduz, wenn wir sie Wir sind in Afghanistan in der Tat an einem Wende- denn installiert haben, mit Kommunikationseinrichtun- punkt. Niemand ist in der Lage – das haben Sie, Herr gen, Führungsmitteln – Stichwort: Interoperabilität – an Kollege Hoyer, eben selbst in der Debatte aufgezeigt –, das ISAF-Headquarter in Kabul sowie nach Deutschland 20 000 bis 30 000 zusätzliche Soldaten nach Afghanis- angebunden? Wie werden die Liegenschaften, die wir tan zu schicken. Eine Alternative wäre demnach, das dort in Kunduz nutzen werden – entweder die von den Mandat für beendet zu erklären. Da wir das nicht können Amerikanern übernommenen oder neu einzurichtende –, – es wurde ja auch von Ihnen ausgeführt, warum das (B) (D) versorgt und bewacht? Welchen Umfang brauchen wir nicht geht –, wählen wir den Mittelweg mit den Wieder- bei der sanitätsdienstlichen Versorgung? Es gibt auchaufbauteams. Wenn es gelingt, acht bis zwölf in Afgha- noch andere Fragen. nistan zu installieren, bietet sich damit eine Chance. Ich will nicht verschweigen, dass wir damit Neuland betre- Der Kollege Lothar Mark hat schon darauf hingewie- ten, zum einen mit der Art, denn Teams aus 250 bis sen: Das ist durch den ISAF-Beschluss des Bundestags 450 Soldaten stellen ja kein massives Truppenkontingent eindeutig gedeckt, der Abstimmungsgespräche auchdar, zum anderen, indem wir unsere Wiederaufbauteams außerhalb Kabuls erlaubt. Als Parlamentarier, der dieanders als die bisherigen vier der Amerikaner gestalten. Rechte des Parlaments durchaus zu schätzen weiß, wie In diesen ist der Anteil von zivilen Personen ja sehr viel die Kollegen bestätigen können, hielt ich es nur für rich- geringer als der von Soldaten. tig, Sie vorher einzubinden, obwohl ich Sie überhaupt nicht darüber informieren müsste. Ich habe das gestern Wir wollen, dass der zivile Aufbau Afghanistans im in den Ausschüssen und bei den Obleuten getan. Vordergrund der Arbeit unserer Teams steht. Deren Hauptaufgabe soll es also sein, ordentliche zivile Struk- Die maximal bis zu 20 Soldaten werden so schnellturen in diesem Land zu schaffen. So sieht unsere Kon- wie möglich auf den Weg nach Kunduz geschickt. Ich zeption aus. Dabei wird es sicherlich auch Learning by erwarte dann innerhalb von neun bis zehn Tagen, nach- Doing geben. Aber mit Ihrer Haltung, wie Sie es eben dem sie zurückgekommen sein werden, eine Bewertung für die FDP-Fraktion erklärt haben, diese Chance über- der Situation von ihnen. Bis dahin werden wir vermut- haupt nicht zu ergreifen und einen solchen Einsatz abzu- lich auch einen entsprechenden Beschluss des Sicher- lehnen, nehmen Sie meiner Meinung nach keine verant- heitsrats der Vereinten Nationen haben, dem ein Be-wortliche politische Position ein. schluss des NATO-Rats folgen wird, sodass wir nach der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bisherigen Planung im Oktober hier im Parlament darü- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ber zu entscheiden haben, und zwar über Konkreteres als das, was Inhalt der jetzt vom Kabinett getroffenen Vor- Ich will noch einige kurze Bemerkungen machen, um entscheidung ist. Wir werden dem Parlament dann auch den Kollegen nicht Redezeit wegzunehmen. Das gehört sagen können – darauf werden die Haushaltsausschuss- sich ja für einen Minister in einer ersten Lesung nicht. mitglieder zu Recht Wert legen –, um welches finan- (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das gilt auch für zielle Volumen und um welche Größenordnung der Zahl den Außenminister!) der Soldaten es gehen wird. „Zwischen 250 und 450“ ha- ben wir zunächst einmal festgelegt. – Ich rede ja jetzt für mich. 5068 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Bundesminister Dr. Peter Struck (A) Wir befinden uns in der Phase derNachjustierung die Kooperation mit der Wirtschaft unsere Kostenlast zu (C) der Bundeswehrreform. Das heißt, wir wollen die Syn- reduzieren, ist ein richtiger Weg, von dem ich auch nicht chronisierung von veränderten Aufgaben und der dazu abzuweichen gedenke – um Ihnen das gleich für die notwendigen Ausrüstung in Übereinstimmung mit den Haushaltsberatungen mit auf den Weg zu geben. verfügbaren Mitteln erreichen. Das ist das Ziel. In den vergangenen Monaten habe ich vor diesem Hintergrund (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bereits wichtige Rüstungs- und Standortentscheidungen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) getroffen. Ich will hier ausdrücklich sagen: Es werden Ich komme zu denBeschaffungsvorhaben, die an- noch weitere folgen; der Prozess ist noch nicht abge-stehen. Ich vermute, dass Sie auch die Denkschrift des schlossen. Der Generalinspekteur hat von mir den Auf- Heeres 2020 ansprechen werden. Wenn Sie es wollen, trag bekommen, bis Ende dieses Jahres die neue Kon- können Sie es streichen, weil ich es jetzt schon erledige. zeption der Bundeswehr vorzulegen und auf dieser Grundlage ein neues Material- und Ausrüstungskonzept (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Dann brau- zu erarbeiten. che ich gar nicht mehr darüber zu reden!) Eine Tatsache steht für mich fest – ich richte dieseIch weiß, dass die Inspekteure der Teilstreitkräfte be- Worte jetzt auch an den Koalitionspartner –: Eine Ab- stimmte Wünsche haben. – Er streicht es schon heraus, schaffung oder Aussetzung derWehrpflicht oder eine das habe ich mir gedacht. – Jeder hat Wünsche, aber je- Verkürzung der Wehrdienstdauer ist für mich kein Be- der Inspekteur des Heeres, der Marine, der Luftwaffe, standteil der Modernisierung der Bundeswehr. der Streitkräftebasis, der Sanität weiß, dass alles auf dem Prüfstand steht, was irgendwann vielleicht einmal in ei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ner Bundeswehrplanung aufgeschrieben worden ist. Ich des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der bin nicht bereit, dem Parlament eine Bundeswehrpla- CDU/CSU) nung vorzulegen, von der ich weiß, dass sie nicht abgesi- Die Grundwehrdienstleistenden mit einer Wehrdienst- chert ist, weil die finanziellen Grundlagen nicht stim- dauer von neun Monaten nehmen in den Streitkräftenmen. wichtige Funktionen wahr. Sie leisten einen unverzicht- (Zuruf von der CDU/CSU: Im Gegensatz zum baren Beitrag zur Aufrechterhaltung der Einsatzbasis Gesamthaushalt!) hier in Deutschland. Wir werden die Ausgestaltung des Grundwehrdienstes ändern; dazu erwarte ich Vorschläge Das kann man dem Parlament und auch der Bundeswehr vonseiten der Soldaten. Aber ich stelle den Grundwehr- nicht zumuten. Hier muss jetzt Klartext gesprochen wer- dienst von meiner Seite aus nicht zur Disposition. Darü- den. Wir werden das tun. (B) ber müssen wir in der Koalition diskutieren und dann (D) entscheiden. (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Das müssen Sie mit dem Finanzminister besprechen, nicht Wir leisten mit unserem Etatansatz in Höhe von mit uns! Der Finanzminister ist Ansprechpart- 24,4 Milliarden Euro einen Beitrag zur Konsolidierung ner!) und Festigung unseres Haushalts. Dass das praktisch we- niger bedeutet als im Vorjahr, muss mir niemand erzäh- – Ich sage das ja nur für den Fall, dass Sie wieder mit Ih- len. Das hängt mit der Erhöhung der Besoldung und dem ren unrealistischen Forderungen kommen, was alles zu- Anstieg der Preise zusammen. Trotzdem werden wirsätzlich gemacht werden soll. – wenn ich den Haushalt jetzt einmal zusammenfassend Ich sage: Die Denkschrift des Heeres ist interessant, bewerten darf, Herr Kollege Austermann – versuchen aber sie ist überhaupt nicht verbindlich. Das weiß der In- müssen, die Effizienzsteigerung im Rahmen des Pla- spekteur des Heeres und die anderen wissen es auch. fonds von 24,4 Milliarden Euro zu erreichen, durch die Darüber werden wir zu entscheiden haben, wenn wir Überprüfung all dessen, was wir bisher tun. Sie haben über die Ausrüstungs- und Materialplanung der Bundes- immer abgelehnt, Sie stimmen bei den Haushaltsbera- wehr diskutieren. Deshalb können Sie die Denkschrift tungen immer dagegen. Sie waren gegen die Maßnah- gern zitieren und fragen: Warum wird all das, was in der men zur Zusammenarbeit von Bundeswehr und Wirt- Liste steht, nicht gemacht? Ich sage Ihnen nur: Alles, schaft, die mein Vorgänger ergriffen was irgendwann irgendwo aufgeschrieben worden ist für hat. Sie waren gegen die Einrichtung der GEBB und be- die Zeit bis zum Jahre 20XY, steht auf dem Prüfstand. antragen jedes Jahr in schöner Regelmäßigkeit ihre Ab- Darüber werden wir anhand von realistischen Daten hier schaffung, was jedes Jahr in schöner Regelmäßigkeit ab- entscheiden und wir werden uns nicht von Wunschden- gelehnt wird. ken leiten lassen. Ich empfehle Ihnen: Gehen Sie einmal zu einem Mo- bilitätszentrum der Bundeswehr und sehen Sie sich an, Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. was dieser neue Fuhrparkservice leistet. Sehen Sie sich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ an, was die LH-Bekleidungsgesellschaft der Bundes- DIE GRÜNEN) wehr leistet. Durch diese Einrichtungen beginnen wir jetzt Geld einzusparen, obwohl die Leistungsfähigkeit und das Serviceangebot für die Soldaten in keiner Weise Präsident Wolfgang Thierse: verschlechtert worden sind. Es gibt natürlich Anlauf- Ich erteile dem Kollegen Dietrich Austermann, CDU/ schwierigkeiten; das weiß jeder. Aber der Weg, durch CSU-Fraktion, das Wort. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5069

(A) Dietrich Austermann (CDU/CSU): Wie gehen wir mit diesem Auftrag um? Ist die Art der(C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich binZusammenarbeit mit der Industrie richtig? Hat nicht der dem Verteidigungsminister sehr dankbar für seine Aus- industrielle Auftragnehmer einen Anspruch darauf, be- führungen, nicht nur, weil er offensichtlich einen ganzen züglich seiner Leistung, der Termine und vieler anderer Eimer Kreide zu sich genommen hat, bevor er ans Pult Dinge ernst genommen zu werden? Alleine mit der gegangen ist, um die Debatte von sich aus zu harmoni- Preisgleitklausel für den Eurofighter, wie sie zurzeit ge- sieren, sondern weil er schon auf einige Dinge hingewie- handhabt wird, können Sie die gesamten Wünsche von sen hat, bei denen er mit Recht davon ausgeht, dass ich Herrn Gudera bis zum Jahre 2020 erfüllen. sie anspreche. Ich will entsprechend antworten, aber ein (Zuruf des Parl. Staatssekretärs Hans Georg paar Dinge müssen schon klar gesagt werden. Wagner) Ich beginne zunächst mit der Frage: Wie steht es tat- – Ich spreche von der Preisgleitklausel, wie sie jetzt ge- sächlich um die Finanzen der Bundeswehr? Es stimmt handhabt wird, Kollege Wagner. Die Frage ist: Gehe ich ja nicht, Herr Minister, dass die Bundeswehr in diesem mit dem Geld, das mir anvertraut wird, anständig um? und im nächsten Jahr 24,4 Milliarden Euro zur Verfü- gung hat. Es fehlt in der Tat eine Viertelmilliarde Euro Wir haben den Bericht des Rechnungshofes im Ent- durch Haushaltskürzung, globale Minderausgabe undwurf vorliegen. Zuerst ist er übrigens im „Spiegel“ er- Einnahmen, die an anderer Stelle erbracht werden müs- schienen, wahrscheinlich sogar, bevor er dem Ministe- sen. Wenn Sie dann noch Besoldungserhöhung und In- rium vorlag. Wir müssen den Bericht ernst nehmen, flationsrate ansprechen, dann wird das, was die Bundes- selbst wenn wir wissen, dass einer der Verfasser die Be- wehr zur Verfügung hat, in der Tat ständig weniger. Und schaffung immer skeptisch betrachtet hat. Aber die Män- wenn man ständig weniger zur Verfügung hat, wird es gel, die in diesem Bericht aufgeführt werden, sind so immer schwieriger, die zu leistenden Aufgaben zu erfül- eklatant, so gravierend, dass man sie nicht einfach weg- len. wischen kann. Es reicht nicht, wenn Sie aufgrund des Berichtes jetzt eventuell bereit sind, einzelne Teile zu re- Im Klartext heißt das: Der Verteidigungsetat sinktparieren. Bevor nicht über die Mängel gesprochen wor- nicht nur real, sondern auch nominal. Dieses Bild wird den ist und nicht klare Aussagen getroffen worden sind, auch nicht dadurch besser, dass Sie ankündigen, imwird es von uns keine Zustimmung für das zweite Los Jahre 2007 solle das besser werden. Da Sie dann mit Si- geben. cherheit nicht mehr an der Regierung sind, ist das ein Versprechen, das Sie gar nicht zu halten brauchen. Für mich ist Folgendes besonders entscheidend; der Kollege Kossendey wird auf das Thema gleich noch nä- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (B) her eingehen. Wenn der Haushaltsausschuss im Jahre(D) neten der FDP) 2001 Beschlüsse gefasst hat, um das in den Griff zu be- Es ist auch uninteressant für die Soldaten und die zivilen kommen, Herr Kollege, die dann nicht eingehalten wer- Mitarbeiter, die heute auf die Lösung ihrer Problemeden, dann tragen diejenigen die Verantwortung, die das warten. Ministerium zurzeit führen. Gleichwohl ist die Erkenntnis der Notwendigkeit ei- (Beifall bei der CDU/CSU) ner Steigerung der Verteidigungsausgaben richtig. Auf Was hier zurzeit stattfindet, passt im Übrigen auch zu der anderen Seite muss man sich aber auch anschauen: einem anderen Thema, nämlich dem Verschenken von Wie haben sich innerhalb dieses Etats einzelne Ansätze 23 MiG-29-Jägern. Das haben Sie nicht erwähnt. Der verändert? Dabei möchte ich auf die große Zahl vonin- Gegenwert eines Eurofighters entspricht etwa 120 Mil- ternationalen Einsätzen hinweisen. Natürlich dankt die lionen Euro. Wir „verkaufen“ jetzt 23 MiG-29-Jäger Union den vielen Tausend Soldaten und zivilen Mit- zum Preis von 1 Euro und reißen damit eine Lücke, die arbeitern für das, was sie bei diesen Einsätzen leisten. durch den Eurofighter noch nicht geschlossen wird. Es (Beifall im ganzen Hause) war vereinbart, dass mit der deutschen Industrie im Ge- genzug ein Wartungsvertrag für diese Flugzeuge abge- Die Mittel für gepanzerte Fahrzeuge sanken in den schlossen werde. Aber dieser Wartungsvertrag kommt letzten vier Jahren um 59 Prozent, die für Munition um nun nicht zustande und die Polen, an die diese Flugzeuge 24 Prozent, die für Entwicklung um 25 Prozent und die sozusagen verschenkt worden sind, lassen sie nun in den für wehrtechnische Forschung um 28 Prozent. Dem-USA warten. Das hat mit Sicherheit auch noch andere gegenüber ist der Ansatz für Flugzeuge auf 2,1 Milliar- Gründe. Aber wenn dieser Wartungsvertrag mit der deut- den Euro verdoppelt worden. schen Industrie zustande gekommen wäre, wären die ( [SPD]: Die Sie bestellt haben!) Flugzeuge zunächst einmal hier geblieben und wir hätten die Lücke geschlossen, die durch die Anschaffung des – Das bestreite ich überhaupt nicht. Vielleicht kann ich Eurofighters entstanden ist. Auch das ist ein Versäumnis. dazu gleich mehr sagen, Herr Kollege. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben gemeinsam beschlossen, dieses Flugzeug anzuschaffen; lediglich eine Abgeordnete aus Ihren Rei- Der Verteidigungsetat benötigt auch einesubstan- hen, die längst nicht mehr Mitglied dieses Parlaments ist, zielle Erhöhung, um bekannte Defizite bei der Füh- wollte das verhindern. Das ist nicht das Problem. Alsrungsfähigkeit, der Nachrichtengewinnung, der Aufklä- Problem stellte sich allerdings im Nachhinein heraus:rung, der Mobilität, der Wirksamkeit im Einsatz, der 5070 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Dietrich Austermann (A) Unterstützung und Durchhaltefähigkeit, der Überlebens- ich mich, ob es wirklich Not tut für die Bundeswehr,(C) fähigkeit, dem Transport und dem passiven Schutz der dass jeder Fahrzeugtyp anders aussieht. Soldaten auszugleichen. Wenn ich einmal die Haushaltsansätze für die Fahr- Die finanziellen Handlungsspielräume werden ange- zeughaltung der Bundeswehr im Jahre x, heute und im sichts langfristiger Verpflichtungen auch in Zukunft nächsten Jahr vergleiche, dann stelle ich fest, dass das gering sein. Auch die internationalen Forderungen, die Flottenmanagement zum Betrieb dieser Autos, für die den Verteidigungsetat betreffen, werden uns belasten.dann auch noch Soldaten erforderlich sind, die nicht Angesichts dieser Situation bin ich der Meinung, dass mehr im Etat erscheinen – es wird ein bisschen herumge- man bei neuen Auslandseinsätzen sehr kritisch hinterfra- mogelt –, teurer ist. Muss das so sein? gen muss, ob wir uns diese noch leisten können. Das Bekleidungsmanagement verstößt gegen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Art. 87 b des Grundgesetzes, hat das Oberlandesgericht der FDP) Düsseldorf gesagt. Wenn wir ein Kunduz-Papier des Bundeskabinetts ha- Beim Milliardenvorhaben „Herkules“, das seit eini- ben, dann ist es hinsichtlich dessen, was darin beschrie- ger Zeit im Rohr ist und über 6 Milliarden Euro kosten ben ist, interessant. Interessant ist aber auch die Tatsa- soll, gibt es bis heute kein abschließendes Ergebnis. Der che, dass das Finanztableau fehlt, dass die Frage, was Bundesrechnungshof hat über 70 Fragen gestellt, wenn denn 250 bis 350 Soldaten im Auslandseinsatz und das, ich richtig gezählt habe, weil auch er nicht glaubt, dass was an Infrastruktur vorbereitet werden muss, zusätzlich das gigantische Projekt so in die Tat umgesetzt werden kosten, einfach nicht beantwortet worden ist. kann. Es gelingt bei dem Etat 2004 offensichtlich auch Herr Minister, gucken Sie sich das Thema GEBB nicht, eine Trendwende bei denBetriebsausgaben ein- noch einmal genau daraufhin an, ob es wirklich so wei- zuleiten. Die Mittel für Materialerhaltung stagnieren. tergeht und ob es, wenn man schon das Vorhaben „Her- Die verteidigungsinvestiven Ausgaben sinken gegenüber kules“ verwirklichen will, sinnvoll ist, an anderer Stelle 2003 um 140 Millionen Euro. Für internationale Ein-für Informationstechnik so viel Geld auszugeben. Die sätze steht zu wenig Geld zur Verfügung. Für Sofortbe- Aufgabe ist zu groß, als dass sie so bewältigt werden schaffungen, die Sie für diese internationalen Einsätze kann, wie es geplant ist. brauchen, damit die Soldaten genügend gepanzert sind – jeder weiß aus den Erfahrungen des letzten Jahres, wie Der Traum, durch Zusammenarbeit mit der Industrie wichtig das ist –, stehen lediglich 240 Millionen Euro mehr Geld zur Anschubfinanzierung für neue Beschaf- zur Verfügung. Die Ausstattung unserer Soldaten mit fungen zu bekommen, scheint mir ausgeträumt zu sein. (B) (D) passivem Schutz ist dringend verbesserungsbedürftig. Die Bundesregierung verweigert sich dieser Erkenntnis und trägt damit die Verantwortung für das sinkende Ver- Wenn ich das alles zusammenfasse, muss ich sagen, trauen der Angehörigen der Bundeswehr in ihre politi- dass die objektiven Angaben des Haushalts die Behaup- sche Führung sowie für das sinkende Vertrauen ihrer tung einer erforderlichen Bundeswehrreform „am lau- Partner im Bündnis, was die Bereitschaft zur Solidarität fenden Motor“ als Märchen entlarvt haben. angeht, und das sinkende Vertrauen der Industrie in die Absicherung des Erhalts wehrtechnischer Handlungsfä- Herr Minister, Sie haben das Thema GEBB angespro- higkeit. chen. Ich hatte eigentlich den Eindruck, Sie seien da ein ganzes Stückchen weiter, nicht ein Stückchen weiter, Nun haben Sie sich überlegt, dass man das eine oder was die Frage betrifft, dass wir neue zusätzliche Be-andere tun sollte, um den Firmen auf die Beine zu hel- schäftigungsfelder erschließen. Die Nibelungentreue ge- fen, die mit Aufträgen nicht üppig ausgestattet sind. Sie genüber Ihrem Vorgänger sollte auch ihre Grenzen ha- wollen jetzt aber zunächst nur die unternehmerische ben, wenn man feststellt, dass die GEBB nicht dasFreiheit einschränken. Damit keine Geschäftsanteile von bringt, was sie eigentlich bringen sollte. HDW oder anderen an ausländische Firmen verkauft werden – als ob man Angst haben müsste, dass amerika- Stattdessen wachsen immer neue Reformorganisatio- nische Unternehmen Teile von HDW an Bin Laden oder nen wie Pilze aus dem Boden und verbrennen Geld für jemand Ähnlichen verkaufen –, soll ein Gesetz gemacht Gutachter und Zwischenlösungen. Auch dieses Geld werden, durch das der Verkauf von Geschäftsanteilen wäre sicherlich besser für Beschaffungen auszugeben. deutscher wehrtechnischer Unternehmen unter bestimm- Gerade wurde der frühere Büroleiter Rudolften Voraussetzungen verboten wird. So helfen Sie weder Scharpings nach für ihn lukrativen Jahren als Reform- den Firmen, die keine Aufträge haben und denen Sie manager verabschiedet, da sitzt schon wieder ein so ge- auch noch den Export in bestimmte Länder verweigern, nannter Reformer als Geschäftsführer eines so genann- noch tragen Sie zum Erhalt von Arbeitsplätzen in ten Modernisierungsboards im gemachten Nest. Auch Deutschland bei. Sie helfen also weder der Werftindus- das kostet natürlich Geld, das man im Verteidigungsetat trie noch anderen. an anderer Stelle brauchte. Ich warne davor, dass wir im BereichU-Boote ein Das Flottenmanagement ist wesentlich teurer als der französisches Monopol bekommen und sich dann eine Eigenbetrieb. Wenn man durch die Lande fährt, dannEntwicklung abzeichnet, die bei der EADS eine leichte sieht man eine Vielfalt von Autos, übrigens auch tsche- Deformation in Richtung überlastiger Einflüsse, die chischer Produktion und aus anderen Ländern. Da frage nicht aus Deutschland kommen, gebracht hat. Wenn sich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5071

Dietrich Austermann (A) das bei den Werften wiederholt, wäre das sicherlich eine nalen, sondern auch auf den internationalen Markt brin- (C) Entwicklung, die nicht gutzuheißen ist. gen wollen. Wenn wir uns den Regierungsentwurf für den Vertei- (Beifall bei der SPD) digungsetat und die Absichtserklärungen, die wir bisher gehört haben, vor Augen führen, dann bietet sich aus Zweite Anmerkung. Eines sollte von vornherein ver- meiner Sicht folgendes Bild: mieden werden – ich sage das ganz bewusst vor dem Hintergrund, dass es über diesen Punkt im Verteidi- Die Reform der Bundeswehr, noch von Herrngungsausschuss des Deutschen Bundestages nie einen Scharping geplant, ist gescheitert. Der Verwaltungsvoll- Streit gegeben hat –: Die Sicherheit der Soldatinnen und zug durch die Spitze des Ministeriums und insbesondere Soldaten, insbesondere der Soldatinnen und Soldaten in durch die Rüstungsabteilung verwirrt mehr, als dassAuslandseinsätzen, hat immer ganz oben gestanden. Es klare Führung gezeigt wird. Das schadet unserem Land. hat weder unter der alten noch unter der jetzigen Bun- Die großen Reformvorhaben laufen total aus dem Ruder. desregierung irgendwelche Zweifel daran gegeben, dass Weder der Haushalt insgesamt noch die Investitionendas Geld, das für den Schutz der Soldaten notwendig ist, steigen. auch tatsächlich zur Verfügung gestellt wird. Auch das Die Diskussion in der Regierungskoalition um die zu- sollte an dieser Stelle einmal festgestellt werden. künftige Wehrstruktur – an dieser Stelle danke ich für Der Entwurf zum Verteidigungshaushalt 2004 orien- Ihre Klarstellung im Hinblick auf die Wehrpflicht – ist tiert sich konsequent an dem Ziel, Auftrag, Fähigkeiten günstigstenfalls noch völlig offen. Herr Nachtwei wird und Ausrüstung unserer Bundeswehr mit den verfügba- sich sicherlich gleich dazu auslassen. Eine optimistische ren Mitteln in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Zukunftsperspektive wird weder den Angehörigen der Der Finanzplan sieht bis 2007 eine kontinuierliche Stei- Bundeswehr noch unseren Bündnispartnern geboten. gerung der Ausgaben auf rund 25 Milliarden Euro vor, Die Signale an die Industrie sind mehr als ernüchternd. dies alles trotz des Umstandes – der Minister hat schon Die Entwicklung der Ausstattung des Heeres ist drama- darauf hingewiesen –, dass auch das Verteidigungsres- tisch. sort seinen Beitrag zur Konsolidierung des Haushalts Sie werden sich sicherlich nicht wundern, dass ichleisten muss. trotz einiger einvernehmlicher Worte und trotz gemein- samer Überzeugungen in bestimmten Bereichen zu dem Der Spagat zwischen der Verpflichtung, die Schul- Schluss komme: Der Haushaltsentwurf für den Verteidi- den abzubauen und gleichzeitig die Streitkräfte an die gungsbereich ist wie der gesamte Haushalt nicht bera- neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen anzu- passen, sowie dem Vorhaben, die begonnene Reform (B) tungs- und zustimmungsfähig. Wir erwarten, dass Sie in (D) einzelnen Bereichen umsteuern und dafür sorgen, dass weiterzubringen, wird nach meiner festen Überzeugung mehr Mittel im Haushalt für die Beschaffung umge-gelingen. Die Bundeswehr muss bekommen, was sie schichtet werden. Wir sollten uns gemeinsam bemühen, unbedingt braucht. Die Menschen in der Bundeswehr den Etat entsprechend zu verbessern. dürfen dabei nicht vergessen werden. Es muss den Streitkräften möglich sein, neben der Bewältigung aktu- Herzlichen Dank. eller Herausforderungen auch künftige Unwägbarkei- ten zu meistern. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Marianne Tritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für die Fortsetzung der Beteiligung der Bundeswehr an Ganz schwach!) internationalen Einsätzen sind im Einzelplan 14 Mittel in Höhe von rund 870 Millionen Euro vorgesehen. Präsident Wolfgang Thierse: Hinzu kommen weitere rund 223 Millionen Euro für die materielle und personelle Vorbereitung auf internatio- Ich erteile dem Kollegen Reinhold Robbe, SPD-Frak- nale Einsätze. Die Soldatinnen und Soldaten der Bun- tion, das Wort. deswehr sind bestmöglich ausgestattet. Dies gilt auch im internationalen Vergleich. Das muss, wie ich gerade Reinhold Robbe (SPD): schon erwähnte, erste Priorität bleiben. Aber die aktuel- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undlen politischen Entwicklungen verdeutlichen, dass es im- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollegemer wieder unabsehbare Ereignisse geben kann, für die Austermann, ich weiß, wie risikobehaftet es ist, einem auch mit einer bestmöglichen Finanzausstattung nur be- Haushälter zu widersprechen. Gestatten Sie mir trotz- dingt vorgesorgt werden kann. dem zwei kurze Anmerkungen. Tatsache ist, dass sich das Einsatzspektrum der Bun- Erste Anmerkung. Wir sollten uns alle, die wir auf natio- deswehr grundlegend gewandelt hat. Das gilt auch für naler Ebene die Verantwortung für die Außen- und Sicher- den Charakter der Auslandseinsätze, angefangen in heitspolitik tragen, davor hüten, wichtigeRüstungs- Kambodscha und Somalia über den Balkan bis hin zum projekte durch populistische Äußerungen zu beschädigen. militärischen Engagement im Rahmen der Operation Das dient weder den Projekten noch nutzt es denen in „Enduring Freedom“ am Horn von Afrika und im Rah- den Betrieben, die auf ihre Leistungen stolz sind. Esmen der ISAF in Afghanistan. Sie hatten und haben aus- dient erst recht nicht den Exportchancen derjenigen Be- schließlich den Auftrag der Friedensschaffung, der Frie- triebe, die diese Rüstungsgüter nicht nur auf den natio- denserhaltung und der Konfliktprävention. 5072 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Reinhold Robbe (A) Für Afghanistan bedeutet das: Die Unterscheidung gen. Wir müssen das ganz klar erkennen. Sollte es dabei (C) zwischen Terrorismusbekämpfung einerseits und Stabili- bleiben, liegen Kapazitäten brach und es besteht die Ge- sierungs- und Wiederaufbauarbeit andererseits entspricht fahr eines endgültigen Wegbrechens von hochwertiger der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung der Mandate Technologie und Know-how. Hierbei stellt sich die ebenso wie der Wahrnehmung der Interessen der afgha- Frage, ob Deutschland sich das leisten kann. Wenn es nischen Bevölkerung. aber mehr und zunehmend parallel geführte Einsätze gibt, wird die Marine schon in wenigen Jahren an ihre Dies alles sind Aufgaben, die aus dem Verteidigungs- Grenzen stoßen, wenn die Anforderungen an den Einsatz haushalt finanziert wurden und werden. Wenn es aber der Flotte erfüllt werden sollen. künftig verstärkt darum geht, eigene Konzepte für ein zi- viles und ein militärisches Engagement zu entwickeln Meine Damen und Herren, bei allen Entscheidungen und umzusetzen, muss meines Erachtens über Finanzie- über die zukünftige Ausrichtung der Bundeswehr muss rungsalternativen nachgedacht werden. die Frage nach lebens- und generationsfähigem Gerät positiv gelöst sein. Das giltfür das Bataillon, die Flug- Ziel des deutschen Engagements in Afghanistan ist es, zeugstaffel und das Schiff ebenso wie für die Soldaten das Land bei seinen Anstrengungen zu unterstützen, wie- im Einsatz und für die Unternehmen, die industrielle der zu einem funktionierenden Staat zu werden. Sicher- Kernfähigkeiten behalten müssen. Es muss als Aufgabe heit, wirtschaftliches Wachstum und das Wohl der Bevöl- von uns allen verstanden werden, auf solche Zusammen- kerung müssen dabei ganz obenan stehen.Militärisches hänge zu achten. Es ist aus meiner Sicht auch unsere Engagement ist damit untrennbar mit der Unterstützung Verpflichtung, erforderlichenfalls auf entsprechende des politischen, wirtschaftlichen und sozialenWieder- Entscheidungen zu drängen. aufbaus verbunden. Es entfernt sich vom klassischen Einsatzauftrag der Bundeswehr, etwa dem Auftrag der Meine Damen und Herren, abschließend ein Wort zur Kampfflugzeuge der Luftwaffe über dem Balkan oder Wehrpflicht. Ich danke dem Bundesminister der Vertei- auch dem Auftrag der Marine zur Überwachung des See- digung für sein klares Wort. Ich freue mich darüber, dass gebietes am Horn von Afrika. Dies gilt beispielsweise sich der Bundesminister für eine Beibehaltung der Wehr- für den jetzt geplanten erweiterten Einsatz der Bundes- pflicht ausgesprochen hat. Neben den hinlänglich be- wehr im äußersten Nordosten Afghanistans. kannten Vorteilen der Wehrpflicht ist an dieser Stelle nicht zuletzt darauf hinzuweisen, dass eine Wehrpflicht- Wenn dies so ist, ist der Ansatz, die Finanzierung sol- armee allemal kostengünstiger ist als eine Freiwilligen- cher Aufträge weiterhin ausschließlich aus dem ohnehin armee. knapp bemessenen Verteidigungshaushalt zu bestreiten, (B) aus meiner Sicht durchaus zu überdenken. Eine ander- (Jürgen Koppelin [FDP]: Stimmt doch gar (D) weitige Lösung würde zusätzliche finanzielle Belastun- nicht! – Günther Friedrich Nolting [FDP] mel- gen im Einzelplan 14, insbesondere zulasten von Investi- det sich zu einer Zwischenfrage) tionen, vermeiden. Das wird in der allgemeinen Diskussion oftmals ver- Meine Damen und Herren, ein Schwerpunkt des Ent- kannt, auch wenn der Kollege Nolting offensichtlich wurfs zum Verteidigungshaushalt 2004 ist die effiziente nicht ganz mit dieser Aussage einverstanden ist. Verbesserung und Modernisierung dermateriellen Ausstattung der Streitkräfte. Die Anpassung der Fähig- Präsident Wolfgang Thierse: keitsprofile aller Teilstreitkräfte an die neuen Aufgaben wird fortgesetzt. Das heißt konkret: weniger Panzer, we- Bitte schön, Kollege Nolting. niger Flugzeuge, weniger Boote usw. Das darf aber auf gar keinen Fall zu einem Verlust von Kernfähigkeiten (FDP): führen. Der Verteidigungsminister hat mit den verteidi- Günther Friedrich Nolting gungspolitischen Richtlinien die realistischen Perspekti- Herr Kollege Robbe, Sie haben vorhin die verteidi- ven vorgegeben. gungspolitischen Richtlinien angesprochen. Im konven- tionellen Bereich – so wirddort festgehalten – gibt es Volkswirtschaftliche Überlegungen dürfen dabei aber keine Bedrohung mehr. Stimmen Sie mit mir überein, nicht außen vor bleiben. Ich will das am Beispiel derdass man Wehrpflicht aber nur aus sicherheitspolitischen Marine kurz verdeutlichen. Für die Überwachung von und aus außenpolitischen Gründen legitimieren kann Seegebieten braucht man in Krisenzeiten notwendiger- und nicht mit den 31 Thesen, die der Verteidigungsmi- weise Kriegsschiffe, beispielsweise Fregatten, und das nister zur Begründung der Wehrpflicht hat aufschreiben monate-, vielleicht sogar jahrelang. Sie müssen bei je- lassen? Wie stehen Sie zu den Äußerungen der Grünen- dem Wetter in See bleiben können und eine entspre-Vorsitzenden ? Ich zitiere: chende Durchhaltefähigkeit besitzen. Es kann nicht sein, dasses eine Reformblockade Noch sind unsere Werften in der Lage, leistungsstarke nur noch in einem Ressort gibt, nämlich im Vertei- Fregatten zu bauen. Aber diese Fähigkeit basiert auf digungsministerium. Wir wollen raus aus der Wehr- Aufträgen, Beschäftigung und Umsätzen. Im Kampf pflicht. hoch spezialisierter, effizienter und auf dem Weltmarkt führender Firmen kann Deutschland zumindest zurzeit Sie hat auch einen Zeitpunkt genannt, nämlich Ende des noch gut mithalten. Allerdings fehlt es an Folgeaufträ- Jahres. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5073

(A) Reinhold Robbe (SPD): Sie sind sicher damit einverstanden, dass ich das ent-(C) Zunächst einmal, Kollege Nolting, ist für mich in die- sprechend kopiere und an die Mitglieder der FDP-Frak- ser ganzen Debatte um die Wehrpflicht interessant, wel- tion verteile; da habe ich sicherlich Ihre Zustimmung. Es che Liaison es zwischen Ihrer Fraktion und anderen poli- ist nicht in Ordnung, dass man sich das von außen holen tischen Richtungen in diesem Hause gibt. Meine zweite muss und dass Sie solche Informationen unterbinden; Feststellung: Ich stimme natürlich nicht mit Ihnen über- denn wir, das Parlament, haben Anspruch darauf, unge- ein, dass die Richtlinien des Bundesministers der Vertei- schminkt die Situation und den Zustand der Bundeswehr digung nicht ganz klar und eindeutig definieren, dass die zu erfahren – wenn schon nicht von der Regierung, die Wehrpflicht unter einem neuen Blickwinkel betrachtet dazu anscheinend nicht in der Lage ist, dann doch zu- werden muss. Ich möchte an dieser Stelle nicht allesmindest von den Inspekteuren der Teilstreitkräfte. wiederholen, was der Bundesminister der Verteidigung Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die FDP dazu gesagt hat. Ein Satz hat sich inzwischen aber einge- möchte natürlich allen Angehörigen der Bundeswehr prägt – den kennt jeder –, und zwar der, dass dieses Land Dank sagen für den nicht immer einfachen Dienst. Be- auch anderswo verteidigt wird, beispielsweise in Afgha- sonderer Dank gilt natürlich all denen, die zurzeit in nistan. schwierigen Auslandseinsätzen sind. (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Aber nicht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten mit Wehrpflichtigen! – Winfried Nachtwei der CDU/CSU) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht Sie, Herr Minister, haben den Beschluss der FDP- mit Wehrpflichtigen!) Fraktion, den wir in Nürnberg gefasst haben und den wir Vor diesem Hintergrund und angesichts der Tatsache, im Zusammenhang mit denAuslandseinsätzen in dass sich die ganze sicherheitspolitische Situation in der Afghanistan angesprochen haben, nicht richtig gelesen. Welt – natürlich auch bei uns – verändert hat, ist dieIch bin gerne bereit, Ihnen ein Exemplar dieses Be- Wehrpflicht durchaus auch heute zu begründen. Sie ist schlusses zu geben – ich habe ihn auch hier, Sie bekom- auch bezogen auf die Verteidigung unseres Landes zu men ihn nachher von mir –, damit Sie ihn dann wirklich begründen. Das hat sich alles geändert, das wissen wir. lesen können. Ich muss ehrlicherweise sagen, dass ich Die ganze Welt hat sich verändert. Ich bin davon über- ein bisschen geschockt bin, dass ein Bundesminister so zeugt, dass auch die FDP, also Ihre Fraktion, das irgend- schlecht über Beschlüsse anderer Fraktionen informiert wann erkennen und daraus die richtigen Schlüsse ziehen ist. wird. (Vorsitz: Vizepräsident Dr. ) (B) Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Darin steht ganz klar: Wenn Sie den Auftrag in Afgha-(D) nistan erweitern und Soldaten dorthin entsenden wollen, (Beifall bei der SPD – Günther Friedrich Nolting dann müssen wir diese Entsendung zum jetzigen Zeit- [FDP]: So hast du mehr Redezeit gehabt!) punkt ablehnen. – Das haben Sie noch richtig gesagt. – Wir haben auch eine Begründung dafür gegeben, die Sie Präsident Wolfgang Thierse: natürlich vergessen haben vorzutragen. Wir sagen, es darf keine unkoordinierten, nicht zielführenden Sonder- Ich erteile dem Kollegen Jürgen Koppelin, FDP-Frak- aktionen geben. Davon wollen wir Abstand nehmen. Be- tion, das Wort. vor weitere Soldaten nach Afghanistan entsandt werden, müssen Sie die Afghanistanpolitik erst einmal mit den Jürgen Koppelin (FDP): europäischen Partnern abstimmen. Es kann nicht ange- hen, dass Sie eine Entscheidung treffen, bevor Sie sich Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der abgestimmt haben. Verteidigungsetat ist sicherlich ein besonderer Etat, denn er ist der Haushaltsplan für die Armee dieses Parla- (Beifall bei der FDP) ments. Ich glaube, man muss die Bundesregierung inWir sind der Auffassung: Bevor der Bundeswehreinsatz dieser Debatte daran erinnern, dass unsere Bundeswehr in Afghanistan ausgeweitet wird, muss es ein schlüssi- die Armee des Parlaments ist und nicht die Armee ei- ges politisches Gesamtkonzept für Afghanistan geben. ner Regierung. Das ist keine Kritik an Ihrer Position, sondern in erster Ich sage das auch, weil ich kein Verständnis dafürLinie Kritik am Bundesaußenminister, der hier völlig habe, wenn zum Beispiel die Inspekteure von Heer und versagt hat. Luftwaffe das Parlament schriftlich informieren wollen (Beifall bei der FDP – Günther Friedrich und der Verteidigungsminister das unterbindet. Herr Nolting [FDP]: Wo ist er eigentlich?) Bundesverteidigungsminister, es ist nicht in Ordnung, finde ich, dass sich ein Abgeordneter des deutschen Par- Seit 1999 stehen Auftrag, Aufgaben und Mittel der laments diese Papiere von außen, bei Journalisten, be- Bundeswehr nicht mehr im Einklang miteinander. Das schaffen muss. Nun steht hier auch noch drauf: „Für den sage nicht nur ich als ein Vertreter der Opposition in die- Dienstgebrauch“. Ich brauche das für meinen Dienst und ser Debatte, das steht so auch in den Verteidigungspoliti- meine Fraktion braucht das auch. schen Richtlinien des Bundesverteidigungsministers vom Mai dieses Jahres. Der jetzt vorgelegte Haushalts- (Beifall bei der FDP) entwurf für die Bundeswehr lässt nicht erkennen, dass 5074 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Jürgen Koppelin (A) sich in Zukunft an dieser Situation etwas verbessern Zum Thema Investitionen. Ich kann nicht erkennen, (C) wird. Auftrag, Aufgaben und Mittel der Bundeswehrdass Sie bei den Investitionen umgeschichtet haben, ob- sind im Bundeshaushalt 2004 nicht im Einklang mitei- wohl es dort zu lesen ist.Sie wollen eine Investitions- nander. quote von 27 Prozent erreichen. Dafür hätten Sie selbst- verständlich unsere Unterstützung. Aber warum tun Sie Wenn der Bundesverteidigungsminister öffentlich die das nicht? Warum schreiben Sie darüber, warum reden weitere Entsendung von deutschen Soldaten nach Af- Sie davon, tun aber nichts? Das kritisieren wir. In der ghanistan diskutiert, dann fragt man sich, warum er sich Richtung wären wir uns einig, wenn Sie es denn doch nicht erst einmal mit den Kernthemen der Bundeswehr nun tun würden. Der Verteidigungsetat 2004 gibt, was beschäftigt. Man fragt sich auch, was in dieser Koalition Ihre Aussagen angeht, nichts wieder. Sie haben nur da- verteidigungspolitisch eigentlich los ist, wenn die Vorsit- von gesprochen, aber nichts getan. Die Investitionen im zende der Grünen, Angelika Beer – Kollege Nolting hat Etat steigen nämlich nicht, sondern sinken um 2,3 Pro- sie schon genannt –, über den Einsatz deutscher Soldaten zent. im Irak schwadroniert. Wird überhaupt nichts abge- stimmt? Wie wenig diese Bundesregierung für die Ausrüs- tung, die die Sicherheit der Soldaten zu einem Teil aus- (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: So macht, ausgibt, machen Vergleichszahlen deutlich. ein Blödsinn! Das stimmt doch nicht!) Frankreich gibt für die Ausrüstung seiner Soldaten pro Liebe Kolleginnen und Kollegen, jeder Soldat muss Euro an Personalkosten 35 Cent aus, Großbritannien so- wissen, wie die Zukunft der Bundeswehr aussieht. Frau gar 50 Cent. Deutschland liegt pro Euro an Personalkos- Beer, die Vorsitzende der Grünen, sagt heute in der „Ber- ten bei 20 Cent für die Ausrüstung. Auch das spricht liner Zeitung“ – Kollege Nolting hat eben schon daraus eine klare Sprache. Deutlicher können wir die Schwä- zitiert –: chen des Verteidigungsetats 2004 wohl nicht aufzeigen. Es kann nicht sein, dass es eine Reformblockade Dieser Verteidigungsetat ist, wenn man zum Beispiel nur noch in einem Ressort gibt, nämlich im Vertei- den Bereich Forschung und Entwicklung nimmt, so digungsministerium. niedrig, dass wir uns bei den Haushaltsberatungen über- legen müssen, was wir als Haushälter tun. Ich bin inso- Ich finde, zu diesem Vorwurf einer Vorsitzenden einer fern erstaunt gewesen, dass die SPD-Bundestagsfraktion Koalitionspartei hätten Sie, Herr Bundesverteidigungs- in ihrer Fraktionssitzung dem Haushalt schon vorab zu- minister, heute Stellung nehmen müssen. Wir hätten gestimmt hat. Ich weiß nicht, Herr Kollege Robbe, wie gerne gehört, was Sie zu diesen Aussagen einer Partei- Sie sich zu diesem Etat verhalten haben. Ich habe nur die vorsitzenden gesagt hätten. Aber vielleicht wird der Kol- Agenturmeldung gelesen – es war etwa Mitte August –, (B) lege Nachtwei gleich darauf eingehen. (D) dass Sie in Ihrer Fraktion dem Gesamtetat zugestimmt Im Rahmen des Bundeshaushalts hätte der Bundes- haben. Haben Sie in Ihrer Fraktion gesagt: Das geht verteidigungsminister an die Kernthemen der Bundes- nicht, was ihr da mit der Bundeswehr macht? Davon wehr herangehen müssen. Die Kernthemen der Bundes- habe ich nichts gehört. Bitte reden Sie nicht nur hier, wehr sind zurzeit die Probleme, die beim Personalsondern auch in der Fraktion, in der Sie Einfluss haben. bestehen; das Personal ist erheblich vernachlässigt wor- Übernehmen Sie dort Verantwortung und sprechen Sie den. Wir haben eine mangelhafte Ausrüstung und Be- ein klares Wort. waffnung der Bundeswehr zu verzeichnen. Im Bereich Forschung und Entwicklung für die Bundeswehr beste- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten hen ebenfalls erhebliche Vernachlässigungen. Und wir der CDU/CSU) haben – das muss ich Ihnen deutlich sagen – eine völlig Von Verantwortung für die Bundeswehr kann ich in die- verkorkste Streitkräftestruktur. sem Etat jedenfalls nicht viel erkennen. Während die Verteidigungsetats von Frankreich und Kollege Robbe – dafür bin ich sehr dankbar – und Großbritannien bei rund 2,5 Prozent des jeweiligen Brut- auch Kollege Austermann haben diewehrtechnische toinlandsproduktes liegen, erreicht Deutschland gerade Industrie angesprochen. Untrennbar mit der Bundes- einmal 1 Prozent. Das sagt eigentlich fast alles. Warum, wehr verbunden ist die wehrtechnische Industrie in Herr Bundesverteidigungsminister, haben Sie vergessen, Deutschland. Wenn die bisherige Beschaffungspolitik was Sie selbst am 21. Mai dieses Jahres in den Verteidi- der Bundesregierung für die Bundeswehr so fortgesetzt gungspolitischen Richtlinien geschrieben haben? Dort wird, werden wir bald kaum noch wehrtechnische Indus- heißt es unter Nr. 64: trie in Deutschland haben. Sie können doch nicht von Die strukturelle Neuausrichtung und die materielle der wehrtechnischen Industrie erwarten, dass sie Perso- Modernisierung stehen aufgrund begrenzter Finanz- nal vorrätig hält, wenn Sie keine Aufträge bekommt. mittel noch nicht in Übereinstimmung. Deshalb ist Wenn dann die Unternehmen sagen: „Gut, dann verkau- eine Umschichtung innerhalb des Verteidigungs- fen wir ins Ausland, wenn wir hier keine Aufträge be- haushalts zugunsten von Investitionen notwendig. kommen“, dann kommen Sie mit neuer Gesetzgebung und sagen: „Moment einmal, das geht natürlich nicht; da Dort steht, es gibt noch keine Übereinstimmung. Wann wollen wir als Bundesregierung zustimmen können.“ So werden Sie es denn in Übereinstimmung bringen? Das geht das nicht. Darüber müssen wir auch bei den Haus- hätten Sie uns hier heute beantworten müssen. haltsberatungen reden. Ich denke, Sie müssen offen le- (Beifall bei der FDP) gen, warum Sie Gesetze einbringen wollen, durch die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5075

Jürgen Koppelin (A) der Verkauf von wehrtechnischen Unternehmen ins Aus- chen Verantwortlichen gesagt haben: Das kommt(C) land genehmigungspflichtig werden soll. überhaupt nicht in Frage. Ich sage Ihnen: Bei diesem Umfang der Wehrpflicht, bei diesen paar Monaten, Wir bedauern das sehr – Kollege Austermann hat das macht sie keinen Sinn mehr. Die Wehrpflicht hat ausge- Beispiel HDW angesprochen –, aber es sind politische dient. Wenn Sie der Auffassung sind, die Wehrpflicht sei Entscheidungen. Sagen Sie einmal bestimmten Leuten notwendig, Kollege Robbe, dann stellen Sie sich hier hin im Kanzleramt, was es mitRüstungsexporten auf sich und sagen, sie sollte mindestens 15 Monate betragen. hat. Wenn es da Möglichkeiten gibt, zum Beispiel imDann würde ich sagen, dass es ehrlich ist. Aber so, wie Bereich U-Boote oder Schiffe, dann könnten unseredie Wehrpflicht jetzt ist, ist sie nicht mehr machbar. Werften sicher existieren. Dann bräuchten sie keine Käu- fer im Ausland zu suchen. Für andere Bereiche können Ich komme zum Schluss. Wir sind der Auffassung, wir das Gleiche sagen. dass dieser Haushalt des Verteidigungsministers erheb- lich nachgebessert werden muss. Die Fraktion der FDP (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wird sich intensiv an der Diskussion beteiligen. Ich habe der CDU/CSU) vorhin gesagt, dass die Bundeswehr unsere Armee ist, Wir brauchen eine Bundeswehr, die gut ausgerüstet unsere Parlamentsarmee. Deswegen werden wir diese und gut ausgebildet ist und die motivierte Soldaten hat. Diskussion nicht aus der Rolle der Opposition heraus Das trifft heute in keinem Bereich der Bundeswehr zu. führen, sondern einzig und allein in der Verantwortung Es wird immer schlimmer. Insofern sage ich Ihnen, in für unsere Soldaten. welche Richtung wir gehen. Dabei komme ich auch Vielen Dank für Ihre Geduld. gleich auf die Wehrpflicht zu sprechen. Wir als FDP sa- gen: Wir brauchen heute keinenVerteidigungsumfang (Beifall bei der FDP) mehr von 500 000 Soldaten. (Zuruf von der FDP: Wohl wahr!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Wir benötigen auch keine Depots, in denen teures Gerät Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei, Bünd- für einen überhöhten, völlig überflüssigen Verteidi- nis 90/Die Grünen. gungsumfang gelagert wird. Vielleicht schauen Sie auch noch einmal in das Konzept, das die Weizsäcker-Kom- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): mission vorgelegt hat. Da sind wir als FDP ja in guter Gesellschaft. Auch wir denken, dass wir die allgemeine Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ge- Wehrpflicht nicht mehr benötigen. Wir wollen sie aus- statten Sie zunächst ein persönliches Wort. Zurück aus (B) setzen. Wir wollen sie nicht abschaffen, sondern ausset- Kabul wurde unser Kollege Christian Schmidt in einen (D) zen. fürchterlichen Unfall verwickelt. Wir wünschen ihm von ganzem Herzen vollständige und möglichst schnelle Ge- Kollege Robbe, ich sage, weil Sie es angesprochen nesung. haben, an Sie gerichtet, aber auch in Richtung des Ver- teidigungsministers: Lassen Sie uns ganz sachlich über (Beifall im ganzen Hause) das Thema Wehrpflicht diskutieren. Sachlich, Herr Die Entwicklung der gesamten wirtschaftlichen Lage Bundesminister, ist es allerdings nicht, wenn Sie sagen: macht die Rahmenbedingungen für den Einzelplan 14 Wehrpflicht heißt für mich, deutsche Soldaten sollenbesonders schwierig und kompliziert. Es ist der erste nicht zu Söldnern werden. Ich mache es mir jetzt einmal Haushaltsentwurf nach der Intensivierung der Bundes- ganz einfach und sage: Die BGS-Angehörigen, die im wehrreform durch Minister Struck, nach seiner Entschei- Ausland sind, sind auch keine Söldner. Oder stellen Sie dung zur Stilllegung verschiedener Waffensysteme und die auf die gleiche Linie? Für diese Thesen, die Sie, Herr nach der Veröffentlichung der Verteidigungspolitischen Bundesminister, und auch Sie, Herr Kollege Robbe, hier Richtlinien. heute vorgetragen haben, werden Sie kaum noch Unter- stützung in der Bevölkerung bekommen, höchstens viel- Wesentliche Maßnahmen zur Reduzierung von Be- leicht bei der CDU/CSU-Fraktion. Aber in der Bevölke- triebskosten sind einschneidend, sie wirken sich zum rung werden Sie dafür keinen Beifall mehr bekommen. großen Teil aber erst mittelfristig aus. Vor der Tür stehen überdies die Hypotheken früherer Beschaffungsentschei- (Günter Friedrich Nolting [FDP]: Nur noch in dungen – besonders deutlich wird dies beim Euro- Teilen! – Zuruf von der CDU/CSU: Immer fighter –, deren Dimensionen einen zukunftsfähigen und vorsichtig!) ausgewogenen Verteidigungshaushalt sprengen. Wenn Sie den Aufgaben gerecht werden wollen, Die notorische Forderung aus den Reihen der Opposi- wenn Sie eine Bundeswehr haben wollen, die für zu-tion nach einer Erhöhung des Verteidigungshaushaltes künftige Aufgaben gerüstet und ausgebildet ist, dannist jenseits jeder Verantwortbarkeit und ohne Realisie- reicht nach unserer Auffassung ein Personalumfang von rungschance. Sie führt in die Sackgasse. Zwei Schlüssel- 240 000 Soldaten. Sie werden es erleben: Die Wehr-fragen gehören deshalb an die Spitze der Tagesordnung pflicht hat ausgedient. Sehen Sie sich nur einmal dieund der Debatte: Diskussion an, die wir seit zehn Jahren über die Wehr- pflicht führen. Sie haben die Dienstzeit immer wieder re- Erstens. Wie können die vorhandenen begrenzten duziert, auch wir haben sie reduziert, obwohl alle mögli- Mittel effizienter genutzt werden? 5076 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Winfried Nachtwei (A) Zweitens. Welche Aufgaben soll die Bundeswehr Auf dem Land und jenseits der Kameras der internati- (C) konkret übernehmen und welche nicht? onalen Fernsehstationen ging das Morden aber weiter. Es ist noch offen, ob die gestärkte MONUC endlich Die Koalition hat sich vorgenommen, die Wehrform wirksame Autorität gewinnt. Es wäre verantwortungslos, in den nächsten Monaten zu überprüfen. Hierbei ist in ei- wenn es nach den wenigen Monaten der verstärkten Auf- ner sachlichen Diskussion und Auseinandersetzung in merksamkeit Richtung Afrika wieder zu einem überwie- der Koalition zu klären, ob die Wehrpflicht für die aus- genden Wegsehen der Staatengemeinschaft käme. reichende Nachwuchsgewinnung der Bundeswehr noch unverzichtbar ist oder ob sie eine finanzierbare Bundes- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wehrreform durch die Absorption von Personal und Res- sowie bei Abgeordneten der SPD) sourcen blockiert. In den Bürgerkriegen und in zerfallenen Staaten sind die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Menschenrechte krass außer Kraft gesetzt und die Ver- einten Nationen sind im Sinne von vereinten Nationen Ich kann Ihnen sagen – ich glaube, dass etliche andere selbstverständlich gefordert. von uns auch diese Erfahrung machen –, dass sich in der Bundeswehr und gerade bei Offizieren mit Einsatzerfah- Ich nenne noch einen zweiten Punkt: Afrika gehört rungen die Stimmen in Richtung dieser zweiten Position zur europäischen Nachbarschaft. Damit meine ich auch deutlich mehren. das Afrika jenseits der Sahara, nicht nur die berühmte Krisenregion Maghreb. DieEntwicklung in Afrika Wie notwendig eine genauere Aufgabenbestimmung auch südlich der Sahara hat zumindest mittelfristig Aus- der Bundeswehr über die Aussagen der Verteidigungspoli- wirkungen auf die europäische Sicherheit. Vor diesem tischen Richtlinien hinaus ist, zeigt sich auf drei Ebenen. Hintergrund ist es nicht nachvollziehbar, dass die westli- Erstens zeigt sie sich auf der Ebene derRisiko- und chen Industriestaaten und – das müssen wir feststellen – Bedrohungswahrnehmung. Unter Sicherheitspolitikern insbesondere die Bundesrepublik die Vereinten Nationen – wenn ich mich hier umsehe, dann stelle ich fest: unter mit den von ihr geführten Friedensmissionen in Afrika uns allen – besteht Konsens darüber, dass der internatio- im Wesentlichen hängen lassen. nale Terrorismus heute zu den Hauptbedrohungen der in- ternationalen Sicherheit und des Weltfriedens gehört. Der (Beifall des Abg. 11. September war und ist dafür ein Menetekel. Tatsache [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) ist aber auch, dass 20 Prozent der deutschen Bevölkerung Eine Delegation des Verteidigungsausschusses be- den al-Qaida-Hintergrund des 11. September anzweifeln suchte vor zwei Monaten New York. Der Untergeneral- (B) (D) bzw. abstreiten. Ich meine, dies ist ein krasses Beispiel sekretär Guehenno hat uns deutlich darauf hingewiesen, dafür, wie die Risikowahrnehmungen in der Politik und dass die Vereinten Nationen sichtbare Unterstützung in Teilen der Gesellschaft auseinander driften. auch Deutschlands bei solchen Friedensmissionen brau- Zweitens. Zwei Jahre nach den Ereignissen vomchen, und zwar nicht durch größere Kontingente – nein, 11. September gerät die militärisch verkürzte Variante darum geht es nicht –, sondern durch Spezialisten, die der Terrorismusbekämpfung immer mehr in eine kata- gleichfalls von manch anderen Ländern zur Verfügung strophale Sackgasse. Einerseits hat sie eine beispiellose gestellt werden. Ich meine, diesen Wunsch dürfen wir militärtechnische Kriegsführungsfähigkeit gegenüber mi- nicht länger beiseite schieben. litärischen Gegnern entwickelt, andererseits findet sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- ihre Grenzen bei asymmetrisch agierenden Gegnern und wie bei Abgeordneten der SPD – Horst beweist zugleich eine bestürzende – das ist ehrlich ge- Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wer stellt denn den meint – Friedensunfähigkeit. Deutlicher denn je erwei- Außenminister, Herr Kollege Nachtwei?) sen sich schnelle Militärinterventionen als Illusion. Drittens. Die große Masse der Bundeswehreinsätze – Wir führen hier eine Diskussion, oder? Gut. dient der Stabilisierung und dem Nation Building. Dass Vom Kongo zu Afghanistan. Am 17. Juni dieses Jah- in den letzten Monaten verstärkt nach Kriterien undres richteten 85 internationale und hoch angesehene Grenzen von Bundeswehreinsätzen gefragt wird, ist be- Nichtregierungsorganisationen einen Aufruf an die Staa- rechtigt. tengemeinschaft, ISAF unter NATO-Kommando auf an- Ich komme zum ThemaKongo. Wider manche Be- dere Regionen auszuweiten. fürchtungen wurde der erste außereuropäische Krisen- einsatz der Europäischen Union in diesen Tagen tatsäch- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: lich abgeschlossen. Gemessen an seinem zeitlich und räumlich begrenzten Auftrag war dieser Einsatz erfolg- Herr Kollege, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des reich. Zumindest in Bunia hörte das Morden auf und die Kollegen Nolting zuzulassen? UN-Truppe MONUC konnte zwischenzeitlich gestärkt werden. Das ist schon ein Erfolg. Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bitte schön, Herr Nolting. Sie wollen wahrscheinlich sowie bei Abgeordneten der SPD) meine Position unterstützen? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5077

(A) Günther Friedrich Nolting (FDP): bauen. Natürlich haben auch kleine Projekte als Gras-(C) Ich habe nur eine ganz kurze Frage. Herr Nachtwei, wurzelprojekte ihre Berechtigung, aber wir brauchen Sie wissen, dass bei diesen Themen, die Sie gerade ange- sichtbare und schnelle Wiederaufbauleistungen. sprochen haben, der Außenminister federführend ist. Ha- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ben Sie denn Ihre Erkenntnisse, die Sie uns gerade nahe sowie bei Abgeordneten der SPD) gelegt haben, auch schon an den Außenminister heran- getragen, der schließlich aus Ihrer Fraktion kommt? Drittens. Wir brauchen in der Tat multinationale Stabi- lisierungskräfte. Hier spräche meiner Meinung nach vieles Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): für eine tatsächliche ISAF-Ausweitung, aber – das ist Aber sicherlich. Bevor ich solche Anregungen hier im schon mehrfach festgestellt worden – die Staatenge- Hohen Hause verkünde, habe ich sie an anderer und ge- meinschaft ist nicht bereit, mindestens 10 000 Soldaten eigneter Stelle platziert. Ich habe sie auch in entspre- oder mehr dorthin zu schicken. Deshalb sind Wiederauf- chenden Kreisen bei der Botschafterkonferenz zur Spra- bauteams die zweitbeste Lösung. che gebracht. Hier gibt es einige Missverständnisse, zum Beispiel dass (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Was hat er die Soldaten direkt zivile Helfer schützen sollten. Darum da gesagt?) geht es gar nicht, auf keinen Fall. Es geht darum, dass et- was Ähnliches wie in Kabul geschieht, nämlich dass Aber Sie werden es sicher begrüßen, wenn ein auch in durch Präsenzpatrouillen und Verbindungsarbeit mit ver- der Koalition immer noch unabhängiger Abgeordneter schiedenen Autoritäten eine Art Stabilitätswindschatten hier sinnvolle Anregungen gibt. Danke schön, Herr geschaffen wird, in dem dann humanitäre Organisatio- Nolting. nen und Nichtregierungsorganisationen in Unabhängig- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN keit und Neutralität, die wichtig ist, arbeiten können. sowie bei Abgeordneten der SPD – Günther Friedrich Nolting [FDP]: Nur leider hört man (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Sind die vom Außenminister nichts!) Leute bewaffnet?) Ausgesprochen gut ist, dass die Bundesregierung Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: nicht ein schwaches Team vorsieht, sondern ein solide Die Freude über sinnvolle Anregungen ist im ganzen ausgestattetes, also sehr kräftiges Team mit deutlichen Hause breit gestreut. Bitte schön. zivilen und polizeilichen Komponenten. Völlig richtig ist auch, dass dieses Team im Rahmen eines erweiterten (B) (D) Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ISAF-Mandates agieren soll. Ich hatte zuletzt den Aufruf der 85 internationalen Eine offene und kritische Frage bleibt allerdings, wie Nichtregierungsorganisationen bezüglich einer ISAF- Stabilisierung und Wiederaufbau in den Paschtunenge- Ausweitung angesprochen. bieten und heißen Krisenprovinzen Richtung Pakistan Im Sommer 2004 sollen in Afghanistan Wahlen statt- geschehen können. Das ist eine Aufgabe der Staatenge- finden, und zwar ausgehend von dem Rahmenkonzept, meinschaft insgesamt. das die internationale Gemeinschaft für Afghanistan sehr In der Öffentlichkeit werden immer wieder Stimmen wohl festgelegt hat. Insofern ist die Forderung nach ei- laut, die eine angebliche Intransparenz und Beliebigkeit nem schlüssigen Gesamtkonzept wohl einem sehr kur- von Entscheidungen der Koalition zu Auslandseinsätzen zen politischen Gedächtnis geschuldet. Wahlen sind also der Bundeswehr kritisieren, gar eine Art Kompensati- das eine, das andere ist die teilweise bedrohliche Ent- onsgeschäft mit Washington – das ist vorhin von dem wicklung der Sicherheitssituation, vor allem in den östli- Kollegen Müller behauptet worden – unterstellen. Das chen und südlichen Provinzen Afghanistans. Diese bei- trifft eindeutig nicht zu. Man muss sich nur einmal die den Entwicklungen und Daten machen es unabdingbar, Situation und die Rahmenbedingungen dieser in Diskus- dass die Staatengemeinschaft ihr Stabilisierungsengage- sion stehenden Einsätze bzw. des Einsatzes in Afghanis- ment über Kabul hinaus ausweitet und verstärkt. tan angucken. Hier lässt sich zusammenfassend feststel- Dafür gibt es aber drei Hebel, nicht nur immer das Mi- len: Die laufenden Einsätze sind dringend notwendig, litärische. Erstens. Die Reform des Sicherheitssektors weil es hier um zentrale, kollektive, europäische und muss angegangen werden. Dabei ist kurzfristig der Auf- deutsche Sicherheitsinteressen geht. Sie sind eindeutig bau der Polizei auf dem Land besonders wichtig undrechtmäßig, weil sie im Auftrag der Vereinten Nationen wirksam. Hier spielt die Bundesrepublik eine besondere geschehen. Sie haben eine Erfolgschance, weil sie zu- Rolle. Wir müssen dafür sorgen, dass das deutsche Poli- mindest in politische Rahmenkonzepte eingebunden zeikontingent deutlich aufgestockt wird. sind, bei denen es natürlich immer wieder Nachbesse- rungsbedarf gibt. Sie sind multilateral und multidimensi- (Beifall des Abg. Alexander Bonde [BÜND- onal, also zivil, polizeilich und militärisch angelegt. Sie NIS 90/DIE GRÜNEN]) sind schließlich leistbar und verantwortbar angesichts ei- Zweitens. Keine Sicherheit ohne Wiederaufbau! Auf gener Kapazitäten und der zu erwartenden Risiken und dem Land ist ein sichtbarer Wiederaufbau dringend er- sie sind von breiter Akzeptanz in Parlament und Gesell- forderlich. Es reicht nicht, nur da und dort etwas aufzu- schaft getragen. 5078 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Winfried Nachtwei (A) Diese Kriterien machen deutlich, warum ein militäri- ren und äußeren Sicherheit ist nicht vorangekommen(C) scher Beitrag der Bundesrepublik Deutschland im Irak und auch für das Parlamentsbeteiligungsgesetz für Aus- nicht zur Diskussion steht, warum wir ihn nicht wollen. landseinsätze liegt noch kein Entwurf vor. Dass Deutschland sehr wohl wichtige Beiträge zur hu- (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE manitären Hilfe, zum Wiederaufbau, zur Polizeiausbil- GRÜNEN]: Da sind wir dran! Kollege Raidel, dung usw. im Irak leisten kann, haben Bundeskanzler Sie kriegen den ganzen Prozess nicht mit!) und Bundesaußenminister zugleich sehr deutlich festge- stellt. – Sie sind vielleicht dran, aber wann werden Sie damit fertig? Danke schön. Dasselbe gilt für ein schlüssiges Reservistenkonzept. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie hätten genügend Zeit gehabt, diese Fragen zu klären und bei der SPD) und entsprechende Entwürfe vorzulegen.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der CDU/CSU) Ich erteile dem Kollegen Hans Raidel, CDU/CSU- Wir alle sind für die Beibehaltung der Wehrpflicht. Fraktion, das Wort. (Jürgen Koppelin [FDP]: Das stimmt doch nicht!) Hans Raidel (CDU/CSU): Herr Minister, Ihre persönliche Haltung in dieser Frage Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und ehrt Sie sehr. Aber hat sie auch Bestand? Das ist eine Herren! Zuerst möchte ich Sie herzlich von Christian Frage, die sich in nächster Zeit stellen wird. Schmidt grüßen. Es geht ihm wieder besser und er hofft, wieder bald bei uns zu sein. Herr Kollege, Sie haben vorhin auf die Bevölkerung verwiesen. Die Bevölkerung vertraut eher uns. In Bayern Verehrter Herr Minister, bei aller persönlichen Wert- beispielsweise wählen uns 60 Prozent der Bevölkerung. schätzung: In Ihrer Bilanz und in Ihrem Ausblick auf die Sie bringen es gerade einmal auf 2 oder 3 Prozent. Wer Zukunft finden sich viele Ankündigungen und fromme ist also in Ihren Augen die Bevölkerung? Ich glaube, Wünsche, die der täglichen Realität in der Außen- und dass wir mit unserer Aussage zur Wehrpflicht in diesem Sicherheitspolitik und vor allem in Fragen der Bundes- Zusammenhang auf der sicheren Seite sind. wehr nicht oder nur bedingt standhalten. DieBundes- wehrreform dümpelt, es fehlt der richtige Drive, zu Herr Minister, Sie schieben wichtige Entscheidungen viele Baustellen sind auch von Ihnen aufgemacht wor- vor sich her. Ihnen fehlen die Mittel, um Entscheidungen (B) den. Vieles ist dabei Stückwerk geblieben. Wir sind alle umzusetzen. Ein Ausrüstungs- und Materialkonzept(D) gespannt, wie Sie Anspruch und Wirklichkeit zusam-fehlt bis heute. Der Generalinspekteur soll es wohl bis menführen wollen. Ende 2003 vorlegen. Unklar bleibt aber, welche neuen Rüstungsprojekte vielleicht noch in diesem Jahr be- Ich möchte mich insbesondere mit den Folgen dieser schafft bzw. realisiert werden können. falschen Haushaltspolitik auseinander setzen. Bis 2006 bleibt der Haushalt gedeckelt. Dieser nominal stagnie- Besonders bedenklich ist –alle Kollegen haben da- rende Haushalt, real aber sinkende Etat, wird die Unter- rauf hingewiesen –, dass Sie die Investitionen für For- finanzierung der Bundeswehr fortsetzen. schung und Entwicklung um weitere 100 Millionen Euro auf den Stand von 1984 senken. Jeder weiß aber, dass wir zur Erfüllung unserer inter- nationalen Verpflichtungen, für die Modernisierung der (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Bundeswehr, für Rationalisierungsaufgaben und für die Bei einem statistischen Vergleich werden Sie das bestä- Attraktivitätssteigerung mehr Haushaltsmittel brauchen. tigt finden. Das In-Aussicht-Stellen für 2007 reicht dabei nicht aus. Damit verspielt Rot-Grün nicht nur die Zukunft und Diesem Haushalt fehlt ein wirkliches Signal für die Technologiefähigkeit der Bundeswehr, sondern auch die dringend notwendige Modernisierung der Ausrüstung der deutschen wehrtechnischen Industrie. Bei der Lek- und der Infrastruktur und den Abbau des Investitions- türe des so genannten Grünen Buches, das Sie, Herr Mi- staus. Rot-Grün verschließt die Augen davor, dass die nister, herausgegeben haben, kann jeder nachvollziehen, Sicherheit unseres Landes und unserer Bürger – auch dass Sie bei diesem Etat neue Vorhaben nur in einem nach Meinung unserer Bündnispartner – mehr Investitio- sehr geringen Umfang quer durch alle Teilstreitkräfte nen erfordert, als Sie zu geben bereit sind. Nach wie vor einleiten können. Der Kollege Austermann ist in seinen ist – das ist die Schwierigkeit bei Ihnen – kein politi- Ausführungen bereits ausführlich darauf eingegangen. scher Wille erkennbar, der Verteidigungspolitik eine grö- ßere Priorität einzuräumen. Deswegen können wir uns Damit – ohne Aufträge und entsprechende Mittel für nicht in der Lage sehen, diesem Haushaltsplanentwurf Forschung und Entwicklung – machen Sie es der wehr- und der mittelfristigen Finanzplanung zuzustimmen. technischen Industrie unmöglich, sich am internationa- len Markt zu behaupten. Bis heute liegen nur die Verteidigungspolitischen Richtlinien vor. Es gibt weder ein verbindliches Weiß- Das Vetorecht ist doch ein Griff in eine uralte Kla- buch der Bundesregierung noch ein tragfähiges Gesamt- mottenkiste. Wer ein Vetorecht platzieren will, muss konzept für die Verteidigung. Die Verzahnung der inne- Geld in die Hand nehmen, weil ein Vetorecht zur Folge Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5079

Hans Raidel (A) hätte, dass Firmen Pleite gehen. Wir brauchen stattdes- solderhöhung ist im Übrigen bereits fünf Jahre her. Wir (C) sen – das wäre konsequent – Planungssicherheit in der haben zwar die ganze Zeit darüber geredet. Aber getan Beschaffungspolitik, eine Harmonisierung der europäi- haben wir nichts. schen Rüstungsexportrichtlinien und eine verstärkte Rüstungskooperation. Über erhoffte Erlöse, Rationalisierungsgewinne und Privatisierungserfolge wurde bereits ausreichend gere- Auf das erheblich gestiegene Finanzrisiko beiAus- det. Ich glaube, dass die angesprochenen Projekte nicht landseinsätzen ist bereits hingewiesen worden. Deshalb das bringen werden, was man sich von ihnen verspricht. nur so viel dazu: Wir haben die große Befürchtung, Herr Wir alle sind zwar der Meinung, dass das der richtige Minister, dass Sie bei künftigen Auslandseinsätzen wie- Weg ist. Aber mittlerweile sind so viele Fehler gemacht der auf den Kosten im Einzelplan 14 sitzen bleiben wer- worden, dass uns allmählich der Glaube an die Richtig- den; Afghanistan lässt grüßen. Was im Irak noch auf uns keit fehlt. Hier wäre eine Nachsteuerung in die Richtung, zukommt, wissen wir zwar nicht. Aber auch hier wird die Herr Kollege Austermann angesprochen hat, drin- wohl der Einzelplan 14 bluten müssen. gend notwendig. Um nicht weiter auf die schiefe Ebene zu geraten, ist (Beifall bei der CDU/CSU) es deshalb erforderlich, endlich einmal die deutsche Si- cherheitsinteressen zu definieren, damit Aufgaben und Eine verantwortliche Sicherheitspolitik wäre es, auch Fähigkeiten wieder in Einklang gebracht werden kön- in schwierigen finanziellen Zeiten die Auszehrung des nen, und für eine angemessene Finanzierung aus demVerteidigungsetats zu stoppen und dem Sicherheitsbe- Gesamthaushalt zu sorgen. Stattdessen werden – oftdürfnis unserer Bürger endlich wieder die notwendige ohne ausreichende politische Konzepte – Aufgaben in Priorität einzuräumen. Jeder weiß doch: Wer an der Ver- NATO und EU im Rahmen der internationalen Friedens- teidigung spart, geht ein hohes Risiko ein. Der Herr Mi- sicherung übernommen, denen die Soldaten immer we- nister hat neulich in Fürth einen Vortrag mit dem Titel niger gerecht werden können. Schon heute sind wichtige „Quo vadis, Bundeswehr?“ gehalten. Herr Minister Teile der Bundeswehr personell überstrapaziert. DasStruck hat festgestellt, dass ein einziges Wort die Ant- deutsche Heer kann mit 35 000 einsatzfähigen Soldaten wort ausmacht: Ausland. Wir sind der Meinung, dass die kaum mehr die Aufgaben schultern; denn durch das Re- Verteidigungspolitischen Richtlinien zu kopflastig sind, volving-Konzept sind rund 28 000 bis 30 000 Soldaten da sie sich zugunsten der Auslandseinsätze und zulasten jeweils gebunden. der Heimatverteidigung sowie der inneren Sicherheit auswirken. Den zukünftigen Hauptlastträgern der Auslandsein- (B) (D) sätze, der DSO und der DLO, fehlt schon heute das (Marianne Tritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Gegen wen wollen Sie denn die Heimat Geld, um die notwendige Ausrüstung zeitgerecht zu be- verteidigen, Herr Raidel?) schaffen. Sie kennen ja die Zeitachse: Erst war von 2006 und dann von 2007 die Rede. Nun spricht man von 2010. Im selben Vortrag kündigte der Minister mit großer Noch offensichtlicher wird die auseinander klaffende Geste an, die wehrtechnische Industrie müsse wissen, er Schere bei einem Soll-Ist-Vergleich. Wenn Sie eine Ka- kaufe nichts, was er nicht brauche. Herr Minister, es serne besuchen, in der hauptsächlich Truppen unterge- wäre schon sehr viel gewonnen, wenn Sie kaufen könn- bracht sind, die im Inland eingesetzt werden, dann wer- ten, was die Bundeswehr braucht. den Sie feststellen, dass die Verantwortlichen nur noch über total veraltetes Gerät verfügen. Der sichtbare Nie- (Beifall bei der CDU/CSU) dergang unserer Armee ist nicht mehr zu beschönigen. Reden Sie mit Kommandeuren und schauen Sie sich ge- Mehr verlangen wir doch überhaupt nicht! Wir verlan- nau an, wie sie leben müssen! Dabei sollten Sie nichtgen nur das Geld, das notwendig ist, um Ihrem eigenen vergessen, dass die Kommandeure nach außen nichtAnspruch zu genügen. über alles berichten dürfen; denn bevor Sie eine Kaserne Strecken, Schieben, Streichen ist weiter an der Tages- besuchen, bekommen alle einen Maulkorb verpasst. ordnung, zulasten der Soldaten, zulasten der wehrtechni- Auch die soziale Lage der Soldaten im Einsatz hat schen Industrie und damit zulasten unserer Sicherheit. sich trotz der vollmundigen Versprechen bis heute nicht Rot-Grün lässt die Bundeswehr über die Haushaltspoli- entscheidend verbessert. Die von uns im Frühjahr imtik austrocknen, um nicht zu sagen: ausbluten. Wir leh- Verteidigungsausschuss besonders unterstützte Neurege- nen diesen Haushaltsentwurf ab, weil von ihm keine po- lung der so genannten Einsatzversorgung für Soldaten sitiven Signale und keine Perspektive ausgehen. im Auslandseinsatz ist noch nicht genügend vorange- Herzlichen Dank. kommen. Das Familienbetreuungssystem der Bundes- wehr im Inland ist personell und materiell noch immer (Beifall bei der CDU/CSU) nicht ausreichend ausgestattet. Die finanziellen Anreize für einen Auslandseinsatz sind gerade für Spezialkräfte wenig attraktiv. Auch die ständigen Versuche, die Zula- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: gen zu kürzen oder sogar ganz abzuschaffen, sorgen Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Merten, nicht für gute Stimmung in der Truppe. Die letzte Wehr- SPD-Fraktion. 5080 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

(A) Ulrike Merten (SPD): (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Dass Sie jetzt in einer Situation, die, bezogen auf den Raidel, ich weiß nicht, welche Kasernen Sie besuchen. Haushalt, insgesamt schwierig ist – wir sind in mannig- (Hans Raidel [CDU/CSU]: Genügend!) faltigen Einsätzen –, von uns verlangen, all das auf ein- mal zu bewältigen, was Sie uns an Problemen hinterlas- Möglicherweise sind es nur bayerische. Ich stelle beisen haben, weil Sie niemandem auf die Füße treten meinen Besuchen jedenfalls nicht fest, dass sich die Sol- wollten, ist eine Unverschämtheit. daten den Mund verbieten lassen. Im Übrigen habe ich noch Augen im Kopf. Das heißt, es ist an mir, genau hin- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zuschauen, um zu erkennen, was ich eigentlich sehen DIE GRÜNEN) möchte. Außerdem kann ich nach dem fragen, worauf es Ich will noch ein paar Worte zum Einzelplan 14 ver- mir ankommt. lieren, den Sie in dieser Debatte wirklich pausenlos Herr Kollege Austermann, zu Beginn möchte ichschlechtreden. Ich will überhaupt nicht verschweigen, noch eine Bemerkung zu Ihren Ausführungen machen. dass der Einzelplan 14 natürlich in einem ganz schwieri- Sie haben hier im Gewand des seriösen Haushaltspoliti- gen haushaltspolitischen Umfeld entstanden ist. Gleich- kers ganz besorgt gefragt, ob wir es uns angesichts die- zeitig sage ich: Wenn man sich ihn genau ansieht, dann ser Haushaltslage überhaupt noch leisten können, ja ob ist der schwierige Weg es überhaupt noch verantwortbar ist, zusätzliche Aus- (Jürgen Koppelin [FDP]: Dann doch wieder in landseinsätze zu beschließen – sofern wir das überhaupt Ordnung?) tun. Sie haben an dieser Stelle vergessen, auf den Wider- spruch zu der relativ forschen Haltung Ihrer Fraktions- der notwendigen nachhaltigen Haushaltskonsolidierung, und Parteivorsitzenden in Fragen des Irakkonfliktes hin- ohne dabei auf gestaltende Politik zu verzichten, deut- zuweisen. Ich hätte es gut gefunden, wenn Sie das getan lich zu erkennen. hätten. (Jürgen Koppelin [FDP]: Nennen Sie mal ein (Beifall bei Abgeordneten der SPD des Beispiel!) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Wollen Sie da auch Wir wissen – Sie wissen das auch –, dass Sie, wie ich noch hin?) finde, außerordentlich unrealistische und auch unseriöse Forderungen stellen. Auch für den Einzelplan 14 kann (B) – Ich will da nicht hin. Das ist keine Frage. und darf es meines Erachtens keine Ausnahme geben,(D) wenn wir die Staatsfinanzen auf Dauer in Ordnung brin- Herr Kollege Austermann, Sie haben beklagt, dass gen wollen. Darauf ist in den Debatten gestern und heute wir es mit einem Ausverkauf der deutschen wehrtechni- mehrfach hingewiesen worden. schen Industrie zu tun haben. Gleichzeitig haben Sie die angestrebte Lösung, die genau dies verhindern soll, an- Wer wollte leugnen – wir tun es nicht –, dass der Weg geprangert. bis 2007 natürlich schwierig bleibt? Erst dann werden wir verantwortlich – ich lege jetzt das Gewicht auf „ver- (Jürgen Koppelin [FDP]: Was?) antwortlich“ – eine deutliche Steigerung der Verteidi- Dazu sage ich Ihnen: Bei HDW, bei den Howaldtswer- gungsausgaben um rund 950 Millionen Euro vorsehen ken –, handelt es sich nicht um einen Verkauf, weil man können. dort nicht rentabel ist und keine Gewinne macht. HDW Mit dem verfügbaren Volumen für 2004, das gegen- ist – natürlich – verkauft und gekauft worden, weil man über 2003 konstant bleibt, und dem, was im Finanzplan dort Gewinne macht. Ladenhüter bleiben in der Regel im bis 2007 vorgesehen ist, kommen wir dem Ziel der Bun- Regal liegen. desregierung, Auftrag, Fähigkeiten und Ausrüstung der Herr Kollege Koppelin, Sie haben ein ähnliches Ar- Bundeswehr und die zur Verfügung stehenden Mittel in gument gebraucht. ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen, einen ganz er- heblichen Schritt näher. Ich wünschte mir auch, es ginge (Jürgen Koppelin [FDP]: Sie machen ja einen schneller. Ich wünschte mir auch, wir hätten mehr Geld Rundumschlag!) zur Verfügung. Aber es geht hier nicht um das Wünsch- – Nun warten Sie einmal ab. – Sie haben in Ihrer Rede bare, sondern um das Machbare. beklagt, dass wir es mit verkorksten Strukturen zu tun Ich will darauf hinweisen, dass die Belastungen ge- haben. Ich will Ihnen dazu Folgendes sagen: Es maggenüber dem Vorjahr nicht kleiner werden. Auf den Be- einiges geben, was verbesserungswürdig ist, was auch trag, den wir für internationale Einsätze aufzubringen bei der Neuorientierung der Bundeswehr nachjustiert haben, hat der Kollege Robbe hingewiesen. Wir beken- werden muss. Das tun wir auch. Aber im Grunde genom- nen uns ganz ausdrücklich – auch das gehört zur Konti- men ist Ihre Klage eine Unverschämtheit: Sie waren in nuität deutscher Außen- und Sicherheitspolitik – zu un- der Verantwortung, als sich das Aufgabenspektrum der serer Verantwortung gegenüber unseren Partnern im Bundeswehr verändert hat, und Sie haben nichts unter- Bündnis und der internationalen Staatengemeinschaft. nommen, um die Strukturen so auszurichten, dass wir diesen Aufgaben gerecht werden können. (Jürgen Koppelin [FDP]: Wissen die das?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5081

Ulrike Merten (A) Aber wir bekennen uns auch zu unserer Verantwor- zum Beispiel der beabsichtigte Abbau der Zahl der Zivil- (C) tung gegenüber den Soldaten, die wir stellvertretend in beschäftigten von circa 135 000 auf dann circa 90 000 die Einsätze schicken. Wir wissen nicht erst seit demlangsamer vorangeht als erwartet. Aber zu Beginn haben Selbstmordanschlag an Pfingsten in Kabul, dass unsere wir ja gesagt: Betriebsbedingte Kündigungen wird es gut 8 000 Soldaten und Soldatinnen, die momentan im nicht geben, der Personalabbau wird sozialverträglich ge- Auslandseinsatz sind, ganz außerordentlichen Gefähr- staltet. Es ist keine Frage, dass Modernität und Effizienz dungen ausgesetzt sind. Das ist mit Einsätzen im Frieden unabdingbar sind, wenn die St reitkräfte noch leistungsfä- nicht zu vergleichen. higer werden sollen. Aber im Mittelpunkt müssen die In- teressen der Beschäftigten stehen. Dies auch gegen den Wir hoffen natürlich – ich denke, ich kann Sie da ein- berechtigten Wunsch, an der einen oder anderen Stelle et- schließen –, dass Unfälle auch in Zukunft, wann immer was schneller voranzukommen, durchgesetzt zu haben, es geht, vermieden werden können. Bei einem Unfall, finde ich richtig. Das möchte ich an dieser Stelle noch der ja immer möglich ist, sollten wir den Soldaten und einmal unterstreichen. Soldatinnen sowie ihren Angehörigen ersparen, sich in einen für sie unerträglichen Rechtsstreit darüber einlas- Ich möchte zum Abschluss zusammenfassen: Dieser sen zu müssen, ob der Unfall im besonderen Auslands- Haushalt leistet einen wichtigen Beitrag zur weiteren einsatz als qualifizierter Dienstunfall zu gelten hat oder Konsolidierung der Staatsfinanzen. Das wichtige Ziel, nicht. In diese Regelung sollten wir auch Soldaten auf unsere Streitkräfte weiter zu modernisieren und Be- Zeit und solche, die freiwillig länger Dienst leisten, ein- triebsstrukturen zu optimieren, bleibt ganz oben auf der beziehen, die zurzeit bei gleichen Einsatzbedingungen Tagesordnung. Wir nehmen unsere Verantwortung, einen schlechter gestellt sind als ihre Kameraden, die den Sta- angemessenen Beitrag bei der Bewältigung internationa- tus des Berufssoldaten haben. ler Krisen zu leisten, außerordentlich ernst. Die Politik der Bundesregierung ist hier wie in den vergangenen Um die Versorgungsleistungen für Soldaten und Jahren von Verlässlichkeit und Kontinuität geprägt. Soldatinnen bei Auslandseinsätzen auszubauen, haben wir einen interfraktionellen Antrag eingebracht, mitein- Entscheidend ist aber auch: Die Soldatinnen und Sol- ander beraten und darüber im Konsens entschieden. Wir daten müssen sich darauf verlassen können, dass sie ihre sind da auf einem guten Weg. Ich finde es gut und rich- Aufgaben sachgerecht und mit dem bestmöglichen tig, an einer solchen Stelle – man hat ja selten die Gele- Schutz versehen erfüllen können. Dies stellt dieser genheit dazu – noch einmal darauf hinzuweisen, dass es Haushalt sicher. Das ist ein ganz wichtiges Signal. Es in wichtigen Fragen des Verteidigungshaushalts durch- geht also letzten Endes um mehr als nur um Geld. Es aus auch einen breiten Konsens geben kann. An dieser geht um die Sicherheit, die unsere Soldatinnen und Sol- daten brauchen. (B) Stelle war das so. (D) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Aber nicht nur in Versorgungsfragen haben wir unse- ren Soldaten und Soldatinnen gegenüber eine hohe Ver- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ antwortung, wenn es um Auslandseinsätze geht, sondern DIE GRÜNEN) auch in der Frage derBetreuung, auch der Betreuung und Begleitung ihrer Familien. Die Familien leiden ja Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: unter den langen Trennungszeiten. Wir haben nur ganz langsam gemerkt, dass die sachgerechte Ausrüstung bei Letzter Redner in der Debatte zum Geschäftsbereich Auslandseinsätzen nur eine Seite ist. Die andere Seite des Bundesministeriums der Verteidigung ist der Kol- ist, dass solche Einsätze in besonderer Weise begleitet lege Thomas Kossendey, CDU/CSU-Fraktion. werden müssen. Ich bin sehr froh, dass wir den Fami- lienbetreuungszentren zusätzliche Planstellen zur Verfü- Thomas Kossendey (CDU/CSU): gung stellen konnten. Wir sind jetzt bei einer Zahl von Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 19 Betreuungszentren angelangt. Angestrebt sind 32, da- Diese Debatte hat es gezeigt – auch die Vertreter der Ko- mit das Netz wirklich flächendeckend ist. Das wird noch alition haben es nicht abgestritten –: Dieser Haushalt ein bisschen dauern. Aber wenn man sich einmal die Ar- steht auf tönernen Füßen. Das beziehe ich nicht nur auf beit in den Betreuungszentren, das hohe Engagement der den Haushalt 2004, wie er dem Parlament jetzt zur Be- dort arbeitenden Soldaten und der ehrenamtlichen Kräfte schlussfassung vorliegt, sondern auch auf die Haushalts- anschaut, dann wird man einsehen, wie wichtig es für die lage insgesamt. Daraus ergeben sich Risiken, in deren Menschen, deren Männer oder Väter im Einsatz sind, ist, Folge nicht Nachbesserungen, sondern eher noch wei- dass sie kurze Wege haben und die Informationen wirk- tere Verschlechterungen zu erwarten sein werden. Diese lich fließen und dass dieses Geld auch in Zukunft gut an- Verschlechterungen werden – wer Rot-Grün kennt, weiß gelegt ist. das – im Wesentlichen zulasten der Bundeswehr gehen. Das darf und kann nicht sein. Meine Damen und Herren, im Zuge der Neuausrich- tung wird die Bundeswehr insgesamt kleiner, aber mo- Selbst wenn der Haushaltsansatz bei nominell derner und leistungsfähiger. Wie mutig, aber auch wie 24,4 Milliarden Euro bliebe, hieße das de facto jedes schwierig die Realisierung eines solchen Vorhabens in Jahr ein Minus von real 500 Millionen Euro, wegen des einer Großorganisation wie der Bundeswehr ist, wissen Inflationsausgleichs, wegen der Kosten der internationa- wir nicht erst seit dem Zeitpu nkt, seit dem mit der Umset- len Einsätze, aber auch wegen des Ansteigens der Gehäl- zung begonnen wurde. Natürlich sehen auch wir, dass ter der Soldaten und der Zahl der zivilen Mitarbeiterinnen 5082 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Thomas Kossendey (A) und Mitarbeiter. Der Minister selber hat ja – das ist noch stimmung einiger Minister im Kabinett zum Beispiel zur (C) kein Jahr her – in der Führungsakademie in HamburgFrage der Wehrpflicht nicht zu erreichen gewesen wäre? deutlich gesagt, dass er der Meinung sei, dass er zu we- Lag es vielleicht daran, dass einigen Ministern die nig Geld für die Verteidigung habe. Er hat damals darauf Zustimmung schwer gefallen wäre, weil dort sehr viele hingewiesen, dass er gute Beziehungen zu den Haushäl- positive Worte zum transatlantischen Bündnis, zu unse- tern der Regierungskoalition unterhalte und es ihmrem Verhältnis zu Amerika, zu finden sind? schon gelingen werde, das eine oder andere nachzubes- sern. Nun, verehrter Herr Minister, wie gut es um ihre In Ziffer 32 und 40 lesen wir: „Die USA bleiben für Beziehungen zu den Haushältern bestellt ist, weist dieser die Sicherheit Europas unverzichtbar“ und „Die Transat- Haushalt eindeutig aus. lantische Partnerschaft bleibt Grundlage unserer Sicher- heit.“ Wenn das so ist, Herr Minister, dann frage ich Sie: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Warum haben Sie es zugelassen, dass das Verhältnis zu Amerika im letzten Jahr zum Spielball kleinkarierter Nun hat der Minister in den letzten Monaten einige parteipolitischer Interessen geworden ist? Was haben Sie Sparmaßnahmen angekündigt: Er will Flugzeuge außer persönlich eigentlich in den letzten Monaten unternom- Dienst stellen und er will Schiffe außer Dienst stellen. men, um diese Aussagen in den Verteidigungspoliti- Davon erhofft er sich einen Sparbeitrag. Richtig, das schen Richtlinien mit Leben zu erfüllen? wird eines Tages sicher kommen. Nur, im nächsten Jahr wird uns das nicht helfen, weil bis dahin diese Einspa- (Dr. Peter Struck, Bundesminister: Jeden Tag rungen nicht realisiert werden können. mit Rumsfeld telefoniert!) Hier sind der Minister und letztendlich das gesamte – Danke. Kabinett so realitätsfern, wie es schon bei der Diskus- sion um die Verteidigungspolitischen Richtlinien, die In den Nrn. 43 und 45 lesen wir über die wichtige dann auch in Kraft gesetzt wurden, zu erleben war.Rolle der Vereinten Nationen in den Krisengebieten der Letztendlich, Herr Minister, ist von diesen Verteidi-Welt und dass Deutschland mit substanziellen Beiträgen gungspolitischen Richtlinien nicht viel mehr hängen ge- die Rolle der Vereinten Nationen stärken wolle. Wenn blieben als die Überschrift „Deutschland wird am Hin- das so ist, Herr Minister, warum gab es dann im Irakkon- dukusch verteidigt“. Das ist eigentlich sehr schade; denn flikt von vornherein die Festlegung, dass sich Deutsch- es stehen eine Menge Dinge darin, die eine politischeland unabhängig von der Beschlusslage der Vereinten Diskussion verdient hätten. Nationen an keiner Aktion beteiligen werde? Ich will Ihnen ein Zitat aus dem Weißbuch von 1994 (Rainer Arnold [SPD]: War das falsch?) vorhalten. Darin hat Minister Rühe im Hinblick auf (B) In diesen Wochen und Monaten laufen Sie übrigens(D) deutsche internationale Einsätze geschrieben: Gefahr, diesen Fehler zu wiederholen. Wenn Sie hier der Dabei gilt, dass jeder konkrete Einsatz daraufhin zu FDP vorwerfen, sie hätte sich in Bezug auf Kunduz vor- prüfen sein wird, ob ein politisches Konzept zurschnell festgelegt und das sei politisch unklug, dann gilt Lösung des Konfliktes vorhanden ist und ob derdas umso mehr für Fragen, die im internationalen Be- Einsatz militärischer Mittel geeignet ist, zur Kon- reich von Deutschland zu beantworten sind. fliktbewältigung beizutragen. Es wird auch in je- dem Einzelfall zu prüfen sein, ob die Möglichkeiten Die Vereinten Nationen, Herr Minister, kann man ei- der friedlichen Konfliktlösung ausgeschöpft sind gentlich in zweierlei Hinsicht schwächen. Zum einen und ob es deutschen Interessen und Wertvorstellun- kann man sagen: Was auch immer die beschließen, wir gen entspricht, mit militärischen Mitteln zur Kon- machen es anders, weil es unseren eigenen Interessen fliktbewältigung beizutragen. Es gilt letztlich im- eher entspricht. Das haben Sie den Amerikanern unter- mer, dass Deutschland nie allein, sondern nur mit stellt. Man kann aber auch sagen: Was auch immer die in Verbündeten und Partnern handeln wird. New York beschließen, wir werden uns nicht daran be- teiligen. Das ist die Rolle, die Sie gespielt haben. Wer Viel besser kann man das nicht ausdrücken. Sie hätten praktisch die Vereinten Nationen auf gleiche Weise eigentlich in diesem Punkt das Weißbuch 1994 nehmen schwächt, sollte sich hüten, die Amerikaner dafür zu kri- sollen, vielleicht um einige aktuelle Zahlen ergänzt; tisieren. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das (Beifall bei der CDU/CSU) Datum ändern!) In Ziffer 69 der Verteidigungspolitischen Richtlinien dann wären Sie besser davongekommen als mit diesen können wir lesen, dass die Bundesregierung eine leis- Richtlinien. tungs- und wettbewerbsfähige Verteidigungsindustrie (Beifall bei der CDU/CSU) aufrechterhalten möchte und dass das durch internatio- nale Kooperation gut möglich sein wird. Das hört sich Der Hauptkritikpunkt an diesen Richtlinien ist ausprima an. Aber warum streichen wir dann gerade bei den meiner Sicht, dass sie eigentlich nur für Ihr Ministerium internationalen Rüstungsvorhaben? Das Geeiere um den verbindlich sind. Sie haben es vermieden, im Kabinett A400M ist uns allen noch gut in Erinnerung. Warum pla- und im Parlament darüber eine Debatte und eine Abstim- nen Sie mittlerweile sogar ein Gesetz gegen den Ausver- mung herbeizuführen. Da fragt man sich natürlich: Wo- kauf deutscher Rüstungstechnologie? Mir scheint das ein ran hat das gelegen? Lag es vielleicht daran, dass die Zu- verspäteter Reflex der alten Stamokap-Theorie zu sein, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5083

Thomas Kossendey (A) nach dem Motto: Ein bisschen Sozialismus kann ja ei- Selbst Sie haben inzwischen durch Ihr praktisches Han- (C) gentlich nie schaden. deln eingeräumt, dass es die falsche Art war. (Lachen bei Abgeordneten der SPD) In den Ziffern 75 und 80 der Verteidigungspolitischen Besser wäre gewesen, Sie hätten in der Vergangenheit Richtlinien wird angesprochen, dass die Bundeswehr in dafür gesorgt, dass der Verteidigungsindustrie Zukunft in auch im Inneren eingesetzt werden und einen Deutschland im Interesse einer vernünftigen Ausrüstung veränderten Beitrag zur inneren Sicherheit leisten soll. der Bundeswehr eine verlässliche Perspektive gegeben Dabei bleibt allerdings die Frage offen, in welcher Be- wird. Die Franzosen haben das mit ihrem Programmge- ziehung, wo und vor allen Dingen auf welcher rechtli- setz hervorragend geregelt; wir hinken da hinterher. chen Basis ein veränderter Beitrag geleistet werden soll. Es muss doch schon nachdenklich stimmen, dass es ei- Unsere Industrie kann sehr wohl mit einem geringe- nes verwirrten Hobbypiloten bedurfte, um den Innen- ren Verteidigungshaushalt leben, wenn er denn verläss- minister darauf aufmerksam zu machen, dass wir hier lich ist und ihr Planungssicherheit gibt – auch zum Er- dringend eine gesetzliche Regelung brauchen. Ich halt der Arbeitsplätze und zum Erhalt des technischen glaube, wir sind uns einig, dass das Gesetz zur Luft- Know-hows. Hier ist in den letzten Jahren gesündigtsicherheit nur ein erster Schritt sein kann. Auch die See- worden. In dem Verteidigungshaushalt, den Sie heutewege und das Land müssen geschützt werden. vorgelegt haben, sind weitere Sündenfälle programmiert. Dazu gibt es einiges zu sagen. Ich erinnere nur der gu- Die Themen HDW und EADS wurden hier angespro- ten Ordnung halber daran: Wenn unsere Phantom-Jäger chen. Mir ist ein bisschen schwummerig, wenn ich daran in Wittmund aufsteigen, um ein Flugzeug zur Landung denke, was wir im Verteidigungsbereich industriepoli- zu veranlassen, haben sie noch nicht einmal Leuchtspur- tisch alles gemeinsam mit den Franzosen machen sollen. munition, um das dem Piloten jenes Flugzeuges anzuzei- Wer einmal erlebt hat, wie der von Franz Josef Strauß gen. Ihr Vorgänger hat mir damals gesagt, es werde er- initiierte Airbus mittlerweile in Toulouse unter Abspie- wogen, diese anzuschaffen, wenn der Eurofighter in len der französischen Nationalhymne in Dienst gestellt Dienst gestellt werde. Hoffentlich erinnern sich die Ter- wird, der wird nie und nimmer auf die Idee kommen,roristen daran, wenn es einmal hart auf hart kommt. dass dieses Flugzeug seinen Ursprung in Deutschland hatte. Ich möchte ungern erleben, Herr Minister, dass Ich glaube, Sie machen es sich zu leicht, wenn Sie deutsche U-Boote im Mittelmeer ihre Jungfernfahrt ma- glauben, durch das Ausklammern von Problemen und chen. Sorgen Sie also bitte dafür, dass Deutschland,die Negierung der Wirklichkeit Planungssicherheit zu wenn es hier mit den Franzosen eine industriepolitische erreichen. Können Sie sich eigentlich vorstellen, wie die Kooperation eingeht, die Führung in diesem Konsortium Motivation der Soldaten, der Wehrpflichtigen, der Zivil- (B) (D) erhält, damit wir nicht zum guten Schluss auch in diesem bediensteten, der Zeit- und Berufssoldaten aussieht, Fall wieder am Ende der Tabelle stehen! wenn sie im täglichen Dienst viele kleine Übel feststel- len müssen, die man mit wenig Geld beseitigen könnte, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und gleichzeitig in der Zeitung lesen, dass die beiden Da hilft es Ihnen eigentlich auch nichts, wenn VIP-Airbusse in für 155 000 Euro neu gespritzt worden Ziffer 13 beschworen wird, dass Aufgaben und Ausrüs- sind? Es gibt weder einen sachlichen noch einen politi- tungen in ein angemessenesVerhältnis zueinander ge- schen Grund dafür. Wenn dann gesagt wird, es gebe Län- bracht werden sollen. Ehrlicher wäre es gewesen, zuder, in denen das Flugzeug mit der Aufschrift „Luft- schreiben, dass der Auftrag ausgeweitet und die Ausrüs- waffe“ nicht landen könne, weil dadurch bei einigen tung entsprechend der reduzierten Mittel beschafft wer- Leuten komische Gefühle aufkämen, möchte ich gern den soll. Diese Ehrlichkeit fordern sowohl die Soldaten wissen: In welchem konkreten Fall ist das eigentlich pas- als auch wir im Parlament von Ihnen. Da haben Sie noch siert? Ich kenne keinen solchen Fall. Ich glaube, weder einiges nachzuholen. Konrad Adenauer noch Willy Brandt, Richard von Weizsäcker oder Walter Scheel haben darunter gelitten, Sie haben sich hier über das Thema GEBB ausgelas- mit so einem Flugzeug zu fliegen. Zu guter Letzt wird sen. Manches, was Sie eingeleitet haben, gibt den Be- uns vielleicht noch irgendein Land das Gefühl vermit- fürchtungen, die wir vor drei Jahren geäußert haben,teln, es sei besser, wenn unsere Piloten ihre Flugzeuge in Recht. Als Minister Scharping die GEBB eingerichtet Zivil fliegen, weil jemand negativ beeindruckt sein hat, war es eigentlich nicht mehr als eine Versorgungsan- könnte, wenn sie in Luftwaffenuniform aus ihren Flug- stalt für ausgemusterte SPD-Funktionäre. Diesen Punkt zeugen aussteigen. haben wir kritisiert. Die GEBB hat in den Jahren seit ih- rer Gründung mehr Geld verschlungen, als sie einge- Das ärgert die Leute: fünf Jahre keine Wehrsolderhö- bracht hat. hung, in manchen Truppenteilen fehlt es am Notwen- digsten, aber an anderer Stelle wird das Geld mit vollen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Händen zum Fenster hinausgeschmissen. Wenn Sie die Protokolle des Verteidigungsausschus- (Beifall bei der CDU/CSU) ses nachlesen, dann werden Sie feststellen, dass sich nie auch nur einer aus unserer Fraktion gegen den Weg einer Zum Schluss. Die in Ziffer 87 formulierte Forderung, besseren Kooperation mit der Wirtschaft ausgesprochen hervorragend qualifiziertes und motiviertes Personal in hat. Aber die Art und Weise, in der das damals geschah, der Bundeswehr einzusetzen, ist ein frommer Wunsch. entsprach nicht dem, was wir uns vorgestellt haben.Das beginnt damit, dass wir die Kräfte selbst ausbilden 5084 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Thomas Kossendey (A) und guten und geeigneten Nachwuchs finden müssen. den Kollegen Thilo Hoppe, den Sprecher für Entwick-(C) Ich lese Ihnen einmal die Zahlen der Wehrbereichsver- lungspolitik der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, waltung Nord – auch der Kollege Robbe kommt vonrichten, der aus Krankheitsgründen nicht an der Sitzung dort – vor: Im Jahre 2000 hatten wir im mittleren nicht teilnehmen kann. Ich denke, wir alle wünschen ihm, der technischen Dienst 114 Ausbildungsplätze, heute sind es unsere heutige Debatte sicherlich begleitet, gute Gene- 86. Im gehobenen nicht technischen Dienst waren es da- sung. mals 255, heute sind es 136. Bei der Ausbildung zum (Beifall) Verwaltungsfachangestellten hatten wir 267, heute sind es 155. Woher nimmt dieseRegierung eigentlich den Liebe Kolleginnen und Kollegen, immer häufiger und Mut, öffentlich darüber zu schwadronieren, Betriebe mit immer zahlreicher – das hat die Debatten am heutigen Ausbildungsabgaben zu belasten, wenn sie selber über Tag durchzogen – sind die politischen, wirtschaftlichen 10 Prozent der Ausbildungsstellen in diesem Bereichund sozialen Krisen in den Entwicklungsländern, zumal einspart? in zerfallenen Staaten oder in Staaten, die zu zerfallen drohen. Das heißt für die internationale Politik, aber (Beifall bei der CDU/CSU – Dietrich auch für die Entwicklungspolitik: Wir müssen schnell, Austermann [CDU/CSU]: Sehr guter Hin- flexibel und effizient auf veränderte Herausforderungen weis!) reagieren und das mit den langfristigen Aufgaben zu- Wollen Sie den Verteidigungshaushalt vielleicht auchsammenbringen, die uns allen gestellt sind, nämlich die noch mit einer Ausbildungsabgabe belasten? Ich kann Armut zu bekämpfen, die Globalisierung gerecht zu ge- mir eigentlich nicht vorstellen, dass das der tiefere Sinn stalten und die Friedenssicherung voranzubringen. sein soll. Gleichzeitig erkennt die internationale Gemeinschaft Ich kann Sie nur auffordern: Treten Sie endlich den von Tag zu Tag mehr: Wir können Krisen nur bewältigen Marsch in die Realität an, sonst wird die Bundeswehr und Entwicklungserfolge nur dann erreichen, wenn wir Schaden nehmen! Den Aufbruch in eine bessere Zu-als Weltgemeinschaft gemeinsam vorgehen. Wir brau- kunft, Herr Minister, können wir in Ihrem Haushaltsent- chen eine kooperative Politik und müssen die Kräfte wurf nicht finden. Wenn es Ihnen nicht gelingt, hier we- bündeln. Statt eines Rückfalls in Unilateralismus brau- sentlich nachzubessern, dann werden wir diesen Entwurf chen wir eine Renaissance des Multilateralismus. ablehnen, so Leid uns das im Einzelfall auch tun mag. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Schönen Dank. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster Darum geht es. Das spürt jeder Tag für Tag. (B) [SPD]: Ungeprüft! Abgelehnt von der Haus- (D) haltsberatung!) In den Ländern, in denen Regierungen auf Unilatera- lismus gesetzt haben oder noch setzen, muss jetzt die Diskussion darüber geführt werden, dass kein Land, sei Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: es noch so mächtig, die Weltordnung bestimmen kann, Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. sondern dass die Zukunft der multilateralen Weltord- nung gehört. Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes- ministeriums der Verteidigung. Als Erster erteile ich das Ich bin heute Nachmittag von den Vortreffen zurück- Wort der Bundesministerin – – gekommen, die die WTO, die Europäische Union und die Entwicklungsländer in Cancun vor der Konferenz, (Dr. Uwe Küster [SPD]: Herr Präsident, das die heute praktisch zum gleichen Zeitpunkt beginnt, hatten wir gerade!) durchgeführt haben. Die in Cancun stattfindende WTO- – Habe ich „Verteidigung“ gesagt? Ich bitte um Nach- Verhandlungsrunde ist eine Nagelprobe dafür, ob die sicht. Beim Aufrufen der zuständigen Ministerin war ich internationale Gemeinschaft es mit ihren Versprechun- offenkundig auf der richtigen Fährte. gen ernst meint, die sie den Entwicklungsländern in der so genannten Doha-Runde gegeben hat. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Internationale Verteidigung!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Hier wird ein Sachzusammenhang hergestellt, der sich in der Debatte ganz gewiss eindrucksvoll bestätigen wird. Es geht auch um die Frage, ob Entscheidungen getrof- fen werden, durch die die Armut bekämpft wird. Die Wir kommen also zum Geschäftsbereich des Bundes- Weltbank hat zu Recht darauf hingewiesen, dass, wenn minsteriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit die Handelshemmnisse beseitigt würden, die sich heute und Entwicklung. Ich erteile das Wort der Bundesmi- den Entwicklungsländern ellen, st rund 144 Millionen nisterin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- Menschen aus extremer Armut befreit werden könnten. wicklung, Frau Wieczorek-Zeul. Deshalb kommt es sehr darauf an, dass diese Ungerech- tigkeit, die zulasten der Entwicklungsländer heute noch Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für in der Welthandelsstruktur besteht, beseitigt wird. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: 2,7 Milliarden Menschen – das ist fast die Hälfte der Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Menschheit –, die von weniger als 2 Dollar am Tag le- Erstens möchte ich von dieser Stelle aus einen Gruß an ben, stehen vor doppelt so hohen Handelshindernissen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5085

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) und Handelsbarrieren wie die Reichen. Das ist eine dau- war vor anderthalb Jahren dort, zum Ende der Taliban-(C) ernde Diskriminierung vonEntwicklungsländern, die herrschaft, also noch bevor die Regierung Karzai ins endlich beseitigt werden muss. Amt kam. Vor gut zwei Wochen war ich wieder in Ka- bul. Entgegen allen öffentlichen Berichten gibt es doch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ beeindruckende Wiederaufbauleistungen der afghani- DIE GRÜNEN) schen Bevölkerung, die wir nicht kleinreden dürfen. Die Gelegenheit dazu besteht jetzt. Wir fordern die Wichtig ist, was für die Frauen geschehen konnte. Die Beteiligten auf, ihre Verantwortung wahrzunehmen;Frauen haben nun eine Chance auf Ausbildung und die denn eine Globalisierung kann nicht nachhaltig sein, Mädchen können wieder in die Schule gehen. Es gibt so- wenn sie auf einem derartigen Unrecht basiert. Deshalb gar Polizistinnen, was vorher völlig undenkbar gewesen müssen wir Veränderungen zugunsten der Entwicklungs- ist. länder vor allem durch ein Auslaufen von Exportsubven- Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit hat in tionen im Agrarbereich, also durch eine Beseitigung der Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft handelsverzerrenden Subventionen, erreichen. Wir müs- dazu beigetragen, dass in zehn Regionen außerhalb Ka- sen auch Fortschritte erreichen, indem den Entwick-buls Gesundheitszentren und Schulen aufgebaut werden lungsländern ein besserer Zugang zu den Märkten ver- konnten. Diese große Leistung gewährleistet, dass nach schafft wird. über 20 Jahren Bürgerkrieg, Zerstörung und Gewalt die Ich bin in Cancun mit Vertretern von vier westafrika- Menschen in diesem Land die Chance auf eine gute Zu- nischen Staaten – diesen Punkt möchte ich besonders er- kunft haben. wähnen –, nämlich Mali, Tschad, Benin und Burkina (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Faso, zusammengetroffen. Wir haben gemeinsam einen DIE GRÜNEN) „Cotton Day“ veranstaltet. Die vier Handelsminister die- ser Länder haben dargestellt, wie 10 Millionen Men-Ich habe den Kindern, die ich dort getroffen habe, dieses schen in ihren Ländern vonSubventionen der USA Versprechen gegeben. Wir sollten gemeinsam alles tun, – zumal für ihre großen Farmer im Bereich der Baum- damit dieses Versprechen gehalten wird. Diese Kinder wolle in Höhe von 3,7 Milliarden US-Dollar – betroffen haben es verdient, dass wir uns gemeinsam für ihre Zu- sind, weil sie keine Chance mehr haben, wettbewerbsfä- kunft engagieren. hig ihre Produkte auf dem Weltmarkt abzusetzen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Diese vier Länder wollen keine zusätzliche Entwick- DIE GRÜNEN) lungshilfe. Sie erwarten aber von der WTO – das haben In der Debatte heute Nachmittag ist schon deutlich (B) sie vorgetragen –, dass alle Staaten in gleicher Weise die (D) Spielregeln beachten. Hierdurch wird das Schicksal von geworden, dass sich an dem Erfolg beim Wiederaufbau Menschen mehr bestimmt und ihnen besser geholfen als die Frage entscheidet, ob der Kampf gegen den Terroris- durch allgemeine Erklärungen. mus gewonnen wird. Niemand kann sagen, dass es in an- derthalb Jahren der Fall sein wird. Es bedarf vielmehr (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des dauerhaften Engagements. DIE GRÜNEN) Ich will in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, Deshalb unterstützt die Bundesregierung die so genannte dass die GTZ, unsere Durchführungsorganisation, am Baumwoll-Initiative. Die westafrikanischen Länder wol- heutigen Tag von der Weltbank auf Initiative der afgha- len, dass die entsprechenden Subventionen in anderen nischen Regierung den Auftrag erhalten hat, in Afgha- Staaten auslaufen. Wie gesagt, sie verlangen, dass sich nistan landesweit die dörflichen Strukturen aufzubauen, alle an die Spielregeln halten. Ausbildung und den Wiederaufbau voranzubringen. Das zeigt, wie sehr die deutsche Entwicklungszusammenar- Ich will Ihnen an einem Beispiel einmal aufzeigen, beit und die Arbeit unserer Durchführungsorganisation welches Missverhältnis sich aufgrund derHandels- in diesem Land anerkannt werden. hemmnisse ergeben kann. Mali hat im Jahr 2001 im Rahmen der Entschuldungsinitiative einen Schuldener- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lass in Höhe von 41 Millionen Euro erhalten. Aber die- DIE GRÜNEN) sem Land entsteht ein Verlust bei den Exporterlösen in Höhe von 43 Millionen Euro. Was auf handelspoliti- Ich möchte an dieser Stelle ein Grundsatzproblem an- schem Gebiet an Unrecht besteht, können wir also durch sprechen, das mir auf der Seele liegt. Wenn wir Soldaten finanzielle Hilfe nicht ausgleichen. Deshalb müssenschicken, dann versuchen wir die Voraussetzungen dafür diese Wettbewerbsverzerrungen abgebaut werden. Da zu schaffen, dass sie sich schützen können. Ich danke gebe ich den vier westafrikanischen Ländern Recht. den vielen Menschen, die in solchen schwierigen Situa- tionen ungeschützt alsEntwicklungs- und Aufbau- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ helfer tätig sind. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dieser Punkt muss in der heutigen Debatte erwähnt wer- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der den. CDU/CSU) Wie notwendig gemeinsames Vorgehen auch in ande- Leider ist es nicht mehr so, dass nicht angegriffen wird, ren Regionen ist, zeigt die Situation in Afghanistan. Ich wer ungeschützt ist. Das haben wir erlebt und das lastet 5086 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) mir bei Entscheidungen über solche Fragen auf der Wir haben unsere Zusagen eingehalten. Trotz des(C) Seele. Sparzwangs wächst unser Haushalt, wenn auch nur leicht. Wir halten das 0,33-Prozent-Ziel bis 2006 ein. Ich werbe dafür, den Wiederaufbau und das Engage- Der Plafond wird im Jahr 2007 sogar um 8,4 Prozent hö- ment der deutschen Entwicklungszusammenarbeit inher liegen. Kunduz zu unterstützen. Sie haben das heute im außen- politischen Bereich und auch im Zusammenhang mit Abschließend, liebe Kolleginnen und Kollegen, dem Verteidigungsressort diskutiert. Die Kritik, die ich möchte ich noch darauf hinweisen, dass die Diskussion im Vorfeld gehört habe, bezieht sich nur auf das US-in der Öffentlichkeit nicht immer so geführt wird, wie amerikanische Modell des PRT, bei dem die Militärs den sie hier geführt wird. Ich finde es toll, wenn Sie sagen: zivilen Aufbauhelfern sagen, was gemacht werden soll. Mehr Geld in diesen Bereich! Das ist für uns völlig unvorstellbar. Wir haben ein eige- nes Konzept: Militär und Wiederaufbauhelfer sind ge- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE trennt. Niemand ist dem anderen untergeordnet. Jeder GRÜNEN]: Da sind wir alle dafür!) nimmt seine Verantwortung wahr. An die Adresse derje- Das finde ich Klasse. Ich bedanke mich bei jedem, der nigen, die das grundsätzlich kritisieren, sage ich: Was in das unterstützt. Ich werfe das niemandem vor. Wir wis- Kabul richtig ist – dass die ISAF für ein Klima der Si- sen aber auch, dass es viele im Land gibt, die im Mo- cherheit sorgt, in dem die Wiederaufbauhelfer arbeiten –, ment andere Probleme sehen. An ihre Adresse möchte das kann doch in Kunduz nicht falsch sein. ich sagen: Wir haben natürlich auch in unserem Land Die Nichtregierungsorganisationen leisten eine klasse Probleme zu lösen. Wir dürfen aber unsere Verantwor- Arbeit. Die Welthungerhilfe war in dieser Region schon tung für den Interessenausgleich zwischen den Regionen zu Zeiten tätig, als alle anderen das Land verlassen hat- unserer Erde und für die Überwindung der Kluft zwi- ten. Ich danke ausdrücklich für das Engagement. schen Nord und Süd nicht vernachlässigen. Diese The- men sind für die Zukunft und für die Sicherheit von gro- Es wird niemand für irgendein Konzept vereinnahmt. ßer Bedeutung. Die Agenda 2010 und die Bekämpfung Aber ich möchte, dass verstanden wird: Es geht darum, der globalen Armut, also der Aktionsplan 2015, sind im auch in dieser Region zur Stabilität beizutragen. WirÜbrigen zwei Seiten einer Medaille: der Zukunftsfähig- müssen doch ein eigenes Interesse daran haben, dass ein keit einerseits unseres Landes, andererseits aber auch in- gemäßigtes, selbstbestimmtes Afghanistan erwächst, das ternational. positiv auf andere Länder in der Region wirkt. In diesem Sinne bedanke ich mich für die Unterstüt- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zung und hoffe, dass wir gemeinsam in den Fragen, die (B) DIE GRÜNEN) uns doch allen am Herzen liegen, im Sinne der Gerech- (D) tigkeit und im Sinne der Chancen der Menschen in den Ein Schwerpunkt wird die Demobilisierung von Sol- Entwicklungsländern die Arbeit voranbringen. daten sein. Denn wenn die Reform der Streitkräfte vo- rankommen soll, dann muss demobilisiert werden. Dann Vielen Dank. braucht es auch Zukunftsperspektiven, „Cash for Work“ zum Beispiel. Der Aufbau in ländlichen Regionen soll (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dazu beitragen, Zugang zu sauberem Trinkwasser zu DIE GRÜNEN) schaffen. Die Gesundheitszentren sollen die dramatisch hohe Müttersterblichkeit zurückdrängen. Diese Aufga- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ben sind so wichtig für die Zukunft dieses Landes, dass Nächster Redner ist der Kollege Jochen Borchert, sich unser Engagement lohnt. CDU/CSU-Fraktion. Wir möchten uns in dieser Region mit etwa 50 zusätz- (Beifall bei der CDU/CSU) lichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Entwick- lungszusammenarbeit engagieren. Ein großer Teil wer- den örtliche Fachkräfte sein, mit denen wir gerne und Jochen Borchert (CDU/CSU): gut kooperieren. Ich bitte Sie alle, dieses Konzept des zi- Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol- vilen Wiederaufbaus und eines Klimas der Sicherheit zu legen! Frau Ministerin, ich habe mit Interesse Ihren Be- unterstützen. richt zu den WTO-Verhandlungen gehört. Es wäre si- cherlich spannend, darüber intensiver zu diskutieren. Ich Zum Schluss: Es war bei diesem Haushalt schwierig, unterstreiche die Bedeutung, die die WTO-Verhandlun- hohe Steigerungen zu erreichen. gen für die Entwicklungshilfe und für die Entwicklung (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: gerade der ärmsten Länder haben. Ich habe auch mit In- Jetzt geht es zur Sache!) teresse Ihren Bericht über Afghanistan gehört. Wir sind aber in der ersten Lesung des Haushaltes 2004. – Das Schicksal von Menschen ist für mich das Wich- tigste, Herr Brauksiepe. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Mich hätte natürlich vor allem interessiert, wie der Mit- DIE GRÜNEN – Eckart von Klaeden [CDU/ teleinsatz gerade für diese Probleme in Ihrem Haushalt CSU]: Das verbessern Sie aber nicht durch aussieht. Angesichts der Probleme Ihres Haushalts kann Ihre Reden!) ich natürlich verstehen, dass Sie lieber über die WTO Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5087

Jochen Borchert (A) und über Afghanistan reden als über die konkreten Fak- nicht im Haushalt, sondern nur durch einen Kabinettsbe- (C) ten Ihres Haushalts. schluss festgelegt, dass Ihr Kollege Fischer über 80 Mil- lionen Euro aus Ihrem Etat verfügen darf. Aus dem an- Der eingebrachte Etatentwurf zur Entwicklungspoli- gekündigten Abbau von Krisenursachen, aus dem tik für das Jahr 2004 muss auch gemessen werden an den Kampf gegen den Terror durch Kampf gegen die welt- Ankündigungen der rot-grünen Koalition und Ihren An- weite Armut ist in erster Linie ein Kampf mit dem Aus- kündigungen, Frau Ministerin, die in den vergangenen wärtigen Amt geworden. Jahren immer wieder gemacht wurden. Trotz großer Er- klärungen im Koalitionsvertrag von 1998 wurde der Etat (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian des Entwicklungshilfeministeriums im ersten Jahr, 1999, Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So drastisch gekürzt und hat auch mit dem Entwurf für das ein Quatsch!) Jahr 2004 das Volumen von 1998 noch nicht wieder er- reicht. Er liegt immer noch über 100 Millionen Euro un- Dieser Haushalt ist der New Deal gegenüber den Ent- ter dem Ansatz von 1998. wicklungsländern in kleinster Münze. Der Etat 2004 ist gerade vor dem Hintergrund der Auch in einem anderen Bereich der Darstellung der Probleme in Afghanistan und anderen Ländern kein Si- Entwicklungspolitik wird geschönt. Um die deutsche gnal des Aufbruchs; er ist vielmehr ein Etat der Stagna- Entwicklungszusammenarbeit in ein möglichst rosarotes tion. Bei den Risiken, die der Haushalt insgesamt hat, ist Licht zu rücken, verweisenSie immer wieder auf den offen, wie dieser Etat am Ende der Beratungen aussieht. Aufwärtstrend der ODA-Quote, das heißt auf den stei- Mit diesem Entwurf wird die Koalition den Herausforde- genden Anteil der Ausgaben für Entwicklungshilfe am rungen in der Entwicklungspolitik nicht gerecht. Bruttonationalprodukt. (Beifall bei der CDU/CSU) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den Sie erst einmal runtergefah- Diese Herausforderungen sind nach dem 11. September ren haben!) 2001 noch größer geworden. – Ich komme noch darauf zu sprechen, wie er heute tat- Frau Ministerin, in Ihrer Rede zum Haushalt 1999 ha- sächlich ist. – Dieser Anstieg soll das entwicklungspoli- ben Sie erklärt – ich zitiere –: tische Engagement zum Ausdruck bringen. Der Anstieg Die Entwicklungspolitik steht vor der Aufgabe, ge- der ODA-Quote ist aber nicht auf einen höheren Etat des meinsam mit der Außen- und Sicherheitspolitik,BMZ zurückzuführen, sondern auf den Schuldenerlass dazu beizutragen, dass Krisen in der Welt erst über- im Rahmen der so genannten Kölner Schuldeninitiative. (B) haupt nicht entstehen können. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (D) Aber welche Konsequenzen hat die Bundesregierung GRÜNEN]: Das ist doch hervorragend!) daraus für die Entwicklungspolitik gezogen? – Hören Sie noch einen Augenblick zu! – Wird die Nach dem 11. September 2001 hat die Bundesregie- ODA-Quote um den Schuldenerlass bereinigt, dann rung, haben gerade Sie, Frau Ministerin, immer wieder zeigt sich, dass die Quote nicht gestiegen, sondern weiter betont, zum Kampf gegen den Terror gehöre der Kampf gesunken ist. Es besteht die Gefahr, dass die bereinigte gegen die weltweite Armut. In einem Papier der Bun- Quote auf unter 0,20 Prozent absinkt. Das Ziel, bis zum desregierung wurde ihre Bereitschaft zu einem NewJahr 2006 eine ODA-Quote von 0,33 Prozent zu errei- Deal mit den Entwicklungsländern erklärt. Knapp zwei chen, wird mehr und mehr zu einer Utopie. Jahre später ist das Ergebnis des New Deal ein Haushalt der Stagnation. Bei der ersten Lesung des Haushalts 1999 haben Sie, Frau Ministerin, erklärt: Frau Ministerin, es ist weder Ihnen noch der Bundes- regierung gelungen, wenn Sie es denn überhaupt je ge- Mit dem jetzt vorgelegten Bundeshaushalt haben wollt haben, die Bedeutung der Entwicklungspolitik als wir den Abwärtstrend des Entwicklungshaushaltes Eckpfeiler der Sicherheitspolitik und als Politik der Kri- gestoppt und die Grundlage für eine Aufwärtsent- senprävention in der politischen Debatte deutlich zu ma- wicklung geschaffen. chen und im Bewusstsein der Menschen zu verankern. Daraus wurde in den folgenden Jahren bis heute ein im- Nach dem 11. September haben Sie zwar gut 100 Millio- mer weiterer Rückgang der Dotierung des Einzelplans 23. nen Euro aus dem Antiterrorpaket erhalten; heute müs- sen Sie davon allerdings 80 Millionen Euro dem Aus- Der Stellenwert, den die Entwicklungspolitik bei dieser wärtigen Amt zur Bewirtschaftung überlassen. Bundesregierung hat, wird am Anteil des Einzelplans 23 am Bundeshaushalt deutlich. Dieser Anteil ist auch in Wenn die Bundesregierung die Gebote der Haushalts- den Jahren von 1990 bis 1998, also in unserer Regie- wahrheit und -klarheit ernst nehmen würde, dann wären rungszeit, angesichts der finanziellen Herausforderun- diese 80 Millionen Euro nicht im Einzelplan 23, sondern gen der Wiedervereinigung zurückgegangen. Er betrug im Einzelplan 05 etatisiert. Es ist doch das Gegenteil von 1998 aber immerhin noch 1,7 Prozent. Haushaltswahrheit und -klarheit, wenn Mittel, über die Sie nicht verfügen können, in Ihrem Etat veranschlagt (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE werden. Damit das nur niemand merkt, damit die Fas- GRÜNEN]: Um wie viel ist er denn zurückge- sade Ihres Haushalts nicht noch mehr bröckelt, wird gangen?) 5088 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Jochen Borchert (A) – Hören Sie weiter zu! – Im Haushalt 2004 sinkt der An- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) teil des Einzelplans 23 auf 1,5 Prozent und, bereinigt um NEN): die 80 Millionen Euro, erstmals auf unter 1,5 Prozent. Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Anteil des Einzelplans 23 am Gesamthaushalt ist da- Sie müssen heute mit mir Vorlieb nehmen, weil der Kol- mit auf einen Wert zurückgefallen, den er zum letzten lege Thilo Hoppe leider krank ist. Wir haben ihm ja Mal 1965, also vor fast 40 Jahren, hatte. Dies zeigt den schon gute Besserung gewünscht. Stellenwert der Entwicklungspolitik. Ich werde mich bemühen, zunächst zu erklären, Herr (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Kollege Borchert, warum ich glaube, dass Sie vieles ein- Traurig, traurig!) fach nicht verstanden haben. Ernüchternd ist aber nicht nur die allgemein schlechte fi- (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nanzielle Ausstattung der Entwicklungshilfe in Deutsch- NEN und bei der SPD – Zuruf von der CDU/ land, sondern auch die Aufteilung des Einzelplans 23. So CSU: Was?) steigen im Haushalt 2004 die Mittel für die multilaterale Entwicklungszusammenarbeit um über 95 MillionenDie Frau Ministerin hat völlig zu Recht – ich hatte das Euro weiter an, während die Mittel für die bilaterale Ent- auch vorgesehen und wollte mich jetzt eigentlich nur den wicklungszusammenarbeit um 61 Millionen Euro zu-Worten der Frau Ministerin anschließen; aber vielleicht rückgehen. Besonders problematisch ist der Rückgang sage ich doch ein paar Sätze dazu – an den Anfang und – der Mittel für die finanzielle und die technische Zusam- man kann fast sagen – in den Mittelpunkt gestellt, dass menarbeit. Im Bereich der finanziellen Zusammenarbeit das, was im Augenblick in Cancun stattfindet, wesent- reicht der Baransatz gerade noch aus, um die bestehen- lich wichtiger oder sogar noch wichtiger ist als das, was den Verpflichtungen erfüllen zu können. Neue Maßnah- wir heute im Bundestag beraten. men sind nicht möglich. Der Barmittelansatz und die (Lachen des Abg. Jochen Borchert [CDU/CSU]) Verpflichtungsermächtigungen begrenzen den entwick- lungspolitischen Handlungsspielraum sozusagen aufSelbst wenn wir auf diesen Etat, den wir im Zusammen- null. Damit werden die Ziele bei der Armutsbekämpfung hang mit dem Einzelplan 23 diskutieren, die eine oder und der Steigerung der ODA-Quote faktisch aufgegeben. andere Million oder sogar 10 oder 100 Millionen Euro drauflegen würden, ist dies im Vergleich zu der Bedeu- Dieser massive Rückgang der bilateralen Mittel geht tung der Beschlüsse, die dort hoffentlich getroffen wer- zulasten eines klaren Profils der deutschen Entwick-den oder vielleicht auch nicht getroffen werden, von un- lungspolitik. Unser nationaler Einfluss auf die Entwick- tergeordneter Bedeutung. lungspolitik nimmt kontinuierlich ab und immer mehr (B) (D) Mittel werden ohne direkten deutschen Einfluss in den Ich hatte gestern Abend die Gelegenheit, die „Tages- großen multilateralen Fonds eingesetzt. Dabei geht die themen“ zu sehen. Da konnte man verfolgen, dass die spezifische Handschrift der deutschen Entwicklungspo- USA durch ihre Subventionen des Mais erreicht haben, litik verloren. dass sich im Mutterland des Mais, nämlich in Mexiko, Maisanbau heute nicht mehr lohnt. Die Maisbauern ge- Positiv möchte ich beurteilen, dass Sie unseren Vor-hen dazu über, den Mais aus den Vereinigten Staaten zu schlag aufgegriffen haben und den Haushaltstitel „Aktions- kaufen, weil er dort um ein Drittel billiger ist, als sie programm 2015“ in Höhe von 40 Millionen Euro aufgelöst selbst ihn bei niedrigsten Löhnen herstellen können. Wir und die Mittel wieder in die einzelnen Titel integriert haben. wollen ja nicht immer alles auf die Amerikaner schie- Auch ist die Anzahl derDeckungsvermerke zurückge- ben. Das tun wir alle ja ganz gern, weil das so weit weg gangen; das ist erfreulich. Aber für meinen Geschmack ist und wir meinen, wir hätten nicht so viel damit zu tun. gibt es nach wie vor zu viele Deckungsvermerke. (Markus Löning [FDP]: Wir nicht! Frau Ministerin, die Bundesregierung ist aufgefor- Sie tun das gern!) dert, die Entwicklungshilfe nicht nur mit einem Lippen- – Ja, ich mache das auch manchmal. bekenntnis zu unterstützen, sondern den Einzelplan 23 so auszustatten – auch in seinem Anteil am Bundeshaus- Jetzt bleiben wir aber einmal in Europa. Auch darauf halt insgesamt –, dass die Entwicklungspolitik der Bun- hat die Ministern schon früher hingewiesen. In Europa desrepublik Deutschland ihren Teil zum globalen Frie- – zum Beispiel in Bayern – zahlen wir pro Jahr pro den beitragen kann. Mit diesem Etat wirdRindvieh die 913 Dollar. Bundesregierung den Herausforderungen in der Ent- wicklungspolitik nicht gerecht. (Markus Löning [FDP]: Wo ist Frau Künast?) Vielen Dank. – Die ist in Cancun, um das zu ändern. – In Afrika leben die Menschen im Durchschnitt – die meisten liegen weit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- darunter – von der Hälfte dieses Betrages. Das ist nicht neten der FDP) nur eine Ungerechtigkeit, sondern wir machen damit auch ganze Wirtschaften kaputt. Das konnten Sie vor ein paar Tagen in den Zeitungen lesen. In Jamaika beispiels- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: weise, wo es eine blühende Milchwirtschaft gab, ist die Ich erteile das Wort dem Kollegen Hans-ChristianMilchproduktion inzwischen nahezu zusammengebro- Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen. chen, weil in Europa, in Deutschland das Milchpulver so Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5089

Hans-Christian Ströbele (A) billig und hoch subventioniert hergestellt wird, dass wir Sie müssen alles zusammen betrachten. Sie müssen(C) es dorthin liefern. Die Menschen dort können die Milch sich fragen: Was leisten die Länder? Was leisten andere nicht zu dem Preis herstellen, den sie für deutschesOrganisationen? Was leistet das AA? Was wird bei ande- Milchpulver zahlen. Das ist ungerecht. ren Haushaltstiteln in diesem Zusammenhang geleistet? Das alles müssen Sie zusammenfassen; darauf kommt es Herr Kollege Ruck, ich habe heute ein Interview mit an. Ich gebe Ihnen Recht, dass man hier nicht genug tun Ihnen in einer Zeitung gelesen, in dem Sie sagen, dass kann. Sie dürfen den Einzelplan 23 aber nicht alleine se- die Globalisierung auch gewisse Risiken birgt. Nein, hen, sondern Sie müssen ihn im Zusammenhang be- ich sage Ihnen: Die heutige Globalisierung ist zutiefst trachten. Ich denke, hier sieht es inzwischen viel besser ungerecht. Das ist nicht nur ein Risiko. Ganze Volks-aus als zu der Zeit, als Sie aufgehört haben, zu regieren. wirtschaften, wie zum Beispiel die in Jamaika, sind durch die ungerechten und unfairen Austauschbedingun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen ruiniert worden. Deshalb gehört in einer Rede zum und bei der SPD – Jochen Borchert [CDU/ Haushalt über die Entwicklungszusammenarbeit dieser CSU]: Zahlen anschauen!) Punkt auch an die erste Stelle. Hier müssen wir bei den USA, in Europa und auch in Deutschland ansetzen und Nun komme ich zu diesem Etat. Ich war auch in der etwas ändern. letzten Legislaturperiode im AwZ und ich habe in allen Diskussionen – auch in den internen mit Vertretern der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN anderen Ressorts und mit unseren Haushältern – keinen und bei der SPD) Hehl daraus gemacht, dass ich es für grundfalsch halte, dass aufgrund der Sparnotwendigkeiten jetzt und in den Wenn wir das nicht tun, dann kommen wir nicht zu ge- früheren Jahren auch bei esem di Etat gespart werden rechten Austauschverhältnissen. Dann könnten wir hier muss. Ich habe mich dagegen gewehrt, aber wir konnten 1 Million Euro und dort 50 Millionen Euro mehr für die es nicht ändern. Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung stellen – es würde verpuffen und letztlich nicht wirken. Deshalb ist Sie wissen ja, dass die Bundesregierung angetreten das so wichtig und deshalb haben wir auch mehrereist, um endlich die Schulden, die Sie gemacht haben, zu Minister nach Cancun geschickt. senken. (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Da sind wir (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) ja auf die Ergebnisse gespannt!) Deswegen musste leider auch dieser Etat bluten. Das hat (B) Die Haushaltsrede von Renate Künast ist vorgezogen mir immer wehgetan. Ich war einer derjenigen, die im- (D) worden, damit sie heute dort sein kann. Sie muss ver- mer wieder – auch schriftlich – vorstellig geworden sind, suchen, das Werk weiterzuführen, das sie begonnen hat. um dort eine Verbesserung zu erreichen. Ich bin zwar skeptisch, aber ich hoffe, dass dabei etwas herauskommt. Wir alle müssen daran weiterarbeiten. Sie sagen, Sie haben das damals mit kritisiert. Dann seien Sie doch jetzt ein bisschen zufriedener damit, dass (Markus Löning [FDP]: Nicht „wir alle“, Sie wir in diesem Jahr zum ersten Mal die Kurve genommen stellen doch die Regierung!) und langsam wieder in die andere Richtung fahren. Nun komme ich zu Ihrem zweiten Irrtum. Sie stellen (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Bei der es hier so dar, als ob es allein darauf ankommt, dass der Verschuldung?) Einzelplan 23 möglichst hoch dotiert ist. Das ist für Sie das Wichtigste; dort schauen Sie hin. Anhand dieser Schauen Sie sich an, was wir der Bevölkerung und Zahlen stellen Sie fest, was diese Bundesregierung für den anderen Haushalten, die hier diskutiert worden sind, die Entwicklungszusammenarbeit und für die armenzumuten. Ich denke, dies ist ein kleines Zeichen. Es wird Länder auf dieser Welt tut. verstanden, dass wir jetzt mehr für die Stiftungen – auch für Ihre Stiftung –, für die NGOs und für den gesamten (Jochen Borchert [CDU/CSU]: Sie haben es zivilen Bereich tun. doch angekündigt!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Nein. – Ich sage Ihnen: Der Etat ist zwar wichtig – auf und bei der SPD) die Einzelheiten komme ich gleich noch –, wir müssen aber alles zusammen sehen. Was tut die Bundesregie- Ich glaube, dieser zivileBereich betreibt Entwick- rung bzw. die Bundesrepublik Deutschland insgesamt lungspolitik viel näher an den Nöten und Bedürfnissen für die armen Länder des Südens? Hierbei müssen Sie zu der Bevölkerung dort. Das sollten Sie mit uns gutheißen. der Erkenntnis kommen, dass die frühere Bundesregie- Sie sollten auch zur Kenntnis nehmen, dass wir nun zum rung den Anteil der Gelder für die öffentliche Entwick- ersten Mal ein wenig draufgesattelt haben und dass wir lungszusammenarbeit von 0,42 Prozent auf 0,26 Prozent auf diesem Weg weitermachen werden. zurückgeführt hat. Aufgrund der vielen Sparnotwendig- keiten sind wir jetzt langsam – das ist mühsam – dabei, diesen Anteil in diesem Jahr auf immerhin 0,27 Prozent Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: zu erhöhen. Herr Kollege. 5090 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

(A) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (C) NEN): GRÜNEN]: Die haben Recht!) So werden wir im Jahre 2006 auch zu dem Ergebnis Die WTO setzt nämlich einen Rechtsrahmen, der gerade kommen, das wir uns vorgenommen haben, nämlichauch den Entwicklungsländern hilft. Hier gilt es, die 0,33 Prozent zu erreichen. Stärke des Rechts und nicht das Recht des Stärkeren (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN durchzusetzen. Ich vermisse es, dass Sie das einmal mit und bei der SPD – Eckart von Klaeden [CDU/ der entsprechenden Verve vertreten. CSU]: Die Lehr- und Märchenstunde ist zu (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ende! Wenn sie nicht gestorben sind, dann le- der CDU/CSU) ben sie noch heute!) Bundespräsident Rau hat bei einer Rede vor einigen Wochen, ähnlich wie Sie das gemacht haben, Frau Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ministerin, auf die Bedeutung des Handels hingewiesen. Ich erteile das Wort dem Kollegen Markus Löning für Es ist der richtige und entscheidende Ansatz, gerade in die FDP-Fraktion. Cancun über die Bedeutung des Handels zu reden. Wenn wir uns anschauen, welche Länder in den letzten Jahr- Markus Löning (FDP): zehnten erfolgreich gewesen sind, dann werden wir se- hen: Es sind die Länder, die einen vernünftigen Rechts- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herrrahmen gesetzt, ihren Bürgern und Unternehmen ein Ströbele, das, was Sie ausgeführt haben, war sehr inte- halbwegs verlässliches Gerichtswesen und eine verläss- ressant. Sie haben zu Beginn Ihrer Rede, ohne es explizit liche Verwaltung gegeben und auf freien Handel gesetzt zu sagen, das Ziel, die ODA-Quote von 0,33 Prozent je- haben. Sie haben darauf gesetzt, dass ihre Bürger ihre mals zu erreichen, infrage gestellt. Kreativität entfalten und dass durch unternehmerisches (Karin Kortmann [SPD]: Da haben Sie falsch Handeln die Armut bekämpft wird. gehört! – Hans-Christian Ströbele [BÜND- Wir können mit Entwicklungshilfe nie das leisten, NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo denn?) was die Menschen aus eigener Kraft leisten können. Es – Sie haben sehr deutlich gesagt, dass eine vernünftige geht darum, diesen Kräften die Möglichkeit zur Entfal- Handelspolitik wichtiger als die eine oder andere Million tung zu geben. Es ist falsch, in Form einer Weltsozialpo- im Einzelplan 23 ist. Das ist eine sehr interessante An- litik Geld zu verteilen und darauf zu hoffen, dass sich die merkung, weil diese ODA-Quote hier immer sehr hoch Situation verbessert. Man braucht die Initiative der Men- (B) gehalten wird. In der Diskussion wird der ODA-Quote schen vor Ort. (D) im Gegensatz zur Handelspolitik oft zu viel Aufmerk- (Detlef Dzembritzki [SPD]: Das hat Herr samkeit gewidmet. Ströbele sehr schön ausgeführt!) Sie haben geredet, als wären Sie nicht tragendes Ele- Wir brauchen Entwicklung vor Ort. Wir brauchen den ment dieser Bundesregierung. Sie und Ihre Minister sind Willen der Menschen vor Ort. Wir brauchen die Rah- in Verantwortung. Sie können doch nicht die menbedingungen Ab- in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit und schlüsse, die im Agrarrat in Luxemburg gemacht wer- Demokratie in den betreffenden Staaten. Wir brauchen den, kritisieren. Sie und Ihre Ministerin haben sie doch Unterstützung für Staaten, die ihren Menschen Bildung zu vertreten. Ihre Ministerin sitzt zurzeit in Cancun und und Ausbildung und ihrer Wirtschaft freien Handel und kann handeln. Marktwirtschaft ermöglichen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Genau das ist für die Freien Demokraten richtig ver- standene Globalisierung. Wenn es gelingt, diese Gedan- Handeln Sie, Herr Ströbele! Sie reden, als wären Sie in ken nicht nur vorzutragen, sondern in der Dritten Welt in der Opposition. Politik umzusetzen, dann bringt genau das Entwicklung (Jürgen Koppelin [FDP]: Geistig ist er das und bekämpft Armut. auch! – Gegenruf des Abg. Hans-Christian (Beifall bei der FDP) Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da gibt es noch ein paar andere!) Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass es mir bei Ihnen manchmal am entschiedenen Entgegentreten Ich möchte etwas zur WTO sagen, was in der Diskus- gegen Leute mangelt, die genau dies kritisieren. Diese sion bisher etwas zu kurz gekommen ist. Die WTO muss Leute kritisieren mit einem falschen Unterton, dass inter- in Cancun Handlungsfähigkeit beweisen. Es ist außer- nationale Transparenz und Informationsfreiheit zwischen ordentlich wichtig, dass die Staatengemeinschaft zeigt, den entwickelten und den nicht so entwickelten Ländern dass sie in der Lage ist, im Rahmen einer solch großen herrscht. Nur so können sich doch die Gedanken von Konferenz durch internationale Vereinbarungen inter- Freiheit, von Bürgerrechten und Marktwirtschaft verbrei- nationales Recht zu setzen. Ein Rechtsrahmen muss ge- ten und durchsetzen. Das ist Globalisierung und Globali- schaffen werden, der gerade den Schwachen nutzt. Ich sierung bekämpft Armut, wenn sie richtig gestaltet ist. wünsche mir von Ihnen, Herr Ströbele, dass Sie öfter Globalisierungskritikern entgegentreten, die die WTO (Beifall bei der FDP – Detlef Dzembritzki angreifen. [SPD]: Wenn sie richtig gestaltet ist!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5091

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: nicht zu helfen, wenn die Regierung oder das Volk des(C) Möchten Sie eine Zwischenfrage des KollegenLandes nicht selbst den Willen zur Entwicklung haben Ströbele zulassen? und die richtigen Rahmenbedingungen setzen. Viele Länder tun das und diese Länder sollten wir viel Markus Löning (FDP): stärker unterstützen als jene, die das nicht tun und ihren Bitte. eigenen Bürgern die Chance zur Entwicklung verwei- gern. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Vielen Dank. Bitte schön. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: NEN): Das Wort hat nun die Kollegin Karin Kortmann, SPD- Herr Kollege, wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, Fraktion. dass das Beispiel Jamaika, das ich gebracht habe, genau zeigt, dass die Ordnung, die Sie dort einfach einführen Karin Kortmann (SPD): wollen, dieses gerade nicht leistet. Den Jamaikanern können Sie nicht erklären, dass, nachdem 1992 die Welt- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! bank von ihnen gefordert hat, alle Zollschranken zu be- Meines Wissens war es heute Morgen das erste Mal, seitigen, das Ergebnis ist, dass die hoch subventionierten dass ein deutscher Bundeskanzler seine Ausführungen Waren aus Deutschland und den USA dorthin gelangen zur Regierungspolitik, die er im Rahmen der Haushalts- und ihre Wirtschaft ruinieren. Sind Sie mit mir der Mei- beratungen vorstellte, mit Deutschlands Verantwortung nung, dass alle unsere Forderungen nach Transparenz, in der einen Welt begann. Dafür, dass er diese Verant- Offenheit und Zollabbau verlogen sind, solange wir sel- wortung so prominent angesprochen hat, und vor allem ber unsere eigenen Subventionen und Zollschrankenauch dafür, dass sie zu einem wichtigen Leitmotiv der – mit „wir“ meine ich die Länder des Nordens – nicht gesamten Bundesregierung und damit ressortübergrei- zuerst beseitigen? fend geworden ist, dem Leitmotiv nämlich, Freiheit, So- lidarität und Gerechtigkeit in der einen Welt innovativ und verlässlich mitzugestalten, danke ich ihm und vor Markus Löning (FDP): allem auch der Ministerin. Herr Ströbele, ich bin völlig einer Meinung mit Ihnen. (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Kann man (B) Der Unterschied zwischen Ihnen und mir ist, dass Sie an (D) der Regierung sind und handeln können. Tun Sie es; sich dafür etwas kaufen?) handeln Sie in diesem Bereich! – Pscht, Sie sind gleich dran. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Egal, ob wir hier die Begriffe von globaler Struktur- politik, von globaler Politikgestaltung, von Weltinnen- Was haben Sie denn beim Agrarkompromiss ausgehan- politik oder auch von Global Governance verwenden – delt? Das ist zu wenig. Die Übergangsfristen sind zu es geht um die Verantwortung der Staatengemeinschaft, lang, die Subventionen sinken zu langsam. Das Beispiel es geht um die internationalen Vereinbarungen und um Baumwolle, das die Ministerin genannt hat, ist richtig. deren Überprüfung. Aber sie sitzt in der Regierung und kann den Prozess be- einflussen. Sie haben den Einfluss im Ministerrat in Am Beispiel von Cancun wird deutlich, welche Er- Brüssel, sich dafür einzusetzen, dass die Subventionen wartungen und hehre Vorstellungen damit verbunden für Baumwolle gesenkt werden. Tun Sie es! sind. Es bleibt zu hoffen, dass dieses zarte Pflänzchen nicht so schnell wieder vertrocknen wird. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Unabdingbar notwendig ist nach unserem Verständnis Ich möchte zum Schluss noch etwas ansprechen, was die Kooperation mit der Wirtschaft und mit den national manchmal in der Diskussion vergessen wird. Wir müs- und international tätigen Nichtregierungsorganisatio- sen in der Entwicklungspolitik dazu kommen, die nen. Dass sich dabei auf internationaler Ebene auch die Entwicklungsländer stärker in die Verantwortung zu Parlamentarier immer stärker vernetzen, hat beispiels- nehmen. Wenn ein Land nicht rechtsstaatliche Rahmen- weise in der vergangenen Woche die UN-Konferenz zur bedingungen setzt, wenn ein Land die Menschenrechte Bekämpfung der Desertifikation gezeigt. Dass wir dort verletzt, wenn ein Land eine negative Wirtschaftspolitik ein Steering Committee einrichten konnten, belegt, dass betreibt, die wirtschaftliche Entwicklung und damit die die Desertifikation nicht nur die afrikanischen Länder Armutsbekämpfung behindert, dann müssen wir den angeht, sondern dass sie uns auch in Europa betrifft. Die Mut aufbringen, zu sagen, dass es keinen Zweck hat zu Tatsache, dass jedes Jahr eine Fläche wichtigen Bodens, helfen. Wir können nicht mit ein paar Euro Entwick- der zur Ernährung beiträgt, in der Größe von Belgien lungshilfe gegen eine konträre Politik arbeiten. Das zu vernichtet wird, macht deutlich, dass wir dafür eine Ge- sagen, dazu fehlt uns noch zu oft der Mut. Wir sind zu samtverantwortung wahrnehmen müssen. oft von einem schlechten Gewissen getrieben und glau- ben, helfen zu müssen, obwohl eigentlich angesichts der Für uns – darin unterscheiden wir uns sehr, Herr Tatsachen in vielen Ländern gesagt werden muss: Da ist Borchert – ist besonders die Stärkung der europäischen 5092 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Karin Kortmann (A) und multilateralen Entwicklungszusammenarbeit her- Lassen Sie mich zum Schluss noch eines anmerken, (C) vorzuheben, die im Haushaltsentwurf angemessene Be- weil mich Ihr rein bilateraler Ansatz bzw. die Diskussion rücksichtigung findet und die Arbeit der Vereinten Nati- über die ODA-Quote ärgern. Das Center for Global De- onen und der Weltbank – auch durch velopment unseren in Washington und die Zeitschrift „Foreign Exekutivdirektor – sehr erfolgreich unterstützt. Der uns Policy“ haben in diesem Jahr erstmals einen Geberbera- vorliegende Einzelplan 23 unterstützt diesen Politikan- tungsindex von 21 westlichen Geberländern veröffent- satz des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusam- licht. Bewertet wurden nicht nur die Höhe und die Quali- menarbeit und Entwicklung. tät der Hilfeleistungen, sondern es wurden fünf wichtige Themenfelder zentral in den Bewertungskatalog mit auf- Es ist belegbar – das wissen Sie aus den Haushaltsbe- genommen und es wurde geprüft, ob sie den armen Län- ratungen, Herr Borchert –, dass bis zum Jahr 2007 durch dern eher helfen oder schaden. Ich möchte Ihnen diese den jetzigen Haushaltsansatz und vor allem durch diefünf Punkte nennen. mittelfristige Finanzplanung die internationalen Verein- barungen wie auch das 0,33-Prozent-Ziel schrittweise umgesetzt werden. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Jochen Borchert [CDU/CSU]: Daran erinnern Frau Kollegin, darf ich Sie darauf aufmerksam ma- wir Sie!) chen, dass Sie die Punkte im Rahmen Ihrer Redezeit nur schwer im Einzelnen vortragen können? Vielleicht kön- Sie können aus der mittelfristigen Finanzplanung auch nen Sie sich auf die Schlussfolgerung beschränken. Bei ersehen, dass wir bis zum Jahr 2007 eine prozentuale Stei- den Redezeiten ist es immer so, dass einem die Zeit da- gerung um 8,5 Prozent gegenüber dem Haushalt 2003vonläuft. vorgesehen haben. Ich habe aber in allen Beratungen immer wieder da- Karin Kortmann (SPD): rauf hingewiesen, dass das Finanzvolumen an sich noch Lassen Sie mich die Punkte kurz anführen, damit wir kein Gütekriterium ist und wir uns nicht der Illusion hin- endlich von der ODA-Diskussion wegkommen. Es geht geben sollten, dass die Steigerung derODA-Quote be- darum, ob die Offenheit der Grenzen für Importe gege- reits wie der Zaubertrank des Miraculix wirkt und auto- ben ist. Ferner geht es um das Volumen der Direktinves- matisch zur Stärkung der Entwicklungspotenziale in den titionen in ärmeren Weltgegenden, um die Bereitschaft, Partnerländern führt. Migranten aufzunehmen, um das Engagement in Sachen Was wir in der Finanzdiskussion brauchen, ist dieFriedenssicherung und um das ökologische Wohlverhal- Verständigung über die überfälligen Reformen bei Welt- ten. (B) bank und IWF sowie über den wirkungsvollen Einsatz Dadurch – jetzt hören Sie gut zu – wurden erstmals(D) und die Mittelverwendung des Europäischen Entwick- die rein quantitativen Messverfahren durch qualitative lungsfonds. Ich denke, darin stimmen wir überein, Herr Kriterien ersetzt. Nach diesem Ranking – Herr Ruck, le- Brauksiepe. Auch wenn ich Ihren Tonfall nicht immer sen Sie das bitte nach – kommt Deutschland als einziger nachvollziehen kann, glaube ich, dass wir in der Sache G-7-Staat in das obere Drittel und damit auf Platz 6 der weiterkommen. Liste der so genannten Best-Practice-Länder. Das ver- danken wir unserer Ministerin; denn sie verfolgt seit Wir brauchen ferner eine Diskussion über die Über- 1998 eine andere Strukturpolitik und einen anderen Frie- tragung von zusätzlichen und erweiterten Aufgaben, densansatz als den, den Sie, Herr Borchert, gerade eben die das BMZ – beispielsweise beim Wiederaufbau in beschrieben haben und den wir wirklich nicht unterstüt- Afghanistan – zu erfüllen hat. Wenn die Ministerin über zen können. Kunduz redet, bedeutet das mehr Einsatzkräfte, Know- how und einen verstärkten Mitteleinsatz. Wenn es um (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Hilfe für die Menschen im Irak geht, so wissen wir, dass DIE GRÜNEN) es mit dem bisherigen Haushaltsansatz nicht mehr getan ist und dass wir die entsprechenden Ressourcen zur Ver- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: fügung stellen müssen. Ich erteile das Wort dem Kollegen Peter Weiß, CDU/ (Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/ CSU-Fraktion. CSU: Sehr richtig!) (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Ich habe Wir müssen uns aber auch darüber verständigen, die eine Kurzintervention angemeldet!) Verbundfinanzierung zu verstärken, damit es endlich zu einem abgestimmten und fizienteren ef Mitteleinsatz – Jede angemeldete Kurzintervention nehme ich gerne kommt. auf. Zu einer nicht angemeldeten Kurzintervention kann ich schlecht das Wort erteilen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Jetzt hat der Kollege Peter Weiß das Wort. Haushaltsmittel und Marktmittel werden nämlich derzeit noch in getrennten Tranchen gewährt. Unter finanz- wie Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): auch entwicklungspolitischen Kriterien sollte beides zu- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! sammengefasst werden. Wir erleben hier ein Musterbeispiel politischer Rhetorik: Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5093

Peter Weiß (Emmendingen) (A) Wenn einem der eigene Haushalt peinlich ist, redet man Erhalt der natürlichen Umwelt und ihrer Ressourcen.(C) von anderen Themen. Gerade für die Sektorprogramme Bildung, Gesundheit, Wasser sowie Umwelt- und Ressourcenschutz bringt der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Entwurf des Bundeshaushalts 2004 einen zum Teil deut- neten der FDP) lichen Rückgang des deutschen finanziellen Beitrags. Keine Frage, die Welthandelsordnung ist von funda- Aber mit diesem Haushaltsentwurf werden nicht nur fi- mentaler Bedeutung für die Entwicklungschancen der nanziell, sondern auch inhaltlich falsche Akzente ge- Entwicklungsländer. Aber darüber zu reden exkulpiert setzt. nicht, davon zu sprechen, wie es um den deutschen Bei- trag in der Entwicklungszusammenarbeit bestellt ist. (Beifall bei der CDU/CSU) Inhaltlich habe ich Folgendes anzumerken: Selbst Herr Ströbele, auch die Steigerung der Mittel für die wenn es zu den gewünschten Liberalisierungen im Welt- nicht staatlichen Träger der Entwicklungszusammenar- handel käme, hieße das nicht automatisch, dass diebeit wie Kirchen und Stiftungen lässt sich nicht finden. Ärmsten der Armen in allen Entwicklungsländern eine (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Chance bekämen. Dafür sind zusätzliche Maßnahmen GRÜNEN]: Die Kirchen bilden! Die Stiftun- notwendig. Auch darüber muss in einer Haushaltsde- gen bilden!) batte gesprochen werden. Der Grund, warum Sie hier ausweichen, ist, dass derEntwicklungshaushalt 2004 – Nein. Wenn Sie das aufgelöste Aktionsprogramm 2015 nur zum Schein wächst. In Wahrheit nimmt er weiter ab. und die daraus umgelegten Mittel hineinrechnen, werden Rot-Grün ist verantwortlich für einen weiteren Abstieg Sie sehen, dass es sich um ein Nullsummenspiel handelt. der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Das heißt – der Kollege Borchert sagte es schon –, es ist ein Haushalt der Stagnation. Eine Steigerung ist nir- (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der gendwo zu finden. Das ist die Wahrheit. SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Herr Weiß, Sie sind doch (Beifall bei der CDU/CSU) schlauer!) Besonders problematisch ist, dass Sie die Aktions- Im Gegensatz zu den schönen Reden, die hier gehalten möglichkeiten der deutschenstaatlichen Entwick- werden, lügen die nackten Zahlen und Fakten nicht. Selbst lungszusammenarbeit massiv beschädigen. Die Haus- wenn man die im diesjährigen Haushalt integrierten Mittel haltsansätze für den Bereich der finanziellen aus dem so genannten Antiterrorpaket, die Sie weiterhin für Zusammenarbeit – sie wird hauptsächlich über die KfW den Einsatz in Afghanistan bereitstellen wollen – darüber abgewickelt – und für den Bereich der technischen Zu- (B) haben Sie, Frau Ministerin, gesprochen –, mit einrechnet, sammenarbeit – Sie haben die Deutsche Gesellschaft für (D) stellt man fest, dass Sie im neuen Haushalt im Vergleich Technische Zusammenarbeit für ihre Projekte sehr ge- zum alten 92 Millionen Euro verlieren. Hinzu kommt, lobt – werden nicht erhöht, sondern gekürzt. Zusätzlich dass Sie 80 Millionen Euro unter Umgehung des Haus- werden jene 80 Millionen Euro, die Sie an das Auswär- haltsrechts des Parlaments an das Auswärtige Amt ab- tige Amt abführen müssen, aus den Bereichen der finan- führen müssen. ziellen und der technischen Zusammenarbeit abgezogen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Ein Bundesministerium, das seine rechte und seine linke GRÜNEN]: Für was denn?) Hand amputiert, ist ein Torso, aber kein aktionsfähiges Haus mehr. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Dadurch verlieren Sie an finanzieller Schlagkraft. Das können auch Sie in noch so schönen Reden nicht weg- Wenn die FDP, wie ich annehme, in der zweiten und diskutieren. dritten Lesung wieder ihren Antrag aus der Mottenkiste holt, das BMZ in das Auswärtige Amt einzugliedern, Nun haben Sie sich hier noch einmal dazu bekannt, dann werden wir von der CDU/CSU das entschieden ab- dass die Umsetzung desAktionsplans 2015, in dessen lehnen. Mittelpunkt die Armutsbekämpfung steht, ein zentrales Ziel der deutschen Entwicklungszusammenarbeit sei. (Markus Löning [FDP]: Warum denn? Das ist Sie wollen einen substanziellen Beitrag dazu leisten, doch vernünftig!) dass die Zahl der in absoluter Armut lebenden Menschen bis zum Jahr 2015 halbiert wird. Ich frage Sie, Frau Mi- Frau Ministerin, ich muss Ihnen sagen: Mittlerweile lie- nisterin: Findet sich diese inhaltliche Zielsetzung denn fern Sie selbst mit Ihrer Politik und Ihrem Haushalt die im Bundeshaushalt 2004 wieder? Gerade wenn man nur beste Begründung für den FDP-Antrag. begrenzte Finanzmittel zur Verfügung hat, bedarf es zur (Beifall bei der CDU/CSU) Armutsbekämpfung einer klaren Konzentration auf die Instrumente, die vorrangig helfen, Menschen aus einer Frau Ministerin, mittlerweile bin ich der Überzeu- menschenunwürdigen Situation herauszuführen und ih- gung, dass Sie mit der Art und Weise, wie Sie reden und nen Mittel zur Selbsthilfe an die Hand zu geben. sich öffentlich darstellen, einen bedeutenden Platz in der inzwischen 40-jährigen Geschichte des Bundesminsteri- Ein zentraler Ansatzpunkt ist dabei die Bildung, vor ums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- allem die Grundbildung für junge Männer und Frauen. lung einnehmen. Genauso wichtig sind eine verbesserte gesundheitliche Versorgung, der Zugang zu sauberem Wasser sowie der (Zuruf von der SPD: So ist es!) 5094 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Peter Weiß (Emmendingen) (A) Dieser Platz wird Sie aberals diejenige Ministerin aus- Ich möchte mich jetzt dem Thema zuwenden, das der (C) weisen, die die größten öffentlichen Versprechungen ge- Kanzler heute Morgen in die Diskussion eingebracht hat: macht hat und die davon am wenigsten gehalten und ein- Sicherheitspolitik. Damit ist mehr als der militärische gelöst hat. Deswegen lehnen wir den Bundeshaushalt Aspekt gemeint. Wenn man die Sicherheitspolitik be- 2004 ab. trachtet, dann ist festzuhalten, dass Entwicklungspolitik dafür eines der wichtigsten Instrumente ist. Das beginnt (Beifall bei der CDU/CSU – Karin Kortmann schon im Bereich der Prävention, in dem unsere Mög- [SPD]: Wir müssen doch noch gar nicht zu- lichkeiten weit über das Militärische hinausgehen. Wenn stimmen! – Weiterer Zuruf von der SPD: Das darüber gesprochen wird, dass dem Terror der Nährbo- wird doch noch gar nicht beraten!) den entzogen werden muss – das ist seit zwei Jahren im- mer wieder der Fall –, dann können wir selbstbewusst Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: sagen, dass das unser Tagesgeschäft ist. Genau darum geht es bei der Armutsbekämpfung, bei der Förderung Nun hat die Abgeordnete Wieczorek-Zeul um einedes Zugangs zur Bildung, beim Schutz der natürlichen Kurzintervention gebeten, zu der ich ihr hiermit dasLebensgrundlagen, bei der Stärkung der Menschenrechte Wort erteile. und der Zivilgesellschaft, bei der menschlichen Gestal- tung der Globalisierung. Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Wenn man sich vorstellt, dass der amerikanische Prä- Ich will auf die konkrete Frage des Kollegen Löning sident für den Militäreinsatz vom Kongress zusätzlich „Wie können eigentlich vonseiten der Europäischen87 Milliarden Dollar erwartet, dann kann man eben we- Union Subventionen für Baumwolle abgebaut werden?“ gen jener Erkenntnis schon daran verzweifeln, nur eingehen. Es ist realistisch, zu behaupten, dass mein3,8 Milliarden Euro für entwicklungspolitische Maßnah- Vorschlag innerhalb der Europäischen Union umgesetzt men zur Verfügung zu haben. Das ist bitter. Wenn man werden kann. Die USA geben Subventionen in Höhesich vor Augen hält, wie brüchig die Sicherheit im Irak von 3,7 Milliarden US-Dollar und die EU gibt 0,7 Milli- noch ist, dann erkennt man, dass dort inhaltlich mehr be- arden US-Dollar Subventionen. Diese Subventionenwegt werden muss. fließen in zwei EU-Mitgliedsländer: Griechenland und Spanien. Im Herbst wird die Baumwollmarktordnung Ich will die Gelegenheit hier nutzen, einmal darzu- ohnehin beraten. stellen, wie aus entwicklungspolitischer Sicht ein erwei- terter Sicherheitsbegriff aussehen soll. Ich will dafür Jetzt liegen die Regelungen der Entkopplung von der ein Stufenmodell verwenden. (B) Produktsubventionierung vor. Es muss aus meiner Sicht (D) möglich sein, dass die Europäische Union einenDie erste Stufe: kein Krieg, kein Mord und keine will- Schlussstrich in Bezug auf die Subventionierung deskürliche Gewalt mehr. Das wird ohne militärische Hilfe Produktes zieht und die ländliche Entwicklung in den überhaupt nicht machbar sein; aber selbst davon ist der jeweiligen Staaten – das hat sie sich ja auch vorgenom- Irak noch ein ganzes Stück entfernt. men – entsprechend fördert. Wenn das geschieht, dann (Markus Löning [FDP]: Und was heißt das?) wäre der Druck auf die USA sehr viel stärker, dass auch sie in diesem Bereich Konsequenzen ziehen. Das ist ein Die zweite Stufe: Versorgung mit Wasser, mit Nah- ganz konkreter Vorschlag. Ich hoffe, Sie unterstützenrungsmitteln und mit Medikamenten. Erste Ansätze von ihn. Polizei, Verwaltung und Infrastruktur sind nötig. Das schließt ein: funktionsfähige Schulen, Krankenhäuser, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Straßen und Stromversorgung. Wir versuchen, das alles GRÜNEN]: Wie bei der Milchkuh!) mit vereinten Kräften in Afghanistan aufzubauen. Die GTZ hat von der Weltbank den Auftrag erhalten, das we- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: sentlich mit zu gestalten. Das ist genau der Dialog, der Nächster Redner ist der Kollege Detlef Dzembritzki zwischen multilateraler und bilateraler Arbeit entstehen für die SPD-Fraktion. soll. Dass eine funktionstüchtige effektive Durchfüh- rungsorganisation diesen Auftrag bekommen hat, zeigt im Grunde, dass die rein fiskalische Diskussion, wie wir Detlef Dzembritzki (SPD): sie hier geführt haben, nicht ausreichend ist. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Weiß, als Sie hier von der Amputation der linken und der DIE GRÜNEN) rechten Hand sprachen, ist mir durch den Kopf gegan- gen: Entwicklungspolitik hat viel mit Kopfarbeit zu tun. Die dritte Stufe: Bildung und Ausbildung müssen Ich finde, dass die Köpfe des Ministeriums für wirt-wieder zum Tagesablauf gehören. Wir müssen Handel, schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hervorra- Landwirtschaft und Steuersystem funktionsfähig ma- gend eingesetzt worden sind und dass wir gerade in den chen. Politische Strukturen mit Parteien, Wahlen und letzten Jahren wesentliche Beiträge zu einer Strukturver- Medien sollten existieren. Der Justiz- und Verwaltungs- änderung erlebt haben, die zu mehr Effektivität in der apparat muss arbeiten können. Für den Aufbau des Justiz- Zusammenarbeit – ob im bilateralen oder im multilatera- apparats in Afghanistan ist Italien zuständig. Man sollte len Bereich – geführt haben. einfordern – auch öffentlich –, dass die Mittel, die dafür Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5095

Detlef Dzembritzki (A) notwendig sind, zur Verfügung gestellt werden. Auchsolche Sicherheitspolitik wiederum kann nur umfassend (C) das ist eine Leistung, die erbracht werden muss. geleistet werden. Schließlich halte ich hierbei für wichtig, dass der Ich appelliere auch an uns, Herr Präsident, liebe Kol- Austausch mit den Nachbarstaaten und die regionale Zu- leginnen und Kollegen, den Ressort- und Ausschussego- sammenarbeit funktionieren und als normal angesehen ismus zu überwinden, die Notwendigkeit zu übergreifen- werden. Wir sind in diesem Bereich in Südosteuropa in- der Arbeit in diesem Bereich zu erkennen und mehr ternational sehr weit gekommen. Das macht deutlich,kohärente Antworten einzubringen. wie notwendig der multilaterale Ansatz ist. Niemand Vielen Dank. kann sich vorstellen, dass selbst ein Land wie Deutsch- land mit einer so engagierten Entwicklungspolitik – das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gilt sowohl für das Parlament als auch für dieDIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Christian Regierung – in der Lage wäre, diese Aufgabe allein zu Ruck [CDU/CSU]) schultern. Bei der Bedeutung, die das hat, wird es immer darauf ankommen, eine vernünftige multilaterale Zu- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: sammenarbeit zu begründen. Herr Kollege, der Appell ist beim Präsidenten ange- Als vierte und letzte Stufe der Sicherheit definiere ich kommen. Wie das beim Auditorium aussieht, kann ich das, was wir an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ha- nur schwer feststellen. ben. Das ist eigentlich die höchste Stufe, die man bei der Sicherheit erreichen kann. Ich habe noch nicht erlebt, Ich möchte zwischendurch noch gerne einen Hinweis dass von Demokratien Krieg, Zerwürfnisse und Zwie- geben: Mich beeindruckt immer weniger, wenn Redner tracht ausgegangen sind. mit großer Geste ihr Manuskript zusammenpacken. In- zwischen habe ich nämlich immer häufiger die Erfahrung (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Es ist wich- gemacht, dass dies die zweite Hälfte der vorbereiteten tig, das einmal zu sagen!) Rede ankündigt. Bei aller Neigung zur Großzügigkeit muss ich darauf hinweisen, dass die jeweiligen Präsiden- – Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Wenn man sich ten darauf achten müssen, dass die von den Fraktionen diese Maßstäbe vor Augen führt, dann sieht man, wel- festgelegten Redezeiten wenigstens annäherungsweise cher Weg im Irak, aber auch in Afghanistan noch zu- eingehalten werden. rückzulegen ist. Nach diesem fröhlichen Hinweis erteile ich nun als Wenn man sich mit Menschen unterhält, die in Af- letztem Redner in dieser Debatte dem Kollegen Dr. Ralf ghanistan Aufbauarbeit geleistet haben – wir haben das Brauksiepe für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (B) im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und (D) Entwicklung getan –, dann erfährt man, welche Vorstel- lungen die Leute von Sicherheit haben. Man wird sehr Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): schnell begreifen, dass es diesen Menschen darum geht, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! vor Ort ein Sicherheitsgefühl zu haben. Selbst die Dis- Auch der Entwicklungshilfehaushalt ist symptomatisch kussion um beleuchtete Straßen lässt sich auf das Si-für den Gesamthaushalt. Wie die Bundesregierung haus- cherheitsempfinden dieser Menschen zurückführen.haltspolitisch insgesamt vor die Wand gefahren ist, so Dazu gehört, dass Schüler und insbesondere Schülerin- leisten die rot-grünen Entwicklungspolitiker auch mit nen ohne Angst Schulen besuchen können, dass Teil-diesem Haushalt ihren entwicklungspolitischen Offenba- habe am öffentlichen Leben möglich ist, dass manrungseid. keine Angst mehr vor Bomben oder Attentaten haben muss. Dazu braucht es Polizeikräfte. Gerade in der (Beifall bei der CDU/CSU – Brigitte Schulte Ausbildung dieser Kräfte zum Beispiel sind wir auf ei- [Hameln] [SPD]: So ein Quatsch!) nem guten Weg. Weil Sie ja wissen, dass das so ist, reden Sie so wenig Die Menschen wollen Getreide anbauen und Roh-über den Haushalt. Wenn Sie überhaupt über den Haus- stoffe nutzen. Wenn das möglich wird, dann stellt derhalt reden, reden Sie deutlich anders darüber, als es noch Anbau von Drogen nicht mehr die einzige Alternative vor Jahren der Fall gewesen ist. Das wollte ich schon dar, dann gibt es vernünftige Perspektiven. noch einmal in Erinnerung rufen. Ich beziehe mich dabei jetzt gar nicht auf das 0,7-Pro- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: zent- oder das 0,33-Prozent-Ziel. Wenn Sie sagen wür- den, Sie wollten diese Ziele erreichen, wäre das genauso Herr Kollege – – unglaubwürdig, als wenn Sie heute beteuerten, Sie hiel- ten die Maastricht-Kriterium ein. Darum geht es ja ei- Detlef Dzembritzki (SPD): gentlich. Meine Damen und Herren! Herr Präsident! Es kommt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) darauf an, dass wir Perspektiven für ein Leben ohne Angst eröffnen. Wir sehen daher einen wesentlichenSie haben uns hier heute aber auch interessante Erkennt- Maßstab für Sicherheitspolitik darin, wie Menschen ge- nisse präsentiert. So sagten Sie, dass es eigentlich gar holfen werden kann, ihr Haus, ihre Firma und ihre Fa- nicht so sehr darauf ankomme, wie hoch der BMZ-Etat brik zu erhalten sowie ihre Schule zu ertüchtigen. Eine sei. Es wurde gesagt, da gebe es noch anderes, was in die 5096 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003

Dr. Ralf Brauksiepe (A) ODA-Quote einginge. Sie, Herr Kollege Ströbele, haben Insofern freue ich mich schon auf Ihre volle Unterstüt-(C) sogar gesagt, das Ganze sei eigentlich gar nicht so wich- zung unseres Antrages, den wir zu diesem Thema noch tig. zu beraten haben. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Karin Kortmann [SPD]: Da muss ich Sie lei- GRÜNEN]: Habe ich nicht gesagt! Können der enttäuschen!) Sie nachlesen!) Ich will aber doch noch einmal darauf hinweisen, dass Mit dieser Begründung könnten Sie am Ende auch eine es aus unserer Sicht bei der bilateralen finanziellen und Entwicklungspolitik ohne Geld propagieren. Das wäre technischen Entwicklungszusammenarbeit sehr bedenk- im Grunde genommen die logische Konsequenz daraus. liche Fehlentwicklungen gibt. Diesen Hinweis kann man (Beifall bei der CDU/CSU) Ihnen nicht ersparen, auch wenn Sie selber nur ungern über diese Fragen reden. Es gibt manchmal sehr bemer- Wenn Sie es uns nicht abnehmen, dass es wichtig ist, kenswerte Differenzen zwischen der öffentlichen Wahr- auch in diesem Bereich finanziell mehr zu tun, nehmung und der Realität. In der öffentlichen Wahrneh- mung – dazu muss man Ihnen neidlos gratulieren – (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE herrscht gelegentlich immer noch der Eindruck vor, Sie GRÜNEN]: Sehr wichtig!) täten etwas für Umwelt- und Ressourcenschutz sowie für sollten Sie sich doch wenigstens einmal an den von Ih- Bildung. Die wenigsten Menschen in diesem Land ah- nen selbst im Koalitionsvertrag festgeschriebenen An- nen, dass Sie genau in diesen Bereichen die bilaterale sprüchen messen. Allein dann, wenn Sie dem Koaliti- Entwicklungszusammenarbeit am stärksten zurückge- onsvertrag treu bleibenwollten, müssten Sie schon fahren haben. deutlich höhere Anstrengungen in diesem Bereich unter- nehmen. (Jörg Tauss [SPD]: Also, bitte!) (Beifall bei der CDU/CSU) – Die finanzielle Unterlegung dieser Bildungspolitik ist durch Zwischenrufe des Kollegen Tauss nicht zu erset- Jetzt will ich, da der Haushalt inhaltlich ja keinezen. neuen Akzente setzt, über die man hier streiten könnte, noch einmal auf die Frage von bilateraler und multilate- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) raler Entwicklungszusammenarbeit zu sprechen kom- men, die auch die Kollegin Kortmann angesprochen hat. Sie haben eine Rückführung des Ansatzes im Bereich Es steht überhaupt nicht infrage, dass Multilateralismus Bildung von 146 Millionen im Jahr 1998 auf jetzt (B) notwendig ist und die schon erwähnten Exportsubventi- 82 Millionen und im Bereich Umwelt- und Ressourcen- (D) onsprobleme multilateral gelöst werden müssen. Wirschutz von 420 Millionen auf 284 Millionen zu verant- sind in dieser Frage überhaupt nicht auseinander. Nur, worten. Das ist das traurige, das erbärmliche Ergebnis wir legen darüber hinaus Wert darauf, dass die Konse- Ihrer bilateralen Entwicklungszusammenarbeit, das wir quenz nicht sein kann, den Entwicklungsländern zuhier noch einmal feststellen müssen. empfehlen, die Zollmauern zu erhöhen. Vielmehr müs- (Beifall bei der CDU/CSU) sen wir überall auf der Welt entschlossen für den Abbau von Subventionen und Zollschranken eintreten. Wir stimmen sicherlich grundsätzlich auch darin über- ein, dass man dies durch Medienpräsenz allein nicht aus- Aber dabei geht es um etwas völlig anderes als um die gleichen kann. Wir brauchen mehr als nur eine Politik Frage, wo wir in unserer entwicklungspolitischen Zu- des internationalen Katastrophenhoppings. sammenarbeit im bilateralen und im multilateralen Be- reich die Schwerpunkte setzen. Wenn Sie selber von Ih- Wir müssten auch gemeinsam ein Interesse daran ha- rem entwicklungspolitischen Konzept überzeugt wären, ben, dass die Entwicklungspolitik der Verteidigungspoli- müssten Sie auch ein Interesse daran haben, dass Ihr ei- tik nicht nur hinterherläuft. Wir warten noch auf eine genes entwicklungspolitisches Profil deutlich wird. plausible politische Begründung für den vom Bundes- Das ist nun einmal bei multilateraler Entwicklungszu- verteidigungsminister geplanten Einsatz in Kunduz. sammenarbeit sehr viel schwieriger zu entwickeln als bei Hier sind noch jede Menge Fragen offen, die auch das der bilateralen. Von daher ist es schon bemerkenswert, BMZ beantworten muss. Der Hinweis darauf, dass die dass Sie nun mehr Geld für die Weltbank vorsehen, die Region militärisch angeblich relativ sicher ist, kann uns von Ihnen ja so häufig als Ausführungsorgan von US- Entwicklungspolitikern als Begründung nicht ausrei- Politik kritisiert wurde. Ich bin nicht sicher, ob das wirk- chen. lich unser entwicklungspolitisches Profil schärft. Alles in allem genommen halten wir in der Tat eine Sie wissen auch, dass der Etataufwuchs für den euro- Erhöhung des BMZ-Etats politisch für dringend gebo- päischen Entwicklungsfonds nicht notwendig ist, um da- ten, wobei wir keinen Hehl daraus machen, dass wir uns für zu sorgen, dass die zur Verfügung gestellten Mittel nicht so ganz sicher sind,ob Sie höhere Mittel für die auch entwicklungspolitisch effizient abfließen können. Entwicklungszusammenarbeit am Ende wirklich sinn- Durch eine Erhöhung dieses Ansatzes können wir unser voll bewirtschaften würden. eigenes entwicklungspolitisches Profil nicht stärken, wenngleich ich mit Interesse gehört habe, dass wir in- (Lachen der Abg. Brigitte Schulte [Hameln] haltlich offenbar etwa den gleichen Reformbedarf sehen. [SPD]) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5097

Dr. Ralf Brauksiepe (A) Unsere Konzepte dazu und unsere entwicklungspoliti- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) schen Richtlinien liegen auf dem Tisch. Wir fordern Sie Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Der letzte auf, dazu nicht einfach nur platt Nein zu sagen, sondern Redner hat mit dem Zusammenfalten seines Manuskripts sich damit nun endlich einmal ernsthaft auseinander zu zeitgleich seine Rede beendet. Dafür danke ich ihm setzen, herzlich. (Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Das haben wir ja schon!) Ich schließe die Aussprache. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. zum Wohle und im Interesse der Menschen, für die wir hier gemeinsam arbeiten sollten. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- destages ein auf morgen, Donnerstag, den Vielen Dank. 11. September, 9 Uhr. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Die Sitzung ist geschlossen. Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Na ja, dann wollen wir mal gucken!) (Schluss: 19.13 Uhr)

(B) (D)

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 10. September 2003 5099

(A) Anlage zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Carstensen CDU/CSU 10.09.2003 Lensing, Werner CDU/CSU 10.09.2003 (Nordstrand), Peter H. Dr. Leonhard, Elke SPD 10.09.2003 Daub, Helga FDP 10.09.2003 Letzgus, Peter CDU/CSU 10.09.2003* Fritz, Erich G. CDU/CSU 10.09.2003*** Müller (Düsseldorf), SPD 10.09.2003 Dr. Fuchs, Michael CDU/CSU 10.09.2003*** Michael

Goldmann, Hans- FDP 10.09.2003 Pflug, Johannes SPD 10.09.2003*** Michael Rauber, Helmut CDU/CSU 10.09.2003** Dr. Happach-Kasan, FDP 10.09.2003 Christel Schmidt (Fürth), CDU/CSU 10.09.2003 Christian Hartnagel, Anke SPD 10.09.2003 Singhammer, Johannes CDU/CSU 10.09.2003 Heinrich, Ulrich FDP 10.09.2003 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 10.09.2003 Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/ 10.09.2003 DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN Dr. Uhl, Hans-Peter CDU/CSU 10.09.2003 Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/ 10.09.2003 DIE GRÜNEN Weisheit, Matthias SPD 10.09.2003 (B) (D) Hustedt, Michaele BÜNDNIS 90/ 10.09.2003 Dr. von Weizsäcker, SPD 10.09.2003 DIE GRÜNEN Ernst Ulrich

Jonas, Klaus Werner SPD 10.09.2003** Winkler, Josef Philip BÜNDNIS 90/ 10.09.2003*** DIE GRÜNEN Kopp, Gudrun FDP 10.09.2003 Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 10.09.2003* Künast, Renate BÜNDNIS 90/ 10.09.2003 DIE GRÜNEN * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- lung des Europarates Dr. Kues, Hermann CDU/CSU 10.09.2003 ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union *** für die Teilnahme am Parlamentariertreffen der Interparlamentari- Laurischk, Sibylle FDP 10.09.2003 schen Union Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 13 20, 53003 Bonn, Telefon: 02 28 / 3 82 08 40, Telefax: 02 28 / 3 82 08 44 ISSN 0722-7980