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Sendung vom 27.07.1999, 20.15 Uhr

Prof. Dr. Horst Ehmke Bundesminister a.D. im Gespräch mit Werner Reuß

Reuß: Herzlich willkommen bei Alpha-Forum. Zu Gast ist heute Professor Horst Ehmke, Jurist, SPD-Politiker, Bundesminister a. D. und last but not least Krimiautor. Herzlich willkommen, Herr Professor Ehmke. In Ihren Memoiren haben Sie geschrieben: "Ich hatte es schon immer geliebt, mich an Leuten zu reiben, ich brauchte die Reibungswärme, um auf Touren zu kommen." Brauchen Sie diese Reibungswärme heute auch noch und wenn ja, an wem oder was reiben Sie sich noch heute? Ehmke: Natürlich an meiner Frau. Sie ist das erste Opfer, weil ich jetzt ja nicht mehr so viel in der Welt herumkomme, daß ich mich an allen anderen reiben könnte. Reuß: Eduard Neumaier hat einmal geschrieben, wenn Horst Ehmke von der Notwendigkeit einer Handlung persönlich überzeugt gewesen sei, hätte er diese Handlung auch stets vollzogen: "Ohne Rücksicht darauf, ob das seinem Amt, seiner Regierung, seiner Partei oder auch ihm persönlich bekäme." Neumaier nannte dies einen rigorosen Raubbau am eigenen Ansehen. Sind Sie ein purer Gesinnungsethiker? Ehmke: Nein, ganz sicher nicht. Aber es gibt bestimmte Entscheidungen, bei denen man eben bei dem bleiben muß, was man für richtig hält und bei denen man das auch dann vertreten muß, wenn das anderen nicht gefällt. Aber das war damals auch noch eine andere Zeit: Wir lebten noch nicht in dieser Mediengesellschaft, in der man sich sehr stark an den Einschaltquoten oder an Umfrageergebnissen orientiert. In dieser Hinsicht hat sich das geändert. Reuß: Reinhard Mohn, der das Unternehmen „Bertelsmann“ zum Weltunternehmen geführt hat, hat in dieser Sendung einmal gesagt, die Parteien würden von einem Kandidaten zunächst einmal verlangen, daß er die Ochsentour macht – und dann würden sie sich wundern, daß so mancher, wenn er oben angekommen ist, auch wirklich ein Ochse geworden sei. Sie waren ein Seiteneinsteiger bzw. ein "Oben-Einsteiger": Hat Ihnen das innerhalb der Partei eher genützt, oder glauben Sie, daß Sie deswegen eher argwöhnisch betrachtet wurden? Ehmke: Damals war die SPD ein noch viel geschlossenerer Flottenverband, als das heute der Fall ist. Insofern war das damals am Anfang ein Handicap: Man war ein Außenseiter, man gehörte nicht zum Milieu, und man hatte keinen Stallgeruch. Später dann, als es um die Frage ging, wer in der Partei was macht, war es natürlich von Vorteil, wenn man eine sehr gute Ausbildung und dazu noch im eigenen Beruf einen guten Ruf besaß. Das war wirklich von Vorteil. Aber insgesamt war es sicherlich ein Nachteil, die Ochsentour nicht gemacht zu haben, den Stallgeruch nicht zu haben und später – als es innerhalb der Partei um Führungsfragen ging – dementsprechend auch keine Truppen in der Partei hinter sich zu haben. Ich habe eben nie eine Parteikarriere in dem Sinne gemacht, daß ich einmal Bezirks- oder Landesvorsitzender gewesen wäre. Das ist schon ein Unterschied gegenüber jemandem, der wirklich aus der Parteiarbeit heraus in ein Spitzenamt kommt. Reuß: Sie haben als profunder Kenner der SPD einmal von der traditionellen Tendenz weiter Teile dieser Partei zur Machtenthaltung gesprochen. Es gab doch aber auch in der SPD viele Politiker, die ein ganz gesundes Verhältnis zur Macht hatten wie z. B. , oder meinetwegen . Ehmke: Das war ein historisches Urteil. Denn das war doch immerhin eine Partei, die unter Bismarck verfolgt worden war und die das dann mit einem sehr legalen Verhalten abgewehrt hat. Daraus entstammt auch die Tradition, daß Zusammenhalt, Verschwiegenheit und gute Organisation zu den stärksten Waffen der Arbeiterbewegung zählen, um sich gegenüber solchen Anschlägen behaupten zu können. Das ist dann in der Partei lange Zeit so geblieben und auch übertrieben worden. Meiner Meinung nach kann man schon sagen, daß besonders auch der pseudo-revolutionäre Flügel der SPD die Revolution in immer stärkerem Maße - am Anfang nicht, da mag man an Revolutionen schon noch geglaubt haben – als reine Phrase mit sich herumgetragen hat, um zu verdecken, daß man zum einen keine Macht hatte und daß zweitens einige diese Macht auch gar nicht haben wollten. Das ist sicher ein Stück Tradition der alten Arbeiterbewegung gewesen. Aber das ist beides nun verschwunden, denn die Änderung im Verhalten der SPD, also die Entwicklung der SPD zur Volkspartei, hat gewiß auch manche Nachteile mit sich gebracht, aber ganz gewiß auch große Vorteile. Reuß: Ich würde gerne eine Frage stellen, die mir den Übergang zum nächsten Thema ermöglicht, nämlich zu Ihrem Krimi: Was ist für Sie, was ist für Horst Ehmke Politik? Welche Rolle spielt dabei die Macht? Ehmke: Die Politik ist der Versuch, das Leben der Menschen im eigenen Lande, heute auch im sich entwickelnden Europa und mittels der engeren internationalen Beziehungen ebenso in der Welt erträglich zu gestalten: Man soll also das Ziel nicht zu hoch ansetzen. Wir selbst haben ja gute Jahrzehnte hinter uns und wissen oft gar nicht, wie gut wir es haben, obgleich wir doch im Fernsehen täglich vorgeführt bekommen, wie schlecht es die große Masse der Menschen in der Welt hat, sei es nun im Kosovo, im Nahen Osten, in Rußland oder sonstwo in der Welt. Das gestalten zu können, daran beteiligt sein zu können, die eigene Meinung durchsetzen zu können, was am besten ist, um dies zu erreichen: dazu gehört Macht. Die Idee, Politik ohne Macht machen zu können, ist ähnlich schlecht wie die Vorstellung, Musik ohne ein Instrument spielen zu können. Das ist zwar ein schlechtes Beispiel, aber Sie wissen sicherlich, was ich meine. Reuß: Sie haben einen Politkrimi geschrieben, der im Sommer letzten Jahres unter dem Titel "Global Players" erschienen ist. Zur Information unserer Zuschauer würde ich Sie bitten, kurz zu erklären, um was es in diesem Krimi geht. Ehmke: Na, die sollen den lesen – und außerdem ist das sehr kompliziert zu erklären. Nun gut, das Hauptthema ist die organisierte Kriminalität und daß sie nicht aus Sizilien oder vom Mond kommt. Es gibt sie nämlich mitten in unserer Gesellschaft, und man muß sich auch nicht darüber wundern, daß das organisierte Verbrechen in einem gewissen Sinne dieses Prinzip der Profitmaximierung in reinster Form verkörpert, nämlich ohne Rücksicht auf Moral, auf Recht, auf andere Menschen. Man muß sich auch nicht darüber wundern, daß in einer Gesellschaft, die so sehr auf Geld fixiert ist – Gräfin Dönhoff hat das einmal als die Gier nach Beute bezeichnet –, dieses Prinzip auch mit kriminellen Mitteln verfolgt wird. Reuß: Wie viel Autobiographisches und wie viel Echtheit enthält der Krimi? Ehmke: Er enthält in den Figuren nichts Autobiographisches. Er ist auch kein Schlüsselroman, aber hinsichtlich seiner Echtheit würde ich doch behaupten wollen: Das, was ich dort in der Geschichte schreibe, könnte bei uns jeden Tag passieren. Reuß: Inklusive des Attentats auf den Bundesinnenminister? Ehmke: Natürlich. Reuß: In Ihrem Krimi ist die rot-grüne Koalition in Berlin gerade zerbrochen, es regiert eine große Koalition unter Führung der SPD. Der SPD-Kanzler ist gleichzeitig auch Parteivorsitzender, und das höchste Staatsamt haben Sie einer Frau zugedacht, es ist nämlich von einer Bundespräsidentin die Rede. War diese Konstellation in Ihrem Krimi weise Vorausschau, oder war da eher der Wunsch der Vater des Gedanken? Ehmke: Nein, das war sozusagen eine Prognose, die mit der rot-grünen Regierung zum Teil eingetreten ist und die zum anderen Teil hinsichtlich des Bundespräsidenten nicht eingetreten ist, weil dieses Amt nun Johannes Rau bekleidet. Aber wir werden sicherlich auch noch zu einer Bundespräsidentin kommen. Reuß: Einen Ihrer Protagonisten, den für den ermordeten Innenminister nachgerückten Staatssekretär namens Stockmann, lassen Sie in diesem Krimi sagen: "Schon die erste große Koalition im Bund hat gezeigt, daß sie die Mitte der großen Parteien auf Kosten der radikalen Flügel stärkt. Gustav Heinemanns große Verfassungs- und Rechtsreformen sind zusammen mit den aufgeklärten Teilen der Union gemacht worden." Klingt da nicht ein autobiographisches Element an? Ehmke: Es klingt dabei eine Erfahrung mit. Ich bin der Meinung, daß im nachhinein die damalige große Koalition schlecht geredet worden ist. Es ist nicht so, daß ich mich nach einer sehne, denn es ist schon besser, wenn man eine starke Opposition und eine starke Koalition hat, weil das Gegeneinander für die Kritik und das Ausdiskutieren sicherlich fruchtbarer ist. Aber so zu tun, daß das, wenn schon nicht der Untergang des Abendlandes, sondern doch zumindest der Untergang der Demokratie sei, ist falsch. Die damalige Große Koalition hat für diejenigen, die das so hätten haben wollen, manches nicht geschafft - etwa die Änderung des Wahlrechts –, aber sie hat doch auch eine Menge an Problemen vom Tisch gebracht. Insgesamt war das eine Zeit, die uns in einer sehr schwierigen Situation - nämlich beim Ende der und beim Übergang aus der Adenauerzeit – doch einen wichtigen Impuls für die folgenden Jahrzehnte gegeben hat. Diese Epoche ist mit nun abermals zu Ende gegangen, und jetzt fängt man wieder neu an. Man fängt zwar nie wirklich ganz neu an, aber man beginnt nun eben doch mit einem neuen Ansatz und mit neuen - und zwar keinen jungen -, aber doch jüngeren Leuten. Man soll also im nachhinein die Große Koalition nicht schlecht reden: Wir hatten sehr viel Ärger, wir haben manches falsch gemacht und manches auch nicht geschafft, aber diese Große Koalition hat doch auch eine Menge geschafft. Ich bin dagegen, es nicht anzuerkennen, wenn etwas geleistet worden ist. Reuß: Sie hielten es also auch nicht für ein großes Unglück, wenn wir heute eine Große Koalition bekämen? Ehmke: Das weiß ich nicht. Wenn so etwas von der Wahl aufgrund des Ergebnisses erzwungen worden wäre, dann hätte ich das ganz bestimmt befürwortet, denn man kann ja nicht noch einmal wählen lassen nach dem Motto: "Liebe Wähler, macht eure Schulaufgaben richtig, denn wir geben euch vor, was bei der Wahl herauskommen muß." So etwas könnte man ja nicht tun. Wie gesagt, insgesamt ist es günstiger, wenn man eine starke Opposition hat. Das sieht man auch jetzt bereits wieder: Die SPD ist in an die Macht gekommen, aber schon in Hessen läuft die Sache wieder anders. Aus diesem Gegeneinander kommen meist bessere Lösungen, als wenn man so eine große Elefantenherde hat, die sowieso macht, was sie will. Obgleich die Große Koalition in dieser Hinsicht auch kein großes Unglück angerichtet hat. Was hat man nicht alles gesagt und prophezeit, als wir damals die Notstandsgesetze gemacht haben, um das bestehende Notstandsrecht der Alliierten abzuschaffen – was man in der Rückschau meist vergißt hinzuzufügen? Es ist nichts von dem eingetreten, was man damals vorausgesagt hat: Die Große Koalition würde die Demokratie beenden, es würde furchtbar werden, die Meinungsfreiheit würde eingeschränkt werden usw. Wir haben darüber ja auch in den eigenen Reihen eine sehr heftige Diskussion geführt. Darum soll man das auch nicht verteufeln. Aber wie gesagt, besser ist es schon, wenn zwei ungefähr gleichgroße Kräfte gegeneinander stehen. Das schließt ja nicht aus, daß man eben bestimmte Dinge doch zusammen macht. Reuß: Ich würde gerne noch einmal auf Ihren Krimi zurückkommen. Wenn ich richtig informiert bin, ist der zweite Band so gut wie fertig und soll in diesem Jahr noch herauskommen. Ehmke: Richtig. Reuß: Ich möchte Sie doch bitten, uns ein wenig hungrig darauf zu machen: Um was wird es denn dabei gehen? Ehmke: Es geht wieder um organisiertes Verbrechen – weil ich nun einmal gerade bei diesem Thema bin. Es muß aber nicht immer um organisiertes Verbrechen gehen, und es muß auch nicht immer ein Krimi sein. An sich besteht mein Ziel darin, politische Unterhaltung zu schreiben, denn in Deutschland gibt es das kaum. Ich meine nicht diese Talkshows, denn davon haben wir genug. Ich meine die politische Unterhaltung, bei der man gleichzeitig etwas über die Politik und deren Probleme lernt. So etwas gibt es bei uns im Gegensatz zu Amerika, Spanien, Frankreich oder England nicht. Dort gibt es überall wunderbare politische Romane. Ich halte das bei uns für ein Manko. Im nächsten Buch geht es also um zweierlei. Es geht zum einen um die Gefahren der globalisierten und deregulierten Finanzmärkte, und es geht darum, was das organisierte Verbrechen daraus machen kann. Denn das wird ja meist nicht diskutiert, man spricht ja immer nur davon, was rein finanztechnisch schieflaufen kann, wenn die Kapitalanleger dieses oder jenes machen. Man muß sich aber darauf einstellen, daß unkontrollierte Finanzmärkte in einem entsetzlichen Umfang auch mißbraucht werden können. Ich behandle dieses Thema aus Gründen der Einführung des Euros: Das ist quasi meine persönliche Morgengabe zu diesem Anlaß. Reuß: Sie haben die Frage schon fast beantwortet, aber ich würde sie trotzdem gerne noch stellen: Was hat Sie an diesem Genre des Kriminalromans gereizt? War das – ganz offen gesagt – ein bißchen auch Kompensation für die fehlende aktive Politik? Ehmke: Nein, das würde ich nicht sagen. Ich bin da nun einmal raus: Wenn man einmal etwas gemacht hat und das dann aufhört, dann soll man meiner Meinung nach auch wirklich aufhören. Ich halte nichts davon, da dann immer noch hinterherzulaufen und sich zu sagen, daß man da auch noch "mit aufs Bild drauf muß", daß man unbedingt auch noch den eigenen Senf dazu abgeben muß. Wenn ich gefragt werde, dann gebe ich gerne eine Rat, wenn ich mich sehr ärgere, dann schimpfe ich, aber ansonsten bin ich nicht mehr bei den Aktiven und schaue mit mehr oder minder großem Erstaunen darauf, was die da machen. Ich mache für mich etwas anderes, was auch sehr schön ist, denn das Bücherschreiben hat den wunderbaren Vorteil, daß es keine Sitzungen mehr gibt, daß ich keine Mehrheiten mehr brauche und daß ich mich mit niemandem mehr abstimmen muß. Ich bin nun seit 52 Jahren in der SPD: Mein Bedarf an Sitzungen ist für mindestens 150 Jahre gedeckt. Reuß: Ich würde nun gerne dem Menschen Horst Ehmke etwas näher kommen, wenn Sie erlauben. Sie sind am 4. Februar 1927 in Danzig geboren. Ihr Vater, der erste Akademiker in einer Handwerkerfamilie, war zunächst Allgemeinmediziner, dann Chirurg und später auch Leiter einer Privatklinik. Sie haben, wie Sie schreiben, eine sehr liberale Erziehung genossen. Ehmke: Meine Freunde behaupten, ich hätte gar keine genossen! Reuß: Wie sind Sie aufgewachsen, wie war Ihre Kindheit? Ehmke: Es war eine wunderbare Kindheit in Danzig: an der See in einer wunderschönen Stadt, die ich auch jetzt noch oft besuche, weil ich einer Jury angehöre, die in dieser Stadt einen Preis verleiht. Es war, wie gesagt, ein sehr liberales Elternhaus. Ich wurde in einer Atmosphäre erzogen, die eigentlich noch voller Hoffnung war, daß man aus den Schwierigkeiten der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg herauskäme. Das änderte sich dann aber mit den Nazis. Es war nicht so, daß wir unter ihnen besonders gelitten hätten: Mein Vater hatte mit ihnen nichts am Hut – sie mit ihm aber auch nicht –, denn er war Freimaurer. Er war im Ersten Weltkrieg von einem Kriegskameraden in die Freimaurerei gebracht worden. Dafür hat er mich dann allerdings nicht gewinnen können. Reuß: Warum nicht? Ehmke: Das ist mir fremd, und dahinter steckt auch eine bestimmte Erfahrung. Mein Vater war also weder ein Verfolgter noch selbst braun. Aber mit den dann doch beginnenden Kriegsgefahren legten sich natürlich auch ganz schnell die Schatten der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung auf diese Jugend in Danzig. Trotzdem war das im ganzen betrachtet eine sehr schöne Jugend in einem wunderbaren Elternhaus. Reuß: Sie haben gesagt, Ihr Vater war Freimaurer: Haben Sie zu Hause über Politik gesprochen? Ehmke: Wenig, ganz wenig. Aber das lag nicht daran, daß er Freimaurer war, denn das hätte ja auch eher ein Anreiz zum Gegenteil sein können. Statt dessen lag das ganz einfach daran, daß die ältere Generation aus dem Bürgertum – denn mein Elternhaus war ja ein Bürgerhaus – doch erschreckend unpolitisch gewesen ist. Ich glaube, daß es daran mehr gelegen hat als an der Tatsache, daß er Freimaurer geworden war. Reuß: Nach dem Notabitur kamen Sie zum Arbeitsdienst und erlebten dann noch einige schlimme Kriegsmonate. Sie wurden auch verwundet und gerieten in sowjetische Gefangenschaft. Wie haben Sie diese Zeit erlebt, und wie hat sie Sie geprägt? Ehmke: Diese ganze Zeit hat mich sehr geprägt. Es gab für mich eigentlich zwei Denkschulen, als alles vorbei war und man langsam realisierte, was eigentlich geschehen war. Denn als Soldat bekam man doch immer nur einen kleinen Ausschnitt mit – und als so junger Soldat wie ich schon gleich gar. Ich habe danach zuerst einmal das nachgemacht und studiert. Die eine der beiden Denkschulen sagte: Nie wieder so! Und die andere sagte: Ohne mich! Ich gehörte wohl zu der ersten Kategorie. Ich habe mich nämlich von da an sehr mit der Politik beschäftigt. Ich bin auch sehr früh in die SPD und den SDS eingetreten, zusammen mit Helmut Schmidt. Dieser SDS war damals zwar noch sehr SPD-loyal, aber trotzdem sehr lebhaft und wild. Am Anfang war ich in der Partei nicht sehr aktiv, weil ich eine akademische Karriere gemacht habe, aber irgendwann hat dann dieses politische Interesse doch dazu geführt, daß ich in die aktive Politik ging. Reuß: Sie haben 1946 in Flensburg die allgemeine Hochschulreife erworben und danach in Göttingen Jura und Volkswirtschaft studiert. 1947 sind Sie dann in die SPD eingetreten: warum in die SPD und warum machten Sie überhaupt einen Parteieintritt? Ehmke: Ich bin, wie gesagt, der Meinung, daß man sich, anstatt zu glotzen, wie man heute sagt, oder nur zu jammern, als Bürger an dem, was geschieht, aktiv beteiligen soll. In die SPD bin ich eingetreten, weil mich das Studium der Weimarer Zeit zu dem Ergebnis gebracht hat, daß Deutschland Hitler erspart geblieben wäre, wenn man auf die SPD gehört hätte. Denn die SPD hatte sich nicht täuschen lassen und von vornherein gesagt, wer Hitler ist und daß Hitler Krieg bedeutet. Leider hatte man auf die SPD nicht gehört. Und so war es dann eben nach dem Krieg meine Meinung, daß man diese Kraft stärken müsse. Mein Elternhaus war aber eigentlich der Sozialdemokratie fern gestanden: Das war ein bürgerlich-national-liberales Elternhaus gewesen, aber sie haben auch nicht aufgeschrien, als ich ein "Sozi" wurde. Reuß: Es gab und gibt politische Beobachter, die, ähnlich wie Sie das beschrieben haben, meinen, daß Horst Ehmke als Mitglied in der Sozialdemokratie eigentlich ein Mißverständnis sei. Ihre bürgerliche Herkunft sprach ja eher dagegen als dafür: Hätten Sie sich daher auch ein politisches Engagement in der CDU vorstellen können? Ehmke: Nein, das glaube ich nicht. Ich habe eine ganze Menge Freunde in der CDU, und ich halte die CDU genauso wie die SPD für eine wichtige Partei für uns. Ich wäre wohl eher in die damalige FDP gegangen: zu Leuten wie Dehler, Reinhold Maier, Karl-Hermann Flach oder Heuss, die noch wirklich liberal waren. Was dagegen die Leute in der FDP heute sind, weiß man ja nicht so genau. Wie gesagt, bei mir wäre die Alternative wohl eher die frühere liberale FDP gewesen. Reuß: hat Ihnen dann viele Jahre später einmal einen Zettel zugesteckt, auf dem geschrieben stand: "Die SPD ist eine Partei, die sich von den anderen klar unterscheiden will, ohne dabei aufzufallen." Haben Sie das auch so erlebt? Ehmke: Ja, natürlich, oft. Aber dazu muß man natürlich sagen: In einem gewissen Sinne war ich ein akademischer und Egon eher ein journalistischer Außenseiter, und wenn man so von außen kommt, dann sieht man natürlich den Verein, in den man hineingeht, sehr viel deutlicher und auch kritischer. Im Grunde spiegelt das ja nur wider, daß das eine Partei war, die wirklich eine grundsätzlich andere Linie haben wollte, die aber, sobald sie an der Macht war, wußte, daß man eben nie bei Null anfängt und daß man das ganze Land nicht komplett ummöblieren kann. Daher gibt es immer diese Spannung zwischen dem, was man will, und dem Spielraum, den man hat, davon auch etwas zu verwirklichen. Aber das war das damalige Problem. Heute hat man eher das Problem, daß man noch nicht so recht weiß, was man will in der SPD: Dieses Problem hatten wir damals nicht. Statt dessen gab es eben die Problematik, aufgrund derer dieser Zettel von Egon Bahr entstanden war: nach einer heftigen Diskussion, in der Vorschläge von uns keine Mehrheit gefunden hatten. Ein Mitglied des Parteivorstands hat mir diesen Zettel also gewissermaßen zum Trost herüber geschoben. Reuß: 1949/50 kamen Sie als Stipendiat in die USA und studierten an der Universität in Princeton Geschichte und politische Wissenschaften. Wie sind Sie von den Erfahrungen in den USA geprägt worden? War das wichtig für Sie? Ehmke: Ja, unglaublich wichtig. Das war übrigens sehr nett: Ich war mit unter den ersten deutschen Austauschstudenten, es hatte eine Art von Wettbewerb gegeben, und danach gab es die Frage, ob ich nach Harvard oder nach Princeton gehen sollte. Der US-Army-Offizier, der mich das gefragt hatte, hatte jedenfalls von meiner SDS-Mitgliedschaft keine Ahnung, denn er sagte zu mir: "Horst geh' nicht nach Harvard, denn da wimmelt es von Roten." Daraufhin kam ich also nach Princeton. In Harvard nannte man Princeton den Country-Club, denn das war doch eine etwas konservativere, aber doch auch sehr schöne Universität gewesen. Mein Eindruck hatte vor allem mit folgendem zu tun: Erstens kam ich aus dem Krieg, aus der russischen Gefangenschaft und aus dem zerstörten Deutschland dorthin. Es beeindruckte mich sehr, einen solchen Campus zu sehen: Alles war heil. Der Reichtum meinetwegen der Bibliothek hat mich ebenfalls schwer beeindruckt. Eines meiner großen Erlebnisse bestand darin, daß ich unten in der Bibliothek ein Cubicle bekam, so eine kleine "Telefonzelle". Ich konnte mir jedes beliebige Buch aus der Bibliothek holen: Ich mußte als Platzhalter für das Buch nur ein Schild hinstellen, daß das Buch in Cubicle Nummer XY ist, wenn es gesucht wird. Die Vorstellung, daß man einen Studenten selbst an die Bibliotheksbestände gehen läßt, ist für uns heute nicht nachvollziehbar – und war es damals schon nicht. Es gab dort also einen unglaublichen Reichtum an Möglichkeiten. Zum zweiten war es so, daß ich sehr viel in diesem Land gereist bin und auch sehr viel von diesem Land gesehen habe: Ich war ja auch später noch oft drüben. Ich habe ein sehr gutes Verhältnis zu den Amerikanern entwickelt. Ich kenne die Schwächen des Landes schon auch, aber das ist ja wohl so wie bei einer Frau: Man kennt ihre Schwächen und liebt sie trotzdem. Insofern hat Amerika für mich sehr viel bedeutet. Durch diesen Aufenthalt bekam ich wirklich ein sehr positives Verhältnis zu Amerika. Ich konnte dort auch wichtige Erfahrungen machen, die mir später in der Politik sehr geholfen haben. Es ist eben doch sehr gut, wenn junge Leute möglichst früh einmal wirklich für ein oder zwei Jahre rauskommen. Ich war dann später auch noch einmal Assistenz- Forschungsprofessor in Berkeley, also auf der kalifornischen Seite. Insgesamt war das also wirklich ein großer Einschnitt in meinem Leben, der vor allem aufgrund des großen Kontrasts sehr bedeutend war: von der Misere des Kriegs, den Nazis und der Nachkriegszeit plötzlich in eine der Eliteuniversitäten Amerikas zu kommen. Reuß: Als Sie zurückkamen, begann eigentlich relativ rasch eine Art von Doppelkarriere: eine wissenschaftliche und eine politische. 1951 absolvierten Sie das erste und 1956 das zweite juristische Staatsexamen, und bei Professor Rudolf Smend in Göttingen promovierten Sie im Jahr 1952 im Alter von 25 Jahren. Smend war es auch, der Sie auf den politischen Weg brachte: Er hat Sie mit dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Hinrich Kopf zusammengebracht, der damals zugleich auch Präsident des Bundesrats war. Wie hat sich das ergeben? Ehmke: Smend hat mir später einmal sehr arg vorgeworfen, daß ich die Wissenschaft verraten hätte und in die Politik gegangen sei. Er wollte mich nicht direkt auf einen politischen Weg bringen, aber er dachte, daß ein wenig Anschauung nicht schaden könne. Er kannte Hinrich Kopf recht gut: Ich glaube, damals wurde gerade das Konkordat zwischen Niedersachsen und dem Vatikan verhandelt. Smend war Kirchenrechtler, leitete das kirchenrechtliche Institut und kannte von daher den niedersächsischen Ministerpräsidenten sehr gut. Er war also der Meinung, daß ich mir ein wenig praktische Anschauung verschaffen sollte. Das tat ich dann auch: zuerst bei Hinrich Kopf im Bundesrat, weil er damals, wie erwähnt, Präsident des Bundesrates war. Dann war ich bei im – und dann blieb ich in der Politik. Das heißt, ich ging dann schon noch einmal an die Universität zurück, aber für mich war diese Arbeit in der aktuellen Politik schon ein sehr wichtiges Ereignis: Ich war nicht mehr nur Mitglied und arbeitete gelegentlich in der SPD mit. Nein, das war mehr geworden, denn man war wirklich in den operativen Vorgängen drin. Das heißt, genau dafür war ich also noch anfälliger geworden. Reuß: Hatten Sie Blut geleckt? Ehmke: Ja, das hat mich dazu gebracht, in der Politik zu bleiben. Das war freilich gar nicht der Sinn von Smends Ratschlag gewesen. Reuß: Sie haben dann, der Vollständigkeit halber sei es gesagt, 1960 habilitiert. Ehmke: Übrigens über ein amerikanisches Thema: Sie sehen, Amerika hat auch insofern gewirkt. Ich habe nämlich ein Buch über amerikanisches Verfassungsrecht geschrieben. Reuß: 1963 haben Sie den Lehrstuhl für öffentliches Recht in Freiburg übernommen, und das war doch eine ganz erstaunliche wissenschaftliche Karriere. Man hat aber trotzdem den Eindruck – und Sie haben das ja fast schon beantwortet –, daß Ihnen das irgendwie nicht mehr gereicht hat: Sie hatten da schon Blut geleckt in der Politik. Ehmke: Nein, so würde ich das nicht sagen. Ich bin sehr gerne an der Universität gewesen: zum einen, weil mich das Fach interessiert, denn das ist ja ein halb politisches Fach, zum anderen war es für mich eine wunderbare Erfahrung, täglich mit jungen Menschen und mit deren Fragen zu tun zu haben und zu sehen, wie sich die Themen und das Interesse fast schon von Jahr zu Jahr änderten. Das war jedenfalls meine wunderbare Erfahrung gewesen. Die Kollegen, die später die Studentenrevolte an der Universität erlebt haben, waren im Hinblick darauf dann teilweise stark gegenteiliger Meinung. Ich wäre also von mir aus gar nicht in die Politik gegangen, aber der "Spiegel" fragte mich damals im Rahmen des "Spiegel"-Prozesses, ob ich Augstein und Ahlers mit verteidigen und hier eine Verfassungsbeschwerde einreichen würde. Zum einen war ich natürlich der Meinung, daß man ihnen wirklich helfen mußte, und zum anderen war es so, daß ich mit einigen von ihnen auch befreundet war. Der "Spiegel"- Prozeß und der sensationelle Ausgang dieses Prozesses hatte mich dann sehr bekannt gemacht, und so fragte mich dann die Partei, ob ich denn nicht nach Bonn kommen möchte. Genauer gesagt, war es sogar Helmut Schmidt gewesen, der mich gefragt hatte: Mit ihm war ich dann später ja oft verschiedener Meinung. Wir hatten schon auch oft die gleiche Meinung, aber wir waren auch wirklich oft verschiedener Meinung. Ich habe mir daher gedacht: "Wenn die nun schon auf mich zukommen, dann wird mir die Entscheidung ja ohnehin gewissermaßen abgenommen." Ich selbst hätte von mir aus nicht für den Bundestag kandidiert: Meine Kinder waren nämlich auch noch klein zu dem Zeitpunkt. Aber als sich diese Möglichkeit auf diese Weise ergeben hat, habe ich das auch gemacht. Es wurde die Große Koalition gegründet, und Schmidt fragte mich bzw. bat mich fast, ich sollte doch als Staatssekretär zu ins Justizministerium gehen. Ich dachte mir, daß man das im Leben wohl nicht allzu oft gefragt wird, und so hat dann die Verlockung, nun wirklich in die Politik zu gehen, die Oberhand über meinen Spaß an der Universität gewonnen. Reuß: Wie war Ihr Verhältnis zu Heinemann? Ehmke: Heinemann war ja so ein ganz trockener Mensch. Auf der anderen Seite war er aber auch ein sehr humorvoller Mann. Er war ein aufrichtiger Mann, und es war ein wirkliches Vergnügen, mit ihm zu arbeiten. Er hat mich, wie ich glaube, immer so ein wenig als jungen Wilden angesehen. Aber andererseits hat er dann doch bemerkt, daß das so schlimm nun auch wieder nicht war. Wir haben uns also zusammengerauft, und ich bin ein großer Verehrer von Heinemann geworden, weil er ein Stück Geradlinigkeit und Prinzipientreue in die deutsche Politik gebracht hat, die ihr sehr gut getan hat. Ich bin wirklich ein großer Bewunderer von Gustav Heinemann. Reuß: Als Heinemann 1969 zum Bundespräsidenten gewählt wurde, rückten Sie an seiner Stelle nach und wurden Ende März 1969 Bundesjustizminister. Sie haben in dieser Zeit auch in sehr vielen Kommissionen und Arbeitsgruppen gearbeitet, was wiederum Herbert Wehner zu folgendem bösen Witz veranlaßte: "Der Fahrer fragt Ehmke, wohin er ihn fahren solle, und Ehmke sagt: 'egal wohin, ich werde überall gebraucht!'" Steckte in diesem Witz nicht auch Kritik? Hat Sie Wehner nicht auch da schon ein wenig mißtrauisch beäugt? Ehmke: Mit Wehner hatte ich immer ein spannungsvolles Verhältnis: Das hatte schon angefangen, als wir uns das erste Mal getroffen haben. Wehner war wirklich ein seltsamer Mann: Wenn Leute zu ihm kamen, dann schlug er sie meistens vor den Kopf. Ich z. B. kam zu ihm rein, und er schaute noch nicht einmal hoch. Nach einer Weile blickte er mich so von der Seite an und sagte: "Ach, da kommen die Renegaten!" Ich war zunächst einmal wie von den Socken, denn ich wußte ja noch nicht einmal, wovon ich denn ein Renegat sein sollte. Ich habe mich dann aber schnell gefaßt. Genau das war für Wehner die entscheidende Probe: ob man sich duckte oder nicht. Ich antwortete ihm: "Wenn das hier die Art des Hauses ist, dann können wir auch gleich bei 'Götz von Berlichingen' bleiben." Danach hat er nie wieder etwas in dieser Art mit mir versucht - schon gar nicht in der Fraktion oder so –, denn er wußte, daß ich mich dann nicht ducken würde. Das war schon eine sehr eigenartige Art, mit Menschen umzugehen: keine gute, wie ich finde. Aber ich habe das immer wieder erlebt, daß er sich so verhalten hat. Wenn die Leute dann nichts sagten oder sie das runterschluckten, dann hielt er nichts von ihnen. Dieser Witz ist ein alter Witz, der früher schon einmal über einen Hamburger Politiker gemacht worden ist: Ich will nicht sagen auf welchen, aber Wehner hatte ihn auf mich umgedichtet. Aber da war natürlich auch etwas Wahres dran. Es war ja so gewesen, daß die SPD in Bonn zum ersten Mal an die Regierung gekommen war. Das war damals ein viel größerer Einschnitt als diesmal. Nun ist es natürlich sehr schwer für eine Partei, sich darauf einzustellen. Sie hatte zu der Zeit auch noch gar nicht diese Repräsentanz in den Länderregierungen, wie wir sie heute kennen. Heute müssen wir ja nur danach schauen, wo wir nicht vertreten sind. Die Versuchung der Parteiführung war groß zu sagen: "Da kommt ja nun der Hotte, laßt ihn mal das alles machen." Denn von denen hatte ja schon jeder sein eigenes Päckchen zu tragen. Und es kam, wie es immer kommt: Zuerst wird man von der Presse ein wenig hochgejubelt und als Senkrechtstarter der SPD bezeichnet. Wehner wußte natürlich, daß diese Belastung mit allen möglichen Fragen nicht lange gut gehen würde: von den Studentenunruhen über die Sicherheitspolitik in der Kommission von Helmut Schmidt bis zur Kommission mit Strauß zu Fragen des kooperativen Föderalismus usw. Wenn man jung ist, sagt man sich natürlich: "Was? Ihr zieht um? Gut, wo soll das Klavier hin, wo soll der Flügel hin? Habt ihr noch etwas zu tragen? Das mache ich alles – wenn nicht heute abend, dann aber morgen früh." Ich konnte quasi vor Kraft kaum laufen damals. Das führte dann aber zu dieser Ansammlung von Tätigkeiten, die Wehner in seiner unnachahmlichen Art mit diesem Witz aufgespießt hat. Reuß: 1969 wurde ein neuer Bundestag gewählt, und es kam zur ersten sozial- liberalen Koalition mit einer sehr knappen Mehrheit. Ich glaube, Sie hatten fünf Mandate mehr... Ehmke: Zwölf, es waren zwölf Reuß: Es waren zwölf insgesamt, aber nur fünf bei der Kanzlerwahl. Sie wurden dann im ersten Kabinett Brandt Kanzleramtschef und Bundesminister. Ehmke: Bundesminister war ich schon, denn ich war ja Justizminister gewesen. Aber Brandt fragte mich dann, ob ich für ihn das Kanzleramt machen würde. Reuß: Richtig, Sie waren dann Bundesminister ohne Geschäftsbereich. Dort gab es böse Zungen, die vom Oberminister bzw. vom Unterkanzler gesprochen haben. War in dieser Funktion das Mißtrauen gegen Sie noch größer geworden? Ehmke: Sie müssen das so sehen: Brandt war ein sehr zurückhaltender Mensch, ein sehr auf Konsens bedachter Mensch. Es war seine große Stärke, Leute zusammenführen zu können. Aber es gibt eben immer wieder auch Dinge, die entschieden werden müssen. Brandt hatte das Gefühl, er benötigt jemanden, der möglichst wenig falsch macht, auf jeden Fall eine große Palette der Politik übersieht und der im Fall eines Falles auch "heldenhaft" die Brust hinhält. Er ließ mir auch wirklich unglaublich viel Freiheit in meiner Arbeit. Das heißt, ich hatte in dieser Arbeitsteilung eine größere Rolle zu spielen, als es vielen Kollegen recht war - vor allem Helmut Schmidt. Helmut war Verteidigungsminister, und wir kannten uns ja schon sehr lange. Er war auch dagegen gewesen, daß das so gemacht wurde. Aber Brandt und ich haben das dann eben so gemacht. Daraus hat sich eine gewisse Spannung ergeben, weil ich versuchte, die Stellung des Kabinetts – gar nicht so sehr den Kanzler, denn der konnte sehr wohl für sich selbst sorgen – gegenüber den einzelnen Ressorts zu stärken. Das mochten aber nun große Ressorts gar nicht. Wäre Schmidt damals Kanzler gewesen, hätte er das alles wunderbar gefunden, aber das war er zu diesem Zeitpunkt nicht. Denn im Grunde genommen verstand er von Planung sehr viel mehr und hatte auch ein viel größeres Interesse an solchen auch administrativ- politischen Fragen als , der daran überhaupt kein Interesse hatte. So kam es also zu diesem Wort vom Ober- bzw. Unterkanzler. Noch etwas kam hinzu: Conny Ahlers, der alte Freund aus dem "Spiegel", wurde stellvertretender Bundespressesprecher. Ich glaube nicht, daß er das aus Spaß gemacht hat, sondern ich denke eher, daß es ein ganz einfacher Versprecher gewesen ist. Aber auf seiner ersten Pressekonferenz, als er die Regierung vorstellte, sagte er tatsächlich, "und dann gibt es Professor Ehmke" - und er sagte eben nicht, daß ich der Chef des Kanzleramtes sei, sondern er sagte auf dieser Bonner Pressekonferenz -, "das ist der Chef des Kanzlers." Das war natürlich ungeheuer "imagefördernd". Alles lachte, und das hängt einem dann für immer an: Man war dann eben der Oberminister oder der Unterkanzler bzw. der Unterminister oder Oberkanzler. Reuß: Wie hat Brandt auf solche Dinge reagiert? Ehmke: Brandt hat darüber nur gelacht. Er war der Meinung, ich sei robust genug, das zu tragen. Er fand diese Arbeitsteilung ganz gut. Reuß: Sie haben einmal geschrieben: "Willy Brandt war ein Angler, kein Jäger. Er ließ die Dinge und die Menschen kommen." An anderer Stelle haben Sie geschrieben: "Ich bewunderte ihn wegen seiner Stärken und mochte ihn wegen seiner Schwächen." Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Willy Brandt beschreiben? Ehmke: Er ist wohl außer meinen Eltern der Mensch gewesen, der auf mich den größten Einfluß gehabt hat, obgleich ich ja wirklich kein „heuriger Hase“ mehr war, als ich nach Bonn gekommen bin. Ich habe ihn als Mensch wie als Politiker sehr bewundert. Ich kann mir überhaupt niemand anderen vorstellen, der wie er den Mut, die Nerven und die Vision gehabt hätte, diese Ostpolitik gegen alle Widerstände – auch und gerade aus Bayern – so durchzusetzen. Er war schon eine Klasse für sich. Reuß: Ich würde gerne noch zwei Dinge ansprechen. Das eine ist das damalige Mißtrauensvotum: Die knappe Mehrheit bröckelte, und 1972 hatte die Bundesregierung im Parlament keine Mehrheit mehr. versuchte damals, über ein konstruktives Mißtrauensvotum Kanzler zu werden. Völlig unerwartet fehlten ihm am Ende aber zwei Stimmen. Sie hatten, wie in Ihren Memoiren zu lesen war, Ihre Sachen, Ihre Akten, im Kanzleramt schon gepackt. Wieso kam es zu dieser Niederlage für Barzel? Es war dann ja auch einmal die Rede davon, daß z. B. der CDU- Abgeordnete Steiner mit 50000 Mark bestochen worden sei. Sie hatten zu allem Unglück 50000 Mark aus dem Verfügungsfond des Kanzlers entnommen. Hat es Sie gewundert, daß es da Verdachtsmomente gegeben hat oder daß das dann so hinkonstruiert wurde? Ehmke: Ich glaube, daß man dabei folgendes sehen muß. Wir hatten im Kanzleramt nach 20 Jahren der Adenauer-Regierung natürlich noch genügend Leute, die den Oppositionsparteien erzählten, was bei uns lief. Dies war Geld aus einem Geheimfond gewesen, den nur der Präsident des Bundesrechnungshofs prüft: Der hat dann auch gesagt, daß das in Ordnung sei, und wir standen vor der Frage, ob wir sagen sollten, wofür wir es ausgegeben hatten. Wir haben uns dann aber entschieden, das nicht zu machen, denn wenn man das einmal macht, wenn man einmal sagt, daß man mit dem Geld meinetwegen jemanden freigekauft hätte, dann durchbricht man damit ein Prinzip, dann funktioniert das nicht mehr. Die Frage ist dann ja auch völlig geklärt worden: Steiner hat 50000 Mark bekommen von der DDR, denn das ist ja inzwischen aktenkundig und auch von Herrn Markus Wolf bestätigt worden. Das hatte mit uns also überhaupt nichts zu tun. Aber das erklärt ja nur eine Stimme, und dieser Mann war wohl ein charakterschwacher Mann, der eine erbärmliche Figur gemacht hat. Man fragt sich schon, wie so jemand CDU-Bundestagsabgeordneter werden konnte. Aber das ist nur die Geschichte an der Oberfläche. Die eigentliche Geschichte ist meiner Meinung nach wohl die, daß es in der Union genügend Leute gegeben hat, die Barzel nicht wollten. Das müssen freilich sehr starke Emotionen gewesen sein, denn selbst dann, wenn man jemanden nicht mag, wählt man ihn denn doch, wenn er der eigenen Partei angehört, und sagt sich, daß man damit doch nicht das Ganze in Frage stellen könnte. Aber es war schon bei den Ostverträgen so gewesen, daß Barzel diesen Verträgen im Grunde ja auch zustimmen wollte: zwar nicht so und nicht jetzt, aber im Grunde doch. Dann sah es so aus, als ob die Sache auch bei der Union so laufen würde. Aber dann wollten wir von der SPD noch ein Wochenende Zeit haben, und an diesem Wochenende hat die Union in ihren Wahlkreisen so viel Krach bekommen, daß Strauß zurückkam und nein gesagt hat. Sie haben sich dann ganz "heroisch" dazu entschlossen, sich bei einer der ganz zentralen Fragen der Nachkriegsgeschichte der Stimme zu enthalten. Das war für die CDU und CSU sehr blamabel. In so einer emotionalisierten Situation bekommt man dann natürlich nie alle Stimmen zusammen. Wir mußten auch bei Kanzlerwahlen die Erfahrung machen, daß ein Kanzler nicht alle eigenen Stimmen bekommt: Dies geschah also auch außerhalb eines konstruktiven Mißtrauensvotums. Manchmal war es auch so, daß sie mehr Stimmen bekommen haben – wie nun vor kurzem Schröder. Damals wurden in dem Zusammenhang ja auch Namen gehandelt. Das eigentliche Problem bestand darin, daß die CDU nicht geschlossen hinter Barzel stand – und die CSU schon gar nicht. Trotz der großen Bedeutung eines Kanzlerwechsels waren eben mindestens zwei oder drei dabei, die anders gestimmt haben, denn wir wußten ja nicht, wer denn von den noch verbliebenen FDP-Leuten in unserer Koalition wie abgestimmt hat, nachdem schon so viele FDP- Leute wegen ihres Widerstands gegen die Ostverträge zur Union abgewandert waren: Das war natürlich eine Position, die im Grunde völlig legitim war. Und daher kann es ja in dieser geheimen Abstimmung auch so gewesen sein, daß noch weitere FDP-Leute zur Union gegangen sind. Auch die SPD hatte ja bereits Abgeordnete verloren. Herr Hupka war ja immerhin auch einmal ein SPD-Abgeordneter. Daher ist es keineswegs sicher, daß die Koalition aus SPD und Rest-FDP auch alle diejenigen Stimmen bekommen hat, die sie noch hatte. Meiner Einschätzung nach gab es mehr Gegenstimmen aus der Union: Da ich damals als Kanzleramtschef mit der Union sehr viel über diese Verträge gesprochen habe und da ich ja auch diese Erklärung mit Strauß und Genscher gemacht habe, gehe ich eigentlich eher davon aus, daß Barzel aus den eigenen Reihen mehr als zwei Stimmen fehlten. Das ist meine Meinung. Reuß: Die andere Sache, die ich gerne noch ganz kurz ansprechen möchte, ist der Fall "Günter Guillaume". Sie haben damals als Kanzleramtsminister - soweit es ging - seine Person bei der Einstellung überprüft und waren für diese Einstellung mit verantwortlich. Wie können Sie sich die Pannen, die dann bei den Sicherheitsüberprüfungen entstanden sind, erklären? Ehmke: Ich erkläre mir das so, daß die Sicherheitsbehörden, so wie wir sie von der Regierung Adenauer bzw. Erhard übernommen hatten, in einem miserablen Zustand waren. Das galt sowohl für das Bundeskriminalamt - das hat Genscher ja auch geschrieben, und das kann er hier in Ihrer Sendung selbst einmal erzählen – als auch für den Pullacher Dienst, also den BND, in den einigermaßen Ordnung zu bringen, ich große Schwierigkeiten hatte: Denn in "Pullach" waren sie nie wirklich in Ordnung gebracht worden. Und das galt auch für den Verfassungsschutz. Das Problem war folgendes: Wenn man jemanden einstellen will, dann fragt man die Behörden, ob die betreffende Person sicherheitsmäßig in Ordnung ist. Sie sind damit ungefähr in der Situation, wie wenn Sie einen Amtsarzt danach befragen, ob diese Person Tuberkulose hat. Wenn der Amtsarzt nein sagt, dann glaubt man das. Ich habe den Verfassungsschutz gefragt, und ich bekam die Auskunft, daß gegen Guillaume keine Erkenntnisse vorlägen. Wir haben aber aus dem Material, das der BND zusammengetragen hatte – und das einem sonst nicht zur Verfügung steht, außer uns vom Kanzleramt, da wir ja die Aufsichtsbehörde waren –, gemerkt, daß da etwas sein könnte. Wir haben daher bei der Einstellung gesagt: "Stop, zurück zum Verfassungsschutz, die sollen sich das noch einmal ansehen." Der Verfassungsschutz hat dabei aber völlig versagt, denn er hat für Guillaume das o. k. für geheime Sachen gegeben, und er hat auch für sehr geheime Sachen das o. k. gegeben. Das heißt, wir bekamen bei Guillaume für alle Geheimhaltungsstufen das o. k. und das, obwohl das gesamte Material, aufgrund dessen er dann später verurteilt worden ist, bereits zu der Zeit beim Verfassungsschutz vorlag. Die Abteilung Spionageabwehr hatte dieses ganze Material bereits vorliegen, aber die Leute, die die Sicherheitsprüfung machten, standen unter einer Art von Wettbewerbssituation – so hat es dann jedenfalls der Untersuchungsausschuß herausbekommen. Deshalb sind sie nicht zur Abteilung Spionageabwehr gegangen und haben gefragt, ob sie etwas hätten, was bei ihnen in ähnlicher Weise vorläge. Erst Jahre später, als das Kind längst in den Brunnen gefallen war, haben sich einmal zwei von diesen Leuten unterhalten und gesagt: "Mein Gott, da haben wir doch etwas vorliegen." Sie haben dann festgestellt, daß die Sache eindeutig war: Das war ein lange gesuchter Mann, der sogar unter "G" lief. Es waren Funksprüche – denn Markus Wolf arbeitete damals mit Funksprüchen – abgehört und entschlüsselt worden - wir hatten deren Code geknackt -, in denen es geheißen hat: Gratulation an G. zum Geburtstag oder Gratulation zum Geburtstag von Frau G., denn die Ehefrau war ja auch mit von der Partie, und Gratulation zum Geburtstag des Sohnes. Es war gar keine Frage, Guillaume war dieser Mann, und all das lag schon vor, als ich ihn eingestellt habe – ohne daß sich das die Leute, die im Verfassungsschutz die Verantwortung für die Überprüfung hatten, angesehen hatten - weil das in der anderen Abteilung lag. In solchen Fällen ist man eben machtlos. Ich habe mir nachträglich nur gedacht, daß ich vielleicht Genscher als Innenminister hätte einschalten sollen, denn er hatte ja die Aufsicht über den Verfassungsschutz. Aber wie dem auch sei: Guillaume wurde damals Hilfsreferent in der Wirtschaftsabteilung. Wir hatten ihn eigentlich nach allen Seiten durch die Mangel gedreht, aber die Mangel nützt ja nichts, wenn dort Leute sitzen, die nur ihre Routine machen und die trotz unserer Hinweise, daß es da Dinge gäbe, die unklar sind, immer wieder mit dem Ergebnis rausrücken, daß da überhaupt nichts dran sei und daß der Mann in Ordnung sei. Reuß: Unsere Zeit geht leider zu Ende. Ich darf mich bei Ihnen, Herr Professor Ehmke, ganz herzlich für das sehr offene und sehr interessante Gespräch bedanken. Ich würde gerne mit einem Zitat enden, das ich beim heutigen Bundesaußenminister gefunden habe. Ich weiß nicht, ob der Satz von ihm stammt, aber er hat Sie einmal sinngemäß so beschrieben: Horst Ehmke gehöre nicht zu jenen, die sagten, „hier stehe ich, ich kann nicht anders und Gott helfe mir“, sondern Horst Ehmke sagt: "Hier stehe ich, ich kann auch anders, Gott helfe euch." Herr Professor Ehmke, herzlichen Dank. Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, das war Alpha-Forum, heute mit Professor Horst Ehmke, Bundesminister a. D. Herzlichen Dank für Ihr Interesse, fürs Zuschauen und auf Wiedersehen.

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