Plenarprotokoll 16/77

Deutscher

Stenografischer Bericht

77. Sitzung

Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 21: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Neue Chancen und Perspektiven für Kinder Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- und Jugendliche in Deutschland schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – zu dem Antrag der Abgeordneten Diana Golze, Dr. Barbara Höll, , – zu der Unterrichtung durch die Bundesre- weiterer Abgeordneter und der Fraktion gierung: Bericht über die Lebenssitua- der LINKEN: Kinderzuschlag sozial ge- tion junger Menschen und die Leistun- recht gestalten – Kinderarmut wirksam gen der Kinder- und Jugendhilfe in bekämpfen Deutschland – Zwölfter Kinder- und Jugendbericht – (Drucksachen 15/6014, 16/827, 16/2754, und 16/817, 16/2077, 16/3849) ...... 7685 D Stellungnahme der Bundesregierung Thomas Dörflinger (CDU/CSU) ...... 7686 A – zu dem Entschließungsantrag der Abge- ordneten Diana Golze, Jörn Wunderlich, Miriam Gruß (FDP) ...... 7687 C Elke Reinke, und der Fraktion Nicolette Kressl (SPD) ...... 7688 D der LINKEN zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht über die Ina Lenke (FDP) ...... 7690 C Lebenssituation junger Menschen und Diana Golze (DIE LINKE) ...... 7691 A die Leistungen der Kinder- und Jugend- hilfe in Deutschland Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ – Zwölfter Kinder- und Jugendbericht – DIE GRÜNEN) ...... 7693 A und Diana Golze (DIE LINKE) ...... 7693 C Stellungnahme der Bundesregierung (CDU/CSU) ...... 7695 C – zu dem Antrag der Abgeordneten Thomas Dörflinger, Thomas Bareiß, Antje Ina Lenke (FDP) ...... 7697 B Blumenthal, weiterer Abgeordneter und Jürgen Kucharczyk (SPD) ...... 7697 D der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab- geordneten Marlene Rupprecht (Tuchen- Dr. , bach), , Renate Gradistanac, Bundesministerin BMFSFJ ...... 7699 A weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Öffentliche Verantwortung Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . 7700 D wahrnehmen – mit fairen Chancen Kin- der stark machen Tagesordnungspunkt 22: – zu dem Antrag der Abgeordneten Ekin Deligöz, , Grietje Bettin, wei- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des terer Abgeordneter und der Fraktion des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 wurfs eines Gesetzes zu dem Internationa- Tagesordnungspunkt 25: len Übereinkommen vom 19. Oktober 2005 gegen Doping im Sport Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Ute (Drucksachen 16/3712, 16/4077) ...... 7703 A Koczy, Renate Künast, und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Dr. , Parl. Staatssekretär NEN: Für ein Entwicklungspartnerschafts- BMI ...... 7703 B abkommen der Europäischen Union (EU) mit den Staaten der Afrika-, Karibik-, Pa- Detlef Parr (FDP) ...... 7704 D zifikgruppe (AKP) (SPD) ...... 7706 C (Drucksache 16/4055) ...... 7721 A (BÜNDNIS 90/ Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 7708 B DIE GRÜNEN) ...... 7721 B (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 7710 A Anette Hübinger (CDU/CSU) ...... 7722 C

Dr. (SPD) ...... 7711 D Hellmut Königshaus (FDP) ...... 7724 A

Detlef Parr (FDP) ...... 7712 D Dr. (SPD) ...... 7725 A (DIE LINKE) ...... 7726 C Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Monika Knoche, Dr. , Wolfgang Gehrcke, weite- Tagesordnungspunkt 26: rer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- KEN: Keine Tornado-Aufklärungsflugzeuge Antrag der Abgeordneten , in Afghanistan einsetzen , , weiterer (Drucksache 16/4047) ...... 7714 C Abgeordneter und der Fraktion der FDP: For- schung auf dem Gebiet der Regenerativen Medizin stärken in Verbindung mit (Drucksache 16/2837) ...... 7727 C

Zusatztagesordnungspunkt 9: Tagesordnungspunkt 27: Antrag der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- DIE GRÜNEN: Keine Zusage deutscher schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- Tornados ohne Bundestagsmandat lung zu dem Antrag der Abgeordneten Heid- (Drucksache 16/4048) ...... 7714 C run Bluhm, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. , weiterer Abgeordneter und der Frak- in Verbindung mit tion der LINKEN: Generelle Altschulden- entlastung auf dauerhaft leer stehende Wohnungen (Drucksachen 16/2078, 16/3082) ...... 7727 D Zusatztagesordnungspunkt 10: (DIE LINKE) ...... 7727 D Antrag der Abgeordneten Dr. , Birgit Homburger, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Nächste Sitzung ...... 7729 C Neues Mandat für Tornado-Einsatz uner- lässlich (Drucksache 16/4096) ...... 7714 D Anlage 1 (DIE LINKE) ...... 7714 D Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 7731 A (CDU/CSU) ...... 7716 A Dr. Werner Hoyer (FDP) ...... 7717 C Anlage 2 Detlef Dzembritzki (SPD) ...... 7718 C Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internatio- DIE GRÜNEN) ...... 7720 B nalen Übereinkommen vom 19. Oktober 2005 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 III gegen Doping im Sport (Tagesordnungs- Anlage 4 punkt 22) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Katrin Kunert (DIE LINKE) ...... 7731 D des Antrags: Generelle Altschuldenentlas- tung auf dauerhaft leer stehende Wohnungen (Tagesordnungspunkt 27) Anlage 3 Volkmar Uwe Vogel Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung (CDU/CSU) ...... 7739 A des Antrags: Forschung auf dem Gebiet der Regenerativen Medizin stärken (Tagesord- Ernst Kranz (SPD) ...... 7740 A nungspunkt 26) Joachim Günther (Plauen) (CDU/CSU) ...... 7733 A (FDP) ...... 7741 D René Röspel (SPD) ...... 7734 B Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 7742 A Cornelia Pieper (FDP) ...... 7736 B Dr. (DIE LINKE) ...... 7737 B Anlage 5 Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 7737 B Amtliche Mitteilungen ...... 7742 C

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7685

(A) (C) Redetext

77. Sitzung

Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsident Dr. : Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die NISSES 90/DIE GRÜNEN Sitzung ist eröffnet. Neue Chancen und Perspektiven für Kin- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: der und Jugendliche in Deutschland Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- – zu dem Antrag der Abgeordneten Diana richts des Ausschusses für Familie, Senioren, Golze, Dr. Barbara Höll, Karin Binder, wei- Frauen und Jugend (13. Ausschuss) terer Abgeordneter und der Fraktion der – zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- LINKEN rung Kinderzuschlag sozial gerecht gestalten – Bericht über die Lebenssituation junger Kinderarmut wirksam bekämpfen (B) Menschen und die Leistungen der Kinder- (D) und Jugendhilfe in Deutschland – Drucksachen 15/6014, 16/827, 16/2754, 16/817, – Zwölfter Kinder- und Jugendbericht – 16/2077, 16/3849 – und Berichterstattung: Stellungnahme der Bundesregierung Abgeordnete Thomas Dörflinger Marlene Rupprecht (Tuchenbach) – zu dem Entschließungsantrag der Abgeordne- Jürgen Kucharczyk ten Diana Golze, Jörn Wunderlich, Elke Wolfgang Spanier Reinke, Klaus Ernst und der Fraktion der Miriam Gruß LINKEN zu der Unterrichtung durch die Bun- Diana Golze desregierung Ekin Deligöz Bericht über die Lebenssituation junger Zu dem Zwölften Kinder- und Jugendbericht liegt ne- Menschen und die Leistungen der Kinder- ben dem bereits in der Beschlussempfehlung behandel- und Jugendhilfe in Deutschland ten Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke ein – Zwölfter Kinder- und Jugendbericht – Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. und Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Stellungnahme der Bundesregierung die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt – zu dem Antrag der Abgeordneten Thomas es Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann Dörflinger, Thomas Bareiß, Antje ist das so beschlossen. Blumenthal, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: neten Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Was ist eigentlich mit der Bundesregierung? Clemens Bollen, Renate Gradistanac, weiterer Ganz allein ist die Ministerin!) Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Öffentliche Verantwortung wahrnehmen – ner das Wort dem Kollegen Thomas Dörflinger von der mit fairen Chancen Kinder stark machen CDU/CSU-Fraktion. – zu dem Antrag der Abgeordneten Ekin (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Deligöz, Kai Gehring, Grietje Bettin, weiterer neten der SPD) 7686 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

(A) Thomas Dörflinger (CDU/CSU): dung der finanziellen Gegebenheiten aus rein fachlicher (C) Schönen guten Morgen, Herr Präsident! Frau Ministe- Sicht argumentiert. rin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe (Ina Lenke [FDP]: Das ist eine Unterstellung, Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Zwölften Kinder- Herr Dörflinger!) und Jugendbericht der Bundesregierung liegt uns ein sehr wichtiges Dokument vor, mit dem zum ersten Mal – Das ist keine Unterstellung, Frau Lenke. Das ist eine die Themenkreise Bildung, Betreuung und Erziehung Tatsache. auch und gerade in diesem Zusammenhang in den Mit- telpunkt der Diskussion gerückt werden. Ich will namens (Ina Lenke [FDP]: Natürlich ist das eine Un- der CDU/CSU-Bundestagsfraktion auch im Plenum des terstellung! Wir achten auch auf die Finan- Deutschen Bundestages dem Expertengremium, das zen!) diesen Bericht unter Leitung von Professor Thomas Für die Tatsache, dass es aufseiten der FDP in der Rauschenbach erarbeitet hat, noch einmal ein herzliches Summe etwas weniger kommunalpolitisch Tätige gibt Wort des Dankes sagen. als aufseiten unserer drei Parteien, kann ich nichts. Wir hatten Gelegenheit, den Bericht im Ausschuss (Ina Lenke [FDP]: Sie müssen erst einmal das und in den Arbeitsgruppen zu beraten. Es war eine sehr umsetzen, was Sie versprochen haben, zum interessante Diskussion. Wir werden die Möglichkeit ha- Beispiel kostenlose Kindergärten!) ben, uns auf der Basis der vorliegenden Anträge darüber zu unterhalten, welche politischen Schlussfolgerungen – Sie sollten einmal mit denjenigen, die kommunalpoli- wir aus dem Bericht der Expertenkommission ziehen. tisch Verantwortung tragen – einige sind von der FDP –, reden. Ich gebe Ihnen Brief und Siegel, dass sie zum Ich will die Gelegenheit nutzen, ein paar Bemerkun- Beispiel zum Thema Rechtsanspruch auf Betreuung für gen zu machen, auch vor dem Hintergrund des Antrags, unter Dreijährige eine gänzlich andere Auffassung ver- der dem Deutschen Bundestag von den Koalitionsfrak- treten. tionen vorgelegt worden ist und über den wir heute be- finden werden. Ich will auch ein paar Bemerkungen da- (Ina Lenke [FDP]: Was hat denn die Ministerin rüber machen, wo sich der von uns konzipierte Antrag dazu gesagt?) von dem Entschließungsantrag der FDP und den anderen vorliegenden Anträgen unterscheidet. – Ich bin Mitglied der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Frau von der Leyen hat vor wenigen Tagen, wenn ich Ein wesentliches Moment, das dazu führt, dass sich das richtig erinnere, genau das gesagt, was im Koali- diese Anträge in einigen Punkten unterscheiden, ist tionsvertrag steht. Sie hat gesagt: Wenn wir es nicht (B) schlicht und ergreifend die folgende Tatsache: Als Ko- schaffen, bis zu einem gewissen Zeitpunkt die Kinder- (D) alition, die die Bundesregierung trägt, müssen wir immer betreuung in einem vertretbaren Maße auszubauen, dann damit rechnen, dass das, was wir in einen Antrag hinein- müsste man über einen Rechtsanspruch reden. schreiben, möglicherweise politische Realität wird. (Ina Lenke [FDP]: Dann kommt der Zwang! (Ina Lenke [FDP]: Ach, Herr Dörflinger!) Keine Finanzierung! Sie sollten einmal über Deswegen müssen wir ein bisschen differenzierter zu die Finanzierung durch den Bund reden!) Werke gehen und unterscheiden zwischen dem, was Das entspricht dem Wortlaut des Koalitionsvertrages. In- wünschbar ist, dem, was machbar ist, dem, was finan- sofern war das nichts Überraschendes. Das ist geltende zierbar ist, und dem, was nach unserer politischen Auf- Beschlusslage der Großen Koalition und geltende Be- fassung tatsächlich Realität werden soll. schlusslage der Bundesregierung. Da war nichts Neues (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) dabei. Deswegen – das sei offen eingestanden – kommen wir (Ina Lenke [FDP]: Leider!) in unserem Antrag an der einen oder anderen Stelle auch Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst, dass zu etwas anderen Ergebnissen als denen, die die Exper- das, was wir politisch auf die Schiene setzen, auch finan- ten in ihrem Bericht vorschlagen. Ich will es an einigen zierbar sein muss. Deshalb sollten wir uns alle ein für Punkten deutlich machen. alle Mal von dem Vorgehen verabschieden, dass wir in Die Experten fordern im Zwölften Kinder- und Ju- Berlin ebenso wie früher in Bonn große Dinge ins Ge- gendbericht beispielsweise einen generellen Rechtsan- setzblatt schreiben, die von anderen finanziert werden spruch auf Betreuung für unter Dreijährige. Dafür müssen. Das ist nicht der Sinn unserer politischen Tätig- spricht aus fachlicher Sicht sicherlich eine ganze Menge. keit. Als Maxime steht aber obendrüber, dass das Ganze reali- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ sierbar und finanzierbar sein soll. Angesichts dessen rate DIE GRÜNEN]: Ihre Ministerin ist da muti- ich einfach jedem Kollegen und jeder Kollegin in diesem ger, Herr Dörflinger!) Hohen Hause, auch einmal Rücksprache mit denen zu nehmen, die in den Kommunen, in den Städten und Krei- Deswegen rate ich nochmals: Reden Sie mit den kom- sen die politische Verantwortung tragen. Die sehen das munalpolitisch Tätigen in Ihrer Partei! Sie werden fest- naturgemäß – sie haben ihre eigene Finanzlage im stellen, dass man in den Kommunen zu etwas differen- Blick – etwas anders als derjenige, der unter Ausblen- zierteren Ergebnissen kommt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7687

Thomas Dörflinger (A) Das Gleiche gilt für die Frage, wie wir das Personal Herzlichen Dank. (C) ausbilden, das beispielsweise in der Tagesbetreuung, in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Tagespflege tätig ist. Sie finden im Bericht die Maß- neten der SPD) gabe, dass das Personal eine Hochschulausbildung ab- solviert haben sollte. In der vergangenen Woche habe ich in Baden-Württemberg ein Gespräch mit Verantwortli- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: chen mehrerer Tagespflegevereine geführt. Das sind Das Wort hat jetzt die Kollegin Miriam Gruß von der Menschen, in der Mehrzahl Frauen, die sich ehrenamt- FDP-Fraktion. lich engagieren. Über diese Vereine organisieren sie die (Beifall bei der FDP) Tagesbetreuung bzw. die Tagespflege. Das Personal be- schäftigen sie selbst. Sie erhalten relativ geringe öffentli- che Zuschüsse. Dafür bringen sie großes ehrenamtliches Miriam Gruß (FDP): Engagement auf, in persönlicher und finanzieller Hin- Sehr geehrte Damen und Herren! Vor knapp einem sicht. Auf die Forderung, man möge die Ausbildung von Jahr stand ich an dieser Stelle und habe zum Zwölften Erzieherinnen und Erziehern, also derjenigen, die sich Kinder- und Jugendbericht meine Jungfernrede gehalten. mit Kindern befassen, generell auf Hochschulniveau an- Genau 316 Tage sind seither vergangen, und wir müssen heben, reagieren diese Personen ganz anders als der Ex- uns fragen: Was ist konkret in diesen 316 Tagen pas- perte, der die Situation nur theoretisch betrachtet. Des- siert? wegen rate ich, mit den Verantwortlichen vor Ort zu (Beifall bei der FDP) sprechen, und zwar nicht nur mit den kommunalpolitisch Verantwortlichen, sondern auch mit denjenigen, die sich Was haben Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren ehrenamtlich in diesem Bereich engagieren. von der Koalition, für die Lebenssituation der jungen Menschen hierzulande geleistet, und wie haben Sie sie Ich bestreite gar nicht, dass es aus fachlicher Sicht an- verbessert? gezeigt ist, Erzieherinnen und Erzieher besser zu qualifi- Wenn ich mir das Protokoll der Sitzung vom 9. März zieren. Aus fachlicher Sicht spricht meiner Ansicht nach 2006 ansehe, bin ich – das muss ich ganz ehrlich sagen – durchaus etwas dafür, die Ausbildung in bestimmten Be- skeptisch, ob wirklich etwas vorangebracht wurde. Sie reichen auf Hochschulniveau anzuheben. Der Ansatz, forderten damals unter anderem – ich darf Sie daran er- die Hochschulausbildung zur generellen Anforderung zu innern – eine angemessene Bezahlung von Erzieherin- machen, gültig für jede Erzieherin und jeden Erzieher, nen und Erziehern für ihre Leistung, die Einführung von geht aber an den Erfordernissen vorbei. Er hätte zwei- Sprach- und Entwicklungstests vor der Einschulung, tens zwangsläufig zur Folge, dass all diejenigen, die sich eine bessere Infrastruktur für Familien und eine bedarfs- (B) ehrenamtlich engagieren, die viele Anstrengungen unter- (D) gerechte und gebührenfreie Kinderbetreuung. Sie forder- nommen haben, um die Kinderbetreuung zu organisieren ten außerdem, die Spirale von Armut und mangelnden – und sie organisieren sie gut –, dieser Anforderung Bildungschancen endlich zu durchbrechen. Frau Minis- nicht entsprechen könnten. Ihre Qualifikation würde un- terin von der Leyen stellte damals klar: „Unser Latein seren Anforderungen nicht mehr genügen. darf aber nicht am Ende sein, wenn die Kinder ein, zwei Es kann eigentlich nicht das Ziel unserer Überlegun- Jahre alt sind.“ Bis heute sind wir in keinem dieser As- gen sein, durch überzogene Forderungen, die wir ins Ge- pekte einen Schritt weitergekommen. setzblatt schreiben, denjenigen in die Parade zu fahren, (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ die in den vergangenen Wochen, Monaten und Jahren DIE GRÜNEN) aus eigener Initiative bereits viel von dem umgesetzt ha- ben, was jetzt Gegenstand des Kinder- und Jugend- Ja, wir haben das Elterngeld. Doch wie sieht es in berichtes ist. den Familien nach den ersten zwölf bzw. 14 Monaten aus? Die Familien werden alleingelassen. Sie stehen vor (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- einer massiven Versorgungs- und Betreuungslücke, neten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Deswegen haben wir die Ansätze des Kinder- und Ju- die sie nur durch den Verzicht auf die Ausübung des Be- gendberichtes, die uns sinnvoll und gleichfalls finanzier- rufs – davon kann ich selber ein Lied singen – oder teure bar erscheinen, und zwar nicht nur aus Bundessicht, son- private Kinderbetreuung überwinden können. Zudem hat dern auch aus Sicht der Länder und Kommunen, noch sich die Kinderarmut in Deutschland in den letzten zwei einmal mit den theoretischen Forderungen der Fachleute Jahren mehr als verdoppelt. abgeglichen. Ich glaube, die Koalitionsfraktionen haben mit dem vorliegenden Antrag einen guten Beitrag dazu Was also ist in den vergangenen 316 Tagen in geleistet, dass Bildung, Betreuung und Erziehung Deutschland passiert? An was erinnern wir uns, wenn – Stichworte aus dem Zwölften Kinder- und Jugendbe- wir über Kinder in Deutschland nachdenken? Kinderpor- richt der Bundesregierung – besser miteinander verzahnt nos, Killerspiele und Kevin. Kaum eine Woche im ver- werden können. Wir haben die Grundlage dafür geschaf- gangenen Jahr verging, in der wir nichts über Kinder in fen, dass wir in den nächsten Wochen und Monaten eine der Zeitung lesen konnten. Doch wenn wir uns die sinnvolle Politik für Kinder, Jugendliche, selbstverständ- Schlagzeilen genau ansehen, müssen wir feststellen, dass lich auch für Eltern sowie Erzieherinnen und Erzieher in Kinder meistens erst dann zum Thema wurden, wenn es Deutschland machen können. schon zu spät war: vernachlässigte, misshandelte 7688 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

Miriam Gruß (A) Kinder, ein amoklaufender Schüler und Nachbarn, die Drittens. Die einzelnen Instanzen wie Familie, Erzie- (C) sich über Lärm aus dem Kindergarten beschweren. Der herinnen und Erzieher und Jugendhilfe müssen gestärkt Deutsche Kinderschutzbund schätzt die Zahl der miss- werden. Das bedeutet aus meiner Sicht, dass Eltern handelten Kinder in Deutschland auf etwa 100 000, und schon vor der Geburt auf ihre neue Rolle vorbereitet die Deutsche Kinderhilfe Direkt spricht von 100 an werden müssen. Wir dürfen nicht erst ansetzen, wenn es Misshandlungen gestorbenen Kindern jährlich. Kurz: schon zu spät ist. In diesem Punkt, Herr Dörflinger, Kinder in der Zeitung sind kaum eine gute Nachricht. widerspreche ich Ihnen. Erzieherinnen und Erzieher müssen motiviert werden. Motivieren kann man über Nicht besser steht es um die Jugendlichen. „Suche Leistungsanreize und über die Schaffung von Fortbil- Zukunft jeder Art“, stand auf einem Plakat bei einer De- dungsmöglichkeiten. Im Übrigen sprechen wir uns in monstration der Generation Praktikum. Düstere Aus- unserem Entschließungsantrag zu diesem Bericht als sichten auch auf dem Arbeitsmarkt, eine völlig ungesi- einzige explizit dafür aus, dass der Erzieherberuf für cherte Altersversorgung und Perspektivlosigkeit bei Männer attraktiv werden muss. Kinder brauchen Männer immer weiter steigenden Anforderungen an unsere als Bezugspersonen; wir dürfen sie nicht in einer män- Nachkommen! nerfreien Zone aufwachsen lassen. Ich möchte bei dem Negativgerede über unsere Kin- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der nicht mitmachen. der CDU/CSU) (Zuruf von der SPD: Das tun Sie doch!) Viertens wird in dem Bericht eine Art TÜV für Kin- Für mich sind Kinder nicht per definitionem schlecht er- derbetreuungseinrichtungen gefordert. Auch diese For- zogen, zu dick, zu laut, zu unsportlich, zu arm, zu brutal derung unterstützt die FDP. oder zu faul. Kinder sind für mich in allererster Linie ein Fünftens und letztens: Infrastruktur vor Transferleis- persönliches Glück und eine Bereicherung des eigenen tungen. Lebens. Sie sind ein Geschenk, das uns Eltern anver- traut ist. Was wir daraus machen, obliegt unserer eigenen (Beifall bei der FDP) Verantwortung. Wir müssen ihnen – wie Goethe so Durch Geld allein – das ist die Auffassung der FDP, Herr schön gesagt hat – zu Wurzeln und Flügeln verhelfen. Dörflinger – erhalten Kinder keine Zuwendung. Sie ha- Wir müssen sie fordern und fördern. Wir müssen sie lie- ben uns da also irgendwo missverstanden. Zuwendung ben und erziehen. Das alles muss in einem Umfeld per- können Kinder nur von ihren Bindungspersonen erfah- sönlicher Umstände geschehen, die für jeden Einzelnen ren. Die müssen, was ihre Mittel angeht, gestärkt wer- prägend sind und die man sich nicht immer frei wählen den. Dazu bedarf es aber einer zielgenauen Infrastruktur. (B) kann. (D) ( [CDU/CSU]: Richtig! Genau hier treffen wir auf den Ausgangspunkt des Gute Sache!) Zwölften Kinder- und Jugendberichts. Ein Mensch wird durch Personen, durch Erlebnisse und durch Erfahrun- Insofern begrüßen wir auch die Einrichtung des Kompe- gen an verschiedensten Orten geprägt. Durch Bildung, tenzzentrums für familienpolitische Leistungen, dessen Betreuung und Erziehung wächst eine Persönlichkeit, Aufgabe es unter anderem ist, die Leistungen auf den die für ein eigenständiges, verantwortliches Leben ge- Prüfstand zu stellen. rüstet ist. „Es ist die beste Sozialversicherung, wenn Meine sehr verehrten Damen und Herren, alles Prüfen Menschen lernen, mit ihren eigenen Problemen umzuge- und Bewerten hilft allerdings nichts, wenn am Ende kein hen“, sagte Professor Rauschenbach damals bei der An- Fazit steht, das sinnvoll umgesetzt werden kann. Mein hörung im Familienausschuss. Ich glaube, dieser neue Fazit aus mehr als einem Jahr Bundestagszugehörigkeit: Kontext von Bildung, Betreuung und Erziehung hat uns Es ist erschreckend, wie viel Schlimmes Kindern in alle, die den Bericht gelesen haben, überzeugt. Aber jetzt 316 Tagen widerfahren kann und wie wenig die Politik gilt es, daraus endlich die richtigen Schlüsse zu ziehen. in der Lage ist, dies zu ändern. Lassen Sie uns gemein- (Beifall bei der FDP) sam daran arbeiten! (Beifall bei der FDP) Im Zwölften Kinder- und Jugendbericht werden zen- trale Ansprüche gestellt. Erstens. Kinder- und Jugend- politik darf kein Anhängsel der Familienpolitik sein, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sondern muss als eigenständiges Politikfeld begriffen Das Wort hat jetzt die Kollegin Nicolette Kressl von werden. Ich habe in den vergangenen 316 Tagen nichts der SPD-Fraktion. von einer eigenständigen Kinder- und Jugendpolitik mit- (Beifall bei der SPD) bekommen. Zweitens wird in dem Bericht gefordert: Es bedarf ei- Nicolette Kressl (SPD): nes Gesamtkonzepts, das alle Orte und Akteure, die an Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bildungsprozessen beteiligt sind, einbezieht. Wir Libe- Denkt nicht in Schubladen, bündelt alle Kräfte, die ihr rale wollen dazu alle, die an diesen Prozessen beteiligt habt, um Kindern und Jugendlichen die besten Bedin- sind, an einen Tisch holen, damit die Übergänge ein- gungen zum Aufwachsen zu geben! Dieser Appell steht wandfrei funktionieren. Über Modellversuche sind wir nirgends im Kinder- und Jugendbericht. Aber er könnte hier bisher jedoch noch nicht hinausgekommen. als wichtige Überschrift im Kinder- und Jugendbericht Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7689

Nicolette Kressl (A) stehen. Er würde sich an sehr viele richten: an die, die im aber nicht vorrangig – um die Eltern, sondern es geht da- (C) Bereich Bildung und Erziehung der Kinder tätig sind; rum, Bildungsangebote anzubieten, damit Kinder früh ganz besonders aber auch an die, die im politischen gefördert werden, und Bildungsangebote kostenfrei, zu- Raum über die Rahmenbedingungen für das Aufwach- mindest schrittweise, zur Verfügung zu stellen. sen von Kindern und Jugendlichen entscheiden. Ich finde, es ist dieser – hier ist der Begriff auch nicht zu pa- (Beifall bei der SPD) thetisch gebraucht – ganzheitliche Ansatz des Kinder- Zweiter Denkanstoß, den ich für mich aus dem Kin- und Jugendberichts, der uns alle beeindrucken und noch der- und Jugendbericht mitgenommen habe: Um die mehr als bisher zum Nachdenken bringen sollte. Er eben angesprochenen Anforderungen zu erfüllen, müs- sollte auch Leitlinie für das weitere politische Handeln sen die verschiedenen Bereiche und Ressorts intensiver sein. zusammenarbeiten, verzahnter zusammenarbeiten, als (Beifall bei der SPD) das bisher der Fall ist. Das gilt für alle föderalen Ebenen. Das gilt für uns auf Bundesebene, das gilt aber natürlich Die notwendige Verzahnung und die Zusammenarbeit auch für die Kommunen. Denn die Frage, was aus dem – ehrlicherweise muss man zugeben, dass es da in wird, was wir hier entscheiden, wie es umgesetzt wird Deutschland in vielen Bereichen noch Defizite gibt – be- und wie es bei den Kindern und den Eltern ankommt, ziehen sich nicht nur auf einen Aspekt, sondern auf sehr entscheidet sich letztlich immer auf kommunaler Ebene. viele Aspekte. Ich möchte heute drei Denkanstöße auf- Da können wir nicht nur fordern, da müssen wir auch greifen, die sich im Kinder- und Jugendbericht finden. unterstützen, Erstens. Wir müssen noch stärker als bisher Betreu- (Ina Lenke [FDP]: Wie?) ung, Bildung und Erziehung zusammendenken. Das muss dann auch Auswirkungen auf unser Handeln ha- da müssen wir uns auch überlegen, wie wir unterstützen ben. wollen. Das ist völlig klar. Aber ich glaube, es ist gerade an den angesprochenen Stellen – was den Missbrauch (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) angeht – deutlich geworden, dass die Verzahnung der Netzwerke, die Zusammenarbeit entscheidend sind, um Erfreulicherweise ist es ja so, dass diese Debatte inzwi- Kinder besser als bisher zu schützen. schen auch ihren Niederschlag gefunden hat. So reden wir mittlerweile zum Beispiel häufiger als früher über (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten frühkindliche Förderung. In den Köpfen hat sich viel der CDU/CSU) verändert, was sich auch in unserem Handeln niederge- schlagen hat. Das ist aber noch nicht genug. Ich fürchte, Ich bin im Übrigen sehr gern bereit und halte es auch (B) dass wir in Deutschland noch nicht schnell genug auf die für wichtig, dass wir gemeinsam darüber sprechen, ob (D) Notwendigkeiten reagieren, die sich aus diesem ganz- wir gesetzliche Änderungen brauchen, um Kinder noch heitlichen Ansatz ergeben. besser als bisher schützen zu können. Richtig. Ich habe aber die Sorge, dass der Eindruck entstehen könnte, (Beifall bei der SPD) durch eine weitere gesetzliche Änderung könnte eine Lösung gefunden werden. Man muss klar sagen: Wir Es geht mir nicht darum, zu sagen, wir wollen im können gesetzlich so viel ändern, wie wir wollen, wenn Ranking der anderen europäischen Länder besser daste- wir es nicht verzahnter umsetzen als bisher, dann vermit- hen. Es geht mir vielmehr darum, dass klar wird, dass teln wir den Scheineindruck einer Lösung. Das darf wir im Vergleich zu anderen europäischen Ländern noch nicht sein. Es muss klar sein, dass selbst dann, wenn es einiges aufzuholen haben. Es geht also nicht ums Bes- gesetzliche Änderungen gibt, die Zusammenarbeit, die sersein, sondern darum, noch bessere Rahmenbedingun- Koordinierung, beispielsweise das Zusammen-Reden in gen für Kinder zu schaffen. den Kommunen und das Folgern, entscheidend sein wer- In diesem Zusammenhang gibt es einen ganz interes- den für die Frage, ob sie wirklich greifen oder nicht. santen Aspekt, nämlich dass wir bei der Frage, wie viel (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Geld wir für Familienförderung und Bildung ausge- CDU/CSU) ben, in diesem europäischen Vergleich keineswegs auf einem der letzten Plätze liegen, dass wir aber bei der Diese Zusammenarbeit, diese Netzwerke erfordern in Frage, wohin und in welches Lebensalter dieses Geld in- den Kommunen ein dauerhaftes Engagement. Aber man vestiert wird, den Unterschied haben, dass sehr viele an- darf sich nicht darüber täuschen, dass das auch Geld er- dere europäische Länder sehr viel früher in die Förde- fordert. Alles, was an Anträgen zum Beispiel über den rung von Kindern investieren. Ich glaube, es lohnt sich, Bundesrat schon einmal zu dem Thema, wir wollen we- einmal darüber nachzudenken, ob wir da nicht eine Prio- niger im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe ausgeben, ritätenverschiebung brauchen. bei uns gelandet war, ist für diese Zusammenarbeit nicht förderlich, sondern schädlich. Auch das muss hier klar (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gesagt werden. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD – Iris Gleicke [SPD]: Das Diese Prioritätenverschiebung ist für mich auch der ist allerdings wahr!) entscheidende Ansatz dafür, dass wir über die Kosten- freiheit für Bildungs- und Betreuungseinrichtungen Drittens. Ich glaube, es macht Sinn – auch aufgrund reden müssen. Es geht für uns nicht vorrangig – auch, dessen, was im Kinder- und Jugendbericht steht –, noch 7690 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

Nicolette Kressl (A) einmal gemeinsam über die Beziehungen, über das Ver- Nicolette Kressl (SPD): (C) hältnis von privater und öffentlicher Verantwortung Ich dachte schon, dass Sie heute keine Zwischenfra- für Kinder zu sprechen. Ich halte es für unseriöse Debat- gen stellen. Aber bitte, gerne. ten, immer dann, wenn man über staatliche Verantwor- (Heiterkeit – Thomas Dörflinger [CDU/CSU]: tung spricht, zu unterstellen, damit werde die Freiheit Lohnsteuerklasse V! – Iris Gleicke [SPD]: der Familie eingeschränkt. Um allen Missverständnissen Wenn man nur zwei Minuten Redezeit hat, vorzubeugen: Es ist der falsche Weg, von staatlicher, von muss man eben Zwischenfragen stellen! So ist politischer Seite bestimmte Formen der Familie oder be- das leider!) stimmte Arten, wie Familien leben sollen, vorzuschrei- ben. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bitte schön, Frau Lenke. der CDU/CSU) Es ist aber auch der falsche Weg, den Schutz und das Ina Lenke (FDP): Wohl des Kindes zu vergessen und dies mit reiner Frei- Frau Kressl, Sie werden die Opposition nicht los. Wir heit zu begründen. Auch das darf uns nicht passieren. wollen kritisch, aber auch konstruktiv mit Ihnen zusam- menarbeiten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Obwohl Sie selbst Teil der Regierung sind, haben Sie Ihre Forderungen – den Rechtsanspruch auf einen Kin- Zum Schutz von Kindern gehört für mich sowohl die dergartenplatz ab dem ersten Geburtstag und kostenfreie körperliche und seelische Unversehrtheit – das ist wich- Kindergartenplätze – merkwürdigerweise als Wunschka- tig – als auch, ihnen Chancen für ihren Bildungs- und talog dargestellt. Meine Frage lautet: Welche konkreten Berufsweg zu geben, und zwar unabhängig von ihrer so- Finanzierungsvorschläge haben Sie hier und heute? zialen Herkunft. (Beifall bei der SPD) Nicolette Kressl (SPD): Frau Lenke, jetzt ist schon wieder das passiert, was Welche Schlussfolgerungen ziehen denn die Autorin- bei Ihren Zwischenfragen ständig geschieht. Sie haben nen und Autoren des Zwölften Kinder- und Jugendbe- das, was ich gesagt habe, leicht anders interpretiert. Ich richts? Ich zitiere: habe nicht gesagt, das ist ein Wunschkatalog. Ich habe Deutschland hat sich auf den Weg gemacht, das formuliert – ich kann das noch einmal vorlesen –, es mag sich nach einem Wunschkatalog anhören. Wir haben ge- (B) System der öffentlichen Bildungs-, Betreuungs- (D) und Erziehungsangebote neu zu justieren, zu refor- meinsam die Aufgabe, nach Wegen zu suchen, um die mieren und auszubauen. Kommunen, auch mit Unterstützung des Bundes, in die Lage zu versetzen, dieses Vorhaben finanzieren zu kön- Im Weiteren heißt es: Dies nen. lässt die Hoffnung begründet erscheinen, dass in (Iris Gleicke [SPD]: Genau, Frau Lenke! Viel- diesem Aufgabenfeld in den nächsten Jahren nicht leicht ist das eine kommunale Aufgabe! Wer nur marginale, sondern wirklich spürbare Entwick- lesen kann, ist echt im Vorteil!) lungen in Gang gesetzt werden … Hierzu werden übrigens noch Vorschläge erarbeitet. Das Das halte ich für wichtig. ist ein großes Unterfangen. Ich will darauf hinweisen, dass im vorliegenden Kin- (Iris Gleicke [SPD]: Ja, das ist allerdings der- und Jugendbericht auch die politischen Forderungen wahr!) formuliert worden sind, den Rechtsanspruch auf eine öf- Natürlich schreibt es sich leichter in einen Opposi- fentlich geförderte Betreuung von Kindern unter drei tionsantrag, wie das finanziert werden soll. Schwieriger Jahren zu erweitern, den Rechtsanspruch auf ein Platz- ist es, nach realistischen Wegen zu suchen. Aber seien angebot in der Kindertagesbetreuung auf Ganztages- Sie sicher: Wir arbeiten intensiv und geben uns Mühe. plätze zu erweitern und den Bildungsanspruch noch stär- Das wird sich auch lohnen. ker als bisher zu betonen. Das war nicht nur das Ende meiner Beantwortung Ih- (Beifall des Abg. [SPD]) rer Zwischenfrage, sondern auch die Zusammenfassung dessen, was ich zum Ausdruck bringen wollte: Es lohnt Das mag sich nach einem Wunschkatalog anhören. sich, gemeinsam nach Wegen zu suchen, um diese Ziele Aber unser politisches Ziel muss sein – hier gebe ich zu erreichen, Herrn Dörflinger ausdrücklich recht –, dafür Unterstüt- zung zu finden und die Finanzierung zu ermöglichen, (Ina Lenke [FDP]: Na, dann suchen Sie mal! damit dieser Wunschkatalog politische Realität wird. Das ist ja wie zu Ostern!) und zwar im Interesse der Kinder und Jugendlichen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Vielen Dank. Frau Kollegin Kressl, erlauben Sie eine Zwischen- frage der Frau Kollegin Lenke? (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7691

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: mal 36 Monate, eine soziale Sicherung für Kinder von (C) Das Wort hat jetzt die Kollegin Diana Golze von der Eltern mit geringem oder keinem Erwerbseinkommen, Fraktion Die Linke. das sind unsere zentralen Forderungen. Sie könnten den Kinderzuschlag zu dem machen, was er eigentlich sein (Beifall bei der LINKEN) soll: ein Mittel, um zu verhindern, dass Familien in Ar- mut, in Hartz IV leben müssen, nur weil ein Kind da ist. Diana Golze (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN) Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Ministerin! Herr Staatssekretär! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nebenbei würden Sie damit die Worthülsen Ihres Koali- Nach Angaben des Deutschen Kinderschutzbundes le- tionsvertrags mit Leben erfüllen. Den Kinderzuschlag ben mehr als 2,5 Millionen Kinder und Jugendliche in verbessern, hatten Sie sich schon für 2006 vorgenom- Deutschland unterhalb des Sozialhilfeniveaus. Dieser men. Papier ist ja geduldig. Aber Sie können sich darauf Satz oder ähnliche Sätze waren im letzten Sommer in al- verlassen, dass ich und meine Fraktion Sie an diese Pas- len Zeitungen zu lesen. Mit anderen Worten: Von den sage erinnern werden, bis endlich Vorschläge auf dem 15 Millionen Kindern in Deutschland haben 2,5 Millio- Tisch liegen. nen Kinder schlechtere Bildungschancen und ein hohes Gesundheitsrisiko. Besonders hoch ist das Risiko, in Ar- (Beifall bei der LINKEN) mut zu leben, für Kinder aus Migrantenfamilien, für Leider ist eine Verbesserung des Kinderzuschlags Kinder von Alleinerziehenden und für Kinder in Ost- nicht die einzige verpasste Gelegenheit. Sie haben einer deutschland. Föderalismusreform zugestimmt, die die Zuständigkei- Dass Kinder in Armut leben, bedeutet nicht nur ma- ten des Bundes weiter einschränkt und minimiert. Uns terielle Defizite. Das heißt, dass Kinder hungrig in die sind an Stellen die Hände gebunden, wo ein Eingreifen Kita oder in die Schule gehen. Das heißt, dass Eltern ihre dringend notwendig wäre und von allen Beteiligten er- Kinder von der Schulspeisung abmelden. Das heißt, dass wünscht ist. Es ist einigermaßen seltsam, wenn jetzt von diese Kinder oft genug keine Kultur- oder Bildungsange- der Regierungsbank und aus den Reihen der SPD eine bote nutzen können, weil zum Beispiel das Geld für den Debatte über die Verankerung eines erweiterten Rechts- Vereinsbeitrag fehlt. Das heißt, es gibt Kinder, die nicht anspruchs auf Kinderbetreuung angefangen wird. Ge- zur Geburtstagsfeier ihres Schulkameraden gehen, weil meinsam mit den Menschen in diesem Lande frage ich sie kein Geschenk mitbringen könnten. Kinderarmut mich ernsthaft, ob diese Regierung und die sie tragenden heißt: Armut an Bildung, Armut an gesellschaftlicher Parteien überhaupt wissen, was sie tun, geschweige Teilhabe, ja sogar Gefahr für die Gesundheit. Wenn wir denn, was sie getan haben. (D) (B) heute über die Lebenssituation von Kindern und Jugend- (Beifall bei der LINKEN) lichen debattieren, kommen wir also unweigerlich zu der Frage, wie man mit existierender Armut bei Kindern und Da hat im vergangenen Sommer die SPD fast geschlos- Jugendlichen umgeht – kurz-, mittel- und langfristig. sen für eine Föderalismusreform die Hand gehoben, mit der es dem Bund für die Zukunft ausdrücklich untersagt Als am 9. März des vergangenen Jahres der Zwölfte wird, den Kommunen Aufgaben zu übertragen. Die Kinder- und Jugendbericht hier zum ersten Mal debat- Große Koalition hat die angebliche Jahrhundertreform tiert wurde, habe ich die Frage gestellt, zum wievielten im Fußballfieber durchgedrückt – gegen den Rat der Ex- Mal der Deutsche Bundestag die gravierenden Mängel in perten, der Fachverbände und der Linksfraktion. der Kinder- und Jugendpolitik in unserem Land beklagt. In den Monaten, die seit dieser Debatte vergangen sind, (Iris Gleicke [SPD]: Linksfraktion im Zusam- hatten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Mög- menhang mit Experten!?) lichkeit, die Entwicklung positiv zu beeinflussen. Sie Es ist noch kein halbes Jahr vergangen, da fordern die- hätten zum Beispiel, wie es meine Fraktion mit dem An- selben Abgeordneten nun einen erweiterten Rechtsan- trag „Kinderzuschlag sozial gerecht gestalten – Kinder- spruch auf Kinderbetreuung. Ein richtiger Schritt. Aber armut wirksam bekämpfen“ vorgemacht hat, von der Ju- wer soll diesen Anspruch einlösen? Die Kommunen mit gendministerin die dringend notwendige Evaluierung ihren chronisch leeren Kassen? Der Städtetag hat sich zu und Weiterentwicklung des Kinderzuschlags einfordern Recht über dieses unseriöse Gebaren beschwert. Ich können. Sie haben die Gelegenheiten nicht genutzt. hatte schon im Sommer den Verdacht, dass die Abgeord- Stattdessen haben Sie einer Verschärfung der Vorausset- neten der Koalition gar nicht so genau gelesen haben, zungen für die Beantragung des Kinderzuschlags durch was sie da verabschieden. Insbesondere die SPD geht of- die Hintertür zugestimmt, und das, obwohl Sie wissen, fenbar davon aus, die Familien für dumm verkaufen zu dass seit langem neun von zehn Anträgen abgelehnt wer- können. den. „Schöne Worte, falsche Taten“, auf diesen Nenner kann man Ihre Politik bringen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Die Partei stößt einmal mehr an die Grenzen eines Grundgesetzes, das sie offensichtlich gar nicht so genau Dem setzen wir unseren Antrag, den Kinderzuschlag kennt. im Sinne der Betroffenen zu verbessern, entgegen. Weg- fall der Mindesteinkommensgrenze, Aufhebung der Be- Ja, wir brauchen einen Rechtsanspruch auf Kinder- schränkung des Bezugs des Kinderzuschlags auf maxi- tagesbetreuung, für alle Kinder, ab Geburt. 7692 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

Diana Golze (A) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) manch andere Gesetzentwürfe der Regierung, die Sie (C) mit Ihren Stimmen hier passieren lassen. Ja, wir brauchen beitragsfreie Kinderkrippen und Kin- dergärten, besser heute als morgen. Ja, wir brauchen da- (Iris Gleicke [SPD]: Den haben wir gelesen! für eine neue Verfassungsänderung und eine Idee, woher Deshalb lehnen wir ihn ab!) das nötige Geld dafür kommen soll. Nach Angaben der OECD sind „Deutschland und (Iris Gleicke [SPD]: Aha!) Österreich die einzigen Länder Westeuropas, in de- Aber vorher brauchen wir hier eine Grundsatzentschei- nen keine nennenswerte Präsenz von Beschäftigten dung: Sie müssen entscheiden, ob Sie Politik für Fami- in der Kindertagesbetreuung mit einer grundlegen- lien, für Kinder und Jugendliche machen wollen. Sie den Hochschulausbildung zu verzeichnen ist“ ... müssen entscheiden, ob Sie das Geld weiter den Unter- Dieses Zitat stammt aus einer Studie der Initiative Neue nehmen und den Börsengewinnlern hinterherwerfen Soziale Marktwirtschaft, die vom Institut der deutschen wollen Wirtschaft in Auftrag gegeben wurde. (Beifall bei der LINKEN) (Iris Gleicke [SPD]: Da müssen Sie sich ge- oder es für Kinder und Jugendliche einsetzen wollen, ob rade auf die beziehen!) Sie den Mut haben, das nötige Geld mittels einer Bör- senumsatzsteuer, durch eine soziale Umverteilung von Auch wenn weder die OECD noch das PR-Kampfschiff oben nach unten, zu besorgen – eine klare Forderung der Arbeitgeber in Verdacht stehen, besonders eng mit und ein ebenso einfacher wie tragfähiger Finanzierungs- unserer Fraktion verbandelt zu sein, ist diese Feststel- vorschlag. lung richtig. Erzieherinnen und Erzieher tragen eine hohe gesellschaftliche Verantwortung. Also sollte auch (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: die Gesellschaft ihrer Verantwortung nachkommen und Wieso koalieren Sie eigentlich in Berlin mit den Erzieherinnen und Erziehern eine bestmögliche der SPD? Erklären Sie mir das mal! Hier die Ausbildung angedeihen lassen. Klappe aufreißen und in Berlin die gleiche Po- litik machen!) (Beifall bei der LINKEN) – Dafür steht die Fraktion Die Linke, Herr Kuhn. Nun zum Bereich der Jugendhilfe. Sie muss laut Be- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: richt eine erweiterte Rolle spielen, und ihr kommt eine Ich sage nur: Berlin!) höhere Bedeutung zu. Mich stimmt es aber schon nach- denklich, dass einer der Sachverständigen bei der Anhö- (B) Die Koalition steht für das Gegenteil – ich sagte es be- rung zur Föderalismusreform seine Stellungnahme mit (D) reits –: schöne Worte, falsche Taten. dem Satz begonnen hat: Die Stellungnahme erfolgt vor Werfen wir einen Blick auf die Realität in den Län- der vielleicht optimistischen Annahme, dass die Ergeb- dern, die vom Bund in dieser Weise alleingelassen wer- nisse der Anhörung noch Einfluss auf die beabsichtigte den! Es zeichnet sich ein düsteres Bild: In Bayern Föderalismusreform haben und die Anhörung nicht ri- kommt ein Kitaplatz einem Sechser im Lotto gleich. In tuellen Zwecken dient. – Der Mann – es war im Übrigen vielen Einrichtungen werden die Kinder zudem nur stun- Professor Johannes Münder, ein anerkannter Experte für denweise am Vor- und Nachmittag betreut. In Thüringen das Kinder- und Jugendhilferecht – sollte recht behalten. gibt es eine Prämie für Eltern, die ihre Kinder nicht in Seine eindrucksvollen Worte wurden gehört, es wurde eine Kindertageseinrichtung bringen. genickt – und gut. (Iris Gleicke [SPD]: Dagegen wehren wir uns Ich erinnere mich noch gut an einen Morgen im Fami- übrigens!) lienausschuss, als die Kolleginnen und Kollegen der SPD vorschlugen, auf der Basis der äußerst kritischen In Sachsen-Anhalt wurde der Rechtsanspruch auf einen Stellungnahme der Kinderkommission ein Ausschussvo- Kindertagesbetreuungsplatz vom Erwerbsstatus der El- tum zu den Folgen der Föderalismusreform abzugeben. tern abhängig gemacht. In Brandenburg wurde ähnlicher Genauso gut erinnere ich mich auch noch daran, wie Unsinn beschlossen. schnell dieser Entwurf von den Tischen des Ausschusses Nur zur Erinnerung: In dem hier zu Recht von allen damals wieder verschwand. Seiten gelobten Kinder- und Jugendbericht wird die För- Meine Damen und Herren, Sie alle führen im Moment derung von Kindern unabhängig von ihrer sozialen Her- gerne die Worte „Generationengerechtigkeit“ und „de- kunft gefordert. mografischer Wandel“ im Munde. Viel zu oft tun Sie das (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) aber nur, um damit neue Sozialabbauorgien zu begrün- den, wie zum Beispiel die Rente ab 67 und die andauern- Bildung als Mittel zur Armutsverhinderung – das brau- den Verschärfungen für von Hartz IV Betroffene. chen wir. Genauso wie in unserem Entschließungsan- trag, den Sie nachher sicher pflichtschuldig ablehnen (Zuruf von der SPD: Das hat ja jetzt auch noch werden, wird auch in dem Bericht die Anhebung der gefehlt! – Gegenruf der Abg. Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher auf [SPD]: Jetzt ist alles komplett! Es fehlt nur Hochschulniveau gefordert. Vielleicht haben Sie unseren noch die Mehrwertsteuer! Das macht dann die Antrag ja genauso gut oder genauso wenig gelesen wie FDP!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7693

Diana Golze (A) Soziale Gerechtigkeit für alle im Land lebenden Men- Zweitens – das ist ein bedauerlicher Aspekt – ist die- (C) schen unabhängig von ihrem Alter – das ist unsere For- ser Bericht deshalb so aktuell, weil wir genau in diesem derung. Bereich immer noch viel zu wenig tun, obwohl wir wis- sen, was zu tun wäre, obwohl Handlungsdruck besteht, Wir haben an dieser Stelle mehr als einen Vorschlag obwohl wir genug Erkenntnisse, Wissen und Erfahrun- gemacht. Für uns steht nicht die Frage im Mittelpunkt, gen haben. Trotzdem passiert in diesem Land gerade in ob wir zu wenige Kinder haben, sondern die Tatsache, diesem Bereich noch immer viel zu wenig. dass zu viele Kinder in Armut leben. Wenn wir den Fa- milien und den Kindern die Angst vor der Zukunft neh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN men, dann schaffen wir auch die Rahmenbedingungen sowie bei Abgeordneten der FDP) dafür, dass sich wieder mehr Familien für Kinder ent- scheiden werden. Daran werden wir weiter arbeiten, und Das muss man an dieser Stelle auch der Großen Ko- wir werden Sie auf Ihre Verantwortung aufmerksam ma- alition anlasten: Sie sagen alle, wie wichtig Bildung und chen. Betreuung sind, und geben zu, dass da relativ wenig pas- siert. Aber wenn man sich Ihre Versprechungen ansieht, Vielen Dank. merkt man, dass auch Sie eigentlich nur mit Wasser ko- chen. (Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kollegin Deligöz, erlauben Sie eine Zwischen- Das Wort hat jetzt die Kollegin Ekin Deligöz von der frage der Kollegin Golze? Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bitte. Guten Morgen. – Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Golze, ich fand Ihre Rede gut. Vieles von dem, was Sie gesagt haben, kann ich unterstreichen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön, Frau Golze. (Iris Gleicke [SPD]: Das enttäuscht mich!) Ich frage mich nur, warum es ausgerechnet in Berlin, Diana Golze (DIE LINKE): wo Sie an der Regierung sind, die höchste Kinderar- Danke. – Frau Deligöz, Sie können sich denken, dass mutsquote gibt und ich das nicht so stehen lassen kann. Ich frage Sie, ob Sie (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wie ich der Auffassung sind, dass die Grundlagen, die (D) ich zitiert habe, zum Beispiel im Zusammenhang mit warum es in Berlin, wo Sie an der Regierung sind, die Hartz IV, hier im Bundestag beschlossen worden sind. wenigsten Ansätze der Kinder- und Familienpolitik und Haben Sie beispielsweise darüber Kenntnis, dass in Bay- die höchsten Kindergartenbeiträge gibt. ern Kindertagesstättengebühren von mehr als 130 Euro in der Woche zu zahlen sind, was in Berlin so nicht der (Diana Golze [DIE LINKE]: Das habe ich ge- Fall ist? Kurz gesagt: Können Sie meine Meinung zu- rade gesagt: Weil der Bund dafür die Verant- mindest verstehen, dass man nicht allein ein Bundesland wortung trägt! Der Bund entzieht sich seiner dafür verantwortlich machen kann, sondern dass auch Verantwortung!) wir als Bund eine Mitverantwortung für die Kinderarmut Das haben Sie zu verantworten. Darauf haben Sie selber in Deutschland tragen? keine Antworten. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Iris (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gleicke [SPD]: Ach, Frau Golze! Das ist doch sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Fritz wieder nach dem Motto: „Haltet den Dieb, er Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Blatt- hat mein Messer im Rücken!“!) schuss!) Die Veröffentlichung des Zwölften Kinder- und Ju- Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gendberichts liegt zwar schon eine Weile zurück; aber Frau Golze, ich finde, Sie dürfen hier nicht vom ich denke, die Ergebnisse und die Analyse sind aktueller Thema ablenken; aber das tun Sie gerade. denn je. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens ist die För- (Widerspruch bei der LINKEN – Zuruf von derung der Entwicklungs- und Bildungswege von jun- der LINKEN: Ihr habt Hartz IV beschlossen! – gen Menschen ausgesprochen komplex. Das ist uns sehr Dr. [DIE LINKE]: PDS-Allein- präsent. Die Politik hat die Aufgabe, in diesem Bereich regierung in Berlin!) zu handeln und Verantwortung zu übernehmen. Wir sind es den Kindern und auch ihren Eltern schuldig, die best- – Darf ich reden? möglichen Rahmenbedingungen zu schaffen, auf ihre in- (Iris Gleicke [SPD]: Getroffene Hunde bellen! dividuellen Lebenslagen einzugehen und Bildung als ein Ekin, das ist so!) Zukunftsprojekt dieses Landes, als Standortfaktor zu ei- nem ernsten Thema zu machen, über das wir debattieren Sie haben vorhin gesagt, dass die Föderalismusreform, müssen. der ich wahrhaftig nicht zugestimmt habe, für die Bun- 7694 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

Ekin Deligöz (A) desländer die Möglichkeit geschaffen habe, in diesem men ein. Das hat auch zur Folge, dass die Kommunen (C) Bereich eigenständig Regelungen zu treffen. Und was daran gehindert werden, ihre Vorstellungen umzusetzen. machen Sie hier in Berlin? Nichts! Warum nutzen Sie Machen Sie eine konsequente Politik! Uns werden Sie diese Möglichkeit nicht? dann an Ihrer Seite haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und bei der CDU/CSU) Wir Grünen haben mit der Kinderbetreuungskarte ein Man kann das ja auch ins Positive wenden. Man kann et- klares Konzept vorgelegt. Damit können wir den qualita- was tun. Sie könnten doch in die Bildung und in die Kin- tiven und quantitativen Ausbau der Kinderbetreuung in dergärten investieren. Gerade in Bezug auf die Beiträge den Kinderkrippen und bei der Ganztagesbetreuung vo- wäre ich ganz ruhig angesichts dessen, was die Eltern ranbringen. Wir meinen, dass Qualität mindestens ge- hier zahlen müssen, inklusive Mittagessen, unabhängig nauso wichtig ist wie Quantität. Wir haben ein finanzier- von ihrem Verdienst. bares Modell vorgelegt. Dahinter steckt vor allen Dingen ( [DIE LINKE]: Das stimmt doch ein modernes Denken. überhaupt nicht!) Ich kann Ihnen nur sagen: Überwinden Sie endlich Sie wollen hoffentlich nicht, dass die Kinder vom Mit- Ihre Scheu! Wir müssen Kinder und Familien anstelle tagessen abgemeldet werden. Deshalb würde ich nicht so des Trauscheins fördern. Sie alle wollen sich einen mo- laut mit Blick auf Bayern schreien. Ich kenne die Sätze dernen Anstrich geben. Sie wollen eine moderne Fami- in Bayern und ich kritisiere sie. Aber die Zahl, die Sie zi- lienpolitik machen. Wenn es aber konkret wird, dann tiert haben, trifft auf Bayern nicht zu. In Bayern haben meinen Sie Ihre Ankündigungen nicht ernst. Das ist auch wir in Bezug auf die Kindergärten die niedrigsten Zah- an diesem Punkt eine doppelzüngige Politik. Entweder len, das stimmt; Sie stehen für die neuen Familienbilder – dann müssen Sie aber auch konsequent handeln –, oder Sie schaffen es (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Aber dafür gibt nicht, Ihre Vorbehalte zu überwinden. Dann sehe ich es da viel zu viel CSU!) schwarz für diese Nation. denn die Bayern haben nicht verstanden, dass es auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) eine moderne Familienform gibt. Aber was Sie machen, entschuldigt das nicht. Sie können das eine schlechte Die Koalitionsfraktionen überschlagen sich regelrecht Handeln nicht mit einem anderen schlechten Handeln mit Ankündigungen, beispielsweise wollen sie beitrags- entschuldigen. Das dürfen wir nicht zulassen. freie Kindergartenplätze. Sie schaffen mit der Beitrags- (B) freiheit aber keinen einzigen neuen Kindergartenplatz. (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Sie tun nichts zur Verbesserung der Qualität in den Ein- bei der CDU/CSU und der FDP) richtungen. Wenn Sie verantwortlich handeln wollen, dann müssen (Ina Lenke [FDP]: Ja!) Sie Ihre Forderungen hier vor Ort, wo Sie an der Regie- rung sind und Verantwortung haben, umsetzen und dür- Sie nehmen die kindliche Frühförderung nicht ernst. Sie fen nicht einfach mit anderen Themen ablenken. reden zwar darüber, aber Sie tun nichts, wenn es darum (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- geht, eine bessere Qualifizierung der Erzieherinnen zu SES 90/DIE GRÜNEN – Diana Golze [DIE erreichen. LINKE]: Auf meine Frage nach Hartz IV ha- Herr Dörflinger, wir reden nicht über 100 Prozent ben Sie nicht geantwortet! – Johannes Akademisierung. Wir reden, wie im Bericht, immer über Singhammer [CDU/CSU]: Setzen, Sechs!) Mischformen. Auch in diesem Bereich sind Sie nicht Ein weiterer Bereich. Es geschieht noch viel zu we- mutig genug. Initiativen zur Verbesserung der Qualität nig, auch im Hinblick auf die Betreuung. Einerseits sa- findet man bei Ihnen nicht. Aber genau das fordert der gen Sie, Sie setzen auf das TAG und dass das TAG er- Bericht. Da sollten Sie noch einmal genau nachlesen. folgreich ist. Wir werden noch darüber streiten müssen, Wir brauchen keine Beitragsfreiheit für Kindergarten- ab wann man das TAG als erfolgreich bezeichnen kann. plätze, sondern Betreuungsplätze und eine bessere Qua- Andererseits sagen Sie aber: Wenn das nicht so sein lität der Einrichtungen. Wir brauchen Politik mit Sub- sollte, setzen wir auf einen Rechtsanspruch. – Wenn Sie stanz und nicht leere Worte. für einen Rechtsanspruch sind, warum setzen Sie ihn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dann nicht um? Unsere Unterstützung dabei hätten Sie. Entweder Sie finden einen Rechtsanspruch richtig und Noch eine Bemerkung zum Vorschlag von Frau von notwendig; dann müssen Sie ihn auch umsetzen. Oder der Leyen. Sie sagen, die Mittel, die aufgrund des Ge- Sie sehen das anders; dann müssen Sie das auch sagen. burtenrückgangs frei werden, könne man für die Finan- Aber dieses Herumgeeiere verdummt die Menschen, zierung der Beitragsfreiheit verwenden. Hinsichtlich der verunsichert die Familien und weckt Hoffnungen, die Verwendung der Mittel für die Schulen kann ich nur sa- Sie nicht einhalten werden. Vor allem machen Sie eines: gen: Unterhalten Sie sich einmal mit den Landespoliti- Sie schrecken die Kommunen auf, ohne ihnen irgend- kern! In den Schulen haben wir große Defizite. Wir welche Konzepte, über die man debattieren kann, vorzu- brauchen mehr Lehrer, mehr Ganztagseinrichtungen und legen. Dadurch fangen Sie sich noch mehr Gegenstim- kleinere Klassen. Darauf hoffen die Bildungspolitiker. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7695

Ekin Deligöz (A) Sie sind gar nicht mit der Idee einverstanden, dass Sie Das ist eine Verdummung der Familien. So schafft man (C) das Geld woanders verfrühstücken wollen. keine Zukunftsperspektiven für Kinder und Familien in diesem Land. Das Einzige, was man daran erkennen Wenn Sie frei werdende Mittel im Kindergartenbe- kann, ist, dass Sie den vorliegenden Bericht, den wir alle reich meinen, dann kann ich nur sagen: Diese haben wir gut finden und über den wir hier debattieren, nicht gele- damals, dank der CDU/CSU, beim TAG verfrühstückt. sen haben. Sie haben nicht verstanden, worum es eigent- Dieses Geld haben wir den Kommunen bereits zugestan- lich geht. den, und es ist nicht mehr verfügbar. Sie sollten da Ihre Verhandlungspositionen nachlesen. Damals haben Sie Auch wir von den Grünen haben heute einen Antrag das Geld nämlich schon ausgegeben, sodass es jetzt eingebracht. In unserem Antrag haben wir Ihnen darge- nicht mehr zur Verfügung steht. stellt, welche Möglichkeiten es gibt. Wir setzen in unse- rem Antrag die richtigen Prioritäten. Wir brauchen eine Frau Ministerin, Sie sagen, man solle den Rechtsan- bessere Infrastruktur; wir brauchen Qualität in den Ein- spruch nicht als Drohgebärde einsetzen. Das ist Unsinn. richtungen. Wir brauchen eine Politik für Kinder, für Die Kommunen würden, wenn man ihnen genaue Vor- Aufwachsende, für Familien, für diejenigen, die in die- schläge machen würde, verhandeln. Der Wille ist da. sem Land Verantwortung übernehmen. Ihre Politik ver- Aber man muss, wie gesagt, konkrete Vorschläge ma- fehlt diese Ziele. chen. Man darf nicht irgendwelche leeren Versprechun- gen machen und hinterher sagen, dass es so nicht gehe. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Man braucht da schon mehr als eine populistische An- kündigungspolitik. Das habe ich bisher aufseiten der Ko- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: alition vermisst. Das Wort hat jetzt die Kollegin Michaela Noll von der CDU/CSU-Fraktion. Ein gutes Beispiel in Sachen populistischer Politik und falsche Prioritätensetzung liefert uns an diesem (Beifall bei der CDU/CSU) Punkt die Union. Einerseits sagen Sie, dass wir eine gute Kinderbetreuung brauchen. Andererseits wissen wir, Michaela Noll (CDU/CSU): dass das Ministerium mit Hochdruck an einem Fami- Herr Präsident! Frau Ministerin! Meine sehr geehrten liensplitting arbeitet. Familiensplitting klingt gut. Sie Damen und Herren! „Mit fairen Chancen Kinder stark argumentieren an dieser Stelle mit der Gerechtigkeit, machen“, so lautet der Titel unseres Antrages. Für mich nämlich Gerechtigkeit bei der Verteilung der Finanzmit- bedeutet das, jedem einzelnen Kind Chancen zu geben, tel. Aber Ihr Gerechtigkeitsbegriff grenzt mehr als seine Probleme zu verstehen und die Kinder zielgerichtet 2 Millionen Kinder aus. Denn es werden all die Fami- (B) zu fördern. (D) lien, die keine Steuern zahlen, nicht berücksichtigt. Die Frau Kollegin Gruß, jetzt muss ich Sie gleich einmal Kinder in Familien, die ein niedriges Einkommen haben ansprechen. Ich werde Ihnen jetzt erläutern, dass unsere oder die von Hartz-IV-Leistungen leben, werden eben- Bilanz nach einem Jahr recht gut aussieht. Im falls nicht berücksichtigt. Ihr Gerechtigkeitsbegriff um- Zwölften Kinder- und Jugendbericht wurde deutlich an- fasst nur die Gut- und Besserverdienenden. gemahnt, dass zu viele Kinder die Schule ohne Ab- (Iris Gleicke [SPD]: Quatsch!) schluss verlassen und damit keine Perspektive haben. Dazu zählen wir gerade die Gruppe der sogenannten har- Das ist nicht die Gerechtigkeit, die ich meine. Das ist ten Schulverweigerer. Was sind denn Schulverweige- nicht die Gerechtigkeit, die für die Familien in diesem rer? Das sind Kinder, die frühzeitig in der Schule versa- Land gut ist. Das sollten Sie noch einmal überlegen. gen und den Schulbesuch ganz verweigern. Diese sogenannte Null-Bock-Generation hat angeblich keine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Lust auf Schule und Leistung. Nach den Angaben der Die SPD denkt darüber nach, Mittel für eine mögliche Experten sind das 1 bis 2 Prozent der Kinder. Kindergelderhöhung zur Förderung der Infrastruktur Für diese Schulverweigerer möchte ich an dieser einzusetzen. Darüber könnte man, wenn dies möglich Stelle eine Lanze brechen. Wer sich einmal mit diesen wäre, rein theoretisch reden. Aber wenn Sie dies ernst Jugendlichen beschäftigt und ihnen zugehört hat, weiß, meinen, warum haben Sie dann die Anpassung des Exis- dass es sich zum größten Teil nicht um eine Null-Bock- tenzminimums, die die Freistellung von Mitteln für die- Generation handelt. Dies sind Jugendliche, die unsere ses Vorhaben garantieren würde, um zwei Jahre verscho- Hilfe brauchen. Zum Teil haben sie einen Migrationshin- ben? Das hätten wir schon jetzt machen können. Wenn tergrund. Zum Teil kommen sie aus Risikofamilien mit man sich den Haushaltsplan anschaut, dann findet man massiven sozialen Problemen, wo Alkohol und Drogen diese Mittel nicht. Früher hätte man gesagt: Sie haben oftmals den Alltag der Eltern bestimmen. Andere hinge- eine virtuelle Idee, deren Umsetzung Sie mit ungedeck- gen leiden unter Mobbing. Mittlerweile werden 10 bis ten Schecks bezahlen. Inzwischen kann man sagen: Sie 15 Prozent der Kinder Opfer von Mobbing. Sie werden haben eine virtuelle Idee, deren Umsetzung Sie mit vir- in der Schule gehänselt, gedemütigt und bloßgestellt. tuellem Geld bezahlen wollen, mit Geld, das Sie nicht Diesem Psychoterror sind sie nicht gewachsen. Sie ver- haben und nicht in den Haushalt einstellen. Das zeigt, lieren Kraft und die Lust an der Schule. dass Sie das Ganze nicht ernst meinen. Jetzt bekommen sie mit dem Bundesprogramm „Die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 2. Chance“ endlich Hilfe. 7696 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

Michaela Noll (A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Diana Golze [DIE LINKE]: Wer hat denn Ber- (C) der SPD) lin in die Lage gebracht?) 74 Standorte sind vorgesehen. Man setzt auf eine ver- wenn es darum geht, sich auf finanzielle Leistungen zu stärkte Vernetzung. Die betroffenen Jugendlichen wer- beschränken. Geld allein wird nichts bringen. Das hat den zurück in die Schulen gebracht und bekommen eine auch Professor Rauschenbach festgestellt. zweite Chance auf einen Abschluss. Kinderarmut muss man auch unter dem Aspekt der Ein solches Projekt gibt es bei mir im Wahlkreis. Seit Arbeitslosigkeit der Eltern sehen. Dass im letzten Jahr sieben Jahren kümmert man sich um solche Jugendli- viele Menschen in Arbeit gekommen sind – das ist un- chen. 82 Prozent dieser Jugendlichen kehren zurück in sere Bilanz –, hilft den Familien und kommt den Kin- die Schule. Ich glaube, das ist eine wirklich gute Bilanz. dern zugute. Frau Ministerin, Ihr Projekt heißt zwar „2. Chance“; aber für diejenigen Kinder, mit denen ich gesprochen (Beifall bei der CDU/CSU) habe, war es oftmals die erste Chance, aus dem Teufels- Sehr geehrte Damen und Herren Kollegen von der kreis der Perspektivlosigkeit herauszukommen. Sehen Opposition, ich habe mich auch mit Ihren Anträgen be- Sie, Frau Gruß, allein dieser Punkt ist sehr wichtig. schäftigt. Darin erwähnen Sie nicht mit einem einzigen Ich möchte einen zweiten Punkt ansprechen. Wenn Wort das zunehmende Engagement der älteren Genera- wir von fairen Chancen sprechen, müssen wir auch die tion für unsere Kinder. Alle wissen – damit trete ich si- Problematik der Jungen in unserer Gesellschaft beden- cherlich keinem zu nahe –: Wir sind mittlerweile ein ken. Bereits in der letzten Legislaturperiode hatte ich Land der Silberfüchse. dazu eine Kleine Anfrage mit dem Titel „Verbesserung Vergangenen Mittwoch war Herr Professor Kruse, der der Zukunftsperspektiven für Jungen“ gestellt. Ange- Vorsitzende der Altenberichtskommission, bei uns im sichts der Ergebnisse können wir, glaube ich, zum Teil Ausschuss zu Gast; er stellte den Altenbericht vor. Er be- sagen: Die Jungen entwickeln sich zu unseren Sorgen- tonte dabei inständig, dass wir auf die Potenziale der äl- kindern. Die Jungen haben eine schlechtere Lern- und teren Generation setzen sollten. Lesekompetenz. Die Jungen brechen doppelt so oft die Schule ab. Die Jungen entwickeln drei- bis viermal so Die Gesellschaft muss sich von dem Altenbild verab- häufig Verhaltensauffälligkeiten. Bei den Jungen spre- schieden, das leider auch zum Teil über die Medien chen wir auch mehr von Medienverwahrlosung. Gerade transportiert wird. Alter bedeutet nicht nur Demenz, dieses Problem wird von Experten darauf zurückgeführt, Pflege oder Heim. Es gibt „junge Alte“, die sich gerne dass den Jungen in ihrer frühkindlichen Entwicklung aktiv einbringen würden. Wir müssen den älteren Men- (B) männliche Rollenbilder fehlen. Auch dies bestätigte schen optimale Rahmenbedingungen zur Förderung von (D) Professor Rauschenbach in der Anhörung zum Zwölf- Kindern und Jugendlichen bieten. ten Kinder- und Jugendbericht. Er sagte: „Es ist ein (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Drama, dass zunehmend Kinder bis zum 10. Lebensjahr neten der SPD und der FDP) in männerfreien Zonen aufwachsen.“ Wie können wir hier gegensteuern, um diesen Jungs eine faire Chance zu Nur so schaffen wir ein gutes Klima für einen generatio- bieten? Notwendig sind mehr Elternkompetenz, vor al- nenübergreifenden Zusammenhalt. lem aber auch mehr männliche Bezugspersonen in der Erziehung und Betreuung. Es gibt mittlerweile Vorlesepaten in Kindergärten und die „Seniorpartners in School“, die Mobbingopfern oder Sie, Frau Ministerin, gehen dieses Problem mit dem benachteiligten Jugendlichen helfen. Auch diesen As- Pilotprojekt „Neue Wege für Jungs“ aktiv an. Damit pekt hätten Sie in Ihren Anträgen erwähnen können. werden den Jungen neue Wege für ihre Berufs- und Le- bensplanung aufgezeigt. Damit erhöhen sich auch die Ferner setzen wir uns für den weiteren Ausbau von Chancen, dass sich mehr Jungen für erzieherische und Mehrgenerationenhäusern ein. Es gibt bereits 200 die- soziale Jobs entscheiden. Frau Ministerin, Sie haben den ser Häuser, und wir sind auf einem guten Weg. Ich Anfang gemacht. Ich habe in einem Gespräch mit Minis- denke, die nächsten 263 werden zügig auf den Weg ge- ter Laschet aus Nordrhein-Westfalen, meinem Bundes- bracht. land, festgestellt, dass auch er Handlungsbedarf sieht. Gerade im vergangenen Jahr wurden sehr viele scho- An dieser Stelle möchte ich auch der FDP ein Kompli- ckierende Fälle von Kindesvernachlässigung und Kin- ment machen: Die Forderung nach mehr männlichen Er- desmisshandlung bekannt. Die jüngste Kriminalitäts- ziehern ist der richtige Weg. statistik spricht von 175 Fällen. Fast jede Stadt hat Kollegin Ekin Deligöz hat eben kurz zu Frau Golze solche Fälle; die Namen sind austauschbar. Deshalb plä- Stellung genommen. Vor allem ihr Eingangsstatement dieren wir für ein Frühwarnsystem, um Risikofamilien kann ich voll und ganz unterschreiben. Wer im Glashaus zu unterstützen. Wir müssen hier keine Diskussion über sitzt, wer in Berlin in der Regierung sitzt, sollte nicht mit verbindliche oder verpflichtende Vorsorgeuntersuchun- Steinen schmeißen, gen führen. Neue Untersuchungen alleine werden wahr- scheinlich nicht zielführend sein. Ich plädiere vielmehr (Dr. [DIE LINKE]: Was? dafür, beim Alltag der Familien anzusetzen und die Risi- Das kann man unbesehen zurückgeben! kofamilien tatkräftig zu unterstützen. Ich nenne das Schmeißen Sie mal selber nicht mit Steinen! – „Prävention ab Nabelschnur“. Es muss unser Ziel sein, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7697

Michaela Noll (A) die Familien bzw. die Elternkompetenz zu stärken, damit hier für die Opposition fest – nicht eingehalten wurden. (C) sie den Alltag bewältigen können. Wir Parlamentarier und Parlamentarierinnen haben nicht Wünsche zu formulieren, sondern konkrete Vorschläge (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und zu machen, die in der Realität umgesetzt werden können. der SPD) Frau von der Leyen, wichtig ist daher, mehr als bisher Es gibt eine Gruppe von Risikofamilien, auf die ich mit den Bundesländern und den Kommunen zusammen- die Aufmerksamkeit lenken möchte, und zwar psy- zuarbeiten. Wir haben Ihnen schon recht frühzeitig den chisch kranke Eltern und ihre Kinder. Wussten Sie, Vorschlag gemacht, einen Kinderbetreuungsgipfel einzu- dass es in Deutschland 500 000 Kinder gibt, bei denen berufen, um zu sehen, wie man gemeinsam die Kinder- ein Elternteil an einer manischen Depression oder Schi- betreuung finanzieren kann. Das geht nur im Dreiklang zophrenie leidet? Wussten Sie, dass diese Kinder ein aus Bund, Ländern und Kommunen. deutlich erhöhtes Risiko haben, selbst daran zu erkran- ken? Zweitens. Unbestritten ist, dass es Aufgabe des Staa- tes ist, Eltern Unterstützung zu geben und das Kindes- Die Eltern sind oftmals in Therapie. Um die Eltern wohl zu gewährleisten. Wir, die Opposition, werden sehr kümmert man sich. Aber daran, dass es für die Kinder aufmerksam verfolgen, ob Sie mit Ihrer großen Mehrheit besonders schwierig ist, in diesem Lebensumfeld aufzu- allen Kindern in der Bundesrepublik Deutschland glei- wachsen, denken wenige. Diese Kinder brauchen unsere che Chancen eröffnen. Das ist eine nie endende Auf- Hilfe. gabe. Es gibt Projekte wie „KIPKEL“ in Nordrhein-Westfa- (Beifall bei der FDP) len, die sich ausschließlich um die Unterstützung von Kindern psychisch kranker Eltern kümmern und ihnen Bildung, Betreuung und Erziehung sind in den ersten damit helfen, das Leben mit ihren kranken Eltern zu be- Lebensjahren eines Kindes vorrangig Aufgabe der El- wältigen. „KIPKEL“ hat in den vergangenen acht Jahren tern. Wir Liberale fordern deshalb die Bundesregierung rund 700 Kinder im Kreis Mettmann begleitet. Diese auf, alles daran zu setzen, damit Eltern und Kinder die Kinder sind auf dem richtigen Weg. Solche Projekte Freiheit haben, ihr Leben so zu gestalten, dass es gut ge- brauchen wir. lingt. Die FDP fordert als Oppositionsfraktion deshalb erstens die vollständige Absetzbarkeit der Kinderbetreu- Uns darf kein Kind verloren gehen. Deshalb brauchen ungskosten – bislang müssen erwerbstätige Eltern einen alle Kinder faire Chancen, und zwar von Anfang an. Teil dieser Kosten privat finanzieren –, zweitens Nach- Vielen Dank. besserungen beim Elterngeld – die Bundesregierung hat nun quasi durch die Hintertür, über Änderungen beim (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- BAföG zugunsten von Studentinnen mit Kindern, sehr (D) neten der SPD) viel angekündigt; es wird interessant sein, zu sehen, ob sie unserem schon lange vorliegenden Antrag auf ein Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Baby-BAföG folgen wird – und drittens die Umsetzung Das Wort hat jetzt die Kollegin Ina Lenke von der aller Ihrer Versprechen. Das können Sie von der Großen FDP-Fraktion. Koalition; denn Sie haben eine Mehrheit von 73 Prozent im Deutschen Bundestag. (Beifall bei der FDP) (Iris Gleicke [SPD]: Das sind jetzt schon zwei- Ina Lenke (FDP): mal zwei Minuten Redezeit!) Meine Damen und Herren! Vorab eine Bemerkung: – Nein. Ich habe drei Minuten Redezeit. Frau Gruß hat Frau Humme, eine Diskussion über einen Regierungsbe- eine Minute weniger geredet. richt, bei der erst am Schluss die Ministerin spricht, ist parlamentarisch unverschämt und ohne Stil. Nutzen Sie Ihre Mehrheit, um Deutschland zu einem kinderfreundlichen Land zu entwickeln! Wir, die Oppo- (Beifall bei der FDP und der LINKEN – Zu- sition, werden konstruktive Vorschläge machen und Sie rufe von der SPD: Oh! Oh! – Johannes vielleicht manches Mal zum Jagen tragen. Singhammer [CDU/CSU]: Das ist die beste Redezeit!) (Beifall bei der FDP) Wir haben heute eine Menge guter Vorschläge und Anregungen gehört, aus denen hervorgeht, wie wir die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Situation der Kinder in Deutschland verbessern können. Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Kucharczyk Viele dieser Ansätze unterstützt die FDP grundsätzlich. von der SPD-Fraktion. Zwei Punkte fallen mir bei dieser Debatte allerdings auf. (Beifall bei der SPD) Erstens. An keiner Stelle haben heute die Parlamentarier von SPD und CDU/CSU uns erklären können, wie kos- tenlose Kindergartenplätze geschaffen werden sollen Jürgen Kucharczyk (SPD): und wie der Rechtsanspruch auf eine frühe Kinderbe- Mit der Idee der beitragsfreien Kitas schaffen wir treuung verwirklicht werden soll. SPD und CDU/CSU Chancengleichheit im Bereich der Kinderbetreuung. Das sowie die Familienministerin haben in der Öffentlichkeit geht einher mit unserem Grundsatz der sozialen Gerech- Versprechungen gemacht, die bislang – das stelle ich tigkeit und ist die logische Fortführung unserer in der 7698 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

Jürgen Kucharczyk (A) letzten Legislaturperiode begonnenen zukunftsgewand- Dazu gehört auch die Stärkung der Medienkompe- (C) ten Familienpolitik. tenz von Kindern und Jugendlichen. Wir müssen Eltern und Schüler im Umgang mit den Medien sensibilisieren, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) um eine verantwortungsvolle Nutzung sicherzustellen. Wir dürfen die Medienkompetenz unserer Kinder und Denn eines ist mehr als deutlich: Zur heutigen Kinderbe- Enkel auch im Hinblick auf ihre spätere Berufslaufbahn treuungsrealität gehören meist zwei arbeitende Erzie- nicht unterschätzen. Der korrekte Umgang mit elektroni- hungsberechtigte oder Alleinerziehende, die auf eine schen Medien gehört heutzutage schon zur Basisqualifi- funktionierende Kinderbetreuung angewiesen sind. Aber kation. Im Kindergarten oder in der Kita muss damit be- auch Familien, die, aus welchen Gründen auch immer, gonnen werden, die Kinder medienbewusst zu erziehen, mit der Erziehung überfordert sind, greifen wir damit am besten schon zu Hause. Die heutigen Untersuchungs- unter die Arme. Wir geben damit den Kleinen die not- ergebnisse sagen klar: Zu viel Fernsehen, Computer- wendige Starthilfe für das Leben. spiele und Spielkonsolen in den ersten acht Lebensjah- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ren von Kindern erschweren die Entwicklung von Aufnahmefähigkeit, Eigenständigkeit und Kreativität. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ina Lenke Der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht lässt hier [FDP]) keine Zweifel aufkommen: Bereits die Jahre in der Kita oder im Kindergarten sind wichtige Entwicklungs- und Der vermeintliche Mangel an Zeit der Eltern für Zuwen- Lehrjahre frühkindlicher Bildung, ohne die eine gerad- dung und Aufmerksamkeit für die Kinder darf nicht dazu linige Schul- und Berufsausbildung erschwert wird. In führen, dass Eltern aus Bequemlichkeit ihre Kinder vor den ersten Lebensjahren werden nach heutigen Erkennt- dem Fernseher oder der Spielkonsole ruhigstellen. Das nissen die wichtigsten Weichen für die Zukunft eines ist eine gefährliche Entwicklung. Menschen gestellt. Fördern und Fordern ist daher auch Richtig ist aber auch, dass ab dem Grundschulalter für die Kleinsten unserer Gesellschaft das richtige Mit- neben dem Fernsehen auch die Musikmedien und Com- tel. Sprachliche und musische Bildung sowie die Kom- puter, darunter auch das Internet, an Bedeutung gewin- munikation mit Gleichaltrigen sind später nur schwer nen. Die Medien dienen jungen Menschen – hier zitiere oder mit viel Aufwand zu erlernen. ich den Zwölften Kinder- und Jugendbericht – „als Fun- Ich unterstütze ausdrücklich die sukzessive Beitrags- dus für Orientierung im Hinblick auf die Persönlich- freistellung der gesamten Kitazeit, wie der SPD-Partei- keits- und Lebenskonzepte“, gleichzeitig als „Wissens- und Informationsquellen“ und „für den Erwerb von (B) vorstand in Bremen vorgeschlagen hat. Beginnend mit (D) dem letzten Kitajahr werden wir uns schrittweise vorar- Kompetenzen“. Verbote oder eine regelrechte Verteufe- beiten und in den nächsten Jahren hoffentlich eine lung der neuen Medien dienen der Sache, wie wir wis- durchgängige gebührenfreie vorschulische Bildungs- sen, nicht. und Betreuungseinheit im Bundesgebiet geschaffen ha- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ben. Ob ein direktes Verbot von sogenannten Killerspielen (Ina Lenke [FDP]: Wieder ein Versprechen!) den Erfolg bringt, den wir uns wünschen, müssen wir dringend diskutieren. Die Struktur für eine frühkindliche Bildung für alle muss Vorrang haben gegenüber weiteren direkten Leis- Wichtig ist, unsere Gesetze – etwa § 131 Strafgesetz- tungen an Familien. Im Sinne eines stimmigen Gesamt- buch – konsequent zu nutzen, das Jugendschutzgesetz konzeptes ist es auch wichtig, die Förderung von und die Regelungen im Mediendienste-Staatsvertrag zu Ganztagsschulen nicht aus den Augen zu verlieren. verschärfen, Missbrauch zu bestrafen und bei der Kenn- Hier hat die rot-grüne Regierung mit ihrem Projekt der zeichnung der Altersstufen deutlicher – also für jeden offenen Ganztagsschule bereits in der letzten Legislatur- Laien erkennbar – Signale zu setzen. Spiele, die dadurch periode den Einstieg in ein sich als richtig bewährendes auffallen, dass virtuell Blut spritzt oder dass virtuell Programm gemacht. Es lässt das Fazit zu: Die Menschen massakriert werden, sollten weder konzipiert 4 Milliarden Euro Steuergelder sind an dieser Stelle in noch hergestellt werden dürfen. Was zur Vorbereitung unsere Kinder- und Enkelgeneration sehr gut investiert. von Soldaten auf terrorbekämpfende Einsätze oder frie- denssichernde Maßnahmen durchaus Sinn macht, sollte (Beifall bei der SPD) nicht mit Spielen für die Freizeit gleichzusetzen sein. Denn die zukünftigen Generationen haben ein Recht auf Der Koalitionsvertrag zeigt eigentlich all das auf, was echte Chancengleichheit, und wir wollen und brauchen wir in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren im In- mehr erfolgreiche Bildungsbiografien. Das ist nicht zu- teresse der Kinder auf den Weg bringen müssen. Ich letzt ein zentraler Punkt im Zwölften Kinder- und glaube, wir haben hier die Perspektive, das anzupacken, Jugendbericht. Wir haben die Aufgabe, unseren Nach- was in diesem Land im Sinne der Kinder notwendig ist. kommen unabhängig von Bildung und finanzieller Un- Wir lehnen die Anträge der Opposition ab. terstützung des Elternhauses einen guten Start in ein ei- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. genständiges Leben zu bieten. Es liegt an uns, ob diese Bildungsförderung ein Erfolg oder ein Misserfolg wird. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7699

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dern insbesondere in den Jahren vorher. Umgekehrt: Er- (C) Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Dr. Ursula ziehung, auch die durch das Elternhaus, hört nicht an der von der Leyen. Schultür auf, sondern geht nahtlos weiter. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dieser Bericht macht sehr deutlich, dass wir lernen müssen, innerhalb der föderalen Ordnung immer wieder Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Grenzen zu überwinden. Die Bundesregierung unter- Familie, Senioren, Frauen und Jugend: stützt diese grundlegende Richtung. Ich möchte vorweg Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden sagen: Es gibt unendlich viel zu tun. Ich denke, es ist heute über die Politik für Kinder und Jugendliche. Wenn müßig, über verschüttete Milch, also über das, was in der man es genau betrachtet, stellt man fest, dass das inzwi- Vergangenheit nicht geschehen ist, zu klagen. Unsere schen leider eine Politik für eine Minderheit geworden Aufgabe besteht vielmehr darin, nach vorne zu schauen ist: In nur noch 25 Prozent der Haushalte in Deutschland und klarzustellen, was wir vor dem Hintergrund dessen, leben minderjährige Kinder. Lassen Sie mich vor der was wir inzwischen wissen, in Zukunft tun können. Es Abschlussbetrachtung dieses Kinder- und Jugendberich- gibt auch eine Reihe von Forderungen der Sachverstän- tes drei Gedanken über das, was in dieser Debatte gesagt digenkommission, deren Umsetzung sich bereits in un- worden ist, äußern. serer heutigen Politik widerspiegelt. Zunächst einmal begrüße ich, dass in dieser Debatte Der erste Bereich sieht vor, junge Familien von An- immer wieder ein Gedanke geäußert worden ist – er zog fang an finanziell wirksam zu fördern. Hierbei ist das sich wie ein roter Faden durch die Diskussion –: Das, Elterngeld, das klar in der Bundesverantwortung liegt, was wir heute in unsere Kinder investieren, ist entschei- ein ganz großer Meilenstein und Baustein eines nachhal- dend dafür, wie dieses Land in 20 oder 30 Jahren ausse- tigen, ganzheitlichen Konzeptes gewesen. hen wird. Dann werden wir, die wir heute handeln, die (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) große Masse der älteren Bevölkerung stellen. Wir sind uns also über Folgendes bewusst: Wenn weniger Kinder Es hat vor allem zum ersten Mal dazu geführt, dass geboren werden – diese Kinder werden voraussichtlich junge Familien bei der Familiengründung nicht als aller- mehr leisten müssen als unsere Generation –, dann ist erstes eine finanzielle Achterbahn, sondern insbesondere das Mindeste, dass wir ihnen optimale Startbedingun- den Rückhalt der Gesellschaft erleben. gen schaffen. Optimale Startbedingungen heißt: Bil- dung, aber auch emotionale Wärme und Stabilität. Aber – jetzt kommt wieder der schmale Fokus auf die Kinder, die es besonders schwer haben – es gibt eben (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie (B) auch Eltern, die sich überhaupt nicht um ihre Kinder (D) bei Abgeordneten der FDP) kümmern, und zwar von Anfang an nicht. Mein zweiter Gedanke bezieht sich auf den Aufbau In diesem Bereich hat die Bundesregierung im ver- dieses Kinder- und Jugendberichts. Zunächst einmal be- gangenen Jahr ganz konsequent gehandelt. Wir haben leuchtet dieser Bericht zu Recht die Frage, was wir für drei Säulen aufgebaut. Die erste Säule ist das Nationale alle Kinder tun können, damit sie einen möglichst guten Zentrum Frühe Hilfen, das wir eingerichtet haben und Start und möglichst gute Rahmenbedingungen haben. Im in dem wir Wissenschaft – die wir brauchen, um mehr zu Blickpunkt stehen zusätzlich diejenigen Kinder, die es lernen – und Praxis – was heute im Land läuft – zusam- besonders schwer haben, die eine besondere individuelle menführen. Zuwendung und eine besondere individuelle Förderung brauchen. Das heißt, es gibt eine große allgemeine De- Auch die zweite Säule ist im letzten Jahr wichtig ge- batte, und es zeichnet sich eine spezielle Debatte ab. Da wesen; wir haben geschaut: Wo gibt es Leuchtturmpro- dies alles im Rahmen einer föderalen Ordnung ge- jekte in der kommunalen Arbeit von Jugendhilfe und schieht, sind die Verantwortlichkeiten unterschiedlich Gesundheitswesen, bei denen ein Netz um diese Kinder angesiedelt. geknüpft wird? Wo gibt es weiße Flecken auf der Land- karte? Vor allem musste geprüft werden – dieser Bericht Ich finde es gut und wichtig, dass wir die Diskussion ist kurz vor dem Abschluss –, wie man diese Leucht- nicht dahin gehend zersplittern, dass jeder sich auf sei- turm- oder Modellprojekte, die hervorragend funktionie- nen eigenen Verantwortungsbereich konzentriert. Viel- ren, in der Bundesrepublik so übertragen kann, dass die mehr bemühen wir uns, die Diskussion ganzheitlich zu weißen Flecken gefüllt werden. führen; schließlich sollte der Ansatz für Bildung, Erzie- hung und Förderung von Kindern ganzheitlich sein. Schließlich haben wir im letzten Jahr gelernt, dass wir Wissenslücken haben. Daran wird niemand zweifeln. Mein dritter Gedanke bezieht sich ebenfalls auf die- Diese Wissenslücken aufzuarbeiten, ist die Aufgabe der sen Kinder- und Jugendbericht. Durch die Debatte zog Modellprojekte, die die Bundesregierung inzwischen an- sich wie ein weiterer roter Faden: dass wir die Entwick- gestoßen hat. Das heißt, meine Damen und Herren, wir lung von Kindern im Lebensverlauf betrachten müs- sind beim Ausbau eines Frühwarnsystems einen ganz sen. In den jeweiligen Phasen sind unterschiedliche großen Schritt vorangekommen. Jetzt heißt es, dieses Dinge wichtig und rücken daher in den Vordergrund. nachhaltig voranzutreiben. Das heißt, Bildung, Betreuung und Erziehung sind keine voneinander getrennten, sondern ineinandergreifende (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Prozesse. Kinder lernen nicht erst an der Schultür, son- neten der SPD) 7700 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen (A) Der zweite Aspekt, den ich beleuchten möchte, ist der Mit anderen Worten: Obwohl die primäre Verantwor- (C) Lebensverlauf. Wie ich bereits ausgeführt habe, sind wir tung nicht bei der Bundesregierung liegt, sagen wir: Die- beim Thema Elterngeld einen großen Schritt vorange- ses Thema ist so wichtig, dass wir dies, wo immer wir es kommen. Das betrifft das erste Lebensjahr des Kindes. können, mit klugen Instrumenten begleiten. Dies ist auch Dann kommt die Phase, in der die Kinder andere Kinder der richtige Weg. brauchen. Ich begrüße es, dass die Debatte um die The- men Kinderbetreuung und frühkindliche Bildung in (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) unserem Land so dominant geworden ist. Das gibt der Ein ganz kleiner Einschub, Frau Deligöz, zu dem ganzen Sache einen enormen Schub. Thema: frei werdende Mittel wegen des Geburtenrück- Wir wissen, dass wir viel zu tun haben, dass wir, in- gangs. Ich hatte formuliert, dass die 4 Milliarden Euro, ternational gesehen, einen enormen Nachholbedarf ha- die im Jahr 2008 frei werden – das bezieht sich auf ben. Wir wissen auch, dass wir vor allem vier verschie- Schule und Hochschule –, in diesen Segmenten bleiben dene Aufgaben gleichzeitig angehen müssen. Wir müssen. Das ist meine Hauptforderung, zum Beispiel müssen die Kinderbetreuung ausbauen, insbesondere für zum Ausbau der Ganztagsschule. Ich habe weiter gesagt: unter Dreijährige. Wir müssen die Kinderbetreuung fle- Das betrifft nicht die ebenfalls zunehmend frei werden- xibilisieren, das heißt, flexiblere Öffnungszeiten und den Mittel für den frühkindlichen Bereich; die Zahlen dergleichen ermöglichen. Wir müssen die innere Quali- dazu liegen im Augenblick nicht vor. tät der Kinderbetreuung verbessern – Stichwort: früh- Lassen Sie mich einen Blick auf eine etwas spätere kindliche Bildung –, und wir wollen den Elternbeitrag Phase im Lebensverlauf werfen. Es ist ja ein Bericht senken, das heißt, den Anteil der öffentlichen Hand er- über Kinder und Jugendliche – auch dieses Thema ist höhen. wichtig. Weil das dankenswerterweise schon von Frau Das sind gewaltige Aufgaben. Genau deshalb – damit Noll und Herrn Kucharczyk sehr stark in den einzelnen komme ich wieder auf die föderale Ordnung zu sprechen – Schwerpunkten beleuchtet worden ist, möchte ich nur sollte sich jeder an seinem Ort fragen, was er tun kann: sagen: Auch hierbei geht es für uns als Bundesregierung Bund, Länder und Kommunen, aber auch die Akteure vor allem darum, zu schauen: Wo sind Kinder, die spezi- der Gesellschaft. Das heißt, Politik, aber auch der private fischen Hilfebedarf haben, die sozial benachteiligt sind Sektor und die Wirtschaft sind gefragt, diese entschei- und die individuelle Förderung brauchen? Insofern ist dende Aufgabe gemeinsam voranzubringen. die Forderung des Kinder- und Jugendberichts erfüllt durch die Jugendmigrationsdienste, durch das Programm Lassen Sie mich ganz kurz einen Blick darauf werfen, „Schulverweigerung – Die 2. Chance“, durch den Aus- was sich in der jüngsten Zeit beim Ausbau der Kinder- bau der Kompetenzagenturen, die für die betreffenden (B) betreuung getan hat. Wir haben einen entsprechenden Kinder vor Ort ganz passgenau individuelle Lösungen (D) Bericht im Sommer vorgelegt. Wir haben jetzt für jedes suchen. Freie Träger handeln da Hand in Hand mit der siebte Kind einen Platz. 2002 hatten wir nur für jedes Schule, mit dem Elternhaus und mit den Jugendämtern. zehnte Kind einen Platz. Das ist ein niedriges Niveau, aber das zeigt, dass sich etwas tut. Unser Ziel ist es, den Bildungsweg der Kinder – da- mit meine ich nicht nur die intellektuelle Förderung, Jede dritte Kommune will ihr Ziel, die Kinderbetreu- sondern auch die Herzens- und Charakterbildung der ung auszubauen, vor 2010 erreicht haben. 90 Prozent der Kinder – von Anfang an ganzheitlich zu betrachten. Wir Kommunen planen – Stichwort: Vielfalt – beim Ausbau müssen insbesondere den Blick auf die Kinder schärfen, der Kinderbetreuung, auch das Angebot an Tagesmüt- die aus sozial benachteiligten Familien kommen. Dies tern zu verbessern. alles geschieht vor dem Hintergrund, dass wir wissen: Es Damit komme ich auf folgenden Punkt zurück: Wo kommt auf den Anfang an. Heute machen wir den An- kann die Bundesregierung innerhalb der föderalen Ord- fang dafür, wie wir unsere Zukunft gemeinsam gestalten. nung flankierend zur Seite stehen? Wir haben den priva- Vielen Dank. ten Sektor gestärkt, indem wir die Möglichkeiten zur Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten und Kosten (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) von haushaltsnahen Diensten deutlich verbessert haben. Damit entsteht ein Netz der legalen Angebote im priva- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ten Sektor. Das ist eine Säule. Das Wort hat jetzt die Kollegin Marlene Rupprecht Wir haben seitens der Bundesregierung, um die Kom- von der SPD-Fraktion. munen zu begleiten, für den Sommer ein ESF-Programm (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zur Qualifizierung von Tagesmüttern auf den Weg ge- der CDU/CSU) bracht, um Qualität in den Ausbau des Netzes von Ta- gesmüttern zu bringen. Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Zum Thema Verantwortung der Wirtschaft, die Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! auch ein Interesse daran hat, dass die Kinderbetreuung Liebe Kollegen! Wir debattieren schon seit 9 Uhr, seit ausgebaut wird: Die Bundesregierung wird ab Sommer Beginn der heutigen Plenarsitzung, den Zwölften Kin- ein Programm zur Anschubfinanzierung von betriebli- der- und Jugendbericht. Es ist nicht sehr häufig, dass wir cher Kinderbetreuung auf den Weg bringen, um auch die Kinder- und Jugendpolitik in der Kernzeit behan- diese Säule zu stärken. deln. Heute bringen wir damit zum Ausdruck, dass uns Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7701

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (A) die Themen der Kinder- und Jugendpolitik zunehmend – durch Schaffung von Einrichtungen –, und manchmal (C) wichtiger sind. durch nachbarschaftliche Hilfe – indem man zum Bei- spiel sagt: Ich merke, dass du nicht zum Schlafen Den Zwölften Kinder- und Jugendbericht hat die Mi- kommst, weil dein Kind gerade zahnt; ich fahre einmal nisterin schon am 9. März 2006 eingebracht, Frau eine Stunde mit ihm spazieren. Auch das ist Hilfe. Diese Lenke; sie war die erste Rednerin. Wir debattieren heute Form der Hilfe haben wir schon ganz vergessen. Wir ru- den Bericht nur noch insofern, als er durch die Anträge fen immer nach der großen Hilfe. berührt wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Ina Lenke [FDP]: Aber ich kann auf die Mi- CDU/CSU sowie der Abg. Miriam Gruß nisterin schlecht antworten! Ich kann sie auch [FDP]) schlecht unterbrechen und fragen!) Was brauchen Kinder noch? Sie brauchen nicht nur Nachdem wir heute so viel darüber gehört haben, was Erwachsene, die ihnen Nähe und Nahrung geben, sie alles gemacht wurde und was dieser Bericht auslöst, brauchen auch eine Umwelt zum Entdecken. Das heißt, möchte ich einen Aspekt aufnehmen, der zum Teil schon dass der Raum, in dem sie aufwachsen, für sie interes- in den Reden der Kolleginnen angesprochen worden ist. sant sein muss. Sie müssen die Welt entdecken können Ich möchte die Bildung, Betreuung und Erziehung und sollen dabei nicht immer eingeschränkt werden. Die aus Sicht der Kinder ganz besonders in den Fokus neh- Kinder kommen nämlich neugierig zur Welt. Wenn die men. Kinder dann in die Schule kommen, erschrecken wir Wir haben diesbezüglich eine sehr erwachsene Sicht. manchmal, weil sie so abgestumpft sind. So sind sie aber Wir investieren. Wir geben Geld. Wir machen beitrags- nicht auf die Welt gekommen. Wir haben sie dazu ge- frei. Fragen Sie mal einen Zweijährigen, was für ihn eine macht. Deshalb sage ich: Lasst sie die Welt entdecken. Investition ist! Geld, Beitragsfreiheit, das kennt er nicht. Kinder brauchen andere Kinder. Demokratie braucht Ein Kind, das zur Welt kommt, braucht als Allererstes streitbare, aber auch kompromissbereite Menschen, die die Erfahrung, dass seine Grundbedürfnisse befriedigt bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Das lernen werden und dass es ernst genommen wird. sie nur im Umgang mit anderen Kindern. Erwachsene (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nehmen nämlich häufig – wenn sie vernünftig sind – sehr viel Rücksicht. Ein Kind weiß nicht, dass es Erfah- Was hat das mit Bildung, Betreuung und Erziehung rungen mit Interessenausgleich machen muss. Es muss zu tun? Sehr viel! Das Kind muss in dieser Phase erfah- die Erfahrung vom Ich zum Du machen. Wenn das Kind ren, dass seine Bedürfnisse ernst genommen werden. merkt, dass außer ihm noch jemand das Spielzeug haben Wenn es schmusen will, muss es an den Körper genom- (B) möchte, kommt es zum Streit. Die Mutter gibt ihm das (D) men werden. Wenn es schreit, wenn es Schmerzen hat, Spielzeug zurück, ein anderes Kind streitet aber mit ihm wenn es Hunger hat, wenn es gewickelt werden will, darum. Weil all das im Gehirn abläuft, hat es mit Bil- muss es ernst genommen werden. Was hat das mit Bil- dung zu tun. Genau dort wird sie nämlich verankert. dung zu tun? Die Pädagogen haben schon früher gesagt: Das hat etwas damit zu tun, dass eine Persönlichkeit sich Wir brauchen gute Rahmenbedingungen. Wir brau- entwickelt. Heute weiß man aus der Hirnforschung – die chen – das ist vorhin schon gesagt worden – Erzieherin- Pädagogen werden ja nicht immer so ernst genommen –, nen, die qualifiziert sind. Ich sage nicht, dass die jetzigen dass dies ganz wichtig ist, um das Gehirn zu entwickeln, es nicht sind. Ich sage nur, Sie müssen entsprechend vor- um es für Erfahrungen zu öffnen. bereitet werden. Die Zahl der Kinder in den Gruppen darf nicht übermäßig groß sein. Wir brauchen qualifi- (Beifall des Abg. Johannes Singhammer zierte Tagesmütter. All das brauchen wir, damit Kinder, [CDU/CSU]) wenn sie in die Schule kommen – wir reduzieren Bil- Deshalb ist es wichtig, dass wir Bildung, Betreuung und dung immer auf den schulischen Bereich –, immer noch Erziehung früh verzahnen. Kinder sind nämlich bereit, neugierig sind. diese Welt anzunehmen. Spätestens jetzt, in der Schule, müssen wir kapieren, Wir wollen die Entfaltung der Persönlichkeit. Das dass es um Chancengerechtigkeit geht, nicht um Chan- steht im Grundgesetz, ist ein UN-Kinderrecht und in der cengleichheit. EU-Grundrechtscharta enthalten. Für eine Demokratie (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das ist ist es ganz wichtig, dass in ihr verantwortungsbewusste, richtig!) selbstständige Menschen heranwachsen. So können sie aber nur werden, wenn wir ihnen Bildung im weitesten Ich mache Ihnen das einmal an einem Beispiel klar: Ich Sinne zukommen lassen. bin 1,60 Meter groß. Der Herr Singhammer ist ein Gro- ßer. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Nicolette Kressl [SPD]: Langer!) Manchmal sind Eltern überfordert. Dann müssen wir – Ein Langer. Wenn wir Bananen so hoch aufhängen, sie – das ist die öffentliche Verantwortung – unterstüt- dass ich sie mit 1,60 Meter nicht erreichen kann, aber er, zen; manchmal mit Geld – das geht aber an die Eltern kann mir zwar jeder sagen, dass sie in gleicher Höhe auf- und nur mittelbar an die Kinder –, manchmal durch Ver- gehängt sind, mir ist das aber gleich. Klar, objektiv gese- besserung der Rahmenbedingungen, der Strukturen hen hängen die Bananen in derselben Höhe. Für mich ist 7702 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (A) es aber nicht gerecht, weil ich mit meiner Größe von (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der (C) 1,60 Metern ständig ins Leere greife, während er sie er- FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- reicht, weil er 20 Zentimeter größer ist. SES 90/DIE GRÜNEN) (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Aber er kann für Sie auch eine pflücken!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. – Genau. Das ist Solidarität. Gerecht wäre es aber, wenn die Bananen meinen Fähigkeiten entsprechend aufge- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- hängt würden. Das ist es, was ich meine. So muss Schule schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf gestaltet sein. Was machen wir? Drucksache 16/3849. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis des (Zuruf des Abg. Hartwig Fischer [Göttingen] Zwölften Kinder- und Jugendberichts auf Drucksache [CDU/CSU]) 15/6014 den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/827 zu dem genannten Bericht – Genau. – Wir gehen davon aus, dass Kinder, wenn sie abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- in die Schule kommen, gleich in ihrem Entwicklungs- lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- stand sind, auch gleich groß – deswegen gleich große Ti- schlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen sche – und gleich schnell lernen – deswegen werden sie der Koalitionsfraktionen und der Fraktion des Bündnis- in 45 Minuten vertaktet unterrichtet. Kinder brauchen ses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die aber eine individuelle Förderung, um ihre Fähigkeiten Linke und Enthaltung der FDP-Fraktion. entwickeln zu können. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) schließungsantrag der Fraktion der FDP zum Zwölften Wenn wir dafür sorgen, entstehen im Bereich der Ju- Kinder- und Jugendbericht. Wer stimmt für den Ent- gendhilfe auch nicht mehr die großen Kosten wie zur- schließungsantrag auf Drucksache 16/4082? – Gegen- zeit, wo der Staat die Bananen für jeden Einzelnen he- stimmen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag runterholen muss. Das wäre nicht notwendig, wenn wir ist abgelehnt mit den Stimmen aller Fraktionen bei Zu- dafür sorgen würden, dass jeder eine Technik entwickeln stimmung der FDP-Fraktion. kann, um die Banane erreichen zu können, auch wenn Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussemp- sie einmal höher hängt. Dann hätten wir nicht diese Aus- fehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen fälle, die uns Sorgen machen. So aufgewachsene Kinder (B) und Jugend auf Drucksache 16/3849 fort. Unter Nr. 2 (D) werden verantwortungsbewusste und gute Eltern in der seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, in nächsten Generation. Solche Eltern brauchen wir. Sie ha- Kenntnis des Zwölften Kinder- und Jugendberichts den ben erfahren: Diese Gesellschaft will uns, sie nimmt uns Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf an und hat uns zu Beginn herzlich willkommen gehei- Drucksache 16/2754 mit dem Titel „Öffentliche Verant- ßen. wortung wahrnehmen – mit fairen Chancen Kinder stark Ich möchte, dass dies in die Köpfe gelangt und dass machen“ anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss- wir alles, was wir tun, auf Kindgerechtheit überprüfen. empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Die Wirtschaft muss überlegen, ob es wirklich kindge- Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali- recht ist, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche ar- tionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfrak- beiten zu lassen, und dass dafür Kinderbetreuung bis tionen angenommen. 24 Uhr angeboten wird. Der Wirtschaft würde das pas- Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 3 seiner Be- sen. schlussempfehlung, in Kenntnis des Zwölften Kinder- (Thomas Dörflinger [CDU/CSU]: Unsinn!) und Jugendberichts den Antrag der Fraktion des Bünd- nisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/817 mit dem Ist das denn kindgerecht? Titel „Neue Chancen und Perspektiven für Kinder und Jugendliche in Deutschland“ abzulehnen. Wer stimmt Wir müssen immer wieder kritisch hinterfragen, wie für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – wir Berufstätigkeit und Kinderbetreuung in Einklang Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom- bringen. Hierbei ist insbesondere die UN-Kinderrechts- men mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstim- konvention zu beachten, in der es heißt, dass bei allem, men der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. was wir machen und was Kinder betrifft, das Wohl des Kindes an erster Stelle stehen muss. Weil wir wollen, Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 sei- dass die Gesellschaft in Deutschland das tut, kämpfen ner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion Die die Kinderkommission und viele Mitstreiter darum, dass Linke auf Drucksache 16/2077 mit dem Titel „Kinderzu- wir dies explizit ins Grundgesetz schreiben. Die Kin- schlag sozial gerecht gestalten – Kinderarmut wirksam derkommission ist dafür. Ich sehe im Saal lauter Befür- bekämpfen“ abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- worter, die sagen: Jawohl, das ist unser gemeinsamer schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? Appell, wenn es um Kinder- und Jugendpolitik geht. – Auch diese Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen bei Gegenstimmen der Danke schön. Fraktion Die Linke. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7703

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 22 auf: Doping ist ein weltweites Problem, das nur durch ab- (C) gestimmtes internationales Zusammenwirken gelöst Zweite Beratung und Schlussabstimmung des werden kann. Mit dem Inkrafttreten des Übereinkom- von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs mens wird den Staaten erstmals ein weltweites Instru- eines Gesetzes zu dem Internationalen Über- ment für eine umfassende Dopingbekämpfung zur Ver- einkommen vom 19. Oktober 2005 gegen Do- fügung stehen. Dieses Übereinkommen basiert auf dem ping im Sport Übereinkommen gegen Doping des Europarates, das seit – Drucksache 16/3712 – 1994 bei uns in Kraft ist, dessen Zusatzprotokoll, der Kopenhagener Erklärung gegen Doping im Sport aus Beschlussempfehlung und Bericht des Sportaus- dem Jahre 2003 sowie dem Welt-Anti-Doping-Code der schusses (5. Ausschuss) WADA, der im März 2003 unterzeichnet wurde. – Drucksache 16/4077 – Bisher war also das Europaratsübereinkommen das einzige völkerrechtlich verbindliche Instrument gegen Berichterstattung: Doping im Sport. Durch dieses Regelwerk einschließlich Abgeordnete Klaus Riegert Zusatzprotokoll wurden die Antidopingpolitik der Ver- Dagmar Freitag tragsstaaten bereits in einem beträchtlichen Maße har- Detlef Parr monisiert und die bestehenden Standards angehoben. Katrin Kunert Der räumliche Geltungsbereich war allerdings auf die Winfried Hermann 46 Vertragsstaaten des Europarates begrenzt. Somit war Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die die jetzt vorliegende Ausarbeitung eines weltweit ver- Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Es gibt keinen bindlichen Übereinkommens geboten. Außerdem sollten Widerspruch. Dann ist so beschlossen. – auch dies ein besonderer Gesichtspunkt, der der Er- wähnung bedarf – die für den Sport und die Antidoping- Ich bitte diejenigen, die dieser Aussprache nicht fol- organisationen durch die Unterzeichnung des WADA- gen wollen, den Plenarsaal zu verlassen, damit die ande- Codes geltenden Standards für die Dopingbekämpfung ren der Debatte folgen können. auch auf staatlicher Ebene verbindlich gemacht werden. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Zweck des Übereinkommens ist ner dem Kollegen Dr. Christoph Bergner für die Bundes- regierung das Wort. – so ist es im Vertragstext nachzulesen – die Förderung der Verhütung und Bekämpfung des (B) Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär beim Dopings im Sport mit dem Ziel seiner vollständigen (D) Bundesminister des Innern: Ausmerzung. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Ver- Um dieses Ziel zu erreichen, sollen die internationale tragsgesetz, das Ihnen heute zur abschließenden Be- Zusammenarbeit der Vertragsstaaten untereinander und schlussfassung vorliegt, hat das Übereinkommen gegen mit den Sport- wie auch den Antidopingorganisationen Doping im Sport zum Gegenstand, das durch die weiter verbessert und dadurch möglichst einheitliche 33. UNESCO-Generalkonferenz im Oktober 2005 ein- Standards für die internationale Dopingbekämpfung ge- stimmig angenommen wurde. schaffen werden. Zur Inkraftsetzung dieses Übereinkommens bedarf es Die Vertragsstaaten verpflichten sich aber außerdem der Ratifikation durch insgesamt 30 Mitgliedstaaten. auch zu einer engeren internationalen Zusammenarbeit Dieser Fall ist im Dezember letzten Jahres bereits einge- mit Sport- und Antidopingorganisationen, um die treten. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt haben 38 Staaten Bekämpfung des Dopings im Sport zu fördern. Das dieses Abkommen ratifiziert. Übereinkommen ermöglicht damit ein gemeinsames und Die Bundesrepublik Deutschland hat unmittelbar einheitliches Vorgehen von Staaten und Sportorganisa- nach der Annahme dieses Übereinkommens die notwen- tionen im Kampf gegen Doping. digen Schritte für eine rasche Ratifikation eingeleitet. Deutschland hat sich den im Übereinkommen enthal- Dazu gehörten die Erstellung der deutschen Überset- tenen Verpflichtungen und Maßnahmen im Wesentlichen zung, die in Abstimmung mit Österreich und der bereits aufgrund der entsprechenden Europaratsüberein- Schweiz vorgenommen wurde, und die informatorische kommen gestellt. Es lag deshalb auch im deutschen Inte- Übersetzung der umfangreichen Anhänge, die ja größ- resse, dass die erforderlichen Maßnahmen in allen Ver- tenteils technische bzw. verfahrensleitende Regelungen tragsstaaten im erforderlichen Umfang und nach beinhalten. Außerdem hatten wir auch den föderalen Ge- grundsätzlich gleichen Maßgaben durchgeführt werden. setzgebungsprozess zu beachten. Der Bundesrat hat am Die Bundesregierung hat deshalb an der Vorbereitung 24. November letzten Jahres beschlossen, gegen dieses und Erarbeitung des zur Abstimmung stehenden Über- Gesetz keine Einwände zu erheben. Wir befinden uns einkommens maßgeblich mitgewirkt. also gerade unter Berücksichtigung der besonderen Not- wendigkeiten unserer föderalen Gesetzgebung, wenn das Meine Damen und Herren, wir verabschieden dieses Parlament diesem Gesetz heute zustimmt, bezüglich der UNESCO-Übereinkommen zu einem Zeitpunkt, zu dem Schnelligkeit durchaus im vorderen Feld der ratifizieren- aufgrund einer Vielzahl von Vorfällen die Diskussion um den Staaten. eine effektivere Dopingbekämpfung erneut entbrannt 7704 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner (A) ist. Vor diesem Hintergrund entsteht natürlich die Frage, gen werden, der dann um den Kompromiss der Koali- (C) was uns die UNESCO-Übereinkunft an zusätzlichen Im- tionsfraktionen ergänzt werden kann. pulsen auch für die bei uns zu entscheidenden politi- schen Fragen gibt. Dabei spielte auch bei der Beratung Lassen Sie mich noch eine kurze Bemerkung zu ei- im Ausschuss der Verweis auf den Wortlauf von Art. 8 nem Sachverhalt machen, der auch die Debatte im Aus- Abs. 2 der UNESCO-Konvention eine wichtige Rolle. schuss bestimmt hat und sogar zu einer Sondersitzung Dort heißt es – ich zitiere –: des Sportausschusses führen wird. Ich meine einen Be- richt der ARD, der die Effizienz des Kontrollsystems Die Vertragsstaaten ergreifen Maßnahmen bezie- – ich lege großen Wert darauf, dass es nicht um die Effi- hungsweise ermutigen die einschlägigen Stellen in- zienz der Gesetzgebung, sondern um die Effizienz des nerhalb ihres jeweiligen Hoheitsbereichs zur Er- Kontrollsystems geht – greifung entsprechender Maßnahmen, um die Anwendung und den Besitz verbotener Wirkstoffe (Joachim Günther [Plauen] [FDP]: So ist es!) und Methoden durch Athleten im Sport zu verhüten zum Gegenstand hat. Über diesen Bericht werden wir und einzuschränken. diskutieren und überprüfen, ob die Zahlen, die darin ge- Diese Vorschrift – wenn man den Wortlaut genau zur nannt wurden, tatsächlich belastbar, nachweisbar und Kenntnis nimmt – legt für uns nicht eine ganz bestimmte verifizierbar sind. Dieser Diskussion will ich nicht vor- Maßnahme – wie etwa die strafrechtliche Verfolgung greifen. des Besitzes – gegenüber den Athleten fest. Abschließend möchte ich auf einen weiteren Ge- (Detlef Parr [FDP]: Sehr richtig!) sichtspunkt aufmerksam machen: Wer diesen Film gese- hen hat, der wird zur Kenntnis genommen haben, welch Sie führt dazu, dass wir am Ergebnis dieser Maßnahmen erhebliche Einschränkungen Athleten auf sich nehmen, gemessen werden, dass aber die politische Diskussion um eine Dopingkontrolle bei sich zu ermöglichen. Ich über den geeigneten Weg von uns hier zu leisten und zu sage dies aus folgendem Grunde: Wenn wir Doping ef- führen ist. fektiv bekämpfen wollen, werden wir immer auf die Wir wissen alle, jedenfalls diejenigen, die die Diskus- Mitarbeit des Sports und der Athleten angewiesen sein. sion in der Vergangenheit begleitet haben, dass es in der Deshalb wird es auch in Zukunft zu den Grundsätzen un- politischen Diskussion natürlich eine Kontroverse über seres Hauses gehören, dass wir die Dopingbekämpfung die Sinnhaftigkeit der Besitzstrafbarkeit für Sportler nicht gegen den Willen des Sports, sondern im engen gegeben hat. Ich hoffe nun sehr, dass diese Debatte mit Schulterschluss mit dem Sport in Angriff nehmen wer- dem gestrigen Übereinkommen der Koalitionsfraktionen den. Ich empfehle die Annahme des geplanten Vertrags- (B) auch für das weitere Gesetzgebungsverfahren – jeden- gesetzes. (D) falls unter uns – entschärft werden konnte. Mit einer Herzlichen Dank. Übereinkunft, die eine Strafbarkeit des Besitzes größerer Mengen vorsieht, also von Mengen, die den Verdacht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nahelegen, dass die Mittel weitergegeben werden, und neten der SPD und der FDP) die einen Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz indizie- ren, könnte die Kontroverse der zurückliegenden Wo- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: chen ausgeräumt und überwunden werden. Das Wort hat jetzt der Kollege Detlef Parr von der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- FDP-Fraktion. neten der SPD – Detlef Parr [FDP]: Der Berg kreißte und gebar eine Maus!) Detlef Parr (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor zwei Wir als Bundesregierung werden in dem Gesetzge- Tagen haben wir im Sportausschuss in großer Geschlos- bungsverfahren den Schwerpunkt unserer Arbeit auf die senheit, nämlich einstimmig, das UNESCO-Überein- Erweiterung der Ermittlungsmöglichkeiten von Straf- kommen gegen Doping im Sport als 39. Staat angenom- verfolgungsbehörden legen, denn diese ist dringend er- men. Wir sind uns einig: Vor dem Hintergrund der forderlich, was die Beispiele, die die Diskussionen der zunehmenden Aufdeckung von Dopingvergehen müssen letzten Wochen bestimmt haben, zeigen. Beispielsweise Sport und Staat diese Geißel des Sports, das Doping, mit wollen wir im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens ihren ureigenen Mitteln stärker bekämpfen. Auch die das Bundeskriminalamt damit beauftragen, als ermit- Rechtskommission des Sports gegen Doping ist sich telnde Behörde gegen internationale Dopingnetzwerke einig: Zusätzliche gesetzliche Vorschriften dürfen die vorzugehen. Wir hoffen, dass sich auch die Länder dar- Autonomie und die primäre Verantwortlichkeit des auf verständigen können, Schwerpunktstaatsanwalt- Sports nur ergänzen. schaften einzurichten, die zu einer effektiveren Strafver- folgung des organisierten Dopings und der mafiösen Liebe Kolleginnen und Kollegen, waren wir eigent- Dopingnetzwerke beitragen können. lich von allen guten Geistern verlassen, uns in einer De- tailfrage – bereits den Besitz verbotener Substanzen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gesetzlich unter Strafe zu stellen – so heftig zu zerstrei- neten der SPD und der FDP) ten? Wir waren es nicht. Diese Diskussion war notwen- Ich möchte ankündigen, dass wir schon in Kürze einen dig, auch wenn sie die Grenzen des Anstands meiner entsprechenden Gesetzentwurf in das Parlament einbrin- Meinung nach oft überschritten hat. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7705

Detlef Parr (A) (Beifall des Abg. Joachim Günther [Plauen] Danckert [SPD]: Vielen Dank für das Zitat! (C) [FDP] – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/ Gut gelesen!) DIE GRÜNEN]: Oh, oh! Wieso das denn? – Dr. Peter Danckert [SPD]: Moralapostel!) Wir finden damit endlich zurück zum Schulterschluss von Bundestag und DOSB; das ist dringend notwendig. Denn im Kern geht es um die Grundsatzfrage: Wie wollen wir unsere Gesellschaft zukünftig organisieren? Ein Wort noch zu den Schwerpunktstaatsanwalt- Setzen wir auf immer mehr Staat und geben wir dem schaften. Die Länder werden sich hierzu aus Kosten- Kürzel BRD damit die neue Bedeutung „beinahe rege- gründen kaum durchringen können. Wohl könnten aber lungsdicht“, oder vertrauen wir weiterhin den Selbstver- kompetente Staatsanwälte an bereits vorhandene waltungskräften und der Eigenverantwortung in unserer Schwerpunktstaatsanwaltschaften, zum Beispiel gegen Gesellschaft? Wirtschaftskriminalität, angedockt werden. (Beifall bei der FDP) In Art. 11 der UNESCO-Konvention wird die Bedeu- tung der Kontrollprogramme und ihrer Finanzierung he- Diese Frage scheint für den Sportbereich jetzt beant- rausgestellt. Effektive Dopinganalytik und Dopingkon- wortet zu sein. Edmund Stoiber hätte deswegen nicht un- trollen gehören zum Kern der Dopingbekämpfung. Seit bedingt seinen Rückzug ankündigen müssen, vorgestern müssen wir uns neue Fragen stellen, aller- (Dagmar Freitag [SPD]: Wer ist das denn?) dings weniger der Gesetzgeber als die Nationale Antido- pingagentur selbst und die Sportfachverbände. Dass die wohl aber seine Justizministerin Beate Merk. Sie ließ Ausstattung der Antidopingagentur bedenklich ist, ist sich vom Vorsitzenden des Sportausschusses, der der uns seit langem bekannt. Erst im März 2006 berichtete SPD angehört, antreiben und preschte mit einem Gesetz- die „Süddeutsche Zeitung“ unter der Überschrift „Ein entwurf vor, in dem es heißt: überfordertes System“ von abwesenden Athleten und Der Besitz von Dopingmitteln wird unter Strafe ge- von zu wenig Epo-Tests, so jetzt auch die ARD. Geän- stellt. dert hatte sich monatelang wohl gar nichts. Das muss der Anstoß zu neuen Überlegungen sein. Die offensichtli- Ich zitiere dazu Beate Merk: chen Mängel im Vollzug des WADA-Codes und der ein- Der dopende Sportler ist die Zentralgestalt des kri- deutigen NADA-Regeln müssen behoben werden. minellen Geschehens. Die FDP unterstützt die Bemühungen des Kurato- (Dagmar Freitag [SPD]: Richtig!) riums, die Agentur als dritte Säule des deutschen Sports – neben dem DOSB und der Stiftung „Deutsche Sport- Aber genau das geschieht jetzt nicht. (B) hilfe“ – zu etablieren. Das kann aber nur gelingen, wenn (D) (Beifall des Abg. [CDU/ alle Beteiligten bei der Finanzierung dem Beispiel des CSU] – Dagmar Freitag [SPD]: Er hat es noch DOSB folgen, der seinen Zuschuss in diesem Jahr ver- nicht verstanden!) doppelt. Dieser bayerische Schnellschuss modert zu Recht im (Dr. Peter Danckert [SPD]: Aber nur in diesem Bundesratskeller vor sich hin. Dort wird er auch bleiben. Jahr, Herr Parr!) (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Der Bund hat das Stiftungskapital deutlich aufgestockt. CDU/CSU) (Dr. Peter Danckert [SPD]: Immer diese Halb- Ich habe in diesem Zusammenhang immer wieder auf wahrheiten!) Parallelen zum Betäubungsmittelgesetz hingewiesen. Sponsoren, Medien, Unternehmen, Pharmaindustrie, Ich freue mich, dass jetzt auch die Kolleginnen und Kol- alle müssen Verantwortung übernehmen. Es ist ein Un- legen von der SPD diese erkennen und dementsprechend ding, dass im Zeitalter elektronischer Kommunikation, handeln. Den Besitz nicht geringfügiger, also größerer zum Beispiel über SMS, das Abmeldeverfahren und die Mengen von Dopingmitteln dem Handel zuzuordnen Übermittlung von Testergebnissen, einschließlich der und damit unter Strafe zu stellen, präzisiert § 6 a des Abwesenheit des Athleten, an NADA und Fachverband Arzneimittelgesetzes und ermöglicht eine konsequentere offensichtlich nicht schnell und lückenlos genug mög- Strafverfolgung aller Beteiligten – auch einzelner Sport- lich waren, um unmittelbar danach Sanktionen in Gang lerinnen und Sportler – als Händler, exakt wie es im zu setzen. Das muss sich ändern. Darüber hinaus muss Zehnpunkteaktionsprogramm des DOSB gefordert wird der E-Pass her, der elektronische Athletenpass, in dem und wie es in Art. 8 des heute zu ratifizierenden Interna- die körperliche Entwicklung der Athleten und die Test- tionalen Übereinkommens gegen Doping im Sport vor- ergebnisse dokumentiert werden. gesehen ist und wie es der Presseerklärung von Union und SPD zu entnehmen ist – ich zitiere –: Das bedeutet, (Dr. Peter Danckert [SPD]: Das sind doch freie dass ein Sportler, der mit einer geringen Menge der oben Menschen! Wie können Sie so etwas verlan- bezeichneten Substanzen angetroffen wird, nach wie vor gen?) lediglich der Sportgerichtsbarkeit unterliegt und somit Da wir heute über ein internationales Übereinkom- analog zum BtMG straffrei bleibt. men debattieren, möchte ich auch grenzüberschrei- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten tende Kontrollen anregen. Warum soll nicht ein Nieder- der CDU/CSU und der SPD – Dr. Peter länder bei uns, ein Deutscher in Frankreich oder ein 7706 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

Detlef Parr (A) Schweizer in Österreich kontrollieren? Das sollten wir geht, sondern dass diese Debatte sachlich fortgesetzt (C) im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft zum wird. Thema machen. (Dagmar Freitag [SPD]: Das sagt einer der (Beifall bei der FDP) größten Zwischenrufer!) Bei all diesen Bemühungen dürfen wir eines nicht aus Ich danke fürs Zuhören. den Augen verlieren: den Datenschutz. Die FDP sieht (Beifall bei der FDP – [Spandau] eine Ausweitung der Telekommunikationsüberwachung [SPD]: Kritik an Parr ist per se unanständig! – äußerst kritisch. Auch eine Regelüberwachung von Fit- Dr. Peter Danckert [SPD]: Parr darf alles sa- nessstudios durch Polizei und Ordnungsbehörden findet gen!) unsere Zustimmung nicht; hier sollten wir das Prinzip der Verhältnismäßigkeit bewahren. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Dagmar Freitag [SPD]: Freies Doping für Das Wort hat jetzt die Kollegin Dagmar Freitag von freie Bürger!) der SPD-Fraktion. Bei allem Respekt vor den Einzelfragen ist eine (Beifall bei der SPD) Grundsatzdebatte, wie wir in unserer Gesellschaft den Hochleistungssport einordnen und woran wir ihn mes- Dagmar Freitag (SPD): sen, überfällig, auch in diesem Hohen Hause und auch Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! vor dem Hintergrund, den Sport im Grundgesetz zu ver- Deutschland unternimmt heute mit dem vorliegenden ankern. Wie halten wir es zukünftig mit dem olympi- Gesetzentwurf einen weiteren Schritt hin zu einer hof- schen Motto „citius, altius, fortius“ – schneller, höher, fentlich erfolgreichen Dopingbekämpfung. weiter –? Die messbaren, natürlichen Grenzen sportli- Jede Initiative, die zu einer Optimierung des Kampfes cher Leistungen sind meines Erachtens in vielen Berei- gegen Doping führt – ich füge ausdrücklich hinzu: auch chen längst erreicht. Die Erwartungshaltung von Zu- zu einer Harmonisierung auf internationaler Ebene –, ist schauern und Medien ist nach wie vor unverantwortlich grundsätzlich zu begrüßen. Schließlich weiß jeder, der hoch. Die Anforderungen bei bestimmten Sportereignis- sich mit den unterschiedlichen Facetten des Spitzen- sen, zum Beispiel der Tour de France oder der Golden sports beschäftigt, dass die Neigung, konsequent gegen League bei der Leichtathletik, werden immer höher ge- Doping vorzugehen, in den Ländern dieser Welt unter- schraubt, den Sportlern wird immer mehr abverlangt. schiedlich stark ausgeprägt ist. Das ist eine noch eher Prämien für neue Rekorde reizen zu immer neuen milde Umschreibung des Status quo. (B) Höchstleistungen und setzen die falschen Prioritäten. (D) Zunehmend orientieren wir uns nur noch an Zahlen. Immerhin wurde im Jahr 2006 in einigen europäi- Auch das verführt manchen Athleten und sein Umfeld zu schen Ländern intensiv und öffentlich über Doping de- Manipulationen. Dazu gehört der Hase, der als Pacema- battiert. Auch Deutschland gehörte zu diesen Ländern. ker, als Tempomacher, eingesetzt wird und während des Die Ereignisse bei den Winterspielen in Turin und insbe- Rennens ausscheidet. Ist das eigentlich der Sport, den sondere der Skandal bei der Tour de France ließen die wir, die Gesellschaft, wollen und der Vorbildfunktion Diskussionen über den erfolgversprechendsten Weg zur hat? Oder konsumieren viele von uns gedankenlos und Bekämpfung von Doping auch hierzulande zu einem wie selbstverständlich die Sensationen und wenden sich Dauerbrenner in Politik, Sport und Medien werden. Wer enttäuscht ab, wenn das hochgesteckte, PR-gepushte ist der Sieger der Tour de France 2006? Floyd Landis? Ziel nicht erreicht worden ist? – Er war gedopt und ist es nicht mehr. Der Zweite, Oscar Pereiro? – Seit heute steht er ebenfalls unter Dopingver- Die Japaner haben den Dreiklang „Schneller, höher, dacht. Will man solch einen Sport tatsächlich noch se- weiter“ umgewandelt. Sie sprechen in ihrer neuen hen? Kann man jungen Menschen – ich blicke auf die Sportphilosophie von „superius, fortius, pulchrius“. Tribüne – noch empfehlen, Spitzensport zu betreiben, Damit orientieren sie sich nicht mehr vorrangig an abso- luten Zahlen, sondern am Wettkampfverlauf – Wer wird (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Ja!) Erster? Wer ist stärker? – oder an der Ästhetik sportli- oder wendet man sich einfach nur noch angewidert ab? cher Wettkämpfe. Über diesen Umerziehungsprozess sollten wir in Deutschland auch einmal nachdenken. Festzustellen ist: Der Sport ist insbesondere durch die Auch das kann Teil eines Antidopingprogramms sein erwähnten Vorkommnisse und die daraus gewonnenen und viel Druck von den Athleten nehmen und sie weni- Erkenntnisse national und international in eine Glaub- ger anfällig machen. würdigkeitskrise geraten. (Beifall bei der FDP) (Dr. Peter Danckert [SPD]: Genau!) Diese geht uns alle an: Sport – Funktionäre und Aktive –, Mit der Ratifizierung der UNESCO-Konvention ge- Politik und Gesellschaft. hen wir heute einen wichtigen Schritt nach vorne. Die FDP-Fraktion stimmt dieser Konvention zu. Es bleibt Mit der heutigen Einleitung der Ratifizierung und der uns aber trotzdem noch vieles zu tun. Ich hoffe, dass die zügigen Umsetzung des Maßnahmenkatalogs der Bun- Zwischenrufe nicht darauf hindeuten, dass wir heute desregierung gegen Doping im Sport kommt der Gesetz- wieder eine Debatte führen, die unter die Gürtellinie geber seinen Aufgaben in der Dopingbekämpfung nach. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7707

Dagmar Freitag (A) Ich füge hinzu: Der Staat, der bekanntlich der größte Jetzt ist auch das vielgepriesene deutsche Kontroll- (C) Sponsor des Spitzensports in Deutschland ist, hat aus un- system ins Zwielicht geraten. Es ist bestimmt besser als serer Sicht nicht nur die Pflicht, Doping mit aller Härte viele andere auf der Welt. Aber ist es deshalb auch er- zu bekämpfen, sondern er hat auch das Recht dazu. Er folgreich? Zweifel sind angebracht. muss niemanden fragen. (Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Eckardt) des Abg. Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/ Schon die entlarvende Aktenlage aus dem Springstein- DIE GRÜNEN]) Prozess hat eines deutlich gemacht: Offensichtlich kann Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir begrüßen es, man als Spitzensportler in diesem Land, der dem ver- dass es den Koalitionsfraktionen – ausdrücklicher Dank meintlich engen Kontrollsystem unterworfen ist, jahre- an den Kollegen Riegert – nach, wie ich einräume, lang- lang dopen, ohne dass es zu einer positiven Dopingprobe wierigen Diskussionen gelungen ist, Einigkeit in einem kommt. Das beginnt bei den unterschiedlichsten Metho- bislang strittigen Punkt zu erzielen: Zukünftig soll der den, die Einnahme von Dopingsubstanzen zu verschlei- Besitz nicht geringer Mengen bestimmter Dopingmittel ern. In Bezug auf Urinproben sind das sozusagen Mega- strafbar sein. perls für den Urin. Fremdurin muss herhalten, um Dopingvergehen zu vertuschen. Athleten lassen sich auf (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Endlich!) widerwärtigste Betrugspraktiken bei der Urinabgabe ein. Zu diesen Substanzklassen gehören die gefährlichsten, Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer heute noch aufgrund ihrer Wirksamkeit aber auch beliebtesten Do- glaubt, man könne Dopingsünder mit den herkömmli- pingsubstanzen wie anabole Steroide, Hormone und de- chen Methoden aufspüren, lebt in einer Scheinwelt. ren verwandte Verbindungen. Hierzu zählen Epo, Insu- line und Wachstumshormone – ein Auszug aus der Liste (Dr. Peter Danckert [SPD]: Der ist naiv!) des Doping-Gruselkabinetts. Ich warne in diesem Zusammenhang vor einer schnellen und vor allem einseitigen Schuldzuweisung an die Lieber Kollege Hermann, deshalb wundere ich mich NADA, die ja ein wenig in die Schusslinie geraten ist. schon ein wenig über Ihre Bewertung, dieses Vorhaben Wohl sind Versäumnisse bei der Weitervergabe von In- sei eine ziemlich bescheidene Nummer. Für jemanden, formationen an die Spitzenverbände festzustellen. Das der in seiner Fraktion in dieser Woche mit einem ähnli- ist auch zu kritisieren. Aber wie soll eine Institution ihre chen Vorstoß gescheitert ist, einen eigenen Gesetzent- Arbeit fehlerfrei und ohne Reibungsverluste erledigen, wurf dafür aber seit Monaten medienwirksam ankündigt, wenn sie finanziell und personell von Anfang an am un- (B) ist das schon eine merkwürdige Aussage. Obendrein ist teren Limit arbeiten musste? (D) das völlig unzutreffend. ( [CDU/CSU]: Wohl wahr!) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP) Auch das gehört zur Wahrheit dazu. Konkret bedeutet die geplante Regelung, dass es ne- Die NADA wird – auch das sollte nicht unerwähnt ben dem Kontrollsystem des Sports eine zweite hand- bleiben – bislang im Übrigen fast ausschließlich aus lungsfähige Säule in der Dopingbekämpfung geben Steuergeldern finanziert. Die Kofinanzierung durch wird. Es wird endlich gewährleistet, dass der Staat seine Sport und Wirtschaft ist, sagen wir mal, steigerungsfä- überlegenen Aufklärungsmethoden einsetzen kann und hig. an dieser Stelle die Schwächen des Kontrollsystems des (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Sports kompensieren kann. Abgeordneten der FDP und des Abg. Winfried (Beifall bei der SPD) Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Der Staatsanwalt kann die Ermittlungen aufnehmen, und Da kam auf den ersten Blick die Nachricht recht, dass an deren Ende wird das Ergebnis stehen, ob der Betrof- der DOSB beabsichtigt, seinen Zuschuss zur NADA fene sich wegen Besitzes einer nicht geringen Menge 2007 zu verdoppeln. Aber der Teufel steckt, wie so oft, strafbar gemacht hat oder nicht. Auf jeden Fall also wird im Detail: Der Zuschuss wird nicht ab 2007 verdoppelt, der Sachverhalt umfassend aufgeklärt, und die Sportge- sondern lediglich für 2007. Ich finde, man sollte beim richtsbarkeit wird von diesen Erkenntnissen profitieren. DOSB darüber noch einmal nachdenken. Es wird – das prophezeie ich – ungemütlicher für die (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Doper in unserem Land. Ich vermute, die Szene ist auch des Abg. Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/ schon alarmiert. DIE GRÜNEN]) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Doping bedroht all Liebe Kolleginnen und Kollegen, manchmal lohnt ein das, was den Sport in seiner Gesamtheit als wertvolles Blick über die Landesgrenzen, beispielsweise nach und, wie ich meine, unverzichtbares Gut für unsere Ge- Schweden, auch wenn unbestritten ist, dass Modelle und sellschaft ausmacht. Der Sport ist dabei, seine Glaub- Strukturen nicht eins zu eins von Land zu Land übertrag- würdigkeit und seine zu Recht immer wieder betonte bar sind. In Schweden gibt es eine Stiftung namens „Ren gesellschaftliche Vorbildfunktion zu gefährden, viel- Idrott“, zu Deutsch „sauberer Sport“. Die Initiative dazu leicht sogar zu verlieren. haben die erfolgreichsten Sportlerinnen und Sportler 7708 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

Dagmar Freitag (A) Schwedens freiwillig ergriffen. Sie legen freiwillig ein Riesenschritt im weltweiten Kampf gegen Doping im (C) klares Bekenntnis zu einem dopingfreien Sport ab und Sport. – sehr bemerkenswert – tragen im Übrigen auch zur Fi- nanzierung dieser privaten Stiftung bei, die sich der Do- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie pingbekämpfung und -aufklärung widmet. Die Liste der des Abg. Swen Schulz [Spandau] [SPD]) beteiligten Athletinnen und Athleten liest sich wie das Diese Konvention schafft eine neue Qualität der Be- „Who is Who“ des schwedischen Spitzensports: Caro- kämpfung des Dopings im Sport. Sie schafft auch eine lina Klüft, Christian Olsson, Anja Pärson, Kajsa Berg- neue Qualität der internationalen Verständigung im qvist, um nur einige aktuelle Weltmeister und Olympia- Kampf gegen Doping im Sport. Sie ist der erste Schritt sieger aus unterschiedlichen Sportarten zu nennen. zur Vereinheitlichung der Standards und der Methoden In Deutschland sehe ich keine vergleichbare Bewe- im Kampf gegen Doping im Sport. gung, eher im Gegenteil. Es gibt nur ganz wenige Athle- Es ist auch die Aufforderung, ständig und vermehrt tinnen und Athleten, die sich offen und öffentlich klar international zu kooperieren, um das Elend des Dopings positionieren. Doping ist Betrug. Aber wo bleibt der im Sport zu bekämpfen. Es ist zugleich eine neue Legiti- Aufschrei der sauberen Sportlerinnen und Sportler in un- mation für die Politik, aber auch für den Sport. Es ist serem Land, die von den Dopern um den Lohn ihres jah- aber nicht nur eine Legitimation, sondern auch, wie ich relangen Trainings, um Medaillen, Platzierungen und meine, eine deutliche Aufforderung, mehr zu tun, als vielleicht auch um Sponsorenverträge betrogen werden? bisher geschehen ist, und eine entsprechende Selbstver- Der neue Sporthilfe-Eid, in dem sich von der Sport- pflichtung. hilfe geförderte Athletinnen und Athleten zu einem do- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN pingfreien Sport verpflichten, ist ein zweifellos begrü- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) ßenswerter Ansatz, aber nicht vergleichbar mit einer freiwilligen Initiative, die aus der Athletenschaft selbst Diese Konvention ist übrigens auch die Anerkennung herauswächst. der Einsicht, dass die Sportorganisationen alleine es weltweit nicht schaffen. Wenn man dieses Feld dem Fazit: Wir sind alle gefordert: Politik, Sport und Ge- Sport alleine überlassen könnte, brauchte man nämlich sellschaft. Auch die Gesellschaft kann und muss ihren keine von Staaten ratifizierte Konvention. Beitrag leisten. Sie muss Doping und Doper ächten. Do- ping ist kein Kavaliersdelikt. Ich habe es schon gesagt: (Klaus Riegert [CDU/CSU]: Das hat nie je- Doping ist Betrug. Den gilt es, mit allen Mitteln einzu- mand in Abrede gestellt!) dämmen. Das sollte und muss uns gemeinsam der Sport Das erkennen inzwischen auch die Sportorganisationen (B) und der Schutz der sauberen Sportler wert sein. Ich bitte an. Es ist eine doppelte Verpflichtung und Legitimation, (D) weiterhin um Unterstützung aller in diesem Kampf. aber keine abstrakte. Denn der Kampf gegen Doping ist Herzlichen Dank. immer sehr konkret. Es kommt darauf an, welche Me- thoden und welche Mittel eingesetzt werden und wie (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie man Doping bekämpft. der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]) Die Methoden und die Mittel – meine Vorrednerin hat es schon angesprochen – werden immer verrückter und Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: perverser. Man muss sich einmal vorstellen, wie mit Die Kollegin Katrin Kunert, Fraktion Die Linke, hat Blutdoping bei der Tour de France seit Jahren gearbeitet ihre Rede zu Protokoll gegeben. Uns wurde mitgeteilt, wird. Seit dem Bekanntwerden des Falls Fuentes aus dass sie aufgrund der Witterungsverhältnisse nicht hier Spanien wissen wir, wie die Mittel immer genauer einge- erscheinen kann. Wir hoffen, dass ihr an diesem Tag setzt werden. Viele deutsche Sportlerinnen und Sportler keine weiteren Behinderungen widerfahren. sind darin verwickelt. Seit Kenntnis der entsprechenden Ich gebe das Wort dem Kollegen Winfried Hermann, Akten wissen wir, dass Athleten, die bei uns regelmäßig Bündnis 90/Die Grünen. kontrolliert wurden, seit Jahren systematisch gedopt ha- ben und viel dafür bezahlt haben, dass sie die richtigen (Dagmar Freitag [SPD]: Da bin ich mal ge- Cocktails zum richtigen Zeitpunkt bekommen. Dass sie spannt!) nicht erwischt worden sind, muss uns zu denken geben. Das bedeutet, dass der klassische Kampf, der hauptsäch- Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): lich auf Kontrollen setzt, nicht ausreicht. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Kolleginnen und Kollegen! Dagmar Freitag ist schon ge- des Abg. Joachim Günther [Plauen] [FDP]) spannt auf das, was ich sage. Wir müssen feststellen – dieser Tage ist es offensicht- (Dagmar Freitag [SPD]: Immer!) lich geworden –, dass das deutsche Kontrollsystem Lü- Das darf sie auch sein. cken hat. Es trifft nicht zu, dass wir die Besten im Kampf gegen Doping sind und alle Maßnahmen umsetzen, wäh- Wir Grünen begrüßen, dass es eine Anti-Doping-Kon- rend die anderen nur große Reden halten. Unser Kon- vention der UNESCO gibt. Das sage ich vorweg. Wir trollsystem weist erhebliche Lücken auf. Ich bin froh, freuen uns, dass sie heute ratifiziert wird. Das ist ein dass wir uns schnell darauf verständigt haben, auf der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7709

Winfried Hermann (A) nächsten Sondersitzung des Sportausschusses kritische mehrmals von Sportbetrug gesprochen, den man be- (C) Fragen zu stellen. Wir wollen fragen, wer die Verantwor- kämpfen will. Wir haben beschlossen, dass Betrug im kom- tung hat und was zu tun ist, damit diese Lücken rasch ge- merzialisierten Sport strafrechtlich verfolgt werden schlossen werden können. soll, dass sich Sportler, die kommerziell um die Spitze, um den Sieg kämpfen, bei Sportbetrug strafbar machen. Klar ist: Staatliche Hilfe im Kampf gegen Doping Das ist ein neuer Vorschlag; den sollten Sie einmal zur ist nötig; davon reden übrigens auch viele Sportpolitiker Kenntnis nehmen. Das ist ein gutes Modell. seit langem. Natürlich hat die Große Koalition seit Mo- naten um Lösungen gerungen. Ich sage: Es ist beschei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – den, was bisher dabei herausgekommen ist. Dagmar Freitag [SPD]: Den würden wir gern (Peter Rauen [CDU/CSU]: Na!) mal lesen!) Es wird gesagt, man habe schnell für die Ratifizierung Jetzt komme ich darauf zu sprechen, warum ich Ihren des Vertragswerks gegen Doping im Sport gesorgt. Aber Vorschlag bescheiden nenne. Schon heute ist es nach entschuldigen Sie einmal, Kollegen: Man hat dazu an- dem Arzneimittelgesetz so, dass sich Händler, die ande- derthalb Jahre Zeit gehabt, und diese Debatte ist schon ren Mittel aufdrängen, strafbar machen können. zuvor sieben Jahre lang geführt worden. (Klaus Riegert [CDU/CSU]: Ja, genau! Jetzt (Detlef Parr [FDP]: Mit den Grünen sieben Jahre! hat er es kapiert! Das gibt es schon lange!) Die Grünen haben sieben Jahre nichts getan!) Das heißt, Sie haben versucht, der nicht informierten Öf- – Ich sage ja: Das haben wir nicht hinbekommen. – Jetzt fentlichkeit deutlich zu machen, dass Sie etwas Neues hat die Große Koalition aber nochmals anderthalb Jahre beschlossen haben. Das ist der schönste Sprachtrick, den Zeit. Die Debatte über Doping im Sport hat sich jedoch ich seit langem erlebt habe. Unter Linguisten würde man weiterentwickelt. Man weiß heute mehr; es gibt mehr sagen: Bisher hat sich der „Schimmel“ strafbar gemacht, Vo r s ch l ä ge . wenn er mit Dopingmitteln gehandelt hat. Jetzt macht sich der „weiße Schimmel“ strafbar, wenn er mit Do- (Klaus Riegert [CDU/CSU]: Wie viel haben pingmitteln handelt. Sie denn in sieben Jahren erreicht?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Noch immer liegt kein Gesetzentwurf bezüglich staatli- Dagmar Freitag [SPD]: So ein Unsinn! – cher Hilfen für den Kampf gegen Doping vor. Es gibt Klaus Riegert [CDU/CSU]: Sie haben es nicht nur Ankündigungen. Die Große Koalition hat nicht ein- verstanden!) mal einen Antrag vorgelegt. (B) Was will ich damit sagen? (D) (Detlef Parr [FDP]: Die Grünen haben nur gut reden!) (Zuruf von der SPD: Das fragen wir uns auch!) Sie haben gerade noch rechtzeitig, damit Sie nicht allzu Bisher deutet nach geltendem Recht alles darauf hin, spät damit kommen, am Mittwochabend eine Pressekon- dass derjenige, der eine Tasche voller Mittel hat, ein ferenz abgehalten und die Erklärung abgegeben, dass Sie Händler ist. Also macht er sich strafbar und wird ver- jetzt etwas tun wollen. Aber Sie haben noch nichts vor- folgt. gelegt. Dazu kann ich nur sagen: Wir Grünen sind wei- ter. (Dagmar Freitag [SPD]: Er hat es nicht ver- standen!) (Lachen bei der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Nach achteinhalb Jahren!) Jetzt sagen Sie: Wir stellen fest, wenn eine oder einer eine solche Tasche hat, wird sie oder er verfolgt. Sie be- Wir haben nach einer Fraktionsdebatte und einem -be- nutzen dafür das Wort der Besitzstrafbarkeit. Das ist, wie schluss zumindest einen Antrag verabschiedet. ich finde, eine Täuschung, weil es für den Eigenver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – brauch nicht gilt. Das hätten Sie nicht notwendig gehabt. Lachen und Widerspruch bei der SPD) (Dagmar Freitag [SPD]: Das hast du nicht nö- Sie sagen mit Freude, der Hermann habe sich jahre- tig!) lang für die Besitzstrafbarkeit eingesetzt, aber nicht Sie hätten auch ehrlich sagen können: Wir haben uns durchgesetzt. Ja, das ist richtig. Wir haben nach heftiger nicht verständigt. Debatte eine Abstimmung durchgeführt, die das Ergeb- nis 20 : 20 hatte. Die Hälfte war dafür; die andere Hälfte Gemeinsam sind wir dafür – da will ich Sie durchaus hatte grundsätzliche rechtsstaatliche Bedenken. loben –, dass es für das bandenmäßige Inverkehrbringen eine Strafverschärfung geben soll; das haben auch wir (Detlef Parr [FDP]: Sehr vernünftig!) Grünen in der Fraktion beschlossen. Wir haben darüber Deswegen gab es hierzu keinen Vorschlag. hinaus – ich habe es schon gesagt – den Tatbestand des Sportbetrugs beschlossen und uns klar dazu bekannt, (Zuruf von der CDU/CSU: Und jetzt wissen dass wir zukünftig vonseiten des Staats finanzielle Mittel wir genau, was die wollen!) nur denjenigen Sportorganisationen zur Verfügung stel- Aber wir haben – das ist der Unterschied zu Ihnen – len wollen, die im Kampf gegen Doping mitmachen und einen neuen Vorschlag gemacht. Kollegin Freitag hat nicht schlampig damit umgehen. 7710 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

Winfried Hermann (A) (Dagmar Freitag [SPD]: Das steht heute schon geräumt werden: Der einzelne Sportler ist nicht das ver- (C) in den Bestimmungen! Das ist nichts Neues! – führte, willfährige Opfer in einem Geflecht, sondern er Klaus Riegert [CDU/CSU]: Das gibt es heute ist durchaus auch der Teilnehmer, schon! Das ist jahrelange Praxis!) (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/ Diejenigen Organisationen, die sich an diesem Kampf DIE GRÜNEN]: Der Täter!) beteiligen, bekommen Geld. Wer schlampt und der Sa- che nicht nachgeht, muss damit rechnen, dass staatliche der sich bewusst und gewollt am Dopingmissbrauch be- Mittel entzogen werden. teiligt. (Dagmar Freitag [SPD]: Dies steht heute (Beifall des Abg. Winfried Hermann schon in den Regularien!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Bundesinnenminister Dr. Schäuble hatte völlig recht, Was ist das Fazit? Das neue internationale Übereinkom- als er in einem Interview mit der „Welt am Sonntag“ men verlangt von uns, dass wir den Kampf gegen Do- vom 31. Dezember vergangenen Jahres vom Doping als ping mit Leben bzw. mit konkreten Maßnahmen erfül- einer Seuche gesprochen hat, die die Existenz des Spor- len. Gesetze allein reichen nicht aus. Wir brauchen eine tes gefährdet. gemeinsame Strategie und Gesamtkonzeption des (Beifall des Abg. Klaus Riegert [CDU/CSU]) Sports, der Teilorganisationen des Sports und der Politik, damit wir auf Dauer die Geißel des Sports, nämlich das Insofern sind wir aufgefordert, alles dafür zu tun, Do- Doping, wirklich wirkungsvoll bekämpfen können. pingmissbrauch effizienter zu bekämpfen. Vielen Dank. Es gibt Gott sei Dank seit geraumer Zeit eine breite (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Diskussion in der Öffentlichkeit und in der Gesellschaft, (Dr. Peter Danckert [SPD]: Aus Bayern!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: auch im gesetzgeberischen Bereich mehr zu tun, um den Als Nächster hat das Wort der Kollege Stephan Kampf gegen Doping zu verstärken. Uns sollte aber Mayer, CDU/CSU-Fraktion. auch klar sein, dass Doping kein nationales, sondern ein internationales Problem ist. Bei allem, was wir tun, Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): können wir in Deutschland nur einen Teilbereich regeln. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Doping ist aber leider Gottes mittlerweile ein Thema, (B) Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Die ersten Nach- das den gesamten Weltsport betrifft. (D) weise für sportliche Betätigung in der Menschheitsge- schichte gehen auf das kretisch-mykenische Zeitalter Deswegen ist es richtig, dass sich die UNESCO zu zwischen 1600 und 1200 vor Christus zurück. Seitdem dem Übereinkommen durchgerungen hat. Ich möchte ist der Sport nicht mehr aus der Menschheit wegzuden- betonen, dass Deutschland einen sehr wichtigen Beitrag ken. zum Zustandekommen des Übereinkommens geleistet hat. Die Beteiligten haben sich in den Gremien intensiv Sport ist ein wichtiges Gut, das es zu wahren und zu für das Zustandekommen und die Verabschiedung dieses schützen gilt. Jeder Sportler hat das Recht auf Fairness, Übereinkommens eingesetzt. Es ist nicht zuletzt den auf Gleichbehandlung im Wettbewerb und auf die Teil- deutschen Vertretern zu verdanken, dass wir mit dem nahme an einem dopingfreien Sport. Aber gerade im Übereinkommen der UNESCO erstmals über ein welt- modernen Wettkampfgeschehen sind Sport und Doping weit verbindlich geltendes Regelwerk verfügen. offenbar zwei unzertrennliche Weggefährten. Dies zeigt uns sehr deutlich, dass die früheren und auch die gegen- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wärtigen Präventionsbemühungen nicht dazu ausge- neten der SPD) reicht haben, Doping und Dopingmissbrauch effizient zu Ich möchte des Weiteren mit einer Interpretation auf- bekämpfen. räumen. Wir dürfen uns, was die Auswirkungen des Namen wie Fuentes, Jan Ullrich, Springstein, Fiedler UNESCO-Übereinkommens anbelangt, für Deutschland und Floyd Landis haben mit Sicherheit gerade in jüngs- nicht allzu viel versprechen, weil hinsichtlich der materi- ter Zeit dazu beigetragen, dass das öffentliche Vertrauen ellen Anforderungen der Großteil der Vorschriften dieses in die Fairness im Sport deutlich zurückgegangen ist. Übereinkommens in Deutschland schon geltendes Recht Wir haben auch neue Dimensionen kennengelernt. Auch ist. Aber – die Sendung in der ARD am vergangenen wenn sich die Aufmerksamkeit aus verständlichen Grün- Mittwoch ist schon angesprochen worden – es ist gerade den zunächst ausschließlich auf die Spitzensportler rich- in den letzten Tagen deutlich geworden, dass in Deutsch- tet, muss uns eines klar sein: Doping ist nicht nur ein land nicht alles zum Besten steht, was die Bekämpfung Thema im Spitzensport, sondern auch im Breitensport. von Dopingmissbrauch und vor allem was die Doping- Doping ist eine Hydra, die nicht nur in zunehmendem kontrollen anbelangt. Insofern gibt es auch in Deutsch- Maße den Spitzensportler im Griff hat, sondern leider land noch deutlichen Verbesserungsbedarf. Gottes auch verstärkt den Breitensportler. Ich bin froh, dass die Bundesregierung im September Es geht um die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz des des letzten Jahres ein Maßnahmenpaket vorgelegt hat, Sportes. Meines Erachtens muss auch mit einer Mär auf- das wir in vollem Umfang unterstützen. Es bedarf im ge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7711

Stephan Mayer (Altötting) (A) setzgeberischen Bereich in der Tat deutlicher Verbesse- wachung zu nutzen, wenn sie – das muss man so deut- (C) rungen. lich sagen – kriminellen Banden auf die Schliche kommen. Die Strafverfolgungsbehörden dürfen nicht Die Große Koalition hat sich im Koalitionsvertrag ohnmächtig sein. Richtig ist ebenfalls, eine Kennzeich- darauf verständigt, mehr für eine effiziente Bekämpfung nungspflicht für dopingrelevante Arzneimittel einzufüh- des Dopingmissbrauchs zu tun. Diesen Ankündigungen ren. Ferner wird der Besitz nicht geringer Mengen von aus dem Koalitionsvertrag lassen wir jetzt konkrete Ta- besonders gefährlichen und am häufigsten verwendeten ten folgen. Wirkstoffen insbesondere im Bereich von anabolen Sub- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und stanzen nunmehr auch beim Sportler unter Strafe ge- der SPD) stellt. In diesem Zusammenhang ist deutlich zu machen: Der Begriff „nicht geringe Mengen“ ist so zu definieren, Insofern ist es richtig, dass auch im Zusammenhang mit dass sie nicht der Deckung des Eigenbedarfs dienen. Bei dem Arzneimittelgesetz einige Verbesserungen vorge- ihnen ist davon auszugehen, dass sie in den Handel ge- sehen sind. geben werden, dass sich der Sportler also die Doping- Die ARD-Sendung hat gezeigt, dass im Bereich der mittel nicht zum Eigengebrauch verschafft hat, sondern Kontrollen nicht alles zum Besten steht. Es ist meines sie als Händler, als Hehler an andere Sportler weiterge- Erachtens nicht hinnehmbar, dass offenbar im vergange- ben will. Dies gehört strafrechtlich sanktioniert. nen Jahr in mehreren Hundert Fällen Sportler nicht anzu- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der treffen waren, wenn sie zu Dopingkontrollen herangezo- FDP) gen werden sollten. Unabhängig davon, wie hoch die Zahl tatsächlich ist und aufgrund welcher Ausreden oder Argumentation der Dopingtest nicht durchgeführt wer- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: den konnte, muss eines klar sein: Die Verletzung von Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege. Meldepflichten ist kein Kavaliersdelikt, sondern ein schwerer Verstoß, der entsprechend sanktioniert werden Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): muss. Deswegen ist es richtig, hier tätig zu werden. Die Große Koalition hat gezeigt, dass sie handlungs- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) fähig ist. Wir alle, zuvorderst der organisierte Sport, die Sportverbände, aber auch – wie ausgeführt – der Gesetz- Ich möchte eines in aller Deutlichkeit sagen: Die Mil- geber, sind aufgefordert, an einem Strang zu ziehen und lionen Sportbegeisterten in Deutschland haben meines dazu beizutragen, dass wir dopingfreie Leistungen im Erachtens kein Interesse daran, jedes Wochenende zu Sport bekommen und dass das Fair Play und die Glaub- hören, dass die Staatsanwaltschaft und die Polizei wie- (B) würdigkeit des Sports in der Öffentlichkeit wiederherge- (D) der einmal Wettkampfstätten, Mannschaftsquartiere und stellt werden. Trainingsplätze aufsuchen und tätig werden. Um eine verstärkte Heranziehung des Strafrechts zur Dopingbe- Herzlichen Dank. kämpfung vermeiden zu können, ist es erforderlich, dass (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) der organisierte Sport selbst, die Sportverbände, seiner Verantwortung gerecht wird. Hier gibt es schon positive Ansätze; das möchte ich gar nicht verhehlen. Zu diesem Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Schluss komme ich, wenn ich mir zum Beispiel die Dr. Peter Danckert hat das Wort für die SPD-Fraktion. Initiative des Deutschen Schwimm-Verbandes an- schaue, der seine A-Kader-Athleten verpflichtet, in re- Dr. Peter Danckert (SPD): gelmäßigen Abständen unangekündigte Bluttests vor- Frau Vizepräsidentin! Meine Damen und Herren! Wir nehmen zu lassen und so ein nachhaltiges Blutbild werden in wenigen Minuten den Entwurf eines Gesetzes vorzuweisen. Obwohl es gar nicht gefordert ist, tut die- verabschieden, das zwar mit sieben oder acht Zeilen ein ser Verband präventiv alles, um gar nicht erst den An- kleines Gesetz ist, das aber durch das Übereinkommen schein des Dopings zu erwecken. im Anhang – so hoffe ich – große Wirkung haben wird. Das alles reicht aber insgesamt nicht aus. Deswegen Herr Staatssekretär, ich will, nachdem ein solch gro- ist es richtig, den Strafrahmen für gewerbs- und ban- ßer Kompromiss möglich war, nicht unbedingt kritisie- denmäßiges Handeln im Bereich des Arzneimittel- ren, dass ein Übereinkommen vom 19. Oktober 2005 rechts zu Dopingzwecken auf zehn Jahre Freiheitsstrafe erst nach anderthalb Jahren in das Gesetzgebungsverfah- deutlich zu erhöhen. Die Abgabe von Arzneimitteln zu ren einmündet. Mir hat sich zwar nicht richtig erschlos- Dopingzwecken an Jugendliche unter 18 Jahren ist in sen, warum es so lange gedauert hat; aber das ist nur eine meinen Augen ein besonders verwerfliches Delikt. Auch Randbemerkung. dann, wenn schwere Gesundheits- und Körperschädi- gungen durch die Verwendung von Arzneimitteln zu Do- Wir sind in diesen Tagen, gerade gestern, gefragt wor- pingzwecken drohen, ist ein Strafrahmen von zehn Jah- den, ob der Kompromiss, den wir erzielt haben, etwas ren Freiheitsstrafe durchaus angemessen. mit dem heutigen Tag zu tun hat. Mag sein, dass uns das zusätzlich angetrieben hat. Ich kann als einer derjenigen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die hier mitgewirkt haben, sagen: Wir haben seit Mona- Genauso richtig ist, dass die Strafverfolgungsbehör- ten miteinander diskutiert, nicht öffentlich, aber intensiv den die Möglichkeit haben, das Mittel der Telefonüber- und in mehreren Etappen. 7712 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

Dr. Peter Danckert (A) Ich darf an dieser Stelle dafür auch einmal Dank sa- und es liegt noch viel vor uns. Wir bemühen uns um die (C) gen. Ich bedanke mich bei unserer sportpolitischen Spre- Aufnahme des Sports in das Grundgesetz, wir haben bei cherin, bei unserer AG, bei Kurt Beck, der das unter- der Reform des Vereinsrechts viel zu tun, und wir haben stützt hat, Peter Struck, Fritz Rudolf Körper und vielen am 27. Februar eine umfassende Anhörung. Wir wollen anderen, aber – und das ist genauso wichtig – ich be- etwas für den Sport tun. Wir müssen Deutschland im danke mich auch bei meinen Gesprächspartnern in der Sport voranbringen, jedenfalls unseren Teil dazu leisten. Union. Da nenne ich in erster Linie Klaus Riegert und Auch für sportbetonte Schulen muss viel mehr getan Peter Rauen. Ihr habt wirklich in sehr kollegialer Weise werden. Wir haben jetzt einen Konfliktpunkt ausge- bei diesem schwierigen Thema mit uns zusammengear- räumt. Dafür bin ich den Kollegen sehr dankbar, auch beitet. Nur so war das möglich. Ihr habt diesen Kompro- dem Bundesinnenminister. Herr Bergner, würden Sie miss – möglicherweise genauso mühevoll wie wir – in ihm das bitte ausrichten? Er hat immer gesagt: Wenn ihr euren Arbeitsgruppen vertreten müssen. Der Dank geht untergehakt zu mir kommt, dann machen wir das. auch an eure Fraktionsspitze, denn ohne die hättet ihr das nicht machen können. An dieser Stelle hat sich die Ich habe an dieser Stelle aber noch eine Bitte. Ich Kollegialität sehr positiv ausgewirkt. glaube, da spreche ich im Namen der Koalitionsfraktio- nen. Das, was wir jetzt vereinbart haben, Herr Bergner, Ich bin froh, dass wir Unstimmigkeiten ausgeräumt sollte nach Möglichkeit in das jetzt eingeleitete Gesetz- haben. Es wird sicherlich im Gesetzgebungsverfahren gebungsverfahren schon eingespeist werden. noch die eine oder andere Frage auftauchen. Das ist im- mer so. Das sehen wir auch bei der Gesundheitsreform. (Zustimmung bei der SPD) (Detlef Parr [FDP]: Gutes Beispiel!) Wir haben natürlich auch die Möglichkeit, das im Rah- men der parlamentarischen Beratung einzubringen. Das Wir haben aber die große Linie verabschiedet. Das ist ist der Kompromiss, auf den der Innenminister gewartet wichtig. Da gibt es Neuerungen. Natürlich fällt es auf, hat. Jetzt ist er da, und jetzt soll er diesen bitte einarbei- dass sich jetzt viele in diesem Kompromissvorschlag ten, selbst wenn das 14 Tage länger dauert. wiederfinden. (Dagmar Freitag [SPD]: Sehr richtig!) (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Völlig unterschiedliche Leute! Erstaun- lich!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des Ich finde das gar nicht schlimm. Es besteht doch immer Herrn Parr zulassen? die Schwierigkeit bei solchen Kompromissen, dass es (B) keine Sieger und keine Verlierer geben darf. So sehe ich (D) Dr. Peter Danckert (SPD): es als positives Zeichen, wenn der Sport, vertreten durch den Präsidenten Dr. Thomas Bach und den Generalse- Ja, der Kollege Parr darf auch einmal fragen. kretär Dr. Michael Vesper, sagt: Das haben wir schon (Dagmar Freitag [SPD]: Darauf warten wir immer gewollt. – Wunderbar, dann gibt es aus dieser immer!) Ecke auch keine Bedenken mehr. (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Detlef Parr (FDP): NEN]: Ich dachte, ihr wolltet mehr!) Herr Kollege Danckert, Sie haben in Ihrer Presse- Ich finde es auch wunderbar, dass Christa Thiel, die Vor- erklärung geschrieben: sitzende der Thiel-Kommission, sagt, sie habe das schon Die Koalitionsfraktionen sind sich weiterhin darü- immer gewollt. ber einig, dass der Besitz nicht geringer Mengen (Detlef Parr [FDP]: Aber die SPD hat etwas den Handel indiziert und bestraft werden soll. anderes gewollt! – Winfried Hermann In dem Zehnpunkteprogramm des DOSB steht, dass [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da müsst ihr der DOSB „eine Strafverschärfung für das banden- und zum Nachdenken kommen! Wer oder was gewerbsmäßige Inverkehrbringen von Dopingsubstan- stimmt da nicht?) zen“ fordert. Und weiter: Das verwundert uns natürlich ein bisschen, aber das ist Der DOSB weist ausdrücklich darauf hin, dass gar nicht schädlich. Wir werden jetzt Seite an Seite ge- Athleten/innen, die mit Dopingmitteln handeln oder hen. Ich will den Text eines Liedes etwas modifizieren sie anderweitig in den Verkehr bringen, mit Ge- – singen darf man hier ja nicht –, der lautet: Wann wir fängnisstrafe bedroht sind. schreiten Seit’ an Seit’…, muss es wohl gelingen. (Dagmar Freitag [SPD]: Das ist etwas völlig (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – anderes!) Detlef Parr [FDP]: Da können wir auch die In- ternationale singen!) Welcher Konflikt ist jetzt eigentlich gelöst worden, wenn die Koalition offensichtlich genau diese Position des Meine sozialdemokratischen Freunde kennen das Lied. DOSB unterstützt? Lasst uns das übersetzen: Wenn wir die Ernte einfahren können, dann haben wir – einige Wochen wird es noch (Dagmar Freitag [SPD]: Sie haben es wirklich dauern; ich hoffe, zum 1. Juli gelingt es – viel erreicht, nicht verstanden, Herr Parr!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7713

(A) Dr. Peter Danckert (SPD): (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (C) Lieber Kollege Parr, ich weiß nicht, ob dieses Parla- ment der geeignete Ort ist – Dazu brauchen wir aber Mittel. (Detlef Parr [FDP]: Ich möchte eine inhaltli- Ein weiteres Problem mit den Trainingskontrollen ist che Antwort haben!) in der Reportage von Hajo Seppelt und Jo Goll ganz deutlich geworden: die enorme Zahl von Athleten, die zu – jetzt lassen Sie mich doch bitte ausreden; Sie haben kontrollieren sind – seien es nun 400, 300 oder nur Ihre Frage gestellt, und ich gebe jetzt die Antwort –, um 200 Athleten. Wir haben gemeinsam beschlossen, in der Nachhilfeunterricht in gewissen juristischen Fragen zu Sitzung des Sportausschusses am 31. Januar einen Bei- geben. trag zur Aufklärung zu leisten. (Dagmar Freitag [SPD]: Ist aber nötig!) (Beifall des Abg. Eberhard Gienger Die Lage ist folgendermaßen: In § 6 a des Arzneimit- [CDU/CSU]) telgesetzes ist unter anderem der Handel – das ist der Wir werden sehen, ob uns das gelingt. An diesem Tage Punkt – unter Strafe gestellt. Da, wo Sportler, Funktio- werden Präsident Bach, Herr Prokop, Athletenvertreter näre, Mediziner und Personen wie Herr Springstein mit und Herr Dr. Pabst, der mit seinen Kontrolleuren durch unerlaubten Substanzen angetroffen worden sind, haben das Land reist, zu Gast sein, und dann werden wir sehen, sie sich immer damit herausgeredet, dass sie gesagt was da wirklich los ist. Wir brauchen jedenfalls Aufklä- haben: Wir wollen nicht handeln – die Staatsanwalt- rung. schaft muss Handel nachweisen –; vielmehr besitzen wir das nur für den Eigenverbrauch. Ein solches Heraus- Ich habe vorgeschlagen, eine unabhängige Kommis- reden wird mit der von uns hier vorgeschlagenen Lösung sion einzusetzen, und mir erlaubt, Ihren geschätzten ausgeräumt. Kollegen als Vorsitzenden dieser Kommis- sion vorzuschlagen. Ich glaube nämlich, dass er eine in- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – tegre Persönlichkeit ist, die mit dem Sport sehr verbun- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: den ist. Er könnte diese Arbeit leisten. Weder die NADA Sie reden wider besseres Wissen!) noch eine andere Sportorganisation sollte diese Unter- Derjenige, der mehr als eine geringe Menge unerlaubter suchung vornehmen. Wir wollen, dass eine unabhängige Substanzen besitzt, wird für den Besitz dieser unerlaub- Einrichtung dies tut. Wenn die Ergebnisse vorliegen, ten Substanzen bestraft. werden wir sehen, was an diesen Stellen noch zu tun ist. Der Gedanke, der dahintersteht, ist – Klaus Riegert Jetzt komme ich auf die Mittel zu sprechen. Wir müs- (B) wird das sicherlich bestätigen –, dass schon dieser Besitz sen auch bereit sein, mehr Mittel einzusetzen. (D) ein Hinweis auf Handel sein könnte. Sanktioniert wird (Beifall des Abg. Eberhard Gienger also nicht der Handel, sondern der Besitz einer nicht ge- [CDU/CSU]) ringen Menge. Das ist ein Teil der von uns immer gefor- derten Besitzstrafbarkeit. Das ist eine neue Qualität. Hier ist schon gesagt worden – ich glaube, von Dagmar Freitag –: Eigentlich wird die NADA nur durch Steuer- Wir haben uns also gewissermaßen eine Brücke ge- mittel des Staates finanziert. Ich frage den organisierten baut: Auch der Besitz einer nicht geringen Menge ist ein Sport – ich wende mich hier an einen namhaften Vertre- Hinweis auf einen Handel. Damit liegen wir auf der Li- ter: Eberhard Gienger –: Wäre es nicht sinnvoll, einmal nie der bisherigen gesetzlichen Regelungen. Ich denke, zu überlegen, ob der Sport nicht selber mehr dazu beitra- das kann jeder, der fünf Minuten darüber nachdenkt, ver- gen kann? Ich habe vor einem Jahr die Dopingabgabe ins stehen. Wir haben uns jedenfalls auf diesen Punkt ver- Gespräch gebracht. Für Sponsoring im Sport stehen ständigt. Wir halten das für den richtigen Ansatz, den 2,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Wenn davon wir im Gesetzgebungsverfahren verfolgen. 1 Prozent abgezweigt würde, dann stünden – das ist leicht (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ausgerechnet, Detlef Parr – zusätzlich 25 Millionen Euro zur Verfügung. Wenn nur 0,5 Prozent abgezweigt wür- Es ist gut, wenn sich nun alle hinter uns sammeln. Dann den, stünden immer noch 12,5 Millionen Euro zusätzlich werden wir dieses gemeinsame Anliegen umsetzen. zur Verfügung. Die Sendung „Mission: Sauberer Sport“ in der ARD Wir haben jetzt einen Etat von 1,7 Millionen Euro – in am vergangenen Mittwoch hat gezeigt – das ist hier einem Land mit 82 Millionen Einwohnern und einer ent- schon angesprochen worden –, dass wir ein zusätzliches sprechenden Zahl von Sportlern! Das entspricht dem Etat Problem haben: Nicht nur die Wettkampfkontrollen, son- von Finnland und der Schweiz. Zur Bevölkerungssitua- dern auch die Trainingskontrollen müssen einwandfrei tion in diesen Ländern brauche ich Ihnen nichts zu sagen. durchgeführt werden; das gehört zusammen. Zu den Wir müssen in diesem Bereich mehr tun. Wenn wir das Wettkampfkontrollen will ich ganz klar sagen: Das Ziel einer effektiveren Dopingbekämpfung erreichen Volumen der Wettkampfkontrollen, die jetzt durch- wollen, dann müssen über eine Dopingabgabe oder et- geführt werden und aus dem Etat der NADA und mögli- was Vergleichbares mehr Mittel zur Verfügung stehen. cherweise der Verbände finanziert werden, ist viel zu ge- ring. Angesichts der Zahl unserer Kaderathleten muss Die 250 000 Euro für das Jahr 2007 sind – das ist an das Volumen der Wettkampfkontrollen deutlich erhöht die Adresse des DOSB gerichtet – ein netter Beitrag, werden. aber sozusagen nur ein Tropfen auf den heißen Stein. 7714 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

Dr. Peter Danckert (A) Wir brauchen nicht einmalig 250 000 Euro – das war ja der Anträge der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen (C) eine einmalige Verpflichtung –, sondern dauerhaft er- und der Fraktion der FDP zu dem möglichen Einsatz von heblich mehr Mittel. Wenn wir eine effektivere Doping- Tornado-Aufklärungsflugzeugen in Afghanistan auf bekämpfung wollen, brauchen wir nicht nur 250 000 Drucksachen 16/4048 und 16/4096 zu erweitern und Euro, sondern 25 Millionen Euro. Ich glaube, das wäre diese jetzt in verbundener Beratung mit Zusatzpunkt 7 im Interesse der Sportler, des organisierten Sports, der aufzurufen. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ver- Politik und auch der Sponsoren. Denn auch die Sponso- fahren wir so. ren müssen ein Interesse daran haben – das zeigt sich un- ter anderem bei der Telekom –, dass im Kampf gegen Ich rufe Zusatzpunkt 7 sowie die eben aufgesetzten Doping etwas Nachhaltiges getan wird. Zusatzpunkte 9 und 10 auf: ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika (Beifall der Abg. Dagmar Freitag [SPD]) Knoche, Dr. Norman Paech, Wolfgang Gehrcke, Mit der Ratifizierung des Übereinkommens wurde weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- eine Grundlage geschaffen. Herr Staatssekretär, wir wer- KEN den sehen, wie Art. 8 Abs. 2 des Gesetzentwurfs ausge- Keine Tornado-Aufklärungsflugzeuge in legt wird. Ich verweise dabei auf die Möglichkeiten des Afghanistan einsetzen Art. 5: Es dürfen nicht nur Reden im Parlament gehalten werden, sondern es müssen auch Gesetze auf den Weg – Drucksache 16/4047 – gebracht werden. Wir müssen etwas umsetzen. Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Wir sind mit diesem Kompromiss auf dem richtigen Verteidigungsausschuss Weg. Ganz wichtig war, dass wir mit dem DOSB Frie- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und den geschlossen haben. Die heftigen Meinungsverschie- Entwicklung denheiten, da gebe ich Detlef Parr recht, sind sozusagen ZP 9 Beratung des Antrags der Fraktion des BÜND- Schnee von gestern. Das kann man noch einmal nachle- NISSES 90/DIE GRÜNEN sen, wenn einen das freut. Keine Zusage deutscher Tornados ohne Bun- (Detlef Parr [FDP]: Lieber nicht!) destagsmandat Aber wir gucken nach vorne. – Drucksache 16/4048 – Überweisungsvorschlag: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Auswärtiger Ausschuss (f) Verteidigungsausschuss (B) Vielleicht nicht mehr allzu weit, Ihre Redezeit ist ab- (D) gelaufen. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Dr. Peter Danckert (SPD): ZP 10Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ich bedanke mich ausdrücklich bei denen, die mitge- Werner Hoyer, Birgit Homburger, Rainer wirkt haben: Klaus Riegert, Peter Rauen, Dagmar Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Freitag, Swen Schulz und andere. Wir sind auf einem der FDP guten Wege. Wenn wir jetzt diesen Gesetzentwurf verab- Neues Mandat für Tornado-Einsatz unerläss- schieden, dann haben wir eine gute gesetzliche Grund- lich lage geschaffen. – Drucksache 16/4096 – Vielen Dank, Frau Vizepräsidentin! Überweisungsvorschlag: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Auswärtiger Ausschuss (f) Verteidigungsausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Entwicklung Damit schließe ich die Aussprache. Zwischen den Fraktionen ist verabredet worden, eine Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- halbe Stunde zu debattieren, wobei die Fraktion Die desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Inter- Linke fünf Minuten Redezeit erhalten soll. – Dazu höre nationalen Übereinkommen vom 19. Oktober 2005 ge- ich keinen Widerspruch. gen Doping im Sport auf Drucksache 16/3712. Der Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Sportausschuss empfiehlt auf Drucksache 16/4077, den Oskar Lafontaine das Wort. Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – (Beifall bei der LINKEN) Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen. Oskar Lafontaine (DIE LINKE): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! der SPD) Die Frage, ob Tornados der Bundeswehr in den Süden Afghanistans geschickt werden sollen, beschäftigt mitt- Ich gebe bekannt, dass interfraktionell vereinbart lerweile auch große Teile der deutschen Öffentlichkeit. worden ist, die heutige Tagesordnung um die Beratung Dabei stand in den letzten Wochen die Frage im Vorder- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7715

Oskar Lafontaine (A) grund, ob es dazu eines Bundestagsmandates bedarf. Wir Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt. – Da (C) sind der Auffassung: Dies ist notwendig. Wir unterstüt- darf man sich doch nicht wundern, wenn die Opfer der zen alle diejenigen, die darauf bestehen, dass der Deut- NATO-Bomben im Süden Afghanistans beispielsweise sche Bundestag hierüber Beschluss fasst, weil wir dabei sagen: Meine Verwandten werden in Deutschland ge- bleiben, dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee sein rächt. muss. ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der LINKEN) NEN]: Das sagt bisher nur Hekmatjar!) Bei uns steht diese Frage aber nicht im Vordergrund. Man muss sich zumindest klar darüber werden, was man Man könnte durch die intensive Diskussion dieser Frage- mit solch einer törichten Argumentation in der Welt alles stellung von dem eigentlichen Thema abgelenkt werden. anrichtet. Das eigentliche Thema ist die Frage, ob hier ein Kampfeinsatz beschlossen wird. Nach unserer Auffas- (Beifall bei der LINKEN) sung wird ein Kampfeinsatz beschlossen. Wir sind der Auffassung, dass es das Richtige wäre, (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE die Truppen aus Afghanistan abzuziehen. Wir glauben, GRÜNEN]: Für Sie ist in Afghanistan bisher dass überhaupt keine vernünftige Strategie vorhanden doch alles Kampfeinsatz! – Gegenruf von der ist, die begründen könnte, dass diese Truppen in Afgha- LINKEN: Das ist kein Widerspruch!) nistan weiter stationiert bleiben sollten. Wir sind der Auffassung, dass eine solche Vorgehensweise, wie sie – Ja. – Ehe ein solcher Kampfeinsatz beschlossen wird, derzeit wiederum ins Auge gefasst wird, erstens mit un- sollte man sich zumindest Klarheit darüber verschaffen, serer Verfassung nicht in Übereinstimmung ist, zwei- was man da mit beschließt. Diese Tornados unterstützen tens das Völkerrecht bricht und drittens auch vom die Zielfindung der NATO-Bomben. Bei den NATO- NATO-Vertrag nicht gedeckt ist. Insofern ist es an der Bombardierungen im Süden Afghanistans kommen viele Zeit, endlich umzukehren, ehe Schlimmeres passiert. Zivilisten ums Leben. Ich halte es für völlig verantwor- tungslos, eine solche Vorgehensweise in diesem Parla- (Beifall bei der LINKEN) ment auch noch zu unterstützen bzw. zu beschließen. Es wird immer wieder gesagt, durch den Einsatz in (Beifall bei der LINKEN) Afghanistan sei Großartiges erreicht worden. Ich möchte darauf hinweisen, dass es auch viele kritische Stimmen Noch wichtiger ist für mich aber, dass wir uns mit gibt. Ich empfehle insbesondere dem konservativen Teil dieser Vorgehensweise den Terror ins Land holen. des Hauses, einmal die Auffassung zur Kenntnis zu neh- (B) (D) (Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg [CDU/ men, CSU]: Das ist ein entsetzlicher Unsinn!) (Zuruf von der CDU/CSU: Hekmatjar oder Ich kann nur immer wieder darauf verweisen, dass die wie?) Mehrheit des Bundestages dann, wenn sie solchen Ein- sätzen zustimmt, schlicht und einfach ihrer Verantwor- die Peter Scholl-Latour immer wieder vorträgt; der kennt tung nicht gerecht wird; denn es ist nicht der Auftrag des sich in Afghanistan ja sicherlich besser aus als viele Bundestages, Beschlüsse zu fassen, den Terrorismus Damen und Herren dieses Hohen Hauses. Seine Auffas- nach Deutschland zu holen. Das müsste doch eigentlich sung, dass wir dort keines der Ziele erreicht haben, die vermittelbar sein. wir vorgegeben haben zu erreichen, ist sicherlich nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen. Wenn er etwas ( [CDU/CSU]: Das ist hart formuliert: „Wir arbeiten hier mit Drogenbaronen unglaublich!) und Verbrechern zusammen. Ist das eigentlich Auftrag Alle ausländischen Dienste – einschließlich der amerika- der Bundeswehr?“, dann ist dies nicht ohne Weiteres nischen Dienste – sagen, dass wir durch solche Einsätze vom Tisch zu wischen. Es kann nicht Auftrag einer Par- die Terroranschlagsgefahr in Deutschland erhöhen. lamentsarmee sein, mit Verbrechern und Drogenbaronen zusammenzuarbeiten. Auch das muss einmal in aller (Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg [CDU/ Klarheit festgestellt werden. CSU]: Durch solche Reden möglicherweise ja!) (Beifall bei der LINKEN) Das müsste Sie doch beschäftigen, meine Damen und Wie auch immer Sie die Argumente drehen und wen- Herren. den: Sie haben sich verrannt. Jeder weiß: Wenn man sich verrannt hat, ist es schwer, wieder umzukehren. (Beifall bei der LINKEN) (Zuruf von der SPD: Dafür sind Sie ein sehr Ich kann die Blauäugigkeit nicht verstehen, mit der gutes Beispiel! – Weitere Zurufe) man solche Einsätze beschließt. Es wurde einmal gesagt – das war einer der törichtsten Aussprüche, die hier in – Ihr habt die Erfahrung gemacht, dass ihr euch verrannt den letzten Jahren gefallen sind –: habt. Ihr habt nur nicht gelernt umzukehren. Es wird Zeit dafür. Sonst bringen die Wähler es euch bei. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Die meisten von Ihnen!) (Beifall bei der LINKEN) 7716 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

Oskar Lafontaine (A) Zurück zu der ernsthaften Auseinandersetzung. Der dern, dass Afghanistan wieder ein Rückzugsraum für al- (C) Einsatz in Afghanistan führt zu keinem vernünftigen Er- Qaida wird. gebnis. Er erhöht die Terroranschlagsgefahr in Deutsch- land. Er setzt eine Politik fort, die auf permanentem Völ- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- kerrechtsbruch begründet ist. Deswegen können wir nur neten der SPD) sagen: Gehen Sie diesen Weg nicht! Die Erweiterung auf Der Kampf kann natürlich nicht allein militärisch ge- einen Kampfeinsatz ist durch nichts begründet. Kehren wonnen werden; das weiß jeder. Es geht um einen klu- Sie um, und ziehen Sie die Truppen aus Afghanistan zu- gen Mix zwischen zivilem Aufbau und militärischer Si- rück! cherheitsvorsorge. Der NATO-Außenministerrat wird am 26. Januar darüber sprechen, wie diese Strategie auf (Beifall bei der LINKEN) ganz Afghanistan ausgeweitet werden kann.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ISAF ist ein breites internationales Bündnis. Die Zu- Das Wort hat der Kollege Ruprecht Polenz, CDU/ sammenarbeit der 37 Nationen hat eine klare völker- CSU-Fraktion. rechtliche Grundlage, nämlich die Resolution des Si- cherheitsrates. Der Auftrag lautet, Afghanistan bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit zu unterstützen, stabili- Ruprecht Polenz (CDU/CSU): tätserhaltend und stabilitätsschaffend zu arbeiten. Das ist Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- nicht nur Nothilfe und nicht nur Selbstverteidigung. legen! Die Fraktion Die Linke beantragt, Afghanistan Auch die Operation „Medusa“ beispielsweise ist unter sich selbst zu überlassen. Sie beantragen, die Fehler zu dem ISAF-Mandat durchgeführt worden. Stabilitäts- wiederholen, die nach dem Abzug der Sowjetunion aus schaffung durch Militär setzt natürlich voraus, dass man Afghanistan gemacht worden sind. Sie beantragen, eine in dem einen oder anderen Fall seine Waffen einsetzt. Situation herbeizuführen, die in Afghanistan eher über kurz als über lang wieder zu einem Bürgerkrieg führen Trotzdem ist ISAF – ich will den Begriff einmal auf- würde. Sie wollen die Voraussetzungen dafür geschaffen greifen – keine Kriegspartei. Mit diesem Begriff wird sehen, dass Afghanistan endgültig ein Failed State wird, eine Symmetrie zwischen Taliban und den internationa- ein Rückzugs-, Ruhe- und Ausbildungsraum für Terro- len Truppen suggeriert. Das lehnen wir ab. Im Übrigen risten, wie Afghanistan es vor dem Einsatz war. greifen Sie hier zu einer Terminologie, die wir bei unse- ren amerikanischen Freunden kritisieren. Wir führen in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Afghanistan keinen Krieg, sondern wir sind von der af- neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE ghanischen Regierung eingeladen worden und arbeiten (B) GRÜNEN) auf der Basis eines UN-Mandates. (D) Dieser Antrag ist unverantwortlich, auch wenn Sie hi- (Lachen bei der LINKEN) neingeschrieben haben, dass Sie eine „verantwortliche Exitstrategie“ wollen. Eine solche Strategie gibt es zum Das ist die Sachlage, die Sie mit Ihrem Antrag in Zwei- jetzigen Zeitpunkt nicht. Allein das Nachdenken darüber fel zu ziehen versuchen. Das lehnen wir ab. ist unverantwortlich. Dieser Antrag ist unverantwortlich, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- weil er das Signal aussendet, wir könnten Afghanistan neten der SPD) möglicherweise im Stich lassen. Die Lage, so wie sie sich derzeit darstellt, ist differen- (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei ziert zu beurteilen. Auf der einen Seite gibt es Erfolge der LINKEN) und auf der anderen Seite wachsende Schwierigkeiten. Erfolge gibt es bei der Demokratisierung, bei der Situa- Bei aller Unterschiedlichkeit der Lebensläufe und Bio- tion der Frauen, auf dem Bildungssektor und dem Ge- grafien der Attentäter vom 11. September hatten sie alle sundheitssektor. Allein die Tatsache, dass inzwischen eines gemeinsam, Herr Kollege Lafontaine: Alle waren über 4 Millionen Flüchtlinge nach Afghanistan zurück- mehrere Wochen, teilweise Monate, in Ausbildungsla- gekehrt sind, weil sie glauben, dass die Voraussetzun- gern und Trainingscamps der al-Qaida in Afghanistan. gen, das Land wieder aufzubauen, immer besser werden, In den Lagern der al-Qaida hat man Schulungs- und zeigt, dass eine Schwarz-Weiß-Sicht, wie Sie sie hier Ausbildungsmaterial, zum Beispiel Pläne, gefunden, die dargestellt haben – nach dem Motto: Es macht sowieso ganz klar belegt haben, was die weiteren Ziele dieser keinen Sinn, sich für Afghanistan zu engagieren –, der Terrororganisation sind. Wirklichkeit nicht entspricht. Wir haben es bei den Anschlägen in London, in Ma- (Beifall bei der CDU/CSU) drid, auf Bali und auf Djerba – wo übrigens auch Deut- sche ums Leben gekommen sind – gesehen, genauso wie Auf der anderen Seite gibt es – teilweise wachsende – bei den sogenannten Kofferbombern von Köln und Dort- Schwierigkeiten, weil die gewünschte Entwicklung mund, deren versuchter Anschlag nur aus technischen manchmal ausbleibt. Das führt zu Ungeduld, die Pro- Gründen nicht viele Tote zur Folge hatte: Die Spur führt bleme mit Korruption und Drogen nehmen zu, und in immer auch in Richtung al-Qaida. Das zeigt, dass der manchen Provinzen verschlechtert sich die Sicherheits- Satz, den der damalige Verteidigungsminister Struck ge- lage. Aber das darf nicht dazu führen, jetzt Hals über sagt hat, dass Deutschland auch am Hindukusch vertei- Kopf das Land zu verlassen, so wie Sie es dem Bundes- digt wird, nach wie vor gilt; denn wir müssen verhin- tag empfehlen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7717

Ruprecht Polenz (A) Der deutsche Schwerpunkt bleibt der Norden. Ein wenn uns der Informationsfluss der Bundesregierung (C) dauerhafter Erfolg – das allerdings muss hinzugefügt über Pläne und Absichten etwas rechtzeitiger und konti- werden – kann nur bei einem Erfolg in allen Teilen Af- nuierlicher erreichen würde. ghanistans erreicht werden. Es gibt keine ISAF-Nord und ISAF-Süd. Wer in dieser Woche die Gelegenheit (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP hatte, mit unseren britischen Kollegen zu sprechen, der und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wird festgestellt haben, dass deren PRT-Konzept, also Das möchte ich als Vorsitzender des Auswärtigen Aus- das Provincial-Reconstruction-Team-Konzept, und Vor- schusses ausdrücklich anmahnen. gehensweise der Art, wie Deutschland im Norden die Wiederaufbauarbeiten in Verbindung mit militärischen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Fähigkeiten angeht, sehr ähnlich sind. neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Nun zur Anfrage der NATO bezüglich der Tornados: Es geht um die Frage, ob Deutschland bei der Aufklä- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: rung helfen kann. Es geht nicht um unmittelbare Zielbe- Dr. Werner Hoyer hat das Wort für die FDP-Fraktion. kämpfung. Eine verbesserte Aufklärung, eine verbes- serte Kenntnis über mögliche Bedrohungen, Herr (Beifall bei der FDP) Lafontaine, dient zunächst dem Schutz eigener Kräfte, natürlich auch dem Schutz unserer Entwicklungshelfer Dr. Werner Hoyer (FDP): und nicht zuletzt dem Vermeiden sogenannter Kollate- Herzlichen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Kollegin- ralschäden, wenn Angriffe auf feindliche Ziele gestartet nen und Kollegen! Die Bemerkung zur Informationspo- werden müssen. Wer also Aufklärung unterbindet, be- litik möchte ich unterstreichen. Ich möchte es auch bei wirkt genau das, was Sie hier vorgeben anzuprangern. dieser Bemerkung belassen. Herr Minister, seien Sie si- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- cher: Wir wollen nicht die Oberingenieure oder die Un- neten der SPD) terkommandeure der Armee werden. Aber die politische Verantwortung müssen wir am Ende tragen. Deshalb Deshalb finde ich es richtig, dass die Bundesregie- möchten wir frühzeitig in die Überlegungen einbezogen rung ihre grundsätzliche Bereitschaft erklärt hat, zu prü- werden. fen, ob wir die Aufklärungslücke, die möglicherweise Zur Rechtsfrage: Ich habe gestern das Ergebnis einer entsteht, mit den RECCE-Tornados schließen können, Beauftragung des Wissenschaftlichen Dienstes bekom- wobei die näheren Umstände – wo, wie lange, mit wel- men. In einem entsprechenden Gutachten kommt das chem genauen Auftrag? – noch geprüft werden, unter Gremium zu dem Ergebnis, dass die von der Bundesre- (B) anderem durch eine Fact-Finding-Mission. Die Bundes- (D) gierung aufgrund der Anfrage überlegte Entsendung der regierung hat noch keine Entscheidung getroffen. Wir Tornados grundsätzlich unter das bestehende ISAF- gehen aber davon aus, Herr Minister, dass die Entschei- Mandat fällt, wenn die Bedingungen eingehalten wer- dung, so sie denn getroffen wird, wie bei allen Auslands- den, die dort genannt sind: Unabweisbarkeit, quantita- einsätzen bisher – da schließe ich die Vorgängerregie- tive und zeitliche Begrenzung, aber natürlich auch Per- rung ein – auf einer eindeutigen, unzweifelhaften sonal- und Haushaltsobergrenzen. Deshalb kann man die Rechtsgrundlage erfolgt. Denn das ist die Voraussetzung endgültige juristische Bewertung erst vornehmen, wenn für eine möglichst breite parlamentarische Zustimmung. wir genau wissen, was uns vorgelegt wird. Das ist auch die Voraussetzung dafür, dass man unseren Soldaten, denen ich an dieser Stelle danke, dieses (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Sehr rich- schwierige Mandat überhaupt zumuten kann. tig!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Gleichwohl kann man natürlich eine politische Be- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE wertung vornehmen. Hierbei komme ich zu dem GRÜNEN) Schluss, dass es mit Geist und Buchstaben des ISAF-Be- schlusses sicherlich nicht oder nur sehr schwer vereinbar Ich bin allerdings der Meinung, dass die detaillierten wäre, wenn mit einer Veränderung der Qualität der An- Sachfragen zum Tornadoeinsatz dann erörtert werden strengungen unserer Bundeswehr in Afghanistan seitens sollten – das werden wir in jedem Falle tun –, wenn die der Bundesrepublik Deutschland der Bundestag nicht Entscheidung der Bundesregierung getroffen ist. Des- befasst würde. Politisch ist es also sehr viel klüger, sich halb will ich jetzt keine weiteren Ausführungen dazu um eine Zustimmung des Bundestages zu bemühen. machen. (Beifall bei der FDP) Ich könnte mir allerdings vorstellen – damit komme ich zum Schluss –, dass der Antrag der Fraktion der FDP Meine Damen und Herren, ich glaube, in der Sache und vielleicht auch der des Bündnisses 90/Die Grünen, stehen wir hier vor einer der schwierigsten Abwägungen die sozusagen im Vorgriff auf eine Entscheidung der in der Außenpolitik seit langer Zeit. Mit der qualitativen Bundesregierung ein bestimmtes Verfahren anmahnen, Veränderung unserer Mitwirkung in Afghanistan einher hätten vermieden werden können, geht auf der einen Seite eine weitergehende Mitwirkung an der Operation ISAF im Süden, wobei es sich natürlich (Beifall des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ bei ISAF – das ist vollkommen zutreffend von Herrn DIE GRÜNEN]) Polenz gesagt worden – um einen Gesamteinsatz han- 7718 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

Dr. Werner Hoyer (A) delt. Die Aufteilung in Nord und Süd ist also nur unter das pakistanische Grenzgebiet Waziristan eine uner- (C) regionalen Gesichtspunkten richtig. Mit Berufung auf schöpfliche Quelle für den Nachschub an die Terroristen diese Aufteilung kann sich die Bundesregierung aller- in Afghanistan bietet. Das zweite Problem ist der gigan- dings nicht aus ihrer Mitverantwortung für das, was im tische Widerspruch in der Drogenfrage, der schon bei Süden geschieht, stehlen. Die NATO ist ja kein abstrak- der ersten Ausweitung des Einsatzes der Bundeswehr tes Gebilde, sondern wenn die NATO irgendetwas unter- auf Kunduz seinerzeit hier diskutiert worden ist. Irgend- nimmt, dann kann das nicht geschehen, ohne dass vorher wann müssen wir uns einmal die Mühe machen, Lösun- deutsche Vertreter in den entsprechenden NATO-Gre- gen für diese beiden Probleme zu finden, sonst wird der mien mitgewirkt haben. Das heißt, auch wir tragen Mit- Einsatz in Afghanistan am Ende in einer Katastrophe en- verantwortung für das, was im Süden passiert. Das gilt den. Jeder, der bisher die Afghanistanbemühungen zum allerdings nur in begrenztem Maße für OEF, für die Ope- Lackmustest für die NATO hochstilisiert hat, wird sich ration „Enduring Freedom“, weil wir ja in der Tat so gut hinterher wundern, vor was für einem Scherbenhaufen er wie nichts über das wissen, was im Osten Afghanistans dann steht. passiert. Ich empfehle die Lektüre des sehr interessanten Berichts von Lothar Rühl, der vorgestern in der „Neuen (Beifall bei der FDP und der LINKEN) Zürcher Zeitung“ erschienen ist. Da muss man, wie ich glaube, schon etwas genauer hinschauen. Die eine Frage Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ist also, inwiefern diese qualitative Veränderung bzw. In- Das Wort hat Detlef Dzembritzki von der SPD-Frak- tensivierung unseres Beitrages für uns ein Problem dar- tion. stellen könnte. Darüber hinaus haben wir andererseits eine außerordentlich schwere bündnispolitische Frage zu beantworten: Wenn die Anforderung des Bündnisses tat- Detlef Dzembritzki (SPD): sächlich unabweisbar ist und wir die geforderte Leistung Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! erbringen könnten – die Bundesregierung wird uns das ja Ich will vorweg sagen, dass für uns als SPD-Fraktion der dann darlegen müssen –, dann ist das bündnispolitisch Wiederaufbau, die Entwicklung und die Unterstützung sehr brisant, weil mit der Beantwortung dieser Frage die des Parlaments und der Regierung in Afghanistan abso- Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland sehr lut im Vordergrund stehen. Das ist selbstverständlich, eng zusammenhängt. Ich empfehle also, das sehr sorg- daran wird nicht gerüttelt, und das wird auch weiterhin fältig zu erwägen, nicht nur, weil wir Liberale jeder Re- Priorität haben. nationalisierung der deutschen Sicherheits- und Verteidi- Außerdem wird auch ganz klar sein, dass das Einsatz- gungspolitik widersprechen werden, nicht nur, weil wir gebiet der Bundeswehr im Norden Afghanistans liegt. die NATO auch noch brauchen werden, wenn wir eines Aber wir wissen – auch aus den Diskussionen und aus (B) Tages einmal nicht mehr über Afghanistan sprechen, (D) dem Mandat –, dass temporäre Einsätze, temporäre Hilfe sondern auch, weil wir in Afghanistan auf die Solidarität an anderer Stelle gefordert sind, machbar sind und tat- des Bündnisses, die sehr stark von unserer eigenen sächlich auch schon stattgefunden haben. Bündnisfähigkeit abhängt, im Interesse unserer eigenen, dort tätigen Soldaten angewiesen sind. Für uns ist also klar, dass eine Veränderung der Kon- zeption nicht zur Diskussion steht. Für uns ist entschei- (Beifall bei der FDP) dend – ich bin dem Vorsitzenden des Auswärtigen Aus- Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden schusses dankbar, dass er darauf hingewiesen hat –, dass wir uns hier nicht vorzeitig festlegen. Wir werden sehr das, was wir inhaltlich bewegen wollen, dass das, was sorgfältig prüfen und abwägen und dann im Lichte der wir als Schwerpunkt im zivilen Aufbau sehen, sicher- beiden genannten Überlegungen, nämlich zum einen, wo lich in militärischer Absicherung, auch von den ande- unsere eigenen Interessen für das weitere Vorgehen in ren Bündnispartnern wahrgenommen wird, und dass wir Afghanistan liegen, und zum anderen, wie diese mit den hier in dieser Weise im besten Sinne des Wortes eine Ko- Bündnisinteressen in Einklang zu bringen sind, eine Ent- härenz herstellen. scheidung fällen. Das Bündnisargument hat für uns ein großes Gewicht. Aber andererseits bin ich, Herr Kollege Herr Polenz, Sie haben auf unsere Gespräche mit den Polenz, nicht der Meinung, dass wir einfach allen Vor- Kollegen aus dem Unterhaus hingewiesen, die wirklich schlägen des NATO-Generalsekretärs folgen sollten. interessant waren, weil sie sehr inhaltlich ausgerichtet Wenn Bush und de Hoop Scheffer – das ist ja meistens waren. Ich darf das um meine Eindrücke aus Diskus- das Gleiche – sionsrunden in der Westeuropäischen Union ergänzen, in denen sehr stark nicht nur die militärische Frage, son- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – dern immer wieder auch die inhaltlich zivile Frage in Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das stimmt den Vordergrund gerückt wird. doch nicht! Sie wissen es besser!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir das einer- nichts anderes als „more of the same“ einfällt, dann kön- seits als Schwerpunkt betonen und beschreiben, kom- nen wir das so nicht hinnehmen; denn wir würden dabei men wir doch andererseits nicht umhin, festzustellen, übersehen, dass wir mittel- und langfristig in Afghanis- dass die Aufgabe in Afghanistan nur mit zivilem Aufbau tan nur Erfolg haben können, wenn wir zwei Schlüssel- und ohne militärische Absicherung nicht zu lösen ist. probleme lösen, für die bislang niemand ein überzeugen- Wir dürfen und wir können nicht so tun – ich bitte bei des Konzept vorlegen konnte. Das eine Problem ist, dass den Freundinnen und Freunden vom Technischen Hilfs- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7719

Detlef Dzembritzki (A) werk um Nachsicht –, als wenn nur mit einem zivilen Liebe Kolleginnen und Kollegen, halten Sie sich (C) Einsatz des THWs das zu leisten wäre, was dort zu leis- freundlicherweise mit Zwischenrufen zurück; denn Sie ten ist. wissen es besser. Ich habe hier im Parlament schon ein- mal darauf hingewiesen: Sicherlich gibt es Einzelne Ich glaube – auch meine Vorredner haben darauf hin- – ich will jetzt keine Namen nennen –, die so tun, als gewiesen –, dass wir bei dem, was im Augenblick von wollten sie sich in unserem Land inkorrekt verhalten. uns erbeten wird, nämlich im Aufklärungsbereich mitzu- Aber, Frau Kollegin Knoche, wissen Sie, wie dankbar wirken – die britischen Kolleginnen und Kollegen haben viele Kolleginnen und Kollegen im Parlament, insbe- uns bei dem Gespräch auch deutlich gemacht, dass ihre sondere Frauen, und viele Menschen in Afghanistan Kräfte erschöpft sind, dass sie andere Aufgaben wahrzu- sind, dass sich Europa und die Bundesrepublik einbrin- nehmen haben –, nicht umhinkommen, uns diesem An- gen? sinnen, diesem Anliegen objektiv zu öffnen und zu prü- fen, ob wir es realisieren können. Denn – ich glaube, das Ich finde es dermaßen töricht – ich möchte nicht noch ist deutlich zu unterstreichen – Aufklärung ist auch eine kräftigere Worte benutzen –, den Vergleich zu ziehen: Frage von Sicherheit. Und Sicherheit für unsere Solda- Die Sowjets sind gescheitert, also werdet auch ihr schei- ten und für die Zivilbevölkerung soll mit im Vorder- tern. Wir treten dort nicht als Okkupanten auf. grund stehen. Wenn man sich die NATO-Länder an- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP schaut, wissen wir, dass nicht alle über die und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aufklärungskapazitäten, die hier notwendig sind, verfü- gen. Wir wollen keine Vorschriften machen, was dort zu ge- schehen hat. Wir sind dort, um dem Land, der Regierung Man darf auch darauf hinweisen – ich weiß, dass das und den Menschen dabei zu helfen, das eigene Schicksal alles bei Ihnen, Herr Lafontaine und Kolleginnen und selbst in die Hand zu nehmen, um von uns unabhängig Kollegen, nicht helfen wird –, dass die Tornados, soweit zu werden. Das ist der entscheidende Punkt. Nur wenn ich das beurteilen kann, sogar ziviler sind als die Flug- man weiß, was in diesem Land in den zurückliegenden zeuge, die bisher die Aufklärung machen. Aber das soll drei Jahrzehnten geschehen ist, und wenn man zur nicht vertieft werden, weil das von dem eigentlichen Kenntnis nimmt, dass die Kapazitäten, die notwendig Problem ablenken würde. wären, um diese Aufgabe von einem Tag auf den ande- ren zu bewältigen, überhaupt nicht vorhanden sind, dann Herr Lafontaine, Sie haben gesagt: Wir holen den wird deutlich, dass Hilfe notwendig ist. Terrorismus nach Deutschland. Ich muss gestehen, dass ich mich nicht nur wundere, sondern dass diese Aussa- Lieber Herr Hoyer, ich bin Ihnen für Ihren Beitrag (B) (D) gen, so wie Sie sie hier aus meiner Sicht populistisch dankbar. Natürlich müssen wir uns jede Entscheidung, vornehmen, Schmerzen verursachen. die den militärischen Bereich betrifft und damit verbun- den sein könnte, dass Menschen zu Schaden oder sogar (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) zu Tode kommen, besonders schwer machen. Sie haben einige Überlegungen, an denen wir uns dabei orientieren Ich habe für Ihre Arbeit, die Sie in den zurückliegen- sollten, angesprochen. Eine solche Frage müssen wir im- den Jahrzehnten geleistet haben, nach wie vor Respekt. mer wieder sehr genau prüfen. Das ist die Herausforde- Ich habe auch an einigen Stellen die Möglichkeit gehabt, rung, die wir zu bewältigen haben. Ich vermute, dass wir im persönlichen Gespräch mit Ihnen manchen Gedanken uns der Bitte, Kapazitäten zur Aufklärung zur Verfügung auszutauschen. Aber wie Sie uns hier im Parlament in zu stellen, letztlich nicht werden entziehen können. Wir die Situation meinen bringen zu können, dass wir – jetzt werden intensiv darüber diskutieren. Wenn wir dieser überziehe ich einmal ein bisschen – die Legitimierung Bitte entsprechen, würden wir dadurch allerdings kei- von Terror wollten oder akzeptieren wollten, halte ich neswegs unsere Ideale verraten oder die Grundsätze der für eine große Ungeheuerlichkeit. Zumindest müsste Zusammenarbeit mit Afghanistan aufgeben. Das muss man doch auch die Frage stellen: Wer würde denn, wenn deutlich unterstrichen werden. er den Terror nach Deutschland bringt, der Terrorist sein? Das wäre doch keine ehrenwerte Persönlichkeit, Ich bin der Regierung dankbar, dass sie eines sehr sondern jemand, der aus genau dem terroristischen Um- schnell erkannt hat – an dieser Stelle möchte ich nicht feld käme, das wir durch die gemeinsamen Aktionen der die juristische, sondern ausschließlich die politische Dis- internationalen Gemeinschaft zu bekämpfen versuchen. kussion führen –: Der Einsatz von Tornados würde eine Erweiterung des Mandats darstellen. Daher muss das (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Parlament darüber debattieren. Wir als Regierungskoali- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tion sollten das auf jeden Fall tun, weil wir immer großes Interesse daran haben müssen, breite Mehrheiten im Par- Wir wollen dafür sorgen, dass der Terror weder unser lament herzustellen. Allein auf Wunsch der Opposition Land noch andere Länder erreicht. Im Rahmen der inter- hätte diese Diskussion sofort beendet werden können. nationalen Zusammenarbeit muss die internationale Ge- Die SPD-Fraktion hat sich klar dazu bekannt – das finde meinschaft den Einsatz von Gewalt grundsätzlich ver- ich richtig –, dass eine neue Entscheidung über das Man- dammen und ausschließen. dat getroffen werden muss. (Zurufe von der LINKEN) (Beifall bei der SPD und der FDP) 7720 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

Detlef Dzembritzki (A) Auch bin ich der Bundesregierung dankbar, dass sie Brüssel in einem Gespräch mit dem NATO-Generalse- (C) sich dieser Aufgabe im Rahmen ihrer Verantwortung in kretär gesagt hat: Ihr habt angefragt, wir liefern. Da sage der G 8 und insbesondere in der EU so intensiv zuwen- ich Ihnen: So geht das nicht, so geht man nicht mit dem det. Herr Polenz hat schon darauf aufmerksam gemacht, Bundestag um, und so geht man nicht mit dem Selbst- dass die Außenministerkonferenz in Brüssel dazu ge- verständnis der Bundeswehr als Parlamentsarmee um. nutzt werden soll, dass die Politischen Direktoren ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN meinsame Arbeit leisten und dass man durch Diskussio- und bei der FDP – Klaus Uwe Benneter nen und den Erfahrungsaustausch über den Umgang mit [SPD]: Das sagen wir doch auch!) dem Afghanistan Compact versucht, weiter aufeinander zuzugehen. Dann, lieber Herr Kollege Benneter, haben Sie an dieser Stelle die Bremse gezogen und sich gegenüber Ihrer Ich finde es sehr gut – auch dies zu Herrn Hoyers Fraktionsführung durchgesetzt. Hinweis –, dass sowohl der pakistanische als auch der afghanische Außenminister in die Außenministerkonfe- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- renz der G-8-Staaten einbezogen werden, um auf diesem SES 90/DIE GRÜNEN) Wege die Nachbarschaftspolitik anzustoßen. Auch wir Jetzt sind wir an dem Punkt, dass wir über diese Frage sollten überlegen, wie wir als Parlamentarier unsere rational diskutieren. Meine Bitte und Aufforderung an Kontakte in diese Region etwas stärker ausbauen kön- Sie von der Koalition lautet: Hören Sie auf, herumzufili- nen. Denn Pakistan ist ein wichtiger Mitspieler. Wir soll- bustern, gerade wenn es um so schwierige Fragen wie ten uns bemühen, für gute Nachbarschaft zu sorgen und Militäreinsätze geht! Sobald es Zweifel daran gibt, ob et- Aggressionen abzubauen. Diese Gesamtverantwortung was durch das Mandat gedeckt ist oder nicht, muss der müssen wir als Parlament wahrnehmen. Bundestag befasst werden, kann man sich nicht daran Vielen Dank. vorbeimogeln. Das ist der Kern dessen, worum es hier geht. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: SPD und der LINKEN) Für das Bündnis 90/Die Grünen erteile ich das Wort dem Kollegen Jürgen Trittin. Über alle anderen Fragen werden wir in nächster Zeit in aller Ruhe und Gelassenheit zu diskutieren haben. Na- türlich haben wir nicht nur ISAF-Nord und ISAF-Süd. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber wir haben die Situation, dass bestimmte Teile der (B) (D) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber NATO anders agieren, als es beispielsweise die Bundes- Kollege Dzembritzki, das ist ja alles richtig. Wir haben wehr und die Skandinavier im Norden Afghanistans tun. uns als Parlament mehrheitlich dazu bekannt, die ge- Wir nehmen erfreut zur Kenntnis, dass bei den im Süden wählte afghanische Regierung zu unterstützen. Das ist Eingesetzten, bei den Amerikanern, in der Frage des versehen mit einem UN-Mandat. Wir lassen uns in die- Verhältnisses von militärischen Mitteln – die, ich be- sem Bemühen nicht in eine Ecke stellen, etwa mit Be- tone das, notwendig sind – und zivilem Aufbau ein Um- satzern. Nur, eines müssen Sie als Koalition sich an die- denkprozess im Gange ist. So hat ein dort stationierter ser Stelle fragen lassen: Wie bringen Sie es eigentlich General gesagt: Wenn man mich fragt, ob ich eine zu- mit schöner Regelmäßigkeit fertig, Situationen herbeizu- sätzliche Kompanie will oder lieber einen Kilometer führen, die es Kollegen wie Herrn Lafontaine überhaupt Straße bauen will, dann entscheide ich mich für den Ki- erst ermöglichen, solche Ausführungen über Afghanis- lometer Straße. tan zu machen? (Detlef Dzembritzki [SPD]: Das ist doch etwas (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das ist in Positives!) einem freien Land nicht zu verhindern!) Der Mann hat recht. Das heißt, wir haben hier eine Ent- – Herr von Klaeden, Sie wären gut beraten, an dieser wicklung. Stelle künftig anders zu agieren. Ich erwarte von Ihnen als Bundesregierung, dass Sie Ich will einmal nachzeichnen, worum es geht, aber uns im Anschluss an das Treffen der NATO-Außen- nicht aus Rechthaberei, sondern um zu zeigen, was sich minister und der NATO-Verteidigungsminister darlegen ändern muss. Sie haben am 20. Dezember, mit einer hal- können, auf welche Strategie für ISAF Sie sich innerhalb ben Stunde Vorlauf, die Obleute des Verteidigungsaus- der NATO, mit den Verbündeten, geeinigt haben. Soll es schusses und des Auswärtigen Ausschusses, die Sie auf so gehen wie im Süden, nämlich in die Sackgasse? Oder die Schnelle erreichen konnten, über diese Anfrage in- soll ganz Afghanistan mit einem Mix von zivilen und formiert, obwohl sie Ihnen bereits seit zehn Tagen vor- militärischen Mitteln stabilisiert werden? Das wird es lag. Warum haben Sie das gemacht? Weil Sie befürchte- sein, worüber wir uns dann zu unterhalten haben. ten, dass auf der Bundespressekonferenz Fragen dazu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gestellt würden. Sie haben gesagt: Dieser Anfrage kön- sowie bei Abgeordneten der SPD) nen wir nachgeben, weil sie durch das Mandat im Prin- zip gedeckt ist. Das ist so weit gegangen, dass der Frak- Dazu gehören klare Aussagen, zum Beispiel wie man tionsvorsitzende der SPD bei der Fraktionsklausur in mit dem Kampf gegen Drogen umgeht; ich will das hier Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7721

Jürgen Trittin (A) nicht unnötig in die Länge ziehen, indem ich all diese fen und eine nachhaltige Entwicklung zu fördern. Bisher (C) Fragen anspreche. steuert die EU-Kommission aber deutlich an diesen Zielen vorbei. Das liegt vielleicht auch daran, dass der Die Debatte darüber, wie man Afghanistan stabili- Handelskommissar der Europäischen Union, Peter siert, ist eine praktische Debatte, und sie ist es wert, ge- Mandelson, für dieses Abkommen zuständig ist und dass führt zu werden. Anders ist es mit der Debatte, ob man der Entwicklungskommissar, Louis Michel, bei den Ver- an einem neuen Mandat vorbeikommt. Ich glaube, es ist handlungen am Katzentisch sitzt. auch und gerade im Interesse der Soldaten der Bundes- wehr, die dort eingesetzt sind, dass solche Einsätze nicht Der Handelskommissar folgt anderen Prioritäten als ausschließlich von der jeweiligen Mehrheit beschlossen der Entwicklungskommissar. Das wird deutlich, wenn werden. man die Grundsatzreden der beiden miteinander ver- gleicht und ins Detail geht. Der Handelskommissar (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN denkt vor allem an die wirtschaftlichen Interessen der sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Europäischen Union. Dabei hat er zuerst die Wünsche der SPD) der Exportindustrie im Ohr: Abbau von Handelshemm- nissen, Zollsenkungen in den Partnerländern, Liberali- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sierung des Dienstleistungssektors, Investitionsschutz- Ich schließe die Aussprache. abkommen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Dabei sind die Märkte der AKP-Länder gar nicht so Drucksache 16/4047 an die in der Tagesordnung aufge- interessant. Mithilfe dieser Wirtschaftspartnerschaftsab- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlagen auf den kommen mit schwachen AKP-Ländern kann man auf der Drucksachen 16/4048 und 16/4096 sollen an dieselben internationalen Bühne aber Barrieren beseitigen, die sich Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksache 16/4047 auf der Ebene der WTO aufgrund des geschlossenen überwiesen werden. – Damit sind Sie offensichtlich ein- Widerstandes der Entwicklungs- und Schwellenländer verstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlos- so noch nicht einreißen ließen. So verwundert es auch sen. nicht, dass die Europäische Kommission in den Ver- Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf: handlungen mit den AKP-Staaten all diese Streitpunkte, die zum bisherigen Scheitern der WTO-Verhandlungen Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo bzw. zu einer Sackgasse dort geführt haben, wieder auf Hoppe, Ute Koczy, Renate Künast, Fritz Kuhn die Agenda gehoben hat: die sogenannten Singapur- und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE themen, die Liberalisierung des Dienstleistungssektors GRÜNEN (B) – GATS lässt grüßen –, Absenken des Außenschutzes. (D) Für ein Entwicklungspartnerschaftsabkom- Auf die schwachen AKP-Länder wird ein erheblicher men der Europäischen Union (EU) mit den Druck ausgeübt, deutlich mehr zu bieten, als es ihnen bei Staaten der Afrika-, Karibik-, Pazifikgruppe den WTO-Verhandlungen möglich war. Das ist unfair, (AKP) weil hier ein Riese mit einer Gemeinschaft von Zwergen – Drucksache 16/4055 – verhandelt. Die AKP-Staaten stehen mit dem Rücken zur Wand, weil die Zollpräferenzen, die ihnen aufgrund Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und älterer Abkommen von der EU noch eingeräumt werden, Entwicklung (f) nicht mit der WTO kompatibel sind und auslaufen müs- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie sen. Aus diesem Grunde ist auch das Argument unsin- Hierfür ist zwischen den Fraktionen verabredet wor- nig, das oft gebraucht wird, dass die AKP-Staaten keine den, eine halbe Stunde zu debattieren, wobei die Frak- neuen Abkommen zu unterschreiben brauchen, wenn sie tion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten erhal- ihnen nicht passen. Die AKP-Staaten sind in der Position ten soll. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist des Schwächeren, und die Europäische Union sollte dies so beschlossen. nicht ausnutzen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Thilo Hoppe das Wort. Wir plädieren für eine Politik der Europäischen Union, die sich an den Grundsätzen orientiert, die Ent- Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wicklungskommissar Michel formuliert hat. Den AKP- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Staaten sollen durch neue Abkommen – wir nennen sie Nach dem Cotonouabkommen ist der Abschluss von im Antrag bewusst Entwicklungspartnerschaftsab- Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zwischen der Euro- kommen – neue Spielräume für eine nachhaltige Ent- päischen Union und den AKP-Staaten vorgesehen. Zu wicklung geschaffen werden. den AKP-Staaten – das sind überwiegend ehemalige bri- Nun werden wir uns in dieser Debatte sicherlich wie- tische und französische Kolonien in Afrika sowie aus der der über zwei Grundsatzfragen streiten: Sind die Interes- Karibik- und der Pazifik-Region – zählen viele der ärms- sen der Europäischen Union mit denen der AKP-Ent- ten Länder dieser Erde. wicklungsländer überhaupt vereinbar? Ließen sich diese Mit den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen wer- Abkommen so gestalten, dass es zu einer Win-win-Si- den die erklärten Ziele verfolgt, die Armut zu bekämp- tuation kommt? Die zweite Grundsatzfrage: Trägt die 7722 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

Thilo Hoppe (A) Öffnung der Märkte zur Armutsbekämpfung bei, oder (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C) bewirkt Handelsliberalisierung in vielen Fällen eher das der SPD) Gegenteil? Die Europäische Kommission sieht das ganz undog- Anette Hübinger (CDU/CSU): matisch, aber egoistisch: Sie schützt ihren Agrarmarkt Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! mit hohen Zöllen und subventioniert ihre Agrarexporte – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Verhandlungen mit katastrophalen Auswirkungen für die Entwicklungs- zwischen den Ländern Afrikas, der Karibik und des pa- länder. In einem Teilbereich praktiziert sie also genau zifischen Raums, den sogenannten AKP-Staaten, und das Gegenteil von freier Marktwirtschaft und Freihan- der Europäischen Union befinden sich in der Schluss- del. Von den Entwicklungsländern fordert sie aber eine phase. Bis zum Ende dieses Jahres sollen die seit 2004 sehr weitreichende Absenkung ihres Außenschutzes, be- andauernden Verhandlungen mit den sechs regionalen sonders im Dienstleistungsbereich und für Industrie- Ländergruppen der AKP-Region und der EU abge- güter. Das ist ein wirklich unmoralisches Messen mit schlossen sein. Konkrete Textentwürfe für die Regional- zweierlei Maß. abkommen sind bereits in der Beratung. Die Karibikre- gion ist mit ihrem Vertragsprozess am weitesten (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- fortgeschritten. Anfang Februar wird uns ein Review- SES 90/DIE GRÜNEN) Bericht der Verhandlungen vorliegen, der dann im Detail über den Verhandlungsstand und den Verhandlungsinhalt Ich plädiere auch dafür, undogmatisch an diesen informieren wird. Grundsatzstreit heranzugehen; aber in einem ganz ande- ren Sinne. Entscheidend ist, was am Ende für die große In Ihrem Antrag, sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- Mehrheit der Bevölkerung herauskommt. Mehr Freihan- gen von Bündnis 90/Die Grünen, fordern Sie, die bereits del kann zu einer nachhaltigen Entwicklung und im Jahr 2000 beschlossenen Vereinbarungen, bis 2008 Armutsbekämpfung beitragen, aber nur dann, wenn es Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, auch EPAs ge- genügend Schutzmechanismen gibt und wenn in den nannt, abzuschließen, nun doch lieber durch Entwick- Partnerländern flankierende Steuer-, Sozial- und Um- lungspartnerschaften zu ersetzen. An dieser Stelle ver- weltgesetze beschlossen und auch eingehalten werden. drehen Sie die Intention dieser Abkommen. Beim Vertragsschluss 2000 betonte der damals amtierende Zur Frage der möglichen Win-win-Situation: Be- Vorsitzende des AKP-Rates, John Horne, dass es das schränkt man dies allein auf Wirtschaftsinteressen im Ziel der AKP-Staaten sei, sich im Zuge der rasch fort- engeren Sinne, dann wird es schwierig. Dann würde ich schreitenden Globalisierung schrittweise in Richtung eher dafür plädieren, dass der Riese sich ein Stück zu- Freihandel zu entwickeln. Deshalb habe man sich auf (B) rücknimmt und den Zwergen mehr Gestaltungsspiel- die Wirtschaftsabkommen geeinigt, die erstmals han- (D) raum lässt. Was geschehen kann, wenn ein Riese seine dels- und entwicklungspolitische Ansätze miteinander Übermacht ausnutzt, kann man vor der Westküste Afri- verknüpfen. kas besichtigen. Als Folge eines Fischereiabkommens sind die Fischgründe leergefischt. Eine große deutsche Im Übrigen war Ihre Fraktion im Jahr 2000 noch vol- Zeitung titelte: Die EU produziert ihr Flüchtlingspro- ler Begeisterung und bezeichnete das Cotonouabkom- blem selbst. – Auch Bundespräsident Köhler hat auf men und seine Ziele als eine Partnerschaft mit großer seiner Afrikareise jetzt sehr deutliche Worte zu diesem Zukunft. Voller Lobeshymnen stellten Sie fest, dass es Fischereiabkommen gesagt. mit diesen neuen Handelsregelungen gelungen ist, ein WTO-konformes System zu errichten und gleichzeitig Daraus müssen wir für die neu zu verhandelnden den Interessen der Entwicklungsländer Rechnung zu tra- Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zwischen der EU gen. Heute, nicht mehr in der Regierungsverantwortung, und den AKP-Ländern lernen. Sie müssen den Geist der stellen Sie das infrage und fallen mit Ihrem Antrag zu Gerechtigkeit atmen. Sie müssen entwicklungsverträg- längst überholten Argumenten zurück, die auf Fragen licher sein. Nur dann können sie zu einer Win-win-Situa- des weltweiten Wandels und der Globalisierung keine tion führen. Antwort geben. Wir hoffen, dass unser Antrag zu dem notwendigen Der Handel ist heute, wo die Öffnung der Märkte vo- Kurswechsel beiträgt und dass sich zumindest die Bun- ranschreitet, für das wirtschaftliche Wachstum von enor- desregierung für einen solchen Kurswechsel in der EU mer Bedeutung. Wirtschaftliches Wachstum nimmt eine stark macht. Denn wenn es so weiterläuft wie bisher, Schlüsselrolle bei der Armutsbekämpfung ein. So for- dann führen diese Verhandlungen nicht zu einer nachhal- mulierte der europäische Kommissar für Entwicklung, tigen Entwicklung. Louis Michel – auch Sie hatten ihn erwähnt, Herr Kol- lege –, erst kürzlich in einem Interview von „Europoli- Danke schön. tique“: Die einzige Möglichkeit für diese Länder, der Ar- mut zu entkommen, ist der Weg in ein freies (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Handelssystem. Die EPAs werden diesen Weg in förderlicher Weise Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: begleiten und unterstützen. So wird dem Wunsch der Das Wort hat die Kollegin Anette Hübinger, CDU/ AKP-Staaten, ihnen eine schrittweise Integration in CSU-Fraktion. den Weltmarkt zu ermöglichen, entsprochen. Je nach Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7723

Anette Hübinger (A) Bedarf und Reife der jeweiligen Länder wird es eine in- müssen natürlich auch von den Entscheidungsträgern der (C) dividuell zeitlich gestufte Marktöffnung geben. einzelnen Staaten gewollt sein. Im Übrigen wurde es den AKP-Staaten freigestellt, An dieser Stelle möchte ich etwas zu den im Juli er- sich an den Wirtschaftsabkommen mit der Europäischen gebnislos verlaufenen Verhandlungen der Welthandels- Union zu beteiligen. Sollte sich ein Land dazu nicht in organisation sagen. Der derzeitige Stand ist für uns alle der Lage fühlen, stand das Angebot, eine mit dem Lomé- sehr unbefriedigend. Um Bewegung in die Verhandlun- abkommen vergleichbare Regelung zu treffen. Bis heute gen zu bringen, erklärte sich die EU mit dem Auslaufen hat kein AKP-Land eine solche Alternative eingefordert. der Agrarexporthilfen bis Ende 2013 einverstanden. Vielmehr ist zu beobachten, dass heute die AKP-Staaten Doch von anderer Seite bewegte sich in den Gesprächen der Europäischen Union gegenüber als sehr selbstbe- wenig. Das ist sehr bedauerlich. wusste Partner auftreten. Deshalb ist es umso dringender, die bereits im De- Daher ist für mich an Ihrer Argumentation und der zember letzten Jahres in Hongkong getroffenen Zusagen Argumentation einiger Nichtregierungsorganisationen einzuhalten. Diese Zusagen waren erstens eine stärkere schwer nachvollziehbar, dass Sie immer noch der Mei- handelsbezogene Entwicklungshilfe und zweitens, den nung sind, anstelle der AKP-Staaten sprechen zu müs- am wenigsten entwickelten Ländern einen zoll- und quo- sen. Wäre es nicht an der Zeit, unseren Verhandlungs- tenfreien Marktzugang zu ermöglichen. Ihre Forderung, partnern endlich das Vertrauen entgegenzubringen, dass die Everything-but-Arms-Initiative, die den am wenigs- sie eigenständig, selbstbewusst und kompetent ihre For- ten entwickelten Ländern einen zoll- und quotenfreien derungen artikulieren können? Auch das gehört zu einer Zugang auf den europäischen Binnenmarkt ermöglicht, Partnerschaft dazu. auf alle AKP-Staaten auszuweiten, hält die CDU/CSU- Fraktion für kontraproduktiv. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Neben der schrittweisen Öffnung für den Weltmarkt sind die EPAs auch für die regionale Integration der Der den ärmsten Ländern eingeräumte Marktvorteil AKP-Mitglieder von großer Bedeutung. Der Abbau von würde so zum Teil durch die Gleichstellung mit weiter- regionalen Handelsschranken und die mögliche Errich- entwickelten Ländern verpuffen. tung einer Zollunion dienen dem wirtschaftlichen Vor dem Hintergrund des momentanen Stillstands der Wachstum innerhalb der Region und sind zugleich ein Doharunde gewinnt ein erfolgreicher Abschluss der wesentlicher Faktor zur Stabilisierung und Intensivie- Verhandlungen zu den Wirtschaftspartnerschaftsabkom- rung der Beziehungen der Länder untereinander. Das men umso mehr an Bedeutung. Es wäre ein deutliches (B) wissen wir am besten aus unserer eigenen Erfahrung mit Signal an die Blockierer, wenn es dennoch möglich ist, (D) dem Integrationsprozess in Europa. multilaterale Verträge im Sinne der Entwicklungsländer abzuschließen. Auch hier leistet die EU bei den regionalen Verhand- lungen gezielte Unterstützung mit Expertenteams, den Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird sogenannten Regional Preparatory Task Forces. Wir las- sich im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft sen die AKP-Staaten nicht mit ihren Problemen allein, für den erfolgreichen Abschluss der EU-AKP-Verhand- wie so oft behauptet wird. Wir leisten technische und lungen einsetzen und die damit verbundenen entwick- finanzielle Hilfen. lungspolitischen Ziele nicht außer Acht lassen. Die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen werden zu einer Bereits im 9. Europäischen Entwicklungsfonds stell- nachhaltigen Entwicklung in dieser Region und dazu ten die europäischen Staaten 730 Millionen Euro für beitragen, die Armut zu reduzieren. Weitere Jahre der Maßnahmen im Bereich der makroökonomischen Stabi- Verzögerung wären für diese Länder verlorene Jahre. lisierung, der Steuerreform, der Zollverwaltung, der In- vestitionen und Wettbewerbspolitik bereit. Mit dem (Beifall bei der CDU/CSU) 10. Europäischen Entwicklungsfonds, der zeitgleich mit Der Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü- den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen in Kraft tritt, nen enthält aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion keine werden den AKP-Staaten 22,6 Milliarden Euro für neuen entwicklungspolitischen Ansätze, die den Ver- Strukturanpassungen zur Verfügung gestellt. Zusätzlich handlungen zwischen der EU und den AKP-Staaten zum zu dieser Summe werden die AKP-Staaten ab 2012 aus Erfolg verhelfen könnten. Wir lehnen diesen Antrag da- der handelsbezogenen Entwicklungshilfe noch einmal her ab. rund 1,2 Milliarden Euro erhalten. Denn wir wissen, dass erfolgreicher Handel ordnungsgemäße Produktions- Ich danke für die Aufmerksamkeit. möglichkeiten und gute Infrastruktur voraussetzt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Die laufenden Verhandlungen zeigen aber auch, dass neten der SPD) in vielen AKP-Staaten funktionierende Institutionen fehlen, Institutionen, die für den Erfolg der EPAs von Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: wesentlicher Bedeutung sind. Deshalb ist ein zentraler Als Nächster hat das Wort für die FDP-Fraktion der Punkt sowohl der Verhandlungen als auch der anschlie- Kollege Hellmut Königshaus. ßenden Implementierung der Abkommen, den Aufbau solcher Institutionen voranzutreiben. Diese Institutionen (Beifall bei der FDP) 7724 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

(A) Hellmut Königshaus (FDP): men die AKP-Staaten zum Nutzen der europäischen (C) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir hat- Großindustrie ausbeuten, ist Humbug. ten bereits gestern Gelegenheit, uns zu den Wirtschafts- partnerschaftsabkommen Gedanken zu machen. Wir ha- Vielleicht wollen Sie auch die sogenannten Globali- ben dazu keine Redebeiträge gehalten, diese aber zu sierungskritiker für sich einnehmen. Aber die werden Protokoll gegeben. Sie mit solch einem weichgespülten Antrag nicht errei- chen. Da müssen Sie schon so fundamental werden, wie Gestern lag ein Antrag der Linkspartei vor, der un- es die Linksfraktion mit ihrem Antrag gerade vorge- seren Erwartungen an einen Antrag der Linkspartei ge- macht hat. nau entsprach. Die Linken sind eine antimarktwirtschaft- liche Partei. Deshalb ist es natürlich nur konsequent, Sie tun aber den Ländern, über die wir hier sprechen wenn sie den freien Handel ablehnen. So war auch dieser und für deren Interessen wir uns gemeinsam einsetzen Antrag. Die breite Mehrheit lehnt diese Position – darin wollen, keinen Gefallen, wenn Sie deren Entwicklung sind wir uns, glaube ich, einig – völlig zu Recht ab, da mit weniger Handel und einer stärkeren Abschottung ih- ein eingeschränkter Handel gerade den Entwicklungs- rer Märkte behindern. Sie selbst kritisieren doch immer ländern die Chance raubt, vom weltweiten Wirtschafts- wieder die Politik der EU, die ihre Märkte mit Subven- wachstum zu profitieren. Aber immerhin: Man weiß, tionen, Zöllen und Tarifen vor dem Rest der Welt ab- woran man bei den Linken ist. schottet. Damit haben Sie – jedenfalls im Grundsatz – völlig recht. (Frank Spieth [DIE LINKE]: Wir sind erschüt- tert!) Denn eine solche Abschottung – das müssen wir an dieser Stelle nicht weiter erörtern – verhindert, dass sich – Das dachte ich mir schon. den Menschen in den Entwicklungsländern gute Ent- Bei den Grünen dagegen – das erschüttert viel mehr – wicklungschancen bieten und sie sich eine eigene Exis- weiß man nicht so recht, woran man ist. Der Antrag, tenz aufbauen können. So schaffen wir Abhängigkeiten, über den wir hier sprechen, ist weder Fisch noch Fleisch. die wir dann notdürftig mit unserer Entwicklungsunter- stützung zu mildern versuchen, aber nur mit sehr be- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es grenztem Erfolg. gibt auch Vegetarisches!) Ich will in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, Er ist weder für die Marktöffnung noch dagegen. Er ist welche absurden Blüten diese Politik treiben kann. Die weder für Handelsbeschränkungen noch dagegen; die EU versucht, die negativen Konsequenzen ihrer eigenen Kollegin Hübinger hat das schon ausgeführt. Wahr- Subventionswut gegenüber den AKP-Staaten – und (B) scheinlich wissen Sie selbst nicht, was Sie in diesem Zu- zwar, nebenbei bemerkt, nur gegenüber den AKP-Staa- (D) sammenhang wirklich wollen. Deshalb kam der Antrag ten – zu entschärfen, indem sie wiederum deren Exporte erst gestern auf den Tisch des Hauses und ins Licht der subventioniert. Dass das dem Steuerzahler zugemutet erstaunten Öffentlichkeit. wird, ist ihm wohl kaum zu erklären. Diesen Unfug müs- Es ist daher auch nicht besonders erstaunlich, dass der sen wir beenden. weitestgehende Vorschlag, den man darin finden kann, (Beifall bei der FDP – Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/ eigentlich gar nicht inhaltlicher, sondern eher semanti- DIE GRÜNEN]: Das sehen wir genauso!) scher Art ist. Sie wollen die Wirtschaftspartnerschaftsab- kommen völlig neu als „Entwicklungspartnerschafts- Den AKP-Staaten und den Steuerzahlern hilft nur abkommen“ bezeichnen. Das ist eine Politik, die wir eins, nämlich der Abbau von Protektionismus. Glück- schon zu rot-grünen Zeiten kannten: Man benennt das licherweise – das sage ich aus voller Überzeugung – ha- Arbeitsamt in Arbeitsagentur um, und schon schießen ben die neuen Wirtschaftspartnerschaftsabkommen ge- die Vermittlungszahlen nach oben. Nach diesem Erfolgs- nau dieses Ziel. modell wollen Sie jetzt offenbar auch die Wirtschafts- partnerschaftsabkommen behandeln. Dies ist ein wirk- Wichtig ist nicht, dass wir diese Abkommen umbe- lich weiser Vorschlag, der den Bedürftigen vor Ort nennen, sondern dass sie zügig und erfolgreich abge- helfen wird. schlossen werden. Das verlangt nicht nur die WTO – be- rechtigterweise – von der EU, sondern wir sind es den Leider schlagen Sie dann im Übrigen nur Dinge vor, AKP-Staaten auch schuldig. die ohnehin schon Ziel der Verhandlungen zwischen den AKP-Staaten und der EU sind. Es besteht schon die Lassen Sie mich abschließend hinzufügen: Wir sind Frage, wieso Sie etwas Selbstverständliches einfordern. nicht nur gegenüber den AKP-Staaten in der Pflicht – Wollen Sie beispielsweise mit der Forderung, dass die das ist nur ein Teil –, sondern wir müssen auch gegen- neuen Abkommen der Entwicklung der AKP-Staaten zu- über den anderen Staaten in der Dritten Welt unsere Ver- gutekommen sollen, den Vorwurf umschreiben, die EU pflichtungen erfüllen. Die nach wie vor festzustellende praktiziere das Gegenteil davon oder beabsichtige dies? und völlig unbegründete Vorrangbehandlung der AKP- So etwas behaupte ja noch nicht einmal ich. Jeder weiß, Staaten geht zulasten dieser Länder. Auch das müssen ich bin weiß Gott kein unkritischer Beobachter der EU- wir kritisch hinterfragen. Politik, vor allem im Zusammenhang mit der Entwick- Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. lungspolitik. Aber anzunehmen, die Kommission wolle sozusagen im Stil der Kolonialmächte durch die Abkom- (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7725

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: die Lage versetzen, zu produzieren, damit sie überhaupt (C) Das Wort hat Dr. Sascha Raabe für die SPD-Fraktion. Handel treiben können. Gerechte Handelsbedingungen sind zwar wichtig. Aber der Zugang zum EU-Markt Dr. Sascha Raabe (SPD): nutzt nichts, wenn man nicht in der Lage ist, überhaupt etwas zu produzieren. Das Handelsvolumen aller fast Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- 40 Least Developed Countries, denen wir im Rahmen gen! Wir behandeln in der Tat das Thema Wirtschafts- der Everything-but-Arms-Initiative einen freien Markt- partnerschaftsabkommen mit den AKP-Staaten schon zugang einräumen, ist nicht einmal so groß wie das von zum dritten Mal in relativ kurzer Zeit im Plenum. Zwei- Südkorea. Daran sieht man, dass wir mehr tun müssen, mal haben wir anlässlich des Antrags der Linkspartei um diese Länder zu fördern. Das gilt auch im Hinblick darüber diskutiert; heute beraten wir den Antrag der auf unsere Agrarsubventionen. Der Antrag der Grünen Fraktion der Grünen. enthält dazu gute, sachgerechte Punkte, Herr Hoppe. Wenn man die Redebeiträge verfolgt, dann wird die Wenn die Koalition einen gemeinsamen Antrag vorlegt, Spannbreite innerhalb des Parlamentes deutlich. In der wird sich darin einiges davon wiederfinden. Linkspartei wird die Position vertreten, dass Entwick- lung im Prinzip nur ohne Handel und durch Abschot- Im Rahmen von Aid for Trade wollen wir den AKP- tung der Märkte möglich ist; die Marktwirtschaft gilt als Staaten ab 2010 2 Milliarden Euro jährlich zugutekom- schlecht. In der FDP wird die Meinung vertreten, dass men lassen. Wir müssen aber von den afrikanischen der Freihandel alle glücklich macht und sich die Ent- Staaten auch einfordern, mit guter Regierungsführung wicklung dann schon einstellen wird. und entsprechenden Maßnahmen sich dem Wettbewerb zu stellen und so eine eigenständige wirtschaftliche Ent- Ich glaube, beides ist falsch. Denn die Erfahrung aus wicklung anzustreben. Manches, was sich in den letzten den letzten zehn Jahren, als die Globalisierung den größ- Jahrzehnten im Rahmen der Präferenzsysteme entwi- ten Schwung der letzten hundert Jahre hatte, zeigt, dass ckelt hat – auch wenn es gut gemeint gewesen ist –, hat sich weder die Länder, die sich abgeschottet haben, noch dazu geführt, dass sich in einigen Staaten korruptionsan- die Länder, die all ihre Zölle mit einem Federstrich abge- fällige Rentenökonomien entwickelt haben. Diese Staa- schafft und ihre Wirtschaft komplett liberalisiert haben, ten haben sich nicht dem Wettbewerb gestellt. Die gut entwickelt haben. Vielmehr waren die Länder am er- Zolleinnahmen sind in diesen Ländern oft die Haupt- folgreichsten, die sich Schritt für Schritt geöffnet haben. einnahmequelle, kommen aber aufgrund von Korrup- Das war bei den asiatischen Tigerstaaten der Fall; das tion nicht den ärmsten Bevölkerungsschichten zugute, zeigen jetzt aber auch einige lateinamerikanische Län- sondern fließen in andere Taschen. Dadurch bedingt hat der. man in diesen Ländern oft nicht die Notwendigkeit gese- (B) hen, den Wirtschaftssektor wettbewerbsfähig zu ma- (D) Man muss deshalb die Frage stellen, warum sich Län- chen. der wie China, Indien und Brasilien sehr gut entwickelt haben, während wir in vielen Ländern Afrikas vor ei- Die Präferenzsysteme waren daher Fluch und Segen. nem Scherbenhaufen stehen. Es ist insofern gut – um Denn die lateinamerikanischen und die asiatischen Län- den Fokus auf die afrikanischen Staaten zu richten und der, die ich als Beispiele angeführt habe, mussten den die karibischen und pazifischen Staaten einmal beiseite Nachteil, keinen Präferenzzugang in die EU zu haben, zu lassen –, dass durch die Reise des Bundespräsidenten durch bessere Produktivität und Effizienz wettmachen die Aufmerksamkeit zurzeit verstärkt auf Afrika gerich- und haben dadurch nun eine stärkere Wettbewerbsposi- tet ist. Auch unsere Ministerin war sehr häufig in Afrika tion. Genau das müssen wir auch bei den AKP-Staaten und ist jetzt wieder dort gewesen. Morgen beginnt zu- erreichen. Sie müssen aufgrund ihrer eigenen Wirt- dem das Weltsozialforum in Nairobi. Außerdem wollen schaftskraft in der Lage sein, an den Vorteilen des globa- wir im Rahmen unserer EU-Ratspräsidentschaft und un- len Wettbewerbs teilzuhaben. Es ist daher wichtig, dass seres G-8-Vorsitzes versuchen, das Thema Afrika in den wir die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen entspre- Mittelpunkt zu rücken. chend ausgestalten. Denjenigen, die sagen, man müsse Man muss aber selbstkritisch fragen – das richte ich alles nur so lassen, wie es ist – das werden wir zum Ab- teilweise auch an die Regierungen der betreffenden Län- schluss der Debatte sicherlich von der Linkspartei hören –, der –, warum sich unter den Least Developed Countries, sei empfohlen, sich anzuschauen, was sich trotz der Prä- also unter den am wenigsten entwickelten Ländern der ferenzsysteme in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat. Welt, fast nur afrikanische Länder – ich glaube, 2005 Das ist in einigen Bereichen leider erschreckend wenig. war Haiti die einzige Ausnahme in dieser Gruppe – be- Wir wollen fördern und fordern. Wir wollen den finden. Herr Königshaus, ich möchte das aufgreifen, was AKP-Staaten helfen, sie aber auch ermutigen und auffor- Sie über die Bundesanstalt für Arbeit und unsere Maß- dern, mit guter Regierungsführung und einer wettbe- nahmen gesagt haben. Sie haben gesagt, wir hätten ge- werbsfähigen Wirtschaft sich selbst zu helfen; denn nur glaubt, allein durch die Umbenennung der Bundesanstalt dann kommt es auch der breiten Masse der Bevölkerung für Arbeit in die Bundesagentur für Arbeit werde alles in diesen Ländern zugute. besser. Das stimmt nicht. Entscheidend war vielmehr, dass wir das Prinzip des Förderns und Forderns in der Ein Punkt im Antrag der Grünen bezieht sich auf den Arbeitsmarktpolitik eingeführt haben. Das Gleiche brau- quoten- und zollfreien Marktzugang für alle AKP- chen wir auch in der Entwicklungszusammenarbeit mit Staaten. Es mag auch innerhalb der Koalition Argumente Afrika. Wir müssen die dortigen Länder fördern und in dafür und dagegen geben, vielleicht auch an der einen 7726 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

Dr. Sascha Raabe (A) oder anderen Stelle eine Meinungsverschiedenheit. Ich sie selber bestechen und in anderen Ländern gegen diese (C) finde den Punkt eigentlich richtig, weil ich glaube, dass Regeln verstoßen. Wir – Politik, Wirtschaft und Euro- sich die Europäische Union bei der Frage, wie hoch päische Union – müssen mit gutem Beispiel vorangehen. überhaupt das Handelsvolumen der ärmsten Länder ist, Dasselbe müssen wir auch von den afrikanischen Staaten die jetzt einen quoten- und zollfreien Marktzugang ha- einfordern. ben, dem Glaubwürdigkeitstest stellen muss. Wenn wir immer nur den ärmsten Ländern den Marktzugang ein- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: räumen, wohl wissend, dass uns das nicht wehtut, es die- Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. sen Ländern aber auch nicht viel hilft, dann werden wir nicht viel erreichen. Glaubhaft werden wir vielmehr nur Dr. Sascha Raabe (SPD): dann, wenn wir allen Entwicklungsländern diesen Marktzugang ermöglichen. Da beziehe ich nicht nur die Vielen Dank, dass Sie mir eine Minute länger gege- afrikanischen Länder ein, sondern auch die lateinameri- ben haben. kanischen und die asiatischen Entwicklungsländer. Ich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rede nicht von Schwellenländern; über die kann man si- der CDU/CSU – Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/ cherlich differenzierter reden. Aber alle Entwicklungs- DIE GRÜNEN]: Gute Rede für unseren An- länder der Welt sollten einen quoten- und zollfreien Zu- trag!) gang zum europäischen Markt bekommen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: DIE GRÜNEN) Zum Abschluss der Debatte hat der Kollege Alexander Ulrich für die Fraktion Die Linke das Wort. Die Menschen sind überall auf der Welt gleich. Für mich spielt es keine Rolle, ob ein Mensch in Afrika, Latein- (Beifall bei der LINKEN) amerika oder Asien hungert. Europa sollte auch von der kolonialen Selektierung der Länder, denen man wegen Alexander Ulrich (DIE LINKE): der historischen Verpflichtung besonders hilft, wegkom- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! men und bekräftigen, dass uns alle Menschen gleich viel Herr Königshaus hat dankenswerterweise gesagt, bei uns wert sind und allen Armen geholfen werden muss. wisse man, woran man sei. Wir sind nicht unglücklich (Beifall bei der SPD und der FDP) darüber, dass wir nach den Wahlen das tun, was wir vor den Wahlen versprochen haben. Das wäre auch für an- Zum Schluss möchte ich eine Bemerkung machen, dere Fraktionen nachahmenswert. weil die WTO angesprochen worden ist. Es ist sicherlich (B) (Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei (D) richtig, dass die EU mit dem bis 2013 angekündigten der SPD – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE Auslaufen der Agrarexportsubventionen einen richti- GRÜNEN]: Wie war das mit Herrn K., als ge- gen Schritt gemacht hat. Es ist aber aus meiner Sicht kei- sagt wurde, er habe sich nicht verändert? Er er- neswegs so, dass die Europäische Union damit alle ihre bleichte!) Hausaufgaben gemacht hat. Natürlich müssen auch die USA noch viel tun. Ich denke an die Nahrungsmittelhilfe Für faire Bedingungen im Welthandel müssen wir uns und andere Formen der verdeckten Agrarexportsubven- einsetzen – das ist die Botschaft der Bundeskanzlerin für tion, die die USA betreiben. Wir dürfen aber auch nicht die entwicklungspolitischen Schwerpunkte der deut- so tun, als ob die enormen internen Subventionen, die schen EU-Ratspräsidentschaft. Das klingt erst einmal wir in Europa haben und die fast die Hälfte des EU- gut, in der Realität werden jedoch keine fairen Entwick- Haushalts ausmachen – auch nach der EU-Agrar- lungs- und Handelsbedingungen für die Partnerinnen reform –, zu keinen Marktverzerrungen führten. Es ist und Partner im Süden geschaffen. Im Gegenteil: Der gut, dass wir die Produktion von der Subvention abge- Bundesregierung und der EU-Kommission geht es da- koppelt haben, aber es ist nicht so, als ob es keine han- rum, EU-ansässigen Unternehmen den Weg in die delsverzerrenden Elemente mehr gäbe. Deshalb glaube Märkte der Schwellen- und Entwicklungsländer zu eb- ich, dass die EU gut daran tut, daran zu arbeiten und im nen und dabei alle Regulierungen, in der EU und in den Rahmen der WTO-Verhandlungen einen Schritt hin zur Ländern des Südens, zu beseitigen. Der globale Wettbe- Öffnung der Märkte zu machen und die Zölle zu senken. werb soll ungehindert funktionieren, schwächere Kon- Dann wird Fördern und Fordern auch glaubhaft. kurrenten sind aus dem Weg zu räumen. In den Verhand- lungen zu den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, Das betrifft auch Sozial-, Umwelt und Kernarbeits- EPAs, zwischen der EU und den AKP-Staaten stehen normen. Herr Hoppe, ich würde mir wünschen, dass wir sich ungleiche Partner gegenüber. nicht nur sagen, dass die nationalen Regierungen ihre Gesetze machen sollen, sondern dass wir solche Normen Wie viele Nichtregierungsorganisationen kritisieren in die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen hineinschrei- wir, dass die EPAs in erster Linie Handelsabkommen ben, wie wir es auch im Rahmen der WTO wollen. Zu sind. Das ist der falsche Ansatz. In den EPAs müssen unserer Glaubwürdigkeit gehört dann aber auch – das Entwicklung und Partnerschaft an erster Stelle stehen. meine ich mit Fördern und Fordern –, dass wir die Nur so kommt man zu solidarisch und entwicklungspoli- OECD-Leitlinien, die für die multinationalen und deut- tisch kohärenten Abkommen. Wir fordern ein neues Ver- schen Unternehmen gelten, einhalten und nicht einige handlungsmandat. Nur Forderungen an die laufenden deutsche Großkonzerne sich dadurch auszeichnen, dass Verhandlungsrunden zu stellen, ist zu wenig. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7727

Alexander Ulrich (A) Die Verlängerungsfrist für das Lomé-Abkommen Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf (C) läuft Ende des Jahres aus. Die AKP-Staaten haben viel Drucksache 16/4055 zur federführenden Beratung an zu verlieren: 40 Prozent ihrer Exporte gehen in die EU, den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und während das umgekehrt nur für 3 Prozent gilt. Auch die Entwicklung und zur Mitberatung an den Ausschuss für Auszahlungen aus dem Europäischen Entwicklungs- Wirtschaft und Technologie zu überweisen. – Wie ich fonds sind letztlich an die Unterzeichnung der EPAs ge- sehe, sind Sie damit einverstanden. Dann ist die Über- knüpft. weisung so beschlossen. Das Auslaufen des Lomé-Abkommens darf nicht Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 auf: dazu führen, dass die AKP-Staaten in die Zwangslage Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia geraten, Verträge mit negativen Folgen für ihre eigene Pieper, Michael Kauch, Jens Ackermann, weite- wirtschaftliche und soziale Entwicklung zu schließen. rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Um die Begleitschäden der Handelsliberalisierungen aufzufangen, müssen zusätzliche Kompensationsmittel Forschung auf dem Gebiet der Regenerativen zur Verfügung gestellt werden. Medizin stärken Herr Raabe, zu Ihrem Beitrag. Marktwirtschaft und – Drucksache 16/2837 — Antineoliberalismus schließen sich gegenseitig gerade Überweisungsvorschlag: nicht aus. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) (Beifall bei der LINKEN) Ausschuss für Gesundheit Die Bundesregierung muss die kurze Zeit ihrer Präsi- Für die Aussprache ist eine halbe Stunde vorgese- dentschaft nutzen, um den Zeitdruck aus den Verhand- hen. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so lungen zu nehmen und sich für eine Verlängerung der beschlossen. Lomé-Referenzen bei der WTO einzusetzen. Es ist gut, Ich gebe zur Kenntnis, dass die Abgeordneten dass die Grünen dem EU-Entwicklungskommissar Michael Kretschmer, René Röspel, Cornelia Pieper, eine wichtige Rolle zukommen lassen wollen. Warum Petra Sitte und Priska Hinz (Herborn) ihre Reden zu Pro- nicht noch einen Schritt weitergehen und ihm die Feder- tokoll geben.1) führung in den Verhandlungen übertragen? Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Auf der Verhandlungsagenda haben Themen wie In- Drucksache 16/2837 an die in der Tagesordnung aufge- vestitionen, Wettbewerbspolitik und öffentliches Be- führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Wie ich sehe, sind (B) schaffungswesen nichts zu suchen. In diesen Forderun- Sie auch damit einverstanden. Dann ist die Überweisung (D) gen stimmen wir mit den Grünen überein. Wichtig ist so beschlossen. uns, dass die EPA-Verhandlungen transparent gestaltet werden. Die Politik der verschlossenen Türen muss be- Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 27 auf: endet werden. Die Zivilgesellschaft soll eine aktivere Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Rolle spielen. richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag Auf dem heute in Nairobi beginnenden Weltsozial- der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Dr. Gesine forum werden zahlreiche afrikanische, karibische und Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeord- pazifische Nichtregierungsorganisationen miteinander neter und der Fraktion der LINKEN darüber diskutieren, welche Auswirkungen die EPAs auf ihre Staaten haben und wie Alternativen aussehen kön- Generelle Altschuldenentlastung auf dauer- nen. Auch die Linke wird in Nairobi vertreten sein und haft leer stehende Wohnungen sich mit der Kritik an der bisherigen Verhandlungsfüh- rung durch die EU auseinandersetzen. Unsere Vorstel- – Drucksachen 16/2078, 16/3082 – lungen haben wir bereits gestern mit einem parlamenta- Berichterstattung: rischen Antrag vorgestellt. Die Vorredner haben darauf Abgeordneter Henry Nitzsche hingewiesen. Für die Aussprache ist auch hier eine halbe Stunde Ich wiederhole unsere Forderung, dass der EU-Kom- vorgesehen. mission das Mandat für die EPA-Verhandlungen entzo- gen und ein neues, entwicklungspolitisch kohärentes Ich gebe das Wort der Kollegin Heidrun Bluhm, Die Mandat formuliert wird. Weder in der EU noch in ihren Linke. Partnerstaaten dürfen soziale und ökologische Standards (Beifall bei der LINKEN) zugunsten der Wettbewerbsfähigkeit geopfert werden. Vielen Dank. Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen (Beifall bei der LINKEN) und Herren Abgeordnete! Sehr geehrte Gäste! Im Jahre 1999, damals frisch in der Opposition, hat die Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich schließe die Aussprache. 1) Anlage 3 7728 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

Heidrun Bluhm (A) CDU/CSU zu Recht eine Novellierung des Altschulden- (Beifall bei der LINKEN) (C) hilfe-Gesetzes gefordert, weil – ich zitiere aus ihrem An- Gut sieben Jahre nach der letzten Novellierung des trag – Altschuldenhilfe-Gesetzes bleibt nach unserer Auffas- ... sich die Rahmenbedingungen für wohnungs- sung die Altschuldenhilfe eine vereinigungsbedingte wirtschaftliches Handeln gegenüber dem Inkraft- Sonderaufgabe des Bundes. treten des Altschuldenhilfe-Gesetzes ... erheblich (Beifall bei der LINKEN) verschlechtert haben. Eine nur zögerliche Wirt- schaftsentwicklung und ein ... spürbarer Bevölke- Die Linke fordert deshalb die Streichung der Altschul- rungsrückgang haben dazu geführt, dass Wohnungs- den. Es ist wohnungspolitischer und wirtschaftlicher unternehmen insbesondere in strukturschwachen Unsinn, dass ein Wohnungsunternehmen erst in seiner Regionen einen erheblichen Wohnungsleerstand ha- Existenz bedroht sein muss, um von willkürlich geschaf- ben. Leerstandsquoten von deutlich über 10 % sind fenen Schulden entlastet zu werden. inzwischen keine Seltenheit, in nicht wenigen Fäl- len steht mehr als 1/5 des Wohnungsbestandes eines (Beifall bei der LINKEN) Unternehmens leer. Die Folgen sind erhebliche Mindestens jedoch müssen die Voraussetzungen dafür Mieteinnahmenverluste. Viele der betroffenen Un- geschaffen werden, dass jedes von Altschuldenhilfepro- ternehmen haben daher große Schwierigkeiten, ihre blematik betroffene Wohnungsunternehmen in den Altschulden zu bedienen, ohne auf zum Teil immer neuen Ländern auch Altschuldenhilfe in Anspruch neh- noch dringend erforderliche Sanierungs- und Mo- men kann. Die Härtefallregelung nach § 6 a des Alt- dernisierungsinvestitionen in ihrem Wohnungsbe- schuldenhilfe-Gesetzes greift inhaltlich und zeitlich zu stand gänzlich zu verzichten. Diesen Unternehmen kurz. in Gebieten mit einem hohen strukturellen Leer- stand sowie mit besonderen Belastungen aus nega- Gegenwärtig können Wohnungsunternehmen die Re- tiven Restitutionsfällen kann wirksam nur dadurch gelung zur Altschuldenentlastung nur in Anspruch neh- geholfen werden, dass ihnen eine weitere Teilent- men, wenn der Leerstand der Unternehmen mehr als lastung für die Altschulden gewährt wird. 15 Prozent beträgt. Es bedarf zwingend der generellen Lösung der Altschuldenfrage für alle Wohnungsunter- Die Analyse ist völlig richtig. Die Schlussfolgerung nehmen, und zwar unabhängig davon, wie hoch die ist allerdings inkonsequent. Leerstandsquote des jeweiligen Unternehmens ist. An- Im Rahmen der Beratungen zum Haushalt 2007 hatte sonsten sind die Ziele des Stadtumbaus nämlich nicht zu meine Fraktion die Aufstockung des Altschuldenhilfe- erreichen. (B) fonds gefordert. Aber auch hier lehnten Sie ab, meine Um die Zielsetzung desStadtumbauprogramms, wie (D) Damen und Herren der Koalition. Dieses nährt den Ver- es die Bundesregierung beschlossen hat, bis Ende 2009 dacht, dass die jetzige Koalition weder willens noch in circa 350 000 Wohnungen vom Markt zu nehmen, über- der Lage ist, das Altschuldenproblem zu lösen. haupt zu erreichen, müssen sich alle Wohnungsunterneh- (Beifall bei der LINKEN) men am Stadtumbau beteiligen. Für die Unternehmen mit weniger als 15 Prozent Leerstand, die allein über Heute zeigt sich, dass die mit rot-grüner Bundestags- 900 000 leer stehende Wohnungen verwalten, besteht mehrheit beschlossene Gesetzesnovelle mit ihren Teil- heute kein finanzieller Anreiz, sich am Stadtumbaupro- entlastungen – zum Beispiel die Aufhebung der Veräu- zess engagiert zu beteiligen. Das gilt es zu korrigieren. ßerungspflicht und die Einführung der Härtefallregelung des § 6 a des Altschuldenhilfe-Gesetzes – das Altschul- (Beifall bei der LINKEN) denproblem nicht lösen konnte. Alle Fraktionen im Deutschen Bundestag sind daher Wissenschaftliche Analysen zeigen, dass der Woh- aufgerufen, in diesem Sinne verantwortungsvoll zu han- nungsleerstand gerade in Ostdeutschland auf lange deln und sich dem Antrag anzuschließen. Nur so können Sicht auf einem hohen Niveau verbleiben wird und auch wir die Probleme der ostdeutschen, vor allem der kom- in den alten Bundesländern in vielen Regionen schnell munal und genossenschaftlich verankerten Wohnungs- wächst. Demografischer Wandel, Wanderungsbewegun- wirtschaft sowie des Stadtumbaus Ost nachhaltig lösen. gen, anhaltende Strukturschwäche ganzer Regionen so- Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. Ich wie verminderte bzw. ausbleibende Investitionen und so- wünsche Ihnen ein schönes und sturmfreies Wochen- mit Mietverluste verschärfen die wirtschaftliche ende. Situation der Wohnungswirtschaft in Ostdeutschland bis hin zu Insolvenzen. (Beifall bei der LINKEN) Die Folge ist, dass insbesondere Kommunen gerade Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: auch deshalb dazu gezwungen sind, ihre lukrativen Woh- Die Kollegen Volkmar Uwe Vogel, Ernst Kranz, nungsbestände ganz oder teilweise zu veräußern, um Joachim Günther (Plauen) und Peter Hettlich haben ihre ihre laufenden Kredite überhaupt bedienen zu können. Reden zu Protokoll gegeben.1) Damit schließe ich die Für den Erhalt der kommunalen Wohnungswirtschaft als Aussprache. sozialpolitisches Instrument und Stadtentwickler ist es höchste Zeit für die Streichung der nach unserer Auffas- sung ohnehin fiktiven Altschulden. 1) Anlage 4 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7729

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Be- FDP gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und (C) schlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. und Stadtentwicklung auf Drucksache 16/3082 zu dem Wir sind damit am Ende der heutigen Tagesordnung. Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Generelle Altschuldenentlastung auf dauerhaft leer stehende Woh- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- nungen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf destages auf Mittwoch, den 31. Januar 2007, 13 Uhr, ein. Drucksache 16/2078 abzulehnen. Wer stimmt für diese Genießen Sie die gewonnenen Einsichten und das Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Stimment- Wochenende. haltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Die Sitzung ist geschlossen. Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der (Schluss: 12.59 Uhr)

(B) (D)

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7731

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Ahrendt, Christian FDP 19.01.2007 Schaaf, Anton SPD 19.01.2007

Behm, Cornelia BÜNDNIS 90/ 19.01.2007 Schäfer (Bochum), Axel SPD 19.01.2007 DIE GRÜNEN Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/ 19.01.2007 Binding (Heidelberg), SPD 19.01.2007 DIE GRÜNEN Lothar Schily, Otto SPD 19.01.2007 Bülow, Marco SPD 19.01.2007 Dr. Schröder, Ole CDU/CSU 19.01.2007 Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 19.01.2007 Dr. Seifert, Ilja DIE LINKE 19.01.2007 Gabriel, Sigmar SPD 19.01.2007 Steinbach, Erika CDU/CSU 19.01.2007 Dr. Gehb, Jürgen CDU/CSU 19.01.2007 Steppuhn, Andreas SPD 19.01.2007 Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 19.01.2007 Dr. Tabillion, Rainer SPD 19.01.2007 Grund, Manfred CDU/CSU 19.01.2007 Tillmann, Antje CDU/CSU 19.01.2007 Hilsberg, Stephan SPD 19.01.2007 Veit, Rüdiger SPD 19.01.2007 (B) Höfer, Gerd SPD 19.01.2007 (D) Weiß (Emmendingen), CDU/CSU 19.01.2007 Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/ 19.01.2007 Peter DIE GRÜNEN Weisskirchen SPD 19.01.2007 Höhn, Bärbel BÜNDNIS 90/ 19.01.2007 (Wiesloch), Gert DIE GRÜNEN Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 19.01.2007 Jung (Karlsruhe), SPD 19.01.2007 Johannes Zypries, Brigitte SPD 19.01.2007

Kasparick, Ulrich SPD 19.01.2007 Anlage 2 Kipping, Katja DIE LINKE 19.01.2007 Zu Protokoll gegebene Rede Dr. Küster, Uwe SPD 19.01.2007 zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu Kunert, Katrin DIE LINKE 19.01.2007 dem Internationalen Übereinkommen vom 19. Oktober 2005 gegen Doping im Sport (Ta- Landgraf, Katharina CDU/CSU 19.01.2007 gungsordnungspunkt 22)

Lührmann, Anna BÜNDNIS 90/ 19.01.2007 Katrin Kunert (DIE LINKE): Die Fraktion Die Linke DIE GRÜNEN wird dem Gesetzentwurf zum internationalen Überein- kommen gegen Doping im Sport zustimmen. Merten, Ulrike SPD 19.01.2007 Das bietet die wichtige Möglichkeit, international ge- Müntefering, Franz SPD 19.01.2007 gen Doping vorzugehen. Bestehende nationale Regelun- gen können so harmonisiert und Straftaten länderüber- Pieper, Cornelia FDP 19.01.2007 greifend verfolgt werden. Pronold, Florian SPD 19.01.2007 Spannend wird es, wie Politik und Sport in Deutsch- land damit umgehen werden. Fakt ist: Der Deutsche Raidel, Hans CDU/CSU 19.01.2007 Olympische Sportbund hat auf seiner Mitgliederver- 7732 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

(A) sammlung im Dezember letzten Jahres einen Anti- Die Situation in einigen Fitnessstudios ist alarmie- (C) dopingaktionsplan beschlossen. Der Sport will das Pro- rend. Wie offen und skrupellos illegale Substanzen ange- blem des Dopings in eigener Regie in den Griff bekom- boten und angepriesen werden, kann man in Gesprächen men. mit Besuchern von Fitnessstudios erfahren. Er setzt unter anderem auf eine höhere Kontroll- Den Besitz von Dopingmitteln bei Sportlern will der dichte. Ich meine, dass nicht nur die Kontrolldichte das Sport nicht unter Strafe stellen. Hier scheiden sich in den Problem ist, es muss vielmehr unangekündigt kontrol- letzten Wochen und Monaten die Geister. liert werden. Wichtig ist auch, dass Meldungen an die Auch in unserer Fraktion gibt es in Bezug auf ein Verbände erfolgen, wenn sich die Sportlerinnen und mögliches Antidopinggesetz noch Diskussionen. Ich Sportler den Kontrollen entziehen. Dazu braucht die Na- meine, die bestehende Sportgerichtsbarkeit bestraft tionale Antidopingagentur nachweislich mehr Geld. Sportlerinnen und Sportler bereits effektiv und unmittel- Bund und Sport haben ihre Zuschüsse bereits für 2007 bar. Der Gebrauch von Dopingmitteln und der Nachweis deutlich erhöht. Aber ob diese finanzielle Ausstattung im Körper führen zu Sanktionen. Das ist so, wenn – und reichen wird, wage ich zu bezweifeln. Acht hauptamtlich das sage ich vor dem Hintergrund des Berichtes in der Beschäftigte und 70 ehrenamtliche Kontrolleure bei der ARD – auch Nachweise erbracht werden können. Zu- NADA stehen circa 9 000 Athleten gegenüber. In der dem funktioniert die Sportgerichtsbarkeit erheblich ARD-Reportage „Mission: Sauberer Sport – Doping- schneller, als dies bei der ordentlichen Gerichtsbarkeit Fahnder im Einsatz“ wurden die Schwachstellen bei den der Fall wäre. Andererseits muss die Frage aufgeworfen Dopingkontrollen in Deutschland öffentlich gemacht. werden: Warum besitzt ein Sportler oder eine Sportlerin Nicht nur die dünne Personaldecke der NADA macht Dopingmittel? Bestimmt nicht, um sie sich in die Sorgen, vielmehr habe ich kein Verständnis dafür, dass Schrankwand zu stellen! Athleten, ob bei angekündigten oder unangekündigten Künftig müssen Politik und Sport gemeinsam an ei- Kontrollen, mehrfach nicht anzutreffen sind und dass die nen Tisch und vernünftige Regelungen finden. Der Ruf Kontrolleure der NADA dies nicht an die Verbände mel- des Sports steht auf dem Spiel. Er muss im eigenen Inte- den. resse dem Betrug begegnen. Der Staat muss den Sport schützen. Wie ernst wird das Thema von den handelnden Insti- tutionen eigentlich genommen, wenn zugelassen wird, Sport hat wichtige Funktionen in der Gesellschaft. Pä- dass sich Sportlerinnen und Sportler der Kontrolle ent- dagogisch, sozialpolitisch und gesundheitspolitisch wirkt ziehen können? So werden Regelverstöße nicht geahn- er in die Gesellschaft, und nicht zuletzt ist der Sport ein (B) det. Das ist inakzeptabel! Wenn ein Sportler sich nicht wichtiges Spiegelbild. (D) ordnungsgemäß abmeldet, muss dies sanktioniert wer- den. Dazu gibt es klare und, wie ich meine, auch harte Wenn wir über die Bekämpfung des Dopings reden, Regeln. Es wundert mich nicht wirklich, wenn Sportler müssen wir generell eine Debatte über die Rolle des im Nachgang zu einem Gerichtsverfahren, wie im Fall Sports in der Gesellschaft führen. Alles andere ist halb- Springstein, unter Dopingverdacht geraten. herzig. Solange der Kommerz immer mehr den Sport be- Derzeit sind beim Deutschen Leichtathletik-Verband herrscht, so lange ist der Sport auch nicht frei von Kom- neun Sportlerinnen und Sportler wegen Dopings ge- merz. Solange Werbeverträge, Fernsehpräsenz und sperrt. Sieben davon sind aus dem Bereich der Seniorin- Spektakel maßgebend für den Sport sind, kann der nen und Senioren. Lediglich eine Sperre von den neun Sportler entweder mitgehen oder er steigt aus. Sperren basiert auf einer Trainingskontrolle. Ich frage mich, ob und, wenn ja, wie oft Schumann, Breuer und Die finanzielle Abhängigkeit der Sportlerinnen und Urbansky kontrolliert wurden. Gehörten sie vielleicht zu Sportler von diesem Mechanismus muss ersetzt werden den oft nicht anzutreffenden Sportlern? durch eine gesamtgesellschaftliche Begleitung von der Talentesichtung bis über das Karriereende hinaus. Spit- Prävention ist das A und O. Der WADA-Code muss zensport, Schul- und Berufsbildung sowie Studium müs- verschärft werden, so steht es im Antidopingplan des sen besser miteinander verbunden werden. Gerade viele Deutschen Olympischen Sportbundes. Ich habe guten junge Sportlerinnen und Sportler entscheiden sich nach Grund, das zu unterstreichen, denn bei einer Befragung dem Schulabschluss gegen den Sport, weil sie ihre Zu- von Athletinnen und Athleten des Jahrgangs 1986 in der kunft nicht gesichert sehen. Leichtathletik konnten 70 Prozent der Befragten nichts mit dem Antidopingcode anfangen. Zudem gibt es er- Der Übergang vom Junioren- zum Spitzensportbe- hebliche Unsicherheiten im Umgang mit Nahrungser- reich ist ein weiteres Problem und zeigt deutlich, dass gänzungsmitteln. Hier wünschen sich die Aktiven mehr die durchaus bestehenden Ressourcen in der Spitzen- Informationen vom Verband. sportforschung nicht in der Praxis ankommen. Hier gibt es ein interessantes Modell in Köln, ein hochschulge- Um Handel und Missbrauch von illegalen leistungs- bundenes Zentrum für Spitzensport ist aufgebaut wor- fördernden Mitteln entgegenzutreten, sollten auch kom- den. In diesem Zentrum werden sportwissenschaftliche merzielle Fitnessstudios einer Dopingkontrolle unter- Theorien in die Praxis gegeben, es werden Ergebnisse worfen werden, wenn notwendig, auch durch Polizei- der Grundlagenforschung schnellstmöglich in der Trai- und Ordnungsbehörden. ningspraxis umgesetzt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7733

(A) Doping existiert nicht im luftleeren Raum, Sportlerin- handeln großflächiger Wunden mit Ersatzhaut ist das (C) nen und Sportler beginnen ihre Karriere nicht mit dem bislang erfolgreichste klinische Anwendungsgebiet des Vorsatz zu dopen. Dennoch müssen im Kampf gegen Tissue-Engineerings. Aber auch in der Orthopädie sind Doping alle Bedingungen, die auf den Sport wirken, ein- Tissue-Engineering-Verfahren seit Jahren im Einsatz. bezogen werden. Auch die Öffentlichkeit, also wir, die Rund 80 000 Menschen leiden in Deutschland infolge ständig nur beste Platzierungen erwarten, die Medien, von Sportverletzungen oder durch Arthrose an Gelenk- die Sponsoren und Veranstalter haben einen nicht uner- schäden. Immer häufiger werden diese so behandelt, heblichen Einfluss auf die Entwicklung des Sports. dass Knorpelzellen aus dem gesunden Gelenk entnom- men, in Kultur vermehrt und dann in das geschädigte Nur ein Gesamtpaket an Maßnahmen, angefangen von wirksameren Dopingkontrollen über soziale und be- Gelenk transplantiert werden. rufliche Absicherung der Sportlerinnen und Sportler bis Diese vielversprechenden Ansätze lassen es realistisch hin zu mehr sportwissenschaftlicher Begleitung und erscheinen, dass es der Regenerativen Medizin langfristig letztlich auch die Bekämpfung des organisierten Handels gelingen kann, geschädigte Zellen, Gewebe und Organe mit Dopingmitteln kann zum Erfolg führen. zu heilen, zu rekonstruieren oder deren Reparatur mit- Früher gab es das Motto „Dabei sein ist alles“, darum hilfe von Stammzellen zu stimulieren. Das würde die geht es aber schon lange nicht mehr. Medizin revolutionieren und viel Leid lindern helfen. Die dramatischsten Engpässe gibt es heute bei Spender- Anlage 3 organen. Nach Angaben der Deutschen Stiftung Organ- transplantation warten derzeit in Deutschland 12 000 Pa- Zu Protokoll gegebene Reden tienten auf neue Herzen, Lebern, Nieren. Nur jeder Dritte erhält sie rechtzeitig. Pro Tag sterben drei Menschen auf zur Beratung des Antrags: Forschung auf dem der Warteliste, bevor ein passendes Organ gefunden ist. Gebiet der Regenerativen Medizin stärken (Ta- Es wäre vermessen, von der Regenerativen Medizin hier gesordnungspunkt 26) schnelle Hilfe zu erwarten. Sie ist von der Herstellung ganzer Ersatzorgane weit entfernt. Ohne die Bereitschaft Michael Kretschmer (CDU/CSU): Es gibt kaum ein zur Organspende werden wir noch lange nicht auskommen. Forschungsgebiet, mit dem die Menschen so große Hoff- nungen verbinden wie mit der Regenerativen Medizin. Trotzdem ist die Forschung dem Ziel, einen biologi- Diese junge Disziplin an den Grenzflächen von Medizin, schen Ersatz für einzelne Organfunktionen zu entwickeln, Entwicklungsbiologie, Ingenieurs- und Materialwissen- deutlich nähergekommen. Alle deutschen Forschungsor- (B) schaften weckt Erwartungen bei Patientinnen und Pa- ganisationen, von der DFG bis zur Max-Planck-Gesell- (D) tienten, schon bald Verletzungen und Krankheiten heilen schaft, fördern seit Jahren Forschung auf dem Gebiet der zu können, die heute als unheilbar gelten. Wo heute oft Regenerativen Therapien. Die CDU/CSU-Bundestags- nur Symptome gelindert werden, wäre dann echte Gene- fraktion sieht darin einen Schwerpunkt der Gesundheits- sung möglich. forschungs- und Biotechnologieprogramme. Hinzu kom- men erfolgreiche Förderansätze der Länder. Die Wir stehen noch ganz am Anfang dieser Vision. Die Biotechnologie-Offensive des Freistaats Sachsen war Regenerative Medizin bewegt sich überwiegend in der Wegbereiter für zwei Exzellenzzentren der Regenerati- Grundlagenforschung. Erhebliche Forschungsanstren- gungen liegen vor uns, bis wir eines Tages – vielleicht – ven Medizin: dem Translationszentrum für Regenerative auf Organtransplantationen verzichten oder degenerative Medizin der Universität Leipzig und dem DFG-For- Krankheiten wie Parkinson heilen können. schungszentrum für Regenerative Therapien in Dresden. Das beste Beispiel für die Selbstheilungskräfte, die Deutschland ist in der Regenerativen Medizin hervor- die Regenerative Medizin nutzen will, liefert die Natur ragend aufgestellt, wir sind international Spitze. Das soll selbst. Wenn ein Axolotl, ein Lurch aus Mexiko, eine auch so bleiben. Deshalb teilen wir auch die große Wert- Gliedmaße oder ein Organ verliert, wachsen diese ein- schätzung der Regenerativen Medizin, die die FDP in ih- fach wieder nach. Forscher im Max-Planck-Institut für rem Antrag dokumentiert. Dass sich im Übrigen im Genetik in Dresden sind diesem Rätsel auf der Spur, von FDP-Antrag wörtliche Zitate finden, die von der BMBF- dessen Lösung auch die Medizin profitieren könnte. In Homepage übernommen sind, werte ich als Zeichen, einzelnen Feldern allerdings haben Regenerative Thera- dass auch die Opposition der Meinung ist, dass die Bun- pien schon den Sprung in die klinische Anwendung ge- desregierung auf dem richtigen Weg ist und man getrost schafft. Speziell beim Tissue-Engineering, also der bei ihr abschreiben kann. Das ist aber der Grund, warum Züchtung von Gewebeersatz aus patienteneigenen Zel- Ihre Forderungen in weiten Teilen ins Leere laufen. Sie len, hat die Medizin enorme Fortschritte gemacht. Auch sind längst umgesetzt. Beispiel: Klinische Studien. Schon wenn die weltweiten Umsätze der Gewebezucht bei ge- jetzt hat das BMBF eine Reihe Förderungen, zum Bei- schätzten 100 bis 200 Millionen US-Dollar (2005) lie- spielt zusammen mit der DFG. Dort können längst Studien gen; das künftige wirtschaftliche Potenzial wird von der im Bereich Regenerative Therapien beantragt werden. Deutschen Gesellschaft für Regenerative Medizin auf Beispiel: Unterstützung kleiner und mittlerer Unterneh- jährlich mehrere Milliarden Euro geschätzt. Menschen, men der Biotechbranche für zellbasierte Therapien. die bei Unfällen schwerste Verbrennungen erleiden, pro- Auch das ist längst Realität. Die BMBF-Aktivitäten fitieren heute schon vom Segen dieser Verfahren. Das Be- Tissue-Engineering, Bio-Profile – Region STERN – Bio 7734 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

(A) Chance Plus haben seit 2000 mit rund 100 Millionen derung, das Stammzellgesetz zu ändern. Ein wenig über- (C) Euro vornehmlich KMU unterstützt. rascht war ich dann, dass Sie sich tatsächlich zunächst dem Thema Regenerative und Transplantationsmedizin Was wir jetzt brauchen, um die Regenerative Medizin und Organspende widmen. Umso enttäuschter muss der voranzubringen, ist vorrangig nicht mehr Geld. Wir geneigte Leser allerdings dann doch sein, dass Sie aus brauchen bessere Marktbedingungen für Produkte und dem großen einführenden Bereich der Transplantations- Anwendungen aus der Regenerativen Medizin. Die medizin keine Schlussfolgerung ziehen oder Forderun- Innovationen müssen die Patienten auch erreichen. Das gen stellen, sondern es letztlich doch wiederum nur – ei- ist das Problem: Der Markt für die kleinen und mittleren nigermaßen verpackt und verklausuliert – um ihre alte Unternehmen mit ihren innovativen Therapieansätzen ist Forderung nach Zulassung der embryonalen Stammzell- zu klein. Das liegt daran, dass die zugelassenen Produkte forschung geht. des Tissue-Engineerings – von Ausnahmen abgesehen – von den Kassen nicht erstattet werden. Es ist daher richtig, Es ist gerade zu unverschämt, dass Sie den Bereich dass die Bunderregierung mit der Hightechstrategie die Organmangel einerseits und Erfolge im Bereich „autolo- Innovationspolitik ressortübergreifend angeht und eine ger Hautersatz“ – der körpereigene Hautzellen des Pa- intensive Abstimmung zwischen Bundesforschungs- und tienten nutzt und mit embryonaler Stammzellforschung Bundesgesundheitsministerium etabliert. Denn gerade nichts zu tun hat – vermischen und den Eindruck erwe- an diesen Stellen kann Innovationspolitik angeschoben cken, man müsse nun endlich das Stammzellgesetz än- oder ausgebremst werden. dern. Ein weiterer Punkt ist das Gewebegesetz. Dieses Ge- Auf das Thema, das der Titel des FDP-Antrags nennt, setz darf nicht zur Innovationsbremse werden. Wir wollen eingehend, ist zu begrüßen, dass nun auch die FDP er- hohe Sicherheit für die Patienten. Aber wir wollen auch, kannt hat, welche Möglichkeiten und Chancen sich im dass klinische Forschung in Deutschland mit vertretba- Bereich der Regenerativen Medizin bieten. Offensicht- rem Aufwand möglich bleibt und die Erkenntnisse aus lich hat die FDP nicht nur die Entwicklung in diesem klinischen Studien schnell in die Anwendung gelangen. Forschungszweig verfolgt, sondern auch die Hightech- Hier werden wir als Forschungspolitiker bei der Anhörung strategie der Bundesregierung gelesen und sich inspirie- genau hinsehen. Denn heute leiden zu viele klinische ren lassen. Warum die FDP dann allerdings noch Fragen Studien darunter, dass in der Vergangenheit unter Rot- stellt, die durch Handeln der Großen Koalition bereits Grün überreguliert worden ist; übrigens ohne Zusatznutzen erledigt sind, ist wohl nur mit politischem Opportunis- für die Patienten mus zu erklären. Eine der spezifischen forschungs- und innovations- (B) Die Forschung an humanen embryonalen Stammzellen politischen Initiativen im Rahmen der Hightechstrategie (D) steht hingegen auf einem ganz anderen Blatt. Sie ist nur beinhaltet die Förderung von zunächst zwei „Translatio- ein Aspekt der Regenerativen Medizin, weshalb ich nal Research Clustern“ auf dem hochinnovativem Feld bewusst erst zum Ende meiner Rede auf sie zu sprechen der Regenerativen Medizin. Damit unterstützt das komme. Was die FDP so einfach als „Behinderung“ der BMBF seit dem Jahr 2006 prototypische Umsetzungs- Forschung beschreibt, ist ein Beschluss, der mit großer konzepte unter Einbindung auch von Kostenträgern und Mehrheit aus der Mitte dieses Parlaments kam. Dieses Regulierungsinstanzen. Stammzellgesetz gilt es zu respektieren, was die Bundes- forschungsministerin im Kompromiss zum 7. Forschungs- Im Rahmen der Medica hat Bundesforschungsminis- rahmenprogramm auch getan hat. Die Situation ist terin Schavan im November 2006 die Förderung von schwierig. Denn die nach dem deutschen Stichtag ver- zwei Zentren für Regenerative Medizin in Berlin und wendbaren Zelllinien sind kontaminiert, haben epigeneti- Leipzig offiziell bekannt gegeben. Diese beiden Einrich- sche Mängel und kommen für die therapeutische Anwen- tungen haben genau das zum Auftrag, was nun von der dung nicht in Frage. Wir wissen auch, dass deutsche FDP in ihren Antrag gefordert wird, nämlich wissen- Forscher große Sorgen haben, sich in internationalen Pro- schaftliche Erkenntnisse gezielt in die Praxis umzuset- jekten nach deutschen Stammzellrecht strafbar zu ma- zen und Innovationen in der Regenerativen Medizin zu chen. Aber vor einer möglichen Änderung des Stamm- fördern. Durch die enge Verzahnung von Wissenschaft zellgesetzes müssen die Abgeordneten Gelegenheit und unternehmerischer Umsetzung von Innovationen erhalten, die Intention des Stammzellgesetzes zu prüfen. werden wir sicherstellen, dass für die Forschung und Wir müssen uns die Zeit nehmen, diese schwerwiegende Anwendung der Regenerativen Medizin hinreichende Entscheidung in Ruhe zu treffen. Denn es sind die hohen Ressourcen zur Verfügung stehen. ethischen Güter Lebensschutz auf der einen Seite und Zitat BMBF: „Das BMBF fördert die beiden Transla- Chance auf Heilung schwerer Krankheiten auf der ande- tionszentren in den nächsten vier Jahren mit jeweils rund ren Seite, die sorgsam gegeneinander abgewogen werden 15 Millionen Euro. Hinzu kommt ein Beitrag der Länder müssen. Berlin und Brandenburg für das Zentrum in Berlin und ein Beitrag Sachsens für das Zentrum in Leipzig in René Röspel (SPD): Als ich von meinen Mitarbei- Höhe von rund 5 Millionen Euro. In Berlin stellt die tern letzte Woche hörte, dass ein Antrag der FDP zu Re- Helmholtz-Gemeinschaft weitere 10 Millionen Euro zur generativer Medizin auf der Tagesordnung steht, habe Verfügung. Die Zentren sollen zu Keimzellen für Unter- ich zunächst gedacht, es handele sich um die übliche, nehmensausgründungen und zu Partnern für innova- von der FDP im Halbjahresrhythmus eingebrachte For- tionsstarke Unternehmen werden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7735

(A) Man sollte trotz der großen Chancen im Bereich der – „interdisziplinäre Forschung zu Chancen und Aus- (C) Regenerativen Medizin aber auch keine überschwängli- wirkungen“ chen Hoffnungen auf die Heilung bisher unheilbarer Krankheiten schüren. Auch die Forscher und Unterneh- In jedem Fall müssen wir die interdisziplinäre For- mer werden ansonsten mit Zielen konfrontiert, die sie schung im Bereich der Chancen, Auswirkungen und niemals oder erst nach vielen Jahren erreichen können. des Einsatzes Regenerativer Medizin fördern. Über Vor allem aber werden damit Hoffnungen bei den betrof- die ethische Begleitforschung finanziert die Bundes- fenen kranken Menschen aufgebaut, die für die meisten regierung jedoch schon seit Jahren entsprechende nicht erfüllt werden können. Das halte ich für zynisch Forschungsbemühungen. Gerade im Jahr der Geistes- und unverantwortlich. wissenschaften werden wir uns bemühen, hier weiter innovative Forschungsprojekte zu fördern. Wir sollten uns stattdessen gemeinsam darum bemü- hen, realistisch die Potenziale der Regenerativen Medi- – „Förderung kleiner und mittelständischer Unterneh- zin zu bewerten und die Forscherinnen und Forscher dort men“ zu unterstützen, wo der Einsatz der Mittel besonders Die kleinen und mittelständischen Unternehmen sind gute Erfolge verspricht. schon heute ein Schwerpunkt von Fördermaßnahmen Ende März/Anfang April werden wir uns im Aus- der Bundesregierung. Ein gesondertes Programm für schuss für Bildung und Forschung erneut mit dem ak- den Bereich der Regenerativen Medizin wäre mit tuellen Stand der Stammzellforschung befassen. Wir Mehraufwand verbunden und würde keinen echten sind aufgefordert, aktuelle wissenschaftliche Erkennt- Mehrwert bringen. Hinzu kommt, wie im Antrag nisse aufzunehmen und daraus dann – wenn nötig – selbst hervorgehoben wird, dass sich viele Projekte Schlussfolgerungen zu ziehen. Es ist jedoch die Bring- noch im Stadium der Grundlagenforschung befinden schuld der Wissenschaft nachzuweisen, wenn die gelten- und von therapeutischer Anwendung meilenweit ent- den Rahmenbedingungen für die Forschung überarbeitet fernt sind. werden müssen. Dies konnte allerdings auch die DFG in – „keine Überregulierung“ ihrer jüngsten Stellungnahme nicht überzeugend darle- gen. Beim Gewebegesetz hat die Bundesregierung wieder- holt und mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass Erlauben Sie mir noch, in der Kürze der Zeit auf ein- man die EU-Vorgaben umsetzen, aber nicht darüber zelne der im FDP-Antrag aufgestellten Forderungen ein- hinaus Regelungen festschreiben wird. zugehen: Zitat von Staatssekretär Dr. Schröder, BMG: „Um je- – „nationale Innovationsstrategie“ (B) doch unnötige und überzogene Regelungen bei der (D) Auch mit dieser Forderung hinkt die FDP der Zeit Umsetzung zu vermeiden, werden wir den Rahmen hinterher: In der Hightechstrategie hat die Bundesre- an Flexibilität und Differenzierung, den die EG-Ge- gierung unter dem Stichwort „Körpereigene Regene- weberichtlinien bieten, vollständig berücksichtigen.“ rationsprozesse erforschen und therapeutisch nutzbar Wir werden aber auch sehr genau zu überprüfen ha- machen“ schon das Ziel formuliert, Deutschland zu ben, wo man zusätzliche Regelungen schaffen muss, einem führenden Land im Bereich der Regenerativen um Patientinnen und Patienten vor unnötigen Risiken Medizin zu machen. Wir legen allerdings unseren zu bewahren. Schwerpunkt bei Zellersatz nicht auf die ethisch und gesellschaftlich umstrittenen embryonalen Stamm- – „Entwicklungsbiologie von Embryonen“ zellen, sondern auf die bereits erfolgreich therapeu- Die SPD bezieht selbstverständlich immer den neus- tisch genutzten adulten Stammzellen oder solche, die ten Stand der Wissenschaft in ihren Diskussionen ein! aus körpereigenen abgeleitet werden können. Die FDP lobt in ihrem Antrag ja zu Recht den autologen – „Förderung der embryonalen Stammzellforschung“ Hautersatz, bei dem Zellen des Patienten selbst ver- Selbstverständlich durfte die gebetsmühlenartig von mehrt werden. der FDP wiederholte Forderung nach einer Freigabe – „Förderprogramm klinische Studien“ der embryonalen Stammzellforschung auch in diesem Antrag nicht fehlen. Wir werden in den kommenden Deutschland hat tatsächlich ein Defizit im Bereich Wochen und Monaten sicherlich noch intensiv Gele- der Klinischen Forschung. Man sollte die Debatte genheit dazu haben, über die embryonale Stammzell- über die Förderung von klinischen Studien in forschung zu diskutieren. An dieser Stelle möchte ich Deutschland aber nicht auf den Bereich der Regene- daher nur kurz darauf hinweisen, dass die großen Po- rativen Medizin beschränken. Dieser Bereich ist sinn- tenziale der adulten Stammzellforschung mit keiner vollerweise auch in das 7. Forschungsrahmenpro- Silbe erwähnt werden. Man könnte meinen, die Fort- gramm aufgenommen worden. schritte in diesem Bereich sind vollkommen an der – „Erweiterung der finanziellen Basis“ FDP vorbeigegangen. Dabei sind hier seit vielen Jah- ren klinische Anwendungen vorhanden, die schon In der Regenerativen Medizin gibt es – wie in fast je- heute den Menschen in unserem Land helfen. dem Forschungsbereich – derzeit noch einen großen Forschungsbedarf. Dass die Bundesregierung hier be- Wir werden unseren Weg daher fortsetzen und die reits sehr aktiv ist, habe ich eingangs schon erwähnt. Stammzellforschung nach Möglichkeit unterstützen, 7736 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

(A) ohne die vom Bundestag definierten ethischen Gren- tende Wissenschaft und Forschung und damit natürlich (C) zen zu überschreiten. auch für Innovationen schaffen. So trägt sie letztendlich Verantwortung für das Entstehen neuer Arbeitsplätze, – „Ängste und Vorbehalte abbauen“ für ein nachhaltiges Wachstum und einen wirklichen Ich kenne bisher niemanden, der Vorbehalte gegen Strukturwandel. Deutschland muss, will es seine Füh- die Regenerative Medizin hegt. Natürlich bewerten rungsposition allein in Europa halten, der Forschungs- viele Bürgerinnen und Bürger die embryonale förderung weitaus größeres Augenmerk als bisher schen- Stammzellforschung kritisch; im Bundestag werden ken. Das ist nicht allein eine Frage des Geldes. Hierzu diese Forschungsansätze ja auch mehrheitlich kritisch wird ein klares Forschungskonzept mit einem Programm bewertet. Wenn man die Forderung an die Bundesre- zur Förderung der Forschung auf dem Gebiet der Rege- gierung aus dem Antrag jedoch so interpretiert, dass nerativen Medizin benötigt. Das kann diese Bundesre- wir in Deutschland das Interesse und den Forscher- gierung derzeit nicht vorweisen. drang in diesem Bereich nach Kräften wecken und Alle bisher gewonnenen wissenschaftlichen Erkennt- fördern sollten, so kann man dieses Ansinnen nur be- nisse und Forschungsergebnisse lassen erwarten, dass grüßen. Allerdings müssen Sie sich die Frage stellen, die Regenerative Medizin einen sehr wichtigen Ansatz ob man Ängste und Vorbehalte „durch bessere Kom- im gesamten Gesundheitsforschungssystem darstellt. munikation“ abbauen sollte oder aber ob man auf die Doch wo Licht ist, ist auch Schatten. Was nutzt die beste Überzeugungskraft der Argumente vertrauen sollte Grundlagenforschung, wenn nicht zugleich die Überfüh- und durch eine solide Bewertung der Chancen der rung der Ergebnisse in klinische Studien ausreichend ge- Regenerativen Medizin die Menschen von diesem fördert wird? Hier fehlt es heute leider noch immer an ei- spannenden Forschungs- und Therapieansatz über- ner strategischen Allianz zwischen staatlicher und zeugen sollte. wirtschaftlicher Forschungsförderung sowie der Finanz- Letztlich geht es aber bei diesen Fragen vor allem um wirtschaft. Pharmakonzerne zeigten sich bislang wenig ethische oder religiös begründete Werthaltungen, die risikofreudig, ebenso wie Geldgeber, die sich in den letz- nicht ohne Weiteres durch „Kommunikation abgebaut“ ten Jahren bei der Finanzierung risikoträchtiger Projekte werden können, sondern Bestandteil intensiver Diskus- kleiner Unternehmen zurückhielten. Anders in Südost- sionen – immer auch vor dem Hintergrund wissenschaft- asien, wo man unter anderem massiv in die Stammzell- licher Fakten und einer umfassenden Technikfolgenab- forschung investiert. schätzung – sein müssen. In einer globalisierten Welt geht alles sehr schnell. Leider wird der FDP-Antrag dieser Zielsetzung nicht Wenn neue Möglichkeiten am Horizont auftauchen, müssen wir sie erkennen und nutzen. Aber wir müssen (B) gerecht. Deshalb – und weil viele Forderungen durch (D) Regierungshandeln bereits erledigt sind – werden wir uns sputen. Ein Bremsklotz ist immer noch das restrik- ihn ablehnen. tive Tarifsystem für Wissenschaftler. Die Möglichkeiten, um internationale Spitzenkräfte an deutsche Universitä- ten und Forschungsinstitute zu binden, sind einfach nicht Cornelia Pieper (FDP): Unter breiten Teilen der Be- gegeben. Daran wird auch die Auflockerung der Befris- völkerung herrscht eine positive Grundstimmung gegen- tungsregelungen wenig ändern. über der Roten Biotechnologie, der Gewinnung von Arz- neien aus gentechnisch veränderten Pflanzen. Längst ist Aber nicht nur an der Finanzierung hapert es. In der anfänglichen Skepsis eine hohe Erwartungshaltung Deutschland wird die Umsetzung guter Forschung auf gefolgt. Daran haben nicht zuletzt die Erfolge mit neuen dem Gebiet der Regenerativen Medizin auch durch ein Pharmazeutika zum Beispiel und neuen stammzellba- dichtes, unübersichtliches Netz von Regelungen er- sierten Therapien einen nicht unerheblichen Anteil. Die schwert. Bei der Einführung neuer Arzneimittel oder Menschen spüren, dass sich eine gezielte biomedizini- Medizinprodukte fehlt der Mut zu Übergangsregelun- sche Forschung den Herausforderungen an die Gesund- gen. heits- und Sozialsysteme, die mit einer steigenden Le- benserwartung einhergehen, stellen kann. Besonders die Doch besonders bei der Forschung an menschlichen Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Regenerativen embryonalen Stammzellen zeigt sich Deutschland, an- Medizin, also zu Prozessen der Zell-, Gewebe- oder Or- ders als etwa Großbritannien oder Schweden, unbeweg- ganfunktion und deren Regenerationsmöglichkeiten, las- lich. Eine Stichtagsregelung erlaubt nur das Arbeiten mit sen erwarten, dass dieser Bereich einen wichtigen Bei- Zelllinien, die vor dem 1. Januar 2002 gewonnen wur- trag für ein gesundes und geistig aktives Leben im Alter den. Inzwischen ist durch die DFG erklärt worden, dass leisten wird. von den vorhandenen Stammzelllinien die Mehrheit durch die Verunreinigung mit Viren nicht mehr verwend- Ich habe mich schon sehr früh mit dieser Thematik bar ist. Andererseits werden deutsche Forscher, die inter- befasst und selbst einige fachpolitische Kongresse hierzu national an Forschungen mit embryonalen Stammzellen durchgeführt. Die Diskussionen mit hochrangigen Wis- arbeiten oder auch nur als Gutachter mitwirken, per Ge- senschaftlern und politischen Entscheidungsträgern setz kriminalisiert. zeigten mir die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges. Jetzt ist es an derZeit – das machte die Dresdner Ta- Liberale stehen für die Freiheit der Forschung im gung der Stammzellforscher im vergangenen Jahr deut- Dienst des Menschen. Eine moderne Forschungspolitik lich –, hierüber wieder neu nachzudenken. Der Präsident muss die Rahmenbedingungen für eine exzellent arbei- der Akademie Leopoldina, der Naturforscher Prof. Dr. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7737

(A) Volker ter Meulen, forderte Bundeskanzlerin Dr. Merkel – Soliden Tumoren (C) auf, Deutschland international konkurrenzfähig zu hal- – also bei festen Geschwülsten – ten und deutsche Forscher nicht länger vom wissen- schaftlichen Fortschritt zu isolieren. Das Bundesministe- – Knochenerkrankungen rium für Bildung und Forschung zeigte sich in dieser Frage bislang sehr unbeweglich. Nun bleibt abzuwarten, – Hauttransplantationen wie auf eine vorsichtige Lockerung des Stammzellim- Die erwähnten Stammzellen sind in der Lage, sich in portgesetzes, so wie es die Vorsitzende des Nationalen Zellen mit festgelegten Funktionen zu verwandeln. Sie Ethikrates, Frau Kristiane Weber-Hassemer, und nun können sich grundsätzlich in Leber-, Muskel-, Herz- und auch der Vorsitzende der EKD, Prof. Dr. Huber, fordern, viele andere Zellarten verwandeln. Embryonale, also vonseiten der Politik reagiert wird. frühe Stammzellen können sich in nahezu alle Zellfor- men verwandeln. Der Antrag der FDP umfasst auch Der Gesetzentwurf der FDP für ein neues Stammzell- diese Art Stammzellen. Dabei wissen wir – die Antrag- importgesetz liegt dem Bundestag zur Entscheidung vor. steller auch –, dass es aktuell darüber erhebliche Diskus- Wir fordern darin die Aufhebung des Stichtages und den sionen gibt, weil Differenzen in der ethischen und recht- Wegfall der Kriminalisierung jener Forscher, die im lichen Bewertung dessen bestehen, dass diese Zellen aus Ausland mit neuen embryonalen Stammzelllinien arbei- Embryonen gewonnen werden. Die Bundesregierung hat ten. den parlamentarischen Kompromiss von 2002 gerade Natürlich kommen auch andere Stammzelltypen für positiv bestätigt. In der Regenerativen Medizin kommen die Forschung infrage. Es wäre eine fatale Fehleinschät- heute jedoch vor allem sogenannte adulte Stammzellen zung der Situation, wenn man sich nur auf einen Stamm- zur Anwendung. Diese existieren organspezifisch in je- zelltyp konzentriert. Die Potenziale der adulten Stamm- dem Körper, sie dienen dort der Erneuerung des Gewe- zellen, der Stammzellen aus Nabelschnurblut und aus bes, Organs etc. Selbst wenn davon auszugehen ist, dass dem Fruchtwasser müssen weiterhin erforscht werden. die Klärung der Anwendung embryonaler Stammzellen Gerade um diesen ganzheitlichen Ansatz geht es der Re- noch nicht abgeschlossen sind, bietet die Regenerative generativen Medizin und in dem Ihnen heute vorliegen- Medizin allein durch Anwendung von adulten Stamm- den Antrag. zellen erhebliches Heilungspotenzial. Dieses sollte un- bedingt weiter erforscht werden. Insofern sind die lau- Dieses Thema ist vor dem Hintergrund der demogra- fenden Programme des Bundes durch Umschichtung von fischen Entwicklung in Deutschland besonders wichtig. Mitteln in den Bereich der Gesundheitsforschung zu ver- Denn mit steigender Lebenserwartung steigen auch die stärken. Diese Ansätze finden im FDP-Antrag allemal Ansprüche an die biomedizinische Forschung, die ein Würdigung; sonst hätte man nicht derart viele wörtliche (B) (D) gesundes, geistig aktives Leben im Alter und letztend- Zitate aus der Internetpräsentation der ministerialen Pro- lich auch einen entscheidenden Beitrag zur Sicherung gramme übernommen. Alles in allem kann den aufge- der Sozialsysteme ermöglichen soll. zählten Einzelmaßnahmen, soweit sie strukturelle, per- sonelle und finanzielle Förderung betreffen, zugestimmt Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Die Deutsche Gesell- werden. schaft für Regenerative Medizin bestimmt ihren Gegen- Der Förderbedarf ist deutlich größer, wie die hohe stand selbst wie folgt: Zahl der Projektablehnungen gezeigt hat. Diese sind Die regenerative nämlich nur auf mangelnde Qualität zurückzuführen. – also erneuernde bzw. wiederherstellende – Weiteren Diskussionsbedarf sehen wir in folgenden Fragen: Medizin ist ein neuer biomedizinischer Forschungs- bereich, zu dem unter anderen die Stammzell- – Wie hoch ist das Potenzial der Regenerativen Medi- forschung und das Züchten von Gewebe- und Zell- zin zur Bekämpfung der Ursachen von Krankheiten? verbänden gehören. Im Kampf gegen schwere und Ist sie nicht gleichermaßen als Weg zur Bekämpfung bislang nicht heilbare Krankheiten erlangen von Krankheitssymptomen zu fördern? Wenn ja, wel- Stammzellen zunehmend an Bedeutung. Stammzel- cher weiterführenden Projektförderung bedürfte es? len werden heute bereits bei schweren Krebserkran- – Welche Veränderungen innerhalb des Gesundheits- kungen erfolgreich eingesetzt. systems sind notwendig, um heute bereits ange- In der Zukunft bieten Stammzellen große Hei- wandte Stammzelltherapien als Leistung der gesetzli- lungschancen bei: chen Kassen zu finanzieren. Gegenwärtig ist die Finanzierung großteils abhängig von Stiftungen, – Herzerkrankungen Selbstzahlung, Spendern und der wirtschaftlichen – Autoimmunerkrankungen Leistungsfähigkeit der ausführenden Behandlungs- einrichtung. Die Therapie selbst verursacht punktuell – Krankheiten in denen das eigene Immunsystem kör- erhebliche Kosten. Aber prozessual gesehen sind die pereigenes Gewebe als Fremdes ansieht und bekämpft – Folgekosten, die Kosten für die Nachbehandlung er- – Nervenerkrankungen heblich geringer, weil beispielsweise die Gabe teurer Medikamente zur Minimierung von Abstoßungsreak- – Chronisch entzündlichen Erkrankungen tionen entfallen. Generell müssen die bereits ange- 7738 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

(A) wandten Stammzelltherapien in die Fallpauschalen terdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener fachwis- (C) und in die Sachleistungen der gesetzlichen Kranken- senschaftlicher Bereiche verstärkt werden sollte. versicherungen aufgenommen werden. Aber natürlich haben wir auch Kritik an dem Antrag. – Welche Impulse erhält die Regenerative Medizin aus Die FDP führt sehr viele positive Beispiele in Hinblick nanotechnologischen Entwicklungen im Pharma- und auf therapeutische Anwendungsmöglichkeiten und For- im medizinisch-technischen Bereich? schungserfolge in dem Bereich der Regenerativen Medi- zin auf, die eine stärkere Förderung rechtfertigen. Kein – Aus welchen Regelungen des neuen Gewebegesetz- einziges dieser Beispiele bezieht sich dabei auf embryo- entwurfes ergeben sich Probleme für die Entwicklung nale Stammzellen. Völlig unklar bleibt das plötzliche der Regenerativen Medizin und ihr Potenzial, die Bedürfnis der FDP in ihrem Forderungsteil, dass die Fremdspenden für Organersatz zu reduzieren? Bundesregierung die Förderung der Forschung mit hu- manen embryonalen Stammzellen nicht weiter behin- – Unter welchen Bedingungen sollten in diesem höchst dern, sondern unterstützen solle. Ich frage mich doch, sensiblen Bereich kommerzielle Anbieter gefördert wie die FDP diese Forderung begründet, ohne konkrete werden? Forschungserfolge und Beispiele auf dem Gebiet der embryonalen Stammzellforschung zu nennen. – Welche konkreten Folgen – auch einschränkende – ergeben sich für diesen Bereich aus dem Kompromiss Ihnen wird diese Woche nicht entgangen sein, dass des 7. EU-Forschungsrahmenprogramms zum Um- der Zweite Erfahrungsbericht der Bundesregierung zum gang mit embryonalen Stammzellen. Stammzellgesetz und die jüngste Ausarbeitung des wis- senschaftlichen Dienstes zeigen, dass sich die bisherige Abschließend ist anzumerken, dass die Gesundheits- Regelung für die embryonale Stammzellforschung be- forschung insgesamt einer deutlich besseren Finanzaus- währt hat. Es schadet eindeutig der Regenerativen Medi- stattung bedarf. Die Gesundheitsforschung muss über zin, wenn sie immer wieder auf die embryonale Stamm- den Bereich der Regenerativen Medizin hinaus auch Di- zellforschung reduziert wird. Dazu trägt auch die FDP agnose- und Therapieverfahren entwickeln. Kranken immer wieder bei, indem sie unter dem Vorwand, der Menschen soll mit neuen, effektiveren Verfahren Regenerativen Medizin dienen zu wollen, eine Ände- schneller und weniger belastend geholfen werden kön- rung der rechtlichen Grundlagen im Bereich der embryo- nen. Weit verbreitete Krankheiten wie Diabetes, Herz- nalen Stammzellforschung einfordert. Regenerative Me- Kreislauf-Krankheiten oder auch Demenzerkrankungen dizin ist weit mehr als das. Die Wiederherstellung (B) führen zu einschneidenden, teils dramatischen sozialen funktionsgestörter Zellen, Gewebe und Organe geschieht (D) Folgen für die Betroffenen und ihre Familien. Neben durch den biologischen Ersatz, beispielsweise mithilfe diesen persönlichen Schicksalen binden diese Volks- gezüchteter Gewebe, aber auch durch die Anregung kör- krankheiten erhebliche volkswirtschaftliche Ressour- pereigener Regenerations- und Reparaturprozesse. cen. Nicht zuletzt muss sich die Gesundheitsforschung mit den Entstehungsursachen von Krankheiten ausein- Die Prinzipien der Regenerativen Medizin werden andersetzen. Vor diesem Hintergrund können Wege zu mit bewährten Methoden in der Stammzelltransplanta- effektiverer Prävention konzipiert werden, die allen tion bereits seit mehr als vierzig Jahren erfolgreich zur Menschen, unabhängig von ihrer sozialen Situation, of- Behandlung von Leukämien und Lymphomen einge- fenstehen müssen. setzt; auch in der Gewebe- und Organtransplantation all- gemein wurden in den letzten Jahren große Fortschritte erzielt. Daher ist eine aus der Luft gegriffene Forderung Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNISS 90/DIE GRÜ- nach Lockerung des Stammzellgesetzes haltlos. NEN): Die Regenerative Medizin gehört innerhalb der Biomedizin zu den Gebieten mit großer Entwicklungs- Wir fordern eine klare Grenzziehung in den Berei- dynamik und hat in der Gesundheitsforschung eine viel chen, wo Forschung in der Regenerativen Medizin Bio- versprechende Zukunft. Deshalb brauchen wir innova- ethik betrifft. Wir wollen eine Stärkung der Forschung in tive Lösungsansätze und einen effektiven Austausch von der Regenerativen Medizin. Aber auch muss gelten: Erkenntnissen zwischen den Disziplinen der grundlagen- Menschenwürde und Menschenrechte müssen gewahrt und anwendungsorientierten biomedizinischen For- sein und haben Vorrang vor Forschungs- und Kommer- schung, um neue Therapien unter anderem auch für bis- zialisierungsinteressen. Darum muss man bei der Zulas- her unheilbare Krankheiten verfügbar zu machen. sung, der Produktion und Anwendung dieser neuer The- rapien immer auch die Sicherheit der Patientinnen und In diesem neuen fachübergreifenden Forschungsge- Patienten im Blick haben. Dabei ist den Besonderheiten biet fließen Entwicklungen auf den Gebieten der Mate- der Regenerativen Medizin Rechnung zu tragen. rialwissenschaft, der Biotechnologie und Biophysik, der Nano- und Mikrotechnologie, der Informationstechnolo- Nicht jede Regelung des Arzneimittelrechtes, das ins- gie sowie der allgemeinen Medizinforschung und der besondere hinsichtlich der Anforderungen auf herkömm- Molekularbiologie zusammen. Wir unterstützen die Mei- liche Arzneimittel ausgerichtet ist, kann/muss erfüllt nung der FDP, dass der Bedarf an Forschung auf dem werden. Gleichzeitig ist zu prüfen, ob zusätzliche Gebiet der Regenerativen Medizin groß ist und eine in- Schutzregelungen notwendig sind. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7739

(A) Anlage 4 sich die Kollegen von der Fraktion Die Linke die Zu- (C) kunft der Entlastung von Altschulden vorstellen, geht es Zu Protokoll gegebene Reden leider nicht. Ihre Argumentation ist, mit Verlaub, in zur Beratung des Antrags: Generelle Altschul- höchstem Maße populistisch, ohne Berücksichtigung der denentlastung auf dauerhaft leer stehende Woh- gesamtgesellschaftlichen Erfordernisse. Auch ein rei- nungen (Tagesordnungspunkt 27) ches Land wie die Bundesrepublik Deutschland hat Grenzen der Finanzierbarkeit. Jeder Euro kann nur ein- mal ausgegeben werden. Vor allem sollte Ihr Vorschlag Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU): Meist kämpfe ich auch finanzierbar sein. Auch heute in der Debatte haben ja mit Wortungetümen wie Infrastrukturplanungsbe- Sie keinen Vorschlag zur Gegenfinanzierung gemacht. schleunigungsgesetz oder CO2-Gebäudesanierungspro- gramm. Die muss man nach einigem Luftholen immer Zu dem Ergebnis, dass Ihr Antrag nicht finanzierbar erst erklären, damit jedermann verständlich wird, was sie ist, kam der Finanzausschuss des Deutschen Bundesta- Gutes bewirken. Nun komme ich zu Straßen, Häusern ges in seiner 28. Sitzung am 27. September 2006. und Wohnungen. Seit den 90er-Jahren mussten wir in Meine Damen und Herren von der Fraktion Die den neuen Ländern aufgrund des demografischen Wan- Linke, denken Sie bitte auch an die vielen anderen Hilfs- dels und wirtschaftlicher Veränderungen eine drastische maßnahmen, die den Stadtumbau Ost flankieren und fi- Zunahme des Wohnungsleerstandes beobachten. Diesem nanziert werden. Wollen Sie zur Gegenfinanzierung konnte mit dem Programm Stadtumbau Ost sehr erfolg- etwa die Mittel für andere Maßnahmen kürzen oder ha- reich entgegengewirkt werden, das ostdeutsche Städte ben Sie die zusätzlichen 280 Millionen Euro, die dies und Gemeinden vor allem für junge Menschen attrakti- kosten würde, denn schon zur Hand – oder andere Geld- ver machen soll. Die Initiative dazu kam aus Thüringen, quellen? was ich als Ostthüringer natürlich nicht verschweigen möchte. Stadtstrukturen und Wohnungswirtschaft profi- Aber Spaß beiseite: Wir sind uns alle einig, dass das tierten deutlich von den strukturpolitischen Maßnahmen Problem der DDR-Schulden gelöst werden muss. Und des Programms. die Mittel für Altschuldenhilfe wurden über die Jahre so- gar mehrfach aufgestockt. Aber wer hat die Schulden Der Stadtumbau Ost wird durch vielfältige Maßnah- seinerzeit denn angehäuft? Das müssen Sie sich all men ergänzt. Dazu gehört auch die Altschuldenentlas- Rechtsnachfolger der SED zu Recht fragen lassen. In Ih- tung, über die ich heute sprechen möchte. Ab 1993 rem Antrag vermisse ich jegliche Erklärung, wie denn konnten mit Mitteln des Solidarpakts I ostdeutsche Woh- die – wie Sie es selbst nennen – willkürlichen Altschul- nungsunternehmen, aber auch private Vermieter von der den überhaupt entstanden sind und die Wohnungsunter- Hälfte der aus DDR-Zeiten stammenden Baukredite (B) nehmen in die prekäre Lage kommen konnten. Und Ihr (D) – rund 28 Milliarden Euro – entlastet werden. Weil die genereller Ansatz, werte Kollegen von der Linken ist Leerstände weiter zunahmen, bedurfte es 2000 der Ein- eben auch sozialpolitisch nicht der richtige. Mit uns wird führung einer Härtefallregelung für Wohnungsunterneh- er nicht machbar sein, weil unser Verständnis von der men, die durch einen Leerstand von mehr als 15 Prozent Umsetzung sozialer Verantwortung ein anderes ist. in ihrer Existenz gefährdet sind. Dies war und ist wich- tig, um die Wohnungswirtschaft liquide zu machen und Soziale Verantwortung ausfüllen, bedeutet, differen- dadurch stabilisieren zu helfen. Das heißt für die Alt- ziert zu betrachten und zu regeln, nicht blinde Gleichma- schuldenhilfe: Das Gute daran ist das Gute darin. Alt- cherei oder Gießkannenprinzip, die Ihr Vorschlag impli- schuldenentlastung, in der Form wie wir sie wollen, be- ziert. Wohnungswirtschaft ist eben auch Wirtschaft. deutet schlicht: Wenn der Leerstand existenzbedrohende Wirtschaft funktioniert nach Gesetzmäßigkeiten. Sie Ausmaße annimmt, sollen die betroffenen Wohnungsun- nützt den Menschen, wenn man sie vernünftig handhabt. ternehmen von Altverbindlichkeiten auf dauerhaft leer- Schauen Sie sich doch die ökonomische Aufwärtsent- stehende, abzureißende Wohnungen entlastet werden. wicklung und die sinkenden Arbeitslosenzahlen an. Sol- che Erfolge erreichen Sie nicht durch undifferenzierte Wer weniger als 15 Prozent Leerstand aufzuweisen Gleichmacherei. hat, muss nicht darben und kann für verbliebene Schuld selbst aufkommen. Alles in allem eine faire Regelung, Stattdessen muss man, um bei den Altschulden zu die sich bestens bewährt hat und weiterverfolgt werden bleiben, diejenigen von Ballast befreien, die ihn nicht sollte. Zurückgehende Leerstandsdaten, stabile Mieten mehr selbst schultern können. Auf die Befreiung von und die bessere Bonität sind Beleg für die deutliche Sta- Ballast kommt es an. Lasten schleppt unser Land noch bilisierung der Wohnungswirtschaft in den zurückliegen- aus jüngster Vergangenheit zur Genüge mit sich, nicht den sieben Jahren seit Einführung der Härtefallregelung. zuletzt aus der Zeit, als wir gerade nicht in der Regie- In Thüringen beispielsweise stieg 2002 die Zahl der rungsverantwortung waren: finanziell wie strukturell. Leerstände erstmals nicht weiter an. Natürlich muss man All diese Probleme müssen wir in ihrer Gesamtheit be- die Entwicklung weiterverfolgen und, wenn nötig, Maß- wältigen. nahmen modifizieren. Gestatten Sie mir noch einen letzten Gedanken. Man Sicherlich könnte es sinnvoll sein, über den Kreis der mag vom Arbeitslosengeld II halten, was man will: Die zu Fördernden nachzudenken; denn oft erfolgt der Ab- Bundesregierung hat dafür gesorgt, dass Hartz-IV-Emp- riss von Wohnungen auch ohne eine zusätzliche Alt- fänger die nötigen Wohnkostenzuschüsse erhalten. Den- schuldenhilfe. Eines ist aber in jedem Fall klar: So, wie ken wir da doch einmal weiter: Die Finanzierung dafür 7740 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

(A) geht auch zulasten der Kommunen. Aber wenn sich die eins-Entlastung der für den Abriss vorgesehenen Woh- (C) Menschen eine Wohnung leisten können, erreichen wir nungen ein wichtiger Schritt zur Konsolidierung der eine ordentliche Wohnraumauslastung insbesondere im Wohnungswirtschaft im Osten getan. niedrigen Segment. Gerade in den letzten Monaten ha- Ihr Antrag negiert jedoch all diese Bemühungen und tut ben viele – aus welchen Gründen auch immer – wieder so, als gäbe es keine Unterschiede im Leerstand und damit eine eigene Wohnung bezogen. Und viele Wohnungen auch in der Wirtschaftlichkeit zwischen den Wohnungs- sind nun einmal auch im Besitz kommunaler Wohnungs- unternehmen. In all Ihren Anträgen scheinen Sie die unternehmen. Das eine hängt am anderen. Die erfreuli- Vorstellung zu haben, dass der Bund eine unendliche chen Fakten bleiben. Geldquelle ist und man ohne Differenzierungen und Stadtumbau Ost und Altschuldenentlastung sind Teil Abwägungen Millionen verteilen könnte. eines großen Ganzen, das ich auf eine einfache Formel Würde man dem Argument stattgeben, würde man bringen möchte: Ost und West haben voneinander lernen eine Lawine lostreten; denn es wird auch in den folgenden gelernt, und zwar zum beiderseitigen Nutzen. Sehen wir Jahren immer wieder Wohnungsunternehmen geben, die den Aufbau Ost doch als einen Zug, auf den wir zusam- zunehmenden Leerstand aufweisen werden, bevor sie men aufgesprungen sind. Die Fahrt geht seit jüngstem ihre Kredite getilgt haben. Das kann nicht der Sinn einer wieder in Richtung Wirtschaftsaufschwung, Mobilität, gezielten Förderung durch den Staat sein. Auch die Familie und soziale Sicherheit. Was als Anschub für den Wohnungsunternehmen müssen ihren Beitrag leisten, Strukturwandel in den neuen Bundesländern installiert das heißt, vorausschauend planen und frühzeitig auf wurde, setzt nun Standards im gesamten Bundesgebiet. absehbare Änderungen der Wohnbedürfnisse reagieren, Das ist ein weiterer Mosaikstein in einer Gesamtent- und ich weiß auch, dass die Wohnungsunternehmen das wicklung der Bundesrepublik, die ich ausgesprochen po- können. Mir ist kein Fall bekannt, in dem ein Unternehmen sitiv sehe. Das lässt unser Land enger zusammenwach- nur wegen der Altschulden Konkurs anmelden musste. sen. Lassen Sie uns in diesem Sinne gemeinsam weiter Dass für solche Forderungen das vorhandene Budget bei Gleis an Gleis und Stein auf Stein setzen. Deswegen weitem nicht ausreicht, dürfte bei Ihnen noch nicht ange- kann meine Fraktion dem vorliegenden Antrag nicht zu- kommen sein. stimmen. 358 Millionen Euro betrug die Ausgangssumme, die für die Altschuldenhilfe zur Verfügung gestellt wurde. Ernst Kranz (SPD): Die Altschuldenproblematik Bis zum Fristende am 31. Dezember 2003 haben mehr stellt ohne Zweifel ein großes Problem der ostdeutschen als 300 Unternehmen ihren Antrag auf Unterstützung be- Wohnungswirtschaft dar. Jedoch wurde mit den durch willigt bekommen. Um jedoch all jene Altschulden bedie- (B) die Bundesregierung eingeleiteten Maßnahmen den nen zu können, für die fristgerecht Hilfe beantragt wurde, (D) ostdeutschen Wohnungsunternehmen entsprechend den haben wir die Mittel auf inzwischen 1,146 Milliarden Notwendigkeiten intensiv geholfen. Genannt seien hier Euro aufgestockt. Wir haben also die ursprüngliche die Schuldenerleichterungen für den Rückbau betroffener Summe um mehr als das Dreifache erhöht, damit alle Wohnungseigentümer entsprechend der Antragstellung Antragsteller vollständig bedient werden können. im Jahr 1993. Aufgrund des in den vergangenen Jahren hohen Mittel- Das Altschuldenhilfeprogramm beinhaltete eine Zins- abrufs – höher als ursprünglich geplant – haben wir hilfe bzw. eine Teilentlastung durch Übernahme der Umschichtungen vorgenommen und Mittel, die für die Altverbindlichkeiten aus Wohnungsbaukrediten zum späte Phase geplant waren, nach vorne gezogen, um eine 1. Juli 1995, die den Betrag von 76,69 Euro je Quadrat- zeitgerechte Auszahlung zu bewerkstelligen. Das gilt meter Wohnfläche überstiegen. Es wurden Zinshilfen in bereits für das Haushaltsjahr 2007. Höhe von 2,6 Milliarden Euro und Teilentlastungen in Höhe von 14,2 Milliarden Euro gewährt. Ein weiterer Ich denke, Sie verkennen die Anstrengungen, die der wichtiger Schritt war im Rahmen der Novellierung des Bund hier und beim Stadtumbau Ost insgesamt geleistet Altschulden-Hilfegesetzes die Härtefallreglung nach § 6 a, hat. Das Programm Stadtumbau Ost, in dessen Rahmen die die eine Restschuldenübernahme bei Existenzgefährdung Altschuldenhilfe gewährt wird, ist erfolgreich. Bis heute vorsieht. Hier sind wir wohl auch bei dem entscheiden- wurden 170 000 Wohnungen zurückgebaut. Das ist knapp den Punkt Ihres Antrages. die Hälfte der geplanten 350 000 Wohnungen, die bis 2009 zurückgebaut werden sollen. Für rund 136 000 Woh- Aber auch nach Einschätzung des Gesamtverbands nungen wurde bislang Altschuldenhilfe gewährt. der deutschen Wohnungswirtschaft haben sich Woh- Für den Zeitraum 2002 bis 2009 stehen für den Stadt- nungsmarkt und Wohnungswirtschaft infolge der geför- umbau Ost insgesamt 2,5 Milliarden Euro zur Verfü- derten Abrisse im Rahmen des Programms Stadtumbau gung, davon 1 Milliarde Euro allein vom Bund. 850 Mil- Ost stabilisiert. Leerstände gehen zurück, und die Mieten lionen Euro wurden bislang für den Rückbau ausgegeben, sind stabil. Die Bonität hat sich bei der Beurteilung der davon die Hälfte vom Bund, 775 Millionen Euro flossen Gläubigerbanken verbessert. Davon profitieren alle in die Aufwertung von Stadtquartieren, davon 259 Mil- Wohnungsunternehmen. Vor diesem Hintergrund lässt lionen Euro vom Bund. sich eine weitere Altschuldenentlastung über den Kreis der existenzgefährdeten Unternehmen hinaus nicht mehr Mit dem Stadtumbauprogramm Ost wird ein effektives rechtfertigen. Nicht zuletzt durch das sehr erfolgreiche Programm zur Stabilisierung des ostdeutschen Wohnungs- Programm Stadtumbau Ost wurde durch die Eins-zu- marktes vom Bund angeboten und von den Kommunen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7741

(A) und der Wohnungswirtschaft auch angenommen, und antwortungsbewusste kommunale Verantwortungsträger (C) das betrifft mehr und mehr auch die westdeutschen umzusetzen, wird voll Rechnung getragen. Kommunen und Wohnungsunternehmen. War der hohe Leerstand in den ostdeutschen Bundesländern ein The- Der von der Koalition kürzlich verabschiedete Gesetz- menschwerpunkt und Auslöser des Programms, so wurden entwurf zur Erleichterung von Planungsvorhaben in in den Folgejahren mehr und mehr auch andere wohnungs- Innenstädten geht hier bereits in die richtige Richtung; wirtschaftliche Stadtentwicklungsaspekte zu Themen des denn damit sollen seit Jahresbeginn Brachflächen in der Programms. Innenstadt bei der Planung vorrangig berücksichtigt wer- den, das heißt bevor Flächen im Außenbereich zur Mit der Aufnahme des Stadtumbaus Ost in das Bau- Bebauung frei gegeben werden. Es sollen und dürfen, so gesetzbuch wurde der Bedeutung des Programms und weit dies möglich ist, keine Lücken im Ausnutzungsgrad seinen zu berücksichtigenden Wirkungsmechanismen in der technischen Infrastruktur entstehen, um die Kosten der Praxis Rechnung getragen. Mehr und mehr gilt es, der Wartung und des Betriebs für die übrigen Nutzer den Aufwertungsteil des Programms in Verbindung mit nicht unnötig zu erhöhen. anderen Programmen wie mit dem der Sozialen Stadt zum Um- und Ausbau auch der sozialen Infrastruktur ef- Wir begrüßen die eindeutige Zusage des Ministers zur fektiv zu nutzen. Fortführung des Programms über das Jahr 2009 hinaus, und wir unterstützen auch die anstehende Evaluation des Das Programm Stadtumbau Ost wurde so angelegt, Programms Stadtumbau Ost und wollen uns aktiv in den dass die Erfahrungen aus der Praxis wieder in das Pro- gramm einfließen können. So werden die Verwaltungs- Prozess einbringen. Im Ergebnis dieses Prozesses wün- vereinbarungen, die jährlich zwischen Bund und Ländern schen wir uns ein Programm, das die künftigen Ziele abgeschlossen werden, stets den neuen Erfordernissen klar definiert und möglichst unbürokratisch ist und das angepasst. viele Varianten und Möglichkeiten zum Erreichen dieser Ziele zulässt. Nur so lassen sich neue und unterschiedli- In 2006 wurden zusätzlich 20 Millionen Euro aufge- che, den Regionen und Bedürfnissen entsprechende Er- bracht, um beim Rückbau die Belange der technischen fahrungen machen. Infrastruktur stärker als bisher miteinzubeziehen; denn noch vorhandene, aber nicht hinreichend genutzte Infra- Wir freuen uns auf diese neuen Erfahrungen. Viel- struktur verteuert die Ent- und Versorgungsgebühren für leicht ist eine davon bereits die frühzeitige Einbeziehung die verbliebenen Bewohner. des Ausschusses des Bundestages in den Evaluations- prozess. Diesen Bereich werden wir im Blick behalten müssen (B) und beobachten, inwieweit die technische Infrastruktur so (D) in den Rückbau einbezogen wird, dass das verbliebene Joachim Günther (Plauen) (FDP): Die Probleme System dem Kriterium der Nachhaltigkeit standhält. und das Anliegen, mit dem sich der hier zu behandelnde Durch den Rückbau dürfen keine unnötigen Folgekosten Antrag der Linken befasst, sind uns allen wohlbekannt. entstehen, sei es für die im Quartier verbliebenen Nutzer Wir haben sie immer wieder im Zusammenhang mit dem der Infrastruktur oder den Staat als Gesamtheit der Steuer- Thema „Stadtumbau Ost“ behandelt und wissen deshalb zahler. sehr genau, dass die hohen Leerstandsquoten in struktur- schwachen Gebieten nach wie vor ein Problem für die Wie sich an vielen Stellen nachweisen lässt, hat die betroffenen Städte, aber auch für die konkret betroffenen Bedeutung des Programms Stadtumbau Ost in seiner Wohnungsunternehmen sind. Die Ertragskraft der be- Vielfalt zugenommen. Nicht nur, dass wir es von Anfang troffenen Wohnungsunternehmen ist dadurch ge- an aufgrund der engen Anlehnung an ein Stadtentwick- schwächt, und mitunter ist sogar ihre Unternehmensexis- lungskonzept mit einem Programm zu tun hatten, das die tenz gefährdet. Ebendiese Gründe waren es unter Gesamtheit der Stadtentwicklung umfasst, sondern es anderem, die im Jahre 2000 die Novellierung des Alt- werden auch zunehmend neue Themen wie die demogra- schulden-Hilfegesetzes erforderlich machte und die fische Entwicklung zu einem Aspekt des Programms. schließlich zu der Härtefallregelung des § 6 a Altschul- Weiterhin bedient das Programm vor allem die Bedürf- den-Hilfegesetz führte. Wir hatten seinerzeit schon kei- nisse und Bedeutung der Entscheidungen vor Ort. Es ist nen Zweifel daran, dass den Wohnungsunternehmen mit sehr stark angelehnt an die Spezifika der regionalen Ent- hohen Leerständen, insbesondere in strukturschwachen wicklung. Gebieten, geholfen werden muss, da sich ihre wirtschaft- Auf eine weitere wichtige Entscheidung aus den letzten liche Situation immer mehr verschlechterte. Insgesamt Wochen und Monaten möchte ich noch kurz eingehen. 418 Unternehmen haben bis zum Ablauf der Antragsfrist Die Ausklammerung der Wohnimmobilien aus dem am 31. Dezember 2003 Anträge auf zusätzliche Teilent- neuen Immobilienfinanzierungsinstrument REITs war lastung von den wohnungswirtschaftlichen DDR-Alt- für uns eine wichtige Entscheidung. Damit konnte verhin- schulden gestellt. Bis zum Jahre 2006 sind bereits über dert werden, dass eine bloße Sanierung zwecks Gewinn- 500 Millionen Euro an Wohnungsunternehmen geflos- maximierung gegen die Interessen der Mieter passiert. sen, die Wohnungen abreißen mussten. Bis 2010 will der Der Zielstellung, die wir mit dem Stadtumbau Ost Bund nach heutiger Lage weitere 650 Millionen Euro verfolgen, den Erhalt der Substanz und Modernisierung zur Verfügung stellen. Daneben wurden aus Bundesmit- entsprechend den Ansprüchen der Mieter im Rahmen teln insgesamt circa 550 Millionen für die Stadtumbau- der vorhandenen Stadtentwicklungskonzepte durch ver- programme zur Verfügung gestellt. 7742 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

(A) Ich habe durchaus ein gewisses Verständnis dafür, Härtefallregelung nach § 6 a Altschulden-Hilfegesetz spa- (C) dass es Stimmen gibt, die eine Einbeziehung der Alt- ren. schuldenproblematik für alle am Stadtumbau Beteiligten wünschen; denn es ist sicher nicht so ohne Weiteres ein- Ich bin dagegen nicht der Meinung der Linkspartei, zusehen, ein Gebäude abzureißen und dafür hinterher dass der weitere Stadtumbau Ost ohne eine sofortige weitere Altkredite bedienen zu müssen. Klärung der Altschuldensituation gefährdet ist. Er wird ganz sicher erschwert; aber er ist nicht insgesamt gefähr- Wenn ich mir den Haushalt 2007 vor Augen halte, det. dann ist schon die große Summe von 223 Millionen Euro nach der obengenannten Härtefallregelung veran- Angesichts der aktuellen Leerstandszahlen in Ost- schlagt. Eine darüberhinausgehende Belastung des Bun- deutschland müssen wir uns auch darüber unterhalten, deshaushaltes ist nicht angebracht. Dies wäre jedoch so, wie der aus meiner Sicht mittlerweile zu hohe Anteil der würde man dem hier gestellten Antrag folgen und auf die Abrisse und der zu geringe Teil der Aufwertungen wie- Voraussetzung des 15-prozentigen Leerstands verzich- der auf ein vernünftiges und den Zielen des Stadtumbaus ten. Vielmehr sind hier nun der unternehmerische Geist besser dienendes Maß gebracht werden kann. sowie das Zusammenspiel aller am Stadtumbau Beteilig- Gerade eine verstärkte Aufwertung bedarf jedoch ei- ten gefragt. Wir sollten auch abwarten, inwieweit sich ner vorherigen Klärung der Schuldensituation der Woh- die erfreulicherweise angesprungene Konjunktur auf die nungsbaugesellschaften; also ist die weitere intensive Wirtschaftskraft der Wohnungsunternehmen sowie auf Behandlung des Themas unerlässlich. den Wohnungsmarkt auswirken wird. Aus den genann- ten Gründen lehne ich den Antrag der Linken ab. Ich hoffe, dass der Antrag den Anstoß zu einer umfas- senderen Diskussion über die Altschuldenproblematik in diesem Hause gibt. Unsere Fraktion wird daher dem An- Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich trag der Linkspartei – trotz einiger kleiner Bedenken – stimme mit der Kollegin Heidrun Bluhm ausdrücklich zustimmen. überein, dass die Altschuldenproblematik seit vielen Jahren ein großes Ärgernis darstellt, das übrigens nicht nur viele Betriebe der Wohnungswirtschaft, sondern Anlage 5 auch der Landwirtschaft immer wieder existentiell be- droht. Amtliche Mitteilungen Auch im Nachhinein erschließt es sich mir immer Der Bundesrat hat in seiner 829. Sitzung am 15. De- noch nicht, warum diese Unternehmen überhaupt für die zember 2006 den Beschluss gefasst, eine gemeinsame (B) zu DDR-Zeiten willkürlich aufgeteilten Schulden haften Kommission aus Mitgliedern des Bundestages und des (D) müssen. Hier haben offensichtlich die damaligen Ver- Bundesrates zur Modernisierung der Bund/Länder- handler des Einigungsvertrages Schäuble und Krause Finanzbeziehungen (Bundesratsdrucksache 913/06 [Be- schlichtweg geschlafen, die Konsequenzen nicht über- schluss]) einzusetzen. schaut bzw. überschauen wollen. Ferner hat er beschlossen, den nachstehenden Geset- Also muss sich der Deutsche Bundestag in schöner zen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Regelmäßigkeit mit diesem Thema beschäftigen, und Abs. 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen: wir ostdeutschen Abgeordneten müssen unseren west- deutschen Kollegen mühsam erklären, warum wir über- – Gesetz über die Feststellung des Bundeshaushalts- haupt ein Altschulden-Hilfegesetz brauchen und warum plans für das Haushaltsjahr 2007 (Haushaltsgesetz wir um die Einstellung von neuen Haushaltsmitteln wer- 2007) ben. – Erstes Gesetz zur Änderung des Vorläufigen Ta- Diese Situation ist unhaltbar, schon wenn wir uns al- bakgesetzes leine die über die letzten Jahre aufgelaufenen Zinslasten – Gesetz zur Umsetzung der Regelungen über die aus diesen Altschulden anschauen. Insofern wäre eine Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei einer Ver- einmalige große Anstrengung und eine Ablösung dieser schmelzung von Kapitalgesellschaften aus ver- Altschulden durch den Bund der beste und für alle Betei- schiedenen Mitgliedstaaten ligten eleganteste Weg. – Gesetz zur Reform des Personenstandsrechts (Perso- Der Teufel liegt natürlich im Detail. Wir wissen nicht nenstandsrechtsreformgesetz – PStRG) genau, welche Altschulden wo und in welcher Höhe vor- handen sind. Darüber schweigt sich auch der Antrag der – Erstes Gesetz zur Änderung des Versorgungs- Linkspartei aus. Außerdem stellt sich natürlich auch die rücklagegesetzes Frage, wie sich diese Altschulden von den anderen – Gesetz über die Statistik der Verdienste und Arbeits- Schulden der Betroffenen im Nachhinein sauber abgren- kosten (Verdienststatistikgesetz – VerdStatG) zen lassen. – Gesetz zur Änderung des Eichgesetzes Wir brauchen jedoch eine endgültige und ganzheitli- che Regelung der Altschulden, dann können wir uns – Gesetz zur Änderung des Transparenzrichtlinie- künftig auch Diskussionen über den Sinn und Unsinn der Gesetzes Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7743

(A) – Gesetz zur Erleichterung von Planungsvorhaben – Gesetz zur Errichtung gemeinsamer Dateien von Po- (C) für die Innenentwicklung der Städte lizeibehörden und Nachrichtendiensten des Bundes und der Länder (Gemeinsame-Dateien-Gesetz) – Gesetz zu dem Übereinkommen Nr. 170 der Inter- nationalen Arbeitsorganisation vom 25. Juni 1990 – Gesetz zur Ergänzung des Terrorismusbekämpfungs- über Sicherheit bei der Verwendung chemischer gesetzes (Terrorismusbekämpfungsergänzungsge- Stoffe bei der Arbeit setz) – Gesetz zu dem Partnerschafts- und Kooperations- – Siebtes Gesetz zur Änderung des Stasi-Unterla- abkommen vom 11. Oktober 2004 zur Gründung gen-Gesetzes einer Partnerschaft zwischen den Europäischen – Zweites Gesetz zur Modernisierung der Justiz Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einer- (2. Justizmodernisierungsgesetz) seits und der Republik Tadschikistan andererseits – Gesetz über die Durchsetzung der Verbraucher- – Gesetz zu dem Abkommen vom 14. März 2006 schutzgesetze bei innergemeinschaftlichen Verstö- zwischen der Bundesrepublik Deutschland und ßen der Französischen Republik über den Bau einer Eisenbahnbrücke über den Rhein bei Kehl Darüber hinaus hat er die nachstehende Entschlie- – Gesetz zu dem Vertrag vom 2. März 2005 zwi- ßung gefasst: schen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Jemen über die Förderung und den ge- 1. Zu Artikel 1 (§ 2 Nr. 1 Buchstabe a VSchDG) genseitigen Schutz von Kapitalanlagen Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, die vorge- – Gesetz zu dem Abkommen vom 16. Juni 2005 zwi- sehene Zuständigkeit der Länder für die in Umset- schen der Bundesrepublik Deutschland und der zung der Preisangabenrichtlinie erlassenen Vorschrif- Arabischen Republik Ägypten über die Förde- ten in Abstimmung mit den Ländern auf ihre rung und den gegenseitigen Schutz von Kapital- Vollzugstauglichkeit und Praktikabilität zu überprü- anlagen fen und als Ergebnis dieser Überprüfung binnen ei- nes Jahres ab Inkrafttreten des Gesetzes einen Vor- – Gesetz zu dem Vertrag vom 19. und 20. April 2005 schlag für eine Neuregelung vorzulegen. zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Islamischen Republik Afghanistan über die 2. Zu Artikel 1 (§ 3 Abs. 2 – neu – VSchDG) (B) Förderung und den gegenseitigen Schutz von Ka- a) Der Bundesrat begrüßt, dass sein Anliegen (Bun- (D) pitalanlagen desratsdrucksache 538/06 – Beschluss –, Ziffer 2) zur regelmäßigen Information der für den Ver- - Gesetz zu dem Vertrag vom 10. August 2005 zwi- braucherschutz zuständigen Obersten Landesbe- schen der Bundesrepublik Deutschland und der hörden aufgegriffen wurde. Das Anliegen des Demokratischen Republik Timor-Leste über die Bundesrates ist jedoch durch die in Artikel 1 § 3 Förderung und den gegenseitigen Schutz von Ka- Abs. 2 – neu – VSchDG vorgesehene jährliche pitalanlagen Berichterstattung in anonymisierter Form nur – Gesetz über die Senkung des Beitrags zur Ar- teilweise erfüllt. Da die Verwendbarkeit der Be- beitsförderung, die Festsetzung der Beitragssätze richte für die für den Verbraucherschutz zuständi- in der gesetzlichen Rentenversicherung und der gen Obersten Landesbehörden auf Grund der vor- Beiträge und Beitragszuschüsse in der Alterssi- gesehenen Anonymisierung der Daten stark cherung der Landwirte für das Jahr 2007 eingeschränkt wird und diese in der Regel nicht zuständige Behörde im Sinne von § 2 Nr. 4 und 5 – Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozial- VSchDG sind, sollte sie so sparsam wie möglich gesetzbuch und des Finanzausgleichsgesetzes eingesetzt werden, soweit die Anonymisierung zwingend erforderlich ist. Nur informierte Behör- – Viertes Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Er- den können zeitnah reagieren. richtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwor- tung und Zukunft“ (EVZ-StiftG) b) Der Bundesrat bedauert, dass der Bundestag die Beantwortung von unterjährlichen Auskunftser- – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2004/109/EG suchen der für den Verbraucherschutz zuständi- des Europäischen Parlaments und des Rates vom gen Obersten Landesbehörden ablehnt. 15. Dezember 2004 zur Harmonisierung der Trans- parenzanforderungen in Bezug auf Informationen Der Bundesrat bittet die Bundesregierung darauf über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf hinzuwirken, dass die Zentrale Verbindungsstelle einem geregelten Markt zugelassen sind, und zur Än- mit den für den Verbraucherschutz zuständigen derung der Richtlinie 2001/34/EG (Transparenz- Obersten Landesbehörden zusammenarbeitet und richtlinie-Umsetzungsgesetz – TUG) zwei Jahre nach der Verkündung des Gesetzes er- neut geprüft wird, ob und in welchem Umfang – Gesetz zur Änderung des Investitionszulagenge- den für den Verbraucherschutz zuständigen setzes 2007 Obersten Landesbehörden ein Zugriffsrecht auf 7744 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007

(A) die bei der Zentralen Verbindungsstelle einzu- der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den (C) richtende Datenbank gewährt werden kann. nachstehenden Vorlagen absieht: – Gesetz zur Neuordnung des Tierzuchtrechts sowie zur Änderung des Tierseuchengesetzes, des Tier- Finanzausschuss schutzgesetzes und des Arzneimittelgesetzes – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über die Höhe des Existenzminimums von Er- Darüber hinaus hat er die nachstehende Entschlie- wachsenen und Kindern für das Jahr 2008 (Sechster ßung gefasst: Existenzminimumbericht) – Drucksachen 16/3265, 16/3563 Nr. 1.3 – Zu Artikel 5 (Änderung des AMG)

Auf Grund der Vorgaben der Richtlinie 2001/82/EG Haushaltsausschuss sind Arzneimittel zur Anwendung bei Lebensmittel lie- fernden Tieren zukünftig verschreibungspflichtig. Die – Unterrichtung durch die Bundesregierung Mitgliedstaaten können Ausnahmen von der Verschrei- Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der bungspflicht vorsehen, wenn die Arzneimittel bestimmte Finanzhilfen des Bundes und der Steuervergünstigun- Kriterien erfüllen, die von der Europäischen Kommis- gen für die Jahre 2003 bis 2006 (20. Subventionsbe- sion festgelegt werden. richt) – Drucksache 16/1020 – Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu nutzen, um Arz- – Unterrichtung durch die Bundesregierung neimittel für Lebensmittel liefernde Tiere, die derzeit Haushalts- und Wirtschaftsführung 2006 apothekenpflichtig sind, weiterhin von der Verschrei- Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 08 02 Titel 632 11 bungspflicht auszunehmen. – Verwaltungskostenerstattung an Länder – – Gesetz zur Änderung telekommunikationsrechtli- – Drucksachen 16/3726, 16/3890 Nr. 1.2 – cher Vorschriften – Unterrichtung durch die Bundesregierung Hauhalts- und Wirtschaftsführung 2006 Darüber hinaus hat er die nachstehende Entschlie- Außerplanmäßige Verpflichtungsermächtigung bei Ka- ßung gefasst: pitel 16 02 Titel 687 03 – Projektbezogene Beiträge an internationale Organisa- 1. Der Bundesrat erkennt an, dass mit dem Gesetz die tionen – (B) Rahmenbedingungen für die Inanspruchnahme von (D) – Drucksachen 16/3752, 16/3890 Nr. 1.3 – Telekommunikationsdiensten neu geregelt und die europarechtlichen Vorgaben der Richtlinie 2002/22/ – Unterrichtung durch die Bundesregierung EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom Haushalts- und Wirtschaftsführung 2006 7. März 2002 über den Universaldienst und Nutzer- Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 17 10 Titel 632 07 rechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen – Ausgaben nach § 8 Abs. 2 des Unterhaltsvorschussge- und -diensten (Universaldienstrichtlinie) weiter kon- setzes – kretisiert sowie einzelne Vorgaben anderer Richtli- nien des Europäischen Rechtsrahmens für elektroni- – Drucksachen 16/3753, 16/3890 Nr. 1.4 – sche Kommunikation umgesetzt werden. – Unterrichtung durch die Bundesregierung 2. Der Bundesrat begrüßt, dass spezielle verbraucher- Haushalts- und Wirtschaftsführung 2006 schützende Regelungen, die in den Vorschriften des Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 11 10 Titel 681 01 Gesetzes zur Bekämpfung des Missbrauchs mit – Versorgungsbezüge für Beschädigte – 0190er-/0900er-Mehrwertdiensterufnummern enthal- – Drucksachen 16/3754, 16/3890 Nr. 1.5 – ten sind, mit diesem Gesetz fortgeschrieben werden. – Unterrichtung durch die Bundesregierung 3. Der Bundesrat hat bereits in seinem Beschluss vom 7. Juli 2006 ausgeführt, dass eine effiziente Ausge- Haushalts- und Wirtschaftsführung 2006 staltung der nachträglichen Entgeltregulierung und Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 11 02 Titel 682 61 der besonderen Missbrauchsaufsicht (§§ 38, 42 – Erstattung von Fahrgeldausfällen – TKG) dringend notwendig ist. Der Bundesrat nimmt – Drucksachen 16/3788, 16/3890 Nr. 1.6 – zur Kenntnis, dass diese Tatsache zwischenzeitlich auch von der Bundesregierung nicht angezweifelt wurde und bedauert, dass gleichwohl keine Regelung Ausschuss für Arbeit und Soziales vorgesehen ist, die eine effiziente sektorspezifische – Unterrichtung durch die Bundesregierung Ex-Post-Missbrauchskontrolle sicherstellt. Zehnter Bericht der Bundesregierung über die Auswir- kungen des Gesetzes zur Bekämpfung der illegalen Be- schäftigung – BillBG – – Drucksachen 15/5934, 16/480 Nr. 1.15 – Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Januar 2007 7745

(A) Bericht für die Europäische Kommission zur Umset- Ausschuss für Arbeit und Soziales (C) zung des Europäischen Sozialfonds in der Bundesrepu- Drucksache 16/3196 Nr. 1.1 blik Deutschland – Zeiträume 2000 bis 2006 (Aktualisierung) und 2007 bis 2013 – Ausschuss für Gesundheit hier: Drucksache 16/3382 Nr. 2.22 Verwirklichung der Chancengleichheit von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt – Drucksachen 16/2570, 16/2813 Nr. 1.4 – Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Drucksache 16/3196 Nr. 1.12

Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Drucksache 16/3382 Nr. 2.13 Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- Drucksache 16/3382 Nr. 2.14 tung abgesehen hat.

Ausschuss für die Angelegenheiten der Auswärtiger Ausschuss Europäischen Union Drucksache 16/3382 Nr. 1,5 Drucksache 16/150 Nr. 1.9 Drucksache 16/150 Nr. 1.10 Drucksache 16/150 Nr. 1.11 Innenausschuss Drucksache 16/150 Nr. 1.12 Drucksache 16/2555 Nr. 2.99 Drucksache 16/150 Nr. 1.13 Drucksache 16/2555 Nr. 2.106 Drucksache 16/629 Nr. 2.30 Drucksache 16/3196 Nr. 1.53 Drucksache 16/820 Nr. 1.56 Drucksache 16/820 Nr. 1.57 Drucksache 16/820 Nr. 1.58 Rechtsausschuss Drucksache 16/1748 Nr. 1.6 Drucksache 16/1942 Nr. 1.5 Drucksache 16/2555 Nr. 2.114 Drucksache 16/1942 Nr. 2.7 Drucksache 16/1942 Nr. 2.17 Drucksache 16/2555 Nr. 1.16 Finanzausschuss Drucksache 16/3196 Nr. 1.16 Drucksache 16/1942 Nr. 2.25 Drucksache 16/3196 Nr. 1.17 Drucksache 16/3196 Nr. 1.44 Drucksache 16/3196 Nr. 1.18 (B) Drucksache 16/3196 Nr. 1.19 (D) Drucksache 16/3196 Nr. 1.20 Haushaltsausschuss Drucksache 16/3196 Nr. 1.21 Drucksache 16/3196 Nr. 1.22 Drucksache 16/3573 Nr. 2.9 Drucksache 16/3196 Nr. 1.23 Drucksache 16/3573 Nr. 2.24 Drucksache 16/3196 Nr. 1.24 Drucksache 16/3196 Nr. 1.25 Drucksache 16/3196 Nr. 1.26 Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Drucksache 16/3196 Nr. 1.27 Verbraucherschutz Drucksache 16/3196 Nr. 1.28 Drucksache 16/3382 Nr. 2.26 Drucksache 16/3196 Nr. 1.29 Drucksache 16/3382 Nr. 2.30 Drucksache 16/3196 Nr. 1.30 Drucksache 16/3382 Nr. 2.33 Drucksache 16/3196 Nr. 1.31 Drucksache 16/3573 Nr. 2.8 Drucksache 16/3196 Nr. 1.41 Drucksache 16/3713 Nr. 1.14 Drucksache 16/3382 Nr. 2.3

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