DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 21. Februar 2004 Betr.: Irak, Bergsteiger, SPIEGEL-Bücher roßajatollah Ali al-Sistani, Oberhaupt der irakischen Schiiten, residiert in der hei- Gligen Stadt Nadschaf. Viele halten ihn für den eigentlich mächtigen Mann im Zweistromland, ohne den keine Nachkriegsordnung denkbar sei. Der Geistliche lässt sich in seinem Handeln von drei großen Neins leiten: Niemals direkt in die Politik ein- greifen, niemals Religion und Geschäft verquicken und niemals Kontakt zur Presse su- chen. Interviews gibt er grundsätzlich nicht. Diese Regel hat er nun durchbrochen: Dem SPIEGEL beantwortete er schriftlich eingereichte Fragen. Vergangenen Montag emp- fing sein ältester Sohn Mohammed die Redakteure Christian Neef, 52, und Volkhard Windfuhr, 67, im kargen Domizil des Großajatollahs. Er beantwortete im Namen sei- nes Vaters zusätzliche Fragen der deutschen Journalisten. In der heiligen Stadt be- stätigte sich für die SPIEGEL-Leute zudem, dass Sistani entgegen seinem bisherigen Credo ganz offensiv plant, sich politisch einzumischen. Neef: „Für den Fall, dass der Irak nicht bald seine Souveränität zurückerhalten sollte, hat er Plakate drucken las- sen, die zum Volksaufstand aufrufen“ (Seite 109).

pitzenforschung im Wortsinn erlebte SHilmar Schmundt, 37, hautnah: Drei Tage lang begleitete der Freizeitbergstei- ger ein internationales Ärzteteam bei des- sen Arbeit im höchsten Labor Europas: auf einer Berghütte, voll gestopft mit vier Tonnen medizinischem Hightech. In 4559 Meter Höhe suchen die Wissenschaftler nach einem Heilmittel gegen die Berg-

krankheit, die durch Sauerstoffmangel DER SPIEGEL ausgelöst wird und unbehandelt oft töd- Bergsteiger Schmundt in den Alpen lich endet. Gemeinsam mit einer Gruppe freiwilliger Probanden, die zu Forschungszwecken höhenkrank gemacht werden soll- ten, hetzte Schmundt in weniger als 20 Stunden vom Tal auf den Berg. Planmäßig litt er mit den anderen an Kopfweh, Atemnot und Schlafstörungen. „Es war spannend, einfach mal gegen jede bergsteigerische Vernunft zu verstoßen“, sagt Schmundt, „aber beruhigend war, immer Ärzte dabeizuhaben.“ Nun belegen vorläufige Studienergeb- nisse, was seine Beschwerden womöglich gelindert hätte: Tadalafil, ein Potenzmittel, das anscheinend nicht nur im Bett, sondern auch am Berg wirkt (Seite 148).

m Mai vergangenen Jahres brachte der SPIEGEL eine dreiteilige Serie über „Die Iverstaubte Verfassung“ (SPIEGEL 20 bis 22/2003). Autor Thomas Darnstädt, 54, be- schrieb darin, wie Konstruktionsfehler und Mängel des Grundgesetzes Reformbe- strebungen blockieren oder zur Unkenntlichkeit verwässern. „Die Zweifel wachsen, ob Deutschland nach diesen Regeln überhaupt noch effektiv regiert werden kann“, so Darnstädt damals. Seine Analysen lösten lebhafte Diskussionen und ein über- wiegend zustimmendes Echo in Wirt- schaft und Politik aus. In erweiterter und ergänzter Form ist die Serie nun als Buch erschienen: „Die Konsens-Falle“ (DVA; 17,90 Euro). Ebenfalls auf einer Serie ba- siert das SPIEGEL-Buch „Die Gegenwart der Vergangenheit“, das jetzt in den Han- del gekommen ist. SPIEGEL-Autoren und namhafte Historiker beschreiben darin die bis heute spürbaren Folgen des Dritten Reichs (DVA; 22,90 Euro).

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 9/2004 5 InIn diesem diesem Heft Heft

Titel Spott ohne Grenzen – mit einer Serie von Pleiten und Pannen blamieren sich die Deutschen ...... 22 Tollhaus Deutschland Germania Seite 22 Panorama: CDU-Bürgermeister gegen Merkels Türkei-Kurs / London und Berlin wollen Maut, Gesundheitsreform, am Eurofighter sparen / Hauptstadtpolizisten Dosenpfand, BahnCard: zweiter Klasse ...... 18 ein Volk von Schlafmützen, Regierung: Die rot-grüne Entfremdung ...... 40 unfähig zum Fortschritt, re- Interview mit Joschka Fischer über Zustand giert von Stümpern – so und Zukunft der Koalition ...... 43 sieht das Bild aus, das die Hamburg: Entscheidet der Populist Ronald Schill Republik nach außen bie- erneut den Ausgang der Bürgerschaftswahl? ...... 44 Außenpolitik: Bush umwirbt Deutsche tet. Eine Panne nach der und Franzosen ...... 46 anderen lässt die Deut- Terrorismus: Helfer aus Deutschland unterstützen schen an ihrem Land ver- den Aufstand gegen die US-Besatzer im Irak ...... 48 zweifeln. Oder sollte man Strafjustiz: Das Amtsgericht Karlsruhe die Karnevalisierung der

verurteilt „Autobahn-Raser“ zu einer PRESS / ACTION MOELL FRANK deutschen Politik mit Hu- Haftstrafe von eineinhalb Jahren ...... 50 Schröder mor nehmen? Energiepolitik: Wie die Regierung den Solarstrom fördert ...... 56 Gesundheit: Rettungsdienste rechnen Krankenfahrten als Notfalleinsätze ab – zum Schaden der Krankenkassen ...... 58 Terrorhilfe aus Deutschland Seite 48 Gesellschaft Der Irak entwickelt sich zum Kampfplatz für Qaida-Anhänger aus aller Welt. Auch Szene: Kurt Cobain als Comic-Held / Islamisten aus Deutschland unterstützen die Guerilla mit Geld, Kriegsausrüstung und Gartenbau-Therapie für Traumatisierte / Der freiwilligen Kämpfern. Nun wollen Bundesinnenminister Otto Schily und die US- Volkssport Betrug ...... 61 Waffen: Die Minenräumerin Vera Bohle und Regierung mit einer gemeinsamen Task Force den Nachschub stoppen. ihre Einsätze in den Krisengebieten der Welt ...... 64 Ortstermin: McKinseys Unternehmensberater feiern die geizige Republik ...... 72 Wirtschaft Biobranche vor dem Trends: Steigt Sharp bei Loewe ein? / TUI gibt Timesharing auf / China drosselt Koksexport ...... 75 Comeback Seite 100 Geld: MDax schlägt Dax / Vertrauen der Investoren sinkt ...... 77 Vom Börsenstar zum Pleitekandidaten – Geldanlage: Wann platzt die Immobilienblase? .... 78 und zurück? Vier Jahre nach dem Ein- Lehrstellen: Ausbildungsplatzabgabe soll bruch ihrer Aktienkurse haben deutsche SPD-Basis beschwichtigen ...... 84 Biotech-Firmen ihre Visionen begraben, Schattenwirtschaft: Mit welchen Tricks ein sie setzen auf marktnahe, billige und Fahnder in Rheinland-Pfalz schnell entwickelte Produkte. Die Zeit Schwarzarbeiter ausfindig macht ...... 88 Arbeitsmarkt: Die Maatwerk-Pleite bedroht MICHALKE NORBERT drängt: Ohne rasche Erfolge geht ihnen das Herz der Hartz-Reform ...... 99 Laborantin einer Biotech-Firma das Geld aus. Biotechnologie: Die alte Hoffnungsbranche erwacht zu neuem Leben ...... 100

Ausland Panorama: Österreichs Finanzminister Kinoheldin am Sittenpranger Seite 160 Grasser droht die Entlassung / Massenabschiebung in den Niederlanden / Auch Polens Regierungschef Für ihre Leistung in dem Miller gibt den Parteivorsitz auf ...... 104 Berlinale-Siegerfilm „Ge- Irak: Die Schiiten drängen zur Macht ...... 106 gen die Wand“ erntete die Großajatollah Ali al-Sistani über freie Wahlen, Schauspielerin Sibel Kekil- die künftige Verfassung des Irak und die Rolle li hohes Lob. Dann ent- der Uno bei der Rückgabe der hüllte ein Boulevardblatt, Souveränität an irakische Politiker ...... 109 dass sie zuvor in Porno-Fil- USA: Die Republikaner mobilisieren zum men mitgespielt hat – und Kampf gegen John Kerry ...... 110 Russland: Krankes Riesenreich Sibirien ...... 114 setzte auf die sittliche Nahost: Israels Mauer vor dem Weltgericht ...... 124 Empörung einer nur ver- meintlich freizügigen Ge- sellschaft. Serie / DDP BOXFISH-FILMS Der Erste Weltkrieg, Teil II: Das große Sterben an der Westfront ...... 128 Kekilli in „Gegen die Wand“ Der Mythos von der Kriegsbegeisterung ...... 134

8 der spiegel 9/2004 Sport Fußball: Wie Real Madrid zu einer Weltmarke wurde ...... 138 Radrennen: Marco Pantani – der Tod eines einsamen Nationalhelden ...... 141

Wissenschaft · Technik Prisma: Tansania zapft das Nilwasser an / Blitzrausch durch Alkoholspray ...... 143 Umwelt: Das Wattenmeer – einst ein Paradies für Pelikane und Grauwale ...... 146 Sportmedizin: In der höchsten Berghütte Europas erforschen Ärzte die Höhenkrankheit ... 148 Luftfahrt: Ein Flügel verwandelt Fallschirmspringer in lebende Mini-Jets ...... 152 Aids: Der Leiter des Robert-Koch-Instituts Reinhard Kurth über HIV-Impfstoff-Tests in Deutschland ...... 153 MAURICIO LIMA / AFP Sistani-Anhänger in Bagdad Hygiene: Wie die Textilindustrie Hemden und Socken gegen Körpergeruch aufrüstet ...... 154

Kultur Zweiter Gottesstaat am Golf? Seiten 106, 109 Szene: Interview mit der für den Oscar nominierten deutschen Regisseurin Ein irakischer Schiitenführer fordert die Weltmacht USA heraus: Ajatollah Sistani Katja Esson / Radikale „Lulu“-Inszenierung will eine Verfassung auf Grundlage des islamischen Rechts und rasche demokrati- im Hamburger Thalia Theater ...... 157 sche Wahlen. Andernfalls, drohen seine Anhänger, werde er zur Intifada aufrufen. Showgeschäft: Porno-Vorwürfe gegen die türkisch-deutsche Schauspielerin Sibel Kekilli, die im Berlinale-Siegerfilm „Gegen die Wand“ glänzt ...... 160 Oper: Die Opern des Barock-Komponisten Reinhard Keiser werden neu entdeckt ...... 163 Endzeitstimmung in Sibirien Seite 114 Zeitgeist: Reflexionen des Schriftstellers Botho Strauß über Gene, Öl, Gold, Diamanten hat Sibiri- Liebe und die Verbrechen der Intimität ...... 164 en im Überfluss – trotzdem ver- Bestseller ...... 167 lassen immer mehr Menschen Kino: SPIEGEL-Gespräch mit dem Produzenten die eisige Rohstoffkammer. Seit Harvey Weinstein über die Oscar-Verleihung dem Ende der Sowjetzeit ist fast und sein jüngstes Werk „Cold Mountain“ ...... 168 ein Zehntel der Bevölkerung Stars: Jürgen Flimm über die Karriere-Bilanz nach Westen gezogen. Moskau des Rockers Marius Müller-Westernhagen...... 171 fürchtet, die Kontrolle über das Riesenreich zwischen Ural und Medien Trends: Klassenkampf im „Big Brother“- MICHAEL APPELT / AGENTUR ANZENBERGER / AGENTUR MICHAEL APPELT Pazifik zu verlieren. Container / Verlage planen Post-Konkurrenz ...... 172 Fernsehen: Vorschau ...... 173 Sibirisches Dorf Ugolnyje Kopi Zeitgeschichte: Der Fernsehfilm „Stauffenberg“ eröffnet den Erinnerungsreigen an den gescheiterten Widerstand vom 20. Juli 1944 und die Schrecken der NS-Epoche ...... 174 Fußballrechte: Saban greift Premiere an ...... 177

Neue Helden für Real Madrid Seite 138 Briefe...... 10 Die Stars von Real Madrid werden „die Galaktischen“ genannt. Jedes Jahr kauft das Impressum, Leserservice...... 178 Chronik ...... 179 Fußball-Imperium einen neuen Helden. Vor dem Duell mit Bayern München stellt Register ...... 180 sich für die Fans jedoch erstmals auch die Frage: Welche Real-Ikone muss gehen? Personalien...... 182 Hohlspiegel/Rückspiegel...... 184 TITELBILD: Fotos AP (5), D. Butzmann, Caro, DDP (3), Digipix, M. Ebner (2), Ipon (2), Netzhaut, Reuters, Terz, M. S. Unger, M. Urban, M. Zucht/DER SPIEGEL Beschwörung des Nazi-Schreckens Seite 174 Vor 60 Jahren verübte Graf von Stauf- Die Sex-Offensive fenberg seinen Anschlag auf Hitler. Nun Ob Kunst, Film oder Theater: wird der deutsche Widerstand zum Film- Alle setzen derzeit auf Porno- thema. Mit TV-Movies, Doku-Spielen grafie. Außerdem im Kultur- und Dokumentationen erinnert das Fern- SPIEGEL, dem Magazin für

sehen an die Schrecken der NS-Epoche. MATTESCHECK/SWR/ARD Abonnenten: neue Chancen für kleine Plattenfirmen; die „Stauffenberg“-Darsteller Koch (r.) Autorin Monica Ali.

der spiegel 9/2004 9 Briefe

Das Titelbild erscheint mir – gelinde gesagt – ziemlich unangemessen. Wilhelm II. auf „Es begann mit der Suche nach den eine Ebene mit dem (zusammen mit Lenin Drahtziehern eines Terrorakts und führte und Stalin) größten Verbrecher der Mensch- heitsgeschichte zu stellen, ist zum einen zum bis dahin größten Krieg der Welt. schlicht inadäquat. Indem Hitler zum an- Das kann dabei herauskommen, wenn deren plakativ primär als Kriegsherr ge- zeigt wird, wird seine Rolle angesichts der zwei Staaten in alter Bündnistreue Verbrechen, die unter seiner Herrschaft in ihren Weltmachtanspruch zum Nachteil Deutschland und dem besetzten Europa ge- anderer Länder durchsetzen wollen.“ schahen, in einer verkürzten und dadurch unzulässig gemilderten Weise dargestellt. München Stephan Gorski Harald Schulz aus Havixbeck in Nordrhein-Westfalen zum Titel „1914–1945. Der zweite Dreißigjährige Krieg – SPIEGEL-Serie“ SPIEGEL-Titel 8/2004 Ich habe selten eine so fundierte und auch logisch aufgebaute Darstellung der beiden Weltkriege lesen dürfen. Herr Wehler wird brachte geschichtswissenschaftliche Theo- allerdings wenig Erfolg bei einer breiten Bedeutsame Unterschiede rie ist – wie Ihre Argumentation – nach- Leserschaft finden. Er benutzt bei seiner Nr. 8/2004, Titel: 1914–1945. Der zweite Dreißigjährige vollziehbar. Aber: Von einer Verschmel- Darstellung so viele Fremdwörter, dass ein Krieg – SPIEGEL-Serie zung der Katastrophen würde ich schleu- Fremdwörter-Lexikon immer neben dem nigst Abstand nehmen. Geschichte ist mehr SPIEGEL liegen muss. Es ist bemerkenswert, dass die franzö- als eine theoretische Wissenschaft. Viel- Hartmuth Klose sische Diplomatie keine nennenswerten Anstrengungen zur Schlichtung oder we- Es ist aus meiner Sicht unverantwortlich, nigstens zur Begrenzung des Konflikts un- Herrn Wehler eine publizistische Plattform ternahm und die deutschen Kriegser- zur Verfügung zu stellen, die es ihm er- klärungen an Russland und an Frankreich laubt, die historisch in der Debatte befind- erst erfolgten, nachdem diese beiden Län- lichen Folgen des Aufstandes der Armenier der gegen Deutschland und Österreich-Un- gegen das Osmanische Reich mit dem garn mobil gemacht hatten. Davon, dass Mord an Millionen unschuldiger Juden in Deutschland „sich offen gegen das Zaren- Verbindung zu bringen. Die Abwertung reich“ gestellt habe, kann also nicht die des Holocaust sollte gerade in Deutschland Rede sein – im Gegenteil, Wilhelm II. ver- auf Tabus stoßen. Abgesehen davon, hat suchte noch in letzter Minute, mäßigend zum Beispiel Herr Professor Feigl, Wien, auf Nikolai II. einzuwirken. Sucht man zu- die Anschuldigungen gegen das Osmani- dem nach innenpolitischen Beweggründen sche Reich in dieser Hinsicht längst histo- für den Krieg, kommt das krisengeschüt- risch begründet widerlegt. Die osmani- telte russische Zarenreich viel eher in Be- schen Archive stehen jedem seriösen His- tracht als das vergleichsweise „saturierte“ toriker zur Information offen. deutsche Kaiserreich. Bremen Karl H. Grabbe Heidenheim (Bad.-Württ.) Veit Gruner Honorargeneralkonsul der Republik Türkei

Immanuel Kant, der in Anlehnung an das Der eigentliche Grund für den Ausbruch antike Kulturerbe den Gedanken vom des Ersten Weltkriegs steckte im größten

„ewigen Frieden“ aufgriff, könnte später BILDERDIENST ULLSTEIN Fehler der Reichsgründung selbst: Die An- den Bellizisten H. v. Moltke zu der Äuße- Verabschiedung von Soldaten (Berlin 1914) nektierung Elsass-Lothringens (auf Druck rung provoziert haben: „Der ewige Friede Die Zivilbevölkerung leidet immer der Generalität und gegen den Willen Bis- ist ein Traum und nicht einmal ein schö- marcks), welche Frankreich nie verwinden ner.“ Für das wilhelminische Militär war mehr ist sie die Lehre für gegenwärtiges konnte, legte den Grundstein für die fran- diese Idee sogar ein Alptraum. und künftiges Handeln, wobei man vor- zösische Einkreisungspolitik, die letztlich Würzburg Bernhard Feghelm nehmlich aus den Ursachen lernt. Und die zu der verhängnisvollen Konstellation von des Ersten Weltkriegs unterscheiden sich 1914 führte. So gesehen, schien das Ende Die These Wehlers, „die herkömmliche bedeutsam von denen des Zweiten Welt- des Reichs schon bei der Gründung pro- Grenze zwischen militärischer Front und kriegs. grammiert. friedlicher Heimat“ sei bis 1870/71 einge- Magdeburg Michael Bluhm Traunstein (Bayern) Rainer Jaeger halten worden, lässt sich nicht halten. Die Zivilbevölkerung hat immer unter den Kriegen ihrer Herrscher gelitten. Es gab Vor 50 Jahren der spiegel vom 24. Februar 1954 immer eine „Heimatfront“ – nur der Be- Das Ende der Vierer-Konferenz Nur schwache Trostpunkte für Deutsch- griff ist erst 1919 geprägt und später von land. Sieben Jahre Außenministerrat der Alliierten Vertauschte Stand- Goebbels aufgenommen worden. punkte. Erbitterter Wirtschaftskrieg um Bimssteingebiet Bauern als Hamburg Eckhart Reinert lachende Dritte. Westdeutsche Kaufleute in Moskau Herzliches Willkommen, hartes Feilschen. Folgen eines mysteriösen Todesfalls in Italien Auswirkungen bis in die Tagespolitik. Rehabilitierung des Arktis- Mit großem Interesse habe ich Ihren Bei- Abenteurers Frederick Cook Genug Ruhm für alle. trag gelesen. Dank Ihnen mühte ich mich, Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de mein Wissen über die beiden Weltkriege oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben. und auch über den Dreißigjährigen Krieg Titel: Sowjetspion Alexander Foote aufzufrischen. Die zur Diskussion ge-

10 der spiegel 9/2004 Briefe

Nickst du hier, nick ich bei dir Nr. 7/2004, Manager: Welche Werte Ex-Mannesmann- Chef Klaus Esser wirklich geschaffen hat

Der Wohltäter und Geldvermehrer Esser spielt den Beleidigten. Sollen arbeitslos ge- wordene Ex-Mitarbeiter ihm danken? Jetzt fehlt nur noch der Steuerberater, der ein Schlupfloch für die Millionen findet. In je- dem Fall sollte der Gesetzgeber den Spit- zensteuersatz senken, damit sich die Arbeit in den oberen Etagen wieder lohnt! Gießen Klaus Mörler

Es drängt sich der Verdacht auf, dass sich im Topmanagement der deutschen Wirt- schaft eine Selbstbedienungsmentalität breit gemacht hat, nach dem Motto: Wir nicken uns gegenseitig in den Aufsichtsrä- ten unsere Phantasiesummen ab; nickst du hier, nick ich bei dir. Von Leistungsorien- tierung anscheinend keine Spur. Paradox: Man fühlt sich fast an sozialistische Ver- hältnisse erinnert. Das Erschreckende dar- an: Esser befindet sich offenbar in guter Gesellschaft, wenn man an die gigantische Börsenwerte vernichtende Daimler-Chrys- ler-Fusion unter Schrempp, an die Deut- GEORG HILGEMANN / ACTION PRESS / ACTION GEORG HILGEMANN Angeklagter Esser (M.), Anwälte In guter Gesellschaft sche-Bank-Krise unter Ackermann oder die Tarifreform der Deutschen Bahn unter Mehdorn denkt. Die Gerichte sollten be- denken, dass auch der gute Ruf der deut- schen Wirtschaft auf dem Spiel steht, und keine Scheu haben, im Rahmen der ihnen gegebenen gesetzlichen Möglichkeiten bei Esser und Co. ein Exempel zu statuieren. Freiburg i. Breisgau Jan Brix

Ach ja, der arme Herr Esser als verfolgte Unschuld, mir kommen die Tränen! Ist doch logisch, dass er sich entrüstet als zu Unrecht beschuldigt darstellt. Schließlich müsste er, sollte er verurteilt werden, die Beute wieder herausrücken. am Main Günter K. Brauner

Spreu und Weizen Nr. 6/2004, Straftäter: Deutsche Jungkriminelle im Ausland belasten diplomatische Beziehungen

Es entsteht hier wieder mal ein einseitig ne- gatives Bild über Jugendhilfemaßnahmen

14 der spiegel 9/2004 Briefe

Nickst du hier, nick ich bei dir Nr. 7/2004, Manager: Welche Werte Ex-Mannesmann- Chef Klaus Esser wirklich geschaffen hat

Der Wohltäter und Geldvermehrer Esser spielt den Beleidigten. Sollen arbeitslos ge- wordene Ex-Mitarbeiter ihm danken? Jetzt fehlt nur noch der Steuerberater, der ein Schlupfloch für die Millionen findet. In je- dem Fall sollte der Gesetzgeber den Spit- zensteuersatz senken, damit sich die Arbeit in den oberen Etagen wieder lohnt! Gießen Klaus Mörler

Es drängt sich der Verdacht auf, dass sich im Topmanagement der deutschen Wirt- schaft eine Selbstbedienungsmentalität breit gemacht hat, nach dem Motto: Wir nicken uns gegenseitig in den Aufsichtsrä- ten unsere Phantasiesummen ab; nickst du hier, nick ich bei dir. Von Leistungsorien- tierung anscheinend keine Spur. Paradox: Man fühlt sich fast an sozialistische Ver- hältnisse erinnert. Das Erschreckende dar- an: Esser befindet sich offenbar in guter Gesellschaft, wenn man an die gigantische Börsenwerte vernichtende Daimler-Chrys- ler-Fusion unter Schrempp, an die Deut- GEORG HILGEMANN / ACTION PRESS / ACTION GEORG HILGEMANN Angeklagter Esser (M.), Anwälte In guter Gesellschaft sche-Bank-Krise unter Ackermann oder die Tarifreform der Deutschen Bahn unter Mehdorn denkt. Die Gerichte sollten be- denken, dass auch der gute Ruf der deut- schen Wirtschaft auf dem Spiel steht, und keine Scheu haben, im Rahmen der ihnen gegebenen gesetzlichen Möglichkeiten bei Esser und Co. ein Exempel zu statuieren. Freiburg i. Breisgau Jan Brix

Ach ja, der arme Herr Esser als verfolgte Unschuld, mir kommen die Tränen! Ist doch logisch, dass er sich entrüstet als zu Unrecht beschuldigt darstellt. Schließlich müsste er, sollte er verurteilt werden, die Beute wieder herausrücken. Frankfurt am Main Günter K. Brauner

Spreu und Weizen Nr. 6/2004, Straftäter: Deutsche Jungkriminelle im Ausland belasten diplomatische Beziehungen

Es entsteht hier wieder mal ein einseitig ne- gatives Bild über Jugendhilfemaßnahmen

14 der spiegel 9/2004 PETER BIALOBRZESKI / LAIF PETER BIALOBRZESKI Jugendprojekt auf See: Ausdruck der Hilflosigkeit im Ausland. Straffälligkeit ist nicht die le früher wahrnehmen, entschlossener han- Eintrittskarte für eine Jugendhilfemaß- deln und rigoroser eingreifen. nahme im Ausland. Die Probleme der Ju- Oberhausen Harald Schwab gendlichen sind sehr vielfältig, und die Ent- scheidung für eine solche Maßnahme fällt immer erst nach ausgiebiger Prüfung des Im Keim erstickt Einzelfalles. Erfreulicherweise räumt der Nr. 7/2004, Schulen: Die Qualen eines Schülers Artikel zumindest mit einem weiteren negativen Vorurteil auf, indem konstatiert Im Sommer vergangenen Jahres kam mein wird, dass Auslandsmaßnahmen nicht kost- Sohn auf ein Gymnasium. Dort verwei- spieliger sind als andere personalintensi- gerten ihm die Rädelsführer die Aufnahme ve Maßnahmen im Inland. Dass es einen in seine neue Klassengemeinschaft. Er wur- Bedarf an wissenschaftlich gesicherten Un- de gemobbt, bestohlen und regelmäßig ver- tersuchungen zur Wirksamkeit solcher prügelt. Obwohl mein Sohn seine Klassen- Maßnahmen gibt, wird nicht bestritten – lehrerin mehrmals ansprach, ignorierte sie leider taucht die Information, dass zu die- das Problem. Einmal wurde ihm angesagt, sem Themenkreis seit längerer Zeit ge- dass er die nächste große Pause verprügelt forscht wird, im Artikel nicht auf. werden würde. Da ihm die Pausenaufsich- Dortmund Heike Lorenz ten als Weggucker bekannt waren, bat Bundesverband Erlebnispädagogik mein Sohn die Vertrauenslehrerin um Hil- fe, die ihn auf die Sprechstunde am nächs- Die Landesjugendämter haben Selbstver- ten Tag verwies. Fortan verbrachte mein pflichtungserklärungen für Träger erleb- Sohn seine Pausen auf der Toilette. Seine nispädagogischer Angebote entwickelt, die schulischen Leistungen nahmen stark ab, sich gut bewähren und bei den Trägern wie so dass er in letzter Konsequenz die Schu- ein Gütesiegel die Spreu vom Weizen tren- le wechseln musste. O-Ton des Schulleiters nen. Wegen einzelner spektakulärer Fälle in einem abschließenden Gespräch: „Rau- eine ganze Angebotspalette madig zu ma- fereien“ unter Schülern sind normal. chen und die Gesetzesmaschinerie mit Hamburg Joachim Stegemann Wonne in Gang zu setzen – das ist ge- genüber den Steuerzahlern, vor allem aber Der Bericht klebt am Detail. Die zu Grun- gegenüber den Jugendlichen unverant- de liegende Spirale zwischen entnervter wortlich. Lehrerschaft, die zu wenig Handlungskom- Köln Markus Schnapka petenzen besitzt, und einer höhnisch unge- bildeten Schülerschaft, die zu viel Hand- Erlebnispädagogik in der kolportierten lungsspielräume hat, wird nicht klar gezeigt. Form ist zum großen Teil auch Ausdruck Hattingen (Nrdrh.-Westf.) Dietmar Fritze der Hilflosigkeit. Was soll man denn mit völlig entwurzelten, orientierungslosen jun- Da ich die Anwendung massiver schulischer gen Menschen machen? Für Prävention ist Gewalt – insbesondere psychischer – über kein Geld da, Politiker klammern sich an ein Jahre hinweg erleiden musste, kann ich die schon längst nicht mehr reales Familienbild, Qualen der Opfer nur allzu gut nachvoll- ohne wirksame Unterstützung zu schaffen, ziehen. Am schlimmsten ist aber das Al- Vormundschaftsgerichte halten an der über- leinsein innerhalb des Klassenverbandes, holten These fest, dass eine schlechte Fami- da die Täter meist große Popularität ge- lie immer noch besser sei, als eine geeigne- nießen und auch Posten wie den des Klas- te familienersetzende Institution, und statt sensprechers ergattern, was den Versuch, bei ersten Anzeichen abweichenden, auf- sich zur Wehr zu setzen, oft bereits im Keim fälligen Verhaltens wirksam einzugreifen, erstickt. Frustrierend auch, dass bekannte wird so lange vermeintlich kostengünstig Gewalttäter nicht selten allenfalls mit Nach- herumgedoktert, bis Fehlentwicklungen sitzen „bestraft“ werden. Die Folgen der endgültig verfestigt und positive Verhal- Erlebnisse für mich als mittlerweile 27-Jäh- tensänderungen kaum noch möglich sind. rigen sind enorm, in persönlicher wie ge- Jugendhilfe und Justiz müssen Warnsigna- sundheitlicher Hinsicht. Eine kaufmänni-

der spiegel 9/2004 15 PETER BIALOBRZESKI / LAIF PETER BIALOBRZESKI Jugendprojekt auf See: Ausdruck der Hilflosigkeit im Ausland. Straffälligkeit ist nicht die le früher wahrnehmen, entschlossener han- Eintrittskarte für eine Jugendhilfemaß- deln und rigoroser eingreifen. nahme im Ausland. Die Probleme der Ju- Oberhausen Harald Schwab gendlichen sind sehr vielfältig, und die Ent- scheidung für eine solche Maßnahme fällt immer erst nach ausgiebiger Prüfung des Im Keim erstickt Einzelfalles. Erfreulicherweise räumt der Nr. 7/2004, Schulen: Die Qualen eines Schülers Artikel zumindest mit einem weiteren negativen Vorurteil auf, indem konstatiert Im Sommer vergangenen Jahres kam mein wird, dass Auslandsmaßnahmen nicht kost- Sohn auf ein Gymnasium. Dort verwei- spieliger sind als andere personalintensi- gerten ihm die Rädelsführer die Aufnahme ve Maßnahmen im Inland. Dass es einen in seine neue Klassengemeinschaft. Er wur- Bedarf an wissenschaftlich gesicherten Un- de gemobbt, bestohlen und regelmäßig ver- tersuchungen zur Wirksamkeit solcher prügelt. Obwohl mein Sohn seine Klassen- Maßnahmen gibt, wird nicht bestritten – lehrerin mehrmals ansprach, ignorierte sie leider taucht die Information, dass zu die- das Problem. Einmal wurde ihm angesagt, sem Themenkreis seit längerer Zeit ge- dass er die nächste große Pause verprügelt forscht wird, im Artikel nicht auf. werden würde. Da ihm die Pausenaufsich- Dortmund Heike Lorenz ten als Weggucker bekannt waren, bat Bundesverband Erlebnispädagogik mein Sohn die Vertrauenslehrerin um Hil- fe, die ihn auf die Sprechstunde am nächs- Die Landesjugendämter haben Selbstver- ten Tag verwies. Fortan verbrachte mein pflichtungserklärungen für Träger erleb- Sohn seine Pausen auf der Toilette. Seine nispädagogischer Angebote entwickelt, die schulischen Leistungen nahmen stark ab, sich gut bewähren und bei den Trägern wie so dass er in letzter Konsequenz die Schu- ein Gütesiegel die Spreu vom Weizen tren- le wechseln musste. O-Ton des Schulleiters nen. Wegen einzelner spektakulärer Fälle in einem abschließenden Gespräch: „Rau- eine ganze Angebotspalette madig zu ma- fereien“ unter Schülern sind normal. chen und die Gesetzesmaschinerie mit Hamburg Joachim Stegemann Wonne in Gang zu setzen – das ist ge- genüber den Steuerzahlern, vor allem aber Der Bericht klebt am Detail. Die zu Grun- gegenüber den Jugendlichen unverant- de liegende Spirale zwischen entnervter wortlich. Lehrerschaft, die zu wenig Handlungskom- Köln Markus Schnapka petenzen besitzt, und einer höhnisch unge- bildeten Schülerschaft, die zu viel Hand- Erlebnispädagogik in der kolportierten lungsspielräume hat, wird nicht klar gezeigt. Form ist zum großen Teil auch Ausdruck Hattingen (Nrdrh.-Westf.) Dietmar Fritze der Hilflosigkeit. Was soll man denn mit völlig entwurzelten, orientierungslosen jun- Da ich die Anwendung massiver schulischer gen Menschen machen? Für Prävention ist Gewalt – insbesondere psychischer – über kein Geld da, Politiker klammern sich an ein Jahre hinweg erleiden musste, kann ich die schon längst nicht mehr reales Familienbild, Qualen der Opfer nur allzu gut nachvoll- ohne wirksame Unterstützung zu schaffen, ziehen. Am schlimmsten ist aber das Al- Vormundschaftsgerichte halten an der über- leinsein innerhalb des Klassenverbandes, holten These fest, dass eine schlechte Fami- da die Täter meist große Popularität ge- lie immer noch besser sei, als eine geeigne- nießen und auch Posten wie den des Klas- te familienersetzende Institution, und statt sensprechers ergattern, was den Versuch, bei ersten Anzeichen abweichenden, auf- sich zur Wehr zu setzen, oft bereits im Keim fälligen Verhaltens wirksam einzugreifen, erstickt. Frustrierend auch, dass bekannte wird so lange vermeintlich kostengünstig Gewalttäter nicht selten allenfalls mit Nach- herumgedoktert, bis Fehlentwicklungen sitzen „bestraft“ werden. Die Folgen der endgültig verfestigt und positive Verhal- Erlebnisse für mich als mittlerweile 27-Jäh- tensänderungen kaum noch möglich sind. rigen sind enorm, in persönlicher wie ge- Jugendhilfe und Justiz müssen Warnsigna- sundheitlicher Hinsicht. Eine kaufmänni-

der spiegel 9/2004 15 Briefe sche Ausbildung und mein Erststudium sind ment baldmöglichst von der politischen daran mehr oder weniger gescheitert, und Bildfläche verschwinden. das, obgleich die Mobbinghandlungen in- Königswinter (Nrdrh.-Westf.) Jürgen Maier zwischen gut zehn Jahre zurückliegen. Hausach (Bad.-Württ.) Matthias K. (Name ist der Red. bekannt) Es war erkennbar nicht vorrangiges Ziel des Artikels, neue Fakten zu nennen. Viel- mehr handelt es sich um die Aneinander- reihung altbekannter Vorwürfe und Be- Äußerst teures Hobby hauptungen gefolgt von belehrenden Nr. 7/2004, Bergbau: Der Subventionswahnsinn Schlussfolgerungen, damit der Leser auch Im Zusammenhang mit der Gründung der weiß, was er nach der Lektüre zu denken Ruhrkohle AG (jetzt RAG AG) 1969 war hat: Hierzu passt auch Ihre Umfrage, deren das Ziel der damaligen Bundesregierung Ergebnis allerdings nicht per se als berg- mit dem Bundeswirtschaftsminister Prof. baukritisch zu interpretieren ist. Dr. Karl Schiller, im Rahmen der Neuord- Essen Axel Schappei Gesamtverband des deutschen nung des Steinkohlenbergbaus die Stein- Steinkohlenbergbaus kohlenzechen mit dem Eintritt in die Herne Eberhard Schmitt Unwirtschaftlichkeit stillzulegen und die Deutsche Steinkohle AG Stilllegung mit flankierenden Maßnahmen des Staates abzufedern. Diese Absicht Ihr Artikel zeigt auf erschreckende Weise, wurde später aufgegeben. Ohne die in der wie stark sich in Deutschland viele von der Vergangenheit gewährten Bergbausubventionen wäre die gegenwärtige Staatsver- schuldung um einiges ge- ringer. Ich bin mal ge- spannt, wie lange uns noch die Politiker der Kohle- Fraktion diesen Subven- tionswahnsinn als vernünf- tige, sinnvolle und not- wendige Wirtschaftspolitik verkaufen wollen. Dinslaken (Nrdrh.-Westf.) Otto Breitwieser

Da ist aber ein übles Ge- bräu angerührt worden. Al- les, was die Bergbaugegner

früher und heute so be- / CARO A. BASTIAN haupten, wird unkritisch in Bergmann im Stollen: Wie lange noch? einen Topf geworfen. We- nig darüber, dass die Steinkohlesubventio- Realität verabschiedet haben. Während an nen bereits kräftig gekürzt worden sind den Universitäten immer mehr Geld und auch nach dem Plan des Bundeskanz- gekürzt wird, träumt der Bergbau von ei- lers weiter verringert werden. Kein Wort ner „Frischzellenkur“ und weiter vollen darüber, dass die heimische Steinkohle die Fleischtöpfen. In Deutschland weiß man größte nationale Energiereserve ist. Sind halt, wo man seine Prioritäten zu setzen Kohle aus Südafrika oder Erdgas aus Russ- hat. Wie gut, dass der Bergbau Leute wie land denn stets für uns verfügbar? Nach Herrn Clement hat, der sie weiter alimen- uns die Sintflut – das ist wohl das Motto tieren und ihre Pfründe sichern will, damit derjenigen, die glauben, sichere Energie noch lange mit reichlich Steuergeldern das falle uns vom Himmel in den Schoß! Übri- schwarze Gold heraufgeholt werden kann. gens, wenn das Hochwasserrisiko am Rhein Dieser Wahnsinn spottet wirklich jeder Be- so enorm steigt, wieso dann nur bei Herrn schreibung. Ein äußerst teures „Hobby“, Underberg am Niederrhein? welches sich die Bundesrepublik da leistet. Herne (Nrdrh.-Westf.) Heinz Bulka Mainz Michael Peters

Herzlichen Dank für diesen Beitrag, der Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- den ganzen Irrsinn der Kohlesubventionen schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. bestens beschrieben hat. Kein anderes Die E-Mail-Anschrift lautet: [email protected] Land wirft so viel Geld für die Subventio- nierung fossiler Energieträger zum Fenster In der Heftmitte dieser SPIEGEL-Ausgabe befindet sich in hinaus. Die NRW-SPD lässt dafür Grund- der Gesamtauflage ein 8-seitiger Beihefter der Firma Ro- schulen verrotten, nur um Jahr für Jahr denstock, München. Eine Teilauflage dieser SPIEGEL- Ausgabe enthält Beilagen der Firmen IBM Deutschland, 500 Millionen in die Kohle zu stopfen. Hof- Stuttgart, CCF Kinderhilfswerk, Nürtingen, FAZ, Frank- fentlich trägt Ihr Artikel dazu bei, dass furt, Pro.Idee, Aachen, sowie die Verlegerbeilage SPIE- ewiggestrige Kohleprotagonisten wie Cle- GEL-Verlag/KulturSPIEGEL, Hamburg.

16 der spiegel 9/2004 Briefe sche Ausbildung und mein Erststudium sind ment baldmöglichst von der politischen daran mehr oder weniger gescheitert, und Bildfläche verschwinden. das, obgleich die Mobbinghandlungen in- Königswinter (Nrdrh.-Westf.) Jürgen Maier zwischen gut zehn Jahre zurückliegen. Hausach (Bad.-Württ.) Matthias K. (Name ist der Red. bekannt) Es war erkennbar nicht vorrangiges Ziel des Artikels, neue Fakten zu nennen. Viel- mehr handelt es sich um die Aneinander- reihung altbekannter Vorwürfe und Be- Äußerst teures Hobby hauptungen gefolgt von belehrenden Nr. 7/2004, Bergbau: Der Subventionswahnsinn Schlussfolgerungen, damit der Leser auch Im Zusammenhang mit der Gründung der weiß, was er nach der Lektüre zu denken Ruhrkohle AG (jetzt RAG AG) 1969 war hat: Hierzu passt auch Ihre Umfrage, deren das Ziel der damaligen Bundesregierung Ergebnis allerdings nicht per se als berg- mit dem Bundeswirtschaftsminister Prof. baukritisch zu interpretieren ist. Dr. Karl Schiller, im Rahmen der Neuord- Essen Axel Schappei Gesamtverband des deutschen nung des Steinkohlenbergbaus die Stein- Steinkohlenbergbaus kohlenzechen mit dem Eintritt in die Herne Eberhard Schmitt Unwirtschaftlichkeit stillzulegen und die Deutsche Steinkohle AG Stilllegung mit flankierenden Maßnahmen des Staates abzufedern. Diese Absicht Ihr Artikel zeigt auf erschreckende Weise, wurde später aufgegeben. Ohne die in der wie stark sich in Deutschland viele von der Vergangenheit gewährten Bergbausubventionen wäre die gegenwärtige Staatsver- schuldung um einiges ge- ringer. Ich bin mal ge- spannt, wie lange uns noch die Politiker der Kohle- Fraktion diesen Subven- tionswahnsinn als vernünf- tige, sinnvolle und not- wendige Wirtschaftspolitik verkaufen wollen. Dinslaken (Nrdrh.-Westf.) Otto Breitwieser

Da ist aber ein übles Ge- bräu angerührt worden. Al- les, was die Bergbaugegner

früher und heute so be- / CARO A. BASTIAN haupten, wird unkritisch in Bergmann im Stollen: Wie lange noch? einen Topf geworfen. We- nig darüber, dass die Steinkohlesubventio- Realität verabschiedet haben. Während an nen bereits kräftig gekürzt worden sind den Universitäten immer mehr Geld und auch nach dem Plan des Bundeskanz- gekürzt wird, träumt der Bergbau von ei- lers weiter verringert werden. Kein Wort ner „Frischzellenkur“ und weiter vollen darüber, dass die heimische Steinkohle die Fleischtöpfen. In Deutschland weiß man größte nationale Energiereserve ist. Sind halt, wo man seine Prioritäten zu setzen Kohle aus Südafrika oder Erdgas aus Russ- hat. Wie gut, dass der Bergbau Leute wie land denn stets für uns verfügbar? Nach Herrn Clement hat, der sie weiter alimen- uns die Sintflut – das ist wohl das Motto tieren und ihre Pfründe sichern will, damit derjenigen, die glauben, sichere Energie noch lange mit reichlich Steuergeldern das falle uns vom Himmel in den Schoß! Übri- schwarze Gold heraufgeholt werden kann. gens, wenn das Hochwasserrisiko am Rhein Dieser Wahnsinn spottet wirklich jeder Be- so enorm steigt, wieso dann nur bei Herrn schreibung. Ein äußerst teures „Hobby“, Underberg am Niederrhein? welches sich die Bundesrepublik da leistet. Herne (Nrdrh.-Westf.) Heinz Bulka Mainz Michael Peters

Herzlichen Dank für diesen Beitrag, der Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- den ganzen Irrsinn der Kohlesubventionen schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. bestens beschrieben hat. Kein anderes Die E-Mail-Anschrift lautet: [email protected] Land wirft so viel Geld für die Subventio- nierung fossiler Energieträger zum Fenster In der Heftmitte dieser SPIEGEL-Ausgabe befindet sich in hinaus. Die NRW-SPD lässt dafür Grund- der Gesamtauflage ein 8-seitiger Beihefter der Firma Ro- schulen verrotten, nur um Jahr für Jahr denstock, München. Eine Teilauflage dieser SPIEGEL- Ausgabe enthält Beilagen der Firmen IBM Deutschland, 500 Millionen in die Kohle zu stopfen. Hof- Stuttgart, CCF Kinderhilfswerk, Nürtingen, FAZ, Frank- fentlich trägt Ihr Artikel dazu bei, dass furt, Pro.Idee, Aachen, sowie die Verlegerbeilage SPIE- ewiggestrige Kohleprotagonisten wie Cle- GEL-Verlag/KulturSPIEGEL, Hamburg.

16 der spiegel 9/2004 Panorama

ARZNEIMITTEL UMFRAGE: TÜRKEI

Potente Hasen „ Die Türkei bewirbt sich um die harmakonzerne neigen dazu, den Mitgliedschaft in der Europäischen PNutzen ihrer Medikamente schönzu- Union. Sollte die Türkei Ihrer Meinung reden. Zu diesem Ergebnis kommt eine nach mittel- bis langfristig in die EU Untersuchung von Wissenschaftlern des Instituts für evidenzbasierte Medizin in aufgenommen werden?“ Köln. Die Experten haben Broschüren Anhänger von: CDU/ B’90/ und Werbeprospekte analysiert, die gesamt SPD CSU Grüne FDP Pharmavertreter an Ärzte in Nordrhein- Westfalen verteilten. In 94 Prozent der Ja 54% 63 55 86 55 Fälle fanden sie unbelegte, irreführende oder sogar falsche Produktaussagen. So Nein % 31 38 14 43 bewarb die Firma UCB Pharma ihr 37 Herz-Kreislauf-Medikament „Corifeo“ mit dem Hinweis auf eine Studie, die „ Sollte der mögliche EU-Beitritt der dem Mittel eine Verträglichkeit wie ein Lutschbonbon bescheinigt habe. Türkei zu einem Wahlkampfthema Tatsächlich aber, so fanden die Forscher bei der Europawahl gemacht werden?“ heraus, warnt die zitierte Untersuchung vor schweren Nebenwirkungen bei „Co- Ja 23% rifeo“. Und Bayer verwies bei der Wer- bung für sein „Levitra“ auf Tests, bei der das Potenzmittel nicht nur Nein 69% „schnell“, sondern auch nachhaltig („Bis zu fünf Stunden“) gewirkt habe. TNS Infratest für den SPIEGEL vom 16. und 17. Februar; rund 1000 Befragte; Unterschlagen wurde, dass der Munter- an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/ Merkel (in Istanbul) keine Angabe macher nicht etwa an Männern, son- SEZER / AP MURAD dern an Hasen ausprobiert wurde, die für den Versuch betäubt worden waren. EUROPÄISCHE UNION CDU-Bürgermeister für Türkei-Beitritt ehrere CDU-Oberbürgermeister kritisieren die Türkei-Politik von Parteiche- Mfin . Die CDU-Vorsitzende hatte vergangene Woche bei ihrem Besuch am Bosporus den Türken an Stelle einer EU-Mitgliedschaft eine „privile- gierte Partnerschaft“ angeboten. „Wir dürfen nicht kategorisch ausschließen, dass die Türkei Mitglied der EU wird“, sagt dagegen der christdemokratische Stadtchef von Gelsenkirchen, . Ein Beitritt sei außen- und innenpolitisch sinn- voll: „Die EU muss beweisen, dass Islam und Demokratie kein Widerspruch sind.“ Auch Hamburgs Erster Bürgermeister Ole von Beust bekräftigt, dass der Türkei ein Beitritt nicht grundsätzlich verweigert werden dürfe. „Das hätte Vorteile für die EU“, so von Beust, „beispielsweise würde es der Wirtschaft eine Tür öffnen in den isla- mischen Raum über die Türkei hinaus.“ Die Kollegen aus Köln und Stuttgart, Fritz Schramma und Wolfgang Schuster, sehen eine „privilegierte Partnerschaft“ allen- falls als einen Zwischenschritt. „Man sollte den Türken die Tür zur EU nicht ver- schließen“, mahnt Schuster. Die CDU-Regenten warnen zudem davor, die Euro- pawahl zu einer Volksabstimmung über den EU-Kandidaten Türkei zu machen. „Levitra“-Werbung

BUNDESPRÄSIDENT nennt, wird auch vom Ausgang der Ham- In jedem Fall aber will die Parteichefin burg-Wahl abhängen. Sollte CDU-Spit- einen Unionskandidaten präsentieren. Merkels Zeitplan zenkandidat Ole von Beust die absolute Die FDP-Bewerber – Mehrheit verfehlen und nach der Wahl und Hans-Dietrich Genscher – sind in ie CDU-Vorsitzende Angela Merkel Koalitionsverhandlungen führen müssen, den internen Gesprächen zwischen CDU Dwill zur gemeinsamen Sitzung der bietet sich aus Merkels Sicht die Möglich- und CSU so gut wie durchgefallen. Auch Präsidien von CDU und CSU am 7. März keit, dann auch die Präsidentenfrage zu die Liberalen gehen inzwischen davon ihren Kandidaten für die Wahl des Bun- erörtern. Selbst eine Absprache mit der aus, dass die Chancen für einen Kandi- despräsidenten vorstellen. Wen sie be- SPD zieht die CDU-Spitze in Erwägung. daten aus ihren Reihen nahe null liegen.

18 der spiegel 9/2004 Deutschland

POST tion gibt es Überlegungen, das Unter- nehmen entweder durch eine Selbstver- Besserer Service pflichtung oder mit einer neuen Verord- nung dazu zu bringen, im ländlichen ach dem Willen des Regierungsla- Raum mehr Außenstellen zu betreiben. Ngers soll die Deutsche Post AG Zudem soll über erweiterte Öffnungs- kundenfreundlicher werden. Für die zeiten von Postfilialen und über die An- kommenden Wochen ist deshalb ein zahl der Briefkästen gesprochen wer- Treffen von Vertretern der SPD-Bun- den. Aus Kostengründen hatte der Bon- destagsfraktion mit Postchef Klaus ner Konzern unter anderem die Anzahl Zumwinkel geplant, bei dem über die der Briefkästen von rund 140000 auf Serviceleistungen des einstigen Mono- 108000 verringert, die der Filialen polisten, an dem der Bund 62 Prozent sank in den vergangenen sechs Jahren hält, beraten werden soll. In der Koali- von 10100 auf 5500.

EUROFIGHTER Jets im Abwind ie Bundeswehr wird wohl we- Dniger Eurofighter bekommen als geplant. Zwar hält Verteidi- gungsminister Peter Struck (SPD) offiziell am bislang teuersten Rüs- tungsprojekt – 180 Jets für rund 24 Milliarden Euro – fest. Aber Fach- leute im registrieren im- mer mehr Hinweise, dass Großbri- tannien seine Bestellung kürzen will und den Deutschen damit ei-

nen Anlass für Abstriche geben PRESS EADS / ACTION könnte: So wünscht Londons Eurofighter Wehrminister Geoffrey Hoon, das Produktionstempo zu drosseln. Er ver- Die Briten vernahmen keinen Protest ge- langt zudem, dass eine Ausrüstung der gen eine mögliche Reduzierung. Tatsäch- Eurofighter mit Präzisionswaffen, die erst lich halten auch Experten der Union – für spätere Jahre vorgesehen war, vorge- wie etliche Abgeordnete von SPD und zogen wird. Als weiteres Indiz dafür, dass Grünen – 180 Eurofighter für zu viel. die Briten nicht alle bestellten 232 Euro- Struck müsste mithin kaum Kritik fürch- fighter abnehmen wollen, gelten Sondie- ten, wenn er nur etwa 140 kaufen würde. rungen Londons bei den Unions-Parteien In einem Brief an Hoon hat Struck sich – CDU-Minister Volker Rühe hatte die bereit erklärt, Londons Wunsch nach ei- Jets in den neunziger Jahren geordert: ner „Programmänderung“ zu prüfen.

MEDIZINER diesen Patienten geht der Medizinische Dienst der Krankenkassen Niedersach- Tödliche Überdosis sen, der den Fall aufgedeckt hat, davon aus, dass sie nicht sterbenskrank waren, us dem Fall der am Mittwoch festge- die Ärztin ihnen aber trotzdem tödliche Anommenen Klinikärztin Mechthild Überdosen an Schmerzmitteln verab- Bach aus dem niedersächsischen Lan- reichte. Darüber hinaus hat die Polizei genhagen könnte eines der größten To- im Juni 2003 die Akten von weiteren 51 desermittlungsverfahren der Patienten beschlagnahmt, die Bundesrepublik werden: Nach- kurz vor dem Tod noch Morphi- dem die Staatsanwaltschaft um erhielten. Auch geraten nun Hannover in acht von elf unter- alle weiteren Todesfälle in das suchten Fällen vom dringenden Blickfeld der Fahnder, die es in Tatverdacht des Totschlags aus- Bachs Belegbetten seit 1982 ge- geht, hat der eingeschaltete geben hat. Weil allein zwischen Gutachter, der Bochumer Januar 2000 und Juni vergange- Schmerz-Mediziner Michael nen Jahres 251 Bach-Patienten

Zenz, nun noch weitere 14 Ak- FENDER / DPA FRANZ starben, belaufen sich die Schät- ten zu überprüfen. Auch bei Bach zungen auf mehr als 1500 Tote.

der spiegel 9/2004 19 Panorama Deutschland

AUSSENPOLITIK Bundeswehr in Haiti uf Grund der bürgerkriegsähnli- Achen Unruhen in Haiti hat das Ber- liner Auswärtige Amt die Bundeswehr zu Hilfe gerufen. Ein so genanntes Kri- senunterstützungsteam des Wehr- ressorts reiste vergangene Woche in die Hauptstadt Port-au-Prince. Die Offizie- re überprüften die Schutzvorkehrungen an der deutschen Botschaft sowie der Residenz des Missionschefs und erkun- deten Fluchtrouten für eine mögliche Evakuierung des Personals – rein vor- sorglich, wie in Berlin beteuert wird. Die Vertretung in Haiti besteht nur aus dem Botschafter Gordon Kricke und ei-

nigen örtlichen Hilfskräften; die Konsu- / PHALANX KOEHLER THOMAS lar-Abteilung ist in die benachbarte Do- Polizisten in Berlin minikanische Republik ausgelagert. Die Sicherheitsexperten der Bundeswehr BEAMTE beraten routinemäßig Botschaften in al- ler Welt und waren nach dem Irak- Krieg auch in Bagdad tätig. Berliner Billigpolizei eil das von Finanznot geplagte Berlin rund 900 Polizisten, die derzeit ausge- Wbildet werden, aus Kostengründen nicht als Beamte einstellen will, bietet das Land den Nachwuchskräften eine Anstellung im Polizeivollzugs- oder Wachdienst an. Offeriert werden Zweidrittelstellen mit der Bezahlung nach BAT VIb und VIII. Die Grundvergütung für einen Wachpolizisten etwa betrüge rund 740 Euro im Mo- nat. Ein entsprechender Antrag liegt dem Gesamtpersonalrat der Bundeshauptstadt bereits vor. Teilweise kommen die Polizeischüler bei Bundes- und Länderpolizei- en unter. Vor allem Hamburg, das schon in der Vergangenheit 336 fertig ausgebil- dete Ordnungshüter übernommen hat, ist weiter interessiert. „Der Berliner Senat nutzt die Angst junger Menschen vor Arbeitslosigkeit schamlos aus“, kritisiert Konrad Freiberg, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei. Freiberg kündigt Wi-

ROBERTO SCHMIDT / AFP SCHMIDT ROBERTO derstand an: „Eine Billigpolizei auf Sozialhilfeniveau ist mit uns nicht zu machen.“ Unruhen in Haiti

UMWELT eine Milliarde Euro eingespart werden soll. Der Strom der Öko-Tochter Natur- Nachgefragt Naturenergie gekappt energie stammt fast ausschließlich aus Wasserkraftwerken am Hochrhein. Im eutschlands größter Ökostrom- vergangenen Jahr verdoppelte das Un- Duo ohne Schwung DHändler, die in Grenzach-Wyhlen ternehmen zwar seinen Elektrizitätsver- Werden sich – durch die neue am Hochrhein ansässige Naturenergie, trieb außerhalb der eigenen Netze auf wird sich wohl aus dem bundesweiten rund 36 Millionen Kilowattstunden, Aufgabenverteilung zwischen Stromhandel zurückziehen müssen. doch der Handel mit der sanften Ener- Müntefering und Schröder – die Der Trikotsponsor des Fußball- gie blieb ein Zuschussgeschäft. Die bun- Wahlchancen für die SPD bei Bundesligisten SC Freiburg fällt unter desweit bekannteste Ökostrom-Marke der anstehenden Bürgerschafts- die Sparmaßnahmen seiner Firmenmut- soll künftig nur noch regional weiterge- wahl in Hamburg erhöhen? ter EnBW. Der führt werden. Die Karlsruher Konzern, Entscheidung der Ja, erhöht Wahlchancen der im Südwesten Konzernzentrale fünf Atomkraftwerke kommt überra- 24 % KOALL CARSTEN betreibt, hat unter schend, weil sich Fir- dem neuen Vor- menchef Claassen Nein, standschef Utz unter anderem durch erhöht Wahlchancen nicht % Claassen im vergan- Auftritte bei den 63 genen Herbst ein ri- Grünen ein Image weiß nicht TNS Infratest für den SPIEGEL gides Sanierungs- als umweltbewusster vom 16. und 17. Februar; rund 1000 Befragte; an 100 programm aufgelegt, / LAIF HOOGTE / HOLLANDSE ROB HUIBERS Stromboss zu geben 12 % fehlende Prozent: keine Angabe bei dem jährlich Naturenergie-Trikot (SC Freiburg) versuchte.

20 der spiegel 9/2004 HERBY SACHS / VERSION SACHS HERBY Karnevalsfigur Schröder, Politiker Westerwelle, Scherf (o.), Maget, Beckstein, Althaus auf diesjährigen Prunksitzungen: „Jetzt muss ich bloß Das Tollhaus Soll man lachen oder weinen? Maut, BahnCard, Gesundheitsreform – eine Panne nach der anderen lässt die Deutschen an ihrem Land verzweifeln. Sind wir ein Volk von Versagern, unfähig zum Fortschritt, regiert von Stümpern? Oder müssen wir die Karnevalisierung der Politik mit Humor nehmen?

arr müsste man sein oder Jeck, man hard Schröder schon „gelebte Nachkriegs- Der Karneval war traditionell immer ein dürfte sich die Hände reiben und zeit“. Einer, dessen Politik die Worte nicht Ventil, durch das die Untertanen ihren Nsich freuen über ein Land, das so mehr lohnt. „Vier Ehen, drei Trümmer- Zorn und ihren Spott über die Obrigkeit viel Stoff liefert für die Büttenreden dieser frauen“, trompetet Büttenredner Guido abließen. Auf den Sitzungen und Straßen- Karnevalssession wie in keinem Jahr zuvor. Cantz in den Saal. Dreifacher Tusch, die zügen tobte sich das Volk aus. „Helau in Dosenpfand und Stolpe-Maut, Rentenklau Menge tobt. alle Welt – Lachen kost’ kein Geld“ hieß und Putzfrauenschnüffler, ta taa – ta taa, Cantz legt nach – und ist der Mainzer Rosenmontagszug 1999. Im ein Brüller nach dem anderen, ein Lacher dran: „Vielleicht gibt es bald bei Ebay ’ne Jahr 2001 zogen die Dortmunder unter folgt dem nächsten. In den närrischen Fest- Offerte. Gut erhaltenes künstliches Hüftge- dem Motto „Uns Narren tut es heut nicht sälen der Republik wird getrampelt vor lenk abzugeben. Einziger Nachteil: Opa ist weh, wir feiern auch trotz BSE“ durch die Vergnügen, und in den Werkstätten der noch dran.“ Der Saal brodelt. Hart, gehäs- Straßen, im Jahr darauf feierten die Main- Karnevalsvereine wird voller Vorfreude ge- sig und immer in die Weichteile, das kommt zer unter der Parole „Dank Euro wird die bastelt an den Wagen, die am Rosenmon- an. Karneval 2004 ist Karneval brutal. Fastnachtsfeier jetzt aach in Määnz nur tag auf den Straßen von Düsseldorf und Der Kölsche Berufskomiker Bernd Stel- halb so deier“. Und in diesem Jahr? Da Köln, von Mainz und Aachen und in den ter fühlt sich „wie am Ende der Ära Kohl“. heißt es in Köln fröhlich resigniert: „Laach anderen Hochburgen des Frohsinns die Wo in den vergangenen Jahren das Florett doch ens, et weed widder wäde.“ Pannen der Politik, die Deppen der Na- gefragt war, reicht heute der Holzhammer. Der Volkszorn wird in der Kölner Bütt tion, die Lachnummern des Jahres vor- „Jetzt muss ich bloß sagen, Hans Eichel entsorgt: „Frage ans Kind: Wo arbeitet dein überziehen lassen. hat den Nobelpreis für Mathematik ver- Papa? Antwort: Der kellnert in einer Helau! Alaaf! Was für ein dankbares dient, er hat das „circa“ bestimmt, und Schwulenbar. Rückfrage: Wie kommst du Jeckenjahr. Im Kölner Karneval ist Ger- schon liegen die Leute flach.“ denn darauf? Kind: Ich kann doch nicht

22 der spiegel 9/2004 Titel GEORG HILGEMANN / ACTION PRESS / ACTION GEORG HILGEMANN FEDERICO GAMBARINI / DPA FEDERICO GAMBARINI JOERG KOCH / DDP (L.); FRANK OSSENBRINK (R.) / DDP (L.); FRANK JOERG KOCH sagen, Hans Eichel hat den Nobelpreis für Mathematik verdient, und schon liegen die Leute flach“

sagen, dass er für die SPD arbeitet.“ Die kehrsministerium zum letzten, ultimativen Am Anfang ist immer alles gut gemeint „Implosion einer großen Volkspartei“ ist Gipfeltreffen mit dem Betreiberkonsortium und einfach: bei Dosenpfand und Ar- auch bei den Nachbarnarren in Düsseldorf Toll Collect. Es war mindestens das dritte beitsmarktreformen, Steuermodellen und „ein ideales Motiv“, wie Wagenbaumeis- letzte, ultimative Gipfeltreffen in dieser Maut. Dann wird es unglaublich schwierig. ter Jacques Tilly frohlockt, der es dieses Angelegenheit. Am Ende sind nur noch die Fehler im Jahr im Düsseldorfer Zug „deftig krachen Vom Prinzip her ist das Mautsystem System ganz simpel zu erklären: Die fe- lassen will“. Eins-a-Werbung für den Innovations- derführenden Konzerne DaimlerChrysler Schröders Flucht vor der Parteispitze standort Deutschland – wie der Transra- und Deutsche Telekom haben zu viel ver- wirkt wie das Wegziehen eines Vorhangs. pid, der seit 17 Jahren auf einer Test- sprochen, die Politiker zu viel geglaubt. Ein Tusch! Das Volk schaut auf den Kanz- strecke im Emsland auf seine große Die einen trieb der als Optimismus ka- ler und seine Regierung, schaut auf die Zukunft wartet. Zurzeit wird noch ge- schierte eigene Größenwahn, die anderen Opposition und das Land, und es sieht die stritten, ob er wenigstens als elegantere eine geldgeile Naivität, die sie sich als Probleme und Pannen dieser Republik an S-Bahn in München taugt. Ist aber un- Innovationsfreude zurechtlogen. Das ist sich vorbeiziehen wie die Themenwagen wahrscheinlich. eigentlich schon alles. eines Rosenmontagszuges. Das Mautsystem aus dem Tollhaus ist Seither regiert weder die Industrie noch Zukunft made in . Und es ist der Minister, noch gar der gesunde Men- doch wirklich kein großes Ding, die On schenverstand, sondern der Sachzwang: Board Units mit Empfängern für das ame- Stolpe konnte nicht zurück, weil er sonst rikanische GPS-Ortungssignal auszurüs- endgültig Gesicht und Job verloren hätte. Die Zukunft, made in Germany ten, damit die GSM-Mobilfunkverbindung Die Konzerne durften nicht zurück, weil Politische Witze auf Karnevalssitzungen er- neben Maut- auch Telematikdaten, die sie jedes Entgegenkommen in puncto fordern politischen Sachverstand und Fin- über die Fleet-Management-Schnittstelle Ausfallzahlungen ihren Aktionären nicht gerspitzengefühl. Man will ja nicht den (FSM) vom Can-Bus der Lkw übermittelt erklären könnten. Wer bei dieser Lach- Schwarzen, Grünen, Gelben oder Roten werden, an die GNSS/CN-Zentrale sen- nummer zuerst zuckte, hatte verloren. Man unter den Gästen den Abend verderben. den kann, auch wenn die EU-Transak- entschied sich dann, gemeinsam unter- Aber in dieser Saison gibt es einen Kra- tionsnorm CARDME noch nicht … oder zugehen. cher, einen Heuler, einen Abräumer. Es ist so ähnlich. Über elf Stunden dauerten die Ver- der kürzeste Witz jedes Abends. Er hat nur „Ein relativ einfaches System“, fand das handlungen bis in den Morgen des ver- vier Buchstaben. M – A – U – T. Allerdings Computer-Fachorgan „C’t“ – „wenn es gangenen Dienstags. müssen die Büttenredner jeden Morgen denn funktioniert.“ Einmal soll es im Pro- Vorher machten sich alle Mut, dass Zeitung lesen, um ihre Pointen auf den bebetrieb sogar gelaufen sein. Das war im es eine Entscheidung geben werde. Es neuesten Stand zu bringen. vergangenen Jahr, an einem Sonntag, als hörte sich an, als würde man schon ein In der Nacht zum vergangenen Dienstag kaum ein Laster auf deutschen Autobah- „Jein, oder eventuell vielleicht“ als Durch- kam es in Manfred Stolpes Berliner Ver- nen fuhr. bruch verstehen. Es war ein bisschen

der spiegel 9/2004 23 Titel wie die Polit-Inszenierung einer Tarifver- anderes Land gemacht. Sie beschäftigt nommen Perl-, Schaum-, Wermut- und handlung. seine Bürger, seine Politiker, seine Ge- Dessertweine“) unter 72 Prozent sinken. Stolpe sah am Dienstagmorgen noch richte und seine Gesetze. Inzwischen ist Töpfers Verordnung war ungefähr so ver- schläfriger aus als sonst, aber auch ir- sie so groß, dass die ganze Republik hin- ständlich wie die Gebrauchsanweisung für gendwie erleichtert, als er die Kündigung einpasst. einen koreanischen Videorecorder, und es ankündigte. Honeckers letzter Mann in Man kann sagen, dass es etwa 1990 an- passierte erst mal nichts. Schröders Kabinett macht jetzt das Licht fing, als die Umweltschützer und die Ossis 1997 sank die Mehrwegquote auf 71,33 aus, sofern man ihn noch lässt. Macht über Deutschland bekamen. Die Prozent, die Umweltministerin hieß Ange- Wenn er das Projekt neu ausschreibt, Ossis waren frei, sie wollten keine Weih- la Merkel, sie war in der DDR groß ge- dauert es noch einmal 36 Monate. Es geht nachtspakete mehr mit Jakobs-Bohnen- worden, und weil in der DDR auch nicht um Milliarden-Ausfälle, um Haftungsfra- kaffee und Bellinda-Feinstrumpfhosen, sie alles schlecht war, erließ sie eine neue gen, um gegenseitige Schadensersatzfor- wollten Bier aus der Dose. Es gab plötzlich Verpackungsverordnung. Sie sollte noch derungen. Die Industrie steckte bislang irrsinnig viele Dosen in Deutschland. Sie einfacher, noch logischer sein als Töpfers rund eine Milliarde Euro in die Maut. Der lagen rostig in der Landschaft, und die Um- Verordnung. Pflichtpfand, hieß es nun, be- Bund bilanziert bis Ende des Jahres Aus- weltschützer stellten fest, dass die Quote stehe für solche Getränke, „für die der im fälle von fast drei Milliarden. für Mehrweg-Getränkeverpackungen nach Jahr 1991 festgelegte Mehrweganteil un- Toll Collect hat noch einmal zwei Mo- unten ging. terschritten ist“. Es waren nur zehn Wor- nate Zeit nachzubessern. Es wird weiter- Wäre das alles, zum Beispiel, in Polen te, sie klangen ungefährlich. In Wirklichkeit gehen. Es geht immer weiter. Immer im passiert, und hätten die Polen gesagt, dass war es ein Schießbefehl auf Dosen, auf Kreis, und am Ende gibt es nicht mal eine man etwas daran ändern müsse, wahr- Hausfrauen, auf Müllmänner, auf Super- S-Bahn. Wie beim Transrapid. Der fährt, fi- scheinlich wäre die Getränkedose in Polen marktkassiererinnen. nanziert von deutschen Steuermilliarden, von einem Tag auf den nächsten verboten Fünf Jahre lang passierte wieder nichts, jetzt in Shanghai, meistens leer. Er ist zu worden. Aber es passierte nicht in Polen. weil die deutsche Industrie erst mal Pro- teuer und hält weit vor der Innenstadt. Da Es passierte in Deutschland. zesse gegen das drohende Gesetz führte. fahren die Leute lieber mit dem Taxi. Klaus Töpfer war damals Umweltmi- Die Industrie fürchtete den Tod der Dose. nister und erließ 1991 die erste „Ver- Sie ging vor Verwaltungsgerichte, Ober- packungsverordnung“ in der Geschichte verwaltungsgerichte, vor das Bundesver- der deutschen Politik. Sie sollte einfach fassungsgericht. Es gab rund 30 Verfahren sein und logisch und für jedermann ver- und hoch spezialisierte Dosenanwälte. Sie Im Namen der Dose ständlich. Darin hieß es, es werde ein wurden ungefähr so reich wie Klaus Esser Sie ist 52 Millimeter breit, 168 Millimeter Pflichtpfand auf Dosen geben, sollte der und Josef Ackermann. Am Ende hatten hoch und 27,3 Gramm schwer. Sie ist so Mehrweganteil bei Bier, Wasser, Sprudel- alle verloren – bis auf Jürgen Trittin, den klein. Aber sie hat aus Deutschland ein getränken, bei Saft und Wein („ausge- Nachfolger von Angela Merkel. Früher war THOMAS GRABKA / ACTION PRESS / ACTION GRABKA THOMAS Minister Trittin bei Berliner Aktion gegen Dosen: Früher war er für Kommunisten, heute ist er für Mehrwegflaschen

24 der spiegel 9/2004 Trittin für die Kommunisten, heute ist er für Mehrwegflaschen. Trittin machte Merkels Verordnung zum Gesetz, seit dem 1. Januar 2003 gibt es in Deutschland Pflichtpfand. Apfelschorle kostet Pfand, Apfelsaft nicht. Eistee mit Kohlensäure kostet Pfand, Eistee ohne Kohlensäure nicht. Cola in Dosen kostet Pfand, Whisky-Cola in Dosen nicht. Im Kölner Karneval lagen kaum noch Do- sen auf den Straßen, dafür mussten die Jecken mit Schnittverletzungen abtranspor- tiert werden, weil alles voller Scherben war. Man warf jetzt Flaschen weg, nicht mehr Dosen, weil das Pfand auf Flaschen 17 Cent weniger kostete als das Pfand auf Dosen. Es war im Juli 2003, als die deutsche Do- senwut die EU-Kommission erreicht hatte. Der Kommissionspräsident Romano Prodi forderte ein einheitliches, landesweites Rück- nahmesystem, damit ausländische Herstel- ler nicht benachteiligt würden. Im Oktober leitete die EU-Kommission deshalb ein Ver-

tragsverletzungsverfahren gegen Deutsch- DARCHINGER MARC land ein. Jürgen Trittin hat inzwischen eine Abstimmung im Bundestag: Massenproduktion mit hoher Fehlerquote Novelle von Angela Merkels Gesetz ent- worfen. Sie sieht nochmals eine Vereinfa- dern, war eine breit gestreute, ökologisch Seit Gerhard Schröder vor gut fünf chung der Regeln vor, sagt Trittin. Er will verbrämte Subvention geworden – das Jahren zum Kanzler aufstieg, häufen sich nur noch umweltfeindliche Verpackungen Kamelle-Prinzip. die Gesetzespannen. Anfangs mochte bepfanden, nicht mehr unterschiedliche Im Juni 2003 legte die Bundesregierung man Rot-Grün noch zugute halten, dass Drinks. Andernfalls, sagt Trittin, müsse dem- den Rückwärtsgang ein, Hans Eichel nach 16 Jahren Abstinenz von der Re- nächst auch noch Pfand auf Weinflaschen brauchte Geld, er wollte die Pauschale gierungsmacht nicht gleich alles rund und klebrige Saftkartons erhoben werden. wieder kürzen: Nur wer mehr als 20 Kilo- laufen kann. Sein neues Gesetz soll für alle Getränke meter zur Arbeit fährt, hätte seine Kosten „Die zweite Legislaturperiode hat ge- gelten, jedenfalls für die meisten. Träte es noch absetzen können. Drei Tage hielt der nauso stümperhaft begonnen wie die ers- in Kraft, würde zum Beispiel der Multi- Plan, dann scheiterte er am Widerstand in te“, sagt Ulrich Karpen, Hamburger Pro- vitamin-Drink von „Müller“ bepfandet, der Koalition. Stattdessen setzte die Re- fessor für Öffentliches Recht. Er beklagt „Müllermilch Erdbeere“ von „Müller“ da- gierung eine „Arbeitsgruppe Entfernungs- eine Flut von handwerklich miserablen gegen nicht. Wegen der Molke. Im Mo- pauschale“ ein – doch während die noch Vorschriften, die den Bürger verwirren – ment steckt die Novelle im Bundesrat fest. nachdachte, trat Eichel mit einem eigenen, und den Abgeordneten. Oft bekommen die neuen Modell nach vorn: Arbeitswege von Abgeordneten erst ein, zwei Tage vor der weniger als 20 Kilometern sollten jetzt doch Abstimmung stapelweise Gesetzesände- abgesetzt werden können, allerdings nur, rungen auf den Tisch. wenn der Steuerzahler nicht mit dem Auto, So konnte es geschehen, dass Rezzo Kamelle für Pendler sondern mit öffentlichen Verkehrsmitteln Schlauch 1999 erst aus der Presse erfuhr, Wenn der Prinz Kamelle schmeißt, dann anreist. Zwei Tage später war auch diese dass er gegen ein neues Gesetz verstieß: mit vollen Händen und schön gleichmäßig Idee tot. Der nächste Einfall: Es gibt pro Die Honorarkraft in seinem Büro ent- nach allen Seiten. Das sieht gerecht aus, ist Kilometer 15 Cent, und zwar vom ers- puppte sich plötzlich als scheinselbständig. es aber nicht: Auf die dicken Kinder regnet ten Kilometer an und gleichermaßen für Der damalige grüne Fraktionsvorsitzende es genauso viele Süßigkeiten wie auf die Auto-, Bus- oder Bahnfahrer, und für war genauso entsetzt über die missratene dünnen. Manchmal verhält sich der Staat Fußgänger auch. Vorschrift wie andere Betroffene auch. wie Prinz Karneval. Seine Kamelle sind Das Vor und Zurück ist zur routinierten Und hatte sie, ganz ohne es zu wissen, die Subventionen und heißen zum Beispiel Mechanik rot-grüner Politik geworden. Ein doch selbst mit durchgesetzt. Inzwischen „Pendlerpauschale“. Sie werden gleich- Gesetz oder eine neue Vorschrift an- wurden die Bestimmungen, die kleine mäßig, aber ungerecht verteilt, sie haben zukündigen, sie dann fallen zu lassen und Selbständige um den Broterwerb brachten, ungewollte Nebenwirkungen, und jeder, mit einem neuen Vorhaben vergessen zu schon zweimal korrigiert. Die Verwirrung der sie abschaffen will, kriegt den Zorn der machen, das ist schon so etwas wie Re- ist geblieben. Wähler zu spüren. gierungsstil. Die Putzfrauen besteuern, Mit Stolz präsentierte die Bundesregie- Die Pendlerpauschale stammt aus dem das BKA umsiedeln, die Eigenheimzula- rung vor zweieinhalb Jahren ihr neues Jahr 1920. Seit damals können Fahrten zwi- ge streichen, das läuft immer nach dem Mietrecht. Sie pries es, wie so manches an- schen Wohn- und Arbeitsort steuerlich gel- Muster von trial and error. dere, als Jahrhundertwerk. Und ließ es für tend gemacht werden. Genau 864 Gesetzesvorlagen wurden die Ewigkeit ins Bürgerliche Gesetzbuch 1998 kamen Rot-Grün und die Ökosteu- während der vergangenen Legislaturperi- schreiben. Dort blieb es gerade mal 121 er. Die Spritpreise stiegen, die Kilometer- ode in Bundestag und Bundesrat einge- Tage ungeschoren, dann stand die erste pauschale wurde in Entfernungspauschale bracht – im Schnitt fast eine pro Arbeitstag. Änderung an: Es kollidierte mit dem umbenannt, auf bis zu 40 Cent erhöht und Immerhin 548 davon traten in Kraft, in die- Schuldrechtsreformgesetz, das hatte man galt fortan für jedes Transportmittel – selbst ser Legislaturperiode sind es bisher im- schlicht übersehen. Fußgänger sparen jetzt Steuern. Aus der merhin über 200 neue Gesetze. Eine Mas- Und die Pendlerpauschale? Im Vermitt- Idee, tatsächlich anfallende Kosten zu min- senproduktion mit hoher Fehlerquote. lungsausschuss einigten sich die Parteien

der spiegel 9/2004 25 MARC-STEFFEN UNGER MARC-STEFFEN Verteidigungsminister Struck auf SPD-Fest in Berlin: „Laach doch ens, et weed widder wäde“ auf eine Kürzung von 40 auf 30 Cent pro matisch verschoben“ oder „Kanzler, tu’ zialamt zahlt so einem noch die Sonnen- Kilometer. Bis der Finanzminister den was! Himbeer-Eis auf Krankenschein!“ creme. Massenarbeitslosigkeit, Haushalts- nächsten Vorstoß wagt. die rot-grüne Reform-Stau-Koalition am löcher, Agenda 2010 – plötzlich schien alles 16. August auf einen weiteren Missstand ganz einfach. Das Elend hatte endlich einen hingewiesen, den es abzustellen galt: Namen: Florida-Rolf. Und der war, wie „Sozialamt zahlt am Strand Wohnung in sogar ein Feuilletonist der „Süddeutschen Florida. Ist unser Sozialstaat jetzt völlig Zeitung“ hervorhob, das „Fanal einer Zeit Keine Stütze unter Palmen bescheuert?“ im Umbruch“. Es gibt Tage, an denen Debatten im Parla- Stein des Anstoßes war Rolf-Manfred „Der Missbrauch“, tönte der Kanzler, ment nicht weiterführen. Solche, an denen John, wohnhaft: Collins Avenue, North „ist wirklich schlimm. Und der muss, wenn Regierungen einfach handeln müssen. Beach, Miami/Florida, USA. Einer von 959 Gerichtsurteile das nicht selbst hinkriegen, Schnell und hart, ohne Rücksicht auf deutschen Sozialhilfeempfängern, die zu gesetzlich ausgeschlossen werden.“ Gesagt, Verluste. Weil Gefahr im Verzug ist und diesem Zeitpunkt im Ausland lebten und getan. die Nation vor Schaden bewahrt werden die Allgemeinheit 2002 etwa 4,3 Millionen Nur vier Tage später lag der Ände- muss. Euro kosteten – ganze 0,017 Prozent von rungsantrag zum Paragrafen 119 Sozialhil- Der 2. September 2003 war so ein Tag. rund 25 Milliarden, die in jenem Jahr für fegesetz auf dem Kabinettstisch. Berlin, gegen zehn Uhr morgens: Das Ka- Sozialhilfe ausgegeben wurden. Aber das Künftig sollen nur noch Menschen, die binett kommt im sechsten Stock des Bun- spielte keine Rolle. für einen längeren Zeitraum in Kranken- deskanzleramts zusammen, um die dring- Auch die Tatsache, dass die Richter häusern oder Pflegeheimen liegen oder im lichsten Probleme der drittgrößten Indu- des Niedersächsischen Oberverwaltungs- Gefängnis sitzen, ihre Stütze ins Ausland strienation der Welt zu besprechen. gerichts, deren Beschluss den „Bild“-Auf- bekommen. Auch einige Sonderfälle dür- Ganz oben auf der Agenda: Die „ge- schrei auslöste, festgestellt hatten, John fen noch bleiben. plante Ausweitung des deutschen Engage- habe grundsätzlich Anspruch auf die Ge- Der Rest muss zurück, und das könnte ments in Afghanistan“ und der Einsatz ge- währung von Sozialhilfe für Deutsche im für Deutschland teurer werden als die alte gen „Florida-Rolf“ als „Eindämmung des Ausland, interessierte niemanden. Lösung. Mit oder ohne Florida-Rolf. Denn Missbrauchs bei Erteilung von Sozialhilfe Dass es in dem Rechtsstreit um ganze 88 im Durchschnitt liegt die Sozialhilfe für im Ausland“. Dollar Mietzuschuss monatlich ging, die Bundesbürger im Ausland bei monatlich In puncto Afghanistan hat Verteidi- das Landesamt für Zentrale Soziale Auf- 374 Euro – rund 200 Euro niedriger als gungsminister Peter Struck (SPD) die gaben über das gesetzliche Maß hinaus in Deutschland. Aber das macht nichts. Linie vorgegeben: Deutschland werde zahlen sollte – ein halbes Jahr lang, binnen Schließlich geht es ums Prinzip. fortan auch „am Hindukusch verteidigt“. dessen sich John eine billigere Wohnung Schon Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Die Erkenntnis, dass der Sozialstaat in suchen musste: geschenkt. Philosoph und Großmeister des deutschen Florida eine offene Flanke hat, verdankt Was zählen Details, wenn die Stütze Idealismus, wusste, dass jedes System, das die Regierungsrunde der „Bild“-Zeitung. an eine Adresse überwiesen wird, die konsequent zu Ende gedacht und damit Die hatte nach einem glutheißen Som- nach Cocktails und Bikini-Hasen klingt? verabsolutiert wird, sich selbst zu Grunde mer mit Schlagzeilen wie „Äquator dra- Deutschland ist verschuldet, und das So- richtet.

26 der spiegel 9/2004 Titel

weg. Dazwischen schrien ein halbes Jahr Es geht jetzt nicht mehr um Polit-Refor- lang Gewerkschafter und Aufsichtsräte, men oder einen Börsengang. Es ist kein Verkehrspolitiker und Verbraucherschüt- Spiel mehr. Es geht ums Überleben. Der Zug kommt zer wild durcheinander. Mehdorn blaffte Als die beiden noch klein waren, träumte zurück. Er ist – wie soll man sagen – nicht der eine von einem Arbeitsleben bei der immer von diplomatischem Feingeist be- Post. Der andere wollte später Pilot wer- seelt. Aber er hat, wie sein Kanzler, ein den. Eine Karriere als Politiker oder Lo- Gespür für Stimmungen und Macht. Wider den tierischen Ernst komotivführer schwebte keinem von ih- Die Deutsche Bahn AG gehört dem Von Zeit zu Zeit werden in der Politik Sät- nen vor. Vielleicht ging das Elend damit Bund. Im Bund muss man Wahlen gewin- ze geboren, die bleiben ewig. „Die Rente los. Denn jetzt sind sie beide groß. nen. Wahlen gewinnt man nicht mit einem ist sicher“ von Norbert Blüm war so ein Der Wunsch-Postler ist Bundeskanzler irrlichternden Bahn-Chef, der sich am Satz. geworden und heißt Gerhard Schröder. liebsten gleich mit Millionen von Kun- Oder Kohls „blühende Landschaften“. Der Flugzeug-Fan wurde Vorstandsvorsit- den/Wählern anlegt. „Das Amt darf nicht beschädigt werden“ zender der Deutschen Bahn AG und heißt Es gab mal jemanden, der Ron Sommer ist auch so ein Satz. Hartmut Mehdorn. Der eine bekam die hieß, die Deutsche Telekom fit machen Es geht um das höchste Amt, das die komplette Republik als Spielwiese, der sollte und dabei zusehen musste, wie erst Bundesrepublik Deutschland zu vergeben andere ihre größte Modelleisenbahn mit der Kurs seiner Volksaktie und dann er hat. Ein Bundespräsident muss Bäume 35804 Gleiskilometern und 31346 Brücken. selbst in den Keller geschickt wurde. Es pflanzen und Orden umhängen können. Beide sehen in letzter Zeit nicht mehr sehr gibt Herrn Sommer noch immer, aber nicht Er muss Weihnachtsansprachen halten. Er glücklich aus in ihrem Job. mehr bei der Telekom. Mehdorn hatte ver- muss zuhören können. Ein Bundespräsi- „Bahn-Chef ist der zweitverrückteste standen. dent lebt vom Geschick seiner Finger und Job, den die Nation zu vergeben hat“, sag- Er schmiss ein paar Manager raus. Ir- von der Kraft seiner Worte. Es war noch te Schröder am Anfang zu seinem Meh- gendwer musste ja verantwortlich sein für niemals leicht, den Richtigen zu finden. dorn und ließ keinen Zweifel daran, wer das BahnCard-Debakel, die einbrechen- Johannes Rau hat sich lange mit der Fra- den verrücktesten hat. Dann machten sich den Gewinne, das miese Image. Sich selbst ge herumgequält, ob er noch mal für eine Kanzler und Konzernchef ans Umbauen. ließ er den Vertrag verlängern. Dann führ- zweite Amtszeit kandidieren soll oder Jahrhundertreformen standen an in Un- te er die alte BahnCard wieder ein. Beim nicht. Er hatte immer gesagt, dass er diese ternehmen wie Republik. Kanzler läuft das so ähnlich. Entscheidung unabhängig von den Mehr- Was für Schröder die Agenda 2010 wur- Mehdorns Bahn ist Schröders Republik heitsverhältnissen in der Bundesversamm- de, sollte der Börsengang für Mehdorn überhaupt sehr ähnlich. Dauernd verspätet lung treffen möchte. Der Respekt vor dem werden. Er fing mit einem neuen Preis- sich irgendwas, und schuld sind immer die Amt sei zu groß, als dass man es solchen system namens „Pep“ an, das vor allem anderen. Zahlenspielereien unterwerfen dürfe. bedeutete, dass die alte BahnCard abge- Beide haben ein Kommunikationspro- Als dann Anfang September vergange- schafft wurde. Das Projekt war schneller blem. Deshalb schickte Schröder auch noch nen Jahres klar wurde, dass die CSU die auf dem Markt als Hartz III und IV im seinen Generalsekretär nach Hause und bevorstehende Bayern-Wahl mit einem his- Bundestag, aber auch schneller wieder Mehdorn seinen Pressesprecher. torischen Ergebnis gewinnen würde, so dass Union und FDP in der Bundesver- sammlung eine klare Mehrheit haben wür- den, nutzte Rau seine alljährliche Som- merparty für Journalisten, um in den Rauch von Grillwürsten hinein zu sagen, dass er sich also nun doch nach gründlicher Überlegung entschlossen habe, nicht mehr zu kandidieren. Das Alter. Die Lebenspla- nung. Die Belastungen des Amtes. Er sag- te, er habe die Entscheidung schon im Frühsommer getroffen, aber keinem was davon gesagt, um das Amt nicht durch end- lose Diskussionen um den richtigen Nach- folger zu beschädigen. Man trank dann ganz schnell noch ein Bier. Die Spitzen der großen Volksparteien sprachen von einem würdigen Abgang, so wie es die Würde des Amtes erfordert. An- gela Merkel von der CDU sagte, die Art und Weise, in der Rau seinen Verzicht er- klärt habe, stehe beispielhaft für sein Amts- verständnis. Die Union werde den Rest von Raus Amtszeit mit der notwendigen Ach- tung und Respekt begleiten. Gerhard Schröder von der SPD bat darum, man möge die Kandidaten-Debatte mit Respekt vor Amt und Personen führen. Schröders erster Vorschlag war, dass es nun eine Frau machen solle. Alle Parteien waren sich einig, dass er das gesagt hatte,

JÖRG HEMPEL um Angela Merkel als Kanzlerkandidatin Karnevalsfigur Mehdorn: Es geht ums Überleben zu verhindern. Wenn es eine Bundespräsi-

der spiegel 9/2004 27 Titel dentin gäbe, kann es nicht auch noch eine Dann brach auch noch die Wirtschaft Kanzlerkandidatin geben, bei allem Re- weiter ein. In seinem neuesten Haushalt spekt vor den Frauen. macht Eichel rund 30 Milliarden Euro neue Dann sagte Schröder, Klaus Töpfer von Zahle, zahle Hänschen Schulden. Man weiß nicht, ob es dabei blei- der CDU sei ein guter Kandidat. Alle Par- Auf der Homepage vom Bund der Steuer- ben wird. teien waren sich einig, dass er das gesagt zahler (steuerzahler.de) gibt es eine Uhr. Es gab etliche Rücktrittsforderungen an hatte, um das bürgerliche Lager zu spalten. Sie zeigt nicht die Zeit, sondern die Ver- ihn. Es gab sogar einen parlamentarischen Töpfer, ein Freund von grünen Punkten, schuldung der Bundesrepublik: Pro Se- Untersuchungsausschuss, der sich „Wahl- gelben Säcken und schwarz-grünen Koali- kunde wächst die Summe um exakt 2186 betrug“ nannte und ein knappes Jahr lang tionen, wäre für die FDP nicht wählbar. Euro. Klick. Klick. Einfach so. Man be- prüfte, ob Eichel log, als er sich vor der Roland Koch von der CDU schlug vor, kommt sehr schnell sehr feuchte Hände, letzten Bundestagswahl seine eigenen Zah- Wolfgang Schäuble von der CDU solle es denn die Uhr zeigt, dass jeder Bundesbür- len schön rechnete. machen. Alle Parteien waren sich einig, ger schon mit 16220 Euro in der Kreide Damals hatte er behauptet, dass Maas- dass er das gesagt hatte, um Angela Mer- steht – bei wem auch immer. Allein in der tricht gehalten werde. Im Maastricht-Ver- kel unter Druck zu setzen. Von Schäuble Zeit, die man für die Lektüre dieses Ab- trag haben sich die Staaten des Euro- heißt es, er sei nicht liberal genug, und satzes vertrödelt, rutscht die Bundesrepu- Raums verpflichtet, nie mehr als drei Pro- wenn die FDP Schäuble nicht mitwählen blik rund 30000 Euro weiter in die Miesen. zent ihres Bruttoinlandsprodukts an neuen würde, wäre Angela Merkel in der CDU Man sollte vielleicht schneller lesen. Schulden aufzunehmen. Maastricht wur- unten durch, und Roland Koch könnte viel- Oder zur Abwechslung nicht nur Zeit spa- de Eichels Stalingrad. leicht doch noch Kanzlerkandidat werden. ren, sondern mal Geld. Hatte er sich nur geirrt? Hatte er be- Angela Merkel sagte gar nichts. Alle Par- Mit dieser Idee war auch Hans Eichel wusst die Öffentlichkeit getäuscht? Kurz: teien waren sich einig, dass es ihr egal ist, (SPD) angetreten. Das war 1999, und Eichel War er blöde oder berechnend? „Es geht wie der Kandidat heißt, Hauptsache er ge- wurde Finanzminister. Er galt als so streng hier nicht um Fakten“, sagte Eichel selbst winnt, und sie wird Kanzlerkandidatin. wie sein Betonscheitel. Als personifizierter vor dem Ausschuss. „Ein Minister hat po- von der FDP sagte, Rot-Stift. In seinem Büro hat er eine ganze litische Entscheidungen zu treffen“, was so die FDP könne auch einen eigenen Kandi- Sammlung Sparschweine akkurat aufgereiht. klang wie: Ein Haushalt hat mit Wahrneh- daten aufstellen. Wolfgang Gerhardt böte Und er hatte große Pläne damals. Bis zum mungen zu tun, nicht mit Wahrheiten. sich für eine Mehrheit mit der Union an oder Jahr 2006 wollte er seinen Haushalt konso- Ende 2003 legte der „Lügen-Ausschuss“ Cornelia Schmalz-Jacobsen für eine Mehr- lidieren, also nur noch das ausgeben, was er seinen Bericht vor: Eichel hat nicht gelo- heit mit Rot-Grün. Alle Parteien waren sich auch an Steuern einnimmt. Es kam dann gen, befanden die rot-grünen Vertreter. Ei- einig, dass Westerwelle auch eine taube Nuss sehr anders. chel hat gelogen, sagten die Prüfer der Uni- aufstellen würde, weil er einen Erfolg Allein im vergangenen Jahr flossen von on. Rot-Grün stellte die Mehrheit in dem braucht, um weiter Parteichef zu bleiben. den rund 257 Milliarden Euro im Bundes- Ausschuss. Die Mehrheit hat immer Recht. Es kann schon sein, dass im Verlauf die- etat 97 Milliarden in Renten und Pen- Die Uhr auf der Homepage vom Bund ser Debatte die ein oder andere Person be- sionsverpflichtungen und 38 Milliarden in der Steuerzahler tickt ungerührt weiter. schädigt worden ist. Aber es geht hier nicht den Schuldendienst. Mehr als jeder zweite Am Mittwoch stand der Zähler bei rund 1,3 um Personen. Es geht um das Amt, um den Euro ging also für Vergangenheitsbewälti- Billionen Euro. Respekt vor dem Amt. Und das Amt ist ja gung drauf. Das Land lebt schon seit Jahr- heile geblieben. zehnten über seine Verhältnisse.

Wenn die Opposition regiert Eine „Ankündigungsdemokratie“ sei Deutschland geworden, kritisierte der Berliner Zeithistoriker Arnulf Baring, und im Ankündigen, Zerreden und Fallenlas- sen ist die Opposition genauso versiert wie die Regierung. Schon heute ist es auch das Werk der C-Parteien, dass alles, was Reform heißt, irgendwie nach Chaos klingt. Es war der 11. November 2002, als Angela Merkel auf dem CDU-Parteitag in Hannover in ihrem Amt bestätigt wurde und eine „Kommission zur Reform der sozialen Sicherungssysteme“ ankündigte. Zum Leiter berief sie im Febru- ar 2003 den früheren Bundespräsidenten Ro- man Herzog. CSU-Vize sag- te, die Union brauche keine Kommissionen. Bei Herzog wurde er trotzdem Mitglied. Die Beratungen liefen über sieben Mo- nate, Seehofer erschien nach einigen Sit- zungen nicht mehr. Merkel beauftragte die Beratungsfirma McKinsey, verschiedene Modelle durchzurechnen. Im September präsentierte die Kommis- sion ihre Vorschläge:

FOUNTAINFOTO PRESSEFOTOGRAFIE / ACTION PRESS / ACTION PRESSEFOTOGRAFIE FOUNTAINFOTO Eltern bekommen eine höhere Rente als Bundespräsident Rau beim Karnevalsempfang: „Das Amt darf nicht beschädigt werden“ Kinderlose.

30 der spiegel 9/2004 zept vor. Es solle keinen Stufentarif geben, höhere Steuersätze als im CDU-Modell und weiterhin Vorteile für Pendler oder Bauern. Merz nannte Stoibers Vorschläge ent- täuschend. Die Berechnungen der CSU sei- en „in mehreren Punkten falsch“. Der bayerische Finanzminister Kurt Faltlhau- ser warf Merz später vor, er arbeite mit falschen Zahlen. Merkel kündigte an, CDU und CSU würden bei einer gemeinsamen Präsidi- umssitzung am 7. März einen „Masterplan für Deutschland“ erarbeiten. Bis dahin werde man sich auf ein Steuerkonzept ei- nigen. Über die Renten- und die Gesund- heitsreform könne man später sprechen, hieß es. ROLAND SCHEIDEMANN / DPA ROLAND SCHEIDEMANN PETER KNEFFEL / DPA Zugspitz-Gast Stoiber, Karnevalsfiguren Merkel, Stoiber: Im Ankündigen, Zerreden und Fallenlassen so versiert wie die Regierung

Die Pflegeversicherung wird durch pri- Ende der Sozialdemokratisierung der vates Kapital finanziert. CDU“ habe begonnen. Im Jahr 2010 zahlt jeder Bundesbürger Keine zwei Wochen später stellte Merz eine Gesundheitsprämie von 190 Euro – seinen Plan einer radikalen Steuerreform Lach dich gesund egal, wie viel er verdient. Ein sozialer Aus- vor: drei Stufen, keine Ausnahmen, alles Ein neuer Tag brach an, als Gesundheits- gleich wird aus Steuern bezahlt. Das kostet sollte auf einen Bierdeckel passen. ministerin Ulla Schmidt und Horst See- nach den Berechnungen von McKinsey Edmund Stoiber kündigte an, dass auch hofer, der Gesundheitsexperte der CDU/ 27 Milliarden Euro im Jahr. die CSU ein eigenes Steuerreformkonzept CSU, vor die Kameras traten. Es geschah Horst Seehofer sprach von 45 Milliar- entwickeln werde. Erst einmal legten die im Juli des vergangenen Jahres, und beide den Euro. Christsozialen im November eigene Ren- sahen müde aus, aber glücklich. Sie hatten CSU-Chef Stoiber lehnte die Vorschläge tenpläne vor. Sie wollten nicht nur, dass Grund zur Freude, sie hatten das scheinbar ab und forderte von der Schwesterpartei Eltern eine höhere Rente bekommen, Unmögliche erreicht, einen Konsens zwi- ein „soziales Augenmaß“. Er berief eine Kinderlose sollten auch höhere Beiträge schen Regierung und Opposition. Arbeitsgruppe ein, die Vorschläge zur zahlen. „Wir sind uns einig“, verkündete die Reform der Sozialversicherungen machen Anfang Dezember wurden das Herzog- Gesundheitsministerin fröhlich. Seehofer sollte. Leiter der Arbeitsgruppe wurde Konzept und die Merz-Vorschläge auf dem blickte zu ihr hinüber, lächelte und sagte: er selbst. CDU-Parteitag in Leipzig mit großer Mehr- „Ich kann für meine Person sagen, dass es Am 1. Oktober erklärte Angela Merkel heit beschlossen. Horst Seehofer sagte, in eine der schöneren Nächte in meinem in einer Rede im Berliner Zeughaus, dass der Sozialpolitik sehe er „die größeren Leben war.“ Dann sprach er vom „größten sie alles richtig finde, was Herzog wolle. Berührungspunkte mit der SPD“. Reformwerk in der jüngeren Sozialge- Kurz darauf billigte der CDU-Bundesvor- Auf der Klausurtagung der CSU-Lan- schichte“. stand Merkels Position. Der Fraktionsvize desgruppe in Wildbad Kreuth stellte Stoi- Der Entwurf zum „Gesetz zur Moder- Friedrich Merz sagte, der „Anfang vom ber im Januar das bayerische Steuerkon- nisierung der Gesetzlichen Krankenversi-

der spiegel 9/2004 31 Titel cherung“ umfasste 470 Seiten, und als Die Patienten könnten sich freuen. Sie schwärmt lieber für die Bürgerversi- Maßstab ihres Erfolgs hatten die Politiker Oder auch nicht. cherung. eine Zahl gewählt – den Beitragssatz zur Die großzügigeren Regelungen werden „Das wäre der richtige Weg“, sagt sie. gesetzlichen Krankenversicherung. Er soll- wohl mehrere hundert Millionen Euro pro Seehofer gefällt die Idee auch. Eine te fallen. Von 14,3 Prozent im Jahr 2003 auf Jahr kosten. Der Beitragssatz wird nicht Solidarkasse für alle. Das wäre etwas Neu- 13,6 Prozent im Jahr 2004, weiter auf 12,95 wie erwartet sinken. Nicht in diesem Jahr es, etwas wirklich Großes. Es wäre „die Prozent im Jahr 2005, um dann, im Jahr – und wohl auch nicht in den kommenden größte Reform in der jüngeren Sozial- 2006, 12,15 Prozent zu erreichen. Jahren. Zum Jahresbeginn erhöhten viele geschichte“. Die Politiker sagten nicht, im Jahr 2003 Betriebskrankenkassen ihren Beitragssatz, sollen 13 Prozent erreicht werden und im statt ihn zu senken. Jahr 2006 12 Prozent. Sie nannten Beiträ- Schmidt sagt, das sei nicht tragisch, der ge, die exakt waren bis auf die zweite Stel- durchschnittliche Beitragssatz werde trotz- le hinter dem Komma. Diesmal schienen dem fallen. An die größte Reform in der Die Rente ist sicher sie die Sache im Griff zu haben. Sie schie- jüngeren Sozialgeschichte glaubt sie nicht Erika Vosseler, 90, aus Paderborn-Elsen nen es ernst zu meinen. Ende September mehr. Jetzt sagt sie nur noch, mit der Re- hat es nicht leicht gehabt im Leben. Ihr stimmt der Bundestag mit großer Mehr- form habe man „etwas Luft“ gewonnen. erster Mann fiel an der Ostfront, der zwei- heit und den Stimmen der Opposition zu. te erlag einer Lungenkrankheit. Sie musste Kritiker meldeten sich. Die Reform wür- putzen gehen, um ihre fünf Kinder durch- de von den Patienten bezahlt werden, sag- zubringen. ten sie. Die Macht der Kassenärztlichen Umso mehr freute sie sich, als ihr Ger- Vereinigungen und der Krankenkassen hard („Mama, ich habe es wirklich ge- bleibe erdrückend. Die Ursachen für die schafft“) vor fünfeinhalb Jahren Bundes- steigenden Ausgaben im Gesundheits- kanzler wurde. Wie im Wahlkampf an- system seien unverändert. Es gebe keinen gekündigt, stoppte ihr Zweitgeborener die Wettbewerb, keine Wahlfreiheit. Rentenreform seines Amtsvorgängers – es Schmidt und Seehofer kümmerten die sei „schlicht unanständig“, alten Men- Schreihälse nicht. Hatten die Deutschen in schen wie seiner Mutter das Geld wegzu- Umfragen nicht immer gesagt, dass sie be- nehmen. Frau Vosseler setzte Malzkaffee reit seien, Opfer zu bringen, wenn die Pro- auf, lud Journalisten ein und lobte den bleme dadurch gelöst werden würden? Sohn: „Was er verspricht, hält er, hat er Nun konnten sie ihren Beitrag leisten. immer gehalten.“ Pro Jahr sollen die Mehrbelastungen Zumindest für ein Weilchen. Das Kanz- durch Zuzahlungen zwei Prozent des Brut- lerwort von den angeblich wieder siche- toeinkommens nicht überschreiten, chro- ren Renten war etwa fünf Monate alt, als nisch Kranke zahlen maximal ein Prozent. sich Schröders zuständiger Minister Walter So sah es das Gesetz vor, das Schmidt und Riester am Rosenmontag des Jahres 1999 Seehofer erarbeitet hatten. in der „Bild“-Zeitung verplapperte. „Alle Aber wer ist chronisch krank? Jemand, Aspekte des Rentensystems müssen auf der im Krankenhaus liegt? Jemand, dessen den Prüfstand“, sagte der Minister, „also Krankheit einen Arztbesuch im Quartal auch der Erhöhungsmechanismus.“

nötig macht? Muss ein chronisch Kranker H. DARCHINGER J. Das war der Startschuss für eine behindert sein? Oder erwerbsgemindert? Kanzler Schröder, Mutter beispiellose Reformschlacht um die Zu- Braucht er eine Pflegestufe? Wenn ja, wel- „Was er verspricht, hält er“ kunft der Rentenkasse. Zunächst verord- che? Zwei oder drei? Was ist mit den Fahrt- kosten zu ambulanten Behandlungen? Wer- den die von der Krankenkasse übernom- men? Müssen die Patienten zuzahlen? Es gab so viele Fragen. Schmidt und Seehofer mochten sich mit ihnen nicht mehr beschäftigen. Sie waren müde. Sie gaben ihre Reform aus der Hand. Sie landete im Gemeinsamen Bun- desausschuss der Ärzte und Krankenkas- sen. Es ging ja nur noch um Details. Die Mitglieder des Ausschusses trafen sich Ende Januar, und sie debattierten nicht monatelang wie die Politiker, ihr Vorsit- zender gab das Verhandlungsergebnis nach sechs Stunden bekannt. Man müsse nicht im Krankenhaus lie- gen, um chronisch krank zu sein. Es reiche aus, an einer lebensbedrohlichen Krank- heit zu leiden. Die Fahrtkosten zu ambu- lanten Behandlungen würden übernom- men, wenn es sich um Krebstherapien oder Dialysebehandlungen handle, Zuzahlun- gen der Patienten seien zumutbar.

Es schien ein vernünftiges, sozial ver- / LAIF / ZENIT DOMINIK BUTZMANN trägliches Ergebnis zu sein. Karatetraining für Rentner: „Die Leute wissen jetzt, es wird nicht reichen“

32 der spiegel 9/2004 GEORG HILGEMANN / ACTION PRESS / ACTION GEORG HILGEMANN Schröder, Müntefering (r.) auf dem SPD-Landesparteitag in Bochum: Arbeitsteilung zwischen Gerd, dem Bösen, und Franz, dem Guten nete die Bundesregierung den Alten eine sie, die Reserve müsse bald wieder aufge- Nullrunde – die Alten sollten lediglich ei- stockt werden – und zwar, holla, auf 150 nen Inflationsausgleich bekommen. Dann Prozent einer Monatsausgabe. erfand sie die Riester-Rente – die Jungen Wer, angelockt von staatlichen Zu- Klatschmarsch für Franz müssten mehr privat vorsorgen. Vergange- schüssen, auf eine betriebliche Altersvor- „Wir sind doch alle auf Schnäppchenjagd“, nes Jahr wurde erst die Gesundheitsreform sorge spart, muss nun erkennen, dass er rief der Ministerpräsident von Nordrhein- (steigende Krankenkassenbeiträge für Be- sein Geld womöglich besser bei der Spar- Westfalen seinen Parteifreunden zu, aber triebsrenten) und dann eine weitere Ren- kasse geparkt hätte. Denn während auf Be- die Delegierten des SPD-Landesparteitages ten-Nullrunde geboren. In diesem Jahr triebsrenten und Direktversicherungen seit klatschten nicht, jubelten nicht, ja sie lach- steht neben der Reform der Pflegeversi- Jahresbeginn der volle Krankenkassen- ten nicht einmal. Ein guter Spruch, ein cherung (doppelter Beitrag für Rentner) und Pflegebeitrag fällig wird, sind private guter Gag, aber die Sozialdemokraten in noch die Reform der Reform bei der Sparerträge von Sozialbeiträgen befreit. der Bochumer RuhrCongresshalle starrten Riester-Förderung (weniger Bürokratie) Noch. erschöpft und regungslos wie ein verka- und das Gesetz zur Steuer (steigend) auf Schmu ist auch die von der Bundesre- terter Karnevalsverein im Morgengrauen. Seniorenbezüge an. gierung geplante neue „Niveausiche- Sie waren geschafft nach den Klatsch- Ach ja: Auch der von Schröder nach der rungsklausel“, nach der die Renten im Jahr märschen für Gerhard Schröder und Franz Bundestagswahl 1998 einkassierte „De- 2030 auf immerhin 43 Prozent der Brutto- Müntefering. Den beiden letzten Hoff- mografie-Faktor“ soll wieder kommen, löhne gehalten würden: Für viele Alte wäre nungsträgern hatten sie am vergangenen diesmal unter dem Namen „Nachhaltig- allenfalls eine Rente auf Sozialhilfeniveau Wochenende den Rücken stärken müssen, keitsfaktor“. Experten der von der Bun- drin, also: Wer nichts eingezahlt hat, ist denn „die da draußen“, also die „Bild“- desregierung eigens eingesetzten Kommis- am besten dran. Selbst diese ist aber ge- Zeitung und die feixende Meute aus Christ- sion waren zu der Erkenntnis gekommen, fährdet, wenn die Wirtschaft in den kom- demokraten, Freidemokraten und allen dass es in der Kasse knapp wird, wenn menden Jahrzehnten langsamer wächst als anderen Deutschen, die im Moment nicht immer weniger Junge für immer mehr angenommen. gut zu sprechen sind auf die SPD (das dürf- Alte zahlen müssen. Das klingt logisch und Immerhin: Ulla Schmidt, im Schröder- ten so um die 80 Prozent der Deutschen ist es auch. Kabinett seit 2002 für die Renten zuständig, sein), sollten sehen, dass die Sozialdemo- Eine Strategie hinter all diesen Refor- kann dem Reformchaos um die staatliche kraten noch nicht am Ende sind und schrei- men ist dabei nicht zu erkennen. Mal ver- Altersvorsorge auch positive Seiten ab- ten Seit’ an Seit’. griff sich die Bundesregierung an der stil- gewinnen. Ministerpräsident Peer Steinbrücks Slo- len Reserve, indem sie die so genannte Bei ihren Gesprächen mit dem Wahl- gan von der „Schnäppchenjagd“ war der Schwankungsreserve von einst 100 Prozent volk habe sie einen „Bewusstseinswandel“ Versuch, den verstörten Genossen zu er- einer Monatsausgabe auf nur noch 20 Pro- festgestellt: „Die Leute wissen jetzt: Es klären, warum die Globalisierung schuld ist zent festsetzte. Dann wieder verkündete wird nicht reichen.“ an dem schlechten Ruf der SPD und den

34 der spiegel 9/2004 Titel katastrophalen Umfragewerten. „Wir wollen partei machen könne. Er war durch die zur Regierungspartei. „Noch kein klares für 19,90 Euro nach Mallorca fliegen“, rief er Welt gereist und hatte in den USA, in Eng- eigenständiges Kompetenzprofil“ atte- den Sozialdemokraten zu, wir kaufen bei land, in Schweden und den Niederlanden stierten damals die Meinungsforscher dem Lidl und Aldi, wir wollen billige DVD-Play- abgeguckt, wie man Konservative mit ihren Kandidaten, und nur 30 Prozent der er und Kameras, und die werden irgendwo eigenen Waffen schlägt. Er hatte begriffen, Wähler trauten der SPD zu, die wirt- billig in China oder Tschechien zusammen- dass moderne Politik heißt, Themen zu be- schaftlichen Probleme zu lösen, aber über gelötet, und deshalb müssen in Deutschland setzen und Images zu verändern, und so 40 Prozent wählten sie dann, weil sie Kohl die Arbeitskosten gesenkt werden, also die zimmerte er der SPD eine moderne Fas- endlich weghaben wollten, die Lachnum- Lohnnebenkosten – und darum müsse jeder sade. Außerhalb der „Baracke“, dem tra- mer der neunziger Jahre. Was dieser Sozialdemokrat für die Agenda 2010 sein ditionsreichen Hauptquartier, wuchs die Schröder, der sich im Wahlkampf wie ein und für Gerhard Schröder. „Kampa“, die Zentrale der Veränderung, erprobter Kanzler verkaufen ließ, genau Der Kanzler als Messias aller Schnäpp- die es zusammen mit PR-Beratern und mit dem Land vorhatte, verschwieg er den chenjäger – der bisher originellste Versuch, Werbeagenturen schaffte, die SPD moder- Genossen und den Wählern, weil er es den verzweifelten und zweifelnden Sozial- ner und zukunftsorientierter erscheinen zu selbst nicht wusste. „Die innovativen Kräf- demokraten klar zu machen, dass die Poli- lassen, als sie in Wirklichkeit war. te der Republik zusammenzuführen“, das tik ihrer Partei und ihrer Regierung eigent- Als Schröder nach der grandios gewon- war sein Ziel, und sein Programm ließ sich lich doch noch irgendwie sozialdemokra- nenen Landtagswahl in Niedersachsen so beschreiben: In der heutigen Zeit gibt es tisch ist. Willy Brandt, der wollte die Ver- Kanzlerkandidat der SPD geworden war, nur eine Politik aller vernünftigen Leute, söhnung mit dem Osten, Helmut Schmidt, rückte er mit seinen eigenen Beratern an, egal, in welcher Partei sie sind, und diese der kämpfte für die Allianz mit dem Wes- vor allem Bodo Hombach und Uwe-Kars- Politik findet man, indem man, unbehin- ten, und Gerhard Schröder, der trotzt der ten Heye, und schob Müntefering zunächst dert durch Wünsche, Traditionen und Par- Welt zum Wohle der Schnäppchenjäger. zur Seite. Er belächelte diesen Kerl mit teitage, neue Lösungen für Probleme fin- Als er 1998 Kanzlerkandidat der SPD der Siebziger-Jahre-Frisur und den blau- det, die spätestens seit Anfang der neunzi- wurde, hat Schröder der Partei nicht ge- gelben Rautenpullovern, die er gern als ger Jahre ungelöst sind. „Wir sind in den ersten vier Jahren un- serer Regierungszeit nicht energisch genug gewesen“, gibt Müntefering heute zu, „wir haben das verschleppt, haben immer in der Hoffnung auf eine konjunkturelle Er- holung gelebt.“ Erst durch das, was die Regierung Agenda 2010 nennt, aber in Wahrheit „Wahlprogramm 1998“ heißen müsste, hat die SPD begriffen, was der Preis ist für die Macht, die sie seit fünf- einhalb Jahren erleidet. „Regieren macht Spaß“ hieß 1998 das Motto des Fraktions- balles, aber jetzt ist den Sozialdemokraten klar geworden, dass sie die Drecksarbeit der Globalisierung leisten, dass sie den So- zialstaat abbauen müssen, um ihn retten zu können, und dass sie dieser Höllenjob viel- leicht nicht in den Untergang, aber an den Abgrund führt, und der liegt im Moment bei 24 Prozent Wählerzustimmung. Das ist nicht lustig, denn die SPD wird noch gebraucht, keine andere Partei kann den Deutschen den Schmerz der Notwen- digkeit so schönreden; aber lustig ist der Glaube, durch die Arbeitsteilung zwischen

JÖRG HEMPEL Gerd, dem Bösen, und Franz, dem Guten, Karnevalsfigur Müntefering: „Wir sind doch alle auf Schnäppchenjagd“ seien die Schrecken des Regierens und die Gräuel der Macht besser zu verkaufen. An- sagt, wohin er will mit der SPD, weil er es „Designerklamotten von C&A“ verspottete. ders als die britische Labour Party hat die nicht gewusst hat. Die Partei war froh, dass Später lernte er ihn schätzen, er begriff, SPD 1998 vor der Wahl versäumt, sich über sie nach Rau, Lafontaine und Scharping dass er Müntefering brauchte, um die Par- das Programm und den Preis der Macht endlich wieder einen hatte, der es ins Kanz- tei, die ihn voller Misstrauen zum Kandi- zu verständigen, jetzt soll Müntefering eine leramt schaffen konnte. Bevor Schröder daten gemacht hatte, zu beruhigen und Partei stillquatschen, die auf Dauer nicht kam, hatten sich die 800000 Parteimitglie- letztendlich einzuschläfern. Die Art und mal mehr der Wille zur Macht zusammen- der, so viel waren es damals noch, in einer Weise, wie Schröder 1998 zum Kandidaten halten wird. Da werden auch keine Mitgliederbefragung mit der Frage be- und dann zum Kanzler wurde, erklärt die Schnäppchen helfen. schäftigt: „Wollen wir überhaupt noch Art und Weise, wie er nun fünfeinhalb Jah- was?“ Und nur 26 Prozent der Bevölkerung re später von der Parteispitze verdrängt antworteten damals noch mit Ja auf die Fra- wurde. Der Weg der SPD an die Macht ge, ob die SPD noch eine Zukunft habe. war kein von breiter Diskussion und Müntefering war zu jener Zeit Bundes- schlüssiger Programmatik begleiteter kol- Die Organisationsweltmeister geschäftsführer der Partei, und er war ei- lektiver Lernprozess, nein, eine kleine So geschmeidig war der Befund formuliert, ner der wenigen in der SPD, der daran Gang von Modernisierern rund um Mün- dass er schon wieder vernichtend klang. glaubte, dass man aus der resignierten An- tefering und ein medienschlauer Kandidat „Eine gute Chance“ bescheinigte gönner- gestelltenpartei wieder eine Regierungs- machten ein paar hunderttausend Leute haft Thomas Bach, der deutsche Vizeprä-

der spiegel 9/2004 35 MATTHIAS SCHRADER / DPA SCHRADER MATTHIAS Leipziger Olympia-Präsentatoren Masur, Weizsäcker, Milbradt, Tiefensee: Leichtathletik und Schwimmen im selben Stadion sident des Internationalen Olympischen zwei Lager des sächsischen Landtagswahl- über dem Fünferrat der Schriftzug: „Un- Komitees (IOC), dem Bewerber Leipzig kampfes zerfiel, hatte die Kampagne auch sere Hoffnungsträger“. dieser Tage im sauerländischen Willingen. endlich den provinziellen Anstrich, der Deutschland, ein Land der Versager, der Und zwar nicht etwa hinsichtlich der fina- selbst Außenseiter wie Havanna, Rio oder Zauderer, der Angsthasen? Klappt hier len Kür zur Olympiastadt 2012. Bach Istanbul wieder hoffen lässt. Gegen die Mit- nichts außer der Mülltrennung? Und die sprach lediglich von der Vorauswahl am bewerber Paris, London, New York, Madrid, klappt ja so, dass der getrennte Müll am 18. Mai dieses Jahres, bei der die offiziel- Moskau wurden Leipzig ohnehin immer nur Ende oft wieder zusammengekippt wird. len Kandidaten zu bestimmen sind: „Ich für den Fall Chancen eingeräumt, dass bis Moment! Wir sind die drittstärkste Volks- glaube schon, dass Leipzig die technischen zur Entscheidung im Juli 2005 ein sport- wirtschaft der Welt. Kein Land exportiert Hürden nehmen kann.“ politisches Wunder passiert. mehr als wir. Wir sind Europameister im Demnach hält der Olympier Bach die Leipzigs reformiertes Angebot der Spie- Möbelkauf. Unsere Lehrer beziehen im in- Kandidatur wohl für tot. Offenkundig liegt le auf engem Raum habe Charme, heißt es ternationalen Vergleich Spitzengehälter. er im Trend der Beobachter, denen es ir- nun. Als die Bettenzahl nicht ausreichte, Von allen großen Industrienationen leistet gendwie schwer fällt, weiter an den wurde frisiert: Stadtwohnungen in leer Deutschland den größten Beitrag zur Mythos deutscher Organisationskunst stehenden Altbauten sollen vorüberge- Bekämpfung der Armut in der Dritten Welt. zu glauben. hend als Hotelzimmer dienen. Es ist, als Nirgendwo stehen mehr Windräder und So wurde im heißen Herbst der Leipzi- würden Leichtathletik- und Schwimm- spielen fast die Energie ein, die in die Pro- ger Kampagne bei einem ersten Krisen- wettkämpfe in demselben Stadion ausge- duktion investiert wurde. Deutschland ge- gipfel schon über einen ehrenhaften Rück- tragen: Ab und zu muss nur jemand den hört zu den Ländern in der Europäischen zug diskutiert, als sich die aufregendsten Stöpsel ziehen. Union, die zahlungsunfähige Unternehmen Verzahnungen im sächsischen Olympia- Bloß die Gesamtkosten sind noch gar am ehesten subventionieren und am Leben Filz noch gar nicht herumgesprochen hat- nicht kalkuliert. Zu sehr waren die Bewer- halten. Die Deutschen verbringen bis zu ten. Da war gerade einmal der Bewer- ber wohl bislang mit Lobbyismus beschäf- dreieinhalb Stunden pro Woche weniger bungs-Geschäftsführer Dirk Thärichen tigt. Pech, dass sie ausgerechnet den als am Arbeitsplatz als ihre Kollegen in ande- über vertuschte Stasi-Verstrickungen ge- einflussreich eingeschätzten IOC-Mann Un ren Ländern. Ist das nichts? stürzt. Später erst wurden erstaunliche Yong Kim besonders umschmeichelten. Wir könnten stolz sein auf dieses humane Provisionsgeschäfte publiziert: Wenn etwa Der wurde jetzt wegen Korruptionsver- und starke Land, und dennoch blickt keine die Stadt Leipzig dem Bewerber Leipzig dachts in seiner südkoreanischen Heimat andere westeuropäische Nation derart pes- eine Million Euro zukommen ließ, floss verhaftet – und seiner Olympia-Funktio- simistisch in die Zukunft. Nur 20 Prozent der eine Vermittlungsgebühr an den Agenten, nen bis auf weiteres enthoben. Bundesbürger erwarten, dass es ihnen in fünf der mal Thärichens Vorgesetzter war. Jahren besser gehen wird. Die große Mehr- Dass über diese Affäre auch Oberbürger- heit der Deutschen ist froh, wenn sie das meister Wolfgang Tiefensees Olympia-Ma- Erreichte halten kann, zieht sich ins Private nager Burkhard Jung stolperte, nährte nur zurück, arbeitet weniger, schränkt sich ein. die Vermutung, dass in Leipzig das Stühle- Das Land der Windräder Die Durchschnittsarbeitszeit ist auf einen rücken zur olympischen Disziplin erhoben Was für ein schöner Rosenmontagswagen: historischen Tiefststand gesunken. Früher worden war. Sachsens Ministerpräsident Gerd, aus Pappmaché und nackt wie Costa wurden wir wegen unseres Fleißes, unserer Georg Milbradt zog seinen Olympia-Staats- Cordalis, rüttelt am Zaun des Kanzleram- Disziplin verspottet, jetzt wegen der Länge sekretär wegen des Verdachts der Vet- tes und ruft: „Ich will hier raus.“ Angela, unserer Ferien und der Horden unserer Vor- ternwirtschaft aus dem Verkehr. Der zum auch aus Pappmaché, sitzt am Biertisch ruheständler. Ist es nicht ein Zeichen großen Retter erkorene frühere Weltklasseschwim- und verliert im Armdrücken gegen Edi. Wohlstands, wenn die Deutschen die ältesten mer Michael Groß paddelte zurück, bevor er Joschka steht daneben, auf einer Waage. Studenten und die jüngsten Rentner haben? überhaupt im Bewerbungsteam angekom- Und Guido, klein, sitzt am Rand und Wir wären so gern stolz auf dieses Land. men war. Als die Mannschaft zudem in die schreibt eine 18 auf seine Schiefertafel. Und Fragt man die Deutschen, was ihnen ein-

36 der spiegel 9/2004 Titel fällt, wenn sie an ihr Land denken, Keiner formuliert die Ansprüche und sagen sie (in dieser Reihenfolge): In- Ängste der Deutschen so schön schizo- dustrie, Heimat, Leistung, Ordnung, phren wie die „Bild“-Zeitung. In den Fortschritt, Sauberkeit. Ihr National- Kommentaren wird jeden Tag der große bewusstsein ruhte auf der Stärke der Ruck gefordert, das Land müsse gründlich Wirtschaft, der Sicherheit ihres Ar- modernisiert werden und von Subventio- beitsplatzes (falls vorhanden) und nen befreit werden; jede Maßnahme auf der Qualität deutscher Wertarbeit. diesem Weg allerdings ist ein Skandal, ist Weil die jüngere Vergangenheit Rentenraub, ist Patientenschock, ist Pend- kaum Anlass für Stolz bot und lerfolter. Goethe, Schiller und Bach nicht je- Schröder wird für das kritisiert, was er dem die Brust schwellen lassen, hiel- falsch macht, vor allem aber, das darf man ten sie sich an Mercedes, AEG und nicht wegwitzeln, wird er für das kritisiert, Krupp. „Nation“ war nach dem was er richtig macht. Mehr als zwei Drittel Krieg für die Bundesdeutschen nicht aller Deutschen (68 Prozent) erklären, die mehr Kulturnation und Schicksals- Bundesregierung verrichte eher schlechte gemeinschaft, sondern Arbeitsge- Arbeit. Aber 69 Prozent sind nicht davon meinschaft und Sozialversicherung. überzeugt, dass eine Unionsregierung ihre Die Nation als Versorgungsein- Sache besser machen würde. Und wer soll richtung, als Garant für Arbeit und es dann schaffen, das moderne Deutsch- Brot, als Arbeitsamt und Renten- land? Am liebsten keiner. behörde – das wurde zum Kern deut- Und so herrscht er weiter, der große scher Vaterlandsliebe. deutsche Zeigefinger, der so gern in den Darum beunruhigen Wirtschafts- Wunden der Vergangenheit bohrt, sich dra- krisen die Bundesbürger stets mehr matisch erhebt angesichts der Sünden der als Identitätskrisen. Gegenwart und drohend auf die Folgen der Darum ist mehr vom „Standort Zukunft weist. Deutschland“ die Rede als von Aber es gibt Hoffnung, wir lernen dazu,

Deutschland. / DPA ROLAND WEIHRAUCH wir holen auf. In Europa haben wir gera- Jahrzehntelang hat man den Bun- Minister Clement de einen ersten Platz erobert, kein anderes desbürgern vorgeschwärmt, ihr Wohl- Jede Maßnahme ein Skandal Volk auf dem Kontinent schlägt uns bei stand sei der Grund für die Wert- der Schnäppchenjagd im Internet, wir sind schätzung der Deutschen in aller die Größten, Aktivsten und Cleversten bei Welt. Und darum trifft es sie, nun Auktionen im World Wide Web. belächelt zu werden als uneffektive Wäre das nicht ein schönes Motiv für Schlafmützen. den Rosenmontagsumzug? Wir, das große Groß und stark geworden als ent- Volk der Schnäppchenjäger? Im Gegensatz nazifizierte Neubürger des Westens zu vielen Kollegen andernorts, die ihre wollten die Bundesbürger immer die politischen Motivwagen schon im Spät- besseren Amerikaner sein. Kapitalis- sommer konzipieren, lässt sich der Düs- mus ja, aber sozialer als der da drü- seldorfer Wagenkünstler Jacques Tilly Zeit. ben; eine starke Armee ja, aber fried- In diesem Jahr ist er sogar darauf einge- voller als die da drüben; Freiheit ja, stellt, notfalls noch am Karnevalssonntag aber kulturvoller und gebildeter als einen ganzen Wagen umzurüsten. Tech- die Amis. nisch alles kein Problem. Nun bröckelt der Sozialstaat, die Denn der gelernte Bildhauer werkelt mit Bundeswehr zieht um die Welt, Bil- einer speziellen Leichtbauweise, die den dung wird jetzt „Pisa“ buchstabiert, sozialdemokratischen Objekten seiner und im Fernsehen läuft ständig Hol- Kunst wie auf den Leib geschneidert lywood. „Amerikanische Verhältnis- scheint: flexibler, in alle Richtungen bieg- se“ ist das Schreckgespenst aller samer Maschendraht, ein dünnes Mäntel- Großwarner. chen aus Pappmaché, das in Windeseile Als die Schweizer „Weltwoche“ gewechselt werden kann – und innen ganz sich vor einigen Monaten in einer viel Luft. Sonderausgabe unser Vaterland vor- So konnte Tilly vor zwei Wochen fix rea- nahm, fanden die Reporter und Leit- gieren, als Schröder den Parteivorsitz ab- artikler ein seltsames Volk: „Im Her- gab. Seitdem läuft in seiner Werkstatt im

zen sind die Deutschen Antikapita- / DPA ROLAND SCHEIDEMANN Düsseldorfer Straßenbahndepot Tag und listen. Sie können nicht, sie wollen Karnevalsfigur Clement Nacht das Radio. Für den Fall, dass die nicht. Ihre Sehnsüchte liegen bei der Rentenraub, Patientenschock, Pendlerfolter Stimmungskanone der Regierung zurück- Gemeinschaft, beim Kollektiv. Vor tritt: Wolfgang Clement, Minister für Wirt- Gesellschaften, in denen jeder für sein ren musste – im Gegensatz zu Ländern schaft und Arbeit. Dessen Abgang käme Glück selber verantwortlich ist, haben sie wie Großbritannien, den Niederlanden ihm „wie gerufen“. Streng karnevalistisch Angst.“ oder der Schweiz, in denen die (meisten) gesehen. Georg Bönisch, Uwe Buse, Nirgends in Europa herrsche ein derart Bürger schon vor geraumer Zeit dem Irr- Matthias Geyer, Ansbert Kneip, Jörg Kramer, Gunther Latsch, reformfeindliches Klima wie in der Bun- glauben abgeschworen haben, für Wohl- Alexander Neubacher, Ralf Neukirch, desrepublik, wo der Sozialstaat seit sei- stand, Arbeit und Sicherheit seien letzt- Dietmar Pieper, Barbara ner Installierung durch Bismarck stets instanzlich ,die da oben‘, die Politiker, ver- Schmid-Schalenbach, Caroline Schmidt, das jeweilige politische System legitimie- antwortlich. Cordt Schnibben, Thomas Tuma

der spiegel 9/2004 39 Deutschland

Mit dem Aufstand der SPD-Funktionäre ist der ohnehin eher schwach entwickelte REGIERUNG Reform-Elan der SPD-Bundestagsfraktion weiter abgeflaut. Dem Unternehmen Rot- Grün, sagt eine sichtlich genervte Ver- Spiel mit der Leimrute braucherschutzministerin Renate Künast, fehle „der Spirit, die Vision, das gemein- Vom Projekt zum Problemfall: In der Koalition wachsen die same Ziel“. Selbst das Schlimmste, was einer Bezie- Spannungen. Ratlos sieht die SPD zu, wie der Partner eine hung passieren kann, ist mittlerweile ein- schwarz-grüne Option bei der Hamburg-Wahl ins Kalkül zieht. getreten: Auf den Führungsebenen beider Parteien hat sich in wichtigen strategischen ur „finissage“, wie es die Einladung ließ Sagers Kollegin Katrin Göring-Eckardt Fragen Sprachlosigkeit breitgemacht. We- versprach, hatte Gerhard Schröder den SPD-Spitzenmann Franz Müntefering der vor Schröders Flucht aus der SPD-Spit- Zam vergangenen Dienstagabend ei- bereits vor zwei Wochen wissen. ze noch danach wurde in der Koalitions- nen kleinen Kreis ins Kanzleramt gebe- Beim letzten Treffen der Realos kriti- runde, der eigentlichen Schaltzentrale der ten, um das Ende einer Ausstellung zu sierte der Vertraute Joschka Fischers, Fritz Regierung, über die neue Lage debattiert. feiern. Kuhn, die Regierung habe ein „Steue- Nahezu alle versuchten den Eindruck zu Im Zentrum des Geschehens stand der rungsproblem“, er vermisse eine „syste- erwecken, als sei nichts gewesen. Bildhauer Joachim Jastram, dessen Werke matische Kommunikationsstrategie“. Die Was 1998 als rot-grünes Projekt begann mehrere Wochen lang in den vier Winter- frühere Staatssekretärin Christa Nickels und am Wahlabend 2002 durch den bier- gärten der Regierungszentrale präsentiert schimpfte in der Fraktion, angesichts sol- seligen Auftritt des Duos Schröder/Fischer worden waren – und der sich nun mit lei- cher Blamagen wie bei der Maut stelle sich nochmals eine emotionale Aufladung er- ser Lust in Anspielungen erging. „Manch- der Eindruck ein, „die können es einfach fuhr, ist zum ernsten Problemfall gewor- mal denke ich“, sprach der 75-jährige Ros- nicht“. den. Krisen gab es schon häufig – doch nun tocker Künstler, „dass vieles, wenn nicht al- Die Zeit der Illusionen ist vorbei, statt- wird erstmals auch über die Zeit nach dem les, was wir machen, Experimente sind, dessen herrscht angestrengte Nüchternheit Bündnis geraunt. Natürlich in keinem offi- Versuche, Übungen.“ zwischen den einstigen Wunschpartnern. ziellen Parteigremium, aber in zahllosen „Warum sagst du das ge- Vier- und Sechs-Augen-Ge- rade hier?“, fragte der Haus- Regierungspartner Schröder, Fischer: Gelassenheit als Provokation sprächen. herr in die andächtige Stille Die SPD hat sich von hinein, und die Antwort, ihrem ungeliebten Vorsit- die danach für allgemei- zenden gelöst, um nicht im nes Amüsement sorgte, kam Reformstrudel zu verschwin- prompt: „Wo denn sonst, den. Die spektakuläre Ent- wenn nicht hier?“ koppelung von Regierung Die Gelassenheit, die der und Partei löste im politi- Kanzler seit seinem Rücktritt schen Berlin ein Beben aus, vom Parteivorsitz zur Schau das mit Zeitverzögerung trägt, empfindet der Koali- auch den kleinen Koalitions- tionspartner mittlerweile als partner erreicht hat. Dort Provokation. Die Grünen wird nun ebenfalls über vie- sind über eine Krisen-SPD les nachgedacht – etwa über verärgert, die auf ihre Be- die Zeit nach Joschka Fi- findlichkeiten keine großen scher. Rücksichten nimmt. Der hatte in einem ein- Die Liste der Themen, die dringlichen Appell im grü- für Zoff sorgen, wird lang nen Parteirat das Schicksal und länger: der geplante Ex- seiner Couleur mit dem port der Hanauer Atomfa- der Schröder-Regierung ver- brik – eine Zumutung für die knüpft. Noch vor dem Vor- Basis der Ökopartei. Die an- sitzenden Reinhard Bütiko- haltende Fehde zwischen fer ergriff Fischer das Wort, Umwelt- und Wirtschaftsmi- um den Funktionären einen nister – mehr als nur eine möglichen Strategiewechsel Klimabelastung. Der Versuch in den schwärzesten Farben des Innenministers, mit der auszumalen: Es gelte unbe- Union ein Zuwanderungs- dingt, „die strukturelle Mehr- gesetz zu verabreden – das heitsfähigkeit der Linken zu wäre „die Aufkündigung der erhalten“; diese Aufgabe ha- Koalition“, sagt die grüne be Bedeutung „auch über Fraktionschefin . Deutschland hinaus“. Deren Parteifreunde ha- Für viele klang es wie ein ben es gründlich satt, zur Nachruf, und tatsächlich: Pleitenserie der Genossen Auch wenn etwa Jürgen Trit- weiterhin gute Miene zu ma- tin vor einem Spiel mit den chen. „Diese Woche halte Konservativen warnt („Wer ich die andere Wange noch auf diese Leimrute geht,

hin, aber dann ist Schluss“, UNGER MARC-STEFFEN muss wissen, dass er die 40 Mehrheitsfähigkeit von Rot-Grün im Bund weiter schwächt“) – die meisten von Fi- schers Kollegen und vor allem die Kolle- ginnen in der Führung würden die un- komfortable Randlage im Parteienspek- trum lieber heute als morgen räumen. Hamburg könnte dafür der Testfall sein (siehe Seite 44). Die Wahl der dortigen Bürgerschaft am übernächsten Sonntag bietet die Chance einer Neujustierung. Die Arithmetik der Umfrageergebnisse belebt die Phantasien: Schwarz-Grün ist in Berlin zum Tuschelthema geworden – nicht un- bedingt als erste Priorität und auch nicht als Wahrscheinlichkeit, aber als eine zu- sätzliche Option. „Für die Grünen geht es darum, ihre strategischen Möglichkeiten zu erweitern“, sagt Ralf Fücks, der Vorsitzende der par- teinahen Heinrich-Böll Stiftung. Selbst die

ehemalige Hamburger Senatorin Sager ist PRESS JENS SCHICKE / ACTION dafür, im Fall der Fälle die neue Beweg- Grünen-Fraktionschefinnen Sager, Göring-Eckardt: Neue Beweglichkeit testen lichkeit zu testen – und Fischer, der öf- fentlich den rot-grünen Traditionalisten Die grünen Planspiele werden von einer Er und Gerhard Schröder haben sich nicht gibt, hat intern zugestimmt: „Das ent- neuen Normalität auch auf der anderen mehr allzu viel zu sagen. scheiden die Landesverbände.“ Seite genährt. Die Merkel-CDU ist nicht Der einzige Wachstumsfaktor in den Wer derzeit Hamburg sagt, denkt zu- mehr die Kohl-Kohorte. „SPD, Union, FDP beiderseitigen Beziehungen ist das Miss- gleich an Berlin. Angesichts des dauerhaf- und Grüne sind miteinander koalitions- trauen. Als der Kanzler den Wechsel im ten Formtiefs der Liberalen und einer re- fähig“, heißt es in der Unionsspitze. Sogar Parteivorsitz plante, ließ er seinen Stellver- formfreudigen CDU unter Angela Merkels CSU-Chef Edmund Stoiber beeilte sich treter in der Regierung bis zuletzt im Un- Führung sehen die grünen Macher eine kürzlich, den Grünen Bündnisqualität zu klaren. Erst zwei Stunden vor der Verkün- Lücke in der Mitte des Parteiensystems, bescheinigen. Das Kalkül: Er will mit Blick dung des Machtverzichts wurde Fischer die sich womöglich füllen ließe. Die Auf- auf seine Ambitionen als Kanzlerkandidat telefonisch informiert. Das Gespräch dar- lösung der bisherigen Machtblöcke ist im die Spielräume erweitern. über dauerte keine zwei Minuten. Gange – vor allem in der Wählerschaft Wenn nicht schon in Hamburg, könnte Was der Grüne nur schwer verwinden schwinden die Bindekräfte der alten Mi- es in Nordrhein-Westfalen zum Probelauf kann, ist aus Schröders Sicht vor allem lieus. kommen. Angeführt von Umweltministerin machtpolitisch begründet. Die Vier-Augen- Über 80 Prozent der Grünen-Wähler – Bärbel Höhn wächst da die Zahl derer, die Gespräche mit dem Vize, so ein Vertrau- das ergab das aktuelle ZDF-Politbarometer eine Koalition mit der CDU unter Jürgen ter des Kanzlers, „haben sich als Steue- – stehen schwarz-grünen Bündnissen nicht Rüttgers für denkbar – und einige gar für rungsinstanz nicht bewährt“. Selbst wenn mehr ablehnend gegenüber. Die Zustim- wünschenswert – halten. Freund Joschka nach außen seine Par- mung unter den Anhängern der Grünen ist Die ehemals Parteilinke Höhn treiben tei repräsentiert – die Kraftlinien laufen dabei noch höher als unter denen der CDU. dabei vor allem pragmatische Erwägungen. längst auch im Alltag an anderer Stelle zu- Seit Jahren liegt sie mit den regie- sammen. renden Sozialdemokraten, erst mit Denn die beiden selbstbewussten grü- Wolfgang Clement, dann mit Peer nen Fraktionschefinnen Katrin Göring- Steinbrück, im Clinch. Wenn sie Eckardt und Krista Sager pochen auf Mit- sich von Rüttgers zu Waldspazier- gestaltung und setzen sich immer häufiger gängen einladen lässt, ist das vor durch. In Franz Müntefering haben sie allem als Wink an den sperrigen einen verlässlichen Gesprächspartner ge- Koalitionspartner gedacht. Zudem funden. Zumindest das Routinegeschäft findet Höhn, dass man schwarz- der Koalition wird von diesem Trio abgewi- grüne Bündnisse beizeiten vorbe- ckelt, weitestgehend geräuschlos. reiten muss. Und auch der neue Parteivorsitzende Und Joschka Fischer nimmt sol- Reinhard Bütikofer entwickelt ein politi-

JENS SCHICKE che Entwicklungen mittlerweile sches Eigenleben, das Vielflieger Fischer CDU-Vorsitzende Merkel hin. Als seine Parteifreunde im im schon aus Zeitgründen nicht eindämmen Die Bindekräfte der alten Milieus schwinden Frühjahr 2001 in Frankfurt am kann. Main eine schwarz-grüne Stadt- Der Außenminister ist mit seiner Zu- Vor vier Jahren war eine interne Partei- regierung schmieden wollten, hatte er noch rückhaltung in Parteiangelegenheiten über- studie noch zum gegenteiligen Ergebnis heftig interveniert. dies gut gefahren; sie hat ihm den Nimbus gekommen. Damals führte die enge Andererseits: Auch wenn der viel zi- des Staatsmannes eingebracht, der sich be- Anlehnung der grünen Wähler an die tierte heimliche Vorsitzende nach wie vor trächtlicher Popularität erfreut. Die wenig SPD zur Aufgabe aller Überlegungen, die für ein Bündnis mit der SPD streitet (siehe honorierte Konsenssuche überlässt er an- Partei als eine Art Öko-FDP zu posi- Interview Seite 43), kommt ihm die zu- deren – zum Beispiel dem Kanzler, der in- tionieren. Fischer höchstselbst hatte eine nehmende Drohung mit den Schwarzen zwischen in Umfragen sogar hinter Guido solche Strategie ins Auge gefasst – woran nicht ganz ungelegen. Denn die Geschich- Westerwelle liegt. er sich heute nur noch mühsam erin- te von Rot-Grün ist für ihn auch die Ge- Wie verspannt sich der Umgang zwi- nert. schichte einer persönlichen Entfremdung. schen ihm und Fischer gestaltet, war auch

42 der spiegel 9/2004 Deutschland in der letzten Koalitionsrunde zu besich- tigen. Es sei doch keine gute Idee, gab der Grüne scheinbar besorgt zu bedenken, den gescheiterten SPD-Generalsekretär anschließend noch vor die „Ich habe gute Nerven“ TV-Kameras zu schicken: „Ich dachte, wir wollen ein Zeichen in Richtung Aufbruch Vizekanzler Joschka Fischer über die Zukunft von Rot-Grün setzen!“ Schröder verstand den Vorstoß als das, Fischer: Stimmt: Der Antragsteller hat An- was er in Wirklichkeit war: eine Einmi- spruch auf ein geregeltes Verfahren, das schung in die Angelegenheiten der SPD – vollziehen wir. Eine militärische Nutzung und lehnte ab. muss verifizierbar und dauerhaft ausge- So geht das schon seit Monaten. Fischer schlossen sein. ist verärgert, weil Schröder ihm den star- SPIEGEL: Einzelne Kreisverbände drohen ken grünen Anteil am Wahlergebnis nicht mit einem Sonderparteitag. dankte. Der Kanzler grämt sich, weil sich Fischer: Das ist eine Entscheidung der Par- sein Stellvertreter in den ersten zwölf Mo- tei. Aber was sollte dieser Parteitag be- naten der zweiten Amtszeit vor allem mit schließen? Politik ist doch im Wesentlichen eigenen Karriereplänen befasste. eine rationale Veranstaltung. Zum handfesten Krach kam es, als SPIEGEL: Gibt es Alternativen zu Rot-Grün? Schröder Anfang Dezember vergangenen Fischer: Für mich nicht. Jahres aus dem fernen China den Verkauf SPIEGEL: Glauben Sie noch an das viel be- der Hanauer Plutoniumfabrik an die Volks- schworene rot-grüne Projekt? republik in Aussicht stellte. Fischer mach- Fischer: Natürlich. Schauen Sie sich unse- te ihm hernach in einem Vier-Augen-Ge- re Reformen an, unsere Außen- und Euro- spräch bittere Vorhaltungen. So gehe man pa-Politik. Und dann vergleichen Sie das nicht miteinander um: „Wenn du so denkst, mit den Positionen der Union zur Kran- sind wir in der falschen Koalition.“ kenversicherung, zum Arbeitsmarkt, zum Seither gilt „Hanau“ den Grünen als Irak-Krieg und zur Zuwanderung. Synonym für die Entfremdung mit der SPIEGEL: Und die rot-grünen Streitereien SPD. Eine erzürnte Spitzenfrau: An diesem um Zuwanderung und Emissionshandel? Fall habe man lernen können, „dass es die Fischer: Das sind Punkte, die noch nicht

Farbe Rot-Grün nicht gibt, sondern nur / DDP MICHAEL URBAN ausdiskutiert sind. Wir werden uns aber in Rot und Grün“. Grünen-Politiker Fischer beiden Fragen einigen. Meine These ist: Eine Erkenntnis, die nun mehr und mehr „Die Regierung wird auch 2006 gewinnen“ Diese Regierung wird den Wahltermin 2006 auch die Sozialdemokraten teilen: Am ver- nicht nur erreichen, sondern dann auch gangenen Montag waren die internen SPIEGEL: Herr Fischer, nach Gerhard Schrö- noch mal gewinnen. Da habe ich gute Ner- Spannungen erstmals Thema einer Vor- ders Rücktritt als SPD-Chef sind die beiden ven. Die SPD wird sich erholen. standssitzung. starken Männer der Koalition in einer ähn- SPIEGEL: Fragt sich nur, wie. Ist die Koali- „Wir laufen Gefahr, die strukturelle lichen Lage – dem Kanzler fehlt wie Ihnen tion mehrheitsfähig, wenn sie weiterge- Mehrheitsfähigkeit zu verlieren“, mahnte die feste Verankerung in der Partei. hende Sozialreformen unternimmt? dort der SPD-Linke . Die Fischer: Das war eine schwierige Entschei- Fischer: Wir machen die Reformen, um den Präsidiumsfrau fürchtet, im dung Gerhard Schröders, um unsere Re- Sozialstaat für die Zukunft zu sichern. Falle einer schwarz-grünen Annäherung formagenda abzusichern, die schließlich die Nach einem Jahrzehnt Reformstau sind würden die Genossen in „die unmoderne Interessen von Millionen Menschen berührt diese Reformen einfach unaufschiebbar. Sozialstaatsecke“ abgedrängt, daran „ha- – viele davon SPD-Anhänger. Die neue Auf- Das weiß auch die Opposition – sagt sie nur ben Schwarz und Grün ein gemeinsames stellung an der Spitze der Sozialdemokratie nicht, weil dieses auch Einschnitte für die Interesse“. bietet eine Chance, die es zu nutzen gilt. Menschen bedeutet. Müntefering kennt die Besorgnisse – und SPIEGEL: Schwierig für die Koalition: Schrö- SPIEGEL: Sehen Sie künftig die Grünen auch teilt sie. Bei einer Zusammenkunft der der muss jetzt immer auch Franz Müntefe- als Mehrheitsbeschaffer für die CDU? SPD-Landes- und Bezirksfürsten in Berlin ring fragen. Gleichzeitig klagt das Kanzler- Fischer: Das sehe ich nicht. Das sind Debat- empfahl der designierte Parteichef öffent- amt, dass auch Sie längst nicht mehr wirk- ten, die sich in theoretischen Sphären ab- liche Zurückhaltung. „Niemand sollte sich lich für die Grünen sprechen könnten. spielen. Die Partei ist gut beraten, beim von der Debatte um Schwarz-Grün ver- Fischer: Ich habe keine Klagen gehört. bisherigen Profil zu bleiben, auch in der wirren lassen.“ Im Übrigen, bekannte er, SPIEGEL: Wir helfen: Im Herbst sagten Sie nächsten Generation. habe niemand zwei Wochen vor der Ham- Schröder zu, dass der Export der Hanauer SPIEGEL: Die sieht das anders. burg-Wahl eine Antwort auf die schwarz- Atomanlage nach China in Ordnung gehe. Fischer: Wir leben von zwei Elementen – grüne Option: „Ich auch nicht.“ Als die Sache öffentlich wurde, machten unserer Professionalität und programmati- Sicherheitshalber verschickte er zusam- Sie einen Rückzieher. schen Kreativität. Wenn wir uns auf die Fra- men mit Gerhard Schröder am vergange- Fischer: In der Sache liegen Sie völlig falsch. ge reduzieren, wie wir eine Mehrheit erzie- nen Donnerstag einen Brief an alle Funk- Es ging und geht um den Bescheid eines len, geht die Kreativität verloren. Ansons- tionäre der SPD, in dem sich der gleicher- Verfahrens. Die Prüfung war damals und ist ten haben bei uns immer die Landesver- maßen selbstverständliche wie überra- heute noch nicht abgeschlossen. Als Grüner bände entschieden. Das war und bleibt so. schende Satz findet: „Wir wollen erreichen, wünsche ich mir, die Anlage würde auf SPIEGEL: In Hamburg auch? dass die gemeinsame Koalitionsarbeit mit ewig eingemottet, aber als der für die Ge- Fischer: In Hamburg kämpfen wir für einen Bündnis 90/Die Grünen auch auf 2006 hin nehmigung zuständige Minister muss ich Wechsel. Und der ist möglich. Meine per- und darüber hinaus erfolgreich ist.“ nach Recht und Gesetz entscheiden. sönliche Überzeugung ist klar: Ich war und Tina Hildebrandt, Horand Knaup, SPIEGEL: Sie haben doch selbst schon von bin für Rot-Grün. Interview: Ralf Beste, Hartmut Palmer, Gerd Rosenkranz einer „bitteren Entscheidung“ gesprochen. Konstantin von Hammerstein

der spiegel 9/2004 43 Deutschland in der letzten Koalitionsrunde zu besich- tigen. Es sei doch keine gute Idee, gab der Grüne scheinbar besorgt zu bedenken, den gescheiterten SPD-Generalsekretär Olaf Scholz anschließend noch vor die „Ich habe gute Nerven“ TV-Kameras zu schicken: „Ich dachte, wir wollen ein Zeichen in Richtung Aufbruch Vizekanzler Joschka Fischer über die Zukunft von Rot-Grün setzen!“ Schröder verstand den Vorstoß als das, Fischer: Stimmt: Der Antragsteller hat An- was er in Wirklichkeit war: eine Einmi- spruch auf ein geregeltes Verfahren, das schung in die Angelegenheiten der SPD – vollziehen wir. Eine militärische Nutzung und lehnte ab. muss verifizierbar und dauerhaft ausge- So geht das schon seit Monaten. Fischer schlossen sein. ist verärgert, weil Schröder ihm den star- SPIEGEL: Einzelne Kreisverbände drohen ken grünen Anteil am Wahlergebnis nicht mit einem Sonderparteitag. dankte. Der Kanzler grämt sich, weil sich Fischer: Das ist eine Entscheidung der Par- sein Stellvertreter in den ersten zwölf Mo- tei. Aber was sollte dieser Parteitag be- naten der zweiten Amtszeit vor allem mit schließen? Politik ist doch im Wesentlichen eigenen Karriereplänen befasste. eine rationale Veranstaltung. Zum handfesten Krach kam es, als SPIEGEL: Gibt es Alternativen zu Rot-Grün? Schröder Anfang Dezember vergangenen Fischer: Für mich nicht. Jahres aus dem fernen China den Verkauf SPIEGEL: Glauben Sie noch an das viel be- der Hanauer Plutoniumfabrik an die Volks- schworene rot-grüne Projekt? republik in Aussicht stellte. Fischer mach- Fischer: Natürlich. Schauen Sie sich unse- te ihm hernach in einem Vier-Augen-Ge- re Reformen an, unsere Außen- und Euro- spräch bittere Vorhaltungen. So gehe man pa-Politik. Und dann vergleichen Sie das nicht miteinander um: „Wenn du so denkst, mit den Positionen der Union zur Kran- sind wir in der falschen Koalition.“ kenversicherung, zum Arbeitsmarkt, zum Seither gilt „Hanau“ den Grünen als Irak-Krieg und zur Zuwanderung. Synonym für die Entfremdung mit der SPIEGEL: Und die rot-grünen Streitereien SPD. Eine erzürnte Spitzenfrau: An diesem um Zuwanderung und Emissionshandel? Fall habe man lernen können, „dass es die Fischer: Das sind Punkte, die noch nicht

Farbe Rot-Grün nicht gibt, sondern nur / DDP MICHAEL URBAN ausdiskutiert sind. Wir werden uns aber in Rot und Grün“. Grünen-Politiker Fischer beiden Fragen einigen. Meine These ist: Eine Erkenntnis, die nun mehr und mehr „Die Regierung wird auch 2006 gewinnen“ Diese Regierung wird den Wahltermin 2006 auch die Sozialdemokraten teilen: Am ver- nicht nur erreichen, sondern dann auch gangenen Montag waren die internen SPIEGEL: Herr Fischer, nach Gerhard Schrö- noch mal gewinnen. Da habe ich gute Ner- Spannungen erstmals Thema einer Vor- ders Rücktritt als SPD-Chef sind die beiden ven. Die SPD wird sich erholen. standssitzung. starken Männer der Koalition in einer ähn- SPIEGEL: Fragt sich nur, wie. Ist die Koali- „Wir laufen Gefahr, die strukturelle lichen Lage – dem Kanzler fehlt wie Ihnen tion mehrheitsfähig, wenn sie weiterge- Mehrheitsfähigkeit zu verlieren“, mahnte die feste Verankerung in der Partei. hende Sozialreformen unternimmt? dort der SPD-Linke Hermann Scheer. Die Fischer: Das war eine schwierige Entschei- Fischer: Wir machen die Reformen, um den Präsidiumsfrau Andrea Nahles fürchtet, im dung Gerhard Schröders, um unsere Re- Sozialstaat für die Zukunft zu sichern. Falle einer schwarz-grünen Annäherung formagenda abzusichern, die schließlich die Nach einem Jahrzehnt Reformstau sind würden die Genossen in „die unmoderne Interessen von Millionen Menschen berührt diese Reformen einfach unaufschiebbar. Sozialstaatsecke“ abgedrängt, daran „ha- – viele davon SPD-Anhänger. Die neue Auf- Das weiß auch die Opposition – sagt sie nur ben Schwarz und Grün ein gemeinsames stellung an der Spitze der Sozialdemokratie nicht, weil dieses auch Einschnitte für die Interesse“. bietet eine Chance, die es zu nutzen gilt. Menschen bedeutet. Müntefering kennt die Besorgnisse – und SPIEGEL: Schwierig für die Koalition: Schrö- SPIEGEL: Sehen Sie künftig die Grünen auch teilt sie. Bei einer Zusammenkunft der der muss jetzt immer auch Franz Müntefe- als Mehrheitsbeschaffer für die CDU? SPD-Landes- und Bezirksfürsten in Berlin ring fragen. Gleichzeitig klagt das Kanzler- Fischer: Das sehe ich nicht. Das sind Debat- empfahl der designierte Parteichef öffent- amt, dass auch Sie längst nicht mehr wirk- ten, die sich in theoretischen Sphären ab- liche Zurückhaltung. „Niemand sollte sich lich für die Grünen sprechen könnten. spielen. Die Partei ist gut beraten, beim von der Debatte um Schwarz-Grün ver- Fischer: Ich habe keine Klagen gehört. bisherigen Profil zu bleiben, auch in der wirren lassen.“ Im Übrigen, bekannte er, SPIEGEL: Wir helfen: Im Herbst sagten Sie nächsten Generation. habe niemand zwei Wochen vor der Ham- Schröder zu, dass der Export der Hanauer SPIEGEL: Die sieht das anders. burg-Wahl eine Antwort auf die schwarz- Atomanlage nach China in Ordnung gehe. Fischer: Wir leben von zwei Elementen – grüne Option: „Ich auch nicht.“ Als die Sache öffentlich wurde, machten unserer Professionalität und programmati- Sicherheitshalber verschickte er zusam- Sie einen Rückzieher. schen Kreativität. Wenn wir uns auf die Fra- men mit Gerhard Schröder am vergange- Fischer: In der Sache liegen Sie völlig falsch. ge reduzieren, wie wir eine Mehrheit erzie- nen Donnerstag einen Brief an alle Funk- Es ging und geht um den Bescheid eines len, geht die Kreativität verloren. Ansons- tionäre der SPD, in dem sich der gleicher- Verfahrens. Die Prüfung war damals und ist ten haben bei uns immer die Landesver- maßen selbstverständliche wie überra- heute noch nicht abgeschlossen. Als Grüner bände entschieden. Das war und bleibt so. schende Satz findet: „Wir wollen erreichen, wünsche ich mir, die Anlage würde auf SPIEGEL: In Hamburg auch? dass die gemeinsame Koalitionsarbeit mit ewig eingemottet, aber als der für die Ge- Fischer: In Hamburg kämpfen wir für einen Bündnis 90/Die Grünen auch auf 2006 hin nehmigung zuständige Minister muss ich Wechsel. Und der ist möglich. Meine per- und darüber hinaus erfolgreich ist.“ nach Recht und Gesetz entscheiden. sönliche Überzeugung ist klar: Ich war und Tina Hildebrandt, Horand Knaup, SPIEGEL: Sie haben doch selbst schon von bin für Rot-Grün. Interview: Ralf Beste, Hartmut Palmer, Gerd Rosenkranz einer „bitteren Entscheidung“ gesprochen. Konstantin von Hammerstein

der spiegel 9/2004 43 Deutschland

29 Prozent, die Grün-Alternative-Liste Was die Ausstrahlung ihres Spitzenkan- HAMBURG (GAL) erreicht 14 Prozent, macht zusam- didaten angeht, wird die CDU von keiner- men 43 Prozent. Die CDU unter Führung lei Sorgen geplagt, ihr Programm reduziert Lebensstil mit des Ersten Bürgermeisters Ole von Beust sich auf drei Buchstaben. Ole, sagt CDU- liegt bei 45 Prozent. Generalsekretär Laurenz Meyer bei einem Fraglich nur, ob die großen Lager den Besuch an der Alster, stehe einfach für drei Buchstaben Ausgang unter sich ausmachen können. Hamburg: „Er repräsentiert den Lebens- Entscheidend wird wohl das Abschneiden stil dieser Stadt, und er kümmert sich nicht Die Wahl in der Hansestadt der kleinen Parteien sein: ob die FDP die um jeden Scheißdreck selber.“ Fünf-Prozent-Hürde nimmt – und wie sich Absolut Ole, bloß keine Leihstimmen, lau- wird zum Stimmungstest für Berlin. Ex-Innensenator Ronald Schill schlägt. tet die Ein-Mann-Strategie der Union – zum Der Ausgang ist völlig offen, Der Polit-Populist will, knapp drei Verdruss der Liberalen, die sich laut Spit- sogar ein Comeback des Populisten Monate nach dem Ende der Mitte-Rechts- zenkandidat Reinhard Soltau „als einzigen Schill scheint möglich. Koalition, diesmal auf dem Ticket der verlässlichen Partner der CDU“ betrachten. Pro-DM-Partei des Multimillionärs Bolko Daher versuchen sie nun bei der CDU-Kli- s gibt kaum ein Gewerbe, das so Hoffmann, in die Bürgerschaft einziehen, entel zu wildern: „Olé, Olé – nur mit der brutal mit seinen Stars von gestern seine Chancen stehen gar nicht schlecht. FDP“ biedern sie sich auf Plakaten an. Eumspringt, wie der Politikbetrieb. Zwar kommt er derzeit nur auf 4 Prozent, Solche Formen der Selbstverleugnung Das musste der gescheiterte SPD-Gene- doch die Erfahrung lehrt, dass sich bei sind den Grünen fremd, sie könnten auf ein ralsekretär Olaf Scholz am vergange- Umfragen längst nicht alle Schill-Anhänger Rekordergebnis zusteuern. Ihr größtes Pro- nen Sonntag bitter erfahren. In seinem Hei- outen: Bei der Wahl im September 2001 blem ist die Schwäche ihres potenziellen matstadtteil Hamburg-Altona veran- erreichte die Schill-Partei 19,4 Prozent – Koalitionspartners. Auch deshalb halten staltete die Partei ein Kin- sich hartnäckig Spekulationen derfest, mit Clowns, Trickfil- 45% um eine schwarz-grüne Alter- men und Schokopops mit Milch. Auf der Bühne kün- digte Landesgeschäftsführer Patt im Norden Ties Rabe „zwei prominente Infratest-dimap-Umfrage Gäste“ an: SPD-Spitzenkan- 29% zur Bürgerschaftswahl didat Thomas Mirow und in Hamburg Franz Müntefering, den de- für den NDR und das signierten Chef der Bundes- „Hamburger Abendblatt“, partei. Dann begrüßte der 12. bis 16. Februar Wahlkampfmanager Britta 14% Ernst, die Ehefrau von Scholz, die zum Schatten- 4% 4% kabinett Mirows gehört. CDU SPD GAL FDP Scholz selbst, immerhin / DDP ROLAND MAGUNIA noch SPD-Landesvorsitzen- Wahlkämpfer Müntefering, Mirow: Geläuterte SPD der, stand daneben und war- native, kürzlich von der Bundes-Fraktions- tete vergebens darauf, dass chefin Krista Sager ins Spiel gebracht. sein Name genannt wurde. So sind nach der Wahl in Hamburg auch Jetzt ist Müntefering der ungewöhnliche Konstellationen durchaus Star, weitere zweimal wird er vorstellbar. Variante eins: Allein CDU, SPD die Hansestadt besuchen, be- und GAL kommen in die Bürgerschaft. vor die Hamburger am 29. Fe- Nur so ist die absolute Mehrheit für die bruar wählen. Nach dem CDU bisher realistisch, aber auch eine rot- Rücktritt Gerhard Schröders grüne Mehrheit möglich. als Parteichef verkörpert er Variante zwei: Die FDP zieht in die Bür- die geläuterte SPD, die Neu- gerschaft ein, Schill nicht. Schwarz-Gelb es und Altes zu versöhnen verfügte über eine klare Mehrheit. sucht. Die Auftritte im Nor- Variante drei: Beide Kleinparteien, FDP

den dienen deshalb gleichsam PRESS HANSEN / ACTION MARKUS und Schill, kommen in die Bürgerschaft. als Barometer, ob diese Stra- Bürgermeister Beust: Absolut Ole Bleibt die CDU so stark wie in den Um- tegie ankommt: „Wie Ham- fragen, reicht es knapp für Schwarz-Gelb. burg dasteht“, sagt Müntefering, „ist schon die Meinungsforscher hatten rund 5 Pro- Variante vier: Schill schafft fünf Prozent, ein Zeichen.“ zent weniger vorausgesagt. die FDP bleibt draußen. Die CDU benötig- Mit dem Wechsel an der SPD-Spitze ist Das Kalkül der SPD, Beust die Schuld te fast 50 Prozent der Stimmen, eine ge- die Abstimmung an der Elbe unversehens am Aufstieg Schills zuzuschieben, ist je- wagte Hoffnung. Für Rot-Grün würde es ins zentrale Blickfeld der Berliner Politik denfalls nicht aufgegangen. Stattdessen nicht reichen, und eine Große Koalition geraten. Nun gilt sie als Stimmungstest im muss sich Spitzenkandidat Thomas Mirow will derzeit noch keiner der Kandidaten. Superwahljahr, und deshalb strömt die an den Wahlständen mit Berliner Themen Sollte dieses – nicht abwegige – Szena- Bundesprominenz in die Hansestadt: Bun- wie Rentenreform, Praxisgebühr und Steu- rio eintreten, hat Politchaot Schill sich deskanzler Gerhard Schröder, Außenmi- erreform herumschlagen. Zumindest habe schon eine – ziemlich abwegige – Strategie nister Joschka Fischer, CDU-Chefin Ange- der Wechsel an der Parteispitze die Basis zurechtgelegt. Er werde dann mit der CDU la Merkel – alle versuchen noch Anhänger motiviert, berichten Genossen. Denn mit koalieren, die vorher eben mal den Bür- zu mobilisieren. dem hölzernen Mirow als alleinigem Zug- germeister rauswerfen sollte. Das wären Es dürfte sehr knapp werden: Nach der pferd sind ihnen nicht mal die Stamm- dann wieder Hamburger Verhältnisse. jüngsten Umfrage kommt die SPD auf wähler sicher. Cordula Meyer

44 der spiegel 9/2004 MICHAEL DALDER / REUTERS / E-LANCE MEDIA / REUTERS MICHAEL DALDER Präsident Chirac, Regierungschefs Schröder, Blair*: Ohne die Hilfe Londons läuft auf dem Kontinent so gut wie nichts

spruchs auf Hegemonie, bemühte sich bei AUSSENPOLITIK seinem Besuch in Berlin um neue Töne: „Wir wissen, wie wichtig die Zusammen- arbeit mit Deutschland in entscheidenden Unheimliche Nähe Gebieten ist.“ „Den Russen vergeben, die Deutschen Auf der Suche nach Wahlkampfhelfern schreckt US-Präsident Bush ignorieren, die Franzosen bestrafen“, hat- te Bushs Sicherheitsberaterin Rice nach selbst vor Deutschen und Franzosen nicht mehr zurück. dem Irak-Krieg als Losung ausgegeben. Die genießen Washingtons Charme-Offensive – zum Billig-Tarif. Davon ist kaum noch etwas zu spüren. „Washington makes nice“, schrieb die „In- s sah aus wie eine der zahllosen Ein- Mehr Honneurs kann der Präsident der ternational Herald Tribune“ mit angemes- ladungen, mit denen ein deutscher einzig verbliebenen Supermacht einem sener Ironie – Washington macht auf nett. EBotschafter in Washington üblicher- Botschafter nicht erweisen – und Condo- Das Desaster im Irak hat den US-Präsi- weise beglückt wird. Der amerikanische leezza Rice nannte dem verblüfften Ischin- denten bescheiden gemacht. Bush ist ein Präsident bat nach Fort Lesley J. McNair, ger zwei Gründe dafür: Zum einen habe Getriebener. In seiner Not bat er die un- dorthin, wo Potomac und Anacostia zu- das Weiße Haus mit Interesse die Rede über geliebte Uno, im Irak die Vermittlung im sammenfließen. George W. Bush wollte am einen strategischen Nahost-Plan zur Kennt- Konflikt mit der schiitischen Mehrheit zu Mittwoch vergangener Woche eine bedeu- nis genommen, die Außenminister Joschka übernehmen. Dann wandte er sich an das tende Rede über den Kampf der Welt- Fischer gerade in München gehalten hatte; Nein-Sager-Trio von einst: Deutschland, macht gegen die Verbreitung nuklearer darüber hinaus erwarte der Präsident Russland, Frankreich. Waffen halten. schließlich den Besuch des deutschen Kanz- Im Herbst wird in den Vereinigten Staa- Pünktlich um 14.30 Uhr setzte sich Wolf- lers – am 27. Februar in Washington. ten ein neuer Präsident gewählt. Noch ist gang Ischinger in eine der hinteren Reihen Bushs freundlicher Akt war der vorläufi- Bush der Favorit, doch sein demokratischer des Saales der „National Defense Univer- ge Höhepunkt einer bemerkenswerten Gegenspieler setzt ihn unter Druck. Der sity“. Da bat ein Protokollbeamter des Charme-Offensive seiner Administration, hochdekorierte Vietnam-Veteran John Weißen Hauses seine Exzellenz, den Bot- die bislang nicht durch tief greifende Sym- Kerry wirft ihm vor, er habe die USA in der schafter der Mittelmacht Deutschland, pathie für das „alte Europa“ aufgefallen ist. Stunde der Not von den wichtigsten Ver- nach vorn in die erste Reihe, wo er ganz So verzichtete der Raubauz aus dem Pen- bündeten abgeschnitten. Der regierende allein saß – bis ihm ausgerechnet Condo- tagon, US-Verteidigungsminister Donald Republikaner muss gegenhalten und ho- leezza Rice, die Sicherheitsberaterin des Rumsfeld, am Rande der Münchner Si- fiert nun in einer plötzlichen Kehrtwende US-Präsidenten, Gesellschaft leistete. cherheitskonferenz darauf, seinen kame- jene, denen er noch vor kurzer Zeit die Dann kam George W. Bush. Bevor er radschaftlich mit Vornamen angeredeten kalte Schulter gezeigt hatte. über Massenvernichtungswaffen sprach, Kollegen Peter Struck zu fragen, ob die Russlands Präsident Wladimir Putin war begrüßte er ausdrücklich den Vertreter Deutschen Soldaten in den Irak schicken der Erste, dem die Aufmerksamkeit des Deutschlands: „Danke, dass Sie heute hier könnten. Weißen Hauses geschenkt wurde – doch in- sind.“ Und selbst Staatssekretär John Bolton zwischen bleibt selbst Frankreich vom Ver- aus dem State Department, einer der här- söhnungswillen Amerikas nicht mehr ver- * Bei ihrem Treffen in Berlin am vergangenen Mittwoch. testen Vertreter des amerikanischen An- schont. Der französische Außenminister

46 der spiegel 9/2004 Deutschland

Dominique de Villepin, der den Amerika- und Franzosen, läuft auf dem Kontinent Mehr, so signalisieren Schröder und Co., nern durch seine aufwiegelnden Reden im so gut wie nichts. Deshalb trifft man sich zu ist an Hilfeleistungen nicht zu erwarten. Uno-Sicherheitsrat besonders verhasst ist, gemeinsamen Gipfeln – wie am Mittwoch Darüber hinaus werden die Avancen des beteuerte nach einem Treffen mit seinem vergangener Woche in Berlin. George W. Bush mit gemischten Gefühlen US-Kollegen Colin Powell in New York: Das Upgrade in die diplomatische Ku- betrachtet. Zu heftig war der Konflikt mit „Wir arbeiten zusammen.“ Verteidigungs- schelklasse bekommen Schröder und Chi- dem sturen Texaner, als dass jetzt eine große ministerin Michèle Alliot-Marie konsta- rac bislang zum Billig-Tarif. Zwar haben Bereitschaft da wäre, ihm bei der Wieder- tierte bei einem Besuch in Washington, sie dem amerikanischen Präsidenten im wahl zu helfen. eine „neue Seite“ sei aufgeschlagen: „Die Dezember eine „substanzielle Reduzie- „Es gibt keinen Druck, dem innenpoli- Lage hat sich spürbar entkrampft.“ rung“ der irakischen Altschulden in Aus- tisch motivierten Willen der US-Regierung Das finden auch die Amerikaner. Der sicht gestellt, doch die Details bleiben Ver- nach mehr internationaler militärischer Be- Oberbefehlshaber der Nato und Chef der handlungssache. teiligung im Irak entgegenzukommen“, US-Truppen in Europa, General James Und auch die groß angekündigte deut- findet etwa SPD-Entwicklungshilfe-Minis- Jones, jubelte: „In den französisch-ameri- sche Aufbauhilfe im Irak ist alles andere als terin Heidemarie Wieczorek-Zeul. Und der kanischen Beziehungen gibt es mehr zu überwältigend: einflussreiche sozialdemokratische Frak- feiern als zu kritisieren.“ In Washington • Ab März werden etwa ein Dutzend tionsvize erinnert daran, dass bildete sich gar ein parlamentarischer deutscher Experten in Abu Dhabi iraki- „Wahlkampfhilfe für Bush in Deutschland Freundeskreis aus Kongressmitgliedern, sche Kriminalpolizisten ausbilden. Die auch nicht populär ist“. denen der französische Botschafter Jean- Bundesrepublik trägt gerade die Kosten Am liebsten wäre es den rot-grünen Ko- David Levitte eigens einen Empfang be- für das eigene Personal; den Rest finan- alitionären, wenn der Republikaner im No- reitete. Schauspieler traten dort vember abgewählt würde. Doch in historischen Kostümen als La die politische Klugheit gebietet Fayette, Napoleon und Benja- Zurückhaltung. So ist ein Schrö- min Franklin auf. der-Termin mit Bush-Herausfor- Und auch die Deutschen, die derer Kerry derzeit undenkbar. sich noch gut an das frostige Kli- Trotz des atmosphärischen ma der vergangenen Monate er- Tauwetters in den deutsch-ame- innern können, spüren nun den rikanischen Beziehungen gibt neuen, lauen Wind aus Wa- sich in Berlin niemand der Illu- shington. Noch im vergangenen sion hin, die schweren inhaltli- Sommer wollte Bush zunächst chen Differenzen mit der Bush- um jeden Preis vermeiden, sich Administration seien ausge- mit dem Kanzler am Rande der räumt. Nach wie vor halten die Uno-Vollversammlung in New Europäer vor allem eine Stabili- York zu treffen. „Ich pack’s nicht sierung des arabischen Raums mit Schröder“, seufzte der mäch- für unmöglich, wenn nicht der tigste Mann der Welt, als ihn sei- „entscheidende Regionalkon- ne Berater bedrängten. Der flikt“ (Fischer) zwischen Israelis Kanzler habe ihn schlicht betro- und Palästinensern gelöst wird. gen, zürnte der Bush des Jahres Bush dagegen hat sich – an- 2003, als er den drohenden Irak- ders als sein demokratischer Feldzug zum antiamerikanischen Vorgänger Bill Clinton – nie da- Wahlkampfschlager machte. zu durchringen können, die

Der Präsident des Jahres 2004 / E-LANCE MEDIA DOWNING / REUTERS LARRY Nahost-Frage dauerhaft auf sei- nimmt sich am Freitag nicht nur US-Präsident Bush: Lauer Wind aus Washington ne politische Prioritätenliste zu Zeit für eine längere Audienz setzen. mit dem Berliner Regierungschef. Er bittet zieren die Vereinigten Arabischen Emi- Bei aller Genugtuung ist Deutschen und den Kanzler, der zwischen zwei Terminen rate. Franzosen die plötzliche Nähe des Wahl- in Chicago und Mississippi nach Washing- • Selbst die bescheidenen 200 Millionen kämpfers Bush fast ein wenig unheimlich. ton jettet, sogar zum Lunch ins Weiße Haus. Euro, die die Berliner Regierung im ver- So denkt der amerikanische Präsident of- Und damit die Bilder der ungewohnten gangenen Jahr aus den einzelnen Posten fenbar schon über einen spektakulären Fo- Harmonie angemessen verbreitet werden, ihrer nationalen und internationalen Fi- totermin mit seinen einstigen Widersa- wird selbst die Presse zu dem Ereignis in nanzzusagen errechnete, werden nicht chern nach. das Oval Office geladen. gezahlt. Das Auswärtige Amt gab nur 14 Am 6. Juni wird in der Normandie der Die Europäer genießen die neue Herz- der zugesagten 40 Millionen Euro für 60. Jahrestag der alliierten Landung in lichkeit – und vermeiden ihrerseits alles, humanitäre Hilfe aus – die restlichen 26 Frankreich gefeiert. Schröder hat als erster was die Amerikaner abermals provozieren Millionen verfielen zum 31. Dezember. deutscher Kanzler die Einladung des könnte. Die Achse Moskau–Berlin–Paris, • Beim Militäreinsatz bleiben die Deut- französischen Präsidenten bereits ange- die sich in der Irak-Kontroverse ständig ab- schen zurückhaltend. Wegen des Wider- nommen – eine Gelegenheit, die sich gestimmt hatte, ist mittlerweile Geschichte; stands in den rot-grünen Bundestagsfrak- auch Bush zu Nutze machen könnte. Ein nur Frankreich und Deutschland achten tionen drängen der Kanzler und sein Vize Gruppenbild des Amerikaners auf dem darauf, den Gleichschritt zu wahren. „Das Fischer darauf, ein Nato-Engagement im Omaha Beach mit den wichtigsten Reprä- deutsch-französische Paar bleibt für uns das Irak so weit wie möglich ins Jahr 2005 zu sentanten des „alten Europa“ ist durchaus Fundament, die wesentliche Beziehung“, verschieben und jeden noch so kleinen möglich. sagt ein französischer Präsidentenberater. Beitrag zu vermeiden. Falls die Nato ein „Der Präsident erwägt das ernsthaft“, Neu hinzugekommen ist Bushs treuester Hauptquartier zur Führung eines Mi- hören die Deutschen aus dem Weißen Verbündeter in Europa, der britische Pre- litäreinsatzes an den Tigris verlegt, so die Haus – und wissen nicht, ob sie sich dar- mierminister Tony Blair. Ohne die Hilfe derzeitige Planung in Berlin, würden die über freuen sollen. Ralf Beste, Londons, so die Analyse der Deutschen deutschen Offiziere diskret abgezogen. Romain Leick, Gerhard Spörl

der spiegel 9/2004 47 Deutschland KNUT FJELDSTAD / AP FJELDSTAD KNUT Ansar-e-Islam-Führer Krekar, Anschlag in Mossul (Ende Januar): Täglich erfolgreich im Kampf gegen die Amerikaner

eine Einweisung in den Koran erhielt, be- TERRORISMUS vor er bereit war für den Dschihad. Und im November vergangenen Jahres registrierte die bayerische Polizei innerhalb einer Wo- Endstation Dschihad che gleich vier Nordiraker, die aus dem deutschen Exil zurück an die Heimatfront Islamisten aus Deutschland spielen im Irak eine wachsende Rolle. reisten, per Flugzeug bis nach Teheran und dann über die Berge Richtung Bagdad. Sie unterstützen den Widerstand gegen die Die Freiwilligen, deren Wege die Er- US-Besatzer mit Geld, Kriegsausrüstung und freiwilligen Kämpfern. mittler nachzeichnen können, schließen sich häufig einer Kleingruppe vor Ort an, er Hilferuf aus dem Nordirak er- benanschlag auf das Bundeswehrkranken- die noch von der Bundesrepublik aus ver- reichte Deutschland an einem die- haus in Hamburg vorbereitet zu haben: mittelt wird – wie jener Islamist aus Dsigen Tag im vergangenen Herbst, Ansar-e Islam. Deutschland, der Mitte November in Bag- in München musste Mohammed L., 30, Seit kurz vor Weihnachten ermittelt die dad „die anderen Brüder“ suchen sollte sofort klar gewesen sein, dass die Sache Bundesanwaltschaft gegen das deutsche und voller Euphorie bekundete, die Grup- eilte. Es gehe um einen Notfall, bat der Netz der Organisation, deren geistiger Füh- pe treffe nach und nach ein, man tue Unbekannte, der sich „Resgar“ nannte, rer Mullah Krekar in Norwegen Asyl be- „schon was“. eindringlich. Einer der besten Männer des antragt hat. Bayerische Fahnder nahmen Ausgerechnet der Irak, dessen Despo- irakischen Widerstands, der Sprengmeister Anfang Dezember in München den mut- ten Saddam Hussein die Amerikaner stürz- Ali al-Fadhil, habe sich beim Hantieren mit maßlichen Schleuser Mohammed L. fest. ten, um den Terror zu bekämpfen, ist durch einer Landmine beide Hände wegge- Und auch die Bundesregierung ist aktiv den Krieg weltweit zum Kristallisations- sprengt. Nun brauche er dringend medizi- geworden: Im Dezember traf sich Bun- punkt für den Kampf gegen die Ungläubi- nische Hilfe, ob das die Jungs in München desinnenminister Otto Schily (SPD) mit gen geworden, ein Magnet für Mudschahi- arrangieren könnten? dem amerikanischen Justizminister John din. „Das Stimulierende dort“, sagt ein Sie konnten. Über Iran, Mittelsmänner Ashcroft. Erster Schritt der vereinbarten hochrangiger deutscher Sicherheitsexper- in Italien und Frankreich gelang Fadhil, ei- „engen Kooperation“ (Schily) ist eine ge- te, „ist die Kampfsituation in einem isla- nem hochrangigen Mitglied der irakischen meinsame Task Force mit dem FBI, deren mischen Land, in dem tagtäglich vorge- Terrortruppe Ansar-e Islam, Ende vergan- „erklärtes Ziel das Erkennen und Zer- führt wird, dass der Dschihad gegen die genen Jahres die Flucht aus dem Krisen- schlagen von Rekrutierungsstrukturen“ ist, amerikanischen Teufel erfolgreich sein gebiet. Die anfängliche Idee, den kurdi- wie Schily sagt. kann.“ schen Bombenbastler direkt nach Bayern Die Zahl von 19 aus Deutschland in den Schon seit Monaten warnt der Präsident zu schleusen, gaben die Islamisten auf; Fad- Heiligen Krieg gezogenen Kämpfern, die des Bundesnachrichtendienstes, August hils Spur verliert sich in Großbritannien, bis Ende vergangenen Jahres galt, haben Hanning, vor einer ähnlichen Situation wo er vermutlich ärztlich behandelt wurde. die Behörden inzwischen deutlich nach „wie in Afghanistan unter sowjetischer Be- Die Fluchtroute illustriert, welch wichti- oben korrigiert. Sie liegt wohl eher bei 50, satzung“. Damals waren die Sowjets in ei- ge Rolle Unterstützer aus Europa für den Tendenz steigend. Genauere Angaben gibt nem jahrelangen Guerillakrieg zermürbt Widerstand gegen die US-Besatzer derzeit es nicht – zu konspirativ gehen die Sym- und schließlich zum Abzug gezwungen spielen – allen voran Sympathisanten aus pathisanten vor, deren Aktivitäten die worden – der Aufstand der Afghanen war Deutschland. Wenn in Bagdad Bomben Staatsschützer nur erahnen können. die Geburtsstunde von al-Qaida. explodieren oder sich Märtyrer in Mossul Mal erhalten die Behörden wie im ver- Der Heilige-Krieg-Tourismus zwischen in die Luft sprengen, ist die Wahrschein- gangenen Frühjahr einen Hinweis auf eine Berlin und Bagdad funktioniert in beide lichkeit groß, dass Qaida-Anhänger in Reisegruppe, eine ganze Busladung voller Richtungen: nach Deutschland, um Ver- Deutschland, Italien oder den Niederlan- Gläubiger, die vom Bodensee Richtung wundete und Flüchtlinge außer Landes zu den den Attentätern zugearbeitet haben. Bagdad aufbrachen und deren Fährte die bringen – und nach Bagdad, um den Ter- Im Zentrum des Guerillakriegs steht da- Fahnder in Ungarn verloren. Mal ist es ein ror zu verstärken. Mehr als hundert Iraker, bei jene Gruppierung, die verdächtigt wird, Maghrebiner aus Norddeutschland, der schätzen die Behörden, sind im vergange- kurz vor Silvester auch einen Autobom- sich auf den Weg machte und in München nen Jahr in die Bundesrepublik geschleust

48 der spiegel 9/2004 der Ladefläche eines Lastwagens im bayeri- schen Landsberg Asyl beantragte, gilt als besonders tapferer Kämpfer gegen die Un- gläubigen. Seitdem er sich im September 2002 aus Deutschland abgesetzt und im Nordirak Ansar-e Islam angeschlossen hat, sprechen Islamisten von ihm als furchtlo- sem Mudschahid, der den Amerikanern so manche Schmach beibrachte. Nur knapp gelang Nagah im vergange- nen März die Flucht nach Iran, als die US- Luftwaffe den Ansar-Stützpunkt in den kurdischen Bergen bombardierte. Nach ei- nem kurzen Afghanistan-Aufenthalt, wo er vermutlich auch mit der Qaida-Spitze zusammentraf, kehrte er in den Nordirak zurück. Seitdem soll er Mitglied im Aus- schuss für äußere Beziehungen von Ansar-

DPA e Islam sein, zuständig für die Kontakte nach Deutschland. worden – nicht nur, aber auch Terrorsym- Mudschahidin wie Nagah gelten für die pathisanten. Der Menschenschmuggel ist Sicherheitsbehörden als größtes Problem: ein lukratives Geschäft: Zwischen 2000 und Sie lernen im Irak das Bauen von Bomben 12 000 US-Dollar kostet das One-Way- und den Aufbau konspirativer Gruppen, Ticket. Wie professionell die Schleuser vor- sie knüpfen Kontakte und werden ideolo- gehen, zeigen Dokumente, die deutsche gisch geschult – ein praktischer Grundkurs Fahnder in einem Fall fanden: Es waren in Sachen Terrorismus. Und diejenigen, frisierte Originalpässe, eingekauft gegen die den Dschihad an der Front überle- Bakschisch in der Türkei. In die andere ben, kommen irgendwann zurück, dann Richtung, gen Bagdad, ist der Trip um- sonst, weil er der Sache Allahs dient – End- station Dschihad. Vor allem in Süddeutschland hat sich ein Netzwerk von Unterstützern organisiert, die für die islamistischen Untergrund- kämpfer in der Heimat Geld und falsche Pässe beschaffen, Nachtsichtgeräte, Zelte oder Zielfernrohre schmuggeln und neue Kämpfer ins Zweistromland schleusen. Fi- nanziert wird die Ausrüstung unter ande- rem durch in Moscheen gesammelte Spen-

den. Selbst Islamisten aus Mailand schick- SIMON / CORBIS SABA MARTIN ten per Kurier ein paar hundert Euro. Minister Ashcroft, Schily (in Washington) Rund 50 Anhänger von Ansar-e Islam Gemeinsame Task Force will der Verfassungsschutz in Deutschland ausgemacht haben, meist irakische Kur- mit Kampferfahrung – und als „tickende den, die einst unter Saddam das Land Zeitbomben“, die jederzeit hochgehen kön- verlassen mussten, in Deutschland Asyl nen, wie ein hochrangiger Sicherheitsex- beantragten und nun überwiegend in perte warnt. Süddeutschland leben, weil irakische Wie langfristig die Ausbildung neuer Re- Flüchtlinge von deutschen Ämtern zu ei- kruten angelegt ist, zeigt ein Gespräch zwi- nem großen Teil nach Bayern geschickt schen dem Hamburger Islamisten Abderaz- werden. „Die meisten davon sind keine zak M. und einem Imam im Büro einer Mitläufer“, sagt der bayerische Innenmi- Mailänder Moschee. Es gehe darum, agi- nister Günther Beckstein (CSU), „sondern tierte der Algerier aus Hamburg, neue Leu- stellen sich massiv in den Dienst der Or- te für den Dschihad zu gewinnen und per- ganisation.“ fekt zu trainieren. Es sei „wie in der Schu- Die engen Beziehungen in die Bundes- le: Da ist zuerst der Kindergarten, dann republik haben einen besonderen Grund: die Grundschule, die Oberschule und Ein Mann aus München ist in die Führungs- schließlich die Hochschule. Nach jeder Stu- etage Ansar-e Islams aufgestiegen – jener fe gibt es eine Prüfung“. Nur eines dürfe „Resgar“, der die Schleusung des verwun- man nie vergessen: die Sicherheit. deten Sprengstoffexperten anwies und mit Abderazzak M. selbst, der als eine der bürgerlichem Namen Ibrahim Nagah heißt. Schlüsselfiguren der Hamburger Szene gilt, Nagah, ein gebürtiger Turkmene, ist erst hat die Prüfung allerdings nicht bestanden. 21 Jahre alt – und doch geht ihm bereits ein Er wurde Ende November verhaftet – das außergewöhnlicher Ruf voraus. Der ge- konspirative Gespräch war von der italie- lernte Automechaniker, der im August nischen Polizei abgehört worden. 2000 nach einer sechstägigen Odyssee auf Holger Stark

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Wald, wo er an einem Baum zerschellte. Mutter und Kind waren sofort tot. Rolf F. ist nicht das todbringende Unge- heuer, zu dem ihn eine emotionalisierende Berichterstattung aufgebaut hat. „Todes- drängler“ wurde er in fetten Schlagzeilen wieder und wieder genannt. „Bild“ be- schrieb ihn als einen „Lebemann“, einen „Prahler“, der einen goldfarbenen Merce- des SLK fahre und „stets braun gebrannt“ sei. Im Prozess saß da ein anderer: ein blas- ser, hagerer Mann, sichtlich mitgenommen vom Spießrutenlauf durch die gaffende Menge, gezeichnet vom Medienrummel und von hasserfüllter Vorverurteilung. Natürlich fährt F. schnell, zu schnell. Natürlich hat er den Sicherheitsabstand nicht gewahrt, wie es vorgeschrieben ist. Natürlich fühlt sich ein Vorausfahrender dadurch bedrängt. Anders als Jasmin A. in ihrem Kleinwagen saß F. in einem schweren Auto, das dahinschnurrte wie auf Schienen. Für ihn war die Situation weder kritisch noch bedrohlich, noch gar lebens- gefährlich. ULI DECK / ARTIS DECK / ARTIS ULI Angeklagter F.: „Ich habe weder gedrängt noch etwas von einem Unfall bemerkt“

STRAFJUSTIZ „Es passt halt alles so gut“ Die Gerichte urteilen zunehmend strenger: Ein Autobahn-Raser ULI DECK / DPA ULI wurde zu einer Haftstrafe ohne Bewährung Vorsitzende Hecking verurteilt – wegen fahrlässiger Tötung. Von Gisela Friedrichsen „Wir hätten lieber klare Beweise gehabt“

elten ist ein Urteil mit solcher Span- Schuld. Durch den Vollzug muss ihm deut- „Ich habe weder gedrängt noch etwas nung erwartet worden. Selten waren lich gemacht werden, dass er zu büßen und von einem Unfall bemerkt“, sagt er zu Be- Sdie Meinungen am Ende eines Straf- zu sühnen hat.“ Es solle zwar kein Exem- ginn des Prozesses. Kann schon sein, dass prozesses in der Öffentlichkeit noch so ge- pel statuiert werden. Trotzdem „soll die er nichts gemerkt hat. Er passierte damals spalten. Die Vorsitzende Richterin Brigitte Öffentlichkeit sehen, dass der Staat rea- den Unfallwagen, wenn er denn der Fahrer Hecking beschrieb die Bandbreite der Er- giert. Jeder soll wissen: Wenn ich mich so war, wie das Gericht glaubt, dass es nur so wartungen an das Gericht: Sie reichten von verhalte, droht mir Ähnliches“. staubte. Volle Kraft voraus. Er wäre nicht Freispruch bis zu einer Verurteilung we- Der Fall eignet sich dafür wie selten ei- Versuchsingenieur bei DaimlerChrysler, gen Mordes. „Denn wer mit Tempo 250 ner. Kaum je haben sich so viele Menschen wenn er Angst vorm Autofahren oder vor auf der Autobahn unterwegs ist“, so entweder mit dem Angeklagten oder den Geschwindigkeit hätte. Hecking, „der ist in den Augen mancher Opfern identifiziert. Denn es ging um den Jasmin A. aber saß in einem kleinen Kia. Leute ja schon ein potenzieller Mörder.“ Verkehr, den Wahnsinn auf der Straße, vor Sie fuhr geschätzt Tempo 150, viel mehr ist Noch eine Seltenheit: die Beweislage, allem auf den Autobahnen, der, wie ein aus dem Auto nicht herauszuholen. Da dürftig wie kaum je in einem Strafprozess. Zeuge es nannte, langsam zum „Krieg“ kommt von hinten der Mercedes, immer Trotzdem verurteilte das Schöffengericht werde. Jeder, der oft hinter dem Steuer näher, immer näher. Bis auf 20 Meter sei er am Amtsgericht Karlsruhe am vergange- sitzt, muss zugeben, dass auch er Kriegs- aufgefahren, sagt das Gericht. Die Sach- nen Mittwoch den 34 Jahre alten Rolf F., teilnehmer ist. Und dass er zum Glück oft verständigen berechnen für den Mercedes Versuchsingenieur bei DaimlerChrysler, zu einen Schutzengel hat. zu jener Zeit eine Geschwindigkeit von einer Freiheitsstrafe von eineinhalb Jah- Jasmin A., 21, aber und ihre zweijährige etwa 184 Stundenkilometern. ren – wegen fahrlässiger Gefährdung des Tochter Rebecca kamen am 14. Juli vorigen Hat Jasmin A. nicht in den Rückspiegel Straßenverkehrs und fahrlässiger Tötung Jahres gegen sechs Uhr früh auf der A 5 geschaut? Eben hatte sie einen auf der mitt- in zwei Fällen. Wenn das Urteil von der zwischen Karlsruhe und Bruchsal ums Le- leren Spur fahrenden Transit überholt. Hat Verteidigung nicht erfolgreich angefochten ben – weil, wenn Staatsanwalt und Gericht sie den schnellen Wagen nicht bemerkt wie wird, muss F. die Strafe verbüßen. Recht haben, der angeklagte Rolf F. mit ei- die anderen Fahrer, die auch mit 200 und Das ist auffallend. Die Gerichte lassen es nem Mercedes CL 600 Coupé, einem 500- mehr dahinjagten, ihm aber souverän Platz offensichtlich nicht mehr mit Bewährungs- PS-Geschoss, auf der linken Spur so dicht machten? Vielleicht ist sie zu Tode er- strafen bewenden. Ganz unabhängig vom auf den Wagen der Frau auffuhr, dass sie schrocken und hat die Kontrolle über den öffentlichen Druck geschieht das nicht. ihr Auto nach rechts riss. Dann wieder Kia verloren. Oberstaatsanwalt Matthias Marx: „Der nach links. Dann drehte sich der Wagen um Vielleicht war sie einen Lidschlag lang Angeklagte steht bis heute nicht zu seiner die eigene Achse und schleuderte in den unaufmerksam, weil, zum Beispiel, ihr

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len Wagen überholt. Für ihn sah es so aus, „als ob der Mercedes den Kleinwagen von der Fahrbahn schubst“. Etwa 30 bis 40 Stundenkilometer sei der große Wagen schneller gewesen. Der Zeuge will gesehen haben, dass der Mercedes beim Überholen des Kleinwa- gens auf den Grünstreifen geriet. Ein Sach- verständiger widersprach: Von hinten kön- ne man erstens nicht sehen, wie groß der Abstand zwischen zwei Autos sei, und zweitens, wäre der Mercedes an die Mit- telleitplanke geprallt, hätte er den Grün- streifen berührt. „Für mich war es eine be- drohliche Situation“, sagte der Zeuge. Denn der Kleinwagen sei „schreckhaft und abrupt“ nach rechts ausgewichen. Sowohl das Auffahren – man hat sich

DPA getäuscht, der Vordermann räumt doch Unfallstelle zwischen Karlsruhe und Bruchsal: Die Kontrolle über den Kia verloren nicht so rasch die Fahrbahn wie erwartet – als auch das Erschrecken, weil man plötz- Kind quengelte. Wegen des grauenhaften mit Böblinger Kennzeichen und überholte lich einen anderen im Rückspiegel sieht, Unfalls wagte es offenbar niemand, an eine mich – beeindruckend.“ Es sei eine S-Klas- der zuvor nicht da war, es passiert auf der möglicherweise unglückliche Verkettung se gewesen, wegen der Scheinwerfer. Autobahn ständig. Die Drängler aus Ego- von Zufällen auch nur zu denken. Damit es Zeugen in Verkehrssachen sind sich gern ismus, Jux oder Selbstüberschätzung sind in den Schlagzeilen nicht heißt: „War das sehr sicher. Und doch sind ihre Aussagen allgegenwärtig. Opfer selbst schuld?“ längst nicht so zuverlässig wie etwa Brems- Vielleicht ist Rolf F. tatsächlich ein Ram- Jeder Autofahrer, auch der Geübte, spuren, die sich messen und fotografieren bo. Vielleicht aber ist er auch nur einer je- macht Fehler. Man ist gerade abgelenkt. lassen. Jeder Richter kennt das: Der eine ner Mitarbeiter der großen Autohersteller, Man verschätzt oder überschätzt sich – und Zeuge sieht ein rotes Auto, der andere ein für die die Fahrzeuge Versuchsobjekte sind. löst etwas aus, das in keinem Verhältnis grünes. Der eine sieht das rote von rechts Sie beherrschen Maschinen von 500 PS, zum Anlass steht. Egal, ob man „Täter“ kommen, der andere von links und so fort. fahren entsprechend selbstbewusst, und es oder „Opfer“ ist. Jeder Zeuge hat ein höchst subjektives Bild ist ihnen nicht mal unheimlich dabei. Zu Recht appellierte die Vorsitzende am im Kopf, das er als Wahrheit verteidigt. Die Vorsitzende fragte F.s Kollegen, wel- Ende der Urteilsbegründung an alle Auto- Da hielt sich einer für den Schnellsten, chen Ruf er als Fahrer habe. Ganz normal, fahrer: „Auf unseren Straßen gibt es keine und dann kam tatsächlich ein noch Schnel- sagt der eine. Doch was ist normal unter generelle Geschwindigkeitsbegrenzung. lerer. Mag sein, dass Zeuge M. diesem Auto Testfahrern und Versuchsingenieuren? Daher ist besondere Rücksicht geboten.“ besondere Aufmerksamkeit widmete. Rolf „Turbo-Rolf“ war F.s Spitzname. „Weil er Rücksicht auf Fahrer mit wenig Praxis, auf F.s Wagen war zwar bei 250 abgeregelt. auf solche Motoren stand“, sagt sein Vor- ältere Menschen, die nicht die Nerven ha- Doch das Potenzial zu höchst „beein- gesetzter. Böse Zungen reden anderes. ben, aggressivem Drängeln standzuhalten. druckendem“ Überholen hat ein solches In Papenburg fiel F.s Verhalten auf. Zu Die sich vor Rasern ängstigen und nicht Monstrum an Auto allemal. oft fragte er nach dem inzwischen bekannt jeder Situation gewachsen sind. „Etwa 500 Meter vor mir sah ich den gewordenen Unfall und den tragischen Fol- Nach den Feststellungen des Gerichts Kleinwagen ausbrechen. Klar übersteuert gen. Schlecht sei ihm geworden, sagen Kol- verließ F. spätestens gegen 5.29 Uhr das und nicht mehr abzufangen. Ich rechnete legen mit Unterton. „Wenn man nichts zu Werksgelände in Sindelfingen. Er fuhr auf mit einem Überschlag. Aber er schoss in tun hat mit einer Sache“, fragt die Vorsit- die A8, von dort bei Karlsruhe auf die A5, den Wald“, so M. „Mein Bauch sagte mir, zende Richterin, „warum macht man sich denn er wollte nach Papenburg im Emsland dass der Mercedes damit zu tun hatte.“ dann immer wieder Gedanken?“ zur Testanlage von DaimlerChrysler. Um Der nächste Zeuge, auch er fuhr 200 Dann fallen fatale Sätze: „Natürlich sechs Uhr war er an der Unfallstelle. oder mehr, wurde ebenfalls von dem dunk- wäre es uns lieber gewesen, wir hätten F.s Verteidiger Ulrich Schweizer hält es für schöne, klare Beweise gehabt.“ Doch auch unmöglich, die 78 Kilometer lange Strecke „die Puzzleteile, die wir zusammensetz- Stuttgart–Karlsruhe, eine der unangenehms- ten“, ergäben für das Gericht ein Bild. Vor- ten im deutschen Autobahnnetz, in knapp sicht: Für ein Puzzle gibt es eine genaue 30 Minuten zurückzulegen. Zum Teil nur Vorlage. Ein fertiges Bild schon vor Pro- zwei Spuren, Berg und Tal, Kurven, dazu zessbeginn? Lastwagen über Lastwagen. Man darf aus In dem Roman „Die Zeugen“ von gutem Grund oft nur 120 Stundenkilometer Georges Simenon geht es um einen Rich- fahren. Zügig kommt man kaum voran. ter, dem schlagartig bewusst wird, wie Schweizer fragte: „War nicht auch F.s leicht ein Mensch, nämlich er selbst, in ein Vorgesetzter zu dieser Zeit dort unter- falsches Licht geraten kann. Und wie er, wegs?“ Auch der fuhr einen dunklen Mer- der Richter, mit einem Angeklagten um- cedes, jedoch nicht die S-, sondern die E- ginge, wenn der eine Geschichte erzählte Klasse. Die Modelle unterscheiden sich wie die, die er, der Richter, gerade erlebt äußerlich durch die Art der Scheinwerfer. hat. „Es passt halt alles so gut“, meinte ein Zeuge M., der „fast 160000 Kilometer im Anwalt der Nebenklage in Karlsruhe.

Jahr“ zurücklegt, behauptet, hinter Karls- ZEITUNG BILD Die Verteidigung kündigte Rechtsmittel ruhe Gas gegeben zu haben bis auf Tempo Verkehrsopfer Jasmin A., Tochter Rebecca an. Und DaimlerChrysler, sich von diesem 225 oder 230. „Dann kam ein Mercedes Von der Fahrbahn geschubst? Mitarbeiter zu trennen. ™

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Solarkraftwerk in Fürth „Erst mal Masse machen“

fach: Zwei Millionen Euro will er ausgeben und damit über 400 Megawattstunden Strom pro Jahr erzeugen. In zwei Jahr- zehnten kämen so vier Millionen Euro in die Kasse. Um möglichst jeden Lichtstrahl einzufangen, sollen die Solarzellen drehbar auf gut drei Meter hohen Masten in die Landschaft ragen. Solarparks von mehr als einem Mega- watt Leistung gelten in der Branche be- reits als Großanlagen. Sie benötigen eine Fläche von rund eineinhalb Fußballfeldern. Allein um das jüngst abgeschaltete kleine Atomkraftwerk Stade zu ersetzen, müssten 630 solcher Einrichtungen gebaut werden. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass Deutschland den gegenwärtig führenden

PETER ROGGENTHIN / DPA Japanern den Rang als Sonnenstromland Nummer eins ablaufen könnte. Ein regel- Jürgen Trittin, „werden die Potenziale rechtes Wettrennen um die größte Anlage ENERGIEPOLITIK aller erneuerbaren Energien optimal er- der Welt findet derzeit im Osten der Bun- schlossen“. desrepublik statt. Der Berliner Projekt- Sonniger Profit Bezahlen müssen es die Stromkunden. entwickler Geosol und Shell Solar planen Den Solarinvestoren, einer oft rot-grünen südlich von Leipzig ein Fünf-Megawatt- Mit massiv geförderten Solarparks Klientel, will die Berliner Koalition pralle Kraftwerk. In Sachsen-Anhalt verhan- Unterstützung garantieren: delt ein bisher ungenannter Investor mit drückt die Regierung den Ökostrom • 45,7 Cent muss ein Energieunternehmen den Behörden sogar über einen Sechs- in den Markt – im Sinne der rot- für jede Kilowattstunde Solarstrom zah- Megawatt-Park. „Insgesamt 30 Prozent grünen Klientel. An den Standorten len, die aus einer Freilandanlage in sein Umsatzwachstum erwarten wir wegen der gibt es erste Bürgerproteste. Netz eingespeist wird. guten Investitionsbedingungen für das • Sogar 62,4 Cent werden fällig, 16,7 Cent laufende Jahr“, heißt es beim beteiligten ie mehr als hundert Hightech-Bret- mehr als bisher, wenn die Solarbretter an Bauteilelieferanten BP Solar. ter, die Lars Kirchner in einer La- oder auf einem Gebäude stehen. Freunde der klassischen Solarzelle, die Dgerhalle gestapelt hat, sind pro • Das Geld fließt für 20 Jahre. auf einem Hausdach in der Sonne liegt, Stück 25 Quadratmeter groß. Ihre tiefblau Mit Marktwerten haben die gesetzlich betrachten die neuen Großprojekte eher schimmernde Oberfläche kann Licht in verankerten Mondpreise nichts zu tun. An mit Skepsis. Sigrid Jannsen, Präsidentin Strom verwandeln. Der 32-jährige Unter- den Strombörsen wird die Kilowattstunde der Deutschen Gesellschaft für Sonnen- nehmer will daraus am Ortsrand seines derzeit für rund vier Cent gehandelt. Maß- energie, hält sie für landschaftverschan- hessischen Heimatdorfs Alheim-Oberel- stab für die Vergütung sind die Erzeu- delnd – eine Auffassung, der Greenpeace- lenbach einen der modernsten Solarparks gungskosten. Experte Sven Teske allerdings mit dem Deutschlands errichten. Bei Betreibern und Investoren macht Argument widerspricht, dass es dazu Wenn da nicht der Widerstand seiner sich folglich Boomstimmung breit. Sechs „gar nicht genug passende Flächen“ gebe: Mitbürger wäre. Zwar änderten die in der Prozent Rendite jährlich verspricht der hes- „Wir müssen jetzt erst mal Masse machen, Gemeindevertreterversammlung über die sische Solarunternehmer Kirchner priva- statt vor unserer Courage zurückzu- Mehrheit verfügenden Sozialdemokraten ten Kreditgebern. Seine Rechnung ist ein- schrecken.“ nach längerem Hickhack zu seinen Guns- Um Bürgerprotesten vorzubeugen, bieten ten den Bebauungsplan – aber das Projekt findige Kommunen nun Industriebrachen bleibt umstritten. „Wir wollen uns nicht die Solarstrom als Standorte an. Neben dem Klärwerk ent- Aussicht auf die schönen Hügel kaputt- Installierte Leistung der Fotovoltaik- deckte die hessische Stadt Bebra einen ge- machen lassen“, sagt die Wortführerin der anlagen in Deutschland eigneten Platz. In Fürth wurde Ende ver- örtlichen Protestbewegung, Maria Stahl. in Megawatt (MW) gangenen Jahres Nordbayerns größte So- Bürgerinitiativen gegen die bisher als 380,7 larfarm auf einem alten Müllberg in Betrieb unauffällig und sauber gelobte Solarener- genommen – gut 4,5 Millionen Euro hatte gie könnten bald vielerorts in Deutschland die Bremer Firma WPD Regenerative für Unruhe sorgen. Denn die Bundesre- Energien in zweieinhalb Mo- gierung will die so genannte Fotovoltaik 194,7 18,1 MW davon naten für die Ein-Megawatt- in den nächsten Jahren massiv fördern – werden durch die zehn Anlage verbaut. Die beiden und den Geldsegen auch auf großflächige Großanlagen* ostdeutschen Rekordprojekte Solarparks niedergehen lassen. Der Öko- in Deutschland bereit- sind auf einem ehemaligen stromanteil soll von heute 8 Prozent auf 113,8 gestellt. Raffineriegelände und einer 20 Prozent im Jahr 2020 hochgetrieben alten Militäranlage geplant. 53,9 Quelle: Bundesverband werden, damit Rot-Grün das 1997 im Kyo- 27,9 Solarindustrie Dem Solarunternehmer Kirchner stehen * Anlagen mit mehr als to-Protokoll für Deutschland festgeschrie- einem MW Leistung in Alheim-Oberellenbach dennoch un- bene Klimaschutzziel doch noch erreichen gemütliche Zeiten bevor: „So fängt Krieg kann. Durch das neu formulierte Gesetz, 199697 98 99 2000 01 02 03 an“, droht ihm der örtliche Anti-Solarpark- prahlt der grüne Bundesumweltminister Aktivist Peter Didszun. Henning Hinze

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Krankentransport auch getan hätte. Nun die Feuerwehr 2002 allein 260525 Notfall- GESUNDHEIT bestätigen erstmals Dokumente, die dem einsätze; damit wäre jeder 13. Berliner SPIEGEL vorliegen, diesen Verdacht. Wie schwer verletzt oder erkrankt ins Hospital Mit Blaulicht zum interne Einsatzmeldungen belegen, die transportiert worden – schwer vorstellbar. von der Leitstelle an die Fahrer gehen, „Tattrige Omas werden ohne medizini- wissen die Helfer oft schon frühzeitig, dass schen Grund mit teuren Rettungswagen Bluterguss keine ernsten Verletzungen oder Erkran- abgeholt“, klagt Peter Scherler, bei der kungen zu versorgen sind – und rasen den- AOK Niedersachsen zuständig für Ab- Rettungsdienste deklarieren harm- noch los. rechnungsmanipulation: „Damit wird Kas- Der schnelle Einsatz ist lukrativ: Für se auf Kosten der Kassen gemacht.“ Die lose Krankenfahrten als Notfall- eine Notfallfahrt können Rettungsdienste Rettungsdienste begründen ihr häufiges einsätze – und berechnen Kranken- je nach Kommune zwischen 200 und 550 Ausrücken vor allem mit dem Missbrauch kassen den viermal teureren Tarif. Euro berechnen, für den einfachen Einsatz der Notrufzentralen. Immer öfter würden Bürger die „112“ wählen, ohne dass ein echter Notfall vorläge. „60 bis 80 Prozent aller Einsätze sind Quatsch“, schätzt ein Ret- tungsmediziner. Doch damit lassen sich die Falschabrechnungen nicht er- Krankentransporte Einsätze zu Lasten der Krankenkassen 2002 Rettungsfahrten 3,66 Mio. Krankentransporte 4,62 Mio.

gesamt 8,28 Mio.

klären. Die Disponenten in der Notrufzentrale wissen vielfach schon vor der Fahrt, dass die Ver- letzungen geringfügig sind – und schicken dennoch ein Notfallteam

RONALD FROMMANN / LAIF FROMMANN RONALD raus. Zum Teil werden die Retter Rettungswagen-Einsatz in Hamburg: „Tattrige Omas ohne medizinischen Grund abgeholt“ mit versteckten Codes auf die Kundschaft eingestellt. Wenn Dis- er Aufwand war beträchtlich, die bei einem leicht Verletzten sind es dagegen ponenten den Einsatzgrund „Adeliger Bür- Aufregung der Gaffer groß – der nur 40 bis 150 Euro. „Wo Notfallrettung ger im Gebüsch“ melden, sind damit Ob- DAnlass indes: bescheiden. Mit Blau- draufsteht, muss auch Notfallrettung drin dachlose gemeint, die aufgelesen werden licht und Martinshorn sauste der Ret- sein“, fordert deshalb Egbert Schuhr, Ver- müssen. Begriffe wie „2. Sieger“ oder tungswagen zu einem Haus im Hamburger tragsleiter bei der Deutschen Angestellten „Deckungsfehler“ bedeuten, dass es Ver- Norden, die Sanitäter stürmten in den Krankenkasse. letzte nach einer Schlägerei gibt. zweiten Stock, doch zu retten gab es für sie Mehrere Krankenkassen prüfen nun, ob Unnütze Fahrten mit Blaulicht sind nicht wenig: Der vermeintlich schwer Verletzte die Rettungsdienste sie systematisch her- nur teuer, sondern auch gefährlich. Das Ri- hatte sich lediglich mit Sekundenkleber die eingelegt haben. Bei Stichproben der Tech- siko, im Rettungswagen schwer verletzt zu Hand verkleistert. niker Krankenkasse war gut ein Drittel werden, ist achtmal höher als bei normalen Ähnlich übertrieben war Tage zuvor der der Fahrten zweifelhaft. Rechnet man die- Krankenfahrten ohne Martinshorn. „Fah- Einsatz eines Rettungsteams in einem Asyl- se Quote hoch auf die jährlich knapp 3,7 ren Sie langsam, Sie haben es eilig“, emp- bewerberheim in der Hansestadt. Dort hat- Millionen Rettungseinsätze, die allein die fahl deshalb kürzlich das Fachmagazin „Im te ein Bewohner nur etwas kräftig mit ei- Krankenkassen bezahlen, käme als Scha- Einsatz“ – und klärte die Helfer auf, dass nem Wattestäbchen im Ohr hantiert. denssumme ein dreistelliger Millionenbe- sie nur dann mit Sonderrechten fahren dür- Wenn Rettungswagen durch die Straßen trag zusammen. fen, wenn „höchste Eile“ geboten sei. heulen, gibt es dafür nicht immer einen In den Rettungsdienstgesetzen der Län- Doch im Kampf um die lukrative Ret- guten Grund. Die Einsatzberichte der der ist zwar eindeutig definiert, was eine tung wird das gern vergessen. Die Crew Hamburger Feuerwehr vom vergangenen Notfallrettung ausmacht: Nur bei lebens- eines privaten Krankentransporteurs in Sommer lesen sich eher wie der Tages- gefährlicher Erkrankung oder Verletzung Hamburg bekam unlängst zufällig mit, dass kalender eines Landarztes: Da geht es um oder wenn schwere gesundheitliche Schä- sich eine Radfahrerin bei einem Sturz Augenreizungen und Durchfall, Daumen- den drohen, dürfen Blaulicht und Martins- leicht am Kopf verletzt hatte. Die Sanitä- quetschungen und Kniebeschwerden. Auch horn zum Einsatz kommen. Dennoch rück- ter riefen die Leitstelle der Feuerwehr an, Fingerbrüche oder ein umgeknickter Fuß te die Hamburger Feuerwehr laut Proto- um eine Krankenfahrt anzumelden. Der genügen bereits, damit sich ein Notfallteam kollen wegen eines „Handbruchs nach Disponent untersagte jedoch den Ab- in Bewegung setzt. Ehestreit“, wegen einer Beckenprellung transport. So musste die Frau auf den Ret- Schon lange argwöhnen Krankenkas- oder wegen Schulterschmerzen aus. tungswagen der Feuerwehr warten – und sen, dass Rettungsdienste bewusst Notfall- Diese Praxis hat offenbar bundesweit die Kasse zahlte statt 65 Euro mehr als einsätze fahren, obwohl es ein einfacher Verbreitung gefunden. In Berlin etwa fuhr viermal so viel. Udo Ludwig, Frank Sommer

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COMIC Klüger werden mit: Kampf um Anmut David Callahan ast zehn Jahre ist es her, dass sich ne Fans bekommen nun neues Futter für Fder Grunge-Sänger und Heroin-Kon- die Trauerarbeit in Form eines Comics. Der 38-jährige US-Autor über den sument Kurt Cobain erschoss. Er wurde Das von einem Künstler namens „Flame- Betrug als Volkssport als rebellisches Genie verklärt, und sei- boy“ gezeichnete Werk erzählt vom ab- rupten Ende einer geord- SPIEGEL: In Ihrem Buch „The Chea- neten Kindheit durch die ting Culture“ behaupten Sie, dass das Scheidung der Eltern Betrügen in den letzten 20 Jahren und der Flucht in eine epidemische Ausmaße angenommen Traumwelt; der Comic hat. Was ist passiert? wechselt zwischen Hallu- Callahan: Ob Spesenbetrug oder ille- zinationen und Realität. gal kopierte Musikstücke – keiner Lou-Reed-Biograf Peter fühlt sich mehr schuldig. Die Men- Doggett steuerte ein Vor- schen in den USA, aber auch in wort bei: Nicht von Ver- anderen westlichen sagen solle man im Falle Ländern, haben das Cobains sprechen, son- Vertrauen in die Ge- dern von einem Helden- rechtigkeit verloren. tum besonderer Art. Das Seit es in den achtzi- kurze Leben dieses ger und neunziger „kranken Mannes“ beste- Jahren zu einer Ra- he aus dem „Kampf um dikalisierung der Anmut angesichts schier freien Marktwirt- unüberwindbarer Hinder- schaft gekommen ist, nisse“. Auch zu den gro- glauben die Men- ßen Zeiten seiner Band schen nicht mehr Nirvana habe er nie ver- daran, dass jeder schwiegen, dass er sein die gleichen Chan- Callahan Star-Dasein als leer und cen hat, jeder Mil- unbefriedigend empfand. lionär werden kann. Der „American Dream“ ist geplatzt, und sie fühlen Flameboy, Barnaby Legg, Jim sich im Stich gelassen. McCarthy: „Godspeed“. Schwarz- SPIEGEL: Wo fängt alltäglicher Betrug kopf & Schwarzkopf Verlag, an? Cobain-Comic Berlin; 100 Seiten; 19,80 Euro. Callahan: Man muss dafür keine Ge- setze brechen: Fast 30 Prozent der amerikanischen Studenten geben zu, ihre Hausarbeiten aus dem Internet GARTENBAU zu kopieren. Trotzdem sind die mo- dernen Technologien nicht schuld an Flüchtlinge als Selbstversorger der extremen Zunahme von Straf- taten und Schummeleien. artenarbeit tut gut. Das gilt für ge- sem „interkulturellen Heilgarten“, der SPIEGEL: Wer dann? Gsunde, erst recht für traumatisierte an das Krankenhaus Moabit angeschlos- Callahan: Die Gewinner unserer Ge- Menschen. In einem Modellprojekt will sen ist, sollen nicht nur Nahrung liefern, sellschaft. Topmanager von großen das Berliner „Behandlungszentrum für sondern auch an pflanzenheilkundliche Konzernen wie Enron oder Halli- Folteropfer“ (BZFO) jetzt diese Erfah- Traditionen der Herkunftsländer an- burton, die ihre Firmen schamlos rung nutzen. Ab März haben die von knüpfen. geplündert haben – auf Kosten der Ärzten, Flüchtlingsheimen oder der Angestellten. Die Botschaft an den Ausländerbehörde an das BZFO kleinen Mann lautet: Wer Geld hat, weitergeleiteten, meist aus der Tür- besitzt Macht, stellt eigene Regeln auf. kei, aus Bosnien, Tschetschenien, SPIEGEL: Was muss passieren? dem Irak und aus Iran stammenden, Callahan: Wir brauchen mehr Kon- Folteropfer die Möglichkeit, sich als trollen für die Leute an der Spitze. Selbstversorger zu betätigen. Die Nicht einmal in den zwanziger Jah- Idee kam dem Therapeuten Frank ren war Korruption in den USA so Merkord, 51, und der Biologin Elisa- selbstverständlich wie zurzeit. Aber beth Hauschildt. Sie befragten was kann man von einer Regierung Flüchtlinge nach positiven Erinne- erwarten, die die Gefahren eines rungen an die Heimat und wollten Diktators mit Hilfe einer aus dem wissen, was sie am schmerzlichsten Netz kopierten, uralten Studenten-

vermissten: den Garten, sagten die MEYER / OSTKREUZ THOMAS arbeit beschwört? meisten. Anbau und Ernte in die- Merkord, Hauschildt

der spiegel 9/2004 61 Szene Gesellschaft

Was war da los, Herr Kanda? Der indische Straßenzahnarzt Kittan Singh Kanda, 46, über seine Praxis auf offener Straße „Ich habe mich auf Gebisse spezialisiert. Die bringen mehr Geld als eine Karies- Behandlung oder Zahnreinigung. Ich ma- che sie selbst, an einem Gebiss verdiene ich 200 Rupien (3,50 Euro). Viele Leute sind skeptisch, wegen der Hygiene. Da- bei ist das, was normale Zahnärzte machen, total übertrieben, reine Geld- schneiderei. Bei keinem meiner Patien- ten hat sich bisher etwas entzündet, schließlich säubere ich meine Geräte vor jeder Behandlung mit frischem Seifen- wasser, und Handschuhe trage ich auch. Wenn ich selbst was an den Zähnen habe, gehe ich zu meinem Onkel, der ist ebenfalls Straßenzahnarzt – wie fast alle in meiner Familie. Ich führe den Stand in der neunten Generation, mit dem Groß- teil meines Werkzeugs haben bereits

meine Großväter gearbeitet.“ / DPA MONEY SHARMA

Kanda

FITNESS per E-Mail, Telefon oder SMS zum Trai- INTERNET ning gebimmelt, wenn sie ihrem Club Appell per SMS längere Zeit ferngeblieben sind. Dieser Kauffreudige Frauen Appell ans Gewissen soll besonders in der n den ersten Wochen trainieren die ersten Phase nach dem Eintritt dafür sor- um ersten Mal gaben Frauen INeuen tapfer, dann ist Schluss mit der gen, dass der Eifer nicht nachlässt. Interne Zin Großbritannien mehr Geld Motivation. Fitness-Studios machen oft Statistiken zeigen, dass ein Nutzer, der via Internet aus als Männer. Die diese Erfahrung, so auch die Firma Elixia, während der ersten zwölf Wochen die Marktforschungsfirma Verdict hat die in Deutschland 26 Clubs betreibt. Also selbstgesetzte Trainingsfrequenz durch- festgestellt, dass der Pro-Kopf- wird nun gemahnt: Die Mitglieder werden hält, voraussichtlich keinen Einbruch der Online-Konsum von Frauen seit seit kurzem von ihrem Personal Trainer Motivation erlebt. So lange braucht es laut 2002 um 71 Prozent gestiegen ist Samir Vincevic, 33, – sechsmal schneller als der der Geschäftsführer von Männer. Im vergangenen Jahr Elixia-Norddeutsch- kauften Frauen durchschnittlich land, bis der Aufent- Waren im Wert von 495 Pfund halt im Studio seinen im Netz, Männer gaben durch- „Event-Charakter“ schnittlich 470 Pfund aus. Als verloren hat – und kaufkräftigste Online-Konsumen- „Teil der Lebensein- ten erwiesen sich die Senioren. stellung“ geworden Die Ausgaben der über 55-jährigen ist. Wer im ersten Männer und Frauen wuchsen um Monat zu viel trai- 130 Prozent auf durchschnittlich niert, neigt laut Vin- 527 Pfund pro Person. Nach Anga- cevic eher dazu, im ben von Verdict kaufen Frauen Laufe der beiden online vor allem Gesundheits- und Folgemonate wieder Schönheitsprodukte, Möbel und ganz aufzuhören. Kleidung. Männer kaufen im Inter- Nach neun Monaten net Werkzeug, Musik und elektro- erst stelle sich das nische Geräte. Ausgeschlossen von „zweite Gefühl“ ein der Untersuchung war der Konsum

MARKUS HANSEN / ACTION PRESS HANSEN / ACTION MARKUS – im Club zu Hause von Flügen, Urlaubsreisen und Konditionstraining im Studio zu sein. Finanzdienstleistungen.

62 der spiegel 9/2004 Gesellschaft

WAFFEN Lohn der Angst Weltweit liegen 100 Millionen Minen im Boden, meistens töten sie Zivilisten. Die Minenräumerin Vera Bohle hat im Kosovo, in Mosambik, in Afghanistan ihr Leben aufs Spiel gesetzt, jetzt kämpft sie an einer zweiten Front: auf Abrüstungskonferenzen in Genf. Von Barbara Supp

an muss den eigenen Kopf Im Palais des Nations, Avenue de besiegen. Man sieht vor la Paix, klebt ein improvisierter Zet- Msich eine Wiese, und der tel im Aufzug: Abrüstung: 6. Stock. Kopf möchte denken: Frühling. Blu- Der Aufzug führt zu einem Druck men. Schön. von Picassos „Guernica“ und der Der Kopf will nicht, aber er muss auf Französisch gedruckten Er- bezwungen werden, sie ruft sich klärung der Menschenrechte – und also andere Bilder in den Kopf, zu einem dunkeläugigen Herrn in grässliche Unfallbilder, sie sieht einem bücherverstopften Arbeits- dann vor sich, sagt sie, nicht Gras zimmer, mit grandiosem Blick auf mit Blüten, „sondern ein Stück den Genfer See. Fleisch“. Das ist Gustavo Laurie, die Ab- Ein Stück Fleisch, das früher mal teilung Minenräumung bei der Uno ein Fuß gewesen ist. Sie hat so etwas in Genf. öfters schon gesehen. Señor Laurie ist der Auftragge- Es hilft, sagt sie, wenn man sich ber, für den Vera Bohle regelmäßig diese Bilder in den Kopf zwingt, um vor die Regierungsvertreter tritt, ein sich daran zu hindern, wie ein nor- aus Peru stammender, lächelnder maler Mensch in die Landschaft zu Diplomat, der sich um eine „Kon- treten, und dann ist das Leben an- vention gegen bestimmte konven- ders, mit einem Schlag. Falls es noch tionelle Waffen“ kümmert. Ein ein Leben gibt. Mann, der Hoffnung verströmt, das Vera Bohle hat noch zwei Beine, ist sein Job. die sie benutzen kann, mancher Hoffnung, das ist die so genann- Kollege hat das nicht mehr. te Ottawa-Konvention. Das ist ein Kannst du mit einer Behinderung Abkommen von 1997, das Anti-Per- umgehen, fragte ihre Mutter, als sonen-Minen ächtet, also solche, die sie vom Berufswunsch der Tochter explodieren, wenn ein Mensch sie erfuhr. berührt. 141 Staaten haben das Ab- Vera Bohle hat zwei komplette kommen ratifiziert, Deutschland ist Arme, zwei komplette Beine, zwei mit dabei. Augen, die sehen können, sie kreuzt Nicht dabei sind so rüstungs- achtlos eine Wiese, es ist Vorfrüh- starke Staaten wie Russland, Chi-

ling in Genf. FOTOARCHIV / DAS DLOUHY MARKUS na, Indien, Pakistan, die USA. Kann man nicht wissen, sagt sie, Minenräumerin Bohle: Unfallbilder im Kopf Hoffnung, damit meint Laurie was das auf die Dauer anstellt mit auch die Uno-Verhandlungen dar- dem Kopf. Er speichert diese Bilder, dau- Komisch, findet sie, wie man anfängt, über, ob man den Einsatz von Anti-Fahr- erhaft. solche Gedanken normal zu finden. Einen zeug-Minen begrenzen kann. Das sind Die trockene Blutspur auf dem Acker bei Fuß zu verlieren, damit könnte ich leben. diejenigen, die früher Anti-Panzer-Minen Kunduz, wo ein Minenräumer einen Streu- Erblinden wäre schlimm. hießen und heute meistens nicht mehr, bomben-Blindgänger entschärfen wollte Vera Bohle ist 34 und Minenräumerin weil sie genauso gut unter einem Kran- und starb. Der zertrümmerte Helm in He- und sicherlich ein seltsames Wesen für die kenwagen explodieren können oder rat, der von einem Verunglückten übrig Menschen hier in Genf, auf die sie trifft. manchmal auch unter einem Maultier- blieb, man sah noch den Abdruck des Die Leute, denen sie ihre Bilder und Be- gespann. Nasenbeins im Visier. Das Wrack des Kran- richte bringt. Niemand sieht so etwas gern, Aber verhandelt wird nicht darüber, ob kenwagens, der oben in Bagrame, im Nor- aber es sind wichtige Bilder. Es sind Be- man sie verbieten soll. Auch Deutschland den Afghanistans, auf eine Mine fuhr, weise, die man Diplomaten zeigen kann, verlangt das nicht. schwer verletzt überlebte einer, sechs Men- Regierungsvertretern auf Uno-Abrüstungs- Es ist ein Krieg nach dem Krieg, welt- schen waren tot. Der Kollege und Freund, konferenzen im Palais des Nations, den weit, der manchmal kurz ins Bewusstsein der auf seiner Pritsche lag mit bandagiertem Leuten also, die zu beschließen haben, wie der Öffentlichkeit gerät, wenn die Schau- Beinstumpf. Wenn der Phantomschmerz in Zukunft Krieg geführt werden darf. Und spielerin Angelina Jolie oder Prinzessin Di- zu schlimm sei, erklärte er seinem Besuch, von denen ein Großteil sicherlich nie ge- ana oder Nur, ehemals Königin von Jorda- „dann bewege ich die Zehen am anderen sehen hat, wie es aussieht, wenn eine Mine nien, dagegen Stellung beziehen; dann ver- Fuß“. Sie stellte fest, dass sie dachte: Muss unter einem Menschen explodiert. schwindet er wieder und wird im Stillen ich mir merken. Mach ich dann auch. Sie weiß es. Das ist ihr Trumpf. gekämpft. In 82 Ländern liegen schät-

64 der spiegel 9/2004 zungsweise 60 bis 100 Millionen Minen, Sie hat jetzt ein Buch geschrieben über dazu noch große Mengen Munition, die dieses Leben, das im Rheinland beginnt PMA 3, Jugoslawien, nicht explodiert sind. Mehrere tausend und über Dresden in den Kosovo, nach kleine Anti-Personen- Menschen sterben jährlich daran. Minen Mosambik, nach Afghanistan führt Mine mit Plastikkörper sind haltbar, manche liegen 60 Jahre lang und dann nach Genf, zur Uno, Ave- wegen geringem Metall- im Boden, bis sie explodieren. Und immer nue de la Paix*. Ein Buch über die gehalt schwer aufzuspü- ren, reagiert auf Druck noch werden neue gelegt. Welt der Waffen, der Kriegs- und ab ca. 8 kg; Höhe: 3,6 cm „Wir kritisieren die Länder nicht.“ Lau- Friedensdiplomatie, der großen Plä- Durchmesser: 10,3 cm rie lächelt. „Wir ermutigen die Länder, das ne und kleinen Eitelkeiten, wie gerät Hauptladung: TNT Richtige zu tun. Vera ist gut. Sie kennt sich man hinein in diese Welt? Als Kind aus li- aus. Ich bin ein Beamter, ich arbeite nicht beralem christlichem Hause, Tochter eines im Feld. Sie hat ein faszinierendes Leben. Managers und einer Lehrerin, aufgewach- Sie hat Dinge gesehen.“ sen in Köln am Rhein? M 26, USA, kleine Anti-Personen- Springmine aus Aluminium Gewicht: 1 kg Höhe: 14,5 cm Ladung: Composition B (Hexogen-TNT-Gemisch) FOTOS: SVEN DÖRING SVEN FOTOS:

Wie also? „Ich glaube“, sagt sie, „weil ich mit dem Hintern so dick in der Sahne saß.“ Und? „Nichts und. Ist es nicht langwei- lig, wenn sich das ganze Leben nur um ei- nen selbst dreht?“ Ein verwöhntes Kind also? Luxusmüde? Das nicht, eher neugierig, dickköpfig wohl auch, ein Kind, das es nicht mag, wenn je- mand sagt: geht nicht, das sagt: geht doch. Eines, das aufwächst mit Geschichten, in denen der Krieg noch nicht vorbei ist, in denen Flüchtlinge durchgefüttert werden und schmächtige Verwandte aufgepäppelt, von Müttern, Großmüttern, Tanten, von starken Frauen. Die Welt verändern – nun ja, das ist nicht mehr Mode, als sie studiert, Politik, Geografie und solche Dinge. Die Welt erkunden vielleicht, so wie es der Survival- Mensch Rüdiger Nehberg tut? Oder viel- leicht doch beides? Einen Job beim Fern- sehen kriegt sie, darf fürs ZDF nach Somalia, sieht Flüchtlinge, Waffen und Trümmer – und denkt: Ändert das eigent- lich was, wenn ich darüber berichte? Der Glaube an Utopien existiert nicht mehr, aber Probleme, die gelöst werden müssen, existieren schon. Und irgendwann hat sie es, ihr Problem: Sie stößt auf eine „Dresdner Sprengschule“, die bildet Minen- räumer aus. Minenräumer. Das klingt gut. Das klingt ziemlich verrückt und ziem- lich überzeugend. Minenräumer, das sind die Leute mit Splitterweste und Helm und Visier, die ihren Metalldetektor über den Boden schwenken, sehr, sehr vorsichtig, damit sie Minen freigraben und entschärfen oder sprengen können und auch sonst alles, was sich so im Boden findet an explosiven Überresten vom Krieg. Also erzählt sie ih- rer ratlosen Wohngemeinschaft: „Ich wer-

BRENNAN LINSLEY / AP BRENNAN LINSLEY * Vera Bohle: „Mein Leben als Minenräumerin“. Krueger Minenopfer in Kabul: Meistens trifft es Zivilisten Verlag, Frankfurt am Main; 384 Seiten; 19,90 Euro.

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Man könnte verzweifeln bei diesem Job, man müsste natürlich an Sisyphos denken, aber das erlaubt man sich nicht, der Mensch braucht Hoffnung, der Mensch braucht ein Ziel. Mit Metalldetektor und Minensuchnadel durch die Landschaft zu streifen, das ist ein mühsames, riskantes Geschäft, das wirkt archaisch, kläglich fast, aber es geht nicht anders, sehr oft jedenfalls. Räumma- schinen sind zwar effektiv, aber auch groß und schwer. Sie passen nicht über Fußgän- gerbrücken, sie können nicht arbeiten in steilem Gelände, und sie müssen gewartet werden, und keiner kann garantieren, dass es in Angola jederzeit Ersatzteile gibt. Ra- dar- und Infrarotsucher und Ratten und Bienen und all die anderen Neuheiten, die von Forschern präsentiert werden, haben bisher zwar in der Forschung bewiesen, dass sie funktionieren, nicht aber, dass sie praktikabel sind draußen im Feld. Sie müssen leicht zu bedienen sein, die- Ausbilderin Bohle, afghanische Minenräumer: Mühsames, riskantes Geschäft se Geräte, Minenräumen schafft Arbeits- plätze, und viele dieser Arbeiter haben nie de Minenräumerin.“ Ökologisch gesehen nicht. Im Minenfeld ist derjenige ein Held, eine Schule besucht. Sie müssen billig sein, übrigens ein ziemlich guter Beruf. der sich im Griff hat, der notfalls den Rück- weil die Länder arm sind, in denen man sie Naiv? Nicht naiv, sagt Günter Fricke, zug wagt und der sich bremsen kann. Denn braucht. „ich habe selten jemand getroffen, der so der Feind ist oft unsichtbar und enthält Hunde, ja, Hunde sind gut. Aber die genau zu wissen schien, was er tat“. manchmal so wenig Metall, dass der De- können auch nur schnüffeln, wenn es nicht Fricke ist ein Sachse in roter Windjacke, tektor ihn kaum entdeckt. zu kalt oder zu heiß oder zu staubig ist, und einer von zwei Leitern der Dresdner Es gibt Tretminen, die explodieren, wenn das Gebüsch zu hoch ist, könnte der Sprengschule und ehemaliger Offizier bei wenn man drauftritt, andere tun das, wenn Hund über Stolperdraht fallen und explo- der NVA. Auf seinem Arbeitstisch steht man den Fuß wieder hebt. Es gibt Stol- dieren. Und dann, wenn er etwas gefunden ein Geschoss aus dem Ersten Weltkrieg, perdrahtminen und Splitterminen und hat – ausgraben und entschärfen kann er es von Weltkriegssoldaten umgebaut zum Zi- Springsplitterminen, die springen mehr als nicht. Das macht dann doch wieder der garrenabschneider. einen Meter in die Höhe und explodieren Mensch. Im Seminarraum sitzt eine Gruppe dort, wo sie noch zuverlässiger verstüm- Früher waren es meist Militärs, die das von „Truppführern“ in ihrem vorge- meln und töten können. taten, aber Militärs räumen, weil sie Be- schriebenen Wiederholungslehrgang, zwölf Es gibt Anti-Fahrzeug-Minen, die tragen wegungsfreiheit suchen, sie räumen, damit breite Rücken in grauen oder braunen so empfindliche Zünder, dass schon ein sie passieren können, aber sie pflügen Sweatshirts und einer in himmelblauer Passant sie auslösen kann. Manche haben nicht. Also bleiben Minen im Boden und Strickjacke, das ist Vera Bohle, heute noch einen speziellen Mechanismus dafür, dass gehen dann erst hoch, wenn der Bauer so exotisch in diesem Gewerbe wie vor sie hochgehen, wenn ein Minenräumer sie seinen Acker bestellt. sechs Jahren, als sie ihre Ausbildung räumen will. „Humanitäres Minenräumen“ heißt das, begann. was Vera Bohle und ihre Kollegen tun. Sie Eine Ausnahme sei sie, sagt Fricke, die- kommen, wenn der Krieg vorbei ist, im se Frau, die so genau überlegt hat, dass sie PMN, UdSSR, Auftrag des Auswärtigen Amtes, engagiert das machen will. Und auch noch im Aus- ungarischer Nachbau von Hilfsorganisationen oder vom Uno- land, wo es keine Arbeitsplatzvorschrif- Anti-Personen-Mine nahen „Genfer Internationalen Zentrum ten und Dixi-Klos und vorgeschrie- wird erst mit 20-minütiger für Humanitäre Minenräumung“. Ihr Job bene 21 Grad im Waschraum gibt, Verzögerung nach Entfernen ist es, Einheimische auszubilden und zu der Sicherung scharf wie es das deutsche Arbeitsrecht Durchmesser: 11,2 cm prüfen, wo am dringendsten geräumt wer- verlangt. Und wo manche Männer Gewicht: 600 g; Höhe: 5,6 cm den muss. durchdrehen, erst machen sie auf Aben- Hauptladung: TNT Wer räumen will, braucht Informatio- teurer, und dann packt sie der Suff oder die nen, braucht Informanten, sucht also nach Einsamkeit. denen, die es wissen müssen. Sucht nach Manche sind drei Tage dort draußen, ehemaligen Kämpfern und Minenlegern, dann klagen sie: Ich will zurück. und so fahren dann Vera Bohle und Kol- Trotzdem, es ist eine Männerwelt, im- PROM 1, Jugoslawien, legen beispielsweise durch Mosambik Anti-Personen- mer noch, und selbstverständlich bekam Splitterspringmine mit je einem Vertreter von „Frelimo“ und die Minenräumfacharbeiterin Bohle Män- „Renamo“ an Bord, den beiden Bürger- mit hohem Metallgehalt nerwitze zu hören und hört sie immer und sehr starker Spreng- kriegsparteien, die sich 16 Jahre lang noch, aber sie ist aus dem Rheinland, sie wirkung, wird vor allem durch erbittert bekämpft haben. Man streift mit hat nichts gegen Witze, und sich wehren Stolperdrähte ausgelöst ihnen durch ihr Land und sucht Minen- und Bier trinken kann sie auch. Höhe: 26 cm; Wirkungs- felder, der eine führt stolz seine Anti- Und eigentlich, der Gedanke gefiel ihr, radius: mehr als 40 Meter Personen-Minen vor, der andere seine wenn es hier Helden gibt – dann dürfen das Hauptladung: TNT Anti-Fahrzeug-Minen, die beiden verste-

keine Machos sein. Hier funktioniert das DÖRING SVEN FOTOS: hen sich im Grunde prächtig, und man

66 der spiegel 9/2004 Gesellschaft REX FEATURES / ACTION PRESS / ACTION REX FEATURES AP REUTERS / E-LANCE MEDIA REUTERS Protestierende Schauspielerin Jolie, Prinzessin Diana, Königin Nur: Prominente gegen den Krieg nach dem Krieg fasst es nicht. Was denkt man dann? „Män- in einer Sprache, die die nicht verstehen: nicht weg, vielleicht brauchen wir sie noch. ner?“ „Ihr Arschlöcher! Ich komm her, um euch Sie sind kostbar. Gute Ware, mit der man Nein. Man denkt: „Krieg.“ zu helfen! Und ihr macht diesen Scheiß!“ noch ein bisschen Krieg führen kann. Vielleicht ist es ja diese Schizophrenie, Die Männer, ziemlich verblüfft wohl, dre- Oder wenn ein afghanischer Offizier sei- die im Krieg das Kämpfen erst möglich hen ab. ne Leute im Panzer über Streubomben- macht: die Fähigkeit, Krieg und Nicht- Keine Frau. „Ein Alien.“ Das sollten die Blindgänger schickt, um herauszufinden, Krieg als zwei völlig getrennte Existenz- denken, so hat sie sich das gedacht. Es hilft wo sie liegen, Inschallah, sie werden Mär- formen zu begreifen, mit eigener Logik schon, sagt sie, wenn man sich aufrichten tyrer sein. und eigenen Regeln; Schuldbewusstsein kann, zu vollen 1,84 Meter Größe, und auf Allah weiß, wann wir sterben werden. braucht man dann nicht mehr. alle herabblicken kann und in aller Ruhe Et kütt wie et kütt, es kommt, wie es Es sind Leute anzutreffen, auch unter sagen: Also, wir machen das jetzt so. Sie kommt, sagt man in Köln. Nur liegt der den internationalen Experten, die früher will als Fremdling betrachtet werden, als Unterschied darin, dass Vera Bohle findet, damit beschäftigt waren, die Kampfmittel Gast vielleicht, der etwas weiß, was einem dass man das Sterben nicht unbedingt be- zu benutzen, die sie jetzt räumen. Südafri- nützen kann. Meistens hat es funktioniert. schleunigen muss. kaner zum Beispiel, solche mit bewegter Manchmal aber – da fällt es schwer, ge- „Ich habe Vera gesehen, wie sie arbeitet, Vergangenheit, die die Seite gewechselt lassen und tolerant und abgeklärt zu blei- im Feld“, sagt abends, zu Hause bei Spinat haben, Job ist Job. Oder ehemalige U.S. ben angesichts des Irrsinns, der mal aus und Spiegelei, der Freund. „Sie macht kei- Marines, mit denen die Kriegsgegnerin Armut und Verzweiflung und mal aus ne Show. Sie sucht nicht das Risiko, sie Vera Bohle lieber nicht über Politik dis- Starrsinn erwächst. glaubt nicht, dass sie den Männern etwas kutiert. Wenn verzweifelte Dorfbewohner unter beweisen muss.“ Das ist die Welt, in die sie geplatzt ist, Lebensgefahr den Sprengstoff aus Grana- Der Freund ist selbst oft in Krisengebie- Vera Bohle, freiberufliche Kampfmittel- ten brennen, weil man das Metall noch ten unterwegs, kann darüber reden, kann räumerin, Mitglied im Bund der Feuer- vielleicht verkaufen kann, um die Familie sich Bilder machen, das hilft, so erklärt er, werker, blond, groß, blauäugig, eine Frau. zu ernähren. nur manchmal, wenn es Nachrichten gibt Eine Frau, die Männer ausbilden soll Wenn ein Ortsvorsteher zu verstehen wie „Uno-Mitarbeiterin in Afghanistan und sich Respekt verschaffen, in Afghani- gibt: Nehmt unsere Granaten nicht weg. überfallen“, dann hilft das nicht. stan im Jahr 2002, und die zunächst erst Nehmt sie nicht weg, diese hochgefähr- „Du warst ganz schön fertig, nach Af- mal klären muss: Kopftuch tragen? Bei der lichen, hochexplosiven Dinger, an denen ghanistan“, sagt er. Arbeit Kopftuch tragen? Soll ich? Muss das man aus Versehen sterben kann, nehmt sie „Ich glaube, ich habe mein Glück zu oft sein? Nein, sagt sie, das behindert die Sicht. strapaziert“, sagt sie. Es wird überraschenderweise akzeptiert. Man kann nicht dauernd Angst haben, Bei der Arbeit jedenfalls wird es ak- PPM 2, DDR, Anti-Personen- das kommt in Wellen, meist nach einem Mine mit Plastikkörper, zeptiert, aber nicht im Privatleben in Fehler, hinterher. Der Kopf denkt sich die Kabul. Sie darf nicht Auto fahren, tausendfach an der deutsch- Situation zurecht, und wenn es ernst wird, deutschen Grenze verlegt sagt der Sicherheitsbeauftragte der Durchmesser: 12 cm wenn man am Bett eines Verwundeten Uno. Wenn sie zu Fuß in die Stadt Gewicht: 371 g; Höhe: 6,2 cm steht oder den Unfalltod eines Kollegen will, sagt er, darf sie das nur mit Be- Hauptladung: TNT untersucht, dann sagt der Kopf: Das könn- gleitschutz, zwei Mann. test auch du sein. Du bist verwundbar. Das Sie erträgt es murrend, neidisch auf die könnte dir passieren. männlichen Kollegen, die morgens joggen Aber wenn man nicht aufpasst, dann ist gehen, und keinen interessiert es. Einmal es nicht der Kopf, der regiert. Sondern et- schleicht sie sich davon, Auto fahrend, und M 16, USA, Anti-Personen- was Irrationales, ein Flattern, ein Adrena- Splitterspringmine wird von einem Wagen voller Männer ver- springt bei Auslösung linstoß, eine Art Größenwahn: Jemand ist folgt und überholt und ausgebremst, kilo- 1,5 Meter in die Luft tot, aber nicht ich. Es sind die anderen, meterlang geht das so, bis ihr der Kragen Gewicht: 3,74 kg immer sind es die anderen, denen das pas- platzt, „Übersprungshandlung“, sagt sie Höhe: 20 cm siert. Ich wandle durchs Minenfeld, sicher im Rückblick. Sie tritt auf die Bremse, Wirkungsradius: 27 Meter wie Jesus auf dem Wasser. steigt aus, und eine blonde Furie, von Hauptladung: TNT „Und das“, sagt der Kopf der Vera

Grund auf wütend, brüllt die Afghanen an, DÖRING SVEN FOTOS: Bohle, auf den sie sich verpflichtet hat

68 der spiegel 9/2004 Gesellschaft GAMMA / STUDIO X / STUDIO GAMMA Kriegsopfer in Kambodscha: Manche Minen töten erst nach Jahrzehnten zu hören, „ist genau das, was zum Unfall Also zeigt sie Fotos vom Krankenwagen, führt.“ Die Heldenpose: kein Thema, Baby, der auf eine Fahrzeugmine fuhr. Erzählt ich schaff das Ding weg. von Angola oder Afghanistan, wo Flücht- Statistiker haben errechnet, dass bei je- linge nicht nach Hause können und Hilfs- der 1000. Mine ein Unglück passiert, man fahrzeuge keine Nahrung liefern, denn die kann es glauben oder nicht. Sie hat ihre Mi- Straßen sind vermint. Erzählt von der Müh- nen nicht gezählt. sal des Räumens und dämpft die Hoffnung, Zurzeit ist sie seltener unterwegs, wird dass es eine Wundermethode geben könne. im März, für das Auswärtige Amt, als Sie kennt natürlich die Namen und Da- Räumexpertin in Angola sein und dann ten, die von Nichtregierungsorganisationen wieder in Genf bei ihrem Freund, um zu wie der „Kampagne gegen Landminen“ ge- spüren, dass es auch eine andere Art Leben nannt werden: China, das Unmengen von gibt, eine normalere. Wobei man sich fra- Anti-Personen-Minen besitzt und sie nicht gen kann, ob das normal ist, das Leben in abschaffen will. Russland, das in Tsche- Genf, wo man fürs Falschparken 120 Fran- tschenien weiter seine Minen legt. Die ken zahlt. In Afghanistan lebt eine Familie USA, die nicht gänzlich auf Anti-Personen- davon zwei Monate lang. Minen verzichten wollen und kein Interes- Es geht darum, den Kopf wieder klar se daran haben, dass man Streubomben, zu kriegen. Und zu überlegen, was man mit ihrer Blindgängerrate bis zu 40 Pro- anfängt mit dieser manchmal, unvermittelt, zent, als Ursache für „übermäßiges Lei- im Feld auftretenden ohnmächtigen Wut. den“ bei Zivilisten klassifiziert. Deutsch- Wie im Herbst 2002 zum Beispiel, da waren land, das ebenfalls Streubomben besitzt die Trupps dabei, im Osten Afghanistans und Anti-Fahrzeug-Minen mit so empfind- Kriegsreste wegzuräumen, und auf einmal lichem Zünder, dass die Leute von der hieß es: Zieht eure Teams ab, die Ameri- Landminen-Kampagne finden, man müsse kaner wollen wieder bombardieren. sie wie Anti-Personen-Minen ächten. Eigentlich wollte sie, das war ihre Vor- Sie weiß das alles, aber sie sagt es nicht stellung von Glück, in einem Land sein, in so. Sie wird im März wieder vor den CCW- dem es aufwärts geht. Wo der Bauer sich Diplomaten sprechen und wieder verlan- wieder traut, seinen Acker zu pflügen. gen, was sie immer tut: dass jede Mine ein Dann ist sie im Kosovo, und es fallen Minimum an Metall enthält, damit man sie Streubomben auf Afghanistan, dann ist sie leichter finden kann. in Afghanistan, und es geht los im Irak. Dass Fahrzeugminen keine „Wegtrag- Sie hat keine große Lust, in den Irak zu ge- sicherung“ haben dürfen, an der Minen- hen. Sie sagt sich neuerdings: „So hast du räumer so häufig sterben, und überhaupt dir das eigentlich nicht vorgestellt, dass du keine so empfindlichen Zünder, dass ein der Ausputzer bist nach dem Krieg.“ Fußgänger sie auslösen kann. Jetzt, in Genf, denkt sie sich in neue Dass es einen Selbstzerstörungsmecha- Fronten hinein, auf der CCW-Konferenz nismus geben muss, damit Minen nicht im Sitzungssaal XVIII, Palais des Nations. jahrzehntelang im Boden liegen und immer Diese „Convention on Certain Conventio- noch funktionieren. nal Weapons“ befasst sich mit solchen kon- Vera Bohle, die Minenräumerin, be- ventionellen Waffen, so heißt es, die „ex- schäftigt sich nun damit, wie man Minen zessives Leiden“ verursachen und keinen legt. Sie beobachtet sich, wie sie dabei ist, Unterschied machen zwischen Zivilisten Politikerin zu werden. Sie weiß nicht, ob und Militärs. ihr das gefällt. ™

70 der spiegel 9/2004 Gesellschaft

Das Aldi-Prinzip Ortstermin: Im Frankfurter Japan-Tower feiern McKinsey-Berater die geizgeile Republik.

m 20. Stock des Japan-Tower ist alles Menschen mit den Aldi-Tüten. Die Dis- setzern am Ellenbogen. Prießnitz lässt Fo- licht und klar. Die Schreibtische sind counter seien schneller, übersichtlicher und lien auf einen Projektor schieben, denen Iaufgeräumt, matt leuchten die Laptops. dazu noch vertrauenswürdiger. Aldis lü- anzusehen ist, dass sie schon oft gezeigt Es gibt hier oben keine Urlaubsbilder, gen nicht. worden sind. Prießnitz kämpft gegen die Hundeposter, lustigen Bildschirmschoner. Auf der Leinwand erscheint ein Schau- billige Republik. Hier ist die Welt der „Exceptional people“. bild. McKinsey hat beispielhaft das Toi- Prießnitz predigt Qualität und Wert und Das steht auf der Tafel am Eingang. Es ist lettenpapier-Segment untersucht. Bei Auswahl. Er predigt für die Marken: „Der die Welt von McKinsey&Company. Edeka gebe es Klopapier in 32 verschiede- Mensch braucht Vertrauen, Sicherheit und Vier gut gelaunte Herren in teurem Tuch nen Marken, Varianten und Packungs- Orientierung. Deswegen“, er tippt mit ei- stehen zusammen, die Arme vor der Brust größen. Bei Aldi nur zwei, „Solo Zartess“ nem Teleskopstab auf die Leinwand, „ist die verschränkt. Sie reden mit angenehmen und „Vitess“, jeweils dreilagig. „Sie können Marke eine an-thro-po-logische Parallele.“ Stimmen, und jedes Scherzwort ist bis in beim Toilettenpapier“, sagt Kliger, es Die Exceptionals halten die Arme vor die Konsonanten hinein wohl prononciert klingt ein wenig zu feierlich, „mit zwei der Brust verkreuzt und reagieren nicht. gesprochen. „Hallo, grüß Das „Age of cheap“, Sie Gott“, sagt einer der sagt der Markenmann, sei Herren, hochkonzentriert. der Untergang. Rabatte McKinsey ist die Aris- brächten nichts ein, Ra- tokratin unter den Bera- battierer seien auf lange tungsfirmen. Sie hat Swiss- Sicht immer die Verlierer. air beraten, Mercedes und Discounter erhöhten mit Florian Gerster und auch ihrer geringen Personal- sonst fast jeden Mächtigen, quote die Arbeitslosigkeit der nicht weiterwusste. im Handel, und der Die Mitarbeiter der Firma Schnäppchenkult führte sind bekannt für ihre zum „Tod der Mitte“. dunklen Anzüge und un- Prießnitz redet mit beirrbare Vernünftigkeit. großem Körpereinsatz. Er Die Gutachten McKin- macht lustige Bemerkun- seys sind vertraulich, die gen und schaut das Publi- Erfolgsquoten geheim. Das kum an. Er gibt sein Bes- schafft den Mythos. Doch tes. Er erinnert an die auf- zur Eigenwerbung wird geräumten Herren, die bei der Öffentlichkeit ab und Hertie Teflonpfannen vor- zu eine Trendstudie ver- stellen.

raten. Das sind dann die VARNHORN ANDREAS FOTOS: „Geiz ist die Wurzel al- Frankfurter Business Break- Business Breakfast bei McKinsey: Führungsstärke am Regal len Übels“, zitiert er zu- fasts im 20. Stock des Ja- letzt nach Paulus’ 1. Brief pan-Tower, hoch über den Niederungen Artikeln einen Marktanteil von 27 Prozent an Timotheus. Er hat ja Recht. Die Excep- der Welt. erreichen!“ tionals bedanken sich bei dem Mann im Heute geht es um das Rätsel Deutsch- „Am Regal ist ein deutlicher Aufhol- Tweed. Der schiebt seine Folien zusam- land. Warum stehen im reichsten Land der bedarf festzustellen“, sagt der Mann von men und setzt sich. Und ahnt vielleicht, EU die meisten Discount-Läden? Warum McKinsey dann und zeigt Fotos aus Eng- dass die Zeiten andere sind. Das Land ist sagt der Deutsche „Geiz ist geil“ und pil- land. Da ist es besser. Brüllende Schilder, ärmer geworden. Die Mitte ist tot. gert aufrechten Ganges zu Aldi und Lidl, messerscharfe Sortimentsgrenzen, Decken- Das ist die Botschaft von Aldi, hervor- ohne schlechtes Gewissen? McKinsey hat hänger „Buy 1 get 1 FREE“ und Bildschir- gezaubert von den Gutbetuchten im 20. nachgedacht. me am Schokoladenstand. „Konsequente Stock: Hinter der Banalität des Billigen Einer der vier Exceptionals ist an den Kommunikation der Preis-Leistungs-Bot- verbirgt sich ein Versagen. Ein Versagen Video-Beamer getreten. Es ist Michael Kli- schaft“, sagt Michael Kliger. „Das ist die der Eliten hinter dem Ladentisch. Der ger, Leiter der Abteilung „Retail Practice“. Zukunft für den Supermarkt.“ deutsche Supermarkt, die Ikone des Wirt- Man habe, sagt er, aufwendige Marktfor- Die Bilder aus der Unterwelt verlöschen. schaftswunders, hat den Kontakt zum Volk schung betrieben, Finanzkennzahlen er- Das Publikum greift zum Fingerfood, ein verloren. Der Deutsche will kein Drum- stellt und sei zu einem Ergebnis gekom- wenig erleichtert. herum. Der Deutsche will Führungsstärke men: „Der Faktor Preis ist der Haupt- Kliger hat seinen Vortrag beendet. Das am Regal. Er will klare Verhältnisse auf erfolgsfaktor.“ Gegenwort hat der Hauptgeschäftsführer dem Etikett und Ehrlichkeit im Angebot. Es sind Sätze wie diese, die Unterneh- vom Markenverband. Sein Name sei Horst Aldi und Lidl haben verstanden, was mensberatern ihren Ruf einbringen. Aber Prießnitz, sagt er. Er ist schon etwas älter Rot und Grün bis heute ein Rätsel geblie- die Studie dringt noch tiefer ins Wesen der und trägt ein Tweedjackett mit Lederauf- ben ist. Alexander Smoltczyk

72 der spiegel 9/2004 Trends Wirtschaft

UNTERHALTUNGSELEKTRONIK Steigt Sharp bei Loewe ein? ei der Suche nach einem strategi- Bschen Investor für den ins Trudeln geratenen TV-Gerätehersteller Loewe hat Firmenchef Rainer Hecker eine Gnadenfrist bekommen. Mitte Februar einigten sich die Banken darauf, die Kreditlinien für das hoch verschuldete Unternehmen mit Sitz im bayerischen Kronach zu verlängern. Um die weitere Zukunft der Firma zu sichern, verhan- delt Hecker immer noch mit dem japa- nischen Elektronikkonzern Sharp. Bis Ende März soll ein Ergebnis erzielt wer-

den. Nach jetzigem Stand soll der welt- / E-LANCE MEDIA / REUTERS PETER MOSIMANN weit größte Hersteller von Flachfernse- Blocher hern mit LCD-Technik im Zuge einer Kapitalerhöhung mit etwa 15 Millionen ZINSSTEUER Euro bei Loewe einsteigen und dann im Gegenzug rund 25 Prozent der Loewe- Aktien übernehmen. Durch den überra- Schweizer Blockade schend schnellen Umschwung von klas- sischen Röhrengeräten zu Flachfernse- ine einheitliche Zinssteuer in Europa droht am Widerstand der Schweiz zu hern in der Oberklasse des TV-Markts Escheitern. Entgegen einer früher getroffenen Vereinbarung weigert sich die Ber- war Loewe im vergangenen Jahr tief in ner Regierung neuerdings, die geplante einheitliche EU-Quellensteuer auch auf die roten Zahlen gerutscht. Gleichzeitig Zinserträge für EU-Kapital zuzulassen, das in der Schweiz angelegt ist. Im Rat der stürzte der Umsatz um 23 Prozent ab. Europäischen Finanzminister (Ecofin) wird vermutet, dass hinter der Schweizer Blockade der Rechtspopulist und Europagegner Christoph Blocher steckt, der seit Anfang des Jahres als Justizminister dem Berner Kabinett angehört. Für eine Zu- stimmung verlangen die Schweizer Hardliner jetzt eine Gegenleistung. Die EU soll die Schweiz teilweise von der im Schengener Rechtsabkommen, dem die Schweiz beitreten will, vereinbarten Pflicht entbinden, über jeden Fall von Steuerhinter- ziehung und Geldwäsche zu berichten. Auf dem jüngsten Ecofin-Treffen lehnte Frankreichs Finanzminister Francis Mer den Schweizer Erpressungsversuch strikt ab. Jetzt soll der irische Ecofin-Präsident Charlie McCreevy zusammen mit dem Brüsseler Finanzkommissar Pedro Solbes nach Bern reisen und den Schweizern die Meinung sagen. Die hochrangige Delegation werde in Bern, so Ecofin-Mitglied

STOCK4B Jean-Claude Juncker, „hart und männlich“ die EU-Position vortragen. Hecker

STAHLINDUSTRIE China kürzt Koksexport er Stahlindustrie geht der Brennstoff aus. Koks wird Dknapp, weil der weltweit größte Produzent China den Ex- port drastisch drosselt. Zum einen schalten die Chinesen zu- nehmend umweltschädigende Kleinanlagen, so genannte Bie- nenkorböfen, ab. Zum anderen verbraucht die kräftig expan- dierende chinesische Stahlwirtschaft einen immer größeren Teil der heimischen Produktion. Von den 14 Millionen Tonnen, die die deutsche Stahlindustrie jährlich benötigt, lieferten die Chinesen bisher ein Drittel. Italiens größter Stahlproduzent Riva muss voraussichtlich wegen Koksknappheit die Produk- tion um 50 Prozent drosseln. War chinesischer Koks vor drei Jahren noch für 50 Dollar die Tonne zu haben, so kostet der Brennstoff inzwischen fast das Vierfache – wenn er überhaupt noch zu bekommen ist. „Auch für alles Geld der Welt“, klagt

ein Stahlkocher aus dem Revier, „ist derzeit nicht genug Koks / ROPI HENLEY MARK zu haben.“ Kohleförderung in China

der spiegel 9/2004 75 Trends

Urlaubskomplex Anfi del Mar auf Gran Canaria

TOURISMUS del Mar auf Gran Canaria mit knapp 700 Apartments über- nommen. Langfristig wollten die TUI-Manager sogar Bran- chenriesen wie die US-Kette Marriott überrunden. Doch TUI gibt Timesharing ab schon bald musste sich TUI gegen Vorwürfe wehren, Kunden würden mit Drückermethoden zur Unterschrift genötigt. Als uropas größter Reiseveranstalter, TUI, will sich von einer vor kurzem nun auch noch drei Ex-Anfi-Angestellte verhaf- Ewichtigen Geschäftssparte trennen, dem Verkauf von Teil- tet wurden, weil sie Erlöse aus dem Wiederverkauf von Wohn- zeit-Wohnrechten in Ferienanlagen. Dieser Unternehmens- rechten zu Lasten des Konzerns in die eigene Tasche gewirt- bereich hat dem Konzern in den vergangenen drei Jahren schaftet haben sollen, reichte es den Hannoveranern. Der zwar attraktive Gewinne, aber auch eine Menge Ärger be- oberste TUI-Hotelchef Karl Pojer will die 51-Prozent-Betei- schert. Um im boomenden Timesharing-Markt mitzumischen, ligung an Anfi del Mar nun bis Ende März an den Alt- hatten TUI-Chef Michael Frenzel und seine Berater Ende eigentümer, den norwegischen Großindustriellen Björn Lyng, 2000 die Mehrheit an dem spanischen Urlaubskomplex Anfi zurückverkaufen.

COMMERZBANK TELEFONAUSKUNFT Datenverarbeitung Automatisch billiger bemängelt laus Harisch, der Mitbegründer der zweitgrößten deut- Kschen Telefonauskunft Telegate, macht sich demnächst ie Investmentbanker der mit einer automatischen Telefonauskunft zum Billigtarif indi- DCommerzbank kämpfen rekt selbst Konkurrenz. Im vergangenen Jahr hatte Harisch in ihrer Datenverarbeitung den Vorstandsposten bei Telegate gegen ein Aufsichtsratsman- mit Problemen, die derzeit die dat getauscht. Gleichzeitig wurde er Chef bei der ins Trudeln geplante Auslagerung der geratenen Software-Firma Varetis. Jetzt hat Harisch einen EDV unmöglich machen. Im Kunden für die von Varetis entwickelte vollautomatische Te- Herbst vergangenen Jahres lefonauskunft gefunden. Ab April wird die Auskunftsfirma bemängelte die Bundesanstalt Telix, die zurzeit ihr Geschäft für Finanzdienstleistungsauf- über ein Callcenter in Berlin sicht die „mangelhafte Qua- betreibt, unter der Nummer lität unseres Back Office im 11810 die erste automatische Investmentbanking“, bestätigt Telefonauskunft zum Festpreis

FRANK DARCHINGER FRANK ein Vorstandsmitglied. Aus von 49 Cent pro Anruf ein- Commerzbank-Zentrale diesem Grund seien die Ver- führen. Damit ist der Service handlungen mit IBM Ende deutlich billiger als bei Tele- November 2003 abgebrochen worden. Der Computerkonzern gate und allen anderen Kon- sollte nach dem Vorbild der Deutschen Bank das Rechenzen- kurrenten. Anders als die trum des Investmentbankings betreiben. Berechnungen der Konkurrenz glaubt der Va- Commerzbank hatten ergeben, dass die Produktionskosten im retis-Chef fest an die neue Branchenvergleich zu hoch waren. Nach Abschluss des Pro- Technik. Anfang Februar hat jekts sollten rund 400 Mitarbeiter den Arbeitsplatz wechseln. Harisch 10,5 Prozent der Va- Jetzt arbeitet die Commerzbank an der Beseitigung der Fehler, retis-Aktien übernommen und

um zu einem späteren Zeitpunkt die Verhandlungen wieder wurde damit größter Anteils- HART SAMMY aufzunehmen. eigner der Software-Firma. Harisch

76 der spiegel 9/2004 Geld

AKTIEN MDax im Höhenrausch n der zweiten Börsenliga geht das Kursfeuerwerk auch dieses Jahr ungebremst Iweiter. Die zunehmende Risikobereitschaft der Anleger trieb den MDax in der vergangenen Woche auf den höchsten Stand seit November 2000. Seit Anfang Fe- bruar vergangenen Jahres erreichte das Juniorsegment einen Zuwachs von 63 Pro- zent, der Dax schaffte nur 49 Prozent. „Der MDax bietet viele interessante und völlig verschiedene Geschichten“, sagt Susan Levermann, Fondsma- Deutsche Aktienindizes nagerin bei der DWS, „die Über- Veränderung gegenüber +60 nahme der Chemiefirma Celanese 1. Februar 2003 und die Erfolgsstory des Staats- in Prozent +50 finanzierers DePfa haben dem MDax zusätzlich Auftrieb gege- MDax ben.“ In der Klasse der Neben- +40 werte sehen Experten noch so manche Aktie mit Aufwärtspoten- +30 zial. So gilt der Sportartikelher- steller Puma nach wie vor als gutes +20 Investment, weil die Marke einen exzellenten Ruf hat. Im Pharma- Dax bereich könnte Stada weiterhin +10 vom Trend zu den Generika-Pro- dukten profitieren. Und bei MG 0 Technologies herrschen nicht mehr so undurchsichtige Verhältnisse –10 wie noch unter der Herrschaft des umstrittenen Ex-Vorstandsvorsit- zenden Kajo Neukirchen. Die lau- –20 Quelle: Thomson fende Umstrukturierung und die Financial Datastream 2003 2004 Aussicht auf eine bessere Bilanz bewerten Analysten positiv. FMAMJ J ASOND J F

INVESTOREN Doch auch die Profis können sich irren. Zwar sanken beispielsweise im Sommer Stimmung sinkt 2002 mit dem Vertrauensindex kurz danach auch die Aktienkurse, nachdem as Vertrauen der großen institutio- die Skandale um Enron und die Ermitt- Dnellen Anleger in die Entwicklung lungen der Börsenaufsicht insbesondere des Aktienmarkts ist seit zwei Monaten in den USA die Stimmung trübten. stark gesunken. Das von dem weltweit Doch die Preise an den Aktienmärkten führenden Wertpapierverwahrer State stabilisierten sich, während der Vertrau- Street herausgegebene Stimmungs- ensindex lange unten blieb. barometer ging jedenfalls rapide auf den tiefsten Stand seit April 2003 State Street Investor zurück. Die Anleger schichteten, so Confidence Index State Street, in weniger risikobehaftete Papiere um, weil sie durch die stark 108 wachsenden Handelsbilanzdefizite in den USA und den schwachen Dollar 104 verunsichert sind und mittelfristig eine höhere Inflation erwarten. Die US- Gesellschaft wertet jeden Monat das 100 tatsächliche Risikoniveau in den Investitionsportfolios aus, die durch ihre Bücher laufen. Da 15 Prozent oder 96 knapp zehn Billionen Dollar aller welt- 2003 2004 weit gehandelten Wertpapiere bei State 92 Street verwahrt werden, verfügt die F MMAJJASONDJF Firma über einzigartige Informationen.

der spiegel 9/2004 77 Wirtschaft

GELDANLAGE Die Büroblase Lange Zeit galten Immobilien als sicherste Form der Geldanlage. Nun stehen quer durch die Republik Gewerbeflächen leer, und auch Wohnhäuser und Eigentumswohnungen verlieren an Wert. Sinkende Geburtenraten und Überangebote drücken die Preise weiter.

ie ein Mahnmal streckt der Zu den 1,6 Millionen Quadratme- 99 Meter hohe Westhafen- ter Bürofläche, die schon aktuell nie- WTower seine 23 000 Qua- mand braucht, werden noch ein paar dratmeter Bürofläche in den Him- hunderttausend Quadratmeter zu- mel. Seit seiner Fertigstellung im sätzlich nicht vermittelbarer Bü- vergangenen Sommer steht der roräume kommen. schwarz glitzernde Frankfurter Rie- Der Druck auf Deutschlands Im- senzylinder in bester Lage direkt am mobilienmärkte wird immer gewal- Mainufer leer. tiger. Jetzt verlieren auch Anleger Hier hat sich die Familie von ihr Geld, die statt in spekulative Hugo Mann verspekuliert. Beim Wertpapiere in vermeintlich siche- Verkauf der Wertkauf-Gruppe an res Betongold investiert haben. den US-Einzelhandelsriesen Wal- Selbst die Anteilseigner offener Mart hatte sie 1,5 Milliarden Mark Immobilienfonds können sich nicht erlöst, einen Teil des Geldes in ver- in Sicherheit wiegen. Die Renditen meintlich sichere Immobilien inves- schrumpfen. Der Markt bewegt sich tiert. Doch selbst die besten Frank- mit klarer Tendenz – nach unten. furter Adressen wie den 257 Meter Die deutschen Büromieten lagen hohen Messeturm gibt es inzwischen im Jahr 2003 inflationsbereinigt im im Schnäppchenangebot. „Dort ist Schnitt im Westen um 23 Prozent, ein Büro billiger als eine Wohnung im Osten gar um knapp 50 Prozent im Westend“, sagt Matthias Stanke niedriger als vor elf Jahren, hat vom Frankfurter Immobilienberater der renommierte Immobilienexper- Schön & Lopez Schmitt. Zwar haben Investmentbanken wie Goldman Sachs oder Credit Suisse First Boston die meisten Eta- Im Frankfurter gen des Turms belegt, den der Star- architekt Helmut Jahn in Form ei- Messeturm stehen nes Bleistifts in den Boden gerammt hat. Für die oft zehn Jahre laufenden 8000 qm leer. Mietverträge wurden zwischen 27 und 50 Euro Miete pro Quadrat- Banken suchen meter gezahlt. Doch seit die Finanz- dringend Untermieter. industrie in der Krise steckt, sind Untermieter herzlich willkommen. Zurzeit dürfen sie schon für zwölf Euro die Vorzüge des Nobelhoch- te Hartmut Bulwien ermittelt. Berli- hauses mit dem marmornen Ein- ner Büros sind bis zu 59 Prozent, gang, den zwei Restaurants und der Düsseldorfer Büros 38 Prozent bil- eigenen Poststelle genießen. 8000 liger zu haben. Quadratmeter sind noch frei. Dasselbe gilt für Einzelhandels- 16 Prozent aller Büroflächen in immobilien. Bei Verkaufsflächen Frankfurt stehen leer. Ein Rekord. herrscht ein enormes Überangebot, Und noch immer wachsen die Hoch- allein im vergangenen Jahr kamen häuser in Mainhattan in den Him- eine Million Quadratmeter hinzu. mel. „Das ist wie bei einem Öltan- Entsprechend groß ist der Druck auf ker“, sagt Robert Orr, Europa-Chef die Mietpreise. des weltgrößten Immobilienmaklers Flaues Wirtschaftswachstum hin- Jones Lang Lasalle. Den könne man terlässt nicht nur auf dem Arbeits- bei voller Fahrt auch nicht sofort markt, in der Haushaltskasse oder bei stoppen. Die Bauprojekte wurden in der Rentenversicherung ihre Spuren. den Boomjahren beschlossen und In Ost und West mutierten Immobi-

werden ein paar Jahre später fertig. LANGROCK / ZENIT PAUL lien zu milliardenschweren Verlust- Ein paar Jahre zu spät. Messeturm in Frankfurt: Beste Adressen als Schnäppchen bringern.

78 der spiegel 9/2004 Die Wohnungswirtschaft Bei Verkaufsflächen in Ostdeutschland steht herrscht ein enormes

vor dem Zusammenbruch: / DDP (R.) (L.); JENS SCHLUTER / DPA JENS TRENKLER Überangebot, allein im Altstadt-Haus in Görlitz, Einkaufszentrum vergangenen Jahr kamen Mio. Wohnungen Saale-Park im ostdeutschen Günthersdorf 1,3 Illusion des stetigen Wertzuwachses sind nicht vermietet. 1,0 Mio. qm hinzu. Auch die nagelneuen Nobelbüros der Maximilianhöfe, zwischen Oper und Hotel Vier Jahreszeiten in der teuersten Gegend Die einst populäre Geldanlage hat ab- Münchens gelegen, stehen seit Herbst prak- Im Musterbüro sitzt niemand, die Mak- gewirtschaftet. Anleger und Banken muss- tisch leer. Mieter für die Büros sind nicht in lerfirma hat ein paar Handzettel über die ten in der Vergangenheit gewaltige Sum- Sicht, die Besitzer wollen nicht so recht mit „Arbeitslust im Grünen“ ausgelegt. men abschreiben. Die Wertvernichtung dem Preis runter. „Das halten die nicht Es wird wohl auch künftig einsam blei- trifft Geschäftshäuser, Wohnblöcke – und mehr lange durch“, meint ein Banker. ben in der lichtdurchfluteten Halle des selbst die Einfamilienhäuser. Stetige Wert- Solche Eins-a-Lagen werden immer ir- Büroparks Triforum. Und die Busse wer- zuwächse haben sich bei deutschen Im- gendwann vermietet werden, aber was den weiterhin leer durch das Industriege- mobilien längst als Illusion entpuppt. wird aus Neubauten wie denen in Hall- biet der Gemeinde Hallbergmoos pendeln. Während etwa in Ländern wie England, bergmoos, in Sichtweite des Münchner Denn der Bedarf an Büroraum dürfte Frankreich oder den USA die Hauspreise Flughafens? „Von führenden Schotten auch langfristig sinken. Immer mehr Kon- inzwischen 36 bis 128 Prozent über dem empfohlen: Preiswerte Büroflächen im zerne lagern ganze Abteilungen nach Po- Wert von 1975 liegen, treten die Deutschen ersten Haus am Platz“, grüßt ein Schild len, Russland oder Indien aus. auf der Stelle. Wer vor 28 Jahren investier- gleich am Eingang des Gewerbegebiets. Gleichzeitig schrumpft die einheimische te, hat im Schnitt nichts gewonnen. Viele Die Bayerische Landesbank und ein Bevölkerung, und auch die Zahl der Zu- haben jedoch kräftig verloren. paar andere Investoren stellten hier einen wanderer nahm seit 1992 stark ab. Nach In manchen Krisenregionen Ostdeutsch- Prachtbau nach dem anderen in das frühe- einer Prognose der Uno wird es im Jahr lands werden bei den Zwangsversteige- re Sumpfgebiet. Doch mit dem Ende der 2050 zehn Millionen weniger und immer äl- rungen für komplette Häuser nicht mal New Economy entfiel auch die Geschäfts- tere Menschen in Deutschland geben. mehr 1000 Euro geboten. Und selbst in grundlage für das völlig überdimensio- Gute Zeiten für Mieter, schlechte Zeiten wohlhabenden Metropolen wie München, nierte Bürogelände. Die meisten der drei- für Immobilienbesitzer: Der Wert ihrer An- Stuttgart oder Düsseldorf kam es inflations- und vierstöckigen Glashäuser mit schönem lagen verfällt, langsam, aber stetig. bereinigt in den neunziger Jahren zu einem Blick ins Moos, 30 Kilometer vor den To- Ein Schreckensszenario? In vielen Orten Einbruch. Nur absolute Spitzenlagen ver- ren Münchens, haben noch keine Mieter. Ostdeutschlands ist es bereits traurige Rea- zeichnen noch Gewinne. lität. Etwa in Stendal. Oberbürger- Selbst der beginnende wirtschaftliche meister Klaus Schmotz genießt von GROSS- Aufschwung wird an dem Trend nichts än- Stagnation BRITANNIEN einem großzügigen Eckbüro im Rat- dern. „Den Tiefpunkt haben wir noch nicht +125% haus einen wunderbaren Blick auf gesehen“, warnt Knut Riesmeier, der als in Deutschland die sanierte Altstadt. Überall steht dort ge- Immobilienchef der Vermögensverwaltung Entwicklung der liftete Backsteingotik, von der ostdeutschen MEAG von der Münchener Rückversiche- +100% Wohnimmobilienpreise Ruinenromantik fehlt jede Spur. Doch die rung in Deutschland 3,5 Millionen Qua- gegenüber 1975, frischen Fassaden können über die wirt- dratmeter kontrolliert. +75% inflationsbereinigt schaftliche Tristesse nicht hinwegtäuschen. Immer mehr Flächen bleiben leer, weil FRANK- Die Arbeitslosigkeit liegt bei 23 Pro- „jetzt die Mietverträge aus den Boomzei- REICH zent. Von den einst 51000 Einwoh- ten langsam auslaufen“, so Riesmeier. Kein +50% nern sind noch 38000 übrig. Wunder, dass sich die Mieten vieler Bü- USA Unzählige Immobilieninvestoren ros und Verkaufsflächen im freien Fall haben hier ihre Vermögen zu Gra- befinden. +25% be getragen. Von Steuervorteilen Sogar in der einstigen Boomstadt Mün- JAPAN und der Hoffnung auf blühende chen wurden Immobilien auf Halde pro- Landschaften geblendet, sorgten 0% duziert. Zwar ist es für Normalverdiener DEUTSCHLAND Banken und Anleger bis Mitte der nach wie vor schwierig, eine bezahlbare Quelle: Bulwien AG, Economist neunziger Jahre auch in Stendal für Wohnung zu bekommen. Doch die Mieter –25% Goldgräberstimmung. Heute kann von Büros können jubeln. Sie werden in sich kaum noch jemand daran erinnern. den Neubaugebieten in Schwabing oder an „Wohngebiet Süd“ und „Stadtsee“ heißen der Messe mit Kampfpreisen verwöhnt. 197580 85 90 95 2003 die beiden großen Geldvernichtungsma-

der spiegel 9/2004 79 Wirtschaft

schinen. Von den 13500 Wohnungen im nunmehr fast wertlose Immobilien. Man- Städten wie Frankfurt, München oder Ber- Plattenbau stehen rund 5500 leer. che Fehler haben sich in Westdeutschland lin pumpten. Damit blähten sie die Immo- Die Flucht aus der Platte traf besonders wiederholt. Auch hier wurde zu viel Geld bilienblase gewaltig auf. das Südviertel hart, die Leerstandsquote zu einseitig investiert. „Wir sollten keine Werbung für unsere liegt dort bei über 60 Prozent. Die kaum „Sicherheit, Sicherheit, Sicherheit“, das Produkte machen“, mahnt Willi Alda, dem zehn Jahre alte Einkaufspassage, mit der war der Slogan, der seit Verpuffen der Bör- der kräftige Zufluss selbst etwas unheimlich Anteilseigner eines geschlossenen Immo- senblase im Jahr 2000 bei den Anlegern ist. Der Chef des deutschen Marktführers bilienfonds einst reich werden wollten, ver- verfing. Seit 1959 hatten offene Immobi- Deka Immobilien Investment weiß, dass kommt allmählich zur Ruine. lienfonds noch in keinem Jahr einen Ver- die Aussichten auf Renditen höchst trübe Im Schatten kaputter Leuchtreklamen lust erwirtschaftet. Mehr mussten die sind, formuliert es nur ein wenig geschick- halten nur noch der Apotheker und der Bank- oder Vermögensberater ihren Kun- ter: „Der Trend zu negativen Bewertungs- Döner-Brater durch, der Rest hat höchstens den im Allgemeinen nicht sagen, der renditen wird sich fortsetzen.“ die Schaufensterwerbung zurückgelassen. Kaufauftrag war ihnen sicher. Noch weisen alle Fonds Renditen von Die „Turbobänke“ von Pegasus Solarium Mit neuen Geldern von netto 13,7 Mil- mindestens knapp über null aus. Doch in sind längst erloschen, und im Café Müller liarden Euro waren die Immobilienfonds den Büchern mancher Fonds verstecken sich gibt’s schon lange kein Eis aus eigener Her- auch noch im Jahr 2003 die populärste Zeitbomben, die nur dank der Hilfe kreati- stellung mehr – trotz des Kampfpreises von Fondsanlage. Insgesamt flossen seit Anfang ver Buchführung bisher nicht explodierten. „60 Pfennig für eine große Kugel“. 2001 fast 36 Milliarden Euro in mittlerwei- Trotz niedriger Mieten sind die Preise In Ostdeutschland führten Steueranrei- le 26 Fonds, die ihr Geld in Einkaufstem- für vermietete Bürohäuser kaum gefallen. ze und utopische Marktprognosen zu einer pel wie den Günthersdorfer Saale-Park und Die Fonds, die ihre Milliarden anlegen gigantischen Fehlleitung von Kapital in vor allem in Bürotürme in einigen wenigen mussten, überboten sich in den vergange- nen Jahren gegenseitig bei jedem halbwegs Hamburg Schwerin vernünftigen Projekt. Preisverfall In den Prospekten werden die Projekte Immobilienpreise BÜRO 20,50¤ –36% BÜRO 9,00¤ –62% gern schöngerechnet. Die Mieten, die dort in deutschen Städten WOHNUNG 2700¤ –13% WOHNUNG 1450¤ –39% ausgewiesen werden, sind oft reine Fiktion. Tatsächlich offerieren viele Fonds den be- 2003; Veränderung HAUS 230000¤ –5% HAUS 145000¤ –17% gegenüber 1992, gehrten Neukunden mietfreie Zeiten von inflationsbereinigt sechs Monaten und weitere Anreize, zum Beispiel die Übernahme der Mieten bei der Vorgängerimmobilie. Berlin Die DB Real Estate belohnt Makler be- Spitzenmiete für Büros BÜRO 21,50¤ –59% reits mit Lufthansa-Bonusmeilen, wenn sie in der City, Preis je qm neue Interessenten zum Besichtigungster- WOHNUNG 2500¤ –16% Durchschnittlicher min anschleppen. „Bis zu acht Prozent der Kaufpreis für eine HAUS 264900¤ –22% Gesamtmiete“, so ein Fondsmanager, ge- Eigentumswohnung, Dortmund hen bei länger laufenden Verträgen für An- Erstbezug, Preis je qm reize aller Art drauf. BÜRO 12,00¤ –23% Durchschnittlicher Trotz der desolaten Lage auf dem Kaufpreis für ein WOHNUNG 1900¤ –17% Leipzig Immobilienmarkt produzieren viele Fonds so genannte Einwertungsge- Reihenhaus, Erstbezug HAUS 230000¤ –7% BÜRO 10,50¤ –71% winne: Sobald sie einen neuen Büro- WOHNUNG 1800¤ –36% turm kaufen, springt auf wundersa- me Weise die Wertentwicklung des Düsseldorf HAUS 175000¤ –19% Fonds nach oben. Hintergrund der BÜRO 21,00¤ –38% Geldvermehrung: In die Bücher wird Halle (Saale) nicht der gerade auf dem Markt bezahlte WOHNUNG 2700¤ –7% Preis, sondern ein von Gutachtern hoch- HAUS 290000¤ –18% BÜRO 8,50¤ –54% gerechneter Wert der Immobilie eingestellt. WOHNUNG 1500¤ –35% Zusätzlicher Reiz: Die Höhe der Provision Köln für die Fondsgesellschaft orien- HAUS 140000¤ –10% Dresden tiert sich in vielen Fällen an den BÜRO 19,50¤ –17% in die Bilanz eingestellten, viel- WOHNUNG 2500¤ –4% BÜRO 10,30¤ –67% fach inflationierten Immobili- enwerten. HAUS 280000¤ +5% WOHNUNG 1700¤ –44% Die von den Fonds beauf- HAUS 190000¤ –13% Nürnberg tragten Gutachter kommen auf Frankfurt am Main Quelle: Bulwien AG Werte, die bis zu 20 Prozent über dem ak- BÜRO ¤ % BÜRO 34,00¤ –29% 10,00 –36 tuellen Marktwert liegen. Insbesondere WOHNUNG 2300¤ –12% neue Angebote wie der KanAm Grundin- WOHNUNG 2800¤ –6% vest oder der Axa Immoselect weisen un- HAUS HAUS 350000¤ –6% 260000¤ –3% ter anderem deshalb aktuell Traumrenditen von über sechs Prozent aus. „Das ist Ross- Stuttgart München täuscherei“, warnt der Immobilienexperte Stefan Loipfinger. BÜRO 16,50¤ –30% BÜRO 28,00¤ –25% Was vielen Besitzern offener Immo- WOHNUNG 2850¤ –13% WOHNUNG 3450¤ –17% bilienfonds droht, ist gerade bei den iii- Fonds zu besichtigen. Zwar empfiehlt die HAUS 380000¤ –16% HAUS 390000¤ –13% HypoVereinsbank (HVB) ihren Kunden

80 der spiegel 9/2004 ANDREAS VARNHORN (L.); CHRISTIAN LEHSTEN / ARGUM (R.) LEHSTEN (L.); CHRISTIAN VARNHORN ANDREAS Makler Orr, Büroneubauten in Hallbergmoos (bei München): „Wie bei einem Öltanker“ weiter die Fonds ihrer Tochtergesellschaft. Das Hamburger Retortenviertel City Die Wohnbaugesellschaften verhalten Doch die wenden sich insbesondere von Nord gilt als Paradebeispiel für die städte- sich wie ein Kartell und halten die Mieten den iii-Fonds Nr. 1 und Nr. 2 ab, die im baulichen Sünden der Vergangenheit. In trotz Leerständen hoch. Die Banken stun- vergangenen Jahr nur noch Renditen von den sechziger Jahren lobten Architekten den lieber die Zinsen, als eine Pleite zu knapp über null erzielten, auch weil sie die morbide Betonwüste als letzten Schrei, riskieren. Und die Wirtschaftsprüfer geben besonders stark in Ostimmobilien inves- weil Arbeit, Wohnen und Verkehr strikt sich in Bewertungsfragen gern großzügig. tiert hatten. getrennt wurden. Die unrealistischen Bodenrichtwerte der Die Krisenzeichen mehren sich: Der aus- Heute hält sich die Anziehungskraft des lokalen Gutachterausschüsse lassen sie im- gewiesene Leerstand bei Nr. 1 liegt bei Modells in engen Grenzen. Für die ehema- mer noch als Orientierung gelten. 11,3 Prozent, ein Viertel der Mietverträge ligen Mammutbehausungen von Post, BP „Da sie viel zu hoch liegen, sind auch die läuft 2004 aus und kann kaum zu den al- oder IBM gibt es keine Nachmieter. Jetzt Immobilien in den Bilanzen tendenziell ten Konditionen verlängert rollen die Bagger an und überbewertet“, warnt der renommierte In- werden. Weil Anleger ihr machen die Geisterhäuser solvenzverwalter Rolf-Dieter Mönning. Geld abziehen, muss der Immobilienwerte dem Erdboden gleich, um Der gefährliche Pakt zwischen Banken, Fonds Kredite aufnehmen. Veränderung gegenüber Platz für Neues zu schaffen. Buchexperten und Immobilienfirmen lässt Irgendwann ist er gezwun- 1990, inflationsbereinigt Solch radikale Entsor- sich leicht erklären: Eine Pleitewelle in der gen, zu Kampfpreisen Im- gungsaktionen kennt man ostdeutschen Wohnungswirtschaft will sich Wohnen West Wohnen Ost mobilien auf den Markt zu sonst nur aus der ehema- niemand leisten. Ein Kreditvolumen von werfen. „Die Mindestliqui- Gewerbe West Gewerbe Ost ligen Zone. Vor allem im 40 Milliarden Euro steht allein in diesem dität von fünf Prozent war +10% Wohnungsmarkt setzen die Teilmarkt auf dem Spiel. Von den 1300 ost- kurzfristig unterschritten“, Verantwortlichen dort be- deutschen Wohnungsgesellschaften stehen heißt es bereits im Halb- 0% reits länger auf das Prinzip mindestens 350 am Abgrund und hoffen jahresbericht. –10% kreative Zerstörung. auf Entschuldung. Quelle: Nun will die HVB-Toch- Bulwien AG Mit milliardenschweren Das Horrorszenario beschreiben Ex- ter reagieren, die Fonds –20% Zuschüssen soll in den neu- perten etwa so: Bei Zwangsversteigerun- Nr. 1 und Nr. 2 zusammen- –30% en Bundesländern vom gen können Spekulanten zu Spottpreisen legen und die Investitions- Markt genommen werden, Wohnblocks kaufen und anschließend „mit politik neu ausrichten. Statt –40% was noch vor wenigen Jah- Billigstmieten weitere Wohnbaugesell- deutscher Immobilien sol- ren mit Hilfe von Finanz- schaften in den Ruin treiben“, sagt Immo- len verstärkt krisenfestere spritzen und Steueranrei- bilienexperte Ulrich Pfeiffer vom Berliner europäische Projekte ein- 19901995 2000 03 zen saniert wurde. 31 000 Forschungsinstitut Empirica. gekauft werden. Wohnungen sind dem staat- Einzig die Spitzenstandorte in den Zen- Die neue Strategie kommt allerdings lich finanzierten Kahlschlag bislang zum tren gelten als Inseln der Hoffnung. „Be- reichlich spät. Viele Immobilienfonds sind Opfer gefallen. Bis 2009 sollen weitere vorzugte Wohnlagen wie etwa Potsdamer schon vor Jahren ins Ausland gegangen, 320000 dazukommen. Grundstücke mit Blick auf Joops Villa lassen um der hausgemachten Krise zu entkom- Tatsächlich geht es um ganz andere sich leicht verkaufen“, sagt Insolvenzver- men. Sie gehören in Städten wie London Größenordnungen. „Die Wohnungswirt- walter Mönning. Ansonsten gebe es für den oder Paris zu den größten Investoren. schaft in Ostdeutschland steht vor dem Zu- Osten kaum Hoffnung. „Ein Haus in Hoyers- In westdeutschen Städten wird dagegen sammenbruch“, sagt Jürgen Goldschmidt, werda kann man nicht einmal verschenken.“ die Abrissbirne immer öfter zum Zug Baudezernent in der Kleinstadt Forst, „1,3 Immerhin macht Not erfinderisch. Geht kommen. Mehr als eine Million Quadrat- Millionen Wohnungen stehen leer.“ Be- es nach den Plänen der Stendaler, soll die meter Bürofläche warten allein in der Ha- troffen seien nicht nur Plattenbauten, son- südliche Geisterstadt nicht abgerissen, fenmetropole Hamburg auf einen Ab- dern auch frisch sanierte Altbauwohnun- sondern umgenutzt werden. Es gibt Ge- nehmer. Und in den nächsten Monaten gen wie zum Beispiel in Görlitz. spräche mit einem Unternehmer, der die kommen noch etliche Neubauten auf Die bescheidenen Abrissprämien las- Wohnblöcke mit Kollektoren verkleiden den Markt. Ältere Bürokomplexe, deren sen das Überangebot nur in Zeitlupe will. Daraus entstünde dann das weltweit Haustechnik und Raumaufteilung an die schmelzen. So versuchen alle Beteilig- erste Solarkraftwerk im Plattenbau – auch sechziger Jahre erinnern, finden keine ten, den GAU auf andere Weise zu ver- eine Art Investition in die Zukunft. Mieter mehr. hindern. Beat Balzli, Christoph Pauly

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Abgabegegner Clement, Schülerinnen* „Kostenschub für die Wirtschaft“

abgabe endlich zu geben, wonach die Par- tei so offensichtlich lechzt. Das Problem ist schließlich offensicht- lich: Noch nie war es für Schulabgänger so schwierig, einen Ausbildungsplatz zu be- kommen wie heute. Immer weniger Un- ternehmen bilden aus. In Ostdeutschland ist nur noch jeder zehnte Betrieb bereit, eine Lehrstelle anzubieten. Die einst hoch gelobte duale Berufsaus- bildung der Republik steckt in der Krise. Die Betriebe kämpfen mit der längsten und hartnäckigsten Konjunkturflaute der Nach- kriegsgeschichte. Warum, fragen sich vie- le Unternehmer, sollen wir teure Ausbil- dungsstellen schaffen, wenn wir noch nicht einmal für unsere bewährten Stammkräfte genügend Arbeit haben? Laut offizieller Statistik suchen derzeit 20000 Jugendliche vergebens einen Aus- bildungsplatz. Wenn in den nächsten Mo- naten die Zeugnisse ausgegeben werden,

FRISO GENTSCH / DPA könnten es bis zum Herbst über 100000 werden, befürchtet die zuständige Bundes- bildungsministerin . LEHRSTELLEN Diese Entwicklung wollen SPD und Grü- ne im Bundestag mit ihrem Gesetzentwurf stoppen. Die Idee, die dahinter steckt, ist Bürokratisches Monster einfach. Wer nicht ausbildet, soll zahlen, wer mehr ausbildet, wird auf Kosten der Die Ausbildungsplatzabgabe soll die SPD-Basis mit den Zumutungen Drückeberger entschädigt. Klingt gut, doch die Probleme stecken – der Agenda 2010 versöhnen – womöglich mit der wie so häufig – im Kleingedruckten. Jedes Folge, dass es in Zukunft weniger Lehrstellen gibt als bisher. Jahr im Herbst soll es zur großen Lehrstel- lenzählung kommen, bei der alle Betriebe urt Beck gilt in der SPD als zuver- den Gewerkschaften ungelegen. Für sie mit mehr als zehn Beschäftigten Auskunft lässiger Parteisoldat. Streitereien sind die 20000 Jugendlichen ohne Lehrstel- geben müssen. Nur kleinere Unternehmen Ksind dem rheinland-pfälzischen Lan- le zum Synonym eines kaltherzigen So- bleiben verschont. desvater fremd. Auch als Rädelsführer von zialstaats geworden, der sich widerstands- Eine neue Erfassungsstelle, die an eine parteiinternen Aufständen ist der Mann aus los den Abwanderungsdrohungen einer Bundesbehörde angedockt ist, soll die Mel- Mainz bislang nicht aufgefallen. Bis zur Sit- auftrumpfenden Unternehmerklasse beugt zung des SPD-Vorstands am vergangenen und dabei gleichzeitig eine seiner elemen- Montag. Da zeigte sich der sonst so stille tarsten Pflichten vernachlässigt: jungen Beck von einer anderen Seite. Menschen eine angemessene Startgrund- Teilnehmer berichten, plötzlich habe lage ins Leben zu garantieren. Beck „ohne jede Vorwarnung“ eine Pro- Zähneknirschend haben sie hinnehmen testfront gegen das aktuelle Lieblingspro- müssen, wie ausgerechnet eine sozial- jekt der Sozialdemokraten angeführt – die demokratisch geführte Bundesregierung Ausbildungsplatzabgabe. der Wirtschaft immer wieder entgegen- Völlig überflüssig sei das Vorhaben. „Da- gekommen ist: indem sie den Wohlfahrts- mit sorgen wir nicht für mehr Lehrstellen, staat beschnitten hat, indem sie den Spit- sondern nur für mehr Bürokratie“, polter- zensteuersatz gesenkt hat, indem sie ver- te Beck. Prompt fühlten sich auch andere hindert hat, dass große Vermögen besteu- Genossen zum Widerspruch ermuntert. ert werden. „Regionen, die genügend Ausbildungs- Jetzt endlich – so sehen es viele Genos- plätze schaffen, brauchen die Umlage sen – sollen einmal die anderen bluten, die nicht“, wetterte die Kieler Regierungs- da oben eben, und nicht nur Arbeitslose, chefin Heide Simonis. Und Harald Schar- Rentner oder Kassenpatienten. So hat es tau, SPD-Landeschef von Nordrhein-West- der Parteitag in Bochum beschlossen, so falen, konstatierte nüchtern: „So werden will es die Mehrheit der Bundestagsfrak- wir die Probleme nicht lösen.“ tion, und so soll es denn sein, findet auch Die Attacke aus den eigenen Reihen Franz Müntefering, der die Chance nutzen

kam den Traditionalisten in der SPD und will, der SPD mit der Ausbildungsplatz- / DPA SCHUTT MARTIN

* Bei einem Aktionstag des Bundeswirtschaftsministe- Abgabebefürworter Müntefering riums am 25. September 2003 in Osnabrück. Der Partei geben, wonach sie lechzt

84 der spiegel 9/2004 dungen bearbeiten. Im Gespräch sind das monstrum entstehen, das mindestens so Bundesinstitut für Berufsbildung, die Bun- kompliziert zu werden verspricht wie die desagentur für Arbeit oder das Bundes- Riester-Rente oder das berüchtigte 630- verwaltungsamt. Mark-Gesetz aus der Frühphase der rot- Nur 150 Leute seien dafür nötig, beteu- grünen Regierungszeit. ern die rot-grünen Arbeitsmarktexperten. In einer achtseitigen internen Analyse Und selbstverständlich seien das nicht stellt das Wirtschaftsministerium den Plä- unbedingt neu zu schaffende Stellen. Das nen der SPD-Fraktion ein vernichtendes neue Amt legt jedes Jahr die erforderliche Zeugnis aus. Die so genannte Umlage, pro- Ausbildungsquote je Betrieb fest: Wie hoch gnostizieren die Beamten von Ressortchef müsste der Prozentsatz der Lehrlinge an Wolfgang Clement, werde „weniger statt der Belegschaft sein, damit alle versorgt mehr Lehrstellen“ schaffen. wären? Wie hoch ist er im Einzelfall tat- Viele Unternehmen würden sich „frei- sächlich? Beide Werte werden miteinan- kaufen“ und sich darauf verlassen, dass mit der verglichen, dann wird ausgerechnet, dem Geld schon irgendwo anders Lehrstel- wie viele Lehrstellen der Betrieb eigentlich len geschaffen würden. Dass eine Ausbil- anbieten müsste. dungsplatzabgabe keine Lehrstellen pro- Klingt einfach, doch tatsächlich ist der duziere, zeige das Beispiel der deutschen Aufwand gigantisch. Nach einem internen Bauindustrie. „Trotz Ausbildungsumlage Vermerk des Bundesbildungsministeriums sank dort die Zahl der Auszubildenden von müssten von den zwei Millionen Betrie- 1995 bis 2001 von etwa 85000 auf 51000.“ ben in Deutschland etwa 700000 die Ab- Die Fachleute des Ministeriums klagen gabe zahlen, weil sie nicht oder zu wenig über einen „hohen Verwaltungsaufwand ausbilden. und mehr Bürokratie“, der die Wirtschaft Aus der Differenz von Anspruch und mit einem neuen „Kostenschub“ belasten Wirklichkeit ergibt sich auch die Strafzah- würde. Außerdem treffe eine Zwangsab- lung. Über deren Höhe haben die SPD- gabe alle Unternehmen, auch solche, die Bundestagsabgeordnete Nicolette Kressl nicht ausbilden dürfen, oder solche, „de- und ihre Mitstreiter schon genaue Vorstel- nen geeignete Bewerber fehlen“. Es drohe lungen. Sie orientiert sich an der Ausbil- nichts weniger als eine „planwirtschaftliche dungsvergütung, fällig werden also zwi- Ausrichtung und Steuerung des Berufsbil- schen 6000 und 8000 Euro pro Stelle. So dungssystems“. kommt bei 20000 fehlenden Lehrstellen wie Ganz ähnlich sehen das Clements Amts- im vergangenen Jahr schnell eine Summe kollegen in den Ländern, ganz gleich, ob von 160 Millionen Euro zusammen, die ein- sie der SPD oder der CDU angehören. In getrieben und wieder verteilt werden muss. einem einstimmigen Beschluss verwarfen Fachleuten fehlt der Glaube an die Wirk- die Ressortchefs den SPD-Plan erst im ver- samkeit der Maßnahme. So warnt der gangenen Dezember als unpraktikabel und Rat der fünf Wirtschaftsweisen in seinem beschäftigungsschädlich. Die geplante Um- jüngsten Gutachten vor einem „kontra- lage werde zu „Fehlsteuerungen und Wett- produktiven Zwangsinstrument“. Und die bewerbsverzerrungen“ führen, der „Auf- zuständigen Ministerien in Bund und Län- wand für die Erhebung“ stehe „in keinem dern sehen bereits ein neues Bürokratie- Verhältnis zum Nutzen“. Ihre Ministerpräsidenten schei- 126610 nen derselben Meinung zu sein. Sie 120000 Mangelwirtschaft können das geplante Gesetz doch noch zu Fall bringen. Ausbildungsplätze Zwar hat sich die Partei festge- in Deutschland legt, das Gesetz so auszugestalten, 100000 dass es im Bundesrat nicht zu- unbesetzte Lehrstellen stimmungspflichtig ist. Doch seit unvermittelte Bewerber die SPD-Regenten in Kiel, Mainz Lehrstellenlücke und Düsseldorf darauf drängen, 80000 dass ihre Länder von der geplan- Quelle: Bundesinstitut für Berufsbildung ten Ausbildungsplatzabgabe ver- schont werden, ist der Plan ge- 60000 fährdet: Der Bundesrat kann jedes 47421 Gesetz mit Zweidrittelmehrheit kip- pen. Dann wäre auch eine Zwei- drittelmehrheit im Bundestag not- * 40000 35015 wendig, um das Votum der Län- 24535 derkammer zu überstimmen, und eine solche Mehrheit wird es nicht 20000 25864 geben. 20462 Zumindest Wolfgang Clement 14 840* wäre froh über diese Niederlage 12975 Roland Nelles, *Stand: 30. September 2003 der Genossen. 0 Alexander Neubacher, 199293 9495 9697 9899 200001 02 03 Christian Reiermann, Michael Sauga

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Schwarzarbeitsfahnder Jung „Da schneidet doch einer im Wingert“

heben kann er nicht mehr. Und eine andere Beschäftigung findet er auch nicht mit seinen 40 Jahren, ohne weitere Qualifikation. Schwarzarbeitsfahnder Jung spürt ihn spätabends auf, an einer Autobahntank- stelle. Dort kassiert Mario S. im Auftrag des Pächters die Parkgebühren für Lastwagen. „Haben Sie das gemeldet?“, fragt Jung. Antwort: „Ich hab doch erst vor ein paar Tagen angefangen.“ „Sie machen das doch schon seit drei Monaten.“

FOTOS: BERT BOSTELMANN / BILDFOLIO BOSTELMANN BERT FOTOS: Ja, ja, er beziehe Arbeitslosengeld und Stütze, räumt der allein erziehende Vater ein. Und das Sozialamt beteilige sich auch SCHATTENWIRTSCHAFT an den Kreditraten für sein kleines Haus, stimme genau. Aber das Geld reiche trotz- dem nicht für ihn und seine beiden Kinder. Der gezähmte Rambo Zumal die 16-jährige Tochter noch ihr drei Monate altes Baby versorgen müsse. „Ich Er besitzt eine Lizenz zum Schnüffeln und Jagen: Mit Fernglas, bin auf jeden Cent angewiesen.“ Was jetzt passiere? „Ich benachrichtige Kamera und Pfefferspray lauert ein leidenschaftlicher Fahnder das Arbeitsamt“, erklärt ihm der Fahnder. in- und ausländischen Schwarzarbeitern auf. Von Bruno Schrep „Muss das sein?“ „In Ihrem Fall schon.“

ls der drahtige Mann mit der Le- derjacke das Restaurant betritt, Aflüchtet eine Hilfskraft in die Küche. Der Mann rennt hinterher, drängt sich vorbei an dampfenden Töpfen, an ge- stapelten Getränkekisten, an einer Frau, die sich ihm zeternd in den Weg stellt. Am Hintereingang bekommt er gerade noch mit, wie der Flüchtige über eine Mau- er klettert und wegläuft. „Kaum kommt man rein, machen die Leute die Mücke“, schimpft der Verfolger. „Aber ich bin ein geduldiger Mensch. Beim nächsten Mal er- wische ich den Kerl.“ Kontrollen an der Tankstelle, auf dem Bauplatz: Stets dankbar für einen guten Tipp Der Kerl, das ist ein türkischer Staats- bürger mit gefälschtem griechischem Pass, Tipp. Als Signalton auf seinem Handy er- „Kürzen die dann die Zahlungen?“ „Kann der illegal in der Gaststätte arbeiten soll. klingt die Nationalhymne. schon sein.“ „Scheiße.“ Sein Verfolger heißt Reinhard Jung, ist 47 Jung ist einer von denen, auf die Politi- Auch der Tankstellenpächter, den Jung Jahre alt und arbeitet als Angestellter bei ker bauen, wenn sie eine wirksamere ebenfalls anzeigt, ist nicht amüsiert. „Sie der Kreisverwaltung Mainz-Bingen. Bekämpfung der Schwarzarbeit verspre- werden verstehen, dass ich nicht ‚Auf Wie- Klingt stinklangweilig. Doch Jung hat ei- chen. Einer von denen, die täglich kon- dersehen‘ sage“, knurrt er zum Abschied. nen aufregenden Job. Der Mann besitzt frontiert sind mit Menschen, die gegen Vor- Beliebt ist er nicht, der Fahnder mit den eine Lizenz zum Schnüffeln und Jagen: Er schriften verstoßen. vielen Formularen. Wenn er etwa am ist Schwarzarbeitsfahnder. Mit Leuten wie Mario S. Ein stämmiger Sonntagmorgen vor dem Haupteingang des Täglich kurvt er mit seinem Dienstwa- Mann, muskelbepackt, mit Armen wie ein ZDF in Mainz seinen Dienstausweis zückt gen, einem Opel Astra, Baujahr 1998, durch Schwergewichtsringer. Gerüstbauer war er, und mit den Worten „Moin moin, mein Rheinhessen. Allzeit wachsam, immer auf hat 20 Jahre lang Leitern und Bretter ge- Name ist Jung, Betriebsprüfung“ Einlass der Lauer. Stets dankbar für einen guten stemmt. Jetzt ist sein Rücken kaputt, schwer begehrt, hält sich die Freude in Grenzen. Denn während der „Fernsehgarten“ live gesendet wird, fragt Jung nach den Ar- Schwarzarbeit genliebe: Zwei Drittel aller Bürger empfinden beitsgenehmigungen der herumwieselnden hat in Deutschland einen Umfang von schät- Schwarzarbeit als Kavaliersdelikt, nur jeder Bühnenarbeiter und Stühleschlepper, sorgt zungsweise 370 Milliarden Euro im Jahr er- sechste würde laut einer aktuellen SPIEGEL- für Unruhe hinter den Kulissen. Dieser Typ reicht, das entspricht etwa 17 Prozent des Umfrage einen illegal Beschäftigten anzeigen. hat gerade noch gefehlt. Bruttoinlandsprodukts. Rund 9,4 Millionen Kritik entzündet sich vor allem an der perso- „Ich habe mir große Mühe gegeben, den Menschen arbeiten zumindest teilweise nellen Aufrüstung: Neben Steuerfahndern, Po- Richtigen zu finden“, versichert Jungs di- schwarz – in Kneipen und auf Baustellen, in lizisten und Kontrolleuren aus der Verwaltung, rekter Vorgesetzter, ein freundlicher Ober- Autowerkstätten und in der Landwirtschaft. die schon jetzt hinter Schwarzarbeitern her verwaltungsrat. Die am vergangenen Mittwoch von der Bun- sind, sollen 7000 Zollmitarbeiter von 113 Gesucht wurde ein durchsetzungsstarker desregierung beschlossenen Gesetzesver- Dienststellen aus in den Kampf gegen die Mann, aber einer mit viel Fingerspitzenge- schärfungen stoßen allerdings auf wenig Ge- Schattenwirtschaft geschickt werden. fühl. Ein gezähmter Rambo, sozusagen. Denn einerseits drängten vor allem die

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Handwerksverbände, mit dem Schwarzar- Kurz darauf, auf einer Landstraße zwi- blumen auf den Tischen. Wenige Gäste. beiterunwesen aufzuräumen. Andererseits schen weitläufigen Weinbergen, bremst er Ein vergilbtes Schild: Frikadellen. Neu ist grassiert in der Verwaltung Furcht vor reni- plötzlich ab, holt sein Fernglas heraus. nur die Musicbox. tenten Bürgern, die gegen allzu massive „Da schneidet doch einer im Wingert“, Fahnder Jung rührt in seinem Kaffee, Nachforschungen protestieren. murmelt er. „Bei dem Winzer da oben blickt auf die Uhr. „Ich warte jetzt, bis die- Die meisten Bewerber sortierte der war’n doch schon voriges Jahr Schwarz- se große, dicke Frau anfängt zu putzen“, Oberverwaltungsrat sehr schnell aus. arbeiter.“ sagt er, „reine Detektivarbeit.“ „Aber als der Herr Jung die Tür aufmach- Fehlalarm, schon wieder. Der alte Win- Ein Tippgeber, der natürlich anonym te, wusste ich sofort, der ist es.“ zer selbst, zeigt sich beim Näherkommen, bleiben wollte, hat die Frau verpfiffen: Sie Dabei hat er einiges hinter sich, dieser stutzt trotz Frost seine Rebstöcke. Fahnder schrubbe die Kneipe seit drei Jahren, gebürtige Hallenser. Eine Mechanikerlehre Jung hupt, winkt ihm freundlich zu. schwarz. in der alten DDR, die Leitung eines Erho- Auf dem Gestüt ist der Empfang frostig. Kaum beginnt Rosana T. mit Besen und lungsheims für Werktätige, ein bisschen Jung rutscht auf Pferdeäpfeln aus, flucht. Putzlappen zu hantieren, steht Jung am Volksarmee, ein bisschen Widerstand. Stu- Ein großer Hund knurrt und bellt, muss Tresen: „Gaststättenkontrolle.“ „Das darf diengänge in Verwaltungsrecht nach der festgehalten werden. „Ausländische Ar- nicht wahr sein.“ Wende, Posten als hauptamtlicher Auch Aushilfskellnerin Anke K., Beigeordneter, als Beauftragter für stellt sich heraus, bekommt ihren den Umweltschutz. In der Freizeit Lohn bar auf die Hand, ohne wei- regelmäßig Kampfsporttraining. tere Formalitäten. Die Kneipen- „Manchmal muss man eben zu- pächterin erholt sich auf Mallorca. packen“, erklärt der Kontrolleur, In Zimmer 171, in das der Fahn- zieht aus dem Handschuhfach ei- der die beiden Sünderinnen zur Ver- nen schlanken, schwarzen Knüppel nehmung geladen hat, bricht die mit Metallspitze. „Mein Zauber- Putzfrau am nächsten Morgen in stab“, sagt er dazu stolz, „bringt Tränen aus, lässt sich kaum beruhi- 180000 Volt.“ gen. „Man kommt sich vor wie ein Einmal, erzählt er, sei diese Waf- Verbrecher“, schluchzt sie. „Ich hab fe seine Rettung gewesen. Da hätten die ganze Nacht nicht geschlafen.“ sich zwei kräftige russische Arbeiter, Was das überhaupt solle mit die- die er beim illegalen Malochen auf- sen blöden Vorschriften? Sie putze gespürt habe, auf ihn gestürzt, um seit Jahren in der Kneipe und ei- abzuhauen. Erst nach Einsatz des Überprüfung im Pferdestall: Blick hinter den Misthaufen nem Supermarkt, um sich und ihre Stabes hätten die Männer ganz beiden Kinder zu ernähren, na schnell klein beigegeben. „Zwei Tage und? „Sie hätten das der Bundes- später waren sie weg, abgeschoben.“ knappschaft melden müssen“, be- Kein Zweifel: Die Rolle des lehrt Jung. „Der Bundeswas?“, Schwarzarbeitsfahnders mit quasi fragt die Frau. „Das ist die Zen- polizeilichen Vollmachten ist dem tralstelle für die Minijobs.“ „Ach ehrgeizigen Ossi auf den Leib ge- so, nie gehört.“ schrieben, auch wenn er statt mit Jung belässt es bei einer Verwar- einer scharfen Schusswaffe nur mit nung, ausnahmsweise. Verzichtet, Pfefferspray ausgestattet ist. Mehr andere Behörden zu informieren, als 500 Ermittlungen hat er in den ebenfalls ausnahmsweise. Vergattert vergangenen zwei Jahren ins Rollen die Frauen, ihre Jobs umgehend an- gebracht, fast 250 Ordnungswidrig- zumelden. Verhängt Bußgelder von keitsverfahren eingeleitet, dazu 85 jeweils 35 Euro. Erleichterung. Strafanzeigen erstattet. Ein Spür- „Ich sehe doch, was das für arme

hund aus Leidenschaft. FOTOS: / BILDFOLIO BOSTELMANN BERT Schweine sind“, begründet er seine Die große Baustelle, die der Fahn- Fahndungsziel Bahnhofskneipe: Lohn bar auf die Hand Milde. „Wem nutzt es, die beiden mit der am Nachmittag ansteuert, ist hohen Strafen kaputtzumachen?“ deutschen Firmen schon lange ein Ärger- beitskräfte bei euch?“, fragt der Kontrol- „Krümelkacke“ nennt er solche Fälle – nis. „Guckt da mal nach, da schaffen be- leur. Nein, nein, ach wo. doch die machen das Gros seiner Arbeit stimmt Illegale“, forderte ein erboster An- Jung marschiert trotzdem in die Stal- aus. Wirklich dicke Fische verfangen sich rufer. Am Kran prangt das Schild einer un- lungen, schaut in jede Pferdebox, leuchtet nur selten in seinem Netz. garischen Firma. mit seiner Stablampe hinter Heuverschlä- Der Bürgermeister eines Weinbauortes Jung nimmt vorsorglich seine Handschel- ge und Misthaufen. Als er gerade aufgeben bildete da eine Ausnahme. Der ließ sein Pri- len mit. Die Arbeiter, verdreckt, wegen der will, entdeckt er ganz hinten, bei den Hüh- vathaus von osteuropäischen Illegalen sa- grimmigen Kälte mit dicken Schals um die nerställen, einen Mann, der eifrig an ei- nieren, zu Dumpinglöhnen. Als Fahnder Köpfe, verstehen kaum Deutsch. Mit un- nem Schuppen schraubt und hämmert. Jung die Männer kontrollierte, trat der Bür- missverständlichen Handzeichen beordert Aus Polen sei er. „Und Ihre Arbeitser- germeister dazwischen. Er brüllte „Haus- sie der Kontrolleur in den winzigen Bauwa- laubnis?“ Ja die, druckst der Mann, die friedensbruch“, ballte die Fäuste, begann gen. „Pässe, Visa, Arbeitsgenehmigungen.“ habe er leider noch nicht. Aber sie sei be- zu schubsen. So lange, bis Jung ihn wegen Die Männer, alle aus Ungarn, reden auf- antragt. „Nächste Woche überprüf ich Strafvereitelung festnahm, ihm Handschel- geregt in ihrer Muttersprache, kramen in das“, verspricht der Kontrolleur. len anlegte und ihn dem Untersuchungs- schmuddeligen Mappen, präsentieren Pa- Abends in der alten Bahnhofskneipe. richter vorführen ließ. piere mit Stempeln. Wirken verängstigt Dunkelbraun gestrichene Wände, Kunst- „Wissen Sie nicht, dass dieser Mann hier und eingeschüchtert. Jung prüft und prüft der Bürgermeister ist?“, fragte einer der und prüft. „Alles in Ordnung, da kann man Weitere Informationen unter Polizisten beim Abtransport. „Von mir aus nicht meckern“, befindet er dann. www.spiegel.de/dossiers kann er der Papst sein“, entgegnete Jung.™

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mittelbaren Sozialhilfe- fanden in diesem Zeit- ARBEITSMARKT empfängern, die es wie- Personal-Service- raum tatsächlich eine so- der in den Arbeitsmarkt Agenturen (PSA) zialversicherungspflichti- Pleite nach Maß eingliederte. Dabei ging ge Beschäftigung – bei es maximal um 1000 Per- Aufgabe: Vermittlung von Langzeit- ihnen klappte der so ge- Die Insolvenz der deutschen sonen, jetzt musste es sich arbeitslosen in Zeitarbeitsverhält- nannte Klebeeffekt. Ur- plötzlich um 10000 Men- nisse mit dem Ziel, eine Brücke zur sprünglich sah Hartz in Tochter des Personaldienstleisters schen kümmern, ohne Dauerbeschäftigung zu schlagen seinem Konzept einmal Maatwerk bringt das Herzstück über die nötige Infra- Zahl der PSA: 985 bis zu 350 000 PSA-Be- der Hartz-Reform ins Gerede. Ist struktur zu verfügen. schäftigte vor, die inner- das Konzept schon gescheitert? In den 150 Regional- Eintritte seit halb von drei Jahren büros herrschten offen- 1. April 2003: 47 053 Personen wieder einen Dauerjob as unrühmliche Ende von Maat- bar unhaltbare Zustän- finden sollten. Austritte: 15 349 Personen werk – was so viel wie Maßarbeit de. Ein ehemaliger Maat- Dass diese Bilanz so davon haben eine sozial- Dbedeutet – kam am Freitag, dem 13. werk-Mitarbeiter alar- versicherungspflichtige niederschmetternd aus- Ausgerechnet an diesem Festtag der Aber- mierte die Nürnberger Beschäftigung fällt, liege nicht am gläubischen musste die deutsche Tochter BA, deren Mitarbeiter aufgenommen: 6375 Hartz-Konzept selbst, des niederländischen Arbeitsvermittlers am Donnerstag vergan- Stand: Ende Januar 2004 sondern an dessen Hand- der Bundesagentur für Arbeit (BA) in gener Woche unange- habung, meinen Exper- Nürnberg mitteilen, dass sie sich hoff- kündigt in der PSA des ten. „Es haben viel zu nungslos verkalkuliert hatte und wegen Unternehmens in Recklinghausen auf- viele Laien einen Zuschlag erhalten“, sagt Zahlungsunfähigkeit ihr Geschäft mit tauchten. Thomas Reitz, Deutschland-Chef der Zeit- den Personal-Service-Agenturen einstellen Sie fanden alles wie beschrieben: Über arbeitsfirma Manpower. „Man kann nicht muss. Drei Tage später folgte der Gang Monate hinweg waren Berichte über an- in wenigen Monaten aufbauen, wofür wir zum Insolvenzrichter. gebliche Schulungen der Mitarbeiter er- 40 Jahre gebraucht haben.“ Personal-Service-Agenturen, kurz PSA funden und Arbeitsverträge so umdatiert Zudem sei die Vergabe der PSA-Lizenz genannt, sind das Herzstück der Hartz-Re- worden, dass die Behörde höhere Zu- viel zu oft am Preis gescheitert. So schät- form. Sie sollen vom Arbeitsamt zugewie- schüsse zahlen musste, als Maatwerk ei- zen Fachleute, dass mindestens 60 Prozent sene Arbeitslose befristet anstellen und die- gentlich zustanden. Statt der vertraglich der PSA-Betreiber wegen ihrer Dumping- se entweder verleihen oder dauerhaft in zugesicherten sechs Disponenten betreuten preise und nicht wegen nachgewiesener den ersten Arbeitsmarkt vermitteln. Alles gerade einmal zwei Mitarbeiter die Job- Qualifikation den Zuschlag erhalten ha- gefördert von der BA, die dafür in diesem suchenden. „Kreative Vertragsgestaltung“ ben. Auch Maatwerk glänzte durch ein Jahr rund 600 Millionen Euro zur Verfü- nennt Maatwerk-Geschäftsführer Jos Be- konkurrenzlos billiges Angebot, obwohl es gung stellt – und auf diese Weise ganz ne- rends diese Praxis heute. offensichtlich kaum über finanzielle Re- benbei die Statistik bereinigt. Die Pleite war absehbar. Als sich die serven verfügte. Nun müssen sich die Bei diesem Geschäft wollten die Hollän- Bundesregierung anschickte, die Hartz- Nachlassverwalter mit diesem Problem der von Anfang an ganz groß dabei sein. Konzepte umzusetzen, witterten neben herumärgern. „Mich treibt die Frage um, Für mehr als 200 solcher Agenturen bean- Maatwerk-Chef Berends massenhaft Bran- warum die Bundesanstalt mehr als 10000 tragte und bekam Maatwerk den Zuschlag, chenfremde das große Geschäft. Plötzlich Arbeitnehmer einer GmbH anvertraut hat, knapp 10000 Menschen musste der Perso- durften sich Weiterbildungseinrichtungen die über ein Stammkapital von nicht mal naldienstleister plötzlich zwischen Aachen als Personaldienstleister probieren, sogar 25000 Euro verfügt“, sagt der Maatwerk- und Zwickau beschäftigen. Wach- und Schließgesellschaften kamen Insolvenzverwalter Gerd Weiland. Mit dieser Aufgabe war das auf diesem zum Zug. Mit fatalem Ergebnis: Von der Leidtragende der Insolvenz sind vor al- Gebiet völlig unerfahrene Unternehmen Eröffnung der ersten PSA im April 2003 bis lem die rund 9500 externen Beschäftigten, maßlos überfordert. Bislang nämlich hatte Januar 2004 waren rund 47 000 vormals ehemalige Arbeitslose, die Maatwerk über Maatwerk vor allem Erfolg mit schwer ver- Arbeitslose in PSA beschäftigt. Nur 6375 Leiharbeit in einen Job vermitteln wollte. Gehälter wurden bei dem Unternehmen immer erst zum 15. des Folgemonats ge- zahlt. In dieser Woche wäre das Januar- Gehalt fällig gewesen. Doch wegen der In- solvenz bleibt die Zahlung aus. Maatwerk ist kein Einzelfall. Am glei- chen Tag wie Maatwerk meldete auch die Agens Arbeitsvermittlung in Siegburg In- solvenz an. Agens hatte allerdings nur fünf PSA. Und drei Verträge waren bereits von der BA gekündigt worden – wegen Erfolg- losigkeit. Diesen Vorwurf will Maatwerk-Chef Berends für sein Unternehmen aber nicht gelten lassen. Immerhin seien rund 2000 Arbeitslose wieder in den ersten Arbeits- markt vermittelt worden. Und hätte er von der BA mehr Zeit und von den Banken mehr Geld bekommen, wäre „das Projekt PSA sicher gelungen“, sagt Berends. „Ich denke, dass wir in der Summe unsere

TORSTEN SILZ / DDP TORSTEN Sache gut gemacht haben.“ Personal-Service-Agentur (in Dortmund): Unhaltbare Zustände Michael Fröhlingsdorf, Janko Tietz

der spiegel 9/2004 99 Medigene-Labor (bei München) Wettlauf gegen die Zeit

Von dem Hype wollen auch die Deut- schen profitieren, Unternehmen wie Me- digene oder GPC Biotech, die zur Jahr- hundertwende die Anleger begeisterten und dann mit dem Abstieg kämpften. „2004 machen die Börsen wieder auf“, hofft Heinrich. „Die Mehrheit aller neuen Wirkstoffe kommt bereits aus der Biotechnologie“, schwärmt GPC-Chef Bernd Seizinger. Er müht sich seit geraumer Zeit, das Interes- se ausländischer Investoren zu wecken. Of- fenbar mit Erfolg: Der Kurs des Unterneh- mens hat sich allein in den ersten Wochen dieses Jahres verdoppelt. Energisch drängen auch einige New-

RONALD FROMMANN / LAIF FROMMANN RONALD comer nach vorn. „Im Jahr 2006“, sagt Epi- genomics-Gründer Alexander Olek aus Berlin, „sind wir mit unseren Produkten BIOTECHNOLOGIE in der Praxis.“ Die Bio-Pioniere machen wieder auf Boom: Börsencrash und Forschungsde- „Wir bauen Präzisionswaffen“ bakel sind verarbeitet – oder zumindest verdrängt. Vier Jahre nach dem Totalab- Vier Jahre nach dem Börsencrash stellen sich die deutschen sturz der Branche stellen sich die ange- schlagenen Unternehmen neu auf. Aus der Biotech-Firmen neu auf. Statt Wunderwaffen gegen den Krebs für Dauerkrise haben sie zwei zentrale Lehren irgendwann sind jetzt schnell brauchbare Medikamente gefragt. gezogen. Erstens: Die Zeit der großen Visionen ange Zeit wurde Peter Heinrich häu- Die Zeit ist reif: Weltweit ist die Bio- ist vorbei. Statt Wunderwaffen gegen den fig von einer Frage gequält: „Wann technologie wieder erfolgreich, die Umsät- Krebs für irgendwann werden jetzt Pro- Lzieh ich hier den Stecker raus?“ ze wachsen zweistellig, in New York drän- dukte möglichst marktnah entwickelt – we- Heinrich ist Vorstandschef, sein Unter- geln sich neue Kandidaten vor der Wall niger innovativ, nicht so spektakulär, dafür nehmen, Medigene, war einst ein Börsen- Street, auf internationalen Kongressen wer- leichter zu finanzieren und schneller beim star und seine Branche, die Biotechnologie, den neue Wirkstoffe enthusiastisch gefeiert. Arzt und beim Patienten. Dahinter steht eine der ganz großen Hoffnungen der deut- eine für Heinrich, Seizinger und Co. schen Industrie. Die Frage mit dem Stecker schmerzliche Erkenntnis. Die weltweit ge- stellte sich immer dann, wenn die Medika- Die Anleger kehren zurück feierte Entschlüsselung des menschlichen mentenentwicklung stockte. In den ver- Europäischer Goldman- Genoms vor über drei Jahren hat in der gangenen zwei Jahren passierte das oft: Sachs-Biotech-Index 50 Praxis nur wenig gebracht; vor allem nicht Das Mittel gegen Herzinsuffizienz wurde die erhofften Supermedikamente gegen die 45 wegen zu großer Nebenwirkungen aufge- Quelle: schlimmsten Krankheiten. Es ist alles kom- geben, das kardiologische Forschungspro- Thomson 40 plizierter als gedacht. Financial 35 gramm wegen Geldmangels ausgelagert. Datastream Und das heißt, zweitens: Für Deutsch- Dann der Impfstoff gegen Gebärmutter- 30 lands Gentechnikfirmen hat ein Wettlauf 2003 2004 halskrebs: Exitus wegen mangelnder Wirk- 25 gegen die Zeit begonnen. Die Gelder vom samkeit. JFMAMJJASONDJF Börsengang sind schon weg oder bald Wie eine EKG-Kurve sah der Aktien- Biotech-Aktienkurse in Euro 18 verbraucht, neue Finanzierungsrunden ak- kurs des Unternehmens viele Monate lang tuell nicht drin, weder an den Finanz- aus. Zum Schluss wurde die Kurve gefähr- 14 märkten noch bei den inzwischen höchst lich flach. Bis im Sommer vergangenen vorsichtigen Risikokapitalinvestoren. Wer Jahres die Hoffnung auf Leuprogel den 10 demnächst keinen Umsatz bringt, kann die Kurs nach oben trieb, im vergangenen De- Tage bis zum Untergang zählen – so wie zember erhielt das Mittel gegen Prostata- 6 gerade erst Krupp-Nachfahre Friedrich von krebs dann tatsächlich die Zulassung: Me- Bohlen und Halbach, der seine Firma Lion digene ist damit die erste von 360 deut- 2 Bioscience zur „SAP der Biotechnologie“ schen Biotech-Firmen, die demnächst ein 2003 2004 machen wollte und kurz vor Weihnachten Medikament in Apotheken verkaufen darf. 9 gescheitert abgetreten ist. Ein Durchbruch – auch für die gesamte Ohne Strategiewechsel geht es nicht, das Branche? Kehren sie schon zurück, die 7 hat auch Seizinger erkannt. Der Chef von goldenen Zeiten, als die drei, vier Vor- GPC hat 20 Prozent seiner 200 Mitarbeiter zeigeunternehmen der Zunft an den Fi- 5 entlassen, breit angelegte Forschungs- nanzmärkten zusammen mehrere hundert vorhaben zusammengestrichen und seine Millionen Euro kassierten und dafür dem 3 Kräfte vor allem auf Satraplatin konzen- 2003 2004 begeisterten Publikum die schönsten Zau- 2 triert. Die Pille gegen fortgeschrittenen bermittel versprachen? JFMAMJJASONDJF Prostatakrebs ist derzeit bei Tests der letz-

100 der spiegel 9/2004 WirtschaftWirtschaft ten klinischen Phase im Einsatz; mehrere Medigene und GPC sind deshalb sympto- Bis 2007 will Schneider-Mergener das hundert schwer kranke Patienten, deren matisch für den Zustand der deutschen Mittel zur Marktreife gebracht haben. 15 Lebenserwartung bei nur noch ein bis zwei Biotechnologie. Die Branche ist ein Spät- Millionen Euro soll die Arbeit daran bis Jahren liegt, schlucken versuchsweise die starter. Erst 1993, als andernorts die Gen- dahin kosten – verglichen mit den sonst Tabletten von GPC. technik längst florierte, ging es auch in üblichen Entwicklungskosten wäre das ein Er wolle die „tödliche Krankheit in ei- Deutschland los; vor allem in Martins- Schnäppchen. ne chronische verwandeln“, sagt Seizin- ried bei München, wo Ernst-Ludwig Win- Alexander Olek entschied sich von An- ger. Der geschäftstüchtige Professor kann nacker, der Präsident der Deutschen For- fang an gegen das Medikamentengeschäft. den Markt für moderne Krebsmittel ana- schungsgemeinschaft (DFG), mit Staats- „Pharmaforschung ist wie Roulettespie- lysieren, als handele es sich um eine geldern ein Gründerzentrum etablierte und len“, sagt er. Der Sohn eines Bonner Ge- neue Generation von Computerspielen; als Gesellschafter von Medigene selbst ein netikprofessors konzentrierte sich statt- Marktpotenzial, Absatzwege und Image Unternehmen mit aufbaute. dessen auf die Diagnostik. „Das ist billiger inklusive. Wie sehr die nationale Branche hinter- und effizienter“, sagt er: Die teuren klini- „Früher wurden Atombomben einge- herhinkt, zeigt bereits der innereuropäi- schen Tests am Patienten entfallen. Und setzt“, erklärt er den Kampf gegen die Tu- sche Vergleich. Fast 200 Mittel befinden weil eine verbesserte Früherkennung von moren, „jetzt bauen wir Präzisionswaffen.“ sich derzeit, laut Angaben der Deutschen Krankheiten die Therapie erleichtert, gibt Das Positive am Krebs, rein geschäftlich Industrievereinigung Biotechnologie, al- es eine entsprechend große Nachfrage auf gesehen: Die Zulassungshürden für neue lein in Großbritannien in der klinischen dem Gesundheitsmarkt. Medikamente sind niedri- Sein Berliner Unterneh- ger, sie dürfen relativ früh men Epigenomics hat Dia- am Menschen erprobt wer- gnoseverfahren entwickelt, den. Klinische Tests an mit denen Darmkrebs in 1000 Schwerkranken können sehr frühen Stadien mit genügen, um ausreichend einer einfachen Blutprobe Daten über Wirksamkeit nachgewiesen werden kann. und Nebenwirkungen zu ge- Von 2006 an soll das Produkt winnen. „Schließlich ist de- verfügbar sein; später soll ren Alternative der Tod“, es auch bei anderen Krebs- sagt Seizinger. Bei harmlo- arten eingesetzt werden. seren Mitteln etwa zum Blut- Die Entdeckung hat für drucksenken dagegen ver- gewaltiges Aufsehen gesorgt. langen die Behörden Tests „Riesenfortschritt in der an vielleicht 100000 Patien- Früherkennung von Krebs“, ten. So etwas können nur jubelte soeben das Forscher- große Pharmakonzerne fi- heft „Spektrum der Wissen- nanzieren. schaft“. Das US-Magazin Es ist dieser vergleichs- „Time“ zählt Epigenomics weise geringe Aufwand bei zu den „50 hottest tech klinischen Tests, der Krebs firms“ in Europa.

gerade für die kleinen Bio- MICHALKE NORBERT Oleks Strategie hat sich tech-Unternehmen interes- Epigenomics-Gründer Olek: „Pharmaforschung ist wie Roulettespielen“ auch finanziell gelohnt. Ob- sant macht. Sein Medika- wohl Investoren von Risiko- ment Satraplatin sieht Seizinger deshalb Erprobung, selbst in der Schweiz sind es kapital die Branche seit dem Börsencrash nur als „Trojanisches Pferd“, um den Ein- 79. Deutschland kommt auf 15. meiden, konnte Epigenomics im vorigen tritt in den Onkologiemarkt zu schaffen. Und so weit schaffen es die wenigsten. April bei einer dritten Finanzierungsrunde Danach, so stellt er sich das vor, kommen Die meisten werden ausgebremst, sobald über 20 Millionen Euro einnehmen. Außer- die anderen dran, zum Beispiel Lungen- sie ihren im Labor viel versprechenden dem hat der Biochemiker mit Roche eine krebs oder Leukämie, wo er böse Zellen „in Wirkstoff erstmals an Patientengruppen sehr weit reichende Allianz geschlossen. den kontrollierten Selbstmord treiben“ will. testen. Mal sind die Nebenwirkungen zu Wenn es in der Entwicklung keine Rück- Um überhaupt so weit zu kommen, ha- hoch, mal ist der Effekt zu gering. schläge gibt, will der Schweizer Pharma- ben Seizinger und seine Konkurrenten Auf ein seltenes Erbleiden hat deshalb konzern über 100 Millionen Euro in die ihr Geschäftsmodell geändert – ihre aus- Jens Schneider-Mergener gesetzt. „Ni- Epigenomics-Forschung investieren – Ro- sichtsreichsten Wirkstoffe haben sie nicht schenmärkte sind für die großen Konzerne che erwartet im Erfolgsfall einen Milliar- selbst entwickelt, sondern auf dem US- nicht interessant“, sagt er. denmarkt für neue Diagnoseverfahren. Markt gekauft. Die weltweiten Rechte an Schneider-Mergener begann seine For- Und weil’s so gut läuft, ist auch die Epige- Satraplatin zum Beispiel hat Seizinger nur schungen 1989 mit zwei Computern und nomics-Aktie schon geplant. „Wir sind bör- durch einen Zufall bekommen: Ein US- ohne Risikokapital an der Berliner Uni- senfähig“, sagt Olek. Der Zeitpunkt des Wettbewerber war mit seiner Alzheimer- klinik Charité. Seine später gegründete Börsengangs ist allerdings noch offen. Forschung in Finanznot geraten und muss- Firma Jerini finanzierte sich lange Zeit Der 34-jährige Existenzgründer hat der- te Satraplatin verkaufen. Ein GPC-Mann über Forschungsaufträge für Pharmaunter- zeit die Rolle des Optimisten übernom- hatte das auf einer Party in Princeton er- nehmen. men, nicht nur für sein Unternehmen, fahren. Im Oktober 2002 kauften die Deut- Erst 1999 baute er eine eigene Medika- sondern für die ganze Branche. schen die Rechte an dem Wirkstoff. mentenentwicklung auf: „Icatibant“ soll „Deutschland ist ein hoch qualifiziertes Medigene machte es genauso und er- Angioödem-Patienten helfen. Die ange- Niedriglohnland“, sagt Olek. Die Perso- warb die Rechte für Leuprogel, das vor borene Krankheit löst Attacken aus, bei nalkosten für gut ausgebildete Forscher sei- kurzem in Eligard umbenannt wurde, im denen zum Beispiel Arme, Beine oder das en halb so hoch wie in den Vereinigten April 2001. „Wir haben nachgewiesen, dass Gesicht schubartig anschwellen; sie kann Staaten. Eigentlich, sagt er, „müssten in wir den Zulassungsprozess beherrschen“, tödlich sein, wenn auch die Atemwege unserer Branche alle in Deutschland in- lobt Heinrich die Leistung seiner Firma. betroffen sind. vestieren.“ Frank Hornig

102 der spiegel 9/2004 Panorama

SRI LANKA Rivalen in der Sackgasse nfang Februar hatte Präsidentin Chandrika AKumaratunga das Parlament aufgelöst und da- mit den Weg für vorgezogene Neuwahlen am 2. April geebnet. Die Einschreibungsfrist für alle Kandidaten läuft schon am 24. Februar ab, und viele Bewerber müssen unter Zeitdruck neue Kre- dite für ihren Wahlkampf auftreiben, obwohl sie bei den Banken noch Schulden aus den letzten Kam-

pagnen haben. Die Abstimmung, bei der die Prä- / AFP SENA VIDANAGAMA sidentin Premierminister Ranil Wickremesinghe Präsidentin Kumaratunga ausbooten will, ist bereits der dritte Urnengang in vier Jahren. Die beiden sind zerstritten über den Umgang mit gebnis. Keiner Seite wird eine sichere Mehrheit vorausgesagt. den Befreiungstigern von Tamil Eelam (LTTE), die nach zwei Wenn die Verhältnisse jedoch instabil bleiben, stehen auch wei- Jahrzehnten Bürgerkrieg und einem mittlerweile zweijährigen tere internationale Hilfsmittel in Frage. Eine Geberkonferenz Waffenstillstand etwa ein Drit- vergangenen Juni in Tokio machte die zugesagten 4,5 Milliar- 50 km Haupt- tel des Landes kontrollieren. den Dollar vom Friedensprozess abhängig. Der steckt zurzeit siedlungsgebiet der Tamilen Mit dieser wohl erfolgreichs- in der Sackgasse – und der Bevölkerung droht ein harter Spar- INDIEN ten Separatistenorganisation kurs. Wickremesinghe hat bereits zu unpopulären Maßnahmen der Welt verhandelt der Pre- gegriffen. Im Januar wurden der Kündigungsschutz gelockert mier bisher in konziliantem und Abfindungen gesenkt. 80000 Angestellte von Kranken- Ton, zumal die Regierung die häusern legten ihre Arbeit nieder, weil die Gehälter unregel- LTTE militärisch nie in die mäßig gezahlt wurden. Bauern protestierten gegen Subven- Schranken weisen konnte. Die tionskürzungen, die den Preis für Düngemittel um 70 Prozent SRI Präsidentin fordert hingegen hochtrieben. Gewerkschaften organisierten Hungerstreiks. Aus LANKA einen unnachgiebigeren Kurs, Angst vor einem Massenausstand verkündete die Regierung damit die Tropeninsel nicht allerdings eine Anhebung des Lohnniveaus. Einen Generalplan geteilt bleibt. Ob das nötige zur Bewältigung der Wirtschaftsprobleme hat der Premier eben- INDIEN Colombo Geld für die Wahlen (etwa so wenig wie die Präsidentin. Die verspricht nur, bei einem neun Millionen Dollar) aufge- Wahlsieg „ausländische Investitionen zu maximieren“. Doch um trieben werden kann ist ähn- fremdes Kapital anzulocken, muss der Standort möglichst bil- Sri Lanka lich ungewiss wie deren Er- lig sein – weitere soziale Einschnitte wären vorprogrammiert.

ÖSTERREICH führt wird, nicht nur wesentlich mehr Geld kassiert hat – Winkler Grassers hatte auch ungeprüft überteuerte Honorarforderungen von „Freun- Freunderlwirtschaft derln“ des Ministers aus dessen Schultagen in Klagenfurt begli- n der Affäre um die von Österreichs chen. Erschwerend kam vorige IIndustriellenvereinigung finanzierte Woche ein Eingeständnis von Homepage des Finanzministers Karl- Grassers Vater hinzu: Der hatte, Heinz Grasser, 35, rücken nun auch bevor Winkler die Aufträge für erstmals Politiker der konservativen Re- die Homepage des Vereins und gierungspartei ÖVP von Kanzler Wolf- die offizielle Seite des Ministe- gang Schüssels Lieblingsminister ab. Bei riums bei der Firma FirstInEx in den bevorstehenden Landtagswahlen Homepage von Finanzminister Grasser Auftrag gab, Aktien des Unter- und dem Entscheid um das Amt des nehmens in Höhe von 64000 Euro Bundespräsidenten im April könne der „nichts zu tun“ habe, die aber vor allem erworben. ÖVP-Politiker befürworten Bürger wegen Grassers undurchsichti- seine Fotos präsentierte, mit 174415 nun die bereits angekündigte Prüfung gem Finanzgebaren womöglich die Euro von der Industrie gesponsert wur- der Angelegenheit durch den Rech- „positive Arbeit der Regierung verges- de. Monat für Monat verstrickte sich nungshof. Insider glauben, dass Winkler sen“, fürchtet ÖVP-Fraktionschef Wil- Grasser in immer unglaubwürdigere Er- demnächst geschasst wird. Auch Gras- helm Molterer. Im Juni 2003 hatte Gras- klärungen. Vorvergangene Woche muss- ser sei für den auf die EU-Kommissions- ser zugegeben, dass die Homepage des te er zugeben, dass der Verein, der von präsidentschaft spekulierenden Schüssel Vereins für New Economy, mit der er seinem Büroleiter Matthias Winkler ge- kaum noch zu halten.

104 der spiegel 9/2004 Ausland

POLEN Auch Miller halbiert sich er Minderheitsregierung von Pre- Dmier Leszek Miller droht das Aus. 90 Prozent der Polen sind Umfragen zu- folge mit dem Kabinett unzufrieden. Der seit knapp zweieinhalb Jahren am- tierenden Regierung gelang es weder, die Arbeitslosigkeit von fast 20 Prozent

zu senken, noch wichtige Reformen auf / LAIF HOOGTE / HOLLANDSE ROB HUIBERS den Weg zu bringen. Fast jede Woche Asylantenheim in Woudrichem werden neue Korruptionsaffären von Politikern der postkommunistischen Re- NIEDERLANDE liche Mehrheit in der Zweiten Kammer gierungspartei SLD bekannt. Jetzt muss des Parlaments weiß sich mit der Mehr- Miller auch noch drastische Sparmaß- Pim Fortuyns Erbe heit der Niederländer einig. Die regie- nahmen durchsetzen – die öffentliche rungsamtliche Prognose, dass in den Verschuldung würde sonst auf etwa 60 chluss mit liberal. Die niederländi- größten Städten bereits 2010 mehr Mus- Prozent des Bruttoinlandsprodukts stei- Ssche Regierung aus Christdemokra- lime als Christen leben werden, hat zu gen und die Stabilität des Zloty gefähr- ten und Rechtsliberalen will alle Asyl- massiven Überfremdungsängsten ge- den. Die Opposition könnte den Plan bewerber ausweisen, deren Anträge führt. Die Verschärfung des Asylrechts blockieren und Neuwahlen erzwingen, rechtskräftig abgewiesen wurden. Nur ist das Erbe des im Mai 2002 ermorde- doch davor schreckt sie bisher zurück. in Härtefällen soll ein begrenztes Blei- ten Rechtspopulisten Pim Fortuyn. Mi- So hält die liberal-konservative „Bür- berecht gewährt werden. Betroffen sind nisterpräsident Jan Peter Balkenende gerplattform“ (PO) zwar schnelle Spar- 26000 Ausländer, die vor April 2001 ein- und seine Reformer wehren sich aber beschlüsse für notwendig, schmerzhafte gereist sind, unter ihnen auch 700, ge- gegen den Vorwurf, sie betrieben eine gen die wegen Verwicklung in Kriegs- „unmenschliche Politik“. Die Regierung verbrechen ermittelt wird. Sie alle sol- habe sich bloß dem europäischen Trend len in Sammellager kommen, die Wi- angepasst. Holland sei jetzt ein ganz derspenstigen sogar in Haft. Die bürger- normales Asylland.

IRAN registriert worden war, kursierte die Vermutung, Erdstöße hätten die Wag- Verhängnisvolle Fracht gons in Bewegung versetzt. Das wurde allerdings auch angezweifelt; eher sei- aum zwei Monate nach dem Beben en die seismografischen Ausschläge

EASTWAY Kvon Bam im Südosten ist die Isla- Folge der Detonationen gewesen. Ein Ministerpräsident Miller mische Republik von einer zweiten Großteil der Waggons transportierte Katastrophe heimgesucht worden. Bei Gefahrgut, 17 von ihnen Schwefel. Einschnitte überlässt PO-Spitzenmann einem der größten Unglücke in der Ge- 6 Kesselwagen waren mit Petroleum Jan Maria Rokita, der schon als kom- schichte des Schienenverkehrs starben gefüllt, und 7 enthielten Düngemittel. mender Premier gehandelt wird, aber am vergangenen Mittwoch in der Pro- 10 Waggons Baumwolle gaben den lieber der SLD – um später unbelastet vinz Chorasan über 290 Menschen. Flammen zusätzlich Zunder. Die meis- die Macht übernehmen zu können. Hunderte wurden mit zum Teil schwers- ten Opfer waren Rettungskräfte und Einstweilen ist unklar, ob nach Neuwah- ten Verbrennungen aus einem Flam- Feuerwehrleute, die bei der Brand- len überhaupt eine stabile Regierungs- menmeer geborgen. Anhaltende Deto- bekämpfung von den Explosionen über- mehrheit zu Stande käme. Die PO er- nationen, die selbst in der 75 Kilometer rascht wurden. reicht derzeit bis zu 31 Prozent Zustim- entfernten Regionalmetropole mung, die rechts-konservative Partei Maschhad zu hören waren, ließen „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) 13 Pro- Scheiben im Umkreis von 10 zent. Bisher konnten sich PO und PiS Kilometern bersten. Fünf Dörfer nicht auf ein gemeinsames Programm wurden verwüstet. Unfallursache für die SLD-Nachfolge einigen. Zudem waren 51 Güterwaggons, die sich möchten sie nicht mit den EU-Gegnern nahe der Stadt Nischapur, 650 Ki- der „Selbstverteidigung“ (23 Prozent) lometer östlich von Teheran, des unberechenbaren Populisten An- selbständig gemacht hatten. Sie drzej Lepper zusammenarbeiten. Auch rollten bis zur nächsten Station, in seiner Partei wird die Kritik an Miller entgleisten dort und fingen Feu- immer lauter. Vergangene Woche kün- er. Erst nach fünf Stunden Lösch- digte er deshalb an, im März den Partei- arbeit kam es zu den verheeren-

vorsitz der SLD abzugeben und sich den Explosionen. Da in der Re- / E-LANCE MEDIA REUTERS nur noch den Regierungsgeschäften zu gion ein Beben der Stärke 3,6 Brennende Waggons nahe Nischapur widmen.

der spiegel 9/2004 105 Ausland

IRAK Die Bataillone des Ajatollah Ein Schiitenführer provoziert die Weltmacht USA: Der Rechtsgelehrte Ali al-Sistani droht den Besatzern und klagt das Recht auf freie Wahlen ein – seine Anhänger würden damit zur stärksten Kraft. Doch einen zweiten Gottesstaat am Golf will Washington nicht zulassen.

in unscheinbarer Ort: Kurz vor dem hatte die Nachricht in Marsch gesetzt, Sis- mobilisieren kann – fast 100000 von ihnen Heiligtum von Ali Ibn Abi Talib, dem tani werde seinen Gläubigen mit einer strömten Mitte Januar zu einer Demon- ESchwiegersohn des Propheten, geht „Fatwa“, einem Rechtsgutachten, verbie- stration nach Bagdad, der größten Kund- es aus dem Gewühl der Hauptstraße hin- ten, die von den USA geplante Über- gebung seit dem Sturz Saddams. Nun droht ein ins Häuserdickicht der Pilgerstadt Na- gangsregierung zu unterstützen. Auch er ein Showdown mit der US-Besatzungs- dschaf. Durch eine fünf Fuß breite Gasse, wurde in den Empfangsraum geführt und macht, sollte Sistani wirklich bereit sein, ei- vorbei an mehreren Wachposten mit rus- zum Tee gebeten, als Gesprächspartner al- nen Volksaufstand zu entfesseln, um das sischen Kalaschnikows, führt der Weg ein lerdings erschien Sistanis ältester Sohn Mo- von den Amerikanern erdachte Gerüst ei- paar Stufen hinunter zu einem engen hammed al-Husseini. Der Alte blieb, nur ner politischen Nachkriegsordnung zwi- Durchgang. durch eine dünne Wand getrennt, im Nach- schen Euphrat und Tigris zum Einsturz zu Dahinter öffnet sich der Empfangssaal barzimmer – er mache sich nicht mit dem bringen. eines geräumigen Anwesens: Die Wände Vertreter einer ausländischen Besatzungs- Trotz der Versicherungen von US-Präsi- sind mit grob gezimmerten Bänken zuge- macht gemein, streuten anschließend seine dent George W. Bush und seiner Vertreter stellt, Sitzkissen liegen darauf, ein weißes Getreuen. in Bagdad, dass „die Demokratie im Irak Telefon steht auf einem Tischchen in der Die Ohrfeige für den Statthalter alar- auf dem Vormarsch“ sei, würde die durch Mitte. Mehr nicht. mierte Washington: In gut vier Monaten Selbstmordattentate und Feuerüberfälle In diesem glanzlosen Raum, 160 Kilo- will die US-Regierung die Macht an iraki- verunsicherte Nation dann wohl endgültig meter südlich von Bagdad, wird derzeit sche Politiker übergeben; freie Wahlen al- ins Chaos abdriften. Geschichte gemacht. Hinter den weiß lerdings sind nach diesem Fahrplan frühes- Der eher schmächtige Greis mit dem getünchten Mauern residiert Großajatollah tens im nächsten Jahr vorgesehen; genau schwarzen Turban eines Nachkommen Mo- Ali al-Sistani, 73, der wichtigste Führer der deswegen stellt sich Sistani quer. Und mit hammeds hatte mit zielstrebiger Hart- schiitischen Geistlichkeit. Das heimliche ihm viele seiner Glaubensbrüder – der An- näckigkeit 30 Jahre lang die komplizierte Staatsoberhaupt im Zweistromland, sagen teil der Schiiten unter den 23 Millionen Sprossenleiter schiitisch-islamischer Ge- seine Verehrer; der irakische Chomeini, Einwohnern des Landes wird auf 60 Pro- lehrsamkeit erklommen. die weniger Wohlmeinenden. Die Imame zent geschätzt. Die einst von Diktator Sad- Geboren in Iran als Sohn eines berühm- der Schiitenregion holen bei dem Rechts- dam Hussein unterdrückte Mehrheit will ten Kleriker-Clans, zog seine Familie An- gelehrten ebenso Rat wie die Mitglieder Wahlen so schnell wie möglich und so die fang der fünfziger Jahre nach Nadschaf. des von den USA eingesetzten Regie- historische Chance nutzen, endlich ihre Dort fiel der Student bald durch Fleiß und rungsrats in Bagdad. Selbst Führer des au- Ansprüche durchzusetzen. Scharfsinn auf. In den rauen Zeiten der tonomen Kurdenlandes im Norden, die ei- Der einflussreiche Gottesgelehrte hat Saddam-Herrschaft erkannte Sistani schon gentlich wenig mit den Schiiten verbindet, längst bewiesen, dass er seine Anhänger früh, dass jegliche Einmischung ins politi- sprechen hier gelegentlich vor. sche Tagesgeschäft oder gar offene Kritik Paul Bremer war jüngst ebenfalls in Na- * In Begleitung des Schiitenpolitikers Ijad Alawi (2. v. r.) an der brutalen Unterdrückung durch das dschaf. Den amerikanischen Zivilverwalter am 9. Oktober 2003. Baath-Regime seiner frommen Karriere ab-

Sprengstoffanschlag in Iskandarija, US-Zivilverwalter Bremer (2. v. l.) in Bagdad*: Veto gegen die Scharia AHMAD AL-RUBAYE / AFP AL-RUBAYE AHMAD Als er es wagte, den Wunsch Saddams zu ignorieren, das weltweit isolierte Re- gime durch einen Appell an die Gläubigen aufzuwerten, wanderte er für kurze Zeit ins Gefängnis. Später durfte Sistani nur noch unter Hausarrest seine frommen Stu- dien fortführen. Erst mit dem Einmarsch der Amerikaner und Briten am 20. März vergangenen Jah- res verwandelte sich der bis dahin weltfer- ne Gelehrte zum politisch handelnden Re- ligionsführer: Sistani ließ in Predigten Kri- tik an Saddam-Funktionären einfließen, die an Heftigkeit zunahm, je weiter die US- Panzer nach Norden rollten. Freilich wei- gert sich Sistani bis heute, die ungläubi- gen Soldaten aus Übersee „Befreier“ zu nennen. Für ihn sind es schlicht „Besat- zer“, die das Land möglichst schnell ver- lassen sollten. Als der angeschlagene Saddam Hussein den Geistlichen bat, er möge mit einer Fat- wa die Iraker zum Kampf gegen die US-In- vasoren des Vaterlandes aufrufen, konnte es sich der Großajatollah leisten, den Hil- feruf des Diktators abzulehnen. Mit einem Schlag war er damit zur zentralen Figur auf dem Schachbrett irakischer Politik auf- gerückt – und macht seither fast täglich Schlagzeilen. Dass er gleichzeitig immer wieder ein- fließen lässt, schiitische Würdenträger soll- ten sich „aus der Politik heraushalten“, entspringt eher taktischem Kalkül: Ganz offensichtlich hat der Ajatollah längst Ge- schmack an seinem plötzlichen Einfluss ge- funden. Nicht ohne Chuzpe beharrt der musli- mische Rechtsgelehrte auf dem urdemo- kratischen Prinzip „jeder Bürger eine Stim- me“ und lehnt das von den USA zunächst vorgesehene indirekte Wahlmännersys- tem ab. Dem Uno-Sonderbevollmächtigten Lach- dar Brahimi gestand er nur äußerst wider- willig zu, die Souveränitätsrechte, die der amerikanischen Besatzungsmacht von der

AHMAD AL-RUBAYE / AFP AL-RUBAYE AHMAD Uno bis zum 30. Juni genehmigt worden Kundgebung von Sistani-Anhängern in Bagdad: Großer Brocken für Amerikas Kehle waren, noch einer „Übergangsinstanz“ zu übertragen, aber nicht etwa einer von den träglich wäre. Stattdessen, so ein schiiti- USA geforderten „provisorischen Regie- scher Glaubensbruder, verfasste Sistani rung“ – und auch diese Regelung soll nur „fast unbehelligt von der physischen und für einen „zeitlich eng begrenzten Zeit- psychischen Not seiner Gelehrtenkollegen“ raum“ gelten. „Solange die Besatzer hier religiöse Traktate und unverfängliche Kom- sind, werden wir nicht mit ihnen zusam- mentare zu den Werken illustrer Koran- menarbeiten“, lautet die unnachgiebige Experten – auf 33 dickleibige Folianten Weisung des Ajatollah. sind die gesammelten Werke der weißbär- Zwar verspricht Sistani allen ethnischen tigen Eminenz angewachsen. und religiösen Minderheiten des Irak an- Zu Beginn der achtziger Jahre, die mör- gemessenen Schutz, doch unbeirrt beharrt derische Konfrontation zwischen dem Irak er auf einem Rechtssystem, das auf der und Iran um die Vorherrschaft am Golf Scharia fußt: „Die meisten Iraker sind nun tobte noch, erhielt Sistani die Würde eines einmal Muslime.“ „Ajatollah Usma“ („Großajatollah“), die Zivilverwalter Bremer brachte Sistanis höchste Auszeichnung, die einem schiiti- Hartnäckigkeit dermaßen auf, dass er ver- schen Geistlichen angetragen werden kann. gangene Woche auf alle diplomatischen Dennoch kam auch der neue Vorzeige- Höflichkeiten verzichtete. Für den Fall, Würdenträger nicht ganz ungeschoren dass die künftige irakische Verfassung die

AP davon. islamische Rechtsordnung als Grundlage

der spiegel 9/2004 107 festschreiben sollte, kündigte er sein Veto an: Die Verfassung werde „nur in Kraft treten, wenn ich sie unterzeichne“. Eine Kraftprobe mit dem Chef-Kleriker scheint er jedoch zu scheuen: Mitte der Woche deutete sich an, dass die Amerikaner auf eine Übergangsregierung verzichten könn- ten, wenn stattdessen die Kompetenz des bestehenden Regierungsrats bis zur Wahl verlängert würde. Da mochte auch Sistani den Konflikt nicht weiter eskalieren und stellte seine Bedingungen für einen Aufschub des Ur- nengangs (siehe Interview). „Wir setzen auf eine friedliche Lösung der Proble- me“, beteuert der Großajatollah, „so wie Mahatma Gandhi.“ Doch während er einstweilen noch ge- waltlosen Widerstand predigt, rüsten seine Anhänger bereits landesweit zum Kampf gegen die Besatzer: In den Niederlas- sungen seiner einflussreichen Hausa, der größten schiitischen Akademie im Irak, lagern Tausende von frisch gedruckten Postern. Weil die USA freie Wahlen verzögerten, erklärt Sistani auf den großformatigen An- schlägen, gebe er den ihm „vom Volke an- vertrauten Auftrag“ für eine politische Lö- sung des schwierigen Übergangs zur iraki- schen Souveränität „ans Volk zurück“ – eine wenig verhüllte Drohung an die ame- rikanische Weltmacht. Seine Vertrauten se- hen in dieser Formulierung die Aufforde- rung zur Intifada. Auch der Großajatollah steht unter Druck. Seine bislang unangefochtene Au- torität könnte bröckeln, wenn Sistani nicht bald seinen Einfluss geltend macht. Radi- kale Prediger wie der junge Konkurrent Muktada al-Sadr warten nur darauf, dem gemäßigten Rechtsgelehrten den Rang als Interessenvertreter aller Schiiten streitig zu machen. Vor Sistanis Haus in Nadschaf sind die einst wortreichen Parolen des Ajatollah deshalb längst auf knappe Losungen ver- kürzt: „Keine Wahl bedeutet, den Terror zu belohnen“, steht auf einem Transpa- rent. „Eine Verfassung, die nicht vom Volk erlassen wurde, ist abzulehnen“, prokla- miert Sistani auf einem anderen Plakat, von dem das hagere Gesicht mit der stren- gen Furche zwischen den Augenbrauen auf das Volk herunterblickt. Den neuen Rigorismus des religiösen Führers feiern seine Anhänger als Aus- druck von Prinzipientreue und politischer Standfestigkeit. Der „irakische Brocken ist sehr viel größer als die amerikanische Keh- le“, warnt etwa Abd al-Hakim al-Aradschi, ein Schriftsteller aus Nadschaf. „Wir Iraker werden uns nicht zum zwei- ten Mal von einer Schlange beißen lassen“, glaubt der angesehene Intellektuelle. Wenn die USA noch immer nicht verstanden hät- ten, was im Irak vor sich gehe, würden sie „hier sehr viel verlieren“. Christian Neef, Volkhard Windfuhr

108 der spiegel 9/2004 Ausland

ten – immerhin ist es bereits zu Übergrif- fen gekommen. Sistani: Die politisch und gesellschaftlich „Wir bestehen auf relevanten Kräfte, also fast das ganze Volk, erkennen solche Gefahren sehr wohl. Aber, Gott sei gepriesen, es hat in den ver- freien Wahlen“ gangenen Monaten nur eine verschwin- dend geringe Anzahl von Zwischenfällen gegeben, und alle haben sich bemüht, die Großajatollah Ali al-Sistani über Pluralismus im künftigen Irak, die negativen Auswirkungen einzudämmen. Bedingungen für einen Aufschub des Urnengangs und die Rolle Außerdem werden Polizei und Gerichte derartige Vorfälle unterbinden, sobald sie der Uno bei der Rückgabe der Souveränität an irakische Politiker dazu in der Lage sind. SPIEGEL: Wird der Irak von SPIEGEL: Den Despoten Saddam Hussein morgen ein islamischer haben die Geschichte und die Amerikaner Staat sein, in dem die Be- hinweggefegt, doch der Irak kommt nicht völkerungsmehrheit der zur Ruhe. Welche Gefahren drohen? Schiiten das Sagen hat? Sistani: Der Sturz der Diktatur hätte nicht Sistani: Keineswegs. Selbst durch eine Invasion erfolgen dürfen. Die wenn eine Volksgruppe die anschließende Besetzung unseres Landes zahlenmäßige Mehrheit bil- brachte eine ganze Serie von Katastrophen det, heißt das noch lange mit sich und führte zum Zusammenbruch nicht, dass diese Gruppe des irakischen Staats. Die öffentliche Si- auch die politisch beherr- cherheit existiert nicht mehr, die Krimina- schende Mehrheit darstellt. lität hat enorm zugenommen, viele öffent- Wir gehen davon aus, dass liche Gebäude wurden gebrandschatzt und sich in jeder Volksgruppe geplündert. unterschiedliche politische SPIEGEL: Seit dem Krieg ist fast ein Jahr Tendenzen herausbilden vergangen. Von einem Aufbruch in die De- werden. mokratie, den die USA versprochen ha- SPIEGEL: Wird der Irak also ben, ist noch nicht viel zu spüren. Was sind zu einem Staatswesen ohne die dringlichsten Aufgaben? eine übergeordnete politi- Sistani: Wir brauchen endlich eine Regie- sche Idee? rung, die sich um die Belange der Bevöl- Sistani: Gleiche Pflichten kerung kümmert. Und der beste Weg da- und Rechte für alle Staats- hin sind Wahlen. bürger, das ist unsere Richt- SPIEGEL: Sie wollen eine Regierung, die linie. Weil die meisten Ira- aus freien Wahlen hervorgeht, und for- ker aber nun einmal Musli-

dern deshalb einen Urnengang noch vor DPA me sind, werden sie mit der Übernahme der Souveränität durch Großajatollah Sistani in seinem Büro in Nadschaf Sicherheit ein System wäh- die Iraker am 1. Juli. Die Amerikaner, „Eingesetzte Regierungen sind nicht legitim“ len, das die Scharia, das aber auch irakische Politiker halten die islamische Rechtssystem, Zeit dagegen noch nicht für reif. Sie be- ser Gruppen lassen sich deren Rivalitäten respektiert und dennoch die Rechte der fürchten, das Land könne in seine ethni- nur über die Wahlurnen in den Griff be- religiösen Minderheiten schützt. schen und religiösen Bestandteile zer- kommen. SPIEGEL: Es wird also doch einen islami- fallen. SPIEGEL: Daraus könnte aber auch ein dok- schen Staat geben? Sistani: In einem Land wie dem Irak mit trinäres Regime hervorgehen, wovor sich Sistani: Die wichtigsten politischen und so- einer Vielzahl ethnischer und religiö- Christen und andere Minderheiten fürch- zialen Strömungen im Irak verlangen kei- ne religiös gefärbte Regierung. Im Übri- gen vertritt die schiitische Geistlichkeit die Meinung, dass sich Religionsgelehrte weder mit politischen Fragen befassen noch Re- gierungsämter annehmen sollten. SPIEGEL: Unlängst war Lachdar Brahimi in Bagdad, der Irak-Gesandte von Uno-Ge- neralsekretär Kofi Annan. Er war auch bei Ihnen und sollte herausfinden, wann und wie Wahlen im Irak durchgeführt werden können. War sein Besuch ein Erfolg? Sistani: Wir schätzen Brahimi als Men- schen, und wir vertrauen ihm. Wir hatten übrigens von Anfang an gefordert, die Ver- einten Nationen maßgeblich in den poli- tischen Aufbauprozess einzubeziehen. Schließlich waren wir es, die den General- sekretär gebeten haben, er möge prüfen DAVID GUTTENFELDER / AP GUTTENFELDER DAVID Blut-Ritual schiitischer Pilger: „Ein System, das die Scharia respektiert“ Das Interview wurde schriftlich geführt.

der spiegel 9/2004 109 Ausland lassen, auf welchem Weg die Souverä- SPIEGEL: Wie wird es jetzt weitergehen? USA nitätsrechte am besten auf eine irakische Sistani: Wenn die notwendigen Vorberei- Regierung übertragen werden können. tungen für freie Wahlen durch die Verzö- SPIEGEL: Die Amerikaner wollten von einer gerungstaktik der Besatzer nicht vor Ende Praktische Einbeziehung der Vereinten Nationen ur- Juni abgeschlossen werden können, müssen sprünglich wenig wissen. Hat sich das ge- zwei Dinge beachtet werden. Erstens: Die ändert? Wahlvorbereitungen müssen dann inner- Sozialarbeit Sistani: In einem Abkommen zwischen der halb eines kurzen Zeitraums zu Ende ge- Besatzungsmacht und dem provisorischen führt werden – und zwar auf Beschluss des Früher als geplant muss George W. Regierungsrat vom 15. November vergan- Uno-Sicherheitsrats. Dessen Resolution genen Jahres wurde die Uno überhaupt muss klare Garantien enthalten, dass es Bush in den Wahlkampf ziehen. nicht erwähnt. Jetzt ging Generalsekretär keine weitere Verzögerung der Wahlen ge- Doch der Saddam-Bezwinger kann Annan aber auf unsere Forderung ein, was ben wird. Zweitens müssen die Zuständig- peinliche Fragen nach seiner ei- wir für einen großen Sieg halten. keiten, die am 30. Juni zunächst einer nicht genen Militärzeit nicht beantworten. SPIEGEL: Warum wollen Sie die Uno über- gewählten Institution überantwortet wer- haupt am Übergangsprozess beteiligen? den, eng begrenzt sein. Diese Institution chon in den nächsten Tagen möchte Sistani: Die Uno hatte die USA ermäch- darf keine wichtigen politischen Entschei- der amerikanische Präsident ins Fern- tigt, den Irak bis zum 30. Juni 2004 als Be- dungen treffen, die die Zukunft unseres Ssehstudio gehen, um die ersten Wahl- satzungsmacht zu verwalten. Daher ist die Landes festlegen. Solche Entscheidungen kampf-Spots aufzunehmen. George W. Uno jetzt auch verpflichtet, den Übergang sind allein einer Regierung vorbehalten, die Bush wird sich selbst spielen, und deshalb vom Besatzungsregime zur irakischen Sou- aus freien Wahlen hervorgeht. ist es auch kein Wunder, dass die Botschaft veränität genauestens zu überwachen. SPIEGEL: Wie lange würden Sie eine Wahl- lauten soll: Hier ist einer, der tut, was er SPIEGEL: Haben Sie Brahimi von Ihren Vor- verzögerung hinnehmen? sagt, und selbst dann nicht davon abgeht, stellungen überzeugen können? Sistani: Es darf nicht lange dauern. wenn nicht jeder mit ihm übereinstimmt. Die Spots stehen unter dem Leitmotiv: „Beständige Führung in einer Zeit des Wandels.“ So sieht sich Bush, so möchte er gesehen werden, so sehen ihn aber die Amerikaner momentan nicht. Da ist das Desaster im Irak, das sich verschlimmert, anstatt bes- ser zu werden. Tag für Tag sterben US- Soldaten. Tag für Tag ereignen sich schreckliche Anschläge mit vielen Toten, ohne dass die Besatzungsmacht ein Mittel dagegen fände. Zudem lässt sich nicht län- ger leugnen, dass der Grund für den Krieg gegen Saddam an den Haaren herbeige- zogen war. Und nebenbei gibt es diese unschöne Diskussion, wo sich denn der Leutnant Bush damals vor 30 Jahren wirklich her- umgetrieben hat, als er das Vaterland bei der Nationalgarde verteidigen sollte. Eigentlich wollte sich Bush so lange wie möglich aus den Niederungen des Wahl- kampfs heraushalten. Für einen Präsi- denten eröffnen sich jede Menge Gele-

AFP genheiten, staatsmännisch aufzutreten, Uno-Emissär Brahimi, Journalisten: „Großer Sieg“ während sein Gegenspieler um jeden Fun- ken Aufmerksamkeit ringen muss. Doch Sistani: Ich habe in seinen Ideen einige SPIEGEL: Sie drängen auf Tempo. Was pas- die überraschend intensive Kampagne der positive Elemente feststellen können. Lei- siert, wenn sich Ihre Forderungen nicht er- Demokraten zwingt Bush zum Handeln. der blieben noch viele Fragen offen. füllen lassen? Es fügt sich, dass die Kriegskasse des Prä- SPIEGEL: Wird es freie allgemeine Wahlen Sistani: Das wird das irakische Volk ent- sidenten prächtig gefüllt ist: Rund 130 Mil- geben, aus denen dann erst eine irakische scheiden. lionen Dollar sind schon zusammenge- Regierung hervorgeht? SPIEGEL: Ihnen nahe stehende religiöse kommen, 200 Millionen sollen es bis zum Sistani: Auf freien Wahlen bestehen wir Würdenträger und Mitarbeiter behaupten, Sommer sein. auch weiterhin. Sie wollten in diesem Fall die Ihnen vom Das ist ziemlich viel Geld, mit dem sich SPIEGEL: Ist Brahimi Ihnen in diesem Punkt Volk anvertraute Verantwortung wieder an einiges anstellen lässt. Die Fernsehkam- entgegengekommen? das Volk zurückgeben. Was ist darunter zu pagne wird Anfang März anlaufen – just zu Sistani: Ich sagte ja, dass wir nicht alles er- verstehen? dem Zeitpunkt, an dem die Demokraten reicht haben, was wir angestrebt hatten. Sistani: Das Volk, das mir sein Vertrauen nach ihrem zweiten „Super Tuesday“ John SPIEGEL: Es wird also keine Wahlen vor gegeben hat, weiß, wie es sich zu verhal- Kerry zum Präsidentschaftskandidaten aus- Ende Juni geben? Immer häufiger ist jetzt ten hat. rufen dürften. Denn im Jargon der Me- von einer Übergangsregierung die Rede. SPIEGEL: Die Ablehnung Ihrer Forderun- dienstrategen, die Wahlkampf zur Kriegs- Sistani: Auch eine Übergangsregierung darf gen würde also zu einer Intifada, einem wissenschaft erheben, hängt viel davon ab, keine ernannte Institution sein. Eingesetz- Aufstand, führen? den Rivalen möglichst schnell in negatives te Regierungen sind nicht legitim. Sistani: Dazu möchte ich mich nicht äußern. Licht zu tauchen.

110 der spiegel 9/2004 Ausland lassen, auf welchem Weg die Souverä- SPIEGEL: Wie wird es jetzt weitergehen? USA nitätsrechte am besten auf eine irakische Sistani: Wenn die notwendigen Vorberei- Regierung übertragen werden können. tungen für freie Wahlen durch die Verzö- SPIEGEL: Die Amerikaner wollten von einer gerungstaktik der Besatzer nicht vor Ende Praktische Einbeziehung der Vereinten Nationen ur- Juni abgeschlossen werden können, müssen sprünglich wenig wissen. Hat sich das ge- zwei Dinge beachtet werden. Erstens: Die ändert? Wahlvorbereitungen müssen dann inner- Sozialarbeit Sistani: In einem Abkommen zwischen der halb eines kurzen Zeitraums zu Ende ge- Besatzungsmacht und dem provisorischen führt werden – und zwar auf Beschluss des Früher als geplant muss George W. Regierungsrat vom 15. November vergan- Uno-Sicherheitsrats. Dessen Resolution genen Jahres wurde die Uno überhaupt muss klare Garantien enthalten, dass es Bush in den Wahlkampf ziehen. nicht erwähnt. Jetzt ging Generalsekretär keine weitere Verzögerung der Wahlen ge- Doch der Saddam-Bezwinger kann Annan aber auf unsere Forderung ein, was ben wird. Zweitens müssen die Zuständig- peinliche Fragen nach seiner ei- wir für einen großen Sieg halten. keiten, die am 30. Juni zunächst einer nicht genen Militärzeit nicht beantworten. SPIEGEL: Warum wollen Sie die Uno über- gewählten Institution überantwortet wer- haupt am Übergangsprozess beteiligen? den, eng begrenzt sein. Diese Institution chon in den nächsten Tagen möchte Sistani: Die Uno hatte die USA ermäch- darf keine wichtigen politischen Entschei- der amerikanische Präsident ins Fern- tigt, den Irak bis zum 30. Juni 2004 als Be- dungen treffen, die die Zukunft unseres Ssehstudio gehen, um die ersten Wahl- satzungsmacht zu verwalten. Daher ist die Landes festlegen. Solche Entscheidungen kampf-Spots aufzunehmen. George W. Uno jetzt auch verpflichtet, den Übergang sind allein einer Regierung vorbehalten, die Bush wird sich selbst spielen, und deshalb vom Besatzungsregime zur irakischen Sou- aus freien Wahlen hervorgeht. ist es auch kein Wunder, dass die Botschaft veränität genauestens zu überwachen. SPIEGEL: Wie lange würden Sie eine Wahl- lauten soll: Hier ist einer, der tut, was er SPIEGEL: Haben Sie Brahimi von Ihren Vor- verzögerung hinnehmen? sagt, und selbst dann nicht davon abgeht, stellungen überzeugen können? Sistani: Es darf nicht lange dauern. wenn nicht jeder mit ihm übereinstimmt. Die Spots stehen unter dem Leitmotiv: „Beständige Führung in einer Zeit des Wandels.“ So sieht sich Bush, so möchte er gesehen werden, so sehen ihn aber die Amerikaner momentan nicht. Da ist das Desaster im Irak, das sich verschlimmert, anstatt bes- ser zu werden. Tag für Tag sterben US- Soldaten. Tag für Tag ereignen sich schreckliche Anschläge mit vielen Toten, ohne dass die Besatzungsmacht ein Mittel dagegen fände. Zudem lässt sich nicht län- ger leugnen, dass der Grund für den Krieg gegen Saddam an den Haaren herbeige- zogen war. Und nebenbei gibt es diese unschöne Diskussion, wo sich denn der Leutnant Bush damals vor 30 Jahren wirklich her- umgetrieben hat, als er das Vaterland bei der Nationalgarde verteidigen sollte. Eigentlich wollte sich Bush so lange wie möglich aus den Niederungen des Wahl- kampfs heraushalten. Für einen Präsi- denten eröffnen sich jede Menge Gele-

AFP genheiten, staatsmännisch aufzutreten, Uno-Emissär Brahimi, Journalisten: „Großer Sieg“ während sein Gegenspieler um jeden Fun- ken Aufmerksamkeit ringen muss. Doch Sistani: Ich habe in seinen Ideen einige SPIEGEL: Sie drängen auf Tempo. Was pas- die überraschend intensive Kampagne der positive Elemente feststellen können. Lei- siert, wenn sich Ihre Forderungen nicht er- Demokraten zwingt Bush zum Handeln. der blieben noch viele Fragen offen. füllen lassen? Es fügt sich, dass die Kriegskasse des Prä- SPIEGEL: Wird es freie allgemeine Wahlen Sistani: Das wird das irakische Volk ent- sidenten prächtig gefüllt ist: Rund 130 Mil- geben, aus denen dann erst eine irakische scheiden. lionen Dollar sind schon zusammenge- Regierung hervorgeht? SPIEGEL: Ihnen nahe stehende religiöse kommen, 200 Millionen sollen es bis zum Sistani: Auf freien Wahlen bestehen wir Würdenträger und Mitarbeiter behaupten, Sommer sein. auch weiterhin. Sie wollten in diesem Fall die Ihnen vom Das ist ziemlich viel Geld, mit dem sich SPIEGEL: Ist Brahimi Ihnen in diesem Punkt Volk anvertraute Verantwortung wieder an einiges anstellen lässt. Die Fernsehkam- entgegengekommen? das Volk zurückgeben. Was ist darunter zu pagne wird Anfang März anlaufen – just zu Sistani: Ich sagte ja, dass wir nicht alles er- verstehen? dem Zeitpunkt, an dem die Demokraten reicht haben, was wir angestrebt hatten. Sistani: Das Volk, das mir sein Vertrauen nach ihrem zweiten „Super Tuesday“ John SPIEGEL: Es wird also keine Wahlen vor gegeben hat, weiß, wie es sich zu verhal- Kerry zum Präsidentschaftskandidaten aus- Ende Juni geben? Immer häufiger ist jetzt ten hat. rufen dürften. Denn im Jargon der Me- von einer Übergangsregierung die Rede. SPIEGEL: Die Ablehnung Ihrer Forderun- dienstrategen, die Wahlkampf zur Kriegs- Sistani: Auch eine Übergangsregierung darf gen würde also zu einer Intifada, einem wissenschaft erheben, hängt viel davon ab, keine ernannte Institution sein. Eingesetz- Aufstand, führen? den Rivalen möglichst schnell in negatives te Regierungen sind nicht legitim. Sistani: Dazu möchte ich mich nicht äußern. Licht zu tauchen.

110 der spiegel 9/2004 Die Stoßrichtung liegt nahe: Kerry, der „Limousinen-Liberale“, der so reich ist und noch viel reicher geheiratet hat, dass er lasch ist in allen Fragen, auf die es braven Amerikanern ankommt – Religion, Familie, Vaterland. Eine Vorahnung, wie die repu- blikanische Dampfwalze ins Rollen kom- men wird, lieferte das absichtsvoll gestreute Gerücht, Kerry sei ein Verhältnis mit einer Praktikantin eingegangen. Die junge Frau dementierte am vorigen Montag: Weder habe sie für Kerry gearbeitet, noch habe sie eine Affäre mit ihm gehabt. Den Namen des mutmaßlichen Gegen- spielers nimmt der Präsident noch nicht in den Mund. Er spricht vorzugsweise „von einigen in Washington“, die Steuern er- höhen und jetzt im Irak alles besser wissen wollten. Dabei hat Kerry einen überra- schend stetigen Siegeslauf hinter sich. Nach der Vorwahl in Wisconsin vom vergange- nen Dienstag und dem Rückzug des einstigen Spitzenreiters Howard Dean bleibt allein John Edwards ernsthaft im

Rennen der Demokraten. Der wirkt jun- / E-LANCE MEDIA DOWNING / REUTERS LARRY genhaft und versteht es, mit seinem be- Wahlkämpfer Bush beim Truppenbesuch in Louisiana: Fehlzeiten als Nationalgardist schwingten Optimismus das Publikum an- zustecken. Der kühle, kompetente Ostküs- in Amerikas finsterem Krieg, gedient hat, zwischen Mai 1972 und April 1973. Mitt- ten-Patrizier Kerry und der charismatische und überholt den Präsidenten damit gleich- lerweile hat das Weiße Haus Hunderte von Südstaatler Edwards wären eigentlich eine sam von rechts: Das ist kein Demokrat, der Seiten aus Militärakten veröffentlicht, die ideale Kombination für die Wahl am 2. No- sich in gewohnter Weise als unzuverlässi- zwar genauen Aufschluss über die Anzahl vember. ger Patriot ablichten ließe – und er stürzt der Zahnfüllungen geben, aber keine Er- Kerry hat nur die erste Etappe hinter Bush in eine Verlegenheit, die nicht wei- klärung für die Fehlzeiten. sich. Für die Vorwahlen innerhalb der ei- chen will. Wie es der Zufall will, ist soeben ein genen Partei erschloss er Geldquellen, die Kerry studierte bis 1966 in Yale und ging Buch – „American Dynasty“ – erschienen, jedoch langsam versiegen. Deshalb sind gleich nach dem Abschluss zur Marine. das Kevin Phillips geschrieben hat. Er ist seine Akquisiteure schon im Land unter- Bush absolvierte zwei Jahre später sein Ex- ein renommierter Autor und Traditions- wegs, um neue Sponsoren aufzutun. Die amen in Yale und machte dann, was die konservativer, der einst unter Richard Aussichten scheinen nicht schlecht zu sein. meisten Söhne aus besserem Hause mach- Nixon im Weißen Haus gearbeitet hatte. Er Der Film-Mogul Harvey Weinstein bekun- ten: Er drückte sich vor Vietnam und fand erzählt eine Episode aus dem Spätjahr dete seine Vorliebe für den demokratischen Aufnahme in der Nationalgarde, die die 1972, als George W. plötzlich mit Kindern Bewerber. In New York versammelte der Heimat verteidigen soll. Es brauchte ein aus sozial schwierigen Verhältnissen im te- Finanzier Blair Effron geneigte Spender paar Anrufe verschiedener Freunde seines xanischen Houston arbeitet – ein Job, den um sich. In der Wall Street gibt es offenbar Vaters, bis der Sohn auf einer Warteliste ihm sein Vater aufgenötigt hat. genügend Reiche, die sich um das ABB- weit nach oben rückte. Phillips führt eine Erklärung dafür an, Banner scharen – „Anybody But Bush“ Die Ausbildung zum Piloten dauerte ein die lange schon kursiert und nur schwer zu (Irgendeiner, nur nicht Bush). Jahr. In den nächsten vier Jahren musste dementieren ist. Angeblich war Bush we- Ein Notgeld könnte auch Kerrys Ehe- ein Leutnant wie Bush eine Mindestzahl an gen Kokainbesitzes in Haft geraten. Der frau Teresa beisteuern. Sie war zuvor mit Wochenenden zur Verfügung stehen. Doch Deal habe gelautet: Er macht einige Mo- John Heinz III. verheiratet, dem Erben dabei tut sich eine Lücke auf, im Zeitraum nate Sozialarbeit und der Haftgrund wird der Ketchup-Dynastie, der ihr aus den Gerichtsakten getilgt. bei seinem Tode 500 Millionen So ließe sich erklären, weshalb Dollar hinterließ. Doch das der Leutnant Bush weder sei- neue Spendengesetz schränkt nen fliegerischen Pflichten noch direkte Wahlkampfspenden der vorgeschriebenen ärztlichen drastisch ein, und entsprechen- Untersuchung nachkam, was de Schlagzeilen – „Frau Kerry ihm die Nationalgarde akten- kauft Herrn Kerry das Weiße kundig anlastete. Haus“ – wären sowieso ver- Wenn es denn eine Sünde mutlich tödlich. war, ließe sie sich leicht aus der Die Klügeren unter den Bush- Zeit erklären. Aber es herrscht Beratern, wie Karl Rove, den ja Wahlkampf, da gibt es keine der Präsident „mein Genie“ Unschuld. Völlig klar ist deshalb taufte, gehen schon lange davon auch, dass einige Bush-Leute aus, dass auch diese Wahl knapp jetzt schwören, das Kokain- ausfallen wird. Kerry macht die Gerücht sei von den Demokra- Sache allerdings noch schwerer. ten in Umlauf gebracht worden, JOHN KERRY CAMPAIGN JOHN KERRY Er verströmt die Aura des AFP um den Präsidenten in Verruf Kriegshelden, der in Vietnam, GIs Kerry, Bush (Ende der sechziger Jahre): Schatten des Krieges zu bringen. Gerhard Spörl

der spiegel 9/2004 111 Ausland

RUSSLAND Kampf um das schlafende Land Endzeitstimmung im eisigen Osten – Sibirien hat seit dem Ende der Sowjetunion fast zehn Prozent seiner Bevölkerung verloren. Durch die anhaltende Abwanderung gerät Moskaus Herrschaft über die Rohstoffkammer des Riesenreichs in Gefahr. Von Walter Mayr

Landstraße auf der Halbinsel Tschukotka: Wo Amerika zum Greifen nah ist, wird das Sowjetsystem beispielhaft beerdigt

o die Kosaken zum ersten Mal den de Land“, wie die tatarischen Ureinwohner Doch Sibirien ist nicht gesund. Nordpazifik sahen, liegt heute Ana- sagen, ist mit durchschnittlich zwei Men- 2,3 Millionen Einwohner hat das Land Wdyr. Am Ende der russischen Welt. schen pro Quadratkilometer besiedelt. Sie östlich des Ural seit 1989 verloren – die Am nordöstlichen Rand Sibiriens. Dort, wo haben im Überfluss, was anderswo knapp Zahl der Geburten ging zurück, die Le- Amerika schon zum Greifen nah ist. ist: Lebensraum, Wasser und Brennstoff. benserwartung sank, nach dem Zusam- Bis zum Westrand des russischen Reichs Zwischen Ural und Pazifik lagern schät- menbruch der sowjetischen Staatswirt- sind es von hier aus über Land knapp 9000 zungsweise ein Drittel der Weltvorräte an schaft setzte eine Massenabwanderung ein. Kilometer und zehn Zeitzonen. Moskau, Erdgas und ein Zehntel der Erdölreserven; Einzelne Orte sind inzwischen auf Be- die Hauptstadt, ist so weit weg wie Mani- dazu mehr als ein Fünftel der Süßwasser- schluss der Regierung komplett geräumt la. Selbst bis zum Ural, dem Gebirgszug, ressourcen weltweit; zehn Prozent des Wal- worden. der die sibirische Landmasse im Westen des und Gold, Diamanten, Nickel, Platin, Als im Mai 2003 Pläne bekannt werden, begrenzt, müssen 5500 Kilometer Luftlinie Uran. weitere Menschen über den Ural westwärts überwunden werden. „Sibirien wird Russland reich machen“, zu locken, melden sich 800000 Interessier- Sibirien nimmt fast so viel Fläche ein verkündete im 18. Jahrhundert Michail te für die von der Weltbank bezuschussten wie China und Indien zusammen. Doch Lomonossow, der Dichter und Gelehrte. Programme. Vom größten russischen Um- während in den beiden volkreichsten Staa- „Wenn Sibirien gesund ist, ist Russland ge- siedlungsprojekt seit der Stalin-Zeit ist ten Asiens fast zweieinhalb Milliar- sund“, sagt heute Leonid Dratschewski, schon die Rede. Aber auch davon, dass der den Menschen leben, sind es in Sibirien der Generalgouverneur des russischen Prä- Exodus aus dem von Kosaken eroberten, nicht einmal 27 Millionen. Das „schlafen- sidenten für Sibirien. bis zum Hindukusch und zum Pazifik aus-

114 der spiegel 9/2004 gesamte sowjetische Schriftstellerverband, bespöttelt der Exil-Russe Wladimir Kami- ner als Beleg für ein Phänomen, das er „fast krankhaft“ nennt – die deutsche Hin- gabe ans Land östlich des Ural. Wenn Sibirien über die Jahre eine Art „deutsche Seelenlandschaft“ geworden ist, wie das der Historiker Karl Schlögel nennt, so nicht zuletzt dank der Art, wie es in Film und Fernsehen bebildert wird. Das Schicksal des Kriegsgefangenen Clemens Forell, der sich in „So weit die Füße tra- gen“ vom Gulag am Ostkap Richtung Wes- Kosaken-Tanztruppe aus Westsibirien: Sehnsucht nach Weite ten durchschlägt, ist verankert im kollekti- ven Gedächtnis der Älteren. Bildschöne Kamerafahrten durch sibiri- sche Flusslandschaften wiederum, unter- legt mit Klängen russischer Tonkünstler, wecken bei Nachgeborenen Sehnsucht nach Reisen ins eisige, endlose Land. Das von Zeitgeist-Scouts ausgebrütete ZDF- Format „Sternflüstern“ schließlich, in dem deutsche Pioniere auf einer Insel im Baikalsee Schafe schlachten und Eisseg- ler basteln, erreicht die Reality-Show-Ge- neration. Das wirkliche Sibirien, im Jahr vier der Herrschaft Wladimir Putins, ist eher mit den Problemen der eigenen Bevölkerung Ölförderung bei Nischnewartowsk: Zugriff auf die Reserven beschäftigt.

enn Larissa Udalowa mit der Welt WKontakt sucht, geht sie Schlag zehn Uhr morgens auf ihre Standardfrequenz. Das Funkgerät der Bürgermeisterin ist für Kujumba, 3400 Kilometer östlich von Mos- kau inmitten der Taiga gelegen, die Nabel- schnur zur Restwelt. Es gibt kein Telefon im Dorf, keinen Laptop, kein Postamt. Noch in Plastikschlappen und Nike-Trai- ningshose vom morgendlichen Melken, umringt von Jägern, die auf einen Hub- schrauber hoffen, und von Betrunkenen, die sich in der Amtsstube wärmen, spricht die Dorfchefin auf ihr Funkgerät ein wie auf einen störrischen Esel. Doch aus dem Äther dringt Rauschen.

FOTOS: MICHAEL APPELT / AGENTUR ANZENBERGER / AGENTUR MICHAEL APPELT FOTOS: Kujumba, gelegen bei Flusskilometer 625 Jugendliche Disco-Besucher in Tjumen: Warten auf die Neuzeit an der Tunguska, ist nur über Wasser zu er- reichen. Oder mit einem der Mi-8-Hub- gedehnten Herrschaftsbereich Moskaus tenrate zu Buche und eine mittlere Lebens- schrauber, die alle paar Tage wie dicke dramatische Folgen haben könnte. erwartung für Männer von 58,4 Jahren. Hornissen über den Baumwipfeln ein- „Ansprüche auf russisches Territorium“ Russlands staatliche Statistikbehörde schweben. In eine gottverlassene, steif ge- seien nicht mehr auszuschließen, hieß es in rechnet für das Jahr 2016 mit nur noch 126 frorene Gegend voll mit Wölfen, Bären und einer Prognose der Regierung schon vor Millionen Einwohnern – das wäre ein Mi- Zobel. zwei Jahren, wenn die Bevölkerung sich nus von noch einmal 18 Millionen Men- Und voller Erwartung. Kujumba liegt am von derzeit 144 Millionen weiter vermin- schen. Die Abwanderung aus den eisigen Rande des Jurubtschen-Felds, des am bes- dere. „Ob es Russland gelingt, die Kon- Weiten östlich des Ural, sagen die Demo- ten erkundeten Ölvorkommens in einem trolle über Sibirien zu behalten“, so der grafen, werde sich noch verstärken. der am wenigsten entwickelten Teile Sibi- Oxforder Historiker Alan Bullock kurz vor riens – in Ewenkien. Das Jurubtschen-Feld seinem Tod, sei „eine der größten Fragen“ s gibt zweierlei Sibirien. Das eigentliche allein birgt Öl im Verkaufswert von etwa des 21. Jahrhunderts. ESibirien und jenes, das in der Wahr- 125 Milliarden Dollar. Es könnte ganz In seiner ersten Grundsatzrede als Prä- nehmung vieler Deutscher existiert. Der Deutschland vier Jahre lang ununterbro- sident bereits bezeichnet Wladimir Putin Unterschied liegt in der Perspektive – das chen versorgen. die demografische Situation seines Landes Sibirien der Deutschen ist vor allem Pro- Der Autonome Bezirk Ewenkien, dop- als „alarmierend“ und fügt hinzu, „das jektionsfläche. Für vergangene Schmach pelt so groß wie die Bundesrepublik, we- Überleben der Nation“ sei in Gefahr. Vier oder verdrängte Sehnsucht. niger Einwohner als Liechtenstein, soll den Jahre später steht eine russlandweit auf Dass allein Heinz G. Konsalik „mehr Ölrausch verlängern helfen, wenn die 1,25 Kinder pro Frau gesunkene Gebur- über die Taiga geschrieben“ habe als der Vorräte im westsibirischen Becken hinter

der spiegel 9/2004 115 FOTOS: MICHAEL APPELT / AGENTUR ANZENBERGER / AGENTUR MICHAEL APPELT FOTOS: Kujumbas Bürgermeisterin Udalowa, Pumpanlagen: „Mit den Ölleuten kamen Alkohol, Schießereien und Selbstmorde“ dem Ural zur Neige gehen. Den Ölarbei- biriens wieder enger unter die Kontrolle deln seit dem Raskol, dem Schisma der tern wird es dann so ergehen wie den ko- der öffentlichen Hand zu zwingen. Für die russisch-orthodoxen Kirche im 17. Jahr- sakischen Pelzjägern im 17. Jahrhundert – Einwohner Ewenkiens heißt das: Sie wer- hundert, brauchen keine Fördertürme. Sie auch sie zogen weiter ostwärts, als der Zo- den weiter auf die Neuzeit warten müssen. sind die besten Zobeljäger der Gegend. Mit bel in Westsibirien ausgerottet war. Und „Wir sind jetzt an der Schwelle zwischen dem Kapkan, dem Fangeisen, und mit Es- legten mit immer neuen Eroberungen dem 20. und dem 21. Jahrhundert“, hatte kimohunden rücken sie aus zur Jagd. Bis den Grundstock für Russlands Weg zur Wladimir Sturow, der Bezirkschef der be- zu 100 Euro bringt ein Zobelfell. Großmacht. troffenen Region, noch drei Wochen vor In Kujumba allerdings, dem traurigen In Ewenkien und Jakutien werden Mil- Chodorkowskis Verhaftung hoffnungsfroh Flecken inmitten wegloser Taiga, hat man- liarden Tonnen Öl vermutet und reichlich erklärt: „Woanders verschwindet das Öl, cher gehofft, dass mit dem Öl das Glück Gas. China will von hier aus einen Teil des bei uns geht es erst los. Der Fortschritt hier käme. Das Dorf mit ein paar Dutzend Brennstoffbedarfs seiner 1,3 Milliarden kommt mit den Ölfirmen. Seit den sechzi- Holzhäusern, gegründet 1929 von Bol- Einwohner sichern. Ein Vertrag vom ver- ger Jahren haben wir von ihnen geträumt.“ schewiki, um nomadisierende Rentier- gangenen Sommer zwischen der Ölfirma Inzwischen muss sich Sturow, der die züchter sesshaft zu machen, hat seit dem Jukos und ihren chinesischen Partnern ver- Wartezeit bis zum Ausbruch des Ölrauschs Ende der Sowjetunion jeden dritten Ein- spricht Öllieferungen von 2005 an. Volu- vor einem Bollwerk aus 44 heidelbeerblau- wohner verloren. men: bis zu 25 Millionen Tonnen jährlich. en Lenin-Bänden in seinem Büro absitzt, in Es gibt in Kujumba nicht nur kein Tele- Doch seit dem 25. Oktober 2003 ist alles der Jukos-Affäre sogar mit dem Staatsan- fon und also keine Hilfe, wenn wieder ei- anders. Seit diesem Tag sitzt der Jukos- walt auseinander setzen. Von der Pipeline ner vom Bären angefallen wird. Es gibt Chef Michail Chodorkowski im Moskauer nach China ist vorerst keine Rede mehr. nachts auch keinen Strom, und fließend Gefängnis Matrosenruhe. Ausgerechnet er, Manche wären nicht böse, bliebe das Öl, Wasser überhaupt nie. Auch Erstklässler der sich anschickte, der unterentwickelten wo es ist – im Boden. Die Fischer an der müssen bei minus 40 Grad nach draußen Region Ewenkien Hoffnung zu machen. Tunguska etwa, die schon jetzt klagen, dass aufs Plumpsklo. Für den Tee schleppt die Der mit Jukos die regionale Ölfirma samt die Bestände an Stören, Aalquappen und Direktorin Flusswasser hügelaufwärts. ihrer Förderlizenzen übernommen hatte Schleien seit Beginn der Probebohrungen Kujumba ist ein Sinnbild menschlicher und Seite an Seite mit Uno-Generalse- zurückgingen. Und die noch nicht einmal Hybris, errichtet auf dem 61. Breitengrad kretär Kofi Annan der „Region, deren wirt- ahnen, welch flächendeckende Verheerun- im Herzen Sibiriens. Zwischen rostenden schaftliche und soziale Rückständigkeit er- gen die Ölindustrie an Mensch und Natur 1000-Liter-Öltanks aus der Zeit der Probe- schreckend ist“, Strukturhilfe versprach. im Westen Sibiriens bereits angerichtet hat. bohrungen grast Fleckvieh, und daneben Dass Chodorkowski Schlupflöcher nutz- Oder die letzten ewenkischen Rentier- ragt, mit Zementsockel und Metallpfropfen te und mit dem innerrussischen Offshore- züchter, die hinter der Flussgabelung am verschlossen wie ein Denkmal des Ölpio- Status Ewenkiens Steuern sparte, kreidet Ufer Rentierfett verbrennen, damit ihnen nierzeitalters, der Bohrhals der ersten ihm nun der Generalstaatsanwalt an. Jukos die Götter gnädig sind, und am Schluss Quelle Ostsibiriens hervor – entdeckt am bestritt zuletzt 80 Prozent des ewenkischen Flusswasser in alle vier Himmelsrichtungen 8. März 1973 in Kujumba. Budgets, streute Wohltaten unters Volk, darübersprühen. Und auch die Altgläubi- Die Frage, wie das Öl von hier, aus dem Schneemobile unter die Eingeborenen, und gen mit den Rauschebärten, die hier sie- Herzen der Wildnis, kostendeckend zum schickte einen als Schamanen kostümierten Verbraucher gebracht werden könnte, ist Ex-Matrosen aus dem Fernen Osten zu bis heute ungelöst. Die Rechnung zahlt der- Ausstellungen nach Paris und Genf, damit weil das Dorf. „Mit den Ölleuten kamen er von der lebendigen Stammestradition Alkohol, Schießereien und Selbstmorde zu der Ewenken künde. uns“, sagt die Bürgermeisterin. All das hat niemanden gestört, bis Cho- Mit 43 Jahren sterben die Männer des dorkowski, der reichste Mann Russlands, Dorfes im Schnitt, so Larissa Udalowa, mit von ganz oben zum Abschuss freigegeben 47 Jahren die Frauen. Der Wodka ist zu wurde, wohl weil er dem Kreml-Herrn zu billig hier und das Obst zu teuer. In Ewen- frech geworden war. Nun ist wieder alles kien, dem Land ohne Straßen, muss alles offen, in Ewenkien, östlich des Jenissej. eingeflogen werden. Für sich selbst auf- Die Lizenzen im Milliarden-Monopoly kommen können die sowjetisierten Noma-

ums Öl werden überprüft. Ein Konsortium / AP KOROLEV OLEG denkinder nicht mehr. „Wir haben die Ge- aus staatlichen und staatsnahen Firmen Jukos-Chef Chodorkowski in der Haftzelle nerationenbrücke zerbrochen“, sagt einer wurde gegründet, um die Reichtümer Si- Dem Kreml zu frech geworden? von ihnen.

116 der spiegel 9/2004 FOTOS: MICHAEL APPELT / AGENTUR ANZENBERGER / AGENTUR MICHAEL APPELT FOTOS: Prostituierte, Polizeistreife in Irkutsk: Die Kinder von Glasnost und Perestroika wurden zu Opfern der Drogenmafia

Larissa Udalowa, Nomadentochter, En- Grab.“ Der Zigeunerbaron, ein massiger Durchs Elend der Irkutsker Vorstadt kelin des letzten Schamanen von Kujumba, Mann am Krückstock, stößt widerwillig das bahnen sich die Drogenfahnder im Dienst- Schwägerin des Chefs der alten Rentier- schmiedeeiserne Tor zu seinem Reich auf. wagen ihren Weg: vorbei an den Baracken Sowchose und Bürgermeisterin seit 17 Jah- „Außen Kremlmauer, innen Eremitage“, der Süchtigen in der Arbeitersiedlung ren, hat deshalb inzwischen mit anderen sagen die Fahnder und grinsen, am Inte- und an bibbernden Nutten in der Barrika- die Spurensicherung aufgenommen. Sie rieur fehle es hier nicht. Das ziegelfarbene denstraße, Gesichter unter fingerdicker nennen ihr Werk „Projekt Kujumba“. Phantasieschlösschen des Zigeunerbarons Schminke. Für umgerechnet 1,50 Euro Sie zeichnen Stammbäume und markie- mit seinen himbeerroten Außenmauern Aufpreis gibt es hier ungeschützten Ver- ren die Siedlungsgebiete ihrer Vorfahren. hebt sich von den umstehenden Holzhäu- kehr. Wenn die Öl-Multis kommen, sollen sie zu- sern aus dem 18. Jahrhundert ab wie die Ein paar Kilometer weiter, im Kinder- mindest noch Papiere vorfinden, in denen Zuckertorte vom Sandkuchen. heim „Storch“ vis-à-vis dem Aids-Zen- steht, wem das Land einst gehörte. „Hier wird mit Drogen gehandelt“, steht trum, sitzen die jüngsten Opfer der Ver- am Nachbarhaus, dazu zeigt ein kleiner hältnisse in Irkutsk. 45 Kinder im Alter bis rkutsk, 5042 Kilometer östlich von Mos- Pfeil auf den Palast des Zigeunerbarons. zu drei Jahren, vorübergehend oder für Ikau, das Tor zum Baikalsee: Besuch bei Der aber will partout nicht verstehen, war- immer aufgegeben von drogensüchtigen Fjodor Timofejew, den die Rauschgift- um die Beamten mit ihm über Heroin und HIV-infizierten Müttern. fahnder von der Irkutsker Polizei den Zi- reden wollen. Timofejew, einst unter den Wie ein Orkan aus heiterem Himmel ist geunerbaron nennen. „Er ist der größte Taschendieben von Irkutsk mit dem Kose- das HI-Virus über Irkutsk gekommen. Von Drogenhändler der Stadt“, sagen sie. namen „Goldhändchen“ geadelt, hat zu nahe null auf 443 Infektionen pro 100000 „Was wollt ihr denn schon wieder, ich viele Hausdurchsuchungen überstanden, Einwohner stieg die Zahl der registrierten bin ein alter Mann mit einem Fuß im um sich noch überraschen zu lassen. Ansteckungen im Jahr 1999. Daraufhin wurden in der Stadt Reihenuntersuchun- gen eingeleitet, „Schüler, Studenten, Pro- Armes reiches Sibirien stituierte, alles bis hin zur 80-jährigen Alaska Oma“, sagt Boris Zwetkow, der Leiter des USA BEVÖLKERUNG: 26,8 Millionen örtlichen Aids-Zentrums. „Das hätte viel- durchschnittlich zwei Menschen pro Quadratkilometer leicht nicht sein müssen, aber so hatten wir ABWANDERUNG seit 1989: 2,3 Millionen Beringstraße sie am Ende“ – die Infizierten. Nordpolar- 1047 pro 100000 Einwohner sind in Ir- ERDGAS: 30 % der Weltvorräte meer Golf von Anadyr kutsk-Stadt registriert. Das ist der höchste ERDÖL: 10 % der Weltvorräte Autonomer Wert in ganz Russland. Wenn wie in Ir- Bezirk Anadyr weitere BODENSCHÄTZE: Gold, Diamanten, Nickel, Platin, Uran Tschukotka kutsk mehr als ein Prozent der Bevölke- rung das Virus in sich trägt, ist nach den Richtwerten des russischen Aids-Zentrums n bereits die Phase der „allgemeinen Epide- Po mie“ angebrochen. FINNLAND la rk e re Von russlandweit 500000 bis 2,5 Millio- Kaliningrad is Je n i nen Infizierten spricht Wadim Pokrowski, i s s der Leiter des Bundes-Aids-Zentrums. e

RUSSLAND j r Moskau Ochotskisches Ohne künftige Vorbeugung und retrovira- Ob i Meer le Behandlung könne die Zahl der Virus- Tula b Autonomer träger bis 2020 auf 14,6 Millionen steigen. Ural Nischne- i Bezirk Jüdisches wartowsk S autonomes Gebiet Russlands Aids-Etat lag 2003 bei 3,9 Mil- Woronesch Kujumba Tungu Ewenkien sk Birobidschan ara a lionen Dollar. Das war ein Drittel weniger Tjumen Ob Ang Transsibirische Baikal- Chabarowsk als 2002 und etwa ein Tausendstel des Be- Omsk mu Eisenbahn Krasnojarsk see A r trags, den Experten für nötig halten. Tjopolje Nowosibirsk Mit Irkutsk trifft die Seuche eine der Irkutsk Osero KASACHSTAN schönsten, kultiviertesten Städte Sibiriens. Wladiwostok JAPAN Irkutsk ist eine Stadt der Bibliotheken 1000 Kilometer MONGOLEI CHINA NORD- und Theater. 80000 Studenten leben hier KOREA zwischen mehrhundertjährigen Holzhäu-

der spiegel 9/2004 117 FOTOS: MICHAEL APPELT / AGENTUR ANZENBERGER / AGENTUR MICHAEL APPELT FOTOS: Heim für Aids-Kinder, historisches Irkutsk: Wie ein Orkan aus heiterem Himmel kam das HI-Virus sern mit handgeschnitztem Fassaden- Ecke der Dritten Siedlung, steht die Ärztin Mit Geld und Arbeitern aus der kom- schmuck und Ziegelhäusern in altrussi- mit drei Freiwilligen und wartet, bis die munistischen Volksrepublik, ergänzt um schem Maß. Süchtigen kommen. Bis sie ums Eck bie- ein paar willige Russen, ist Wolodja ange- Irkutsk war Sitz des ersten Gouverneurs gen, ihre blutverschmierten Spritzen in treten, im verschlafenen Tjoploje Osero von Ostsibirien, der ersten Universität von Plastiksäcke werfen, neue entgegenneh- vorzuführen, was ein Erbe Deng Xiaopings ganz Sibirien und galt lange als so etwas men und erzählen, wie lange sie schon am unter Marktwirtschaft versteht. wie der letzte Vorposten der Zivilisation Heroin hängen. 300 Mann aus einer nordchinesischen vor dem Weg in die Wildnis. Kaufleute, 55000 Kanülen sind auf diese Art allein Holz-Kolchose sind über den Amur ge- die von hier aus Handel mit dem Fernen im vergangenen Jahr eingesammelt worden kommen und schlagen nun sibirische Bir- Osten und Amerika trieben, brachten Lu- und wer weiß wie viele Leben gerettet. Die ken. Das Holz wird in Klötze zerteilt, mit xus in die Stadt, was Tschechow zu der Stadt Irkutsk gibt Natalja Iwanowna und schweren Schäleisen filetiert und von einer Bemerkung veranlasste, Irkutsk sei dan- ihren Leuten trotzdem keinen Unter- neuen Maschine chinesischer Bauart zu dyhaft, „ganz und gar Europa“. schlupf, der Staat gibt kein Methadon, und Stäbchen zerkleinert. Genauer: zu einer Noch heute ist in Kaffeehäusern und auf Apotheken verweigern Süchtigen bisweilen Million Wegwerfstäbchen pro Tag, für hung- Hauptstraßen etwas zu spüren von der Ele- sogar den Spritzenverkauf. rige Kantinengänger jenseits des Amur. ganz jener Zeit und auch vom Geist der „Erst in zwei bis drei Jahren erreichen Von der Essstäbchenfabrik führen end- Dekabristen, jener Adeligen, die 1825 ge- wir hier in großem Maße die Aids-Phase“, lose Schotterpisten entlang der chinesi- gen den Zaren aufbegehrten und nach Ir- sagt eine der Helferinnen. „Und niemand schen Grenze quer durch das gelobte Land kutsk verbannt wurden. Entbehrung, Stolz ist darauf vorbereitet.“ der Sowjetjuden – durch das Jüdische au- und Stilwillen haben der Stadt Prägung tonome Gebiet Birobidschan. Die Region, gegeben. olodja ist ein schmaler junger Mann, in die Stalin von 1928 an die Juden seines Dazu kommt die Lage. In Irkutsk kreu- Wträgt schwarze Lederjacke zu dezent Reichs lockte, um sie dann größtenteils ins zen sich Handelswege nach Osten und Sü- gemusterter Krawatte und brettert in ei- Gefängnis werfen oder im Gulag umbrin- den, nach China, Afghanistan und in die nem Mitsubishi-Jeep über die ungeteerten gen zu lassen, liegt heute wie damals im to- Mongolei. Hier wurden von alters her Pel- Straßen, als wären es Highways. ten Winkel. Birobidschan, das sind eine ze gegen Rohseide und Tee eingetauscht. So einer fällt auf in Tjoploje Osero, einem Hand voll Häuser im Sumpfland zwischen Hier kreuzen sich jetzt die Wege der Dro- staubigen Flecken an der Transsibirischen Birkenhainen und Elsterschwärmen, das genmafia. Zwar sind die Zeiten vorbei, da Eisenbahn, gut 8000 Eisenbahnkilometer ist ein Land ohne Gesicht und Geschichte. in der Handelsstadt aus Bottichen mit bis östlich von Moskau. Graue Häuschen, wil- Von ehemals 218000 Einwohnern hier zu 200 Schuss Heroin gemeinsam Spritzen de Müllhalden und einen Lenin in Gold gibt sind im letzten Jahrzehnt fast 30000 abge- vollgezogen wurden und das HI-Virus sich es hier, dazu eine Wand mit dem Spruch: wandert. Nur zwei Prozent der Verbliebe- wie ein Lauffeuer verbrei- „Die Arbeiterklasse war, ist nen sind Juden. Zwei konkurrierende Ge- tete. Doch die Zahl der und bleibt die wichtigste meinden gibt es noch, doch die alte Syn- Süchtigen steigt weiter. Kraft der Gesellschaft.“ agoge ist abgebrannt, die Tora verschollen, Es sind vor allem die „Von wegen“, sagt Wo- die Jüdische Schule geschlossen. Jungen, die Kinder von lodja: „Es ist schwierig, Was läge näher, als aus einem zerbors- Glasnost und Perestroika, hier überhaupt Leute zu tenen Wahngebäude der Vergangenheit ein die der Seuche in den finden, die arbeiten wollen Labor für die Zukunft zu basteln – aus Sta- nächsten Jahren zum Op- und nicht dauernd besof- lins zweitem Zion ein Modell für das Ne- fer fallen werden. Heroin- fen sind. Und mich fragen beneinander von Chinesen und Russen? abhängige wie jene, die die sie noch, was ich eigentlich „Bei uns hier singen die Chinesen in- Ärztin Natalja Iwanow- hier verloren habe.“ zwischen Jiddisch und spielen Balalaika“, na zweimal wöchentlich Wolodja heißt in Wahr- sagt der Vizegouverneur von Birobidschan „aus ihren Drogenkellern heit Sun Li und ist Absol- zufrieden und reicht Mazze. „Die Chine- lockt“, wie sie sagt, indem vent der Fakultät für russi- sen kriegen ihr Geld aus der Heimat und sie ihnen frische Spritzen sche Sprache in Harbin, das Essen von uns; wir züchten eigens anbietet. Vorausgesetzt, sie auf der anderen, der chi- Hunde für sie“, spottet der Geschäftsfüh- rücken die gebrauchten nesischen Seite des Amur. rer einer Fabrik, die mit Leiharbeitern aus raus. Weil sein Name den Rus- China Matratzen fertigt. Bei minus 20 Grad im sen nicht recht von der Noch sind dauerhafte Aufenthaltsge- Freien, vor einem verlas- Verdächtiger Timofejew Zunge gehen will, nennen nehmigungen für Chinesen die Ausnah- senen Haus in einer tristen „Mit einem Fuß im Grab“ sie ihn Wolodja. me. Eine sichtbare „gelbe Gefahr“ gibt es

118 der spiegel 9/2004 FOTOS: MICHAEL APPELT / AGENTUR ANZENBERGER / AGENTUR MICHAEL APPELT FOTOS: Ankunft von Amur-Fähren mit Händlern aus China, Unternehmer Sun Li in Tjopolje Osero: „Chinesen arbeiten besser und trinken weniger“ nicht. Auftreten und Tonfall vieler Russen sen, die die Transsib bauen halfen und den Panzerfahrer noch ein Stadtplan von Pe- allerdings legen den Schluss nahe, dass sie Hafen von Wladiwostok. Als Russlands king zur Ausrüstung zählte. Heute erklärt die zum chinesischen Sprichwort geronne- Premier Pjotr Stolypin damals über den Trenin im Dienst der amerikanischen Car- ne Maxime ihrer bescheiden lächelnden Fernen Osten sagte: „Wenn wir aufwachen, negie-Stiftung die Welt und sieht schwarz Gäste nicht kennen: „Friss deinen Nach- wird er vielleicht nur dem Namen nach für die Russen, sollte es am Amur ein- barn wie die Seidenraupe das Blatt.“ noch russisch sein“, waren in Wladiwostok mal wieder zum Waffengang kommen: Dafür spricht die Verachtung, mit der 70 Prozent des Kapitals in chinesischer „Die Gefechtsfähigkeit und -bereitschaft russische Croupiers von der vermeintli- Hand. Stolypin ließ den Zuzug stoppen der russischen Streitkräfte“, so Trenin, chen Höhe ihrer Kultur auf die heftig und Siedler aus Zentralrussland kommen. „ist auf dem niedrigsten Niveau seit 50 glucksenden Chinesen in ihren Casinos Das ginge heute nicht mehr. Ab 2010 Jahren.“ blicken, die dicke Geldbündel zum Spielen wird die arbeitsfähige Bevölkerung in Russ- mit über die Grenze bringen. Dafür spricht land um jährlich ein Prozent abnehmen. ie „Luftbasis Ostkap“ auf der Halbin- auch der Ton, in dem der Vizegouverneur Die Demografin Schanna Sajontschkow- Dsel Tschukotka war der nordöstlichste sagt: „Die Chinesen arbeiten besser und skaja sagt: „Wir brauchen bis zum Jahr Vorposten der Sowjetunion im Kalten trinken weniger als wir, aber das kriegen 2016 vermutlich an die 7 Millionen Ein- Krieg. Hier, zehn Zeitzonen vom Westrand wir auch noch hin.“ wanderer und bis zur Jahrhundertmitte 30 des Imperiums entfernt, Alaska gegenüber, In Chabarowsk, drei Autostunden weiter bis 40 Millionen. Es wäre also das Beste, war der Stützpunkt der arktischen Jäger. Richtung Osten, sind sie sich da schon nicht sich schon jetzt auf künftig 10 Millionen Als die Sowjets 1952 den Weltkriegshel- mehr sicher. Hier haben sie den Unter- Chinesen in Russland einzurichten.“ den General Sergej Schtemenko nach schied allabendlich vor Augen, wenn an Dazu allerdings müsste die russische Re- Tschukotka ins Land der Bären und Polar- den hölzernen Landungsbrücken die so gierung ihr Einwanderungsgesetz liberali- füchse schickten, schwante den Amerika- genannten Weberschiffchen (Händler) und sieren. Hardliner um Wiktor Iwanow in nern auf der anderen Seite der Bering- die Ziegelsteine (Träger) mit schweren Putins Verwaltung stehen dem im Weg. straße, dass die diplomatische Eiszeit von Plastikkoffern voller Waren von den Amur- Dabei hat Putin selbst schon im Juli 2000 Dauer sein könnte. Fähren kommen. gewarnt, nach Lage der Dinge werde die Wer heute nach Ugolnyje Kopi kommt, Die Träger sind Russen, die Händler zu- Bevölkerung in Russlands Fernem Osten in in die alten Militärsiedlungen der tschuk- meist Chinesen. Im direkten Effektivitäts- wenigen Jahrzehnten „Japanisch, Chine- tschischen Hauptstadt Anadyr, der be- vergleich hätten die trinkfreudigen Russen sisch und Koreanisch sprechen“. greift, wie es um Russland bestellt ist. Ver- noch nie gut abgeschnitten, sagt Maxim Ta- Die Periode „spontanen Aufbaus“ chi- lassene Offizierswohnungen, vereinzelt ein rassow, Berater des Gouverneurs Chaba- nesischer Gemeinden in Russland sei be- erleuchtetes Fenster oder eine einsame rowsk: „Schon vor der Revolution war es reits abgeschlossen, heißt es in einer Stu- Rauchsäule am Himmel des Nordens, bis- für die russischen Mäd- die der Internationalen weilen ein Uniformierter, der durch chen ein Erfolg, einen Chi- Organisation für Migra- Schneewehen am Jagdflieger-Denkmal nesen geheiratet zu haben. tion. Bis zu 400000 Chi- vorbei zum Haus der Offiziere strebt. In Russland heißt es doch nesen befänden sich im An die 350 von ehemals 4000 Soldaten bis heute – ,Wenn er dich Land. „Die Außenwirt- halten unter dem Befehl von Oberst Alex- am Freitag nicht prügelt, schaftspolitik Chinas zielt ander Bulowitsch noch die Stellung in liebt er dich nicht.‘“ auf Platz eins weltweit“, Ugolnyje Kopi. Nur vereinzelt wurden in Sibirien liegt zu nah an sagt Russlands führender der Vergangenheit Tu-95-Bomber über der China, um sich nicht mes- Sinologe Wilja Gelbras, Beringstraße gesichtet. Die Lage an der sen zu müssen. Sibirien und Russland bekomme alten Nahtstelle des Kalten Krieges scheint verliert an Volk, China nun an vorderster Front ruhig. nicht. Sibirien hat Raum zu spüren, was „von einer Auf der Halbinsel Tschukotka, die und Rohstoff, doch zu we- globalen chinesischen Mi- größer ist als Frankreich plus Benelux- nig Arbeitskraft. In China gration“ zu erwarten sei. Staaten, leben heute noch etwas mehr als ist es umgekehrt. Keine Wenn Moskau „für die 50000 Menschen, zu einem Viertel Tschuk- 5 Millionen Russen leben Entwicklung des Fernen tschen und Eskimos. Das entspricht etwa am Amur auf Tuchfüh- Ostens und Sibiriens nicht 0,06 Einwohnern pro Quadratkilometer lung mit über 100 Millio- Sorge tragen“ könne, und einem knappen Drittel der Bevölke- nen in den drei Nord- werde es diese Gebiete rung von 1989. Auf Tschukotka wird das ostprovinzen Chinas. verlieren, sagt Dmitrij Sowjetsystem beispielhaft beerdigt. Schon vor fast hundert Rabbi in Birobidschan Trenin. Er war Offizier Ganze Siedlungen räumen sie jetzt hier, Jahren waren es Chine- Stalins zweites Zion der Sowjetarmee, als für wie Schachtjorsk am Golf von Anadyr, wo

120 der spiegel 9/2004 FOTOS: MICHAEL APPELT / AGENTUR ANZENBERGER / AGENTUR MICHAEL APPELT FOTOS: Jagdflieger-Denkmal, Kraftwerk in Anadyr: Die Pioniere des Aufbruchs rüsten zur Rückkehr nach Westen nahebei, inmitten einer postindustriellen menschenfeindliche Natur – eine baum-lose ringstraße ist kein Staat und kein Geschäft Trümmerlandschaft, die alte Landebahn Mondlandschaft, bevölkert von Menschen, zu machen. Sie leben von den Subventio- der sowjetischen Kampfflieger liegt. Ganze deren Gesichter in Fellmützen versinken nen des Gouverneurs, und wenn die mit Generationen von Pionieren des Nordens wie Rosinen im Hefeteig. Als Kulissen die- Satellitenchips ausgerüsteten Grauwale aus rüsten zum Aufbruch, „na materikje“, aufs nen ans Meer gepresste Verschläge, Schup- einer Laune heraus auf die amerikanische Festland, wie sie sagen, nach Westen. pen, Kraftwerkskessel, Kulturpaläste und Seite schwimmen oder das Rentierfleisch in Wer 15 Jahre lang Winter bis minus 60 Plattenbauten, die auf Betonpfeilern im der Tundra nicht abgeholt wird, dann sind Grad ausgehalten hat, oder wer in einer Permafrostboden stehen. sie brotlos. Siedlung lebt, die komplett gesprengt wird, Und doch soll plötzlich alles anders ge- Also Öl, Gas und Gold als Zukunftsme- bekommt den Transport in die neue Hei- worden sein hier. Sagen zumindest die, die lodie, auch für Tschukotka? Eine Tochter mat plus Wohnung in Woronesch, Omsk noch da sind. Und die Mitarbeiter von des Abramowitsch-Konzerns Sibneft hat oder Tula umsonst. Manche packen, be- Abramowitsch, die in den etwa elf Mona- die fossilen Vorkommen über Jahre hin- vor sie fliegen, ein letztes Mal die Angel ten jährlich die Stellung halten, in denen weg erkunden lassen. aus, hacken ein Eisloch in den Golf und der Gouverneur nicht auf Tschukotka „Wenn Lösungen für die einzigartigen starren Richtung Meer. weilt. Schwierigkeiten bei der Ausbeutung in Ist das hier schon das Ende des Traums Es gab Schwarzmeer-Ferien für Tausen- Tschukotka gefunden werden, hat die Ge- vom Riesenreich zwischen Ostsee und Pa- de Kinder, auf Kosten des Gouverneurs. gend das Potenzial, eine wirtschaftliche Re- zifik? Ist Abwanderung jene Antwort auf Das führte zu großer Freude und zu klei- naissance im ganzen russischen Osten mit- den „sibirischen Fluch“, die in einer ame- nen Dramen. Es war zu schön und zu heiß zutragen“, verlautet aus der Verwaltung. rikanischen Studie soeben nahe gelegt wur- für Tundrakinder. Sie wollten nicht mehr Das klingt, als wären die einzigartigen de: Russland müsse die Konsequenzen aus zurück. Fürs kommende Jahr sind Ferien Schwierigkeiten am Ende zu überwinden. seiner alten Politik der imperialen Über- am heimischen Meer geplant. „Was Abramowitsch in den FC Chelsea in- dehnung ziehen, „kleiner und wärmer“ Es gibt dank Abramowitsch jetzt Satel- vestiert sind Kopeken verglichen mit dem, werden, Teile der Städte im hohen Nor- litentelefon in den Dörfern, Geldautoma- was im Anadyr-Becken brachliegt“, sagt den aufgeben, wenn es von den Kosten für ten, die Dollar spucken, Vitaminpillen für ein Geologe in Anadyr. deren Erhaltung nicht erdrückt werden Kinder, nagelneue Holzhäuser für eins- Dass der Gouverneur mit seinen Leuten wolle. tige Bruchbudenbewohner, frische Hol- „von der Pazifikkrabbe bis zum kleinsten Michail Djatschenko glaubt das nicht. lywood-Filme im Kino und ein Restaurant, Goldklumpen“ an allem beteiligt ist, gehört Als Rentierzüchter-Sohn vom Volk der in dem sie „Pappardelle alla lepre“ servie- in Anadyr zum Glaubensbekenntnis. Ab- Ewenen, Dichter und ehemaliger KP-Se- ren, Hasenragout mit Nudeln, fast am ramowitschs ehemalige Mitarbeiterin, die kretär für Ideologie behauptet er, sich ein Polarkreis. jetzt in die Duma gewählt worden ist, hat Urteil erlauben zu können darüber, wie es Vor allem aber gibt es seit langem als Privatvermögen fünf Millionen Dollar mit Tschukotka weitergeht. Gerüchte, Abramowitsch sei nicht aus ka- angegeben. Moskauer Ermittler sind längst Djatschenko hat erlebt, wie NKWD- ritativen oder sportlichen Erwägungen auf Abramowitschs Spuren unterwegs. Kommissare zu den Nomaden kamen, Gouverneur von Tschukotka geworden, Aber braucht der Multimilliardär wirk- „rote Jarangas“ gründeten und die Hir- sondern um Steuern zu sparen und um sich lich noch die Schätze Tschukotkas? Es sieht tenzelte mit Propagandafilmen bespielten. den Zugriff auf die Öl- und Goldreserven nicht so aus. Er hat erlebt, wie Stalin den Gulag bis nach der Halbinsel zu sichern. Abramowitsch hört auf als Gouverneur, Tschukotka ausdehnte. Und wie sie die Denn mit 780 verbliebenen Rentier- 2005. Schon der Gedanke daran kommt Halbinsel dann zum waffenstarrenden Vor- züchtern und 350 Walfängern an der Be- für die Menschen hier einem Alptraum posten der wahren Lehre gemacht haben. gleich. Sollte der Geldstrom des Sibneft- Jetzt ist Djatschenko 67 Jahre alt und sagt, Milliardärs versiegen, sollte es bei den 200 Tschukotkas habe einen Namen: Roman Millionen Dollar bleiben, die er auf Tschu- Abramowitsch. kotka ausgegeben haben will, wird an der Abramowitsch ist Gouverneur von Beringstraße ein weiterer Exodus folgen. Tschukotka und der reichste noch in Frei- „Mit Symbolen rettest du kein sterben- heit lebende Russe. Er hat sein Geld mit Öl des Land“, hat Alexander Solschenizyn und Aluminium gemacht, und als er 34 einmal gesagt, an die Adresse Wladimir war, hat er beschlossen, noch etwas ande- Putins. Der Befund hätte auch auf Abra- res zu probieren. So kam er nach Anadyr. mowitsch und sein Tschukotka gepasst.

Die Stadt, 1649 von Semjon Deschnjow MOSCOOP In Sibirien, dem Land zwischen Ural und gegründet, ist das östlichste Symbol des Milliardär Abramowitsch Pazifik, schrumpft allerdings noch die ge- russischen Herrschaftsanspruchs über eine Hoffnung hat einen Namen waltigste Tat zum bloßen Versuch. ™

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Sieht so der neue Nahe Osten aus? Je- rusalem als eingezäunter Sperrbezirk, um- NAHOST zingelt von feindlichen Palästinensern? Den Vorstellungen des amerikanischen Präsidenten George W. Bush von einer Im Schatten der Mauer friedlichen Koexistenz zweier Staaten im Heiligen Land entspricht das jedenfalls Der Internationale Gerichtshof in Den Haag soll über die nicht. Längst ist das erbittert bekämpfte Bollwerk zum Symbol des offenbar unlös- Sperranlagen verhandeln, mit denen sich Israel gegen Selbstmord- baren Konflikts zwischen Israelis und attentäter schützen will. Doch der Bau ist kaum noch zu stoppen. Palästinensern geworden. Von Montag an wird über Mauer und Stacheldraht sogar vor dem Internationalen Ge- richtshof in Den Haag ver- handelt. Auf Wunsch der Uno-Vollversammlung beginnt dann eine Anhörung über die Rechtmäßigkeit der Sperre. Wie Israel bezweifeln viele Länder die Zuständigkeit des Gerichts, auch die EU lehnt die Anhörung ab. Doch fast alle Staaten kritisieren den Verlauf des Sperrwerks, das teilweise tief in Palästinenser- Gebiete vordringt. Etliche Dörfer entlang der neuen Grenze wurden zu mi- litärischem Sperrgebiet er- klärt. Palästinenser, die dort seit Generationen leben, müs- sen nun Anträge stellen, um die Zone zu betreten, weiter- hin ihre Äcker zu bestellen oder durch die Übergänge zum nächsten Ort, zum Kran- kenhaus oder zur Schule und

JIM HOLLANDER / DPA JIM HOLLANDER zurück fahren zu dürfen. Ihre Mauerbau im Jerusalemer Vorort Abu Dis: „Dramatischster Einschnitt seit dem Sechs-Tage-Krieg“ Dörfer seien zu „Gefängnis- sen geworden, in denen die ie Welt des palästinensischen Bau- In Abu Dis, am Rande Jerusalems, wird Armee sich als Wärter mit Schlüsselgewalt arbeiters Rascham Abu Hilal, 45, derzeit das umstrittenste Teilstück der betätigt“, moniert die „Vereinigung für zi- Dschrumpft beständig. Auf den Län- Sperranlage hochgezogen, die, wenn sie vile Rechte in Israel“, die vor dem Obers- dereien, die seine Familie einst zwischen einmal fertig ist, eine Schneise von über ten Gericht in Jerusalem gegen die Ab- Jerusalem und dem Toten Meer besaß, 700 Kilometer Länge durch das Land schla- sperrung klagt. breiten sich heute jüdische Siedlungen aus. gen wird. Die Baukolonnen mit palästi- Nun wird Den Haag für ein paar Tage Früher konnte der Maurer in Israel arbei- nensischen Tagelöhnern arbeiten mit Hoch- zum Schauplatz des Nahost-Konflikts. Die ten, doch seit der Intifada erhält er keine druck daran, den Ring um Jerusalem zu Jerusalemer Regierung hat bereits an- Genehmigung mehr dafür. schließen. Von erhöhten Plätzen aus ist die gekündigt, dass sie einem negativen Gut- Zuweilen ergattert er nun einen Ge- monströse Betonschlange bereits zu sehen. achten der Uno-Richter nicht folgen will. legenheitsjob in der Umgebung, pumpt Doch eine solche Entscheidung, fürchtet Keller leer oder hilft bei einem An- Israels Justizminister Tommi Lapid, könne bau. Die übrige Zeit sitzt Abu Hilal zu seinem Land womöglich gar einen inter- Hause und kümmert sich um sein Dutzend nationalen Boykott eintragen. Ziegen. Immerhin konnte er von sei- Beide Seiten rüsten deshalb zur großen ner Dachterrasse einen grandiosen Blick PR-Schlacht von Den Haag. Die Palästi- über die Hügel des heiligen Jerusalem ge- nenser fliegen Bauern ein, über deren Land nießen. nun die Sperranlage verläuft. Sie wollen Doch auch das ist ihm inzwischen ver- beweisen, dass die Errichtung der Zäune wehrt, eine acht Meter hohe Betonmau- und Mauern auf besetztem Gebiet gegen er versperrt die Aussicht. Nur ein paar internationales Recht verstößt. Schritte vor Abu Hilals Haustür verläuft Israel will dagegen vor dem Gericht gar jener Trennwall, den Israel zur Abwehr nicht auftreten. Ein Trupp von Pressespre- palästinensischer Selbstmordattentäter er- chern soll aber nach Den Haag reisen, richtet. um dort die israelische Rechtfertigung für

„Jahrelang habe ich Steuern an die Stadt SHABI AMIT das Sperrwerk zu verbreiten. Sie berufen gezahlt, und jetzt mauern sie mich ein. Ist Palästinenser Abu Hilal sich auf Israels „Recht zur Selbstvertei- das der Dank dafür?“ Antrag auf Krankenhausbesuch digung“: „Der Zaun ist wieder abbau-

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Transportdienste eingerichtet. Doch an den entfernt ist, hat sich die Mauer gedrängt. Checkpoints, beklagen sich die Palästi- Nur ein paar Schritte weiter liegt jener un- nenser, entscheiden 18-jährige israelische vollendete Bau, der ursprünglich das paläs- Soldaten darüber, wer weiterdarf und wer tinensische Parlament beherbergen sollte. nicht. Sie empfinden es als Demütigung, in Als Israel und die Palästinenser noch über ihrem eigenen Land um Durchlass betteln Frieden redeten, war Abu Dis zum Ver- zu müssen. waltungssitz eines künftigen Palästinenser- „Sie wollen unseren Alltag so unmög- Staats auserkoren worden. Präsident Jassir lich machen, dass wir gehen“, sagt Dscha- Arafat hatte sich bereits ein Balkonzimmer mal Dschuma. Der Betriebswirt leitet die mit Blick auf den Felsendom reserviert. palästinensische Kampagne „Stoppt die Nun beklagt der Palästinenser-Chef das Mauer“. Er sieht hinter den Betonsegmen- Sperrwerk als das „größte Unglück für ten und Zäunen den ausgeklügelten Plan, mein Volk seit der Gründung des Staates Israel“. Doch seine Kritiker monie- ren, dass Arafat dem Barrierenbau Betonierte Sicherheit tatenlos zusieht. bisher fertig- geplant/im Bau Israelische Regierungsvertreter gestelltes Sperrsystem empören sich schon, wenn Journalis- ten den neuen Wall als „Mauer“ be- israelische Zivilverwaltung palästinensische und Sicherheitshoheit Selbstverwaltung zeichnen. „Weniger als drei Prozent sind Mauer, alles andere ist Zaun“, palästinensische Zivilverwaltung, jüdische Siedlungen sagt Gideon Meir vom Außenminis- israelische Sicherheitshoheit terium. Er gibt zu, dass die Bilder aus Abu Dis „problematisch“ sind. Er soll schließlich die Welt davon Mittel- überzeugen, dass der „Anti-Terror- meer Zaun so rücksichtsvoll wie möglich

KEVIN FRAYER / AP KEVIN FRAYER erbaut“ wird. „Mehr Sicherheit ist WEST- Palästinensisch-israelische Demonstration* mir wichtiger als gute Bilder“, sagt JORDAN- „Brutstätte für neue Gewalt“ Meir. Dort, wo die Barriere bereits LAND fertig ist, sei die Zahl der Anschläge bar, doch unsere Toten bringt uns keiner Nablus bereits deutlich gesunken. zurück.“ Dagegen glaubt der israelische An- Auf seine Website hat das Außenminis- walt und Jerusalem-Experte David terium ein Video des jüngsten Terror- Seidmann, dass die Sperre auf Dau- anschlags in Jerusalem gestellt – die Bilder Tel Aviv er die Gefahr für die Sicherheit nur von zerfetzten Opfern sollen das Veständ- erhöht: „Sie schafft eine Brutstätte nis der Welt wecken. Rettungssanitäter für neue Gewalt, indem sie die Ab- wollen zudem das ausgebrannte Skelett des geriegelten radikalisiert.“ Selbst die Busses in die Niederlande fliegen. Studen- ISRAEL ehemalige israelische Generalstaats- ten sollen auf einem Schweigemarsch Fo- Jericho JORDANIEN anwältin Edna Arbel hält es für tos der bei Anschlägen getöteten Israelis schwierig, „den gegenwärtigen Ver- präsentieren. Jerusalem lauf des Zaunes vor Gericht zu ver- Für Jerusalem bedeute der Mauerbau den teidigen“. „dramatischsten Einschnitt“ seit dem Sechs- Ramallah Mehr als das Verfahren in Tage-Krieg, sagen Wissenschaftler am re- Den Haag haben offenbar nommierten „Jerusalem-Institut für Israel- die Klagen vor dem Obers- Studien“. Im arabischen Ost-Jerusalem, das ten Gericht in Jerusalem Israel damals eroberte und später offiziell Hebron und massiver Druck aus annektierte, leben heute 250 000 Palästi- Jerusalem Abu Washington bewirkt, dass nenser unter israelischer Herrschaft. Durch Dis Israel inzwischen versöhn- die Barriere werden nun Zehntausende Je- lichere Töne anschlägt. rusalemer Araber von der Stadt abgeschnit- Hieß es zunächst, der Zaun ten, moniert der Stadtplaner Israel Kimche. beeinträchtige das Leben der Die Absperrung zerschneide Palästinen- einen Palästinenser-Staat unmöglich zu Palästinenser allenfalls geringfü- ser-Gemeinden, zerstöre das soziale und machen. In Jerusalem wollten die Israelis gig, gibt Israel nun zu: „Ja, der Zaun schafft wirtschaftliche Leben ihrer Einwohner, das demografische Verhältnis zu ihren Leiden. Wir tun alles, sie zu mildern.“ Erst- trenne sie von ihren Einkaufsstraßen und Gunsten verändern, indem sie die kinder- mals sprach Premier Ariel Scharon sogar nehme der Stadt das natürliche Hinterland, reichen Palästinenser aus der Stadt drängen von „Korrekturen“ am Verlauf der Tren- kritisiert Kimche. Dennoch: Wie die Mehr- und jüdische Siedlungen eingemeinden. nungslinie. Dass sie aber vollendet wird, heit der Israelis ist auch er im Prinzip für Am Ende, klagt Dschuma, werde Jerusalem daran lässt er keinen Zweifel. eine solche Barriere, die ursprünglich eine „nur noch eine jüdische Stadt sein“. Jurist Seidmann vertraut indes fest Idee der politischen Linken war. Die Absperrung soll Israelis von Palästi- darauf, dass „in unserer Gesellschaft ein Jeder Palästinenser mit einem Jerusa- nensern trennen, betont Israel. Doch in solches Mauerregime nicht durchzuhalten lem-Ausweis komme auch künftig in die Abu Dis – wie fast überall in Ost-Jerusalem ist“. Er schlägt vor, in Abu Dis einen Stadt, betont die Regierung. Dafür würden – trennt die Mauer Palästinenser von Pa- Monitor aufzustellen, der Tag und Nacht neue Übergänge geschaffen oder sogar lästinensern. zeigen soll, wie die Berliner Mauer fällt. Auch zwischen Abu Hilal und seinen „Sie werden sehen, das wirkt.“ * Gegen den Mauerbau in Abu Dis am 7. Februar. Cousin Hassan, dessen Haus nur 200 Meter Annette Großbongardt

126 der spiegel 9/2004 DER ERSTE WELTKRIEG DIE WESTFRONT

SERIE Teil II Anfangs schien der von Schlieffen und Moltke entwickelte Plan aufzugehen. Inner- halb weniger Tage rückten die deutschen Truppen durch Belgien nach Frankreich vor. Doch ihre Offensive scheiterte an der Marne. In dem fast vier Jahre dauernden Stellungskrieg verschob sich das Kräfteverhältnis zu Gunsten der Alliierten. Die Niederlage war nicht mehr aufzuhalten. Das große Sterben Millionen Soldaten fielen in den blutigen Schlachten von Langemarck bis Verdun.

er Befehl, der das bis dahin unvor- wichtigste Einfallstor von Deutschland nach Schon vorher hatte auch Belgiens König stellbare Schlachten mit der Uner- Frankreich sicherte und deren schnelle Er- Albert ein Ultimatum zurückgewiesen. Dbittlichkeit eines Uhrwerks in Gang oberung der Schlüssel zur Verwirklichung Generalstabschef Helmuth von Moltke, der setzte, kam im Morgengrauen des 4. Au- des gesamten deutschen Kriegsplans war. Neffe des großen preußischen Feldmar- gust. Es war ein Dienstag, Tau perlte auf Erst am Abend zuvor hatte Reichskanz- schalls aus dem Krieg 1870/71, verlangte Wiesen und Hecken, als in der Frühe deut- ler Theobald von Bethmann Hollweg Frank- von Brüssel freien Durchmarsch für die sche Patrouillen zu Pferde, Ulanen der 2. reich den Krieg erklärt. Wie erwartet, hat- deutschen Truppen. Obwohl König Albert und 4. Kavalleriedivision, auf holprigen te die Regierung in Paris die groteske deut- wusste, was seinem kleinen Land drohte, Feldwegen in der Nähe von Aachen über sche Forderung abgelehnt, ihren russischen gab er auf die schäbige deutsche Note die belgische Grenze galoppierten. Verbündeten allein zu lassen, sich aus dem die einzig mögliche Antwort: „Wenn die Die Reiter bildeten die Vorhut der Kampf- bevorstehenden Kampf herauszuhalten und belgische Regierung die ihr übermittelten gruppe, die im Handstreich Lüttich nehmen als Unterpfand ihrer Neutralität die Festun- Vorschläge annehmen würde, würde sie sollte – jene Festung, die im Norden das gen Toul und Verdun zu übergeben. sich gegen die Ehre der Nation vergehen

Deutsche Infanterie auf dem Vormarsch durch Belgien (August 1914) und Belgiens Pflichten gegenüber Europa ständnis im Gedanken ei- verraten.“ ner ritterlichen und huma- Noch bevor der erste Schuss gefallen war, nen Kriegführung erzogen hatte das Deutsche Reich das Odium des worden war, trug bereits in Völkerrechtsbruchs auf sich genommen und den ersten Stunden des seinen Gegnern damit einen triftigen Grund Waffengangs Terror, Brand geliefert, der kaiserlichen Regierung die und Mord ins Feindesland. Kriegsschuld endgültig zuzuweisen. Als die Sonne an jenem Die Ulanen mit ihren langen Lanzen und 4. August unterging, hatten den typischen Helmen. Auf Widerstand die deutschen Kavallerie- stießen sie nicht, nirgendwo bekamen sie verbände bei Visé die Maas belgische Soldaten zu sehen. Am späten erreicht. Der Kampf um Vormittag rückte eine Schwadron in die die Flussübergänge be- kleine Ortschaft Battice an der Straße nach gann. Im Grenzraum wa- Lüttich ein. Da peitschten plötzlich Schüs- ren alle Straßen, die von se durch die Stille des wie verlassen dalie- Osten, Süden und Norden genden Dorfes; sie mussten aus einem der her auf Lüttich zuliefen, Gehöfte gekommen sein. Drei, vier Deut- mit Marschkolonnen in sche stürzten getroffen aus dem Sattel – Feldgrau voll gestopft. vermutlich die ersten Opfer dieses Krieges. Am selben Abend, um 23 Die Ulanen bekamen Battice schnell un- Uhr Londoner Zeit, erfolg-

ter Kontrolle. Sie stellten fest, dass sich kei- te Großbritanniens Kriegs- GIMPEL / SFPLÉON / PHOTOS12 ne feindlichen Soldaten in dem Ort befan- eintritt – als unmittelbare Französische Soldaten im Schützengraben (1915) den. Also mussten sie von Zivilisten be- und zwangsläufige Reak- Mit Taxen an die Front schossen worden sein – von Partisanen, tion auf die Missachtung „Franktireuren“. Die Eindringlinge trieben der durch internationale Verträge garan- ihres Plans nötig gewesen wären. Die deut- die Bewohner von Battice aus ihren Häu- tierten belgischen Neutralität. Kaiser Wil- sche Armee, die an mehreren Fronten sern und brannten das Dorf nieder. helm II., zum ersten Mal von dunklen Vor- kämpfen musste, war der französischen, So folgten auf die ersten Gefallenen ahnungen erfüllt, beklagte sich bei Moltke: die es lediglich mit einem einzigen Gegner ohne Verzug die ersten Kriegsverbrechen: „Das habe ich gleich gedacht. Mir hat die- zu tun hatte, keineswegs massiv überlegen. Die deutsche Armee, die sich Gott emp- ses Vorgehen gegen Belgien den Krieg mit Doch Schlieffen und der schwermütige fohlen hatte und nach ihrem Selbstver- England auf den Hals gebracht.“ Moltke, vom Kaiser spöttisch „trauriger Doch der deutsche Generalstab ge- Julius“ genannt, hatten nach dem Eindruck horchte sklavisch einem unabänderlichen ihrer Umgebung etwas von Fatalisten. Sie Plan, der in seinen Grundzügen lange vor ließen dem Schicksal, das schon bald zum Kriegsausbruch von Moltkes Vorgänger Al- Verhängnis werden sollte, seinen Lauf – fred Graf von Schlieffen konzipiert worden im Vertrauen darauf, dass die Führungs- war. Die deutsch-französische Grenze in qualität des deutschen Offizierskorps, die Elsass-Lothringen war nur etwa 250 Kilo- Disziplin und der Kampfesmut des Heeres meter lang, fast die Hälfte davon wurde jeden Gegner ausstechen würden. durch das natürliche Hindernis der Voge- Zumindest an der Opferbereitschaft der sen gedeckt. Die Festungen von Belfort, jungen Deutschen gab es keinerlei Zweifel, Epinal, Toul und Verdun verriegelten die wie sich bereits in den ersten Tagen vor Lücken in dieser Kette, so dass ein fronta- Lüttich herausstellte. Der belgische Fes- ler Durchbruch kaum möglich schien. tungskommandant, General Gérard Le- Schlieffen wollte deshalb die linke fran- man, ließ seine mobile Infanterie zwischen zösische Flanke in einem weit ausholenden den zwölf Forts in Stellung gehen, wo sie Bogen umgehen. Der deutsche rechte Flü- sich eingrub. Die vorrückenden deutschen gel, der durch die neutralen Länder Belgien Kolonnen gerieten in verheerendes Feuer und Luxemburg um den damals deutschen – die grauen Massen gaben ein unverfehl- Angelpunkt Metz herum einschwenken bares Ziel ab, die Verteidiger brauchten sollte, musste so stark wie möglich sein: nur in den Haufen hineinzuhalten. 79 Divisionen hatte Schlieffen dafür vorge- Singend, wie wenig später bei Lange- sehen, während die restliche deutsche Front marck in Flandern, stürmten die Deutschen von Metz bis zur Schweizer Grenze nur vor, während ringsum ihre Kameraden fie- von 13 Divisionen, einigen Landwehrein- len. Sobald eine Angriffswelle nieder- heiten und den Garnisonen in Metz und gemäht war, bildete sich die nächste, ohne Straßburg gehalten werden sollte. viel an Boden zu gewinnen. Von Anfang an war sich der deutsche Die furchtbaren Verluste und die Hart- Generalstab über das enorme Risiko und näckigkeit der Deutschen verleiteten Ge- die logistischen Schwierigkeiten dieser neral Leman zu einem Fehlschluss: Er Strategie im Klaren. Denn Schlieffen und überschätzte die Stärke der Angreifer. Um Moltke zweifelten, ob sie über so viele seine mobilen Truppen zu retten, schickte Truppen verfügten, wie zur Verwirklichung er sie zurück nach Westen, damit sie sich

Drei Tage lang brannte die belgische Universitätsstadt Löwen,

HULTON ARCHIVE HULTON ein Kleinod an Architektur und Kunstschätzen.

der spiegel 9/2004 129 Deutsche Soldaten imStellungskrieg: Bajonett nieder. mitdem ganz normaleWehrpflichtige – keineswegs Sondereinsatztruppen, sondern sen; Überlebende machten dieSoldaten – ben undvon Exekutionspelotons erschos- den aufdemHauptplatzzusammengetrie- Tamines, 612 inDinant.DieGeiselnwur- und Kinder: 211 Tote inAndenne,384 Zivilisten, nichtnurMänner, auchFrauen massakrierten dieBesatzer immerwieder Andenne, Seilles,Tamines undDinant der Verwüstung. IndenkleinenStädten gert hatte, hinterließ inBelgieneine Spur Widerstand von Lüttich nurwenig verzö- Kürbisköpfe. ticher Befestigungswerke aufplatzen wie Granaten derLüt- ließendieBetonkuppeln spiellosen Kaliber 42Zentimeter. Deren Zentimeter undKrupp-Geschütze vom bei- geliehene Skoda-Mörser vom Kaliber 30,5 ge Belagerungsgeschütze, von Österreich riesi- Wunderwaffen diesesKrieges heran: Soldatenhundert belgische ergaben sich. gen, bisvon innengeöffnet wurde. Einpaar schlug mitdemKnaufseinesDegensdage- mindest gingesindieGeschichte ein, waren verschlossen. Ludendorff, sozu- derFestung.Zitadelle Dieschweren Tore vongleitet einemBrigade-Adjutanten, zur quartiermeister ErichLudendorff, nurbe- Lüttich zumUntergang verurteilt. schließen konnten. Damitwar dieFestung dem Rest derbelgischenArmee an- DER ERSTE WELTKRIEG Der Vormarsch derDeutschen,den die DeutschendieerstenDann führten Am 7. August Ober- fuhrderdeutsche DIE WESTFRONTDIE Wasser undRatten imGraben Opfer ihrer eigenen Strategie Generalstabschefs Schlieffen,Falkenhayn nen“ hatte jetztFrankreich Recht, Moral vom mordenden undplündernden „Hun- derruflich disqualifiziert.Gegen dasBild spitze desPatriotismus empfanden,unwi- Professoren undStudenten sichalsSpeer- die große deutscheKulturnation, deren wurdender Stadt davongejagt. Einwohner kamen umsLeben,die42000 und 1100 Gebäudezerstört; 209Zivilisten Büchern Universitätsbibliothek mit230000 ten. AmEndeihres Wütens hatten siedie zumeist nurinihrer Einbildungexistier- Deutschen „Franktireurs“ verborgen, die Bücherschätzen. Überall wähnten die ein KleinodanArchitektur, Kunst- und Löwen,tätsstadt das„belgische Oxford“, Vor denAugen der Welt hatte sich Drei Tage langbrannte dieUniversi- massenhaft starben wiedieSoldaten.massenhaft starben re, dieimGeschützfeuer alsbaldgenauso Tie- ne britischeArmeerekrutierte 165000 Pferde, undselbstdie klei- rierten 715000 den Generalstäben. DieDeutschenrequi- Männer veranschlagten dieFachleute in abhängig von Pferden. EinTier aufdrei Jahrhundert zuvor inihrer Beweglichkeit ten, waren wiezuNapoleons Zeiten ein Pferde halten. sie konnten sicheinigermaßen gerade zu Alter einberufen hatten –vorausgesetzt, Reserveoffiziere ohneRücksicht aufihr die Franzosen beiderMobilmachung und Kommandeure. Nun rächte sich,dass in diesenersten Wochen unfähige Generäle zösische Oberbefehlshaber Joseph Joffre Die Armeen, diedaaufeinander prall-

HULTON ARCHIVE (L.); ULLSTEIN BILDERDIENST (R.) henweise feuerte derfran- wurden abgeschlagen. Rei- Ardennen undimElsaß fensiven inLothringen, den gien vor. Französische Of- meter amTag durch Bel- schen von biszu30Kilo- Deutschen inGewaltmär- und Hausenrückten die der Generäle Bülow, Kluck mee unter demOberbefehl Mit ihrer 1.,2.und3.Ar- Erwartungen zuerfüllen. Schlieffenplan zunächstalle von Moltke abgeänderte ner Seite. und Zivilisationaufsei- Dabei schiendochder

AKG Knapp 30 Kilo an Waffen, Munition und gelöst; sein Nachfolger wurde Kriegsmi- bis 1895 starben bei den Deutschen 35 bis Ausrüstung schleppten die Männer, oft ge- nister Erich von Falkenhayn. Mit seinem 37 Prozent. Hunderttausende junger Frau- nug mit blutenden Füßen in steifen Stie- letzten Befehl ordnete Moltke die Befesti- en blieben zur Ehelosigkeit verurteilt. Hin- feln, durch die sommerliche Hitze. Wie gung der neuen deutschen Stellungen am zu kamen auf allen Seiten Millionen sich rasch herausstellte, machte den Fran- Ufer der Aisne an. Die deutsche Infanterie Kriegsversehrte, viele schwerstens ver- zosen ein ganz besonderes Handicap zu grub sich ein, der Bewegungskrieg war zu stümmelt und manche so im Gesicht ent- schaffen: Ihre veralteten Uniformen – blau- Ende, der Stellungskrieg begann. stellt, dass sie in eigenen Lazaretten ohne er Rock über roten Hosen – gaben in der Die französischen Rothosen hatten das Spiegel und abseits der Städte den Blicken hellen Augustsonne auf weite Entfernung Land gerettet, auch wenn der Alptraum entzogen wurden. prächtige Zielscheiben ab. Im Kochge- noch vier Jahre dauern sollte. Im ersten Kriegswinter schien die Mög- schirr, das sie oben auf dem Tornister tru- Der Preis dafür war furchtbar: Zwei Mil- lichkeit einer erfolgreichen Offensive, ganz gen, blinkte verräterisch das Licht, was ei- lionen Mann hatte die französische Armee gleich ob von alliierter oder deutscher Sei- nem jungen deutschen Leutnant namens mobilisiert, davon waren 306000 gefallen te, in weite Ferne gerückt. Die Armeen Erwin Rommel Gelegenheit gab, mit prä- zisem Feuer eine große Zahl von Franzo- Vormarsch sen in einem Getreidefeld zu töten. Mitten Der Krieg NIEDERLANDE im Krieg musste die französische Armee in der Deutschen 1914 aller Hast umrüsten. im Westen der Alliierten 1918 Vor der deutschen Walze traten Joffres bedeutende Soldaten überall den Rückzug an. Doch sie Antwerpen Schlachten wehrten sich mit dem Mut der Verzweif- deutsche Köln lung. Typisch die Meldung, die General BELGIEN Brüssel Armeen: Ferdinand Foch an der Spitze der 9. Armee Ypern 1. Rhein am 8. September 1914 verfasste: „Mein Lüttich Zentrum gibt nach, mein rechter Flügel 2. weicht zurück, Lage ausgezeichnet. Ich Namur greife an.“ Arras 3. Koblenz Zwischen dem 15. August und dem 10. September 1914 hatte die französische Ar- So mm DEUTSCHES mee 250000 Soldaten eingebüßt – Tote, e 4. Verwundete und Vermisste. Der Krieg Sedan schien verloren, Frankreich war besetzt bis zur Marne. Drei deutsche Armeen beweg- Chemin des LUXEMBURG (besetzt) Dames ten sich auf Paris zu. Die Regierung setzte 5. sich nach Bordeaux ab, der Stadtkom- REICH Reims mandant Gallieni bereitete die Sprengung Metz des Eiffelturms und der Seine-Brücken vor. Paris Verdun Da geschah, was bis heute alle französi- Seine Lothrin- gen schen Schulkinder als „Wunder an der 6. Marne“ lernen. Ein Opfer ihres eigenen Marne Erfolgs und des schnellen Vorstoßes, hatten Toul die Deutschen zwischen der 1. Armee un- FRANKREICH 7. n e ter General von Kluck und der 2. Armee s Grenzen vor 1914 e unter General von Bülow eine gefährliche g weitestes Vordringen der Deutschen Epinal Bresche von 40 Kilometer Breite aufgetan. o im September 1914 V Franzosen und Briten konnten ungehin- Frontverlauf im Winter 1914 dert in die eher zufällig entdeckte Lücke Elsass hineinstoßen, was möglicherweise „zu ei- „Hindenburglinie“ 1917 ner Katastrophe führen“ konnte, wie Frontverlauf Juli 1918 Belfort Bülow erkannte. Waffenstillstandslinie 11. Nov. 1918 0 50 km Joffre zog sofort seine verfügbaren Reser- ven zusammen, um die Chance zur Re- vanche zu nutzen. Hunderte Pariser Taxen und 600 000 verwundet. Die Deutschen waren ausgezehrt und erschöpft, es man- schafften in langen Konvois frische Soldaten hatten 241000 Soldaten verloren, davon al- gelte an Munition, vor allem für die Artil- an die Front. In fünf schrecklichen Kampf- lein 41000 Freiwillige, viele Abiturienten lerie, der regelmäßige Nachschub musste tagen wendeten die Franzosen die Lage. Aus und Studenten, bei Langemarck, nahe dem mühselig organisiert werden. Eine Art dem deutschen Hauptquartier kam der flämischen Ypern. Belgier und Briten hat- brüchiger Frieden senkte sich mit dem Ne- Befehl zum Rückzug, um die auseinander ten jeweils 30000 Tote zu beklagen. bel über die Schützengräben in der nord- gerissene Front zusammenzufügen und zu Und das war nur der Auftakt einer französischen Ebene. stabilisieren. Schlieffens großartiger Plan, Schreckensstatistik, die sich vier Jahre lang Getrennt durch ein „Niemandsland“, der den Sieg über Frankreich in sechs Wo- unaufhörlich fortschrieb. Am Ende des meistens 200 bis 300 Meter, an manchen chen verheißen hatte, war gescheitert. Krieges hatten rund 1,3 Millionen franzö- Stellen aber auch nur wenige Meter breit, Moltke, ein gebrochener Mann, wurde sische und 2037000 deutsche Soldaten den belauerten sich die beiden Armeen in ih- am 14. September als Generalstabschef ab- Tod gefunden. Von den Jahrgängen 1892 ren Gräben. Vom Frühjahr 1915 an wur- den die Stellungen durch Stacheldraht, ur- sprünglich eine Erfindung amerikanischer Viehzüchter, gesichert. Die Gräben bauten Knapp 30 Kilo Waffen, Munition und Ausrüstung schleppten die Soldaten immer komplexer und ver- die Männer durch die sommerliche Hitze. schachtelter aus, wobei es die Deutschen

der spiegel 9/2004 131 GALERIE BILDERWELT GALERIE

Breite tat sich in der Verteidigungslinie vor Ypern auf. Zum ersten Mal hatten die Deutschen tödliches Chlorgas eingesetzt; 6000 Stahlflaschen mit 180 Kubikmeter Gas kam an jenem Nachmittag zum Einsatz. Dann noch einmal am 24. April und am 1. Mai. Ein britischer Offizier berichtete, dass 90 seiner Männer nahezu augenblick- lich starben. Andere, die sich noch zu den Sanitätszentren schleppen konnten, ver- endeten nach langen Qualen. Falkenhayn gelang es nicht, das Durcheinander auszu- nutzen; um die Fronten zu durchbrechen und aufzurollen, waren seine Kräfte zu schwach. ROGER-VIOLLET (L.);ROGER-VIOLLET (M.) / FRANCE ECPAD CINÉMATHÈQUE ROBERT-LYNEN DE LA VILLE DE PARIS DE LA VILLE ROBERT-LYNEN CINÉMATHÈQUE Das tückische Giftgas war eine Errun- Schlachtfeld bei Verdun (1916), französische Befehlshaber Joffre, Foch, Pétain genschaft der IG Farben, entwickelt und Kahl rasierte Wälder, ausradierte Dörfer waffenfähig gemacht unter Anleitung des berühmten Chemikers und späteren No- zu höchster Kunstfertigkeit brachten. Hin- noch technisch in der Lage waren, ihnen belpreisträgers Fritz Haber vom Kaiser- ter dem Kampfgraben entstanden Rück- entscheidende Schläge zuzufügen. An ei- Wilhelm-Institut in Berlin. Der Schreckens- zugs-, Reserve- und Unterstützungslinien. nen Durchbruch und mithin an einen greif- ruf „Gas! Gas!“ war fortan der am meis- In dem Wirrwarr konnten sich die Einhei- baren Sieg war gar nicht zu denken. ten gefürchtete Alarm an der Westfront. ten leicht verlieren, kundige Führer muss- Alle Kriegsteilnehmer experimentierten Beide Seiten setzten die chemischen Mas- ten die Ersatztruppen nach vorn bringen. mit einer neuen Waffe: Giftgas. Am 22. senvernichtungswaffen – nicht nur Chlor- In die kreidige Erde der Somme-Region April 1915 setzten die Deutschen es zum gas, sondern auch Senfgas – ohne Skrupel und des Artois trieben die Deutschen Stol- ersten Mal ein. Bei Langemarck, wo die bis zum Ende des Krieges ein. Entschei- len von zehn Meter Tiefe und mehr, die alliierte Front wie eine Beule in die deut- dende Bedeutung erlangten sie nicht, denn selbst heftigstem Geschützfeuer widerste- schen Linien hineinragte, schien die Son- sie konnten nur bei günstiger Witterung hen konnten. ne; eine leichte Brise wehte von Ost nach verwendet werden. Schnell entwickelte Von 1914 bis 1917 blieb die Front im Wes- West. Gegen 17 Uhr begann das Drama. Gasmasken für Menschen und Pferde ten mehr oder weniger statisch, aber der Nach heftigem deutschen Artilleriefeuer boten außerdem halbwegs zuverlässigen Verlauf der Gräben, die oft voll Wasser bemerkten die Franzosen, überwiegend Schutz. standen und von Ratten wimmelten, än- Kolonialtruppen aus Algerien, wie eine Im scheinbar ausweglosen Patt des Stel- derte sich ständig. Das Schanzensystem gelbgrüne Wolke über den umgepflügten lungskriegs begann Falkenhayn sich dar- verschaffte den Verteidigern eine fast ab- Boden auf ihre Stellungen zukroch. Im über klar zu werden, dass sich das Kräfte- solute Überlegenheit. Die Maschinenge- nächsten Augenblick griffen sich die alge- verhältnis allmählich zu Gunsten der Al- wehre konnten das Feuer auf 4000 Meter rischen Schützen und Zuaven an die Keh- liierten neigte. Die Briten konnten noch eröffnen, ihrem Kugelhagel waren Angrei- le; sie husteten, spuckten und kotzten; die bedeutende Reserven an Soldaten ins Feld fer, die versuchten, das Niemandsland zu Gesichter liefen blau an. schicken, und die Franzosen steigerten ihre durchqueren, schutzlos ausgesetzt. Sämtli- Zu Tausenden taumelten sie halbblind industrielle Produktion an Kanonen, Gra- che Offensiven der Alliierten, ob die briti- vor dem unbekannten Höllenstoff nach naten und Gewehren um ein Vielfaches. sche im Artois oder die französische in der hinten. Eine Bresche von sieben Kilometer Im Herbst 1915 produzierten sie, vor allem Champagne, scheiterten nach unbedeu- tendem Geländegewinn. Mit unermüdlicher Ausdauer verfeiner- ten die Deutschen ihre Verteidigungsfähig- „Mein Bataillon ist auf 180 Männer geschrumpft. Ich habe keit, während die Alliierten weder taktisch weder Munition noch Verpflegung. Was soll ich tun?“

132 der spiegel 9/2004 DER ERSTE WELTKRIEG DIE WESTFRONT „Ein Hammerschlag auf Herz und Hirn“ Historiker widerlegen die Legende von der Kriegsbegeisterung der Volksmassen im Herbst 1914.

erade erst hat sich der Abiturient Bilder vom Kriegsbeginn die kollektive fen, herrscht in Arbeiterfamilien Zu- an der Münchner Universität ein- Erinnerung der Nation. Und doch: Sie kunftsangst: Wer soll sie ernähren, wenn Gschreiben lassen, da wirft er all spiegeln allenfalls die halbe Wahrheit der Ernährer in den Krieg zieht? seine Pläne um. „Auch für mich gibt es wider. Im Berliner Arbeiterviertel Moabit nun kein Halten mehr“, schreibt An- Tatsächlich belegen Unmengen von hält ein Pfarrer fest: „Die eigentliche Be- dreas Wilmer am Abend des 1. August Quellen, dass die gelenkte Presse und geisterung, ich möchte sagen, die aka- 1914 seiner Mutter: „Wie alle meine die gezielte Kriegspropaganda sowie spä- demische Begeisterung, wie sie sich der Kommilitonen habe ich mich sofort frei- ter die NS-Ideologen die These von der Gebildete leisten kann, der keine Nah- willig gemeldet.“ Kriegsbegeisterung zum „Mythos“ auf- rungssorgen hat, scheint mir doch zu Nie werde er die Eindrücke jenes Ta- geblasen haben. fehlen. Das Volk denkt sehr real, und die ges vergessen, die ihn wie all die ande- Überall in Deutschland haben sich Not liegt schwer auf den Menschen.“ ren Erstsemester zu den Fahnen eilen mittlerweile Profis wie Hobby-Historiker Auch in der Landbevölkerung dominie- ren Beklemmung und Niedergeschlagen- heit. Aus Südbayern melden Gendarmen, Schulmeister und Pfarrer „gedrückte ernste Stimmung“ (Pfarrkirchen), „of- fensichtliche Beklemmung“ (Ering) und „große Betrübnis“ (Aretsried). Die Kirchen sind überfüllt, allgegen- wärtig scheint die Ahnung, auch dieser Krieg werde mit den zu erwartenden Op- fern selbst bei „gutem Ausgang“ eine „schwere Heimsuchung“ bedeuten. Ein Gottesdienst geht als „Sacktüchleinpre- digt“ in die Chronik der Pfarrei Oster- buch ein: „Die Männer weinten, die Weiber schluchzten.“ Auf die düstere Stimmung auf dem Lande geht am 2. August 1914 auch ein „Aufruf der Königin Marie Therese an die Frauen und Jungfrauen Bayerns“ ein, doch bitte zur Notlinderung bei- zutragen: „Draußen fließt Blut, herin- nen fließen Tränen.“ Entsetzen herrscht

BPK im Badischen, nahe der Westgrenze: Ausrückendes Militär in Berlin: „Tief im historischen Bewusstsein verankert“ „Das wuchtete wie ein Hammerschlag auf Herz und Hirn“, heißt es im Frei- lassen: „Vor der Feldherrenhalle stand auf Spurensuche begeben. In Kirchen- burger Stadtarchiv. Aus Ebingen in ein Trommlerkorps mit blitzenden und Stadtarchiven, Tagebüchern und Hohenzollern ist eine ähnliche Reak- Pickelhauben. Als ein Feldwebel die Feldpostbriefen finden Lokalforscher Be- tion überliefert: „Grauen erfüllt die Kriegserklärung verlas, jubelten alle; lege, die das so lange kolportierte Bild Seelen.“ Strohhüte flogen in die Luft.“ vom Kriegsbeginn relativieren. Es gibt Ausnahmen von der Regel. Glockengeläut, Choräle, wildfremde Selbst im Zentrum der Hauptstadt Ledige junge Männer erhoffen sich von Menschen, die sich in die Arme fallen – Berlin – wo Dokumentaraufnahmen den dem vermeintlichen Blitzkrieg („Weih- jahrzehntelang galt als gesichert, dass die Zeitgenossen wie den Nachgeborenen nachten sind wir wieder zu Hause“) Volksmassen frohlockten, als der Krieg alles beherrschende Begeisterung sugge- Prestigegewinn und Abwechslung. „Jetzt ausbrach. „Nur wenige Vorstellungen rierten – hielt sich die Hurra-Stimmung kommen wir auch einmal hinaus“ – aus sind so tief in unserem historischen Be- in Grenzen. „Viele Frauen mit verwein- solchen Äußerungen folgert der Histori- wusstsein verankert wie die Kriegsbegeis- ten Gesichtern“, notierte ein Augen- ker Benjamin Ziemann, der Krieg habe terung von 1914“, urteilt der Geschichts- zeuge, der „Ernst und Bedrücktheit“ für junge Burschen auch „einen touristi- wissenschaftler Wolfgang Kruse. registrierte: „Kein Jubel, keine Begeis- schen Aspekt“. Die Kriegsfreiwilligen Ein Volk, das plötzlich keine Parteien terung.“ Wohl vernahm der Tagebuch- erwarten eher Auseinandersetzungen im mehr kennt, sondern nur noch Deutsche; schreiber „Hochrufe und singende Grup- Stil dörflicher Raufereien als jenes Ge- siegesgewisse Soldaten in karnevaleskem pen vor dem Kronprinzenpalais“. Aber: metzel, das binnen vier Jahren 15 Mil- Übermut; Sommerblumen in den Ge- „Die Weiterwegstehenden passiv.“ lionen Tote fordern soll. wehrläufen; Truppentransporte in Wag- Während das Großbürgertum feiert Als die jungen Soldaten in den Tagen gons mit kriegerischen Kreideparolen – und junge Studenten sich kriegerische der Mobilmachung in naiver Begeiste- fast ein Jahrhundert lang prägten diese Abenteuer in fremden Ländern erhof- rung die Züge zur Front besteigen,

134 der spiegel 9/2004 dank der Frauenarbeit, 100000 Artillerie- geschosse und 1500 Gewehre pro Tag. kommt es vielerorts auf dem Land zu Ju- Deutschland und seine Verbündeten belkundgebungen. Auf den Bahnsteigen könnten nicht endlos standhalten, schrieb bemühen sich die Honoratioren, den Sol- Falkenhayn in einer Denkschrift, die er daten einen repräsentativen Abschied zu Weihnachten 1915 dem Kaiser vorgetragen bereiten und ihnen Mut zuzusprechen. haben will. Um aus der Sackgasse heraus- Deshalb, so Ziemann, werden „die Re- zukommen, schlug er eine begrenzte Of- servisten dann in festlicher Stimmung fensive an einem neuralgischen Punkt vor, verabschiedet“ – obgleich es vielen An- die Frankreichs Führung zwingen würde, gehörigen schwer fällt, die Tränen zu un- alle verfügbaren Männer zur Verteidigung terdrücken. heranzuziehen: „Tut sie es, werden die Mit einer merkwürdig anmutenden französischen Kräfte verbluten.“ Melange aus Beklommenheit und Aufat- Als Ziel bezeichnete der Generalstabs- men reagieren manche Menschen auf die chef die Festung Verdun an einer Krüm- Mobilmachung. Nach Wochen quälender mung der Maas. Der Erfolg schien garan- Ungewissheit und „ewigem Hin und Her“ tiert. Wenn die Franzosen aufgäben, würden zwischen Kriegsängsten und Friedens- sie Verdun verlieren; wenn sie ausharrten, hoffnungen löst die „schlimme Gewiss- ihre Armee. heit“ des Kriegsbeginns so etwas wie Die von den Deutschen so genannte Erleichterung aus – lieber ein Ende mit „Operation Gericht“ begann am Morgen

Schrecken als Schrecken ohne Ende. des 21. Februar 1916 mit einem Donner- GIMPEL / SFPLÉON / PHOTOS12 Erfahrene Beobachter reagieren auf schlag. Im Wald von Caures prasselten auf Soldatengräber in Frankreich* den Jubel der Jungen mit Entsetzen. „Es einer Fläche von 500 mal 1000 Meter 80000 Furchtbare Verluste war ein unbeschreibliches Gefühl, diese Granaten nieder, bevor die deutsche Infan- singenden jungen Männerstimmen durch terie antrat. Zwei Tage später meldete ein Was Falkenhayn indes nicht bedacht hat- die Nacht zu hören und dabei zu wissen, überlebender Leutnant der 72. französi- te: Schon am 27. Februar kam seine Offensi- sie ziehen ja alle in den Tod“, beschreibt schen Division seinen Vorgesetzten: „Kom- ve nach einem Vorstoß von sechs Kilome- Ernst Ludwig, Großherzog von Hessen, mandeur und alle Kompanieführer sind ge- tern ins Stocken, und die Deutschen began- den Kriegsbeginn: „Es war oft kaum aus- fallen. Mein Bataillon ist auf 180 Männer nen genauso auszubluten wie die Franzo- zuhalten.“ (von 600) geschrumpft. Ich habe weder Mu- sen. Der Abnutzungskrieg war gescheitert. Der Abiturient Wilmer, der sich, von nition noch Verpflegung. Was soll ich tun?“ Falkenhayn wollte seinen Misserfolg nicht Begeisterung übermannt, am 1. August Am 25. Februar nahmen die Deutschen wahrhaben und ließ weiter an wechselnden als Freiwilliger registrieren lässt, schreibt im Handstreich Fort Douaumont ein. Ver- Punkten rund um Verdun angreifen. Bis knapp ein Vierteljahr später aus Flandern dun schien vor dem Fall. Die Franzosen Ende Juni hatten beide Seiten über 200000 nach Hause: „Mit welchen überschwäng- verhielten sich genau so, wie Falkenhayn Tote und Verwundete zu beklagen. lichen Gefühlen bin ich in diesen Krieg es vorausgesehen hatte: Sie warfen unter Die Landschaft um Verdun verwandelte gezogen, liebe Mutter. Und jetzt sitze ich dem neuen Verteidiger Philippe Pétain sich gespenstisch. Bis heute hat sie ihren hier, von Grauen geschüttelt …“ alle Reserven in die Schlacht und zogen natürlichen Zustand nicht wiedergefunden Im November 1914 trifft ihn bei Lan- im ganzen Land 12 000 Lastwagen zu- – kahl rasierte Wälder mit Baumstümpfen gemarck ein Lungensteckschuss, und er sammen, um die Festung über die „Voie wie Streichhölzer, von Kratern durch- diktiert im Lazarett einen weiteren Brief sacrée“, die heilige Straße zwischen Bar- löcherter Boden, ausradierte Dörfer geben an seine Mutter: „Die Hölle konnte nicht le-Duc und Verdun, mit Nachschub zu ver- ein eigenartig morbides Bild ab wie aus schlimmer sein.“ Wenig später meldet sorgen. Die Stadt an der Maas wurde zum einer anderen Welt. ein Oberstabsarzt der Familie per Feld- Symbol des Widerstandswillens der ge- Falkenhayns Gegenspieler erwiesen sich post den Exitus des jungen Studenten: samten Nation. als Glücksfall für die Deutschen in dieser „Er starb für Gott und Vaterland.“ kritischen Phase, denn sie glänzten ebenfalls Jochen Bölsche * Im Oktober 1914 in Nanteuil-le-Haudouin. nicht gerade als strategische Großmeister. Um die schwer bedrängten Fran- zosen zu entlasten, startete der bri- tische Feldmarschall Douglas Haig eine gewaltige Offensive an der Somme. Sie sollte, wie der Histori- ker John Keegan urteilt, zum größ- ten militärischen Desaster der bri- tischen Geschichte werden. Haig, ein verschlossener und für seine Umgebung rätselhafter Offi- zier, zog an der Somme 20 Divi- sionen zusammen; dazu 1000 Feld- geschütze, 180 schwere Geschütze und 245 Mörser. An die drei Mil- lionen Granaten hatten die Briten nach vorn bringen lassen. Alle 20 Meter Frontlinie stand ein Ge-

CORBIS schütz. Das Trommelfeuer auf die

Deutsche Soldaten in Belgien „Von Grauen geschüttelt“ 135 Britische Artillerie an der Somme (1916): Größtes militärisches Desaster in der Geschichte des Königreichs deutschen Linien sollte so verheerend sein, Ende August 1916 löste Kaiser Wilhelm Im Frühjahr 1917, das wusste Ludendorff, dass die britische Infanterie anschließend den tüchtigen, aber glücklosen Falkenhayn würde Deutschland mit Sicherheit von das Niemandsland, nur mit dem Spazier- ab. An die Spitze des Heeres berief er die allen Seiten angegriffen werden. An der stock bewaffnet, durchqueren könnte, wie populären Sieger von der Ostfront: Paul Westfront hatten die Alliierten inzwischen Haig glaubte. von Hindenburg wurde zum Chef des Ge- 3,2 Millionen Soldaten stehen, gegenüber Aus den Erfahrungen von Verdun hatte neralstabs und Erich Ludendorff zum 2,8 Millionen auf der deutschen Seite. Die der britische Feldmarschall gelernt, dass in Ersten Generalquartiermeister ernannt. Verluste, die Deutschland bei Verdun und einer „Zermürbungsschlacht unsere Trup- Die Weichen für den Marsch ins Ver- an der Somme erlitten hatte, waren nicht pen möglicherweise stärker als jene des hängnis waren gestellt. Mit seinem strate- mehr wettzumachen; die Kampfkraft des Feindes aufgebraucht werden“. Dies war gischen Scharfsinn und seinem überragen- Heeres ließ sich längst nicht mehr mit der zwar richtig, aber Haig zog daraus den den Organisationsgeschick konnte Luden- von 1914 oder 1915 vergleichen. Schluss, er müsse mit einem massiven dorff den Krieg noch in die Länge ziehen; Angesichts dieser unerfreulichen Lage Frontalangriff einen Durchbruch erzielen. der Endsieg, an den er glaubte, rückte aber entschied sich Ludendorff für eine neue Ein furchtbarer Irrtum: Am ersten Tag der wahrscheinlich bereits zu diesem Zeitpunkt Verteidigungstaktik. Statt die vordersten Schlacht, dem 1. Juli 1916, verloren die Bri- in unerreichbare Ferne. Die Radikalisie- Stellungen in starrer Linie bis zum Letzten ten binnen weniger Stunden 60000 Mann, rung des Kriegs unter den neuen Befehls- zu halten, sollte die Abwehrschlacht mit die deutschen Verteidiger nur 6000. Doch habern brachte das Deutsche Reich wohl beweglichen Einheiten in der Tiefe des Haig machte wider bessere Kenntnis wei- um die letzte kleine Chance, einen Ver- Raums geführt werden. Dadurch würden ter, obwohl er zu vermuten begann, die handlungsfrieden durchzusetzen. die Verluste geringer, starke Kräfte für ei- Deutschen seien nun, indem sie in der De- fensive blieben, diejenigen, die „unsere Truppen mürbe machen“. Nach der gescheiterten Schlacht ent- setzte sich der britische Premierminister Lloyd George: „Haig ist es völlig gleich- gültig, wie viele Soldaten er verliert, er verschwendet einfach das Leben dieser Jungs.“ In dieser Gefühllosigkeit unter- schied sich der Brite nicht von den meisten seiner französischen und deutschen Kolle- gen, für die Opferzahlen offenbar nichts anderes als eine abstrakte Größe der mi-

litärischen Geschäftsbilanz darstellten. BILDERWELT GALERIE

Zerbombtes Verdun (1916) Symbol französischen Widerstands 136 velle wurde entlassen unddurch Pétain er- nutzlosen Angriffen verheizen lassen. Ni- sinnlos hielten, undwollten sichnichtin gerten sich,Befehlen zufolgen, diesiefür dieSoldaten wei- brachen Meutereien aus; sammenbruch sonahe.In54 Divisionen Mann. greifer 147000 schlag. Inzwei Wochen verloren dieAn- Dames geriet zummörderischen Fehl- die französische Operation amChemindes währte sichtrotz Schocks, desanfänglichen neueVerteidigungsdoktrinLudendorffs be- Champagne undanderAisnean.Doch Nivelle zurFrühjahrsoffensive inder ter ihrem neuenOberbefehlshaber Robert Stehen gebracht, traten dieFranzosen un- unterAngriff bedrohlichen Verlusten zum Armeen beiArras los. Kaum war dieser teidigungsstellung inFrankreich werden. „Hindenburg-Linie“ sollte dieletzte Ver- evakuierten dieBevölkerung. Dieneue Brunnen. Sielegten Minenfelder anund die Deutschenalles–Häuser, Bäume, Feind. Indergeräumten Zonezerstörten plötzlich keine Berührungmehrmitdem Kilometer Länge hatten dieAlliierten nen zurück.AneinemAbschnitt von 150 auf stark ausgebaute Verteidigungspositio- 29 deutscheDivisionen30Kilometer weit völlig überraschte. ImMärz1917 zogen sich begradigung an,dieBriten undFranzosen feindlichen Feldartillerie bereit. gestaffelt, außerhalb desFeuerbereichs der nen Gegenangriff hielten sich,rückwärts Nie schienFrankreich deminneren Zu- Zu Ostern 1917 schlugen zwei britische Zudem ordnete Ludendorff eineFront-

HULTON / GETTY IMAGES chende Einheiten beschimpften vorrücken- die Kontrolle überdie Truppe. Zurückwei- und sichzubetrinken. gungsdepots derAlliierten zuplündern sie oft genug inne,umdieüppigen Versor- statt planmäßigvorzurücken, hielten geist; Divisionen bewiesen noch Kampf- kaum Mancheder sungserscheinungen gemischt: Michael hatten sichbereits erste Auflö- die Anfangserfolge desUnternehmens lange. In jedenfallsnicht mehr möglich, ersten amerikanischenVerstärkungen nicht Auch dasschiennachdemEintreffen der vollen Verhandlungsfrieden abzutrotzen? um denAlliierten dochnocheinenehren- weiter aufrechterhalten können, im Westen geherrscht hatte, noch entschieden, dasvierJahre lang Aufbäumen mehrgewinnen. nicht land denKriegnachdiesemletzten Mittelnlitärischen konnte Deutsch- Angriffsversuche einstellen. Mitmi- musste Ludendorff alle weiteren vordringen konnten. Mitte Juli stärkungen heran, alsdieAngreifer Verteidiger schafften schnellerVer- den Durchbruch zuerzielen.Die lich gewesen, einenentscheiden- strategische Lage unverändert. fährdet, dochamEndebliebdie „Dicke Bertha“, schienwiederge- weite desMammutgeschützes meter anBoden.Paris, inReich- schen gewannen biszu60 Kilo- großer Erfolg, taktischer dieDeut- Operation „Michael“ wurde ein bemächtigte.und Engländer Die noch einmaleiskalte AngstderFranzosen anderen anderWestfront, obwohl sich Schlag aus–ergingdaneben,wiealle holte Ludendorff imMärz1918 zumletzten hungerte undverblutete. den, während langsamver- Deutschland an Menschen undMaterial verfügen wür- über einschierunerschöpflichesReservoir von nunanwar klar, dassdieWestalliierten Pershing inFrankreich auftauchten. Aber die ersten US-Truppen unter General John Weise.fatale Zwar sollte esnochdauern, bis zen desamerikanischen Eingreifens auf Generalstab unterschätzte dieKonsequen- Krieg wiederaufzunehmen. Derdeutsche sen hatte, denuneingeschränkten U-Boot- undderAdmiralitätLudendorffs beschlos- nachdem dieReichsregierung aufDrängen am 6.April DeutschlanddenKrieg erklärte, ging fastunter, dassderKongress derUSA verurteilt, biszu75von ihnenhingerichtet. etwa 600„Rädelsführer“ wurden zumTode Soldaten vors Kriegsgericht; rund 23000 kamen gleichzeitig und mehrFronturlaub; Soldaten versprach erbessere Verpflegung Den brot undPeitsche wiederherstellte. setzt, derdieMoral derTruppe mitZucker- In vielenFällen verloren dieOffiziere Hätte dasKaiserreich dasUn- Wieder einmalwar esnichtmög- Nach demSiegüberRusslandimOsten In denTurbulenzen diesesFrühjahrs 1917 der spiegel 9/2004

BPK Einsatz ohneSkrupel Englische Soldaten mitGasmasken (1916) DIE WESTFRONTDIE Kaiser mehr.“ gen habenwirkein Kaiserreich undkeinen „Du wirstsehen,in14Ta- selben Abend: lassung gebeten. SeinerFrau sagte eram hatte Ludendoff denKaiser umseineEnt- Feind kämpfteineschlaueRückzugsaktion Feldgeistliche JulianBickersteth: „Der unterzeichnet wurde, schrieb derbritische 1918, vierTage bevor derWaffenstillstand diese Liniezuhalten“. Am7. November sich andieGrenzen zurückzuziehenund „fähig, Heerzum Schlussdasdeutsche für am meisten. Feldmarschall Haighieltbis rasch aufgaben, überraschte denGegner drohlich gekämpft hatten, nunmehrso Waffenstillstand käme. lösen würde, wenn esnichtschnellzum te zudemSchluss,dassdasHeer sichauf- Niall Ferguson urteilt. Ludendorff gelang- schen Kampfmoral“, wiederHistoriker sondern dieendogene„Krise derdeut- sen undAmerikaner beendete denKrieg, terielle Überlegenheit derBriten, Franzo- Mengen zuergeben. Nichtsosehrdiema- deutsche Soldaten bereit, sichingrößeren ersten MalindiesemKrieg zeigten sich Sommer 1918 war keine Flucht. Dochzum Truppe unddesdeutschenVolkes verloren. Nerven amEnde,hatte das Vertrauen der nehmend reizbar, feindselig undmitden und „Kriegsverlängerer“. Ludendorff, zu- de Reservedivisionen als„Streikbrecher“ zumindest sechsMonate dauernwerden.“ gen. Wir alleerwarten weitere Kämpfe, die bringen können, sichschnellerzubewe- durch, wiewirihndazu undichsehenicht, den Keim fürHitlersExpansionspläne. Der deutscheVorstoß biszumKaukasus legte OSTEN IM KRIEG DER Im nächstenHeft Zwei Wochen zuvor, am26.Oktober, diesozähundbe- Dass dieDeutschen, Gewiss, derdeutscheRückzugabdem DER ERSTE WELTKRIEG Romain Leick 137 DER ERSTE WELTKRIEG DIE WESTFRONT „Ein Hammerschlag auf Herz und Hirn“ Historiker widerlegen die Legende von der Kriegsbegeisterung der Volksmassen im Herbst 1914.

erade erst hat sich der Abiturient Bilder vom Kriegsbeginn die kollektive fen, herrscht in Arbeiterfamilien Zu- an der Münchner Universität ein- Erinnerung der Nation. Und doch: Sie kunftsangst: Wer soll sie ernähren, wenn Gschreiben lassen, da wirft er all spiegeln allenfalls die halbe Wahrheit der Ernährer in den Krieg zieht? seine Pläne um. „Auch für mich gibt es wider. Im Berliner Arbeiterviertel Moabit nun kein Halten mehr“, schreibt An- Tatsächlich belegen Unmengen von hält ein Pfarrer fest: „Die eigentliche Be- dreas Wilmer am Abend des 1. August Quellen, dass die gelenkte Presse und geisterung, ich möchte sagen, die aka- 1914 seiner Mutter: „Wie alle meine die gezielte Kriegspropaganda sowie spä- demische Begeisterung, wie sie sich der Kommilitonen habe ich mich sofort frei- ter die NS-Ideologen die These von der Gebildete leisten kann, der keine Nah- willig gemeldet.“ Kriegsbegeisterung zum „Mythos“ auf- rungssorgen hat, scheint mir doch zu Nie werde er die Eindrücke jenes Ta- geblasen haben. fehlen. Das Volk denkt sehr real, und die ges vergessen, die ihn wie all die ande- Überall in Deutschland haben sich Not liegt schwer auf den Menschen.“ ren Erstsemester zu den Fahnen eilen mittlerweile Profis wie Hobby-Historiker Auch in der Landbevölkerung dominie- ren Beklemmung und Niedergeschlagen- heit. Aus Südbayern melden Gendarmen, Schulmeister und Pfarrer „gedrückte ernste Stimmung“ (Pfarrkirchen), „of- fensichtliche Beklemmung“ (Ering) und „große Betrübnis“ (Aretsried). Die Kirchen sind überfüllt, allgegen- wärtig scheint die Ahnung, auch dieser Krieg werde mit den zu erwartenden Op- fern selbst bei „gutem Ausgang“ eine „schwere Heimsuchung“ bedeuten. Ein Gottesdienst geht als „Sacktüchleinpre- digt“ in die Chronik der Pfarrei Oster- buch ein: „Die Männer weinten, die Weiber schluchzten.“ Auf die düstere Stimmung auf dem Lande geht am 2. August 1914 auch ein „Aufruf der Königin Marie Therese an die Frauen und Jungfrauen Bayerns“ ein, doch bitte zur Notlinderung bei- zutragen: „Draußen fließt Blut, herin- nen fließen Tränen.“ Entsetzen herrscht

BPK im Badischen, nahe der Westgrenze: Ausrückendes Militär in Berlin: „Tief im historischen Bewusstsein verankert“ „Das wuchtete wie ein Hammerschlag auf Herz und Hirn“, heißt es im Frei- lassen: „Vor der Feldherrenhalle stand auf Spurensuche begeben. In Kirchen- burger Stadtarchiv. Aus Ebingen in ein Trommlerkorps mit blitzenden und Stadtarchiven, Tagebüchern und Hohenzollern ist eine ähnliche Reak- Pickelhauben. Als ein Feldwebel die Feldpostbriefen finden Lokalforscher Be- tion überliefert: „Grauen erfüllt die Kriegserklärung verlas, jubelten alle; lege, die das so lange kolportierte Bild Seelen.“ Strohhüte flogen in die Luft.“ vom Kriegsbeginn relativieren. Es gibt Ausnahmen von der Regel. Glockengeläut, Choräle, wildfremde Selbst im Zentrum der Hauptstadt Ledige junge Männer erhoffen sich von Menschen, die sich in die Arme fallen – Berlin – wo Dokumentaraufnahmen den dem vermeintlichen Blitzkrieg („Weih- jahrzehntelang galt als gesichert, dass die Zeitgenossen wie den Nachgeborenen nachten sind wir wieder zu Hause“) Volksmassen frohlockten, als der Krieg alles beherrschende Begeisterung sugge- Prestigegewinn und Abwechslung. „Jetzt ausbrach. „Nur wenige Vorstellungen rierten – hielt sich die Hurra-Stimmung kommen wir auch einmal hinaus“ – aus sind so tief in unserem historischen Be- in Grenzen. „Viele Frauen mit verwein- solchen Äußerungen folgert der Histori- wusstsein verankert wie die Kriegsbegeis- ten Gesichtern“, notierte ein Augen- ker Benjamin Ziemann, der Krieg habe terung von 1914“, urteilt der Geschichts- zeuge, der „Ernst und Bedrücktheit“ für junge Burschen auch „einen touristi- wissenschaftler Wolfgang Kruse. registrierte: „Kein Jubel, keine Begeis- schen Aspekt“. Die Kriegsfreiwilligen Ein Volk, das plötzlich keine Parteien terung.“ Wohl vernahm der Tagebuch- erwarten eher Auseinandersetzungen im mehr kennt, sondern nur noch Deutsche; schreiber „Hochrufe und singende Grup- Stil dörflicher Raufereien als jenes Ge- siegesgewisse Soldaten in karnevaleskem pen vor dem Kronprinzenpalais“. Aber: metzel, das binnen vier Jahren 15 Mil- Übermut; Sommerblumen in den Ge- „Die Weiterwegstehenden passiv.“ lionen Tote fordern soll. wehrläufen; Truppentransporte in Wag- Während das Großbürgertum feiert Als die jungen Soldaten in den Tagen gons mit kriegerischen Kreideparolen – und junge Studenten sich kriegerische der Mobilmachung in naiver Begeiste- fast ein Jahrhundert lang prägten diese Abenteuer in fremden Ländern erhof- rung die Züge zur Front besteigen,

134 der spiegel 9/2004 dank der Frauenarbeit, 100000 Artillerie- geschosse und 1500 Gewehre pro Tag. kommt es vielerorts auf dem Land zu Ju- Deutschland und seine Verbündeten belkundgebungen. Auf den Bahnsteigen könnten nicht endlos standhalten, schrieb bemühen sich die Honoratioren, den Sol- Falkenhayn in einer Denkschrift, die er daten einen repräsentativen Abschied zu Weihnachten 1915 dem Kaiser vorgetragen bereiten und ihnen Mut zuzusprechen. haben will. Um aus der Sackgasse heraus- Deshalb, so Ziemann, werden „die Re- zukommen, schlug er eine begrenzte Of- servisten dann in festlicher Stimmung fensive an einem neuralgischen Punkt vor, verabschiedet“ – obgleich es vielen An- die Frankreichs Führung zwingen würde, gehörigen schwer fällt, die Tränen zu un- alle verfügbaren Männer zur Verteidigung terdrücken. heranzuziehen: „Tut sie es, werden die Mit einer merkwürdig anmutenden französischen Kräfte verbluten.“ Melange aus Beklommenheit und Aufat- Als Ziel bezeichnete der Generalstabs- men reagieren manche Menschen auf die chef die Festung Verdun an einer Krüm- Mobilmachung. Nach Wochen quälender mung der Maas. Der Erfolg schien garan- Ungewissheit und „ewigem Hin und Her“ tiert. Wenn die Franzosen aufgäben, würden zwischen Kriegsängsten und Friedens- sie Verdun verlieren; wenn sie ausharrten, hoffnungen löst die „schlimme Gewiss- ihre Armee. heit“ des Kriegsbeginns so etwas wie Die von den Deutschen so genannte Erleichterung aus – lieber ein Ende mit „Operation Gericht“ begann am Morgen

Schrecken als Schrecken ohne Ende. des 21. Februar 1916 mit einem Donner- GIMPEL / SFPLÉON / PHOTOS12 Erfahrene Beobachter reagieren auf schlag. Im Wald von Caures prasselten auf Soldatengräber in Frankreich* den Jubel der Jungen mit Entsetzen. „Es einer Fläche von 500 mal 1000 Meter 80000 Furchtbare Verluste war ein unbeschreibliches Gefühl, diese Granaten nieder, bevor die deutsche Infan- singenden jungen Männerstimmen durch terie antrat. Zwei Tage später meldete ein Was Falkenhayn indes nicht bedacht hat- die Nacht zu hören und dabei zu wissen, überlebender Leutnant der 72. französi- te: Schon am 27. Februar kam seine Offensi- sie ziehen ja alle in den Tod“, beschreibt schen Division seinen Vorgesetzten: „Kom- ve nach einem Vorstoß von sechs Kilome- Ernst Ludwig, Großherzog von Hessen, mandeur und alle Kompanieführer sind ge- tern ins Stocken, und die Deutschen began- den Kriegsbeginn: „Es war oft kaum aus- fallen. Mein Bataillon ist auf 180 Männer nen genauso auszubluten wie die Franzo- zuhalten.“ (von 600) geschrumpft. Ich habe weder Mu- sen. Der Abnutzungskrieg war gescheitert. Der Abiturient Wilmer, der sich, von nition noch Verpflegung. Was soll ich tun?“ Falkenhayn wollte seinen Misserfolg nicht Begeisterung übermannt, am 1. August Am 25. Februar nahmen die Deutschen wahrhaben und ließ weiter an wechselnden als Freiwilliger registrieren lässt, schreibt im Handstreich Fort Douaumont ein. Ver- Punkten rund um Verdun angreifen. Bis knapp ein Vierteljahr später aus Flandern dun schien vor dem Fall. Die Franzosen Ende Juni hatten beide Seiten über 200000 nach Hause: „Mit welchen überschwäng- verhielten sich genau so, wie Falkenhayn Tote und Verwundete zu beklagen. lichen Gefühlen bin ich in diesen Krieg es vorausgesehen hatte: Sie warfen unter Die Landschaft um Verdun verwandelte gezogen, liebe Mutter. Und jetzt sitze ich dem neuen Verteidiger Philippe Pétain sich gespenstisch. Bis heute hat sie ihren hier, von Grauen geschüttelt …“ alle Reserven in die Schlacht und zogen natürlichen Zustand nicht wiedergefunden Im November 1914 trifft ihn bei Lan- im ganzen Land 12 000 Lastwagen zu- – kahl rasierte Wälder mit Baumstümpfen gemarck ein Lungensteckschuss, und er sammen, um die Festung über die „Voie wie Streichhölzer, von Kratern durch- diktiert im Lazarett einen weiteren Brief sacrée“, die heilige Straße zwischen Bar- löcherter Boden, ausradierte Dörfer geben an seine Mutter: „Die Hölle konnte nicht le-Duc und Verdun, mit Nachschub zu ver- ein eigenartig morbides Bild ab wie aus schlimmer sein.“ Wenig später meldet sorgen. Die Stadt an der Maas wurde zum einer anderen Welt. ein Oberstabsarzt der Familie per Feld- Symbol des Widerstandswillens der ge- Falkenhayns Gegenspieler erwiesen sich post den Exitus des jungen Studenten: samten Nation. als Glücksfall für die Deutschen in dieser „Er starb für Gott und Vaterland.“ kritischen Phase, denn sie glänzten ebenfalls Jochen Bölsche * Im Oktober 1914 in Nanteuil-le-Haudouin. nicht gerade als strategische Großmeister. Um die schwer bedrängten Fran- zosen zu entlasten, startete der bri- tische Feldmarschall Douglas Haig eine gewaltige Offensive an der Somme. Sie sollte, wie der Histori- ker John Keegan urteilt, zum größ- ten militärischen Desaster der bri- tischen Geschichte werden. Haig, ein verschlossener und für seine Umgebung rätselhafter Offi- zier, zog an der Somme 20 Divi- sionen zusammen; dazu 1000 Feld- geschütze, 180 schwere Geschütze und 245 Mörser. An die drei Mil- lionen Granaten hatten die Briten nach vorn bringen lassen. Alle 20 Meter Frontlinie stand ein Ge-

CORBIS schütz. Das Trommelfeuer auf die

Deutsche Soldaten in Belgien „Von Grauen geschüttelt“ 135 Sport

FUSSBALL Eine Elf für die Welt Der Rausch um das Star-Ensemble von Real Madrid, in der Champions League Gegner von Bayern München, hat eine einzigartige Dimension erreicht. Und Präsident Florentino Pérez baut weiter an seinem Fußball-Imperium. Erstmals muss ein Hauptdarsteller um seinen Job fürchten.

n dem Hochgeschwindigkeitszug Die tumultartigen Szenen um die AVE 9636, der am Dienstag ver- Profis von Real Madrid gleichen sich. Igangener Woche in zweieinhalb Ob in Südspanien, beim Trainingsla- Stunden von Madrid nach Sevilla ras- ger im chinesischen Kunming, bei ei- te, herrschte eine gedämpfte Atmo- nem Freundschaftsspiel in Tokio oder sphäre. Kaum einer der Reisenden bei den Übungseinheiten im Vorort hatte bemerkt, dass in einem der Las Rozas – wo die Spieler des spani- Waggons die Fußballprofis von Real schen Rekordmeisters auftauchen, Madrid saßen – die Mannschaft war gerät die öffentliche Ordnung in Ge- auf dem Weg zum Halbfinal-Rück- fahr. spiel der „Copa del Rey“ gegen den Dass die Mannschaft weltweit Ge- FC Sevilla. fühlsbeben auslöst wie kein anderes Bei der Ankunft in der andalusi- Fußballteam, basiert auf einer kühlen

schen Metropole indes zeigte sich, STAR GUMM / WHITE MONICA Strategie des Präsidenten: Seit seiner dass es eine gewagte Idee der Real- Real-Trophäensammlung Wahl vor fast vier Jahren hat Floren- Führung war, Popstars wie David Den Mythos der „Königlichen“ ausbeuten tino Pérez, als Konzernlenker des Beckham, Zinedine Zidane, Raúl, Ro- Bauunternehmens ACS einer der ein- naldo, Roberto Carlos oder Luis Figo flussreichsten Wirtschaftsmagnaten in einem öffentlichen Verkehrsmittel Spaniens, zu Beginn jeder Saison ei- durchs Land zu schicken. nen Megastar verpflichtet. Fast 1000 Menschen drängten sich So findet sich in dem Kader nun im Bahnhof Santa Justa, um Reals nach einer beispiellosen Transferpo- Weltauswahl, die so genannten Ga- litik, die den Club allein an Ablöse- laktischen, zu empfangen. Mädchen summen knapp 220 Millionen Euro schrien, Mütter schrien, Männer kostete, für jeden Markt und jeden schrien. Als einige Absperrgitter um- Geschmack der passende Held: der kippten, geriet die Szenerie fast außer Portugiese Luis Figo, der 2000 vom Kontrolle. Nur mühsam gelang es den FC Barcelona kam; der Franzose Zi- Polizisten, die fiebrigen Fans zu bän- nedine Zidane, der 2001 von Juventus digen. Turin zu den „Königlichen“ wechsel- Besonders David Beckham beweg- te; der Brasilianer Ronaldo, den Real te die Massen. Den Blick stur nach 2002 von Inter Mailand verpflichtete; unten gerichtet und umgeben von und der Engländer David Beckham, zwei Leibwächtern, kämpfte sich der der 2003 von Manchester United nach Mittelfeldstar Richtung Ausgang. Spanien stieß.

Plötzlich sprang ihm eine junge Frau / MARCA PARDO ROBERTO Die Beckham-Nummer im vorigen in den Rücken und krallte sich an sei- Real-Ikone Beckham (vergangenen Dienstag in Sevilla) Sommer verpasste dem Projekt, ein nem Hals fest. Sie brüllte „Aiiiih!“ Mädchen schrien, Mütter schrien, Männer schrien Real-Imperium zu erschaffen, das alle und ließ erst los, als einer der Body- Kontinente abdeckt, den letzten guards sie auf den Boden zerrte. Schub. Denn die Werbe-Ikone aus Beckham blieb gefasst. Mit der Großbritannien, weltweit der popu- Rechten fuhr er durch sein Haar, das lärste Kicker, erweist sich nicht nur als in Unordnung geraten war. Dann zog Glücksfall für die Marketingabteilung er sein Sakko wieder in Form und ließ von Real. Schon nach fünf Monaten sich die letzten Schritte zu dem Bus waren über eine Million Trikots mit leiten, der die Spieler in ein Hotel am der Nummer 23 verkauft. Stadtrand chauffieren sollte. Auch sportlich bereichert der Mit- Doch die Abfahrt des Luxusliners telfeldmann das eh schon exzellente verzögerte sich. Ein Mädchen hatte Team. Anders als bei den Toptransfers den Trubel ausgenutzt und sich in das in den drei Jahren zuvor war das nicht Fahrzeug geschlichen. Als die Zehn- unbedingt zu erwarten. Vielmehr lag jährige wieder ausstieg und dabei tri- der Verdacht nahe, dass die Persona-

umphierend ihre Digitalkamera in die STAR GUMM / WHITE MONICA lie nichts weiter als ein spektakulärer Luft hielt, jubelten ihr die Menschen Real-Berichterstatter Díaz PR-Gag war. Selbst Beckhams Ge- zu, als sei auch sie eine „Galáctica“. „Der Irrsinn begann mit Zidane“ sundheits-Check in der Madrider Kli-

138 der spiegel 9/2004 JAVIER SORIANO / AFP JAVIER Fußballprofis Guti, Raúl, Beckham, Zidane: Für jeden Geschmack der passende Held nik La Zarzuela wurde für fast eine Milli- tägliche Wahn am Paseo de la Castellana mit Mannschaftskapitän Raúl reden will, on Euro live im Fernsehen übertragen. Nummer 66, verfolgen. Dort, nur ein paar verabredet er sich mit ihm zum Mittages- Heute nehmen die Kritiker alles zurück. hundert Meter vom Bernabéu-Stadion ent- sen in einem Restaurant. Das können nur Denn zuweilen sieht es nicht nur spekta- fernt, residiert im zweiten Stock eines un- wenige handverlesene Journalisten von kulär aus, wie die Artisten von Real Madrid auffälligen Bürogebäudes die Redaktion sich behaupten. Fußball zelebrieren – sie sind dabei auch der Sportzeitung „Marca“. Der Hype um die Superstars hat die Auf- erfolgreich. Fast zweieinhalb Millionen Menschen lage des Blattes beflügelt. „Der Irrsinn be- Im Pokal hat sich der Nobelverein, den greifen jeden Tag zu dem Blatt. Damit ist gann mit Zidane“, sagt Díaz. Anderer- die Fifa vor gut drei Jahren zum Club des 20. „Marca“ Spaniens meistgelesene Zeitung. seits sind die Horchposten von „Marca“ Jahrhunderts kürte, für das Endspiel quali- Sechs Seiten über Real sind das Minimum, nicht mehr ganz so dicht an allen Größen fiziert. In der Champions League, in der nach einem Topspiel wie gegen Valencia der Mannschaft wie vor der Ankunft der Madrid am Dienstag auf den FC Bayern schwillt die Text- und Bilderorgie schon Galaktischen, als die Wortführer in der München trifft, schienen die Cracks bislang mal auf 18 Seiten an. Kabine meist Spanier waren. Zidane flüs- eher unterfordert. Die Bilanz der Vorrun- Es gibt ein Ressort mit etwa 15 Redak- tert seine exklusiven Gedanken eher denspiele: vier Siege, zwei Unentschieden. teuren und Fotografen, die sieben Tage in „L’Equipe“ in Paris, Beckham bevorzugt Auch in der Primera División, die viele der Woche nichts anderes tun, als Real „The Sun“ in London. Experten für die derzeit stärkste Liga der Madrid zu beackern. Jedes noch so absur- Der Kapitän des englischen National- Welt halten, führt Real die Tabelle an. Nur de Detail ist titelträchtig. Es genügt, wenn teams weilte schon fast zwei Monate in wenn der Stratege Zidane nicht mitwirken David Beckham am Flughafen Barajas ein- Madrid, ehe er der „Marca“-Redaktion kann, scheint das Ensemble anfällig: Ver- trifft und eine Designerjeans trägt, die am zum ersten Mal einen Besuch abstattete – gangenen Sonntag, beim Duell gegen den rechten Oberschenkel fast durchgescheuert zu einem Fototermin. „Was er von sich ge- ärgsten Rivalen FC Valencia, rettete ein und am linken Knie aufgerissen ist. Tags geben hat“, sagt Díaz spitz, „war nicht be- umstrittener Elfmeter in der Nachspielzeit darauf erscheint „Marca“ mit einem Foto, sonders tief schürfend.“ Real vor der ersten Heimniederlage. das sich über die ganze erste Seite zieht Dass am Ende der vorigen Saison auch Diese Begegnung elektrisierte das Land. und auf dem von Beckham nicht mehr zu noch Trainer Vicente Del Bosque gehen Mehr als 500 Journalisten waren akkredi- sehen sind als seine modischen Lederstie- musste, macht die Sache für Díaz’ Real- tiert, und in der Loge des Real-Präsidenten fel und seine akkurat zerschlissene Hose. Experten nicht einfacher. Del Bosque war drängelte sich, angeführt von Regierungs- Chef der „Sección Real Madrid“, der eine Institution – und hielt die „Marca“- chef José María Aznar, Spaniens gesell- mit Abstand wichtigsten „Marca“-Abtei- Wühler mit diskreten Informationen aus schaftliche Prominenz. lung, ist José Félix Díaz, 37. Seit elf Jahren dem Innenleben des Glamour-Clubs auf Der Rausch um Real Madrid hat eine im berichtet er vom Hofe Reals. Wenn Díaz dem Laufenden. Weltsport bislang wohl einmalige Dimen- den Präsidenten Pérez braucht, hat er ihn Der Rauswurf Del Bosques ist ein gutes sion erreicht. Besonders gut lässt sich der in kürzester Zeit am Telefon, und wenn er Beispiel dafür, wie kompromisslos der Glo-

der spiegel 9/2004 139 Sport balisierungsfanatiker Pérez den Mythos „dass unsere Mannschaft noch stärker der Außenlinie Instruktionen erteilt, eine Real Madrid ausbeutet und dabei Schlüs- sein wird“. gute Figur machen muss. selpositionen des Vereins mit Protagonisten Tatsächlich ging es Pérez nicht um die So wie Del Bosques Nachfolger. Carlos besetzt, die eine bestimmte Klientel be- fachlichen Qualitäten Del Bosques. Es ging Queiroz, 50, geboren in Mosambik, sieht dienen oder das Prestige weiterentwickeln ihm ums Image. Del Bosque spricht nur smart aus, parliert in vier Sprachen und sollen. Spanisch. Mit seinen geröteten Augen, dem besticht durch feine Manieren. Seine be- Del Bosque wurde am Tag nach dem dichten Schnauzbart und dem rundlichen scheidene Biografie als Trainer war bei der Gewinn der Meisterschaft gefeuert. Es ist Gesicht wirkte der Trainer immer so, als Berufung unerheblich. Denn für Queiroz nichts Ungewöhnliches, dass Real Madrid wäre er aus der kastilischen Hochebene sprach ein anderes gewichtiges Argument: einen Trainer entlässt, der die üppige Tro- zufällig hineingeraten in die Welt der Schö- Er hatte bis zuletzt als Assistenz-Coach phäensammlung gerade um einen weite- nen und Reichen von Madrid. bei Manchester United gearbeitet – und ren Pokal bereichert hat. Auch Jupp Del Bosque war nicht telegen genug. galt dort als enger Vertrauter von David Heynckes musste 1998 nach dem Sieg in Nur das Fernsehen ermöglicht die globale Beckham. der Champions League gehen. Durchdringung der Märkte – und für den Think big: Pérez’ Prinzip funktioniert Bei Del Bosque lag der Fall anders. Als Real-Präsidenten Pérez ist unabdingbar, prächtig und duldet keinen Widerspruch. Spieler, Leiter der Nachwuchsabteilung dass ein Mann, der den Galaktischen an Während überall in Europa Vereinen, die und schließlich als Chef-Coach noch vor wenigen Jahren auf hatte er 35 Jahre lang äußerst Augenhöhe mit Real Madrid erfolgreich für den Club gear- spielten, die Pleite droht, kennt beitet. Real war Del Bosque, Del der Boom um das Dream-Team Bosque war Real. scheinbar keine Grenzen. „Die Art und Weise des Raus- So sickerte Mitte vergangener schmisses war ein Tiefschlag für Woche durch, dass Real Madrid mich“, sagt der Coach, der noch im Sommer zu einer minutiös immer keinen neuen Job ange- geplanten PR-Tournee aufbre- nommen hat, weil es schwierig chen wird. Stationen der Welt- ist, etwas Angemessenes zu reise, bei der es nicht um Sport finden, wenn man sein Leben geht, sondern sich alles aus- lang den „Königlichen“ gedient schließlich um die Show dreht: hat: „Ich würde lügen, wenn ich New York, Los Angeles, Tokio, sagte, dass ich darüber hin- Yokohama, Peking und Bang- weg bin.“ kok. Danach wird erneut China Der 53-Jährige sitzt im Re- penetriert. Wie schon im Vor-

staurant „Mesón Txistu“, einem GABRIEL / MARCA LUIS jahr soll sich die Mannschaft im Lokal mit rustikalen Tischen Real-Präsident Pérez (l.)*: Eiskalter Globalisierungsfanatiker Reich der Mittel auf die neue und schummrigem Licht im Saison vorbereiten. Avisierte Stadtviertel Castillejos. Hinter Garantiesumme für den mehr- der Bar hängt eine ganze Batte- wöchigen Trip: rund 25 Millio- rie von Schinken. Viele Spieler nen Euro. und Funktionäre von Real Ma- Solche Einkünfte sind freilich drid sind Stammgäste, der ehe- auch nötig. Denn Pérez will sei- malige Trainer Fabio Capello ne Wiederwahl im Juli, die als lässt sich heute noch vom Wirt sicher gilt, mit der Verpflichtung das geräucherte Fleisch nach eines weiteren großen Namens Rom schicken. unterfüttern. Heiße Kandidaten Hier prostete Del Bosque an sind der Holländer Ruud van einem Sonntag im Juni seinem Nistelrooy von Manchester Uni- Präsidenten bei der Meisterfeier ted und der Franzose Thierry zu. Am nächsten Abend gegen Henry von Arsenal London. Die 23 Uhr teilte der Sportdirektor Auswahl an Topstürmern, die Jorge Valdano Del Bosque auf Pérez’ Profil entsprechen, ist einem Flur im Bernabéu-Sta- sehr begrenzt. dion mit, dass er entlassen sei. Die Folge des nächsten Su- Von Pérez persönlich hat der pertransfers wird sein, dass der Coach bis heute keine Gründe erste Galaktische gehen muss. für die Trennung gehört. Die Redakteure von „Marca“ Die öffentliche Version des haben in den letzten Wochen ei- Präsidenten lautete: „Del Bos- nen empfindlichen Stimmungs- que ist sehr traditionell. Wir su- abfall bei Luis Figo ausgemacht. chen etwas Moderneres.“ Dann Der Portugiese argwöhnt, dass raunte der Technokrat etwas er ausgemustert wird. von „Strategie“ und „körperli- Zum Machtmenschen Pérez cher Vorbereitung“ und davon, würde das passen. Mit Figo als Wahlversprechen hatte er vor * Oben: mit Spaniens Regierungschef José vier Jahren den Präsidenten- María Aznar am 7. Februar im Bernabéu- thron erklommen. Bald hat der Stadion; unten: mit Ehefrau Helen Swedin Mittelfeldstar wohl seine Schul- am 12. September 2003 bei der Hochzeit der Tochter des Real-Präsidenten Florenti- / EFE DPA NARANJO EMILIO digkeit getan. no Pérez in Madrid. Fußballstar Figo*: Empfindlicher Stimmungsabfall Michael Wulzinger

140 der spiegel 9/2004 Giro-Star Pantani (1999) Der Jubel über immer neue Höchstleis- Legende vom Verfolgten tungen verdeckt gemeinhin die Kollateral- schäden der chemischen Trainingshilfen: d’Italia im selben Jahr. Und Innerhalb der vergangenen 13 Monate star- die Massen jubelten ihm zu ben sieben Radrennfahrer unter mysteriö- – bis in den Tod. sen Umständen. Das Herz des Italieners Vor dem Hotel „Le Denis Zanette, 32, zum Beispiel bleibt nach Rose“ in Rimini, in dem der Training und Zahnarztbesuch stehen. Der Superstar des italienischen Franzose Fabrice Salanson, 23, stirbt in der Radsports die letzten Tage Nacht vor dem Start der Deutschland-Tour seines Lebens verbrachte, im Hotel. Der Italiener Marco Rusconi, 24, bis er dort vergangenes Wo- erleidet nach einer Geburtstagsfeier einen chenende, 34-jährig, an den tödlichen Infarkt. Und im Dezember er- Folgen eines Hirn- und wischt es, in einer psychiatrischen Klinik, Lungenödems starb, türm- José María Jiménez, 32, einst spanischer ten sich Berge von Blumen- Wunderradler und ein Freund von Panta- sträußen, Trauerkarten, ein ni. „So wie Jiménez“ werde er nicht ster- Teddybär mit Abschieds- ben, hatte der da gehofft. Vergebens. botschaft: „Marco, wir lie- Ob die in den nächsten Tagen der Au- ben dich! Wir sind bei dir!“ topsie folgenden chemischen Analysen Genau dieses Gefühl hat- Pantanis Tod genau erklären werden, ist te Pantani zuletzt nicht. Er ungewiss. Vom Selbstmord bis zum von war allein und verzweifelt. der Staatsanwaltschaft favorisierten Medi- Seit jenem Morgen in Ma- kamentenmix in Kombination mit Kokain donna reihte sich eine Kri- gilt alles als denkbar. Sicher scheint indes, se an die nächste. Er geriet dass Pantani mindestens seit 1995 Präpa-

ALEX TROVATI / AP TROVATI ALEX neuerlich unter Dopingver- rate nahm, die nicht zum Sportalltag dacht, wurde zeitweilig ge- gehören sollten. Vorigen Sommer brauch- sperrt, suchte vergebens seine Form, wur- te er, wie Freunde erzählen, schon Pillen RADRENNEN de bei der Tour zur unerwünschten Person. zum Aufstehen und Pillen zum Einschla- Die Gerichtsverfahren zermürbten ihn. fen. In einer Klinik wollte er sich entgiften Das lange Sterben „Umgebracht vom Antidoping“, titelte und seine Depressionen behandeln lassen. eine italienische Tageszeitung am Diens- Aber er hielt nicht einmal ein paar Tage tag. „Von der italienischen Justiz zerstört“, durch. Ende dieses Monats hätte er, auf eines Helden wütete Radsport-Idol Eddy Merckx. Und Drängen von Freunden, einen neuen Ent- auch Felice Gimondi, Pantanis großer Vor- ziehungsversuch starten sollen: bei einem Der einsame Tod des Italieners gänger, fand, „sechs oder sieben Untersu- italienischen Priester in Bolivien. chungen sind zu viel: ein Exzess“. Anfang Dezember war er nach Kuba ge- Marco Pantani zeigt die Bedeutung So entstehen Legenden. Denn in Wahr- reist, um zu trainieren, abzuspecken, an der Pharmazie im Spitzen- heit fiel Pantani weniger dem Verfolgungs- seinem Comeback zu arbeiten. Doch Pan- sport. Mit Medikamenten begann wahn übereifriger Staatsanwälte und klein- tani stieg nicht einmal aufs Rad. Ein Freund sein Aufstieg – und der Abstieg. karierter Funktionäre zum Opfer als den holte ihn, übergewichtig, verquollen und pharmazeutischen Wundermitteln, ohne deprimiert, Anfang Januar zurück. m Morgen des 5. Juni 1999 klopfte die weite Teile des Sports nicht mehr aus- Als er am 9. Februar sein letztes Do- ein Sportfunktionär an die Hoteltür zukommen glauben. Cortison, Ampheta- mizil, das Apartment D 5 im „Le Rose“ Ades beim Giro d’Italia führenden mine, Betablocker, Anabolika – Mittel zum bezieht, ist er völlig von der Rolle: Das Radprofis Marco Pantani. Ein Blutwert sei- Muskelaufbau, zur Schmerzunterdrückung Verhältnis zu den Eltern gestört, seine An- ner Dopingprobe, so die Botschaft des und zur Senkung der Herzschlagfrequenz näherungsversuche an die frühere Freun- Fremden, liege über dem Limit, das Ren- oder das Wundermittel Epo, zum besseren din gescheitert. Er streitet mit argentini- nen sei für ihn hier im Dolomitenstädtchen Sauerstofftransport im Blut, konsumieren schen Basketballern, die auf seiner Etage Madonna di Campiglio zu Ende. Marco Athleten, damit sie noch mehr leisten. Die wohnen und ihm zu laut sind, verjagt das Pantani hatte knapp drei Wochen die Kon- Folgen zeigen sich meist erst später. Zimmermädchen, das aufräumen will, ver- kurrenz dominiert. Es waren nur noch zwei lässt sein Refugium nur zum Frühstück, Etappen und 360 Kilometer bis zum Ziel- sieht fern, demoliert Möbel. strich in Mailand. Und nun sollte alles vor- Als er am Samstagabend gefunden wird, bei sein. An jenem Morgen begann das lan- liegen überall leere Medikamentenschach- ge Sterben eines Helden. teln herum, von den Beruhigungsmitteln Marco Pantani, „der Pirat“ genannt, Control und Flunox und dem Antidepres- weil er oft ein Piratentuch auf seinem sivum Surmontil. Und auf dem Nachttisch Glatzkopf trug, von eher kleiner Statur, finden sich Reste eines weißen Pulvers, das aber mit dem Ausdruck unbändiger Wil- sogleich dem alten Verdacht neue Nahrung lenskraft im Gesicht, ragte heraus aus den gibt, der Pirat habe nicht nur gedopt, son- Herden der Radrennfahrer, die wie geklont dern auch gekokst. im Pulk durch die Straßen fegen: ein Sie- Vergangenen Dienstag eröffnete die gertyp. 1998 gewann er, was nur wenigen Staatsanwaltschaft ein Verfahren gegen un- vor ihm gelang, Tour de France und Giro bekannt wegen Drogenhandels – und fragt

PASCAL PAVANI / AFP PAVANI PASCAL sich, wo die 20000 Euro geblieben sind, * Nach seinem Ausschluss vom Giro d’Italia in Madonna Dopingverdächtigter Pantani* die Pantani am Tag vor seinem Tod abge- di Campiglio am 5. Juni 1999. Unerwünschte Person hoben hat. Hans-Jürgen Schlamp

der spiegel 9/2004 141 Prisma Wissenschaft · Technik

MEDIZIN Geborene Raucher oher kommt die unheilvolle Nei- Wgung zu Tabak und Zigarette? Eine mögliche Antwort auf diese Frage hat nun der US-Psychiater Steven Potkin vorgelegt. „Menschen mit aggressiver Persönlichkeit haben offenbar eine Ver- anlagung, von Zigaretten abhängig zu werden – und zwar ehe sie die erste Zi- garette angerührt haben“, so die These des Wissenschaftlers. Für seine Untersu- chung stellte Potkin zwei Personengrup- pen zusammen: Probanden mit aggressi- ven Persönlichkeitsmerkmalen und eher friedliche Zeitgenossen. In beiden Grup- pen befanden sich Raucher und Nicht- raucher. Sämtlichen Testpersonen verab-

NATIONAL GEOGRAPHIC INT. CHANNEL INT. GEOGRAPHIC NATIONAL reichte der Forscher Nikotinpflaster und Forscher beim Befestigen einer Kamera, Blauwal ermittelte dann mit Hilfe des Positronen- emissionstomografen (PET) die Reak- TIERE tionen in ihrem Hirn. Das Ergebnis: In der Gruppe der Wüteriche provozierte der Giftstoff, und zwar bei Rauchern Giganten mit Tiefgang und Nichtrauchern gleichermaßen, star- ke Aktivität im limbischen System – lauwale sind nicht nur die größten, massigen Leiber hefteten. Neben Bild- jenem Teil des Gehirns also, der das Bsie zählen auch zu den scheuesten und Tonaufnahmen lieferten die Gerä- emotionale Verhalten steuert. Diese Tieren des Planeten. Entsprechend rar te auch Informationen über Meerestie- Hirnreaktion nennt Potkin das „Gebore- waren bislang die Informationen über fe und Temperatur – und damit Daten ner-Raucher-Muster“. Die Hirne der die Meeresgiganten. Zwei US-Forscher über den Lebensraum der Wale. Nach nicht aggressiven Probanden reagierten warten jetzt mit neuen Erkenntnissen sechs Stunden kehrten die Kameras hingegen kaum auf das Nikotin. über die gewaltigen Säugetiere auf. So automatisch an die Wasseroberfläche fanden die Biologen John Francis und zurück, wo sie Francis und Calamboki- John Calambokidis heraus, dass die Rie- dis dann einsammelten. Auf diese Wei- sen mit über 300 Metern wesentlich tie- se erhielten die Forscher auch neue Ein- fer tauchen können als bisher ange- sichten über den langen und lauten Ge- nommen. Aus der Tiefe schießen die bis sang der Blauwale. Das tiefe, für den zu 130 Tonnen schweren Kolosse plötz- Menschen oft nicht wahrnehmbare lich hervor, um in Krebsschwärmen zu Dröhnen wird offenbar nur von wenigen wildern. Möglich wurden diese Einsich- männlichen Tieren ausgestoßen. Ihr ten durch Crittercams – Kameras von mutmaßliches Motiv: „Sie wollen sich wenigen Kilogramm Gewicht, die die bei anderen Männchen bekannt machen

Forscher den Einzelgängern an deren oder die Weibchen beeindrucken.“ IRVING OF CALIFORNIA; UNIVERSITY Psychiater Potkin, PET-Aufnahmen

WASSER China. Rund 60 Millionen Euro werde Kairo das Röhrensystem kosten, das zunächst Pipeline gegen Dürre rund 420000 Einwohner mit dem drin- 500 km gend benötigten Trinkwasser versorgen roße Teile Tansanias leiden unter ÄGYPTEN soll. Doch das Projekt hat auch erbitter- GWassermangel und Dürre. Doch die te Feinde: Ägypten fürchtet um das ostafrikanische Republik hat einen Plan Wasser des Nil, der sich maßgeblich aus gegen den Durst: Bereits im März soll Nil dem Viktoriasee speist. Derzeit schöpft der Bau einer 170 Kilometer langen Ägypten jährlich 55,5 Milliarden Kubik- Pipeline beginnen, um Tansania mit SUDAN meter Wasser aus dem Nil. Das Land Wasser aus dem Viktoriasee zu versor- beruft sich auf einen Vertrag mit Groß- gen. Täglich könnten so über 100 Millio- Weißer britannien aus dem Jahr 1929, der die nen Liter Wasser aus dem größten See Nil Blauer Nil Nutzungsrechte des Nilwassers festlegt. Afrikas in den ausgedörrten Nord- Einen ähnlichen Plan wie den Tansanias westen des Landes transportiert wer- ÄTHIOPIEN aus Kenia wertete der Wasserminister den. Mit dem Bau beauftragte die Re- Ägyptens, Mahmud Abu Seid, bereits gierung von Tansania eine Firma aus UGANDA als „Kriegshandlung“. Victoriasee KENIA 143 TANSANIA Prisma Wissenschaft · Technik

MEDIZIN Place des Vosges

„Wir brauchen einen Boulevard Henri IV McCancer“ Lärmbelastung im Klaus Höffken, 56, Präsident der Zentrum von Paris Deutschen Krebsgesellschaft, beklagt sehr 79 und darüber im Vorfeld des 26. deutschen Krebs- hoch kongresses in Berlin Mängel bei der 76 Versorgung von Tumorpatienten. 73 70 SPIEGEL: Wie gut ist die Versorgung hoch 67 Lärmpegel deutscher Krebspatienten? Boulevard in dB(A) Höffken: Im europäischen Vergleich ist Richard 64 Place Lenoir 61 Deutschland bei sehr vielen bösartigen de la mäßig Erkrankungen nur noch Mittelmaß – und Bastille 55 wir drohen noch weiter abzustürzen. 50 SPIEGEL: Um welche schwach 45 und darunter Bereiche geht es DE PARIS MAIRIE da? Höffken: Im Grunde LÄRM in die Berechnungen ein. Nicht zuletzt um alle Hauptkiller: tüftelte der Franzose aus, wie sich Lärm um Brust-, Dick- in den verschiedenen Häuserschluchten darm- und Lungen- Farbiger Krach ausbreitet. Dann installierte Françoise krebs. Weder die in seiner computergenerierten Stadt Früherkennung noch uf welche Weise Lärmquellen in ei- rund 26 Millionen virtuelle Mikrofone. die Versorgung läuft Aner Großstadt wirken, hat der Fran- Den von ihnen gemessenen Krach optimal. Solange in zose Yann Françoise am Beispiel von wandelte er dann in der 3-D-Lärm-

AVISO MEDIENARBEIT AVISO Deutschland jedes Paris nun erstmals in einer dreidimen- karte lautmalerisch in Farben um. Die Höffken kleine Krankenhaus sionalen Lärmkarte dargestellt. Acht Champs-Elysées etwa leuchten bei über Krebspatienten be- Rechner fütterte der Ingenieur mit 79 Dezibel in Dunkelblau – die höchste handeln kann, wird sich das auch nicht Daten von 1700 Straßenkilometern der Belastungsstufe. Am Place des Vosges ändern. französischen Hauptstadt. Dabei be- schimmern die Häuser dagegen in SPIEGEL: Was heißt das für die Heilungs- rücksichtigte Françoise, wie viele Pkw Grüngelb – bei mäßigem Lärmpegel von raten? und Laster durch die Straßen rollen und 61 Dezibel. Hintergrund des Aufwands: Höffken: Wir können mit den Erfolgen ob sie über Kopfsteinpflaster oder über Die EU fordert von ihren Mitgliedstaa- in Holland, Skandinavien oder Großbri- Lärm schluckenden Asphalt brettern. ten ab Mitte 2007 Lärmkarten für alle tannien nicht mehr mithalten. Bei der Auch Informationen über das Gefälle Ballungsgebiete mit mehr als 250 000 Behandlung von Darmkrebs etwa hin- der Pariser Rues und Avenues speiste er Einwohnern. ken wir um 10 bis 15 Prozent hinterher. SPIEGEL: Woran liegt’s? Höffken: Es fehlt an der Qualität der Kli- niken und an der Qualifikation der Ärz- te. Es wird vor allem viel zu wenig in- DROGEN terdisziplinär gearbeitet. Radiologe, Pa- thologe, Internist und Chirurg müssen Rausch aus der Spraydose zusammenarbeiten. Bei uns versuchen noch immer zu viele im Einmann-Or- ine Abkürzung zum Vollrausch bietet jetzt ein Londoner Geschäftsmann feil. Er chester zu spielen. Estellte einen Zerstäuber vor, mit dem sich alkoholische Getränke direkt in Mund SPIEGEL: Sie fordern die Schaffung eines oder Nase sprühen lassen. Awol – alcohol without liquid (Alkohol ohne Flüssigkeit) nationalen Krebsprogramms … – heißt die Novität, die sich derzeit unter Jugendlichen in Bristol verbreitet. Der Höffken: Ja. Ein zentrales Krebsinstitut Inhalator verstärkt die Wirkung von Hochprozentigem erheblich. Denn mit Awol müsste Normen und Therapiestandards sprayt sich der Konsument den Fusel ähnlich wie beim geschnupften Kokain über die setzen. 10 bis 15 überregionale Tumor- Schleimhäute direkt in die Blutbahn – und umgeht somit Darm und Leber. „Dadurch zentren, die diesen Namen auch verdie- wirken gleiche Dosen wesentlich toxischer“, warnt der Mannheimer Neurologe Karl nen, müssten diese Normen umsetzen. Mann. Der Hersteller lockt seine Dazu kämen weitere wohnortnahe Ver- Kunden indes mit dem Verspre- Clubbesucher mit Alkohol-Inhalator sorgungsschwerpunkte. Auf der ande- chen, nach dem Spray-Rausch ren Seite würde es Kliniken geben, die vom Kater verschont zu bleiben. gar keinen Krebs mehr behandeln. „Blödsinn“, meint der Ham- SPIEGEL: Und was hat der Patient davon? burger Arzt und Drogenexperte Höffken: Was wir brauchen, ist eine Art Rainer Thomasius. Die meta- „McCancer“: Bei McDonald’s bekommt bolischen Abbauprodukte des man in Hamburg dasselbe Produkt wie Alkohols, die den Kater aus-

in München oder sonstwo. Das muss für machen, blieben die gleichen, LIZ LEWITT die Krebsbehandlung genauso gelten. „ob getrunken oder gesprüht“.

144 der spiegel 9/2004 UMWELT Neues Leben in der Schlickwüste Das Wattenmeer war einst ein mariner Garten Eden: Silberreiher staksten durch salzige Lagunen, Wölfe zogen über die Marschen, Walrosse jagten in der Nordsee. Nun wollen Biologen die Deiche versetzen und so die alte Vielfalt wiederbeleben. P. USBECK / PLAINPICTURE P. Küstenlandschaft bei Cuxhaven: Wo heute der Wattwurm regiert, wuchsen ehemals Austernbänke, Sandkorallen und Seegraswiesen

enn der Magen knurrte, kannten Biologin Heike Lotze von der Watten- Ems und Rhein Krauskopfpelikane, Sil- die Friesen kein Pardon. Mit Fal- meerstation Sylt des Alfred-Wegener-In- berreiher und vielleicht auch Rosaflamin- Wken machten sie Jagd auf Grau- stituts für Polar- und Meeresforschung. gos an salzigen Lagunen lebten. Aueroch- reiher, Kormoran und Löffler. Schmack- „Kaum jemand macht sich klar, dass der sen, Wölfe und Elche zogen über die sump- hafte Wildenten lockten sie in so genannte heutige Zustand nur entfernt an die Le- figen Marschen. Walrosse und zahlreiche Vogelkojen, eigens angelegte, von Netzen bensvielfalt erinnert, die es hier früher ein- Nagelrochen durchpflügten das Meer. überspannte Wassergräben. In den Dünen mal gab.“ Keine 2000 Jahre sei es her, dass „Wir wollen den Menschen zeigen, was klaubten die Küstenbewohner delikate Mö- in den Mündungsgebieten von Elbe, Weser, hier einmal möglich war“, sagt Lotze, die weneier zusammen. Kormoran- zusammen mit Archäologen, His- küken schüttelten sie aus den torikern, Geologen und anderen Nestern. Allein die rotschnäbeli- Biologen die Geschichte des gen Austernfischer wurden ver- schlickigen Lebensraumes re- schont – ihr Fleisch galt als unge- konstruiert. „Damit schaffen wir nießbar. auch eine Vision für das, was Um 1636 gab das Buch „Jacht- wieder möglich sein könnte.“ Bedryff“ Tipps für die Jagd im Tatsächlich war das Watten- niederländischen Wattenmeer. meer einst ein mariner Garten Nicht nur auf die Vögel hatten es Eden. Alte Knochenfunde und die Friesen abgesehen. Auch feis- historische Quellen belegen: Wo te Lachse und Störe fingen sie in heute Wattwurm und Schlick re- den Flussmündungen. Tonnen Darstellung von Nordsee-Pelikanen*: „Wir wollen zeigen … gieren, wuchsen ehemals reiche von Seegras für den Deichbau Austernbänke, Sandkorallenriffe gab das Meer her. Reiche Aus- und Seegraswiesen. Walarten ternbänke plünderten die Fischer wie der atlantische Nordkaper binnen weniger Jahrzehnte. oder der Grauwal lebten in den „Schon vor 400 Jahren wurde flachen Küstengewässern. Mai- fast alles, was im Wattenmeer fisch und Grauer Glatthai jagten lebte, genutzt und gejagt“, sagt vor den Sänden. Noch bis ins der niederländische Meeresbio- 20. Jahrhundert hinein folgten loge Wim Wolff von der Univer- Große Tümmler den Herings- sität Groningen. Die Geschichte schwärmen bis vor die nieder- des Watts sei die Geschichte ei- ländische Wattenküste. ner Jahrhunderte währenden Na- Oder die Vögel: See- und Fisch- turausbeutung. Und: Einst habe adler kreisten einst über den die flache Nordseeküste einem Brackwasserlagunen, Torfmooren wahren Paradies geglichen. „Vie- und Sümpfen an der Küste. Über-

le Menschen halten das Watt für SILVESTRIS eine Naturlandschaft“, sagt die … was hier einmal möglich war“: Rosaflamingos * Stich von Olaus Magnus aus dem Jahr 1555.

146 der spiegel 9/2004 Wissenschaft

reste des längst ausgestorbenen Riesenalks, Exportschlager für die Nordsee-Anrai- eines flugunfähigen, den Pinguinen ähneln- ner. Schon im 16. Jahrhundert gelang- den Vogels, haben Archäologen in den ten sie gesalzen bis nach Rom. Um DÄNEMARK Niederlanden ausgegraben. Auch auf Fla- 1890 zogen Fischer jährlich 700000 mingoknochen aus neolithischer und Pe- Tonnen der glitzernden Tiere aus der likanknochen aus römischer Zeit sind die Nordsee – fast doppelt so viel wie Forscher gestoßen. Der römische Ge- im vergangenen Jahr. schichtsschreiber Plinius der Ältere berich- Gleichzeitig machten sich die tet in seiner „Naturalis historiae“ von Peli- Seemänner über die großen Mu- Sylt kanen in Nordgallien. Der schwedische Na- schelbänke der Region her. Um 1765 turforscher Olaus Magnus verortete sie 1555 beispielsweise beuteten nicht weni- zwischen Nordfrankreich und Finnland. ger als 145 Kutter Austernbänke bei Doch wo ist die ganze Pracht geblieben? der westfriesischen Insel Texel aus. Wie ist das Watt zur „Schlickwüste“ (Lot- Heute ist die Europäische Auster aus ze) verkommen? Die Forscher sind sich ei- dem Wattenmeer verschwunden. nig: Die Friesen selbst haben der großen Ein ähnliches Schicksal ereilte das Vielfalt den Garaus gemacht. Seegras. Zwischen 100 und 200 Qua- „Mindestens 31 Wirbeltierarten sind in dratkilometer Seegraswiesen existier- den letzten 2000 Jahren aus dem Watten- ten einst allein im niederländischen Wat- Ausdehnung des Watts meer verschwunden“, sagt Wolff. Die Jagd- tenmeer. Matratzen stopften die Einhei- vor 1500 Jahren lust der Küstenbewohner und die Zer- mischen mit dem Material aus. Möbel störung einzigartiger Lebensräume seien flochten sie aus den zähen Pflanzen. Heu- schuld am lokalen Artenschwund. te ist die Pracht – Lebensraum zahlloser Vor etwa 5500 Jahren trauten sich die Muscheln, Schnecken und Fische – fast ersten Siedler an das flache, nach der Eiszeit vollständig perdu. entstandene Schelfmeer. Unwirtlich war der Am meisten jedoch litten die großen Lebensraum. Seeseitig drohten Springflu- Arten. „Störe sieht man zuweilen über ten und Starkwinde. Auf dem sumpfigen das Wasser springen“, berichtete der Na- Binnenland grassierte die Malaria. turforscher Karl August Möbius noch um Doch die Siedler bewiesen Zähigkeit. 1870. Etwa 3500 der bis zu sechs Meter Erst legten sie ihre Häuser höher, um den langen Tiere gingen 1888 allein den Elb- Sankt Peter-Ording Gezeiten zu trotzen. Dann, um das Jahr fischern in die Netze. Doch schon um 1000, holten sie zum großen Schlag gegen 1920 war das Schlachtfest vorbei. die Naturgewalten aus: Zusammenhän- „Die Küstenbewohner haben es ge- gende Deiche entstanden – und der Nie- schafft, jede erdenkliche natürliche Res- dergang der Tierwelt begann. source in kürzester Zeit fast restlos aus- „Der Bau der Deiche schuf einen voll- zubeuten“, sagt Wolff. Große Vögel wie kommen neuen Lebensraum und vernich- Kranich, Pelikan oder Seeadler hätten so tete die alten, immer wieder vom Meer Nahrungsgrundlage und Brutgebiet ver- überfluteten Salzmarschen“, sagt Wolff. loren. Kegelrobben verschwanden schon Weit über 90 Prozent der ehemaligen Ge- im Mittelalter aus der Region. Bei den zeitenzone mit ihren Lagunen, Sümpfen Walen wiederum leisteten die Harpunie- und Mooren seien inzwischen trockenge- re, oftmals von den Frieseninseln rekru- legt und zerstört, schätzt der Forscher. Für tiert, ganze Arbeit. Kaum 350 Exem- die frühen Siedler war das nur von Vorteil: plare gibt es heute noch vom at- Der nun vor dem Hochwasser geschützte lantischen Nordkaper. Die letz- Marschboden erwies sich als besonders ge- ten atlantischen Grauwale eignet für die Landwirtschaft. – die Tiere leben heu- Cuxhaven Zudem florierten Fischfang und Jagd. te nur noch Elbe Vor allem Heringe entwickelten sich zum

Wilhelmshaven DEUTSCHLAND Bremerhaven

Emden Quelle: NIEDER- Deutsches Zentrum für LANDE Ems 25 Kilometer Weser Luft- und Raumfahrt (DLR) im Pazifik – wurden schon im 17. Jahrhun- dert ausgerottet. Die Reste der einstigen Vielfalt zu si- chern, das ist nun die Aufgabe der Natur- schützer. „Heute gibt es im Watt vor allem Miesmuscheln, Garnelen und Möwen“, sagt Lotze. Doch auch positive Zeichen sieht die Forscherin. Erstmals in seiner Be- siedlungsgeschichte lasse derzeit der Druck auf das Watt und seine tierischen Bewoh- ner nach. Seit 1985 ist das Gebiet nach und nach zum Nationalpark erklärt worden. Als Weltnaturerbe der Vereinten Nationen ist die Region inzwischen im Gespräch. Die Folge der neuen Ruhe: Einst auf rund 4000 Stück zusammengeschossen, le- ben heute wieder an die 11000 Seehunde im Watt. Erste Kegelrobben kehren zurück auf die Sandbänke. Im vergangenen Jahr brütete in den Niederlanden wieder ein

Seeadlerpärchen. / DER SPIEGEL SCHMUNDT HILMAR FOTOS: Solche Erfolge machen den Forschern Margherita-Hütte im Monte-Rosa-Massiv, Bergmediziner Fischler im Labor: „Was wir hier oben nun Mut zu mehr. „Wenn wir untersuchen, wie reich und vielfältig dieser Küstenstrich einmal war, dann auch, um neue Ziele SPORTMEDIZIN für den Wattenschutz abzustecken“, sagt Lotze. Es gelte, den ehemaligen, mosaik- artigen Lebensraum neu zu schaffen. Die Ertrinken am Gipfelkreuz Vorschläge der Forscherin: Einige Deiche sollten nach hinten versetzt werden, um Hunderttausende Bergtouristen leiden unter Kopfweh und Übelkeit. wieder Salzwiesen und Lagunen zu schaf- fen. Neue Muschelbänke oder Sandkoral- Deshalb erproben Ärzte in der höchsten Hütte Europas lenriffe könnten sich nur bilden, wo Fischer Mittel gegen die Höhenkrankheit – darunter auch Potenzpillen. ganzjährig fern gehalten werden. Auch die Wiedereinbürgerung einzelner m Mitternacht ist es endlich so weit. schung der Höhenkrankheit als die höchs- Arten sei denkbar. „Viele der Tiere, die Gilbert Schmid beginnt zu ersau- te Berghütte Europas: die Margherita-Hüt- einst im Wattenmeer lebten, kommen ir- Ufen, 4559 Meter über dem Meeres- te auf der italienischen Seite des Monte- gendwo in Nordeuropa auch heute noch spiegel. Gestern im Tal fehlte dem athleti- Rosa-Massivs. „Kopfwehkiste“ wird sie schen Mittdreißiger noch nichts. Schließlich von Bergsteigern genannt. ist er in den Bergen zu Hause und ver- In Zeiten des Abenteuertourismus ist bringt jeden freien Tag mit Pickel und die Höhenkrankheit auf dem besten Wege, Steigeisen. Die Viertausender ringsum zu einer Art Volkskrankheit zu werden: kennt er im Schlaf: Matterhorn, Dufour- Hunderttausende unterziehen sich Jahr für spitze und 20 weitere Namen. Jahr einem gefährlichen Selbstexperiment, Doch heute Nacht ist ihm, als hätte sich wenn sie zum Wandern oder Skifahren in ein 100-Kilo-Mann auf seine Brust gesetzt. Lifte steigen, an denen eigentlich lange Bei- Schmid atmet schwer, das Hirn drückt ge- packzettel hängen müssten. gen seinen Schädel, als wollte es platzen. Anfangs ähnelt die Wirkung dünner Sein Herz rast. Schlaflos wälzt er sich un- Bergluft derjenigen von Alkohol: Leichter

ALEX CRUZ / DPA ALEX ter den kratzigen Wolldecken hin und her. Schwindel trübt den Sinn. Doch bald be- Pelikan (in Mexiko) Sein Atem rasselt, Blutwasser sammelt sich ginnt der Höhenkater: Kopfweh, Appetit- „Warum sollten sie nicht zurückkehren?“ in seiner Lunge. losigkeit, Müdigkeit, Schnappatmung, Herz- „Akutes Höhenlungenödem“, diagnos- flattern. Dann folgen, in schwereren Fällen, vor“, sagt Lotze. „Warum sollten sie nicht tiziert Manuel Fischler, ein drahtiger End- Depressionen, Halluzinationen, Bluthusten zurückkehren, wenn wir ihren Lebensraum vierziger mit wachen Augen, im Hauptbe- und schaumiger Auswurf; schließlich Koma regenerieren?“ ruf Notarzt in Zürich. Er wirkt keineswegs und Tod – ertrunken am Gipfelkreuz. Schwimmen also bald wieder Grauwale beunruhigt, im Gegenteil: Fischler scheint „Diese Krankheit hat mehr Bergsteiger oder Graue Glatthaie vor den Nordsee- ausgesprochen zufrieden. Schließlich ist er umgebracht als Stürme, Steinschlag und Sänden? Einen Rückkehrkandidaten ha- hier oben, um möglichst viele rasselnde Lawinen“, behauptet Bergsteiger-Star Rein- ben die Forscher schon ausgemacht: den Lungen und schmerzende Schädel zu un- hold Messner. Zwei Drittel aller Menschen, Krauskopfpelikan. „Wir müssen natürlich tersuchen. Gemeinsam mit einem Dutzend die auf über 4000 Metern übernachten, prüfen, ob der Vogel im Wattenmeer noch junger Ärzte aus Deutschland, Italien, Bel- werden höhenkrank. Dennoch ist das genug Nahrung und Brutplätze finden gien und der Schweiz will er herausfinden, Höhenleiden immer noch wissenschaft- könnte“, sagt der Niederländer Wolff. warum der menschliche Körper in der liches Neuland. Einen Vorteil der Nordsee aber kennt er Höhe an sich selbst zu ersticken droht. Gesichert ist nur: Der Luftdruck sinkt bereits: „Bei uns im Wattenmeer wäre der Kaum eine Unterdruckkammer wäre alle tausend Höhenmeter um etwa zehn Pelikan ganzjährig geschützt“, so Wolff. groß genug, um Forscher und Patienten Prozent. Dies führt dazu, dass das Blut in „Dort, wo er heute noch vorkommt, ist das tagelang aufzunehmen. Welcher Ort also der Lunge weniger Sauerstoff aufnehmen nicht immer der Fall.“ Philip Bethge könnte besser geeignet sein für die Erfor- kann („Hypoxie“). Der Kreislauf ist damit

148 der spiegel 9/2004 im Pazifik – wurden schon im 17. Jahrhun- dert ausgerottet. Die Reste der einstigen Vielfalt zu si- chern, das ist nun die Aufgabe der Natur- schützer. „Heute gibt es im Watt vor allem Miesmuscheln, Garnelen und Möwen“, sagt Lotze. Doch auch positive Zeichen sieht die Forscherin. Erstmals in seiner Be- siedlungsgeschichte lasse derzeit der Druck auf das Watt und seine tierischen Bewoh- ner nach. Seit 1985 ist das Gebiet nach und nach zum Nationalpark erklärt worden. Als Weltnaturerbe der Vereinten Nationen ist die Region inzwischen im Gespräch. Die Folge der neuen Ruhe: Einst auf rund 4000 Stück zusammengeschossen, le- ben heute wieder an die 11000 Seehunde im Watt. Erste Kegelrobben kehren zurück auf die Sandbänke. Im vergangenen Jahr brütete in den Niederlanden wieder ein

Seeadlerpärchen. / DER SPIEGEL SCHMUNDT HILMAR FOTOS: Solche Erfolge machen den Forschern Margherita-Hütte im Monte-Rosa-Massiv, Bergmediziner Fischler im Labor: „Was wir hier oben nun Mut zu mehr. „Wenn wir untersuchen, wie reich und vielfältig dieser Küstenstrich einmal war, dann auch, um neue Ziele SPORTMEDIZIN für den Wattenschutz abzustecken“, sagt Lotze. Es gelte, den ehemaligen, mosaik- artigen Lebensraum neu zu schaffen. Die Ertrinken am Gipfelkreuz Vorschläge der Forscherin: Einige Deiche sollten nach hinten versetzt werden, um Hunderttausende Bergtouristen leiden unter Kopfweh und Übelkeit. wieder Salzwiesen und Lagunen zu schaf- fen. Neue Muschelbänke oder Sandkoral- Deshalb erproben Ärzte in der höchsten Hütte Europas lenriffe könnten sich nur bilden, wo Fischer Mittel gegen die Höhenkrankheit – darunter auch Potenzpillen. ganzjährig fern gehalten werden. Auch die Wiedereinbürgerung einzelner m Mitternacht ist es endlich so weit. schung der Höhenkrankheit als die höchs- Arten sei denkbar. „Viele der Tiere, die Gilbert Schmid beginnt zu ersau- te Berghütte Europas: die Margherita-Hüt- einst im Wattenmeer lebten, kommen ir- Ufen, 4559 Meter über dem Meeres- te auf der italienischen Seite des Monte- gendwo in Nordeuropa auch heute noch spiegel. Gestern im Tal fehlte dem athleti- Rosa-Massivs. „Kopfwehkiste“ wird sie schen Mittdreißiger noch nichts. Schließlich von Bergsteigern genannt. ist er in den Bergen zu Hause und ver- In Zeiten des Abenteuertourismus ist bringt jeden freien Tag mit Pickel und die Höhenkrankheit auf dem besten Wege, Steigeisen. Die Viertausender ringsum zu einer Art Volkskrankheit zu werden: kennt er im Schlaf: Matterhorn, Dufour- Hunderttausende unterziehen sich Jahr für spitze und 20 weitere Namen. Jahr einem gefährlichen Selbstexperiment, Doch heute Nacht ist ihm, als hätte sich wenn sie zum Wandern oder Skifahren in ein 100-Kilo-Mann auf seine Brust gesetzt. Lifte steigen, an denen eigentlich lange Bei- Schmid atmet schwer, das Hirn drückt ge- packzettel hängen müssten. gen seinen Schädel, als wollte es platzen. Anfangs ähnelt die Wirkung dünner Sein Herz rast. Schlaflos wälzt er sich un- Bergluft derjenigen von Alkohol: Leichter

ALEX CRUZ / DPA ALEX ter den kratzigen Wolldecken hin und her. Schwindel trübt den Sinn. Doch bald be- Pelikan (in Mexiko) Sein Atem rasselt, Blutwasser sammelt sich ginnt der Höhenkater: Kopfweh, Appetit- „Warum sollten sie nicht zurückkehren?“ in seiner Lunge. losigkeit, Müdigkeit, Schnappatmung, Herz- „Akutes Höhenlungenödem“, diagnos- flattern. Dann folgen, in schwereren Fällen, vor“, sagt Lotze. „Warum sollten sie nicht tiziert Manuel Fischler, ein drahtiger End- Depressionen, Halluzinationen, Bluthusten zurückkehren, wenn wir ihren Lebensraum vierziger mit wachen Augen, im Hauptbe- und schaumiger Auswurf; schließlich Koma regenerieren?“ ruf Notarzt in Zürich. Er wirkt keineswegs und Tod – ertrunken am Gipfelkreuz. Schwimmen also bald wieder Grauwale beunruhigt, im Gegenteil: Fischler scheint „Diese Krankheit hat mehr Bergsteiger oder Graue Glatthaie vor den Nordsee- ausgesprochen zufrieden. Schließlich ist er umgebracht als Stürme, Steinschlag und Sänden? Einen Rückkehrkandidaten ha- hier oben, um möglichst viele rasselnde Lawinen“, behauptet Bergsteiger-Star Rein- ben die Forscher schon ausgemacht: den Lungen und schmerzende Schädel zu un- hold Messner. Zwei Drittel aller Menschen, Krauskopfpelikan. „Wir müssen natürlich tersuchen. Gemeinsam mit einem Dutzend die auf über 4000 Metern übernachten, prüfen, ob der Vogel im Wattenmeer noch junger Ärzte aus Deutschland, Italien, Bel- werden höhenkrank. Dennoch ist das genug Nahrung und Brutplätze finden gien und der Schweiz will er herausfinden, Höhenleiden immer noch wissenschaft- könnte“, sagt der Niederländer Wolff. warum der menschliche Körper in der liches Neuland. Einen Vorteil der Nordsee aber kennt er Höhe an sich selbst zu ersticken droht. Gesichert ist nur: Der Luftdruck sinkt bereits: „Bei uns im Wattenmeer wäre der Kaum eine Unterdruckkammer wäre alle tausend Höhenmeter um etwa zehn Pelikan ganzjährig geschützt“, so Wolff. groß genug, um Forscher und Patienten Prozent. Dies führt dazu, dass das Blut in „Dort, wo er heute noch vorkommt, ist das tagelang aufzunehmen. Welcher Ort also der Lunge weniger Sauerstoff aufnehmen nicht immer der Fall.“ Philip Bethge könnte besser geeignet sein für die Erfor- kann („Hypoxie“). Der Kreislauf ist damit

148 der spiegel 9/2004 machen, ist der kalkulierte Wahnsinn“

gefangen in einem Teufelskreis: Um gepresst wie durch einen undichten Gar- sondern gleichzeitig den Blutdruck der Muskeln und Hirn mit dem lebenswich- tenschlauch. Wenn Blutwasser in die Lun- Lunge senkt. tigen Gas zu versorgen, pumpt das Herz ge sickert, spricht man vom Höhenlungen- Der Einsatz eines Potenzmittels ist dabei heftiger. Die Folge: Der Blutdruck steigt, ödem. Dringt es ins Hirnwasser und drückt weniger bizarr, als es zunächst scheinen was wiederum die Sauerstoffaufnahme- aufs Denkorgan, kommt es zu Kopfweh, mag: Ursprünglich wurde auch Viagra als fähigkeit des Blutes senkt – und folglich Halluzinationen und Koma – dem Höhen- Blutdrucksenker entwickelt – bis Proban- den Lungenblutdruck weiter in die Höhe hirnödem. Die Kranken sehen oft aufge- den von der inzwischen so berühmten Ne- treibt. bläht aus wie Michelinmännchen, weil benwirkung berichteten. Irgendwann wird das Blutwasser durch auch Hände und Gesicht mit Blutwasser Nun entdecken die Hersteller der Män- die winzigen Lungenbläschen (Alveolen) voll laufen. nerpillen die Berge als neues Einsatzgebiet, Hilfe ist in solchen Fällen denn auf dem Potenzmarkt wird es eng. kaum möglich. Zwar lindern Zwar hat die Firma Pfizer ihr Medikament Symptome der Höhenkrankheit einige Medikamente notdürf- Viagra in den letzten fünf Jahren in 119 tig die Symptome. Im Notfall Ländern insgesamt eine Milliarde Mal an GEHIRN Blutwasser sammelt sich in Hirn- schwören Höhensüchtige aus den Mann gebracht, aber mittlerweile gibt gewebe und -kammern. Sauer- aller Welt auf den nach der es mehrere Konkurrenzpräparate. stoffmangel und ansteigender Hütte benannten Margherita- Eli Lilly, Hersteller von Tadalafil, ist Hirndruck führen zu Schäden an Cocktail, eine Kombination nicht die einzige Firma, die sich für die Nerven und Gefäßen. aus drei Medikamenten, die neue Indikation interessiert: Fast in Sicht- den Blutdruck senken, die weite der Margherita-Hütte erforscht ein LUNGE Durch den niedrigen Sauerstoff- Atmung anregen und die französisches Team auf der kaum niedriger gehalt steigt der Blutdruck. Da- Lunge entwässern. Aber nur gelegenen Vallot-Hütte (4362 Meter) am durch wird Blutflüssigkeit in die eine einzige Therapie schlägt Montblanc die Wirkung von Viagra, aller- Lungenbläschen gepresst und wirklich zuverlässig an: der dings mit nur zwölf Probanden. sammelt sich in der Lunge. schnelle Abstieg. Dreimal täglich müssen die Testperso- Dieses Lungenödem kann zum Das würden die Mediziner nen in der Margherita-Hütte eine weiß- Erstickungstod führen. gern ändern. Daher suchen orange gefärbte Gelatinetablette schlucken. sie in der Kopfwehkiste seit Ob darin das Entwässerungsmittel, der HERZ Herzfrequenz und Blutdruck stei- Jahren neue Heilmittel gegen Potenzwirkstoff oder ein Placebo verbor- gen. Die Blutgefäße sind enormen das Höhenleiden. Im Rah- gen ist, wissen sie nicht – auch wenn bis- Belastungen ausgesetzt, feinere men der bisher umfänglichs- weilen ein männlicher Tester grinsend er- Gefäße können platzen. Bei länge- ten Studie dieser Art quälte klärt: „Ich weiß genau, was ich schlucke.“ rem Aufenthalt in der Höhenluft sich auch Gilbert Schmid Zwei Tage vor dem Aufstieg zur Hütte werden vermehrt rote Blutkörper- im August 2003, im Dienste haben die freiwilligen Versuchskaninchen chen gebildet, um Sauerstoff zu der Wissenschaft, zusammen begonnen, ihre Medikamente einzuneh- transportieren. Die Folge: Das mit 31 Leidensgenossen, die men. Dann wurden sie von den Ärzten den Blut verdickt, es drohen Embolien, allesamt ausgewählt wur- Berg emporgehetzt. Eigentlich, so besagt Herzinfarkt und Schlaganfall. den, weil sie besonders stark eine Bergsteigerregel, sollte der Schlafplatz zu Lungenödemen neigen. oberhalb von 2500 Meter Höhe um nicht Die Tests galten zwei Wirk- mehr als 300 Meter pro Nacht nach oben GESAMTBEFINDEN Die geringe Gaskonzentration im Blut irritiert die Steuerung der stoffen: einem Mittel, das verlegt werden. Ihren Probanden dagegen Atmung. Die Folge sind nächtliche den Abtransport des Wassers verordnen die Ärzte den Gipfelsturm in Panikattacken. Müdigkeit und aus der Lunge fördern soll, weniger als einem Tag. Erschöpfung verringern dann die und dem Potenzmittel Tada- Schon bald spürt Martin Alfeld, ein leb- Konzentration des Bergsteigers. lafil, das nicht nur die Steh- hafter Genussmensch, der in Zürich als kraft des Mannes erhöht, Vertreter für Kaffeemaschinen arbeitet,

der spiegel 9/2004 149 Wissenschaft warum Experten von derlei Gewaltmär- kenden von der Margherita-Hütte mit blau- von Hirnödem-Attacken lesen sich oft wie schen abraten: „Kopfweh“, stöhnt er. Eine en Lippen ins Krankenhaus. die psychedelischen Drogenfabeln von Schraubzwinge scheint sich mit jedem Als die Hütte 1893 eingeweiht wurde, war Carlos Castaneda. Seit 1983 wird auch auf Schritt fester um seinen Schädel zu sie das modernste Höhenlabor der Welt. der Margherita-Hütte wieder geforscht. schließen. Schon damals blickte das Forschungsfeld Doch noch immer wirken die Arbeitsbe- Vor ihm thront, fremdartig wie ein zwi- auf eine lange Tradition zurück: Die wohl dingungen archaisch. Es gibt keine Dusche, schengelandetes Raumschiff, die Marghe- älteste Erwähnung der Höhenkrankheit nur ein stinkendes Stehklo; keine Einzel- rita-Hütte auf einem eisigen Felssporn tau- stammt bereits aus dem alten China, wo ei- zimmer, nur Pritschen mit alten Woll- send Meter über dem Abgrund. Zum ner Chronik zufolge die „Kopfwehberge“ decken; keinen Internet-Anschluss, nur ein Schutz vor Blitzschlag ist die Holzhütte liegen: in Tibet. Auch in den Anden ist das knarzendes Satellitentelefon. Beim Zähne- komplett mit schwärzlichem Kupferblech Bergleiden seit Urzeiten bekannt als „Ma- putzen spült man mit Wasser aus einer Plas- eingekleidet, ein Faraday-Käfig mit Voll- reo“ – eine Art „Seekrankheit“ der Berge. tikflasche und spuckt über Fensterbrett oder pension. Reißen die Wolken auf, bieten Die Beobachtungen und Hypothesen äl- Balkonbrüstung in den einen oder in den sich Blicke wie aus dem Flugzeug. Selbst terer Forscher muten heute ebenso wider- anderen Abgrund, je nach Windrichtung. die Spitze des Matterhorns liegt 80 Meter sprüchlich wie unterhaltsam an: Kommen Die gesamte Laboreinrichtung muss Jahr niedriger – doch von alldem für Jahr mit Hubschraubern nimmt Alfeld kaum mehr et- von Zermatt aus eingeflogen was wahr. werden: über vier Tonnen Ganz anders dagegen An- Hightech, die mühsam über dreas Ruf, ein wortkarger As- zwei schmale Holzstiegen in ket. Je höher die Seilschaft in die Hütte gezerrt werden. Richtung Hütte stapft, desto Im Hüttenlabor ist es be- geschmeidiger werden seine engt wie auf einer Raum- Bewegungen, trotz seines 20 station. Die zehn Mediziner Kilogramm schweren Ruck- und ihre freiwilligen For- sacks. Ruf kommt aus dem schungsobjekte drängeln sich Bayerischen Wald und arbei- in zwei engen Holzstuben. tet beim Bundesgrenzschutz. Um fünf Uhr morgens zittern Marathon und Bergsteigen die Holzbalken, wenn der sind seine Hobbys. Dennoch mächtige Schiffsmotor an- gilt er als Risikopatient, denn springt, der all die Apparate schon zweimal litt er am mit 220 Volt versorgt. Durch Höhenlungenödem, einmal im die Geräte ist es im Labor fast Himalaja, einmal in den An- so heiß wie in einer Sauna, den. Vielleicht, so spekulieren kurze Hosen gehören zur Ar- die Ärzte, verdankt er seine beitskleidung, nachts wird verblüffende Fitness ja der auch mal im Schlafanzug Gelatinekapsel, die er beim gearbeitet. Lungen-, Herz-

Frühstück geschluckt hat. / DER SPIEGEL SCHMUNDT HILMAR und Hirnspezialisten arbeiten Die meisten anderen je- Testperson Alfeld: Eng wie eine Raumstation, heiß wie eine Sauna wortwörtlich Rücken an denfalls quälen sich gewaltig. Rücken. Wortlos reichen sie Alfeld japst bei jedem Schritt mehr, auf die wackligen Knie in der Höhe von Luft, sich Spritzen, geben sich Zeichen, rufen den letzten Metern muss ihm der Berg- die sich in den Knien ausdehnt, wie Alex- sich Werte zu. führer den Rucksack abnehmen. Als er ander von Humboldt argwöhnte? Sind die Der 18-Stunden-Tag der Probanden ist schließlich oben ankommt, müssen ihm die Schweizer so groß, weil sie in der Höhe an- akribisch durchgeplant. Nach der mor- anderen die Steigeisen von den Stiefeln lö- schwellen wie Luftballons? Beengen Darm- gendlichen Urin- und Blutabnahme wird sen. Später übergibt er sich. Er ist schwer gase die Lunge und stören die Atmung? der Sauerstoffgehalt des Blutes gemessen, krank – ganz nach Plan. Mal wird Pottasche als Therapeutikum dann das Lungenvolumen. Schließlich ra- „Was wir hier oben machen, ist der kal- empfohlen, dann wieder „Marsalawein mit deln die Probanden auf einem Spezial- kulierte Wahnsinn“, sagt einer der For- Eigelb“ oder Kokain. fahrrad und sehen währenddessen auf ei- scher. „Aber besondere Krankheiten er- Je weiter sich die Forschung in Wider- nem Monitor ihrem eigenen Herzen beim fordern eben besondere Forschung.“ sprüche verstieg, desto verlockender Pumpen zu, per Echokardiogramm digital Heimo Mairbäurl, ein vollbärtiger 1,93- wurde es, die Bergkrankheit als reines See- gefilmt. Meter-Riese, der in Heidelberg Physiolo- lenleiden zu verspotten. Ein Alpenvereins- Doch allem technischen Aufwand zum gie lehrt, bittet die Probanden auf seine Vorsitzender im 19. Jahrhundert etwa Trotz bleibt die Seekrankheit der Berge Untersuchungsliege. Alfelds Blutsauer- schwor auf eine Rosskur gegen Unwohlsein schwer greifbar wie die dünne Gipfelluft. stoffsättigung beträgt nur etwa 60 Prozent am Berg: positive Übererregung durch be- Als Reinhold Messner, der den Mount Eve- statt der im Tiefland normalen 90 Prozent. sonders gefährliche Kletterpassagen. rest ohne künstlichen Sauerstoff bezwang, Er fühlt sich benebelt, spricht schleppend, Erst in den sechziger Jahren des 20. auf besondere körperliche Merkmale unter- taumelt. Jahrhunderts ließ eine spektakuläre Mi- sucht wurde, war das Ergebnis überra- Jeden Tag steigen neue Testpersonen mit litäraktion die Leugner des Höhenleidens schend: Alle Messungen ergaben Normal- hämmernden Schläfen auf. Immer wieder endgültig verstummen: Die indische Ar- werte „wie bei mittelmäßig bis gut trainier- schauen auch unbeteiligte Bergsteiger im mee verlegte große Truppenkontingente ten Ausdauersportlern“, stellte der unter- Labor vorbei, die privat auf der Hütte ins hoch gelegene Kaschmirgebiet – das suchende Arzt Oswald Oelz fest. Messners übernachten. Erst am dritten Tag steigt der größte Hypoxie-Experiment aller Zeiten. Resistenz gegen die Höhenkrankheit liege Trupp zurück in die wohltuend dicke Luft 1925 Soldaten wurden höhenkrank. Eine demnach in der „Motivation und vor allem – wenn es die Gesundheit erlaubt. Falls junge Generation von Ärzten entdeckte der außerordentlichen Leidensfähigkeit“. nicht, kommt ein Hubschrauber der bald darauf das Thema neu. Ihre Erfah- Doch Leidensfähigkeit allein reicht als Schweizer Bergwacht und fliegt die Ertrin- rungsberichte über die Halluzinationen Erklärung nicht aus. Schließlich sind auch

150 der spiegel 9/2004 ROBERT BOESCH / ANZENBERGER ROBERT Bergsteigerlager am Mount Everest: „Die Höhenkrankheit hat mehr Bergsteiger umgebracht als Steinschlag und Lawinen zusammen“ die Probanden hart im Nehmen. Erika Finger glimmt eine rote Leuchtdiode, die Decke des Probanden Schmid. Er weiß mitt- Florschütz zum Beispiel, eine kräftige Frau den Sauerstoffgehalt des Blutes misst. Alle lerweile, dass das kein Käfer sein kann. Ir- um die fünfzig, ist Margherita-Veteranin. paar Stunden piepst der Alarm, wenn sich gendetwas in seinem Kopf bringt seine Lun- Bereits 1994 litt sie hier oben im Dienste wieder ein Kabel gelöst hat. ge dazu, langsam am eigenen Blutwasser zu der Wissenschaft, dann erneut 1999. Mit dem Erlebnistourismus hat sich auch ertrinken. Verschlafen knipst er die Stirn- Achtmal schon sammelte sich Wasser in die Bergmedizin gewandelt. Heute gilt ihr lampe an und geht den Notarzt wecken: „Es ihrer Lunge, trotzdem erklärt sie trotzig: Interesse weniger dem eisernen Willen von ist so weit. Ich hab eins“, sagt er. „Bergsteigen ist genau mein Sport, ich Bergsteigerhelden als vielmehr dem schla- Bergmediziner Fischler untersucht ihn will mir keinen anderen suchen.“ Sie hus- fenden Hirn von kraxelnden Bankange- kurz. Bevor er ihn behandelt, macht er erst tet. Lungenödem Nummer neun kündigt stellten. Statt Exotik ist Allgemeingültig- einmal ein Röntgenbild von der Wasser- sich an. keit das Ziel; was hier oben wirkt, soll auch lunge. „Des isch iidrucksvoll“, schwärmt er Auch Proband Schmid will die Gipfel- Kreislaufpatienten im Flachland helfen. wenige Minuten später auf Schweizer- stürmerei nicht aufgeben, bloß weil sie Gift Wer hoch schläft, schläft nicht tief. Fast deutsch, als er am Leuchttisch die bläuli- für ihn ist. Obwohl die Höhe ihn sichtlich alle hier oben, auch die Forscher, leiden an chen Bilder der Lunge bewundert. Wie im mitnimmt, erzählt er munter, wie er eines der „periodischen Atmung“, weil das Lehrbuch zeigen helle Flecken, wo sich das Nachts am Kilimandscharo auf 4000 Meter Atemzentrum im Gehirn ständig zwei wi- Wasser sammelt. „Das sind mit die besten Höhe dachte, dass ein Käfer in seinen dersprüchliche Signale empfängt: Ist der Bilder, die wir bisher gemacht haben!“ Schlafsack geraten sei. Dabei kam das von Chemorezeptoren im Blut gemessene Beschwingt reicht er dem Patient eine Knistern aus seiner Lunge. Kohlendioxidgehalt zu niedrig, bedeutet Atemmaske und dreht eine Flasche mit Schmid lacht. Unter der Plas- dies für das Gehirn: Atmung re- hochprozentigem Sauerstoff auf, zwei Liter tikkrone auf seinem Kopf quillt duzieren. Ist dagegen zu wenig pro Minute. Nach wenigen Minuten geht es ein Kabelstrang hervor. Er dient Auf 4000 Me- Sauerstoff im Blut, wird die At- Schmid besser, nach einer halben Stunde zur Durchblutungsmessung ei- tern dachte er, mung angekurbelt. schlummert er sanft. ner Hirnarterie. Eine Sportwis- ein Käfer sei In der Höhe jedoch ist die Am nächsten Tag steigt die Probanden- senschaftlerin aus Brüssel ver- im Schlafsack. Konzentration beider Gase glei- gruppe ins Tal ab, aufgekratzt und mit Rin- folgt die Daten auf dem Monitor Dabei kam das chermaßen gering, und das ver- gen unter den Augen wie nach einem ihres Notebooks. Ihre Vermu- wirrt das Atemzentrum. Die nied- feuchtfröhlichen Hüttenzauber. Andreas tung: Hoher Blutdruck im Hirn Knistern aus rige Kohlendioxid-Konzentration Ruf, der drahtige Marathoni, besteigt en könnte das Höhenleiden noch seiner Lunge. führt dazu, dass die Atmung 5, 10 passant sogar drei Viertausendergipfel am verstärken, weil das Atemzen- oder gar 20 Sekunden lang aus- Wegesrand. Was er wohl geschluckt hat? trum möglicherweise fehlerhafte Signale setzt. Irgendwann steigt Erstickungspanik Ein halbes Jahr später wühlen sich die an den Lungenkreislauf sendet. auf, weil die Karotiskörperchen nun fest- Gipfelmediziner immer noch durch die Um neun Uhr abends ist Bettzeit. Aber stellt, dass zu wenig Sauerstoff im Blut ist. Berge aus Messdaten. Doch erste Ergeb- damit ist die Laborarbeit noch lange nicht Prompt schießt Adrenalin in die Adern, das nisse lassen bereits Hochstimmung auf- beendet: Die Forscherneugier folgt den Herz rast, gierig schnappt der Schläfer nach kommen: Während von den Placebo-Pa- Leidenden bis unter die Bettdecke. Sie Luft und schreckt auf. Bis zu 150 dieser Er- tienten über 70 Prozent ein Lungenödem müssen sich ihre enge Matratze mit einem stickungsanfälle plagen die Probanden pro entwickelten, waren es mit Erektionshelfer Aufzeichnungsgerät teilen. Statt eines Py- Nacht. Entsprechend zermürbt stehen sie nur 10 Prozent. Die Potenzpille wirkt also jama-Oberteils schlafen sie in einem unbe- am nächsten Morgen auf. nicht nur im Bett, sondern auch am Berg. quemen „Life Jacket“, deren Elektroden Vor allem nachts schaukelt sich der Lun- Vielleicht gehört sie bald ganz selbstver- jeden Atemzug, jeden Herzschlag und je- genblutdruck immer weiter auf. Gegen Mit- ständlich zur Standardausrüstung: Pickel, des Umherwälzen registrieren. Auf jedem ternacht beginnt es leise zu gurgeln unter der Steigeisen und Viagra. Hilmar Schmundt

der spiegel 9/2004 151 Gleitflieger Baumgartner „Ich habe Luftfahrtgeschichte geschrieben“

Flugunternehmungen ganz anderer Art haben ebenfalls Interesse bekundet. Geiss- ler verhandelt mit einer amerikanischen Firma, die auch die US-Armee ausrüstet. „Mit dem Skyray ließe sich ein Eingreif- kommando geräuschlos bis tief hinter die feindlichen Linien bringen“, erklärt der Ex-Wehrdienstleistende. „Bei der Ge- schwindigkeit sind die Soldaten auch we- sentlich schwerer zu treffen, als wenn sie am Fallschirm baumeln.“ Baumgartner hat mit seinem medien- wirksamen Sprung über den Ärmelkanal auch Forscher der Europäischen Raum- fahrtbehörde Esa auf sich aufmerksam ge-

ULRICH GRILL / AP GRILL ULRICH macht. Unlängst hat er sie in Wien getrof- fen und über eine Kooperation verhandelt. Den Urentwurf von Baumgartners Flü- Die Aero-Nautiker Baumgartner und LUFTFAHRT gel hat der Münchner Fachhochschul-Stu- Geissler stehen mit ihrem Pioniergeist in- denten Alban Geissler gestaltet. Sein Pro- des keineswegs allein da. Andere Fall- Mensch mit totyp steht nun vor der Serienproduktion. schirm-Entwickler experimentieren mit „Die Verhandlungen mit einem deutschen reißfesten Stoffen, die sich beim Springer und einem amerikanischen Fallschirm- wie die Flughäute der Gleithörnchen zwi- Flügeln Hersteller sind in der Entscheidungs- schen Arm und Rumpf aufspannen, wäh- phase“, sagt Geissler, der sich mit seiner rend er der Erde entgegenrast. Ein Münchner Designer hat ein Unternehmung „Freesky“ selbständig ge- Jari Kuosma, in der Szene besser bekannt macht hat. als Bird-Man, heißt der wohl erfolgreichste Fluggerät entwickelt, das Mit seiner Konstruktion verschafft der von ihnen. Sein Unternehmen mit Sitz in Fallschirmspringer in Mini-Jets Designer der endorphinsüchtigen Klientel Florida produziert mittlerweile eine ganze verwandelt. Der neue Traum der Himmelsspringer endlich wieder einen Kollektion von Gleitkleidung. Ab 600 Euro vom Fliegen geht bald in Serie. neuen Kick: Nach dem Skysurfbrett, mit ist sie auch in Deutschland käuflich. Der dem sie im freien Fall wilde Pirouetten voll- „Himmelsrochen“ von Geissler hat zwar ie Ewigkeit dauerte 330 Sekunden. führen, können sich Mutige bald auch im ein günstigeres Strömungsverhalten, wird „Sie fühlten sich an, als wollten sie Vorwärtsflug üben. „Der jahrhundertealte aber auch mehr als viermal so teuer sein. Dnie zu Ende gehen“, erinnert sich Traum vom Fliegen ist da- Und noch einen ande- Felix Baumgartner. Er spricht vom 31. Juli durch weniger mecha- ren Preis muss der Sky- 2003: dem Morgen, an dem die Grenzen nisch, mehr menschlich ray-Flieger zahlen: Recht- des Menschen für ihn nicht mehr galten. geworden“, urteilt die lich gesehen verwandelt In 9800 Meter Höhe sprang er aus einem „New York Times“. er sich in ein Flugzeug. Er Flugzeug – und verwandelte sich dann Geissler heizt der Fall- darf deshalb nur in einer selbst in eines. Als Rumpf diente sein ei- schirmspringer-Szene mit ausreichend großen Fall- gener Körper, auf den Rücken hatte er sich technischen Details ein: schirmsprungzone fliegen einen silbrig-blauen Flügel geschnallt. „Geschwindigkeiten bis – oder aber er beantragt Spannweite: genau 1,80 Meter. Mit dieser 400 Stundenkilometer den Flug und bindet sich Ausrüstung konnte er, was sonst Vögeln sind möglich“, sagt der einen Sender mit Erken- oder Insekten vorbehalten ist: fliegen. 33-Jährige. Die Flügelver- nungssignal um. „Plötzlich strömte die Luft nicht mehr sion von Baumgartner Geht es nach Baum- von unten am Körper vorbei“, erinnert er brachte es auf einen Gleit- gartner, sollte der Skyray sich, „sie prallte von vorn auf den Kopf.“ faktor von immerhin 1 zu weiterhin ein exklusives Es war nicht Baumgartners erster toll- 4. Pro Meter Fall in die Vergnügen bleiben – für kühner Sprung. Als „Base-Jumper“ war Tiefe kam er mithin vier ihn selbst. Seine Koope- er mit Fallschirmen bereits von den Petro- Meter voran. ration mit Geissler hat er

nas Towers in Malaysia oder der Christus- Eine neue Version des M. WEBER WOLFGANG deshalb beendet. Statue in Rio de Janeiro gehüpft. „Mit die- Vogelfortsatzes für den Skyray-Konstrukteur Geissler Adrenalinhungrig will sem Flug jedoch“, so sagt der 34-jährige Menschen, die Geissler Im Slalom durch die Wolken „Fearless Felix“, wie ihn Salzburger unbescheiden, „habe ich Luft- am Computer entworfen die britische Regenbogen- fahrtgeschichte geschrieben.“ Denn an je- und anschließend modelliert hat, bringt es presse getauft hat, auch weiterhin als flie- nem schönen Juli-Tag zischte er mit dem sogar auf einen Gleitfaktor von 1 zu 7,5. gende Litfaßsäule seinen Unterhalt ver- „Humanflügel“ zwischen Dover und Calais „Mit ganz wenig eigener Bewegung kann dienen; er wirbt für einen Energydrink- über den Ärmelkanal. man damit im Slalom durch die Wolken Hersteller. Wie ein Fallschirmspringer stürzte sich steuern“, verspricht Geissler. Dessen Slogan, wonach das Getränk Baumgartner aus dem Flugzeug. Dann ging Auch Versicherungen haben dem Flug- Flügel verleihe, will Baumgartner auch er mit den umgeschnallten Tragflächen in gerät inzwischen ihren Segen erteilt: Wer weiterhin wörtlich nehmen und plant seinen den Gleitflug. Erst wenige hundert Meter über eine Erfahrung von 300 Absprüngen nächsten Coup mit dem Carbon-Flügel: über dem Grund öffnete er schließlich den verfügt, den versichern die Assekuranzen „Vielleicht drehe ich schon bald Loopings an Fallschirm und trudelte bodenwärts. auch gegen den Absturz mit dem Skyray. der Eiger-Nordwand.“ Gerald Traufetter

152 der spiegel 9/2004 Wissenschaft

AIDS „Der Optimismus ist verflogen“ Der Virologe, Aids-Forscher und Leiter des AXEL KULL / VISION PHOTOS AXEL KULL Berliner Robert-Koch-Instituts, Reinhard Kurth, über die ersten Aids-Forscher Kurth HIV-Impfstoff-Tests in Deutschland „Viel versprechender Ansatz“

SPIEGEL: An den Universitätskliniken Ham- SPIEGEL: Worauf stützen Sie sich da? fizierten pro Tag nur mit einem Impfstoff burg und Bonn beginnt gerade die Erpro- Kurth: Vor allem auf Tierversuche. Bei Af- in den Griff bekommen ließe. bung des Aids-Impfstoffs tgAAC09 am fen konnte tgAAC09 die Viruslast deut- Kurth: Ja. Impfstoffe, die die Übertragung Menschen. Was bringt das, wenn doch ge- lich senken – wahrscheinlich, weil dieser von Aids einschränken, sind der einzige genwärtig weltweit schon 26 andere Aids- Impfstoff beide „Arme“ des Immunsys- langfristig Erfolg versprechende Weg gegen Impfstoffe klinisch getestet werden? tems, die so genannte humorale, durch diese schlimmste medizinische Katastrophe Kurth: Ob der in Deutschland erprobte Antikörper vermittelte, und die so ge- der Neuzeit. Andererseits würde der Einsatz Impfstoff jemals zum Einsatz kommen nannte zelluläre, durch zytotoxische T-Zel- von Impfstoffen, die nur teilweise wirken wird, wage ich nicht zu prophezeien. Aber len vermittelte Abwehr, gleichermaßen ak- und bei einem Teil der Geimpften vielleicht ich würde ihn in die Spitzengruppe der tivieren kann. Zudem ist tgAAC09 hitze- sogar nur den Ausbruch der Krankheit ver- Hoffnungsträger einordnen. Die verwen- beständig und müsste nur ein einziges Mal zögern, auch zu ganz neuen Problemen dete Technik – genetisches Material des gespritzt werden. Das wäre bei einem Ein- führen. Die natürliche Krankheitsentwick- HI-Virus mit Hilfe eines anderen, harmlo- satz in Entwicklungsländern ein großer lung, die bei einer frühzeitigen Behandlung sen Virus in Körperzellen einzuschleusen – Vorteil. mit Virostatika etwa zehn Jahre dauert, scheint mir von allen derzeitig erprobten SPIEGEL: Warum ist es so wichtig, beide kann man mit einer Impfung vielleicht um Ansätzen der viel versprechendste. Arme des Immunsystems zu aktivieren? Jahrzehnte verzögern. Aber wenn jemand Kurth: Ehrlich gesagt wissen wir dann 30 bis 40 Jahre mit einer HIV-Infektion HIV gar nicht, was genau bei einer lebt, kann er natürlich auch 30 bis 40 Jahre Abwehrtrainer Impfung passieren müsste, da- lang das Virus an seine Sexualpartner wei- Erhoffte Wirkung des Impfstoffs mit sie vor Aids schützt. Wir wis- tergeben – allerdings mit einer verringerten „tgAAC09 AAV“ sen nur, dass die alleinige Akti- Ansteckungsrate, weil ein Impfstoff die Vi- 1 Der neue Aids-Impfstoff besteht aus vierung einer der beiden Arme, ruslast senken würde. einem so genannten Adeno-assoziierten anders als bei sehr vielen ande- SPIEGEL: Warum ist es so schwer, einen Virus (AAV), in das drei Gene des Erbgut ren Erkrankungen, bei Aids wirksamen Aids-Impfstoff zu entwickeln? HI-Virus eingesetzt wurden. nicht ausreicht. Und aus dieser Kurth: Weil uns die einfachsten Wege einer Unsicherheit heraus sagen wir: Impfstoff-Entwicklung beim HI-Virus lei- AAV Am besten aktivieren wir beide der versperrt sind. Am besten würden si- Arme. cherlich Lebendimpfstoffe wirken, die mit 2 Das AAV dient als SPIEGEL: Welche Nebenwirkungen abgeschwächten HI-Viren arbeiten. Aber Trojanisches Pferd, um könnte tgAAC09 verursachen? die sind aus Sicherheitsgründen inakzep- diese Gene in Muskelzellen Kurth: In den Tierversuchen gab tabel, denn in Tierversuchen hat man be- einzuschleusen. es keine Nebenwirkungen. Ob reits beobachtet, dass abgeschwächte Vi- das beim Menschen auch so ist, ren im Laufe der Zeit wieder bösartig wer- 3 In der Muskelzelle werden mit Hilfe der genetischen In- soll die Studie, die jetzt in Ham- den und „Affen-Aids“ verursachen. Eine HIV- burg und Bonn anläuft, über- Impfung mit unveränderten abgetöteten AAV Proteine formation des HI-Virus drei Gene des Proteine hergestellt und an prüfen. Immerhin ist die Hülle, Viren dagegen ist wirkungslos – wir wissen HI-Virus der Oberfläche der Muskel- in der die Gene des HI-Virus nicht, warum. Überhaupt ist noch vieles zelle „präsentiert“. verpackt sind, das so genannte unbekannt – obwohl es inzwischen über Adeno-assoziierte Virus, in der 200000 wissenschaftliche Veröffentlichun- Muskelzelle 4 Dort kommen verschie- dene Zellen des Immun- Vergangenheit schon im Rah- gen zum Thema Aids gibt. Wir wissen zum systems mit den Proteinen men von Gentherapie-Versu- Beispiel nicht einmal genau, wie HIV chen verwendet worden – ohne krank macht. T-Zelle in Kontakt. Die Zellen lernen dabei, die HIV-Proteine als dass relevante Nebenwirkungen SPIEGEL: Wenn es noch so viel herauszu- B-Zelle „fremd“ zu erkennen. aufgetreten wären. finden gilt – warum gibt es in Deutschland SPIEGEL: Besteht Hoffnung, dass dann so wenig Aids-Forschung, dass der 5 Kommt der Geimpfte später mit dem HI-Virus in Kontakt, kann das Immunsystem sofort reagieren: der Impfstoff wirklich vor Aids Beginn der Hamburger und Bonner Studie schützt? als Sensation gefeiert wurde? Humorale Abwehr Zelluläre Abwehr Kurth: Einen vollständigen Schutz Kurth: Die Forschungsförderung im Bereich B-Zellen bilden Anti- Zytotoxische T-Zellen machen – das schafft keiner der Impfstof- Aids ist bei uns leider nicht ausreichend. körper, welche die vom HI-Virus bereits befalle- fe. Dieser Optimismus vom Be- Weil wir daran jetzt endlich etwas ändern HI-Viren unschädlich ne Zellen unschädlich. ginn der achtziger Jahre ist längst wollen, werden im März einige der führen- machen. verflogen. Inzwischen würden den deutschen Virologen dem Bundesfor- befallene wir schon einen 30-prozentigen schungsministerium ein Memorandum Antikörper Zelle Schutz als Erfolg verbuchen. überreichen. Es muss etwas geschehen: Die HIV SPIEGEL: Alle Experten stimmen USA geben pro Kopf jährlich 7,20 Dollar zytotoxische T-Zellen darin überein, dass sich die welt- für Aids-Forschung aus – Deutschland weite Seuche mit 14000 neu In- 9 Cent. Interview: Veronika Hackenbroch

der spiegel 9/2004 153 Wissenschaft

schleust, die ohne chemisches Biozid oder Edelmetall auskommen: Die trichterförmi- HYGIENE gen Teilchen verschließen in ihren Hohl- räumen den Geruch von Schweiß, Ziga- rettenrauch oder Kantinendunst. Geheimwaffe gegen den Mief Mikrobiologen wie Tietz’ Freiburger Kollege Armin Schuster jedoch können in Mit Chemikalien und Abwehrfasern rüstet die Textilindustrie der textilen Vorsorge „keinerlei Vorteil für den Lebensraum Haut“ erkennen. Im Ge- Socken und Hemden gegen Bakterien und Körpergerüche. Mikro- genteil: Antibakterielle Beimischungen wie biologen und Mediziner warnen vor Allergien und Resistenzen. das viel verwendete Triclosan seien, mas- senhaft angewandt, „sehr wohl ein Risi- ko“. Die Substanzen, die im Produkt nicht deklariert werden müssen, könnten die Bil- dung resistenter Bakterien und Pilze för- dern sowie zusätzliche Allergien auslösen. Die Wirksamkeit hingegen sieht Schuster „noch nirgendwo nachgewiesen“. Vor nachteiligen Folgen warnt auch Wolfgang Lingk vom Bundesinstitut für Risikobewertung, das gemeinsam mit dem Robert-Koch-Institut und dem Umwelt- bundesamt schon den Trend zur übertrie- benen Desinfektion im Haushalt mit anti- bakteriellen Putzmitteln und imprägnierten Müllbeuteln abgelehnt hatte. Sich nun auch noch bakterizid zu kleiden sei „kontra- produktiv und schlichtweg nicht notwen- dig“, sagt Lingk, der die Beimischungen „im Textilbereich überhaupt nicht“ haben möchte: „Waschen, trocknen, luftig hal- ten“, meint der Arzt und Biochemiker, rei- che völlig aus. „Die ganze bakteriologische Intelligen- zia ist dagegen“, wettert der Freiburger Umweltmediziner und Hygieniker Franz

ALBERT JOSEF SCHMIDT / ZERO JOSEF SCHMIDT ALBERT Daschner, „aber die Industrie schert sich Mikrobiologen Daschner, Schuster: „Keinerlei Vorteil für den Lebensraum Haut“ nicht drum.“ Sie stellt vielmehr wahre Wun- der in Aussicht: Die spezielle Veredelung riedvoll und harmonisch war, seit eh verspricht überdies die antibakterielle ihrer Sportunterwäsche, so verspricht etwa und je, das Zusammenleben von Wirt Matratze. die Firma Patagonia, „hilft Ihnen, auch auf Fund Gast: Zu Myriaden siedelten Noch nicht zu haben, aber schon in Aus- 30-Tage-Wanderungen Ihre sozialen Be- Kleinstlebewesen seit Anbeginn auf Homo sicht gestellt, sind noch weit abenteuerli- dingungen aufrechtzuerhalten“. Und wer sapiens. Dem tat die Gesellschaft keinen chere Zukunftsentwicklungen: So kündigt Handschuhe der Firma Best trägt, der ver- Schaden – im Gegenteil. das Unternehmen „Cognis Textile Tech- zögert angeblich dank „antibakterieller Sa- Das Gewusel von unterschiedlichsten nology“, die ehemalige Chemiesparte von nitized-Ausstattung“ nicht nur „das Wachs- Bakterien und Pilzen schützte schon den Henkel, Strumpfhosen „mit haarwuchs- tum von Schimmelpilzen und anderen üb- Urmenschen, wie der Berliner Mikrobio- hemmenden Aktivkörpern“ an, ferner lichen Hautmikroben“, sondern bremst loge Hans-Jürgen Tietz sagt, denn die „Herrenunterwäsche mit Viagra-ähnlichen auch noch den Mehltau. Der freilich, ein Winzlinge sorgten für eine Perfektion der Substanzen“ sowie „Stirnbänder, die Kopf- typischer Pflanzenschädling, kommt auf Infektabwehr: „Die allermeisten Keime schmerzen heilen“. Wachsartige Weich- menschlicher Haut gar nicht vor. sind unsere Freunde und halten die weni- macher, auf Windeln aufgebracht, sollen Der „antibakterielle Wahn“ (Daschner) gen unangenehmen unter Kontrolle.“ dem wunden Baby-Po vorbeugen, andere und die Furcht vor den eigenen Ausdüns- Das „gut funktionierende Ökosystem“ Substanzen erhöhen die Schutzwirkung tungen schlagen indessen mit steigendem auf der Haut wird neuerdings, zum Ver- von Stoffen vor den ultravioletten Strahlen Umsatz zu Buche: „Ständig wachsende druss des Wissenschaftlers, gestört und aus im Sonnenlicht. Nachfrage nach mehr Sauberkeit und Hy- dem Gleichgewicht gebracht – durch Inno- Auch Edelmetall ist gegen die gefürch- giene in der Kleidung“ konstatiert etwa vationen der Textilhersteller: Die Branche teten Keime im Einsatz: Im Bettpolster Trevira, Hersteller der silberhaltigen Poly- rüstet gegen die Invasion böser Keime – ebenso wie in der Kleidung sollen einge- esterfaser „bioactive“, die „antiallergen eine Bedrohung, die Mikrobenforscher wie wirkte Silberionen, so Trevira-Marketing- und dermatologisch“ wirken soll. Tietz gar nicht sehen: „Da wird ein Pro- leiter Ulrich Girrbach, „den Bakterien Es gebe „derzeit kaum ein anderes The- blem gelöst, das gar nicht existiert.“ Appetit und Wachstum verleiden“. Den ma auf dem Hemden- und Blusenmarkt, Zum Schutz vor den vermeintlichen Käufern ähnlich veredelter Textilien stellt was stärkere Beachtung findet als Ge- Feinden auf der menschlichen Haut wer- „Padycare“ sogar eine „Eigensterilisation“ ruchshemmung“, heißt es bei „eterna“: den neuerdings Socken und Unterho- in Aussicht, die zugleich unangenehme „Nieder mit den Mief-Molekülen.“ Bestens sen, Sporttrikots, Handschuhe oder auch Gerüche ausschalte. verkauft sich auch Seidenstickers bügel- Einlegesohlen mit chemischen Zusätzen Als Geheimwaffe gegen lästigen Mief freies Hemd „Splendesto fresh“, das, mit und speziellen Abwehrfasern aufgerüs- werden in Business-Anzüge auch Zucker- einem „Frischesystem“ von Zuckermo- tet. Den Schutz sogar noch im Schlaf verbindungen („Cyclodextrine“) einge- lekülen ausgestattet, „Eigen- und Fremd-

154 der spiegel 9/2004 gegeben. Über die Erfahrungen der schwe- Zusammenwirken mit Schadstoffen sieht dischen Armee mit solcher Vorbeugung Schuster dennoch eine Gefahr. Zudem berichteten Dermatologen Mitte der sieb- könnten molekulare Wirkmechanismen ziger Jahre: Mit feuerroten, entzündeten Resistenzen gegen ganze Antibiotikagrup- Füßen kamen damals Soldaten vom Mar- pen in Gang setzen. Auch einige Fälle von schieren zurück, weil ihre Socken zur Des- Allergien gegen Triclosan seien bekannt infektion mit Tributylzinnoxid (TBTO) ge- geworden. spült worden waren. Die Bedeutung des chemisch präparier- Die Substanz, die schon in geringer ten Textils, sagt Pilzexperte Tietz, sei bei Konzentration hautreizend wirken kann, der Bekämpfung der weit verbreiteten Pilz- findet offenbar bis heute Verwendung: In infektionen „so oder so höchst randstän- Radlerhosen, die fast durchweg antimi- dig“. An den wirklich kritischen Stellen, krobiell behandelt sind, wurde noch vor zwischen den Zehen oder im Intimbereich, drei Jahren TBTO gefunden; die Hosen könne sich der Zusatz gar nicht entfalten. waren mit dem deutschen Öko-Tex-Label Die juckenden Lästlinge kann einfangen, zertifiziert, das für besondere Verträglich- wer barfuß im Hotel läuft, in Leih-Skistiefel keit bürgen soll. (Tietz: „Pilzcontainer“) steigt oder beim Kritisch sieht der Freiburger Mikro- Sport ohne Latschen die Gemeinschafts- biologe Schuster jedoch vor allem das viel- dusche benutzt. „Den Pilz“, so Tietz, „be- fach zur Ausrüstung von Bettwäsche, kommt man nicht, den holt man sich. Wie Socken, Strumpfhosen oder Matratzen soll das die Socke regeln?“ Aus Sicht der Mikrobiologen hal- Model mit Silberwäsche, Hemd mit Frischesystem ten auch silberhaltige Textilien, die „Keime sind unsere Freunde“ gegen Keime schützen sollen, nicht das, was sie versprechen: Das ge- sundheitliche Risiko sei geringer als beim Triclosan, aber auch beim Haut- kontakt mit der behandelten Faser würden Wirkstoffe frei, die das Gleichgewicht der Normalflora be- einträchtigen könnten. Kleine La- bortests zur Wirksamkeit des Silber- zusatzes seien indes „wertlos, weil nicht unter Praxisbedingungen ent- standen“, kritisiert Schuster. Dass die langen Hosen, T-Shirts (zum Preis von mindestens 100 Euro), Strampelanzüge oder auch Schals mit dem Edelmetall-Anteil immer graubraun daherkommen, stört viele Neurodermitiker nicht. Schließlich verspricht das neuartige Textil, vor allem in Form von Unterwäsche, Linderung für die von quälendem Juckreiz, Schwellungen und Rötungen Geplagten. Die Hersteller werben mit einer neuen Studie der Technischen Universität Mün- chen: Hautärzte der Hochschule haben herausgefunden, dass der Silberdress bei Neurodermitikern hartnäckige Staphylo- kokken reduzierte. Doch im Test auf der kranken Haut war das neue Material nur zwei Wochen lang. „Da lässt sich über die Langzeitverträg- lichkeit nichts sagen“, räumt TU-Derma- tologe Johannes Ring ein. Auch war die Vergleichsstudie mit und ohne Silberklei- dung nicht, wie wissenschaftlich gefordert, hinlänglich „verblindet“: Den Probanden war bekannt, ob sie gerade konventionel- Textilforschung*: Strumpfhosen gegen Haarwuchs, Stirnbänder gegen Kopfschmerz le oder Hightech-Stoffe erprobten. Noch habe „keine Untersuchung wirk- gerüche isoliert“, angeblich über viele Wä- verwendete Triclosan. Die Chemikalie aus lich gezeigt, dass der ganze Aufwand mit schen hinweg. der Gruppe der Chlorphenole, eine Aus- den Bioziden im Stoff Sinn macht“, sagt Als Mittel gegen die verpilzten Füße ih- gangssubstanz für verschiedene Dioxine, Kritiker Schuster und fragt: „Warum wohl rer Soldaten hatte nach dem Zweiten Welt- ist bereits international „zum absoluten ist im meistgefährdeten Bereich, im OP, krieg zuerst das US-Militär die Entwick- Modestoff beispielsweise in Seifen und wo der Leib stundenlang offen ist, die anti- lung antibakterieller Textilien in Auftrag Zahnpasta geworden“. Die Substanz, die bakterielle Ausrüstung von Tüchern und auch über die Haut leicht aufgenommen Kitteln nie ein ernsthaft diskutiertes The- * Im Institut Hohenstein nahe Heilbronn. wird, sei zwar „relativ gut verträglich“. Im ma?“ Renate Nimtz-Köster

der spiegel 9/2004 155 Szene Kultur

VERLAGE Walser wechselt ls eine Riege von Suhrkamp-Auto- Aren, darunter Ulrich Beck, Rai- nald Goetz, Durs Grünbein und Adolf Muschg, am vergangenen Montag im Berliner Bundeskanzleramt Gerhard Schröder zu einem Gespräch über Bil- dung, Kultur und die Weltlage trafen, war er nicht dabei: Martin Walser, der einen neuen Roman in der Schublade hat und ihn nicht mehr im Frankfurter Verlagshaus veröffentlichen wird, dem er seit 1955 angehört. Wohin er wech- seln will, darüber spekuliert derzeit das deutsche Feuilleton. „Kein Vertrag ist unterzeichnet“, sagt Walser, 76, und ironisch: „Dass der Mangel an Tatsachen aus dem Journalismus ein Vermutungs- gewerbe macht, ist eine sympathische Überraschung.“ Suhrkamp-Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz kommentiert die ungeklärte Situation: „Zusammen ha- Haberlandt als Lulu

ben wir kritische Situationen bewältigt, HANS JÖRG MICHEL mit Verletzungen auf beiden Seiten. Ich wünschte mir, das würde den Autor THEATER und seinen Verlag eher verbinden als trennen.“ Walser verhandelt derzeit mit dem Rowohlt-Verlag in Reinbek. Zarte Sirene m künstlerischen Wettstreit zwischen der Berliner Schaubühne und dem Hambur- Iger Thalia Theater treten gern starke Frauen gegeneinander an: So gelangen den Re- nommierbühnen mit gegensätzlichen Versionen der Ibsenschen „Nora“ zuletzt zwei Glanztaten – und nun soll Wedekinds „Lulu“ in beiden Häusern für Furore sorgen. Be- vor Thomas Ostermeier in Berlin am 24. März Anne Tismer in der provozierenden Rol- le antreten lässt, hat am kommenden Samstag in Hamburg Michael Thalheimers „Lulu“-Inszenierung Premiere. Den Titelpart spielt die eher auf herbe, bizarre Frauen spezialisierte Fritzi Haberlandt. Längst ein Star des Thalia Theaters, wagt sie sich mit Wedekinds Sirene jedoch auf neues Terrain: Die Kindfrau Lulu betört nicht nur die Män- ner – und eine Frau – mit ihrer Sinnlichkeit, sie treibt sie auch in den Untergang; zu Grunde geht sie auf dem Londoner Strich als Opfer von Jack the Ripper. Thalheimer dürfte die „Monstretragödie“ (Untertitel) von 1894 in jenem puristischen Stil der besen- reinen Klassiker-Entrümpelung präsentieren, der ihn berühmt und berüchtigt gemacht

DARIO SECEN DARIO hat – der Mann scheidet das Publikum traditionell in Fans und erbitterte Gegner. Walser

LITERATUR zähler seines Buchs ist der in einer obskuren Obsession für Anna entbrannte Professor. Reiseführer für Traumtänzer Daheim hoch gelobt, ist der österreichische Autor Stei- ner hier zu Lande noch zu entdecken. Mit seinem sechs- ie schöne Anna hat eine Neigung zu Männern mit ten Buch ist ihm ein kleines Wunder gelungen: Voller lite- DObsessionen. Mit 16 Jahren liebt sie einen durchge- rarischer Anspielungen und dennoch locker präsentiert knallten Medizinstudenten, dessen wahre Leidenschaft er seine Geschichte vom Wahn der Liebe; in einem Ro- das Sezieren ist; ein menschlicher Oberschenkelknochen man, der zugleich ein Reiseführer für Weltflüchtige ist. dient in seinem VW als Schalthebel. Schluss macht Anna Denn der Exzentriker Coleridge wird mehr und mehr zu erst, als sie ihren Liebsten mit einer Tierpräparatorin er- einer zentralen Figur. Er schrieb ein bekanntes Gedicht wischt – beim Ausnehmen eines Eichhörnchens. Einige der Romantik – über den Sehnsuchtsort Xanadu. Dort Jahre später ist Anna mit Martin liiert, der über den Dichter S.T. errichtete ein Fürst einst einen Palast, den er im Traum gesehen Coleridge promovieren will – und verzaubert ausgerechnet den hatte. Um die Verwirklichung einer Phantasie geht es auch Stei- Professor, den ihr Freund als Doktorvater gewinnen will. ners Professor bei seinem Traumtanz mit Anna. Freilich: Bei Co- Von wahnhafter Verwirrung und einem Reigen von Tagträu- leridge ist von einem „in die Luft“ gebauten Schloss die Rede. men und Nachtmahren erzählt der Schriftsteller Wilfried Stei- ner, 43, in dem Roman „Der Weg nach Xanadu“. Der Ich-Er- Wilfried Steiner: „Der Weg nach Xanadu“. Insel Verlag, Frankfurt/M.; 288 Seiten; 19,90 Euro.

der spiegel 9/2004 157 Szene

EMIGRATION Deutscher Fleiß in Israel und 500000 Juden lebten zu Beginn Rder Nazi-Herrschaft im Deutschen Reich, bis zum Kriegsausbruch wander- ten über 50000 nach Palästina aus, das zu dieser Zeit von Großbritannien im Auftrag des Völkerbunds verwaltet wur- de. Der Historiker und Kulturwissen- schaftler Joachim Schlör, Jahrgang 1960, hat die Geschichte der deutschen Ein- wanderung nach Palästina aus vielen Biografien und Dokumenten rekonstru- iert. Sein Buch „Endlich im Gelobten Land?“ (Aufbau Verlag; 224 Seiten;

29,90 Euro) handelt „von Deutschland R. BANCROFT MEMORIAL, AND MARY 1935 MUSEUM, SAMUEL ART DELAWARE und wie man es verlässt“ und „vom Rossetti-Gemälde „Found“ (1859) werdenden Israel und wie man dort an- kommt“. Es ist eine oft herzerweichen- AUSSTELLUNGEN de Lektüre. Was die jüdischen Emigran- ten vor allem mitnahmen, das waren deutsche Tugenden wie Ausdauer, Fleiß Lockende Musen und Zuverlässigkeit, gepaart mit Bildung und unternehmerischem Geist. Sie grün- er englische Maler Dante Gabriel Ros- Dsetti (1828 bis 1882) schwärmte hem- mungslos für vergangene Epochen, insbe-

sondere für die italienische Frührenais- GALLERY BIRMINGHAM MUSEUMS & ART sance. Als junger Künstler hatte er eine Rossetti-Werk „Proserpina“ (1882) Art Bruderschaft mitbegründet, deren Mit- glieder die Vorläufer Raffaels bewunderten und sich folgerichtig Präraffaeliten nann- ten. Retro-Anhänger Rossetti mochte nicht völlig auf die Verlockungen der Gegen- wart verzichten, zu denen seine rothaarige Muse und Ehefrau zählte (die allerdings früh durch eine Überdosis Rauschmittel umkam). Gern malte der Künstler seine vie- len Amouren, diese britischen Femmes fatales, zu Madonnen oder antiken Heldin- nen um. Weil sich auch das 21. Jahrhundert mit Vorliebe zurückträumt, ist die dunkle Kitsch-Romantik Rossettis wieder schwer in Mode: Von Freitag an präsentiert das Amsterdamer Van Gogh Museum eine große Auswahl seiner Werke (bis 6. Juni). Die Tate Britain in London widmet sich derzeit gleich allen Präraffaeliten (bis 3. Mai).

Kino in Kürze

AUS: DAS PALÄSTINA BUCH / HANS CASPARIUS PALÄSTINA AUS: DAS „21 Gramm“. Mit seinem furiosen Kino-Erst- „Jekkes“ in Palästina (1934) ling „Amores Perros“ hat der Mexikaner Alejandro González Iñárritu vor gut drei deten Schulen und Verlage, eröffneten Jahren so viel internationales Aufsehen er- Cafés in den Städten und Hühnerfarmen regt, dass ein Lockruf aus Hollywood nicht auf dem Lande. Die Bauhaus-Architek- lang auf sich warten lassen konnte, und tur wurde in Tel Aviv verwirklicht. Für der Mexikaner (in seiner Heimat längst ein das Entstehen des öffentlichen Musikle- erfolgsverwöhnter Medienproduzent) war bens waren die deutschen Juden ebenso selbstbewusst genug, sein kreatives Team unentbehrlich wie für den Aufbau eines (für Drehbuch, Kamera, Ausstattung, Mu- unabhängigen Justizsystems. Sogar im sik) in die USA mitzunehmen. So ist „21 Hochsommer legten sie ihre Krawatten Gramm“ ein Hollywood-Film ohne Holly- Watts in „21 Gramm“ und Jacken nicht ab und wurden als wood-Politur, ganz von Iñárritus draufgän- „Jekkes“ verspottet. Zu den Dokumen- gerischem Temperament geprägt, seiner ein erstaunliches Übermaß an Qualen und ten, die Schlör gefunden hat, gehört betont ungehobelten Expressivität, seinem Ekstasen, durch das Iñárritu seine Stars Sean auch ein maschinengeschriebenes Blatt, melodramatischen Überdruck. Wieder – wie Penn, Naomi Watts und Benicio Del Toro das die „Zionistische Vereinigung“ an schon in „Amores Perros“ – verfolgt seine jagt, bis mit gebührendem Pathos die Liebe die Auswanderer verteilt hat. Punkt 19 Erzählung drei Schicksale, die in einer kata- über den Tod siegen darf. Große Kunst geht der „Allgemeinen Ratschläge“ lautet: strophalen Kollision aufeinander treffen. Da einen Pakt mit noch größerer Imponiersucht „Nicht viele Empfehlungsschreiben mit- ist in einem Puzzle aus Szenenfragmenten ein: Dafür sind starke Nerven nötig. bringen, sie haben doch keinen Wert.“

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FILM hattan treffen. 20 Minuten, jeden Tag, auf dem Weg zur Arbeit, im Schminkraum „Ganz nah bei der Fähre. Kein Mann war da jemals drin, ein exklusiver Club von Diven. Die Johnny Depp!“ Frauen reden über die Liebe und das Le- ben, mal komisch, mal traurig, mal frech. Die in New York lebende Hamburgerin SPIEGEL: War es schwierig, die Damen Katja Esson, 38, über die Oscar-Nominie- für den Film zu gewinnen? rung ihrer Dokumentation „Ferry Tales“ Esson: Ich schlich wochenlang auf der Fähre herum, um sie erst mal ohne Ka- SPIEGEL: Frau Esson, wie haben Sie mera zu beobachten. Hinterher erfuhr gefeiert, als Sie von der Nominierung ich, dass sie alle immer schon gerätselt erfuhren? hatten: „Wer ist diese Verrückte?“ Dann Esson: Natürlich wusste ich, dass der Film sprach ich eine Frau an, und sie schrie in der Vorauswahl war, aber als am 27. sofort begeistert: „Ich will ein Star sein!“ Januar die Oscar-Kandidaten bekannt gegeben wurden, war ich weit weg von allem, mitten im brasilianischen Dschungel. Es tobte ein Unwetter, es gab kein Telefon in unserer Hütte. Mein Freund und ich fuhren stunden- lang über Feldwege bis zu einem Lu- xushotel, wo ich den Manager anfleh- te, das Internet benutzen zu dürfen. SPIEGEL: Und dann kehrten Sie schleunigst zurück nach New York? Esson: Ja, dort lag schon ein Päck-

chen von der „Academy of Motion FRED SHIPMAN Picture Arts and Sciences“. Erst da Esson glaubte ich es wirklich: Katja Küm- merle aus Hamburg-Poppenbüttel darf Da wollten sie alle mitmachen. Aber es übern roten Teppich. dauerte noch Monate, bis ich das Vertrau- SPIEGEL: In Ihrem kurzen Dokumentar- en der Frauen wirklich gewinnen konnte. film geht es weniger glamourös, dafür SPIEGEL: Sie leben seit zehn Jahren in New aber kurios zu. York, und dank einer Heirat nicht unter Esson: Ja, es ist ein Film über eine einge- dem Namen Kümmerle, sondern Esson. schworene Gruppe von Frauen aus allen Esson: Ja, Gott sei Dank, denn beim Foto- sozialen Schichten New Yorks. Schwarze, termin stehen die Nominierten in alpha- weiße, arme, reiche Frauen, die sich auf betischer Ordnung, und da ist E wie Esson der Fähre von Staten Island nach Man- ganz nahe dran an D – D wie Johnny Depp!

SÄNGER Schlafes Schmuser „Baby“. Mit cleveren Mu- sikvideos für Madonna und eich und samtig klingt Josh Grobans Gesang – und andere Superstars ist Phi- Win den USA ist der 22-jährige Bariton bereits ein lipp Stölzl bekannt gewor- Superstar: „Closer“, sein neues Crossover-Album, er- den, in seinem überraschend reichte Platin und die Spitze der Billboard-Charts. Nun braven Spielfilmdebüt er- will Groban auch Deutschland erobern und singt an die- zählt er ein melodramati- sem Wochenende in Thomas Gottschalks ZDF-Show sches Märchen: Die kleine „Wetten, dass…?“ Auf seiner „Closer“-CD aber erweist Lilli (Alice Dwyer), nach sich der ansehnliche jun- dem Unfalltod ihrer Mutter ge Sänger als Meister des

2003 FOCUS FEATURES von ihrem Vater (Filip Pee- Einlullens: 13 Stücke lang ters) und dessen hübsch schmettert er so herr- verwittertem Berliner Ha- liche Kitschnummern lunkenfreund (Lars Ru- wie „Mi Mancherai“ aus dolph) großgezogen, stiftet dem Film „Il Postino“ in einer kriminellen Trash- und schmust seine Zuhö- Welt jede Menge sexuelle rer in selige Träumerei – Verwirrung – und stürzt die ein an Vorbildern wie Männer in ulkige Idiotie Andrea Bocelli geschul- sowie ins Verderben. ter Großschnulzer fürs Groban-CD-Cover Schwiegermutterherz.

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SHOWGESCHÄFT Die Mechanik der Erregung Der inszenierte Wirbel um die Porno-Vergangenheit Sibel Kekillis, der deutschtürkischen Hauptdarstellerin im Berlinale-Siegerfilm „Gegen die Wand“, enthüllt vor allem eines: So freizügig sich eine Gesellschaft auch gibt – pseudoprüde Empörung zieht immer noch. KERSTIN STELTER / WÜSTE FILM / WÜSTE STELTER KERSTIN „Gegen die Wand“-Darsteller Ünel, Kekilli: Verschwitzte Enthüllungsarbeit nach dem Jubel über den Festivaltriumph

uf der ersten Seite von „Bild“ bietet Hilfe an), tapfere Sibel (Wir sind stolz prangte am vergangenen Mittwoch auf sie) – das Blatt deklinierte den Fall nach AUschi Glas, 59, das sorgenfaltige allen Regeln des Boulevards durch. Reh. „Uschi Glas steht sündiger Film-Diva Dank der Enthüllung zog Kekilli, 23, in mutig bei“, lautete die Zeile. der Woche nach dem Triumph des „Gegen Heilige Uschi, da kam sie tatsächlich auf die Wand“-Melodrams bei der Berlinale- die Frontpage gewackelt, die Frau Sünde, Preisverleihung so viel Interesse auf sich, die „Bösartigkeit der menschlichen Natur“ dass der Regisseur des Films, der Ham- (Immanuel Kant). Ein anderes Wild, die burger Fatih Akin, neben der in Heilbronn rehäugige Sibel Kekilli, Hauptdarstellerin aufgewachsenen Jungschauspielerin nur des mit dem Goldenen Berlinale-Bären aus- noch eine Nebenrolle zu spielen schien. gezeichneten deutschen Films „Gegen die „Warum drehte die zarte Diva so harte Wand“, war auf dem Porno-Lotterlager er- Pornos?“, lautete die fürsorglich-kultur- wischt worden – „Bild“ fuhr seine neueste kritische Schlüsselfrage der „Bild“-Kam- Kampagne: Schlimme Sibel (Wie kann sie uns so täuschen), arme Sibel (Die Eltern „Bild“-Zeitung vom 17. Februar (Ausriss) verstoßen sie), hilfsbedürftige Sibel (Uschi Schlimme Sibel, arme Sibel

160 der spiegel 9/2004 pagne. Konkreter Anlass der Empörung: hat, bevor sie zur erfolgreichen Film- diese One-Night-Stands ablaufen, sieht der Kekilli, die in Akins Film eine aus der Enge schauspielerin wurde? Gibt es in einem Zuschauer nicht. ihrer türkischen Familie ausbrechende jun- Land, in dem jährlich 9000 Pornos neu Erst als die Eheleute Sibel und Cahit ge Frau spielt, hatte im Jahr 2002 in einigen auf den Markt kommen, immer noch eine merken, dass sie sich tatsächlich ineinander Hardcore-Porno-Filmen mitgewirkt, die Ti- Schranke zwischen den Sphären: Hier verliebt haben, lässt die junge Frau ihr tel trugen wie „Megageile Kükenfarm“ das halbwegs normale öffentliche Leben, knappes Kleid fallen. Die anschließende oder „Tierisches Teenie-Reiten“. dort die ungehemmte private Triebhaftig- Bettszene kann es an Harmlosigkeit mit Regisseur Akin und Berlinale-Chef Die- keit, hier die Filmkunst, dort die hässliche jeder Rosamunde-Pilcher-Verfilmung auf- ter Kosslick standen Kekilli ebenso öffent- Welt des megageilen Hardcore-Kapita- nehmen. Doch trotz aller Rücksichten des lich bei wie der Filmemacher Dieter Wedel lismus? Regisseurs, der sagt, die Idee zu seinem oder seriöse Zeitungen wie die „taz“ („wi- Paradoxerweise vollzieht Akins „Gegen Film stamme von einer Freundin, „die aus derlich“), die „Süddeutsche“ („so viel Her- die Wand“, der am 11. März in die Kinos einem ähnlich strengen Elternhaus kam renschweiß“) und die „Zeit“ („schmierig“). kommt, selbst eine Art Tabubruch, wenn er wie die Sibel“ – auf türkische Traditiona- Sämtliche TV-Boulevardmaga- listen muss sein Film, der bereits zine berichteten ähnlich enga- in die Türkei verkauft ist, höchst giert wie die Münchner „Abend- provozierend wirken. zeitung“, deren Titel „Porno- Akin, 30, traditionsbewusst Star? Na und!“ lautete. „Da wird erzogen („Mein Vater ist ein sogar der Goldene Bär rot“, ka- Mensch, der fünfmal am Tag be- lauerte die Berliner „B.Z.“; der tet und in Mekka war“), ist wich- „Stern“ nutzte die Gelegenheit, tig, „was meine Eltern von dem einen männlichen Porno-Dar- Film denken“. Er habe nieman- steller zu loben, er sei „um Län- den provozieren wollen, aber so, gen besser als jeder andere“. Die wie er es zeige, sei nun mal das „Welt“ barmte, der Verzicht auf Leben: „Jeden Abend, wenn man einschlägig erfahrene Kräfte kön- die Glotze anmacht, wird für ne „zu einem Engpass von jun- 0190-Nummern rumgestöhnt.“ gen Frauen fürs Kino führen“. „Du kannst kein türkisches Gerade noch hatten sich die Mädchen nackt zeigen“, hätten Deutschen in vermeintlicher ihn türkische Männer ermahnt;

Überlegenheit amüsiert über die MERRITT NATACHA und auch wie die jungen Türkin- Heuchelei der US-Medien, die Nacktkünstlerin Merritt: „Pornografische Energieübertragung“ nen im Film reden, wenn ihre sich nach der Präsentation einer Männer nicht dabei sind („Meiner nackten Brust der Sängerin Ja- leckt wie eine Katze“), dürfte kon- net Jackson im Live-TV eine servative Sittenwächter empören. drastische Selbstzensur auferleg- Wen aber sonst? Von einer ten. Der so genannte Nipplegate- „sündigen Film-Diva“ schwallte Skandal hatte vor allem christ- „Bild“ über Kekilli – und rief in lich gesinnte Amerikaner aufge- den Hirnkammern ihrer Leser bracht. Nun aber wirkt der deut- die Reste religiöser Überlieferung sche Rummel um die Porno-Ar- wach: Es war doch Eva, die Frau, beit der Darstellerin Kekilli kaum die sich zur ersten Sünde der weniger lachhaft als die Aufre- Menschheit überreden ließ. Da- gung um Jacksons Busen. ran erinnerten schon Berichte Längst sind fast alle westlichen des Blatts über den Dschungel- Gesellschaften in bizarrer Weise TV-Hit „Ich bin ein Star – Holt dauersexualisiert. Entspannt las- mich hier raus!“ auf RTL, als die sen sich die Menschen durch Zeitung die Rolle der Schlampe Fernsehserien wie „Sex and the mit Caroline Beil besetzte: „Die

City“ über die Vorzüge von Oral- / AP PHILLIP DAVID schlimmste Schlange des Dschun- und Analsex informieren, ach- Sängerin Jackson (mit Justin Timberlake): „Nipplegate“ im TV gels“ – der Bibel-Forscher des selzuckend betrachten sie in der Blattes schlug zu. Werbung für Unterwäsche oder im MTV- die schmerzhafte Emanzipation der jun- Die Moral ist in der angeblich total liber- Videoclip Paare bei der Paarung; die Por- gen Deutsch-Türkin Sibel, gespielt von Ke- tinären Welt ein ewiger Mitläufer: Sie hat no-Branche wird in zahlreichen TV-Repor- killi, zeigt. keinen wirklichen Einfluss auf die Tod- tagen, die schon mal „live vom Set“ aus Die Heldin landet nach einem Selbst- sünde der hemmungslosen Neugier, aber Budapest berichten, porentief ausgeleuch- mordversuch in der Psychiatrie. Dort trifft sie klingt immer so schön sonorig und ent- tet. Ehemalige Sex-Darstellerinnen wie sie den fast doppelt so alten Alkoholiker lastet das Gewissen des Lesers. Auf dem Dolly Buster oder Michaela Schaffrath sind Cahit (Birol Ünel). Weil sie ihrem musli- Boulevard funktioniert die Mechanik der gern gesehene Talkshow-Gäste und schmü- mischen Traditionen verhafteten Eltern- Scheinmoral noch anstandslos. cken manche Promi-Party. haus entfliehen will, überredet sie ihn zu In der bunten Welt der Kunst, zumal der US-Stardesigner Tom Ford, der jahre- einer Scheinehe. bildenden, folgt die Erregungsleitung da- lang für Gucci extravagante Kleider ent- Ihrer Familie entkommen, holt Sibel ihre gegen längst anderen Gesetzen. Die „por- warf, bekannte vor kurzem, wie es ihm Pubertät nach: Partys, Drogen, Sex. „Ich nografische Energieübertragung“, von der und dem Rest der Menschheit mit der Por- will frei sein, ich will ficken – und nicht nur der Philosoph Bazon Brock noch Anfang no-Bilderflut im Alltag ergeht: „Sex nervt mit einem Mann“, erklärt sie ihrem Alibi- der neunziger Jahre sprach, hat sich, so mich oft.“ Gatten. Regisseur Akin zeigt, wie Sibel scheint’s, erledigt. Was also ist so bemerkenswert daran, tanzt, Kokain schnupft und mit Party-Be- Wirklich erregen mag sich über das vie- dass eine junge Frau Porno-Filme gedreht kanntschaften verschwindet – doch wie le nackte Fleisch niemand mehr. Im ver-

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Nur minimal unterscheiden sich Dar- stellungen wie die Merritts vom gemeinen Hardcore-Porno: Und doch ist im Porno- Film die pure, banale, oft trostlose Trieb- abfuhr derart in Nahaufnahme gebannt, dass das Erschrecken über die unheimliche Macht des sexuellen Begehrens mitunter auch die Kinder von Bauchnabel-Piercing und String-Tanga anfällt. Vielleicht erklärt dieser Gruseleffekt, was selbst ein reichlich auf- und abgeklär- tes Publikum über Kekillis Porno-Arbeit diskutieren lässt. Dabei ist nicht ihr Wech- sel zwischen den Sphären der Kunst und der Porno-Produktion die Sensation, son- dern die Verve und Strahlkraft, mit der sie in „Gegen die Wand“ die Konventionen

KERSTIN STELTER / WÜSTE FILM / WÜSTE STELTER KERSTIN auch des jungen deutschen Kinos sprengt. Schauspielerin Kekilli, Regisseur Akin: „Sie ist für mich wie meine kleine Schwester“ Weder Kekilli noch Filmemacher Akin kommen einstweilen dazu, den Berlinale- gangenen Herbst etwa zeigte die amerika- Und als der Kölner Taschen Verlag Erfolg zu genießen: „Ich muss meine Haupt- nische Künstlerin Andrea Fraser, 39, in vor vier Jahren die „Digital Diaries“ der darstellerin beschützen“, sagt er. „Sie ist für Hamburg eine Art Kunstporno, der sie – blutjungen Amerikanerin Natacha Mer- mich wie meine kleine Schwester.“ offensichtlich wenig angeturnt – beim Sex ritt veröffentlichte, da konnten die deut- Um die Wahrung von Kekillis Persön- mit einem Mann zeigt, der als Sammler schen Feuilletonisten vor Begeisterung lichkeitsrechten kümmert sich mittlerwei- ausgegeben wird. kaum an sich halten. Auf die Fotos, die le der Hamburger Medienanwalt Matthias Die Österreicherin Elke Krystufek hat Merritt nackt oder beim Gruppensex, vor Prinz. Er will „sie vor der Berichterstattung schon einmal mitten im Museum und allem aber die ineinander verrenkten Ge- schützen, so weit es geht“. dort vor Hunderten belustigten Menschen nitalien in Großaufnahme zeigten, reagier- Kekilli halte „sich sehr gut, den Um- masturbiert. Der Fotokünstler Thomas te die Geisteselite betont befriedigt. Der ständen entsprechend“, sagt Akin. Sie sei Ruff erzielt mit nur spärlich verwischten Verlag bot die Bilder als „sexuelle Reise „wütend – und Wut ist immer ein guter Aufnahmen von Porno-Grazien Höchst- eines Mädchens aus dem 21. Jahrhun- Motor“. Jana Hensel, Ulrike Knöfel, preise. dert“ feil. Reinhard Mohr, Martin Wolf fälle offenbar nur so zuflogen – über 60 Opern sind verbürgt –, habe es gern möglichst farbig haben wollen. Ein Mu- sikus, der seinem Publikum in der Stadt- republik Jahr für Jahr bis zu vier neue Stücke bot, musste einfach auf Unge- wöhnliches kommen. So entwickelte Keiser, von dem sich nicht einmal ein Porträt erhalten hat, seit 1697 am Hamburger Gänsemarkt-Theater einen Stil, der an Stelle der gewohnten höfischen Feierlichkeit auf Überraschung und bürgernahen Witz setzte. Außer Sa- genhelden wie Odysseus oder Iphigenie ließ er etwa die Merowinger-Hexe Frede- gunda auftreten. Selbst mit der Hinrich- tung des berüchtigten Piraten Störtebeker oder deftigen Jahrmarktspossen wartete Keiser auf. Wie in einer Schlagerrevue san- gen die Darsteller abwechselnd deutsch

BRINKHOFF + MÖGENBURG und das noble, klangvollere Italienisch. Da- Keiser-Oper „Jodelet“ in Hamburg: Stimmband-Gymnastik und bürgernaher Witz zwischen erklang manchmal sogar Volkes Stimme auf Plattdeutsch. und ähnlich flippig, wie Uwe Eric Laufen- „Ich bin sicher, dass der Hamburger Jo- OPER berg das Stück inszeniert hat, wirkt er- delet Platt gesnackt hat“, meint Regisseur staunlicherweise auch die Musik. Kaum zu Laufenberg. Konsequent holt er das Stück Schlagerrevue glauben, dass solche Klänge Jahre vor der in die heutige Wirklichkeit. Da findet der Glanzzeit von Johann Sebastian Bach zu Titelheld den Schwertkämpfer-Harnisch, hören waren. der ihn für einen Tag zum Prinzen macht, mit Prollprinz Zwar sind die Fachleute inzwischen ei- ausgerechnet vor Hamburgs mit Plakat- nig, dass Reinhard Keiser (1674 bis 1739) resten übersätem Anarcho-Palazzo „Rote Barockopern sind in Mode – nun ein musikalischer Pionier war. Doch erst Flora“ (aufgesprayte Parole: „Die Gunst jetzt kommt der Wahl-Hamburger aus dem dem Pöbel“). Den echten Prinzen erkennt entdecken zwei deutsche Nest Teuchern bei Weißenfels wieder seine Auserwählte später auf dem Um- Musiktheater die spaßverliebten richtig zu Ehren. Gleich zwei angesehene schlag einer Illustrierten wieder. Werke des fast vergessenen Opernhäuser bringen an diesem Wochen- Das Feuerwerk an Gags und Parodien Komponisten Reinhard Keiser. ende Keiser-Werke heraus: In Hamburg hat wird von der Musik oft noch überboten. So am Sonntag „Der lächerliche Prinz Jode- lässt der ausgefuchste Keiser in der „Octa- er Kerl heißt Jodelet; französisch let“ Premiere; das Badische Staatstheater via“ einmal gleich mehrere Fagotte betrübt gesprochen klingt das noch ganz in Karlsruhe führt am Tag vorher „Die rö- herumnäseln. Dann wieder schwebt eine Dmanierlich. Aber wie er sich be- mische Unruhe oder Die edelmütige Octa- Sopranstimme serafisch über zart gezupf- nimmt, ist schon ein starkes Stück. via“ auf. ten Streichakkorden. Vom Fugen-Ernst bis Da hat er per Zufall den Ideal-Dress er- Auch in Karlsruhe – wo das Werk, aus zum Krawall werden alle Register gezogen wischt, um bei feinen Leuten Eindruck zu dem immerhin der junge Georg Fried- – schon die Ouvertüre des „Jodelet“ wech- machen, und nun rennt er schon mit geilem rich Händel etliche Arien abkupferte, selt zwischen gravitätischem Sarabanden- Grunzen der nächstbesten Schönheit nach. die Händel-Festspiele einläutet – ist Kei- schritt und übermütiger Raserei abrupt hin Als die ihn fortschiebt und sers Bilderbogen um den und her. Viele Arien verlangen zirkusreife einen Song in fremder Willkürherrscher Nero ein Stimmbandgymnastik. Sprache anfängt, plappert Fest für die Sinne. Von der Karlsruhe wie Hamburg haben deshalb und grabscht er wüst da- schnieken Champagner- Spezialisten ins Haus geholt. Bei der „Oc- zwischen. Schließlich fährt Fete über Revolutionsge- tavia“ spielen – gut sichtbar vom Renais- der Rhythmus auch ihm tümmel, eine Angelpartie, sance-Podest herab – die Deutschen Hän- in die Glieder. Ein paar Geisterstunde auf dem del-Solisten unter Leitung des akribischen Umstehende fangen an, Friedhof, Philosophie-Lek- Barockfachmanns Andreas Spering auf. In im Takt zu klatschen – tionen mit Neros Lehrer Hamburg dirigiert sein ebenso versierter prompt ruft er laut ins Pu- Seneca, Ballett-Einlagen Kollege Alessandro De Marchi vom Cemba- blikum: „Und jetzt alle!“ und Eifersuchtsszenen bis lo aus das kleine, aber tonstarke Ensemble. Nein, es ist keine neue zur Verzweiflung kurz vor Ist es Zufall, dass beide Maskenspiele Musicalshow, die da auf dem Selbstmord reicht die gerade jetzt herauskommen? Geplant sei Hamburgs ehrwürdiger Skala der Gefühlswelten, das nicht gewesen, meinen die Macher Musikbühne abrollt, son- die das Stück aus dem übereinstimmend – und freuen sich doch. dern Oper, Barockoper so- alten Rom in satten drei Denn das altrömische Spektakel mit über- gar. Doch statt wallender Stunden durchmisst. raschend gutem Ende und der kurze, ku- Perücken und Schnörkel- „Elf Sänger, viele kurze riose Höhenflug des Prollprinzen lassen pomp ist hier ein moder- Arien: So abwechslungs- wie in einer „Postmoderne ohne schlech- ner Schlingel zu bestau- reich ist Händel selten“, tes Gewissen“ (Laufenberg) einfach mal

nen: Jodelet treibt seine JOCHEN KLENK sagt Regisseur Ulrich Pe- den trüben Alltag vergessen – genau der Possen mit der Putzkolon- Oper „Octavia“ in Karlsruhe ters, ein Barockspezialist. richtige barock-beschwingte Knüller zum ne oder im Fitness-Studio, Von Party bis Selbstmord Keiser, dem Melodie-Ein- Karneval. Johannes Saltzwedel

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ZEITGEIST Orpheus aus der Tiefgarage Botho Strauss über Gene, Liebe und die Verbrechen der Intimität

ürfte ich das Unwort des Zeitalters bestimmen, so käme nur Dilemma in der Ausbreitung des Wissens selbst, das wie die Moos- eines in Frage: kommunizieren. Ein Autor kommuniziert flechte den Lebensbaum überwuchert, entstellt und irgendwann Dnicht mit seinem Leser. Er sucht ihn zu verführen, zu amü- austrocknet. sieren, zu provozieren, zu beleben. Welch einen Reichtum an (noch ~ lebendigen) inneren Bewegungen und entsprechenden Ausdrücken War der Ruf nach „Rückbesinnung“ auf Werte und Sekundär- verschlingt ein solch brutales Müllschluckerwort! Mann und Frau tugenden schon hilflos und lächerlich, weil „Rückbesinnung“ kommunizieren nicht miteinan- selbst bereits zu den aufgege- der. Die vielfältigen Rätsel, die sie benen Tugenden zählt, so wird einander aufgeben, fänden ihre die Suche nach den verscholle- schalste Lösung, sobald dieser nen Gefühlen zum schmerzhaf- nichtige Begriff zwischen sie tritt. ten Paradox. Sehnsucht nach ei- Ein Katholik, der meint, er kom- nem verlorenen Empfindungsgut muniziere mit Gott, gehört auf der kann es nicht geben, da jene mit Stelle exkommuniziert. Zu Gott diesem unterging. betet man, und man unterhält ~ nicht, sondern man empfängt eine Ein Appell von falscher Uner- Heilige Kommunion. All unsere schrockenheit wie: Glaubt an glücklichen und vergeblichen Ver- gar nichts! ist immer nur für den suche, uns mit der Welt zu ver- Moment des Ausrufs ein Impuls ständigen, uns zu berühren und der Stärke – was er auslöst, was zu beeinflussen, die ganze Arten- ihm folgt, ist lang anhaltende vielfalt unserer Regungen und Ab- Schwäche. sichten fallen der Ödnis und der ~ Monotonie eines soziotechnischen Der Reaktionär ist der letzte Kurzbegriffs zum Opfer. Damit Phantast in einer nahezu kom- leisten wir dem Nichtssagenden pletten Fantasy-Welt. Vorschub, das unsere Sprache mit ~ großem Appetit auffrisst. Interessiert mich bei jenem ame- ~ rikanischen Romancier „die auf- Dass der Mensch der Moderne regende Mischung aus Rassismus- (das ist der „Heutige“ von vor Problemen und Sex-Problemen“? hundert Jahren!) zusammenhang- Rassismus, Sex unter Umstän- los lebt, empfindet und spricht, den, ihre Probleme kaum, ihre hat der Konservative früh be- Mischung keinesfalls. „Ein alter klagt. Aber war die „Zusammen- Mann und, ein letztes Mal, die hanglosigkeit“ etwas anderes als sexuelle Kraft. Was könnte für

das Versteck einer aufregenderen / OSTKREUZ JENS RÖTZSCH irgendjemand anrührender sein?“ Ordnung, die wir Zug um Zug Antwort: Vieles. „Wenn Sex die erst entdecken sollten? Die Teile Botho Strauß schreibt in der Uckermark, wo er ein erlösende Verschmutzung ist, tanzen, und es ist ein Tanz mit Haus besitzt, fortlaufende Kommentare zu Moden und die den Menschen ‚entideali- vielen Sprüngen und Kehren. Er Meinungen, Kultur und Kommerz – ein Beobachter, schein- siert‘“ – dann möchte ich dage- bildet wohl auch ein schönes bar am Rande, der mit seinen Formulierungen ins Herz genhalten, dass Sex ohne Idea- Ganzes, das offenbar intelligen- der Gegenwart zielt. Für den SPIEGEL hat Strauß, 59, eine lisierung nicht praktiziert werden ter ist als das Denken in Zusam- Auswahl aus neuesten Texten getroffen, die auch in seinem kann. Und dass ohne die Meta- menhängen, die wir nicht mehr Buch „Der Untenstehende auf Zehenspitzen“ enthalten sind, physik oder Vorstellungswelt des erkennen können. das im März im Hanser-Verlag erscheinen wird. Sexus auch die leibliche Freude ~ zu kurz kommt. Keine säuer- Zu Beginn des vergangenen Jahr- lichere Kulturkritik gibt es als hunderts zerfiel dem Krisenfühli- die Sexualidolatrie des spätmo- gen das Ganze zu immer kleineren Teilen, zu isolierten Partikeln. dernen Intellektuellen. Das Gegenteil des Libertins ist nicht der Doch die Nachfolgenden verstanden bald den Staub zu lesen und Verklemmte sondern der Liebende. Sex ist Geschwätz, Liebe ist brachten den Teil und das Ganze in neuen Zusammenhang. Kein Sprache. Zerfall, der nicht zu anderer Ordnung überginge. Keine isolierte ~ Einzelheit, die unter neuen Blicken, neuem Wissen nicht bisher Der Unterschied zwischen Blut und Boden seinerzeit und Blut und unbekannte Verbindungen preisgäbe. Niemand würde mehr von Sperma, wie eine zeitgenössische Belletristik sie verschwendet, be- einer Krise des Erkennens sprechen. Es sei denn, man fände das steht darin, dass sich die Ideologie damals ihrer Geschmacklosig-

164 der spiegel 9/2004 keit nicht bewusst war, das abgefeimte Bewusstsein heute aber die vorgerückt, diese unerträglich scheele Anmaßung des korrekten Geschmacklosigkeit selbst verherrlicht. Demokraten, der, was immer er an Höherem erwischen kann, ins Wenn man sich auf die menschlichen Säfte beschränkt, so flie- Breite und ihm Passende verziehen muss. Erstes Gesetz dem ent- ßen alle in den gleichen Boden. Blut, Urin, Sperma, Schweiß, gegen: Erkenne, was höher ist als du selbst. Lerne die Fremd- Erbrochenes und immer wieder: giftgelbe Lymphe. Das Zer- sprache. Meide die Pädo-kata-gogen: die Herunter-Erzieher. störerische wurde beim ersten Mal als perverses Heil ausgerufen ~ und beim zweiten als coole Inventarisierung eines Lebens- Diejenigen, die politische Macht haben, besitzen weder andere formen-Unheils ausgegeben. Fraglos bezieht sich die spätere, Sitten noch Ideen oder Gebärden als jene, die sie dazu legitimie- die kühle der beiden Zerstörungsphasen untergründig oder ren. Sie könnten weder einen Stil kreieren noch einen Ton ange- fetischartig auf die frühere, die heiße und gläubige. Das hilft, ben in der Kultur, wie es doch zur Macht gehört, dass die Menge um alle Niedrigkeiten zu rechtfertigen. Folglich wird das Ge- etwas zum Nachahmen an ihr findet. Es gibt einen Systembruch samtzerstörerische beider Phasen später einmal nicht leicht zu zwischen Demokratie und Massendemokratie. Und dieser verläuft sondern sein. jenseits der Verfassungsmäßigkeit ausschließlich im Kulturellen. ~ Das Tonangebende zieht hier mit Ein Kulturkampf: die Hässlichkeits- dem Populären gleich. Das Populä- gegen die Schönheitskomplizen (die re wiederum pflegt die Idolatrie des hoffnungslos in der Minderzahl). Außenseiters, und man kreiert für Jene, die lüstern auf das Erhabene die Massen die Außenseiterkonfek- sind, es aber nur brauchen, um die tion. Gleichzeitig kennt die totale Reize der Verkehrung zu kosten. Öffentlichkeit keinen Außenseiter ~ mehr. Sie ist unüberschreitbar und Das Hässliche ist zu verstehen, das allgegenwärtig. Und unausgesetzt Schöne nicht. damit beschäftigt, aus jedem grö- ~ ßeren Belang den seit Menschen- Die Schönheit wird die Welt erret- gedenken dünnsten aller breitgetre- ten, meinte Dostojewski. Doch sie tenen Quarke herzustellen. entzieht sich mehr und mehr unse- ~ rer Wahrnehmung. In einem Life- Das Raffinement wird einzig auf style-Leben dekoriert man Deko- den Grobianismus verwendet. Le-

rationen. Attrappen werden Wun- / E-LANCE MEDIA REUTERS diglich die sinnliche Vermittlung derdinge. Spätere könnten uns vor Biotechnologie: „Selbstvergottung der Ingenieure“ von Brutalität wird immer erfin- allem ein verblüffendes Nachlassen dungsreicher und manierierter. der sinnlichen Unterscheidungs- ~ kraft vorhalten. Es wird heißen, wir seien nicht im Stande gewe- Eine brutalere Zerstörung der Landschaft, als sie mit Windkraft- sen, die Dimensionen unserer materiellen Welt sorgfältig zu dif- rädern zu spicken und zu verriegeln, hat zuvor keine Phase der ferenzieren. Wir hätten die Tapete für die Wand, den Trick für ein Industrialisierung verursacht. Es ist die Auslöschung aller Dich- Mysterium, Brot und Spiele für Kultur gehalten. ter-Blicke der deutschen Literatur von Hölderlin bis Bobrowski. ~ Eine schonungslosere Ausbeute der Natur lässt sich kaum denken, Niemand „verbürgerlicht“ mehr. Nach und nach wird er hilflos. sie vernichtet nicht nur Lebens-, sondern auch tief reichende Abhängig von den täglichen Infusionen einer klassenlosen Öf- Erinnerungsräume. Dem geht allerdings voraus, dass für die kul- fentlichkeit. Das Individuum hängt am Tropf dessen, was alle an- turelle Landschaft allgemein kaum noch ein Empfinden lebendig geht und niemanden besonders. ist. So verbindet sich das sinnliche Barbarentum der Energie- ~ ökologen dem des Massentourismus. Moral, sagt Reinhold Schneider in seinem Tagebuch, ist ohne ~ Transzendenz nicht haltbar. Ohne sie besitzt sie keine Autorität. Welch staunenswerte Methode ist das briefing, das die Führungs- Das Jenseits stützt das Diesseits. Früher fürchteten die Menschen kräfte dieser Welt in Minutenschnelle vom Nicht-Wissen zum Be- sich vor dem Jenseits, heute vor dem Tod. scheid-Wissen befördert! Zweifellos bedarf es eher mimetischer als ~ analytischer Fertigkeiten, um ein solch fremdes, genau geordnetes Die Vorstöße der Gentechnologie haben eine moralische Grenze Wissen-Wie-Wann-Warum kurzfristig zu beherrschen und als ei- nach der anderen überwunden. Das Machbare wird allenfalls aus genes vorzustellen. Darin übt man sich in den Zentralen der Macht Gründen der Unvorteilhaftigkeit eingeschränkt. Ein so genannter oder eigentlich überall, wo an reibungslosen Abläufen gearbeitet Wissenschaftler erklärte vor kurzem: Der Mensch habe nun Got- wird. Unvermeidlich ist dabei die fast nur schablonenhafte Wahr- tes Status erreicht, und folglich sei es seine moralische Pflicht, sich nehmung ebenfalls reibungslos funktionierender Menschen. Un- wie Gott zu verhalten. Die genetischen Tüftler und Bastler kön- sereins ist verwirrt, mindestens einen ganzen Arbeitstag lang mit nen, so scheint es, vor lauter Nanometrie sich selbst nicht mehr der Bewältigung einer zufälligen Begegnung beschäftigt. Zum Bei- ermessen. Und wie sie sich vermessen, werden sie immer kleiner. spiel mit der Nachwirkung einer bildschönen Frau, die einen im Re- Der Schöpfergott, auf die Keimbahn reduziert? Prometheus, der gionalexpress anspricht und in ihre Urlaubspläne einweiht. Man nicht die Stirn gegen den Himmel erhöbe, sondern sich auf das kommt von ihr lange nicht wieder los. In den Fluren des Funktio- Sammeln von Zündhölzern konzentrierte, wäre für Zeus ein nierens übergeht man vergleichbare Wunderlichkeiten, obwohl sie Wichtel. Mögen sich also die Ingenieure noch so sehr mit ihrer dort wie in allen anderen Lebensbereichen ebenso häufig gesche- Selbstvergottung blähen, sie verlassen den Bannkreis des mensch- hen. Aber man ist darauf abgerichtet, von Mensch und Ding nichts lichen Scheiterns nicht. Sie haben Ihm nichts entgegenzusetzen. als sein gröbstes Profil zu bemerken, man muss und will aus allem ~ und jedem den aktiven Nutzen ziehen. Beeindruckbarkeit aber ist Es gehört zu den übelsten Unsitten unserer Soziozentrik, alles, was die intelligenteste Form der Trägheit, der Passivität. man als das Höhere ausgemacht hat, vor allem in Kunstwerken, ~ zu sich herabzuholen und mit sich selber zu vergleichen. Auf Kaum noch erstaunen die jeweils neuesten Entwicklungen. Und Kanzeln, Kongressen, Theaterbühnen geschieht es bis zum Über- nichts langweilt in ihrer Begleitung mehr als die Standpunkte oder druss, der immer gleiche Orpheus aus der Tiefgarage. Aber auch das emsige Festhalten an Selbstbestimmungs- und Schutzbegrif- im Gefühlsleben, in der Begegnung von Mann und Frau ist sie weit fen vom Menschen und vom Menschlichen. Nichts erscheint

der spiegel 9/2004 165 gestriger als solche Kautelen, nichts blasser als die Farben der Be- „Sittenspiegel“ einfangen könnte. Dennoch frappiert jede Nuan- denkenträger. ce, die La Bruyère an seinen Charakteren schildert, sie stimmt ges- Der große Brand wird nicht mehr in der Sprache gelegt, wie einst tern wie heute. Die Beschreibung der Einzelnen bei Hof und der von Hegel oder Nietzsche. Sprachliche Ausdruckskraft reicht nur Einzelnen auf den „Weltmärkten“ unterscheidet sich dort nicht, noch, das unruhige Flackern eines Widerscheins zu sein. Und die wo es um die Wesensmerkmale des Gesellschaftsmenschen geht. meisten begnügen sich mit den Spielen des Widerscheins. Aber wie Gleichwohl drängen sich Großformate der Bewertung auf, welche Ethik und Moral nur leere Begriffe sind ohne Furcht, so flackert die Nuance bedrohen. Die Menschen, und was sie so treiben, bil- die Rede der Losgelösten am unruhigsten, wenn das Feuer fast den auf einmal nur ein Schaumgekräusel auf der mächtigen Woge, heruntergebrannt ist. Die Losgelösten erfreuen sich an ihrem die ihr Massenschicksal ist. unbegrenzten Können und verzweifeln an der Unverbindlichkeit ~ ihrer Rede. Der Liberale hat den Christen in seinem Missionseifer beerbt. So Wie kann es sein, dass ich, ob als Experte oder Zeitungsleser, in wie dieser seine Offenbarungstheologie zu Recht für die Endstufe die persönliche Freiheit versetzt werde zu sagen: Ich finde die alles Religiösen hält, so propagiert der Liberale die Segnungen der medizinische Verwendung adulter Demokratie als das „katholische“ Stammzellen akzeptabel! Oder: Ich Bekenntnis schlechthin, gültig für lehne therapeutisches Klonen strikt alle Welt. ab! Wo es zu einer solchen Freiheit ~ kommt, ist die Debatte bereits ent- Es ist, wie es kommen musste. Das schieden. Ein Ethiker müsste die Voltairesche „Alles geht uns an“ subjektive Freiheit der Ja/Nein-Ent- führte mit ein wenig Verspätung zu scheidung im Voraus bestreiten. Das einer industriellen Supermacht der durchschnittliche Öffentlichkeits- Anteilnahme, die ein einzelnes Men- faktotum, der Politiker und seines- schenherz nicht mehr verkraften gleichen, wird sie sich immer her- kann. An einem einzigen Tag könn- ausnehmen. te sich die gesamte Wachheit (also ~ das tatsächlich aktive Interessepo- Allein die vielen Verbrechen der In- tenzial) eines „Alles geht mich an“- timität, die ungesühnt bleiben! Mannes restlos erschöpfen. Vollkom- Die vielen trostlosen Falschheiten men indifferent starrte er dann vor und Täuschungen des Zusammen- sich hin bis zum Ende seiner Tage. lebens, die Verschlagenheiten der ~ Liebe, Gemeinheiten und Verlet- Gibt es ein Bewusstsein jenseits des zungen oft, die in jedem anderen so- medialen? Der Befreiung von der zialen Bereich undenkbar wären... Verengung, den Konventionen der Ist denn Intimität kein sozialer Be- „bürgerlichen Klasse“ widmeten sich reich? Ich sehe Schuld und Übeltat, viele Künstler seit der vorletzten doch die Verhältnisse soufflieren mir Jahrhundertwende. Ein ebenso uni- etwas von Wechselseitigkeit, schwie- verselles Projekt wäre nun die Auf- riger Kindheit, Schwäche der Le- lehnung gegen die ungeheure Er- bensführung, mangelndem Schuld- niedrigung des Menschen durch eine bewusstsein, Launen und verlorener totalitäre Unterhaltungsindustrie. Beherrschung. Die Verhältnisse plä- Hier aber hat sich die Intelligenz nach

dieren für Verzeihen, wo ich nur Un- / VISUM FRANZ MARTIN kurzem Zögern zur Kollaboration verzeihliches erkennen kann. Für Windkraft in der Uckermark: „Brutale Zerstörung“ entschlossen. Man kann es auch eine mich sind die Verbrechen des Ge- ironische Mitläuferschaft nennen. fühls nicht entschuldbar aus überge- ~ ordneten sozialen oder psychologischen Gesichtspunkten. Ich be- Ursprünglich entstand die Wissbegierde des Menschen, als er Ge- daure, dass es in der zivilisierten Welt keine Instanz der Gerech- naueres über die Letzten Tage erfahren wollte. Dabei schärfte sich tigkeit gibt, die sie ahndet. Nur uns gibt es. Den kleinen unab- seine Beobachtungsgabe, und die Sucht nach Gewissheit ließ ihn hängigen Bund der erotischen Rigoristen, eine auf Dantes fedeli Instrumente erfinden, mit denen er präziser den Lauf der Sterne d’amore zurückgehende schlagkräftige Vereinigung, die schon so verfolgen konnte. Dabei vertiefte er sich in immer interessantere manches schlimme Intimvergehen aufspürte und die Schuldigen Beobachtungen und verlor sich in viele atemberaubende Einzel- zur Rechenschaft zog. Auch im dunkelsten verborgensten Winkel heiten. Das Letzte wurde ihm mehr und mehr schleierhaft, er ver- einer „Privatangelegenheit“ finden wir euch! Wir entdecken je- schob es zur Metapher, es schwand als Forschungsgegenstand aus den und werden ihn der Kälte, der Feigheit, des Betrugs oder der dem Beobachtungsfeld. Er verstand es, auf Gewissheit jeder Art Infamie überführen. Und anschließend für die angemessene Ver- zu verzichten, und lebte in der unentwegten Faszination. geltung sorgen! ~ ~ Zwei albernde Mädchen mit zurückgegeltem Haar sitzen unter ei- Moralische Bemerkungen sind nur in Zeiten etwas wert, in denen ner schick obszönen Reklametafel und benehmen sich wie die man sich über seinesgleichen noch verwundern kann. Wo aber Backfische aus Großmutters Tagen. Sie zeigen Unverdorbenheit wäre noch Platz zum Verwundern in diesen Augen, die von früh in einem Maße, das an die Wirkung eines Immunstoffs gemahnt. bis spät auf Fertigkeiten gerichtet sind, die so virtuos mit den Die Unverderbbaren oder: Niemand teilt mehr das Allgemeine. Schatten spielen, die das Mögliche vorauswirft? Wozu den Vir- Dem Witz der Feen gleich, wissen sie alles und bewegen sich tuosen wiedergeben, wie sie sich geben? Laster, Fehler, Missbil- ohne Rücksicht auf ihr Wissen unbeschwert. Es ist, als baute die dungen, das gesamte Repertoire des moralischen Bemerkens Generation von selbst die nötigen Abwehrstoffe auf und brauch- nimmt sich im Übrigen zwischen den Kräften, die jetzt auf die te dazu weder Konzepte noch Doktrinen. Welt einwirken, Kräften der liberalen Gewalt und Kräften der re- ligiösen Gewalt, ein wenig betulich aus. Man spürt in den kleins- Weitere Informationen unter ten Dingen heute Ausläufer einer stärkeren Bewegung, als sie ein www.spiegel.de/dossiers

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Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fach- magazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahl- Bestseller kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller Belletristik Sachbücher 1 (1) Robert Harris Pompeji 1 (4) Dietrich Grönemeyer Mensch Heyne; 20 Euro bleiben – High Tech und Herz – eine liebevolle Medizin ist keine 2 (–) Heiner Link Utopie Herder; 19,90 Euro Frl. Ursula Rowohlt; 17,90 Euro 2 (1) Jörg Blech Die Krankheitserfinder – Wie wir zu Patienten gemacht werden S. Fischer; 17,90 Euro Herrenwitz und Vorstadtskizze: rotierender 3 (2) Michael Moore Stupid White Men Geschlechterreigen Piper; 12 Euro einer trostlosen Golfclubgemeinschaft 4 (3) Michael Moore Volle Deckung, Mr. Bush Piper; 12,90 Euro 3 (2) Jilliane Hoffman Cupido 5 (5) Werner Tiki Küstenmacher/ Wunderlich; 19,90 Euro Lothar J. Seiwert 4 (3) Joanne K. Rowling Harry Potter Simplify your life Campus; 19,90 Euro und der Orden des Phönix 6 (19) Manfred Geier Kants Welt Carlsen; 28,50 Euro Rowohlt; 24,90 Euro

5 (–) Mark Haddon Supergute Tage 7 (11) Dalai Lama Ratschläge des oder Die sonderbare Welt des Herzens Diogenes; 12,90 Euro Christopher Boone Blessing; 18 Euro 8 (6) Asfa-Wossen Asserate 6 (5) Paulo Coelho Elf Minuten Manieren Eichborn; 22,90 Euro Diogenes; 19,90 Euro 9 (8) Andreas Englisch 7 (4) Eric-Emmanuel Schmitt Johannes Paul II. Ullstein; 22 Euro Monsieur Ibrahim und die Blumen 10 (–) David Beckham des Koran Ammann; 12 Euro Mein Leben 8 (9) Christoph Hein Landnahme Random House Entertainment; Suhrkamp; 19,90 Euro 22,90 Euro 9 (6) Carlos Ruiz Zafón Der Schatten Die Stil-Ikone des Sports des Windes Insel; 24,90 Euro über das turbulente Leben im Rampenlicht 10 (7) Paulo Coelho Der Alchimist und die Schattenseiten des Ruhms Diogenes; 17,90 Euro

11 (12) Henning Mankell Vor dem Frost 11 (17) Heiner Geißler Was würde Jesus Zsolnay; 24,90 Euro heute sagen? Rowohlt Berlin; 16,90 Euro

12 (10) Martin Suter Lila, lila 12 (10) Peter Ustinov Achtung! Vorurteile Diogenes; 21,90 Euro Hoffmann und Campe; 19,90 Euro (12) 13 (11) Eric-Emmanuel Schmitt 13 Corinne Hofmann Oskar und die Dame in Rosa Zurück aus Afrika A1; 19,80 Euro Ammann; 13,80 Euro 14 (7) Inge Jens/Walter Jens Frau Thomas Mann – Das Leben 14 (20) Adam Thirlwell Strategie der Katharina Pringsheim S. Fischer; 18 Euro Rowohlt; 19,90 Euro 15 (16) Joanne K. Rowling Harry Potter 15 (9) Allan Pease/Barbara Pease und der Gefangene von Askaban Warum Männer lügen und Frauen Carlsen; 15,50 Euro immer Schuhe kaufen 16 (–) Leland Bardwell Mutter eines Ullstein; 16,95 Euro Fremden Beck; 19,90 Euro 16 (–) Manfred Kühn 17 (13) Charlotte Link Am Ende des Kant – Eine Biografie Beck; 29,90 Euro Schweigens Blanvalet; 23,90 Euro 17 (15) Hillary Rodham Clinton Gelebte 18 (17) Joanne K. Rowling Harry Potter Geschichte Econ; 24 Euro und der Feuerkelch Carlsen; 22,50 Euro 18 (18) Lance Armstrong Jede Sekunde 19 (8) Håkan Nesser Und Piccadilly zählt C. Bertelsmann; 19,90 Euro Circus liegt nicht in Kumla 19 (–) Sting Broken Music – Die BTB; 21,90 Euro Autobiographie S. Fischer; 19,90 Euro

20 (14) John Griesemer Rausch 20 (14) Michael Moore Querschüsse Marebuch; 24,90 Euro Piper; 12,90 Euro

der spiegel 9/2004 167 GUIDO OHLENBOSTEL / ACTION PRESS / ACTION GUIDO OHLENBOSTEL Kodak Theatre in Los Angeles bei der Oscar-Verleihung (2003): „Reine Unterhaltungsfilme haben dort nichts verloren“

SPIEGEL-GESPRÄCH „Meine Wutanfälle sind halb so wild“ Der amerikanische Filmproduzent Harvey Weinstein über seine Kämpfe mit dem Disney-Konzern und mit Regisseuren wie Martin Scorsese oder Julie Taymor, den Siegeszug seiner Firma Miramax und die Oscar-Chancen seines aktuellen Filmhits „Cold Mountain“

SPIEGEL: Mr. Weinstein, im letzten Jahr es traurig, dass mir „Der Herr der Ringe“ Oscars und Oscar-Nominierungen erkannt waren Sie mit von Ihrer Firma produzier- nicht gehört. Es hat natürlich gut getan, als – und Ihre Produktionen dementsprechend ten Filmen für 40 Oscars nominiert – 9 ha- Peter Jackson, der Regisseur, bei seiner aggressiv vermarktet. Werden Sie nun ben Sie gewonnen; für die diesjährige Dankesrede anlässlich der Golden Globes dafür bestraft? Preisverleihung am nächsten Sonntag ist sagte: „Danke Harvey, dass du dies alles in Weinstein: Nein, ich habe dafür gekämpft, insbesondere Ihr 83 Millionen Dollar teu- Gang gebracht hast.“ Nur, es bleibt eine dass der Oscar seinen Wert behält. Dieser res Bürgerkriegsepos „Cold Mountain“ traurige Situation, ein hartes Ding, ein Preis sollte nur an Filme vergeben werden, überraschend sparsam nominiert. Wie ver- Schlag. Und es bleibt eine Lehre: Das die dieses Preises auch wirklich würdig kraften Sie das? nächste Mal, wenn Disney etwas ablehnt, sind. Reine Unterhaltungsfilme haben bei Weinstein: Ich werde für meine Cleverness werde ich es trotzdem tun. Ich verstehe der Oscar-Verleihung nichts verloren – gefeiert, aber diesmal habe ich einen Feh- einfach mehr vom Kino. auch wenn sie gut gemacht sind. ler gemacht. Der Film wurde zu spät fertig SPIEGEL: Wie kein Studioboss vor Ihnen SPIEGEL: In diesem Jahr hatten Sie erstmals – erst Ende Dezember. Die Jury hatte nur haben Sie das kommerzielle Potenzial von mit einer Gegenkampagne zu kämpfen: eine Woche Zeit, sich die Kassetten anzu- sehen, was anscheinend zu wenig ist, um für die Kategorie „Bester Film“ nominiert zu werden. Im nächsten Jahr werden wir früher dran sein. Ich habe für meinen Feh- ler bezahlt. SPIEGEL: Der große Oscar-Favorit ist nun „Der Herr der Ringe – Die Rückkehr des Königs“. Ärgert Sie das nicht? Schließlich mussten Sie einst von dem Plan ablassen, die Tolkien-Trilogie selbst zu produzieren. Weinstein: Ja, das ist bitter. Ich habe 14 Mil- lionen Dollar in das Projekt gesteckt, um den Stoff zu entwickeln, und als ich die Technologie fertig hatte und die Filme pro- duzieren wollte, sagte unsere Mutterfirma Disney nein. Aber ich sicherte mir den Titel als Executive Producer. Trotzdem ist

Das Gespräch führten die Redakteure Lars-Olav Beier MIRAMAX und Thomas Hüetlin in London. „Cold Mountain“-Darsteller Kidman, Law: „Der Kampf für eine Flagge und eine Lüge“

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„City of God“ beteiligt – beide Filme kos- Harvey Weinstein teten nicht mehr als 10 Millionen Dollar. In ist Hollywoods letzter Mogul. Amerika neigen die Kritiker dazu, einen in Der 1952 in Buffalo gebore- eine Schublade zu stecken. Der eine macht ne und in New York aufge- nur kleine Filme, und der andere macht wachsene Produzent gründe- nur große. Das ist Unsinn. Wer seinem te mit seinem Bruder Bob Herz und seiner Leidenschaft folgt, kann 1979 die Firma Miramax und alles machen. landete mit Steven Soder- SPIEGEL: Früher haben Sie stets behauptet, berghs Film „Sex, Lügen und die Schauspielerin Gwyneth Paltrow sei Video“ seinen ersten Erfolg. die Leading Lady Ihrer Firma Miramax, Weinsteins vom europäischen nun sieht es so aus, als würde ihr Nicole Kino geprägte Produktionen Kidman diesen Platz streitig machen. Wer wie „Der englische Patient“ ist der Star unter den weiblichen Haupt- oder „Shakespeare in Love“ darstellerinnen im Hause Weinstein? gewannen bis heute über Weinstein: Meine Mutter Mira. Sie ist 76 50 Oscars. In der Branche Jahre alt und ermahnt mich immer noch wird Weinstein (Foto: mit Ehe- andauernd, mir das Gesicht zu waschen, frau Eve) wegen seiner rüden die Zähne zu putzen und für Interviews

BERLINER STUDIOS / ACTION PRESS / ACTION STUDIOS BERLINER Umgangsformen gefürchtet. eine Krawatte umzubinden. Sie fragt im- mer noch: „Was läuft eigentlich bei dir ver- kehrt, Harvey?“ Nicht wenige Amerikaner werfen Ihnen Krieges ist. Kerry hat sehr viele Orden er- SPIEGEL: Was also sagt Mira: Gwyneth oder vor, dass Sie „Cold Mountain“, der ein so halten und trotzdem gegen den Krieg pro- Nicole? patriotisches Sujet wie den amerikanischen testiert. Das ist für mich wahrer Charakter, Weinstein: Wir werden demnächst einen Bürgerkrieg hat, in Rumänien gedreht ha- wahrer Mut. Film drehen, in dem beide Hauptrollen ben. Haben die Boykott-Aufrufe gegen den SPIEGEL: Der amerikanische Bürgerkrieg spielen – als Anführerinnen einer Gangs- Film Ihre Oscar-Chancen beeinträchtigt? wurde bis jetzt fast immer als ein notwen- tertruppe, die einen großen Coup durch- Weinstein: Es gibt sicher einige Menschen in diges Übel interpretiert, an dessen Ende zieht. So eine Art moderner Robin-Hood- der Oscar-Academy, die etwas gegen diesen etwas Gutes, nämlich die Abschaffung der Streifen: Die beiden klauen bei den Rei- Drehort haben. Aber es ist unfair, einen Sklaverei, stand. In „Cold Mountain“ er- chen und helfen den Armen. Film für seine wirtschaftlichen Entste- scheint er bloß als sinnloses Gemetzel. Ist SPIEGEL: Haben Sie je davon geträumt, an hungsbedingungen abzustrafen. Sehr viele diese Interpretation nicht etwas naiv? der Spitze von Disney zu stehen, jenem amerikanische Filme werden inzwischen in Weinstein: Wir zeigen die Geschichte aus Konzern, der Ihre Firma Miramax Anfang Kanada gedreht. Warum jetzt diese Diskri- der Perspektive eines einfachen Mannes, der neunziger Jahre für 60 Millionen Dollar minierung gegen ein künstlerisches Werk? der gegen diesen Krieg ist. Eines Mannes, gekauft hat? SPIEGEL: Kann im gegenwärtigen Amerika der aber trotzdem den Mut hat, gegen die- Weinstein: Ich glaube nicht, dass ich dafür der Vorwurf, „unpatriotisch“ zu sein, nicht sen Krieg zu kämpfen. Der Film hat bis der richtige Mann wäre. Mein Talent be- auch als Kompliment verstanden werden? jetzt fast 100 Millionen Dollar in den USA steht nicht darin, große, dumme Action- Weinstein: Jude Law sagt in „Cold Moun- eingespielt und wird der größte Hit, den Filme anfertigen zu lassen, nur um Geld tain“ den wunderbaren Satz: „Es ist nicht Anthony Minghella je hatte. Er trifft die herbeizuschaffen. So was wäre mir pein- das erste Mal, dass jemand für eine Flagge Stimmung im Land. lich. Miramax bedeutet etwas für Men- und eine Lüge gekämpft hat.“ Vor einem SPIEGEL: Mit Martin Scorseses schen, die das Kino mögen, auf Jahr hat uns die Regierung erzählt, dass sie „Gangs of New York“ haben Sie der ganzen Welt. Ich würde mei- wegen Massenvernichtungswaffen in einen vor einem Jahr ein ebenso düs- „John Kerry ne Ehre verlieren. Krieg ziehe, und jetzt finden wir heraus, teres Gemälde einer gemein- hat Charakter SPIEGEL: Sie gelten als aufbrau- dass es im Irak offenbar keine gab. hin als heroisch interpretierten und ist genau sender Wüterich und sollen gele- SPIEGEL: Haben Sie je an die Gefahr einer Epoche der amerikanischen Ge- der richtige gentlich Aschenbecher gegen Bü- von irakischen Waffen verursachten Atom- schichte herausgebracht. Woher Mann für das rowände werfen. Haben Sie mal pilzwolke über Manhattan geglaubt, vor kommt diese Vorliebe für blut- über eine Therapie nachgedacht? der George W. Bush warnte? getränkte Böden? Präsidenten- Weinstein: All diese Geschichten Weinstein: Ich glaubte nicht an solche Di- Weinstein: Diese Filme sind nicht amt.“ sind übertrieben, tatsächlich sind mensionen, aber wie die meisten Men- düster, sie sind historisch akku- meine Anfälle halb so wild. Was schen dachte ich, dass es wenigstens ir- rate Panoramen. Außerdem verfügen sie zum Beispiel den Aschenbecher angeht: gendwelche Massenvernichtungswaffen über alles, was gutes Kino braucht: Sex, Jemand anders hat ihn geworfen. Am meis- gibt. Deshalb ist es einfach unglaublich, Action und Humor. Mit „Gangs of New ten mit meiner Wut zu kämpfen hatte ich jetzt erfahren zu müssen, dass die Regie- York“ haben wir sogar historisches Neu- in den ersten Jahren, nach der Gründung renden wussten, dass dort nichts war. Es ist land betreten. Über die Klassenkämpfe im von Miramax. Mir fehlte Geld, ich arbeitete beängstigend. Manhattan des vorletzten Jahrhunderts gab ohne Reserven, und wenn etwas schief lief, SPIEGEL: Vor Jahren haben Sie Bill Clinton es bis dahin keinen Film. blieb alles an mir hängen. Damals habe ich im Wahlkampf unterstützt. Werden Sie nun SPIEGEL: Halten diese Monumental-Epen viele Fehler gemacht, und diese Geschich- das Gleiche für Senator Kerry tun? Sie nicht davon ab, das zu tun, wozu Sie ten blieben an mir kleben. Also ging ich zu Weinstein: Ja, und ich hoffe, er wird der einmal angetreten waren: nämlich mit we- einer Therapie für Emotionskontrolle. Ein nächste Präsident der Vereinigten Staaten. nig Geld kleine, überraschende Filme zu Psychologe setzte mich auf eine Couch und SPIEGEL: Warum halten Sie ihn für den rich- produzieren, welche die Gegenwart anders fragte: „Erzählen Sie von Ihrer Mutter, sie tigen Mann? beleuchten? muss eine furchtbare Person sein.“ Und Weinstein: Er war in Vietnam, er hat für das Weinstein: Wir tun dies doch – und zwar die ich stutzte, denn meine Mutter ist eine Land gekämpft und weiß aus eigener Er- ganze Zeit. Wir haben uns an „Dirty Pret- wunderbare Frau. Sie wurde früh zur Wit- fahrung sehr genau, wie hoch der Preis des ty Things“ von Stephen Frears und an we und hat sich um meinen Bruder und

der spiegel 9/2004 169 CAPITAL PICT. / INTER-TOPICS PICT. CAPITAL VOX / OBS VOX Weinstein-Produktionen „Gangs of New York“, „Pulp Fiction“: „Ich mache die Filme, zu denen Hollywood der Mut fehlt“ mich gekümmert. Danach ging ich zu ei- SPIEGEL: Das müssen Sie ja auch nicht. Sie Weinstein: Das war François Truffauts Re- nem Doktor, der herausfand, dass ich ein haben ganz andere Druckmittel. Falls der giedebüt „Sie küssten und sie schlugen schwerer Diabetiker bin und mich der Blut- Regisseur Ihre Änderungswünsche nicht ihn“ von 1959. In den USA hatte er den zucker wütend macht. Früher saß ich in beherzigt, drohen Sie oft damit, seinen Titel „400 Blows“, und deshalb dachte ich, Meetings und hatte 70 bis 80 Smarties in Film nur mit wenigen Kopien und so gut es sei ein Sexfilm. So konnte ich meine der Tasche, die ich alle verschlang. wie ohne Marketing zu starten. Freunde von der High School leicht über- SPIEGEL: Es gibt immer noch genügend Weinstein: Ich setze niemanden unter zeugen, mit mir ins Kino zu gehen, um ihn Leute, die sich über Sie beschweren und Druck. Nur wenn ich einen Film selbst pro- anzuschauen. Dann fing der Film an. Zu un- vor Ihnen Angst haben. Der Regisseur duziere, gehe ich zum Dreh. Beim Schnitt serer großen Überraschung war er schwarz- Martin Scorsese soll beim Schnitt von mische ich mich allerdings wieder ein. weiß und hatte Untertitel! Von Sex keine „Gangs of New York“ Rückspiegel an sei- SPIEGEL: Warum sind Sie mit Miramax nie Spur! Nach einer Viertelstunde verließ der nem Tisch angebracht haben, um Sie recht- nach Hollywood gegangen, sondern in erste meiner Freunde das Kino, wenig spä- zeitig kommen zu sehen. New York gelieben? ter der zweite, und am Ende waren mein Weinstein: Das war ein Witz. Weinstein: Die ganzen großen Bruder Bob und ich allein. Marty ist ein Professor für mich, Verlage sitzen in New York. Auf SPIEGEL: Warum sind Sie geblieben? und ich bin bei ihm noch einmal „Ich bin einen Stoff wie Charles Fraziers Weinstein: Der Film handelt von der Schwie- auf die Filmschule gegangen. anders, ein Roman „Cold Mountain“ wäre rigkeit, erwachsen zu werden, und deshalb SPIEGEL: Als Sie mit „Frida“, Außenseiter, ich in Los Angeles nie gestoßen. sprach er mich an. Da ging’s nicht um ge- einem Werk der Regisseurin ein Querkopf – Außerdem bin ich ein einge- zückte Revolver oder Menschen in einer Julie Taymor, unzufrieden wa- doch genau fleischter New Yorker. Toga – da ging’s ganz direkt um mich. „Sie ren und diese sich weigerte um- SPIEGEL: Obwohl Sie als ein- küssten und sie schlugen ihn“ hat mein Le- zuschneiden, sollen Sie einen das ist mein gefleischter Raucher dort fast ben verändert. Ich dachte mir: Würde ich Mitarbeiter von ihr angebrüllt Erfolgsrezept.“ nirgendwo mehr rauchen dür- eines Tages selber Filme machen – dann haben: „Warum verteidigst du fen? Filme dieser Art. sie nicht, damit ich endlich den Dreck aus Weinstein: Ich rauche dort nur noch halb so SPIEGEL: Woher nahmen Sie aber die Über- dir herausprügeln kann“? viel wie auf Reisen, etwa zehn Stück am zeugung, Filme dieser Art könnten auch in Weinstein: Das war ein harter Tag, an dem Tag. den USA erfolgreich sein? ich die Geduld verlor. Julie ist eine toughe SPIEGEL: Ärgern Sie sich, weil Sie den für das Weinstein: Ich musste es einfach probieren. Frau, und ich war frustriert. Aber ich wer- verschärfte Rauchverbot verantwortlichen Manchmal hilft es, wenn man ganz allein de wieder einen Film mit ihr machen. New Yorker Bürgermeister Bloomberg bei dasteht. SPIEGEL: Ihr Vater war Diamantenschleifer den letzten Wahlen unterstützt haben? SPIEGEL: In Hollywood spielen Marktana- – sehen Sie die Filme Ihrer Regisseure als Weinstein: Ich hatte keine Ahnung, dass lysen und demoskopische Erhebungen eine Rohdiamanten, die von Ihnen selbst in Bloomberg so was vorhat. New York ist immer größere Rolle. Vertrauen Sie den Form geschliffen werden müssen? eine Weltstadt – Leute, die rauchen wollen, Zahlen – oder Ihrem Instinkt? Weinstein: Nicht notwendigerweise von sollen rauchen. Leute, die etwas dagegen Weinstein: Meinem Instinkt. Ich habe einen mir. Jeder Film braucht einen Feinschliff. haben, sollen es bleiben lassen. Instinkt für Qualität. Und diese Qualität Ein guter Cutter kann einen Film zu ei- SPIEGEL: Sie behaupten von sich, gern un- vermarkte ich dann, so gut ich kann. nem Meisterwerk machen, ein schlechter verblümt die Wahrheit zu sagen. Geht das SPIEGEL: Wer ist Ihr Lieblingsheld in der kann ihn ruinieren. in New York eher als in Los Angeles? Filmgeschichte? SPIEGEL: In der Branche nennt man Sie Weinstein: Ja. Denn in New York sagt man, Weinstein: Spartacus – ein Sklave, der die „Harvey mit den Scherenhänden“. Ver- was man denkt. In Hollywood greift man Freiheit will und es dafür mit dem gesam- trauen Sie Ihren Regisseuren so wenig? zum Hörer, ruft einen Journalisten an und ten Römischen Reich aufnimmt. Weinstein: Wir haben im Haus die Mög- füttert ihn mit Gerüchten über mich. Weil SPIEGEL: Und Hollywood ist für Sie das Rö- lichkeit, uns am Computer Schnittfas- ich anders bin, ein Außenseiter, ein Quer- mische Reich? sungen anzuschauen und Alternativen kopf. Das ist aber genau mein Erfolgs- Weinstein: Nein, so ist es nicht. Es geht nicht durchzuspielen. Es ist ja meine Aufgabe, rezept: Ich mache die Filme, die sich in um Hollywood. Es geht darum, dass ein den Regisseuren Vorschläge zu machen. Hollywood niemand zu machen traut. einziger Mann die Welt verändern kann. Aber ich habe noch nie hinter dem SPIEGEL: Was war der erste Film, der Ihnen Aber ich bin nicht Spartacus. Rücken eines Regisseurs einen Film umge- das Gefühl gab, dass auch ein Kino jenseits SPIEGEL: Mr. Weinstein, wir danken Ihnen schnitten. von Hollywood existiert? für dieses Gespräch.

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da hoch oben. Der aber fällt trotz aller him- melnden Massen nicht dem Größenwahn STARS anheim, sondern gibt eher den Zappel- philipp in zuckenden Lichtern – und entlässt die vom Abtanzen der Lieder erschöpfte Spargelrockers Rollenspiele Menge, wie nach einem lang umkämpften Sieg des heimischen Fußballclubs, fröhlich Der Rockmusiker Marius Müller-Westernhagen nach Hause. Aus den Autos tönen die Me- lodien, die man gerade im Stadion hörte; blickt in einem Prachtband auf mehr als drei Jahrzehnte im „Freiheit“ und „Lass uns leben“. Einver- Showgeschäft zurück. Von Jürgen Flimm standen also alle und hoch getröstet. Wenn mir ein Bild in diesem Buch fehlt, Flimm, 62, ist Theater- drängte es Marius, wie es in einem seiner dann dieses: Die brillante Kamera des ame- und Opernregisseur Songs heißt, immer zurück auf die Straße. rikanischen Filmemachers D. A. Penne- und Chef des Festivals Es stank kotzerbärmlich in der Gummi- baker schaute in der Dokumentation über Ruhrtriennale. Derzeit fabrik Clouth in Köln-Nippes, in der wir Westernhagens „Affentour“ einmal ziem- inszeniert er in New uns zum ersten Mal begegneten. Der WDR lich pingelig hinter diese dünnen Kulissen York Richard Strauss’ drehte dort 1968 den Film „Der Unfall“. Pe- dieses gnadenlosen Business; da liegt der „Salome“; er lebt in ter Beauvais, der empfindsame Regisseur, Held nach der letzten Zugabe japsend, leer

FRANK KREMS FRANK Hamburg. stellte uns vor. Wir spielten zwei fiese Köl- gepumpt auf dem Betonboden irgend- sche Lehrlinge, die einen spanischen Katzel- eines Stadions, am Ende der Mitteilung an- rise, überall ist Krise – Regierungs- macher, der uns die Mädels klaute, ins Visier gekommen, welches Medium, wessen Mes- krise, Verlagskrise, Hustenkrise, nahmen: Mord in der Baugrube. Damals sage? Leer im Kopf nach dreistündigem KTheaterkrise, Schlagerkrise, Klas- riet ich dem jungen Marius, die törichte Sin- Dialog mit Abertausenden. sikkrise, HipHopkrise: Das ganze reiche Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit, Land versuppt in wohlfeilen Krisen. wusste Karl Valentin. „In den Wahnsinn“ Da ist es gut, dass es mitten in diesem hieß das bislang letzte Erfolgsalbum von Trauertal einen Superstar gibt (vor langem Westernhagen – und doch sei es nicht er, gesucht, für immer gefunden), der den der den Publikumswahnsinn auslöse, er Menschen Trost spendet. Seit über dreißig fühle sich mehr als eine Projektionsfläche, Jahren ist er dabei, hat seine Küchenwän- so bekennt der begnadete Performer im de mit Gold und Platin gekachelt: Marius Gespräch mit Bissinger. Löst sich so ein Müller-Westernhagen, der einsame Spar- Subjekt auf, hinter all dem Flitter und Glit- gelrocker; der Mann, der kein kleiner ter, Soundgedröhne und Videogedöns? Dicker sein wollte. Ein dünner Leuchtturm Oder kriecht er doch nur wie ein Schau- in den Wettern des Zeitgeistes. spieler flugs in rettende Rollen? Es wimmelt Nun hat er sich und seinen Fans (also im Buch von Fotos, die genau das zeigen, auch mir) ein feines Buch geschenkt: Groß vom brillanten Eikelpoth mit kaltem Glanz und dick ist es, mit vielen schwarzen und inszeniert, immer den Gleichen immer neu weißen und bunten Bildern von seinem Ju- gestellt: All diese Westernhagens sind kanti- gendfreund Dieter Eikelpoth. Im Interview ge Männer, vor verwaschenen Mauern, mit zu diesen Bildern plaudert er, vertraut wie Ledernacken oder Jeanspopo, mit blankem am Kaminfeuer einer Friesenkate, mit Man- Körper im scharfen Licht, als feiner Stenz, fred Bissinger über Gott und die Welt, über als Roadie-Proll, als Schreihals mit Melone. das große und gemeine Glück*. Große Klasse ist Eikelpoth, wenn er rast- Ein dichtes und auch gefährdetes Leben lose Studiomusiker porträtiert, erschöpft saust an uns vorüber, Highlights, Flash- vom Immernochmalneuspielen; oder 14 mü- lights, Marius süß und jung, Marius alt und de Gitarren, an Verstärker gelehnt und wie

ein bisschen bitter, viele Freunde sind da- WESTERNHAGEN" MÜLLER AUS DEM BUCH: "MARIUS Indianer geduldig auf ihre Häuptlinge war- bei und manches Fräulein, vor allen aber Eikelpoth-Porträt des Tänzers Westernhagen tend, die sich hinter Glas zum Kriegsrat ver- Frau Romney, schön wie ein Vers aus dem Feiner Stenz und Schreihals mit Melone sammelt haben. Hinter Glanz und Glamour, Hohen Lied. In Düsseldorf ist der Hänfling Sound und Stille lässt dieser Fotograf auch aufgewachsen, Heuss und Adenauer an der gerei zu lassen, auf die Falckenberg-Schule Furcht erregende Unsicherheit spüren. Dann Wand, der Vater starb früh, „an seiner Sau- zu gehen, er sei ja nicht ganz unbegabt. guckt auch der rheinische Poet Westernha- ferei letztlich zerbrochen“, vom kleinen Pustekuchen – Jahrzehnte später stand gen mit müder Fröhlichkeit aus der Wäsche, Marius Hubertus Hans schmerzlich ver- ich dann eingepfercht im Weserstadion in in einer rollenfreien Zone, mit Wollmütz- misst; ein trauriges frühes Lied des Sohnes einem dieser rappelvollen letzten Konzerte chen über spitzer Nase. Fast glücklich wirkt trägt den Titel „Wenn jemand stirbt“. auf der Abschiedstour (dass ich nicht lache). er da, der Pfefferminzprinz, der autodidak- Der Vater war Schauspieler in Gründ- Eines der Fotos im Buch zeigt einen tau- tische Lehrling von McCartney, Dylan, New- gens’ berühmtem Ensemble; klar sollte dies sendfach vergrößerten Westernhagen, wie man und dem unsterblichen Johnny Cash! Kind der Fifties auch Mime werden, das im Spiegel einer Teleskoplinse, auf einer Wie viele brave Superstars hat der Ruhm wollte die lustige Mama. Er spielte viel, in Rundleinwand – und gleich darunter ver- gefressen?! Ihm ist das nicht passiert, weil großen und kleinen Rollen – und als Brum- beugt sich der reale Sänger vor seinen Fans. ihm jede seelenlose Überheblichkeit fremd mikutscher Theo wurde er 1980 zur Le- In rasender Anbetung singt der Chor der ist. Vielleicht sollte, über dieses Buch hin- gende. Aber keinen Hamlet gab’s, keinen Enthusiasten zu Füßen des Sängers jedes aus, bald einmal die große Biografie des Othello oder Richard: Statt ins Theater Wort mit, wedelt mit Neon und Feuerzeu- Marius Müller-Westernhagen geschrieben gen; und schöne Weiber reiten wie wilde werden. Es wäre eine grandiose Geschich- * Marius Müller-Westernhagen: „Versuch dich zu erin- Amazonen auf breiten Männerschultern – te. Einen Titel wüsste ich schon: „Oh Bro- nern“. Steidl Verlag, Göttingen; 376 Seiten; 50 Euro. auf der Jagd nach dem orpheischen Achill ther, Where Art Thou?“ ™

der spiegel 9/2004 171 Medien

FERNSEHEN RTL erstmals eine eigene tägliche REALITIY-TV „Crime-Doku“ mit dem Arbeitstitel Original und Fälschung „Kripo Köln – Einsatz für Ellrich“ im Hühnchen rupfen Vorabendprogramm starten – ein For- enn bei RTL über „die Kopierma- mat, das Sat.1 schon im Vorjahr mit Borris Brandt, 42, Wschine aus Berlin“ gelästert wird, gleich drei halbstündigen Serien erfolg- Deutschland-Chef dann ist stets der in der Hauptstadt an- reich eingeführt hat. „Lenßen & Part- der Produktionsfirma sässige Konkurrenzsender Sat.1 ge- ner“, „Niedrig und Kuhnt – Kommissa- Endemol, über den meint, der regelmäßig ähnliche Formate re ermitteln“ und „K11 Kommissare im Start der fünften wie der Kölner Marktführer ins Fernse- Einsatz“ konnten im Vorabendpro- Staffel von „Big hen bringt. Diesmal aber sind die Vor- gramm aus dem Stand Marktanteile bis Brother“ am 2. März

zeichen umgekehrt: Im Frühjahr will zu 24 Prozent erzielen. Das von Cons- PRESS HEINRICH / ACTION U. RALF auf RTL II tantin Entertainment produzierte RTL- Format folgt nun dem gleichen Schema: SPIEGEL: Nachdem Politiker und Me- Echte Kommissare ermitteln in fiktiven dienwächter kürzlich erwogen, die RTL- Fällen. RTL hat sich dabei für ein Trio Dschungelshow aus dem Programm zu unter der Führung der Kölner Ober- kippen, betiteln Sie „Big Brother“ nun kommissarin Ilona Ellrich entschieden, als Klassenkampf. Wird das Privatfern- die wie ihre beiden Kollegen für die Se- sehen etwa politisch? rie vom Dienst freigestellt wurde. „Kri- Brandt: Nein, wir haben im neuen „Big po Köln – Einsatz für Ellrich“ soll wo- Brother“-Haus nur einen Mikrokosmos chentags um 17 Uhr direkt gegen die der Gesellschaft geschaffen – mit rei-

MARTIN KURTENBACH / RTL KURTENBACH MARTIN gleichzeitig laufenden Sat.1-Kommissare chen Kandidaten, Normalverdienern „Kripo Köln“-Team „Niedrig und Kuhnt“ antreten. und solchen, die nichts haben. SPIEGEL: Das sind Arbeitslose, die Sie als Survivor bezeichnen. Die müssen unter freiem Himmel schlafen, sich ihr Hühnchen erst rupfen, bevor sie es an VERLAGE einer Feuerstelle braten – und dabei auf den Pool der Reichen schauen. Brandt: Ja, wie im echten Leben. Aber Bündnis gegen die Post durch Spiele können die, die nichts ha- ben, ganz schnell reich werden. eutschlands Verlage, darunter Axel Springer und Gruner + Jahr, erwägen eine SPIEGEL: Sie meinen, die Arbeitslosen DAllianz gegen die Deutsche Post AG. In gemeinsamen Arbeitsgruppen son- dürfen mal am Pool sitzen und am dieren die Pressehäuser derzeit, wie sie den bundesweiten Vertrieb ihrer Zeit- Reichtum schnuppern. Es gibt auch ei- schriften und Zeitungen billiger organisieren können. Als Kooperationspartner ist nen Bestrafungsraum, den die Regie bereits der Otto-Versand mit seiner Logistik-Tochter Hermes oder die Niederlän- kühlen und erhitzen kann, und dann dische Post im Gespräch, die so im deutschen Markt expandieren könnte. Zusätz- folgen möglicherweise neue Debatten lich zum Pressevertrieb könnte die Verlagsallianz auch den Katalogversand aus- um die Menschenwürde. bauen oder Behördenpost verteilen, verlautet aus den Arbeitsgruppen unter Fe- Brandt: Es wird aber keine Hitzestrafe derführung von Springer. „Das Postgeschäft könnte ein weiteres Standbein für uns bei uns geben. Zudem kann jeder aus- werden“, heißt es in den beteiligten Verlagen, die sich offiziell nicht äußern wol- steigen. Außerdem senden wir abends len. In den Regionen machen unter anderem bereits Holtzbrinck („Südkurier“) und um sieben, und da gilt der Jugendschutz. Madsack („Hannoversche Allgemeine“) der Post auf diese Weise Konkurrenz. SPIEGEL: Wer will das alles ein Jahr lang Auch der Hamburger Heinrich Bauer Verlag („TV Movie“, „Maxi“) ist schon im sehen? Zustellgeschäft aktiv: Mit rund 33000 Zustellern deckt die Konzerntochter VKG Brandt: Es ist eigentlich nichts anderes Logistik 80 Prozent des Bundesgebiets ab. als „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ in Echt. Und das läuft seit zwölf Jahren. Springer-Zentrale in Berlin, Katalogversand SPIEGEL: Aber wohl nie hat sich das Fernsehen selbst so entblößt wie durch „Big Brother“. Brandt: Ach, das gab es doch schon bei „Am Laufenden Band“. Da mussten un- schuldige Kandidaten Szenen nachspie- len. War das peinlich. Wir arbeiten mit derselben Mechanik, nur größer. SPIEGEL: Was zahlen Sie den Kandi- daten? Brandt: Jeder bekommt ein kleines Wo- chensalär, mehr nicht. SPIEGEL: Außer „Big Brother“ hat Ende- mol zuletzt nicht viel zu Wege gebracht. Leiden Sie an Kreativitätsschwund? Brandt: Das täuscht. Die deutschen Sen- der sind derzeit aber nicht sehr offen

STEPHANIE PILICK / DPA (L.); / DPA PILICK STEPHANIE GEBHARD / DDP (O.) ANDREAS für unsere Innovationen. Fernsehen TV-Vorschau aber in zu vielen Nebengeschichten. Inspektor Rolle: Herz in Not Das Ende kommt überraschend, man- che Auflösung fehlt. Mittwoch, 21.15 Uhr, Sat.1 Der Kommissar wirkt wie ein abge- Tatort: Heimspiel halfterter Rockstar. Seine Kumpels bei der Polizei sind ein Fußball spie- Sonntag, 20.15 Uhr, ARD lender Türke und ein Berufsanfänger, Der Lüneburger Pharmakonzern der die Ernstfälle der Wirklichkeit nur Gerlitz AG ist eigentlich ein prinzipi- für Tests seiner Ausbilder hält. Diese enfestes Unternehmen, der Junior-

glorreichen Drei schickt Kriminal- BIHRER + HANISCHDÖRFER / SWR / ARD chef aber hat andere Pläne: Er lässt in direktorin Elisabeth Stein (Eleonore Szene aus „Im Rhythmus der Stille“ Tschechien illegal nach gefährlichen Weisgerber) in die mörderische Glit- Impfstoffen forschen. Als zwei Be- zerwelt des Showbiz. Beim Vorent- bestanden und arbeitet als Tänzerin. teiligte an Krebs sterben und der Se- scheid zum Grand Prix ist der Schla- Wie das möglich wurde, haben Joachim niorchef nur knapp einem Attentat gerstar Ray Love tot auf der Bühne Bihrer und Claus Hanischdörfer sechs entgeht, muss sich Kommissarin Lind- zusammengebrochen, Inspektor Rin- Monate lang beobachtet. In ihrem Do- holm (Maria Furtwängler diesmal go Rolle (Rufus Beck), zufällig als kumentarfilm nehmen sie den Zuschau- ungewohnt zickig) wieder mal in die Begleiter seiner Tochter im Publikum, er mit ins Reich der Stille. Immer wie- niedersächsische Provinz aufmachen. muss in die ihm fremde Musikszene der sieht der Zuschauer zwar das Kla- Über lange Strecken tappt der Zu- eintauchen. So tief, dass er selbst zum vier spielen oder die Leute sprechen, schauer durch eine überkonstruierte angehimmelten Idol wird, als er im hört aber nur Rauschen. „Im Rhythmus Handlung und hat längst den weißen Glitzeranzug verdeckt ermit- der Stille“ ist der Auftakt zur neuen Überblick verloren, wenn am Ende telt. Seine Kollegen, Orkan Orsey Staffel der Reihe „Junger Dokumentar- Freund und Feind ausgemacht sind. (Aykut Kayacik) und Karsten Schmitt film“, die siebenmal donnerstags zu Mehr Licht ins Heidedunkel! (Thorsten Feller) brillieren mit Witz sehen ist. und Schlagfertigkeit. Hauptdarsteller Beck singt unwiderstehlich komisch Zwei am großen See „Herz in Not“. Da freut sich der Zuschauer bereits auf den nächsten Freitag, 20.15 Uhr, ARD Rolle-Auftritt – Herz in Erwartung. Die erfolgreiche Karrierefrau, der smar- te Sohn, der bayerische Wirtshaus- Im Rhythmus der Stille besitzer mit Kontakten zum Stadtrat und die knurrige, aber gutmütige Donnerstag, 23.15 Uhr, SWR Großmutter – aus diesen Charakteren Etwa 80000 Gehörlose gibt es in hat Regisseur Walter Bannert einen un- Deutschland. Sarah Neef ist eine von terhaltsamen Familienfilm gedreht. Er ihnen. Im Gegensatz zu den meisten setzt ganz auf den Charme seiner

anderen Tauben kann sie sich münd- Hauptdarstellerinnen Uschi Glas und D. MEHDEN / NDR V. MARION lich verständigen. Sie hat ihr Abitur Ruth Drexel. Bisweilen verzettelt er sich „Tatort“-Stars C. Striebeck, Furtwängler Medien

Darsteller Koch (2. v. l.), Schenk (r.), Attentatsszene im TV-Film „Stauffenberg“: Dramatisches Duell im Führerhauptquartier

ZEITGESCHICHTE Im Bann des Monsters Weil sich das Scheitern der Widerständler vom 20. Juli 1944 zum 60. Mal jährt und im nächsten Jahr das Ende der Nazi-Herrschaft, zeigt das Fernsehen große Erinnerungsstücke in Serie. Mittelpunkt fast aller TV-Werke ist die faszinierende Schreckensgestalt Hitler.

ie Szene erinnert an einen Western Dokumentationsreihe „Sie wollten Hitler die Haupt- und Staatsaktionen im NS- – Highnoon im ostpreußischen Füh- töten“, ein geschickt geknüpfter Bilder- Reich zu zeigen und seine prominenten Drerhauptquartier: Hitler, gespielt bogen, der einen guten Überblick über die Gegner ins Bild zu rücken, als sich neue, von Udo Schenk, blickt in Großaufnahme Geschichte des Widerstands bringt. bescheidenere Welten zu erschließen, in aus tückischen, grau-blauen Augen dem Schon dieser Auftakt zeigt: Die TV-Ge- denen Moral ganz praktisch erfahrbar wird. kriegsversehrten Grafen von Stauffenberg schichtsschreibung hält sich immer noch So läutet die braune Jubiläumsglocke, das (Sebastian Koch) ins Gesicht. Die Akten- lieber an die Jubiläen der sattsam bekann- Fernsehen folgt ihr. tasche mit der Bombe liegt unterm Tisch. ten Aktionen und Akteure als an die Auf- Das ZDF-Doku-Drama zum 20. Juli, Ar- Der Generalstabsoffizier mit der Augen- deckungen der letzten Jahre. In denen geht beitstitel: „Die Stunde der Offiziere“, ist klappe verlässt gleich darauf den Raum. es um die „stillen Helden“, um unpromi- bereits abgedreht, es wird im Sommer ge- Bereits das Blickduell zwischen Führer nente Menschen, die Verfolgte versteck- sendet werden. Gemäß der Jubiläumslogik und Attentäter aber macht dem Zuschau- ten, Widerstand im Alltag leisteten und Zi- geht es weiter. Im September kommt die er klar: Das Monster ist stärker. Es wird vilcourage bewiesen. „Nicht alle waren Bernd-Eichinger-Produktion „Der Unter- überleben. Mörder“ heißt beispielsweise die Autobio- gang“ (Regie: Oliver Hirschbiegel) in die Von Angesicht zu Angesicht mit Hitler – grafie des jüdischen Schauspielers Micha- Kinos, bevor sie 2005 – dann ist das Kriegs- von Mittwoch an steht das Fernsehen mal el Degen, der als Zwölfjähriger an der Sei- ende 60 – in der ARD laufen soll. Bruno wieder für lange Zeit im Bann des Dikta- te seiner Mutter in Berlin überlebte. Ein Ganz wird als schütteres Führergespenst im tors und seiner Paladine. „Stauffenberg“ Drehbuch zu einer Verfilmung des Stoffes untergehenden Berlin durch den Bunker heißt der 90-Minüter, der den Nazi-Erin- liegt dem ZDF vor, aber im Moment geistern, die Faszination des bösen Greises nerungsreigen zu 60 Jahren 20. Juli er- scheint anderes vorzugehen: Das Medium kennt keine Altersschranke, sie scheint öffnet. Es folgt am 2. März die vierteilige erweist sich noch immer entschlossener, Quote zu garantieren. Kein Wunder, dass

174 der spiegel 9/2004 erfunden hat. Ausstrahlungstermin: kom- tent homoerotischen Beziehung Speer–Hit- mendes Jahr. ler erzählen, dazu von Parallelen zwischen Ein Höhepunkt der öffentlich-recht- dem Thomas-Mann-Clan und der Speer- lichen Nazi-Beschwörung dürfte wohl Sippe, vom jeweiligen Künstlerdrama, von Heinrich Breloers „Speer und Er“ werden: den jeweils sechs Kindern. Gut möglich, Nach dem, was der genialische TV-Macher dass hier schrecklich schwere, aber junge („Die Manns“) vorab hat verlauten lassen, Menschen vor allem interessierende Fra- soll in gleich drei 90-Minuten-Filmen die gen, nämlich die nach dem moralisch Rich- schreckliche Männerbeziehung zwischen tigen, in feuilletonistische Berghof-Höhen dem Führer und seinem Architekten Albert der Prominenz entrückt werden. Speer erzählt werden. Vor dem neuen Aufmarsch der TV-Bil- Im „war movie“ (Breloer) geht es um derbögen – es werden die wohl letzten mit die Beziehung des Kriegsherrn zu seinem lebenden Zeitzeugen sein – melden sich Künstlerfreund, den er zum Rüstungs- die alten Ängste: Verbaut das Fernsehen organisator macht. Es folgt der Gerichts- den Zugang zur Vergangenheit? Trägt es film, der den Hitler-Getreuen zeigt, wie er, zum Kitzel des Monströsen bei? Verherr- Reue vorgebend, in Nürnberg den Kopf licht es unbewusst Krieg und Gewalt? aus der Schlinge zieht. Der letzte Teil be- Zumindest der Jo-Baier-Film und die schäftigt sich mit dem geschickten Erinne- Guido-Knopp-Reihe geben überhaupt kei- rungsmanager Speer, der sich zeitweise nen Anlass zu solchen Befürchtungen. Die selbst den Nachfragen seines Biografen bekannten Fakten werden referiert, die Joachim Fest entzieht – die Täuschung der Bilder sind historisch belegt, die Spekula- Söhne durch die Väter ist ja zugleich das tions-Flugkörper bleiben am Boden. Das Trauma der Nachkriegsgeneration. TV-Movie „Stauffenberg“ verharrt gerade- Jetzt beginnen die Dreharbeiten für die zu ehrfürchtig vor dem historisch gesicher- fiktionalen Teile. Der gebürtige Tiroler To- ten Ablauf und verkneift sich melodrama- bias Moretti, ehedem Symbolfigur leicht- tische Ausflüge, wie sie sich Margarethe gängiger TV-Unterhaltung („Kommissar von Trotta in ihrem Film „Rosenstraße“ Rex“), hat sich von Breloer den Hitler auf- leistete. Als wäre die Geschichte vom Pro- laden lassen – auch eine deutsche Rache test der Frauen jüdischer Männer gegen die an Österreich, schließlich kam der braune Nazis nicht schon dramatisch genug, hatte

FOTOS: MATTESCHECK / SWR / ARD MATTESCHECK FOTOS: Bösewicht aus der stickigen Inzestwelt des Trotta einen sexuellen Opfergang hinzuer- Innviertels, wohin Maria Theresia einst ihre funden, den die Heldin (Katja Riemann) auch das ZDF beim Thema Regime-Ende Tunichtgute geschickt hatte. ins Schlafzimmer von Goebbels unterneh- mit einem Doku-Spiel nachzieht. Was immer bei diesem Breloer-Projekt men muss. Hitler alt, Hitler jung, bloß keine Pause herauskommt, es wird eine Heerschau der Spannend genug geht es im Baier-Film im negativen Prominentenkult: Der Filme- Mittel des Doku-Dramas werden: Mindes- auch ohne jede Klitterung zu. Der Zu- macher Dominik Graf soll ein Werk über tens zwölf Millionen Euro lassen sich die schauer muss den Atem anhalten, wenn er den Hochverratsprozess 1924 gegen den beteiligten Sender das Projekt kosten, das den Attentäter auf seinem Flug von Ber- späteren Führer drehen; SPIEGEL TV- abgerissene Alliiertengefängnis Spandau lin zur Wolfschanze begleitet, wo sich Redakteur Michael Kloft und der Kölner wird ebenso rekonstruiert wie Hitlers Ar- Hitler eingeigelt hat. Der Anschlag in der Medienforscher Lutz Hachmeister be- beitszimmer. Drei Kinder Speers werden Führerbaracke, das Zaudern der Mittäter schäftigen sich für das Mainzer „Kleine sich vor der Kamera erinnern, darunter die in Berlin, der schmähliche Opportunis- Fernsehspiel“ mit Propagandaminister Erziehungswissenschaftlerin Hilde Schramm, mus des Generalobersten Friedrich Fromm Goebbels, dem bösen Mediengenie, das eine engagierte Grünen-Politikerin. (überzeugend als Mischung aus krieche- sich während der Nazi-Epoche auch durch Bedeutungsschwer raunte Breloer, 62, rischem Angsthasen und Großmaul von eine spezielle Filmästhetik mehrmals neu vorab, er wolle – Fest folgend – von der la- Axel Milberg gespielt), die zunehmende Verzweiflung und das be- herrschte Ende vor dem Er- schießungskommando – das alles fügt sich zu packendem Fernsehen. Sebastian Koch leiht sei- nem Stauffenberg heutige Züge. Er wirkt wie ein Abge- sandter aus der unbeschwer- ten Gegenwart in die tragi- sche Vergangenheit. Durch die Augenklappe wirkt er wie ein verwegener Pirat, der Skrupel abschüttelt. Er ist ein- fach ein Good Fellow, der wie selbstverständlich auf der richtigen Seite steht, ein Held, vom Himmel über dem guten Deutschland gefallen. Das sieht sich schwung-

DEFD (L.); CONSTANTIN FILM (R.) DEFD (L.); CONSTANTIN voll an, verfehlt aber eine tie- Hitler-Darsteller Ganz, „Der Untergang“-Szene mit Alexandra Maria Lara (l.): Schauriger Prominentenkult? fere Wirkung. Hier wird der

der spiegel 9/2004 175 Preis gezahlt für die Entscheidung der Macher, nur 90 Minuten für Stauffenberg und seine Mitverschwörer zur Verfügung zu stellen. Die facettenreiche Vorgeschich- te des Attentäters, sein Weg zum Wider- stand kommt trotz einiger Rückblenden viel zu kurz. Ausgerechnet Jo Baier („Der Laden“, „Schwabenkinder“), der großartige Film- erzähler in Sachen Heimat und Entfrem- dung, hat in dem aktionsreichen Film nicht den Raum, Bilder für die tragische Verlo- renheit seiner Helden zu finden. Deren Erhebung, das hat Joachim Fest herausge- arbeitet, hatte einen sehr deutschen ro- mantischen Kern: Es ging ihnen vor allem um eine symbolische Aktion, ein persön- liches Zeichen gegen die barbarische Hit- ler-Wirklichkeit. Ob deshalb alle Anschläge ihr Ziel ver- fehlten? Die Knopp-Dokumentation zeigt, dass der Gang der Weltgeschichte im Fall Hitler eine Frage von Unwägbarkeiten der Außenpolitik, von wenigen Minuten und von vereisten Zündern gewesen ist. Schon 1938 versuchten Militärs, den kriegslüster- nen Diktator auszuschalten, doch kamen ihrem Zugriffsplan die außenpolitischen Erfolge des Regimes, vor allem das Münch- ner Abkommen, in die Quere. Immer sind es Menschen mit ihrem Cha- rakter, die etwas bewegen. Die ergreifends- te Lehre der Knopp-Reihe ist das persön- liche Zeugnis: Je näher jemand am Ereig- nis war, desto überzeugender wirkt der Film. Die Schilderungen der dabei Gewe- senen zerreißen den Pomp der Wochen- schau-Bilder. Weitere Lehre: Geschichte ist mehr als Struktur oder Herkommen. Der einzel- gängerische schwäbische Tüftler Georg Elser war ein einfacher Mann, aber seine Geschichte fasziniert noch immer. In über 30 Nächten hatte er unbemerkt seine raf- finierte Bombe in eine Säule des Münch- ner Bürgerbräukellers hineinmontiert. Doch Hitler verließ im November 1939 den Nazi-Treff 13 Minuten eher als ge- plant, blieb unverletzt und badete sich fortan im Drachenblut einer angeblich von der Vorsehung garantierten Unverwund- barkeit. Ob sich deutsche Schuld durch Hitlers Ermordung gemildert hätte, ist zweifelhaft, aber Hunderttausenden wäre der Tod in den KZ, auf den Schlachtfeldern und in den zerstörten Städten wahrscheinlich er- spart geblieben. An Fleischerhaken ließ Hitler die Verur- teilten des 20. Juli aufhängen. Die Ge- würgten schaukelten im Todeskampf hin und her, stießen aneinander und beschleu- nigten so gegenseitig ihr Ende. Auf Be- fehl Hitlers wurde alles gefilmt, der Diktator hat sich nachweislich die (heute verschol- lenen) Aufnahmen vom Sterben seiner Gegner mehrmals angesehen. Das Mons- ter feierte seinen Triumph. Es war sein letz- ter. Nikolaus von Festenberg

176 der spiegel 9/2004 Medien

Deal schmackhaft machen will: Für drei Rechte einräume – etwa die Verlegung der FUSSBALLRECHTE Jahre bieten die Unterföhringer insgesamt Sonntagsspiele an den für Premiere lukra- bis zu 650 Millionen Euro – je nachdem, tiveren Freitagabend. Falls alle seine For- Kampfansage wie viele Live-Spiele im Free-TV laufen derungen erfüllt würden, könne er bis zu sollen. Das sind 140 Millionen Euro mehr, 170 Millionen Euro auf den Tisch legen. als Premiere bislang zahlen will. Doch die Liga blieb skeptisch. Mit die- aus Kalifornien Warum die Fernsehmanager den Fuß- sem Deal würden die Fußball-Funktionäre ballboss nicht einfach an ihren Sendersitz ihren Juniorpartner, das Deutsche Sport Mit seinem Angebot für die Pay- gebeten hatten, ist offensichtlich. Gegen- Fernsehen (DSF), vergrätzen, das bislang über der Zentrale der ProSiebenSat.1 Me- für die Übertragung der Sonntagsspiele elf TV-Rechte an der Bundesliga spielt dia AG, auf der anderen Seite der Unter- Millionen Euro pro Spielrunde überwies – Haim Saban ein trickreiches föhringer Medienallee – keine 150 Meter und außerdem mit seiner Berichterstattung Spiel: Will er Premiere sturmreif Luftlinie entfernt – residiert der bislang ein- über die zweite Liga die ebenfalls in der schießen – und übernehmen? zige Bieter um den Ballbesitz im Bezahl- DFL organisierten Underdogs des Fußball- fernsehen: Premiere-Chef Georg Kofler. Business bei Laune hielt. ie Platzwahl der Herren aus Unter- Die Gegenofferte unter den Augen des Für die seit der Kirch-Pleite chronisch föhring war mit Bedacht getroffen. Feindes zu präsentieren, das schien den klamme Liga kommt das Angebot der Sa- DIn der Anonymität des Münchner Herren dann doch ein bisschen dreist. ban-Emissäre deshalb gerade recht. Schon Franz-Josef-Strauß-Flughafens baten am Bei Premiere interpretierte man das seit geraumer Zeit sondieren die Clubs, ob vorvergangenen Freitag ProSiebenSat.1- Angebot sofort als das, was es ist: eine es Alternativen zu dem Premiere-Kontrakt Chef Urs Rohner, dessen Vorstandskolle- Kampfansage aus Kalifornien. Zwar be- gibt. Sogar ein eigener Liga-Kanal wurde gen Guillaume de Posch und der Sat.1-Obe- teuern Manager der Senderfamilie, bei diskutiert (SPIEGEL 6/2004). Da ist die re Roger Schawinski den Chef der Deut- dem möglichen Einstieg ins Bezahlfernse- preistreibende Offerte aus Unterföhring so OLIVER LANG / DDP OLIVER ProSiebenSat.1-Eigner Saban Phänomenale Summe

etwas wie ein Elfmeter ohne Torwart in der letzten Spielminute. Denn Mitte März beginnt das Lizenzierungsverfahren, in dem die Clubs ihre Finanzsituation dar- stellen müssen. Für ProSiebenSat.1 könnte sich ein ei- gener Liga-Kanal schnell rechnen. Zu die- sem Ergebnis kamen jedenfalls die Verant-

FIRO wortlichen des Senders. Bei verschiedenen Bundesliga-Berichterstattung auf Premiere*: „Keinen Cent mehr an die DFL“ Kabelanbietern haben sie bereits vorge- fühlt: Der Empfang wäre mit den her- schen Fußball Liga (DFL), Wilfried Straub, hen handele es sich um „kein konkretes, kömmlichen, im Markt befindlichen Ka- zum vertraulichen Gespräch – und unter- kurzfristiges Szenario“ – sei es drum. Al- beldecoderboxen kein Problem. Bei den breiteten dem Fußball-Funktionär ein lein schon das Angebot an die DFL, so of- Satellitenboxen müsste nur die Smartcard äußerst lukratives Angebot. Die Senderfa- fenbar das Kalkül der Saban-Abgesandten, ausgetauscht werden. Die Sendeabwick- milie, die inzwischen zum Imperium des werde den Preis für die Pay-TV-Rechte in lung könnte der unternehmenseigene US-Investors Haim Saban gehört, will die die Höhe treiben. Und so einen schnellen Technikdienstleister SZM übernehmen. bislang von dem Bezahlkanal Premiere ge- Börsengang des Senders zunichte machen. Für die Zuschauer, die bislang für ein haltenen Pay-TV-Rechte an der Bundesliga Ganz egal, ob Saban Kofler nur finan- ernst zu nehmendes Erstliga-Angebot bei von der DFL kaufen und zudem einige ziell in die Ecke treiben oder tatsächlich Premiere immerhin 18 Euro im Monat zah- Spitzenspiele künftig live auf Sat.1 über- selbst ins Bezahlfernsehen einsteigen will: len müssen, könnte das Live-Fußballerleb- tragen. Die Rechte waren wieder an die Seine Strategie scheint klar. Er will Pre- nis aus den Stadien sogar günstiger werden DFL zurückgefallen, weil die Schweizer miere offenkundig sturmreif schießen – – immerhin müsste der Fußball anders als Rechteagentur Infront als Zwischenhändler und dann günstig übernehmen. Premiere keine unrentablen Drittpro- Ende Dezember ihre Option auf Vertrags- Tatsächlich kommt das Angebot für Kofler gramme mitfinanzieren. verlängerung nicht ausgeübt hatte. zur Unzeit. Der Südtiroler sah sich als ein- Premiere-Chef Kofler will trotz Sabans Phänomenal ist vor allem die Summe, ziger ernst zu nehmender Anbieter für die Offerte hart bleiben. Er werde deshalb mit der das ProSieben-Team der DFL den Bezahlrechte – entsprechend forsch trat er „keinen Cent mehr an die DFL zahlen“, in den Verhandlungen auf. Mehr als 150 Mil- ließ er im kleinen Kreis verlauten. * Premiere-Moderator Sebastian Hellmann mit Interview- lionen Euro pro Saison wollte er nur dann Das Spiel geht wohl in die Verlängerung. partner Karl-Heinz Rummenigge. bieten, wenn die Liga ihm mehr exklusive Marcel Rosenbach, Jörg Schmitt

der spiegel 9/2004 177 SERVICE

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Waszyngtona 26, PL- 03-912 Warschau, Abonnementspreise Andresen, Horst Beckmann, Wolfram Bickerich, Joachim Mohr, Tel. (004822) 6179295, Fax 6179365 Inland: zwölf Monate ¤ 145,60 Manfred Schniedenharn, Peter Stolle, Dr. Rainer Traub, Kirsten WASHINGTON Dr. Gerhard Spörl, 1202 National Press Building, Sonntagszustellung per Eilboten Inland: ¤ 465,40 Wiedner Washington, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, Fax 3473194 Studenten Inland: zwölf Monate ¤ 101,92 inkl. PERSONALIEN Dr. Manfred Weber; Petra Kleinau, Katharina WIEN Jürgen Kremb, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431) 6-mal UniSPIEGEL Stegelmann 5331732, Fax 5331732-10 Schweiz: zwölf Monate sfr 260,– HAUSMITTEILUNG, INFORMATION Hans-Ulrich Stoldt Europa: zwölf Monate ¤ 200,20 DOKUMENTATION Dr. Hauke Janssen, Axel Pult (stellv.), Peter Wahle Außerhalb Europas: zwölf Monate ¤ 278,20 CHEF VOM DIENST Thomas Schäfer, Karl-Heinz Körner (stellv.), (stellv.); Jörg-Hinrich Ahrens, Werner Bartels, Ulrich Booms, Halbjahresaufträge und befristete Abonnements Holger Wolters (stellv.) Dr. Helmut Bott, Viola Broecker, Dr. Heiko Buschke, Heinz Egleder, werden anteilig berechnet. 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E-Mail: [email protected] GRAFIK Martin Brinker, Gernot Matzke; Cornelia Baumermann, Schäfer, Rolf G. Schierhorn, Dr. Regina Schlüter-Ahrens, Mario Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Ulla Siegen- Hefte bekomme ich zurück. Renata Biendarra, Ludger Bollen, Thomas Hammer, Tiina Hurme, Cornelia Pfauter, Julia Saur, Michael Walter thaler, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Zusätzlich erhalte ich den KulturSPIEGEL, Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Wilhelm Tappe, das monatliche Programm-Magazin. LAYOUT Wolfgang Busching, Ralf Geilhufe; Christel Basilon, Katrin Dr. Eckart Teichert, Hans-Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Ursula Wamser, Bollmann, Regine Braun, Claudia Conrad, Volker Fensky, Petra Gro- Peter Wetter, Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Bitte liefern Sie den SPIEGEL an: nau, Jens Kuppi, Sebastian Raulf, Barbara Rödiger, Martina Treu- Windelbandt mann, Doris Wilhelm, Reinhilde Wurst Sonderhefte: Rainer Sennewald LESER-SERVICE Catherine Stockinger Name, Vorname des neuen Abonnenten PRODUKTION Frank Schumann, Christiane Stauder, Petra Thor- NACHRICHTENDIENSTE AFP, AP, dpa, Los Angeles Times / mann, Michael Weiland Washington Post, New York Times, Reuters, sid TITELBILD Stefan Kiefer; Antje Klein, Iris Kuhlmann, Arne Vogt, SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Straße oder Hausnummer oder Postfach Monika Zucht Verantwortlich für Anzeigen: Jörg Keimer REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 58 vom 1. Januar 2004 PLZ, Ort BERLIN Friedrichstraße 79, 10117 Berlin; Deutsche Politik, Wirtschaft Mediaunterlagen und Tarife: Tel. (040) 3007-2475 Tel. (030) 203875-00, Fax 203875-23; Deutschland, Kultur und Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 Ich zahle Gesellschaft Tel. (030) 203874-00, Fax 203874-12 1 Verantwortlich für Vertrieb: Lars-Henning Patzke ❏ bequem und bargeldlos per Bankeinzug ( /4-jährl.) BONN Combahnstraße 24, 53225 Bonn, Tel. (0228) 26703-0, Fax 26703-20 Druck: Gruner Druck, Itzehoe Dresdner Druck- und Verlagshaus Bankleitzahl Konto-Nr. DRESDEN Steffen Winter, Königsbrücker Straße 17, 01099 Dresden, Tel. (0351) 26620-0, Fax 26620-20 MARKETINGLEITUNG Christian Schlottau DÜSSELDORF Georg Bönisch, Andrea Brandt, Frank Dohmen, Bar- VERLAGSLEITUNG Fried von Bismarck, Matthias Schmolz Geldinstitut bara Schmid-Schalenbach, Carlsplatz 14/15, 40213 Düsseldorf, Tel. 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178 der spiegel 9/2004 Chronik 14. bis 19. Februar SPIEGEL TV

SAMSTAG, 14. 2. DIENSTAG, 17. 2. MONTAG, 23. 2. 22.45 – 23.15 UHR SAT.1 TOD Der italienische Radprofi und Tour- KÜNDIGUNG Verkehrsminister Manfred de-France-Gewinner Marco Pantani wird Stolpe (SPD) beendet den umstrittenen SPIEGEL TV REPORTAGE leblos in einem Hotelzimmer in Rimini Vertrag mit dem Maut-Betreiberkonsor- Füttern oder töten – aufgefunden. tium Toll Collect. Krieg um die Friedenstaube KAUFANGEBOT Der US-Telekommunika- Längst ist die Straßentaube immun gegen TUMULT Bei einem Feuerüberfall Dut- Verkehrslärm und Menschenmassen. Die zender Iraker auf zwei Gebäude der tionskonzern Cingular Wireless gewinnt gegen Vodafone den Bieterstreit um Folge: massive Verschmutzungen an Denk- Sicherheitskräfte in der Stadt Falludscha malen und Gebäuden. Tierfänger und sterben 23 Menschen, 30 werden verletzt. AT&T Wireless und will 41 Milliarden Dollar für die US-Telefonfirma zahlen. Putztrupps haben noch einen Gegner: Tier- TRAGÖDIE Beim Einsturz einer Moskauer freunde, die nachts illegal Tauben füttern. Schwimmhalle kommen mindestens KULTUR Nach dem Gewinn des Grammy 28 Menschen ums Leben. Ursache für räumen Teenagerstar Justin Timberlake DONNERSTAG, 26. 2. den Zusammenbruch des erst zwei und die US-Sängerin Beyoncé Knowles 22.15 – 23.10 UHR VOX Jahre alten Gebäudes sind vermutlich auch bei den Brit Awards ab. SPIEGEL TV EXTRA Baufehler. MITTWOCH, 18. 2. Abgetaucht – SONNTAG, 15. 2. GERICHT Ein 34-jähriger Autofahrer wird unterwegs mit einem deutschen U-Boot zu 18 Monaten Haft verurteilt. Er soll im 24 Marinesoldaten sind auf U 22 statio- AUSZEICHNUNG Mit „Gegen die Wand“, vergangenen Jahr auf der A5 bei Karls- niert. Auf engstem Raum müssen sie über dem Film des Hamburger Regisseurs ruhe einen Wagen von der Straße ge- Wochen zusammenhalten. Fatih Akin, erhält erstmals seit 18 Jahren drängt haben. Zwei Menschen starben. wieder ein deutscher Streifen einen FREITAG, 27. 2. Goldenen Bären bei der Berlinale. GIPFELTREFFEN In Berlin beraten Bundes- 22.20 – 0.20 UHR VOX kanzler Schröder, Frankreichs Premier- ABSCHIED Im thüringischen Oberhof geht minister Chirac sowie ihr britischer Kol- SPIEGEL TV THEMENABEND die Biathlon-WM zu Ende. Das deutsche lege Blair unter anderem über die Neu- Die letzte Feindfahrt – Team holte zweimal Gold, dreimal Silber strukturierung der EU-Kommission. das rätselhafte Schicksal von U-869 und zweimal Bronze. GEWINNER Bei den Vorwahlen für den de- Ein mysteriöses Wrack vor der Küste New Yorks. Eine gefährliche Tauchexpedition. MONTAG, 16. 2. mokratischen Präsidentschaftskandidaten siegt John Kerry auch im US-Bundesstaat Die spannende Suche nach der Wahrheit. POLITIK Bundeskanzler Gerhard Schröder Wisconsin. Der einstige Favorit Howard Was geschah an Bord von U-869? lehnt vor dem Parteivorstand eine Kurs- Dean gibt dagegen auf. änderung strikt ab. Ein Rückrudern bei SAMSTAG, 28. 2. den Reformen werde es nicht geben. DONNERSTAG, 19. 2. 22.05 – 23.55 UHR VOX PROZESS In Saarbrücken beginnt das Be- URTEIL Mit Freispruch für alle 16 An- SPIEGEL TV SPECIAL rufungsverfahren gegen den suspendier- geklagten endet in Salzburg der Prozess Osama Bin Laden: Der Prophet des Terrors ten Oberbürgermeister Hajo Hoffmann. um die Gletscherbahn-Katastrophe – Geschichte einer mörderischen Karriere Ihm wird Untreue in zwei Fällen vorge- von Kaprun, bei der im November 2000 SPIEGEL TV zeigt Lebensstationen Bin worfen. 155 Menschen starben. Ladens auf, hat mit Weggefährten ge- sprochen und geht der Frage nach, wie Japans Sumo-Legende aus dem saudischen Millionärssohn Ame- Takanonami Auge in Auge mit rikas Staatsfeind Nummer eins wurde. zwei Nachwuchskämpfern beim ersten Sumo-Wettkampf SONNTAG, 29. 2. auf koreanischem Boden 22.50 – 23.35 UHR RTL seit 1945 SPIEGEL TV MAGAZIN „Offiziell eingeladen“ – tschetschenische Terroristen im Ruheraum Deutschland; Asyl abgelehnt! – Beobachtungen im Ab- schiebeknast Büren; Die IQ-Elite – in der wundersamen Welt der Hochbegabten. SPIEGEL TV Abschiebehäftlinge in der JVA Büren LEE JIN-MAN / AP JIN-MAN LEE

179 Register

gestorben Französischen und Italienischen hat der Wahl-Münchner ins Deutsche übertragen, Shirley de la Hunty-Strickland, 78. Nicht darunter das Gesamtwerk von Georgio nur wegen ihrer sportlichen Triumphe war Bassani. In den wilden Zwanzigern de- die erfolgreichste australische Leichtathle- bütierte Schlüter Erfolg versprechend mit tin bei Olympischen Spielen eine außerge- dem Erzählband „Ein spätes Fest“, die wöhnliche Frau. Zunächst schloss sie 1946 Nazi-Diktatur trieb ihn – „zufällig kein ihr Physikstudium an der Universität Perth Jude“ (Schlüter) – in die Emigration. Nach ab, bevor sie 1948 in London, 1952 in Hel- dem Krieg konnte er nicht so recht an den sinki und 1956 in Melbourne insgesamt sie- früheren Erfolg anknüpfen und verwandte ben Medaillen gewann – davon zweimal fortan sein schriftstellerisches Talent für über 80 Meter Hürden und einmal in der die Kunst des Übersetzens. Herbert Schlü- 4x100-Meter-Staffel die ter starb am 15. Februar in München. goldene. Nach ihrer ak- tiven Karriere trainierte Molly Izzard, 84. Im Zweiten Weltkrieg sie Nachwuchsläufer, un- wurde die junge Frau, die im englischen terrichtete an der Uni- Cornwall geboren und zum Teil in Indien versität und engagierte aufgewachsen war, zu einer von „His Ma- sich als Politikerin für jesty’s pornographers“, jener Truppe, die die Demokraten. 2001 offiziell „Political Warfare Executive“ hieß versteigerte die vierfa- und für subversive Propaganda gegen Nazi-

che Mutter ihre Olym- / SPORTIMAGE THE LIBRARY SPORT Deutschland zuständig war. Dort lernte sie pia-Trophäen, um mit ihren späteren Ehemann Ralph Izzard ken- dem Erlös von 400000 Dollar die Erzie- nen, dessen Arbeit als Auslandskorres- hung ihrer 15 Enkelkinder zu finanzieren pondent Molly Izzard auf Reisen führte. und Umweltschutzorganisationen zu un- Neu-Delhi, Kairo, Beirut waren Stationen terstützen. Shirley de la Hunty-Strickland der bald sechsköpfigen starb am 13. Februar in Perth. Familie. Izzards erstes Buch „Smelling the Bree- Johanna Olbrich, 78. Wie alle Agenten zes“ (1959) erzählt von aus Honeckers Reich trug sie einen Deck- einer abenteuerlichen namen – Sonja Lüneburg. Die angebliche 300-Meilen-Tour durch Frisörin war studierte Lehrerin, und sie das unwegsame libanesi- ließ sich 1966 in die Bundesrepublik ein- sche Gebirge mit vier schleusen, weil sie – Marxistin und über- Kindern, zwei Eseln und

zeugte Antifaschistin – ihrem Regime hel- CRISP MIRA einem Koch. Mehrere an- fen wollte. Als Sekretärin arbeitete sie erst dere Reisebücher brach- für den FDP-Bundestagsabgeordneten ten Izzard viel Anerkennung. Mit ihrem (und DDR-Spion) William Borm, später letzten Werk allerdings, einer Biografie über saß sie sogar im Vorzimmer des FDP-Wirt- die weltberühmte Reiseschriftstellerin Freya schaftsministers Martin Stark, machte sie sich wenig Freunde. Die Bangemann. Sie verriet große Fangemeinde verzieh es ihr nie, dass nicht nur Parteiinterna, sie die Legende zu kritisieren wagte. Molly sondern auch politisch Izzard starb am 4. Februar. Brisantes – Details über die Vorbereitung der José López Portillo, 83. Reichtum für alle Ostverträge, das Transit- war sein Ziel. Und tatsächlich: Seine Amts- abkommen oder den zeit als mexikanischer Präsident (1976 bis Grundlagenvertrag. Als 1982) schien anfänglich unter einem guten

Olbrich 1985 in Rom ihre ARIS Stern zu stehen. Das wohl wichtigste poli- Papiere verlor, wurde sie tische Projekt seiner Laufbahn war der in die DDR zurückbeordert. Olbrich alias Ausbau der mexikanischen Ölindustrie, die Lüneburg, 1996 rechtskräftig wegen Spio- dem Land vorübergehend einen Boom be- nage zu 21 Monaten Haft verurteilt, arbei- scherte. Doch die anfängliche Positivbilanz tete seit einiger Zeit an ihren Memoiren. kehrte sich bald in ihr Gegenteil: Der Öl- Johanna Olbrich starb am 18. Februar in preis ging in den Keller, die Einnahmen Bernau bei Berlin. des Landes brachen ein. Zudem hatte Por- tillo im Ausland einen Schuldenberg von Herbert Schlüter, 97. „Ich kann halt gut mehr als 80 Milliarden Dollar angehäuft – Deutsch“, kommentierte der gebürtige die Wirtschaftskrise war nicht mehr auf- Berliner die Auszeichnung mit dem zuhalten. Viele Mexikaner verloren ihren Münchner Übersetzerpreis trocken. Das Job, das Vertrauen in den Präsidenten war war im Jahr 2000; die mit 20000 Mark do- dahin. 1982 wurde Portillo als Präsident ab- tierte Ehrung wurde zum ersten Mal ver- gewählt. Noch Jahre später buhten ihn auf- geben, und Kenner waren sich einig: Nie- gebrachte Landsleute aus, wenn er sich in mand hat sie mehr verdient als Schlüter. der Öffentlichkeit zeigte. José López Por- Über 100 Bücher aus dem Englischen, tillo starb am 17. Februar in Mexico City.

180 der spiegel 9/2004 Personalien

Helmut Kohl, 73, Altkanzler, erzählt sei- penhagen reserviert. Anlass ne „Lektionen aus der Geschichte“ – vor für die Einladung der Jung- zahlendem Publikum. Beim „World Busi- sozialisten ist ein Beschluss ness Forum“ in der Alten Oper in Frank- des dänischen Parlaments, furt können die Teilnehmer auch den Er- wonach die Apanage für fahrungen von Rudy Giuliani, Ex-Bürger- Kronprinz Frederik quasi meister von New York, lauschen sowie dem als Hochzeitsgeschenk kräf- einst „besten Manager der Welt“, Jack tig auf 11,4 Millionen Kro- Welch, wegen seiner harten Personalpoli- nen (1,5 Millionen Euro) tik auch „Neutronen-Jack“ genannt. Das jährlich angehoben werden zweitägige Seminar im Oktober kostet stol- soll, während die künftige ze 2400 Euro; wer sich schnell anmeldet, Kronprinzessin sich mit 1,27 bekommt einen Frühbucherrabatt und Millionen Kronen (170 000 muss nur 1800 Euro hinblättern. Der Preis Euro) per Anno bescheiden „selektiert den Personenkreis“, erklärt eine muss. Das empörte auch Veranstaltungssprecherin, man lege Wert die Parlamentsabgeordnete auf ein wirklich hochkarätiges Publikum. Pernille Rosenkrantz-Theil von der linken „Einheitslis- Krista Sager, 50, Fraktionschefin der te“: „Arme Mary, zuerst Grünen im Bundestag, machte dem ehe- wird sie zwangskonvertiert maligen Hamburger Bürgermeister Ortwin (die Presbyterianerin muss- Runde zum 60. Geburtstag ein symbol- te per Verfassung zum lu- therischen Glauben über- treten), dann muss sie un- terschreiben, im Falle einer späteren Ehescheidung auf die gemeinsamen Kinder zu verzichten, und nun speist man sie auch noch mit ei- nem Taschengeld ab.“ Zu- mindest nehmen die Jung-

sozialisten Rücksicht auf PRESS DK / DANA SCANPIX die finanzielle Situation Donaldson der künftigen Dänenköni- gin Mary: Ihre Teilnahme an dem Frauen- kommen war, half ihr Schlauch mit seinem seminar ist kostenlos, und die Fahrtkosten aus, unter vernehmlichem Grummeln.

FRANK OSSENBRINK FRANK will der linke politische Nachwuchs auch Tatsächlich war das mobile Telefon der Runde übernehmen. Grünen in der von der CDU dominierten Landesvertretung Baden-Württembergs schweres Geschenk: einen roten Schal. Rezzo Schlauch, 56, Parlamentarischer geklaut worden, just zu dem Zeitpunkt Runde bedankte sich, offenbar noch hinter Staatsekretär der Grünen im Wirtschafts- als die Grüne während der dort stattfin- der Zeit, für den „guten alten Momper- ministerium, wendet sich gegen jede Form denden Narrenversammlung gemeinsam Schal“. Sager korrigierte: „Mensch Ort- schwarz-grüner Annäherung. Weil seiner mit Christdemokraten als Jodlerin auftrat. win, das ist der Münte-Schal. Der ist jetzt grünen Abgeordneten-Kollegin Petra Selg Schlauch ungehalten: „Was jodelst du auch Kult. Da geben die Jusos echt Geld für vom Bodensee das Handy abhanden ge- mit der CDU?!“ aus.“ Ein später dazugekommener Gra- tulant konnte da sogar noch eins drauf- setzen. Vorgänger im Bürgermeisteramt Henning Voscherau bewunderte Rundes scheinbar pflichtbewusste demonstrative Unterstützung des Müntefering-Kurses: „Hey, Ortwin, am Geburtstag sogar mit Münte-Schal. Du bleibst immer Vorbild. Hochanständig.“

Mary Donaldson, 32, künftige dänische Kronprinzessin, wurde vor ihrer geplanten Hochzeit mit Thronfolger Frederik im Mai

zu einem wenig königlichen Fortbildungs- CINETEXT lehrgang eingeladen. Die Nachwuchsorga- Ryan (Filmszene aus „Harry und Sally“) Hannigan nisation der dänischen Sozialisten will der bürgerlichen Australierin Nachhilfe in Alyson Hannigan, 29, amerikanische Schauspielerin, die in der Fernsehserie Frauenfragen angedeihen lassen. Sie hat „Buffy – Im Bann der Dämonen“ eine lesbische Hexe spielte, bringt jetzt Abend ihr anlässlich des Internationalen Frauen- für Abend im Londoner Theatre Royal den wohl bekanntesten Film-Orgasmus auf kampftages im März einen Platz im dreitä- die Bühne. Sie spielt die Rolle, die einst der Hollywood-Schauspielerin Meg gigen sozialistischen Arbeitnehmerkurs Ryan, 42, in „Harry und Sally“ zu speziellem Ruhm verhalf. Doch den damals „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ in Ko-

182 der spiegel 9/2004 Personalien

Helmut Kohl, 73, Altkanzler, erzählt sei- penhagen reserviert. Anlass ne „Lektionen aus der Geschichte“ – vor für die Einladung der Jung- zahlendem Publikum. Beim „World Busi- sozialisten ist ein Beschluss ness Forum“ in der Alten Oper in Frank- des dänischen Parlaments, furt können die Teilnehmer auch den Er- wonach die Apanage für fahrungen von Rudy Giuliani, Ex-Bürger- Kronprinz Frederik quasi meister von New York, lauschen sowie dem als Hochzeitsgeschenk kräf- einst „besten Manager der Welt“, Jack tig auf 11,4 Millionen Kro- Welch, wegen seiner harten Personalpoli- nen (1,5 Millionen Euro) tik auch „Neutronen-Jack“ genannt. Das jährlich angehoben werden zweitägige Seminar im Oktober kostet stol- soll, während die künftige ze 2400 Euro; wer sich schnell anmeldet, Kronprinzessin sich mit 1,27 bekommt einen Frühbucherrabatt und Millionen Kronen (170 000 muss nur 1800 Euro hinblättern. Der Preis Euro) per Anno bescheiden „selektiert den Personenkreis“, erklärt eine muss. Das empörte auch Veranstaltungssprecherin, man lege Wert die Parlamentsabgeordnete auf ein wirklich hochkarätiges Publikum. Pernille Rosenkrantz-Theil von der linken „Einheitslis- Krista Sager, 50, Fraktionschefin der te“: „Arme Mary, zuerst Grünen im Bundestag, machte dem ehe- wird sie zwangskonvertiert maligen Hamburger Bürgermeister Ortwin (die Presbyterianerin muss- Runde zum 60. Geburtstag ein symbol- te per Verfassung zum lu- therischen Glauben über- treten), dann muss sie un- terschreiben, im Falle einer späteren Ehescheidung auf die gemeinsamen Kinder zu verzichten, und nun speist man sie auch noch mit ei- nem Taschengeld ab.“ Zu- mindest nehmen die Jung-

sozialisten Rücksicht auf PRESS DK / DANA SCANPIX die finanzielle Situation Donaldson der künftigen Dänenköni- gin Mary: Ihre Teilnahme an dem Frauen- kommen war, half ihr Schlauch mit seinem seminar ist kostenlos, und die Fahrtkosten aus, unter vernehmlichem Grummeln.

FRANK OSSENBRINK FRANK will der linke politische Nachwuchs auch Tatsächlich war das mobile Telefon der Runde übernehmen. Grünen in der von der CDU dominierten Landesvertretung Baden-Württembergs schweres Geschenk: einen roten Schal. Rezzo Schlauch, 56, Parlamentarischer geklaut worden, just zu dem Zeitpunkt Runde bedankte sich, offenbar noch hinter Staatsekretär der Grünen im Wirtschafts- als die Grüne während der dort stattfin- der Zeit, für den „guten alten Momper- ministerium, wendet sich gegen jede Form denden Narrenversammlung gemeinsam Schal“. Sager korrigierte: „Mensch Ort- schwarz-grüner Annäherung. Weil seiner mit Christdemokraten als Jodlerin auftrat. win, das ist der Münte-Schal. Der ist jetzt grünen Abgeordneten-Kollegin Petra Selg Schlauch ungehalten: „Was jodelst du auch Kult. Da geben die Jusos echt Geld für vom Bodensee das Handy abhanden ge- mit der CDU?!“ aus.“ Ein später dazugekommener Gra- tulant konnte da sogar noch eins drauf- setzen. Vorgänger im Bürgermeisteramt Henning Voscherau bewunderte Rundes scheinbar pflichtbewusste demonstrative Unterstützung des Müntefering-Kurses: „Hey, Ortwin, am Geburtstag sogar mit Münte-Schal. Du bleibst immer Vorbild. Hochanständig.“

Mary Donaldson, 32, künftige dänische Kronprinzessin, wurde vor ihrer geplanten Hochzeit mit Thronfolger Frederik im Mai

zu einem wenig königlichen Fortbildungs- CINETEXT lehrgang eingeladen. Die Nachwuchsorga- Ryan (Filmszene aus „Harry und Sally“) Hannigan nisation der dänischen Sozialisten will der bürgerlichen Australierin Nachhilfe in Alyson Hannigan, 29, amerikanische Schauspielerin, die in der Fernsehserie Frauenfragen angedeihen lassen. Sie hat „Buffy – Im Bann der Dämonen“ eine lesbische Hexe spielte, bringt jetzt Abend ihr anlässlich des Internationalen Frauen- für Abend im Londoner Theatre Royal den wohl bekanntesten Film-Orgasmus auf kampftages im März einen Platz im dreitä- die Bühne. Sie spielt die Rolle, die einst der Hollywood-Schauspielerin Meg gigen sozialistischen Arbeitnehmerkurs Ryan, 42, in „Harry und Sally“ zu speziellem Ruhm verhalf. Doch den damals „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ in Ko-

182 der spiegel 9/2004 Emil Klein, 48, Leiter des Kammeror- Jan Peter Balkenende, 47, häufig persi- chesters Hamburger Solisten, erlebte bei flierter Ministerpräsident der Niederlande, dem irischen Billigflieger Ryanair eine hat sich einen königlichen Rüffel einge- Premiere. Vor dem Flug von Lübeck in fangen. Balkenende hatte im vergangenen das italienische Bergamo wurde der Cel- Jahr gegen Kabarettisten und Karikaturis- list von der Flughafen-Sicherheit aufge- ten gewettert, denen er die satirischen fordert, die vier Ersatzsaiten seines In- Attacken auf die königliche Familie übel struments, Gesamtpreis rund 150 Euro, nahm. In seinem biederen Ansinnen, künf- aus dem Cellokoffer abzugeben. Stahl- tig auf dergleichen Anschläge zu verzich- saiten von Streichinstrumenten oder Gi- ten, wurde er vom niederländischen Jus- tarren, so die Begründung der schles- tizminister Piet Hein Donner unterstützt, wig-holsteinischen Behörden, gelten der durch die allabendlichen TV-Sati- neuerdings nach einer EU-Richtlinie als ren das „Funktionieren des Staates“ und „waffenähnliche Gegenstände“ und po- das Königshaus gefährdet sah (SPIEGEL tenzielle Angriffswaffen gegen das Flug- 47/2003). Kürzlich aber äußerte sich das personal. Die Instrumente sind zukünf- Staatsoberhaupt, das sonst nie Aussagen

tig als Gepäck aufzugeben, selbst wenn / CORBIS SYGMA BEIRNE BRENDAN von Ministern kommentiert, es sei denn, es Profi-Musiker Klein einen eigenen Sitz Madonna beim Tontaubenschießen befindet sich im Ausland. Auf Besuch in für sein wertvolles Cello gebucht hatte. Thailand, sagte Königin Beatrix vor Jour- Nur: Weitere 50 gebrauchte Saiten in sich schon mal im Tontaubenschießen übt, nalisten, dass sie sich über die zweifelhaf- Kleins Notenrucksack übersah das Sicher- dass Jäger ihren Besitz durchstöbern auf te politische Hilfe ihres Regierungschefs heitspersonal auf dem Regionalflughafen. der Pirsch nach Fasan und Birkhuhn. Nur geärgert habe. Königin Beatrix: „Ich habe Eine Sprecherin von Ryanair in Irland: „Si- vermögend müssen die Jagdgenossen sein. überhaupt nichts gegen Satire.“ Das nie- cherheit geht vor.“ Angeblich bis zu 14000 Euro zahlen be- derländische Königshaus ist also gar nicht tuchte Waidmänner pro Jagdtag auf Ma- so humorlos, wie Balkenende und sein Madonna, 45, alternde Pop-Queen, mag donnas Landgut Ashcombe House. Bei ei- Justizminister vermuten ließen. auf ihrem Besitz keine Wanderer dulden. ner solchen Veranstaltung dür- Die Naturanhängerin bewohnt mit Ehe- fen sie dann aber auch bis zu mann Guy Ritchie im malerischen Wilt- 300 Vögel abknallen. Was die shire ein Landgut mit umgerechnet rund Tierschützer schwer verärgert 500 Hektar. Doch durch Wanderer fühlt hat, erfreut die Einheimischen sie ihr stilles Glück im Winkel bedroht. Da- des benachbarten Dorfes. Denn her beklagte sie in einem Schreiben an Pre- die Jäger zechen und nächtigen mier Tony Blair die neuere Gesetzgebung, in den lokalen Gasthöfen und in der so ziemlich alle größeren Länderei- lassen viel Geld im Dorf. en Großbritanniens geöffnet wurden für das lustwandelnde Publikum. Prompt er- Angela Merkel, 49, CDU-Vor- hielt sie im vergangenen Jahr von den zu- sitzende, bewegte sich bei ihrem ständigen Behörden die Zusage, dass we- Besuch in Ankara am vergan- nigstens sieben Hektar ihres Landes von genen Montag möglicherweise Wandererstiefeln verschont bleiben sollen. auf gefährlichem Grund. Auf Das ist ihr nicht genug. So wird nun in ei- dem Weg zum Abendessen ner öffentlichen Untersuchung der Streit führte der türkische Minister- entschieden. Ende März soll das Urteil fal- präsident Tayyip Erdogan die Jim Caviezel, 35, ameri- len. Nichts dagegen hat die Sängerin, die Christdemokratin über eine im kanischer Schauspieler, der Boden eingelassene Glasplat- in Mel Gibsons „Das Lei- te, unter der Wasser bläulich den Christi“ den Jesus schimmerte. Ob darunter ein spielt, hatte, verständli- Swimmingpool sei, den man bei cherweise, nicht viel Freu- Bedarf öffnen könne, wollte die de daran, am Kreuz zu CDU-Frau wissen. „Nein, es hängen. Es sei sehr „unbe- handelt sich um ein Aquarium“, quem“ gewesen dort oben, antwortete Erdogan. „Mit Zier- „sehr windig, ich wurde fischen oder mit Raubfischen?“, fast weggeblasen“. Bei al- fragte Merkel. Der türkische ler pragmatischen Wahr- Premier aber schwieg und nehmung der Szene, Ka- lächelte vielsagend. „Vielleicht tholik Caviezel hat durch wollte er den Eindruck er- das Jesus-Spiel ein offenbar

FOTOS: BAKER-BRIDGER / MATRIX / STARFACE / MATRIX BAKER-BRIDGER FOTOS: wecken, er könne jederzeit eine tiefes Glaubenserlebnis ge- Klappe öffnen, um sich seiner habt: „Ich liebe Jesus seit- vorgetäuschten Höhepunkt hat Meg Gesprächspartner zu entledi- dem mehr, als ich je für Ryan offenbar nicht besonders genos- gen“, scherzte ein Delegations- möglich hielt. Ich liebe ihn sen. „Mir tut Alyson Hannigan Leid“, mitglied. Doch Merkel blieb mehr als meine Frau, als sagt sie, „jeden Abend diesen Orgas- hart: Auf das erwünschte Ja der meine Familie.“ mus spielen zu müssen. Beten Sie für CDU-Chefin zum türkischen ihr Sexleben.“ EU-Beitritt wartete Erdogan Jesus-Darsteller Caviezel

vergebens. ICON DISTRIBUTION

der spiegel 9/2004 183 Emil Klein, 48, Leiter des Kammeror- Jan Peter Balkenende, 47, häufig persi- chesters Hamburger Solisten, erlebte bei flierter Ministerpräsident der Niederlande, dem irischen Billigflieger Ryanair eine hat sich einen königlichen Rüffel einge- Premiere. Vor dem Flug von Lübeck in fangen. Balkenende hatte im vergangenen das italienische Bergamo wurde der Cel- Jahr gegen Kabarettisten und Karikaturis- list von der Flughafen-Sicherheit aufge- ten gewettert, denen er die satirischen fordert, die vier Ersatzsaiten seines In- Attacken auf die königliche Familie übel struments, Gesamtpreis rund 150 Euro, nahm. In seinem biederen Ansinnen, künf- aus dem Cellokoffer abzugeben. Stahl- tig auf dergleichen Anschläge zu verzich- saiten von Streichinstrumenten oder Gi- ten, wurde er vom niederländischen Jus- tarren, so die Begründung der schles- tizminister Piet Hein Donner unterstützt, wig-holsteinischen Behörden, gelten der durch die allabendlichen TV-Sati- neuerdings nach einer EU-Richtlinie als ren das „Funktionieren des Staates“ und „waffenähnliche Gegenstände“ und po- das Königshaus gefährdet sah (SPIEGEL tenzielle Angriffswaffen gegen das Flug- 47/2003). Kürzlich aber äußerte sich das personal. Die Instrumente sind zukünf- Staatsoberhaupt, das sonst nie Aussagen

tig als Gepäck aufzugeben, selbst wenn / CORBIS SYGMA BEIRNE BRENDAN von Ministern kommentiert, es sei denn, es Profi-Musiker Klein einen eigenen Sitz Madonna beim Tontaubenschießen befindet sich im Ausland. Auf Besuch in für sein wertvolles Cello gebucht hatte. Thailand, sagte Königin Beatrix vor Jour- Nur: Weitere 50 gebrauchte Saiten in sich schon mal im Tontaubenschießen übt, nalisten, dass sie sich über die zweifelhaf- Kleins Notenrucksack übersah das Sicher- dass Jäger ihren Besitz durchstöbern auf te politische Hilfe ihres Regierungschefs heitspersonal auf dem Regionalflughafen. der Pirsch nach Fasan und Birkhuhn. Nur geärgert habe. Königin Beatrix: „Ich habe Eine Sprecherin von Ryanair in Irland: „Si- vermögend müssen die Jagdgenossen sein. überhaupt nichts gegen Satire.“ Das nie- cherheit geht vor.“ Angeblich bis zu 14000 Euro zahlen be- derländische Königshaus ist also gar nicht tuchte Waidmänner pro Jagdtag auf Ma- so humorlos, wie Balkenende und sein Madonna, 45, alternde Pop-Queen, mag donnas Landgut Ashcombe House. Bei ei- Justizminister vermuten ließen. auf ihrem Besitz keine Wanderer dulden. ner solchen Veranstaltung dür- Die Naturanhängerin bewohnt mit Ehe- fen sie dann aber auch bis zu mann Guy Ritchie im malerischen Wilt- 300 Vögel abknallen. Was die shire ein Landgut mit umgerechnet rund Tierschützer schwer verärgert 500 Hektar. Doch durch Wanderer fühlt hat, erfreut die Einheimischen sie ihr stilles Glück im Winkel bedroht. Da- des benachbarten Dorfes. Denn her beklagte sie in einem Schreiben an Pre- die Jäger zechen und nächtigen mier Tony Blair die neuere Gesetzgebung, in den lokalen Gasthöfen und in der so ziemlich alle größeren Länderei- lassen viel Geld im Dorf. en Großbritanniens geöffnet wurden für das lustwandelnde Publikum. Prompt er- Angela Merkel, 49, CDU-Vor- hielt sie im vergangenen Jahr von den zu- sitzende, bewegte sich bei ihrem ständigen Behörden die Zusage, dass we- Besuch in Ankara am vergan- nigstens sieben Hektar ihres Landes von genen Montag möglicherweise Wandererstiefeln verschont bleiben sollen. auf gefährlichem Grund. Auf Das ist ihr nicht genug. So wird nun in ei- dem Weg zum Abendessen ner öffentlichen Untersuchung der Streit führte der türkische Minister- entschieden. Ende März soll das Urteil fal- präsident Tayyip Erdogan die Jim Caviezel, 35, ameri- len. Nichts dagegen hat die Sängerin, die Christdemokratin über eine im kanischer Schauspieler, der Boden eingelassene Glasplat- in Mel Gibsons „Das Lei- te, unter der Wasser bläulich den Christi“ den Jesus schimmerte. Ob darunter ein spielt, hatte, verständli- Swimmingpool sei, den man bei cherweise, nicht viel Freu- Bedarf öffnen könne, wollte die de daran, am Kreuz zu CDU-Frau wissen. „Nein, es hängen. Es sei sehr „unbe- handelt sich um ein Aquarium“, quem“ gewesen dort oben, antwortete Erdogan. „Mit Zier- „sehr windig, ich wurde fischen oder mit Raubfischen?“, fast weggeblasen“. Bei al- fragte Merkel. Der türkische ler pragmatischen Wahr- Premier aber schwieg und nehmung der Szene, Ka- lächelte vielsagend. „Vielleicht tholik Caviezel hat durch wollte er den Eindruck er- das Jesus-Spiel ein offenbar

FOTOS: BAKER-BRIDGER / MATRIX / STARFACE / MATRIX BAKER-BRIDGER FOTOS: wecken, er könne jederzeit eine tiefes Glaubenserlebnis ge- Klappe öffnen, um sich seiner habt: „Ich liebe Jesus seit- vorgetäuschten Höhepunkt hat Meg Gesprächspartner zu entledi- dem mehr, als ich je für Ryan offenbar nicht besonders genos- gen“, scherzte ein Delegations- möglich hielt. Ich liebe ihn sen. „Mir tut Alyson Hannigan Leid“, mitglied. Doch Merkel blieb mehr als meine Frau, als sagt sie, „jeden Abend diesen Orgas- hart: Auf das erwünschte Ja der meine Familie.“ mus spielen zu müssen. Beten Sie für CDU-Chefin zum türkischen ihr Sexleben.“ EU-Beitritt wartete Erdogan Jesus-Darsteller Caviezel

vergebens. ICON DISTRIBUTION

der spiegel 9/2004 183 Hohlspiegel Rückspiegel Aus den „Stuttgarter Nachrichten“: „Was Zitate die zehn Finger einer Hand alles können, lässt sich nicht an einer Hand abzählen.“ Der Branchendienst „medien aktuell“ über die Position des SPIEGEL im deutschen Zeitschriften- markt unter der Überschrift „SPIEGEL bleibt unangefochten“:

1214 Top-Entscheider aus Industrie, Me- dien und Werbung haben gewählt: Der SPIEGEL steht unangefochten an der Aus der Magdeburger „Volksstimme“ „Top 100“-Spitze der besten Zeitschrif- ten. Zum fünften Mal in Folge behaupte- te er damit seine Führungsposition. Auf Kolumnist Mainhardt Graf Nayhauß in der Platz 2 landete das Hamburger Wirt- „Bild“-Zeitung über den Konflikt zwischen schaftsmagazin „Brand Eins“, gefolgt vom dem CSU-Abgeordneten Glos und den Reportagemagazin „Mare“ und dem „SZ- Grünen-Politikern Fischer und Trittin: Magazin“. „,Sollen sie doch klagen‘, sagte der in brei- tem Fränkisch mit rollendem ,R‘.“ Die „Welt“ zum SPIEGEL-Gespräch mit dem Hamburger Weihbischof Hans-Jochen Jaschke über heimliche Priesterkinder und den Zölibat „,Wir kontrollieren nicht die Betten‘“ (Nr. 8/2004):

Für Hamburgs Weihbischof Hans-Jochen Jaschke (62) gehören Auftritte auf öffent- lichem Parkett zum Alltagsgeschäft. Doch das jüngste SPIEGEL-lnterview bedeute- Aus den „Schleswiger Nachrichten“ te für den katholischen Kirchenmann eine besondere Herausforderung, sollte er sich doch – so die Anfrage des Hamburger Aus der „Saarbrücker Zeitung“: „Warum Nachrichtenmagazins – zu einem Tabu- aber ist jedes vierte Jahr ein Schaltjahr mit Thema äußern: die heimlichen Kinder 366 Tagen? Ganz einfach: Es hat mit dem katholischer Priester in Deutschland. Bun- Lauf der Sonne um die Erde zu tun. Die desweit löste das dreiseitige SPIEGEL- Sonne hat es nämlich ein kleines bisschen Gespräch großes Interesse aus: Bei der eiliger mit ihren Umdrehungen als die Wochenzeitung „Rheinischer Merkur“ in Erde, und so hinkt die Erde pro Jahr der Bonn war es am Montag ausführliches Sonne um einen Vierteltag hinterher.“ Thema in der morgendlichen Redaktions- konferenz, auch die Katholische Presse- agentur KNA brachte eine ausführliche Meldung darüber. Das Resümee des Ham- burger KNA-Korrespondenten Bernd Buchner lautet so: „Das ist ein mutiges Interview.“

Aus der „Allgemeinen Zeitung“ Coesfeld Die „Zeit“ zum SPIEGEL-Titel „Das Projekt Aufklärung. ,Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir‘. 200 Jahre nach Kant“ (Nr. 1/2004):

Auf die unvergessliche SPIEGEL-Titelge- schichte über Immanuel Kant gab es we- Anzeige in der „Leipziger Volkszeitung“ nigstens eine bemerkenswerte Reaktion: Man solle, so ein Leserbrief, Kant nicht feiern – er habe doch zu Hegel und Marx Aus der „Fragestunde des Gemeinderates“ geführt. Was soll man darauf antworten? Baiersbronn im „Murgtalboten“: „Ge- Man könnte zum Beispiel einen Satz sa- meinderat Schray berichtet, dass der Re- gen, in dem sich Idealismus und Zynis- gio-Zug der Deutschen Bahn jeweils um 16 mus charakteristisch vermischen: Wer Uhr, 18 Uhr und 20 Uhr im Bahnhofsbe- Großes denkt, der irrt auch groß! Aber reich Schönmünzach mit ‚80 Sachen durch- das hieße doch, mit dem Leserbrief- rasen‘ würde, obwohl im Bahnhofsbereich schreiber zu glauben, das Wesentliche an höchstens 30 für die Schienenfahrzeuge Kants Schriften sei nicht die Frage, was an zulässig seien. Die Reisenden hätten kaum ihnen selbst dran sei, sondern die, wozu Chancen, ein- und auszusteigen.“ sie „geführt“ hätten.

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