In der Schusslinie Die Fotografin Lynsey Addario ist eine der wenigen Frauen, die aus Kriegsgebieten berichten. Die Pulitzerpreisträgerin hat mehrmals dem Tod ins Auge geblickt und dennoch nie daran gedacht, ihren Beruf aufzugeben. Von Virginia Nolan

«Du solltest nach gehen und die Lynsey Addario unterdrückt ein Gähnen, als Schau stellen. Etwa in der Koketterie mit dem Frauen fotografieren, die unter den le- sie sich im Sitzungszimmer ihres Berliner Ver- Tod, die sich auch in Addarios Buch findet. «Ich ben», hatte ihr Mitbewohner Ed gesagt, und sie lags auf einen Sessel fallen lässt. Sie ist zierlich, ignorierte ein Schild, das auf ein Terrain voller war seinem Rat gefolgt. Lynsey Addario ist 26 trägt Modeschmuck und hat akkurat mani- Landminen hinwies», schreibt sie und berichtet Jahre alt, als sie in Afghanistan ankommt. Sie kürte Nägel. Banalitäten wie diese fallen auf, dann in fröhlichem Tonfall, wie sie besagten fotografiert verschleierte Frauen auf rostigen Berg hochkraxelt, um ein besseres Bild zu krie- Krankenbetten und Menschen in Trümmern, Hollywood hat sich die Rechte an gen. Ebenso wird aus ihren Schilderungen deut- trifft selbstbewusste Städterinnen, die früher, der Story gesichert, die von Steven lich, dass auch abseits der Schlachtfelder ein vor den Taliban, Ministerinnen gewesen waren. Kampf tobt – unter Journalisten, die um den Die Frauen winken die Amerikanerin in ihre Spielberg verfilmt werden soll. Platz auf den Titelseiten konkurrieren. «Die Häuser, reichen ihr Tee. Sie ziehen die Kopfteile Times-Korrespondenten lieferten sich einen er- ihrer Burkas zurück, bis ihre blauen Augen weil sie nicht zu den Vorstellungen einer Frau bitterten Wettbewerb mit den Berichterstattern zum Vorschein kommen. Im Flur stehen, wie passen, die sich auf den Schlachtfeldern dieser anderer Zeitungen», schreibt Addario, «aber zur Erinnerung an vergangene Zeiten, ihre Welt herumtreibt. Sie freue sich auf den Abend noch brutaler war der interne Kampf.» Lacklederpumps. Addario gelingen intime Auf- mit ihrem kleinen Sohn, sagt sie. Addario ist nahmen eines unter Verschluss gehaltenen Vol- mit dem britischen Journalisten Paul de Ben- Teekränzchen mit den Taliban kes. Dennoch findet sie damit nur wenige Ab- dern verheiratet, zwei Tage wird sie zu Hause Zwischen Helfer- und Geltungsdrang liegt ein nehmer. Im Jahr 2000 interessiert sich noch in London verbringen, bevor sie in den Sudan schmaler Grat. Geht es Addario, Hand aufs kaum jemand für Afghanistan. aufbricht. Herz, nicht auch ein Stück weit um Selbstdar- Das Folgejahr bringt die Wende. Am 11. Sep- Das Leid, dem sie in ihrem Beruf begegne, tra- stellung? «Bullshit», sagt sie, ohne dabei einen tember stürzen in New York die Zwillingstür- ge sich mit sich herum wie einen Rucksack, er- gehässigen Ton anzuschlagen. «Ich brauche me ein. Von nun an ist immerzu von Afgha- klärt Addario. «Darin sammle ich die Geschich- keinen Krieg, um meinem Leben Sinn zu ge- nistan die Rede, wo die US-Regierung die ten von Menschen, und es ist mein Job, ihnen ben. Ich habe eine Familie.» Sie interessiere Wiege des Terrorismus vermutet. Addario bie- Gehör zu verschaffen.» Es gehe darum, uns nur eins: «Dass die unauslöschlichen Bilder tet ihrer Bildagentur an, hinzufliegen. Sie ist wachzurütteln für die Missstände in dieser des Krieges auf die Titelseiten unserer Zeitun- jung und unerfahren, gehört aber zugleich zu Welt, das sagen viele Kriegsberichterstatter, gen kommen. Politiker sollen sehen, wohin ih- den wenigen, die jemals unter den Taliban ge- wenn sie danach gefragt werden, was sie an- re Entscheidungen führen.» Wenn Unrecht arbeitet haben. treibt, für die Arbeit ihr Leben aufs Spiel zu set- geschehe, würden Machthaber immer versu- zen. Das trägt ihnen nicht nur Bewunderung chen, es zu vertuschen. «Darum ist es wichtig, Erbitterter Wettbewerb ein, gerade dann, wenn sie ihre edlen Motive zur dass jemand alles dokumentiert.» «Ich wollte nicht Kriegsreporterin werden», sagt Addario über den Beruf, für den sie heute gefeiert wird. Ihre Arbeit wurde mehrfach prä- miert, auch mit dem Pulitzerpreis, der höchs- ten journalistischen Auszeichnung über- haupt. Keinen der Konflikte, die sich in den vergangenen fünfzehn Jahren im Nahen Os- ten zugetragen haben, hat Addario verpasst. Sie dokumentierte die Herrschaft der Taliban in Afghanistan, die Invasion der USA im Irak, den Sturz Gaddafis in Libyen, menschliches Leid im syrischen Bürgerkrieg. Die 42-Jährige überlebte manchen Kugel- hagel, sie hat Freunde verloren, Menschen sterben sehen. In Libyen wurde sie in einen Kerker geworfen und misshandelt. «Warum macht ein Mensch so etwas freiwillig durch?» Diese Frage hört sie nun schon ihr halbes Le- ben lang. In ihrer Autobiografie gibt die Kriegsfotografin Antwort darauf. «It’s What I Do», heisst das Buch im Originaltitel. Holly- wood hat sich die Rechte an der Story gesi- chert, die von mit Oscarpreis- trägerin in der Hauptrolle verfilmt worden ist. «Ich brauche keinen Krieg, um meinem Leben Sinn zu geben»: Fotografin Lynsey Addario in Uganda.

52 Weltwoche Nr. 23.16 Bild: Nicki Sobecki Schmaler Grat: amerikanische Soldaten bergen einen getöteten Kollegen afghanischen Korengal-Tal, 2007.

Fotografen, sagt Addario, stünden ohnehin nie len. Dann habe sich der Kommandeur an sie ge- Momenten habe sie nicht darüber nachge- so im Mittelpunkt wie Journalisten, weder wandt. «Madame», habe er gesagt, «die Männer dacht, ihren Beruf an den Nagel zu hängen. beim Leser noch bei den Mittelsmännern, mit sind besorgt, dass Sie durch den Schleier den Tee «Aber ich wusste», sagt sie, «dass die Zeit ge- denen man im Krisengebiet verhandle. Im nicht trinken können.» Er habe ihr vorgeschla- kommen war, ein eigenes Leben aufzubauen, Kriegseinsatz stehe meist der Autor im Zent- gen, sich mit dem Rücken zu den Männern in statt nur das der anderen zu dokumentieren. rum des Interesses – aber eben auch unter Beob- eine Ecke zu stellen, den Schleier hochzuheben Nach all den Jahren, in denen ich mit dem Ge- achtung. «Ich bin bloss sein Anhängsel», sagt und so den Tee zu trinken. «Sie bestanden dar- danken gerungen hatte, betete ich jetzt um die Addario, «das erweitert meinen Spielraum.» auf, dass ich austrinke», lacht Addario, «erst Chance, mit Paul eine Familie zu gründen.» Unterschätzt zu werden, sei ein Trumpf. «Dar- dann konnten sie beruhigt weitermachen.» Vor vier Jahren wurde ihr Sohn Lukas gebo- um arbeite ich so gerne in der arabischen Welt. ren. Die Zeiten, in denen Addario als embedded Männer nehmen mich nicht wirklich ernst. Da- In der Gewalt von Gaddafis Schergen journalist Truppen bei Kriegseinsätzen beglei- durch kann ich mich freier bewegen.» Vielleicht «Wenn wir das überleben, werde ich in neun tete, sind vorbei. Statt ins Gefecht zu ziehen, verdanke sie ihrem Frausein auch das Glück, Monaten richtig fett sein.» Dieses Versprechen beleuchtet sie die humanitären Aspekte von noch am Leben zu sein. gab Lynsey Addario im März 2011 ihren Kolle- Kriegen und anderen Krisen. Ob sie sich je an Für ihre Bilderreihe «Talibanistan», die mit gen von der New York Times, mit denen sie die die Front zurückgewünscht habe? «Nein», dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde, foto- Zelle in einem libyschen Kerker teilte. Die vier sagt sie entschieden. «Die Leute wollen immer grafierte Addario Taliban-Kämpfer im Haus des Journalisten waren zusammen in Bengasi un- wissen, ob es mir um den Adrenalinkick ging», ranghohen Kommandeurs Hadschi Namdar. terwegs gewesen, um über die libysche Revo- sagt sie. «Was für eine bescheuerte Frage. Die Ein amerikanischer Journalist führte das Inter- lution zu berichten, als sie von Gaddafis Solda- Wahrheit ist, dass ich mich jeweils schon bei view, der Dolmetscher gab Addario als dessen ten gefangengenommen und verschleppt der ersten Kugel auf den Boden warf und mir Frau aus. Die Erinnerung lässt Addario schmun- wurden. Die Soldaten fesselten Hände und fast in die Hosen machte. Oft vergass ich vor zeln. «Meine Frau hat übrigens eine Kamera da- Füsse ihrer Opfer, traktierten sie mit Waffen lauter Angst, Fotos zu schiessen.» bei», habe ihr Kollege beiläufig gesagt, «kann und Faustschlägen, liessen sie stundenlang im sie ein paar Bilder machen?» Zum Erstaunen al- Auto liegen, während rundum Artilleriege- ler habe der Kommandeur eingewilligt. So habe schosse einschlugen. Dann folgten sechs Tage sie versucht, möglichst unprofessionell zu wir- Gefangenschaft, die ständige Angst vor Hin- Lynsey Addario ken, und begonnen, durch den schmalen Spalt richtung und Vergewaltigung, schliesslich die Jeder Moment ist Ewigkeit. Als Fotojournalistin in den ihres Schleiers Fotos zu schiessen. Irgendwann Freilassung auf Insistieren der US-Regierung. Krisengebieten der Welt. Ullstein, 2016. seien die Männer in hektisches Geflüster verfal- Nein, sagt Addario, selbst in diesen dunklen 368 S., Fr. 36.90

Weltwoche Nr. 23.16 53 Bilde: Lynsey Addario (Getty Reportagen)