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Sendung vom 26.4.2011, 20.15 Uhr

Peer Steinbrück Bundesminister a.D. im Gespräch mit Werner Reuß

Reuß: Verehrte Zuschauer, ganz herzlich willkommen zum alpha-Forum, heute aus Berlin. Unser Gast ist Peer Steinbrück, Mitglied des Deutschen Bundestags. Er war u. a. Wirtschaftsminister in Schleswig-Holstein, Wirtschafts-, dann Finanzminister und schließlich Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen und endlich in der Zeit der Großen Koalition von 2005 bis 2009 Bundesfinanzminister. Ich freue mich, dass er hier ist, ganz herzlich willkommen, Herr Steinbrück. Steinbrück: Guten Tag, Herr Reuß. Reuß: Es gab Zeiten, da hat man Sie täglich in den Nachrichten gesehen – nicht immer mit angenehmen Nachrichten. Sie standen ganz vorne an der Rampe in der Politik, wenn ich das so sagen darf. Heute sind Sie immer noch Mitglied des Bundestages, aber nicht mehr so ganz an der Front. War dieser Umstieg schwer, wenn man so lange in führenden Ämtern war wie Sie? Steinbrück: Die erstaunliche Antwort lautet: nein, denn man gewinnt Lebensqualität und Zeitsouveränität zurück. Ich habe das Wort "nein" wieder gelernt, ich kann aussuchen, ich kann mir meine Terminpläne eigenständig und viel souveräner zusammenstellen. Im Übrigen habe ich das ja schon mal trainiert: Nach der verlorenen Landtagswahl 2005 war die Situation ganz ähnlich. Ich habe damals übrigens das Buch eines Kollegen von Ihnen gelesen, nämlich das Buch "Der Höhenrausch" von Jürgen Leinemann. Es beschäftigte sich mehr oder weniger mit der Frage, ob es bei Politikern Suchtgefahren gibt, wenn sie den Prozess durchmachen, den Sie gerade geschildert haben. Ich habe dann mit meinem Rasierspiegel gesprochen, weil ich den nicht belügen kann, und habe dem gesagt, ich sei nicht süchtig. Daraufhin meinte er nur: "Das sagen alle Süchtigen!" Aber dann haben wir gemeinsam festgestellt: Ich bin wirklich nicht süchtig. Reuß: Worin besteht denn diese Suchtgefahr? Johannes Rau hat mal so schön gesagt: "Es ist mit der Politik wie mit Erdnüssen. Man will eine haben, dann fängt man an zu naschen und hört nicht mehr auf, bis die Schale leer ist." Sie haben es ja schon gesagt: Leinemann hat die Politik als Droge beschrieben. Und auch Peter Struck hat einmal gesagt: "Politik ist eine Droge. Wer etwas anderes behauptet, lügt." Woran liegt das? Ist es die Aufmerksamkeit, die man genießt? Sind es die Insignien der Macht? Worin liegt hier die Gefahr? Steinbrück: Das mit den Erdnüssen stimmt, diesbezüglich gebe ich Johannes Rau völlig recht. Ich kann allerdings den Vergleich nicht so ganz nachvollziehen. Es ist jedenfalls kein geldwerter Vorteil, den man in der Politik erwirbt. Es hat etwas damit zu tun, dass man eine glänzende Infrastruktur hat, dass einem vieles abgenommen wird. Man steigt ins Auto ein und wird dort abgeliefert, wo man hin muss. Das heißt, damit sind eine Reihe von Attributen verbunden, die sehr vorteilhaft sind, um sich das Leben besser einrichten zu können. Ob es die Macht ist, weiß ich nicht. Im Übrigen glaube ich, dass in Deutschland der Begriff "Macht" viel zu negativ besetzt ist. Wenn Macht mit Gestaltungswille gleichgesetzt wird und dieser Gestaltungswille in einem demokratisch-parlamentarisch verfassten System auf Zeit verliehen wird, dann kann ich an Macht nichts Negatives finden. Reuß: Sie haben jedenfalls die Zeit prima genutzt, wie ich finde, denn Sie haben ein sehr interessantes Buch geschrieben: "Unterm Strich." Das ist keine klassische Autobiografie und aus voyeuristischen Gründen mag man beklagen, dass sich darin nur wenig Klatsch und Tratsch findet. Aber es findet sich darin eine sehr spannende Analyse der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen Entwicklungen. Und Sie schreiben von einer ganz bestimmten, nicht unerheblichen Gefahr: Es geht Ihnen um die Offenlegung von so mancher Selbsttäuschung, "die die Wahrscheinlichkeit vergrößert, dass wir auf der Leiter der Wohlstandsregionen absteigen". Wenn man Ihr Buch liest, dann hat man den Eindruck, wir sind schon mittendrin in diesem Abstieg. Kann denn dieser Abstieg überhaupt noch aufgehalten werden? Steinbrück: Ja, wenn wir uns anstrengen. Aber das bedeutet, dass die Politiker den Menschen gelegentlich auch sagen müssen: "Wir müssen uns anstrengen! Ich habe keine Entlastungen parat für euch, um die Gunst eines Nachmittags, einer Fernsehsendung, einer Talkshow, um die Zuhörerinnen und Zuhörer bzw. Zuschauerinnen und Zuschauer zu gewinnen." Stattdessen kann ich nur sagen: Wir werden uns anstrengen müssen. Um uns herum sind außerhalb Europas viele Länder, die sehr ehrgeizig sind und die in die Sitzmöbel hineinkommen wollen, in denen wir heute noch sitzen. Sie sind schnell, sie sind gut, sie sind längst nicht mehr nur im Billigsektor unterwegs, sondern inzwischen selbst auch in der Hochtechnologie und wollen jedenfalls dorthin, wo wir sind. Die Vorstellung, wir könnten unser Wohlstandsniveau halten und wir könnten dieses wichtige Kulturgut namens "Sozialstaat" weiterhin finanzieren, ohne dass wir uns anstrengen, wäre ein Fehler. Die Politiker müssen also den Menschen sagen: "Wir müssen uns anstrengen." Reuß: Sie haben in Ihrem Buch einen Begriff übernommen, eine Zusammensetzung aus zwei verschiedenen Begriffen: "Chimerica", zusammengesetzt aus "China" und "Amerika", von einem britischen Historiker geprägt. Die USA und China sind beide Global Player, die aufeinander angewiesen sind und fast ein reziprokes Verhältnis zueinander haben. Welche Rolle wird da künftig Europa spielen können? Steinbrück: Diese Frage ist offen. Die Frage ist offen, ob das atlantisch-europäische Weltbild – das im Grunde genommen ja maßgeblich ist seit der Entdeckung Amerikas und seit 400, 500 Jahren eigentlich die Welt bestimmt hat – abgelöst wird durch ein eher pazifisch-asiatisches Gebilde, in denen die dynamischen Regionen dieser Welt tätig sind und wo auch im Wesentlichen die künftige Politik gemacht wird. Das ist sehr stark abhängig vom Verhältnis zwischen den USA und China, die in der Tat in einer Art symbiotischer Beziehung zueinander stehen. Die Chinesen brauchen die USA als Exportland, als Land, in das sie ihre Produkte liefern können. Die Chinesen haben in den USA sehr, sehr viel Geld angelegt: Ich vermute mal, die Chinesen haben in den letzten Jahren in den USA an die zwei Billionen US-Dollar angelegt in Form von Staatsanleihen, Unternehmensanleihen, Unternehmensbeteiligungen. Und die Amerikaner brauchen dieses chinesische Engagement, damit ihre ungeheuren Defizite abgedeckt werden. Ich will damit sagen: China investiert in den Dollar und deckt damit die Defizite, die dieser Turbokapitalist des 21. Jahrhunderts macht, nämlich die USA. Dieser Turbokapitalist befindet sich heute in einer Zweckehe mit einem staatskapitalistischen Gebilde, das immer noch einen kommunistischen Überbau hat. Reuß: Sie haben in Ihrem Buch in Anlehnung an den schönen Film "Denn sie wissen nicht, was sie tun" – mit James Dean – geschrieben: "Denn sie tun nicht, was sie wissen!" Sie werfen das nicht nur der politischen Klasse, sondern eigentlich uns allen so ein bisschen vor. Woran liegt das? Wollen wir nicht? Können wir nicht? Wissen wir nicht, was zu tun ist? Oder ist der Glaube, dass Transferleistungen alles sind, immer noch tief verankert in uns? Steinbrück: Nein, wir reagieren einfach allzu menschlich und wollen den bequemen Weg haben. Und wir sind in weiten Teilen nicht konfliktbereit: Es wird aber darauf ankommen, dass man gelegentlich Konflikte durchsteht – übrigens auch Verteilungskonflikte. Das tun wir aber nicht. Die Politik will natürlich eher die Gunst, die Zustimmung des Wählerpublikums und sagt daher meiner Meinung nach den Menschen immer nur unzureichend das, was eigentlich ansteht. Da gilt zu häufig das Motto: "Ich möchte die Beete der Empfindlichkeiten der Wählerinnen und Wähler nicht betreten." Meine Wahrnehmung ist jedoch, dass es inzwischen viele Wählerinnen und Wähler durchaus akzeptieren würden, wenn man ihnen die ganze Wahrheit ausleuchtet, und zwar auch auf die Gefahr hin, dass sie sie nicht gut finden. Reuß: Sie haben in Ihrem Buch geschrieben, dass unser Land vor allem drei Dinge braucht: Bildung, Bildung und Bildung. Auf Ihrer Homepage konnte ich lesen: "Bildung ist der Schlüssel für die Zukunft unseres Landes und für den Zusammenhalt der Gesellschaft." Da wir unser Gespräch ja in einem Bildungskanal führen, würde ich Sie gerne fragen, welche Art von Bildung Sie meinen. Nur die klassische Aus-, Fort- und Weiterbildung? Oder geht es auch um Menschenbildung, um Empathie? Steinbrück: Nein, ich meine das zunächst einmal buchstäblich bezogen auf die ganz "normale" Bildung: von der Kinderbetreuung über die Kindertagesstätten, die allgemeinbildenden Schulen, die berufliche Bildung, die akademische Bildung bis zur Qualifizierung und Weiterbildung von Erwachsenen – dies vor allem auch im Hinblick auf den demografischen Druck, im Hinblick auf einen deswegen drohenden Facharbeitermangel. Dieser gesamte Sektor muss meiner Meinung nach im Mittelpunkt stehen. Wie entwickelt sich die Produktivität, die Innovationsfähigkeit einer Gesellschaft, die älter wird? Wie ist es um die Neugier einer Gesellschaft bestellt, in der eines Tages meine Alterskohorte zahlreicher ist als die diejenige meiner Kinder? Wie ist es um die Integration bestellt, wie um die Gleichstellung von Mann und Frau? All diese Fragen sind in meinen Augen im Wesentlichen abhängig davon, dass wir mehr Geld ins Bildungssystem stecken. Insofern finde ich z. B. auch alle Beiträge ziemlich sträflich, die den Menschen Sand in die Augen streuen nach dem Motto "wir können euch sogar noch große Steuererleichterungen versprechen". Und das, obwohl wir doch wissen, dass die Bildung in Deutschland um ungefähr 20 bis 25 Milliarden unterfinanziert ist. Reuß: Sie haben auch gesagt, die Wähler erwarten von den Gewählten alles und halten von ihnen nichts. In Ihrem Buch schreiben Sie: "Die Herausforderungen für die Politik steigen. Das Vertrauen vieler Menschen in die Politik nimmt hingegen ab." Und Sie haben gesagt: "Politiker werden oft als Idioten dargestellt, die nichts auf die Reihe kriegen." Ist der Ruf der Politiker schlechter als ihr Können? Woran liegt denn dieser schlechte Ruf? Steinbrück: Das liegt schon auch an den Politikern selbst, keine Frage. Das liegt z. T. an unserer Kommunikation, unseren Ritualen und auch an unserer Sprache, denn Sie müssen ja nur einmal an solche Politikersätze denken wie: "Eine gute Voraussetzung ist die beste Basis für ein solides Fundament." Das sind Sätze, die überhaupt nichts aussagen. Es liegt an diesem Lagerfeuerpalaver, an diesen ewigen Talkshows, die eigentlich immer ziemlich folgenlos bleiben usw. Das alles prägt das Bild der Politiker. Umgekehrt mache ich allerdings auch die Erfahrung, dass die Medien – es tut mir leid, hier jetzt Ihre Branche ein wenig kritisieren zu müssen – an der Personalisierung jeder politischen Frage aktiv beteiligt sind. Die Medien lieben nichts mehr, als dass Konfrontationen zwischen zwei verschiedenen politischen Protagonisten laufen. Es wird nicht mehr lange dauern, und wir erscheinen alle auf den Sportseiten hinter der zweiten Bundesliga. Reuß: Sie haben dieses Verhältnis zwischen Politik und Medien mal ganz schön beschrieben mit den Worten: "Das ist ein bisschen wie Braut und Bräutigam." Aber ist das wirklich das Turteln zweier Verliebter? Oder ist es nicht doch eher das Zanken eines älteren Ehepaars? Wer hat denn in diesem Verhältnis eigentlich die Hosen an? Steinbrück: Es ist weder das eine noch das andere. Das ist eine Zweckbeziehung: Die Politiker brauchen die Medien als Transmissionsriemen. Und die Medien brauchen die Politik, weil sie Nachrichtenbotschaften brauchen, weil sie schlicht und einfach etwas brauchen, das sie drucken können, das sie ins Fernsehen stellen können usw. Die Medien wollen Quote und Auflage haben, aber hierin unterliegen sie zunehmend ökonomischen Bedingungen. Früher sprach man von Zeitungsverlagen, heute redet man von Medienunternehmen. Das ist ein ganz wichtiger Unterschied. Die Medien bekommen Quote und Auflage, indem sie drei Dinge tun: Alles muss personalisiert werden, alles muss skandalisiert werden und alles muss banalisiert werden. Das sind die Gesetze, die die Medien den Politikern mehr und mehr aufdrängen. Die Politiker machen ihrerseits sehr häufig den Fehler, dass sie sich dem ergeben. Reuß: Sie haben es schon gesagt, dass es in der Politik einen gewissen Schauspielzwang gibt. Peter Struck, der langjährige SPD- Fraktionsvorsitzende im Deutschen , hat einmal gemeint: "Natürlich gehört Inszenierung zur Politik. Der Politiker muss einen gewissen Selbstdarstellungsdrang haben." Sie selbst haben gesagt: "Unterhaltung ohne Substanz ist kein Qualitätsmerkmal für einen Politiker, große intellektuelle Tiefe ohne jede darstellerische Gabe aber auch nicht." Muss man also dem Affen immer ein bisschen Zucker geben? Muss man ein bisschen schauspielern? Muss man ein bisschen inszenieren? Steinbrück: Nun ja, ich bin dafür, dass Politiker sich nicht für Unterhalter, für Entertainer halten. Ich glaube aber, einige machen diesen Fehler und werden zum Entertainer. Sie sind dann ganz erstaunt, wenn sie vom breiten Publikum auch für einen Entertainer oder für einen Clown gehalten werden. Die Amerikaner machten da eine ganz interessante Unterscheidung, sie reden von "face" und von "substance", also von "Gesicht" und "Substanz". Ich glaube, dass man beides braucht. Man kann nicht einfach nur ein Gesicht haben und gut auftreten können, ohne dass man auch wirklich Inhalte bietet. Wenn man alleine nur Inhalte hat, aber diese Inhalte nicht transportieren kann, dann nützt einem das als Politiker auch nur sehr wenig. Insofern kommt es wie immer auf die Dosis an, auf die Mischung zwischen beidem. Reuß: Aber hier hat sich doch sicherlich eine ganze Menge verändert mit der Zunahme, mit der gestiegenen Quantität der Medien, vor allem auch im elektronischen Bereich. Erhard Eppler hat einmal gesagt: "Man darf fragen, ob die Gaben, die heute nötig sind, um Bundeskanzler zu werden, dieselben sind, die man braucht, um Bundeskanzler zu sein." Das hierbei angesprochene Amt ist sicherlich austauschbar, denn das gilt für ein Ministeramt oder für das Amt eines Ministerpräsidenten genauso. Ist heute die Medientauglichkeit bei der Auswahl des politischen Spitzenpersonals ein wichtiges Kriterium geworden? Steinbrück: Ja, aber nur eines von mehreren. Ich kategorisiere mal in dreifacher Hinsicht. Wenn Horst Schlämmer, die Kunstfigur von Hape Kerkeling, als Kanzlerkandidat aufgelaufen wäre, dann hätten ihn vielleicht 25 bis 30 Prozent der Deutschen gewählt. Warum? Weil er der bessere Entertainer ist, denn er wäre z. B. mit dem Motto angetreten: "Was die nicht können, kann ich auch!" Ein anderer Teil des Publikums hat hingegen ein hohes Interesse an einer Lichtgestalt, an jemandem, der eine Aura hat. Und dann gibt es eine dritte Kategorie: Das sind zunehmend ältere Staatsmänner außer Diensten mit einem überparteilichen Nimbus. Richard von Weizsäcker und sind die Beispiele hier in Deutschland – und, ich sehe das mit großem Vergnügen, zunehmend gehört auch mit dazu. Das sind drei verschiedene Kategorien von Politikern, bei denen meiner Meinung nach die Bevölkerung sagt: "Ja, wir suchen uns einen davon aus, weil wir den gerne in der amtierenden politischen Klasse vertreten hätten. Denn so jemanden finden wir dort aktuell nicht, die heutigen Politiker sind uns alle zu langweilig, zu substanzlos, die haben weder das eine von Horst Schlämmer noch das andere von Herrn zu Guttenberg noch das Dritte von Helmut Schmidt oder Richard von Weizsäcker." Reuß: Sie sind jemand, der gerne Klartext redet und der auch Freude hat an Sprachbildern und Ironie. Ich habe gelesen, Ihre Töchter haben mal Ironie definiert als "Verkehrtrum-Sprache". Sind Sie ein gern Verkehrtrum- Sprecher? Steinbrück: Ja, aber Ironie wird in der Politik nicht immer verstanden. Und das macht es schwer. Diejenigen, die mit dieser Verkehrtrum-Sprache sehr ironisch auftreten, die z. B. sagen "ich bin hellauf erfreut", obwohl sie zu Tode entsetzt sind, werden manchmal eins zu eins wahrgenommen und übernommen, wodurch es natürlich zu Missverständnissen kommt. In der Politik kann man Ironie wirklich nur sehr dosiert einsetzen. Aber ganz ohne Ironie und ohne Selbstironie und ohne zumindest einen Anflug von Humor wird es auch langweilig. Reuß: Es gibt von Otto von Bismarck den schönen Satz: "Ich habe Politik immer zum Wohle des Volkes, aber nicht immer nach dem Willen des Volkes gemacht." Das ist kein ganz ungefährlicher Satz mit Blick auf die deutsche Geschichte, dennoch: Muss man als demokratisch gewählter Politiker auch mal gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung Politik machen? Steinbrück: Eindeutig ein Ja. Wenn man von einer Sache überzeugt ist, die dem öffentlichen Wohle dient – um hier durchaus an Bismarck anzuknüpfen, und Helmut Schmidt würde hier von der Salus publica sprechen –, dann muss man sich exponieren, und zwar auch auf die Gefahr hin und mit dem Risiko, bei der nächsten Wahl abgewählt zu werden. Reuß: Sie haben die politische Klasse immer wieder einmal kritisiert, Sie haben auch die Auswahl des Personals kritisiert, Sie haben von den "Zeitreichen" gesprochen, die viel leichter Karriere machen können, weil sie alles planen können, weil sie die nötige Zeit haben, um sich aufstellen lassen zu können usw. Wenn Sie der politischen Klasse in Deutschland eine Schulnote geben sollten, welche Note würden Sie dann verteilen? Steinbrück: Das fällt mir sehr schwer, denn erstens bin ich ja selbst nach wie vor auch noch Politiker und müsste dann für andere eine Note abgeben, was mir aber zu pädagogisch ist. Ich glaube, dass es insbesondere in der Kommunalpolitik sehr viele engagierte Menschen gibt, und sehe mit einem gewissen Erschrecken, dass eine Tendenz einsetzen könnte, dass bei Kommunalwahlen nicht mehr genügend Frauen und Männer – aus jedweder demokratischen Partei – ein solches Mandat anstreben. Mich beschäftigt daher die Frage, was das für die demokratische Substanz unserer Gesellschaft bedeutet. Ich sehe, dass Politiker teilweise nicht nur einer Kritik, sondern sogar einer Verachtung unterworfen sind, was ich für hochgefährlich halte. Eine solche Phase hatten wir schon einmal in Deutschland und sie führte anschließend zu Adolf Nazi: Das war in der Weimarer Zeit. Das heißt, ich kann eine massive Kritik an der Politik sehr wohl akzeptieren, vor allem auch vor dem Hintergrund konkreten Fehlverhaltens oder Versagens von Politikern. Aber ich möchte doch ein Plädoyer dafür halten, dass das nicht übergeht in ein Verächtlichmachen, einer Verachtung der Parteiendemokratie und der Politiker, der Frauen und Männer, die sich dort engagieren. Denn wenn es sie, die ja alle auch den Impetus haben, für das öffentliche Wohl zu sorgen, nicht gäbe, dann sähe es um diese demokratische Verfassung sehr schlecht aus. Reuß: Ich würde hier gerne eine kleine inhaltliche Zäsur machen und unseren Zuschauern den Menschen Peer Steinbrück näher vorstellen. Sie sind am 10. Januar 1947 in Hamburg geboren, Ihr Vater war Architekt. Wie war Ihre frühe Kindheit, wie sind Sie aufgewachsen, was hat Sie geprägt? Steinbrück: Ich bin eigentlich ziemlich entspannt aufgewachsen. Mein Vater war berufstätig und meine Mutter kümmerte sich um die Kinder. Das war damals in einer Ehe einfach so und das entsprach auch dem damaligen Frauenbild – in dieser doch etwas dumpfen Stimmung der 50er Jahre. Erst später, in den nachfolgenden Generationen, hat sich das dann geändert. Ich hatte eine ziemlich schwierige Schulgeschichte, wie ich offen zugeben muss: Ich glaube, ich war ein grauenhafter Schüler in der Mittelstufe und bin erst durch die Oberstufe glatt durchgekommen. Ich bin auch einmal sitzengeblieben, weil ich an Altgriechisch gescheitert bin. Aber ich habe diese Kindheit eigentlich als sehr glücklich in Erinnerung. Prägend war für mich, dass ein Teil meiner Familie dänisch gewesen ist. Ich hatte eine dänische Großmutter und einen halb dänischen, halb deutschen Großvater. Prägend war auch, dass meine Mutter in der sehr schlimmen Nazizeit nicht in Deutschland gewesen ist, nicht beim BDM oder beim NS-Frauenbund usw. Sie war in Schweden und Dänemark und kam daher mit einem ganz anderen Lebensgefühl und einer ganz anderen Einstellung zurück nach Deutschland. Deshalb spielte bei uns zu Hause die Abwendung von diesem dunklen Kapitel der deutschen Geschichte immer eine sehr große Rolle – abgesehen davon, dass mein Großvater väterlicherseits von einem Nazi umgebracht worden war. Insofern setzte bei uns schon sehr früh eine Aufarbeitung dieser deutschen Geschichte ein – was meiner Meinung nach ja wohl nicht durchgängig der Fall gewesen ist in den 50er Jahren in deutschen Familien. Reuß: Nach dem Abitur waren Sie zwei Jahre bei der Bundeswehr, dann haben Sie in Kiel Volkswirtschaft und Sozialwissenschaften studiert. Ich habe in diesem Zusammenhang einen Satz gefunden, der mich zum Schmunzeln gebracht hat. Es soll nämlich Ihre Mutter mal zu Ihnen gesagt haben: "Junge, du musst später mal etwas machen, wobei du quatschen kannst!" Woher kam dieser Rat? Steinbrück: Dieser Satz ist nicht nur Kolportage, sondern das trifft zu: Sie hat das wirklich gesagt. Denn sie hat offenbar schon sehr früh mitbekommen, dass ich gerne rede und Subjekt, Objekt und Prädikat ganz offensichtlich auch in die richtige Reihenfolge bringe. Reuß: Sie haben Ihr erstes Geld als Parkplatzwächter verdient, wie ich gelesen habe: am Hamburger Volksparkstadion und auch auf dem Hamburger Fischmarkt. Sie haben einmal gesagt: "Ich fing bei den Fahrrädern an und arbeitete mich dann über die Motorräder zu den Autos hoch. Schneller habe ich in meinem Leben nie mehr Karriere gemacht." Steinbrück: Das ist richtig. Die Fahrräder brachten 20 Pfennig, die Motorräder 50 und die Autos eine Mark und man durfte umsonst das Spiel sehen. Das war in der frühen Bundesligazeit, also in den Jahren 1963 und 1964. Das war die tollste Karriere, die ich je gemacht habe. Aber ich habe auch auf dem Bau gearbeitet und Lottoscheine paginiert, also sozusagen gestempelt. Wenn ich abends nach Hause ging und ins Bett fiel, habe ich im Geiste immer noch gestempelt. Ja, ich habe da ziemlich schräge Sachen gemacht. Reuß: Ich habe das mit der Lottoannahmestelle auch gelesen. Dabei habe ich erfahren, dass Sie selbst wahnsinnig gerne spielen: Mit Ihrer Frau spielen Sie angeblich Backgammon gegen Geld … Steinbrück: Nicht mehr! Reuß: Nicht mehr? Steinbrück: Sie hat mir zu häufig gewonnen. Reuß: Und Sie haben einmal sogar gegen den damaligen Schachweltmeister Wladimir Kramnik gespielt: Er brauchte tatsächlich 37 Züge, um Sie zu besiegen. Sind Sie jemand, der gerne spielt? Lieben Sie das Risiko? Können Sie gut verlieren? Steinbrück: Ich hoffe, dass ich gut verlieren kann. Beigebracht worden ist mir das Verlieren von meiner Großmutter, die mir übrigens auch das Schach mit sechs oder sieben Jahren beigebracht hat. Sie ließ mich beim Schach nie gewinnen, wirklich nie. Ich gewann die erste Partie gegen sie erst mit 13 Jahren. Das war ein Sieg! Das war ein wirklicher Gewinn und genau darum ging es ihr auch in psychologischer Hinsicht. Sie wollte mir nichts schenken, sondern ich musste mir das buchstäblich erobern. Deshalb hatte dieser Sieg gegen sie auch so einen großen Wert für mich. Ja, ich spiele gerne, weil mir das eine andere Form von Konzentration abverlangt. Ich glaube aber nicht, dass ich als Typus ein Spieler bin, das hat mir jedenfalls noch nie jemand nachgesagt. Die Konzentrationsaufgabe beim Spielen empfinde ich als sehr entspannend: Das ist der Grund, warum ich sehr gerne Carambolage-Billard spiele oder Schach oder auch Karten oder mit meiner Frau Scrabble. Aber Backgammon haben wir schon lange nicht mehr gespielt. Reuß: 1969 sind Sie dann in die SPD eingetreten. Das war ja ein ganz spannendes Jahr, dieses Jahr 1969: Richard Nixon wurde Präsident in den USA, Charles de Gaulle trat von seinem Amt als französischer Staatspräsident zurück, Gustav Heinemann wurde Bundespräsident und im Herbst wurde erster sozialdemokratischer Kanzler in der Bundesrepublik Deutschland. Sie haben einmal gesagt: "Mich hat nicht das Arbeitnehmerinteresse in die SPD getrieben." Wenn ich das richtig nachgelesen habe, dann hat Sie ein Offizier für die SPD begeistert. Wie kam es dazu? Und warum sind Sie überhaupt in eine Partei eingetreten? Steinbrück: Das ist richtig und es war relativ ungewöhnlich in den 60er Jahren, einen Bundeswehroffizier zu treffen, der für die SPD ist. Er war, so weit ich mich erinnere, Mitglied einer Bewegung, die es damals gegeben hat und die den Namen trug "Leutnant 70". Diese Leute vertraten sehr stark das Konzept des Bürgers in Uniform, d. h. sie formulierten damit eine klare Distanz gegenüber dem Selbstverständnis des Offizierskorps der kaiserlichen, der Weimarer und vor allem auch der Nazizeit. Das war eine Bewegung, die gesagt hat: "Wir sind nicht eine Armee als Sonderkörper in dieser Gesellschaft Bundesrepublik Deutschland, sondern wir sind Bestandteil dieser Gesellschaft, wir sind eine Bürgerbundeswehr." Das beeindruckte mich sehr und er war es, der mir dann Anfang 1969 gesagt hat: "Wenn Sie schon so politisch engagiert sind und so denken, warum ziehen Sie dann nicht auch die Konsequenz und engagieren sich in einer politischen Partei?" Meine Gründe für den Eintritt in die SPD waren ziemlich eindeutig: Erstens ging mir dieses "wohlanständige" Bürgertum, das Willy Brandt als "Exilanten" und als uneheliches Kind diffamierte, gegen den Strich. Diejenigen, die von sich glaubten, sie würden in unserer Gesellschaft am ehesten den Ton angeben, waren diejenigen, die am bigottesten aufgetreten sind. Der zweite Grund war natürlich die charismatische Persönlichkeit von Willy Brandt. Auch dieses Konzept "Wandel durch Annäherung" hat mir imponiert, mit dem diese irrsinnige Konfrontation in Mitteleuropa im deutsch-deutschen, aber auch im innereuropäischen Verhältnis überwunden werden sollte. Das, was damals die SPD verkörperte, war für mich faszinierender als alles andere, was die anderen Parteien im Angebot hatten. Ich habe die Sozialdemokratie auch historisch immer auf der Seite derjenigen gesehen, die nicht verantwortlich waren für die Katastrophen der deutschen Geschichte in den letzten 150 Jahren. Reuß: Sie sind ja trotzdem kein ganz typischer Sozialdemokrat und Ihnen fehlt auch die berühmte Ochsentour durch die Partei, also der langsame Aufstieg vom Ortsverband über den Kreisverband bis zum Landesverband und zum Bundesverband. Und Sie haben sich auch immer mal wieder gerne an der SPD gerieben. Es ist ja legendär, dass Sie die Kritiker der "Agenda 2010" auch einmal "Heulsusen" genannt haben. Sich selbst haben Sie mal als unideologischen Sozialdemokraten bezeichnet. Wie würden Sie denn Ihr Verhältnis zur SPD bezeichnen? Ist das eine Vernunftbeziehung? Steinbrück: Nein, man ist nicht über 40 Jahre in einer Partei, wenn das eine reine Vernunftbeziehung wäre. Mit Blick auf einzelne sozialdemokratische Frauen und Männer kann ich auch durchaus emotional auf deren Lebensleistung reagieren. Aber ich war nie ein reiner Parteigänger. Das hätte einfach nicht gepasst zu dem, was man an kritischer Distanz auch der eigenen Partei gegenüber aufbauen muss, zu dem, was die eigene Partei politisch vertritt. Ich war immer interessiert an Grenzgängern – übrigens auch an den Grenzgängern in den anderen Parteien. Ich finde Menschen interessant, die gelegentlich über den Rand des eigenen Systems hinausblicken, über den Rand des eigenen Systems der parteipolitischen Vergewisserung, dieses selbstreferentiellen Rahmens, den Parteien auch darstellen. Dadurch sind diese Menschen natürlich auch koalitionsfähiger. Ich war auf der anderen Seite immer ein großer Kritiker gegenüber denjenigen, die missionarisch aufgetreten oder ideologisch aufgetreten sind. Denn in meinen Augen wurde ein Teil der Katastrophen des 20. Jahrhunderts genau von solchen Menschen verursacht, die diesen missionarischen, ideologischen Antrieb gehabt haben. Reuß: Ich raffe Ihre weitere Biografie jetzt mal ein bisschen. Nach Abschluss Ihres Studiums haben Sie einen Werkvertrag bekommen und waren zunächst im Bundesbauministerium, anschließend wechselten Sie ins Bundesforschungsministerium. Sie waren auch mal persönlicher Referent des damaligen Bundesministers Hans Matthöfer, der dann später Finanzminister wurde. 1978 kamen Sie dann ins Bundeskanzleramt zu Helmut Schmidt und waren dort zunächst im Spiegelreferat des Forschungsministeriums tätig. Für kurze Zeit waren Sie auch in der "Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland" in Ostberlin tätig. Wie haben Sie die DDR damals erlebt? Steinbrück: Als dumpf und als ökonomisch völlig darniederliegend. Deswegen habe ich auch nur wenig Verständnis für diese teilweise vorhandene DDR-Nostalgie. Nach dem, was ich später mitbekommen habe, insbesondere durch meinen Besuch des Stasigefängnisses in Hohenschönhausen, habe ich eine sehr große Distanz gegenüber denjenigen, die diese DDR-Geschichte mit allen ihren Opfern nicht aufarbeiten. Das prägt mich sehr innerhalb dieser sozialdemokratischen Partei, wenn es darum geht, ob man gegenüber der Linkspartei irgendwelche Avancen machen muss. Dafür habe ich vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die ich gemacht habe, wenig Verständnis und ebenso vor dem Hintergrund dessen, was historisch offensichtlich ist, was in dieser Zeit in der DDR passiert ist. Diese damals in der DDR herrschende Verachtung der Menschenwürde hat mich sehr geprägt und prägt mich immer noch sehr in meiner Einstellung gegenüber dem, was die DDR ausgemacht hat. Dass es da auch Nischen gegeben hat, dass es da auch Charaktere gegeben hat, dass es dort Begabungen gegeben hat, dass es dort anständige Menschen gegeben hat, steht für mich selbstverständlich auch außer Zweifel. Aber dieses System selbst war menschenverachtend. Reuß: 1981 kehrten Sie dann zurück nach , zunächst als persönlicher Referent des neuen Bundesministers für Forschung und Technologie Andreas von Bülow. 1982 zerbrach dann die sozialliberale Koalition durch den Koalitionswechsel der FDP. Wie haben Sie diese doch auch sehr dramatische Zeit in Bonn erlebt? Steinbrück: Als schon sehr tiefgreifende Zäsur. Als Verrat habe ich sie weniger erlebt. Ich kann mich erinnern, dass Klaus Bölling danach ein Buch geschrieben hat. Es baute auf einer Serie von ihm im "Spiegel" auf und handelte von den letzten 30 Tagen der sozialliberalen Koalition. In diesem Buch vertrat Bölling sehr stark die These vom Verrat, insbesondere bezogen auf Genscher und Lambsdorff. Das habe ich selbst nicht ganz so empfunden. Streng genommen bahnte es sich in meinen Augen seit dem Sommer 1981 langsam an, dass es zu einer Zerrüttung dieser Koalition zwischen SPD und FDP kommen würde. Reuß: War das eine persönliche Zerrüttung oder eine politische? Steinbrück: Nein, das war schon ganz klar auch eine inhaltliche Zerrüttung. Das fing an mit diesem Papier, das Lambsdorff vorgelegt hatte und das maßgeblich von seinem damaligen Staatssekretär Otto Schlecht geschrieben worden war. Aber zur historischen Genauigkeit gehört auch zuzugeben, dass es innerhalb der SPD klare Reibungsverluste gegeben hat, insbesondere zwischen Helmut Schmidt bzw. der Regierungsseite in der SPD und der parlamentarischen Seite. Das heißt, die SPD befand sich selbst wieder einmal in diesem Zwiespalt, sowohl Regierungspartei wie auch Oppositionspartei sein zu wollen. In diese Lage hat sich die SPD im Laufe ihrer Geschichte ja öfter mal manövriert, nicht zuletzt auch schon wieder in diesem, im 21. Jahrhundert. Reuß: Der NATO-Doppelbeschluss spielte damals wohl auch eine Rolle. Steinbrück: Ja, aber es war nicht nur der NATO-Doppelbeschluss. Es gab eine aufkommende Ökologiebewegung, es gab eine sehr viel stärkere emanzipative Bewegung von Frauen, die von den damaligen etablierten SPD-Führern wahrscheinlich unterschätzt wurden. Beim NATO- Doppelbeschluss glaube ich, dass Helmut Schmidt ja letztlich doch recht bekommen hat. Reuß: Sie wechselten dann zunächst einmal in die Bundestagsfraktion und später nach Nordrhein-Westfalen. Dort waren Sie zuerst im Umweltministerium und wurden dann Büroleiter des damaligen Ministerpräsidenten Johannes Rau. Auch das war ja wieder eine spannende Zeit, denn Johannes Rau wurde nach seinem triumphalen Sieg in Nordrhein-Westfalen, wo er die absolute Mehrheit geholt hatte, Kanzlerkandidat der SPD. Er setzte dabei mangels Koalitionsoption offensichtlich auf eine eigene Mehrheit wie in Nordrhein-Westfalen. Dies fand in der SPD aber nicht nur Unterstützung, denn der damalige SPD-Vorsitzende Willy Brandt meinte, 43 Prozent wären doch auch ein schönes Ergebnis. Steinbrück: Das war sozusagen der Blattschuss. Reuß: Die Wahlniederlage war für Johannes Rau sicherlich schmerzhaft, obwohl er sie öffentlich eigentlich ganz gut weggesteckt hat. Aber man kannte ihn ja als sensiblen Menschen. Wie haben Sie diese Zeit – vor allem nach der Niederlage von Johannes Rau als Kanzlerkandidat – erlebt? Steinbrück: Ich hatte im Jahr 2009 ein Deja-vu-Erlebnis, denn die Situation 2009 war so ähnlich wie damals 1987. Sie haben wirklich den entscheidenden Punkt angesprochen: Die SPD hatte 1986 – die Bundestagswahl war Ende Januar 1987 – keine klare strategische Option. Deshalb musste sie sich durchwursteln. So ähnlich haben wir uns 2009 leider auch aufgestellt. Wir haben 2009 gesagt: "Wir streben eine rot-grüne Koalition an." Aber die Umfrageergebnisse haben klar vermittelt, dass es für Rot-Grün nicht reichen würde. Und dann haben wir der FDP Avancen gemacht, obwohl die FDP uns, also die SPD, als Stalker bezeichnet hat. Das heißt, die FDP wollte mit uns gar nichts zu tun haben. Wir haben also 2009 auf eine Option gesetzt, von der die meisten Wählerinnen und Wähler den Eindruck hatten, dass sie völlig irreal sei. Wir haben uns damals verboten, auf die Option einer Fortsetzung der Großen Koalition zu setzen, also auf eine Option, bei der man vielleicht sogar hätte sagen können: "Wir wollen der Seniorpartner in der Großen Koalition werden!" Diese meiner Meinung nach relativ erfolgreiche Große Koalition wäre jedenfalls eine andere Option gewesen für die SPD, auch wenn wir dabei möglicherweise wieder nur den Juniorpartner abgegeben hätten – und somit auf eine eigene Kanzlerfigur hätten verzichten müssen. In diesem Spannungsbogen waren wir jedenfalls nicht klar in unserem Profil. Exakt so war es nach meiner Erinnerung auch 1986/87 gewesen. Als Willy Brandt dann aus Südfrankreich dieses berühmte Zitat vom Stapel ließ: "42 oder 43 Prozent sind ja auch ein schönes Ergebnis", war das der Blattschuss für den Kanzlerkandidaten Johannes Rau. Im Übrigen wären 42 oder 43 Prozent in der Tat ein schönes Ergebnis gewesen. Reuß: Ich versuche jetzt erneut die Chronologie etwas zu raffen. Sie wurden dann Staatssekretär in Schleswig-Holstein im Wirtschaftsministerium noch unter Ministerpräsident Björn Engholm. Als dann Heide Simonis Ministerpräsidentin wurde, wurden Sie selbst Wirtschaftsminister. Wolfgang Clement holte Sie dann zurück nach Düsseldorf, zunächst als Wirtschafts-, und dann als Finanzminister. Als Wolfgang Clement als Superminister für Arbeit und Wirtschaft nach Berlin ging, wurden Sie Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen. Sie galten zwar als Experte für Wirtschaft und Finanzen, doch plötzlich sagte man, dem Peer Steinbrück fehle etwas Landesväterliches. Sie haben auf diese Kritik mal so schön gesagt, als Ministerpräsident werde von Ihnen eine Mischung aus Tarzan, Einstein und Inge Meysel erwartet. Fiel Ihnen diese Rolle schwer? Was fehlte Ihnen am meisten? Steinbrück: Sie fiel mir nicht schwer, aber es hat mich schon getroffen, welche Defizite an Eigenschaften mir nachgesagt worden sind. Es hat auch eine lange Phase gegeben, in der Journalisten glaubten, voneinander abschreiben zu müssen, ich sei der humorloseste Mensch der Welt und ich würde nur bei "Licht aus" im Keller anfangen zu lachen. Oder es wurde geschrieben, ich sei besonders arrogant. Es kann sein, dass meine Mimik gelegentlich zu diesem Urteil einlädt, aber alle, die mich kennen, halten mich nicht für arrogant. Ich hatte es plötzlich mit Images oder Attributen zu tun, bei denen ich dachte: Da schreiben Journalisten etwas über mich, die mich z. T. noch nie erlebt haben! Das war es, was mich eher unangenehm berührt hat. Und diese Leute haben dann auch noch voneinander abgeschrieben. Immerzu wurde geguckt, was die Kollegen bereits über mich geschrieben haben, sodass bestimmte Dinge immer weiter kolportiert wurden. Im Übrigen ist es aber so, dass man sich ohnehin nicht verstellen kann. Eine so landesväterliche Rolle zu spielen wie Johannes Rau, wäre mir nie abgenommen worden, sondern das hätte man als Schauspielerei bezeichnet, und zwar zu Recht. Insofern habe ich es auch nie angestrebt, in diesem Zusammenhang irgendeine Kopie von jemandem zu sein. Ich glaubte, dass ich nach knapp drei Jahren als nordrhein-westfälischer Ministerpräsident doch ein eigenes Profil hätte – mindestens die Umfragen zur Landtagswahl 2005 wiesen aus, dass ich als Person wählbarer gewesen bin als meine eigene Partei. Reuß: Und auch als Ihr Konkurrent Jürgen Rüttgers. Steinbrück: Ja, auch als mein Konkurrent. Reuß: Und dies, wie man nachlesen kann, mit großem Abstand. Sie mussten jedoch als Ministerpräsident ein paar unangenehme Entscheidungen treffen, Sie mussten sich von einigen Leuchtturmprojekten verabschieden wie z. B. von der Magnetschwebebahn zwischen Köln und Dortmund. Zwei Haushalte in Ihrer Regierungszeit wurden vom Landesverfassungsgericht als verfassungswidrig bezeichnet. Und sicherlich nicht hilfreich war, dass die rot-grüne Bundesregierung in der Bevölkerung an Zustimmung verlor. Plötzlich wurde die Landtagswahl 2005 in Nordrhein-Westfalen zur Schicksalswahl, nicht nur für Sie, sondern auch für die SPD in Nordrhein- Westfalen und auch für die Bundes-SPD. Und diese Wahl ging dann ja auch krachend verloren. Trotz Ihrer persönlichen guten Werte brach die SPD in ihrem Stammland mit über 6 Prozent Verlust stark ein, während die CDU 8 Prozent hinzugewinnen konnte und stärkste Partei wurde. Die CDU konnte dann zusammen mit der FDP die Landesregierung bilden. Gerhard Schröder, der damalige Bundeskanzler, hat dann noch in dieser Wahlnacht angekündigt, sich im Bund für vorgezogene Neuwahlen einsetzen zu wollen. War das aus Ihrer Sicht die richtige Entscheidung? Hätte es eine Alternative gegeben? Steinbrück: Eine Alternative hat es bestimmt gegeben. Aber es war unabhängig davon eine richtige Entscheidung. Er hat darüber übrigens fünf oder sechs Wochen vorher mit mir unter vier Augen gesprochen und mich gefragt, was ich davon halten würde, wenn er das machen würde, falls wir die Wahl in NRW, wie für uns absehbar – denn wir waren ja nicht blind –, verlieren sollten. Wir sprachen darüber, wie sich nach einer verlorenen Wahl in NRW die Lage für die SPD im Bund darstellen würde und wie sich dann vor allem für ihn die Lage darstellen würde mit Blick auf den im Herbst 2005 geplanten Bundesparteitag der SPD in Karlsruhe. Meine Aussage ihm gegenüber war, dass er vor dem Hintergrund der wahnsinnigen Zerreißproben, der Gemengelage von "Agenda 2010" und Hartz IV und der großen Distanz, die weite Teile der Gewerkschaften gegenüber der SPD eingegangen waren, mit diesem Wahlergebnis von Nordrhein-Westfalen einen sehr schweren Gang nach Karlsruhe antreten müsste – in diesem Fall freilich nicht zum Bundesverfassungsgericht, sondern auf den Bundesparteitag der SPD. Er würde aus diesem Parteitag nur sehr beschädigt herauskommen: mit sehr vielen blauen Flecken, mit einem zugeschwollenen Auge und einem Blumenkohlohr. Und dann müsste er in eine Bundestagswahl gehen als jemand, der sehr gehandicapt von diesem Bundesparteitag der SPD entlassen worden wäre. Es wäre dann wirklich sehr, sehr schwer für ihn, selbstbewusst und nach vorne blickend in die anstehende Bundestagswahl im Jahre 2006 zu gehen. Daher war ich jemand, der ihm zugeraten hat, im Falle einer Wahlniederlage in NRW dann doch auf vorgezogene Wahlen zu setzen. In dieser Wahl hat er dann sogar – mit dieser grandiosen Eigenschaft des geborenen "campaigners", des Wahlkämpfers – ein Ergebnis für die SPD erzielt, das wirklich erstaunlich war. Reuß: Wenn man sich das Ergebnis der Bundestagswahl 2005 anschaut und sich anschaut, was vorher berichtet worden war und wie die Demoskopen im Vorfeld die SPD gesehen hatten, dann muss man in der Tat sagen, dass das eine wahnsinnige Aufholjagd gewesen ist. Steinbrück: Nicht nur die Demoskopen hatten die SPD am Boden gesehen, sondern auch weite Teile der Presse waren vorauseilend geradezu darauf getrimmt, darauf konditioniert, dass die SPD nun abserviert werden würde. Es war wirklich spürbar, wie da über Zeitungsverlage oder Medienunternehmen – elektronische genauso wie im Printsektor – Stimmung erzeugt wurde. Es wurde da nicht nur über Stimmungen berichtet, sondern da wurden regelrecht Stimmungen erzeugt. Das ist ziemlich unvergesslich – jedenfalls ist es im kollektiven Gedächtnis der SPD haften geblieben. Reuß: Und dennoch kam Gerhard Schröder noch einmal sehr nahe ran: Die Union lag dann – für sie selbst enttäuschend – nur einen Prozentpunkt vor der SPD. Beide Konstellationen, die gewünscht waren, nämlich hier die Fortsetzung der rot-grünen Koalition und dort die Koalition zwischen CDU und FDP, boten keine Mehrheit im Bundestag und kamen daher nicht zustande. Zumindest in der Öffentlichkeit sah es so aus, als würde es zuerst einmal ein großes Gezänk geben, bis sich die beiden großen Parteien zu einer Großen Koalition zusammenraufen konnten. Sie wurden dann in der Nachfolge von Hans Eichel Bundesfinanzminister. War das ein Traumjob? Steinbrück: Nein. Eigentlich muss jeder Bundesfinanzminister immer sehr unbequeme Wahrheiten und schlechte Zahlen servieren. Die Engländer nennen das einen "uphill fight", das heißt, er muss immer den Hang hoch kämpfen. Das ist nicht so angenehm. Ich widerspreche Ihnen übrigens ein bisschen in Ihrer Einschätzung: Das war kein großes Gezänk. Ich habe diese Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD im Oktober, November 2005 als sehr kollegial, als sehr zielgerichtet in Erinnerung. Reuß: Ich meinte auch nicht die Koalitionsverhandlungen selbst, sondern ich meinte davor das Zustandekommen dieser Koalition überhaupt. Es drängte sich da wirklich der Eindruck auf: "Wir wollen nicht mit denen und die wollen auch nicht mit uns!" Steinbrück: Ja, da hatte es ja auch noch in der Wahlnacht diesen Testosteronauftritt von Gerd Schröder gegeben. Ja, das habe ich auch noch alles in Erinnerung. Da mussten die Reaktionen in der Tat erst noch ein bisschen runterkommen, dann ging das wieder. Reuß: Wir haben ja vorhin kurz über Glaubwürdigkeit gesprochen; ein Punkt würde mich da noch bewegen, wie Sie das einschätzen. Im Wahlkampf hatte sich die Union dafür eingesetzt, die Mehrwertsteuer um zwei Prozentpunkte zu erhöhen. Die SPD hatte gesagt, mit ihr gäbe es keine Erhöhung. Heraus kam dann eine Erhöhung von drei Prozent. Beschädigt so etwas nicht die Glaubwürdigkeit von Politik? Steinbrück: Das hat es in der Tat. Das war, wenn Sie so wollen, ein gebrochenes Versprechen aus dem Wahlkampf. Hinterher hatte das schlicht und einfach etwas mit der Bestandsaufnahme der Staatsfinanzen zu tun. Wir stellten fest, dass der Bundeshaushalt ein strukturelles Defizit von über 50 Milliarden Euro hatte. Im Übrigen wird vergessen, dass wir ein Prozent dieser Mehrwertsteuer zurückgegeben haben durch eine Absenkung der Sozialversicherungsabgaben, denn das geht im Rückblick meistens verloren. Und vergessen wird auch – das ist übrigens immer noch Bestandteil der Propaganda der blau-gelben Partei –, dass wir über die vier Jahre Große Koalition insgesamt eine Nettoentlastung der Bürgerinnen und Bürger herbeigeführt haben sowie eine weitere Unternehmenssteuerreform gemacht haben, die dazu geführt hat, dass seitdem die Unternehmensbesteuerung in Deutschland ziemlich genau im Mittelwert der OECD-Staaten liegt. Das alles wird hinter dieser Propagandawand verschwiegen oder verschleiert. Reuß: Sie haben als Bundesfinanzminister viele unangenehme Entscheidungen mittragen müssen. Die Mehrwertsteuererhöhung haben wir bereits angesprochen, aber sie mussten z. B. auch für die Abschaffung der Eigenheimzulage den Kopf hinhalten und zunächst einmal auch für die Abschaffung der Entfernungspauschale, die dann aber aufgrund eines Verfassungsgerichtsurteils wieder zurückgenommen werden musste. Sie gelten als jemand, der relativ robust wirkt, dennoch meine Frage: Viel Kritik wurde da ja nicht nur sachlich geübt, sondern auch persönlich. Können Sie so etwas gut wegstecken? Steinbrück: Ich hoffe. Manches trifft einen, das stimmt. Aber das gehört einfach zur Professionalität dazu: Man muss so manches auch an sich abperlen lassen, sonst bekommt man ein Magengeschwür. Und mir so etwas zuzulegen, war nicht meine Absicht. Im Übrigen war es so, dass ich immer gut schlafen konnte. Das ist aber gar nicht mal eine besondere Qualität, sondern es ist einfach so. Das heißt, ich habe selbst nach stressigen Tagen nachts nie irgendwie unangenehm geträumt und alles noch einmal auf- und durchgearbeitet. Das war während der Finanzkrise sehr hilfreich, wenn man nur drei oder dreieinhalb Stunden Schlaf hatte pro Nacht. Reuß: Man kann nachlesen, dass Ihr Verhältnis zur Bundeskanzlerin sehr gut und unverkrampft war. Sie haben einmal gesagt: "Ich konnte mich mit ihr sehr unverkrampft, sachlich und keineswegs humorlos unterhalten." Andere Sozialdemokraten wie z. B. der bereits erwähnte Peter Struck haben die Kanzlerin anders gesehen, sie öffentlich kritisiert. Das war sicherlich auch Teil der Aufgabe von Peter Struck als Fraktionschef. Dennoch, er hat ihr Führungsschwäche vorgeworfen und er hat in einem Buch einen namentlich nicht genannten Publizisten zitiert und gesagt: "Frau Merkel ist eine gute Pilotin, der man sich bedenkenlos anvertrauen kann, wenn einem gleich ist, wohin die Reise gehen soll." Wie haben Sie die Kanzlerin erlebt? Wie war Ihr Verhältnis zu ihr? Steinbrück: Ich lass' mich darüber nicht lange aus, ich muss nicht das dementieren, was ich vorhin gesagt habe: Peter Struck hatte als Fraktionschef der SPD eine andere Rolle inne als ich, und daher hatte er auch eine andere Sichtweise, die durchaus richtig sein kann. Mein Verhältnis zu ihr ist davon geprägt, dass Frau Merkel und ich auf dem Höhepunkt der Finanzkrise wechselseitig aufeinander angewiesen waren. Ich glaube, nach außen hin haben wir dabei den richtigen und notwendigen Eindruck vermittelt, dass wir in dieser Situation nicht als Parteipolitiker auftreten und dass wir nicht versuchen werden, parteipolitische Geländegewinne zu erzielen, sondern dass wir ein gemeinsames Interesse haben, dass wir den gemeinsamen Willen haben, die Widrigkeiten, die Turbulenzen dieser Finanzkrise so zu dämpfen, dass uns dieses Land nicht um die Ohren fliegt und die Menschen beschädigt werden. Ich denke, das ist glaubwürdig vermittelt worden, und das ging nur deswegen, weil wir miteinander ein konstantes, durchaus von Vertrauen gekennzeichnetes Verhältnis zueinander hatten. Reuß: Ich würde gerne noch bei der Banken- und Finanzkrise bleiben. Die ganze Sache begann ja mit einer Immobilienkrise und einer großen geplatzten Spekulationsblase in den Vereinigten Staaten. Es kam infolgedessen zu Insolvenzen in der Finanzbranche und schließlich im September 2008 zum Zusammenbruch der Großbank Lehman Brothers, was wiederum zu einer Kettenreaktion führte, in deren Folge die ganze Finanzwelt wankte. Sie haben später einmal gemeint: "Wir standen vor einer Kernschmelze." Weiter haben Sie gesagt: "Das ganze Artensystem der Wirtschaft drohte zu kollabieren, weil ihm das Blut fehlte. Da hatte ich richtig Angst." Irgendwie hatte man den Eindruck, dass diese Krise in Deutschland mental nicht so richtig ankam. Woran lag das? Steinbrück: Da bin ich mir nicht so sicher. Um noch einmal auf die von Ihnen geschilderte Entwicklung einzugehen: Der Zusammenbruch der Bank Lehman Brothers ist das, was heute alle noch in Erinnerung haben, was auch die Zuschauerinnen und Zuschauer, die uns heute zuschauen, noch gegenwärtig haben. Die wenigsten wissen, dass 36 Stunden später ein sehr viel größerer Fall drohte: Es bestand die ganz große Gefahr, dass der größte Versicherungskonzern der Welt Pleite geht. Dieser Versicherungskonzern heißt "AIG" – also nicht "AEG", denn die war davor schon pleite. Dieser Fall hätte eine Dimension von Lehman hoch drei gehabt. Das Ganze spielte sich ab zwischen Montag, den 15. September, und Mittwoch, den 17. September 2008. Das war dieser Abgrund, in den wir da geblickt haben. Denn bei einer Pleite von AIG wäre, wie ich glaube, die gesamte Finanzarchitektur implodiert. Ob die Krise mental hier bei uns nicht angekommen ist? Da bin ich mir nicht so sicher. Wir hatten immerhin klare Hinweise, dass viele Menschen doch sehr verstört waren und ihr Geld abgehoben haben. Einige Banken und auch die Bundesbank machten uns darauf aufmerksam, dass große Scheine wie die 500- und die 200-Euro- Scheine langsam knapp werden würden. Denn die Leute packten das Geld scheinbar lieber in Schließfächer, in die Matratze oder in den Strumpf usw. Wir hatten die wahnsinnige Befürchtung, dass es geradezu einen Run geben könnte auf die Filialen der privaten Geschäftsbanken, der Sparkassen, Volksbanken usw. und die Leute all ihr Geld abheben könnten. Und deswegen kam es dann auch zu diesem doch recht ungewöhnlichen Fernsehauftritt von Frau Merkel und mir am Sonntag, den 5. Oktober 2008, kurz vor dem nachfolgenden Film mit Heinz Rühmann oder was auch immer dann gelaufen ist. So etwas hatte es in der Geschichte der Bundesrepublik ja vorher noch nicht gegeben. Reuß: Darf ich da gleich einhaken? Der Normalbürger kam damals ja aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Ich erinnere mich dunkel – vielleicht ist dieses Beispiel jetzt auch falsch gewählt –, dass zuerst einmal darüber diskutiert worden ist, ob eine Erhöhung des Kindergeldes um zehn Euro überhaupt finanzierbar sei, weil das die Unsumme von drei, vier, fünf Milliarden Euro kosten würde. Und plötzlich schien Geld in unbegrenzter Menge vorhanden zu sein oder garantiert werden zu können. Es gab für den Bankenrettungsfonds mal so eben die unvorstellbare Summe von 500 Milliarden Euro. Dann haben Sie, um eine Massenpanik zu verhindern, zusammen mit der Frau Bundeskanzlerin die Spareinlagen der Deutschen garantiert. Die Spareinlagen der Deutschen werden, je nach Quelle, in der man nachliest, auf eine Summe zwischen 600 und 1000 Milliarden Euro geschätzt. Es gab ein Konjunkturprogramm mit 50 Milliarden Euro, dann ein zweites mit 25 und sogar noch ein drittes mit 10 Milliarden Euro. Und schließlich gab es ja auch noch den europäischen Rettungsfonds mit 750 Milliarden Euro. Auch das ist ja eine unvorstellbar große Summe und Deutschland ist hier mit 125 Milliarden Euro mit dabei. Das Ganze spielte sich in einer Zeit ab, in der die Verschuldung der Industriestaaten ohnehin schon sehr groß war. Wie geht so etwas? Wo kommt all dieses Geld plötzlich her? Steinbrück: Das ist eine Menge Stoff, den Sie da jetzt angesprochen haben, und er ist in zwei Minuten kaum zu bewältigen. Es ist so: In vielen Fällen fließt dabei ja gar kein Geld. Ich beziehe mich jetzt nur einmal auf die von Ihnen genannten 500 Milliarden Euro für den Rettungsschirm für die deutschen Banken. Der überwiegende Teil dieses Geldes sind ja Garantien. Wie funktionieren Garantien? Ich will mir von Ihnen 10000 Euro leihen, weil ich damit ein kleines Umzugsunternehmen mit drei Leuten aufmachen möchte und dafür einen Kastenwagen brauche. Sie leihen mir aber diese 10000 Euro nicht, weil Sie sagen: "Dieses Geld kriege ich von dem Steinbrück nicht wieder!" Das hört aber die Regisseurin, die uns beiden im Regieraum zuhört. Sie sagt nach einiger Zeit zu Ihnen, Herr Reuß: "Nun leihen Sie doch mal dem Steinbrück diese 10000 Euro, damit er da was machen kann!" Sie jedoch bleiben bockbeinig, wie Sie nun mal so sind. Daraufhin meint die Regisseurin dann: "Herr Reuß, für den unwahrscheinlichen Fall, dass der Steinbrück Ihnen nach zwei Jahren diese Summe nicht zurückzahlen kann, übernehme ich diese Schulden." Reuß: Ja, aber in diesem Fall muss sie ja doch diese 10000 Euro tatsächlich haben. Steinbrück: Sie hat sie ja auch. Das heißt, sie tritt plötzlich als Bürge auf oder als Garantin. Aber nach zwei Jahren zahlen ich Ihnen die 10000 Euro zurück und alles ist in Ordnung. Sie musste als Bürgin gar nicht in Erscheinung treten. Reuß: Aber sie hätte in Erscheinung treten können. Steinbrück: Richtig, aber das, was wir bei diesen 400 Milliarden Euro an Bürgschaften ausgelegt haben, wird ja nicht alles fällig: Davon wird nur ein gewisser Prozentsatz fällig, vielleicht um die fünf Prozent. In normalen Zeiten sind 0,5 bis 1 Prozent üblich, die fällig werden. Aber mit dieser Bürgschaft hat man etwas stabilisiert, ohne dass deshalb, wie in der Annahme von vielen Bürgerinnen und Bürgern, diese Milliarden alle an die Banken geflossen wären. Das sind sie nämlich nicht. Im Übrigen muss man den Menschen in unserem Land erklären, dass vom Rentner bis zum Sparer bis zum Kommunalpolitiker bis zum Betriebsrat bis zum Handwerksmeister, der einen Betriebsmittelkredit braucht, alle ein massives Interesse an einem stabilen und funktionsfähigen Finanzmarkt haben. Das sind diese Arterien, das dieses System mit Blut, mit Kapital versorgt. Und deswegen mussten wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln einen Schlaganfall, eine Thrombose, die diese Arterien verstopft, verhindern. Das ist der Grund, warum wir das gemacht haben. Reuß: Aber was einen als Normalbürger doch ärgert, ist der Umstand, dass man den Eindruck hat, dass die Schuldigen nicht so richtig zur Rechenschaft gezogen werden, dass die Regulierung der Finanzmärkte nicht durchgreifend gewesen ist. Wenn ich heute einen Fehler mache und mir Geld leihen muss, dann muss ich dieses Geld zurückzahlen. Wieso hatte die Politik nicht die Kraft zu sagen: "Ihr Banken, wir müssen euch jetzt Garantien geben, müssen euch gar mit Ausfallbürgschaften helfen, zahlt dieses Geld, sofern ihr es in Anspruch nehmt, auch brav auf Heller und Pfennig zurück!"? Wieso sagt man nicht, dass fünf Prozent des künftigen Gewinns dann an den Staat gehen müssen? Sie selbst haben einmal eine Umsatzsteuer für alle Finanztransaktionen ins Gespräch gebracht. Wieso ist das alles nicht durchsetzbar? Steinbrück: Weil in dieser Frage in Deutschland die politischen Reihen zu uneinheitlich und in der Mehrheit nicht dafür sind. Ich bin dafür. Das, worüber wir reden, ist, dass alle Banken bei den Folgekosten mit herangezogen werden sollen, bei den Folgekosten einer Krise, die sie maßgeblich mit verursacht haben. Sie waren nicht alleine daran schuld, aber sie haben sie maßgeblich mit verursacht. Ich bin in der Tat für eine Umsatzsteuer auf Finanzgeschäfte, aus deren Aufkommen dann dieser Sektor die Folgekosten mitzufinanzieren hat. Dafür gibt es einen komplizierten Begriff, nämlich den Begriff Finanzmarkttranskationssteuer: Die Politik kreiert eben immer Begriffe, die mindestens achtsilbig sein müssen. Konkret geht es dabei schlicht um eine Umsatzsteuer auf Finanzgeschäfte von 0,05 Prozent. Ich selbst plädiere hier eher für 0,1 Prozent. Das Gegenargument lautet nun, so etwas könne man nur alleine in Deutschland nicht einführen. Denn wenn man das in Deutschland einführen würde, während jedoch in der Umgebung von Deutschland auf allen anderen Finanzplätzen diese Steuer nicht erhoben wird, bekäme man ein ungutes Gefälle. Das stimmt. Und die großen G-20-Staaten, die sich immer auf den Finanzgipfeln treffen, sind nicht dafür: Die USA sind nicht dafür, die Briten sind nicht dafür, die Kanadier sind nicht dafür. Und ich vermute, auch die Chinesen sind nicht dafür. Wir sind auch leider auch im Europa der 27 bei dieser Frage nicht einig. Wir sind uns noch nicht einmal in der Eurozone der 17 einig. Aber meine Antwort lautet dann immer: Dann lasst uns doch mal mit den sechs, sieben oder acht Ländern anfangen, die dafür sind. Denn die Franzosen sind auch dafür. Der französische Staatspräsident Sarkozy hat gerade vor wenigen Wochen in Paris noch einmal ein Plädoyer für eine solche Steuer gehalten, deren Aufkommen er z. B. für weltweite Umweltschutzmaßnahmen einsetzen will. Darüber geht heute die Auseinandersetzung. Und Sie haben völlig recht, die Menschen stellen sich die Frage: Wer zahlt? Im Augenblick muss man feststellen, dass wir das bezahlen, also Sie und ich und unsere Zuschauerinnen und Zuschauer, nämlich die Steuerzahler. Die Bürgerinnen und Bürger sollen bei dieser Auseinandersetzung auf der politischen Bühne bitte genau verfolgen, welche Kräfte sich in Deutschland an diesem Thema reiben. Da gibt es z. B. eine kleinere Partei, die FDP, die strikt dagegen ist. Da kann man also schon mal Unterschiede dingfest machen. Es ist nämlich nicht so, dass alle politischen Parteien nur mehr die Gemengelage eines großen Labskausgerichts sind. Nein, sie sind sehr wohl unterscheidbar, gerade in dieser Frage. Reuß: Nach all der Kritik an Ihnen als Bundesfinanzminister und all den offenen Fragen – die aber hoffentlich eines Tages doch beantwortet werden können –, muss man Ihnen wegen einer bestimmten Sache im Namen der Kinder und Kindeskinder wohl wirklich danken. Es ist Ihnen in Ihrer Amtszeit nämlich gelungen, eine Schuldenbremse einzuführen. Diese Schuldenbremse besagt, dass Bund und Länder ab einem bestimmten Zeitpunkt keine neuen Schulden mehr machen dürfen. Das ist löblich und das muss man auch einmal sagen, wenn man viel kritisiert. Wir sind am Ende unseres Gesprächs angelangt und ich darf mich bei Ihnen für das offene und auch menschlich angenehme Gespräch bedanken. Ich würde, wenn Sie erlauben, gerne mit drei kurzen Zitaten über Sie enden. Das erste stammt aus der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und lautet: "Peer Steinbrück ist ein nüchterner Mensch, der die Dinge sieht, wie sie sind und auch so darüber redet." Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" schrieb über Sie: "Ein Haifischgrinsen wie Jack Nicholson und eine Sprache scharf wie eine Waffe." Und in der "Neuen Zürcher Zeitung" stand so schön über Sie: "Der Höhepunkt der Finanzkrise war die Sternstunde des deutschen Finanzministers Peer Steinbrück. Er hielt den Druck der Krise nicht nur aus, er schien die Stunde der größten Verantwortung mit spielerischer Leichtigkeit und Eleganz geradezu auszukosten. Aber bei aller Überdurchschnittlichkeit hat er die Bodenhaftung nie verloren." Steinbrück: Das ist eine Schweizer Zeitung. Reuß: Dem ist nichts hinzuzufügen. Noch einmal ganz herzlichen Dank, Herr Steinbrück. Verehrte Zuschauer, das war unser alpha-Forum, heute mit Peer Steinbrück, dem ehemaligen Bundesfinanzminister. Herzlichen Dank für Ihr Interesse, fürs Zuschauen und fürs Zuhören und auf Wiedersehen.

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