00_201406_U1-U4.indd 5 Die »Blätter« und auch E-Paper jetzt als E-Book – im Probeabo Zwei Monate für nur 10 Euro: www.blaetter.de/kennenlernen digital! Sie Bl@ttern hinschauen. Diese Momente genau –und innehalten lassen uns Vorher ein Geschichtedie in Nachher ein und einteilt. herausragenden Momente derer aufgrund erweisen, man D Drei Elemente machen den des Kern NSA-Skandals von von NSA-Skandals des Zeiten in Privatheit Über Neuland in Citoyens ANALYSEN ALTERNATIVEN UND Edward Snowden könnten dieser einer sich als ie Enthüllungen des ehemaligen Geheimdienstlers Bernd Rheinberg Bernd aus: aus:

Blätter 6’14 Im Abo 6,55/5,10 € 6,55/5,10 Abo Im 10Einzelheft € Die Vermessung der Ungleichheit der NSA: Die Schere Thomas Piketty: Glenn Greenwald Paul Krugman Paul im Kopfim internationale deutsche und Blätter für Politik Klaus Naumann Klaus 1914: Verantwortung oder Schuld Jennings James post-rassistischesObamas Amerika? Fritz Thomas Güter Ausverkauf öffentlichen der TTIP: Geheimwaffe George Susan globaleDer Lobbyismus Claussen Detlev Utopie als Fußball Heinemann-Grüder Andreas Ukraine: Revolution Revanche und 6’14 21.05.14 10:46 Autorinnen und Autoren dieses Heftes editionBlätter Anzeige

Anne Britt Arps, geb. 1979 in Ham- Andreas Heinemann-Grüder, geb. burg, Politikwissenschaftlerin, Redak- 1957 in Potsdam, Dr. phil. habil., Pri- teurin der „Blätter“. vatdozent für Politikwissenschaften an der Universität . Demokratie oder Jens Becker, geb. 1964, in Frankfurt a. M., Dr. rer. soc., arbeitet als Bildungs- James Jennings, geb. 1949 in New referent in der Abteilung Studienför- York/USA, Ph.D., Politikwissenschaft- derung der Hans-Böckler-Stiftung. ler, Professor für Stadt- und Umwelt- politik an der Tufts University in Med- Kapitalismus? Andreas Behn, geb. 1963 in Hamburg, ford, Massachusetts/USA. Soziologe und Journalist mit Themen- schwerpunkt Lateinamerika, lebt in Niels Kadritzke, geb. 1943 in Rosen- Rio de Janeiro/Brasilien. berg/Westpreußen, freier Journalist und Redakteur der deutschen Ausga- Europa in der Krise , geb. 1961 in Müns- be von „Le Monde diplomatique“. ter/Westfalen, Sozialwissenschaftler, MdB, rentenpolitischer Sprecher der Rami G. Khouri, geb. 1948 in New Bundestagsfraktion der Linken. York/USA, Politikwissenschaftler, Di- rektor des Issam Fares Institute for Pu- »Die Großthemen werden heute nicht mehr Detlev Claussen, geb. 1948 in Ham- blic Policy and International Affairs burg, Dr. phil., Prof. em. für Gesell- (IFI) an der American University of unbedingt auf den Haupt- und Staatsbüh- schaftstheorie, Kultur- und Wissen- Beirut/Libanon. schaftssoziologie an der Universität nen ausgetragen, sondern in kleinen, ehr- Hannover. Michael R. Krätke, geb. 1950 in geizigen ›Programmtheatern‹. Ein Beispiel Lü neburg, Dr. rer. pol., Professor fü r Marc Engelhardt, geb. 1971 in Köln, Politische Ökonomie an der Universi- dafür ist der von den ›Blättern für deutsche langjähriger Afrikakorrespondent und tät Lancaster/Großbritannien. und internationale Politik‹ angestoßene Autor, Vorsitzender des Netzwerks „Weltreporter“. Paul Krugman, geb. 1953 in New Streit zwischen dem Philosophen Jürgen York/USA, Professor für Volkswirt- Habermas und dem Soziologen Wolfgang Thomas Fritz, geb. 1964 in Oldenburg, schaftslehre an der Princeton Univer- freier Autor mit den Schwerpunkten sity in New Jersey, Wirtschaftsnobel- Streeck über die Europäische Union. Schon Wirtschafts-, Entwicklungs- und Um- preisträger des Jahres 2008. weltpolitik, lebt und arbeitet in . beim ersten Schlagabtausch entstanden Daniel Leisegang, geb. 1978 in Schlüsseltexte, die fast alles auf den Tisch Susan George, geb. 1934 in Akron/ Unna, Politikwissenschaftler, „Blät- USA, Politikwissenschaftlerin und ter“-Redakteur. beförderten, was über die Jahre sauber Philosophin, Publizistin, ehem. Vize- versiegelt in separaten akademischen präsidentin von Attac Frankreich, Mit- Albrecht von Lucke, geb. 1967 in In- begründerin des International Institu- gelheim am Rhein, Jurist und Politik- Schubladen eingelagert war.« te in Amsterdam. wissenschaftler, „Blätter“-Redakteur.

Thomas Assheuer, »Die Zeit« Glenn Greenwald, geb. 1967 in New Klaus Naumann, geb. 1949 in , York/USA, Juris Doctor (J.D.), Rechts- Historiker und Politikwissenschaftler, anwalt, Journalist und Blogger, Mit- wiss. Mitarbeiter am Hamburger Insti- herausgeber der publizistischen Web- tut für Sozialforschung, Mitherausge- seite www.theintercept.com. ber der „Blätter“. Mit »Blätter«-Beiträgen von: Elmar Altvater, Ulrich Beck, Peter Bofi nger, Hauke Brunkhorst, Christian Calliess, Henrik Enderlein, Joschka Fischer, Claudio Franzius, Ulrike Guérot, Jürgen Habermas, Rudolf Hickel, Paul Krugman, Isabell Lorey, Oskar Negt, Claus Offe, Ulrich K. Preuß, Stephan Schulmeister, Wolfgang Streeck, Hans-Jürgen Urban, Hubert Zimmermann und Karl Georg Zinn

288 S. | 15,00 € | ISBN 978-3-9804925-7-7 | Bestellen auf www.blaetter.de Hinweis: In dieser Ausgabe finden Sie Beilagen der Wochenzeitung „Der Freitag“, des Papy- Rossa Verlags und des Wochenschau Verlags. Wir bitten um freundliche Beachtung.

00_201406_U2-U3.indd 6 21.05.14 10:58 Blätter für deutsche und internationale Politik

Monatszeitschrift 59. Jahrgang Heft 6/2014

Herausgeberkreis Katajun Amirpur . Seyla Benhabib Norman Birnbaum . Peter Bofinger Ulrich Brand . Micha Brumlik Dan Diner . Jürgen Habermas Detlef Hensche . Rudolf Hickel Claus Leggewie . Ingeborg Maus Klaus Naumann . Jens Reich Rainer Rilling . Irene Runge Saskia Sassen . Karen Schönwälder Friedrich Schorlemmer . Gerhard Stuby Hans-Jürgen Urban . Rosemarie Will

Begründet von Hermann Etzel . Paul Neuhöffer und Karl Graf von Westphalen Weitergeführt von Karl D. Bredthauer

Verlag Blätter Verlagsgesellschaft mbH Berlin

201406_Buch.indb 1 21.05.14 10:42 INHALT KOMMENTARE UND BERICHTE 6’14 5 Ein Jahr Snowden: Die sabotierte Aufklärung Daniel Leisegang

9 Die Idee des Westens: Vision und Realität Albrecht von Lucke

13 Neue Renten, ohne Niveau Matthias W. Birkwald

17 Die britische Blase und Labour ohne Biss Michael R. Krätke

21 Boko Haram: Nigerias entfesseltes Monster Marc Engelhardt

25 Brasilien oder Die WM der Widersprüche Andreas Behn REDAKTION Anne Britt Arps DEBATTE Daniel Leisegang Albrecht von Lucke 29 Die Legende Annett Mängel vom griechischen Schummeln Niels Kadritzke BESTELLSERVICE Tel: 030 / 3088 - 3644 AUFGESPIESST E-Mail: [email protected] 32 Um die Wurst Anne Britt Arps ANZEIGEN Tel: 030 / 3088 - 3646 KOLUMNE E-Mail: [email protected] 33 Palästina: WEBSITE Frieden durch Recht www.blaetter.de Rami G. Khouri

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201406_Buch.indb 2 21.05.14 10:42 ANALYSEN UND ALTERNATIVEN

37 Ukraine: Revolution und Revanche Andreas Heinemann-Grüder

47 NSA: Die Schere im Kopf Wie Massenüberwachung jeden Protest im Keim erstickt Glenn Greenwald

59 Barack Obama und der Mythos vom post-rassistischen Amerika James Jennings

71 Thomas Piketty oder Die Vermessung der Ungleichheit Paul Krugman

83 Macht ohne Rechenschaft: Der globale Lobbyismus Susan George

93 Geheimwaffe TTIP: Der Ausverkauf der öffentlichen Güter Thomas Fritz

101 Jogo bonito, das schöne Spiel: Fußball als Utopie Detlev Claussen

113 Historische Schuld und politische Verantwortung EXTRAS Die Gegenwart der Vergangenheit des Großen Krieges 35 Kurzgefasst Klaus Naumann 124 Dokumente 125 Chronik des Monats BUCH DES MONATS April 2014 128 Zurückgeblättert 121 1914 und die Spaltung der Linken 128 Impressum und Jens Becker Autoren

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201406_Buch.indb 3 21.05.14 10:42 Jürgen Habermas zählt zu den bedeutendsten Intellek- tuellen der Gegenwart. Anlässlich seines 85. Geburts- tages präsentieren wir sämtliche Texte, die in den »Blättern« von und zu ihm erschienen sind.

Beiträge von Micha Brumlik, Rainer Forst, Klaus Gün- ther, Axel Honneth, Ingeborg Maus, Oskar Negt, Ulrich Oevermann, Claus Offe, Albrecht Wellmer – und von Jürgen Habermas

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201406_Buch.indb 4 21.05.14 10:43 KOMMENTARE UND BERICHTE

Daniel Leisegang Ein Jahr Snowden: Die sabotierte Aufklärung

Am 6. Juni liegen die ersten Enthüllun- Die Entmachtung des Parlaments gen der NSA-Totalüberwachung ge- nau ein Jahr zurück. Seitdem verging Bereits die schwarz-gelbe Vorgänger- kaum eine Woche ohne neue Meldun- regierung behinderte ganz gezielt die gen über die Ausspähaktionen westli- Arbeit des Parlamentarischen Kontroll- cher Geheimdienste. Inzwischen wis- gremiums (PKG).1 Beispielsweise er- sen wir, dass allen voran der US-ame- hielt das PKG von der Bundesregierung rikanische Militärgeheimdienst NSA zahlreiche Akten mit nahezu vollstän- und das britische GCHQ weltweit na- dig geschwärztem Inhalt – die oben- hezu die gesamte elektronische Kom- drein so bereits zuvor im Internet abruf- munikation ausspionieren. Nie zuvor bar waren. Derlei systematische Auf- in der Geschichte hat es einen derart klärungssabotage verhindert jede ef- umfangreichen und systematischen fektive Kontrolle der Geheimdienste Angriff auf die Privatsphäre gegeben. und hält zudem die Mitglieder des Das eigentlich Überraschende aber Kontrollgremiums zum Narren: Wie- ist, dass dieser Angriff bislang keine derholt wiesen diese darauf hin, von nennenswerten politischen Folgen ge- neuen NSA-Skandalen nicht von den zeitigt hat – weder in den USA noch in Geheimdienstchefs oder der Bundes- der EU. Und auch die Bundesregierung regierung erfahren zu haben, sondern hat von Anfang an eine Strategie des aus den Medien.2 Verschleppens betrieben. Daran hat Seit Anfang April tagt außerdem sich bis heute, trotz eines Wechsels des ein NSA-Untersuchungsausschuss des „kleineren“ Koalitionspartners, nichts Bundestages. Er soll das Ausmaß der geändert. Überwachung durch ausländische Damit ist der NSA-Skandal längst Dienste sowie mögliche Vorkehrungen auch Ausdruck einer politischen Ban- und Konsequenzen aus der NSA-Affä- krotterklärung der Regierung Merkel – re untersuchen. Doch von Aufklärung und zwar in dreierlei Hinsicht: Erstens ist auch hier bislang nichts zu sehen. hat diese gezielt die parlamentarische Zum einen kündigte die Bundesregie- Kontrolle der Geheimdienste blockiert; rung an, dem Ausschuss ebenfalls nur infolgedessen hat sie zweitens ihre eingeschränkten Zugang zu den Ak- eigene politische Legitimität einge- ten zu gewähren, um den „Kernbe- büßt; und drittens hat die Bundesregie- reich der exekutiven Eigenverantwor- rung der demokratischen Öffentlich- tung“ zu schützen. Dazu zählen insbe- keit nachhaltigen Schaden zugefügt. sondere Unterlagen über die Koopera- Die langfristigen Folgen sind drama- tionen zwischen den deutschen, ame- tisch: Die NSA-Affäre untergräbt näm- rikanischen und britischen Geheim- lich nicht nur das ohnehin geringe Ver- diensten. trauen in die Nachrichtendienste und in den Schutz unserer Privatsphäre, 1 Vgl. Daniel Leisegang, Schöne neue Überwa- chungswelt, in: „Blätter“, 8/2013, S. 5-8. sondern längst auch in die demokrati- 2 Vgl. Reform in homöopathischen Dosen, in: schen Prozesse und Institutionen. „Der Tagesspiegel“, 14.3.2014.

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Zum anderen lähmte ein wochenlan- Volk“ abzuwenden und das Grundge- ger Streit über die mögliche Anhörung setz zu verteidigen. Demnach wäre es Edward Snowdens die Ausschuss- ihre Pflicht, die Bevölkerung vor den arbeit. Eine Einladung des Whistle- Spähangriffen der NSA zu schützen. blowers nach Berlin lehnte die Große Was aber stattdessen das Regie- Koalition von Beginn an strikt ab. Sie rungshandeln bestimmt, legte im befürchtet nicht nur Schaden für die vergangenen Sommer der ehemali- deutsch-amerikanischen Beziehun- ge Bundesinnenminister Hans-Peter gen, sondern auch eine „Beeinträchti- Friedrich schlagartig offen: Er recht- gung der Kooperation mit US-Sicher- fertigte die Überwachungen mit einem heitsbehörden, die für die Sicherheit „Supergrundrecht“ auf Sicherheit und Deutschlands von grundlegender Be- stellte dieses damit kurzerhand über deutung ist.“3 Kurzum: Geheimdienst- den Artikel 1 GG. Dieser lautet be- arbeit geht vor Aufklärung, Staatswohl kanntlich: „Die Würde des Menschen geht vor Gemeinwohl. ist unantastbar.“ Die Merkel-Regie- Die US-Regierung unterstützt diese rung folgt dagegen der Direktive: „Die Blockadehaltung: Sie droht den Aus- Überwachungsinstrumente der NSA schussmitgliedern indirekt mit Straf- sind unantastbar.“ verfolgung, sollten diese Snowden an- Diese Richtlinie hat unter Angela hören. Die Abgeordneten könnten Merkel offenbar Kontinuität: So soll künftig an einer Einreise in die USA ihre erste Große Koalition den US- gehindert und – je nach Faktenlage – Diensten sogar das Ausspähen deut- der Verschwörung angeklagt werden.4 scher Bürger erleichtert haben. Im Die Regierungen in Berlin wie auch Jahr 2009 änderten die damaligen Re- in Washington sehen somit offenbar gierungsfraktionen auf Druck und nicht in den Spähexzessen der Ge- nach Maßgabe der NSA das G 10-Ge- heimdienste das Problem, sondern in setz.5 Dieses regelt, inwieweit deutsche deren Aufklärung. Zugleich degradie- Nachrichtendienste in das durch Arti- ren sie den zum Zaungast kel 10 des Grundgesetzes garantierte der Aufklärungsarbeit. Damit bleiben Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis auch die Bürgerinnen und Bürger wei- eingreifen dürfen. Damals wurde unter ter im Unklaren, inwieweit sie tatsäch- anderem die Befugnis zur Übermitt- lich von der Ausspähung durch west- lung der daraus gewonnenen Daten an liche Geheimdienste betroffen sind – ausländische Stellen eingefügt, ver- jedenfalls solange, bis es weitere Ent- mutlich mit dem Ziel, eine Ausspähung hüllungen in den Medien gibt. in Deutschland durch die NSA zu er- leichtern. Sollte diese Anschuldigung stim- Der Verlust politischer Legitimität men, hätte die Regierung Merkel der NSA direkte Amtshilfe geleistet. Bis Dies führt unmittelbar zur zweiten heute hat sie sich jedoch nicht zu den Pleite der Regierung Merkel: dem Ver- Behauptungen Snowdens geäußert. lust politischer Legitimität. Auch beim jüngsten Besuch Merkels Die Bundeskanzlerin und sämtliche in den USA Mitte Mai kam der NSA- ihrer Minister haben in ihrem Amtseid Skandal nur am Rande zur Sprache. geschworen, „Schaden vom deutschen Kurz zuvor hatte Bundesinnenminister Thomas de Maizière noch betont, als 3 Vgl. www.netzpolitik.org, 2.5.2014. Die Bun- desrepublik müsste Snowden bei einer An- „überzeugter Transatlantiker“ sehe hörung in Deutschland auch nicht an die USA er keine Alternative zur Zusammen- ausliefern: Vgl. www.zeit.de, 8.5.2014. 4 Vgl. Snowden-Vernehmung: US-Schützenhil- fe für die Bundesregierung, www.spiegel.de, 5 So berichtete es Edward Snowden dem EU- 1.5.2014. Parlament in einer Anhörung am 7.3.2013.

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arbeit der Nachrichtendienste der Lasten der Judikative und zugunsten USA, Großbritanniens und Deutsch- der Exekutive.7 lands: „Sie liegt in unserem nationa- Der Angriff auf die Grundrechte und len Interesse“, so de Maizière – offen- die Privatsphäre jedes Einzelnen be- bar auch dann, wenn die Grundrechte droht auch die politische Öffentlich- von den „Partnern“ mit Füßen getreten keit. Bereits seit längerem befinden werden. sich Aktivisten von Nichtregierungs- organisationen im Visier der Geheim- dienste. Besonders die US-Regierung Der Angriff auf die Privatsphäre – nutzt abgefangene Kommunikations- und die politische Öffentlichkeit daten, um gezielt gegen missliebige Personen vorzugehen.8 Die Folgen für die Privatsphäre der So wurde im vergangenen April Ma- Bürgerinnen und Bürger sind drama- ritta Strasser vom Kampagnennetz- tisch. Der private, von staatlichem Zu- werk Campact an der Einreise in die griff und Zensur geschützte Kommu- USA gehindert. Sie hatte zuvor im Rah- nikationsraum bildet in einer Demo- men einer Kampagne gegen das ge- kratie im Idealfall den Ausgangspunkt plante Freihandelsabkommen mit den öffentlicher Debatten.6 Dennoch ver- USA das Thema Geheimdienste be- sucht die Bundesregierung seit länge- arbeitet. Bereits Ende September 2013 rem in diesen einzudringen, unter an- war Ilija Trojanow die Einreise in die derem indem sie die Einführung einer Vereinigten Staaten verweigert wor- Vorratsdatenspeicherung plant. den. Der deutsche Schriftsteller war Dabei hatte das Bundesverfassungs- auf dem Weg zu einem Germanisten- gericht schon im März 2010 entschie- kongress und hatte zuvor eine Protest- den, dass die anlasslose, sechsmona- petition gegen die NSA-Überwachung tige Speicherung von Telekommuni- unterzeichnet. kationsverkehrsdaten mit Art. 10 GG Diese Beispiele verdeutlichen, wie unvereinbar ist. Im April d.J. kam auch schmal der Grat zwischen Überwa- der Europäische Gerichtshof zu dem chung und Repression ist. Umso dring- Urteil, dass die Richtlinie der EU-Kom- licher ist eine rückhaltlose Aufklärung mission zur Vorratsdatenspeicherung und die effektive Kontrolle der Ge- im Widerspruch zum EU-Recht stehe heimdienste. Da aber die parlamenta- und „ein besonders schwerwiegender rische Kontrolle blockiert ist und die Eingriff in die Grundrechte auf Ach- Judikative von sich aus keine aktive tung des Privatlebens und auf Schutz Aufklärung betreiben kann, muss die personenbezogener Daten“ sei. demokratische Selbstbehauptung un- Ungeachtet dessen hält insbesonde- mittelbar aus der Zivilgesellschaft he- re die Union unbeirrt an der Vorrats- raus erfolgen. datenspeicherung fest – und will dafür ausgerechnet den Hüter des Grund- gesetzes schwächen: Aus Unmut über Die Ratlosigkeit der „Netzgemeinde“ allzu liberale Urteile aus Karlsruhe fordern konservative Unionsabgeord- Der Haken ist nur: Bislang ist we- nete um Fraktionschef der im Netz noch auf der Straße eine (CDU), die Zuständigkeit des Bundes- nennenswerte Protestbewegung ent- verfassungsgerichts zu beschneiden. standen. Die Rat- und Orientierungs- Mit anderen Worten: Sie wollen die Gewaltenteilung neu ausrichten – zu 7 Vgl. Ärger über liberale Urteile: CDU will Rechte der Verfassungsrichter beschränken, www.spiegel.de, 6.4.2014. 6 Vgl. den Beitrag von Glenn Greenwald in die- 8 Vgl. Snowden: NSA spioniert auch Bürger- ser Ausgabe. rechtler aus, www.dw.de, 8.4.2014.

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losigkeit der Netzaktivisten zeigte sich Die wichtigsten politischen Forderun- besonders deutlich auf der Konferenz gen liegen auf der Hand: Die Überwa- „re:publica“ Anfang Mai in Berlin. cher selbst müssen streng überwacht Sie gilt als das alljährliche „Klassen- und kontrolliert werden. Dafür aber treffen“ all jener, die sich seit der ers- muss die Bundesregierung ihre Blo- ten Stunde im Netz tummeln. Ein Jahr ckade der parlamentarischen Kontroll- nach Snowden erschöpften sich die arbeit aufgeben; zugleich müssen die Vorträge – bis auf wenige Ausnahmen Befugnisse des Bundestages erweitert – jedoch in nachgereichten Analysen, werden. Schließlich bedarf es interna- wohlmeinenden Appellen und der Su- tionaler Vereinbarungen, damit auch che nach „neuen Narrativen“. Konkre- andere Staaten ihre Massenausspäh- te politische Handlungsoptionen sind waffen abrüsten – allen voran die USA daraus bislang nicht erwachsen. und Großbritannien. Der Grund dafür liegt in der überaus Um diese Ziele zu erreichen, steht heterogenen und nur in Teilen politi- die Protestbewegung vor drei Heraus- sierten Netzgemeinde. Tatsächlich be- forderungen: Erstens muss sie das Aus- greift sich die Mehrheit der Internet- maß und die Auswirkungen der Aus- nutzer in erster Linie als Konsumenten. spähung greifbar machen. Vielen er- Darum bildete auch ein skurriler Wer- scheint die Überwachung durch NSA beauftritt David Hasselhoffs das High- und Co. noch immer als zu abstrakt light der diesjährigen re:publica. Und und daher als nicht bedrohlich – weder kaum ein Teilnehmer störte sich daran, für sich selbst, noch für die Demokra- das ausgerechnet NSA-Kollaborateur tie. Erst wenn das Bewusstsein für die Microsoft als einer der Hauptsponso- Bedrohung geschaffen ist, wird die Be- ren der Konferenz auftrat. wegung – zweitens – auch die vorherr- Damit spiegelt das Publikum zu- schende politische Bequemlichkeit nächst einmal die gesellschaftliche überwinden können. Fest steht: Mit Realität wider. Gleichzeitig rächt es Likes, Retweets und Online-Petitionen sich jedoch bitterlich, dass ein Groß- wird die Übermacht der Geheimdiens- teil der sogenannten Digital Natives te nicht zu brechen sein. Stattdessen das Netz lange Zeit vor allem als sub- bedarf es konkreter politischer Aktio- kulturelle Spielwiese betrachtet hat. nen – und nicht zuletzt auch Spenden.9 Während sie aber auf Twitter noch über Beides bildet schließlich die Vorausset- „Internetausdrucker“ und „Totholzme- zung dafür, um den Protest – drittens – dien“ spöttelten, lief das größte Späh- lautstark auf die Straße zu tragen. programm der Menschheitsgeschichte Beispiele für vergleichbare politi- bereits auf Hochtouren. sche Mobilisierungen gibt es in der jüngeren Geschichte genug – nicht zu- letzt in der Friedens- oder Anti-Atom- Die Herausforderungen der bewegung. Gelingt es der neuen Bür- neuen Bürgerrechtsbewegung gerrechtsbewegung, es diesen gleich- zutun und die Grundrechte zu ver- Die Überwachungsmaschinerie wird teidigen, hätte sie sowohl der digita- nur zu stoppen sein, wenn die Orien- len Sphäre als auch der analogen De- tierungslosigkeit rasch programmati- mokratie einen überlebenswichtigen schem Widerstand weicht. Den organi- Dienst erwiesen. satorischen Ansatzpunkt für eine neue Bürgerrechtsbewegung bieten unter 9 Vgl. dazu Sascha Lobos pointierte Rede auf anderem die „Digitale Gesellschaft“, der re:publica, „Zur Lage der Nation“, (www. gewissermaßen das Greenpeace des youtube.com/watch?v=3hbEWOTI5MI) sowie Felix Schwenzels Vortrag „Wie ich lernte, die Netzes, oder die politischen Hacker Überwachung zu lieben“, www.wirres.net, vom Chaos Computer Club. 9.5.2014.

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Albrecht von Lucke Die Idee des Westens: Vision und Realität

Die Krise in der Ukraine eskaliert der- Gleichzeitig werden erstaunliche zeit nicht nur geographisch, sondern Wunschbilder des Westens als geo- auch ideologisch – und zwar auch in politischer Akteur gezeichnet. „Zeit“- unseren Breiten. Im 25. Jahr nach der Herausgeber Josef Joffe, der eben noch Zeitenwende von 1989 werden wie- für eine machtvolle, militärbewehrte der die alten Gräben bezogen: auf der „Kultur der Kriegsfähigkeit“3 plädiert einen Seite die Apologeten der Nato, hatte, verortet nun allein Putin „im 19. die in erstaunlichem Kurzschluss den Jahrhundert, im Zeitalter der Macht- Westen mit dem transatlantischen Ver- politik“. Der Westen, zumal Europa, teidigungsbündnis gleichsetzen; auf befinde sich dagegen „im 21. Jahr- der anderen Seite ein Teil der Linken, hundert. Clausewitz ist tot, der Krieg der am liebsten mit der Kritik an Nato ist nicht mehr Instrument der Politik. und Kapitalismus auch den Westen in Rivalen messen sich auf dem Markt, Gänze beerdigen würde. nicht auf dem Schlachtfeld. In dieser Die größte Gefahr besteht somit da- Arena herrschen Regeln und Verträge, rin, dass zwischen den beiden Kontra- ihr Sinn ist der gemeinsame Gewinn.“4 henten auch die „Idee des Westens“ Man reibt sich verwundert die Au- zerrieben wird – nämlich der Anspruch gen und fragt sich, ob man die letzten auf universelle Gültigkeit von Demo- zehn Jahre in einer anderen Welt ge- kratie und Menschenrechten. Wie aber lebt hat: in einer Welt völkerrechtswid- funktioniert das fatale Zusammenspiel riger US- und Nato-Kriege im Irak und der beiden Lager genau? in Libyen, in einer Welt von CIA-Fol- Von den Verfechtern des transatlan- ter und globaler NSA-Überwachung. tischen Bündnisses werden derzeit mit Doch offenbar ist die Ukraine-Krise Verve die Feindbilder des Kalten Krie- für die Apologeten der Nato die will- ges reaktiviert – hier der böse Osten, da kommene Chance, sich selbst zu ver- der gute Westen, hier die US-geführ- sichern, dass man (noch immer) mit te Nato als Hort von Freiheit und Men- beiden Beinen im richtigen, moralisch schenrechten, dort das ewig gestrige überlegenen System steht. Russland. Das alte Weltbild der Kalten Diese enorme Selbstgerechtigkeit Krieger stimmt wieder; ihr sehnsüchti- liefert jenem Teil der Linken Munition, ger Ruf seit 1989 – „Gebt uns ein Feind- der schon lange dem westlichen Pro- bild!“ – wurde endlich erhört. „Putin jekt eine Abfuhr erteilen will. Kaum sei Dank“, bringt es Klaus-Dieter Fran- zu übersehen ist die klammheimliche kenberger, transatlantischer Chef- Freude5 darüber, dass in der Ukraine stratege der FAZ, auf den Punkt.1 Und „der Westen“ nun endlich seine Quit- „Bild“ jubiliert: „Es ist fast wie früher: tung bekommt für die Hybris der letz- Der Feind im Osten schweißt den Wes- ten 25 Jahre. ten fest zusammen.“2 3 Josef Joffe, Ein bisschen Krieg, in: „Die Zeit“, 1 Klaus-Dieter Frankenberger, In der rauhen 30.1.2014; dazu: Albrecht von Lucke, Der nütz- Wirklichkeit, in: „Frankfurter Allgemeine liche Herr Gauck, in: „Blätter“, 3/2014, S. 5-8. Zeitung“ (FAZ), 26.3.2014. 4 Josef Joffe, Zug und Druck, in: „Die Zeit“, 6.3.2014. 2 Vgl. Wird die Nato wieder sexy?, in: „Bild“, 5 Zum Ausdruck kam diese unter anderem auf 27.3.2014. dem jüngsten Parteitag der Linkspartei.

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Hier aber liegt das zentrale Problem Pervertierung gleich gesetzt, seiner – in der Gleichsetzung des Westens egoistischen Indienstnahme durch den als geostrategischem Akteur mit dem realexistierenden Westen als geopoliti- Projekt von universellem Geltungsan- schem Player. Die fatale Konsequenz: spruch. Zweifellos gab es immer eine Wenn der Universalismus „seinem We- Diskrepanz zwischen dem geographi- sen nach“ totalitär ist, kann es keine schen Westen und der Idee des Wes- Berechtigung zur Verteidigung uni- tens. Die eigentliche Errungenschaft versell gültiger Menschenrechte mehr des „langen Weges nach Westen“ geben. So wird mit dieser Position das (Heinrich August Winkler) war daher Kind mit dem Bade ausgeschüttet. nicht primär die Ankunft der Bundes- Richtig ist, dass der im Westen ge- republik im westlichen Bündnis (und borene Universalismus immer auch dann, 1990, im Nationalstaat), son- die Gefahr beinhaltet, als höhere Mo- dern in der westlichen Denktradition, ral – im Namen der Menschheit – auf- sprich: im Westen als einem norma- zutreten und damit alles zu rechtfer- tiven Projekt. Das erst bedeutete das tigen. Diese Dialektik von Moral und Ende der deutschen „Ideen von 1914“ Macht(missbrauch) ist dem Westen von (versus 1789), der damaligen Ent- Beginn an eigen. Nach 1789 versuch- gegensetzung etwa bei Thomas Mann te Frankreich unter Napoleon die Welt von tiefer deutscher „Kultur“ und ober- missionarisch zu beglücken und nicht flächlicher, demokratischer „Zivilisa- erst, aber vor allem seit 1989 tun dies tion“. Und wie wir nicht erst heute wis- auch die USA – in Irak und Guantánamo sen, waren dafür die totale Niederlage wie mit den Mitteln der NSA. von 1945 und die folgende Schöpfung des Grundgesetzes weit wichtiger als die Herstellung der nationalen Einheit. Links-rechtes Crossover Diese entscheidende Differenz – zwischen dem Westen als geostrategi- Das Projekt des Westens geht in diesen schem Raum und seiner universalisti- „Kollateralschäden westlicher Mo- schen Idee – droht derzeit auch auf der ral“ (Augstein) jedoch nicht auf. Denn Linken mehr und mehr unter die Rä- gleichzeitig besteht der aufklärerische der zu geraten. Wie weit die Verwir- Kern des westlichen Projekts ja gerade rung inzwischen reicht, zeigt sich etwa in seiner Fähigkeit zur (Selbst-)Kritik – am Beispiel Jakob Augsteins. „Totalitä- und damit zur Korrektur des eigenen re Ideologien neigen nicht zum Selbst- Versagens und seiner falschen Politik. zweifel“, stellt der „Freitag“-Heraus- Allerdings hat es der realexistieren- geber treffend fest, um dann jedoch zu de Westen allzu oft daran fehlen las- einem verheerenden Beleg zu greifen: sen und mit seiner universellen Moral „Das, was der Historiker Heinrich Au- koloniale und imperialistische Herr- gust Winkler ‚das normative Projekt schaft legitimiert. des Westens’ genannt hat, war seinem Was daher auf der Linken vom Wes- Wesen nach von Anfang an eine tota- ten – seiner Idee entleert – allzu oft litäre Ideologie: Universalismus ist to- bleibt, ist seine Pervertierung durch talitär.“6 Imperialismus und Kapitalismus. Und Hier zeigt sich eine dramatische natürlich kann dann der Faschismus- Verkennung des Westens als Projekt. Vorwurf gegenüber „dem Westen“ Die Idee des Westens, der Universalis- nicht weit sein – wie er auch im aktuel- mus von Freiheit, Gleichheit, Brüder- len Ukraine-Konflikt wieder erhoben lichkeit, wird umstandslos mit seiner wird, und zwar weit über die Kritik an den Rechtsradikalen in der Regierung 6 Vgl. Jakob Augsteins Kolumne „Im Zweifel links“ vom 21.4.2014: Auferstehung West?, hinausgehend. Man fühlt sich ein we- www.spiegel.de. nig an die vulgärmarxistische Ablei-

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tungslogik von ’68 erinnert: „Kapitalis- tenberg. Der einstige Kurzzeit-Vertei- mus führt zum Faschismus, Kapitalis- digungsminister befand aus sicherer mus muss weg“ – natürlich um Platz für Entfernung, nämlich Greenwich/Co- eine irgendwie geartete „sozialistische lorado: „Der Sexappeal der Nato hat in Alternative“ zu schaffen. Die Ironie der den letzten Jahren schwer gelitten, da Geschichte: Dass wir es heute in Russ- das Geld für notwendige Schönheits- land (wie auch in China) nur mit einer operationen an allen Ecken und Enden anderen und zudem ziemlich unattrak- fehlt.“ Sex-Appeal der Nato und militä- tiven Form des Kapitalismus zu tun ha- rische Chips: Hier bricht sich der gan- ben, wird von den rabiaten Kritikern ze neokonservative Militär-Zynismus des Westens geflissentlich übersehen. Bahn – immer untermauert mit angeb- Was jedoch am Ende bleibt – nach lich „westlichen Werten“. der Preisgabe universalistischer Maß- stäbe –, ist zynischer Relativismus und der Rückzug in den Isolationismus. So Das Dilemma von spielt die Absage an den westlichen Moral und Macht(missbrauch) Universalismus jeglichen autoritären Potentaten in die Hände. Zugleich liegt Wie aber wäre diesem Dilemma von darin die Gefahr eines neuen, gefährli- Moral und Macht(missbrauch) zu ent- chen links-rechten Crossovers, das an gehen? Wie müsste eine konsequente Weimarer Zeiten erinnert. Wenn etwa Politik Europas zur Verteidigung west- die Europäische Linke im EU-Parla- licher Werte – sprich: der universellen ment die Lage in der Ukraine wie folgt Menschenrechte – aussehen? kommentiert: „Wir sind Zeugen der Dafür zeichnen sich im Augenblick Entstehung eines Nazi-Staates – geför- zwei Möglichkeiten ab. Die ambitio- dert von den USA und der EU“7, dann niertere, aber auch gefährlichere hat benutzt sie die gleichen Schlagworte die Vorsitzende der Linkspartei, Katja wie russische Rechtsnationalisten vom Kipping, in ihrer Rede auf dem jüngs- Schlage Wladimir Schirinowskis und ten Parteitag formuliert. Es gelte „die die zahlreichen Rechtsradikalen im transatlantische Vasallentreue“ in Fra- neugewählten Parlament in Straßburg. ge zu stellen – durch „ein blockfreies, Die Stoßrichtung ist dieselbe: Aus dem ein unabhängiges Europa“. Und, so liberalen Westen kommt das Übel. Kippings Konsequenz, „wer solch ein Diese klar anti-westliche Politik unabhängiges Europa will, der muss es spielt wiederum den Nato-Alliierten aus dem Block eines einseitigen Mili- unter den Intellektuellen in die Hän- tärbündnisses, wie der Nato, lösen.“ de, bestätigt sie doch deren (pro-)rus- Was allerdings soll hier unter Block- sisches Feindbild und damit die eige- freiheit zu verstehen sein? Der blo- ne, militärische Konfrontationsstrate- ße Wille zu Koexistenz und Abrüs- gie. Nach Ansicht von Josef Joffe feh- tung (im Geiste der alten „Bewegung len Europa einfach „im machtpoliti- der blockfreien Staaten“ zu Zeiten des schen Spiel die militärischen Chips“.8 Kalten Krieges) dürfte jedenfalls nicht Und zu seiner Unterstützung meldete reichen, um Stabilität und Frieden in sich prompt ein bekannter Großden- Europa zur Durchsetzung zu verhelfen, ker in transatlantischen Sicherheits- von global gültigen Menschenrechten fragen zu Wort: Karl-Theodor zu Gut- ganz zu schweigen. Diese sehr weit gehende Emanzipa- 7 Inzwischen ist die Position von der Homepage der Europäischen Linken gelöscht worden, tion Europas von der Übermacht der nicht aber von der Dieter Dehms, www.diet- USA muss nämlich auch die Frage be- her-dehm.de/index.php/positionen/874-uk- antworten, wie in Zukunft die Sicher- raine-odessa. 8 Josef Joffe, Europa fehlen die militärischen heitsfrage zu lösen ist. Die Ukraine- Chips, www.zeit.de, 27.3.2014. Krise hat auch die Verteidigungspro-

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blematik zurück auf die Agenda beför- hunderts aufzuarbeiten – nämlich sei- dert. Bei aller berechtigten Kritik an ne Abkopplung vom Völkerrecht. Der der Nato kommen auch deren Kritiker Westen wird nur dann verloren gegan- an der Erkenntnis nicht vorbei, dass gene Glaubwürdigkeit zurückgewin- sich angesichts der Putinschen Anne- nen können, wenn er seine doppelten xionspolitik derzeit nicht nur Polen und Standards, bei Kriegsinterventionen Balten auf die Abschreckung durch wie bei Rüstungsexporten, selbstkri- das westliche Verteidigungsbündnis tisch ins Visier nimmt und die univer- verlassen, sondern auch (ob bewusst selle Gültigkeit von Freiheit, Gleich- oder unbewusst) die meisten Deut- heit, Demokratie für alle verteidigt. schen. Ohne eine eigene Sicherheits- Das aber gilt auch und besonders und Verteidigungsgemeinschaft Euro- für die Bundesrepublik. Die gelungene pas wird man die Nato daher nicht ent- Westintegration der Bonner Republik sorgen können. bestand ja gerade in der Absage an den So richtig eine stärkere Emanzi- alten preußischen Machtstaat, der den pation Europas von den USA ist, etwa Krieg stets als bloße Fortsetzung der durch die Einbeziehung der OSZE, er- Politik mit anderen Mitteln begriffen scheint daher ein anderer „Weg gen hatte, was bereits im Ersten Weltkrieg Westen“ – zur Verteidigung der west- schrecklich auf die Spitze getrieben lichen Ideale – doch realistischer. Er wurde. Die Krise in der Ukraine zeigt hat in einer viel schärferen Auseinan- nun wie in einem Brennglas, wie we- dersetzung über die Frage zu liegen, nig militärische Machtpolitik des Wes- worin die Idee des Westens heute be- tens zur Problemlösung in Europa oder steht – und zwar vor allem mit der Re- auch nur zur Verteidigung der eigenen gierung der USA, letztlich aber mit der nationalen Interessen in der Lage ist. gesamten Völkergemeinschaft. Denn: Stattdessen muss die alte bundesrepu- Die universellen Menschenrechte sind blikanische Politik der Zurückhaltung zwar das historische Erbe des Westens, und Diplomatie zur Anwendung kom- aber keineswegs sein Eigentum. Kein men, notfalls untermauert mit wirt- Land ist heute allein im Besitz höhe- schaftlichen Sanktionen. rer, da universell gültiger Werte. Statt Kriegerische Intervention kann im dessen wurde mit den Vereinten Natio- 21. Jahrhundert nur auf dem Boden des nen die Idee des Westens auf eine glo- Völkerrechts gerechtfertigt sein. Das bale Ebene gehoben. Aus Werten des ist die Lehre des letzten Vierteljahr- Westens wurden global gültige Wer- hunderts und nicht eine angebliche te. Die internationale Solidarität hat im Realpolitik, die letztlich ohne Rückbin- Völkerrecht ihre rechtliche Materiali- dung an moralische und völkerrecht- sierung erfahren – das war die Konse- liche Kriterien auszukommen glaubt. quenz des verheerenden 20. Jahrhun- Die vergangenen 25 Jahre – und vor al- derts, gezogen vom Völkerbund bis zu lem die Zeit seit Nine Eleven – haben den Vereinten Nationen. Die Idee des gezeigt, wie verheerend die Hybris Westens, als Universalismus der Men- eines westlichen Alleinvertretungs- schenrechte, lebt daher heute in Mil- anspruchs ist. Diese permanente Ge- lionen von Menschen in Europa wie in fährdung der Idee des Westens än- den USA, aber auch in Russland und dert jedoch nichts an der prinzipiellen natürlich auch in Asien – allerdings Richtigkeit dieser Idee. Dafür stehen überall gefährdet durch die herrschen- heute die Bindung an das Völkerrecht de Macht und ihren Missbrauch. und die Vereinten Nationen – und die Will er diese Idee wirklich schützen, Vision einer Weltinnenpolitik, die (we- wird es speziell für den Westen darauf nigstens im Prinzip) jegliche Men- ankommen, seine fatalen Fehler und schenrechtsverletzung als eine Sache Versäumnisse des letzten Vierteljahr- der gesamten Menschheit begreift.

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Matthias W. Birkwald Neue Renten, ohne Niveau

Auf dem DGB-Bundeskongress Mitte chen Renten weiter hinter den Löhnen Mai warb , Bundesmi- zurückbleiben: Die Renten werden an nisterin für Arbeit und Soziales, noch Kaufkraft verlieren und noch weniger einmal enthusiastisch für ihr Renten- vor Altersarmut schützen als bisher. paket. Kurz vor der Abstimmung im Warum aber führen die selektiven Bundestag Ende Mai lobte sie insbe- Verbesserungen des Rentenpakets zu sondere die „abschlagsfreie Rente ab sinkenden Renten für alle? Was ist 63“. Dabei war koalitionsintern längst der eigentliche „Sanierungsbedarf“ eine weitere Verwässerung im Ge- am Haus der gesetzlichen Rentenver- spräch: Auf Drängen der CDU/CSU soll sicherung und was wäre dafür zu tun? eine angeblich drohende „Frühverren- tungswelle“ verhindert werden, indem Zeiten der Arbeitslosigkeit nur bis zwei Rentenpaket: Manches wird gut… Jahre vor dem Rentenbeginn ange- rechnet werden.1 Andrea Nahles wirbt in Reden und Damit bestimmte einmal mehr vor Interviews für ihr Rentenpaket mit der allem die Rente ab 63 bzw. 65 die De- Anerkennung der Lebensleistung. Da- batte um das aktuelle Rentenpaket. bei hat sie aber nicht die Lebensleis- Dabei ließe sich noch weit mehr und tung aller Versicherten im Blick, son- vor allem Grundsätzlicheres an den dern nur sehr spezifische und vor allem Rentenplänen der Großen Koalition die der älteren Generationen. kritisieren. So profitieren von der sogenannten Mit ihrem unbeirrbaren Gefühl für Mütterrente Erziehende, deren Kinder Brisanz und Stimmungsmache hatte vor 1992 geboren wurden. Sie erhiel- die „Bild“-Zeitung im Vorfeld der An- ten bislang nur einen „Entgeltpunkt“3 hörung zum Rentenpaket im Bundes- gutgeschrieben, Eltern von jüngeren tag den Kern der sachverständigen Kri- Kindern jedoch drei. Diese Gerechtig- tik des DGB, der Arbeitnehmerkammer keitslücke wird allerdings nicht ge- Bremen und der DRV2 erfasst und ihn schlossen, sondern nur verringert: Für in marktschreierischer Manier aufge- die älteren Kinder gibt es ab sofort zwei griffen: „Enthüllt: Rente schrumpft (!) Entgeltpunkte. Deren Mütter (und die durch GroKo-Pläne!“, hatte „Bild“-On- wenigen Väter, die Erziehungszeiten line am 4. Mai getitelt. Reißerisch, aber bei der Rente geltend machen kön- leider wahr. nen) werden ab dem 1. Juli im Westen Zwar können sich am 1. Juli 2014 28,61 Euro brutto mehr Rente im Mo- viele Rentnerinnen und Rentner end- lich wieder über Leistungsverbesse- 3 Entgeltpunkte sind die zentrale Werteinheit rungen freuen. Doch in den kommen- der gesetzlichen Rentenversicherung. Ver- den Jahren werden die durchschnittli- einfacht: Wer für ein Jahr in Höhe des Durch- schnittseinkommens Beiträge bezahlt hat, bekommt auf dem Versicherungskonto einen 1 Vgl. „Berliner Zeitung“, 14.5.2014. Entgeltpunkt gutgeschrieben, bis zur Bei- 2 Die Stellungnahmen (Ausschussdrucksache tragsbemessungsgrenze, die aktuell bei etwas 18 (11) 82) und das Protokoll zur überaus inte- mehr als dem Doppelten des Durchschnitts ressanten Anhörung vom 5. Mai 2014 sind do- liegt; wer halb so viel verdient, bekommt einen kumentiert auf www.bundestag.de. halben Entgeltpunkt.

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nat erhalten und im Osten – 25 Jahre noch härter auf die Höhe der individu- nach dem Mauerfall – nur 26,39 Euro. ellen Renten durchschlagen. Vor allem Somit bleibt auch die Gerechtigkeits- jüngere Generationen und Beschäf- lücke zwischen Ost und West nach wie tigte fragen sich zu Recht, warum sie vor bestehen. zukünftig bis 67 arbeiten müssen und Zudem gewinnen besonders lang- warum ihre Rente trotz höherer Beiträ- jährig Versicherte der Jahrgänge 1949 ge niedriger sein wird als die vorange- bis 1963, die zukünftig zwischen 63 gangener Generationen. Der Vertrau- und 65 Jahren abschlagsfrei in Ren- ensverlust der gesetzlichen Rentenver- te gehen können, wenn sie 45 Jah- sicherung wird sich also noch weiter re lang Beiträge gezahlt haben. Aller- verschärfen. dings werden hier Hartz-IV-Beziehen- Denn die eigentlichen Systemfeh- de diskriminiert. Ihre Arbeitslosenhil- ler der gesetzlichen Rente, die ihre Zu- fe- oder ihr SGB-II-Bezug wird nicht kunftsfähigkeit gefährden, geht die auf die 45 Jahre angerechnet. Was die Bundesregierung erklärtermaßen nicht Lebensleistung eines Maurers, der an. Im Interview mit der „Frankfurter viermal ein Jahr arbeitslos war, von der Allgemeinen Sonntagszeitung“ sagt eines Maurers unterscheidet, der ein- Bundesministerin Nahles das auch mal vier Jahre lang arbeitslos war, wird sehr deutlich: „An den Rentenreformen wohl von Gerichten zu klären sein. der letzten zwölf Jahre ändern wir fak- Denn während Zeiten der Arbeitslosig- tisch nichts.“4 Das aber ist genau das keit, in denen Arbeitslosengeld gezahlt Problem des Rentenpaketes der Bun- wird, mitgerechnet werden sollen – von desregierung: Sie geht einzelne Re- den aktuell diskutierten Ausnahmen formschritte in die richtige Richtung, kurz vor Rentenbeginn abgesehen –, hat aber kein Gesamtkonzept für eine bleiben Zeiten des Hartz-IV-Bezugs zukunfts- und armutsfeste Rente. außen vor. Schließlich werden noch die zu- künftigen Erwerbsminderungsrentne- Vom Notgroschen zum Lohnersatz – rinnen und -rentner im Durchschnitt und wieder zurück? mit 40 Euro brutto (rund 36 Euro netto) mehr rechnen können. Das ist zwar zu Die Rente entwickelte sich nach 1957 begrüßen, doch dieser Tropfen auf den von einem Notgroschen, der das Über- heißen Stein wird kaum dazu beitra- leben im Alter sichern sollte, zu einem gen, diese Rente armutsfest zu gestal- echten Lohnersatz. Ihr Ziel war es, den ten. Dem Anspruch, dauerhaft Kranke einmal erreichten Lebensstandard zu vor einem sozialen Abstieg zu bewah- sichern und ein würdevolles Leben im ren, wird sie daher nach wie vor nicht Alter zu gewährleisten. Dazu wurde gerecht. Die aktuellen Erwerbsminde- die Rente zweifach dynamisiert bzw. rungsrentnerinnen und -rentner gehen an die Entwicklung der Löhne gekop- sogar ganz leer aus. Der Sinkflug die- pelt: Zum einen wurde sie gekoppelt ser sozialpolitisch so wichtigen Errun- an die relative Position der indivi- genschaft wird also nicht gestoppt. duellen Einkommen während eines Arbeitslebens. Zum anderen wird die Höhe der ak- ... und nichts wird besser tuell ausgezahlten Renten jährlich an die jeweiligen Durchschnittslöhne der Wir wissen schon jetzt: In Zukunft gesamten Volkswirtschaft angepasst. werden die Verwerfungen auf dem Dafür werden die Entgeltpunkte jähr- Arbeitsmarkt (Langzeiterwerbslosig- keit, prekäre Beschäftigung, Minijobs, 4 Vgl. „Frankfurter Allgemeine Sonntagszei- Soloselbstständigkeit, Leiharbeit usw.) tung“, 13.4.2014.

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lich zum 1. Juli mit dem aktuellen Ren- sierte Automatismus zeigt sich aktuell tenwert multipliziert (ab Juli 2014 in besonders deutlich: Die Kürzungs- den alten Bundesländern 28,61 Euro faktoren in der Rentenanpassungsfor- und in den neuen 26,39 Euro). Damit mel drücken schon ohne das aktuelle sollen Kaufkraftverluste weitgehend Rentenpaket das „Sicherungsniveau reduziert werden. Finanziert werden der Rente vor Steuern“ – also das Ver- diese Leistungen über ein Umlagever- hältnis der Standardrente zum Durch- fahren, das über einen solidarischen schnittseinkommen – von 53 Prozent Generationenvertrag legitimiert wird. (im Jahr 2001) auf 44,4 Prozent (2030). Das war einmal. Vom Prinzip der Le- Die gerade beschlossenen Änderun- bensstandardsicherung als Ziel abge- gen führen dazu, dass das Renten- rückt zu sein, den Generationenver- niveau noch stärker sinken wird, näm- trag durch einen Generationenkon- lich auf 43,7 Prozent. Die Renten verlie- flikt aufgekündigt und die Umlagefi- ren wegen der Kürzungsfaktoren und nanzierung durch eine kapitalgedeck- ihrer Rückkopplungen in diesem Zeit- te Vorsorge unterminiert zu haben, das raum ein Fünftel ihres Wertes. Statt sind die größten Sündenfälle der Nach- 1000 Euro werden sie nur noch 810 Blüm-Ära, die SPD, Grüne, Union und Euro wert sein. FDP zu verantworten haben.5 Aus einer Ein Beispiel: Eine ostdeutsche Er- Rente mit definierten Leistungen wur- werbsminderungsrentnerin erhält im de eine Rente mit definierten Beiträgen. Durchschnitt 619 Euro Rente ausge- Das Ziel, den Lebensstandard im Al- zahlt (2012). Der Bruttobedarf für ältere ter zu sichern, wurde so seit 2001 sys- Grundsicherungsempfänger in Bran- tematisch zerstört. Und zwar mit Hilfe denburg liegt derzeit bei 689 Euro. der Beitragssatzbegrenzung und den Durch die Reform von Schwarz-Rot beiden Kürzungsfaktoren: dem Nach- wird eine ab Juli in EM-Rente gehende haltigkeitsfaktor und dem sogenannten Rentnerin einen Zuschlag von 36 Euro Riesterfaktor. Dahinter verbergen sich netto erhalten und 655 Euro bekom- komplizierte Berechnungen und Rück- men. Sie liegt also immer noch unter- wirkungen6. Denn heute steht einer- halb der Grundsicherungsschwelle. Im seits im Vordergrund, die Beiträge zur Jahr 2030 wären davon aber nur noch Rentenversicherung zu senken bzw. zu 597 Euro (heutige Werte) übrig. Dabei begrenzen – die Arbeitnehmer sollen ja sind die Preissteigerungen noch gar schließlich „riestern“ und die Arbeitge- nicht berücksichtigt. ber sollen nicht stärker belastet werden Die Rentenerhöhung ist also für die – und andererseits die Ausgaben zu unverschuldet krank gewordene Bran- drosseln. Mehrausgaben im einen Jahr denburgerin zu gering, um sie aus der führen deshalb automatisch zu niedri- Grundsicherung herauszuholen. Aber geren Rentenerhöhungen im Folgejahr. es kommt noch schlimmer: Die Erhö- hung von heute wird ihr durch ausblei- bende Rentenanpassungen dann Jahr Das Rentenniveau wird für Jahr wieder weggenommen! noch stärker sinken Die paradoxen Folgen lassen sich aber besonders eindrücklich an der so- Dieser fatale und durch die komplizier- genannten Mütterrente zeigen: Zwar ten Formeln auch geschickt entpoliti- bringt sie den betroffenen Müttern eine kleine Rentenerhöhung je Monat. 5 Vgl. Martin Staiger, Schröder, Riester, Münte- fering: Die Demontage der Rente, in: „Blätter“, Aber allein wegen des Rentenpakets 3/2014, S. 109-118. wird eine Durchschnittsrentnerin bis 6 Diese Rückwirkungen sind vor allem in der zum Jahr 2030 auf gut 20 Euro Rente Stellungnahme der Arbeitnehmerkammer Bremen detailliert dargestellt: Ausschuss- wegen der Niveauabsenkung verzich- drucksache 18 (11) 82, S. 14 ff. ten müssen.

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Diese Dimension wurde von der Ren- massiv. Der zweite Schritt – gezielte tenversicherung bestätigt.7 Leistungsverbesserungen – wird vor Warum hat die SPD dieses Prob- dem ersten gemacht. Die Kürzungs- lem verdrängt? Erstens: Weil es im- faktoren und die Fehlfinanzierung be- mer noch einen Tabubruch bedeutet, wirken schließlich, dass der eigent- den Agenda-2010-Sozialraub grund- lich notwendige erste Schritt – die An- sätzlich zu korrigieren. Zweitens aber, hebung des allgemeinen Leistungs- weil sie sich gegenüber der Union nicht niveaus – auf Jahre hinaus blockiert durchsetzen konnte und das teuerste sein wird. ihrer Reformprojekte, die sogenannte Wer echte Teilhabe der Älteren Mütterrente, nicht über Steuern, son- will, muss endlich die Kürzungsfakto- dern aus den Beiträgen der Versicher- ren aus der Rentenanpassungsformel ten finanzieren will. Dass Kindererzie- streichen und wieder zu einem Ren- hung eine gesamtgesellschaftliche tenniveau von 53 Prozent wie im Jah- Aufgabe ist, scheint im Rentenrecht re 2001 zurückkehren.8 Das würde in nicht mehr zu gelten. Dabei waren sich den kommenden Jahren die Renten der in der Anhörung fast alle Sachverstän- älteren Generation stabilisieren. Die- digen einig, dass die „Mütterrente“ aus ser Weg würde zugleich auch die Jün- Steuern finanziert werden müsse. geren davon überzeugen, nicht nur auf Das von der SPD so gefeierte Renten- die Höhe ihrer Beiträge zu schielen, paket zeigt also eine deutliche Schief- sondern mit einem Blick auf die jähr- lage: Unsystematische Verbesserun- liche Renteninformation zu sehen: Die gen für einige werden zu sinkenden gesetzliche Rente ist sicher – und zwar Renten für alle führen. deutlich sicherer als jede privat finan- Es ist zwar nachvollziehbar, dass die zierte Zusatzversicherung. Die Deut- Gewerkschaften in der Debatte zu- sche Rentenversicherung hat kürzlich nächst die Rente ab 63 bzw. 65 gegen errechnet, dass beispielsweise verhei- die haltlosen Frühverrentungs-Kam- ratete Männer und Frauen, die 2040 in pagnen von CDU und Arbeitgebern eine gesetzliche Rente gehen, noch mit verteidigt haben und erst anschlie- einer Rendite von 3,3 Prozent rechnen ßend eine Stabilisierung des Renten- können. Das sind Werte, von denen niveaus einforderten. man bei Riesterverträgen nur träumen Die Argumentation hat aber auch kann.9 einen entscheidenden Schwachpunkt: Eine moderate jährliche Beitragser- Denn durch die Finanzierung der so- höhung würde zusammen mit einem genannten Mütterrente aus Beitrags- Ende der unsinnigen Riesterförderung mitteln fehlt auf lange Sicht der finan- finanzielle Spielräume für diese Gro- zielle Spielraum in der Rentenkasse, ße Rentenreform eröffnen. Denn da- um die notwendigen großen Reform- mit könnte das Rentenniveau stabili- schritte durchzusetzen. Die Renten- siert, die Regelaltersgrenze wieder von kasse – sprich die Nachhaltigkeits- 67 auf 65 gesenkt und eine armutsfeste rücklage – wird in den nächsten Jahren Erwerbsminderungsrente geschaffen für die „Mütterrente“ geplündert wer- werden. Das sind aktuell die drei wich- den müssen. tigsten Herausforderungen. Doch kei- Die Chancen für echte Verbesserun- ne davon wird im aktuellen Rentenpa- gen, vor allem für ein höheres Renten- ket angepackt – ein Armutszeugnis für niveau, das der aktuellen Generation die schwarz-rote Koalition. von Rentnerinnen und Rentnern und auch den zukünftigen Generationen 8 Dazu lagen in besagter Anhörung auch Vor- zugute kommen wird, sinken dadurch schläge des DGB, des SoVD und der Links- fraktion vor 9 Vgl. www.ihre-vorsorge.de/kompakt/grafiken- 7 Vgl. ebd. der-woche/rentenrendite-immer-im-plus.html.

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Michael R. Krätke Die britische Blase und Labour ohne Biss

Für die Briten war am 25. Mai gleich Deshalb macht sich jedoch weniger zweimal Wahltag: zum einen Europa- UKIP als vielmehr Labour Sorgen. So wahl und zum anderen, in vielen Teilen sehr, dass sich die Partei Ende April des Landes, Kommunalwahl. Beides eine Art amerikanische Wunderwaffe wichtige Tests für die Unterhauswah- besorgt hat: David Axelrod, der Barack len, die im Mai 2015 anstehen. Da soll- Obama zweimal ins Weiße Haus hiev- te die konservativ-liberale Regierung te und dementsprechend einen legen- eigentlich für ihre gnadenlose Auste- dären Ruf genießt. Ob das allerdings ritätspolitik bestraft werden – und La- viel nützen wird, darf man bezweifeln. bour wieder zurück an die Regierung Denn Cameron hat auch so eine Figur kommen, um diesmal alles besser zu im Team: den als „Meister der schwar- machen. So sah es jedenfalls eine gan- zen politischen Kunst“ verschrienen ze Weile aus. Labour führte in allen Lynton Crosby. Was schwerer wiegt: Umfragen, trotz unklarem Programm, Cameron und sein Schatzkanzler trotz Ed Miliband, dem 44 Jahre jun- George Osborne haben im Moment gen Oppositionsführer, der weithin als einfach die bessere Erzählung zu bie- Leichtgewicht verspottet wurde. ten – stets unterfüttert mit den Wirt- Doch seit Monaten schrumpft der schaftsdaten, in denen die Tories und Vorsprung der britischen Sozialdemo- die ihnen wohlgesinnten Medien seit kraten auf David Camerons Konservati- dem Herbst 2013 schwelgen. ve. Noch im September 2013 lag Labour mit acht Prozentpunkten (40 gegen- über 32) vor den Tories. Ein solches Er- Camerons schöne neue Welt gebnis hätte nach britischem Wahl- recht für eine satte absolute Mehrheit Wie der kleine Moritz sich den Kampf der Sitze im Unterhaus gereicht. Inzwi- um die „Hegemonie“, die Deutungs- schen aber glaubt niemand mehr dar- hoheit über den Lauf der Welt, vorstellt, an, dass Labour im nächsten Jahr von genau so läuft er bisweilen ab. Wäh- einer Welle des Missvergnügens zu- rend die Insel im vergangenen Winter rück an die Regierung getragen wird. von den schwersten Atlantikstürmen Stattdessen hat Cameron vor allem seit Jahrzehnten heimgesucht wurde Ärger mit der Konkurrenz am rech- und zahlreiche Grafschaften wochen- ten Rand. Die UK Independence Par- lang unter Wasser standen, verbreitete ty (UKIP) fischt mit ihrem fulminanten David Cameron mit seiner Mannschaft Ergebnis bei der Europawahl eindeu- gute Laune: Nach über drei Jahren tig im Teich der Tories. Cameron da- Durststrecke sei man über den Berg, gegen versucht, die nach rechts abdrif- die britische Wirtschaft lege auf einmal tenden Wähler zurückzuholen, indem ganz erstaunliche Wachstumsraten vor er ihnen die immer gleiche Erfolgsge- – fast zwei Prozent 2013, in diesem Jahr schichte vorbetet: Die Geschichte vom sind drei Prozent drin. Das sei der Be- Erfolg des britischen bzw. angelsächsi- weis, Austerität funktioniert, Sparen schen Modells, die den Rest von Euro- und Schuldenabbauen ist die einzig pa, insbesondere das Euroland, alt aus- richtige Krisenpolitik. Das angelsäch- sehen lasse. sische Modell – niedrige Steuern, de-

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201406_Buch.indb 17 21.05.14 10:43 18 Kommentare und Berichte

regulierte Märkte, flexibler Arbeits- quote, mehr privaten Investitionen markt, minimaler Sozialstaat – habe und mehr Exporten, den die Koalition den Test der großen Krise glänzend am Ende des Spartunnels versprochen bestanden. Die Eurozone schwächele, hatte, kann keine Rede sein. Getra- während die USA und Großbritannien gen wird der Aufschwung von einem als die wahren Phönixe des neolibera- neuerlichen Konsumfest, der den Ein- len Kapitalismus aus der Asche stiegen. zelhandel, die Auto- und Immobilien- Wieder einmal wird die Geschich- branche wachsen lässt, jedenfalls ein te von der kapitalistischen Jobmaschi- bisschen. Löhne und Gehälter für die ne erzählt, die Mär vom „Wohlstand britischen Normalverdiener stagnie- für alle“, den der Kapitalismus schafft, ren seit Jahr und Tag und sind real ge- wenn er nur von der Staatsleine gelas- sunken. Wenn die Briten wieder shop- sen wird. Britische Unternehmen, so pen wie vordem, dann geben sie Geld brüsteten sich Cameron und seine He- aus, das sie nicht haben. Konsum auf rolde, hätten in den vergangenen ein- Pump, wie gehabt. Ohnehin sind die einhalb Jahren Hunderttausende von britischen Haushalte höher verschul- neuen Jobs geschaffen, die Arbeitslo- det als der Rest der Welt, in Europa senquote sei von 8,5 auf 7,1 Prozent ge- können da nur die Holländer mithal- sunken. Das ist in der Tat wenig, ver- ten. Wer zu über 100 Prozent und mehr glichen mit den 12 Prozent in Euro- seines Jahreseinkommens in der Krei- land. Aber es ist weniger beeindru- de steht, muss schon ziemlich verrückt ckend, wenn man bedenkt, dass mehr sein, wenn er sich laufend in neue als 60 Prozent dieser Jobs im Niedrig- Schulden stürzt. Oder er muss, wie vor- lohnsektor geschaffen wurden. Ein dem, daran glauben, schlafend immer Drittel davon sind Teilzeitjobs, über 20 reicher zu werden, weil die Hausprei- Prozent sogenannte Zero-Hour-Jobs se überall auf der Insel wieder steigen. (mit höchstens drei Stunden bezahlter Mittlerweile beträgt die Schuldenlast Arbeit pro Woche). Folglich müssen sie aller britischen Haushalte gut 1,4 Bil- vom Staat subventioniert werden, bei- lionen Pfund (rund 1,7 Billionen Euro), spielsweise mit Wohngeldzuschüssen. ein Rekordwert. Weil die Kreditkarten- und Ratenkredite nicht reichen, plün- dern die mündigen Bürger ihre Spar- Mit Schulden in die nächste Blase konten gnadenlos, schneller als je zu- vor in den letzten fünfzig Jahren. Mitt- Selbst die depressivste Ökonomie lerweile beträgt die britische Sparquo- kommt irgendwann einmal wieder aus te blamable 5,5 Prozent des BIP, das ist dem Tal der Tränen. Die Briten haben weniger als die Hälfte der deutschen. die längste und tiefste Wirtschaftskrise Die privaten Unternehmensinvestitio- seit Kriegsende erlebt, mit allen Schi- nen sind 2013 abermals gesunken, sie kanen, dem triple dip, die Mehrfach- liegen heute um ein Viertel tiefer als Rezession, inbegriffen. Aber vorerst 2005. Was die Unternehmensinvesti- findet die langsamste Erholung seit tionen betrifft, rangieren die Briten in über 100 Jahren nur in wenigen Sek- den internationalen Ranglisten, die sie toren und Regionen statt – die weitaus so lieben, auf Platz 159, knapp hinter meisten Briten und der größte Teil des Paraguay und Mali. Und von einem Ex- Landes merken wenig davon. portboom kann erst recht keine Rede Weit tragen kann dieser bejubel- sein, buy British gilt nur im Inland. Auf te „Aufschwung“ nicht. Denn was ihn den Weltmärkten ist die britische In- trägt, ist genau das, was die britische dustrie, gewöhnt an unterqualifizierte, Ökonomie vor sechs Jahren in die Bre- unterbezahlte, prekäre Jobber, kaum douille gebracht hat. Vom „nachhalti- konkurrenzfähig, trotz einer Pfund- gen“ Aufschwung mit höherer Spar- Abwertung um gut 25 Prozent.

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Dem neuen Konsumrausch hat die Re- Die regionale Ungleichheit war auf der gierung zuletzt auf die Sprünge ge- Insel schon immer stark ausgeprägt, holfen. Mit einem Wahlgeschenk von und die neoliberale Wirtschaftspolitik zwölf Mrd. Pfund (rund 14,3 Mrd. Euro), seit Thatcher hat den Niedergang der um jungen Einsteigern den Kauf ihres vor allem im Norden angesiedelten bri- ersten Eigenheims zu erleichtern. Die tischen Industrie beschleunigt, mithin Eigenheimbesitzer, in Großbritannien die Kluft zwischen reichen und armen die Mehrheit, danken, die Immobilien- Regionen des Landes immer tiefer auf- preise, ohnehin um mehr als dreißig gerissen. London und seiner direk- Prozent überbewertet, steigen weiter. ten Umgebung geht es gut, London ist Ganz wie beim letzten Mal, vor der gro- Boomtown. ßen Krise, wird mit vereinten Kräften eine Immobilienblase aufgepumpt, die früher oder später platzen muss. Am Tropf der Finanzindustrie Keines der Strukturprobleme der britischen Wirtschaft ist gelöst wor- Allerdings blüht in London auch nicht den, allen vollmundigen Regierungs- alles, sondern nur der Finanz- und Im- versprechen zum Trotz. Von „Reindus- mobiliensektor und die Dienstleistun- trialisierung“ war die Rede, von einer gen, allen voran die „kreativen“ Diens- vom Export getragenen Konjunktur, te, wie Werbung, Design und Film, von neuer Wettbewerbsfähigkeit. Denn sowie der Tourismus. London zieht die selbst dem Dümmsten waren in der Geldherren aller Länder, auf der Suche großen Krise Zweifel an der immer- nach sicheren Häfen für ihre Milliar- währenden Schuldenökonomie ge- den, magisch an, Unsummen von aus- kommen. Für eine Weile war der Lack ländischem Kapital sind in den letzten ab von der „Finanzindustrie“ und ihren Jahren aus Russland, aus Osteuropa, „Produkten“, die extreme Schieflage dem Nahen Osten, China und Singapur der britischen Wirtschaft war in aller in die britische Metropole geflossen Munde. Am Vorabend der Krise trug und in Immobilien und Finanzanlagen die Finanzbranche satte zwölf Prozent gesteckt worden. Die Immobilienprei- zum britischen Sozialprodukt bei, die se in London und Umgebung steigen klassische Industrie nur sieben Pro- weiter rasant – im März 2014 um über zent. Alles auf der Insel drehte sich um 18 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Dienstleistungen und Finanz. Die briti- Legendär sind die neuen Banktem- sche Industrie, die einst den Weltmarkt pel, „globale Bankenfabriken“ im Jar- dominiert hatte, war abgemeldet. gon der Planer, die im Eiltempo in der Da die britische Wirtschaftsstruk- City und Canary Warf hochgezogen tur nach Jahrzehnten der Deindus- werden. Denn allen Bankreformen trialisierung völlig aus dem Gleichge- zum Trotz (die die vier Großbanken wicht geraten ist, weil wichtige Indus- des Königreichs mit viel Lobbyarbeit trien auf der Insel fehlen, können die nach Kräften verwässert haben), Lon- Briten nur mehr produzieren, wenn don und mit London das ganze Land sie gleichzeitig mehr aus dem Ausland hängen nach wie vor am Tropf der „Fi- einführen. Folglich steigt das britische nanzindustrie“. Nach der Krise ist sie Handelsbilanzdefizit, es beträgt heu- genau so überdimensioniert wie zuvor te stolze sieben Prozent des BIP. Denn und niemand denkt im Ernst daran, die britische Produktivität ist nicht die das zu ändern. Denn die Geldmetropo- beste, sie liegt wegen des notorischen le London sorgt für den ständigen Zu- Mangels an gut ausgebildeten Fach- strom ausländischen Kapitals, mit dem arbeitern um 20 bis 30 Prozent unter der britische „Aufschwung“ finanziert der der deutschen oder amerikani- wird. Großbritannien hat inzwischen schen Konkurrenz. ein ständiges Leistungsbilanzdefizit

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von 3,7 Prozent, ein international ex- selt sich vorm „Roten Ed“. Der ist den trem hoher Wert. Die ultralockere Geld- Wählern viel zu brav. politik der Bank von England, der letz- Laut der jüngsten Umfrage von You- ten Institution auf der Insel, die etwas gov (im Auftrag des Centre for Labour anderes als Sparen und Kürzen betrieb, and Social Studies) haben die briti- hat ein Übriges getan, um den falschen schen Wähler, und zwar auch solche Aufschwung in Gang zu bringen. mit erklärten Tory-Sympathien, eine klare Vorliebe für eine radikale Politik. Denn 80 Prozent meinen, dass sie vom Labours Alternative „Aufschwung“ nichts merken (gut 70 Prozent der Tory-Anhänger teilen die- Ed Miliband hat dem Triumphalismus se Ansicht). Eine eindrucksvolle Mehr- der Konservativ-Liberalen tapfer wi- heit von 74 Prozent spricht sich für eine dersprochen. Auf dem Labour-Partei- strikte Staatskontrolle der Energieprei- tag in Brighton im September 2013 um- se aus. Fast drei Viertel der Befragten riss er in einer vielbejubelten Rede die meinen, der Staat solle den Transport- Konturen des Wirtschaftsprogramms sektor, also die Fahrpreise von Bussen einer künftigen Labour-Regierung. und Bahnen, kontrollieren. Sonnenklar Seit Monaten tourt er durchs Land und ist die Mehrheitsmeinung gegen wei- verkündet seine Botschaft: „Krieg den tere Privatisierung bzw. für die Rena- Lebenshaltungskosten“. Weil sie aus tionalisierung von privatisierten öffent- der Haut von New Labour doch nicht lichen Unternehmen: 67 Prozent sind so richtig herauswollen oder -können, dafür, dass die Royal Mail ein öffentli- haben Miliband und seine Mannschaft ches Unternehmen bleibt, 66 Prozent diesen Ausweg aus ihrem Dilemma ge- sind für die (Re-)Nationalisierung der sucht und gefunden. So wie sie David Eisenbahnen, 68 Prozent für die Natio- Cameron und seinem Schatzkanzler nalisierung des Energiesektors. Mehr Osborne nur vorwarfen, zu hart und zu als 84 Prozent wollen den Nationalen schnell zu kürzen, so wollen sie jetzt Gesundheitsdienst NHS nicht in priva- ein wenig dämpfen, bremsen und ver- ten Händen sehen. Besonders peinlich zögern, was sie nicht aufhalten kön- für Miliband und Labour: Fast 40 Pro- nen. Die rapide wachsende Armut, die zent der Befragten sehen ihn ebenso extreme Ungleichheit im neoliberalen wie David Cameron eher als Champion Musterland. Einige Kürzungen bei der der middle class und nicht als Fürspre- Sozialhilfe sollen (teilweise) zurück- cher der working people.1 genommen werden, ein wenig mehr Labour braucht eine klare Botschaft. Sozialwohnungen sollen gebaut wer- Denn außer den von den Regierungs- den. Und ganz mutig verspricht der Op- parteien verbreiteten Propagandage- positionsführer, dass die Strom-, Gas- schichten vom „Aufschwung“ kann ih- und Wasserpreise nicht weiter steigen nen auch die UKIP die Suppe versal- sollen – oder zumindest nicht ganz so zen. Deren Anhänger rekrutieren sich schnell wie bisher. Labour kündigt ein keineswegs nur aus pensionierten Ko- Paket an, mit sechs Gesetzen, die sie als lonels und Empire-Nostalgikern, son- Regierungspartei einbringen wollen. dern immer mehr aus der frustrier- Der Kammer- und Jammerton Ihrer ten, abgehängten, weißen britischen Majestät Opposition hat einen gro- Arbeiterklasse. Diese enttäuschten An- ßen Nachteil. Das Wahlvolk ist weni- hänger können Labour im nächsten ger altertümlich, als die Labour-Stra- Jahr die entscheidenden Stimmen und tegen denken. Denn jüngste Umfra- den Wahlsieg kosten. gen zeigen, dass der gemeine Wähler, und zwar der aller Parteien, weit linker 1 Vgl. Will Dahlgreen, Ed Middleclass, www. denkt und fühlt als sie. Niemand gru- yougov.co.uk, 17.1.12014.

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Marc Engelhardt Boko Haram: Nigerias entfesseltes Monster

Die Terroristen kamen mit Gewehren lerweile bereuen, Boko Haram jemals und Granaten, Lastwagen und einem anerkannt zu haben. Mehr als 10 000 Bus. Ihr Attentat war gut vorbereitet. Menschen sollen ihren Anschlägen In der Nacht zum 15. April stürmten auf Kirchen, Schulen oder Regierungs- die Angreifer das örtliche Mädchen- gebäude bereits zum Opfer gefallen internat, die staatliche Secondary Girls sein. Boko Haram, die Kurzform, unter School, in der kleinen Ortschaft Chi- der die Gruppe berühmt wurde, be- bok im Bundesstaat Borno im Nordos- deutet übersetzt „Westliche Bildung ten Nigerias und trieben die Schülerin- ist Sünde“. Das Internat von Chibok ist nen der Abschlussklassen zusammen. entsprechend nicht die erste Schule, die Mehr als einen Monat später fehlt von Boko Haram überfallen hat. Überhaupt den 243 Mädchen jede Spur, und das greifen die Terroristen immer häufi- obwohl nach einem Aufschrei der Ent- ger „weiche“ Ziele an: Am Tag vor der rüstung in Nigeria und auch im Westen Massenentführung waren auf einem Drohnen und Entführungsspezialis- Busbahnhof am Rande der Hauptstadt ten aus den USA, Großbritannien und Abuja zwei Bomben detoniert. Mehr als Frankreich an der Suche teilnehmen. 75 Pendler starben. „Präsident Good- Gut drei Dutzend Mädchen, die sich luck Jonathan, Du bist eine lahme irgendwie selbst befreien konnten – ei- Ente“, „Ich bin hier, mitten in Deiner nige bei einer Lastwagenpanne –, sind Hauptstadt – fang mich doch, wenn Du die einzigen, die von ihrer Verschlep- es kannst“, höhnte Abubakar Shekau pung berichten können, verübt durch danach in einem Bekennervideo. Die die Gruppe, die seit einigen Jahren für Regierung muss das als eine öffentliche Angst und Schrecken in Afrikas be- Demütigung empfinden. Sie hatte She- völkerungsreichster Nation sorgt: Boko kau schon einmal für tot erklärt, angeb- Haram. lich erwischt von Spezialtruppen der Armee. Mit seinem Spott trifft Shekau in- Brutalität im Namen des des einen Nerv – selbst bei der riesi- Heiligen Krieges gen Mehrheit der über 170 Millionen Nigerianer, die ihn und Boko Haram Wer steckt hinter der Bewegung, deren verabscheuen. Überall im Land fragt selbst ernannter Sprecher Abubakar man sich, warum es der Armee nicht Shekau in einem Video behauptet, er gelingt, Boko Haram Einhalt zu ge- wolle die Mädchen auf dem Markt ver- bieten. Der Norden Nigerias entglei- kaufen? Mit vollem Namen heißt sie tet immer mehr der staatlichen Kon- „Sunnitische Bruderschaft in Ausfüh- trolle. Die Polizei, so haben Menschen- rung des Heiligen Krieges“. Sie ver- rechtler aufgedeckt, wusste Stunden steht sich heute als Teil von Al Qaida vorher von dem Überfall auf die Mäd- und geht äußerst brutal vor – so bru- chenschule in Chibok. Doch sie traute tal, dass manche Analysten glauben, sich nicht auszurücken, und ihr fehl- dass selbst Al-Qaida-Führer es mitt- te offenbar die nötige Ausrüstung:

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Fahrzeuge, Hubschrauber, moderne tional Crisis Group“. Einen ranghohen Waffen. Polizisten zitiert er mit dem Satz: „Die Es ist eine Debatte, die dem seit 2010 Politiker haben die Kontrolle über das regierenden Jonathan gefährlich zu Monster verloren, das sie schufen.“ werden droht. Obwohl die Wirtschaft Einer der Schöpfer ist nach allem, boomt, verliert er aufgrund der Kri- was man wissen kann, Ali Modu She- se im Nordosten massiv an Zustim- riff, auch wenn dieser alle Vorwürfe mung. Im kommenden Jahr wird ge- zurückweist. Vor zwölf Jahren woll- wählt, und der Wahlkampf in Nigeria te Sheriff Gouverneur von Borno wer- hat längst begonnen. Die 243 Mädchen den, dem Bundesstaat, in dem auch aus Chibok bereiten dem Präsidenten Chibok liegt. In der Landeshauptstadt schlaflose Nächte: nicht wegen dem Maiduguri schloss Sheriff nach über- Unheil, das ihnen geschieht, sondern einstimmenden Berichten einen Pakt wegen der schlechten Presse. mit Mohammed Yusuf, der gerade erst Jonathans PR-Strategen holten vor eine unter Jugendlichen erfolgrei- diesem Hintergrund zu einem Gegen- che islamische Sekte gegründet hatte: schlag aus. Dem ehemaligen Militär- Boko Haram. Boko Haram war beliebt: herrscher Muhammadu Buhari, der anders als die politische Elite galt die 2015 für die größte Oppositionspartei, Bewegung als integer. Sie bot kosten- den All Progressives Congress (APC) lose (Koran-)Schulen an, gab vor al- ins Rennen geht, warf Jonathan vor, lem jungen Männern Arbeit. Yusuf, so mit Boko Haram verbandelt zu sein. Sheriffs Plan, sollte Sheriffs Kampag- Buhari wiederum nennt Boko Haram ne in der Moschee und den Armenvier- „das Produkt von Jonathans geschei- teln unterstützen. Im Gegenzug sagte terter Regierung, sein Baby“. Ex-Prä- er zu, nach seiner Wahl das islamische sident Olusegun Obasanjo droht Jona- Schariarecht einzuführen und Geld than in einem bewusst gestreuten Brief aus der Staatskasse an die Bewegung geradezu: „Die Gründe der Unruhen umzuleiten. Der Plan ging auf. Sheriff, im Norden werden nicht angegangen der ohne Unterstützung von Boko Ha- und drohen das Land auseinander zu ram wohl chancenlos gewesen wäre, reißen.“ gewann die Wahl. Jahrelang flossen hohe Summen an Boko Haram, bis zu einem blutigen Massaker in Maidugu- Die Schöpfer der Bewegung ri im Juli 2009. Danach wollte Sheriff nichts mit Boko Haram zu tun gehabt Dass die Politiker sich gegenseitig be- haben. Stattdessen erklärte er seinen schuldigen, hat einen Grund. Boko Mittelsmann Buji Foi, den er zum Kom- Haram ist keine streng religiöse Sekte, missar für religiöse Angelegenheiten die nur nach dem Gottesstaat strebt, gemacht hatte, zum alleinschuldigen wie Abubakar Shekau gerne vorgibt. Agenten von Boko Haram und schrieb Seit kurz nach ihrer Gründung ist die ihn zur Fahndung aus. Doch bevor be- Bewegung ein Teil der politischen lastende Aussagen von ihm aufgenom- Ränkespiele, des brutalen Kampfes men werden konnten, erschoss die um die Macht auf allen Ebenen des ni- Polizei Foi auf einer Farm. Der damali- gerianischen Staates. „Paten“ werden ge Boko-Haram-Chef Mohammed Yu- die Strippenzieher genannt, die Wäh- suf kam wenige Tage später auf einer ler schmieren und bezahlte Schläger- Polizeiwache ums Leben. Sheriff re- trupps engagieren, um von ihnen in- gierte danach ungehindert weiter. stallierte Kandidaten durchzusetzen. Sheriff gehört der oppositionellen In dieser korrupten Halbwelt hat auch All-Nigeria People‘s Party (ANPP) an, Boko Haram ihren Ursprung, weiß ein die heute zu Buharis APC gehört. Doch nigerianischer Analyst der „Interna- nicht nur von ihr ließ Boko Haram sich

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anheuern. Ali Awana Ngala, Vizechef etwa sechs Gruppen aus, die unabhän- der ANPP und designierter Nachfolger gig voneinander agieren. Der Name des Gouverneurs Sheriff, wurde un- „Boko Haram“ sei zum Deckmantel für mittelbar vor den Wahlen 2011 in sei- kriminelle Aktivitäten aller Art gewor- nem Haus in Maiduguri erschossen. den, sagt er. „Alles, was irgendwie mit Als deswegen im November 2011 Boko- Gewalt zu tun hat, kann Boko Haram Haram-Sprecher Ali Sanda Umar Kon- angehängt werden. Die Bewegung duga festgenommen wurde, gab er im ist ein perfektes Alibi für alles.“ Jeder Verhör mit dem Geheimdienst zu Pro- kann jedem etwas anhängen und Boko tokoll, auf der Gehaltsliste von Mo- Haram dafür verantwortlich machen. hammed Ali Ndume zu stehen – einem Auch deshalb entsteht der Eindruck, aus Borno stammenden Senator der Boko Haram sei überall und nirgends. People‘s Democratic Party (PDP), der Jede Woche werden neue Gewaltakte auch Präsident Goodluck Jonathan an- gemeldet. gehört. Um Boko Haram erfolgreich zu be- kämpfen, müsste die Gruppe anders als bisher angegangen werden, fordert Geld, Land und Macht Stroehlein. „Kriminelle Akte müssten genau so behandelt werden, nämlich So wundert es nicht, dass vor den Wah- als Kriminalfälle – nicht nur dazu aber len im kommenden Jahr die Gerüchte- bräuchte Nigeria eine funktionieren- küche brodelt. Dass Jonathan, Ange- de Polizei und ein unabhängiges Jus- höriger einer Minderheitenethnie aus tizsystem.“ Stattdessen hat Nigerias dem Nigerdelta, erneut als Präsident Regierung die berüchtigte Joint Task kandidieren will, sorgt im Norden Ni- Force aus Polizei und Militär auf den gerias ohnehin für Unmut. Denn einer Norden losgelassen. In Borno und zwei inoffiziellen Absprache zufolge wäre weiteren Bundesstaaten im Norden eigentlich ein Muslim aus dem Norden hat der Präsident vor mehr als einem an der Reihe. Die dortige Elite fühlt Jahr den Ausnahmezustand verhängt. sich um ihre Machtoption betrogen. Seitdem melden Nigerias Medien im- Schon gibt es Vorwürfe, Jonathan be- mer wieder Großeinsätze, bei denen kämpfe Boko Haram alleine deshalb Hunderte angeblicher Boko-Haram- nur mit begrenztem Engagement, um Anhänger getötet wurden. Die Luft- den seit einem Jahr geltenden Aus- waffe bombardiert ganze Dörfer. Wie nahmezustand im Nordosten weiter viele Unschuldige genau dabei bislang zu rechtfertigen. In den dortigen Op- ums Leben gekommen sind, ist un- positionshochburgen könnte dann wo- klar. Doch Vertrauen bei der Bevölke- möglich nicht gewählt werden. Andere rung im Norden hat die Regierung mit werfen gerade der Opposition vor, den ihrem martialischen Feldzug nicht ge- Terror anzuheizen, um Jonathans Re- wonnen. gierung schlecht dastehen zu lassen. Und so spielt der angebliche Anti- Was stimmt, ist schwer zu sagen. Daran terrorkrieg mit seinen zivilen Opfern jedenfalls, dass die Interessen der poli- Boko Haram in die Hände. Einer, dem tischen Elite und die von Boko Haram das schon früh auffiel, ist der nigeria- eng verflochten sind, scheint niemand nische Literaturnobelpreisträger Wole zu zweifeln. Soyinka. Er rief seine Landsleute schon Womöglich spielen sogar beide Mo- vor mehr als drei Jahren dazu auf, von tive eine Rolle. Denn Boko Haram ist Vergeltungsschlägen abzusehen. „Wir nicht die eine, durchorganisierte Grup- dürfen nicht die Agenda von Boko Ha- pe, als die sie oft dargestellt wird. Ana- ram übernehmen“, so Soyinka. „Sie lysten wie Andrew Stroehlein von der wollen erreichen, dass Nachbarn aufei- International Crisis Group gehen von nander losgehen.“ Auch deshalb greife

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Boko Haram Kirchen an, und deshalb denen die Gruppe sich organisiert, entführt die Gruppe vermutlich auch wo sie Geld sammelt und wo sie wil- wehrlose Schülerinnen. Boko Haram liges Fußvolk rekrutiert, das noch an baut darauf, die seit Langem vorhande- die hehren Ziele – die Rhetorik vom nen Konflikte im Norden zu ihren Zwe- Heiligen Krieg – glaubt. Doch sie sind cken zu nutzen, die verkürzt oft als „re- längst nicht mehr die einzigen Samm- ligiöse“ Streitigkeiten zwischen Musli- lungspunkte. Wer Boko Haram finden men und Christen dargestellt werden. will, der muss der Spur des Geldes fol- In Wirklichkeit geht es auch bei diesen gen und nicht Drohnen über ein Gebiet Kämpfen um Geld, Land und Macht. von der Größe Bayerns fliegen lassen, in der Hoffnung auf einen Zufallsfund. Er braucht die Unterstützung der Be- Misstrauen gegenüber der Elite völkerung vor Ort, die heute fürchten muss, von der Armee genauso miss- Raison d‘être und Nährboden für das handelt zu werden wie von Boko Ha- kriminelle Netzwerk Boko Haram ist ram und die sich keinen Schutz erhof- das Misstrauen, dass die nigerianische fen kann, wenn die Terrorgruppe sich Bevölkerung im Norden des Landes an mutmaßlichen Verrätern rächt. und darüber hinaus dem Staat und sei- Auch deshalb bilden sich im Norden nen Repräsentanten entgegenbringt. Nigerias Bürgerwehren, die ihre Dör- Regierungsfreie Räume im Nordosten fer gegen Boko Haram schützen wol- Nigerias ermöglichen den Terroristen len. Neu ist dieses Phänomen nicht, den sicheren Rückzug. Wo immer die doch so weit verbreitet und gut ausge- Mädchen von Chibok festgehalten wer- rüstet waren die Bürgerwehren zuvor den, es dürfte eigentlich nicht schwie- nicht. Die Frage ist, was mit ihnen ge- rig sein, sie aufzufinden, wenn die Be- schehen wird, wenn Boko Haram zu- völkerung dem Staat denn vertrauen rückgedrängt werden sollte oder es zu und ihn unterstützen würde. Denn es einer Eskalation des Bürgerkrieges im handelt sich nicht zuletzt um eine öko- Norden kommt. Eine steigende Zahl nomisch umfangreiche Operation, die bewaffneter Akteure hat bisher jeden- Boko Haram durchführt: Wenn die falls noch nirgendwo in Afrika zu mehr Mädchen – wie auf dem Video zu sehen – Stabilität geführt. an einem einzigen Ort festgehalten Dass die USA jetzt auf der Seite der werden, dann werden große Mengen Regierung in die Krise im Norden Ni- Nahrungsmittel und Wasser benötigt. gerias eingreifen – nicht zuletzt aus Es muss Kommunikationsstrukturen Eigennutz, um die militärische Prä- geben und Wege, die zu den Geiseln senz in dieser Region Westafrikas auf- und von ihnen weg führen. Waffen und zustocken – wird das im Nordosten Ni- Munition müssen zu der Gruppe gelan- gerias tiefsitzende Misstrauen gegen gen, und nicht zuletzt Geld. Geld, das die regierende Elite weiter vertiefen. die Gruppe braucht, um sich die Frei- Die Gräben zwischen Nord und Süd heit zu kaufen, in einem Teil Nigerias werden wachsen, was manchen Politi- zu machen, was sie will. kern und auch Boko Haram in die Hän- Die Strukturen, die Boko Haram de spielt. Die Leidtragenden sind die für ihre Geschäfte braucht, gleichen Bevölkerung und die 243 Mädchen, die denen anderer mafiöser Gruppen. Bo- längst zu Symbolen des Kampfs zwi- ko Haram finanziert sich durch Söld- schen Boko Haram und der Armee ge- nerdienste, durch Schmuggelgeschäf- worden sind – und deshalb, so schlimm te und Entführungen. Moscheen ra- es ist, kaum auf ein glimpfliches Ende dikaler Prediger sind zwar Orte, an ihrer Entführung hoffen können.

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Andreas Behn Brasilien oder Die WM der Widersprüche

Luiz Inácio Lula da Silva hatte es sich Busse und Bahnen sind teuer und in ganz anders vorgestellt. Die Fußball- miserablem Zustand. Die täglichen Weltmeisterschaft, die der damali- Staus in den Städten machen auch den ge Präsident vor sieben Jahren nach Autobesitzern das Leben schwer – nur Brasilien holte, sollte den Eintritt des die ganz Reichen kümmert dies nicht, Schwellenlandes in die Erste Welt da sie per Hubschrauber zur Arbeit markieren – den Höhepunkt des Wirt- fliegen. schaftsbooms seiner achtjährigen Weil Anspruch und Wirklichkeit im- Amtszeit, der erfolgreichen Sozialpoli- mer weiter auseinanderklaffen, gingen tik und der Modernisierung des Lan- im vergangenen Juni, aus Anlass des des. Und nun soll eine glorreiche WM Confederations Cups, Hunderttausen- im Juni die Wiederwahl seiner Nach- de auf die Straßen und forderten mehr folgerin Dilma Rousseff garantieren Investitionen in öffentliche Dienstleis- und die Hegemonie der Arbeiterpartei tungen. Der Geldverschwendung für PT festigen. pompöse Stadionbauten setzten sie Heute jedoch ist diese schöne Vision das „Brasil real“, das „wirkliche Brasi- Vergangenheit, die WM längst nicht lien“ entgegen. Zur WM-Generalpro- mehr Vorbote von Glanz und Ruhm. be warnten sie die Politiker aller Par- Stattdessen treten die Widersprüche teien: Das Geld des Aufschwungs müs- im Land deutlicher zutage als je zuvor. se der öffentlichen Hand zugute kom- In den Wochen vor dem Sportspektakel men und die soziale Lage im Land ver- gibt das größte Land Lateinamerikas bessern. Korruption und die schamlo- ein desolates Bild ab. Auf den Straßen se Bereicherung von Politikern, Unter- von Rio de Janeiro und São Paulo bren- nehmen und der traditionellen Elite nen Busse und Barrikaden, entzündet würden nicht mehr toleriert. Auf den von aufgebrachten Bewohnern der Ar- Schreck folgten bald blumige Verspre- menviertel, die sich der notorischen chen – ernst gemeinte, wie beispiels- Polizeigewalt erwehren. weise eine grundlegende politische Doch unzufrieden sind derzeit nicht Reform seitens der Präsidentin Dilma nur die Armen, sondern fast alle. Die Rousseff, die unter anderem eine Än- Preise steigen unaufhaltsam. Die Ein- derung der Parteienfinanzierung vor- kommenszuwächse schmelzen dahin, sah, aber auch viele Worthülsen, ins- insbesondere in den Großstädten wer- besondere von den rechten Koalitions- den Mieten und Nahrungsmittel im- partnern der PT-Regierung, die unter mer teurer. Zugleich fehlt es an allem, dem Beifall der Opposition das ange- was einen modernen Sozialstaat aus- kündigte Reformprojekt prompt in der macht: Die öffentlichen Schulen sind Schublade verschwinden ließen. marode, jüngst zeigte eine Studie, dass Im Juni und Juli wird es daher er- über 90 Prozent der Bildungseinrich- neut zahlreiche Proteste geben. Die Re- tungen den Mindeststandards nicht gierungen in den Großstädten wie auf genügen. Das öffentliche Gesundheits- Bundesebene setzen derweil an allen system, das größte der Welt und auf Fronten auf Repression. Der Kongress dem Papier eine große Errungenschaft, diskutiert momentan ein Schnellge- leidet unter Geld- und Ärztemangel. setz, mit dem Teilnehmer gewalttäti-

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201406_Buch.indb 25 21.05.14 10:43 26 Kommentare und Berichte

ger Demonstrationen pauschal als Ter- gen der unfertigen Stadien ganz an- roristen kriminalisiert werden können. dere Hintergründe hat: Es rechtfertigt Die eigentlichen Probleme im Zu- immer neue Dekrete und Sondermaß- sammenhang mit der WM nimmt die nahmen, die die Rechte der Menschen Regierung hingegen in Kauf – wie et- vor Ort weiter einschränken. wa die Räumung von tausenden Men- Statt die WM als Anlass zu nutzen, schen aus ihren Wohnungen, um für die Städte menschengerechter zu ge- die Baumaßnahmen Platz zu machen, stalten, werden überall altbekannte die Immobilienspekulation und die Fehler wiederholt: Schnellbusse statt soziale Säuberung der Städte von Ob- Bahnen, neue und schon wieder ver- dachlosen und ambulanten Händlern. stopfte Straßen für den Individualver- Die WM ist zu einer Spielwiese gewor- kehr, Vertreibung der Armen aus den den, auf der politische und wirtschaft- zentralen Stadtvierteln. liche Interessen in herkömmlicher Ma- nier um die Pfründen konkurrieren. Es wäre viel zu kurz gegriffen, allein Der Kampf gegen die Armen die FIFA für die Missstände verantwort- lich zu machen. Fraglos handelt es sich Dass sich die Politik auch unter einer bei der Vereinigung von Sportfunktio- Regierung der Arbeiterpartei, die einst nären um eine korrupte Organisation, aus sozialen Bewegungen entstanden die frei von jeder Legitimation oder so- ist, nicht an den Interessen der Wähler zialem Gewissen den weltweiten Spaß orientiert, zeigt sich am deutlichsten am Fußball für private Profitinteressen an der Sicherheitspolitik. missbraucht. Doch Brasiliens Regie- In Rio de Janeiro, dem Gastgeber rung akzeptierte wider besseres Wis- der Olympischen Spiele 2016, versucht sen die unmoralischen Vorgaben des die Regierung bereits seit 2008 die Ar- Fußballweltverbands: Diese reichten menviertel im Innenstadtgebiet zu be- von exklusiven Vermarktungsrech- frieden. Zu diesem Zweck ließ sie eine ten bis hin zu einem verfassungswidri- Art Bürgerpolizei namens UPP (Unida- gen Sondergesetz, das etwa Bannmei- de de Polícia Pacificadora) dauerhaft in len rund um die Stadien vorsieht, der den Favelas installieren, um das Trei- FIFA an den Spieltagen eine Art Hoheit ben rivalisierender Gangs von Dro- in den Austragungsstädten zugesteht genhändlern zu unterbinden. Anfangs und den Staat verpflichtet, für eventu- fand dieser Versuch, die zahlreichen, elle Verluste des Verbandes aufzukom- nicht mehr vom Staat kontrollierten men. In ihrem Größenwahn erhöhten Territorien zurückzugewinnen, viel die Politiker sogar die Zahl der Austra- Beifall. Es gab weniger Schießereien, gungsstätten auf zwölf statt der von der weniger Tote, die Menschen dort muss- FIFA empfohlenen acht bis zehn. ten nicht mehr unter der Willkürherr- Jetzt muss die Rechnung bezahlt schaft bewaffneter junger Männer le- werden. Über zwölf Mrd. Euro kostet ben. allein der Neu- und Umbau der Sta- Doch schon bald zeigten sich die dien. Hinzu kommen weitere Milliar- Schattenseiten des neuen Sicherheits- den für Verkehrsprojekte, die eher konzepts: In der Frage, wie die Umge- dem Tourismus als den Bedürfnissen staltung der Favelas in normale Stadt- der Bevölkerung entsprechen. Für das viertel bewerkstelligt werden könnte, Kartell der großen Bauunternehmen ist wurden deren Bewohner nicht konsul- das ein gefundenes Fressen, zumal die tiert. Soziale Begleitmaßnahmen und viel zitierten Verzögerungen im Zeit- notwendige Infrastrukturprojekte wie plan eine ständige Erhöhung der Kos- eine Abwasserversorgung blieben auf ten erlauben. Nicht auszuschließen ist der Strecke. Stattdessen führten sich auch, dass das Drängen der FIFA we- die neuen Polizisten oft selbst auf wie

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201406_Buch.indb 26 21.05.14 10:43 Kommentare und Berichte 27

Invasoren, Klagen über Menschen- Ordnung in den Favelas stets mit der rechtsverletzungen nahmen zu. angeblichen militärischen Übermacht Allein in Rio de Janeiro erschoss des organisierten Verbrechens. Doch die Polizei in den vergangenen Jah- diese These ist nicht mehr haltbar, gin- ren bei ihrer angeblichen Jagd auf Dro- gen die Besetzungen der Armenvier- genhändler tausende Menschen. Die tel durch UPP-Einheiten doch fast aus- Schwarzenbewegung spricht mitt- nahmslos ohne Schusswechsel von- lerweile von einem Genozid, da die statten. Vielmehr ist davon auszuge- meisten Opfer arm, schwarz, jung und hen, dass große Teile der Polizei, Ver- männlich sind. Derweil ist den Polizis- brecher und korrupte Politiker unter ten Straffreiheit garantiert – sie unter- einer Decke steckten und die Gewin- stehen einer eigenen Justiz und zu- ne aus Drogen- und Waffenhandel und meist reicht es, die tödlichen Schüs- anderen illegalen Geschäften unter se als „Notwehr“ zu deklarieren. Aus- sich aufteilten. Schießereien gab es vor nahmen gibt es wenige. Eine davon allem dann, wenn die Abmachungen war der Tod des Bauarbeiters Amarildo nicht eingehalten wurden, Gangs mit- de Souza in der Rocinha-Favela im Ju- einander rivalisierten oder die Polizei ni vergangenen Jahres. Erst als im Zu- einen größeren Anteil an den Profiten ge der Massendemonstrationen Auf- einforderte. klärung über sein Verschwinden gefor- In diesem Kontext sind auch die ak- dert wurde, stellte ein Untersuchungs- tuellen wütenden Aufstände gegen bericht fest, dass er von UPP-Beamten Polizeigewalt in den Favelas keines- festgenommen und zu Tode gefoltert wegs so leicht zu entziffern, wie es auf worden war. den ersten Blick scheint: Denn neben Bedenkt man, dass die Uniformier- den aufgebrachten Bewohnern pro- ten der UPP der gleichen Militärpoli- vozieren vermutlich auch vertriebene zei angehören, die seit der Diktatur Drogengangs und Milizen die Gewalt, (1964 bis 1985) als Repressionsorgan um das Projekt der UPPs wieder in die gegen die unter Generalverdacht ste- Defensive zu treiben. Zeitungsberich- hende arme Bevölkerung eingesetzt ten zufolge sind zudem rechte Split- wird, kann dieses Vorgehen allerdings terparteien am Werk, mit dem Kalkül, kaum verwundern. Sicherheitspolitik dass Chaos und Gewalt die Regierung bedeutet in Brasilien eben nicht, den schwächen. Menschen öffentliche Sicherheit zu ga- rantieren. Es geht lediglich darum, die Mittel- und Oberschicht oder auch die Wohin steuert Brasilien? Touristen vor Kriminalität zu schüt- zen. Die Armen hingegen, unter ihnen Doch sind die Proteste in den Favelas fast alle Afrobrasilianer, die die Hälfte keineswegs das einzige Problem, mit der Bevölkerung ausmachen, werden dem die Regierung konfrontiert ist. von der Polizei als Feinde betrachtet, Rousseff, die im Oktober zur Wieder- gegen die mit allen Mitteln vorgegan- wahl antritt, ist zudem einer massiven gen werden muss. Diffamierungskampagne seitens der Den eigentlichen Problemen der Fa- rechten Opposition ausgesetzt. Jeden velas geht das UPP-Konzept hingegen Tag berichten die von dieser kontrol- nicht auf den Grund. So wird insbeson- lierten Massenmedien von Skandalen, dere die Frage, warum der Staat jahr- Misswirtschaft und Korruption. Mit zehntelang fast die Hälfte der Bevölke- ausgewählten Zahlen zu fragwürdigen rung Rio de Janeiros der Willkürherr- Indikatoren wird eine Wirtschaftskrise schaft bewaffneter Banden überlassen herbeigeredet. hat, kaum gestellt. Gerechtfertigt wur- Zwar gibt es tatsächlich wirtschaft- de die Abwesenheit rechtsstaatlicher liche Probleme: Die Inflationsrate liegt

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201406_Buch.indb 27 21.05.14 10:43 28 Kommentare und Berichte

bei über sechs Prozent und das Wachs- Das Erbe der Sklaverei tum stagniert. Doch angesichts einer historisch niedrigen Arbeitslosigkeit Genau hier aber wird deutlich, wie groß und einer boomenden Landwirtschaft die gesellschaftlichen Widersprüche kann von einer umfassenden Wirt- nach wie vor sind. Es ist diese Gratwan- schaftskrise nicht die Rede sein. derung zwischen Anspruch und Wirk- Und auch wenn sich sowohl Lula als lichkeit, zwischen einem modernen auch Rousseff als Teil des politischen Rechtsstaat und althergebrachten Tra- Establishments tatsächlich der Kor- ditionen in Gesellschaft wie Staatsap- ruption schuldig gemacht und man- parat, die im Vorfeld der WM mehr als gels Mehrheiten im Kongress auf frag- sonst sichtbar werden. So ist, obwohl würdige Kompromisse mit dubiosen in der Verfassung und auch in zahlrei- Parteien gesetzt haben, ist ihre Politik, chen Gesetzen Rassismus sowie jede zumindest was die Bekämpfung der Art der Diskriminierung unter Strafe Armut angeht, erfolgreich. Marken- stehen, der Rassismus tief in der brasi- zeichen der PT sind eine Reihe von So- lianischen Gesellschaft verwurzelt. zialprogrammen, die erstmals in der Das Erbe der Sklaverei, die in Brasi- Geschichte des Landes die soziale Un- lien erst 1888 – später als in jedem an- gleichheit verringert haben. Finanziel- deren westlichen Land – abgeschafft le Hilfen für Arme, Quoten für Schwar- wurde, prägt das Land bis heute. Je- ze und Absolventen öffentlicher Schu- des Hochhaus hat mindestens zwei len sowie Kampagnen zur Aufwertung Fahrstühle, einer für die Bewohner des Selbstwertgefühls haben nicht nur und einer für die Bediensteten. Je- Millionen Menschen etwas mehr Wohl- de Wohnung, auch Neubauten für die stand gebracht, sondern auch den Auf- neuen unteren Mittelschichten, hat bau einer Zivilgesellschaft befördert, einen abgetrennten Arbeitsraum mit deren Wirken schon jetzt zu spüren ist. einer Schlafstätte für die Angestell- Nicht zuletzt aufgrund dieser Errun- ten. Statistisch betrachtet entspricht genschaften liegt Rousseff in Wahlum- der Lebensstandard des „weißen Bra- fragen nach wie vor klar in Führung. siliens“ dem im Süden Europas, der Der althergebrachten Elite aber ist des „schwarzen Brasiliens“ dem Mit- speziell die soziale Dimension der Re- telmaß des afrikanischen Kontinents. gierungspolitik ein Dorn im Auge, Bis heute ist das Einkommen so unge- sieht sie dadurch doch ihre Privilegien, recht verteilt wie in kaum einem ande- die bislang auch in der Demokratie ren Staat, ebenso der Boden, der sich in nicht zur Disposition standen, bedroht. den Händen von Großgrundbesitzern Zwar ist die PT-Regierung alles andere und neuerdings auch Agrarkonzernen als unternehmensfeindlich – dennoch befindet. Brasilien ist ein zerrissenes geht es in der Auseinandersetzung Land, in dem Parallelwelten nebenei- letztlich um nichts Geringeres als das nander her leben, eng verzahnt durch Zukunftsmodell Brasiliens. gegenseitige ökonomische Abhängig- Die Massendemonstrationen des keit. Dessen ungeachtet wird Brasi- vergangenen Jahres wie auch die jet- liens Vergangenheit, sei es die Skla- zigen Ausschreitungen gegen Polizei- verei oder die 21 Jahre währende Mi- gewalt sind insofern nicht als Sozial- litärdiktatur, in den Medien und der proteste im herkömmlichen Sinne zu offiziellen Darstellung oft ausgeblen- interpretieren. Sie sind vielmehr Fol- det, setzt die Polizei wie in der Vergan- ge eines sozialen Fortschritts und eines genheit auf den Kampf gegen Arme, neuen politischen Bewusstseins, das Schwarze und Ausgeschlossene. Un- die Versprechen eines modernen Lan- zufriedene Menschen und ein hilfloser des, die Aussicht auf Gerechtigkeit und Staat warten auf den Beginn der Fuß- einen Rechtsstaat einfordert. ball-WM – eine explosive Mischung.

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201406_Buch.indb 28 21.05.14 10:43 DEBATTE

Die Legende vom griechischen Schummeln

In der letzten Ausgabe der »Blätter« zeichneten David Stuckler und San- jay Basu ein verheerendes Bild des griechischen Gesundheitssystems. Ihr Beitrag verkenne jedoch die eigentliche Genese der griechischen Krise, meint Griechenland-Experte Niels Kadritzke.

Will man die gesellschaftlichen Ver- sich auf ein Manöver mit cross cur- werfungen in Griechenland wirklich rency swaps: eine Art von Devisen- verstehen, ist die richtige Analyse der Termingeschäft mit dem Ziel, mittels griechischen Wirtschaftskrise der letz- Hin-und-her-Transaktionen zwischen ten fünf Jahre von zentraler Bedeu- verschiedenen Währungen (zu fikti- tung. Insofern soll nicht die zutreffende ven Wechselkursen) die wahre Höhe Schilderung der dramatischen Krise der aufgenommenen Kredite zu ver- des griechischen Gesundheitssystems schleiern. An dieser Geschichte ist durch Stuckler und Basu in Frage ge- richtig, dass solche Geschäfte tatsäch- stellt werden, wohl aber ihre Skizze der lich stattgefunden haben. Allerdings wirtschaftlichen Entwicklung Grie- muss man die genaue historische chenlands und der historischen Abfol- Abfolge kennen: Die Swaps wurden ge des Krisengeschehens. im Winter 2001/2002 abgewickelt, Dieses hat sich vor dem Hinter- Griechenland war aber bereits Anfang grund des griechischen Beitritts zur 2001 in die Eurozone aufgenommen Europäischen Union im Jahr 1981 und worden. Und die Referenzzahlen über zur Eurozone im Jahr 2001 entfaltet. die Staatsverschuldung, aufgrund de- Erstaunlicherweise transportieren die rer die Aufnahme erfolgte, bezogen Autoren dabei die Legende, die seit sich auf das Haushaltsjahr 1999. In einiger Zeit zum Standardrepertoire jenem Jahr konnte Griechenland tat- des Griechenbashings gehört: Athen sächlich ein Budgetdefizit von weniger habe sich den Beitritt zur Europäischen als drei Prozent des Bruttoinlandspro- Währungsunion durch Verschleie- dukts (BIP) ausweisen und damit eines rung der wahren Staatsverschuldung der Maastricht-Kriterien erfüllen. erschlichen, ja sogar erschummelt. Die Haushaltszahlen des für den Bei- „Die Daten zur griechischen Schul- tritt zur Eurozone entscheidenden Jah- denlast waren manipuliert worden, um res wurden also nicht durch Goldman- den Anschein zu erwecken, Griechen- Sachs-Tricksereien manipuliert. Die land erfülle die Kriterien für eine Auf- cross currency swaps von 2002 waren nahme in die Währungsunion“, heißt deshalb noch kein argloses Geschäft, es bei Stuckler/Basu. sie dienten allerdings einem anderen Geholfen habe bei diesem Betrugs- Zweck, nämlich der Verschleierung manöver die Investmentbank Gold- der Tatsache, dass Griechenland nach man Sachs. Diese Darstellung bezieht seinem Euro-Beitritt seine Staatsver-

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201406_Buch.indb 29 21.05.14 10:43 30 Niels Kadritzke

schuldung nicht wirksam zurückge- lin natürlich ein „offenes Geheimnis“ führt hat, wie es der Vertrag über die waren, ohne dass irgendeine EU-Auf- Währungsunion (in Art. 126) verlangt. sichtsinstanz dagegen eingeschritten Die griechische Gesamtverschul- wäre. dung lag beim Eintritt in die Eurozone bei 103,7 Prozent des BIP, also weit über den 60 Prozent, die das zweite » Das eigentliche griechische Versa- Maastricht-Kriterium als Schwellen- gen begann nach der Aufnahme in wert für die öffentliche Verschuldung die Eurozone.« eigentlich vorsieht. Ich sage bewusst „eigentlich“, denn dieses Kriterium wurde bei mehreren Beitrittsländern Die Legende, dass sich Griechen- nicht ernst genommen (2001 lagen die land seinen Euro-Beitritt mit Hilfe von Staatsschulden Italiens und Belgiens Goldman Sachs erschwindelt habe, mit 110 bis 108 Prozent des BIP noch wurde später auch in einem Beitrag höher als die Griechenlands). Bei den des damaligen griechischen Regie- Ländern, die das 60-Prozent-Kriterium rungschefs Kostas Simitis und seines verfehlten, verlangte die Union ledig- engsten Mitarbeiters und Euro-Be- lich die Zusicherung, man werde die auftragten Yiannis Stournaras (heute Staatsschuld nach dem Euro-Beitritt Finanzminister in der Athener Koali- „erheblich und laufend“ reduzieren. tionsregierung) widerlegt.1 Demnach Eine solche fallende Tendenz wollte ist Griechenland 2001 mit „sauberen“ Athen ab 2002 nachweisen, was aber Zahlen beigetreten: mit einem Haus- selbst mit Hilfe von Goldman Sachs haltsdefizit für 1999 von 2,5 Prozent. nie gelungen ist: Die Gesamtverschul- Diese Zahl wurde zwar nach 2004 – dung sank ab 2002 zwar unter 100, aufgrund neuer Bemessungskriterien aber niemals unter 95 Prozent des BIP, – auf 3,07 Prozent revidiert, aber das blieb also stets weit über der 60-Pro- ändert nichts an den korrekten Zahlen zent-Grenze. für 1999 aus damaliger Sicht (zumal Griechenland war aber keineswegs auch andere Euro-Staaten nach den der einzige „cross currency swap“-Sün- neuen Standards die Dreiprozenthürde der. Auf dieselbe Verschleierungstech- gerissen hätten). nik haben damals auch andere Länder Das eigentliche Versagen begann nach ihrem Euro-Beitritt gesetzt, allen also nach der Aufnahme in die Euro- voran Italien. Das machte die Londoner zone: Statt die Staatsschulden zurück- Pressesprecherin von Goldman Sachs zuführen, stieg die griechische Ver- klar, als sie am 6. März 2012 gegen- schuldung immer weiter an. Zwischen über dem Wirtschaftsdienst „Bloom- 2002 bis 2009 hatte Griechenland ein berg“ erklärte: „Griechenland hat die durchschnittliches jährliches Haus- Swap-Transaktionen durchgeführt, um haltsdefizit von 6 Prozent des BIP. Der seine Verschuldungsquote [relativ zum Rand des Abgrunds war endgültig BIP] zu reduzieren, weil alle Mitglied- erreicht, als die Regierung Karamanlis staaten [der Eurozone] nach dem Maas- 2009 ein Defizit von 15,7 Prozent hin- tricht-Vertrag eine Verbesserung ihrer legte, nachdem sie noch im Juli dessel- öffentlichen Finanzen vorzuweisen ben Jahres nur ein Minus von lediglich hatten. Die Swaps waren eine von meh- 5 Prozent nach Brüssel gemeldet hatte. reren Verfahren, das viele europäische Diese Differenz hat entscheidend dazu Regierungen benutzten, um den Maas- beigetragen, dass bei den EU-Partnern tricht-Kriterien gerecht zu werden.“ ein notorisches Misstrauen gegenüber Im Übrigen besteht der Skandal die- 1 Vgl. Kostas Simitis und Jannis Stournaras, ser Finanztechniken vor allem darin, Brüssel ist schuld, in: „Süddeutsche Zeitung“, dass sie in Brüssel, London und Ber- 15.5.2012, www.sueddeutsche.de.

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201406_Buch.indb 30 21.05.14 10:43 Die Legende vom griechischen Schummeln 31

„griechischen Zahlen“ entstanden ist, ten sich Tourismus, Schifffahrt und ein wunderbarer Humus, auf dem auch Landwirtschaft zu den wichtigsten die Goldman-Sachs-Legende gedei- Wirtschaftszweigen entwickelt. Tou- hen konnte. Die Explosion des Haus- rismus und Landwirtschaft hatten ihre haltsdefizits von 2009 erklärt sich aus überproportionale Bedeutung schon zwei Trends, die für ein Wahljahr in lange vorher erlangt, und die Schiff- Griechenland typisch sind: Die kon- fahrt gehört bereits seit Gründung servative Regierung, die sich ihrer des neugriechischen Staates vor 185 Wiederwahl nicht sicher war, stellte Jahren zu den wichtigsten Geschäfts- noch im Sommer 2009 Zehntausende zweigen und erlebte ihren größten öffentliche Bedienstete ein, um ihre Aufschwung in den 50er Jahren – man Wählerklientel zu bedienen. Und die denke nur an die gewaltigen Tanker- Finanzämter erhielten Anweisung, und Frachterflotten der Dynastien ihre Aktivitäten bis zum Wahltermin Onassis und Niarchos. einzustellen, um die Wähler gnädig Auch die Darstellung der griechi- zu stimmen. Die Folge waren drastisch schen Sparpolitik entspricht in wich- steigende Ausgaben für den öffentli- tigen Details nicht den Tatsachen. Das chen Dienst und ebenso drastisch sin- gilt etwa für die Aussage, Polizei und kende Steuereinnahmen. Militär seien von den Gehalts- und Pensionskürzungen im öffentlichen Dienst verschont blieben. In beiden » Die Autoren verwechseln schlicht Bereichen wurden die Gehälter und den Beitritt zur Währungsunion mit Pensionen im Zeitraum 2010 bis 2012 dem EU-Beitritt Griechenlands.« genau so radikal gekürzt wie bei den nicht uniformierten Staatsbedienste- ten (nämlich bis zu 35 Prozent), ledig- Die Übernahme der Goldman-Sachs- lich bei der letzten Kürzungsrunde Erzählung ist der interessanteste, aber kamen die „uniformierten“ Staatsdie- bei weitem nicht der einzige faktische ner ein wenig besser weg als der Rest Fehler von Stuckler und Basu. Am (vor allem was die Abfindungen beim gravierendsten ist die erstaunliche Ausscheiden aus dem Dienst betrifft). Behauptung, Griechenland sei der Allein beim Militär wurde bei den Europäischen Union im Jahr 2001 bei- Personalausgaben fast ein Drittel ein- getreten. Die Autoren verwechseln al- gespart. Falsch ist auch die dramatisch so schlicht den Beitritt zur Währungs- klingende Aussage, dass „Polizei und union mit dem Beitritt Griechenlands Militär“ trotz Krise mit Tränengas und zur Europäischen Gemeinschaft, dem Wasserwerfern ausgestattet wurden: Vorläufer der Europäischen Union, All diese schönen Dinge hatte die Poli- der bereits 1981 erfolgte. Diese falsche zei bereits seit den 90er Jahren. Datierung führt dazu, dass auch die Was die konkreten Aussagen über gesamte wirtschaftliche Entwicklung das Gesundheitswesen betrifft, so will Griechenlands falsch beschrieben und ich mir kein Urteil erlauben. Allerdings analysiert wird. So begann der „Bau- ist es in meinen Augen zumindest pro- boom“ (Straßen, Häfen usw.), den die blematisch, von einem „Untergrund- Autoren mit dem EU-Beitritt von 2001 netzwerk von Ärzten“ zu sprechen beginnen sehen, bereits Mitte der 80er und damit all jene bewundernswerten Jahre, und zwar als Folge der aus Brüs- NGOs und lokalen Selbsthilfe-Initia- sel fließenden Gelder für Infrastruk- tiven zu meinen, die inzwischen jeder turprojekte. im Lande kennt und die von vielen Gleichermaßen falsch ist die Be- Bedürftigen in Anspruch genommen hauptung der Autoren, nach dem Ende werden, um überhaupt noch medizi- der Militärjunta im Sommer 1974 hät- nisch versorgt zu sein.

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201406_Buch.indb 31 21.05.14 10:43 AUFGESPIESST

Conchita sei Dank! Wer noch immer denn zum Volk gehören in Russland fürchtet, der Konflikt zwischen Russ- bärtige Frauen noch lange nicht. Um land und dem Westen könne mit Waf- dergleichen auch in Zukunft zu verhin- fen ausgetragen werden, wurde beim dern, greifen andere Russen zur musi- Eurovision Song Contest in Kopen- kalischen Vorwärtsverteidigung. „Voi- hagen eines Besseren belehrt: Musik ce of Eurasia“ – so lautet die Lösung, reicht! Kaum stand die österreichische wenn es nach Waleri Raschkin geht, Drag Queen auf der Bühne, kamen dem Chef der Kommunistischen Par- sämtliche homophobe Russen aus der tei. Schwule und Transsexuelle sind Deckung. „Euro-Homos, schmort in bei diesem Wettbewerb der großrus- der Hölle“, twitterte der Kommunal- sischen Volksmusik dann mit Sicher- politiker Witali Milonow. Und Wla- heit nicht mit von der Partie. Ob das dimir Schirinowski, Chef der rechts- Raschkins Landsleuten behagt? Wohl populistischen Liberal-Demokraten kaum. Denn immerhin rangierte „die – die Betonung liegt bekanntlich auf Wurst“ beim russischen Zuschauer- liberal – war völlig konsterniert: „Da votum auf Platz 3. Schwules Europa unten gibt es keine Frauen und Män- versus homophobes Russland, ganz so ner mehr, sondern ein Es.“ leicht geht die Rechnung also nicht auf. Zumal auch im Westen keineswegs al- le glücklich sind mit Conchita, speziell Um die Wurst in Österreich: Bereits im Vorfeld des Grand Prix schlossen sich Zehntausen- de der Facebook-Initiative „NEIN zu Verfluchtes „Gayropa“: Offensichtlich Conchita Wurst beim Song Contest“ an bringt Conchita das klare Geschlech- und beklagten die Verhunzung der ös- terbild der wahren Russen völlig in terreichischen Nationalkultur. Unordnung. Die Konsequenz liegt für Und auch in Deutschland regt sich Schirinowski auf der Hand: „Vor 50 der Widerstand, allerdings noch meist Jahren hat die sowjetische Armee Ös- im Verborgenen. Wie gut, dass es da terreich besetzt, es freizugeben war ein Béla Anda gibt, „Bild“-Politikchef und Fehler, wir hätten bleiben sollen“. Da Ex-Pressesprecher Gerhard Schröders. nun allerdings Österreich – anders als Er bekennt frank und frei: „Conchita die Ukraine – beim besten Willen nicht Wurst ist nichts für mich.“ Alles sträube mehr okkupierbar ist, muss Russland sich in ihm. „Ich frage mich selbst: Wa- zum bewährten Mittel der Abschre- rum ist das so?“ Und plötzlich kommt ckung greifen und eine musikalische die Erkenntnis: „Ich glaube, es ist der Grenze errichten. Genauer: einen anti- Bart!“ Dabei sind Bärte in Europa doch faschistischen Schutzwall. Schließlich gerade unter „jungen Menschen“ wie- erkennt nicht nur Wladimir Jakunin, der hip; man denke nur an „Bild“-Chef seines Zeichens Chef der russischen Kai Diekmann! Doch, so Béla Anda Eisenbahn, einen vulgär-westlichen weiter, fast hysterisch: „Es gibt keinen „Ethno-Faschismus“. Wer „der Frau Kanal, keine Möglichkeit, sich da- mit dem Bart“ nicht applaudiert habe, gegen zu artikulieren.“ Da allerdings sei als gefährlicher Nicht-Demokrat können wir ihn beruhigen: Wem ein beschimpft worden, jammerte er beim solcher „Bild“-Kommentar mit seinen Deutsch-Russischen Forum in Berlin. zig Millionen Lesern nicht reicht, dem „Die antike Definition der Demokratie fehlt kein Kanal, sondern der kriegt hatte nichts mit bärtigen Frauen zu tun, den Kanal nicht voll. Da hilft nur eins: die Demokratie ist die Herrschaft des Ab nach Russland – Gerhard Schröder Volkes“, schloss der Russe seinen Vor- wartet schon. trag. Und: „Ich bin stolz, Russe zu sein“, Anne Britt Arps

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201406_Buch.indb 32 21.05.14 10:43 KOLUMNE

Palästina: Frieden durch Recht Von Rami G. Khouri

Siebzehn angesehene Menschenrechts- grund seines Beobachterstatus bei den organisationen, darunter Amnesty In- Vereinten Nationen als Nichtmitglied ternational und Human Rights Watch, zustehen. sowie die prominenten Palästinenser- Außerdem könnten internationale gruppen Ad-Dameer und al-Haq haben Rechtsstandards auf kriminelles Ver- Anfang Mai einen Dringlichkeitsappell halten Israels in den besetzten Palästi- an die Regierung in Ramallah gerichtet: nensergebieten und auf alle gleicharti- Sie möge unverzüglich dem Internatio- gen Unrechtsakte von palästinensischer nalen Strafgerichtshof (IStGH) beitre- Seite angewendet werden. Darüber hin- ten.1 Denn dann könne dieser endlich aus könnte eine weithin anerkannte An- dem Zustand ein Ende bereiten, dass laufstelle für breit angelegte internatio- mutmaßliche Verbrechen beider Seiten nale Unterstützung der palästinensische im israelisch-palästinensischen Kon- Sache geschaffen werden. flikt juristisch ungesühnt bleiben. Das Und schließlich wäre dies ein deutli- an Mahmud Abbas, den Palästinenser- cher Ausdruck des Widerstands gegen präsidenten, adressierte Schreiben for- israelische Militärgewalt und Rechts- dert die strafrechtliche Ahndung von verstöße in den besetzten Gebieten bei Taten wie Folter, wahllosen Angriffen gleichzeitiger bedingter Anerkennung auf die Zivilbevölkerung und der ex- Israels in den Grenzen vom Juni 1967. pansiven israelischen Siedlungstätig- keit in den besetzten Gebieten. „Geschähe dies, wäre das eine wich- Die neue palästinensische Allianz tige Botschaft, die anhaltende Straflo- sigkeit von Kriegsverbrechen und Ver- Auf das Zusammenspiel dieser recht- brechen gegen die Menschlichkeit, die lichen und politischen Dynamik zu set- in den Palästinensergebieten begangen zen, wäre für die palästinensische Füh- werden, ein für allemal zu beenden“, rung, die jetzt das Versöhnungs- und heißt es dort wörtlich. Der Vorgang ist Einigungsabkommen zwischen Fatah bedeutsam und eröffnet Chancen, die und Hamas umzusetzen versucht, ein die Palästinenserführung und deren kluger Schritt vorwärts. Internationale Unterstützer in aller Welt unbedingt Rechtsmittel nutzen zu können, um der nutzen sollten. Denn die Einschaltung spaltenden Politik des Zionismus etwas des IStGH könnte eine möglicherweise entgegen zu setzen, das ist ein Ziel, in entscheidende Konvergenz bislang un- dem alle Palästinenser und ihre vielen verbundener Phänomene bewirken. Unterstützer weltweit übereinstimmen. Hierzu zählen: Zum ersten eine ein- Der kürzlich gestellte palästinensi- heitliche, von einem nationalen Konsens sche Beitrittsantrag zu 15 UN-Agentu- getragene palästinensische Strategie. ren und internationalen Verträgen bzw. Zudem würde der „Palästinensische Konventionen sowie das Vorhaben, zu Staat“ jene Vorteile nutzen, die ihm auf- gegebener Zeit weiteren 48 Organi- sationen beizutreten, beinhalten auch 1 Vgl. die Dokumentation des Appells im Wort- laut unter www.blaetter.de. die Unterzeichnung der Vierten Genfer

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201406_Buch.indb 33 21.05.14 10:43 34 Kolumne

Konvention. Deren klare Bestimmun- nismus seit Jahrzehnten bedient, um gen über den humanitären Schutz von den Palästinensern die Luft abzuschnü- Zivilisten in Kriegsgebieten sind auf ren und sie schließlich zu entwurzeln, vielfältige Weise auf die Unterwerfung auszuweisen und ins Exil zu treiben. Ihr von Land und Leuten in den besetzten Wille ist, dass ein „jüdischer Staat“ von Palästinensergebieten durch den Staat möglichst rein zionistischem Zuschnitt Israel anwendbar. gedeihen möge. Die Palästinenser und Politische Verhandlungen und ande- ihre arabischen Unterstützer sind mit re Mittel wie etwa Appelle an die Ver- allen Versuchen, diesen Prozess zu ver- einigten Staaten, Druck auf Israel aus- langsamen oder anzuhalten, krachend zuüben, haben Israel letztlich nicht dazu gescheitert. Und selbst der amerika- bewegen können, sein unterdrückeri- nische Präsident biss auf Granit, als er sches Verhalten zu beenden. dies zwei Mal innerhalb der letzten vier Jahre versuchte. Nur zwei Methoden konnten die is- Ein längst überfälliger Schritt raelische Landnahme in Palästina und den angrenzenden arabischen Gebieten Es überrascht nicht, dass die Vereinig- in der jüngeren Vergangenheit anhalten ten Staaten und Israel – vergeblich – oder umkehren – Friedensabkommen versucht haben, den Beitritt der Paläs- wie die mit Ägypten und Jordanien oder tinenser zu internationalen Agenturen der bewaffnete Widerstand, der dazu und Konventionen zu blockieren. Sie be- beigetragen hat, die direkte Besetzung haupten, auf diese Weise würden direk- und Kolonisierung des Gazastreifens te Friedensverhandlungen unterlaufen. und des Südlibanons zu beenden. Da Das trifft gewiss zu, aber der palästi- gegenwärtig keine dieser Optionen Er- nensische Schritt war längst überfällig. folg zu versprechen scheint, ist es höchs- Denn Israel nutzte die letzten 20 Jahre te Zeit, dass die Palästinenser andere der von den USA auf Basis israelischer Mittel erproben. Das beste darunter Prioritäten moderierten Direktverhand- scheint der Beitritt zum Internationalen lungen dazu, die Kolonisierung palästi- Strafgerichtshof und die Nutzung seines nensischen Landes massiv auszuweiten. Instrumentariums zu sein. Aus Untersuchungen der Vereinten Die internationalen Menschenrechts- Nationen geht hervor, dass im Westjor- organisationen schreiben in ihrem Brief, danland einschließlich Ostjerusalems ein Beitritt zum IStGH würde bei Israe- seit 1967 rund 250 Siedlungen gegrün- lis wie Palästinensern die Bereitschaft det wurden – mit staatlicher Genehmi- fördern, das Völkerrecht zu achten und gung oder auch ohne sie. Die Zahl der der Straflosigkeit mutmaßlicher Kriegs- Siedler wird auf über 520 000 geschätzt verbrechen ein Ende zu setzen. Zudem (200 000 in Ostjerusalem und 320 000 im würde die Einschaltung des Gerichts- übrigen Westjordanland). Die Bevölke- hofs Friedensbemühungen unterstützen rung der Siedlungen ist im vergangenen anstatt sie zu stören, denn: „Die straf- Jahrzehnt viel schneller gewachsen als lose Verübung von Kriegsverbrechen die Bevölkerung in Israel selbst, näm- hat den Friedensprozess immer wieder lich im Jahresdurchschnitt um 5,3 Pro- untergraben. Die glaubhafte Drohung, zent (Ostjerusalem nicht eingerechnet) dass sie strafrechtlich verfolgt werden gegenüber 1,8 Prozent in Israel. können, würde helfen, die Sache des Die Ausweitung der Siedlungen und Friedens zu fördern.“ die Landenteignungen gehören neben Worauf also wartet Mahmud Abbas der Kontrolle der Wasserressourcen noch? und neben Baugenehmigungen zu den © Agence Global, Hauptmitteln, derer sich der rechte Zio- Übersetzung: Karl D. Bredthauer

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201406_Buch.indb 34 21.05.14 10:43 KURZGEFASST

Andreas Heinemann-Grüder: Ukraine: Revolution und Revanche, S. 37-46

Die Krise in der Ukraine wird klassischerweise „bloß“ als Konflikt zwi- schen Russland und dem Westen gelesen. Der Friedensforscher Andreas Heinemann-Grüder kommt in seiner Analyse der Konfliktgenese hin- gegen zu einer etwas anderen Sicht – nämlich der, dass die Eskalation einem Reizreaktionsschema von Revolution und Revanche folge. Erst setzte die Revolution auf dem Maidan bestehendes Verfassungsrecht außer Kraft, dann reagierte Putin mit dem gezieltem Bruch des Völkerrechts.

Glenn Greenwald: NSA: Die Schere im Kopf. Wie Massenüberwachung jeden Protest im Keim erstickt, S. 47-58

Die Enthüllungen Edward Snowdens förderten die vielleicht größte Geheimdienstaffäre der Geschichte zu Tage – und schlugen im media- len Diskurs ein wie eine Bombe. Nun gibt sein engster Mitarbeiter Glenn Greenwald einen Einblick in die geheimen Akten. Diese machen deutlich, wie total die Überwachung ist, und dass die Vorstellung, davon selbst nicht betroffen zu sein, eine bloße Illusion darstellt.

James Jennings: Barack Obama und der Mythos vom post-rassistischen Amerika, S. 59-70

Amerika ist post-rassistisch, hieß es vielerorts bereits nach ersten Wahl Barack Obamas, des ersten schwarzen Präsidenten der USA. Der Stadt- und Umweltforscher James Jennings hält diese Position nicht nur für absurd, sondern auch für gefährlich. Denn sie diene vor allem Konservativen, um Minderheitenrechte zu diskreditieren. Ihm zufolge bestehen auch 50 Jahre nach der Bürgerrechtsbewegung massive Ungleichheiten zwischen Afro- amerikanern und Weißen in fast allen Bereichen des sozialen Lebens fort.

Paul Krugman: Thomas Piketty oder Die Vermessung der Ungleichheit, S. 71-81

Eine neue Ungleichheitsdebatte beherrscht derzeit nicht nur die US-ame- rikanischen Feuilletons. Angestoßen wurde sie durch Thomas Pikettys brisantes Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“. Wirtschaftsnobelpreis- träger Paul Krugman würdigt dessen Versuch, den Kapitalbegriff unter dem Gesichtspunkt der Ungleichheit wieder aufzugreifen, als einen ganz großen Wurf. Dieser könne nicht nur unsere politischen Auffassungen, sondern auch die Politik insgesamt revolutionieren.

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201406_Buch.indb 35 21.05.14 10:43 36 Kurzgefasst

Susan George: Macht ohne Rechenschaft: Der globale Lobbyismus, S. 83-92

Die aktuellen Verhandlungen über das Handelsabkommen TTIP zeigen wie in einem Brennglas den globalen Machtzuwachs multinationaler Kon- zerne. Susan George, Politikwissenschaftlerin und Aktivistin, nimmt vor allem den „illegitimen“ Charakter dieser neuen Großmächte ins Visier. Ihr Fazit: Wenn das Handeln der Konzerne weiterhin keinerlei demokra- tischer Rechenschaftspflicht unterliegt, wird die Selbstbestimmung der Völker abgelöst durch die Selbstbestimmung der Konzerne.

Thomas Fritz: Geheimwaffe TTIP: Der Ausverkauf der öffentlichen Güter, S. 93-100

Was unter dem Kürzel TTIP alles firmiert, ist bis heute der Bevölkerung nur in Ansätzen bekannt. Dabei drohen öffentliche Güter und Dienstleis- tungen erst durch das geplante Freihandelsabkommen zwischen EU und USA – und nun auch durch TISA – auf ewig zu privaten Gütern zu werden. Der Publizist Thomas Fritz zielt in seiner Analyse auf den Kern des Skan- dals – nämlich auf die Unmöglichkeit der Rekommunalisierung einmal privatisierter Güter.

Detlev Claussen: Jogo bonito, das schöne Spiel: Fußball als Utopie, S. 101-112

Der ahnungslose Bildungsbürger mag Fußball für bloße Zeitverschwen- dung halten – oder für reinen Kommerz. Nach Ansicht des Soziologen Det- lev Claussen wird damit das utopische Potential des schönen Spiels jedoch völlig verkannt. Von den heroischen Anfängen bis zur kommenden WM in Brasilien zeichnet Claussen das Bild einer Sportart, die, entgegen mancher Vorstellung, maßgeblich zu Frieden und Demokratie beiträgt.

Klaus Naumann: Historische Schuld und politische Verantwortung. Die Gegenwart der Vergangenheit des Großen Krieges, S. 113-119

Pünktlich zum 100jährigen Jubiläum des Ersten Weltkrieges ist in den deutschen Feuilletons eine hitzige Debatte entbrannt – über Ursache und Wirkung, Schuld und Verantwortung am Kriege. „Blätter“-Mitherausge- ber Klaus Naumann analysiert die beiden Lager und plädiert dafür, den Schulddiskurs zu verlassen und sich stattdessen der Frage nach der politi- schen Verantwortung zu stellen.

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201406_Buch.indb 36 21.05.14 10:43 Ukraine: Revolution und Revanche Von Andreas Heinemann-Grüder

ie Revolution in der Ukraine und die darauf folgende russische Revan- D che – die Einverleibung der Krim in die Russische Föderation wie die anhaltende Destabilisierung der Ostukraine – haben eine schwere Krise in den internationalen Beziehungen ausgelöst. In Krisen bricht eine alte Ord- nung zusammen und eine neue schafft sich Bahn, das gilt für das ukraini- sche Regierungssystem wie für die europäische Sicherheitspolitik. Der rus- sische Präsident Wladimir Putin hat wiederum eindrücklich demonstriert, dass autoritäre Herrschaft im Inneren auf das Außenverhalten durchschlägt. Handelte er aus Angst vor einer heimischen Revolution? Gewiss. Seine Motive liegen offen zutage: innere Stabilisierung des eigenen, verunsicher- ten Regimes und eine Revision westlicher Dominanz in den internationalen Beziehungen. Angesichts der ukrainischen Revolution führten die russischen Staatsmedien dem heimischen Publikum ein Bild von Anarchie, Chaos, anti- russischem Nationalismus und westlicher Einmischung vor. Putin verwan- delt sein eigenes Erschrecken in ein propagandistisches Schreckbild für die russische Innenpolitik. Offenbar mit Erfolg: Im Inneren richtet die schnelle Krim-Operation den russischen Nationalstolz über politische Lagergrenzen hinweg auf. Putin treibt damit aber auch den Preis für die Stabilisierung der Ukraine für EU und USA enorm in die Höhe. Die EU und die USA reagieren schockiert. Der Ukraine unter Präsident Janukowitsch hatte die EU tiefe Einschnitte in ihre Souveränität abverlangt und eine prononciert antirussische Ausrichtung der ukrainischen Politik erwartet. Nach Janukowitschs überraschender Wende setzte sie dann im Konzert mit den USA auf Regimewechsel – eine Hybris, die sich nach der Krim-Annexion als Pyrrhussieg erwies.1 Die Projektion geballter Sanktions- macht gegen Russland soll nun die Rangordnung in den internationalen Beziehungen wiederherstellen. Geeint in der Gegnerschaft gegen Russland verblassen die Spannungen im euro-atlantischen Verhältnis und die Legiti- mationskrise der EU. Wann gab es in den letzten 25 Jahren so viel Schulter- schluss im Westen? Nun hat er sein definierendes Anderes erneut gefunden: Russland. In der Ukrainekrise kulminiert eine ost-westliche Entfremdung,

1 Victoria Nuland, Assistant Secretary of State for Europe and Eurasian Affairs, hatte in ihrem abge- hörten Telefonat vom 4.2.2014 mit dem US-Botschafter in der Ukraine, Jeffrey Payette, detailliert die Regierungsbildung nach Janukowitsch besprochen, veröffentlicht am 8.2.2014, www.youtube.com/ watch?v=fk6SvNzRDL8. Die USA haben laut Nuland von 1991 bis 2013 fünf Mrd. US-Dollar in den Aufbau „demokratischer Institutionen“ in der Ukraine investiert, www.informationclearinghouse. info/article37599.htm.

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201406_Buch.indb 37 21.05.14 10:43 38 Andreas Heinemann-Grüder

die über Jahre wuchs. Aus Putins Politik der letzten Jahre ließen sich drei Schlüsse ziehen: die Einbindung in kooperative Wirtschafts- und Sicherheits- politik bei gleichzeitiger Distanz zum nicht-demokratischen Regime, hartes Durchgreifen oder die Behandlung Russlands als quantité négligeable, als zu vernachlässigende Größe. Letzteres obsiegte bis zur Ukrainekrise, russische Interessen wurden als Anmaßung eines Vetorechtes abgetan. Westlicher Hochmut und Putins Unerbittlichkeit befeuerten sich gegenseitig. Gerade weil man sich über das autokratische Regime Putins, sein Konkurrenzprojekt „Eurasische Union“ und den seit Anfang 2013 zunehmenden Druck auf die Ukraine keine Illusionen machen musste, verwundert die Leichtfertigkeit, mit der die EU-Troika (Barroso, Van Rompuy, Ashton) meinte, die Folgen des EU-Assoziierungsabkommens ausblenden und russische Interessen ignorie- ren zu können. Wie aber wollen die USA und die EU nun aus der Eskalations- spirale wieder herauskommen? Einer Eskalation, die sich mit der EU-Assozi- ierungspolitik anbahnte, endgültig aber mit der Revolution in Kiew begann.

Die Revolution und das Ende legitimer staatlicher Herrschaft

Jede Revolution untergräbt die Legitimität staatlicher Herrschaft. Der Sturz Janukowitschs machte das staatliche Gewaltmonopol und die ukrainische Verfassung obsolet. Revolutionen werden durch prekäre Staatlichkeit ausge- löst, nutzen sie aus und ersetzen das staatliche Gewaltmonopol durch revo- lutionäre Gewalt, die sich dann mit der normativen Kraft des Faktischen als Revolutionsrecht etabliert. Es erhielt Applaus im Westen. Obama meinte, Putin habe sich auf die falsche Seite der Geschichte geschlagen.2 Wer öffent- liche Gebäude besetzte und zur bewaffneten „Selbstverteidigung“ griff, stand in Kiew auf der richtigen Seite der Geschichte, auf der Krim und der Ostukraine hingegen auf der falschen. Der durch die Außenminister Deutschlands, Polens und Frankreichs vermittelte Kompromiss zwischen Regierung und Opposition vom 21. Fe- bruar 2014 kam zu spät. Unter dem Druck, die Kontrolle über seine Partei, das Parlament und Teile der Sicherheitskräfte zu verlieren, und angesichts westlicher Sanktionsdrohungen unterzeichnete Janukowitsch seine Kapitu- lationsurkunde. Er stimmte der Wiederinkraftsetzung der parlamentarisch- präsidentiellen Verfassung von 2004 sowie vorgezogenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zu. Ob die Opposition sich je an die Abmachung zu halten gedachte, ist fraglich. Präsident Janukowitsch hatte kapituliert, die Opposition sah ihn wanken und setzte zum finalen Angriff an. Die Olympi- schen Winterspiele in Sotschi mögen das Timing beeinflusst haben, während Olympia war nicht mit einer harschen Reaktion Putins zu rechnen. Nachdem Janukowitsch bestenfalls noch als Übergangspräsident hätte agieren können, war sein Machtverlust nur eine Frage der Zeit. Um dem Schicksal von Sad- dam Hussein oder Muammar al-Gaddafi zu entgehen, floh er nach Russland.

2 Vgl. Pressekonferenz von US-Präsident Barack Obama, 3.3.2014, www.youtube.com/watch?v= FCQ1F_301M.

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In der Ukraine wiederholte sich damit die Erkenntnis des Arabischen Früh- lings: Es scheint mittlerweile fast leicht, einen unbeliebten und korrupten Herrscher zu stürzen. Der öffentliche Unmut richtet sich gegen grassierende Vetternwirtschaft und Korruption. Der Aufwand für kollektiven Protest nimmt in Zeiten neuer sozialer Medien und internationaler Vernetzung ab, während die moralischen Kosten für Repression ins Unermessliche steigen. Unzufriedene, protestierende Bürger ventilieren ihren aufgestauten Unmut, und sofern der Unmut auf eine Forderung fokussiert werden kann („weg mit …!“) und die Aussicht auf Erfolg nicht schwindet, lassen sich Massen- proteste einige Wochen bis Monate organisatorisch durchhalten. Je mehr Demonstranten ermüdet und frustriert sind, umso stärker wird die Fraktion der Gewalttäter. Und dominieren Protestierer die Konflikteskalation, können sie fast nur gewinnen, denn moralisch desavouiert sich jeder Regent, der sich in die Spirale von Aktion und Reaktion hineinziehen lässt. Janukowitsch scheiterte letztlich an seiner schmalen Regimebasis: Zwi- schen 50 und 75 Prozent des Führungspersonals in den Kiewer Schlüssel- ministerien stellten Seilschaften seines heimatlichen Donbass-Gebietes. Die ausgeschlossenen Oligarchen und Regionalgouverneure wandten sich vom Präsidenten ab, immer mehr Politiker kehrten der regierenden „Partei der Regionen“ den Rücken. Einige Oligarchen unterstützten die Maidan- Proteste aus Furcht, andernfalls Opfer westlicher Sanktionen zu werden. Eine Regierungsbeteiligung oder einen „Runden Tisch“ wie in Polen schlug die Opposition wiederum aus, da sie auf bedingungslose Kapitulation setzte und sich darin durch westliche Signale ermuntert sah.

Sieg oder Niederlage – die Fatalität der revolutionären Polarisierung

Bewegungen zum Sturz legitimationsschwacher Regime ähneln einem Krieg. Kriege und Revolutionen polarisieren, fordern eindeutige Parteinahme und reduzieren politische Optionen auf Sieg oder Niederlage. Um die eigene Macht zu stärken, die für einen Sieg nicht reicht, werden ausländische Mächte für die jeweils eigene Sache mobilisiert. Die Ausgangssituation mutiert von einer temporalen Systemstörung zu einer generellen. Revolutionen sind keine Win-win-Situationen. Da Revolutionäre keine „zivile Konfliktbearbeitung“ wollen, waren Vorstellungen eines geregelten Übergangs zum Scheitern ver- urteilt, als sich die westlichen Staaten auf die Seite der Revolution stellten. Auf dem zentralen Protestplatz Maidan übernahmen ab Januar 2014 orga- nisierte Gewalttäter die Regie, friedlicher Massenprotest verwandelte sich in einen Aufstand. Ein Teil der Demonstranten ging mit Wurfgeschossen, Eisen- ketten, Katapulten, Molotowcocktails und Gassprays, zunehmend auch mit Schusswaffen gegen die Sicherheitskräfte vor. Der Versuch, mit einer „Anti- Terror“-Operation die öffentlichen Gebäude wieder unter Kontrolle zu brin- gen, konnte sich im fortgeschrittenen Stadium der Gewalteskalation und des Machtverfalls nur noch gegen Janukowitsch selbst richten, da er – entgegen Putins Ratschlag – nicht bereit war zum Äußersten, einer gewaltsamen Nie-

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derschlagung des Aufstandes. Westliche Appelle zur Gewaltlosigkeit richte- ten sich an die Regierung, nicht an die Opposition (in der Ostukraine verhält es sich jetzt wieder anders herum). Wer die zum Teil uniformierten, bewaffneten und ausgebildeten Gewalt- täter organisierte, die sich der Kontrolle durch Oppositionspolitiker wie Wladimir Klitschko und Arsenij Jazenjuk entzogen, werden vermutlich erst Historiker oder eine Untersuchungskommission rekonstruieren. Zahlreiche Videomitschnitte vom Maidan, ein abgehörtes Telefonat zwischen Cathe- rine Ashton und dem estnischen Außenminister Urmas Paet sowie Aussagen der ukrainischen Ärztin Olga Bogomolez nähren den Verdacht, dass meh- rere Berkut-Polizisten und Demonstranten von denselben Scharfschützen erschossen wurden, also nicht auf Befehl von Janukowitsch – vermutlich, um aus der Gewalteskalation politischen Gewinn zu schlagen. Der neue Innen- minister, Arsen Awakow, räumt vieldeutig ein, dass eine „dritte Macht“ (jen- seits der staatlichen Berkut-Kräfte und der Demonstranten) eine „Schlüssel- rolle“ auf dem Maidan gespielt habe.3 Die Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine ermittelte gegen die Scharfschützen, gab aber am 21. März 2014 nur bekannt, dass es sich um ukrainische Staatsbürger handele. Dem estnischen Außenminister Paets zufolge „wächst schnell das Verständnis dafür, dass hinter diesen Scharfschützen nicht Janukowitsch, sondern jemand aus der neuen Koalition gestanden hatte“.4 Russland fordert die OSZE seit Anfang März 2014 dazu auf, zu klären, wer die Scharfschützen angeheuert hatte. Im Moment ihres Sieges waren die Demonstranten bereits Geschichte, ersetzt durch institutionalisierte Akteure, nämlich jene, die den Staat über- nehmen konnten. So finden sich in der ukrainischen Übergangsregierung fast ausnahmslos Gesichter, die bereits unter dem Vorgänger Janukowitsch oder der mitnichten weniger korrumpierten früheren Premierministerin Julia Timoschenko in hohen Positionen dienten. Wladimir Klitschko, das Gesicht des Maidan, aber nie deren Kopf, hatte seine historische Funktion als PR-Mann der Revolution an dem Tag erfüllt, als Janukowitsch geflohen war. In der Übergangsregierung war er nicht mehr vertreten. Dagegen avancierte der Rechtsextremist Andrij Parubij, Gründer der Sozial-Nationalen Partei der Ukraine, jetzt Swoboda-Partei, vom „Komman- deur des Maidan“, der die bewaffneten Schützen befehligt hatte, zum Vorsit- zenden des nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates. Oleh Tjahnybok, Chef der nationalistischen Swoboda und Dritter im Bunde der Revolutions- führer, gilt dem Jüdischen Weltkongress als Neonazi, er kam auf der Liste des Simon-Wiesenthal-Zentrums im Jahre 2012 auf Platz fünf der schlimmsten Antisemiten weltweit. Zwar wollten US-Außenminister Kerry und Kanzlerin Merkel sich nicht mit Tjahnybok treffen, doch US-Senator John McCain tat es – ohne ein Wort der Abgrenzung vom Rechtsextremismus. Nach dem Umsturz folgte das ukrainische Parlament am 23. Februar 2014 Tjahnybok Vorschlag,

3 Julia Smirnowa, Wer hat die Demonstranten auf dem Maidan erschossen?, in: „Die Welt“, 6.3.2014. 4 „Ukrainische Staatsanwaltschaft kennt Namen der Scharfschützen vom Maidan“, in: RIA Novosti Kiew, 21.3.2014. Paets bestätigte die Authentizität des abgehörten und auf www.youtube.com ver- öffentlichten Telefonats.

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ein Gesetz abzuschaffen, das die Mehrsprachigkeit für Regionen zuließ, in denen Sprachminderheiten einen Anteil von über zehn Prozent haben – ein Misstrauensantrag gegen ethnische Russen. Nach Ausbruch der Krimkrise wurde das Gesetz zwar auf Druck der EU vom Übergangspräsidenten nicht unterzeichnet, doch der Brandsatz hatte gewirkt.

Revolutionsrecht oder Völkerrecht?

Wer Aufständische und einen Regimewechsel gutheißt, kann sich nicht glaubwürdig darüber empören, dass die Gegenseite zu Methoden greift, die er selbst ins Repertoire eingeführt hat. Er kann sich nur darüber empören, dass die andere Seite die eigene Hegemonie nicht anerkennt. Es gehört zu Revolutionen, dass sie Verfassungen zur Disposition stellen. Wer sich höhere Moral im Umgang mit dem Verfassungs- bzw. dem Völkerrecht attestiert, darf sich nicht wundern, wenn andere mit dem Selbstbestimmungsrecht, der Schutzverpflichtung, der Gültigkeit von Verfassungen und illegitimer Gewalt hantieren. Das Krim-Referendum sei illegitim, hieß es von westlicher Seite. Doch wer für sich höheres Revolutionsrecht reklamiert oder sich – wie im Falle des Irak – höhere Moral im Umgang mit dem Völkerrecht attestiert, kann schlecht im Handumdrehen das Recht anmahnen, wenn der Gegen- spieler es missachtet. Nach der ukrainischen Revolution stellte der Konstitu- tionalismus für Putin keine Hürde mehr dar, aber schon davor war „der Mai- dan“ gleichsam zum Volkssouverän anstelle des Wahlvolkes avanciert. Putins öffentliche Rede bemüht ein Amalgam aus jenen Normen, Wer- ten und rhetorischen Figuren, die der Westen jahrelang predigte. Zur Vor- geschichte der Ukrainekrise gehört, dass Putin nur noch an nationale Inte- ressen, Kräfteverhältnisse und wirtschaftliche Ressourcen glaubt und vom westlichen Willen zum Regimewechsel ausgeht. Gemessen an seinen opti- mistischen Interviews bis Anfang Februar 2014 muss er zutiefst erschrocken gewesen sein über den schnellen Sturz von Janukowitsch. Die Einverleibung der Krim hat die nationale Legitimation des Putinschen Regimes forciert und war eine Art Wiedergutmachung für die Schmach der 90er Jahre. Dem Westen zeigte Putin, dass er seine Agenda entschlossen und ohne Rücksicht verfolgt und die USA nicht der einzige Lehrmeister in den internationalen Beziehungen sind. Die Vorgeschichte lässt sich nicht revidie- ren, aber auch der Westen hat Anteil an der Formierung des Politikers Putin. Damit ist dessen Handeln keineswegs gerechtfertigt, aber der moralische Impetus seiner westlichen Kritiker klänge weniger schrill, wenn er nicht den Macht- und Bündnisverhältnissen untergeordnet worden wäre.

Krise der Ethik und Ethik in der Krise

Am Ende bleibt die entscheidende Frage: Rechtfertigt ein Regimewechsel, so wünschenswert er sein mag, revolutionäre Gewalt? War die Aussicht auf EU-

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Assoziation und auf künftige Nato-Mitgliedschaft der Ukraine eine Spaltung des Landes wert? Revolutionären scheint diese Frage müßig, aber für das Verhalten exter- ner Akteure ist sie bedeutsam, denn indem sie sich auf die Seite der Revolu- tionäre stellen, tragen sie Mitverantwortung für die Folgen. Wenn es keine Möglichkeit des Rekurses auf Recht gibt, kann eine Revolution in der Tat gerechtfertigt sein. Vier Monate lang dominierte die Ethik des Regimewech- sels, und der Westen ließ sich von dieser Ethik leiten. Nachdem die Regierung Janukowitsch die Unterschrift unter das EU-As- soziierungsabkommen verweigert hatte, lobte die EU eine Revolutionsprä- mie aus. Der Opposition wurden von den USA, dem Internationalen Wäh- rungsfond und der EU Finanzhilfen für den Fall des Sieges annonciert – ein modus operandi, der sich in die lange Tradition verdeckter US-Aktionen zum Regimewechsel einreiht. Zwar haben EU-Präsident Barroso und der Russ- land-Koordinator der Bundesregierung, , bestritten, einen „Bie- terwettbewerb“ mit Russland betrieben zu haben,5 doch hat man genau dies getan und der Ukraine westliche Kredite angeboten, falls die Opposition die Regierungsmacht übernimmt. Finanzielle Anreize für die Opposition gegen die gewählte Regierung – wie korrupt Janukowitsch auch immer regierte, er war 2010 in einer unangefochtenen Stichwahl mit 48,8 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt worden – signalisierten die Bereitschaft zur massi- ven Einmischung in innere Angelegenheiten. Die ukrainische und russische Führung schlugen dagegen im November 2013 Dreiergespräche mit der EU vor, unter anderem über die Kompatibili- tät des Freihandels der Ukraine mit der EU und Russland. Doch die EU wies trilaterale Gespräche brüsk von sich. Präsident Barroso hatte bereits im Feb- ruar 2013 erklärt, ein Land könne nicht Mitglied einer Zollunion sein und zugleich einer weitreichenden Freihandelszone mit der EU angehören, die Ukraine müsse sich entscheiden.6 Kurzum: Nachdem die ukrainische Regierung die Unterschrift unter das Assoziierungsabkommen verweigert hatte, wurde sie nicht mehr als Vertre- tung eines souveränen Staates behandelt. Die Teilnahme von mehreren EU- Außenministern an den Maidan-Demonstrationen und der offizielle Empfang der ukrainischen Oppositionspolitiker Klitschko und Jazenjuk durch Kanzle- rin Merkel am 17. Februar 2014 wertete dagegen die Opposition zum interna- tional anerkannten Akteur auf. Die europäischen Staaten machten sich damit zum Bündnispartner einer revolutionswilligen Opposition in der Ukraine, die auf westliches Eingreifen für den Fall der Konflikteskalation setzte und kein Interesse mehr an einem evolutionären, das heißt durch demokratische Wahlen vorab – und nicht ex post – legitimierten Regimewechsel zeigte.

5 Gernot Erler im Gespräch mit Peter Kapern: Kein Bieterwettbewerb mit Russland, www.deutsch- landfunk.de, 4.2.2014. 6 „Ukraine will sich nicht auf EU festlegen“, in: „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ 25.2.2014, www. derwesten.de. Der Volltext des Assoziierungsabkommens kann nachgelesen werden unter: http:// eeas.europa.eu/ukraine/assoagreement/assoagreement-2013_en.htm; ausführlicher zum Verhält- nis des Westens gegenüber Russland nach 1989 der Beitrag des Autors im diesjährigen Friedensgut- achten, das in Kürze im LIT Verlag erscheint.

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Ein derartiges Recht auf Widerstand gilt dem Grundgesetz nach allerdings nur dann als legitim, wenn Staatsorgane die geltende Verfassung außer Kraft setzen, beseitigen oder umstürzen wollen – ein Freibrief für Revolutionen ist dies nicht. Die Bedingungen des Widerstandsrechts, wie es im Grundgesetz als wichtigster deutscher Rechtsquelle verankert ist, müssten folglich auch für das Außenverhalten gelten. Wer die Demokratisierung eines Landes befördern will, muss sich der Handlungsfolgen gewahr sein und diese abwä- gen; wer sich nur gesinnungsethisch auf die Seite der „Guten“ stellt, kann unverantwortlich handeln, wenn damit höhere Güter verletzt werden. Wer als äußerer Akteur glaubwürdig agieren will, muss den Grundsatz der Rezi- prozität gelten lassen, das heißt Gewalt von Demonstranten darf nur gebilligt oder billigend hingenommen werden, wenn der Rückgriff auf rechtsstaatli- che Besserung systematisch verstellt ist. Zur gebotenen Perspektivenverschränkung hätte gehört, legitime Inte- ressen anzuerkennen und die Zustimmungsfähigkeit aller Partner für eine gewaltfreie Lösung zu suchen. Ethnische Russen haben ein legitimes Inter- esse, als Minderheit geschützt zu sein. Legitim ist gewiss auch die Sorge vor sozialen und ökonomischen Verwerfungen infolge der Kreditbedingungen des Internationalen Währungsfonds und des Freihandels mit der EU. Berech- tigt sind auch die durch Handel vielfältig verflochtenen Interessen russischer und ukrainischer Unternehmen – ein Argument, das im Falle deutscher Wirt- schaftsinteressen in Russland stets hoch veranschlagt wird. Doch der Westen meinte schlicht, Russland und Putin nicht verstehen zu müssen. Dabei hätte auch die deutsche Außenpolitik in einem frühen Sta- dium Möglichkeiten der wechselseitigen Verständigung aufzeigen können. Ein ethisches, aber auch politisch kluges Krisenverhalten hätte den Idealzu- stand einer ethnischen, politischen und regionalen Integration der Ukraine antizipieren müssen. Neben den handfesten EU-Meinungen zur Reform der ukrainischen Wirtschafts- und Sozialpolitik hätte sie durchaus auch zum Minderheitenschutz Stellung nehmen können. Erst im Angesicht eines unkontrollierten Bürgerkrieges unternahmen die Außenminister Frank- reichs, Polens und Deutschlands den Versuch, die Eskalation zu bremsen. Doch ihr Bemühen kam zu spät, die Kriseneskalation nahm ihren Lauf.

Was folgt auf die Krise?

Das unmittelbare Ergebnis des Konflikts ist, dass es keine Rückkehr zum Status quo ante gibt. Am 18. März 2014 erkannte Russland die Krim als unab- hängigen Staat an und schlug dem russischen Parlament die Aufnahme in die Russische Föderation vor. Die überwiegende Mehrheit der Russen auf der Krim hat für den Anschluss an Russland optiert, auch ohne internationale Beobachter. Selbst Gorbatschow lobte das Referendum: „Die Menschen wol- len es, und das bedeutet, dass man ihnen entgegenkommen muss.“7 Einige

7 Vgl. Putin erkennt Krim als souveränen Staat an, www.zeit.de, 18.3.2014.

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der 20 Prozent Ukrainer, die auf der Krim leben, mögen sich marginalisiert fühlen und sukzessive in das ukrainische Kernland abwandern, die meisten sind selbst russischsprachig. Die Krimtataren dürften hier die größten Ver- lierer sein, das Blitzreferendum hat ihr historisches Misstrauen aufs Neue geschürt. Die russisch-ukrainischen Beziehungen dürften auf Dauer belastet sein und sich von der Einverleibung der Krim nur langsam erholen, was wiede- rum der ukrainischen Nationsbildung Auftrieb gibt. Kurzfristig hat Putin mit der Annexion der Krim das heimische Publikum hinter sich geschart, langfristig aber mehr Feinde genährt, als ihm lieb sein kann. Die Ängste vor Russland werden sich auch auf seine übrigen Nachbarn ausbreiten und damit Putins Aussichten auf eine „Eurasische Union“ weit über das Ausscheiden der Ukraine hinaus mindern. Die mittelosteuropäischen Staaten werden der- weil den Druck auf die Nato erhöhen, Georgien, die Ukraine und Moldawien aufzunehmen. Der insgesamt größte Verlierer – gerade angesichts der weiterhin völlig unsicheren Situation – droht die Ukraine selbst zu werden. Die Übergangs- und Nachfolgeregierungen werden dem Land eine harte Diät verordnen: drastische Sparmaßnahmen und eine Begrenzung der Neuverschuldung. Die EU gab am 5. März 2014 bekannt, der Ukraine kurz- und mittelfristig Finanzhilfen in Höhe von 11 Milliarden Euro geben zu wollen, die USA kün- digten an, sofortige Kredithilfen in Höhe von einer Milliarde US-Dollar vor- bereitet zu haben. Doch damit sind die grundlegenden Probleme nicht ansatzweise gelöst: Die Ukraine ist wirtschaftlich in einer hochkritischen Lage. 170 Mrd. Euro Fehlbedarf wurden bis 2017 von der ukrainischen Regierung prognostiziert. Weder die EU noch der Internationale Währungsfonds werden diese Ausfälle auffangen können. Wer auch immer die Ukraine regieren wird, wird eine massive Austeritätspolitik betreiben müssen. Diese wird die soziale und poli- tische Unzufriedenheit befeuern, regionale Disparitäten vertiefen und den Rechtsextremen Zulauf bescheren. Die größte Instabilität geht vom drohen- den Staatsbankrott der Ukraine aus, kurzum: Der Revolution der Erwartun- gen droht ein Tal der Tränen zu folgen. Der Westen sollte daher anerkennen, dass die Ukraine dauerhaft von einem westukrainischen und einem russischen Osten geprägt ist – mit unter- schiedlicher Geschichte und Identität, aber auch einem Bruch zwischen so- wjetisch sozialisierter und postsowjetischer Generation, und zwar unab- hängig von Putins imperialem Paternalismus. Worauf es jetzt vor allem ankommt, ist ein nationaler Ausgleich in der Ukraine – ohne Ausgrenzung und ohne aufgenötigte Entscheidung zwischen Europa oder Russland. Die ukrainische Regierung wäre gut beraten, unter den Minderheiten, vor allem den ethnischen Russen, Vertrauen zu bilden mit Zweisprachigkeit und kultu- rellen Autonomierechten. Eine große Herausforderung wird darin bestehen, die paramilitärischen Verbände des „Rechten Sektors“, aber auch der pro- russischen Separatisten aufzulösen und das staatliche Gewaltmonopol wiederherzustellen. Politiker in Regierungsverantwortung sollten sich aus-

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drücklich vom nazistischen und antisemitischen Gedankengut des „rechten Blocks“ distanzieren – bisher haben EU-Politiker zu diesem opportunistisch geschwiegen. Eine unabhängige Kommission sollte zudem die Verantwort- lichkeiten für Gewalt während der Revolution und der Konterrevolution – von beiden Seiten – untersuchen. Im Zuge der erforderlichen Verfassungsdebatten könnte das mehr denn je gespaltene Land die Möglichkeit eines Zweikammersystems und eines föde- ralen Staatsaufbaus erneut debattieren. Um die Anhänger der „Partei der Regionen“ des früheren Präsidenten nicht zu entfremden, könnten deren Ver- treter in eine breite Koalitionsregierung aufgenommen werden. Schließlich darf der zentrale Fehler des EU-Assoziierungsabkommens nicht wiederholt werden – nämlich eine Entscheidung zwischen Freihandel mit Russland oder der EU zu verlangen. Anlässlich der Unterzeichnung der „politischen Kapi- tel“ des EU-Ukraine-Assoziierungsabkommens mit dem ukrainischen Pre- mier Jazenjuk am 21. März 2014 – einer symbolischen Geste nach dem Regie- rungswechsel – dämpfte Ratspräsident Van Rompuy bereits die Erwartungen der Ukraine.8 Immerhin: Anders als noch ein halbes Jahr zuvor schien Van Rompuy nun die ökonomischen Interessen Russlands und die nötige Rücken- deckung durch die gesamte Ukraine in Rechnung zu stellen.

Für eine Generalüberholung der deutschen und europäischen Russlandpolitik

Schließlich bedarf es auch einer Generalüberholung der deutschen und europäischen Russlandpolitik. Die Ukrainekrise offenbart die sicherheits- politische Sprachlosigkeit gegenüber Russland, die wechselseitige Missach- tung von Verhaltenserwartungen und einen fundamentalen Dissens über die Exklusivität von Freihandelszonen. Die Ukrainekrise ist somit nicht zuletzt eine Krise der Kommunikation zwischen den unterschiedlichen politischen Systemen in Russland, den USA und der EU. Jede Seite spricht in Monologen, die eigene Erwartungen artikulieren, nicht aber Erwartungen der Gegen- seite antizipieren. Es fehlt an Prävention, an Signalen, die das Kalkül der Gegenseite erkennen, darauf reagieren und nicht nur das eigene Bild des Gegners bestätigen. Wer Konflikteskalation vermeiden will, müsste eigent- lich Angebote unterbreiten, doch angesichts der autoritären Regression in Russland und der Serie von Frustrationen über Putin wurde – und wird – nur unentwegt wiederholt, Russland dürfe kein Vetorecht erhalten. Die Regime- krise in der Ukraine mutiert so zu einer Krise des internationalen Systems, weil die nach dem Georgienkrieg (2008) eingefrorene Balance zwischen Russland und dem Westen von beiden Seiten als revisionsbedürftig angese- hen wurde. Im Zuge der Ukrainekrise stürzten nun die Potemkinschen Dör- fer westlicher Partnerschaft mit Russland vollends ein. Das hiesige Bild von Putins Russland: neoimperialistisch und unberechenbar. Zum russischen

8 Vgl. Euractiv: Low-key Ceremony Marks Signing of Ukraine’s EU Association, www.euractiv.com, 21.3.2014.

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Bild gehört dagegen der Vorwurf, der Westen sei scheinheilig. Sieht man von diesen wechselseitigen Vorhaltungen ab, wird offenbar, dass nationalstaat- liche Souveränität und Nichteinmischung in innere Angelegenheiten als Bedingungen des Friedenserhalts seit 1989/90 sukzessive zurückgedrängt wurden, ohne dass an deren Stelle jedoch verbindliche Regeln für Global Governance getreten sind. Auf die obsolete Partnerschaftsrhetorik folgen nach der Annexion der Krim mehr oder weniger hilflose Sanktionen, die den schwierigen Spagat versuchen, einerseits westliche Missstimmung auszudrücken, aber anderer- seits eine Rückkehr des Kalten Krieges zu verhindern. Konservative Politiker in den USA und in Europa betreiben indes interessierte Panikmache, indem sie eine Gefährdung für die gesamte Ukraine, die baltischen Staaten, Polen und den Nordkaukasus heraufbeschwören. Dem deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier ist zugute zu halten, dass er sich mit Umsicht und Beharrlichkeit jeder Kriegstreiberei entgegenstellt und aus der ungezügel- ten Eskalation im Georgienkrieg 2008 Lehren für das Krisenmanagement gezogen hat. Im Maße abschwellender Empörung des Westens könnte sich – bestenfalls – ein neues Gleichgewicht im Verhältnis zu Russland einpendeln, mit einem modus vivendi als Folge. Vordringlich wäre es, lange Zeit dysfunktionale gemeinsame Institutionen zu reformieren: die OSZE, den Nato-Russland-Rat und das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit der EU. Immerhin dürfte das positive Ergebnis der Krise, wenn man überhaupt davon sprechen kann, eine entscheidende Erkenntnis sowohl auf europäischer wie auf russi- scher Seite sein: dass nämlich der Preis für wechselseitige Ignoranz, Parallel- welten und Missachtung von Souveränität extrem hoch ist. Es mag paradox klingen, aber wer der russischen Führung nur Niederla- gen beibringen will, wird in einer Art self-fulfilling prophecy genau das Ver- halten von Putin bekommen, das man verhindern will. Wir müssen davon ausgehen, dass Putin eben noch eine ganze Weile nicht „kaputt“ ist.9 Wer das Ziel nur darin sieht, Putin zu frustrieren, wird die gewünschte und auch künf- tig nötige Kooperation in Bezug auf die Ukraine – und auch andere Regional- konflikte – nicht erreichen. Die Kräfte des demokratischen Wandels müssen von innen wachsen, in Russland wie auch in den Anrainerstaaten. Viel wäre daher erreicht, wenn sich der Westen zukünftig an (zumindest) eine Spielre- gel des Kalten Krieges hielte, nämlich einen Regimewechsel nicht von außen forcieren zu wollen – und zwar unbeschadet der weiter unbedingt notwendi- gen Kritik an Menschenrechtsverletzungen.

9 Mischa Gabowitsch, Putin kaputt!? Russlands neue Protestkultur, Frankfurt a. M. 2013.

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201406_Buch.indb 46 21.05.14 10:43 NSA: Die Schere im Kopf Wie Massenüberwachung jeden Protest im Keim erstickt

Von Glenn Greenwald

ange Zeit galt das Internet als ein beispielloses Instrument der Demokra- L tisierung und Liberalisierung, ja sogar der Emanzipation. Nach Ansicht der amerikanischen Regierung aber drohen dieses weltweite Netzwerk und andere Kommunikationstechnologien die Macht der USA zu untergraben. Aus dieser Sicht betrachtet, ist das zentrale Ziel der NSA, „alles zu sammeln“, letztlich schlüssig. Die Beobachtung sämtlicher Bereiche des Internets und aller anderen Kommunikationsmittel durch die NSA ist entscheidend dafür, dass niemand der Kontrolle der amerikanischen Regierung entgeht. Wenn die amerikanische Regierung alles erfahren kann, was jeder tut, sagt, denkt und plant – die eigenen Bürger, die Menschen in anderen Ländern, interna- tionale Unternehmen, Vertreter anderer Regierungen –, hat sie die größtmög- liche Macht erreicht. Das gilt umso mehr, wenn die Regierung unter immer höherer Geheimhaltung operiert. Damit entsteht ein „Einwegspiegel“: Die amerikanische Regierung sieht, was der Rest der Welt tut und macht, wäh- rend niemand Einblick in ihr eigenes Handeln bekommt. Es ist ein nicht zu überbietendes Ungleichgewicht, das die gefährlichste aller menschlichen Möglichkeiten eröffnet: die Ausübung grenzenloser Macht ohne jede Trans- parenz oder Rechenschaftspflicht. Und es ist leicht zu verstehen, warum die Behörden in den USA, aber auch in anderen westlichen Ländern, der Versuchung unterlagen, ein derart omni- präsentes Spionagesystem zu entwickeln, das auch – und nicht zuletzt – gegen die eigenen Bürger gerichtet ist. Eine immer größere Kluft zwischen Arm und Reich, die durch den Zusammenbruch des Finanzsektors im Jahr 2008 noch vertieft wurde, hat zu einer schweren innenpolitischen Instabilität geführt. Selbst in äußerst stabilen Demokratien kam in den letzten Jahren sichtbar Unruhe auf. 2011 flammten in London tagelang Straßenkämpfe auf. In den USA organisierten sowohl die Rechte – mit den Protestaktionen der Tea-Party von 2008 und 2009 – als auch die Linke – die Occupy-Bewegung – den Protest verärgerter Bürger. Umfragen in beiden Ländern zeigten eine überraschend starke Unzufriedenheit mit der politischen Klasse und der Ent- wicklung der Gesellschaft.

* Der Beitrag basiert auf Glenn Greenwalds Buch „Die globale Überwachung: Der Fall Snowden, die amerikanischen Geheimdienste und die Folgen“, das soeben im Droemer Verlag erschienen ist.

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201406_Buch.indb 47 21.05.14 10:43 48 Glenn Greenwald

Angesichts von Unruhen haben Machthaber im Allgemeinen zwei Alterna- tiven: die Bevölkerung mit symbolischen Zugeständnissen zu beschwichti- gen oder ihre Kontrolle zu festigen, um die eigenen Interessen so wenig wie möglich zu beeinträchtigen. Die Eliten im Westen scheinen die zweite Option als die beste, vielleicht als den einzig gangbaren Weg zu betrachten, um ihre Position zu wahren. Die Occupy-Bewegung wurde mit Gewalt – durch Tränengas, Pfefferspray – und durch strafrechtliche Verfolgung zerschla- gen. Polizeikräfte, die wie paramilitärische Einheiten agierten, zeigten in allen amerikanischen Städten massive Präsenz und trieben mit Waffen, wie man sie auf den Straßen Bagdads gesehen hatte, die weitgehend friedlichen Demonstranten auseinander, die sich legal versammelt hatten. Die Strategie war, Angst vor der Beteiligung an Protestmärschen und Demonstrationen zu erzeugen, und sie funktionierte. Gleichzeitig verfolgte man damit das umfas- sendere Ziel, das Gefühl hervorzurufen, dass ein solcher Widerstand gegen ein starkes und undurchschaubares Establishment sinnlos ist. Um all das zu erreichen, ist ein System allgegenwärtiger Überwachung noch viel wirksamer. Wenn die Regierung alles beobachtet, was die Men- schen tun, wird allein schon das Organisieren von Widerstand schwierig. Aber die Massenüberwachung erstickt jedes abweichende Verhalten auch auf einer tieferen und noch entscheidenderen Ebene: im Kopf. Der Einzelne richtet sich selbst dazu ab, nur noch in eine Richtung zu denken, die erwartet und verlangt wird.

Zwang und Kontrolle über die ganze Gesellschaft

Die Geschichte lässt keinen Zweifel daran, dass Sinn und Zweck staatli- cher Überwachung die Ausübung von Zwang und Kontrolle über die ganze Gesellschaft sind. Der Hollywood-Drehbuchautor Walter Bernstein, der in der McCarthy-Ära auf der schwarzen Liste stand und beobachtet wurde, so dass er sich gezwungen sah, unter Pseudonym zu schreiben, um weiterarbei- ten zu können, beschrieb die Dynamik der Selbstzensur, die aus dem Gefühl erwächst, überwacht zu werden: „Alle waren auf der Hut. Das war nicht die Zeit, Risiken einzugehen [...] Manche Autoren, die nicht auf der schwarzen Liste standen, machten, wie soll ich sagen, ‚Pionierarbeit‘, aber nichts Poli- tisches [...] Sie hielten sich von der Politik fern [...] Ich denke, es herrschte allgemein das Gefühl, sich bloß nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen. Das ist kein Klima, das der Kreativität förderlich ist oder der Phantasie freien Lauf lässt. Man befindet sich in ständiger Gefahr, Selbstzensur zu üben, zu sagen: ‚Nein, das mache ich nicht; ich weiß, das geht nicht, oder es wird die Regie- rung ärgern‘ oder Ähnliches.“ Es ist geradezu unheimlich, wie ein 2013 erschienener Bericht des ameri- kanischen PEN mit dem Titel „Abschreckende Wirkung: NSA-Überwachung treibt US-Schriftsteller in die Selbstzensur“ dem Bild gleicht, das Bernstein von der McCarthy-Ära zeichnete. Der PEN hatte untersucht, welche Aus- wirkungen die Enthüllungen über die NSA auf seine Mitglieder hatte. Viele

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Schriftsteller, so das Ergebnis, „gehen davon aus, dass ihre Kommunikation überwacht wird“, und haben ihr Verhalten in einer Weise verändert, die „ihre Ausdrucksfreiheit beschneidet und den freien Informationsfluss ein- schränkt“. Genauer gesagt: „24 Prozent vermeiden bewusst bestimmte The- men am Telefon oder bei E-Mail-Kontakten.“ Die Schädlichkeit der Kontrolle durch allgegenwärtige Überwachung und die daraus resultierende Selbstzensur werden durch eine Reihe von Expe- rimenten bestätigt, und sie beeinträchtigen bei weitem nicht nur die politi- schen Aktivitäten der Menschen. Studien zeigen, dass diese Dynamik auf der tiefsten persönlichen und psychischen Ebene wirksam ist. Bei einem umfassenden Experiment mit dem Titel „Die einschüchternde Wirkung der Überwachung“, das die an der Stanford University lehrenden Psychologen Philip Zimbardo und Gregory White 1975 durchführten, wurde untersucht, ob es sich auf die Äußerung kontroverser politischer Meinungen auswirkt, wenn jemand unter Beobachtung steht. Anlass für die Studie waren Befürch- tungen in der amerikanischen Bevölkerung hinsichtlich der Überwachung durch die Regierung: „Der Watergate-Skandal, das Bekanntwerden der Verwanzung des Weißen Hauses und Ermittlungen des Kongresses wegen Vorwürfen, die Central Intelligence Agency betreibe Spionage im eigenen Land, haben die Entwicklung paranoider Tendenzen der Amerikaner geför- dert: Vielleicht wirst du von Big Brother beobachtet! Vorschläge für nationale Datenbanken, der Einsatz von Überwachungshubschraubern bei der städ- tischen Polizei, Beobachtungskameras in Banken und Supermärkten, die Durchsuchung von Personen und Gegenständen an den Flughäfen – all das sind nur einige der Zeichen dafür, dass unser Privatleben solch zunehmen- der Kontrolle ausgesetzt ist.“ Die Teilnehmer der Studie wurden in verschie- denen Graden überwacht und sollten sagen, was sie von der Legalisierung von Marihuana hielten. Es stellte sich heraus, dass die „bedrohten“ Proban- den – denen man erklärt hatte, ihre Äußerungen würden der Polizei zu „Aus- bildungszwecken“ mitgeteilt – mit höherer Wahrscheinlichkeit den Konsum von Marihuana verurteilten und dazu neigten, Pronomen der zweiten und dritten Person („du“, „sie“, „man“) zu verwenden. Nur 44 Prozent der Teil- nehmer, die unter Beobachtung standen, sprachen sich für die Legalisierung aus – im Gegensatz zu 77 Prozent bei den weniger „bedrohten“. Außerdem entwickelten die „bedrohten“ Teilnehmer in bedeutend höhe- rem Maße Angstgefühle und Hemmungen. Das Problem besteht also darin, dass die Überwachung nicht nur Konformität fördert, sondern auch Miss- trauen und Angst. Eine Regierung, die ihre Bevölkerung unter Beobachtung stellt, erzeugt ein Klima, in dem sich die Menschen dazu gezwungen, nicht jedoch wirklich motiviert fühlen, mit den Behörden zu kooperieren. Die gängige Rechtfertigung für die Überwachung, sie sei zum Nutzen der Bevölkerung, setzt eine Weltsicht voraus, in der die Bürger in gute und schlechte aufgeteilt werden. Demnach setzen die staatlichen Organe ihre Überwachungsmöglichkeiten nur gegen die schlechten ein, diejenigen, die „etwas Böses tun“, und nur sie haben durch das Eindringen in ihre Privat- sphäre etwas zu befürchten. Diese Taktik ist nicht neu. Im Jahr 1969 versi-

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cherte Nixons Justizminister in einem Artikel der Zeitschrift „Time“ über die wachsenden Bedenken der Amerikaner gegen die Überwachungsbefug- nisse ihrer Regierung den Lesern: „Kein Bürger der Vereinigten Staaten, der nicht an illegalen Aktivitäten beteiligt ist, hat irgendetwas zu befürchten.“ Dasselbe behauptete ein Sprecher des Weißen Hauses 2005 in einer Ant- wort auf die Kontroverse um Bushs rechtswidriges Abhörprogramm: „Hier werden keine Telefongespräche überwacht, in denen es um die Organisation von Baseballturnieren für Kinder oder Absprachen darüber geht, welches Gericht man zu einer Party mitbringt. Vielmehr werden hier Anrufe sehr übler Menschen mit sehr üblen anderen unter Beobachtung gestellt.“ Und als Barack Obama im August 2013 in der „Tonight Show“ auftrat und von Jay Leno auf die Enthüllungen über die NSA angesprochen wurde, sagte der Präsident: „Wir haben keine Inlandsspionage. Wir verfügen allerdings über Mechanismen, um eine Telefonnummer oder eine E-Mail-Adresse aufzuspü- ren, die mit einem Terrorangriff in Zusammenhang steht.“ Diese Argumentation zieht. Die Behauptung, dass eine in die Privatsphäre eindringende Überwachung auf eine Randgruppe beschränkt ist – eine Gruppe von Menschen, die sich etwas zuschulden kommen lassen und es deshalb nicht anders verdient haben –, sorgt dafür, dass die Mehrheit den Machtmissbrauch stillschweigend billigt oder sogar offen gutheißt. Das ist jedoch eine radikale Verkennung der Ziele, die alle Institutionen der Macht verfolgen. „Sich etwas zuschulden kommen lassen“ beinhaltet für diese Institutionen viel mehr als illegale Aktivitäten, Gewalttätigkeiten und terroristische Verschwörungen, nämlich auch substanziellen Widerspruch und jede echte Kampfansage. Es liegt im Wesen der Macht – sei sie staat- lich, religiös oder familiär –, Widerstand mit Verbrechen gleichzusetzen oder zumindest eine Bedrohung darin zu sehen. In der Geschichte gibt es zahlreiche Beispiele dafür, dass Gruppen oder einzelne Personen wegen ihrer abweichenden Meinungen und ihres aktiven Widerstands unter staatliche Beobachtung gestellt wurden: Martin Luther King, die Bürgerrechtsbewegung, Antikriegsaktivisten, Umweltschützer. Nach Ansicht der Regierung und J. Edgar Hoovers FBI hatten sie alle „krimi- nelle Handlungen“ begangen – sie haben sich in einer Weise politisch betä- tigt, die die herrschende Ordnung bedrohte. Niemand verstand besser als J. Edgar Hoover, wie sehr Überwachung dazu taugt, politischen Widerspruch zu unterdrücken. Schließlich stand er vor der Aufgabe, die Ausübung der Rede- und Versammlungsfreiheit nach dem ers- ten Verfassungszusatz zu verhindern, der bestimmt, dass der Staat nieman- den wegen der Äußerung missliebiger Ansichten festnehmen darf. In den 1960er Jahren kam es zu einer Flut von Prozessen beim Obersten Gerichts- hof, die mit einer rigorosen Stärkung der Redefreiheit endeten. Gipfelpunkt war ein einstimmiges Urteil im Fall Brandenburg vs. Ohio im Jahr 1969, das die strafrechtliche Verurteilung eines Ku-Klux-Klan-Anführers aufhob. Dieser hatte in einer Rede mit Gewalt gegen Politiker gedroht. Der Oberste Gerichtshof urteilte, die Verbürgung der Rede- und Pressefreiheit durch den ersten Verfassungszusatz sei so gewichtig, dass „ein Staat die Befürwortung

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von Gewaltanwendung weder verbieten noch vorschreiben darf“. Angesichts dieser gesetzlichen Garantien installierte Hoover ein System, mit dem jegli- cher Widerstand schon im Keim erstickt werden sollte. Das Spionageabwehr- programm für das Inland, COINTELPRO, wurde von Antikriegsaktivisten aufgedeckt, die überzeugt waren, dass ihre Bewegung infiltriert, unter Beob- achtung gestellt und mit allen möglichen schmutzigen Tricks unter Beschuss genommen wurde. In Ermangelung belegbarer Beweise und nach vergeb- lichen Versuchen, Journalisten zu Berichten über ihren Verdacht zu bewe- gen, brachen sie schließlich in einer Zweigstelle des FBI in Pennsylvania ein und entwendeten Tausende Unterlagen. Die COINTELPRO-Akten brachten ans Licht, dass das FBI politische Gruppen und einzelne Aktivisten im Visier hatte, die der Inlandsgeheimdienst für subversiv und gefährlich hielt, dar- unter auch die einflussreiche schwarze Bürgerrechtsorganisation NAACP, Bewegungen schwarzer Nationalisten, sozialistische und kommunistische Organisationen, Antikriegsaktivisten und verschiedene rechte Gruppierun- gen. Das FBI hatte Agenten in diese Gruppen eingeschleust, die unter ande- rem versuchten, die Mitglieder zu kriminellen Handlungen zu bewegen, damit das FBI sie festnehmen und strafrechtlich verfolgen konnte.

Verbreitung von Angst und Paranoia in der Bürgerrechtsbewegung

Das FBI konnte die „New York Times“ dazu überreden, die Dokumente zurückzuhalten und sogar wieder auszuhändigen, aber die „Washington Post“ veröffentlichte eine Reihe von Artikeln dazu. Die Enthüllungen führ- ten zur Gründung des sogenannten Church-Ausschusses, der feststellte, dass das FBI in den vergangenen fünfzehn Jahren „eine hochkomplexe Über- wachungsoperation durchführte, die unmittelbar darauf abzielte, die Aus- übung des ersten Verfassungszusatzes zur Rede und Versammlungsfreiheit zu verhindern, und zwar mit der Begründung, die Zunahme gefährlicher Gruppen und die Propagierung gefährlicher Ideen zu vereiteln, schütze die nationale Sicherheit und schrecke vor der Anwendung von Gewalt ab. Viele der angewandten Methoden sind in einer demokratischen Gesellschaft nicht hinnehmbar, nicht einmal dann, wenn alle Zielpersonen an gewaltsamen Handlungen beteiligt wären. COINTELPRO aber ging weit darüber hin- aus. Die unausgesprochene Prämisse für dieses Programm lautete, dass eine Strafverfolgungsbehörde die Pflicht habe, alles Erdenkliche zu tun, um ver- meintliche Bedrohungen der bestehenden sozialen und politischen Ordnung zu bekämpfen.“ In einem aufschlussreichen COINTELPRO-Memo heißt es, man könne unter Antikriegsaktivisten „Paranoia“ verbreiten, indem man sie glauben mache, „hinter jedem Briefkasten hocke ein FBI-Agent“. Auf diese Weise würden Regimekritiker, ohnehin stets überzeugt, immer und überall überwacht zu werden, vor lauter Angst von Aktionen ablassen. Natürlich funktionierte diese Taktik. In einem Dokument von 2013 mit dem Titel 1971 berichten Aktivisten, dass Hoovers FBI mit Hilfe von Infil- tration und Überwachung die Bürgerrechtsbewegung „flächendeckend“

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im Griff hatte. Seine Leute hätten Treffen besucht und anschließend darü- ber berichtet. Diese Art der Beobachtung behinderte die Möglichkeiten der Bewegung, sich zu organisieren und auszuweiten. COINTRELPRO war jedoch bei weitem nicht die einzige Form des Macht- missbrauchs durch Überwachung, wie der Church-Ausschuss (unter dem Vorsitz von Senator Frank Church) befand. In dessen Abschlussbericht von 1976 heißt es: „Zwischen 1947 und 1975 wurden mit Hilfe eines Geheimab- kommens mit drei US-Telekommunikationsfirmen Millionen privater Tele- gramme abgefangen, die in oder durch die Vereinigten Staaten oder aus dem Land hinaus geschickt wurden.“ Darüber hinaus wurden bei einer CIA- Operation mit dem Namen CHAOS (1967-1973) „an die 300 000 Personen in einem Computersystem der CIA erfasst und separate Dateien für 7200 Ame- rikaner und über 100 inländische Gruppen angelegt“. Hinzu kamen noch „Informationen über schätzungsweise 100 000 Amerikaner in Dateien des Nachrichtendienstes der US Army, die zwischen Mitte der 1960er Jahre und 1971 angelegt wurden“, sowie 11 000 Personen und Gruppen, gegen die die Bundessteuerbehörde „auf der Grundlage politischer, nicht steuerrechtlicher Kriterien“ ermittelte. Das FBI hörte auch Telefongespräche ab, um Schwach- stellen einzelner Personen, etwa sexueller Art, aufzuspüren und diese anschließend zur „Neutralisierung“ ihrer Ziele zu nutzen.

Die Denunziation des politischen Gegners

Diese Maßnahmen waren keineswegs Ausreißer. Dokumente, über die die ACLU verfügt, enthüllen beispielsweise, so die Bürgerrechtsorganisation, „neue Einzelheiten der Überwachung amerikanischer Gegner des Irak- kriegs durch das Pentagon, darunter auch Quäker und Studentengruppen“, in der Bush-Ära. Das Pentagon „führte Buch über gewaltlose Demonstranten, sammelte Informationen und speicherte sie in einer militärischen Antiterror- Datenbank“. Ein Dokument, so die ACLU, „mit dem Namen ‚potentielle ter- roristische Aktivitäten‘ listet Ereignisse wie etwa ‚Stop the War NOW!‘ auf, eine Kundgebung in Akron, Ohio“. Die Belege zeigen, dass man sich durch Versicherungen, die Überwa- chung richte sich nur gegen jene, die „etwas auf dem Kerbholz haben“, nicht beschwichtigen lassen darf, denn ein Staat wird reflexartig jede Bedro- hung seiner Macht als Straftat betrachten. Die Mächtigen machen immer wieder gern von der Möglichkeit Gebrauch, politische Gegner als „Gefahr für die innere Sicherheit“ oder gar als „Terroristen“ zu denunzieren. So hat die Regierung, ganz im Stil von Hoovers FBI, im letzten Jahrzehnt Umwelt- schützer, eine Vielzahl regierungsfeindlicher rechter Gruppierungen, akti- vistische Kriegsgegner und propalästinensische Vereinigungen offiziell so tituliert. Im Einzelfall mag dies berechtigt sein, bei vielen Personen aber zweifellos nicht, denn sie haben sich nichts anderes zuschulden kommen las- sen, als eine abweichende politische Meinung zu haben. Dennoch werden diese Gruppen gezielt von der NSA und ihren Partnern überwacht.

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Nachdem mein Lebensgefährte David Miranda auf der Grundlage eines Antiterrorgesetzes am Flughafen Heathrow festgenommen worden war, hat die britische Regierung auch meine Berichterstattung über staatliche Über- wachung mit Terrorismus gleichgesetzt. Zur Begründung hieß es, die Ver- öffentlichung von Snowdens Dokumenten sei „geeignet, Einfluss auf die Regierung auszuüben, und dient der Werbung für eine politische oder ideo- logische Sache. Damit fällt sie unter die Definition von Terrorismus.“ Deut- licher kann man die Gleichsetzung von „Bedrohung für die Interessen der Mächtigen“ mit „Terrorismus“ kaum ausdrücken.

Muslime im Visier

Nichts von alledem wäre für die Gemeinschaft der amerikanischen Muslime eine Überraschung, denn die Angst vor Überwachung aufgrund von Terror- gefahr ist dort besonders stark und tiefgreifend. Und die Muslime haben auch allen Grund dazu. 2012 enthüllten Adam Goldberg und Matt Apuzzo von „Associated Press“ gemeinsame Pläne der CIA und des New Yorker Police Department, ganze muslimische Gemeinden in den USA physisch und elek- tronisch zu überwachen, selbst wenn nicht einmal der geringste Hinweis auf irgendwelche kriminellen Handlungen bestand. Die Auswirkungen auf ihr Leben beschreiben amerikanische Muslime oft so: Jeder neue Besucher einer Moschee wird als mutmaßlicher FBI-Spitzel betrachtet; im Freundes- und Familienkreis hält man sich in Gesprächen bedeckt, aus Angst, bespit- zelt zu werden, und in dem Bewusstsein, dass jede vermeintlich amerika- feindliche Äußerung zum Anlass für Ermittlungen und sogar für Strafverfol- gung genommen werden kann. Ein Dokument aus dem Snowden-Archiv mit Datum vom 3. Oktober 2012 bringt dies in erschreckender Weise auf den Punkt. Es enthüllt, dass der Geheimdienst die Internet-Aktivitäten von Personen überwacht hat, die „radikales Gedankengut“ geäußert oder einen „radikalisierenden“ Einfluss auf andere ausgeübt haben sollen. In dem Memo werden speziell sechs Per- sonen genannt, alle Muslime; es wird jedoch betont, es handle sich nur um „typische Beispiele“. Die NSA stellt ausdrücklich fest, dass keine der Zielper- sonen einer terroristischen Vereinigung angehört oder an geplanten Terror- anschlägen beteiligt ist. Vielmehr besteht ihr „Verbrechen“ in den von ihnen zum Ausdruck gebrachten Ansichten, die als „radikal“ angesehen werden; und dies rechtfertigt eine allumfassende Überwachung und destruktive Maßnahmen, bei denen man „Schwachstellen ausnutzt“. Zu den gesammel- ten Informationen über die Personen, von denen mindestens einer US-Bürger ist, gehören auch Details über sexuelle Aktivitäten im Internet und „Online- Promiskuität“ – aufgerufene Pornosites im Web und heimliche Sex-Chats mit Frauen, die nicht ihre Ehefrauen sind. Der Geheimdienst denkt über Mög- lichkeiten nach, wie man mit Hilfe dieser Informationen den Ruf und die Glaubwürdigkeit der Zielpersonen schädigen kann. Wie der stellvertretende Justiziar der ACLU, Jameel Jaffer, feststellte, werden in den NSA-Datenban-

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ken „Angaben über die politische Einstellung, die Krankengeschichte, die intimen Beziehungen und Internet-Aktivitäten“ des Betreffenden gespei- chert. Zwar behauptet die Behörde, es gebe keinen Datenmissbrauch, „aber diese Dokumente belegen, dass die NSA ‚Datenmissbrauch‘ wahrscheinlich ziemlich eng definiert.“ Jaffer betonte, die NSA habe auch schon früher auf Geheiß des Präsidenten „die Früchte ihrer Überwachung genutzt, um politi- sche Gegner, Journalisten oder Menschenrechtler in Misskredit zu bringen“. Seiner Meinung nach wäre es „naiv“ anzunehmen, die Behörde könnte ihre Macht nicht immer noch in dieser Weise ausspielen. Besonders beunruhigend und extrem ist der Umgang mit Anonymous sowie mit Menschen aus der (ganz bewusst) völlig vagen Kategorie der „Hackti- visten“. Anonymous sah sich mit den umstrittensten und radikalsten Metho- den, die man im Geheimdienstwesen kennt, konfrontiert: „Falsche Flaggen“, „Honigfallen“, Viren und andere Angriffe, Täuschungsmanöver und „Ope- rative Information zum Zweck der Rufschädigung“. Eine PowerPoint-Folie, präsentiert von Überwachungsfachleuten des GCHQ bei der SigDev-Konfe- renz 2012, unterscheidet zwei Arten von Angriffen: „operative Information (Beeinflussung oder Zersetzung)“ und „technische Störung“. Beim GCHQ werden diese Maßnahmen als „verdeckte Netzoperationen“ bezeichnet, deren Ziele laut Dokument „Verleugnung, Zersetzung, Herabwürdigung und Täuschung“ sind. Eine andere Folie schildert die taktischen Maßnahmen, um „eine Zielperson zu diskreditieren“. Dazu zählen „Aufstellen einer Honig- falle“, „ihr Foto in sozialen Netzwerken verändern“, „einen Blog schreiben, in dem man sich als eines ihrer Opfer ausgibt“, und „E-Mails/SMS-Nachrich- ten an ihre Kollegen, Nachbarn, Freunde etc. schreiben“. Dazu liefert JTRIG, eine Unterabteilung des GCHQ, genauere Erläuterungen. Die „Honigfalle“ – eine Taktik aus der Zeit des Kalten Kriegs, bei der attraktive Frauen ein- gesetzt wurden, um männliche Zielpersonen in kompromittierende und dis- kreditierende Situationen zu bringen – ist ans digitale Zeitalter angepasst worden: Die Zielperson wird zum Besuch einer kompromittierenden Website oder zu einer Online-Bekanntschaft verleitet. Dazu heißt es nun: „Eine groß- artige Option. Sehr erfolgreich, wenn sie funktioniert.“ In ähnlicher Weise kommen jetzt auch traditionelle Methoden der Gruppeninfiltration mit Hilfe des Internets zum Einsatz. Eine andere Technik basiert darauf, die „Kommunikation der Zielperson zu unterbinden“. Das erreicht man, indem man „ihr Telefon mit SMS-Nach- richten bombardiert“, „ihr Telefon mit Anrufen bombardiert“, „ihre Webprä- senz löscht“ und „ihr Faxgerät lahmlegt“. Oder der Computer der Zielperson wird mit einem Virus infiziert, der alle E-Mails löscht, alle Dateien verschlüs- selt, den Bildschirm zittern lässt und das Einloggen verhindert. Das GCHQ greift auch gern zu „Zersetzungstechniken“, anstatt den Weg des sogenannten „herkömmlichen Gesetzesvollzugs“ zu gehen, also über Beweissammlung, Gericht und Staatsanwaltschaft. In einem Dokument mit dem Titel „Cyberoffensivensitzung: Grenzen und Maßnahmen gegen Hack- tivismus ausweiten“ überlegt das GCHQ, gegen „Hacktivisten“ mit „Denial- of-Service“-Attacken vorzugehen, was ironischerweise gerade die Taktik

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ist, die man üblicherweise mit Hackern assoziiert. Die britische Überwa- chungsbehörde setzt außerdem ein Team von Sozialwissenschaftlern, dar- unter Psychologen, ein, um Techniken für die Informationsgewinnung durch menschliche Quellen im Internet und für die „strategische Einflussnahme und Zersetzung“ zu entwickeln.

Der Deal: Stellst Du keine Bedrohung dar, hast Du nichts zu befürchten

All dies macht deutlich, welcher unausgesprochene Deal dem Bürger ange- boten wird: Stellst du keine Bedrohung dar, hast du nichts zu befürchten. Wenn du dich nur um deine eigenen Angelegenheiten kümmerst und das, was wir tun, unterstützt oder zumindest tolerierst, passiert dir nichts. Anders ausgedrückt, unterlass es, die mit Überwachungspotential ausgestattete Autorität herauszufordern, wenn du nicht irgendwelcher Straftaten bezich- tigt werden willst. Es ist ein Handel, der zu Passivität, Gehorsam und Konfor- mität auffordert. Der sicherste Weg, die Voraussetzung, um „in Ruhe gelas- sen“ zu werden, besteht darin, still, folgsam und harmlos zu sein. Für manche funktioniert dieser Deal, der die Mehrheit dazu bringt, Bespit- zelung als ungefährlich, ja sogar als positiv zu betrachten. Sie seien zu lang- weilig, denken viele Menschen, um die Aufmerksamkeit des Staates auf sich zu ziehen. „Ich glaube wirklich nicht, dass sich die NSA für mich inte- ressiert“, bekomme ich manchmal zu hören. „Wenn sie mein langweiliges Leben belauschen wollen, können sie das ruhig tun.“ Oder: „Die NSA hat kein Interesse, Ihrer Großmutter zuzuhören, wie sie über Rezepte plaudert, oder Ihrem Vater, wenn er sich zum Golfen verabredet.“ Das sind die Menschen, die davon überzeugt sind, selbst niemals ins Visier der Geheimdienste zu geraten, und daher leugnen, dass es eine solche Über- wachung gibt, oder sie gleichgültig hinnehmen oder sogar ausgesprochen gut finden. In einem Interview kurz nach der Veröffentlichung der NSA- Story spottete MSNBC-Moderator Lawrence O’Donnell über die Vorstellung, die NSA sei „ein großes, angsteinflößendes Überwachungsmonster“. Er fasste seine Haltung folgendermaßen zusammen: „Mein Gefühl ist bislang [...] dass ich keine Angst habe [...] die Tatsache, dass die Regierung derartige Unmengen an [Daten] sammelt, bedeutet, dass es für sie sogar noch schwerer wird, mich zu finden [...] und sie hat auch nicht die geringste Veranlassung, nach mir zu suchen. Deshalb fühle ich mich zu diesem Zeitpunkt davon nicht im mindesten bedroht.“ Natürlich haben pflichtbewusste, treue Anhänger des Präsidenten und seiner Politik, brave Bürger also, die nichts tun, was die Aufmerksamkeit der Mächtigen auf sie lenkt, keinerlei Grund, sich vor dem Überwachungs- staat zu fürchten. Das gilt für jede Gesellschaft: Wer den Mächtigen keine Probleme bereitet, wird selten das Ziel von Unterdrückungsmaßnahmen. So jemand kann leicht zu dem Schluss kommen, dass es gar keine Unter- drückung gibt. Aber die Freiheit einer Gesellschaft misst sich eben daran, wie sie mit Abweichlern und Randgruppen umgeht, nicht daran, wie sie ihre

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loyalen Mitglieder behandelt. Selbst in den schlimmsten Diktaturen der Welt sind die demütigen Unterstützer vor dem Missbrauch staatlicher Macht sicher. In Ägypten wurden unter Hosni Mubarak auch nur jene verhaftet, gefoltert und zusammengeschossen, die für die Absetzung des Präsidenten auf die Straße gingen, nicht seine Anhänger und jene, die schwiegen und zu Hause blieben. In den USA waren NAACP-Führer, Kommunisten, Bürger- rechtler und Kriegsgegner Ziel von Hoovers Überwachungssystem, nicht die braven Bürger, die soziale Ungerechtigkeiten schweigend hinnahmen. In einer Demokratie darf es aber nicht sein, dass sich nur die treuen Partei- gänger der Mächtigen vor staatlicher Überwachung sicher fühlen können. Ebenso wenig darf der Verzicht auf die Äußerung abweichender oder provo- kanter Meinungen Voraussetzung dafür sein, unbehelligt zu bleiben. Unser Ideal sollte nicht eine Gesellschaft sein, die allen vermittelt, dass sie nur dann in Ruhe und Frieden leben können, wenn sie sich das konziliante Verhalten und die altbekannten Weisheiten der Kolumnisten des Establishments zu eigen machen. Doch egal zu welcher Gruppe man gehört – das Gefühl, nicht betroffen zu sein, ist letztlich eine Illusion. Das wird deutlich, wenn man sich anschaut, wie stark die Wahrnehmung der Gefahr staatlicher Überwachung von der politischen Einstellung abhängt. Dann stellt man nämlich fest: Wer gestern noch Beifall klatschte, findet sich vielleicht heute schon unter den Kritikern wieder. Als es im Jahr 2005 zu einer Kontroverse über die ohne richterliche Anord- nung durchgeführten Lauschaktionen der NSA kam, sahen progressive Kräfte und Demokraten in den Überwachungspraktiken des Geheimdienstes eindeutig eine Bedrohung. Dies resultierte zum Teil natürlich aus dem übli- chen Parteiengezänk: Der Präsident hieß damals George W. Bush, und die Demokraten witterten eine Gelegenheit, ihm und seiner Partei politisch zu schaden. Aber ein großer Teil ihrer Furcht war echt: Da sie Bush als bösartig und gefährlich ansahen, empfanden sie auch die staatliche Überwachung unter seiner Kontrolle als Gefahr, von der insbesondere sie als politische Opposition sich bedroht fühlten. Dementsprechend hatten die Republikaner eine mildere oder sogar positive Sicht der NSA-Aktionen. Im Gegensatz dazu wechselten im Dezember 2013 – unter dem Präsi- denten Obama – die Demokraten und Progressiven ins Lager der führen- den Verteidiger der NSA. Am interessantesten ist jedoch, dass die Ameri- kaner die Gefahr der Überwachung nun, nach der NSA-Enthüllung durch Edward Snowden, höher einschätzten als die Gefahr des Terrorismus. Zum ersten Mal, seit diese Frage im Jahr 2004 gestellt wurde, ergab eine von Pew Research durchgeführte Umfrage, dass die Sorge um die Bürgerrechte grö- ßer ist als die Angst vor Terrorismus. Für alle, die der ausufernde Gebrauch der Staatsmacht und die chronische Übertreibung der Gefahr des Terrorismus beunruhigte, war das Umfrage- ergebnis eine gute Nachricht. Aber es zeigte auch deutlich, dass hier eine vielsagende Umkehrung stattgefunden hatte: Anstelle der Republikaner, die unter Bush die NSA verteidigt hatten, regierten nun die Demokraten, womit das Überwachungssystem unter die Kontrolle von Präsident Obama, mithin

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ihrem Mann, gekommen war. Die Konsequenz: „Landesweit gibt es mehr Unterstützung für das Datensammelprogramm im Lager der Demokraten (57 Prozent Zustimmung) als in dem der Republikaner (44 Prozent).“

Wie der Protest die Seiten wechselt

Die Argumente für und wider die Überwachung haben auf ähnliche Weise die Seiten gewechselt. Im Jahr 2006 geißelte ein Senator die Massendaten- sammlung der NSA in der Sendung „The Early Show“ mit folgenden Wor- ten: „Ich muss nicht Ihre Telefonanrufe abhören, um zu wissen, was Sie tun. Wenn ich von sämtlichen Telefonanrufen Kenntnis habe, die Sie machen, dann kenne ich auch sämtliche Personen, mit denen Sie gesprochen haben. Auf diese Weise kann ich mir ein Bild von Ihrem Leben verschaffen, das sehr, sehr weit in die Privatsphäre reicht [...] Die eigentliche Frage ist hier: Was machen sie mit den gesammelten Informationen, die nichts mit Al-Qaida zu tun haben? [...] Und sollen wir etwa einfach darauf vertrauen, dass der Präsi- dent und der Vizepräsident der Vereinigten Staaten schon das Richtige damit tun werden? Ohne mich, bitte schön.“ Der Senator, der damals so scharf die Sammlung von Metadaten attackierte, hieß Joe Biden und sollte in der Folge als Vizepräsident der demokratischen Regierung angehören, die dieselbe Argumentation vorbrachte, die er hier noch verhöhnt hatte. Es geht hierbei nicht nur darum, dass Parteipolitiker meist prinzipienlose Heuchler sind, die außer ihrem Machtstreben keine echten Überzeugungen besitzen. Das trifft sicherlich zu – wichtiger ist aber, dass solche Aussagen offenbaren, wie staatliche Überwachung eigentlich wahrgenommen wird. Wie bei so vielen anderen Missständen sind die Menschen allzu bereit, die Angst vor staatlichen Übergriffen abzutun, wenn sie davon überzeugt sind, dass jene, die gerade an der Macht sind, wohlwollend und vertrauenswürdig sind. Die Überwachung sehen sie nur dann als gefährlich oder besorgnis- erregend an, wenn sie selbst als bedrohlich oder feindsinnig gelten. Eine durchgreifende Machtausdehnung wird daher oft damit eingeleitet, dass man den Menschen weismacht, sie beträfe nur eine ganz bestimmte, eng begrenzte Gruppe. Diese Haltung ist nicht nur moralisch fragwürdig – Rassismus kann man nicht einfach hinnehmen, wenn er sich gegen eine Minderheit richtet, und Hunger kann uns nicht egal sein, weil wir selbst genug zu essen haben –, sie ist auch äußerst kurzsichtig. Die Gleichgültigkeit oder sogar Unterstützung durch jene, die sich selbst gegen den Missbrauch staatlicher Macht gefeit glauben, führt dazu, dass sich diese Macht weit über ihre ursprünglichen Ziele hinaus ausdehnt, bis sie nicht mehr zu kontrollieren ist. Dafür gibt es zahllose Beispiele, aber das vielleicht jüngste und folgenreichste ist die Anwendung des Patriot Act. In der Überzeugung, in Zukunft Terroranschläge rechtzeitig entdecken und verhindern zu können, genehmigte der Kongress nach dem 11. Septem- ber nahezu einstimmig eine massive Ausweitung der Überwachung und des Inhaftierungsrechts. Dabei wurde allerdings suggeriert, dass diese Macht-

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mittel hauptsächlich gegen terrorbereite Muslime eingesetzt würden. Tat- sächlich geschah etwas ganz anderes: Der Patriot Act wurde weit über seine ursprüngliche Zielsetzung hinaus angewendet. Seit seiner Verabschiedung ist er überwiegend in Fällen zum Einsatz gekommen, die nichts mit Terro- rismus oder nationaler Sicherheit zu tun haben. Wie der „New Yorker“ ent- hüllte, wurde zwischen 2006 und 2009 die Klausel zur heimlichen Durch- suchung – also ohne Information des Betroffenen – in 1618 Drogenfällen und 122 Betrugsfällen angewendet, aber lediglich in 15 Fällen, die mit Terroran- schlägen zu tun hatten. Sobald jedoch die Bürger den neuen Regierungsbefugnissen einmal zuge- stimmt haben, weil sie glauben, nicht davon betroffen zu sein, werden sie zur festen, rechtlich abgesicherten Institution, und Widerspruch ist nicht mehr möglich. So war die wichtigste Erkenntnis, die Senator Frank Church in den 70er Jahren gewann, das Ausmaß der Gefahr, die die Massenüberwachung darstellt. In einem Interview des Fernsehmagazins „Meet the Press“ sagte er: „Diese Möglichkeiten können sich jederzeit gegen das amerikanische Volk wenden. Keinem Amerikaner bliebe dann noch ein Funken von Privat- sphäre, so groß sind die Möglichkeiten, alles zu überwachen – Telefonge- spräche, Telegramme, einfach alles. Man könnte sich nirgends mehr verste- cken. Sollte dieser Staat jemals zu einer Tyrannei werden [...] dann könnten ihn die von den Geheimdiensten entwickelten technischen Möglichkeiten in die Lage versetzen, eine totale Schreckensherrschaft zu errichten, und man könnte nichts dagegen unternehmen, weil auch selbst der umsichtigste Ver- such, sich zum Widerstand zu vereinen [...] dem Staat zur Kenntnis kommen würde. So groß ist die Macht dieser Techniken.“ James Bamford bemerkte 2005 in der „New York Times“, die Bedrohung durch staatliche Überwachung sei heute viel größer als in den 70er Jahren: „Heute, wo alle ihre innersten Gedanken in E-Mails preisgeben, ihre medi- zinischen und finanziellen Dokumente über das Internet versenden und dau- ernd per Handy miteinander plaudern, ist der Geheimdienst praktisch in der Lage, den Menschen in die Köpfe zu schauen.“ Dass jede Überwachungs- möglichkeit „gegen das amerikanische Volk gerichtet werden kann“, wie Church befürchtete, hat die NSA nach dem 11. September wahrgemacht. Obwohl der Foreign Intelligence Surveillance Act und das Späh-Verbot im Inland den Auftrag des Geheimdienstes anfangs zu begrenzen schienen, richtet sich ein großer Teil der Überwachungsaktivitäten längst gegen ame- rikanische Bürger auf amerikanischem Boden. Doch selbst wenn es nicht zu Missbrauch kommt und wenn man persön- lich nicht verfolgt wird – ein Überwachungsstaat, der einfach alles sammelt, dessen er habhaft werden kann, beschädigt die Gesellschaft und die politi- sche Freiheit. Voraussetzung für den politischen Fortschritt in den USA wie in anderen Ländern war stets, dass die Macht und die herrschenden Mei- nungen in Frage gestellt und neue Denk- und Lebensweisen erprobt werden konnten. Denn die Freiheit wird allein schon durch die Angst beschränkt, unter Beobachtung zu stehen. Darunter hat letztlich jeder zu leiden – auch derjenige, der gar keine Kritik übt und sich nicht politisch betätigt.

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201406_Buch.indb 58 21.05.14 10:43 Barack Obama und der Mythos vom post-rassistischen Amerika Von James Jennings

eit Bekanntwerden der rassistischen Bemerkungen von Donald Sterling, S Besitzer des US-Basketballteams Los Angeles Clippers, ist in den USA eine heftige Debatte über Rassismus entbrannt. Dabei hatten viele Kommen- tatoren bereits nach der ersten Wahl Barack Obamas – des ersten schwarzen Präsidenten der USA – behauptet, dass das Land nun in eine post-rassistische Phase übergegangen sei. Gemeint war damit, dass die verschiedenen Haut- farben der Menschen radikal an Bedeutung verloren hätten. Selbst wenn rassistische Feindseligkeiten bisweilen fortbestünden, sei Barack Obamas Wahlsieg der Beweis für das Ende des Rassismus. Vereinzelte rassistisch motivierte Gewalttaten oder die weiterhin bestehenden rassistischen Ein- stellungen, die landesweite Umfragen belegen, seien nichts weiter als mar- ginale Abweichungen von der vorherrschenden Aussöhnung zwischen Men- schen unterschiedlicher Hautfarbe. Dieser Diskurs einer angeblich post-rassistischen Gesellschaft hat beun- ruhigende Auswirkungen auf den anhaltenden Kampf für die Gleichberech- tigung von Afroamerikanern. Denn er verschleiert nicht nur die in der ame- rikanischen Gesellschaft tief verwurzelte rassistische Hierarchie, sondern vernachlässigt auch die Frage der Verteilung des Reichtums sowie dessen wachsende Konzentration in den Händen der (in der Regel weißen) Super- reichen. Kurzum: Jene Privilegien, die mit einer als „normal“ verstandenen weißen Hautfarbe einhergehen, werden schlicht ausgeblendet.

Kein Kampf um Gleichberechtigung

Während der letzten beiden Präsidentschaftswahlen gelang es den Konser- vativen mit dem stillschweigenden Einverständnis der Demokraten erfolg- reich, alle Forderungen nach Gleichberechtigung von Schwarzen bereits im Keim zu ersticken. Konservative Kommentatoren – wie Rush Limbaugh, Sean Hannity, Bill O’Reilly und Ann Coulter, die regelmäßig auf Fox News erscheinen – und auch einige Liberale reagieren regelrecht verärgert, wenn Rassismus in den USA als anhaltendes Problem erwähnt wird. Sie gehen

* Dieser Text basiert auf einer Studie des Autors, die kürzlich auf der Website des New Yorker Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung (www.rosalux-nyc.org) veröffentlicht wurde.

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sogar noch einen Schritt weiter und beschuldigen diejenigen, die Rassismus thematisieren, als unverantwortlich und selbstgerecht, da sie unnötige Zwie- tracht säten. Selbst zahlreiche Sozialwissenschaftler plädieren dafür, „die spaltende Idealvorstellung der rassischen Gleichheit“ aus dem öffentlichen Diskurs zu verbannen, um die Unterstützung progressiver Ziele durch Weiße nicht zu gefährden.1 Unterdessen attackieren rechte Politiker unter dem Deckmantel der post- rassistischen Gesellschaft das Wahlrecht liberaler oder progressiver Wähle- rinnen und Wähler. Sie gestalten die Registrierung für Wahlen und auch den Urnengang selbst als äußerst kompliziert und mühsam, um möglichst viele Menschen aus der Arbeiterklasse von den Wahlen auszuschließen – darunter nicht zuletzt viele Schwarze.2

Obamas „post-rassistische“ Politik

Auch wenn Präsident Obama nach wie vor breite Unterstützung unter Afro- amerikanerinnen und Afroamerikanern genießt, hat auch er sich den „post- rassistischen“ Diskurs zu eigen gemacht. Etliche schwarze Aktivisten und Intellektuelle wie etwa Cornel West lasten Obama an, die Vermeidung des Themas Rassismus stillschweigend akzeptiert und keine Führungsstärke bei der Bekämpfung der anhaltenden Ungleichheit zwischen Weißen und Schwarzen bewiesen zu haben. Obama zeichne sich heute vor allem dadurch aus, dass er sich zu möglichen Strategien gegen die anhaltend schlechteren Lebensbedingungen der Afro- amerikaner in den Bereichen Armut, Wohnen, Gesundheit und Arbeit nicht äußere. Für Peniel Joseph, Historiker und Autor mehrerer Bücher zur Black- Power-Bewegung, lautet Obamas Prinzip in Sachen Rassismus schlicht: „Einfach nicht darüber reden“.3 Dabei resultierte der Wahlsieg des Präsidenten gerade aus der erstaun- lich breiten Unterstützung durch die schwarze Wählerschaft. Tatsächlich markierte die Präsidentschaftswahl 2008 den Höhepunkt jener neuen Form von „schwarzer“ Politik, die Ende der 1980er Jahre ihren Anfang genom- men hatte. Die alte Garde der schwarzen Politiker aus der Bürgerrechtsge- neration der 60er Jahre war aus Bezirken gekommen, in denen mehrheitlich Schwarze lebten. Dementsprechend war ihr Selbstverständnis als Vertreter und Stimme der schwarzen Gemeinschaft maßgeblich für ihre Politik. Doch ab Ende der 80er Jahre kam eine jüngere Generation afroamerikanischer Politiker auf, die in mehrheitlich weißen Bezirken und Städten kandidierte. Sie verzichtete bewusst darauf, ihre Hautfarbe und ihre Zugehörigkeit zu afroamerikanischen Organisationen zu betonen. Diese Politiker bevorzugten eine „rassisch neutrale“ Politik und weigerten sich, als Sprecher der schwar-

1 Vgl. P. M. Sniderman und E. G. Carmines, Reaching beyond race, Cambridge 1997; sowie S. Thern- strom und A. Thernstrom, America in black and white: One nation, indivisible, New York 1997. 2 Vgl. James P. Hare, Steal the Vote: Voter Suppression in the Twenty-first Century, www.rosalux-nyc. org, 2012. 3 Peniel Joseph, President Barack Obama re-elected, Basic Black, Boston 2012, www.wgbh.org.

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zen Gemeinschaft aufzutreten – eine Veränderung, die als „post-black poli- tics“ und später als „post-racial politics“ bezeichnet wurde.4 Diese neuen schwarzen Politiker sahen sich „genauso häufig als Botschafter, die sich an die schwarze Gemeinschaft richten, wie als deren Stimme nach außen.“5 Barack Obama ist zweifellos das bekannteste Beispiel eines „post-rassi- schen Politikers“. Ironischerweise lässt sich seine Wiederwahl im Jahr 2012 nicht zuletzt auf die rassistischen Kampagnen der Tea Party zurückführen. Die Schwarzen in den USA vergolten diese mit einer ungewöhnlich hohen Wahlbeteiligung, die zum ersten Mal in der US-amerikanischen Geschichte jene der Weißen übertraf. Es bleibt jedoch die berechtigte Frage, was diese – für Obamas zwei Wahl- siege entscheidende – Bevölkerungsgruppe für ihre Unterstützung zurück- bekommen hat. Warum gibt es angesichts der katastrophal hohen Arbeitslo- sigkeit und der Gewalt in schwarzen Gemeinden nach wie vor einen anderen, zurückhaltenden Umgang mit einem schwarzen Präsidenten – bloß weil er schwarz ist, fragt provozierend der konservative afroamerikanische Radio- moderator Raynard Jackson? Sollten wir nicht unabhängig von der Hautfarbe des Präsidenten vor dem Weißen Haus protestieren, wenn die Arbeitslosen- rate der schwarzen Bevölkerung zweistellig ist? Sollten wir nicht vor dem Weißen Haus protestieren, wenn über 500 Schwarze, darunter viele Kinder, in Chicago ermordet werden und der amtierende Präsident kaum ein Wort darüber in der Öffentlichkeit verliert?6

Das neoliberale Kontinuum

Tatsächlich hat Obama der Benachteiligung der Schwarzen bisher nahezu keine Beachtung geschenkt. Und mehr noch: Obama gibt im Umgang mit dem Thema Rassismus eindeutig neoliberale Antworten.7 Er setzt auf weitere unternehmensfreundliche internationale Handelsabkommen, ungebremste Mobilität des Kapitals, Sozialabbau, die Vorherrschaft der Wall-Street-Kon- zerne und den Abbau der Staatsverschuldung – anstelle von Investitionen in Programme, die mehr und bessere Arbeitsplätze für Niedriglöhner schaffen würden. Diese Prioritätensetzung rechtfertigt Obama mit der Behauptung, dass seine Politik allen, auch Schwarzen, zugute käme. Obama fordert sogar selbst die Kürzung von Sozialleistungen und hat einen Haushalt vorgelegt, der die Mittel für regionale und kommunale Initia- tiven reduzieren würde, die Gesundheitsdienstleistungen, Wohnraum und Arbeit für benachteiligte Bevölkerungsgruppen bereitstellen. Doch dafür, dass der Kampf gegen Rassismus, für Beschäftigung und andere grundle-

4 Manning Marable, Beyond Black and White: Transforming African-American Politics, London und New York 1995, S. 205 ff. 5 Matt Bai, Is Obama the End of Black Politics?, in: „New York Times Magazine“, 6.8.2008. 6 Raynard Jackson, Holding President Obama Accountable, „BlackPressUSA“, www.blackpressusa. com, 21.1.2013. 7 Vgl. James Jennings, Three Visions for the Future: The Real Election is for America’s Soul, www. rosalux-nyc.org, 10/2012.

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gende Bedürfnisse von Millionen US-Amerikanern keine Priorität besitzt, machen er und seine Regierung allein die Republikaner und ihre Blockade- haltung im Repräsentantenhaus verantwortlich.

Anhaltende rassistische Diskriminierung

Wie kurzsichtig es ist, Obamas Wahl und Wiederwahl als Ausdruck einer post-rassistischen Gesellschaft zu feiern, zeigen vor allem zwei Tatsachen. Zum einen besteht weiterhin eine enormes Wohlstandsgefälle zwischen Weißen und Nicht-Weißen; zum anderen gibt es enormen politischen Wider- stand gegen die Beseitigung dieser Ungleichheit, selbst von Seiten vieler ver- armter und der Arbeiterklasse angehöriger Weißer, die ebenfalls von sozio- ökonomischer Ungleichheit betroffen sind. Der jährliche Bericht „State of the Dream“, der Organisation United for a Fair Economy zeigt nicht nur, wie sehr Schwarze und Latinos in Bezug auf Arbeitslosigkeit, Bildung, Gesundheit, Wohnen, Inhaftierungsraten und ras- sistische Diskriminierung durch die Polizei noch immer benachteiligt wer- den, sondern auch, dass diese Benachteiligung zunimmt.8 So ist Armut in den Vereinigten Staaten für Schwarze und Latinos ein viel wahrscheinlicheres Schicksal als für andere Bevölkerungsgruppen. Von ihnen waren 2011 27,6 bzw. 25,3 Prozent arm, wohingegen lediglich 9,8 Pro- zent der Weißen von Armut betroffen waren. Schwarze sind insofern etwa drei Mal so oft von Armut betroffen wie Weiße. Diese Zahlen haben sich seit Jahrzehnten kaum verändert. Auch die Arbeitslosenrate der Schwarzen ist doppelt so hoch wie die der Weißen – ein Umstand, der sich ebenfalls unter Obama nicht geändert hat. Während der jüngsten Wirtschaftskrise stieg die Arbeitslosenrate der Afro- amerikaner sogar etwa doppelt so schnell wie die der Weißen. Als die Wirt- schaft sich wieder erholte, sank die Arbeitslosenrate der Weißen, während die der Schwarzen weiter anstieg.9 Wie schon Clinton und Bush, so ist offenbar auch Obama der Auffassung, Arme und sozial Schwache seien selbst schuld an ihrer Misere. Armut, Arbeitslosigkeit und gesundheitliche Probleme von Afroamerikanern, und zu einem geringeren Grad auch von anderen People of Color, seien eher dem Fehlverhalten dieser Gruppen geschuldet als ihrer rassistischen Benachtei- ligung. So hat Obama bei seinen Reden vor schwarzem Publikum wiederholt nahelegt, Armut rühre daher, dass schwarze Männer einfach keine Verant- wortung für ihre Familien übernehmen wollten. Die Aufforderung, Schwarze müssten sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen, richtete Obama im Mai 2013 auch an die schwarzen Absolventen des Morehouse College in Atlanta/Georgia – vor weißem Publikum verzichtete Obama bisher auf der- artige Ermahnungen. Damit aber haben sich Obama und die Demokraten die

8 Vgl. United for a Fair Economy, State of the Dream 2013: A Long Way from Home, www.faireconomy.org. 9 Vgl. Christian E. Weller und Jaryn Fields, The Black and White Labor Gap in America, Center for American Progress, www.americanprogress.org, 25.7.2011.

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Argumentation der Republikaner in gefährlicher Weise zu eigen gemacht. Es scheint, als betrachteten heute beide – Republikaner wie Demokraten – die vermeintlich mangelnde Eigenverantwortung als das primäre Problem der Schwarzen in den USA. Durch diesen Fokus aber ignorieren sie deren struk- turelle Benachteiligung und rassistische Diskriminierung. Ja mehr noch: Paradoxerweise berufen sich sowohl liberale Demokraten als auch konservative Republikaner in der Debatte um Rassismus immer wie- der auf die Ikone Martin Luther King und stellen sich als seine politischen Erben dar. Die Konservativen scheuen nicht einmal davor zurück, unter Bezugnahme auf King die Existenz rassistischer Ungleichheit oder die Not- wendigkeit, etwas dagegen zu unternehmen, in Frage zu stellen. Dabei hatte Martin Luther King bereits in den 60er Jahren auf den Zusammenhang von rassistischer Diskriminierung und Armut aufmerksam gemacht. King betrachtete die Armut als eine der großen Herausforderun- gen im Kampf der Afroamerikaner für ihre Freiheit und Gleichberechtigung. Für ihn war Armut jedoch nicht das Ergebnis von individuellem Fehlverhal- ten, das daraus resultiere, dass die Menschen nicht arbeiten wollen oder weil Sozialleistungen sie zu träge oder unfähig machten, um ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern. King stellte vielmehr die Verteilung des Wohlstandes und der Ressourcen in den Vordergrund und forderte, dass „die Bewegung [der Schwarzen, d. Red.] den kompletten Umbau der amerikanischen Gesell- schaft angehen“ müsse.10 Um gegen Armut vorzugehen, müsse ein gewalt- freier politischer Kampf gegen Benachteiligungen geführt werden, die auf Kategorien wie „Rasse“ und Klasse basierten.11 Doch anstatt strukturelle Benachteiligungen und Rassismus in den Blick zu nehmen, verhindert die Pathologisierung schwarzer Familien eine progressive Politik – etwa in der Bildung. Die negativen Bilder, die mit schwarzen Frauen assoziiert werden, dienen stattdessen der politischen und ideologischen Rechtfertigung einer gegen die Armen gerichteten strafenden Sozialpoli- tik. Tatsächlich war die Pathologisierung afroamerikanischer Frauen, denen unsittliches und unmoralisches Verhalten zugeschrieben wurde, die ideolo- gische Grundlage für die tiefgreifende Reform der Sozialleistungen (Personal Responsibility and Work Reconciliation Act), die Bill Clinton im August 1996 unterzeichnete. Diese Reform entzog der Arbeiterschaft zahlreiche Sozial- leistungen und setzte eine strikte, niedrig entlohnte Arbeitsverpflichtung insbesondere für arme Frauen und ihre Familien durch.

Rassismus im Strafrechtssystem

Nach Ansicht des Friedensaktivisten und ehemaligen Bürgermeisters von Berkeley/Kalifornien, Gus Newport, setzt Obama diese Politik in vielerlei

10 Martin Luther King, Where Do we go from here? Rede bei der Southern Christian Leadership Confe- rence, Atlanta/Georgia, 16.8.1967. 11 Vgl. dazu auch: Albert Scharenberg, Der unvollendete Traum. Der „Marsch auf Washington“ und das radikale Vermächtnis Martin Luther Kings, in: „Blätter“, 8/2013, S. 107-117.

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Hinsicht fort.12 Tatsächlich ist die Ungleichheit unter Obamas Regierung soweit fortgeschritten, dass viele junge Schwarze und Latinos heute nur die Wahl zwischen schlechten öffentlichen Schulen und dem Gefängnis haben. So sind die Anteile an Schwarzen und Latinos, die in den USA im Gefäng- nis sitzen bzw. während ihrer Bewährungszeit unter die Aufsicht der Jus- tiz gestellt werden, überproportional hoch. Obwohl 2007 nur etwa 14 Pro- zent der regelmäßigen Drogenkonsumenten Schwarze waren (was in etwa ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entspricht), stellten sie mit 37 bzw. 56 Prozent den Großteil derjenigen, die für Drogendelikte verhaftet oder zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden.13 Auch wenn in jüngster Zeit die Forderungen immer lauter werden, ras- sistische Gesetze und Praktiken abzuschaffen, die im Rahmen des „Kriegs gegen die Drogen“ implementiert wurden, besteht die Kriminalisierung von Schwarzen und anderer People of Color ungemindert fort. Die Polizei ist eines der primären Instrumente, jugendliche Schwarze und Latinos zu überwachen und zu kontrollieren. New Yorks berüchtigte verdachtsunab- hängige Personenkontrollen (stop-and-frisk policing) richten sich beispiels- weise gezielt gegen Nicht-Weiße. Die New Yorker Polizeibehörde berichtete, dass 2013 über eine halbe Million solcher Kontrollen in einer Stadt mit gut acht Millionen Einwohnern durchgeführt wurden. Fast 90 Prozent der von der Polizei Befragten waren unschuldig und 87 Prozent von ihnen waren Schwarze und Latinos.14 Die Regierung Obama ist in Bezug auf den Rassismus im Strafrechtssys- tem nicht nur tatenlos geblieben, sondern hat sogar die staatlichen Gelder für Hilfsmaßnahmen für straffällige Jugendliche gekürzt und gleichzeitig die Ausgaben für Polizei und Gefängnisse angehoben.

Das endlose Fortbestehen rassistischer Einstellungen

Zudem bestehen, ungeachtet der nahezu universellen Wertschätzung Mar- tin Luther Kings, unter vielen weißen US-Amerikanern rassistische Einstel- lungen fort. Diese sind jedoch nicht nur unter Republikanern, sondern in der gesamten Gesellschaft ein Problem und haben seit der Wahl Obamas 2008 nicht abgenommen. Im Gegenteil: Nach Obamas Wahlsieg wurden zum ers- ten Mal seit Jahrzehnten in den Südstaaten wieder Rufe nach einer Abspal- tung vom Rest des Landes laut. Zuletzt war diese Forderung in den 40er Jahren von den Dixiecrats vorgebracht worden, einer Gruppe, die sich von der Demo- kratischen Partei abgespalten hatte. Die Dixiecrats waren lautstarke Verfech- ter der Rassentrennung. Sie behaupteten, die Bundesregierung und liberale Politiker unterdrückten die Rechte weißer US-Amerikaner in den Südstaaten, da die Rassentrennung Bestandteil ihrer Kultur und Lebensart sei.

12 Vgl. das Interview mit Eugene „Gus“ Newport, 16.4.2013. 13 Vgl. M. Mauer und R. S. King, A 25-Year Quagmire: The War on Drugs and Its Impact on American Society, U.S. Sentencing Project, 2007. 14 Vgl. New York City Civil Liberties Union, NYPD to Lodge 5 Millionth Street Stop Under Mayor Bloomberg Today, www.nyclu.org/news, 14.3.2013 .

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Ähnliche Töne schlug in jüngster Vergangenheit beispielsweise Peter Mor- rison an, der republikanische Schatzmeister von Hardin County in Texas. Er bezeichnete liberale US-Amerikaner als „Maden“.15 Allen West, ein Vertreter der Tea-Party-Bewegung innerhalb der Republikanischen Partei und zufäl- ligerweise Afroamerikaner, forderte die Liberalen auf, „sich aus den USA zu verpissen“.16 Dass es sich hierbei keineswegs bloß um isolierte Bemerkun- gen in einer ansonsten post-rassistischen Gesellschaft handelt, zeigen vom FBI veröffentlichte Statistiken aus dem Jahr 2009. Ihnen zufolge erreichte die Anzahl rassistisch motivierter Straftaten kurz vor und kurz nach der Wahl Obamas 2008 einen Höchststand.17

Der historische Fortschritt der Bürgerrechtsgesetze

Der politische Widerstand, der sich gegen alle Bemühungen wendet, eine Gleichberechtigung von Weißen und People of Color zu erreichen, stützt sich im Wesentlichen auf zwei Argumente. Erstens sei die Umsetzung der Bür- gerrechtsgesetze in den vergangenen Jahrzehnten ein Beweis dafür, dass das Ziel einer post-rassistischen Gesellschaft bereits erreicht worden sei. Diese Argumentation setzt jedoch das Ziel der Überwindung rassistischer Ungleichheit mit der symbolträchtigen Aufhebung der Rassentrennung in Restaurants und Kinos gleich. Das zweite Argument lautet, dass gerade weil diese Gesetze die gewünschte Wirkung erzielt hätten, sie mittlerweile über- flüssig seien und rückgängig gemacht werden sollten. Diese Betrachtungsweise übersieht, dass die Aufhebung der Rassentren- nung in Restaurants, die schwarze Studierende und ihre Mitstreiter an Orten wie Greensboro/North Carolina durchsetzten, nur ein – wenngleich bedeu- tender und symbolträchtiger – Aspekt einer sehr viel umfassenderen sozialen Bewegung zur Stärkung der Demokratie in den USA war. So wurden auf der Grundlage der Bürgerrechtsgesetze von 1957 und 1960, des Civil Rights Act von 1964 sowie des Voting Rights Act von 1965 die sozialen und wirtschaft- lichen Rechte nicht nur der Afroamerikaner, sondern aller US-Amerikaner erheblich ausgeweitet. Der Civil Rights Act von 1964 wurde beispielsweise 1972 durch das Verbot von Diskriminierung aufgrund des Geschlechts in allen staatlich finanzierten Bildungseinrichtungen ergänzt. Gerichtsurteile verstärkten die Wirkung der Bürgerrechtsgesetze weiter: 1974 etwa wurden Schulen verpflichtet, stärker auf die Bedürfnisse von Schülern einzugehen, die kein oder kaum Englisch sprechen. Wiederum ein Jahr später wurde vorgeschrieben, dass für Wählerinnen und Wähler mit nicht ausreichenden Englischkenntnissen fremdsprachige Wahlunterlagen bereitgestellt werden müssen. Im Jahr 1978 wurde die Diskriminierung Schwangerer bei Einstel- lungen unterbunden und 1986 sexuelle Belästigung verboten. Im Jahr 1988

15 „Huffington Post“, 9.11.2012. 16 „Huffington Post“, 28.1.2012. 17 Vgl. Federal Bureau of Investigation, Criminal Justice Information Services Division: Hate Crimes Statistics 2009, www.fbi.gov.

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wurde auf Basis der Bürgerrechtsgesetze die Diskriminierung von Men- schen mit Behinderung und von Familien mit Kindern bei der Wohnungs- suche gesetzlich verboten. Diese Erfolgsgeschichte verdeutlicht, dass sich die Bürgerrechtsbewe- gung keineswegs auf die Aufhebung der Rassentrennung reduzieren lässt. Vielmehr war ihr Bestreben, den US-amerikanischen Wohlfahrtsstaat aus- zubauen und auf diese Weise eine sozial und ökonomisch gerechtere Gesell- schaft zu schaffen. Konservative Ideologen und Politiker in den USA haben von jeher ver- sucht, die Bürgerrechtsgesetze abzuschwächen oder rückgängig zu machen, gerade weil sie der Konzentration von Reichtum in den Händen einiger weni- ger eine wirksame Grenze setzen. Denn indem sie die sozioökonomischen Rechte aller Menschen garantieren, hinterfragen diese Gesetze letztend- lich, wie der gesamtgesellschaftliche Reichtum verwaltet und verteilt wer- den soll. Zentrale Aspekte der Bürgerrechtsgesetze sind aus diesem Grund immer wieder vor Gericht angegriffen worden; zuletzt sogar vor dem Obers- ten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten. Seit 2011 haben Gesetzgeber in 41 Bundesstaaten mindestens 180 Gesetzesvorlagen zur Beschränkung des Wahlrechts eingebracht – insbesondere an Orten mit einem hohen Bevölke- rungsanteil an People of Color. Auch der Oberste Gerichtshof der USA selbst ist aktiv darum bemüht, die Wirkung der Bürgerrechtsbewegung zu untergraben. So beschnitt er im Jahr 2007 per Gerichtsurteil das Anrecht öffentlicher Schulen auf staatliche För- derung von Programmen zur Integration von Einwandererkindern. Diese Entscheidung könnte leicht zu einer neuerlichen Verbreitung der Rassen- trennung an öffentlichen Schulen überall in den Vereinigten Staaten führen. Zudem entschied der Oberste Gerichtshof im Juni 2013, wesentliche Bestandteile des Voting Rights Act von 1965 aufzuheben. Der auf diese Weise abgeschaffte Paragraph 4 hatte bisher Wahlrechtsreformen in jenen Bundes- staaten, in denen eine rassistische Diskriminierung gegenüber Wählerinnen und Wählern besonders verbreitet war, an die Genehmigung des Justizmi- nisteriums oder eines Bundesgerichts in Washington D.C. geknüpft.

Räume des Widerstands: Schwarze Kirchen, Intellektuelle und Künstler

Der Kampf gegen die Diskriminierung von Schwarzen ging in der Vergan- genheit in erster Linie von der afroamerikanischen Kirche und schwarzen Intellektuellen, Künstlern und gewerkschaftlich organisierten Arbeitern aus. Auch heute haben diese Gruppen und Institutionen das Potential, die politische Mobilisierung gegen die fortbestehenden Benachteiligungen vor allem schwarzer Menschen anzuführen. Die afroamerikanische Kirche spielte im Kampf um Bürger- und Men- schenrechte in vielen Teilen des Landes eine wesentliche Rolle. Zwar ernte- ten schwarze Geistliche immer wieder Kritik dafür, dass sie sich im Gegenzug für den Zugang zu Macht und Ressourcen den Interessen der wohlhabenden

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Klasse anpassten. Dennoch ist die schwarze Kirche weiterhin ein entschei- dender Ort der Mobilisierung für progressive politische Ziele. Der Kampf für Gleichberechtigung, so sind Bill Fletcher und Jamala Rogers, zwei Gründungsmitglieder des Black Radical Congress (BRC), über- zeugt, könne nur gemeinsam mit den Glaubensgemeinden geführt werden. „Viele säkulare Linke schenken den Linken in den Glaubensgemeinschaften keinerlei Beachtung.“18 Dabei lässt sich die Fortschrittlichkeit der schwarzen Kirchen und Glau- bensorganisationen in den USA nicht zuletzt an ihrer langjährigen Beteili- gung an der Antikriegsbewegung ablesen. Vincent Harding, ein Vertrauter Martin Luther Kings und Veteran dieser Bewegung, schrieb jüngst einen offenen Brief an Präsident Obama, in dem er sowohl dessen Befürwortung von Gewalt auf der internationalen Ebene kritisiert als auch den Jubel über die gezielten Tötungen, die unter Obamas Regie ausgeführt werden.19 In die- ser pazifistischen Tradition steht auch die National Black Church Initiative, eine Koalition aus 34 000 Kirchen, die etwa 16 Millionen Afroamerikanerin- nen und Afroamerikaner repräsentiert. Auch sie übt scharfe Kritik an Oba- mas Drohneneinsätzen.20 Auch schwarze Intellektuelle spielten in den Freiheitskämpfen innerhalb und außerhalb der USA in der Vergangenheit eine zentrale Rolle. Ein Parade- beispiel hierfür ist das Institute of the Black World (IBW) in Atlanta/Georgia. Dieses Netzwerk fokussierte sich nicht allein auf die Situation der Schwar- zen in den USA, sondern bemühte sich auch um einen Austausch und eine engere Kollaboration mit Freiheitsbewegungen in der ganzen Welt. Das IBW war zudem von zentraler Bedeutung bei der Entwicklung der Black Studies, die sich in den frühen 70er Jahren an den Hochschulen etablierten und zur Politisierung schwarzer Intellektueller und Künstler beitrugen. Darüber hin- aus halfen IBW-Aktivisten einer ganzen Reihe schwarzer Politiker bei der Entwicklung progressiver politischer Wahlprogramme, mit denen diese tat- sächlich Wahlen gewannen, darunter Maynard Jackson, der 1973 zum ersten schwarzen Bürgermeister von Atlanta gewählt wurde. Seit ihrer Gründung im Jahr 1969 bietet zudem die Zeitschrift „The Black Scholar“ schwarzen Akademikern, Aktivisten und politischen Amtsträgern ein Forum, sich mit der Bedeutung von „Rasse“ und Klasse im Leben von Schwarzen auseinanderzusetzen. Zu den neueren Organisationen und Publikationen zählt etwa das Institute of the Black World 21st Century, die wöchentliche Online-Publikation „The Black Commentator“ oder die Gruppe African Americans for Justice in the Middle East and North Africa, die im Gegensatz zu vielen schwarzen Politi- kern mit aller Deutlichkeit auf den Zusammenhang zwischen dem US-Im- perialismus und der Diskriminierung von Schwarzen innerhalb des Landes hinweist.

18 Bill Fletcher und Jamala Rogers, Creating a Viable Black Left: Sixteen Lessons Learned in Creating the Black Radical Congress, in: „The Black Commentator“, www.blackcommentator, 4.4.2013. 19 Vgl. Vincent Harding, An Open Letter to President Obama, in: „YES! Magazine“, 2.6.2011. 20 Vgl. National Black Church Initiative, NBCI Condemns Obama Administrations Drone Policy as Murder and Evil, Pressemitteilung, 19.2.2013.

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Dagegen haben schwarze Künstler und Entertainer aufgrund ihrer Kommer- zialisierung nahezu jegliche Relevanz für den Kampf um die Gleichberech- tigung von Schwarzen verloren. In seinem Buch „Beyond Black: Celebrity and Race in Obama’s America“ aus dem Jahr 2012 beschreibt Ellis Cash- more, wie sehr sich prominente Schwarze aus politischen Debatten heraus- halten, da ihre Vermarktung darauf beruht, dass sie die Vorstellung der post- rassistischen Gesellschaft vertreten und durch ihre Erfolge aufrechterhalten. Angesichts ihrer extrem hohen Verdienste überrascht es nicht, dass die meis- ten schwarzen Prominenten dieses Arrangement stillschweigend akzeptie- ren. Selbstverständlich bestätigen Ausnahmen auch hier die Regel. Frühere Superstars wie Lorraine Hansberry, Ruby Dee, Ossie Davis und Paul Robeson setzten ihre Talente durchaus für soziale Gerechtigkeit ein. Heute sind es vor allem Harry Belafonte, Danny Glover, Dick Gregory und eine Handvoll ande- rer, die das Anliegen der Gleichberechtigung von Schwarzen vertreten.

Die Grenzen der Repräsentationspolitik

Wie jedoch nicht zuletzt die Wahl Obamas zum Präsidenten der Vereinigten Staaten zeigt, lässt sich mit Wahlen und Repräsentationspolitik tiefgreifen- der und dauerhafter sozialer Wandel nur bedingt erreichen. Das liegt auch daran, dass Politiker nur selten zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie die Ziele, für die sie ursprünglich gewählt wurden, nicht umsetzen. Zwar können auf dem Weg der Repräsentationspolitik für einzelne Mitglieder benachteiligter Gruppen zweifellos Vorteile erzielt werden, doch ist es mehr als unwahrscheinlich, dass sie für die Mehrheit der Schwarzen und Latinos zu signifikanten Verbesserungen führt. Führende demokratische Politiker, die ihre Wahl den Stimmen von Schwarzen und Latinos zu verdanken haben, orientierten sich bei ihren politischen Entscheidungen nach wie vor primär an den Bedürfnissen der Großkonzerne – und nicht an denen ihrer Wähler- schaft. So hat Obama das Thema Rassismus weitgehend ausgespart und auch den alternativen Haushaltsvorschlag des Congressional Black Caucus (Bündnis der schwarzen Kongressabgeordneten) einfach ignoriert. Für das Haushalts- jahr 2014 forderte dieser den Schutz sozialer Sicherungssysteme wie Social Security, Medicaid, Supplemental Nutrition Assistance Program (Essenmar- ken) und Temporary Assistance to Needy Families (die zeitlich begrenzte Unterstützung Bedürftiger). Doch das Bündnis verfügte nicht über den nöti- gen Einfluss, um eine ernsthafte Debatte – geschweige denn eine Verab- schiedung – seines Haushaltsplans durchzusetzen. Es greift insofern zu kurz, auf den Wahlerfolg der scheinbar „richtigen“ Kandidaten hinzuarbeiten. Vielmehr muss immer das Bewusstsein über strukturelle Diskriminierung, Rassismus und die Notwendigkeit einer Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums im Blick bleiben. Zugleich sollte alles unternommen werden, um den korrumpierenden finanziellen Einfluss der Großkonzerne und Superreichen auf Politiker einzuschränken.

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Eine progressive Politik darf sich nicht damit zufrieden geben, das geringere Übel zu unterstützen, will man bei der Verteilung von Macht und Ressourcen nicht völlig leer ausgehen. Vielmehr muss die Linke in die Offensive gehen, politische Macht aufbauen und das Ziel sozioökonomischer Gerechtigkeit mit allem Nachdruck verfolgen.

Neue progressive Koalitionen sind nötig

Dabei wird es vor allem auch darauf ankommen, die schwarze Arbeiterschaft einzubeziehen. Die schwarze, hispanische, asiatisch-amerikanische Arbei- terklasse und die Migranten setzen sich täglich gegen eine Wirtschaftspolitik zur Wehr, die die Interessen der Wohlhabenden schützt und auf die weitere Schwächung des Wohlfahrtsstaats abzielt. Das zeigen beispielsweise die Pro- teste der Lehrerinnen und Lehrer in Chicago gegen die Schließung zahlrei- cher öffentlicher Schulen in Stadtvierteln, in denen vorwiegend Latinos und Schwarze leben,21 aber auch die Streiks der schlecht bezahlten Verkäufer bei Wal-Mart, McDonalds und anderen rücksichtslosen Großunternehmen in St. Louis, Detroit, Milwaukee, New York und anderswo. Millionen Mitarbeiter von Dienstleistungsunternehmen, Restaurants, der Post und anderer Bran- chen haben sich an Arbeitskämpfen beteiligt. Dennoch wurde das Poten- tial, schwarze Arbeiter an der Verteidigung des Wohlfahrtsstaates und am Widerstand gegen unternehmerfreundliche Sparprogramme zu beteiligen, bisher nicht ausgeschöpft. So hat es die Occupy-Wall-Street-Bewegung im Großen und Ganzen ver- säumt, ihren Kampf gegen den Reichtum und die ungebremste Gier der Kon- zerne mit den alltäglichen Nöten der Arbeiter und sozial Schwachen zu ver- knüpfen. Dabei hätte genau das ihr zu einer viel breiteren Basis und einer viel größeren Beständigkeit verhelfen können. Wenn sich schwarze Arbeiter mit Migranten zusammenschlössen, könn- ten sie eine starke politische Kraft für progressiven sozialen Wandel bilden. Die Chancen für solche progressiven Kollaborationen sind heute besser denn je, weil diese Gruppen zahlenmäßig größer sind als in der Vergangenheit und sie durch ihre sozioökonomische Benachteiligung geeint werden. Derzeit findet eine Vielzahl von Kämpfen für die Verbesserung der Lebens- bedingungen der Armen und Arbeiter in den USA statt. Im Vordergrund stehen dabei Themen wie die Verteilung des Wohlstands, gute öffentliche Schulen, saubere Luft und ein gesundes Lebensumfeld, adäquater Wohn- raum, gesicherte Arbeitsverhältnisse und angemessene Bezahlung sowie mehr Möglichkeiten für junge Menschen. Statt in Washington werden diese Kämpfe jedoch auf lokaler und regionaler Ebene ausgefochten. Doch die demographische Entwicklung der USA könnte den gegenwärtigen lokalen Auseinandersetzungen gegen die Diskriminierung von Schwarzen schon bald neue Impulse verleihen. In vielen Städten stellen Nicht-Weiße bereits

21 Vgl. Ethan Young, Teachers on Strike: Lessons from Chicago on How to Fight Back, www.rosalux- nyc.org, 12/2012.

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die Mehrheit der Bewohner, und in zahlreichen weiteren Gemeinden ent- wickelt sich die Bevölkerungszusammensetzung in diese Richtung. Gemein- sam mit Migranten und Teilen der weißen Arbeiterklasse könnten sie an die- sen Orten eine breite progressive politische Front bilden, die in der Lage ist, die Macht der Konzerne herauszufordern und Maßnahmen für mehr soziale Gerechtigkeit durchzusetzen. Fragen wie die der öffentlichen Schulen, der Ausstattung von Kranken- häusern, sauberer Parks, fairer Löhne für Arbeiter und andere konkrete, den Alltag betreffende Themen können die Basis für Koalitionen bilden, die auch progressive Gewerkschaften einbeziehen. Die anstehende Einwanderungs- reform bietet ebenfalls Möglichkeiten, über rassische und ethnische Unter- schiede hinweg zusammenzuarbeiten. Schwarze Aktivisten begreifen all- mählich, dass der Kampf für die Rechte der Migranten und die Verbesserung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen potentiell auch den politischen Ein- fluss der Afroamerikaner erhöht und das Fundament für eine breite Koalition für soziale Gerechtigkeit legen kann. Die Aufgabe von Aktivistinnen und Aktivisten ist es, die gemeinsamen Interessen und Berührungspunkte aller sozial Benachteiligten aufzuzeigen. Gleichzeitig sollten sie den einflussreichen Mythos, dass es in den Vereinig- ten Staaten jeder zu etwas bringen kann, solange er nur hart genug arbeitet, als solchen enttarnen. Denn auch die Wahl Obamas zum ersten schwarzen Präsidenten ist keineswegs ein Beweis dafür, dass das Land der unbegrenz- ten Möglichkeiten tatsächlich existiert. Anzeige

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er Name Thomas Piketty dürfte sich bisher kaum allgemeiner Bekannt- D heit erfreut haben. Das scheint sich allerdings zu ändern, weil sie jetzt auch in englischer Sprache vorliegt: die großartige, weit ausgreifende Betrachtung dieses Professors der Paris School of Economics zum Thema Ungleichheit.1 „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ gab es zunächst allein auf Französisch („Le Capital au XXI. siècle“). Dennoch ist Pikettys Einfluss schon heute fest begründet. Es hat sich zu einem Gemeinplatz entwickelt zu sagen, wir lebten in einem zweiten Gilded Age – oder, um mit Piketty zu sprechen, einer zweiten Belle Époque –, deren Kennzeichen der unglaubliche Aufstieg des obersten „einen Prozents“ der Einkommens- und Vermögensskala ist. Doch zum Gemeinplatz wurde diese Erkenntnis nur dank der Arbeit Piket- tys. Er und einige wenige Kollegen (namentlich Anthony Atkinson in Oxford und Emmanuel Saez in Berkeley) sind nämlich die Pioniere neuartiger Statis- tikverfahren, die es ermöglichen, die Einkommens- und Vermögenskonzent- ration bis weit in die Vergangenheit zurückzuverfolgen – bis zum Anfang des vorigen Jahrhunderts in Amerika und Großbritannien, in Frankreich sogar bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Das führte zur Revolutionierung unserer Auffassungen von den langfristi- gen Trends in Sachen Ungleichheit. Vor dieser Revolution ließen die meisten Erörterungen ökonomischer Disparitäten die Superreichen mehr oder weni- ger außer Acht. Manche Ökonomen – von den Politikern ganz zu schweigen – versuchten schon die bloße Erwähnung des Themas Ungleichheit einfach wegzureden: „Die verführerischste und meiner Meinung nach schädlichste unter all den Tendenzen, die eine gesunde Wirtschaft gefährden, besteht in einer Konzentration auf Verteilungsfragen“, verkündete beispielsweise Robert Lucas Jr. von der University of Chicago, der einflussreichste Makro- ökonom seiner Generation, im Jahre 2004. Doch selbst diejenigen, die sich zu einer Erörterung der Ungleichheit bereitfanden, konzentrierten sich im All- gemeinen auf die Kluft zwischen den Armen oder der Arbeiterklasse und sol- chen Schichten, denen es einigermaßen gut geht, nicht aber auf die wirklich

* Dieser Beitrag erschien erstmals unter dem Titel „Why We’re in a New Gilded Age“ in der „New York Review of Books“, 18/2013. Die Übersetzung stammt von Karl D. Bredthauer. 1 Thomas Piketty, Capital in the Twenty-First Century, Harvard University Press 2014; eine deutsche Übersetzung ist für Oktober d. J. im Verlag C.H. Beck angekündigt.

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Reichen. Sie befassten sich etwa mit Hochschulabsolventen, deren Gehalts- zuwächse diejenigen weniger gut ausgebildeter Arbeitnehmer überflügeln, oder dem relativen Reichtum des obersten Fünftels der Bevölkerung im Ver- gleich mit den vier Fünfteln darunter, nicht aber mit den rapide steigenden Einkommen von Managern und Bankern.

Auf dem Weg in den Patrimonialkapitalismus

Es wirkt daher wie eine Offenbarung, wenn Piketty und seine Kollegen nun nachweisen, dass die Einkünfte des mittlerweile berühmten „einen Prozents“ – und sogar noch winzigerer Gruppen – die eigentliche Big Story der wachsenden Ungleichheit sind. Diese Entdeckung geht mit einer zwei- ten einher: Das Wort vom zweiten Gilded Age, das als maßlos übertrieben erschienen sein mochte, war dies in Wirklichkeit keineswegs. Besonders in Amerika hat der Anteil am Nationaleinkommen, der dem obersten einen Prozent zufließt, einen U-förmigen Verlauf angenommen. Vor dem Ersten Weltkrieg erhielt dieses Segment sowohl in Großbritannien als auch in den Vereinigten Staaten ungefähr ein Fünftel des Gesamteinkommens. Bis 1950 war dieser Anteil um mehr als die Hälfte gekappt worden. Seit 1980 jedoch konnte die Spitzengruppe zusehen, wie ihr Einkommensanteil erneut in die Höhe schoss. In den Vereinigten Staaten liegt er schon wieder so hoch wie vor hundert Jahren. Allerdings unterscheidet sich die Wirtschaftselite unserer Tage doch ganz erheblich von der des 19. Jahrhunderts, oder etwa nicht? Damals war gro- ßer Reichtum in der Regel ererbt. Besteht die heutige Wirtschaftselite nicht aus Leuten, die ihre Position verdient haben? Nun ja: Piketty sagt uns, dass diese Annahme weniger zutreffend ist, als wir gedacht haben mögen. Jeden- falls könnte der derzeitige Zustand sich als ebenso wenig haltbar erweisen wie die Mittelschichtengesellschaft, die nach dem Zweiten Weltkrieg für die Dauer einer Generation florierte. Der Kerngedanke von „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ besagt, dass wir nicht einfach nur zu Einkommensungleich- heiten auf dem Niveau des 19. Jahrhunderts zurückkehren, sondern dass wir uns auf dem Rückweg in einen „Patrimonialkapitalismus“ befinden. In ihm werden die Kommandohöhen der Wirtschaft nicht von begabten Individuen kontrolliert, sondern von Familiendynastien. Das ist eine bemerkenswerte These – und eben weil sie so bemerkens- wert ist, bedarf sie sorgfältiger, kritischer Überprüfung. Doch bevor ich dazu übergehe, möchte ich unterstreichen, dass Piketty ein ganz ausgezeichnetes Buch geschrieben hat. Ein mitreißendes Werk, das großartigen historischen Schwung mit akribischer Datenanalyse verbindet. (Wann hat man zuletzt einen Wirtschaftswissenschaftler gehört, der sich auf Jane Austen und Bal- zac bezieht?) Und obgleich Piketty sich über die „kindische Mathematikver- sessenheit“ der Zunft mokiert, basiert seine Erörterung doch auf einer Meis- terleistung ökonomischer Modellierung. Pikettys Verfahren verschmilzt die Analyse ökonomischen Wachstums mit derjenigen der Einkommens- und

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Vermögensverteilung. Dieses Buch wird unser Denken sowohl über die Ge- sellschaft als auch über die Ökonomie verändern.

Die neue Aussagekraft der Steuerdaten

Was wissen wir denn eigentlich über wirtschaftliche Ungleichheit – und seit wann? Bevor die Piketty-Revolution das Feld umpflügte, stammten unsere Kenntnisse über die Ungleichheit der Einkommens- und Reichtumsvertei- lung hauptsächlich aus Umfragen, in denen nach dem Zufallsprinzip ausge- wählte Haushalte einen Fragebogen ausfüllen sollen. Ihre Angaben werden dann zu einem statistischen Bild der Gesamtlage hochgerechnet. Als inter- nationaler Goldstandard derartiger Umfragen gilt der alljährlich einmal pro- duzierte Jahresbericht des amerikanischen Census Bureau. Auch die Fede- ral Reserve (Fed) ermittelt alle drei Jahre ein umfragebasiertes Gesamtbild der Vermögensverteilung. Diese beiden Berichte bieten einen unentbehrlichen Überblick über den Zustandswandel der amerikanischen Gesellschaft. Seit langem deuten sie, unter anderem, auf eine dramatische Veränderung im Wachstumsprozess der US-Einkommen hin, die um das Jahr 1980 begann. Bis dahin hatte das Familieneinkommen auf allen Ebenen mehr oder weniger im Einklang mit dem Wachstum der Gesamtwirtschaft zugenommen. Doch seit 1980 ging der Löwenanteil der Zuwächse an das obere Ende der Einkommensskala, wäh- rend die Familieneinkommen der unteren Hälfte deutlich hinterherhinkten. Andere Länder haben ursprünglich weniger gründlich ermittelt, wer wie viel bekommt. Doch die Situation verbesserte sich mit der Zeit, großenteils dank der Bemühungen der Luxembourg Income Study (an deren Arbeit ich selbst demnächst mitwirken werde). Auch die zunehmende Verfügbarkeit von Umfragedaten, die länderübergreifende Vergleiche ermöglichen, führt zu wichtigen Erkenntnissen. So wissen wir jetzt, dass die Einkommensver- teilung in den Vereinigten Staaten wesentlich ungleicher ausfällt als in wirt- schaftlich ähnlich entwickelten Ländern, aber auch, dass diese Unterschiede sich unmittelbar auf staatliches Handeln zurückführen lassen. In den euro- päischen Ländern liefert das Marktgeschehen überall sehr unterschiedlich hohe Einkünfte – genau wie in den Vereinigten Staaten, wenngleich womög- lich in geringerem Ausmaß. Doch die Europäer tun sehr viel mehr für eine Umverteilung durch Steuern und Transferleistungen als die Amerikaner, was zu einer erheblich geringeren Ungleichheit der verfügbaren Einkom- men führt. Bei aller Nützlichkeit unterliegen Umfragedaten jedoch wichtigen Ein- schränkungen. In der Tendenz unterschätzen sie die Einkommen jener Handvoll Leute an der obersten Spitze der Einkommensskala, wenn sie diese nicht sogar verfehlen. Auch ihre historische Reichweite ist begrenzt. Selbst US-Umfragedaten führen uns nur bis 1947 zurück. An dieser Stelle kommen Piketty und seine Kollegen ins Spiel, weil sie eine völlig andere Informationsquelle aufgetan haben: Steuerunterlagen. Die Idee

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an sich ist nicht neu. Vielmehr verließen frühe Analysen der Einkommens- verteilung sich sogar ganz auf Steuerdaten, weil es für sie kaum andere Daten gab. Piketty et al. aber haben nun ganz neue Verfahren entwickelt: Sie ver- knüpfen die Steuerdaten mit anderen Quellen und gelangen so zu Erkennt- nissen, welche die Umfrageergebnisse auf entscheidende Weise ergänzen. Aus Steuerdaten erfahren wir eine ganze Menge über die Elite. Und steuer- datenbasierte Schätzungen können viel weiter in die Vergangenheit ausgrei- fen: In den Vereinigten Staaten gibt es seit 1913 eine Einkommensteuer, in Großbritannien seit 1909. Und Frankreich verfügt dank einer ausgeklügelten staatlichen Steuererhebung und -archivierung über Vermögensdaten, die bis ins späte 18. Jahrhundert zurückreichen. Die Auswertung dieser Daten ist nicht einfach. Doch unter Rückgriff auf alle Tricks seines Gewerbes, ergänzt durch intelligente Mutmaßungen, gelingt es Piketty, ein Gesamtbild des Rückgangs und der Rückkehr extremer Ein- kommensungleichheiten im Verlauf des vorigen Jahrhunderts zu zeichnen. Unsere Gegenwart als ein neues Gilded Age alias Belle Époque zu bezeich- nen, ist, wie ich schon sagte, keine Übertreibung. Doch wie kam es dazu?

Auf dem Weg in eine neue Belle Époque

Schon mit dem Titel seines Buchs „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ wirft Piketty den intellektuellen Fehdehandschuh in die Arena. Dürfen Wirt- schaftswissenschaftler sich denn immer noch so ausdrücken? Nicht allein die offensichtliche Anspielung auf Marx beunruhigt an die- sem Titel. Indem er sich von Anfang an auf das Kapital bezieht, bricht Piketty mit fast allen modernen Thesen zur Ungleichheit und knüpft an eine ältere Tradition an. Die meisten Ungleichheitsforscher sind bisher grundsätzlich davon aus- gegangen, dass sich alles um die Arbeitseinkommen, meist um die Arbeits- löhne, dreht, während Kapitaleinkommen weder wichtig noch interessant seien. Piketty weist aber nach, dass selbst heutzutage Kapital- und nicht Arbeitseinkommen an der Spitze der Einkommensverteilung vorherrschen. Er zeigt auch, dass früher – während Europas Belle Époque und, in geringe- rem Maße, Amerikas Gilded Age – in erster Linie die Ungleichheit im Besitz von Vermögenswerten, nicht aber ungleiche Entlohnung die gewaltigen Ein- kommensungleichheiten bewirkte. Heute seien wir, ergänzt Piketty, auf dem Weg zurück in eine solche Gesellschaft. Bei ihm sind das nicht irgendwel- che Mutmaßungen. Sein „Kapital im 21. Jahrhundert“ ist das Produkt eines prinzipienfesten Empirismus. Es verdankt sich vor allem einem Theoriean- satz, der die Erörterung des Wirtschaftswachstums mit derjenigen sowohl der Einkommens- wie der Vermögensverteilung zusammenzuführen ver- sucht. Piketty betrachtet die Wirtschaftsgeschichte im Grundsatz als die Geschichte eines Wettlaufs zwischen der Kapitalakkumulation und anderen Wachstumsfaktoren, hauptsächlich Bevölkerungszunahme und technologi- schem Fortschritt.

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Sicher, das ist ein Rennen, in dem es keinen Dauersieger geben kann: Auf sehr lange Sicht müssen der Kapitalstock und die Gesamtheit der Einkom- men ungefähr um die gleiche Rate wachsen. Es kann aber die eine oder die andere Seite längere Zeit, manchmal jahrzehntelang, vorne liegen. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs hatte Europa Kapital im sechs- oder siebenfachen Wert der saldierten Nationaleinkommen akkumuliert. In den darauffolgenden vier Jahrzehnten halbierte sich diese Größe. Ursache war eine Kombination materieller Zerstörungen und des Ersparnisverzehrs für Kriegszwecke. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam die Kapitalakkumulation wieder in Gang, doch da handelte es sich um eine Periode spektakulären Wirt- schaftswachstums – die „Trente Glorieuses“ oder „glorreichen dreißig“. Die Kapitalvermögen/Einkommen-Ratio blieb deshalb niedrig. Seit den 70ern hat nachlassendes Wachstum jedoch eine ansteigende Kapital-Ratio bewirkt, so dass Kapital und Vermögen sich dem Niveau der Belle Époque stetig wieder annäherten. Diese Kapitalakkumulation aber wird – so Piketty – schließlich wieder zu einem Maß an Ungleichheit wie in der Belle Époque führen, wenn dem nicht durch progressive Besteuerung entgegengewirkt wird. Warum? Die ganze Erklärung liegt im Verhältnis von „r“ (für „return on capital“ alias Rendite) und „g“ (für „growth“ oder Wachstum), also Kapital- ertrag versus Wachstumsrate. So ziemlich alle ökonomischen Modelle besagen, dass wenn „g“ sinkt – was es seit 1970 tut und was aufgrund der langsameren Zunahme der Bevöl- kerung im arbeitsfähigen Alter und eines verlangsamten Technologiefort- schritts so anhalten dürfte –, „r“ ebenfalls sinkt. Piketty behauptet allerdings, „r“ werde deutlich langsamer sinken als „g“. Das muss nicht stimmen, doch wenn es leicht genug ist, Arbeiter durch Maschinen zu ersetzen – wenn also, wie es im Fachjargon heißt, die Elastizität der Substitution zwischen Kapital und Arbeit größer als „1“ ist –, dann kann langsames Wachstum in Verbin- dung mit dem daraus resultierenden Anstieg der Kapital/Einkommen-Ratio den Abstand zwischen „r“ und „g“ tatsächlich vergrößern. Piketty zufolge zeigt ein Blick in die Geschichte, dass genau dies passieren wird.

Der ererbte Reichtum

Wenn er recht hat, wird eine unmittelbare Auswirkung in der verstärkten Einkommensumverteilung von den Arbeitenden in Richtung der Kapital- eigner bestehen. Die Schulweisheit besagte lange Zeit, dergleichen stehe nicht zu befürchten, denn die jeweiligen Anteile von Kapital und Arbeit am Gesamteinkommen seien längerfristig sehr stabil. Doch auf wirklich lange Sicht stimmt das nicht. In Großbritannien beispielsweise sank der Kapitalan- teil am Gesamteinkommen – etwa in Gestalt von Unternehmensgewinnen, Dividenden, Renten oder Verkauf von Besitztümern – von ungefähr 40 Pro- zent vor dem Ersten Weltkrieg auf kaum noch 20 Prozent um 1970. Und seit- her hat er etwa die Hälfte des Rückwegs zum Stand von vor 1914 bewältigt. In den Vereinigten Staaten ist die historische Kurve weniger scharf ausgeprägt,

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doch auch hier findet eine Umverteilung zugunsten des Kapitals statt. Die Unternehmensgewinne sind bemerkenswerterweise seit dem Beginn der Finanzkrise steil angestiegen, während die Arbeitseinkommen – einschließ- lich der Gehälter von Hochqualifizierten – stagnieren. Ein Anstieg des Kapitalanteils wiederum bewirkt unmittelbar wach- sende Ungleichheit, weil Kapitaleigentum stets viel ungleicher verteilt ist als Arbeitseinkommen. Doch es gibt weitere Auswirkungen, weil dann, wenn die Rate der Kapitalerträge diejenige des Wirtschaftswachstums deutlich übersteigt, „die Vergangenheit die Zukunft zu verschlingen“ droht: Die Gesellschaft treibt dann unaufhaltsam einer Vorherrschaft der ererbten Ver- mögen zu. Schauen wir, wie sich das im Europa der Belle Époque auswirkte. Seiner- zeit konnten Kapitaleigner mit einer Rendite von vier bis fünf Prozent auf ihre Investitionen rechnen, und das bei minimaler Besteuerung. Die Rate des Wirtschaftswachstums lag damals bei nur etwa einem Prozent. Wohl- habende konnten daher hinreichend viel von ihren Einkommen reinves- tieren, um sicherzustellen, dass ihr Reichtum und folglich ihre Einkommen schneller als die Wirtschaft wuchsen. So verstärkten sie ihre ökonomische Dominanz, selbst wenn sie genug für eine überaus luxuriöse Lebensführung abzweigten. Und was geschah, wenn diese Wohlhabenden starben? Sie übertrugen ihren Reichtum – wiederum nur minimal besteuert – auf ihre Erben. An die nächste Generation transferiertes Geld machte 20 bis 25 Prozent des jähr- lichen Gesamteinkommens aus. Der Löwenanteil der Vermögen, um die 90 Prozent, war ererbt statt aus Arbeitseinkommen angespart. Und dieser ererbte Reichtum konzentrierte sich in den Händen einer winzigen Minder- heit: 1910 kontrollierte das reichste eine Prozent der Bevölkerung 60 Prozent des Privatvermögens in Frankreich, in Großbritannien sogar 70 Prozent. Kein Wunder, dass die Romanciers des 19. Jahrhunderts vom Thema Reich- tum geradezu besessen waren. Piketty befasst sich ausführlich mit der Lek- tion, die ein Halunke namens Vautrin in Balzacs „Vater Goriot“ dem jungen Helden des Romans, Rastignac, erteilt. Im Kern besteht sie darin, dass Rastig- nac durch eine noch so erfolgreiche Berufskarriere nur einen Bruchteil des Reichtums erwerben könne, der ihm durch die Heirat mit der Tochter eines Reichen zufiele. Wie sich herausstellt, hatte Vautrin durchaus recht: Wer im 19. Jahrhundert zu dem einen Prozent der reichsten Erben gehörte und aus- schließlich von dem ererbten Wohlstand lebte, genoss rund das Zweieinhalb- fache des Lebensstandards, den jemand erreichen konnte, der sich bis in das eine Prozent der Erwerbstätigen mit Spitzeneinkommen durchgeboxt hatte. Man könnte versucht sein zu sagen, die moderne Gesellschaft sei ganz anders. In Wirklichkeit aber sind sowohl Kapitaleinkommen als auch ererbte Vermögen – wenn auch in geringerem Ausmaß als während der Belle Époque – immer noch starke Antriebskräfte wachsender Ungleichheit. Und ihre Bedeutung nimmt zu: In Frankreich sank der Anteil ererbter Vermögen am Gesamtreichtum in der Ära der Kriege und während des schnellen Wachs- tums der Nachkriegszeit stark ab. Um 1970 lag er bei unter 50 Prozent. Jetzt

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aber hat er wieder die 70-Prozent-Marke erreicht und steigt weiter an. Dem- entsprechend gab es einen Rückgang mit nachfolgendem Wiederanstieg der Bedeutung, die Erbschaften bei der Erlangung des Elitestatus spielen: Der Lebensstandard des obersten einen Prozents der Erben sank zwischen 1910 und 1950 unter den des obersten einen Prozents der Erwerbstätigen ab, begann aber nach 1970 wieder anzusteigen. Das Rastignac-Niveau wurde noch nicht ganz wieder erreicht, doch es ist aufs Neue generell wertvoller, die richtigen Eltern zu haben – oder bei den richtigen Schwiegereltern einzu- heiraten –, als den richtigen Job zu ergattern. Und dies ist möglicherweise erst der Anfang. Pikettys Schätzungen zur langfristigen Entwicklung der globalen „r“/„g“-Relation legen die Annahme nahe, dass die Ära der Angleichung hinter uns liegt und nunmehr die Bedin- gungen einer Wiedereinführung des patrimonialen Kapitalismus herange- reift sind. Angesichts dieses Szenarios fragt es sich, warum ererbter Reich- tum im öffentlichen Diskurs unserer Tage eine so geringe Rolle spielt. Piketty meint, die schiere Größe der ererbten Vermögen mache diese gewisserma- ßen unsichtbar: „Der Reichtum ist derart konzentriert, dass ein großer Teil der Gesellschaft sich seiner Existenz im Grunde überhaupt nicht bewusst ist. Manche Leute stellen sich vor, er gehöre irgendwelchen surrealen oder mysteriösen Wesen.“ Der Hinweis ist wichtig, reicht aber als Erklärung gewiss nicht aus. Tatsache ist, dass das auffälligste Beispiel explodierender Ungleichheit in der heutigen Welt gar nicht so viel mit Kapitalakkumula- tion zu tun hat, zumindest bislang – nämlich der Aufstieg des einen Prozents Superreicher in der angelsächsischen Welt, insbesondere den Vereinigten Staaten. Er hängt in stärkerem Maße mit bemerkenswert hohen Gehältern und Vergütungen zusammen.

USA: Die neuen Superreichen

„Das Kapital im 21. Jahrhundert“ ist, wie ich hoffentlich klarmachen konnte, ein überaus respektables Opus. Zu einer Zeit, in der die Konzentration der Vermögen und Einkommen in den Händen einiger weniger ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung zurückkehrt, bietet Piketty nicht nur eine unschätzbare Dokumentation dessen, was da vor sich geht, und zwar mit unübertroffener historischer Tiefenschärfe. Was er zu bieten hat, läuft zudem auf eine allgemeine Feldtheorie der Ungleichheit hinaus. Sie rückt das Wirt- schaftswachstum, die Einkommensverteilung zwischen Kapital und Arbeit sowie die individuelle Vermögens- und Einkommensverteilung in einen Gesamtrahmen. Dennoch gibt es etwas, was diese Leistung ein wenig schmälert – eine Art intellektueller Taschenspielerei, die aber nicht wirklich auf Täuschung hin- ausläuft oder gar auf ein Vergehen von Seiten Pikettys. Wo liegt das Problem? Dass ein Buch wie seines so sehnsüchtig erwartet wurde, liegt hauptsächlich am Aufstieg des „einen Prozents“, aber nicht nur ganz allgemein, sondern speziell des amerikanischen einen Prozents. Doch eben dessen Aufstieg

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erfolgte aus Gründen, die außerhalb der Reichweite der großen These Piket- tys liegen. Natürlich ist Piketty ein zu guter und zu ehrlicher Wirtschaftswissenschaft- ler, als dass er unangenehme Tatsachen beschönigen wollte. „Die Ungleich- heit in den USA“, stellt er fest, „ist im Jahre 2010 quantitativ genauso extrem wie im alten Europa während der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts, doch in ihrer Struktur unterscheidet sich diese Ungleichheit recht deutlich.“ In der Tat: Was wir in Amerika erlebt haben und jetzt zunehmend auch anderswo sehen, ist etwas „radikal Neues“ – das Aufkommen der „Supersalaries“, der Megagehälter. Auf das Kapital kommt es immer noch an, denn in den allerobersten Rän- gen der Gesellschaft übertrifft das Einkommen aus Kapitalvermögen wei- terhin die Einkünfte aus Löhnen, Gehältern und Boni. Piketty schätzt, dass die größere Ungleichheit der Kapitaleinkommen für etwa ein Drittel der all- gemein gesteigerten Ungleichheit in den USA verantwortlich ist. Doch auch die Erwerbseinkommen der Spitzengruppe sind explodiert. Die Reallöhne der meisten US-Arbeiter haben seit Anfang der 70er Jahre, wenn überhaupt, nur geringfügig zugenommen. Die Gehälter des obersten einen Prozents der Spitzenverdiener stiegen hingegen um 165 Prozent und die des obers- ten Zehntelprozents sogar um 362 Prozent. Lebte Rastignac heute, so müsste Vautrin wohl zugestehen, dass es ihm als Hedgefonds-Manager genauso gut gehen könnte wie bei der Einheirat in ein großes Vermögen. Wie erklärt sich dieser dramatische Anstieg der Einkommensungleich- heit, bei dem der Löwenanteil der Zuwächse sich auf die oberste Spitze der Skala konzentriert? Einige US-Ökonomen sagen uns, technologische Ver- änderungen trieben diese Entwicklung an. So legte der Chicagoer Ökonom Sherwin Rosen schon 1981 unter dem Titel „The Economics of Superstars“ einen berühmt gewordenen Artikel vor. Rosens These lautete, die modernen Kommunikationstechnologien schüfen, indem sie die Wirkungsmöglich- keiten begabter Individuen stark erweiterten, Winner-take-all-Märkte. Dies sind Märkte, auf denen eine Handvoll außergewöhnlicher Menschen enorme Vergütungen einstreicht, auch wenn diese „Stars“ nur geringfügig besser auf ihrem Gebiet sind als weit schlechter entlohnte Rivalen. Piketty überzeugt das nicht. Konservative Ökonomen lieben es, wie er feststellt, sich über die üppige Entlohnung von Darstellern dieser oder jener Art auszulassen. Dazu zählen beispielsweise Filmstars oder Spitzensportler, deren hohe Einkommen, so wird suggeriert, tatsächlich verdient seien. Doch solche Leute machen in Wirklichkeit nur einen winzigen Bruchteil der Ein- kommenselite aus. Sie besteht vielmehr hauptsächlich aus Führungskräften der einen oder anderen Art, deren Leistung oder Geldwert realiter nur sehr schwer zu bewerten ist. Wer bestimmt, was der Vorstandsvorsitzende eines Unternehmens wert ist? Normalerweise gibt es ein Compensation Committee, einen Vergütungsaus- schuss, dessen Mitglieder der CEO selbst beruft. Tatsächlich legen Piketty zufolge hochrangige Manager ihre Bezahlung selber fest, wobei eher soziale Normen als irgendeine Marktdisziplin Grenzen setzen. Den himmelstür-

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menden Anstieg der Spitzengehälter führt er auf eine Erosion dieser Normen zurück. Im Grunde schreibt er die Explosion dieser Gehälter eher sozialen und politischen als im eigentlichen Sinn ökonomischen Triebkräften zu. Piketty erörtert dann aber auch – so muss gerechterweise hinzugefügt wer- den –, wie eine ökonomische Analyse des Normenwandels aussehen könnte. Die Senkung der Steuersätze für die Reichen, sagt er, habe den Appetit der Einkommenselite gesteigert. Als Topmanager noch damit rechnen mussten, nur einen Bruchteil der Einkünfte behalten zu können, die durch Missach- tung sozialer Normen und den Griff nach einem extrem hohen Salär für sie vielleicht zu ergattern gewesen wären, hätten sie möglicherweise befunden, es sei der Mühe nicht wert. Wenn man aber die Steuersätze für solche Leute drastisch herabsetzt, verhalten sie sich vielleicht anders. Und wenn immer mehr Spitzenverdiener sich über die Normen hinwegsetzen, wandeln sich schließlich auch die Normen selbst. Es spricht einiges für diese Diagnose, doch ermangelt sie zweifellos der Präzision und Allgemeingültigkeit der Analyse, die Piketty im Hinblick auf Vermögensverteilung und Vermögenserträge geleistet hat. Auch glaube ich nicht, dass „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ die aufschlussreichste Kritik an der Managermacht-Hypothese angemessen beantwortet: den Verweis auf die Konzentration sehr hoher Einkommen in der Finanzindustrie nämlich, wo man Leistung in gewisser Weise tatsächlich bewerten kann. Nicht umsonst habe ich die Hedgefonds-Manager erwähnt: Solche Leute werden nach ihrer Fähigkeit bezahlt, Kunden zu werben und Investitionserträge zu erzielen. Man mag den gesellschaftlichen Wert des modernen Finanzwesens bezwei- feln, aber die Gordon Gekkos, die sich dort tummeln, verstehen sich ganz ein- deutig auf ihr Ding.2 Ihr Aufstieg lässt sich nicht allein Machtverhältnissen zuschreiben – auch wenn man vermutlich sagen könnte, dass die Bereitschaft zu moralisch dubiosen Geschäftspraktiken, etwa dazu, sich über Vergütungs- normen hinwegzusetzen, durch niedrige Grenzsteuersätze gefördert wird. Insgesamt gesehen, hat mich Pikettys Erklärung der ausgeuferten Ungleichheit bei den Erwerbseinkommen mehr oder weniger überzeugt, auch wenn ich sein Versäumnis durchaus enttäuschend finde, die Deregulie- rung mit in den Blick zu nehmen. In diesem Punkt fehlt seiner Untersuchung, wie gesagt, die Präzision – und erst recht die begeisternde intellektuelle Ele- ganz – seiner Kapitalanalyse. Doch sollte man darauf nicht überreagieren. Auch wenn der starke Anstieg der Ungleichheit in den USA bisher hauptsächlich durch die Erwerbsein- kommen angetrieben wurde, spielte das Kapital ebenfalls eine wichtige Rolle. Und wie auch immer – wenn man nach vorne schaut, steht uns wahr- scheinlich ohnehin eine ganz andere Geschichte bevor. Die gegenwärtige Generation der Superreichen in Amerika mag überwiegend aus Managern statt aus Rentiers – also aus Leuten, die vom akkumulierten Kapital leben – bestehen, aber diese Manager haben Erben. In zwei Jahrzehnten könnte Amerika eine von Rentiers dominierte Gesellschaft mit noch größerer

2 Gordon Gekko ist ein fiktiver Charakter in dem Film „Wall Street“ (1987) und „Wall Street: Money Never Sleeps“ (2010) von Oliver Stone.

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Ungleichheit als im Europa der Belle Époque sein. Das muss allerdings nicht so kommen.

Der erkaufte Einfluss des obersten einen Prozents

Gelegentlich kann es scheinen, dass Piketty eine deterministische Geschichtsauffassung bietet, derzufolge alles von den Größen Bevölkerungs- wachstum und technologischer Fortschritt abhängt. Tatsächlich aber legt „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ dar, dass Staatstätigkeit einen enormen Unterschied bewirken könnte; dass selbst dann, wenn die ökonomischen Ausgangsbedingungen auf extreme Ungleichheit hindeuten, „ein Abtreiben in Richtung Oligarchie“, wie Piketty es nennt, sich aufhalten lässt und sogar in die Gegenrichtung umgesteuert werden kann, wenn das Gemeinwesen sich politisch so entscheidet. Der springende Punkt ist folgender: Wenn wir den entscheidenden Ver- gleich zwischen Vermögensrendite und wirtschaftlicher Wachstumsrate anstellen, kommt es auf den Vermögensertrag nach Steuern an. Eine pro- gressive Besteuerung – besonders von Vermögen und Erbschaften – kann ein starkes Mittel zur Begrenzung der Ungleichheit sein. Tatsächlich beschließt Piketty sein Meisterwerk mit dem Plädoyer für ebendiese Art der Besteue- rung. Unglücklicherweise stimmt die Geschichte, von der sein eigenes Buch handelt, in dieser Hinsicht kaum optimistisch. Es trifft zu, dass eine kräftige progressive Besteuerung im 20. Jahrhun- dert lange Zeit tatsächlich die Konzentration der Einkommen und Vermögen vermindern half. Man sollte ja auch meinen, dass eine kräftige Besteuerung der Spitzeneinkommen die natürliche politische Konsequenz ist, wenn die Demokratie sich mit starker Ungleichheit konfrontiert sieht. Piketty verwirft diese Schlussfolgerung allerdings. Der Triumph der progressiven Besteue- rung während des 20. Jahrhunderts sei „ein kurzlebiges Produkt des Chaos“ gewesen, behauptet er. Ohne die Schlachten und Aufstände im neuen Drei- ßigjährigen Krieg Europas wäre nichts dergleichen zustande gekommen. Als Beweis führt Piketty das Beispiel der französischen Dritten Republik an. Die offizielle Ideologie dieser Republik war hochgradig egalitär. Dennoch waren Vermögen und Erwerbseinkommen fast genau so konzentriert und Erbschaften verschafften fast ebenso sicher ökonomische Privilegien wie in der aristokratisch geprägten konstitutionellen Monarchie auf der anderen Seite des Ärmelkanals. Und die staatliche Politik tat so gut wie nichts, um der wirtschaftlichen Vorherrschaft der Rentiers entgegenzuwirken. Insbeson- dere die Erbschaftsteuern waren geradezu lächerlich niedrig. Warum haben die – doch mit allen Rechten ausgestatteten – Bürger Frankreichs keine Politiker an die Macht gewählt, die den Kampf mit der Rentiersklasse wagen? Damals wie heute erkaufte großer Reichtum sich großen Einfluss, und zwar nicht allein auf die aktuelle Politik, sondern auf den öffentlichen Diskurs insgesamt. Upton Sinclair tat den berühmten Aus- spruch, dass „es schwierig ist, einen Menschen dazu zu bringen, etwas zu

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verstehen, wenn seine Entlohnung davon abhängt, dass er es nicht versteht“. Piketty stellt im Rückblick auf die Geschichte seines Landes Ähnliches fest: „Die Erfahrung der Belle Époque in Frankreich beweist, wenn es denn noch eines Beweises bedürfte, dass keine Heuchelei zu groß ist, wenn die wirt- schaftlichen und finanziellen Eliten ihre Interessen verteidigen müssen.“

Plädoyer für eine radikale Vermögensbesteuerung

Heute zeigt sich das gleiche Phänomen erneut. Ein sonderbarer Aspekt der amerikanischen Szene ist dabei, dass die Politik der Ungleichheit der rea- len Entwicklung sogar vorauszueilen scheint. Denn gegenwärtig verdankt die wirtschaftliche Elite der USA ihren Status, wie wir sahen, hauptsächlich Spitzengehältern und weniger Kapitalerträgen. Nichtsdestotrotz betont, ja feiert die konservative Wirtschaftsrhetorik schon jetzt eher das Kapital als die Arbeit: „Job Creators“ und nicht etwa Werktätige. 2012 fand Eric Cantor, der Mehrheitsführer im Repräsentantenhaus, es passend, in einem Tweet zum Tag der Arbeit ausgerechnet die Fabrikbesitzer zu preisen: „Heute“, schrieb Cantor, „feiern wir diejenigen, die ein Risiko auf sich genommen, hart gearbeitet, ein Unternehmen aufgebaut und ihren Erfolg selbst verdient haben.“ Möglicherweise ernüchtert durch die Reaktio- nen fühlte er sich, wie es heißt, auf einer anschließenden Klausurtagung sei- ner Partei bemüßigt, die Kollegen zu erinnern, dass die meisten Menschen kein eigenes Unternehmen besitzen. Immerhin demonstriert der Vorgang als solcher, wie weit die Identifikation der Grand Old Party mit dem Kapital geht – bis zur faktischen Leugnung des Faktors Arbeit. Diese Kapitalorientierung beschränkt sich durchaus nicht auf Rhetorik. Die steuerliche Belastung amerikanischer Spitzeneinkommen ist seit den 70er Jahren durchgängig gesunken; die größten Entlastungen betreffen Kapitaleinkommen und Erbschaften. Die Kapitalentlastung schließt dabei einen scharfen Rückgang der Unternehmensbesteuerung ein, welcher indi- rekt wiederum die Aktienbesitzer begünstigt. Manchmal sieht es wirklich so aus, als sei ein wesentlicher Teil unserer politischen Klasse aktiv darum bemüht, Pikettys „patrimonialen Kapitalismus“ zu restaurieren. Schaut man sich die Quellen vieler Wahl- und Parteispenden an, die von vermögenden Familien stammen, so ist diese Möglichkeit weit weniger abwegig, als es scheinen mag. Piketty beschließt „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ mit einem Ruf zu den Waffen: insbesondere zum Kampf um – möglichst weltweite – Vermögens- besteuerung, um die wachsende Macht des ererbten Reichtums zu zähmen. Über die Realisierungschancen solcher Vorschläge lässt sich leicht spotten. Doch Pikettys meisterliche Diagnose, wo wir stehen und worauf wir zusteu- ern, verbessert die Aussichten ganz beträchtlich. Seinem Opus magnum kommt deshalb an allen Fronten größte Bedeutung zu. Piketty hat unseren Ökonomiediskurs verwandelt. Über Reichtum und Ungleichheit werden wir nie mehr so sprechen wie vorher.

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Paul B. Kleiser (Hrsg.) Griechenland im Würgegriff Ein Land der EU-Peripherie wird zugerichtet

Krise und Austerität, Verelendung, Gegenwehr und Selbstorganisation. Mit Beiträgen von Georgia Bekridaki, Paul B. Kleiser, Martin Klingner und Jan Krüger, Paul Michel, Panos Petrou, Dimitris Psarras, Nadja Rakowitz, Karl Heinz Roth, Christos Sideris und Charles-André Udry. 2. aktualis. Auflage, 199 Seiten, 19,80 Euro ISBN 978-3-89900-139-6

Neuer ISP Verlag GmbH Belfortstr. 7, 76133 Karlsruhe Tel. 0721/3 11 83, Mail: [email protected] www.neuerispverlag.de

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201406_Buch.indb 82 21.05.14 10:43 Macht ohne Rechenschaft: Der globale Lobbyismus Von Susan George

s gibt Formen der Macht, die keinerlei Rechenschaftspflicht unterlie- E gen, über deren Aktivitäten niemandem Bericht erstattet werden muss und die schwer zu durchschauen sind. Aus diesem Grund fällt es ebenso schwer, ihnen entgegenzuwirken. Weil diese illegitime Macht oft unter- schwellig daherkommt, ist sie schwer zu greifen. Sie heißt nicht „Macht“, resultiert nicht aus förmlichen Beschlüssen und wird von denen, die sich ihr – wissentlich oder nicht – unterwerfen, häufig gar nicht als Unterdrückung wahrgenommen. Die illegitime Macht, von der ich hier spreche, meint nicht Tyranneien, Diktaturen, autoritäre Einparteiensysteme, afrikanische Statt- halter oder dergleichen. Im Folgenden geht es um die Macht der ganz großen Konzerne, wobei ich, dem Sprachgebrauch der Vereinten Nationen folgend, die Bezeichnung „transnationale Konzerne” oder TNC der Rede von „multi- nationalen” Konzernen oder „Multis” (MNC) vorziehe. Die Liste der Beispiele für illegitime Machtausübung wächst unaufhörlich und könnte viel länger ausfallen als im vorliegenden Artikel. Nichtsdesto- trotz hoffe ich veranschaulichen zu können, dass und wie illegitime Kon- zernmacht mittlerweile auf jeder Ebene der Regierungstätigkeit zunehmend Platz greift, die internationale Sphäre eingeschlossen; dass sie der Demokra- tie schweren Schaden zufügt und unsere Länder, unseren Lebensalltag ver- ändert, ganz besonders, wenn wir in westlichen Demokratien leben.1 Tatsächlich lässt sich empirisch belegen, dass illegitime Machtausübung um sich greift und dass die Demokratie allmählich der Infektion durch die neoliberale Ideologie erliegt. Immer mehr Funktionen einer legitimen Regie- rungsausübung gehen an nicht legitimierte, nicht gewählte, undurchsich- tige Akteure und Organisationen über. Dies geschieht auf allen Ebenen, der nationalen ebenso wie der regionalen und der internationalen. Beginnen wir mit der einfachsten Form, ja geradezu dem Ursprung unter- nehmerischer Einflussnahme: mit dem sogenannten Common bzw. Garden

* Dieser Text basiert auf dem Beitrag „State of Corporations – The rise of illegitimate power and the threat to democracy“ in dem diesjährigen Jahresbericht „State of Power“ des Transnational Insti- tutes (www.tni.org). 1 So besteht alle Veranlassung, die Legitimität/Illegitimität von Institutionen wie dem Internationa- len Währungsfonds, der Europäischen Zentralbank und der Europäischen Kommission zu unter- suchen, die sich jetzt in der sogenannten Troika miteinander verbunden haben und vielen euro- päischen Ländern harsche, dabei kontraproduktive Austeritätsmaßnahmen auferlegen. Das würde allerdings den Rahmen des vorliegenden Beitrags sprengen.

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201406_Buch.indb 83 21.05.14 10:43 84 Susan George

Lobbying. Ihren Namen erhielt diese Praxis von der Lobby des britischen Unterhauses, in der Männer mit spezifischen Interessen und oftmals mit dicken Briefumschlägen herumlungerten, um sich den hereinkommenden oder hinausgehenden Abgeordneten aufzudrängen.

Die Offensive der Konzerne

Diese Praxis ist bereits Jahrhunderte alt, und heute gehören ihre nicht gewählten Vertreter im politischen Geschäft wie selbstverständlich dazu. Sie kennen sich mittlerweile bestens aus und treten als quasi-legitime Akteure auf. Ihre Büros belegen ganze Stadtviertel in Washington (etwa in der K Street) ebenso wie im Brüsseler EU-Quartier. In vielen Fällen sind sie durch die „Drehtür” gekommen und wissen deshalb nach einer Karriere in der Politik besser als irgendwer sonst, an wen man sich wenden muss und wie man Kommissare oder Parlamentarier umstimmt. Sie haben ihre Methoden verfeinert, werden besser denn je bezahlt und können Ergebnisse vorwei- sen. Und Lobbyismus lohnt sich: Eine Untersuchung der Sunlight Foundation in den Vereinigten Staaten ergab, dass US-Firmen, die in Lobbyaktivitäten investiert hatten, im Vergleich zu anderen weniger Steuern zahlten. Immerhin müssen Lobbyisten in den USA ihre Tätigkeit anmelden, sich in ein Kongress-Register eintragen lassen und offenlegen, was sie verdie- nen und wer sie bezahlt. In Brüssel ist die Registrierung indes „freiwillig” – wahrlich ein Witz, wenn man bedenkt, dass im Umfeld der EU-Institutionen 15-20 000 Lobbyisten herumgeistern und tagtäglich nonstop auf Kommis- sionspersonal und Parlamentarier einreden. Britischen Boulevardblatt-Re- portern gelang es einmal, ein paar osteuropäische Abgeordnete des EU-Par- laments zur Annahme von Bestechungsgeldern zu verleiten, die angeblich dem Kauf ihrer Stimmen dienten. Als dann die Aufmerksamkeit des lesen- den Publikums geweckt war, machten die betreffenden Parlamentarier sich umgehend aus dem Staub. Um seine Reputation besorgt, forderte das Europäische Parlament in der letzten Legislaturperiode EP-Präsident auf, eine Arbeits- gruppe mit dem Auftrag einzurichten, das völlig unzureichende europäische „Transparenzregister” zu überarbeiten. Mitte 2012 wurde diese Gruppe auch in aller Form gegründet, doch danach geschah weiter nichts. Warum diese Transparenz-Gruppe so gar nicht vorankam, wurde seinerseits transparen- ter, als das deutsche Wochenmagazin „Der Spiegel” im Oktober 2013 ent- hüllte, der Gruppenvorsitzende Rainer Wieland, ein deutscher Christdemo- krat im EP, sei als Mitglied einer Brüsseler Rechtsanwaltssozietät nebenbei selbst Lobbyist. Die Lobbyarbeit in Brüssel besteht heutzutage nicht bloß aus Public Relations – die Stadt wird von Rechtsanwaltsfirmen geradezu über- laufen, die für ihre Kundschaft vorteilhafte Gesetzentwürfe und Rechtsstra- tegien austüfteln. Und diese Firmen verabscheuen eine Registrierung nach- weislich ganz besonders. Kein Wunder, dass Wieland nichts dafür tat, sie umzustimmen.

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Derzeit ist noch offen, welche Konsequenzen Martin Schulz aus den Erkennt- nissen zieht. Fest steht indes, dass nach und nach das zweifelhafte, um nicht zu sagen lächerliche Manövrieren der Kommission und der Mitgliedstaaten aufgedeckt wird. Der Schleier der Geheimhaltung, der die Aktivitäten der Lobbyisten umhüllt, erweist sich langsam als fadenscheinig. Selbst eini- gen der Firmen, die sich registrieren ließen, wurde inzwischen nachgewie- sen, dass sie ihre tatsächlichen Aktivitäten und Einnahmen um den Faktor zehn untertrieben gemeldet haben. „Le ridicule tue“, sagen die Franzosen – Lächerlichkeit tötet. Man kann nur hoffen, dass das Lobbyisten-Register bald nicht mehr als Gegenstand des Gespötts herhalten muss.

Wachstumsbranche Lobbyismus

Weniger bekannt als die Lobbyarbeit einzelner TNCs sind die branchen- übergreifenden „Institute“, „Stiftungen“, „Zentren“, „Räte” oder „Councils” für unterschiedliche Produktgruppen, deren Zahl rasch wächst und die ihren Sitz oft in Washington haben, manchmal aber auch weltweit operieren. Sie konzipieren im Auftrag von Konzernen neue Gesetze und beseitigen jegli- che rechtliche Regelungen, die deren Interessen zuwiderlaufen. Zu diesem Zweck rechtfertigen sie Alkoholika, Tabak, Junkfood, Chemikalien, Phar- mazeutika, Emittenten von Treibhausgas etc. Anders als die klassischen Lobbyisten bedienen sie sich oft ideologischer Waffen: Sie engagieren will- fährige Wissenschaftler, die keinesfalls je einen Interessenkonflikt offenle- gen, und lassen sie „Untersuchungen“ oder populärwissenschaftliche Arti- kel mit dem Ziel schreiben, die Öffentlichkeit zu verunsichern – selbst im Hinblick auf bestens belegte Erkenntnisse der Wissenschaft. Sie behaupten, gewisse Forschungsergebnisse seien „umstritten“, auch wenn diese in Wahr- heit unstrittig sind – oder die angebliche Debatte von den Lobbyisten selbst künstlich angezettelt wurde.2 Die Lobbyeinrichtungen gründen vorgebliche Graswurzel- oder Bürger- initiativen mit dem Auftrag, ihre Produkte oder Ideen zu verfechten. Zumeist behaupten sie, die „freie Wahl“ der Verbraucher sei bedroht durch den „vor- mundschaftlichen Staat“: Dieser versuche für die Bürger zu entscheiden. Um bestimmte Maßnahmen zu rechtfertigen oder abzuwehren, lancieren sie Petitionen und sammeln Unterschriften, wobei diese bei näherem Hinsehen vor allem von Firmenmitarbeitern stammen, deren Stellen davon abhängen, dass sie unterschreiben. Sie wenden Einschüchterungstechniken an, etwa nach dem Muster „Dieses Gesetz wird die Produktionskosten steigern und zu höheren Preisen und/oder Arbeitsplatzverlusten führen.“ Sie verstehen sich auch darauf, Themen so aufzubereiten, dass sie als echte „Nachrichten” durchgehen können, obwohl es sich de facto um Propaganda handelt.

2 Das Corporate Europe Observatory, das in vielen Fragen mit dem Transnational Institute (TNI) – dem Herausgeber des Jahrbuchs „State of Power” – zusammenarbeitet, führt seit vielen Jahren Buch über die Aktivitäten von Lobbyisten. Auf seiner Internetseite www.corporateeurope.org fin- den sich zahlreiche gute – allerdings für gewöhnlich wenig erbauliche – Geschichten.

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201406_Buch.indb 85 21.05.14 10:43 86 Susan George

So gelang es etwa dem Center for Consumer Freedom unter der Leitung des versierten PR-Gurus Richard Berman, Vorschriften gegen das Rauchen in öffentlichen Räumen auf Jahre hinaus aussetzen zu lassen. Derselbe Berman hat sich auch für die Hersteller alkoholischer Getränke und von Junkfood in die Bresche geworfen sowie gewerkschaftsfeindliche Kampagnen für große Konzerne konzipiert. Die Leugner des Klimawandels arbeiten mit den glei- chen Methoden. Eine ihrer von Öl- und Autoindustrie finanzierten Organi- sationen verkündete nach dem Scheitern der UN-Klimakonferenz in Kopen- hagen auf ihrer Internetseite sogar, da sie ihren Zweck erfüllt habe, werde sie sich nunmehr auflösen. Tatsächlich haben diese Leute in vieler Hinsicht ihr Ziel erfüllt – der Klimawandel findet heute weit weniger Medienaufmerk- samkeit und beunruhigt die Öffentlichkeit – zumindest in den Vereinigten Staaten – deutlich weniger als vor 2009. Kurzum: Man muss sorgfältig prüfen, wer eine auf den ersten Blick gemein- wohlorientierte und seriöse Einrichtung finanziert, bevor man irgendetwas von dem glaubt, was sie verkündet. Für Normalbürger ist das durchaus keine einfache Aufgabe.3

Der Triumph der Banken und Finanzdienstleister

Für die Finanzbranche ergibt sich ein ähnliches Bild. Seit Mitte der 90er Jahre haben sich die größten Bank-, Kredit-, Versicherungs- und Accounting- TNCs der USA zusammengetan und, mit 3000 eigens zu diesem Zweck ein- gestellten Fachkräften, fünf Mrd. US-Dollar dafür verwendet, sich alle unter Roosevelt in den 30er Jahren in Kraft gesetzten New-Deal-Gesetze vom Hals zu schaffen – also ebenjene Gesetze, die der amerikanischen Volks- wirtschaft über 60 Jahre hindurch Schutz geboten hatten. Dieser kollektive Lobby-Kraftakt verschaffte ihnen die uneingeschränkte Freiheit, alle ver- lustbringenden Posten aus ihren Bilanzen zu löschen und in Schattenban- ken zu verschieben. Sie erlangten die Freiheit, toxische Finanzderivate im Nennwert von hunderten Milliarden Dollar zu erfinden und zu verkaufen, ganze Bündel fauler Hypotheken beispielsweise – ohne einer Regulierung zu unterliegen. Die Folgen waren, wie jedermann weiß, verheerend. Doch die Demokratie blieb außen vor und bot keine Antworten. So haben seit 2007 an die zehn Millionen Familien in den Vereinigten Staaten ihre Häuser verloren. Dass es die Bank oder die Hypothekenfirma war, die ihnen ihr Haus nahm und sie auf die Straße setzte, wissen sie nur allzu gut. Doch die meisten haben keine Ahnung, wie es tatsächlich zu der Krise kam – oder warum der Kongress nichts unternahm, sie zu verhüten oder nach ihrem Ausbruch Abhilfe zu schaffen. Zwar gab es im Kongress mehrere Gesetzesinitiativen, die solchen Leuten hätten helfen können, in ihren Häusern zu bleiben. Keiner dieser Vor- schläge wurde jedoch umgesetzt. Bedauerlicherweise gab es auch keine kol-

3 Vgl. zur Situation in Deutschland: Werner Rügemer, Die unterwanderte Demokratie. Der Marsch der Lobbyisten durch die Institutionen, in: „Blätter“, 8/2013, S. 67-76. – D. Red.

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lektive Organisation zur Verteidigung der neuen Obdachlosen, deren Druck die Politik zum Handeln gezwungen hätte.

Der nächste große Crash

Derweil dürfen Banken und Anleger weiter verfahren wie bisher. Wenig oder gar nichts ist seit dem Absturz von Lehman Brothers geschehen, das Finanz- wesen zu re-regulieren. Im Gegenteil macht der Derivatehandel mittlerweile sogar an die 2 300 000 000 000 Dollar (2,3 Billionen) Umsatz pro Tag – ein Drittel mehr als vor der Krise. Das ultraschnelle Flash Trading, also der auto- matisierte Devisenhandel, der gänzlich über Computer und Algorithmen abgewickelt wird, liegt sogar um die 50 Prozent über dem Vorkrisenniveau. Die Laissez-faire-Attitüde der Finanzindustrie gegenüber schürt die Glut der nächsten Krise. Diese wird, das lässt sich sicher voraussagen, noch schlim- mer ausfallen als die letzte. Tatsächlich ist mathematisch belegt, dass uns das Schlimmste erst noch bevorsteht und dass die Konzerne eben dabei sind, die nächste Krise auszubrüten. Drei Mathematiker vom Polytechnischen Institut der Technischen Hochschule Zürich, Spezialisten der Komplexitätstheorie, haben eine bemerkenswerte Untersuchung mit dem Titel „The Network of Global Corporate Control” vorgelegt. Diese zeichnet die Verbindungen tau- sender Transnationaler Konzerne untereinander akkurat nach. Ausgehend von den Daten zu 43 000 Unternehmen arbeiten sie schrittweise die Eigen- tumsbeziehungen heraus. Es ergibt sich eine „Kerngruppe” aus 147 Firmen, die 40 Prozent des wirtschaftlichen Gesamtwerts aller erfassten Unterneh- men kontrolliert. Die graphische Darstellung sieht wie eine astronomische Karte des Nachthimmels aus, mit schwach leuchtenden Galaxien und strah- lenden Sternen, aber auch einigen Supernovae. Verbindungslinien führen zu Dutzenden ebenfalls kartierter Sterne. Um zur Kerngruppe zu zählen, muss ein Unternehmen mindestens 20 Verbindungen besitzen. Die schockierende Schlussfolgerung dieser Mathematiker4 findet sich im Anhang ihrer Studie. In ihm sind die 50 am engsten miteinander verfloch- tenen Unternehmen aufgelistet, welche das von den Forschern sogenannte Knife-Edge Property verkörpern – also sozusagen für einen Balanceakt auf Messers Schneide stehen. Die dichte Verflechtung bedeutet nämlich zugleich „Anfälligkeit für systemische Risiken“. Das wiederum heißt: „Wäh- rend das Netzwerk in guten Zeiten robust erscheint, geraten diese Firmen in schlechten Zeiten alle zugleich in Gefahr.” Von den 50 am engsten mit- einander verbundenen und infolgedessen risikoanfälligsten Unternehmen der Züricher Liste sind 48 Banken, Hedgefonds oder andere Finanzunter- nehmen. Mit anderen Worten: Der nächste große Crash ist – auch dank des erfolgreichen Agierens der TNCs – nur eine Frage kürzester Zeit. Dieser nächsten großen Krise wurde nicht zuletzt in Brüssel der Weg geebnet. Hier treffen tagtäglich Dutzende mit TNC-Spitzenleuten besetzte

4 Vgl. Stefania Vitali, James B. Glattfelder und Stefano Battiston, The Network of Global Corporate Control, in: „Public Library of Science ONE“, 10/2011, S.1-36.

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201406_Buch.indb 87 21.05.14 10:43 88 Susan George

„Expertenkomitees” mit Kommissionsbeamten zusammen – praktisch ohne jede Beteiligung von Umwelt- oder Watchdog-Organisationen. Sie sind beauftragt, für jeden erdenklichen Politikbereich detaillierte Gesetzent- würfe auszuarbeiten. Über der Myriade von „Sachverständigengruppen“ steht, obwohl durch- aus mit ihnen vergleichbar, das International Accounting Standards Board (IASB), das zweifellos 99 Prozent der EU-Bürger gar nicht kennen dürften. Das Board geht auf ein Gremium zurück, das die EU vor ihrer Erweiterung auf 27 Mitgliedstaaten ins Leben rief. Konfrontiert mit dem Albtraum von 27 verschiedenen Aktienmärkten und einer Vielzahl von Bilanzierungsre- geln suchte sie die Hilfe einer Ad-hoc-Gruppe von Beratern aus den vier gro- ßen transnationalen Accounting-Firmen. In den Folgejahren mutierte diese Gruppe geräuschlos zu einer amtlichen Agentur, dem IASB eben. Nach wie vor mit Talenten der Großen vier besetzt, bestimmt sie seither die Regeln für 55 Mitgliedstaaten, für ganz Europa, aber auch für Australien. Amtliche Würden erlangte der IASB aufgrund der Bemühungen eines nicht gewählten EU-Kommissars, eines neoliberalen Iren namens Charlie MacCreevy, auch er ein gecharterter Berater. Der ganze Vor- gang unterlag keinerlei parlamentarischer Überprüfung. Falls jemand nach- zufragen wagte, erfuhr er lediglich, dass diese Agentur „rein technischer” Natur sei. Was könnte auch langweiliger sein als Bilanzierungsregeln und -verfahren? Tatsächlich aber ist das IASB inzwischen eine mächtige Institution, die unter anderem verhindert, dass die Steuerschlupflöcher geschlossen und Steueroasen der TNCs trockengelegt werden. Um effektiv Steuern einziehen zu können, müssen die Finanzbehörden jedes einzelnen Landes die Umsatz- und Beschäftigtenzahlen, Gewinne und entrichtete Steuern kennen. Bis heute müssen transnationale Konzerne ihre Geschäftsberichte jedoch nicht „Land für Land” ausgeben. Das erlaubt es ihnen, ihre Gewinne in Ländern mit Niedrigsteuersystemen oder ganz ohne Steuern und ihre Verluste in Hochsteuerländern zu platzieren. Sie können dies nur tun, weil die Regeln maßgeschneidert dafür sind, die Offenlegung dieser Daten zu vermeiden. Die Folge: Kleine, an ihr Heimatland gebundene Unternehmen und Pri- vathaushalte mit nationaler Anschrift werden die Hauptträger der Steuerlast bleiben oder schlicht ohne die staatlichen Leistungen zurechtkommen müs- sen, die eine gerechte Besteuerung der TNCs ermöglicht hätte. So gut wie überall sind diese Konzerne Trittbrettfahrer: Polizei und Feuerwehr schüt- zen ihren Besitz, ihr Personal wird in den Schulen des jeweiligen „Stand- orts” ausgebildet und in seinen Krankenhäusern betreut; Fabrik oder Büro erreicht es mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder auf öffentlichen Straßen – und zu nichts von alledem leistet der Konzern seinen Beitrag oder – wenn doch – weit weniger, als die Gerechtigkeit es erfordern würde. Auf meine Anfrage beim IASB, ob sie eine Umstellung auf Land-für- Land-Geschäftsberichte in Betracht zögen, antwortete man mir höflich, dergleichen sei nicht geplant. Kein Wunder: Den vier großen Firmen, deren Mitarbeiter und Freunde die Regeln machen, würden viele Millionen entge-

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hen, wenn sie ihre Kunden nicht länger beraten könnten, wie sie am besten Steuerzahlungen vermeiden. Die gewöhnlichen Bürger werden weiterhin die Steuerlast tragen müssen. Steueroasen hingegen, in denen reiche Privat- leute und Konzerne nach zuverlässigen Schätzungen um die 32 Billionen US- Dollar versteckt haben, werden weiterhin florieren.

TTIP: Die Ermächtigung des Privatsektors

Das IASB ist bei weitem nicht das einzige Gremium in der EU, das sich für die Interessen der transnationalen Konzerne einsetzt. Im Juli 2013 begannen die Verhandlungen über die Transatlantische Handels- und Investitions-Part- nerschaft TTIP. Dieses Abkommen wird den größten Teil der Regeln festle- gen, welche für die Hälfte des weltweiten Bruttosozialprodukts gelten sollen – nämlich das US-amerikanische und das europäische BIP zusammenge- nommen. Schon seit 1995 befindet es sich in Vorbereitung – seit die größten TNCs beiderseits des Ozeans den Trans-Atlantic Business Dialogue (TABD) aufnahmen, um Sektor für Sektor alle Details der Regulierungspraxis in Ver- tragsklauseln zu gießen. Das Corporate Europe Observatory konnte nachweisen, dass zur Vorberei- tung der TTIP, also des geplanten transatlantischen Freihandelsabkommens, „mindestens 119 Treffen mit großen Konzernen und ihren Lobbygruppen hinter verschlossenen Türen” erfolgt waren, aber „nur eine Handvoll mit Gewerkschaften und Verbraucherorganisationen. Als die Verhandlungen im Februar 2013 bekannt gemacht wurden, hatte noch kein einziges dieser Treffen mit gemeinwohlorientierten Gruppen stattgefunden, wohl aber Dut- zende mit Unternehmenslobbyisten.“5 Dieses Ungleichgewicht besteht bis heute fort: So sind wichtige Teilnehmer der laufenden TTIP-Verhandlungen die Handelskammern und, in Europa, der European Roundtable of Industrialists (ERT); zu ihm gehören rund 50 Unternehmensvertreter, allesamt geschäftsführende Vorstandsmitglie- der. Der ERT sei „mehr als eine Lobbygruppe“, äußerte Peter Sutherland, ein ehemaliger EU-Kommissar, früherer WTO-Chef und Exdirektor von British Petroleum und Goldman Sachs. „Jedes ERT-Mitglied“, erläuterte Sutherland, „hat Zugang zu den höchsten Regierungsstellen.“ Von europäischen Regie- rungen dazu ersucht, trägt der ERT erheblich zu deren Politikentwicklung bei. Die TTIP-Unterhändler stützen sich jetzt auf Entwürfe, welche TABD, ERT und ihre amerikanischen Pendants bereitgestellt haben. Der Trans-Atlantic Business Dialogue, der den geheim gehaltenen Ver- tragstext entwarf, benannte sich später in Transatlantic Economic Council (TEC) um und beschreibt seine Aufgabe als „Abbau von Regulierungsmaß-

5 Derartige Fakten gehen aus internen Dokumenten hervor, die unter den Bedingungen der kompli- zierten Access-to-Information Rules der EU beschafft wurden. Sie stehen in schroffem Gegensatz zu dem, was die Kommission in ihren öffentlichen Fact Sheets behauptet. Darin heißt es: „Die Auf- fassungen der Zivilgesellschaft spielen eine entscheidende Rolle” bei den TTIP-Verhandlungen der EU. Das stimmt jedoch nur, wenn man die „Zivilgesellschaft” als ziemlich exklusiv auf Geschäfts- interessen beschränkt versteht.

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201406_Buch.indb 89 21.05.14 10:43 90 Susan George

nahmen zwecks Ermächtigung des Privatsektors“. Tatsächlich dreht sich die TTIP ausschließlich um dieses eine Vorhaben: Sie soll staatliche Regulierung in allen Bereichen reduzieren, die öffentlichen Dienste so weit irgend mög- lich privatisieren und nichttarifäre Handelshemmnisse beseitigen, Rege- lungen also, welche die TNCs als „Handelsstörungen” betrachten. Der TEC bezeichnet sich selbst als „politisches Gremium“, und sein Direktor verkün- det stolz, zum ersten Mal habe hier „der Privatsektor eine offizielle Rolle bei der Festlegung der EU/US-Politik” gespielt. Der TTIP-Vertrag, der bis 2015 abgeschlossen werden soll, wird Ände- rungen bei den Sicherheitsbestimmungen für Lebensmittel, Pharmazeu- tika, Chemikalien etc. beinhalten. Er wird das letzte Wort über Vorschläge zur finanziellen Stabilisierung haben und Investoren die Freiheit verschaf- fen, ihr Kapital ohne Vorankündigung abzuziehen. Er kann die Einführung neuer Steuern wie beispielsweise der Finanztransaktionssteuer blockieren und die staatlichen Möglichkeiten des Klimaschutzes, etwa durch schärfere Bestimmungen für schadstoffausstoßende Industrien, einschränken. Es wird den Staaten verboten sein, einheimische Unternehmen bei Beschaffungsvor- haben (die einen wesentlichen Bestandteil jeder modernen Volkswirtschaft ausmachen) gegenüber ausländischen zu bevorzugen. Der ganze Aushand- lungsprozess wird dabei hinter verschlossenen Türen stattfinden, ohne jeg- liche Bürgerbeteiligung.6 Kernstück aller Handels- und Investitionsschutzverträge ist heute jene Klausel, die es Unternehmen gestattet, souveräne Staaten auf Schadens- ersatz zu verklagen, wann immer sie glauben, eine staatliche Maßnahme werde ihre Gewinne, ja sogar ihre „Gewinnerwartungen” beeinträchtigen. Natürlich bleibt abzuwarten, wie viele Investor-to-State-Streitfälle die TTIP, falls sie zustande kommt, auslösen wird. Allerdings sind bereits unter den Bedingungen Hunderter schon ratifizierter bilateraler Handelsabkommen über 560 Konzernklagen gegen Staaten eingereicht worden, 62 neue Fälle allein im Jahre 2012. In mindestens einem Drittel dieser Klagen belaufen sich die Schadensersatzforderungen der betreffenden Konzerne auf 100 Mio. US- Dollar oder mehr. Dabei gilt nicht etwa das Prinzip der Gegenseitigkeit, denn Regierungen können nicht ihrerseits Unternehmen auf Schadensersatz ver- klagen, wenn diese die Öffentlichkeit oder öffentliches Eigentum schädigen. Und es sind keine regulären Gerichte, die über derartige Klagen entschei- den, sondern spezielle Schiedsgerichte mit Anwälten und Richtern, die von führenden Anwaltskanzleien, Privatfirmen also, gestellt werden, zumeist britischen und amerikanischen. Solche Anwälte berechnen durchschnittlich 1000 US-Dollar die Stunde, Schlichter verlangen 3000 Dollar pro Tag. Bislang wurde in der Mehrzahl der Fälle zugunsten der Unternehmen entschieden. Über ein Drittel der Entscheidungen bewirkte Entschädigungszahlungen von mehr als 100 Mio. Dollar, und für diese Zahlungen haben zwangsläufig die Steuerzahler des betroffenen Landes aufzukommen.7

6 Vgl. Michael Krätke, TAFTA: Das Kapital gegen den Rest der Welt, in: „Blätter“, 1/2014, S. 5-9. – D. Red. 7 Vgl. Pia Eberhardt, Konzerne versus Staaten: Mit Schiedsgerichten gegen die Demokratie, in: „Blätter“, 4/2013, S. 29-33. – D. Red.

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Die UNO im Visier der Konzerne

Die TNCs haben allerdings nicht nur die USA und die EU, sondern auch die Vereinten Nationen im Visier – und dort wird ihre Präsenz ebenfalls begrüßt. So gibt es bei der UNO mittlerweile unter dem Namen „Global Compact” eine eigene Sektion für Unternehmen, die vor etwa 15 Jahren von Kofi Annan und dem seinerzeitigen Nestlé-Chef gegründet wurde. Um dort Mitglied zu werden, muss ein Unternehmen lediglich 15 Grundsätzen in den Bereichen Menschen- oder Arbeitnehmerrechte und Umwelt beipflichten. Obwohl von ihnen erwartet wird, dass sie Tätigkeitsberichte vorlegen, werden diese von den Vereinten Nationen nie überprüft. Hingegen ist sichergestellt, dass in jeder der großen UN-Agenturen wie FAO, WHO oder UNESCO ein hoch- rangiger Beamter sich um koordinierte und erleichterte Zusammenarbeit mit den betreffenden Unternehmen kümmert. Die dem Global Compact angehörenden Konzerne, die Mitglieder des World Business Council for Sustainable Development sowie diverse weitere Unternehmervereinigungen und Handelskammern fanden sich zuhauf bei dem Spektakel ein, das die UNO im Sommer 2012 als Umweltkonferenz Rio+20 veranstaltete. Manchen Berichten zufolge wurde die Konferenz von diesen Leuten regelrecht übernommen. Die Unternehmerseite stellte die größte Delegation und veranstaltete das größte Event, passenderweise „Busi- ness Day” genannt. Der Ständige Vertreter der Internationalen Handelskam- mer bei den Vereinten Nationen – dieser firmiert tatsächlich wie der Ständige Vertreter eines Mitgliedslandes! – erklärte dort unter tosendem Applaus: „Wir sind [...] die größte Wirtschaftsdelegation, die je an einer UN-Konferenz teilnahm. [...] Die Wirtschaft muss die Führung übernehmen, und wir über- nehmen die Führung.“ Die TNCs fordern jetzt ihre förmliche Beteiligung an den UN-Klimaverhandlungen. Und die Sache kommt gut voran, kein Zweifel. Die UN-Klimakonferenz 2013 in Warschau im November des vergangenen Jahres war regelrecht zuge- pflastert mit den Logos zahlreicher Erdöl- und Bergbaukonzerne und ebenso von Firmen wie der Fluggesellschaft Emirates oder führenden Autoprodu- zenten wie General Motors und BMW; diese UN-Konferenz unter dem Titel COP 19 oder 19. Vertragsstaatenkonferenz war die erste, die Konzerne als Sponsoren einlud und willkommen hieß. In Polen basiert die Energieerzeu- gung zu 80 bis 90 Prozent auf Kohle, und die polnische Regierung nutzte die Gelegenheit – nicht sonderlich subtil –, parallel zu einer Konferenz der World Coal Association einzuladen. Dort hielt Christiana Figueres, Spitzenverant- wortliche der UN-Klimakonferenz, eine Grundsatzrede. Erfolgreicher hätte es aus Sicht der TNCs nicht laufen können.

Wer regiert heute?

Umso mehr jedoch die illegitime Macht der Konzerne über alle Grenzen hin- aus anwächst, desto mehr nimmt die demokratische Legitimität ab. In einer

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201406_Buch.indb 91 21.05.14 10:43 92 Susan George

Demokratie herrscht Volkssouveränität, die Zustimmung der Regierten. Die Letztentscheidung liegt demnach bei den Bürgerinnen und Bürgern. Sie brauchen nicht nur gewählte Volksvertreter, sondern müssen auch das Recht und die Möglichkeit haben, zur Politik der Regierung ebenso gut „Nein” sagen zu können wie „Ja“. Dieses Recht untergraben die TNCs gezielt. Dabei ist es keine sonderlich neue Erkenntnis, dass Regierungen seit jeher im Sinne bestimmter Klassen- interessen gehandelt haben. Etwas ganz anderes aber ist es, diesen Inte- ressengruppen zu gestatten, die Gesetze selbst zu schreiben und die Poli- tik direkt in die Hand zu nehmen – die Haushalts-, Steuer-, Arbeitsmarkt-, Sozial- und Umweltpolitik eingeschlossen – und sich so an die Stelle der gewählten Parlamentarier und öffentlichen Bediensteten zu setzen. Und es ist gleichfalls etwas durchaus anderes zuzulassen, dass Privatunternehmen vorsätzlich täuschen und Lügen verbreiten können und so das Recht der Öffentlichkeit auf Wahrheit aushöhlen. Die Ursache für diesen Wandel liegt auf der Hand: Die Demokratie hat mit dem Tempo der Globalisierung nicht Schritt gehalten. Sowohl auf nationa- ler als auch auf internationaler Ebene wird heute Macht ohne die Zustim- mung der Regierten ausgeübt. Man gesteht den Menschen kaum die Mittel zu, die es ihnen ermöglichen könnten zu verstehen, wer tatsächlich entschei- det – und was. Regierungen können von den Wählern bestraft, politisch Ver- antwortliche aus ihren Ämtern entfernt werden. Konzerne hingegen üben Macht aus, ohne entsprechenden Rechenschaftspflichten zu unterliegen. Wirtschaftsunternehmen operieren nicht nur außerhalb der Reichweite öffentlicher Kontrolle durch Wahlen, sie verschaffen sich sogar Privilegien wie den Rechtsstatus „natürlicher Personen“ in den USA (personhood) oder die Quasi-Vollmitgliedschaft in den Vereinten Nationen. Dabei sind es nicht allein ihre Größe oder ihr enormes Geld- und Sachver- mögen, die die TNCs zu einer Gefahr für die Demokratie machen. Vielmehr stellen auch ihre Konzentration, ihr Vermögen, Regierungen zu beeinflussen und oft regelrecht zu infiltrieren, eine Gefahr dar, ebenso wie ihre Fähigkeit, als eigenständige internationale Gesellschaftsklasse zu handeln, die private Geschäftsinteressen gegen das Gemeinwohl durchzusetzen versucht. Jene, die nach Ausübung illegitimer Macht streben, zielen dabei zum einen auf eine neuartige Legitimität für das alternative, ganz von ihnen selbst bestimmte System ab; zum anderen liquidieren sie Konzepte wie das des öffentlichen Interesses, des öffentlichen Dienstes, des Sozialstaats und des Gemeinwohls. Davon versprechen sie sich Zugewinne sowohl an Geld als auch an Macht für die Konzerne sowie für deren Zwecke maßgeschneiderte Regeln. Am Ende könnten sie die Verfassungsformel von der Regierung „des Volkes durch das Volk und für das Volk” ersetzen durch eine Regierung „der Konzerne durch die Konzerne und für die Konzerne“. Bürgerinnen und Bür- ger, denen an der Demokratie liegt, können diese Entwicklung nicht straflos ignorieren.

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201406_Buch.indb 92 21.05.14 10:43 Geheimwaffe TTIP: Der Ausverkauf der öffentlichen Güter Von Thomas Fritz

ie Verteidiger der öffentlichen Dienstleistungen sind Kummer gewohnt. D Nicht nur auf nationaler Ebene führen sie einen permanenten Abwehr- kampf gegen Privatisierung und Liberalisierung, sondern auch auf europä- ischem und internationalem Parkett. Während die Europäische Kommission ein Richtlinienpaket nach dem anderen schnürt, um die öffentlichen Sekto- ren einzudampfen, ergänzt sie ihre Angriffe mit einer ganzen Reihe inter- nationaler Freihandelsverträge. Von den zahlreichen Handelsabkommen, über die sie derzeit verhandelt, birgt jenes mit den USA die größten Risiken für die Daseinsvorsorge. Aufgrund ihrer hohen wirtschaftlichen Bedeutung kann die „Transatlantic Trade and Investment Partnership“ TTIP die öffentli- chen Dienste nicht nur in der EU und den USA, sondern auch im Rest der Welt unter Druck setzen.1 Wie viele andere Handelsverträge auch, ist TTIP eine Antwort auf den langjährigen Stillstand der Doha-Runde der Welthandelsorganisation WTO. Auch bei der letzten WTO-Ministerkonferenz im Dezember 2013 in Bali gelang nur eine Einigung auf einzelne weniger strittige Punkte, die aus dem weit umfangreicheren Verhandlungspaket der Doha-Runde ausgeklammert wurden. Zu den strittigen Bereichen gehören auch die Dienstleistungen, deren Liberalisierung durch das WTO-Abkommen GATS (General Agree- ment on Trade in Services) vorangetrieben werden soll. Mit einer Flut an bilateralen Abkommen versuchen einzelne Länder, den Stillstand auf der multilateralen Ebene zu umgehen. TTIP ist nur eines davon. Zusätzlich zu all den bilateralen Verträgen startete eine Gruppe von WTO-Mitgliedern, die sich selbst „Really Good Friends of Services“ nennt, 2012 Verhandlungen über ein plurilaterales Dienstleistungsabkommen, das „Trade in Services Agreement“ TISA. An dieser Koalition der Willigen nehmen derzeit 23 Parteien teil, darunter neben EU und USA noch weitere Industrie- und einige Entwicklungsländer.2 Wie konzentrische Kreise legen sich all diese Abkommen um die globalen Dienstleistungssektoren, doch von TTIP versprechen sich die Unterhänd-

1 Vgl. auch: Thomas Fritz, TTIP: Die Kapitulation vor den Konzernen. Eine kritische Analyse der Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft, hg. von PowerShift e.V., Berlin 2014. 2 Scott Sinclair und Hadrian Mertins-Kirkwood, TISA contra öffentliche Dienste. PSI Spezial: Das Abkommen zum Handel mit Dienstleistungen (TISA) und die Agenda der Konzerne, hg. von Public Services International (PSI), 28.4.2014.

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ler besonders weitreichende Marktöffnungen. Wie der Generaldirektor für Handel der EU-Kommission, Jean-Luc Demarty, betonte, sollen die TTIP- Verpflichtungen noch über TISA hinausgehen. „Die an TISA teilnehmenden Länder sind zu heterogen, um das Anspruchsniveau der TTIP zu erreichen.“ Marktzugang in sensiblen Sektoren, tiefe regulatorische Kooperation oder die grenzüberschreitende Arbeitsmobilität: „All dies ist nur vorstellbar in einer Beziehung, die so tief ist wie die transatlantische“, so Demarty.3 Die Parallelität der Verhandlungen aber verleiht EU und USA die Möglich- keit, ihre TTIP-Kompromisse anschließend auch gegenüber Dritten durch- zusetzen. Gelingt ihnen eine bilaterale Einigung, steigen die Chancen, ihre Positionen auch im größeren Rahmen der TISA-Verhandlungen zur Geltung zu bringen. Dank ihrer enormen wirtschaftlichen Macht könnten sie oppo- nierende Regierungen mit einem transatlantisch abgestimmten Vorgehen auf Linie bringen. Zu ihren Druckmitteln könnten dabei auch koordinierte Handelssanktionen gehören.

Öffentliche Dienste in Gefahr

In Europa erfolgen die TTIP-Verhandlungen vor dem Hintergrund der har- ten Auseinandersetzung zwischen den zahlreichen Bürgerinitiativen, die die Daseinsvorsorge als öffentliches Gut verteidigen, und einer EU-Kommis- sion, die keine Möglichkeit auslässt, öffentliche Dienstleistungen in private Hände zu legen und bereits vollzogene Privatisierungen unumkehrbar fest- zuschreiben. In konzertierter Form setzt die EU-Kommission dabei ihre Ini- tiativkompetenz sowohl für Binnenmarktregulierungen als auch für interna- tionale Handels- und Investitionsverträge ein. Zudem nutzt sie aggressiv die Gunst der Stunde, die sich ihr durch die Finanzkrise und den neoliberalen Austeritätskurs bietet, welcher derzeit mit Hilfe eines ganzen Maßnahmen- bündels von den südeuropäischen Krisenländern auf die gesamte EU ausge- dehnt wird, darunter vor allem der Fiskalpakt mit seiner Schuldenbremse.4 Mit ihrem Liberalisierungskurs versucht die Kommission daneben den vor allem auf kommunaler Ebene starken Trend zur Revision vielfach geschei- terter Privatisierungen aufzuhalten. So erlebt Deutschland im Zuge von Rekommunalisierungen eine wahre Gründungswelle öffentlicher Unterneh- men, dies vor allem im Energiebereich, wo seit 2007 mehr als 83 Stadtwerke neu gegründet und zahlreiche Verteilnetze von den Kommunen übernom- men wurden.5 Weitere Rekommunalisierungsbeispiele finden sich im Was- ser-, Abfall- und Nahverkehrsbereich.6 Und selbst bei den Krankenhäusern scheint der Privatisierungstrend zumindest gebrochen. Dies alles aber sind

3 Inside US Trade 2013: Official: EU seeks more ambitious outcome on services in TTIP than TISA, IUST, Nr. 44, 8.11.2013. 4 Joseph Zacune, Privatising Europe – Using the Crisis to Entrench Neoliberalism, Transnational Ins- titute TNI, Amsterdam, März 2013. 5 Vgl. Verband kommunaler Unternehmen, Kommunale Energiewirtschaft. Stadtwerk der Zukunft IV: Neue Wege für Kommunen und kommunale Energieversorgungsunternehmen, www.vku.de. 6 Rekommunalisierung – Die Renaissance der Stadtwerke, in: „Böckler Impuls“, 9/2013.

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schlechte Nachrichten für die Kommission und ihre Freunde in der Privat- wirtschaft. Dennoch behauptet die EU-Kommission unermüdlich, TTIP habe nichts mit der Privatisierung und Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen zu tun.7 Dann aber stellt sich die Frage, warum diese nicht gleich aus dem Verhandlungsmandat ausgeklammert wurden, das der Europäische Rat der Kommission im Juni 2013 erteilte. Dieses nämlich verdeutlicht ganz im Gegenteil, dass öffentliche Dienste sehr wohl in erheblichem Maße unter Druck kommen können. So verfolgt die EU laut Mandat das Ziel, Dienstleis- tungen „auf dem höchsten Liberalisierungsniveau“ zu binden, das EU und USA in all ihren bisherigen Freihandelsabkommen eingegangen sind. Fer- ner sollen „im Wesentlichen alle Sektoren und Erbringungsarten“ erfasst und gleichzeitig „neue Marktzugangsmöglichkeiten“ erschlossen werden. Die einzigen explizit ausgeschlossenen Bereiche dagegen sind „audiovisu- elle Dienste“ sowie Dienstleistungen, „die in Ausübung hoheitlicher Gewalt erbracht werden“. Der Großteil der Daseinsvorsorge bleibt damit aber Ver- handlungsgegenstand.8

Keine Entwarnung für die Kultur: Das Ende der Buchpreisbindung?

Auch die Kultur ist davon nicht ausgenommen. Dabei haben Kulturschaf- fende und speziell die französische Regierung hart gefochten, um kulturelle und audiovisuelle Dienste aus dem TTIP auszuklammern. Doch konnten sie letztlich nur eine vorläufige Ausnahme für die audiovisuellen Dienste errei- chen, die Filme, Videos, Musik, Radio und Fernsehen betreffen. Die Film- förderung, die Finanzierung öffentlich-rechtlicher Medien oder die Quoten- regelungen zugunsten der Ausstrahlung europäischer Filme dürften somit vorerst kein Verhandlungsgegenstand sein. Für den übrigen Kulturbereich gilt dies aber nicht. Zwar sollen die EU-Mitgliedstaaten laut Mandat „nicht an der Weiterführung bestehender Politiken und Maßnahmen zur Unterstüt- zung des kulturellen Sektors“ gehindert werden,9 da die Kultur aber nicht ausgenommen wurde, bleibt die Unsicherheit, inwieweit die Buchpreisbin- dung, der ermäßigte Mehrwertsteuersatz auf Kulturgüter oder die öffentli- che Kulturförderung für Theater, Museen und Bibliotheken nicht doch ins Visier der Unterhändler geraten. Speziell die Buchpreisbindung ist amerikanischen Internetkonzernen wie Google, Amazon oder Apple schon lange ein Dorn im Auge, denn sie garantiert, dass ein gedrucktes Buch in Deutschland zum selben Preis ver- kauft werden muss wie ein E-Book. Würde sie fallen, könnten die US-Multis ihre E-Books billiger anbieten und den Absatz der elektronischen Lesege- räte noch weiter ankurbeln. Die Folge eines solchen Preiskampfes aber wäre

7 European Commission, EU-US-Trade Agreement – The Facts, 27.2.2014. 8 Rat der Europäischen Union, Leitlinien für die Verhandlungen über die transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika, Brüssel 17.6.2013, 11103/13. 9 Ebd.

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nicht nur ein forciertes Buchhändlersterben, sondern auch eine geringere Vielfalt des Buchangebots, da sich die Onlinehändler weit stärker auf die Vermarktung der lukrativen Bestseller konzentrieren.10 Doch auch für den audiovisuellen Sektor kann noch keine endgültige Entwarnung gegeben werden. So bekräftigte der US-Handelsbeauftragte Michael Froman, dass er weiterhin Verhandlungen über audiovisuelle Dienste gegenüber der EU einfordert: „Wir werden uns in diesen Verhandlungen aggressiv für alle unsere Dienstleistungsanbieter einsetzen, einschließlich der Film- und Fernsehindustrie.“11 Auch die EU-Kommission denkt gar nicht darin, sich geschlagen zu geben. In ihrer Pressemitteilung zur Mandatsertei- lung schreibt sie: „Die audiovisuellen Dienstleistungen werden nicht ausge- klammert.“ Vielmehr seien sie im Mandat nur „vorläufig ausgespart“ worden. Die Kommission könne dem Rat „zu einem späteren Zeitpunkt ergänzende Verhandlungsrichtlinien vorlegen“.12 Über diese Hintertür könnte die Kom- mission die audiovisuellen Dienste also wieder auf die Agenda setzen.

Nebelbombe Hoheitsklausel und die kommende Wasserliberalisierung

Auch der Mandatsverweis auf die „in hoheitlicher Gewalt“ erbrachten Dienstleistungen bietet kaum Schutz, denn dieser bezieht sich auf die sehr enge Interpretation des GATS-Abkommens der WTO. Nach Artikel I Absatz 3 des GATS werden hoheitliche Aufgaben nämlich „weder zu kommerziel- len Zwecken noch im Wettbewerb mit einem oder mehreren Dienstleistungs- erbringern“ erbracht. Öffentliche Dienste sind insofern in keinster Weise von den TTIP-Verhandlungen ausgenommen, da in nahezu allen Bereichen der Daseinsvorsorge private Unternehmen auf den Markt getreten sind und somit Wettbewerbssituationen vorliegen, sei es bei Stadtwerken, Bahn, Post, Bildung, Gesundheit, der Kranken- oder Rentenversicherung. Zu den weni- gen tatsächlich ausgenommenen hoheitlichen Bereichen dürften das staat- liche Justizwesen oder die Tätigkeiten der Zentralbank zählen.13 Die gleiche Unsicherheit gilt auch für den öffentlichen Wassersektor. In einem PR-Papier beteuert die Kommission, „Wasserversorgung ist und wird nicht Teil der TTIP-Verhandlungen sein.“14 Doch im Mandat findet sich keine diesbezügliche Ausnahme, und über den Umgang mit der Abwasserbesei- tigung und dem Gewässerschutz, die ebenfalls zum Aufgabenspektrum öffentlicher Unternehmen gehören, schweigt sich die Kommission aus. In ihrem Papier ist weiterhin zu lesen: „Die EU wird das Recht von Gemeinden, die Wasserversorgung als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge anzubieten,

10 Birgit Reuß, Bauernopfer Buchhandel? Das geplante Freihandelsabkommen wird zum Kulturkiller, in: „Politik & Kultur“, Juli-August 2013, S. 9. 11 Vgl. http://big.assets.huffingtonpost.com/FromanWaysandMeansResponse.pdf. 12 Europäische Kommission, Mitgliedstaaten billigen bilaterale Handels- und Investitionsverhand- lungen zwischen der EU und den USA, Memo, Brüssel, 14.6.2013. 13 Markus Krajewski, Potentielle Auswirkungen des transatlantischen Freihandelsabkommens (TTIP) auf die kommunale Organisationsfreiheit im Bereich Wasserver- und Abwasserentsorgung, Kurzgutachten im Auftrag des Verbandes kommunaler Unternehmen e.V. (VKU), 11.2.2014. 14 European Commission, Wasserversorgung – kein Bestandteil der TTIP-Verhandlungen, 20.12.2013.

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nicht zur Verhandlung stellen. Wir haben dies in der Vergangenheit nicht getan und werden es auch in der Zukunft nicht tun.“15 Hier aber unterschlägt die Kommission ihre Forderungen an die Verhand- lungspartner. So sickerten schon vor zehn Jahren Verhandlungsdokumente durch, in denen sie im Rahmen der Doha-Runde von 72 Staaten die Liberali- sierung der Trinkwasserversorgung forderte.16 Ebenso verlangte sie in den aktuellen Freihandelsverhandlungen mit Kanada (CETA), dass die Aus- schreibungen sämtlicher kommunalen Trinkwasserversorger für europä- ische Anbieter zu öffnen seien.17 Die wettbewerbliche Ausschreibungspflicht aber ist ein wichtiger Hebel für die schleichende Privatisierung von Versor- gungsleistungen und die Ausbreitung öffentlich-privater Partnerschaften. Zu Recht fürchten daher US-amerikanische Nichtregierungsorganisa- tionen, dass die EU im TTIP entsprechende Liberalisierungsforderungen auch an die Adresse der USA richten wird, zumal die großen europäischen Wassermultis sich längst auf dem US-Markt tummeln. Die beiden französi- schen Konzerne Veolia Environnement und Suez Environnement sowie die britische Severn Trent gehören zu den fünf größten Wasserunternehmen der USA. Diese könnten, so die Warnung der Organisation Food & Water Watch, mit Entschädigungsklagen vor den in TTIP vorgesehenen internationalen Schiedstribunalen gegen staatliche Gebührendeckelungen, Umweltaufla- gen oder Rekommunalisierungen vorgehen.18 Diese völlig intransparenten und zutiefst undemokratischen Investor- Staat-Schiedstribunale räumen international tätigen Unternehmen ein Son- derklagerecht ein, mit dem sie die nationale Gerichtsbarkeit umgehen kön- nen. Inländischen Unternehmen dagegen steht dieser Klageweg nicht offen. Die Schiedsverfahren finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, die Urteile gelten unmittelbar, ohne irgendeine Berufungsinstanz. Die Tribunale setzen sich nicht aus unabhängigen Richtern zusammen, sondern aus einem kleinen Kreis von Anwälten internationaler Kanzleien, der das überaus luk- rative Schiedsgeschäft dominiert.19

„List it or lose it“: Der Wechsel zur Negativliste

Die Abwiegelei der EU-Kommission ist auch hinsichtlich der europäischen Daseinsvorsorge überaus unglaubwürdig. So schreibt die Brüsseler Behörde

15 Ebd. 16 Thomas Fritz, Der Griff nach dem Wasser: GATS gefährdet die Wasserversorgung im Süden, BLUE 21 Arbeitspapier, Berlin, Februar 2004. Die durchgesickerten GATS-Forderungen der EU können hier eingesehen werden: www.gatswatch.org/requests-offers.html. 17 Scott Sinclair, Negotiating from Weakness: Canada-EU trade treaty threatens Canadian purchasing policies and public services, Canadian Centre for Policy Alternatives, Ottawa, April 2010. 18 Food & Water Watch, TAFTA: The European Union’s Secret Raid on US Public Water Utilities, Fact Sheet, November 2013. 19 Pia Eberhardt und Cecilia Olivet, Profiting from injustice: How law firms, arbitrators and financiers are fuelling an investment arbitration boom, CEO/TNI, Brüssel und Amsterdam, November 2012; vgl. auch Pia Eberhardt, Konzerne vs. Staaten: Mit Schiedsgerichten gegen die Demokratie, in: „Blätter“, 4/2013, S. 29-33 und Michael R. Krätke, TAFTA: Das Kapital gegen den Rest der Welt, in: „Blätter“, 1/2014, S. 5-9.

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in ihrem PR-Papier, sie habe dem GATS-Modell folgende „horizontale Vorbe- halte“ in alle ihre bisherigen bilateralen Freihandelsabkommen eingetragen, was den Schutz der Daseinsvorsorge erlaube.20 Doch wird es diese Schutz- klauseln in der bisherigen Form gar nicht mehr geben, denn mit TTIP voll- zieht die EU einen Bruch mit dem GATS-Modell. Im Februar 2014 nämlich einigte sich die Kommission mit den USA dar- auf, den Liberalisierungsmodus des GATS, der mit sogenannten Positivlisten erfolgt, aufzugeben und stattdessen das US-Modell der Negativlisten anzu- wenden, das die EU auch schon im CETA-Abkommen praktiziert.21 Beim Positivlistenansatz werden nur jene Dienstleistungssektoren in die EU-Liste von Liberalisierungsverpflichtungen eingetragen, in denen die Europäer zu Zugeständnissen bereit sind. Anders im Negativlisten-Ansatz: Hier gelten grundsätzlich alle Dienstleistungssektoren als geöffnet, während Bereiche, die weiter geschützt bleiben sollen, einzeln aufzulisten sind (daher auch zynisch, aber realistisch, „list it or lose it“ genannt). Alle Sektoren, die nicht aufgelistet werden, unterliegen dann der TTIP-Deregulierung. Liberalisierungsausnahmen, das heißt gegen das Abkommen versto- ßende Regulierungen, können im Negativlistenansatz in zwei verschiedene Anhänge eingetragen werden. Anhang I bietet nur sehr wenig Flexibilität, denn er erfasst nur aktuelle Regulierungsmaßnahmen und keine zukünfti- gen. Zudem dürfen die hier gelisteten Maßnahmen nur „liberaler“ und nicht handelsbeschränkender ausgestaltet werden. Lockert ein EU-Land etwa die Lizenzvergabe für private Dienstleister (beispielsweise Kliniken, Universitä- ten, Banken, Versicherungen, Ver- und Entsorger), könnte es dies zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr rückgängig machen. Anhang I wirkt insofern wie eine Sperre („ratchet“), die auch Rekommunalisierungen oder Rückver- staatlichungen verhindert.22 Nehmen Regierungen danach dennoch Privatisierungen zurück, riskieren sie Klagen vor den internationalen Schiedstribunalen. Diese haben Investo- ren schon in zahlreichen Fällen angerufen, in denen Regierungen frühere Privatisierungsmaßnahmen revidierten. So klagte etwa der niederländische Versicherer Achmea erfolgreich vor dem Investitionstribunal der Internatio- nalen Handelskammer in Paris gegen die Slowakische Republik, nachdem diese das Geschäft privater Krankenversicherungen zurückdrängte. Die slo- wakische Regierung verlangte von den Privatversicherungen, sich den Groß- teil ihrer Profite nicht mehr privat anzueignen, sondern zugunsten ihrer Kun- den zu reinvestieren.23 Mehr Flexibilität der TTIP-Negativliste könnte aber der Anhang II bieten, in dem die Unterhändler zukünftig zu ergreifende Maßnahmen eintragen und der gegebenenfalls auch die Rücknahme bisheriger Liberalisierun-

20 European Commission, Wasserversorgung – kein Bestandteil der TTIP-Verhandlungen, 20.12.2013. 21 Ben Hancock, De Gucht Signals TTIP Talks Have Made Little Headway on EU Priorities, Inside US Trade, 8/2014, 21.2.2014. 22 Markus Krajewski, Potentielle Auswirkungen des transatlantischen Freihandelsabkommens (TTIP) auf die kommunale Organisationsfreiheit im Bereich Wasserver- und Abwasserentsorgung, Kurzgutachten im Auftrag des Verbandes kommunaler Unternehmen e.V. (VKU), 11.2.2014. 23 Beata Balogová, Slovakia owes Achmea millions, court rules, The Slovak Spectator, 17.12.2012.

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gen erlaubt. Doch ist zu erwarten, dass die Kommission einiges daran set- zen wird, die Liste von Anhang-II-Ausnahmen möglichst kurz zu halten. So hat sie bereits 2011 in einem „Reflexionspapier“ dargelegt, dass sogenannte Netzwerk-Industrien, dazu zählte sie Telekommunikation, Energieversor- gung, Verkehr, Post und Umweltdienstleistungen, in ihren künftigen Frei- handelsabkommen nicht mehr in den Genuss der traditionellen Schutzklau- sel kommen sollen.24 Genau in den Bereichen also, in denen Bürgerinitiativen derzeit Rekommunalisierungsinitiativen starten (vor allem Energie, Wasser, Abwasser, Verkehr), will sie die Liberalisierung in den Handelsverträgen unumkehrbar festschreiben.25

Transatlantischer Ausschreibungszwang

Risiken für die Daseinsvorsorge können schließlich auch durch TTIP-Be- stimmungen zum öffentlichen Beschaffungswesen entstehen. Öffentliche Aufträge sind von enormer wirtschaftlicher Bedeutung: In der EU belaufen sie sich auf rund 16 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.26 Es ist daher wenig verwunderlich, dass der unbeschränkte Zugang zu diesen Aufträgen zu den überragenden Zielen der Konzerne gehört. Zu ihrer Freude kündigt das EU- Verhandlungsmandat an, das TTIP-Abkommen werde einen „verbesserten beiderseitigen Zugang zu den Beschaffungsmärkten auf allen Verwaltungs- ebenen (national, regional, lokal)“ anstreben. Ferner soll es über das erst kürzlich revidierte plurilaterale WTO-Beschaffungsabkommen hinausge- hen (Government Procurement Agreement GPA), zu dessen 15 Unterzeich- nern auch die EU und die USA gehören.27 Schon seit Jahren schnürt die Kommission alle öffentlichen Auftraggeber – von der Bundes-, über die Landes-, bis zur kommunalen Ebene – in ein immer engeres Korsett, das sie oberhalb bestimmter Auftragswerte zur europaweiten Ausschreibung von Liefer-, Dienstleistungs- und Bauaufträgen zwingt. Der Ausschreibungszwang aber engt immer mehr die Möglichkeiten ein, staatli- che Aufträge an öffentliche, kommunale oder lokal verankerte Unternehmen zu vergeben. Stattdessen kommen durch die wettbewerblichen Vergabever- fahren immer mehr in- und ausländische Konzerne zum Zuge. Der Ausschrei- bungszwang wirkt so als ein effektiver Hebel zur (Teil-)Privatisierung und zur Durchsetzung öffentlich-privater Partnerschaften. Hinzu kommt, dass in den Vergabeverfahren meist das billigste Angebot den Zuschlag erhält, was häu- fig nur durch Sozial- und Umweltdumping möglich ist.28

24 European Commission, Reflections Paper on Services of General Interest in Bilateral FTAs, Directo- rate-General for Trade, 2011. 25 Vgl. zur Kritik an Privatisierungen der öffentlichen Daseinsvorsorge auch: Werner Rügemer, Der Ruin der Kommunen: Ausverkauft und totgespart, in: „Blätter“, 8/2012, S. 93-102. 26 Vgl. Public procurement in a nutshell. Why does public procurement matter in international trade?, http://ec.europa.eu. 27 Rat der Europäischen Union, Leitlinien für die Verhandlungen über die transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika, Brüssel 17.6.2013, 11103/13. 28 Thorsten Schulten et al., Pay and Other Social Clauses in European Public Procurement, Düsseldorf 2012.

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201406_Buch.indb 99 21.05.14 10:43 100 Thomas Fritz

In der Auseinandersetzung um das jüngst beschlossene Richtlinienpaket zum EU-Vergabewesen indes konnten soziale Bewegungen und Gewerk- schaften einige Verbesserungen durchsetzen. Vor allem auf Druck der erfolgreichen Europäischen Bürgerinitiative „Wasser ist ein Menschenrecht“ wurde der Wassersektor aus der Konzessionsrichtlinie ausgeklammert.29 Auch darf die öffentliche Hand Ausschreibungen nun an manche soziale und ökologische Kriterien koppeln, wie beispielsweise die Einhaltung von Tarif- verträgen oder den Nachweis von Nachhaltigkeitslabels.30 Ein restriktiveres TTIP-Beschaffungskapitel aber könnte diese partiellen Fortschritte wieder zunichte machen. Vor allem wäre es eine Hürde bei dem Versuch, weitere sozial-ökologische Reformen des Vergaberechts durchzusetzen, etwa eine verbindliche Auflage, den Zuschlag nicht allein aufgrund des billigsten Angebots erteilen zu dürfen. Auch Forderungen nach höheren Schwellenwerten für die Ausschrei- bungspflicht könnte die Kommission mit Verweis auf TTIP künftig abschmet- tern, wie dies ähnlich bereits beim Streit um die Konzessionsrichtlinie geschah. So ließ sich die Forderung des EP-Binnenmarktausschusses, den Schwellenwert für die europaweite Ausschreibung von Dienstleistungskon- zessionen von fünf auf acht Mio. Euro zu erhöhen, wegen der Verpflichtun- gen aus dem WTO-Beschaffungsabkommen GPA nicht durchsetzen.31 Für TTIP fordern Industrieverbände wie Business Europe nun weitere Verschär- fungen: Das Freihandelsabkommen solle darauf abzielen, „die existierenden Schwellenwerte zu senken und über die GPA-Verpflichtungen hinauszuge- hen“. 32 Setzt sich die Industrie durch, könnten folglich noch mehr Aufträge unter Ausschreibungszwang geraten. „Die Reduzierung der Staatsaufgaben auf hoheitliche Kernaufgaben und die Übertragung vieler öffentlicher Auf- gaben an Private wären kaum noch aufzuhalten“, befürchtet deshalb der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, Frank Bsirske.33 Angesichts dieser Risiken ist es erfreulich, dass die Kritik an TTIP eine immer größere Öffentlichkeit findet und der zivilgesellschaftliche Wider- stand an Breite gewinnt. Doch bleibt noch einiges zu tun. Denn noch ist die kritische Masse nicht erreicht, um TTIP wirklich zu verhindern. Und nur das kann das Ziel sein, wenn die von diesem Abkommen ausgehende Gefahr für die öffentliche Daseinsvorsorge effektiv gebannt werden soll. Es bedarf eines Endes dieser intransparenten Verhandlungen – auch und nicht zuletzt, um die Demokratie vor dem Allmachtsanspruch der Konzerne zu schützen.

29 Vgl. www.right2water.eu/de. 30 Network for Sustainable Development in Public Procurement, New EU Directive a step forward for green and social public procurement, Pressemitteilung, 15.1.2014. 31 Josef Weidenholzer, Konzessionsrichtlinie: Verhandlungen abgeschlossen, www.weidenholzer.eu, 16.9.2013. 32 Businesseurope, Public Procurement in the Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP), Position Paper, 11.12.2013. 33 Frank Bsirske, Marktwirtschaftliche Liberalisierung versus sozialstaatliche Regulierung: Zu den Risiken und Chancen des TTIP aus der Sicht der Gewerkschaften, in: Ska Keller (Hg.), TTIP: Das Freihandelsabkommen mit den USA in der Kritik, S. 45-51.

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201406_Buch.indb 100 21.05.14 10:43 Jogo bonito, das schöne Spiel: Fußball als Utopie Von Detlev Claussen

artin Walser zufolge „gibt es nichts Sinnloseres als Fußball – außer M Nachdenken über Fußball“. Aus diesem Satz spricht die Ahnungs- losigkeit des Bildungsbürgers von einem gesellschaftlichen Bereich, den er verachtet. Weniger überhebliche Menschen erfanden die zum short century1 passende Formel vom Fußball „als der wichtigsten Nebensache der Welt“. Fußball ist dank der Ausbreitung des Fernsehens zum Weltzuschauersport Nr. 1 geworden. Das WM-Endspiel ist seit 1990 das Festival globaler Gleich- zeitigkeit – ein Außenseiter, wer nicht zuschaut. Insider sahen die Sache schon in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit anderen Augen. Bill Shankly, der legendäre Manager des FC Liverpool, drückte es drastisch aus: „Manche Leute glauben, Fußball ist eine Frage von Leben und Tod. [...] Ich kann Dir versichern, es ist viel, viel wichtiger als das.“ Fußball als Lebensform – für Bill Shankly (1913-1981) trifft das zu. In seiner Lebenszeit wurde Fußball zum Massensport, von dem und für den man leben konnte. An der Anfield Road, auf der Stehtribüne umgedichtete, von Massen gesungene Popsongs, auf dem Rasen die gefürchteten Reds, wurde Fußball unter seiner Regie zelebriert wie ein Hochamt, eine Mischung aus Religion und englischer Labourtradition: „You never walk alone“, ein in die Popmusik transferiertes Kirchenlied, ist die weltweite Hymne aller Fußballfans. Der Liverpooler Messias Shankly, dem schottischen Bergarbeitermilieu entstam- mend, erlebte und gestaltete die Drift des zunächst marginalen Fußballs in die Mitte der Gesellschaft. Der Liverpooler Hafen, lange zentral in der glo- balen Textilindustrie, hatte seine ökonomische Funktion verloren. Arbeits- und Hoffnungslosigkeit prägten in den 60er Jahren das städtische Leben, als die Beatles gleichzeitig mit den Reds ihre Magical Mystery Tour starteten – Vorspiel einer Globalisierungswelle, die den Fußball zum Bestandteil des serious life machten.2

* Der Beitrag entstammt dem aktuellen „Friedensgutachten“, das dieser Tage im Lit Verlag erscheint. 1 Gesellschaftsgeschichtlich unterscheide ich nach Eric Hobsbawm das long century von ca. 1750 bis 1914 als Zeitalter der ungleichzeitigen Entwicklung vom short century von 1917 bis 1990, das durch die Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit gekennzeichnet ist. Das New Age von 1990 bis heute versuche ich als Globale Gleichzeitigkeit zu charakterisieren. Vgl. Detlev Claussen, Globale Gleichzeitigkeit, gesellschaftliche Differenz, in: Detlev Claussen, Oskar Negt und Michael Werz (Hg.), Veränderte Weltbilder, Hannoversche Schriften Bd. 6, Frankfurt a. M. 2005, S. 9-29. 2 Richard Giulianotti und Roland Robertson, The Globalization of football: a study in the glocalization of the „serious life“, in: „The British Journal of Sociology“, 4/2004, S. 545-568; Dies., Mapping the

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201406_Buch.indb 101 21.05.14 10:43 102 Detlev Claussen

Fußball wichtiger als Leben und Tod? Das klingt verrückt, doch Shankly trifft etwas Substanzielles. Fußball wurde zu Beginn des long century erfunden, um die notorische Gewalt in den Erziehungsinstitutionen der englischen Oberklasse einzudämmen. Norbert Elias analysierte den Sport in seiner Zivilisationstheorie3 als „Pazifizierung und Domestizierung der grundbesit- zenden Klassen“ im England des 18. Jahrhunderts.4 Sportliche Betätigung schien den innergesellschaftlichen Frieden zu fördern. Der anglophile Baron de Coubertin (1863-1937) begründete 1896 die Olympischen Spiele – die den Fußball einschlossen – als regelmäßiges internationales Friedensfest. Para- doxerweise brachte aber erst der Große Krieg von 1914 den internationalen Durchbruch des Fußballs. Offiziere ließen Fußball spielen, um ihre Mann- schaften zum Angriff auf befestigte Stellungen zu animieren und auch, um im zermürbenden Stellungskrieg die Langeweile zu vertreiben. Den kaiser- lichen Fußball in Deutschland förderte die an der britischen Seemacht orien- tierte Marine. Sie erkannte, dass selbstständiges Agieren in sich rasch verän- dernden Situationen, eben nicht Kadavergehorsam, der Sinn dieses Spiels ist. Es hat im Krieg nicht nur die Matrosen, sondern die Massen ergriffen: Nach Kriegsende wollten sie auf Fußball nicht mehr verzichten, und der verbes- serte Lebensstandard schuf die Bereitschaft, in der neu gewonnenen Freizeit als Zuschauer Geld für Fußball auszugeben. Die feinen Leute, besonders in England, wandten sich vom Fußball ab und überließen die Stadien dem Fuß- ballvolk und seinen populären Gesängen.

„Kommerzialisierung“ greift zu kurz

Plattitüden wie „Der Fußball ist ein Spiegel der Gesellschaft“ tragen nicht. Der Fußball spiegelt nichts, und wenn, dann nur verzerrt. Er findet in der Gesellschaft statt und muss als integraler Bestandteil des serious life analy- siert werden wie Mode, Musik und Medien. Nach Robertson und Giulianotti wird er durch Kommodifizierung charakterisiert – ein präziserer Ausdruck als „Kommerzialisierung“. Der Fußball ist zur Ware geworden – das ist wahr. Aber war er das nicht schon immer? Fußball ist eine paradoxe Ware, die – ver- gleichbar mit der Kultur 5 – ganz in ihrem Gebrauch aufgeht. Der Ausdruck „Kommerzialisierung“ hätte einen konkreten Sinn, wenn er das Zur-Ware- Werden des Fußballs bezeichnen würde. Doch das Schlagwort begleitet Fußball seit seiner Professionalisierung im 19. Jahrhundert und passt ins Lamento, die Welt werde immer schlechter, und zum Glaubensbekennt-

global football field: a sociological model of transnational forces within the world game, in: ebd., 2/2012, S. 216- 240. 3 Vgl. Norbert Elias und Eric Dunning, Sport und Spannung im Prozess der Zivilisation, Frankfurt a. M. 2003. 4 Ebd., S. 309. 5 Ähnlich wie die amerikanischen Filmunternehmer begriffen sich die Verantwortlichen des Fuß- ballgeschäfts im England der 1930er Jahre als Industrielle. „Die Pools, das Transfersystem und die Zuschauereinnahmen haben den Fußball in eine nationale Industrie verwandelt“, konstatierte die „Times“ 1937 (zit. nach Dietrich Schulze-Marmeling, Fußball. Zur Geschichte eines globalen Sports, Göttingen 2000, S. 127).

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nis des kleinen Mannes: „Geld regiert die Welt“. Mit dem Eindringen des Finanz- und Risikokapitals in den Profisport drückt sich dieses Unbehagen in der Ideologie aus: „Geld schießt Tore“. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, ob nicht Otto Rehhagel doch recht hatte: „Geld schießt keine Tore!“ In der Tat ist der Fußball ökonomisch im Ernst des Lebens angekommen. Einige Ökonomen haben sich seiner angenommen, aber ihre Prognosen der fußballerischen Entwicklung sind nicht treffsicherer als ihre Vorhersa- gen über die gesellschaftliche Zukunft.6 Die Gründe für Höhen und Tiefen im Fußball sind vielfältiger Natur und nicht aus der Ökonomie abzuleiten. Geld spielt eine Rolle im modernen Fußball; aber es ist keineswegs alles. Das Bosmann-Urteil, das 1995 die freie Wahl des Arbeitsplatzes in Europa gegen die Verbände durchsetzte, hat den Fußball verändert: Die besten Spieler der Welt kommen in die europäischen Profiligen. Doch trotz Unsummen von Geld ist es großen Fußballunternehmern nicht gelungen, den Erfolg zu kau- fen. Exemplarisch dafür steht der gescheiterte Versuch des Baulöwen Pérez, mit den Galácticos den Erfolg der 50er Jahre nach Madrid zurückzuholen. Von 2000 bis 2007 verpflichtete er Weltstars wie Figo, Zidane und Beckham. Man verkaufte viele Trikots, gewann aber nur wenig Titel, Real Madrid wurde in dieser Zeit vom FC Barcelona überholt. Noch frappierender ist, wie der tiefe Fall des Medienunternehmers, Finanzbetrügers und ehemaligen Ministerpräsidenten Berlusconi den AC Mailand mit sich riss. Unterschied- liche Konstruktionen der Vereine und nationalen Verbände begünstigen sol- che Finanzspekulationen oder grenzen sie eher ein. Sicher ist nur, dass die Machtstrukturen auf dem Fußballweltmarkt undurchsichtig und ohne demo- kratische Kontrolle sind. Der Fußball eignet sich wie der Kunstmarkt ideal zur Geldwäsche. Ökonomisches Fair Play sähe anders aus. Trotz seiner zunehmenden Respektabilität gehört die Vorstellung vom Fuß- ball als Big Business in den Bereich der Phantasie. Das Klischee vermengt, was im Fußball verdient wird, mit dem, was am Fußball verdient wird.7 Im wirklichen „Milliardenspiel“8 drehen Medienunternehmer wie Kirch, Mur- doch und Berlusconi am Rande der Legalität das große Rad, das auch mal res- pektable Bankhäuser an den Rand des Abgrunds reißen kann. Die merkwür- digen Führungsgestalten der internationalen Sportorganisationen agieren in kaum durchschaubaren Netzwerken, ihre Vertreter wechseln als Eigentü- mer von Bekleidungskonzernen, Fernsehanstalten und Fußballklubs je nach finanziellem Interesse und staatsanwaltschaftlicher Verfolgungslage. Wenn es mit rechten Dingen zugegangen wäre, hätten sich Milanpräsident Berlu- sconi und Bayernpräsident Hoeneß im Gefängnis begegnen können.

6 Exemplarisch Dieter Hintermeier und Udo Rettberg, Geld schießt Tore. Fußball als globales Busi- ness – und wie wir im Spiel bleiben, München 2006. Brasilien sahen sie für die Zukunft nur als Talentlieferant und fußballerischen Rohstoffexporteur, doch sieht die Fußballwelt heute ganz anders aus als 2006 prognostiziert. 7 Simon Kuper und Stefan Szymanski, Why England lose & other curious football phenomena ex- plained, London 2009, S. 84 ff. 8 Thomas Kistner und Jens Weinreich haben den atemberaubenden Verwandlungsprozess von FIFA und IOC, repräsentiert durch ihre windigen Vorsitzenden Havelange und Samaranch, von Honora- tiorenorganisationen zu Gelddruckmaschinen am Rande der Legalität nachgezeichnet. Vgl. Tho- mas Kistner und Jens Weinreich, Das Milliardenspiel. Fußball, Geld und Medien, Frankfurt a. M. 1998.

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Vom Aristokratenspiel zum demokratischen Leistungssport

Der moderne Fußball ist ein Produkt der englischen Klassengesellschaft des long century und verdankt seine weltweite Ausbreitung dem Empire. Über- all, wo Engländer als Kauf- oder Seeleute, Soldaten oder Ingenieure agierten – und das war fast überall –, brachten sie den Fußball mit. Dessen Regeln sind während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in englischen Elite- schulen entstanden, in denen aus raubeinigen Aristokratensöhnen Gentle- men gemacht werden sollten, fähig, ein Weltreich zu führen.9 Doch das Spiel selbst besitzt ein demokratisches Potential: Jeder kann es spielen, und wer die Freude sieht, die das Spiel mit dem eigenwilligen Ball macht, möchte mit- spielen. Die kickenden Gentlemen wurden überall beobachtet und das Spiel breitete sich in allen Schichten auf der ganzen Welt aus. Priester und Pasto- ren, die mit der Industrialisierung ihren Einfluss auf die Massen schwinden sahen, erkannten den sozialisierenden Effekt eines Teamsports und gründe- ten Fußballklubs, um Kriminalität, Prostitution und Alkohol entgegenzuwir- ken. Die Rivalität von Rangers (1872 gegründet von protestantischen Studen- ten) und Celtics (1887 gegründet vom katholischen Mönch Bruder Walfrid) ist Legende, die ihren Ursprung in den Straßen von Glasgow hat. Die Vereins- geschichten spiegeln die Weiterentwicklung des Fußballs – sozial als Auf- stieg neuer bürgerlicher Eliten und Verpflichtung von Spielern aus der Arbei- terklasse, sportlich als Übergang vom dribbling zum passing game. Die Wiege des modernen Fußballs stand in Lancashire. Zwar hatten 1848 in Cambridge ehemalige Eton-Schüler die Fußballregeln kodifiziert, aber ein regelmäßiger Spielbetrieb mit Ligen und Cupwettbewerben hat erst das leistungsorientierte Bürgertum hervorgebracht. Die von Gentlemen-Fuß- ballern 1863 gegründete Football Association setzte erst 1872 einen nationa- len Wettbewerb durch: den FA-Cup. Der Pokalwettbewerb bedeutete schon einen Kompromiss mit dem unaufhaltsamen Aufstieg des Profifußballs, lehn- ten doch echte Gentlemen Pokale und jede Form von Prämien ab. Sie brauch- ten weder Schiedsrichter noch Strafstöße, ihr Fair Play schloss Foulspiel aus. Mit der Gründung von lokalen Fußballmannschaften nahmen neben Lokalrivalitäten auch Klassenrivalitäten zu. An der Spitze der jungen Klubs außerhalb der Universitätsstädte und der Londoner City standen ehrgeizige, erfolgsorientierte bürgerliche Unternehmer, denen das Leistungsprinzip in Fleisch und Blut übergegangen war, mit einer „merkwürdigen Mentalität des Gewinnenwollens“, wie ein Gentleman befremdet feststellte. Mit der Grün- dung der professionellen Football League 1888 triumphierte das bürgerliche Leistungsprinzip. Regelmäßiger Ligafußball setzt eine Verkehrsrevolution voraus – in England die Eisenbahnen und siebzig Jahre später in Brasilien die Flugzeuge, ohne die es eine nationale Meisterschaft nicht geben konnte. Die ursprüngliche Antriebskraft des Fußballs liegt aber im Lokalen – das Derby wird von vielen Fans bis heute als Salz in der Suppe aller Wettbewerbe emp-

9 Christiane Eisenberg, „English Sports“ und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800- 1939, Paderborn, München, Wien und Zürich 1999. Die Autorin hat auf diesem Feld Pionierarbeit geleistet.

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funden, das sich ins Nationale und Internationale übertragen lässt: Liver- pool gegen Everton, Dortmund gegen Schalke, Argentinien gegen Brasilien und Deutschland gegen Italien. Das Urmodell auf internationaler Ebene, aus dem die Idee eines globalen Vergleichs geboren wurde, hieß England gegen Schottland. 1872, im ersten Länderspiel der Geschichte, trotzten schottische Amateure den überraschten Engländern mit einem 0:0. Damals spielten längst schon schottische und irische Profis in England – misstrauisch beargwöhnt von den FA-Gentlemen. Die Fußballbegeisterung hatte die englische Arbeiterklasse ergriffen; ehrgeizige Unternehmer stell- ten schottische und irische Arbeiter ein, die gut mit dem Ball umgehen konn- ten. So stärkten sie von ihnen gesponserte lokale Mannschaften, die Prestige brachten. Die Leistung der Spieler auf dem Platz wurde an einem traditionel- len Arbeitsplatz entlohnt. Zwar spielten immer mehr Arbeiter in den wettbe- werbsorientierten Mannschaften; aber die Vereinsstruktur war bürgerlich- kapitalistisch. Wer in der englischen Liga gewinnen wollte, setzte die besten Spieler ein – egal, woher sie kamen. In der Spielpraxis erwies sich das von Gentlemen gepflegte dribbling game dem von aufstrebenden Profimann- schaften bevorzugten schottischen Kurzpassspiel als unterlegen. Der heute als Nonplusultra angesehene one-touch-football geht auf das in Schottland ausgebildete passing game zurück.

Das lange Ringen um die Professionalisierung

Die Gentlemen wollten nur spielen, die professionellen Teams mussten trai- nieren, um Erfolg zu haben. Das erfordert Geld und Zeit. Die Gentlemen hat- ten beides zur Genüge, doch die Spieler aus den unteren Klassen mussten arbeiten, um spielen zu können. Beides vereinen kann der Profifußballer als Beruf. Wie die Arbeitsmigranten aus dem armen Irland und Schottland im 19. Jahrhundert ihren Weg in den englischen Industriekapitalismus fanden, suchten ihn auch die Fußball spielenden Iren und Schotten. Die Baumwoll- industrie, das Herz des Manchesterkapitalismus, zog sie magisch an. Der professionelle Fußball ermöglichte ein Leben außerhalb der Fabrik, das sich bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts nur durch die Art der Beschäfti- gung, nicht durch den Lebensstil von der proletarischen Umgebung unter- schied. So entstand der Mythos vom Fußball als einem proletarischen Sport. Als Kind der bürgerlichen Gesellschaft blieben im organisierten Fußball die Strukturen der Klassengesellschaft erhalten. Die Spieler selbst wurden zu Arbeitern im Angestelltenverhältnis, weshalb Fußball für den Geschmack der herrschenden Klassen einen Hautgout bekam. Gentlemen-Honoratio- ren hielten Profis lange Zeit für unwürdig, die Nation zu vertreten. Lieber isolierte man sich selbst vom internationalen Spielbetrieb. In Deutschland wurde der Amateurismus zur Bastion reaktionärer bürgerlicher Organisa- tionshoheit, die erst durch Druck internationaler Konkurrenz in den 60er Jahren mehr schlecht als recht reformiert wurde. Es fiel dem DFB schwer, veränderte gesellschaftliche Realitäten zu akzeptieren – um den Preis einer

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Stagnation. Er hielt noch bis zu den sportlichen Katastrophen der Europa- meisterschaften 2000 und 2004 an der migrationsfeindlichen Illusion eth- nisch deutscher Nationalauswahlen fest. Der Fußball spiegelt nicht einfach die Gesellschaft, sondern er kann reaktionärer organisiert sein als sie. Im short century ist das Empire verschwunden; aber der englische Natio- nalsport Football hat sich weltweit durchgesetzt. Die Vergabe der WM 1994 an die Soccer spielenden USA sollte der FIFA neue Märkte im Zeitalter einer durch Massenmedien erlebten globalen Gleichzeitigkeit erschließen. Die Vergabe der WM 2002 an Korea und Japan und 2010 an Südafrika war nur folgerichtig. Nun kommt er endlich wieder in Brasilien an, das in der zwei- ten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Fußball-Weltmacht Nr. 1 geworden war. Diese Vormachtstellung war das Ergebnis einer „Soccer Revolution“, die der österreichisch-jüdische Emigrant Willy Meisl einem verständnislosen engli- schen Publikum klarzumachen versuchte, nachdem die englische National- mannschaft gerade die demütigenden Niederlagen im November 1953 mit 3:6 in Wembley gegen Ungarn und 1:7 beim Budapester Rückspiel 1954 erfahren hatte. Das sang- und klanglose Ausscheiden bei der ersten Nachkriegs-WM 1950 gegen eine mit Migranten gespickte US-Nationalmannschaft in Bra- silien hatte man einfach ignoriert. Auf der Tribüne von Wembley saß 1953 der Coach von Aston Villa, Jimmy Hogan, der anschließend von der chauvi- nistischen englischen Presse als Landesverräter beschimpft wurde. Er hatte 21 Jahre seines Lebens in Österreich, Ungarn und Deutschland verbracht. Hogan, „ein Junge aus Lancashire“, hatte in allen drei Ländern die schotti- sche Fußballschule gelehrt10 – sie belegten bei der WM 1954 die ersten drei Plätze. Auf den Kontinent geholt hatte ihn schon vor dem Ersten Weltkrieg der weitsichtige Doyen des Habsburger Fußballs, Hugo Meisl. Er hatte in den 20er Jahren in Österreich als dem ersten kontinentaleuropäischen Land den Professionalismus eingeführt, woraus das legendäre „Wunderteam“ hervor- ging. Deutschland verpasste diese Entwicklung, während Italien auch mit Hilfe ungarischer Trainer und dem von Mussolini geförderten Professionalis- mus vom progressiven Donaufußball profitierte. Der Erste Weltkrieg hatte die Welt verändert. Der Zerfall des Habsburger Großreichs ließ Wien zu einer Migrantenmetropole werden. Hugo Meisl hatte seinen gesellschaftlichen Aufstieg als 1881 in Maleschau geborener Jude schon hinter sich, aber nicht vergessen. Er hatte in Paris und Triest gelernt und an der berüchtigten Isonzofront gekämpft; als Bankfachmann und poly- glotter Fußballer pflegte er viele internationale Kontakte. Eine Freundschaft verband ihn mit dem englischen Fußballrevolutionär und Selfmademan Her- bert Chapman, und die beiden begründeten eine fußballerische Moderne. Der Professionalismus, in England längst Grundlage des Spitzensports, wurde zur unabdingbaren Voraussetzung, denn beiden war bewusst, dass man mit dem Fußball seinen Lebensunterhalt verdienen können muss. Für unzählige schottische Fußballarbeiter, die nichts anderes gelernt hatten, als Fußball zu spielen, bot sich das amateurhaft zurückgebliebene Kontinen-

10 Sh. Márton Bukovi und Jenö Csaknáady: Die ungarische Fußballschule, Budapest und Berlin 1955, S. 8.

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taleuropa als Markt für eine Trainerkarriere. Sie wanderten als sogenannte Scottish Professors in die Welt. Chapman befestigte als Manager von Arse- nal die Stellung eines Fußballfachmanns, der auch etwas vom Geschäft ver- steht. Aus dem bezahlten Fußball war nach dem Ersten Weltkrieg ein Show- business geworden. Meisl führte 1924 in Restösterreich die erste Profiliga auf dem Kontinent ein, die in der ethnisch vielfältigen Flüchtlingsmetropole Wien fast nur aus Lokalderbys bestand. Erster Profimeister wurde der jüdi- sche Club Hakoah, in dem viele aus Horthy-Ungarn geflohene Spieler aus Hogans Schule unterkamen.

Der reaktionäre Sonderweg des DFB

Fußball ist ein players game. Die Autorität des Trainers erwächst aus der Sachkenntnis, doch ist er ohne eigenverantwortliches Handeln der Spieler machtlos. Mit der Einführung von Rückennummern versuchte Chapman nicht nur die Identifikation der Zuschauer mit den Spielern zu befördern, sondern auch das Erkennen der Spieler untereinander, damit das passing game beschleunigt werden konnte. Der in der Weimarer Republik starke Arbeitersport, aus dem auch der Vater Uwe Seelers kam, lehnte diesen Indi- vidualismus ebenso vehement ab wie die Bezahlung. Aber in der Weltwirt- schaftskrise hatte die aristokratische wie die linksradikale Kritik am Profes- sionalismus ausgedient: Erwin Seeler entschied sich gegen den Arbeitersport und für den HSV. Der DFB indes entschied sich gegen den Professionalismus – ein reaktionärer Sonderweg, der erst dreißig Jahre später gegen großen Widerstand korrigiert wurde, weil die fußballerische Konkurrenzfähigkeit auf dem Spiel stand. Auch dem deutschen Fußballguru, dem aus dem Mann- heimer Arbeitermilieu stammenden Sepp Herberger, wurde 1921 mit einer lebenslangen Sperre wegen finanzieller Vorteilsnahme gedroht, die aber auf ein Jahr reduziert wurde. Der Scheinamateurismus blühte in Deutschland bis zur Einführung der Bundesliga 1963. Herberger war als Bundestrainer sehr findig, für „seine“ Nationalspieler Verdienstmöglichkeiten zu organi- sieren. Um Uwe Seeler gegen Angebote aus Madrid und Mailand in Deutsch- land zu halten, verschaffte er ihm den Posten des Adidas-Generalvertreters Norddeutschland. Die Revolution des Vereinsfußballs fand dagegen in der Zwischenkriegs- zeit woanders statt. Wiener Vereine begannen die englischen zu schlagen. Die Konkurrenz spornte die Erfindungskraft an, um neue Zuschauermas- sen ins Stadion zu locken. Weil zu wenig Tore fielen, änderte man 1925 die Abseitsregel, die bis dahin vorsah, dass der Torwart und drei (!) Feldspie- ler vor dem Ball sein mussten, damit der Angreifer nicht im Abseits stand. Viele, die über Fußball nicht nachdenken wollen, verstehen den Sinn der Abseitsregel nicht. Sie macht den Fußball für den Zuschauer attraktiv, weil nicht das linierte Feld wie etwa beim Tennis den Raum begrenzt, sondern der bespielbare Raum flexibel von der jeweiligen Position der Spieler auf dem Feld abhängt – es zählt der Augenblick, in dem abgespielt wird. Übersicht,

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Timing und selbstständiges Handeln zählen neben der Ballbeherrschung zu den Qualitäten des guten Spielers. Spitzenspieler mit diesen Qualitäten wer- den als Virtuosen oder Künstler verehrt, die dem Spiel seine Ästhetik verlei- hen. Aber der Fußball hat auch eine andere Seite: die Physis. Die Reproduk- tion der spielerischen Arbeitskraft hängt vom physiologisch verantwortbaren Training, der medizinischen Behandlung und der nachhaltigen Regenera- tion ab. Die Rücksichtnahme auf diese auch wissenschaftlich fundierten Vor- aussetzungen machte den professionellen Fußball dem Amateurismus der Gentlemen strukturell überlegen.

Vom Donaufußball zum brasilianischen Ballzauber

In der Freundschaft von Meisl und Chapman verkörpern sich zwei Seiten des Spiels: Ein Manager kann sich nur behaupten, wenn er Erfolge vorzu- weisen hat: „Den Sieg organisieren“, nannte Chapman sein Ziel. Die Ände- rung der Abseitsregel 1925, die zu mehr Toren führen sollte, beantwortete er herzlos mit der Erfindung des WM-Systems, das die Defensive stärkt und weniger risikoreich ist als spektakuläres Angriffsspiel. Diese Taktik sollte 25 Jahre die Fußballwelt beherrschen. Mit ihm verlor Brasilien 1950 die Welt- meisterschaft im eigenen Land, Herberger vollbrachte mit ihm das „Wunder von Bern“ gegen die jahrelang unbesiegten „magischen Magyaren“, die als schön und erfolgreich spielende Nationalmannschaft Meisls österreichisches Wunderteam der 30er Jahre abgelöst hatten. Die „Goldene Elf“ um Ferenc Puskás ist aus dem Donaufußball hervorgegangen, für den Meisl in den 30er Jahren noch den Mitropa-Cup, eine Vorform der Champions League, geschaffen hatte. Weder englische noch deutsche Mannschaften spielten dort mit, aber italienische. Anders als die Nationalsozialisten unterstützten die italienischen Faschisten den Fußball, den sie eigensinnig „calcio“ (ita- lienisch für Tritt) tauften. 1934 fand die erste in Europa ausgetragene WM in Italien statt, ein Prestigeobjekt für Mussolini wie die Olympischen Spiele 1936 für Hitler. Nur italienische Spieler sollten den Titel erringen, wozu man allerdings den Italienerbegriff sehr weit fasste. Rimpatriati, rückkehrende Auswanderer vor allem aus der südamerikanischen Fußballwelt, wurden mit Geld und Autos gelockt. Brasilien, Argentinien und Uruguay versuchten um 1930, diesen Exodus mit der Einführung des Professionalismus zu stoppen. Österreichische und ungarische Trainer hatten das Spielniveau italienischer Mannschaften gesteigert. Die Grundlagen der „Soccer Revolution“ (Willy Meisl) wurden aber im Abseits des faschistischen Ungarn gelegt. Die Niederlagen gegen die Italie- ner wurmten, nicht zuletzt im WM-Finale von 1938. Man übte sich im Trikot- tausch – jeder sollte jede Rolle spielen können. „Fußball total“ nannte man das 20 Jahre später. Der Mittelstürmer sollte zurückfallen und plötzlich in die Spitze gehen, für Mann deckende Mannschaften ein Albtraum – heute nennt man das „falsche 9“. Doch die innovativen Ungarn waren vom Unglück verfolgt: Als Arbeitsmigranten, Profifußballer und -trainer besaßen sie viel

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Auslandserfahrung, aber sie gerieten nach Horthy-Diktatur und national- sozialistischer Besatzung unter eine stalinistische Parteidiktatur, die zu- nächst den Staatsamateurismus förderte. Aber nach der sensationellen Nie- derlage 1954 ausgerechnet gegen Deutschland wurde den Spielern die in Aussicht gestellte Südamerikareise versagt und sie wurden nach ihrer Heim- kehr massenmedial gedemütigt. Die mit Nationalspielern gespickte Armee- mannschaft Honved Budapest spielte 1956 während des Ungarnaufstandes in einem europäischen Pokalspiel in Bilbao und die meisten Spieler kehrten nicht nach Ungarn zurück. Sie baten den ehemaligen Meistertrainer Béla Guttmann,11 der das kommunistische Ungarn als „Land der Fußballkorrup- tion“ schon früher in Richtung Italien verlassen hatte, für sie als Manager eine Südamerikareise zu organisieren. Augenzeugen wie Renato Pompeu zufolge schlug besonders der Auftritt 1957 in São Paulo im fußballerisch an sich zweifelnden Brasilien ein wie eine Bombe. Die junge brasilianische Nationalmannschaft spielte prompt bei der WM 1958 in Schweden sogar noch besser und wurde endlich Weltmeister. Für die europäischen Zuschauer kamen die brasilianischen Ballzaube- rer aus dem Nichts, wenn nicht aus dem Urwald oder vom Strand. Erstmals konnten Millionen in Echtzeit Spieler bewundern, denn 1958 begann das flä- chendeckende Fernsehzeitalter in Europa. Die WM 1962 fand wieder in Chile statt – für Europa ein dunkles Nichts, da es noch keine kommerziell betrie- benen Satelliten gab. Man kehrte zurück zum Radio. Aber man konnte sich in Europa vorstellen, wie die Brasilianer mit ihrem lupenreinen 4-2-4 über die foulenden und mauernden Defensivmannschaften aus aller Welt trium- phierten. 1966, bei der WM in England, konnte man in Europa wieder im TV sehen, mit welcher Härte Pelé angegangen und vorsätzlich so schwer verletzt wurde, dass Turnierfavorit Brasilien in der Vorrunde ausschied. Aber bei der WM in Mexico 1970 zeigte die Seleção ihre höchsten Qualitäten. Die bisher beste Nationalmannschaft aller Zeiten gewann den Titel, zeitgleich in alle Welt vom TV in Farbe übertragen. Diese zaubernde brasilianische Mann- schaft setzte einen ästhetischen Maßstab, an dem der deutsche Weltmeister von 1974 Franz Beckenbauer nicht gemessen werden wollte. Als Bundestrai- ner bei der WM 1986 erklärte er in spartanischem Englisch: „The Germans must march!“ Für „Bild“ klang das so verständlich, dass er zum Kolumnisten aufstieg. Aus deutscher Sicht schien brasilianisches Jogo bonito eine fußballerische Utopie, dem nur durch verstärkte Defensive (wie einst gegen Ungarn 1954) und kontrolliertem Foulspiel zu begegnen war. Auch im europäischen Ver- einsfußball hatte sich 1961 und 1962 mit der von Béla Guttmann trainierten Benfica Lissabon zweimal eine offensive 4-2-4 spielende Mannschaft trium- phal durchgesetzt, gegen die nur noch andere Mittel halfen. Den Königsweg schien der Argentinier Helenio Herrera gefunden zu haben, der mit einem elaborierten Catenaccio Inter Mailand an die europäische Spitze führte und diese Taktik auch in der italienischen Nationalmannschaft einführte. Aber

11 Vgl. Detlev Claussen, Béla Guttmann. Weltgeschichte des Fußballs in einer Person, Berlin 2006.

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beim sogenannten Jahrhundertspiel, dem WM-Halbfinale Deutschland gegen Italien 1970 im Aztekenstadion, das Italien nach einem begeistern- den Match 4:3 gewann, spielten Systeme keine Rolle mehr. Wegen Hitze und Erschöpfung gaben beide Seiten in der Verlängerung jede Taktik auf, es ging nur ums Toreschießen – „Heroenfußball“, wie der kluge Trainer Volker Finke es später nannte. In Deutschland bevorzugte man bis zu Pep Guardiola den Ergebnisfußball als Garant für kontinuierlichen Erfolg. Beckenbauers Aussage als Trainer der Weltmeistermannschaft 1990: „Das vereinigte Deutschland wird auf lange Zeit unbesiegbar bleiben“, mochten allerdings nur Fußballchauvinisten glauben. Der Niedergang der deutschen National- mannschaft in den ersten zehn Jahren des neuen Zeitalters hängt mit dieser Blindheit zusammen: Wegen des rückständigen Staatsbürgerrechts spielten nicht die besten Fußballer Deutschlands in der Nationalelf. Die Gesellschaft hatte sich verändert, die Fußballorganisation nicht. Der DFB hat es lange Zeit nicht begriffen, und „Bild“ versteht es bis heute nicht.

WM 2014 in Brasilien: Zwischen Protest und Begeisterung

Nun also steht wieder eine WM in Brasilien vor der Tür. Die soziale Reali- tät des dortigen Fußballs hat Dr. Sócrates, der unlängst verstorbene geniale Stratege auf dem Platz, auf den Punkt gebracht: „Man darf nicht vergessen, dass in Brasilien 60 Prozent aller Spieler weniger als den Mindestlohn ver- dienen. Diese Spieler haben kein Interesse am Fußball als Kunst oder Schau- spiel; sie wollen um jeden Preis gewinnen.“12 Auch im brasilianischen Fuß- ball tobt der Kampf zweier Linien: zwischen der disziplinierten Defensive und dem Zauber brillanter Offensive. Die Fans in Rio lieben den futebol arte, doch im Süden Brasiliens weiß man Härte auf dem Feld auch zu schätzen. Bei brasilianischen Bundesligaspielern werden Zuverlässigkeit und Effektivität wie einst bei Jorginho, Dunga und Elber geschätzt; aber wie der gerade zu Barça transferierte Neymar soll auch ein neuer König wie Pelé kommen. Der brasilianische Fußball hat sich ebenso wie der europäische stark ver- ändert. Noch um 1900 ein Elitesport, begannen seit den 20er Jahren Fabri- kanten wie in Bangu, Teams mit Arbeitern aufzubauen. Der Professionalis- mus wurde fast gleichzeitig wie in Uruguay und Argentinien eingeführt, um die Abwanderung nach Italien zu verhindern. Er ermöglichte es endlich auch schwarzen Spielern, vom Fußball zu leben. Der Fußball hat so zur Demokra- tisierung der brasilianischen Gesellschaft beigetragen. Zwischen 1982 und 1984 wurde die „corinthianische Demokratie“ zu einem Nagel im Sarg der Militärdiktatur: Gegen korrupte Verbandsfunktionäre forderten die Spieler von Corinthians São Paulo auf dem Feld Selbstbestimmung und Demokratie, und die städtische Bevölkerung wandte diese Forderungen gegen die abge- wirtschafteten Diktatoren. Auch deswegen liegt die WM der Präsidentin und ihrem populären Vorgänger Lula besonders am Herzen.

12 Zit. nach Waldenyr Caldas, Brasilien, in: Eisenberg, a.a.O., S. 182.

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Doch der große Spaß droht verdorben zu werden durch Misswirtschaft und allgegenwärtige Korruption – Symbolfiguren dafür sind Sepp Blatters Vor- gänger, der brasilianische Bauunternehmer, Waffenhändler und Verbands- boss João Havelange und dessen Nachfolger und Schwiegersohn Ricardo Texeira, der 2012 wegen Korruption, Steuerhinterziehung und Geldwäsche alle Ämter niederlegen musste. Die Protestbewegungen des letzten Jahres zeigen den Januskopf der breiter werdenden Mittelschichten, die zwar die Modernisierung des Landes wollen, sich aber auch vor dem Aufstieg der unteren Schichten fürchten, denen der Fußball unabdingbarer Teil ihrer Lebensweise – einer populären Kultur – ist. Die WM in einem der am meisten vom Fußball begeisterten Länder, das vom Rekordweltmeister nichts weniger erwartet als den Titel, erinnert alle Brasilianer an das Trauma: den Maracanaço am 16. Juli 1950, als Brasilien das entscheidende Spiel im eigenen Land gegen Uruguay mit 1:2 verlor. Der mit 220 000 Zuschauern gefüllte Fußballtempel verfiel in ein furchterregen- des Schweigen. Von der berüchtigten Alltagsgewalt war nichts zu sehen, schweigend strömten die Massen nach Hause. Überhaupt ist es ein weite- res Vorurteil, Fußballweltmeisterschaften seien Ersatzkriege. Vor jeder WM wird ein Ansteigen der Kriminalität vorhergesagt; aber weder in Deutsch- land 2006 noch in den Kriminalitätshochburgen Südafrikas 2010 trat sie ein. Diese Prognosen sind ebenso trügerisch wie die immer wieder versproche- nen ökonomischen Wachstumseffekte, die ebenso regelmäßig ausbleiben. An Fußballweltmeisterschaften verdienen die Netzwerke der FIFA, die skrupellos ihre Sponsoren bevorzugen, die Stadionbau- und die Sicherheits- industrie sowie im Falle Brasiliens auch die lokalen Transportunternehmer. Die Proteste entzündeten sich im letzten Jahr beim Confed-Cup in Rio an den Buspreisen.13 Hinzu kommt, besonders in Rio, wo auf die WM 2016 die Olympischen Spiele folgen sollen, die Eroberung der an den Hauptverkehrs- wegen liegenden Favelas durch verhasste Sonderpolizeikräfte. Nicht der Fußball produziert die Gewalt; vielmehr setzen sportliche Weltereignisse in einem Meer von Korruption, Benachteiligung und sozialer Ungleichheit eine Unzufriedenheit frei, die sich nur schwer beruhigen lässt. Der Aufschwung der letzten beiden Jahrzehnte hat viel mehr Brasilianern als je zuvor Brot gebracht, jetzt will die Mehrheit bessere Bildungsmöglichkeiten, Gesund- heitsversorgung für alle und ein Ende des Kreislaufs von Gewalt, Drogen und Gefängnis. Spiele – und Karneval – allein reichen nicht mehr.

Der Fußball ermöglicht allen mitzuspielen

Dabei ist kaum ein Land für das große globale Fußballfest geeigneter als Bra- silien: Die Menschen verstehen etwas von Fußball, und der lässt die Unter- privilegierten träumen, dass ein Leben in Wohlstand auch für die möglich ist, die nicht auf der Sonnenseite der Straße geboren sind. Es gibt kaum eine

13 Vgl. Janna Greve, Brasilien: Volksaufstand statt Fußballfest, in: „Blätter“, 8/2013, S. 25-28 sowie den Beitrag von Andreas Behn in diesem Heft.

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201406_Buch.indb 111 21.05.14 10:43 112 Detlev Claussen

Gesellschaft, die so synkretistisch strukturiert ist wie die brasilianische – das passt zur Spielkultur des Fußballs, der seine Popularität seiner misch- kulturellen Qualität verdankt. Kultur, die ethnisch rein sein soll, bleibt arm und dürftig. Der Fußball hat es in seiner Geschichte vom long century bis in die Gegenwart globaler Gleichzeitigkeit geschafft, die Massen zu ergreifen, und er ermöglicht allen, die einst nicht dazugehörten, mitzuspielen – Juden, Schwarzen, Migranten und Frauen, die auch in Ländern Fußball spielen und ins Stadion gehen, in denen sie ansonsten ins Haus verbannt sind. In einer Fußballweltmeisterschaft kann sich die Welt als Einheit in der Verschie- denheit verstehen. Man kann sich mit denen identifizieren und sich für die begeistern, die man liebt. Eine freedom of choice wird praktiziert. Man kann US-Amerikaner sein und für Brasilien schwärmen oder deutsche Staatsbür- gerin sein und sich für Mexiko begeistern. Der Schwache kann den Starken besiegen. Im Fußball ist ein utopisches Potential zu erleben: Die Freude am Spiel erweckt die Lebenslust, und bis zur letzten Minute wird die Hoffnung genährt, dass nicht alles bleiben muss, wie es ist, und die Welt doch zu ver- ändern ist. Anzeige

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201406_Buch.indb 112 21.05.14 10:43 Historische Schuld und politische Verantwortung Die Gegenwart der Vergangenheit des Großen Krieges

Von Klaus Naumann

m es gleich vorweg zu sagen, ein „Historikerstreit“ ist das nicht, was sich U im bisherigen Verlauf des Geschichtsjahres 2014, also einhundert Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs, an politisch-publizistischen Aufwallun- gen bemerkbar gemacht hat. Was man aber besichtigen kann, ist ein kleines Lehrstück über den Nutzen und Nachteil der Historie für das tägliche Leben. Anfangs ließen nur die Voranzeigen der Verlage und Medien erahnen, dass eine regelrechte Flutwelle an Buchproduktionen, namentlich Gesamtdar- stellungen, und einschlägigen TV-Produktionen („Die Männer der Emden“, „Sarajevo“) auf das Publikum zurollen würde. Erst in der teils begeisterten, teils skeptischen Reaktion auf das Erscheinen der Gesamtdarstellung des englisch-australischen Historikers Christopher Clark („Die Schlafwandler“) wurde allmählich deutlich, dass sich hier eng miteinander verzahnte Kon- fliktfelder auftaten, die in den folgenden Monaten die Feuilletons und die politische Publizistik in Atem halten sollten. Clark schenkte zum einen der speziell deutschen Verantwortlichkeit für den Kriegsausbruch vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit. Indem er die wissenschaftliche Perspektive vom „Warum?“ auf das „Wie?“ verschob, gab er zum anderen zu verstehen, dass er an den vielfach verknoteten Interaktio- nen der beteiligten Mächte und Akteure mehr interessiert war als an einer neuerlichen Saldierung der – durchaus unterschiedlichen – Schuldkonten. Dieser Aufschlag wurde in eine geschichtspolitische Attacke verwandelt, als eine Essay-Reihe in der „Welt“ daran ging, den historischen Schulddis- kurs mit der aktuellen Ausrichtung und Begründung der deutschen Außen- und Europapolitik zu verknüpfen.1 Den Hintergrund dafür bildeten die Dis- kussionen und offiziellen Reden auf der Münchner Sicherheitspolitischen Konferenz im Januar 2014, in denen der Aufbruch in eine neue deutsche Außen- und Sicherheitspolitik (Stichwort: „mehr Verantwortung überneh- men“) angemahnt worden war. Für eine Reihe von „Welt“-Autoren, unter

1 Vgl. die Beiträge in der „Welt“, 14.11.2013 (Cora Stephan); 4.1.2014 (Dominik Geppert, Sönke Neitzel, Cora Stephan und Thomas Weber); 6.1.2014 (Thomas Weber); 13.1.2014 (Sönke Neitzel); 19.1.2014 (Dominik Geppert); 27.1.2014 (Richard Herzinger); 3.2.2014 (Joseph S. Nye); 10.2.2014 (Michael Stürmer); 17.2.2014 (Adam Krzeminski); 24.2.2014 (Berthold Seewald).

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ihnen namhafte Historiker, war die schuldrhetorische Akzentuierung der aufbrechenden Weltkriegsdebatte der Anlass, auf die geschichtspolitische Problematik eines solchen Zugriffs hinzuweisen, wenn man damit Politik begründen (oder kritisieren) wollte. Wie üblich wurde kräftig über das Ziel hinausgeschossen, die Schuldfrage gelegentlich gänzlich abgeräumt (voran: Cora Stephan), und so fehlte es in den Folgebeiträgen der „Welt“ nicht an kri- tischen Gegenstimmen (Richard Herzinger, Adam Krzeminski). Damit war die historisch-politische Kontroverse eröffnet: War hier ein neuer Revisionismus zu beobachten? Galt es einmal mehr, den Anfängen zu wehren? Die Abwehrgefechte ließen – auch in dieser Zeitschrift2 – nicht auf sich warten. Volker Ullrich orakelte in „Der Zeit“ unter der Überschrift „Nun schlittern sie wieder“, die „Rehabilitierung“ der deutschen Reichsleitung von 1914 lasse deutlich die „Entlastungsbedürfnisse“ jener erkennen, die sich zu Fürsprechern der „führenden Rolle“ Deutschlands in Europa aufge- schwungen hätten.3 Nimmt man Thesen und Gegenthesen zum Nennwert, so steht einmal wieder die Frage zur Debatte, welche orientierende Rolle der deutschen Vergangenheit für das politische Gegenwartshandeln zuzubilli- gen ist und wie man sich darüber verständigen kann.4 Denn ob nun pro oder kontra, die Antagonisten waren sich darin einig, dass der Kriegsschuldfrage eine hohe aktuelle Relevanz zuzubilligen war. In dieser – und nur in dieser – Hinsicht bot die Debatte einen wenn auch harmlosen Abglanz der Fischer- Kontroverse in den 60er Jahren.

2014 – 1964 – 1914

Tatsächlich ist es instruktiv, sich einige der Grundzüge der Fischer-Kon- troverse noch einmal zu vergegenwärtigen. Dabei ist weniger von Gewicht, wie konventionell (diplomatiegeschichtlich) Fritz Fischers methodisches Rüstzeug war und wie schmerzhaft man damals das Fehlen einer interna- tional vergleichenden Analyse des Anteils der verschiedenen europäischen Mächte beklagen konnte. Entscheidender war das historische Aktenmate- rial, das Fischer aufbereitet und interpretiert hatte, und gänzlich erschüt- ternd war die geschichtspolitische Schlagkraft, die von der These des Ham- burger Historikers ausging. Sie kam nirgendwo deutlicher zum Ausdruck als in Albträumen seiner Kritiker. Die Haltung eines konservativen Historikers wie Michael Freund war hier paradigmatisch. Wenn Fischer recht haben sollte mit seinem Befund, dass die deutsche Reichsleitung „einen erhebli- chen Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges“ trug,5 und wenn demnach die deutsche Politik am Ausbruch beider

2 Vgl. Wolfram Wette, 1914: Der deutsche Wille zum Zukunftskrieg, in: „Blätter“, 1/2014, S. 41 ff.; Albrecht von Lucke, Der nützliche Herr Gauck, in: „Blätter“, 3/2014, S. 5 ff. 3 Volker Ullrich, Nun schlittern sie wieder, in: „Die Zeit“, 16.1.2014. 4 Vgl. Dirk Kurbjuweit, Der Wandel der Vergangenheit, in: „Der Spiegel“, 7/2014. 5 Fischer verwendete freilich unterschiedliche Formulierungen für Maß und Umfang der deutschen Kriegsschuld. Vgl. Immanuel Geiss, Zur Fischer-Kontroverse – 40 Jahre danach, in: Martin Sabrow u.a. (Hg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, München 2003, S. 41 ff.; zum aktuellen Forschungsstand vgl. jetzt die Beiträge von Gerd Krumeich sowie Annika

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Weltkriege – und nicht nur am Angriffskrieg Hitlers – maßgeblich beteiligt war, was blieb dann – so die Sorge Freunds – für die Zukunft der obendrein gespaltenen deutschen Nation noch zu erwarten? Kurzum, der Fischer-These war mit äußerstem Widerstand zu begegnen. Was damals ein Michael Freund, so konnte man Volker Ullrichs Invektive in der „Zeit“ verstehen, ist heute ein Herfried Münkler. Dieser hatte näm- lich in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ bekannt und Vol- ker Ullrich zitierte den Satz als Schlussfanfare seines Beitrags: „Es lässt sich kaum eine verantwortliche Politik in Europa betreiben, wenn man die Vor- stellung hat: Wir sind an allem schuld gewesen.“6 Das klang ja auch ganz nach jener Renitenz, die damals auch Fritz Fischer entgegengeschlagen war: Wenn Deutschland die gewünschte Zukunft haben sollte, dann – so musste man aus den beiden Voten folgern – waren eben bestimmte historiographi- sche Befunde unerwünscht. Die Dramatisierung beider Zitate lebt freilich von Fehlwahrnehmun- gen und Auslassungen. Rückblickend stellte der Weltkriegshistoriker Gerd Krumeich den konservativen Bedenkenträgern der 60er Jahre wie Michael Freund oder Gerhard Ritter ein etwas anderes Zeugnis aus: „Was hier zum Ausdruck kam, waren die Ängste und Vorbehalte einer Generation, die vom Nationalsozialismus traumatisiert war und versuchte, sowohl das gute Alte der Zeit vor Hitler zu retten als auch das gute Neue – die Bundesrepublik – zu stabilisieren. Daraus ergab sich eine gemeinsame Verteidigungslinie aller Traditionalisten.“7 Und Herfried Münkler? Zunächst einmal unterschlägt sein Kritiker den anschließenden Satz. Münkler fuhr nämlich fort, „bezogen auf 1914 ist das [die ‚Alleinschuld‘; d. Verf.] eine Legende.“ Erst vor diesem Hintergrund wird deutlich, worauf der Berliner Politikwissenschaftler abzielt: Auf der Basis von Geschichtslegenden, die den Anteil der eigenen Nation bzw. ihrer poli- tischen Leitung an Großereignissen der Vergangenheit verdunkeln oder ins Unangemessene steigern, lässt sich keine reflektierte, realistische und ver- antwortliche Politik betreiben. Der Grund dafür ist einfach, denn gerade die Legendenbildung, die immer mit einer Moralisierung einhergeht, erweist sich letztlich als eine besonders hartnäckige Form der Verleugnung. Indem man etwa die Schuld ins Unermessliche steigert, enthebt man sich der schwierigen Aufgabe, über ihren konkreten Gehalt Rechenschaft abzulegen. Die Blendung durch den hypostasierten Extremfall führt dazu, blind zu wer- den für die Verantwortungen der Gegenwart.

Von Schuld zu Verantwortung

Liest man zwischen den Zeilen der geschichtspolitischen Debatte, erschei- nen die vorliegenden Beiträge in einem anderen Licht. Auf der Hinterbühne

Mombauer, in: „Aus Politik und Zeitgeschichte“, 16-17/2014. 6 Herfried Münkler über die Schuld, Interview der „Süddeutschen Zeitung“, 4.1.2014. 7 Gerd Krumeich, Das Erbe der Wilhelminer. Vierzig Jahre Fischer-Kontroverse, in: „FAZ“, 4.11.1999.

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spielt sich ein Deutungskonflikt ab über den Umgang mit „Geschichte“, das heißt mit historischen Narrativen. Den dabei aufscheinenden Argumenten lässt sich freilich nur folgen, wenn man die Verlagerung von der Schuld- frage auf das Verantwortungsproblem nicht sogleich als „Entschuldung“ oder „Relativierung“ brandmarkt. Diese Akzentverschiebung ist nämlich in der aktuellen Debatte deutlich zu beobachten. Nur oberflächlich geht es um Anerkennung, Leugnung oder Relativierung von Schuld. Wer sich jedoch auf diese Rhetorik (pro oder kontra) beschränkt, hat weder in der aktuellen geschichtswissenschaftlichen Debatte viel zu melden, noch ist er geschichts- politisch besonders ernst zu nehmen. Vielleicht sollte man stattdessen einen Schritt zurücktreten, um die Intonierungen besser verstehen zu können. Die damalige zeithistorische Debatte, die Fritz Fischer auslöste, ist in der Zuspitzung als Schulddebatte nur als Reflex auf die hartnäckige Verleugnung und den Revisionismus der Weimarer und NS-Zeit zu begreifen, als man sich darin überbot, den omi- nösen „Kriegsschuldartikel“ 231 des „Versailler Diktats“ niederzukämpfen.8 Ganz unfreiwillig zeigte sich übrigens in dieser Akzentuierung der Fischer- Kontroverse, wie sehr die frühe Bundesrepublik noch im Abwehrkampf gegen die einschlägigen Weimarer bzw. NS-Diskurse stand. Jenseits dessen hat die Frage nach der „Kriegsschuld“ nicht allzu viel dazu beigetragen, über die Kriegsursachen, die strukturellen wie vor allem die kontingenten Fakto- ren des Krisen- und Konfliktgeschehens, aufzuklären.9 Davon zu unterscheiden ist indessen die geschichtspolitische Seite der damaligen wie der heutigen Diskussion, in der um Orientierungswissen und Handlungsmuster gestritten wird. Wer hier mit dem Schuldbegriff han- tiert, will ein Memento aussprechen – oder dessen bannende (andere wür- den sagen: lähmende) Kraft mindern. Wie auch immer, hervorgehoben wird eine Verknüpfung von historischer „Belastung“ oder „Haftung“ und aktu- eller Handlungsaufforderung. Diese, und darauf kommt es an, bleibt jedoch notwendig unbestimmt.10 Die Rede von der Schuld weist auf ungelöste Pro- bleme hin, die erfahrene Vergangenheit und erwartete Zukunft zusammen- schließen. Um diesen Zusammenschluss in politischer Absicht einzulösen, ist ein Konzept von Verantwortung geboten, in dem es um ein angemessenes, problemgerechtes und also verantwortliches Handeln in der Zukunft geht. Was das aber im konkreten Fall bedeuten kann und soll, ist Gegenstand der politischen Auseinandersetzung und Entscheidung. Der Stachel der Schuld, so könnte man sagen, bildet einen indirekten Referenzpunkt im Verantwor- tungsdiskurs, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Hier erst trifft sich das geschichtswissenschaftliche Argument mit dem geschichtspolitischen: So wie man den gestuften Verantwortlichkeiten der

8 Vgl. dazu Wolfgang Jäger, Historische Forschung und politische Kultur in Deutschland. Die Debatte 1914-1980 über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, Göttingen 1984, bes. Kap. I und II. 9 Vgl. Tim. B. Müller, Der Zufall des europäischen Krieges. Christopher Clarks historische Aufklä- rung, in: „Zeitschrift für Ideengeschichte“, 3/2014, S. 117 ff. 10 Ich folge hier einer Argumentation von Jan Philipp Reemtsma, Schuld und Verantwortung, in: Daniel Haufler u.a. (Hg.), Die Macht der Erinnerung. Der 8. Mai und wir, Berlin 2005, S. 86 ff.; vgl. auch Ludger Heidbrink, Handeln in der Ungewissheit. Paradoxien der Verantwortung, Berlin 2007, bes. S. 144 ff.

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unterschiedlichen Akteure der Julikrise nachspüren kann, um daraus ein Kaleidoskop von Handeln und Gegenhandeln, Aktionen und Reaktionen, Realitätssinn und Illusionen zu entwerfen, so kann man – im Lichte der his- torischen Ereignisse von 1914 – ein vergleichendes Tableau von zeitgenössi- schen Krisenanalysen zeichnen. – So weit, so gut. Dennoch ist damit die Frage nicht beantwortet, was es (abgesehen vom Anlass der „runden Zahl“) mit dem zeitgenössischen Reiz der Retrospektive auf den Kriegsbeginn auf sich hat.

Europa nach dem „kurzen 20. Jahrhundert“ und am Ende der langen 90er Jahre

So wie die Debatte um Christopher Clarks und dann um Herfried Münklers Buch das Hintergrundgeräusch der aktuellen geschichtspolitischen Kon- troversen bildete, so war die Münchner Sicherheitskonferenz, wie erwähnt, der Auslösereiz für historische Reminiszenzen. Mochten einige der histo- rischen Aktualisierungen der Krisenkonstellation von 1914 auf den Nahen Osten oder auf China verweisen, die stärkste Irritation des Zeitempfindens geht jedoch zweifellos von der akuten Ukraine-Krise aus. Obgleich der Aus- gang dieses Konflikts noch immer nicht abzusehen ist, hat er inzwischen die Bedeutung eines zäsurstiftenden Ereignisses gewonnen. Der Abschluss einer ganzen historischen Phase scheint sich hier zusammenzufassen; poin- tiert gesagt, nun endlich scheinen die langen 90er Jahre an ihr Ende gekom- men zu sein. Seit langem schon kriselt es in den Ost-West-Beziehungen. Die nach 1990 erreichten Fortschritte des internationalen Ausgleichs, der multi- lateralen Annäherung und der sicherheitspolitischen Ausgewogenheit sind wieder aufs Spiel gesetzt worden. Die hoffnungsvollen Entwicklungen der europäischen Sicherheitsarchitektur wurden vielfach unterlaufen und unter- höhlt. Die problematische Folge – jenseits der politischen Klimaverschlechte- rung – besteht darin, dass damit alte Bedrohungswahrnehmungen gestärkt und die Instrumente eines wirksamen (geschweige denn eines präventiven) Krisenmanagements geschwächt worden sind.11 Diese Zeiterfahrung hat dazu beigetragen, den Rückblick auf das Krisen- jahr 1914 zu aktualisieren. Es ist, als würde auf eine dramatische Weise die Periodisierungsformel von Eric Hobsbawm bestätigt, ohne freilich dessen verhaltenen Geschichtsoptimismus noch teilen zu können. Hobsbawm hatte das „Zeitalter der Extreme“ mit den Daten 1914 und 1990 als das „kurze 20. Jahrhundert“ bezeichnet.12 Inzwischen scheint es nicht nur so, als ob die positiven Ergebnisse des Endes der Blockspaltung und Konfrontationen in Frage gestellt würden; die europäische Krisenwelt scheint sich auch wieder in einem Stadium der Unübersichtlichkeit und Labilität zu befinden, die die

11 Vgl. Wolfgang Richter, Die Ukraine-Krise. Die Dimensionen der paneuropäischen Sicherheitsko- operation, SWP-Aktuell 33, April 2014. 12 Vgl. Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, München 1997; dazu vgl. Roger Chickering, Ein Krieg, der nicht vergehen will. Zur Frage des methodischen Fortschritts in der Historiographie des Ersten Weltkriegs, in: Sven Oliver Müller und Cornelius Torp (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, S. 281 ff.

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Vorkriegsjahre vor 1914 ausgezeichnet hatte. Mit anderen Worten, „jene fern scheinende Zeit ist uns in den vergangenen Jahren näher gerückt.“13 Ob Multipolarität oder Mächterivalität, aufsteigende oder absteigende Gestal- tungskräfte, politische Dominanz oder wirtschaftliche und finanzpolitische Konfliktlagen, Realpolitik oder Illusionspolitik – alles das, wenn auch nicht immer eins zu eins übertragbar, erinnert an die alte Welt vor der „Urkatastro- phe“, die nun aber ihren nostalgischen Glanz verloren hat und zur Krisenwelt geworden ist. Die Validität solcher Analogieschlüsse mag in Frage stehen,14 allein das Zeitgefühl und die Unsicherheit machen auf eines aufmerksam – wir bewe- gen uns in einem völlig anderen Kontext als die Fischer-Debatte der 60er Jahre. So heftig die damalige Kontroverse auch geführt wurde, politisch hatten ihre Protagonisten Rückenwind. Sie sprachen in eine Öffentlichkeit hinein, in der die alten Deutungen ihre Zugkraft zu verlieren begannen, die politischen Optionen sich veränderten und die außen- und ostpolitischen Fronten allmählich aufbrachen. Die damalige Kriegsschulddebatte war eines der Vehikel bundesdeutscher Selbstanerkennung als eines nicht-revi- sionistischen, demokratischen und kooperativen Staates. Es gehört zur Ironie solcher Erfolgsgeschichten, dass sie sich der umstandslosen Wiederholung entziehen. Über die historischen Befunde kann man streiten, dieser Streit wird weitergehen, und insofern gehört die Revision (der „Revisionismus“) zum Alltagsgeschäft des Historikers. Aktuell steht freilich etwas anderes zur Debatte. Ist die politisch-intellek- tuelle Debatte in der Lage, einen Verantwortungsdiskurs zu führen, der sich nicht im Für und Wider von Schuldfragen verkämpft?

Die Ukraine 2014 – das Serbien von heute?

Hier setzt das wichtigste produktive Argument Herfried Münklers ein, das im aktuellen Pro und Kontra des Schulddiskurses verborgen blieb. Seine Lektüre der Krisen- und Kriegsgeschichte von 1914 bis 1918 macht – ähn- lich wie die von Christoph Clark – darauf aufmerksam, wie groß die Rolle der Kontingenz in Krisensituationen ist.15 Folgt man dieser Perspektive bis auf die Akteursebene, gerät etwas in den Blick, was gern hinter Interessen, Determinanten und Strukturen verblasst: Es ist – auf die historischen wie zeitgenössischen Krisen bezogen – die Fähigkeit zum politischen Kontin- genzmanagement, und das heißt, die Absage an Theoreme der „Alternativ- losigkeit“ oder der Unvermeidbarkeit; die Bewahrung von politischen Optio- nen; die Fähigkeit zum strategisch informierten Handeln und anderem mehr.

13 Holger Afflerbach, Schlafwandeln in die Schlacht, in: „Der Spiegel“, 39/2012. 14 So etwa Gregor Schöllgen, Dies ist keine Julikrise und auch kein Kalter Krieg, in: „Süddeutsche Zeitung“, 26.3.2014; zurückhaltend auch Christopher Clark, Klüger als vor 100 Jahren. Welche Gemeinsamkeiten bestehen zwischen der Ukraine-Krise und dem Kriegsausbruch 1914?, in: „Der Spiegel“, 11/2014, S. 88 f. 15 Vgl. Herfried Münkler, Der große Krieg. Die Welt von 1914 bis 1918, Berlin 2014, bes. Kap. 1 und 9; anschließend ders., 2014, 1914, in: „Die Zeit“, 6.3.2014; ders., „Putin überkam die Angst vor Gesichtsverlust“, Ein Gespräch in der „Welt“, 19.3.2014.

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Damit aufgeworfen ist die Frage, welche institutionellen Voraussetzungen es dafür braucht (oder gebraucht hätte). Von dort öffnet sich der Blick auf die Krisenakteure und ihre Handlungsbedingungen, beispielsweise auf die poli- tisch-militärischen Strukturschwächen des Kaiserreichs oder, wenn man die Gegenwart beleuchten will, auf konstitutionelle Schwächen der bundesdeut- schen oder der europäischen Institutionen. Entworfen wird damit eine Perspektive des Multilateralismus, der Inter- aktionen und der Interdependenzen. Die ist natürlich nicht völlig neu. Doch es ist nützlich, auch hier noch einmal an eine alte Geschichtsdebatte zu erin- nern, die eng mit der Schuldfrage verwoben war. Die populärste Argumen- tation der ersten Nachkriegsepoche war die berühmte Formulierung des bri- tischen Premierminister Lloyd George, alle Mächte seien in den Weltkrieg „hineingeschlittert“. Dieser Satz bot der deutschen Seite damals einen will- kommenen Anlass, von der deutschen Kriegsschuld abzulenken. Vom briti- schen Regierungschef war er hingegen – durchaus geschichtspolitisch! – als eine Formel verstanden worden, um den deutsch-französischen Ausgleich voranzubringen.16 Es ist einigermaßen kurios, wenn dieser Satz in der heuti- gen Debatte der Gegenseite entgegengeschleudert wird, um diese vermeint- lich als Schuldleugner, Relativierer und damit buchstäblich als Störenfried zu entlarven.17 Fragwürdig ist diese Polemik auch in methodischer Hinsicht. Denn was Lloyd George im Kern (wenn auch nur verschwommen) anbot, war nichts anderes als ein Narrativ des Multilateralismus. Methodisch umsichtig ein- gesetzt, kann damit auf Mächte- und Kräftekonstellationen, imperiale bzw. postimperiale Ordnungs- und Handlungslogiken, geopolitische Strukturen und – nicht zuletzt – auf gegenseitige (Fehl-)Perzeptionen (Einkreisungs- ängste und anderes mehr) aufmerksam gemacht werden, um so die jeweili- gen Anteile von (Mit-)Verantwortung der Akteure zu identifizieren.18 Das hat mit einem Verleugnen der unterschiedlichen Verantwortlichkeiten einzel- ner Mächte wenig zu tun, verschiebt aber die Perspektive auf die Interaktion der Beteiligten und auf die Strukturschwächen des internationalen Systems. Dem zugrunde liegt die schlichte, aber aktuelle Einsicht, dass die Stärken oder Schwächen nationaler Akteure und Ambitionen der Gelegenheitsstruk- tur einer zerrütteten Staatenordnung bedürfen, um sich in ihrem konstrukti- ven oder destruktiven Potential entfalten zu können. In diesem wohlverstandenen Sinne, das könnte die letzte Pointe der Geschichtspolitik dieses Jahres sein, „schlittern“ wir tatsächlich wieder. Wenig würde gewonnen, wenn man glaubte, dem mit Schuld-Rhetorik bei- kommen zu können.

16 Vgl. Jäger, Historische Forschung, a.a.O., S. 110 f. 17 So aber Volker Ullrich, Nun schlittern sie wieder, a.a.O. 18 Die einschlägigen Tücken einer „Multilateralismusfalle“ der deutschen Außen- und Sicherheits- politik geraten dann unschwer ins Auge. Vgl. Markus Kaim, Deutsche Auslandseinsätze in der Multilateralismusfalle?, in: Stefan Mair (Hg.), Auslandseinsätze der Bundeswehr. Leitfragen, Ent- scheidungsspielräume, Lehren, SWP-Studie 27, Berlin 2007, S. 43 ff.; Klaus Naumann, Einsatz ohne Ziel? Die Politikbedürftigkeit des Militärischen, Hamburg 2008, S. 31 ff.

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201406_Buch.indb 120 21.05.14 10:43 BUCH DES DES MONATS

1914 und die Spaltung der Linken Von Jens Becker

Wenn derzeit mit Blick auf den Beginn des Ersten Weltkriegs überall das Bild jubelnder Massen auftaucht, geht eines dabei unter: Bereits im Juni/Juli 1914 gingen Hunderttau- sende gegen die drohende Kriegsgefahr auf die Straße. Vor allem die Arbeiterorganisa- tionen, allen voran die II. bzw. Sozialistische Internationale, warnten vor der heraufziehen- den Katastrophe. Den Umbrüchen dieser Epoche spürt Paul Frölich (1884-1953) in seiner überaus lesens- werten „Politischen Autobiographie“ nach. Der Redakteur der linkssozialistischen „Bre- mer Bürger-Zeitung“ war selbst unmittelbar in die historischen Prozesse involviert. Daher vermag Frölich die atmosphärische Nähe des Partei ergreifenden, aber dennoch kritischen und selbstreflektierten Zeitgenossen zu ver- Paul Frölich, Im Radikalen Lager. Politische Autobiographie 1890-1921, hg. von Reiner mitteln. Und ebendies macht den Wert dieser Tosstorff, Berlin 2013, Verlag Basisdruck, Publikation aus. 416 Seiten, 29,80 Euro. Dennoch erschienen Frölichs Erinnerungen erst jüngst und weitgehend unbeachtet. Zuvor hatten sie fast acht Jahrzehnte in den Katakomben des angesehenen Amster- damer Internationalen Instituts für Sozialgeschichte (IISG) gelegen. Aus dem IISG stammte auch der Anstoß für Frölichs Arbeit. Das Institut, das unter ande- rem Manuskripte von Karl Marx und anderen Persönlichkeiten der Arbeiter- bewegung aufbewahrt, war an den Lebenserinnerungen ehemaliger Kom- munisten interessiert. Die Dissidenten sollten helfen, Erkenntnislücken zu schließen, denn valide Erklärungen für die Etablierung des Stalinismus, sein Schreckensregime und die Niederlagen der „Kommunistischen Internatio- nale“, etwa in Deutschland, lagen damals noch nicht in der heutigen Breite vor. Für diese Aufgabe schien Frölich prädestiniert. Der Leipziger Sozialdemo- krat, Kriegsgegner und Frontsoldat war Mitglied der Bremer Linksradikalen und gehörte der KPD an; 1928/29 zählte er zu den Gründern der Kommunisti- schen Parteiopposition (KPD-O). Später wechselte er zur Sozialistischen Arbei- terpartei Deutschlands (SAPD), der auch der junge Willy Brandt angehörte.

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201406_Buch.indb 121 21.05.14 10:43 122 Buch des Monats

Frölichs Abmachung mit dem Auftraggeber war klar: Erlebtes sollte möglichst chronologisch-analytisch und gespiegelt durch vorliegende Quellen wie- dergegeben werden. Neben wichtigen Details zur Organisationsgeschichte besticht das Manuskript auch durch selbstkritische, teils anekdotische Deu- tungen des Autors. Besonderes interessant sind seine Zusammenkünfte mit Rosa Luxemburg, Leo Jogiches, Wladimir Iljitsch Lenin, Karl Radek, Frieda Radel und vielen anderen prominenten oder weniger prominenten Zeitge- nossen sowie die damit verbundenen Porträts, die das Buch schmücken. Daneben finden sich Beschreibungen des Kampfes der sogenannten Bre- mer Linksradikalen, von Frölichs Einberufung und Fronteinsatz, sowie seine Antikriegspropaganda und seine Kommentare bis zur Novemberrevolution 1918, die am 11. November die Waffenstillstandsverhandlungen mit England und Frankreich besiegelte. Messerscharf konstatiert Frölich eine „absolute Vernachlässigung der Psy- chologie“ der halbabsolutistischen preußisch dominierten Militärbürokratie: „Der Soldat war wirklich nur eine Ziffer, ein Zubehör zum Bajonett, das man nach Belieben dirigieren kann.“ Während der „Durchschnittssoldat in den ersten drei Kriegsjahren das Gefühl absoluter Hilflosigkeit dem Schicksal gegenüber“ (S. 110) hatte, wuchs „die Bereitschaft, das militaristische „Joch abzuwerfen“, bei vielen Soldaten erst an, als die Antikriegsproteste der hun- gernden Arbeiterinnen und Arbeiter von der „Heimatfront“ und die russi- sche Februar- bzw. Oktoberrevolution signifikanten Widerstand andeuteten. Dies war, so Frölich, Bestandteil eines Prozesses, zu dem auch die mühevolle Kleinarbeit der linksradikalen Antikriegsopposition zählte. Der Parteiredak- teur wurde zu einem ihrer Anführer. Frölich war ein vitaler Autodidakt, der zum Arbeiterintellektuellen aufstieg und auf Augenhöhe mit Vorbildern wie Luxemburg, Jogiches und Radek diskutieren konnte. Das gilt übrigens auch für seine langjährige Lebensgefährtin und spätere Ehefrau Rosi Wolfstein (1888-1987), die im Buch leider kaum Erwähnung findet.1 Deutlich wird auch, warum sich Frölich in jener Radikalisierungs- und Neuformierungsphase einer zutiefst gespaltenen Arbeiterbewegung der KPD zuwandte, an deren Gründungsparteitag er 1918 teilnahm: Der Krieg und die anschließende Novemberrevolution hatten jene Spaltungstendenzen massiv beschleunigt, die bereits vor 1914 insbesondere in der Sozialdemo- kratie angelegt waren. Dabei ging es im Kern um die Frage, ob eine Reform des bestehenden kapitalistischen Systems oder dessen Umgestaltung durch eine Revolution anzustreben sei. Dieser Strukturkonflikt spiegelte sich unter anderem in der legendären „Leipziger Volkszeitung“ und tendenziell auch in der „Bremer Bürger-Zei- tung“ wider. Beide Organe sind Bestandteil von Frölichs politischer Soziali- sation durch die Leipziger Sozialdemokratie und ihre Bildungsvereine. Der gebürtige Leipziger betont jedoch auch die Rolle des Elternhauses und des in den organisierten Arbeitermilieus unverbrüchlichen Glaubens, durch Bil- dung „frei“ zu werden (S. 33). Mit dem Ausruf „Wissen ist Macht“ verband

1 Zur Biographie Frölichs und Wolfsteins vgl. Hermann Weber und Andreas Herbst, Deutsche Kommu- nisten. Biographisches Handbuch 1918-1945, Berlin 2004, S. 223 ff. bzw. S. 883 ff.

Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2014

201406_Buch.indb 122 21.05.14 10:43 Buch des Monats 123

sich noch eine heute längst verabschiedete sozialistische Transformations- perspektive, die Utopie einer Gesellschaft der Freien und Gleichen. Diese Bildungsbeflissenheit, gespeist durch einen latenten Minderwertigkeits- komplex gegenüber der vorherrschenden „bürgerlichen“ Kultur, arbeitet Frölich in seinen Leipziger Betrachtungen fein heraus. Die von Frölich miterlebte blutige Niederschlagung der Münchner Räte- republik 1919 – die die Sozialdemokraten mitzuverantworten hatten – sowie das Wüten der Freikorps gegen aufständische Arbeiterinnen und Arbeiter im Ruhrgebiet und anderswo zementierte die Spaltung der deutschen Arbei- terbewegung. Der Sieg der russischen Bolschewiki und die Gründung der Kommunistischen Internationale, an deren 2. und 3. Weltkongress Frölich teilnahm, radikalisierte die KPD und führte zur Abspaltung der KAPD. Frölich wirft auch einen Blick auf den reaktionären Kapp-Putsch 1920, der durch einen eindrucksvollen Generalstreik aller maßgeblichen Arbei- terorganisationen abgewehrt werden konnte. Und nicht zuletzt befasst sich das Buch mit dem Aufstandsversuch der KPD 1921 in Mitteldeutschland, der sogenannten März-Aktion, die grandios scheiterte und zur endgültigen Marginalisierung des Parteivorsitzenden Paul Levi führte. (Dessen Schrift „Wider den Putschismus“ war eine Generalabrechnung mit der „offensiven“ Parteistrategie.) Frölichs Charakterisierung Levis, dieses schwierigen Men- schen, Parteiführers und Parteitheoretikers, setzt Maßstäbe für eine noch zu schreibende Biographie Levis.2 Gewiss wäre es reizvoll gewesen, wenn der Autor die Lage über die Jahre 1890 bis 1921 hinaus beschrieben hätte. Doch Honorar und Seitenzahl waren vom IISG festgelegt, so dass Frölich schon den wichtigen Zeitraum 1922 bis 1924 weglassen musste. Er verfasste das Manuskript im Pariser Exil und legte es 1938 vor. Fast zeitgleich erschien „Gedanke und Tat“ – seine noch heute lesenswerte Rosa-Luxemburg-Biographie. Sicherlich ist es auch der über- stürzten Flucht aus Paris 1939/40, der Internierung in Südfrankreich und dem abenteuerlichen Weg ins New Yorker Exil geschuldet, dass ein erweitertes Manuskript nicht mehr erscheinen konnte. Erst 1950 beschlossen Frölich und Rosi Wolfstein die Rückkehr nach Deutschland. Frölich lebte bis zu seinem Tod in Frankfurt am Main. Inzwischen war er wieder in die einst verachtete SPD eingetreten, die er wegen deren aktiver Kriegspolitik (1914) verlassen hatte. Gerade mit Blick auf das große Gedenkjahr 2014 wurde es höchste Zeit, dass Frölichs Autobiographie erschien. Denn sie ergänzt vorzüglich ver- schiedene aktuelle Studien, die sich mit der Rolle Deutschlands im Ersten Weltkrieg befassen. Freilich liegt Frölichs Fokus auf dem Primat der Innen- politik, namentlich der Arbeiterbewegung. Ferner reflektiert er nur einen begrenzten Ausschnitt des langen 19. und des kurzen 20. Jahrhunderts. Allerdings bietet die dichte zeitgenössische Erzählung organisations- und sozialgeschichtliche Einblicke, die, so Herausgeber Reiner Tosstorff, „auf- grund der Informationsfülle und der Aufrichtigkeit“ ihres Autors „außeror- dentlich“ sind und sich von vielen anderen Autobiographien abheben.

2 Diese muss Charlotte Beradts Arbeit ergänzen: Dies., Paul Levi. Ein demokratischer Sozialist in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1969.

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201406_Buch.indb 123 21.05.14 10:43 DOKUMENTE ZUM ZEITGESCHEHEN

Auf unserer Website www.blaetter.de stellen wir fortlaufend wichtige Dokumente zum aktuellen Zeitgeschehen bereit. Sie finden dort unter anderem:

• »Zwangsarbeit generiert Profite im Wert von 150 Milliarden Dollar« Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zu Zwangsarbeit, 20.5.2014 (engl. Originalfassung)

• »Verklagen Sie auch uns!« Offener Brief des Wissenschaftlichen Beirats von Attac an Klaus Zimmermann, den Direktor des Bonner Instituts für die Zukunft der Arbeit, 16.5.2014

• »33 Millionen Binnenvertriebene weltweit« Bericht des Global Displacement Monitoring Center, 14.5.2014 (engl. Originalfassung)

• »Folter ist auf dem Vormarsch« Bericht von Amnesty International zur weltweiten Verbreitung von Folter, 13.5.2014

• »Suchmaschinenbetreiber müssen auf Wunsch persönliche Daten entfernen« Pressemitteilung zum Urteil des EuGH im Rechtsstreit zwischen einem EU-Bürger und Google Spanien, 13.5.2014

• »Es gibt keine wirksame Strafverfolgung aller nicht einvernehmlichen sexuel- len Handlungen« Stellungnahme des Deutschen Juristinnenbundes zur Notwendigkeit einer Reform des deutschen Sexualstrafrechts, 9.5.2014

• »Stellen Sie sicher, dass Palästina dem IStGH beitritt« Offener Brief von Menschenrechtsorganisationen an den Präsidenten der Palästinensi- schen Autonomiebehörde Mahmud Abbas, 8.5.2014 (engl. Originalfassung)

• »Regierung und Opposition haben Kriegsverbrechen begangen« Bericht von Amnesty International zum Südsudan, 8.5.2014 (engl. Originalfassung)

• »Unser Motto ist Pluralismus« Aufruf der Internationalen Initiative Studierender für Pluralismus in der Wirtschafts- wissenschaft, Mai 2014

• »Unhaltbare Zustände für Flüchtlinge an der griechisch-türkischen Grenze« Bericht von Amnesty International zu Menschenrechtsverletzungen griechischer Grenzschützer, 29.4.2014 (engl. Originalfassung)

• »Ich frage mich, ob die Unabhängigkeit der Justiz noch gesichert ist« Rede des Bundespräsidenten Joachim Gauck an der Middle East Technical University in Ankara, 28.4.2014

• »Erhebliche soziale Risiken stehen minimalen Wachstumseffekten gegen- über« Memorandum-Bericht 2014 der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik u.a. zum geplanten Freihandelsabkommen TTIP, 28.4.2014

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201406_Buch.indb 124 21.05.14 10:43 Chronik des Monats April 2014

1.4. – Ukraine-Konflikt. Im Rahmen des geplanten Präsidentschaftswahlen. Er sei si- „Weimarer Dreieck“ (Deutschland, Frank- cher, dass sich eine große Mehrheit für eine reich, Polen) beraten die Außenminister unteilbare demokratische und unabhängige Steinmeier, Fabius und Sikorski über die zu- Ukraine aussprechen werde. Zusammen- gespitzte Lage in der Ukraine nach dem An- stöße zwischen den Separatisten und regie- schluss der Krim an die Russische Födera- rungstreuen Sicherheitskräften nehmen zu, tion (vgl. „Blätter“, 5/2014, S. 125). Die Füh- es gibt Tote und Verletzte. Russlands Ver- rung der Krim lehnt am 3.4. ein Autonomes treter im UN-Sicherheitsrat macht die Regie- Gebiet für die Minderheit der Krimtartaren rung in Kiew für die Eskalation verantwort- ab, die muslimische Volksgruppe könne le- lich und warnt vor Gewaltanwendung gegen diglich „kulturelle Autonomie“ beanspru- prorussische Demonstranten. Die „Neue chen. Bei einem informellen Treffen in Athen Zürcher Zeitung“ veröffentlicht am 14.4. appellieren die EU-Außenminister am 4.4. ein Interview mit Steinmeier, der sich nach- an die russische Regierung, ihre Truppen drücklich für eine diplomatische Lösung aus dem Grenzgebiet zur Ukraine abzu- ausspricht: „Der Versuch, Russland einzu- ziehen. Bundesaußenminister Steinmeier binden, bedeutet kein Entgegenkommen äußert die Hoffnung, Russland werde sich und kein Geschenk, sondern entspricht den an der wirtschaftlichen Stabilisierung der Interessen der Europäischen Union.“ Die uk- Ukraine beteiligen. Außenminister Kurz teilt rainische Regierung startet am 15.4. einen mit, Österreich habe Experten nach Kiew „Antiterror-Einsatz“ im Osten des Landes. entsandt, um die ukrainische Regierung zu Eliteeinheiten des Innenministeriums set- Themen wie Neutralität und Blockfreiheit zen Helikopter und Panzerfahrzeuge ein. In zu beraten. In der Ostukraine finden am 6.4. Genf einigen sich am 17.4. hochrangige Ver- organisierte Kundgebungen statt. Redner treter der USA, Russlands, der Ukraine und fordern mehr Eigenständigkeit für die Re- der Europäischen Union auf einen Plan, der gionen und die gesetzliche Verankerung des u.a. die Entwaffnung aller illegalen militan- Russischen als zweite Amtssprache. In Do- ten Gruppen und die Räumung der besetzten nezk, Luhansk, Charkiw und anderen Städ- Gebäude vorsieht. Die Unterzeichner rufen ten kommt es zu gewaltsamen Besetzungen die Konfliktparteien zum Verzicht auf Ge- von Amtsgebäuden und zur Entwaffnung walt, Einschüchterung und Provokationen der örtlichen Polizei, die sich zunehmend auf und verurteilen alle Formen des Extre- den Demonstranten anschließt. Selbst- mismus. Eine Verfassungsreform dürfe nie- ernannte „Volksbürgermeister“ setzen sich manden ausgrenzen. Die Durchführung der an die Spitze prorussischer Separatisten. Der geplanten Maßnahmen soll von der Organi- ukrainische Übergangspräsident Turtschi- sation für Sicherheit und Zusammenarbeit in now sagt am 10.4. den Besetzern Straffreiheit Europa (OSZE) überwacht werden. Die Gen- zu, wenn sie ihre Aktionen beenden und die fer Vereinbarung bleibt jedoch ohne nach- Waffen niederlegen. Sprecher der Separatis- haltige Wirkung, die Unruhen in den Krisen- ten verlangen dagegen ein Referendum über gebieten gehen weiter, beide Seiten geben die staatliche Unabhängigkeit der mehrheit- sich gegenseitig die Schuld. US-Vizepräsi- lich von Menschen mit russischer Nationali- dent Biden führt am 22.4. Gespräche in Kiew tät bewohnten Gebiete im Osten und Süden und sagt umfangreiche Wirtschaftshilfe und der Ukraine. Die Krim erhält am 11.4. eine militärische Ausrüstungen zu. Bewaffnete neue Verfassung. In dem vom Parlament in Milizen nehmen am 25.4. nahe der ostuk- Sinferopol angenommenen Text heißt es, die rainischen Stadt Slawjansk (Region Donezk) Halbinsel sei ein unabänderlicher Teil der acht Mitglieder eines Inspektorenteams fest, Russischen Föderation. Turtschinow regt am das sich auf Einladung der ukrainischen Re- 13.4. ein landesweites Referendum über Ver- gierung im Rahmen von OSZE-Vereinbarun- fassungsänderungen zur Regionalisierung gen im Lande aufhält. International unter- an, zeitgleich mit den für den 25. Mai d.J. stützte Bemühungen des OSZE-Vorsitzes um

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201406_Buch.indb 125 21.05.14 10:43 126 Chronik

die Freilassung bleiben zunächst erfolglos. afrikanischen Staaten teil. – Am 15.4. verab- Ein Nato-Diplomat erklärt am 29.4. in Brüs- schiedet das Europäische Parlament weitere sel: „Wir haben derzeit keine Informationen, Vorschriften zur Abwicklung maroder Ban- die auf einen Abzug russischer Truppen von ken. Damit kann der Rechtsrahmen für die der ukrainischen Grenze hindeuten.“ Bankenunion in Kraft treten, die Beobachter 1.-2.4. – Nato. Als Reaktion auf die Krimkri- als das weitreichendste Integrationsprojekt se setzt die Allianz die technische Zusam- seit der Einführung des Euro ansehen. menarbeit mit Russland aus. Später wird 5.4. – Afghanistan. Unter noch einmal ver- auch die Bewegungsfreiheit der russischen schärften Sicherheitsmaßnahmen ist die Be- Diplomaten auf dem Gelände des Nato- völkerung zur Wahl eines Nachfolgers für Hauptquartiers in Brüssel eingeschränkt. den scheidenden Präsidenten Karsai aufge- Die politischen Kontakte sollen jedoch fort- rufen. Die Wahlbeteiligung ist trotz Drohun- gesetzt und gleichzeitig die Kooperation gen der Taliban unerwartet hoch, keiner der mit der Regierung in Kiew verstärkt werden. drei Kandidaten kann im ersten Wahlgang Während eines Kurzbesuches in der belgi- die vorgeschriebene Mehrheit erreichen. schen Hauptstadt hatte US-Präsident Oba- Die Stichwahl soll am 7. Juni d.J. erfolgen. ma erklärt, weder Georgien noch die Ukra- 6.4. – Ungarn. Trotz Stimmenverlusten wer- ine seien derzeit auf dem Weg zu einer Nato- den der vor allem in Europa umstrittene Mitgliedschaft. – Am 9.4. teilt der litauische Regierungschef Orban und seine Fidesz- Verteidigungsminister Olekas mit, der Luft- Partei bei den Parlamentswahlen mit fast 50 raum der Nato-Mitgliedstaaten Estland, Prozent der Stimmen im Amt bestätigt. Das Lettland und Litauen werde ab Mai d.J. von linksliberale Oppositionsbündnis erreicht Kampfflugzeugen aus Polen, Großbritan- nur rund 25 Prozent, die als rechtsextrem nien und Dänemark überwacht. Die Entsen- geltende Jobbik-Partei erhält rund 20 Pro- dung zusätzlicher Flugzeuge und Schiffe, zent der Stimmen. Wegen des geänderten aber auch militärischen Personals nach Ost- Wahlrechts kann Fidesz künftig über eine europa sieht ein Beschluss der Allianz vom knappe Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament 16.4. vor. Generalsekretär Fogh Rasmus- verfügen. Wahlbeobachter der Organisation sen: „Die Nato wird jedes Bündnismitglied für Sicherheit und Zusammenarbeit in Euro- gegen jede Bedrohung verteidigen.“ pa (OSZE) kritisieren die Benachteiligung 2.4. – Frankreich. Der neue Premiermi- der Opposition. nister Valls (vgl. „Blätter“, 5/2014, S. 127) 8.4. – EuGH. Der Europäische Gerichtshof kündigt in Paris umfangreiche Reformen in legt in einem Urteil fest, für die Datenspei- Wirtschaft und Verwaltung an, um einem cherung zur Bekämpfung schwerer Ver- weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit zu be- brechen müsse es klare und präzise Regeln gegnen und die Staatsverschuldung einzu- geben. Das verdachtslose Sammeln privater dämmen. Die Grünen, bisher mit zwei Mi- Kommunikationsdaten sei ein Verstoß gegen nistern vertreten, hatten das Kabinett zuvor Grundrechte. Die Gerichtsentscheidung verlassen. Valls erhält am 8.4. mit 306 gegen stellt die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspei- 239 Stimmen das Vertrauen der Nationalver- cherung in Frage und hat Auswirkungen auf sammlung; das Quorum liegt bei 289 Stim- die Gesetzgebung der Mitgliedstaaten. men. – Am 29.4. stimmt das Parlament nach – Spanien. Das Parlament lehnt mit gro- kontroverser Debatte mit 265 gegen 232 dem ßer Mehrheit (299 gegen 47 Stimmen) den umstrittenen Wirtschaftsprogramm zu, das Antrag der Regionalregierung Kataloniens bis 2017 Einsparungen von 50 Mrd. Euro ab, ein Referendum über die Unabhängig- bringen soll. Mehr als 40 Abgeordnete der keit der Provinz abzuhalten. Sprecher der regierenden Sozialisten enthalten sich aus regierenden Konservativen und der opposi- Protest oder stimmen mit Nein. tionellen Sozialisten bezeichnen das Vorha- 2.-3.4. – EU. Kommissionspräsident Barroso ben als verfassungswidrig. Die Souveränität kündigt auf einem EU-Afrika-Gipfel eine stehe lediglich dem gesamten spanischen Neuausrichtung der Beziehungen der Union Volk zu, so Ministerpräsident Rajoy. mit dem afrikanischen Kontinent an, es 10.4. – Europarat. Wegen der Annexion der müsse ein Verhältnis auf Augenhöhe ent- Krim entzieht die Parlamentarische Ver- stehen. Am Gipfel nehmen Delegationen sammlung der Organisation den 18 russi- aus den 28 EU-Mitgliedern und aus allen 54 schen Abgeordneten zunächst bis Januar

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201406_Buch.indb 126 21.05.14 10:43 Chronik 127

2015 das Stimmrecht. Die Entscheidung im Das UN-Mitglied wirft den acht Kernwaffen- Palais de l‘Europe in Straßburg fällt mit 145 staaten USA, Russland, Frankreich, Groß- gegen 21 Stimmen. britannien, Pakistan, Indien, Nordkorea und – UNO. Der Sicherheitsrat erteilt das Israel vor, ihren Verpflichtungen zur nuklea- Mandat für eine weitere „Blauhelm“-Mis- ren Abrüstung nicht nachzukommen. Die sion. Die von Frankreich eingebrachte Reso- Marschall-Inseln waren nach dem Zweiten lution 2149 (2014) sieht die Entsendung von Weltkrieg Testgelände für amerikanische 10 000 Soldaten und 1800 Polizisten in die Atomversuche. Zentralafrikanische Republik vor, um die 26.-29.4. – Türkei/BRD. Bundespräsident Zivilbevölkerung vor bewaffneten Ausein- Gauck äußert während eines Staatsbesu- andersetzungen zwischen christlichen und ches in der Türkei seine Besorgnis. Er frage muslimischen Gruppen zu schützen und der sich „heute und hier“, ob die Unabhängig- Übergangsführung bei der Organisation keit der Justiz noch gesichert sei, wenn die von Wahlen zu helfen. Regierung unliebsame Staatsanwälte und 11.4. – Türkei. Das Verfassungsgericht er- Polizisten daran hindere, Missstände ohne klärt die umstrittene Justizreform der Re- Ansehen der Person aufzudecken. Minister- gierung Erdogan in wichtigen Teilen für ver- präsident Erdogan weist die Kritik Gaucks fassungswidrig. Annulliert werden insbe- öffentlich zurück: „Behalten Sie Ihre Rat- sondere Bestimmungen, die eine Kontrolle schläge für sich.“ des Justizministers über den Hohen Rat der 28.4. – Ägypten. Ein Gericht in Minia ver- Richter und Staatsanwälte erlauben. Damit urteilt weitere 683 Personen zum Tode, sei die Gewaltenteilung gefährdet. denen die Teilnahme am Sturm auf einen 14.4. – Venezuela. Die Regierung und das Polizeiposten im vergangenen Jahr vorge- Oppositionsbündnis „Mesa de la Unidad worfen wird. Der Prozess dauert nur eine Democrática“ (MUD) einigen sich auf einen Stunde. Unter den Angeklagten ist der Dialog, um die anhaltende politische Krise oberste Führer der Muslimbrüder, Moham- beizulegen (vgl. „Blätter“, 4/2014, S. 127). med Badie. Das gleiche Gericht bestätigt 37 Der Dialog soll im staatlichen Rundfunk von im März d.J. ausgesprochenen 529 To- übertragen und von ausländischen Media- desurteilen, die übrigen werden in lebens- toren begleitet werden. lange Haft umgewandelt. 21.4. – Syrien. Parlamentspräsident Lahham – Philippinen/USA. Der amerikanische kündigt Präsidentschaftswahlen für den 3. Präsident Obama beendet auf den Philippi- Juni d.J. an. Präsident Assad will für eine nen eine ausgedehnte Asienreise, in deren weitere siebenjährige Amtszeit kandidieren. Verlauf er Japan, Südkorea und Malaysia 23.4. – Naher Osten. Fatah und Hamas, die besucht hatte. US-Botschafter Philip Gold- beiden zerstrittenen Fraktionen der Palästi- berg und Verteidigungsminister Voltaire nenser, die das Westjordanland und den Ga- Gazmint unterzeichnen ein Abkommen, das zastreifen regieren, schließen ein Versöh- den USA in den nächsten zehn Jahren eine nungsabkommen. Eine gemeinsame Über- größere militärische Präsenz erlaubt. gangsregierung aus Technokraten soll Par- 30.4. – Irak. Erstmals seit dem Abzug der laments- und Präsidentschaftswahlen vor- amerikanischen Truppen Ende 2011 finden bereiten. Kritik kommt aus Israel, aber auch Parlamentswahlen statt, an denen sich nach aus den USA. Ministerpräsident Netanjahu amtlichen Angaben etwa 60 Prozent der fordert von Palästinenserpräsident Abbas, Wahlberechtigten beteiligen. Das Ergebnis das Abkommen zurückzunehmen. – Am soll erst Wochen später vorliegen. 27.4. bezeichnet Abbas in einer auf Englisch – Nigeria. Vor dem Parlament in der und Arabisch verbreiteten Erklärung zum Hauptstadt Abuja findet auf Initiative der Holocaust-Gedenktag das Verbrechen an Vereinigung „Frauen für Frieden und Ge- Juden als beispiellos in der Geschichte der rechtigkeit“ eine Demonstration statt. Die Moderne. Der Holocaust stehe für Rassis- Teilnehmer protestieren gegen den zu- mus und ethnische Diskriminierung, was nehmenden Terror der Islamisten von Boko die Palästinenser in aller Form ablehnten. Haram. Die Sekte hatte am 14.4. aus einer 24.4. – IGH. Beim Internationalen Gerichts- Schule im Gliedstaat Borno mehr als 200 hof der Vereinten Nationen in Den Haag Mädchen mit unbekanntem Ziel verschleppt geht eine Klage der Marschall-Inseln ein. und mit deren Versklavung gedroht.

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201406_Buch.indb 127 21.05.14 10:43 Zurückgeblättert... Am 18. Mai starb im Alter von 84 Jahren der große Physiker, Friedensforscher und Trä- ger des Alternativen Nobelpreises Hans-Peter Dürr. Wir erinnern, aus aktuellem Anlass, an den unermüdlichen Vermittler zwischen Ost und West mit seinem letzten Beitrag in den »Blättern«: »Schwächen der Machtfixierung« (in: »Blätter«, 11/2002, S. 1347-1348) und an den Kämpfer für das Überleben des Planeten mit seinem »Blätter«-Vermächtnis: »Kooperation statt Konfrontation. Plädoyer für ein ›Global Challenges Network‹« (in: »Blätter«, 8/1987, S. 1029-1042).

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Verlag: Blätter Verlagsgesellschaft mbH, Berlin, Torstraße 178, 10115 Berlin; Postfach 540246, 10042 Berlin Amtsgericht Berlin Charlottenburg HRB 105991 B Finanzamt für Körperschaften II, Berlin St.-Nr. 37/239/21010 Gesellschafter: Daniel Leisegang, Albrecht von Lucke, Annett Mängel, Dr. Albert Scharenberg Geschäftsführerin: Annett Mängel, Telefon 030/30 88 - 36 43, Fax 030/30 88 - 36 45 Bankverbindung: Postbank Köln (BLZ 370 100 50), Kto. 147 993-502 IBAN: DE543701 0050 0147 9935 02 Vertrieb: Berit Lange-Miemiec, Blätter Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 54 02 46, 10 042 Berlin

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An dieser Ausgabe wirkten als Praktikant Jakob Oxenius und als Praktikantin Jenny Weber mit.

Blätter-Gesellschaft: Die gemeinnützige Gesellschaft zur Förderung politisch-wissenschaftlicher Publizistik und demokratischer Initiativen e.V., vormals abgekürzt „Blätter-Förderverein“, gibt in Verbindung mit dem Herausgeberkreis der Zeitschrift die Blätter für deutsche und internationale Politik heraus. Ihr stehen Dr. Corinna Hauswedell, Dr. Wolfgang Zellner und Christoph Wagner vor. Die „Blätter“ erscheinen zugleich als Mitgliederzeitschrift der Gesellschaft. Beiträge – ab 10 Euro monatlich – und Spenden sind steuerabzugsfähig. Sitz: Bonn, Beringstr. 14, 53 115 Bonn; Büro Berlin: Postfach 54 02 46, 10042 Berlin. Bankverbindung: Santander Bank (BLZ 500 333 00), Kto. 1028 171 700. Preise: Einzelheft 10 Euro, im Abonnement jährlich 84,60 Euro (ermäßigt 67,20 Euro). Alle Preise inklusive Versandkosten. Auslandszuschläge auf Anfrage. Das Abonnement verlängert sich um ein Jahr, sofern es nicht sechs Wochen vor Ablauf des Bezugszeitraums beim Verlag schriftlich gekündigt wurde. Das Register des laufenden Jahrgangs erscheint jeweils im Dezemberheft. Heft 7/2014 wird am 27.6.2014 ausgeliefert. © Blätter für deutsche und internationale Politik. ISSN 0006-4416. G 1800 E

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201406_Buch.indb 128 21.05.14 10:43 Autorinnen und Autoren dieses Heftes editionBlätter Anzeige

Anne Britt Arps, geb. 1979 in Ham- Andreas Heinemann-Grüder, geb. burg, Politikwissenschaftlerin, Redak- 1957 in Potsdam, Dr. phil. habil., Pri- teurin der „Blätter“. vatdozent für Politikwissenschaften an der Universität Bonn. Demokratie oder Jens Becker, geb. 1964, in Frankfurt a. M., Dr. rer. soc., arbeitet als Bildungs- James Jennings, geb. 1949 in New referent in der Abteilung Studienför- York/USA, Ph.D., Politikwissenschaft- derung der Hans-Böckler-Stiftung. ler, Professor für Stadt- und Umwelt- politik an der Tufts University in Med- Kapitalismus? Andreas Behn, geb. 1963 in Hamburg, ford, Massachusetts/USA. Soziologe und Journalist mit Themen- schwerpunkt Lateinamerika, lebt in Niels Kadritzke, geb. 1943 in Rosen- Rio de Janeiro/Brasilien. berg/Westpreußen, freier Journalist und Redakteur der deutschen Ausga- Europa in der Krise Matthias Birkwald, geb. 1961 in Müns- be von „Le Monde diplomatique“. ter/Westfalen, Sozialwissenschaftler, MdB, rentenpolitischer Sprecher der Rami G. Khouri, geb. 1948 in New Bundestagsfraktion der Linken. York/USA, Politikwissenschaftler, Di- rektor des Issam Fares Institute for Pu- »Die Großthemen werden heute nicht mehr Detlev Claussen, geb. 1948 in Ham- blic Policy and International Affairs burg, Dr. phil., Prof. em. für Gesell- (IFI) an der American University of unbedingt auf den Haupt- und Staatsbüh- schaftstheorie, Kultur- und Wissen- Beirut/Libanon. schaftssoziologie an der Universität nen ausgetragen, sondern in kleinen, ehr- Hannover. Michael R. Krätke, geb. 1950 in geizigen ›Programmtheatern‹. Ein Beispiel Lü neburg, Dr. rer. pol., Professor fü r Marc Engelhardt, geb. 1971 in Köln, Politische Ökonomie an der Universi- dafür ist der von den ›Blättern für deutsche langjähriger Afrikakorrespondent und tät Lancaster/Großbritannien. und internationale Politik‹ angestoßene Autor, Vorsitzender des Netzwerks „Weltreporter“. Paul Krugman, geb. 1953 in New Streit zwischen dem Philosophen Jürgen York/USA, Professor für Volkswirt- Habermas und dem Soziologen Wolfgang Thomas Fritz, geb. 1964 in Oldenburg, schaftslehre an der Princeton Univer- freier Autor mit den Schwerpunkten sity in New Jersey, Wirtschaftsnobel- Streeck über die Europäische Union. Schon Wirtschafts-, Entwicklungs- und Um- preisträger des Jahres 2008. weltpolitik, lebt und arbeitet in Berlin. beim ersten Schlagabtausch entstanden Daniel Leisegang, geb. 1978 in Schlüsseltexte, die fast alles auf den Tisch Susan George, geb. 1934 in Akron/ Unna, Politikwissenschaftler, „Blät- USA, Politikwissenschaftlerin und ter“-Redakteur. beförderten, was über die Jahre sauber Philosophin, Publizistin, ehem. Vize- versiegelt in separaten akademischen präsidentin von Attac Frankreich, Mit- Albrecht von Lucke, geb. 1967 in In- begründerin des International Institu- gelheim am Rhein, Jurist und Politik- Schubladen eingelagert war.« te in Amsterdam. wissenschaftler, „Blätter“-Redakteur.

Thomas Assheuer, »Die Zeit« Glenn Greenwald, geb. 1967 in New Klaus Naumann, geb. 1949 in Bremen, York/USA, Juris Doctor (J.D.), Rechts- Historiker und Politikwissenschaftler, anwalt, Journalist und Blogger, Mit- wiss. Mitarbeiter am Hamburger Insti- herausgeber der publizistischen Web- tut für Sozialforschung, Mitherausge- seite www.theintercept.com. ber der „Blätter“. Mit »Blätter«-Beiträgen von: Elmar Altvater, Ulrich Beck, Peter Bofi nger, Hauke Brunkhorst, Christian Calliess, Henrik Enderlein, Joschka Fischer, Claudio Franzius, Ulrike Guérot, Jürgen Habermas, Rudolf Hickel, Paul Krugman, Isabell Lorey, Oskar Negt, Claus Offe, Ulrich K. Preuß, Stephan Schulmeister, Wolfgang Streeck, Hans-Jürgen Urban, Hubert Zimmermann und Karl Georg Zinn

288 S. | 15,00 € | ISBN 978-3-9804925-7-7 | Bestellen auf www.blaetter.de Hinweis: In dieser Ausgabe finden Sie Beilagen der Wochenzeitung „Der Freitag“, des Papy- Rossa Verlags und des Wochenschau Verlags. Wir bitten um freundliche Beachtung.

00_201406_U2-U3.indd 6 21.05.14 10:58 00_201406_U1-U4.indd 5 Die »Blätter« und auch E-Paper jetzt als E-Book – im Probeabo Zwei Monate für nur 10 Euro: www.blaetter.de/kennenlernen digital! Sie Bl@ttern hinschauen. Diese Momente genau –und innehalten lassen uns Vorher ein Geschichtedie in Nachher ein und einteilt. herausragenden Momente derer aufgrund erweisen, man D Drei Elemente machen den des Kern NSA-Skandals von von NSA-Skandals des Zeiten in Privatheit Über Neuland in Citoyens ANALYSEN ALTERNATIVEN UND Edward Snowden könnten dieser einer sich als ie Enthüllungen des ehemaligen Geheimdienstlers Bernd Rheinberg Bernd aus: aus:

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