Die Hintergründe des Konfliktes zwischen Athen und Mytilene im Jahre 428/427 v.Chr. (Thukydides III.1-50)1

Philipp SCHEIBELREITER

(Universität Wien)

Zur Rekonstruktion des komplexen Sachverhaltes erscheint es geboten, das dritte Buch des Peloponnesischen Krieges von Thukydides als Quelle heranzuziehen2: Im Jahre 428 v.Chr. wendet sich Mytilene, die führende Polis der Insel , vom Bündnispartner Athen ab beginnt aufzurüsten und die Nachbarstädte Eresos, Antissa und Pyrrha auf seine Seite zu ziehen (III.2,1). Als diplomatische Interventionsversuche fruchtlos bleiben, kommt es zu einer ersten militärischen Konfrontation. Gleichzeitig werden in Athen die zehn Trieremen der Lesbier, die der Bündnispartner im Piräus vor Anker liegen hat, festgehalten -

(III.3,4). Probleme könnten bei dem Versuch einer juristisch richtigen Determinierung des Begriffes auftreten. Panagopoulos3 etwa übersetzt den letzten

1 In der Folge werden die Stellen aus dem ãPeloponnesischen Krieg“ des Thukydides nur mit Buch und Kapitel zitiert. 2 So behandelt etwa Diodor in seinem Geschichtswerk die gesamte Episode in äußerst knapper Form. Kaum äußert er sich zu Motiven und Hintergründen des Abfalles, auf die in der vorliegenden Arbeit das größte Gewicht gelegt werden soll - vgl. Diodor XII 55:

. 3 A. PANAGOPOULOS, Captives and Hostages in the Peloponnesian War, Amsterdam 1989, 48. 14 PHILIPP SCHEIBELREITER

Satzteil wie folgt: ã...the trieremes of Mytilene... were kept back by the Athenians and their crews placed under arrest“. Mytilene war durch die Mitgliedschaft im attisch-delischen Seebund zur Stellung eines Schiffskontingents verpflichtet, das dann der athenischen Führungsgewalt unterstand. Das „Zurückhalten“ der Trieremen hat hier natürlich den Zweck, den abfallbereiten Bundesgenossen militärisch zu schwächen, also zu verhindern, da§ sich die zehn Trieremen an einer Auseinan- dersetzung beteiligen könnten. Es ist aber auch ein Eingriff in die Vermögenswerte Mytilenes, der über die aus der Führungskom- petenz abgeleitete Macht Athens hinausgeht - so gesehen lie§e sich das „Zurückhalten“ mit ãBeschlagnahme von Feindesgut“ übersetzen. In Lesbos werden die ersten Kampfhandlungen durch einen Waffenstillstand ( 4) unterbrochen. Dieser stellt als Vertrag zwischen Kriegführenden einen „Kriegsvertrag“ ( 5) dar 6: Die Mytilenaier erhalten während der Unter- brechung der Kampfhandlungen die Erlaubnis, eine Gesandtschaft nach Athen zu schicken, um Verhandlungen zu führen; da sie aber zugleich heimlich eine Triere nach Sparta schicken und sich so dem Feind Athens „anbieten“, steht die Verhandlungsabsicht nur im Vordergrund, in Wahrheit ist das Scheitern der offiziellen Mission vorauszusehen - eine Einigung ist gar nicht im Interesse der Lesbier gelegen. Vielmehr gewinnen sie Zeit für eine mögliche Kontaktaufnahme mit Sparta. Die Fahrt nach Athen bleibt, wie vorauszusehen war, ergebnislos; das führt zu einer Fortsetzung der Kampfhandlungen (III.5,1). Währenddessen beantragen die Lesbier - auf Einladung

4 Thukydides verwendet hier den Ausdruck für „Waffenstillstand“. Dieses Terminus bedient er sich auch in I.40, V.32, VIII.87. Vgl. auch IV.117: (Kriegsunterbrechung). 5 Vgl.K.H. ZIEGLER, Völkerrechtsgeschichte, München 1994, 38. 6 Der Unterschied zwischen und ist im Griechenland des späten 5. Jhdts. nicht allzu gro§: leitet sich aus dem Personenschutz her, der während religiöser Feste deren Teilnehmern gewährt wurde, - daher auch die Etymologie aus ã “. Bei Thukydides ist die kultische Konnotation jedoch nicht zwingend gegeben, kann schlicht mit Waffenstillstand übersetzt werden, ebenso wie und - vgl. dazu E. BALTRUSCH, Symmachie und Spondai.Untersuchungen zum griechischen Völkerrecht der archaischen und klassischen Zeit, Berlin 1994, 117ff. KONFLIKT ZWISCHEN ATHEN UND MYTILENE 15 der Spartaner im Rahmen der 88.Olympischen Spiele - ihre Aufnahme in den Peloponnesischen Bund. Nach dem Fest beginnen die Verhandlungen darüber, es folgt das Bittgesuch der Gesandten aus Lesbos (III.9-14). Die geschickte Argumentation der Redner gibt in all ihrer Subjektivität wesentlichen Aufschlu§ über das Verhältnis der Mytilenaier zu Athen und wird später noch genauer zu behandeln sein. Allein schon da§ die Rede im Anschlu§ an die olympischen Spiele vorgetragen wird, erweist sich hinsichtlich der Publizität als vorteilhaft; ebenso verschafft der religiöse Rahmen dem Anliegen eine gewisse moralische Rechtfertigung7. Letztendlich stimmen die Spartaner der Aufnahme zu: (III.15,1). Dies erscheint bemerkenswert, zumal der Antrag auf Aufnahme bereits zweimal von den Lakedaimoniern abgelehnt worden war - ã (III.2,18)“. Unterdessen haben sich in Lesbos alle wichtigen Städte der Insel mit Ausnahme des demokratisch verfa§ten Methymna endgültig auf die Seite Mytilenes geschlagen, die Athener sind mit 1000 Mann unter dem Befehl des Feldherrn Paches gelandet und belagern Mytilene von der Meeres- und der Landseite. Als in der Stadt die Nahrungsmittel knapp werden - (III.27,19), greift der nach Mytilene geschickte spartanische Gesandte Salaithos10, der den Demos nicht länger mit der Nachricht von dem baldigen Entsatz durch eine spartanische Flotte hinhalten kann, zu einem letzten verzweifelten Mittel: Er bewaffnet das Volk für einen überraschenden Ausfall aus der Stadt. Der nun wehrhafte Demos aber erpre§t stattdessen die Stadtherren: Man solle ihm

7 D. MOSLEY, Spartanische Diplomatie, in: E.Olshausen/H.Biller (Hrsg.), Antike Diplomatie, Darmstadt 1979, 183-203, 199. 8 A.W. GOMME, A Historical Commentary on Thucydides, 5 Bde, Oxford 1945 - 1981, ad locum, datiert das auf die Jahre 440 (Samosfeldzug Athens) und 433/32 (Kriegsvorbereitungen Spartas). Dagegen BALTRUSCH 207, Anm.11, der die Frage aufwirft, warum sich Mytilene dann noch 5 Jahre (433/432-428/427) mit dem Abfall Zeit gelassen haben soll. 9 GOMME, ad locum, sieht im Verwenden des Plusquamperfekts die Tatsache widergespiegelt, da§ das Getreide völlig aufgebraucht ist. 10 Es entsprach der spartanischen Kriegspraxis, eigene Leute zu den Feinden Athens zu deren Unterstützung und Manipulation zu entsenden - so auch Meleas (V.2), Tantalos (IV.57,3) und selbst Gylippos (VI.93).

Revue Internationale des droits de l’Antiquité XLIX (2002) 16 PHILIPP SCHEIBELREITER entweder Getreide zuteilen oder das Volk würde die Stadt dem Feind übergeben (III.27,3). Welches Motiv den Demos dazu leitete ist eine vieldiskutierte Frage. Geschah es aus Loyalität zum demokratischen Athen oder aus Ha§ auf die oligarchische Oberschicht Mytilenes? Ich tendiere zur Ansicht von Legon11, der die Haltung des Demos grundsätzlich als „patriotisch“ beschreibt12. Politisches Interesse des einfachen Volkes schlie§t Westlake13 aus, wie Quinn14 nennt er Nahrungsmittelknappheit als wesentliche Ursache, ebenso Welwei15. Salaithos und die oligarchische Oberschicht sind also gezwungen, den Athenern die Stadt zu öffnen und die Belagerung findet vorerst mit einem Waffenstillstandsvertrag zwischen Paches und Salaithos ein unblutiges Ende - (III.28,1): Mytilene erhält die Erlaubnis, eine Gesandtschaft nach Athen zu schicken, wo über ein weiteres Vorgehen des Feldherren entschieden werden soll16. Daher verpflichtet sich Paches, bis dahin ã .“ Daraus ergibt sich, da§ den Hauptakteuren des Abfalles kein Unrecht geschehen werde (III.28,2). Wenn Paches diese, die er vorläufig auf Tenedos festgehalten hat, schlie§lich nach Athen schickt (III.35,1), wo Salaithos sofort hingerichtet wird (III.36,1), dann ist darin keine Vertragsverletzung des Paches17 zu sehen: Das ã “ (III.28,2) hatte nicht ãBegnadigung18“ im Sinne des völligen Ausbleibens einer Sanktion für den Verrat am Bündnispartner Athen bedeutet. Paches hatte lediglich zugesichert, die Entscheidung der Behörden in

11 R.P. LEGON, Megara and Mytilene, Phoenix 22 (1968), 200-225. 12 LEGON, 210: ãThe demos displaid neither notable love or hatred for Athens, but simply participated in the defence of its polis when Athens sailed against it - an essentially innocent and patriotic response“. 13 H.D. WESTLAKE, The Commons at Mytilene, Historia 25 (1976), 429-446, 435. 14 T.J.QUINN, Political groups in Lesbos during the Peloponnesian War, Historia 20 (1971), 405-417, 407. 15 K.W. WELWEI, Das klassische Athen, Darmstadt 1999, 171. 16 Die Erlaubnis der erneuten stellt eine Besonderheit dar, vgl. aber auch IV.46; 47,1 und III.52,2. 17 GOMME, ad locum. 18 GOMME, ad locum. KONFLIKT ZWISCHEN ATHEN UND MYTILENE 17

Athen abwarten zu wollen -ã “ (III.28,2), ehe er handelt. Es lag ja auch gar nicht in der Kompetenz des Feldherrn, eigenmächtig einen Vertrag auszuhandeln oder ohne Legitimation durch einen athenischen Beschlu§ tätig zu werden. Die Inhaftierung auf Tenedos stellte nur eine vorläufige Ma§nahme dar, Panagopoulos sieht darin auch eine Schutzma§nahme für die Verschwörer vor politischen Gegnern im eigenen Land19. In Athen beschlie§t die Volksversammlung in ihrer ersten Erregung - (III.36,1) - ein Psephisma über Mytilene: Die Tötung der gesamten wehrfähigen männlichen Bevölkerung der Stadt und die Versklavung der Frauen und Kinder. Dies erscheint aus heutiger Sicht übermäßig grausam20 - obwohl es der antiken Kriegspraxis entsprach und in anderen Fällen tatsächlich vollstreckt wurde21. Bald erkennt aber die attische Bevölkerung das erste Psephisma als ã “ (III.36,4) und es kommt zur erneuten Versammlung, auf Grundlage von deren Entscheidung Mytilene folgender Friedensvertrag diktiert wird: Die Athener würden nur die 1000 Anführer des Aufstandes, die Paches von Tenedos nach Athen transportiert hatte, hinrichten. Weiters beinhaltete der Vertrag das Schleifen der Stadtmauer, die Auflösung der Flotte, die Aufteilung des Landes von Mytilene auf Kleruchen22 und Wegnahme ( ) der Festlandbesitzungen Mytilenes durch Athen (III.50,1-323). Da ich mich in Folge vor allem auf die vertragsrechtliche Beziehung der Städte Athen und Mytilene zueinander beschränken

19 PANAGOPOULOS 55. 20 Die Überreaktion deutet auch auf generalpräventive - man will ein Exempel statuieren - und spezialpräventive - immerhin handelte es sich bei Mytilene um einen privilegierten Bündnispartner - Überlegungen der Athener hin. 21 Vgl. 422 Torone (V.3,4) , 421 Skione (V.32), 415 Melos (V.116). 22 Interessant ist dabei die Betonung der Tatsache, da§ die Stellung von Schiffen ab nun nicht einfach in einen monetären Phoros „transformiert“ wird wie bei anderen untreuen Symmachoi (Thasos I.101, I.117), sondern das Land aufgeteilt wird - vgl dazu Anm.32. 23 Diodor (XII.55) berichtet nur von der Schleifung der Stadtmauer und der Landaufteilung: .

Revue Internationale des droits de l’Antiquité XLIX (2002) 18 PHILIPP SCHEIBELREITER möchte, kann ich auf weitere juristisch relevante Aspekte des Sachverhaltes vorerst nur aufmerksam machen. So verdiente es der berühmte Agon zwischen Kleon und Diodotos, der dem 2. Psephisma vorausgeht, näher behandelt zu werden24, ebenso die Kleruchie in Lesbos. Hierzu existiert immerhin eine Inschrift25 mit dem Vertragstext, woraus sich eine Bestandgabe des aufgeteilten Landes rekonstruieren läßt: So dürften die Kleruchen aus Athen ihre Anteile an die ortsansässige Bevölkerung von Lesbos verpachtet haben. Zur genaueren Behandlung des Pachtvertrages ist auf die Arbeiten von Merrit 26, Erxleben27 und Gomme28 zu verweisen. Kehrt man nun an den Anfang des eben paraphrasierten Sachverhaltes zurück, so stellt sich als erstes die Frage, warum Mytilene denn solch gro§es Interesse am Austritt aus dem attisch- delischen Seebund hatte. Immerhin mu§te Lesbos keinen Phoros in Geld entrichten, sondern war durch die Symmachie mit Athen lediglich dazu verpflichtet, jährlich ein Kontingent an Schiffen zu stellen29 - ã “ - hei§t es etwa in III.3,430. Die Art der Beitragsleistung war den Mitgliedern bei Gründung der Allianz freigestellt worden - aber nur wenige wie Naxos, Thasos, Samos, Lesbos und Chios31 zogen die Stellung von Truppenkontingenten dem Phoros vor32 .

24 Vgl. dazu vor allem: D. EBNER, Kleon und Diodotus, in: Wiss.Zeitschrift der M.Luther Universität, Halle-Wittemberg V (1955/56), 1085-1160; F.M. WASSERMANN, Post-Periclean Democracy: The Mytilene Debate, TAPA XXXVII (1956), 27-41; A. ANDREWS, The Mytilene Debate, Phoenix 16 (1962), 64-85. J. DE ROMILLY, Thucydides and Athenian Imperialism, Oxford 1963, 157-171. B. MANUWALD, Die Trugrede des Diodotos, Hermes 107 (1979), 407-422. W.R. CONNOR, Thukydides, Princeton 1984, 79-91. M. NEVILLE, Cleon the misunderstood, OMNIBUS 35 (1997), 4-6. J. ANDREWS, Cleon’s hidden appeals, CQ 50 (2000), 45-62. 25 IG I2 60. 26 B.D. MERRIT, Athenian Convent with Mytilene, AJPh 75 (1954), 361-368. 27 E. ERXLEBEN, Die Kleruchen auf Euboia und Lesbos, Klio 57 (1975), 83-100. 28 GOMME, ad locum. 29 GOMME, ad locum, nimmt an, da§ sie stets am Jahresbeginn in den Piräus auslaufen mu§ten. 30 Vgl. dazu auch: I.19; II.9,5; 56,2; VII.57,5. 31 Vgl.dazu: WELWEI, 80. 32 Anders K.J. BELOCH, Griechische Geschichte II,1, Berlin-Leipzig 1927, 83. Gemäß seiner Darstellung waren Samos, und Lesbos überhaupt vom Tribut befreit, während Naxos und Thasos in den Tributsliten aufscheinen. Dabei gilt es KONFLIKT ZWISCHEN ATHEN UND MYTILENE 19

Zu Beginn des peloponnesischen Krieges jedoch hatten drei von diesen ihre Flotten bereits aufgeben müssen: Naxos war als erstes Mitglied abgefallen und von Athen unterworfen worden (I.98-99), Thasos war es 463 nicht anders ergangen (I.100-101). 439 hatte das abtrünnige Samos kapituliert (I.115-117). Ursachen der Abfallsbestrebungen aber waren - soweit wir Konkretes überliefert haben33 - jeweils andere: Thasos stritt mit Athen um ein Bergwerk, Samos hatte sich im Konflikt mit Milet der Entscheidung Athens darüber nicht unterwerfen wollen. 428 v.Chr. waren es also nur noch Lesbos und Chios, die ihren Tribut in Schiffskontingenten entrichten durften. Gerade wegen der deutlich begünstigen Stellung34 mu§ ein Austritt aus dem Bund einem Dritten als Verrat an Athen erscheinen35 - den Mytilenaiern ist dies voll bewu§t (III.9). Also versuchen sie zu argumentieren, da§ ihre „Autonomie“ nicht mehr vorläge, und das aufgrund einseitiger Umgestaltung der zu bedenken, da§ er dafür „Schätzwerte“ der Tributsliten von 446/45-440/39 heranzieht. Zu dieser Zeit waren Naxos und Thasos nun bereits unterworfen. Daraus ergibt sich folgendes Bild: Naxos und Thasos, von jeher tributpflichtig, hatten sich ursprünglich für die Stellung von Schiffskontingenten entschieden. Durch ihre Unterwerfung wurde die Beitragsleistung gleichsam in einen monetär zu entrichtenden Phoros „transformiert“ - vgl. I.101:

Überliefert ist die Beitragsleistung von drei Talenten (454/453-447/446), danach 30 Talenten pro Jahr, vgl.Gomme ad locum. Chios, Samos und Lesbos sind an sich tributbefreit, stellen Athen aber dennoch ihre Flotte zur Verfügung. Dieses „Privileg“ ist nichts anderes als eine Form der Beitragsleistung. Nichts desto trotz wird mehrfach darauf hingewiesen (I.19; II.9,5; 56,2; VII.57,7; vgl dazu auch: H. SONNABEND, in: Der Neue Pauly.Enzyklopädie der Antike VII (Lef-Men), s.v. Lesbos, 85-87, 86. ID, in: Der Neue Pauly VIII (Mer-Op), s.v. Mytilene, 650-653, 651.) 429 wird auch Samos eingenommen und mu§ seine Flotte ausliefern (I.117). 33 Von Naxos etwa hei§t es nur ganz allgemein:

(I.99). 34 H.J. GEHRKE, Stasis. Untersuchungen zu den inneren Kriegen in den griechischen Staaten des 5. und 4. Jahrhunderts v.Chr., München 1985, 117, spricht von Lesbos als ãautonomem Verbündeten Athens“. 35 Zu denken ist an die besondere Treueverpflichtung der Inselgriechen, die sie auf der Konferenz von Samos eingehen:

(Herodot IX 106,4).

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Seebundsatzung durch die Athener. Wie aber hat sich nun das Verhältnis der beiden Poleis zueinander zwischen der Konferenz von Samos36 und der Zeit des peloponnesischen Krieges verändert? Ursprüngliches Ziel der Einzelverträge37 des attisch-delischen Seebundes war es gewesen, Vergeltung des erlittenen Schadens durch Verwüstung des persischen Landes zu üben38. Im Unterschied zum peloponnesischen Bund Spartas ist auch keine „Hegemonieklausel“ zugunsten Athens überliefert39; indirekt ist die Gefolgschaftspflicht der Symmachoi jedoch in der ãFreund- Feindklausel40“ verankert41. Daneben war in dieser Defensivallianz das Verbot der Kriegführung einzelner Mitglieder untereinander und das des Austritts vereinbart42: Herodot IX.106,4:

Aristoteles, Ath.Pol.23,5:

43.

36 Ebenda. 37 WELWEI, 79. 38 I.96,1: Vgl.dazu weiters: VI.76,3-4 (Rede des Hermokrates). Diodor XI.47,1

... Zur Gründung des Seebundes allgemein vgl. Plutarch, Aristeides 24-25,3. 39 BALTRUSCH, 59, interpretiert das Vorliegen einer Hegemonieklausel Athens aus einigen Quellenstellen: I.96; 75,2; VI.76,3 (siehe Anm.54) Hdt. VIII.3,2:

Xen.Hell. VI.5,33; Isokr. IV.72; VIII.30; XII.67. 40 Vgl. Aristoteles, Athenaion Politeia 23,5:

. Diese Freund-Feindklausel kann als Standardformulierung für Defensiv- und Offensivallianzen angesehen werden (vgl. ADCOCK-MOSLEY 189). Thukydides verwendet sie zB. auch in I.44,1. 41 WELWEI, 79. 42 Ebenda. 43 Das Versenken von Metallklumpen besichert den Vertrag: Dieser soll erst gelöst werden dürfen, wenn die Klumpen wieder an die Oberfläche treten - also nie! KONFLIKT ZWISCHEN ATHEN UND MYTILENE 21

In dem Frieden mit Persien 450 v.Chr.44 schien das Ziel des Seebundes erreicht - dennoch blieb dieser bestehen. Welwei vermeint aufgrund mancher Unregelmäßigkeiten in den Tributsliten (diese dokumentieren die Zahlungen der Bündnispartner) zwischen 450/449 und 447/446 die Unsicherheit der Seebundmitglieder bezüglich des Fortbestandes des Vertrages rekonstruieren zu können45. Athen aber unterwarf selbstsüchtig46 der Reihe nach alle Vertragspartner au§er Chios47 und Lesbos, die ihre Flotten behalten durften. Trotz dieser „autonomen“ Stellung im Bund sahen sie sich ständig mit der Gefahr konfrontiert, letztendlich von Athen unterjocht zu werden48. Hauptargument der Mytilenaier in Olympia ist die Tatsache, da§ ihre Autonomie seitdem nur de iure bestünde -

(III.10,5). De facto aber wäre eine Gleichstellung, wie sie als wesentliches Element einer Allianz in III.9,4 von den Mytilenaiern beschrieben wird (

), nicht mehr gegeben49. Ein Bündnis soll gleichberechtigte Partner haben: Da dies nicht mehr der Fall ist50 - zur Darstellung der Autonomie bedient sich der Redner des Irrealis 51 -, wäre die Auflösung des Vertrages von Seiten Mytilenes vgl. auch Plutarch, Aristides 25,1. Von dieser Form der Vertragsbesicherung berichtet auch Herodot (I.165,3). 44 Von dem sogenannten „Kalliasfrieden“ berichten erst die Historiker des 4.Jhs.; er war Thukydides, der ihn nicht explizit erwähnt, aber sicherlich geläufig, vgl. WELWEI 107 Anm.120. 45 WELWEI, 120; 129. 46 Die Bundeskasse war bereits seit 454 von nach Athen verlegt worden. 47 424 mu§ auch Chios seine Mauern schleifen, da Athen Aufstandspläne der Chier vermutet (IV 51). 48

(III.10,6). 49 Vgl. auch III.11,1:

50 Vgl. III.9: 51 Vgl. III.11,1:

Revue Internationale des droits de l’Antiquité XLIX (2002) 22 PHILIPP SCHEIBELREITER moralisch zu rechtfertigen. In der Interpretation der Reden kann man ferner auf Basis der clausula rebus sic stantibus52 argumentieren, wenn man in dem offiziellen Ende der Persergefahr durch den Kalliasfrieden 450 v.Chr. oder in der Machtanhäufung Athens eine ãgrundlegende Änderung der bei Vertragsschlu§ gegebenen Umstände, deren Vorhandensein eine wesentliche Grundlage für die Zustimmung der Vertragsparteien, durch den Vertrag gebunden zu sein, bildete53“ sieht. Diese ist insofern anzunehmen, als den Athenern bei Abschlu§ des Seebundvertrages noch keine imperialistischen Intentionen unterstellt werden können54. Auch wird „Änderung der Umstände“ durch Athen von den Mytilenaiern direkt angesprochen -

(III.10,4). Die ãVertragsumwelt55“ von 479/78 war eine andere als die der Zeit, in der sich Mytilene von Athen lösen möchte56. Natürlich darf man nicht den Fehler machen, eine Stelle aus Thukydides der Rechtssicht der ãclausula57“ zu unterwerfen, die erst im Mittelalter herausgearbeitet wurde. Zwar ist sie als

52 H. NEUHOLD/W. HUMMER/Ch. SCHREUER, Österreichisches Handbuch des Völkerrechts I3, Wien 1997, 76f. 53 Diese Ausformulierung der clausula rebus sic stantibus ist dem Art. 62/1a der Wiener Vertragsrechtskonvention 1969 entnommen und wurde nur zu illustrativen Zwecken, keinesfalls zur Auslegung von griechischem Vertragsrecht des fünften vorchristlichen Jahrhunderts gewählt. 54 Vgl. A. FRENCH, Athenian Ambitions and the Delian Alliance, Phoenix 33 (1979), 134-141, 138; K.E. PETZOLD, Die Gründung des delisch-attischen Seebunds: Elemente einer imperialistischen Politik Athens, Historia 42 (1993), 418-443, 421f. Anders hingegen in VI.76,3-4: Hier wird den Athenern unterstellt, von Anfang an beabsichtigt zu haben, nach der Abschüttelung des Perserjochs den Griechen das Ihre aufzuzwingen:

Allerdings handelt es sich hier um eine tendenziöse Rede des Syrakusaners Hermokrates, die deshalb nicht allzu eng zu interpretieren ist. 55 R. KÖBLER, Die ãclausula rebus sic stantibus“ als allgemeiner Rechtsgrundsatz, Tübingen 1991, 205. 56 Sehr gut stellt Baltrusch, 60, diese Entwicklung von Symmachie zur der Athener dar. 57 ZIEGLER, 109-110. KONFLIKT ZWISCHEN ATHEN UND MYTILENE 23

ãtheoretischer Ansatz“ auch der Antike nicht fremd, zur völkerrechtlich bedeutsamen Norm wird sie jedoch erst später: Thomas von Aquin etwa ist zu entnehmen, da§ ã...man vom Vertrage zurücktreten darf, wenn sich die Umstände wesentlich geändert haben, soda§ man unter solchen Umständen nie sein Wort gegeben, nie den Vertrag geschlossen haben würde58“. Hugo Grotius schlie§lich begrenzt die unumschränkte Anwendung des Prinzips von Treu und Glauben, indem er ãomnes restrictiones tacitae“ für ãpacta iurata“ verneint 59. Von dieser rechtswissenschaftlichen Debatte ist man im Jahre 428 v.Chr. noch weit entfernt. Dennoch ist deutlich erkennbar, da§ das Hauptargument der klug aufgebauten Rede in Thukydides III.9-15 genau auf einen Sachverhalt abzielt, den man heute unter die clausula rebus sic stantibus subsumieren würde. Soweit also die Darstellung der Mytilenaier. Wie aus anderen Quellen ersichtlich, ist aber die versuchte Einigung aller Poleis von Lesbos 60 zu einem „Synoikismos“ eigentliche Motiv der Abspaltungsbestrebungen61. Aristoteles berichtet von persönlichen Motiven62: Dem athenischen Proxenos Doxandros wird die Verehelichung eines seiner Söhne mit einer der Töchter des reichen mytilenischen Bürgers Timophanes verweigert; darob erzürnt, zettelt er einen Aufstand an und benachrichtigt gleichzeitig die Athener davon63. Im Jahr 428 findet bereits die 3.Plünderung Attikas statt, und man ist versucht, einen Zusammenhang zu erkennen, die Insel Lesbos etwa als wichtigen Getreideimporteur zu sehen, auf den Athen gerade jetzt - zwei gro§e Invasionen fallen in die Jahre 428 und 427 - angewiesen ist.

58 O. SCHILLING, Das Völkerrecht nach Thomas von Aquin, Freiburg i.Br. 1919, 32. 59 Hugo GROTIUS, De iure belli ac pacis libri tres II 16 ¤ 29,2. 60 Diodor XII.55,1.vgl. dazu LEGON, 201. 61 WELWEI, 169. 62 Aristoteles, Politik V.3, 1304a; vgl. auch Thukydides III 2. 63 Neben den Proxenoi sind es auch die athenfreundlichen Methymnaier und die Bewohner der Nachbarinsel Tenedos, die Athen von dem Umsturzversuch informieren (III.2).

Revue Internationale des droits de l’Antiquité XLIX (2002) 24 PHILIPP SCHEIBELREITER

Dies ist in zweifacher Hinsicht unwahrscheinlich: Wie Hanson64 schlüssig darlegt, sind die Zerstörungen der Anbaugebiete Attikas vor allem Mittel psychologischer Kriegsführung: In ihrer zeitlichen Kürze und unregelmäßigen Wiederkehr (insgesamt 5 im Archidamischen Krieg [431-421]65) bedingen sie nicht unmittelbar Nahrungsmittelknappheit in Athen66. Andererseits scheidet Lesbos als wichtiger Importeur schon allein aufgrund seiner mäßigen Fruchtbarkeit (vorwiegend Ölbau67) aus. Zu bedenken ist auch, da§ Mytilene für die Belagerung selbst Getreide importiert hatte (III.2,2) und letztendlich aus Mangel an Vorräten kapitulieren mu§te (III.27,1). Aufgrund der Lage von Lesbos knapp südlich der Route Athen - Schwarzes Meer, einer der „Kornkammern“ Attikas68, erscheint es Athen sicherlich bedeutsam, in Mytilene keinen Feind zu haben. Natürlich kann es sich Athen des weiteren auch nicht leisten, das offene Abfallen eines Bündnispartners unsanktioniert zu lassen. Auf eine Provokation dieser Art mu§ reagiert werden, wie es schon bei Naxos, Thasos und Samos geschehen war. Bei der Interpretation der „Mytileneepisode“ darf nicht au§er Acht gelassen werden, da§ au§en-, aber auch innenpolitische Spannungen wie der stete Konflikt zwischen oligarchisch und demokratisch Gesinnten innerhalb der Polis eine bedeutende Rolle spielen. Folgt man jedoch der Argumentation der Mytilenaier, so stellt die gravierende Änderung der Umstände, die bei ihrer Aufnahme in den Seebund vorlagen, einen Rechtfertigungsgrund für eine Vertragsauflösung dar - im Sinne einer clausula rebus sic stantibus. Dem kann die - Formel des Beitrittsvertrages nicht entgegengehalten werden.

64 V.D. HANSON, Warfare and Agriculture in Classical Greece, Berkeley-Los Angeles-London 1998, 132-153. 65 In den Jahren 431 (II.19,1), 430 (II.57,2), 428 (III.1,2), 427 (III.26,3), 425 (IV.2,1). 429 meiden die Spartaner den Kontakt mit dem pestverseuchten Athen, 426 hält sie die Angst vor einem Erdbeben zurück. 66 Vgl. dazu auch: Xenophon, Hell. I 1,35. 67 L. BÜRCHNER, in: Realenzyklopädie des klassischen Altertums XII,2 (Kynesioi- Libanon), Lesbos, 2106-2133, 2118. 68 R.J. HOPPER, Trade and Industries in Classical Greece, London 1979, 55.