Lyss kann wieder ruhig schlafen

Der Lyssbachstollen 2007 – 2012

Hochwasserschutz für Generationen 2 Kapitel Impressum

Herausgeber Gemeindeverband Lyssbach, 2012 Konzept GebelGebel, Büro für Öffentlichkeitsarbeit, Biel Redaktion Matthias Gebel, Jörg Bucher, Jürg Eberle, Isabel Rutschmann Konzept und Grafik c2 Beat Cattaruzza GmbH, Biel Druck Hertig Print, Lyss Foto Peter Samuel Jaggi, c2 Beat Cattaruzza GmbH, Air-control-pictures M. Caprara Quellen Max Gribi, «1000 Jahre Lyss», Dr. Ernst Oppliger, «Lyss: seine Geschichte»

Kapitel 3 6 12

Inhaltsverzeichnis 54

6 Das Hochwasser 2007 28 Der Lyssbachstollen: 30 So funktioniert der Stollen - 48 Lyss ist vor Hochwasser geschützt: 12 Der Lyssbach – eine Zeitreise Modellversuche an der ETH Zürich Die Inbetriebnahme 34 Die Tunnelbohrmaschine «talpa» 50 Lyss ist hochwassersicher – ein Fazit 20 Der Gemeindeverband Lyssbach 41 Der Lyssbachstollen ist ausgebrochen 51 Gefahrenkarte 42 Das Einlaufbauwerk Leen 54 Offizielle Einweihung 47 Der Grentschelbach 61 Organisation

4 Inhaltsverzeichnis 30

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Im Gespräch

10 Barbara Egger-Jenzer 18 Fritz Ruchti 23 Jürg Eberle 27 Stephan Mathys Regierungsrätin Präsident des Gemeinde­ Präsident der Delegierten­ Feuerwehrkommandant Direktorin Bau-, Verkehrs- verbandes Lyssbach versammlung und Energie­direktion

31 Jörg Bucher 37 Pius Bürge 44 Hermann Moser 52 Andreas Hegg Projektleiter, Baustellenchef alt Gemeindepräsident Lyss, Gemeindepräsident Lyss Wasserbauingenieur Implenia Bau AG Vizepräsident des Gemeinde­ verbandes Lyssbach

Inhaltsverzeichnis 5 6 Das Hochwasser Das Hochwasser 2007

In den vergangenen Jahrzehnten haben Hochwasser in regel- mässigen Abständen überbaute Gebiete in der Gemeinde Lyss überflutet. Es entstand grosser Sachschaden, glücklicherweise wurden Menschen verschont. Die jüngsten Hochwasser im Som- mer 2007 zeigten mit aller Deutlichkeit, dass die Kapazität des heutigen Lyssbachgerinnes durch Lyss zu gering ist.

Das Hochwasser 2007 7 … «Der Lyssbach hat ca. 25% des Siedlungsgebietes überflutet. Lyss vorläufig ­nicht möglich und muss auf den morgigen Tag verscho­ ist grossräumig gesperrt. Die Überschwemmungen haben ein weit ben werden.­ grösseres Ausmass angenommen, als bei den jüngsten Hochwasser­ Das Gemeindeführungsorgan hat in Absprache mit der Schule be­ ereignissen inklusive dem Grossereignis von 2001. Die Feuerwehr­ schlossen, dass am Donnerstag, 30.08.2007 der Schulunterricht für kräfte sind im Volleinsatz und werden von verschiedenen Nachbar­ die Schulkinder vom bis zur 9. Klasse ausfällt. wehren unterstützt. Bisher sind glücklicherweise keine Für Personen, die ihre Wohnungen verlassen müssen, stehen in Pers­­ onen­ schäden­ zu beklagen. Das Gemeinde- und das Regional­ der Zivilschutzanlage­ Sonnhalde Notunterkünfte zur Verfügung. führungsorgan sowie der Zivilschutz sind ebenfalls im Einsatz. Der Lyssbach kann zurzeit nur bei der Kirchenfeldstrasse (Restau­ ­Solange der Lyssbach nicht in seinem Gerinne zurück ist, können rant Bären) gequert werden. Alle anderen Übergänge sind nicht die überfluteten Keller nicht abgepumpt werden. Die nach wie vor ­befahr- bzw. begehbar.»… anhaltenden Niederschläge lassen zurzeit nur Nothilfemassnah­ men zu. Ein effizientes­ Bekämpfen der Überschwemmungen ist Original–Medientext der Gemeinde Lyss vom 29.08.2007 (abends)

8 Das Hochwasser 2007 Kapitel 9 10 Im Gespräch mit Barbara Egger-Jenzer «Das bange Warten hat ein Ende» Barbara Egger-Jenzer, Regierungsrätin, Direktorin Bau-, Verkehrs- und Energiedirektion

Welche Erinnerungen haben Sie an den Nun ist Lyss sicher und vor Hochwasser in dieser grossen Herausforderung. Wir Sommer 2007? geschützt. Ein wichtiger Meilenstein? erstellen Schutzbauten, wir renaturieren Ich werde nie vergessen, wie es hier Das freut mich ausserordentlich und ist und korrigieren Flussläufe oder verhin- Ende August 2007 ausgesehen hat. Das der Verdienst vieler Kräfte. Wir haben in dern, dass in Zukunft zu nahe an die Wasser und der Schlamm haben nicht kurzer Zeit einen Entlastungsstollen Gewässer gebaut wird. Dies alles mit nur zentrale Infrastrukturen und das gebaut, der das Anderthalbfache eines begrenzten finanziellen Mitteln. Für Lyss Dorfzentrum beschädigt. Nein, es sind Jahrhunderthochwassers schlucken hat das bange Warten ein Ende. Lyss ist auch Gegenstände zerstört worden, kann! Alle haben am gleichen Strick von nun an vor Hochwasser geschützt. welche man nicht einfach reparieren gezogen und sich solidarisch an die kann. Ich denke dabei an Familienfotos Umsetzung gemacht. Ebenso wichtig ist und andere liebe Erinnerungen. Zum für mich, dass wir alle Wort halten Glück wurden Menschenleben ver- schont. Die Hochwasser in Lyss haben «Der Lyssbachverband hatte mich sehr bewegt. seine Hausaufgaben in weiser

Darum haben Sie unverzüglich gehan- Voraussicht gemacht.» delt? Ganz schlimm fand ich die Resignation konnten. Sei dies im Bezug auf den und Verzweiflung, die man damals in Termin und die Kosten. So etwas geht Lyss spürte. Es war ja nicht das erste nur, wenn man dem Staat und den Hochwasser! Als ich damals nach Lyss Behörden genug Luft und genug Hand- kam und mir die Schäden gezeigt lungsspielraum gibt, ihre Aufgaben auch wurden, waren 15 Jahre Planung tatsächlich zu erfüllen. Das Vertrauen in verstrichen – ohne konkretes Ergebnis. die Behörden und in die Solidarität ist Und das, obwohl es immer wieder ein wichtiger Wert, zu dem wir enorm Überschwemmungen gegeben hatte. Sorge tragen müssen. Für mich war klar, nun muss Lyss vor Hochwasser geschützt und der Stollen Der Hochwasserschutz ist für den gebaut werden. Kanton seit langem von prioritärer Bedeutung? Und der Entlastungsstollen war der Die Folgen des Klimawandels sind in richtige Weg? unserem Kanton, der von den Alpen über Die Diskussionen über einen Entlas- das Mittelland bis zum Jura reicht, tungsstollen für den Lyssbach wurden besonders spürbar. Aber nicht nur der während gut zwei Jahrzehnten geführt. Klimawandel ist ausschlaggebend, Treibende Kraft war der Gemeindever- sondern wir Menschen haben unsere band Lyssbach, der gemeinsam mit Anspruchshaltung gegenüber der Natur Bund und Kanton die Entscheidungs- immer weiter ausgedehnt. Die wirt- grundlagen erarbeitet und ausgewertet schaftliche Entwicklung - von der wir hat. Seine Studien zeigten deutlich, dass alle profitieren - hat ihre Spuren nur ein Entlastungsstollen die Lösung hinterlassen. Die Gewässer nehmen sich bringen kann. Der Gemeindeverband dort den Raum zurück, wo sie ihn für Lyssbach hatte seine Hausaufgaben in den Hochwasserabfluss brauchen. ­ weiser Voraussicht gemacht. Sie sehen, der Kanton Bern steht mitten

Im Gespräch mit Barbara Egger-Jenzer 11 Schlattbach über. Die Bewohner selber waren ­infolge Anschwel- Der Lyssbach bringt lens des Lyssbaches genötigt, «samt ihrem kleinen Vieh schleu- nigst auf die ohnweit dabey gelegenen Anhöhen, die meisten aber Wassernot im von allzugrosser Gefahr und äusserster Noth übernommen, le- diglich noch auf die Bühnen ihrer Häuser sich zu flüchten, allwo dann viele, wo das Wasser nur noch wenige Zeit länger also wü- 18. Jahrhundert tend angehalten haben würde, augenscheinlich samt ihren Woh- nungen ein Raub der Fluthen hetten werden müssen». Auszug aus «Lyss: seine Geschichte», Die Verwüstungen am bebauten Land, das mit Grien und Schutt Dr. Ernst Oppliger überführt wurde, waren am grössten obenaus, im sogenannten Sagifeld, in der Wannersmatt, und untenaus im Siegelzelgli, der Kalbermeyd (heute Schönau) und dem Unterfeld. Es sei «von sel- bigen an den beyden Seiten dieses Baches liegende Güteren, so meistens aus Zelgland und schönen Wiesen bestehen, sehr vie- Während vielerorts sich nur Anspielungen auf häufig vorkom- les völlig entrissen, anders zwei und mehr Schue hoch mit Stei- mende Überschwemmungen durch und Lyssbach vorfin- nen, Sand und Grien überführet» worden. Verheerend wirkten den, bestehen ausführliche Aufzeichnungen über die regelrech- sich die tobenden Fluten am Mauerwerk einiger Häuser aus, die te Wassernot des Jahres 1781. Danach ging am 17. November dem Ansturm nicht Stand zu halten vermochten. Die Miststöcke 1781 ein entsetzlicher Wolkenbruch über die obere Gegend nie- neben den Häusern, die in Kellern aufbewahrten oder in der Erde der. Der Lyssbach schwoll davon so an, dass der Schaden der vergrabenen Erdfrüchte, Rübli und Kartoffeln, wurden wegge- Müller Hodler und Dick in Suberg auf 870 Kronen geschätzt wur- schwemmt. Was ausser den Korngarben noch in der trüben Flut de. Das Unwetter riss ihnen einen «fast neuen Stock» von Grund abwärts schwamm, mögen einige wenige Beispiele zeigen: aus weg und verwüstete die Zuleitung zu ihren Mühlen. Summa Summarum aller Schäden in Lyss: 3439 Kronen 13 Bat- Lyss selber verzeichnete 72 geschädigte Familien. Bedenkt man, zen 3 Kreuzer. Pfarrer Rüttimeyer erhielt eine Beisteuer von dass die Ortschaft im Jahre 1781 95 Haushaltungen aufwies, so 50 Kronen seitens der Regierung. Am 28. April 1783 sodann wur- schlüpften wenige aus. Die Wassergrösse griff eben auch auf den de eine allgemeine Steuer zu Gunsten der Geschädigten bewilligt.­

12 Der Lyssbach – eine Zeitreise Der Berner Kupferstecher Franz Niklaus König schuf zur Zeit, als napoleonische Truppen auch unsere Gegend heimsuchten, zwei aussagekräftige Stiche vom Dorf Lyss. Denkbar ist, dass König diese während eines Besuchs in Lyss schuf, als er den von ihm entwickelten Guckkasten im Lande herum vorführte. Festgehalten hat er wahr- scheinlich den Holzsteg am oberen Ende der Studengasse gegenüber des Weissen Kreuzes (Privatbesitz).

Der Lyssbach – eine Zeitreise 13 Jahrhunderthochwasser Auszüge aus «1000 Jahre Lyss», Max Gribi

Die häufigen Überschwemmungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte haben es mit sich gebracht, dass der Lyssbach re- gelmässig zum angstvoll erörterten Dorfgespräch geworden ist.

Naturnah, aber arm Ein König-Stich aus dem Jahr 1799 schildert uns den Lyssbach, wie er seit Jahrhunderten das Dorf durchfloss. An seinem na- türlichen, grasbewachsenen Ufer trat man stellenweise auf Schilfbestände. Dem flachen Ufer entlang, das keinen Schutz gegen Überschwemmungen bot, verlief ein ungepflasterter Pfad, in den die Räder der Holzkarren ihre Furchen gruben. Am Ufer des dichtbestockten Baches traf man auf den Hüterbu- ben, der seine Schaf- oder Ziegenherde zur Tränke trieb. Über Der seinerzeitige Holzsteg beim Weissen Kreuz, links die Studengasse einen einfachen Holzsteg erreichten die Dorfbewohner das jen- (in der Stauden), rechts das strohgedeckte Dach der Salzbütti seitige Ufer des Lyssbaches, hinter dessen dichtem Bau- und (König-Stich um 1800/Privatbesitz). Strauchbestand sich die Stroh- und Schilfdächer der Bauern- häuser breitmachten.

Zuerst nur ein Betonkanal Der Lyssbach mit seinen Nebenbächen Der Lyssbach tritt an der Staatsstrasse Büren-Rapperswil-Münchenbuchsee- Bern, in der Gegend des sogenannten Von den Wasserscheiden zur Emme (Limpach) bei Ottiswil und von der Lätti­ (Gemeinde Rapperswil) im Moossee- Lätti (Urtenenbach) her sammelt der tal ans Tageslicht. Lyssbach das Wasser zahlreicher Kein natürlicher Bach beginnt an der ge- Seitenbäche, bevor er unterhalb Lyss nannten Stelle im Lätti, sondern ein zwi- in die Alte Aare mündet. Hardernbach schen Bäumen, Büschen und hohem Gras Alte Aare fliessender, schnurgerader, halboffener Grentschelbach Betonkanal. Als künstliches Band durch- schneidet er hier, staudenbewachsen die Büscheligraben Gemeindegrenze zwischen Schüpfen und Rapperswil bildend, das fruchtbare Acker- Schlattbach Lööribach land des Lyssbachtals. Lyss Seine Kraft, verstärkt durch mehrere Sei- tenbäche, lässt sich immer deutlicher an Lyssbach Schmidibach der tiefen Furche ablesen, die er in die Hu- Erlenbach musdecke reisst. Nach der Einmündung Seebach des im Hügelgebiet des Frienisbergs ent- springenden Chüelibachs in Schüpfen zeigt er sich bereits als kräftig dahinströ- Büelbach mender Bach und strebt nun zwischen Lyssbach Bäumen und Büschen dem tiefer gelege- Allenwilbach nen zu. Über zahlreiche Bachschwellen hinunter- stürzend, eilt der Bach dann Lyss zu, wird Chüelibach dabei zusehends breiter und ungestümer. Schüpfen Schliesslich erreicht er, nachdem er Chüelibach, Lööribach (Gemeinde Gross- affoltern) und Seebach (Gemeinde See- dorf) aufgenommen hat, den alten Dorf- kern von Lyss.

14 Der Lyssbach – eine Zeitreise «Es wurde am hellichten Tag Nacht und es herrschte Weltuntergangsstimmung. Zuerst versuchten wir, gegen die Wassermassen anzukämpfen, mussten aber schnell kapitulieren. Es blieb uns nichts Weite- res übrig, als den Dingen ihren Lauf zu lassen. Auch wenn wir uns immer an den Sommer 2007 erinnern werden, ist der Druck nun weg – der Respekt vor dem Wasser bleibt jedoch.»

Familie Corinne und Markus Affolter mit Simon und Lukas

«Zwei Mal sind wir mit einem blauen ­ Auge davon gekom- men, das dritte Mal wurden wir hart getroffen. 30 Jahre Arbeit wurden innerhalb kürzester Frist vernichtet – das Hochwasser zeigte seine immense Kraft. Instrumente und Noten wurden weggeschwemmt, als die Fenster barsten. Glück im Unglück war, dass wir unseren Computer «ret- ten» konnten. So hatten wir zumindest wichtige Grundla- gen für unsere berufliche Weiterarbeit. Heute fühlen wir uns sicher – auch wenn’s stark regnet.»

Sandra und Markus Fink Musikschule und Verlag

«Als die Wassermassen zum dritten Mal unseren Keller und unser Geschäft überfluteten, brach für uns eine Welt zusammen. Der Schock sass tief und wir konnten kaum etwas ­retten. Zum Glück konnten wir auf die Hilfe unserer Nachbarn und unserer Tochter zählen. Die Solidarität war einzigartig und wir sind heute noch dankbar darüber. Jetzt­ sind wir überglücklich, dass der Stollen uns Sicherheit gibt.»

Therese und Otto Mori

Berichte von Betroffenen 15 Erholungsraum Lebensader In unserer Zeit hat der Lyssbach seine zentrale Bedeutung Auszüge aus «1000 Jahre Lyss», ­wieder erlangt. Nicht als Energielieferant gewerblich-früh­ Max Gribi industrieller Betriebe allerdings, sondern als lebendiger, Er­ holung bietender Nervenstrang. Er wird heute als dominieren- der und charakteristischer Naturraum unseres Dorfes gewertet Kenner des Dorfes und seiner Entwicklungsgeschichte nennen und zieht sich als baumbestandenes Band durch die Siedlung. den Lyssbach gelegentlich «Lebensader». Mit Recht, denn an Als dörflicher, besonders typischer Lebensraum gilt er, dessen den Ufern dieses Baches entwickelte sich vor vielen hundert pappel­umsäumte Ufer – zusammen mit der Baumallee des ­Jahren unser Dorf. Dort bauten unsere Vorfahren ehemals auch Marktplatzes (Strecke Hirschenplatz bis Lyssbach) – das eigent- ihre stroh- und schilfbedeckten Holzhäuser. Seit dem ausgehen- liche Gesicht des Dorfes Lyss ausmacht. den Mittelalter nutzten sie die Wasserkraft des Lyssbachs für den Antrieb ihrer Mühlen und Sägen, der Walken, Stampfen und der Öle. Seit Mitte des 13. Jahrhunderts – die untere Mühle (Klostermüh- le) wird 1246 urkundlich erstmals erwähnt – war der Lyssbach im wahrsten Sinne des Wortes die «Lebensader» der handwerk- lich und gewerblich tätigen Dorfbevölkerung.

Die frühesten Industriebetriebe waren noch, wie dies etwa die erste eigentliche Fabrik im Oberdorf oder eine der ältesten Stein- fabriken der Firma Bangerter zeigen, auf die Wasserkraft ange- wiesen. Sie wurden über eine langgestreckte Reihe von Stein­ sockeln mittels Transmissionsriemen vom Bach her angetrieben. Darauf ist auch die Flurbezeichnung «Drahtseilimatt» zurück- Über die älteste Steinbrücke des Dorfes zwischen Klostermühle zuführen, die bei betagteren Dorfbewohnern noch bekannt ist. und ­Altersheim bewegte sich jahrhundertelang der hauptsächlichste Strassenverkehr zwischen Genfer- und Bodensee. Erst in den Jahrzehnten der aufblühenden Industrialisierung und der Elektrifizierung wurde er als Energiespender durch die Elek- trizität abgelöst.

Ausschnitt aus einem meisterhaft gestalteten Plan von 1809, geschaffen vom Bürener Zeichner Bollin.

16 Der Lyssbach – eine Zeitreise 29. August 2007

tage. Flutartige Wassermassen ergossen sich deshalb zusätzlich Die grösste Überflutung über Strassen, Plätze und Rasenplätze mit einer Wassermenge von rund 40–45 m3/Sekunde. Wohnungen, Kellerräume, Einstellhallen, Geschäftsräume, Indus- seit Menschengedenken trie- und Gewerbebetriebe, Haupt- und Nebenstrassen sowie alle Bahnunterführungen mit Ausnahme derjenigen am Hirschenplatz Ein seit Jahrzehnten nicht mehr erlebtes Hochwasser brach am («Trachselloch») waren innert kürzester Zeit überflutet. Im See- 21. Juni 2007 (einen Tag vor dem 30. Lyssbachmärit) nach einer land wurden nicht weniger als 640 Hektaren Gemüseland überflu- stockfinsteren Gewitterfront urplötzlich über das Dorf herein. tet. Die kantonale Baudirektorin, der Volkswirtschaftsdirektor und Oberdorf, Dorfkern, Grünau und Industriering waren einmal mehr der Polizeidirektor besuchten in ihrer regierungsrätlichen Funkti- besonders schwer betroffen. on das weithin verwüstete Dorf. Fernsehstationen und Zeitungen Am 8. August 2007 trat ein weiteres Hochwasser auf, das wiede­ in weiten Teilen Europas berichteten ausführlich von der über die rum zahlreiche Schäden anrichtete. Eine dritte Überflutung des Ortschaft Lyss hereingebrochene Katastrophe. Dorfes, wie sie seit Menschengedenken noch nie aufgetreten war, brach nach stundenlangen, intensiven Niederschlägen am Mitt- Als Sofortmassnahmen ordnete der Gemeinderat den Abbruch der woch, dem 29. August 2007 über das Dorf Lyss herein. Pritschen bei der Klostermühle, bei der ehemaligen Armaturen- Ein fürchterliches Gewitter suchte mit ununterbrochenem ge­ fabrik und der Steinbrücke beim Jägerstübli (früher Eintracht) waltigem Donner, Blitzniedergang und sintflutartigem Regen ­sowie den Bau erhöhter Schutzmauern bei der Mühle an. (130 Liter/m2 in 24 Stunden) das Dorf heim, so dass rund 30 Pro- zent aller Gebäude des Dorfes schwer betroffen waren. Trotz sofortigem und stundenlangem nächtlichen Einsatz der vor- gewarnten Feuerwehr, des Zivilschutzes, von Truppen der Armee, Katastrophale Verhältnisse von zahllosen Sandsäcken und modernstem Abwehrmaterial kam Der Lyssbach stieg innert kürzester Zeit gewaltig an und erreich- es zu Schäden von rund 100 Mio. Franken. te im Bachbett selbst mehr als die 60-fache Wassermenge der Vor-

Der Lyssbach – eine Zeitreise 17 18 Im Gespräch mit Fritz Ruchti «Freude herrscht» Fritz Ruchti, Präsident Gemeindeverband Lyssbach

Welche Erinnerungen haben Sie an den Sie haben massgeblich dazu beigetra- Sogenannte kritische Geister und Sommer 2007? gen, dass für die Bevölkerung von Lyss externe Meinungen bewahren uns vor Dieser Sommer ist mir sehr nahe das Wunder des Hochwasserschutzes Betriebsblindheit. Zudem spielen das gegangen. Die Natur zeigte uns, wo es vollbracht worden ist. Netzwerk und der persönliche Kontakt lang geht. Und ich als Präsident des eine wichtige Rolle. Gemeindeverbandes Lyssbach fühlte Rückblickend, was waren für Sie die mich machtlos. Da bist du für den grössten Hürden, die genommen Welche Arbeiten stehen nun für den Schutz und Unterhalt des Lyssbaches werden mussten? Gemeindeverband Lyssbach an? zuständig und musst zusehen, wie eine Auf der einen Seite wollten wir ein gutes Der Gemeindeverband Lyssbach setzte Gemeinde in den Wassermassen Projekt erarbeiten. Dementsprechend sich auch früher nicht nur für das regelrecht «versäuft». Dieser Moment prüften wir viele Varianten und besuch- Stollenprojekt ein. Unsere Aufgaben sind hat mich geprägt. ten auch andere Gemeinden. Zum vielseitig. So haben wir bereits an Beispiel Langenthal. Dort wurde ein verschiedenen Stellen Hochwasser- Der Lyssbach und die Hochwasserpro­ Stollen zum Hochwasserschutz gebaut. schutz- und Renaturierungsmassnah- blematik sind für den Verband bereits Das war ein langer, aber wichtiger men umgesetzt; beispielsweise am seit langer Zeit ein Thema. Prozess. Kritische Stimmen bewegten Chüelibach, am Mülibach oder am Nun ist mit dem Stollen das wahr- uns immer wieder zum Reflektieren und Allenwilbach. Und dies werden wir auch scheinlich grösste Projekt für den in Zukunft tun. Wir haben verschiedene Verband abgeschlossen – eine grosse Abschnitte wieder aufgewertet und so Befriedigung für Sie? der Natur wieder etwas zurückgegeben. Das Stollenprojekt ist der Verdienst Diese Arbeit ist eine grosse Befriedi- vieler Personen, ein richtiges Gemein- gung. schaftswerk. Dementsprechend freut es

«Der Sommer 2007 führte uns Überarbeiten. Auf der anderen Seite eindrücklich vor Augen, wel- musste dieses Projekt finanziert werden. che Schäden bei Hochwasser Hier wurde uns immer wieder vorgewor- entstehen können!» fen, wir würden mit Kanonen auf Spatzen schiessen. Der Entlastungsstol- len sei viel zu teuer und überdimensio- mich ausserordentlich, dass der Hoch- niert. Der Sommer 2007 führte uns wasserschutzstollen nun fertiggestellt eindrücklich vor Augen, welche Schäden ist. Es würde zu weit führen, wenn ich bei Hochwasser entstehen können und alle namentlich aufführen würde. die Skeptiker mussten eingestehen, dass Speziell möchte ich als Präsident des nun etwas bewegt werden muss. Gemeindeverbandes Lyssbach der Regierungsrätin Barbara Egger-Jenzer, Was haben Sie in den letzten Jahren als dem alt Gemeindepräsident Hermann Verbandspräsident gelernt? Moser und dem Präsident der Delegier- Es ist wichtig, dass in einem Gremium tenversammlung, Jürg Eberle, danken. eine Vielfalt von Meinungen vertreten ist.

Im Gespräch mit Fritz Ruchti 19 Erfolgte Renaturierung Schatthole im Amseltal, Lyss

sung fest, dass dieser falsche Grundbucheintrag nun endgültig Aus der Geschichte zu korrigieren sei, da sich so oder so mit der Zeit eine Korrek- tur des Lyssbaches aufdränge. Allerdings müsse der Anstoss des Gemeindeverbandes dazu von den Gemeinden kommen. Die Gemeindeversammlung vom Dezember 1953 stimmte der Übernahme des Gewässers Lyssbach ­ durch die Gemeinde zu. von Jürg Eberle, Präsident der Delegiertenversammlung Mit Schreiben vom 12. Februar 1971 lud der damalige Statthal- des Lysbachverbandes ter von zu einer Versammlung ein mit dem Zweck, ei- nen Schutzverband Lyssbach zu gründen, weil die Flurgenossen- schaft Schüpfen ein Projekt für eine Teilkorrektion des Lyssbaches ausarbeiten lasse und weil in letzter Zeit immer wieder Über- schwemmungen vorgekommen seien. An dieser vom Statthalter Bis ins Jahr 1989 galt noch das Gesetz über den Unterhalt und einberufenen Versammlung vertrat das Tiefbauamt des Kantons die Korrektion der Gewässer vom 3. April 1857. Laut Regierungs- die Ansicht, dass der ganze Lyssbach zu korrigieren sei und nicht ratsbeschluss vom 20.6.1884 war der Lyssbach ein Privatgewäs- nur der Teil im Bereich der Flurgenossenschaft Schüpfen. Der ser mit öffentlicher Aufsicht. Lyssbachbesitzer waren beispiels- damalige Oberingenieur Bachmann sagte u.a., dass durch die weise in Lyss die Einwohnergemeinde Lyss, in Schüpfen die Güterzusammenlegungen in Schüpfen und Rapperswil, durch Dorfgemeinde Bundkofen und die Lyssbachkorrektionsgenos- den Bau der ARA, durch die Entwässerung der geplanten Auto- senschaft und auf dem Gebiet der Gemeinde Grossaffoltern war bahn und durch die zunehmende Bautätigkeit in den Dörfern dem es – absolut im Widerspruch zum Regierungsratsbeschluss – Lyssbach immer mehr Wasser zugeführt werde. Nach starken der Kanton Bern. 1879 wurde der Lyssbach in Grossaffoltern irr- Regenfällen müsse man mit bis zu 40 m3 Wasser pro Sekunde tümlicherweise im Grundbuch dem Staate Bern zugeschrieben. rechnen. Wie recht er hatte, sind doch von der Hochwasserfront 1929 und 1941 versuchte der Staat vergeblich, mit der Gemein- enorme Schäden vor allem aus den Jahren 1970, 1980, 1995, de Grossaffoltern über diesen Fehler zu verhandeln. Im Jahre 1999, 2001, 2002 zu erwähnen und selbstverständlich auch vom 1953 stellte der Kantonsgeometer anlässlich einer Neuvermes- 21. Juni, 8. und 29. August 2007.

20 Der Gemeindeverband Lyssbach Die Gemeindevertreter stimmten im gemeinschaft Kissling und Zbinden / Grundsatz einer Verbandsgründung zu ­Henauer AG erteilt werden. 1982 wurde und äusserten den Wunsch, dass die Sei- das Projekt für den Ausbau des Lyssbach- tenbäche ebenfalls in den Perimeter ein- gerinnes den Gemeinden vorgestellt. Es zubeziehen seien. Am 17. November 1971 rechnete mit Gesamtkosten von 15,5 Mio. unterstellte der Regierungsrat auch die Franken. Nach einer Vernehmlassung bei Seitenbäche des Lyssbaches der öffentli- den Gemeinden wurde das generelle Pro- chen Aufsicht. Im Januar 1975 wurde ein jekt, der Kostenverteiler und das Regle- erster Reglementsentwurf vorgelegt. Man ment überarbeitet. 1983 schaltete sich der rechnete mit Planungskosten von 132’000 Planungsverband Amt Erlach und östli- Franken. Diese sollten nach Anstosslänge­ ches Seeland, EOS, als Promoter ein und Erfolgte Renaturierung Lyssbach, Schüpfen und nach Länge der Seitenbäche auf die legte den Gemeinden 1984 einen Bericht Gemeinden verteilt werden. Das hätte für vor, der die Gemeinden zum gemeinsa- Lyss 26, für Grossaffoltern 18,5 und für men Vorgehen ermuntern sollte. Das Schüpfen 35,8 Prozent ausgemacht. Plötz- überarbeitete Projekt sah ein Rückhalte- lich realisierten einige Gemeinden anhand becken mit einem Fassungsvermögen von dieser Zahlen, dass der Einbezug der Sei- 90’000 m3 im Bereich Lehn vor und rech- tenbäche sich zu ihren Ungunsten auswir- nete mit Kosten von 18 Mio. Franken. Es ken würde. An einer Versammlung vom konnte die Zustimmung aller Gemeinden 14. April 1975, ohne Vertreter des Kantons erreicht werden. Einzig der Kostenvertei- und ohne Statthalter, kam es zum gros- ler musste noch mehrfach überarbeitet sen Meinungsumschwung. Die Gemeinde- werden, bis schlussendlich ein findiger vertreter lehnten den Einbezug der Sei- Kopf des Planungsverbandes­ EOS auf die tenbäche und damit den vorgesehenen Idee kam,­ das arithmetische Mittel aus all Kostenverteiler ab und waren nur bereit, sich am Unterhalt zu beteiligen, nicht aber an der Sanierung. Die Gemeinden witter- ten Morgenluft und glaubten, die ganzen Sanierungskosten des Lyssbaches dem Autobahnbau in die Schuhe schieben zu können. Diese Meinung erwies sich als falsch, da die Baudirektion eindeutig be- weisen konnte, dass die Autobahn nur ei- nen bescheidenen Anteil am Lyssbach- wasser liefern würde. Dessen ungeachtet war der Kanton bereit, vorab aus dem Au- tobahnprojekt Fr. 50’000.– an die Projek- tierungskosten zu leisten. Im März 1976 ist ein weiterer Kostenver- teiler aufgelegt worden mit der Begrün- dung, dass sich das Projekt nur auf den Lyssbach selbst und nur noch auf die Stre- cke Alte Aare bis Schwanden beziehen werde und daher nur die vier Gemeinden Busswil, Lyss, Grossaffoltern und Schüp- fen sich daran beteiligen müssten, worauf sich Busswil dem Ansinnen widersetzte. Erfolgte Renaturierung Lyssbach, Kosthofen Im Juli 1978 unternahm das Tiefbauamt den verschiedenen Kostenverteilungsva- einen neuen Anlauf mit Einbezug aller rianten zu nehmen und siehe da, gegen 7 Gemeinden, Rapperswil, Schüpfen, dieses Ei des Columbus resp. gegen den Grossaffoltern, Seedorf, Lyss, Busswil und heute noch gültigen Verteiler konnte kei- Meikirch (Meikirch ist später wieder aus ne Gemeinde sachliche Gründe vorweisen. dem Perimeter entlassen worden). Alle Gemeinden willigten ein und somit konnte­ der Projektierungsauftrag der Ingen­­­­­­­ i­­eur­ ­

Der Gemeindeverband Lyssbach 21 Erfolgte Renaturierung Lyssbach, Schüpfen 1992

Die Vertreter von Lyss und von Schüpfen drängten nun auf die An der Delegiertenversammlung vom Mai 1989 wurde darüber Gründung des Verbandes. Im Jahre 1986 stimmten alle Gemeinde­ informiert, dass die Ingenieurgemeinschaft, das Ingenieurbüro versammlungen resp. in Lyss die Stimmberechtigten an der Urne Kellerhals und Häfeli sowie die ETH Zürich die Frage des Rück- der Verbandsgründung zu. Mit Schreiben vom 15. Dezember 1986 haltebeckens überprüft hatten. Die Gutachter kamen zum teilte die Baudirektion mit, dass das Verbandsreglement erneut Schluss­, dass ein Becken mit höchstens 150’000 m3 erstellt mit Einbezug der wichtigsten Seitenbäche genehmigt sei. Und ­werden könnte. Ein sinnvoller Hochwasserschutz könne damit am 26. Februar 1987 fand im Weissen Kreuz in Lyss die Grün- nicht gewährleistet werden, da diese Grösse ungenügend sei, der dungsversammlung unter der Leitung des Amtsverwesers Notar Grundwasserspiegel bis zu 3 m über dem Beckenboden liegen Freudiger statt. Die Versammlung dauerte lediglich 55 Minuten. würde und bei einem noch grösseren Rückhaltebecken Auflagen Zum ersten Verbandspräsident wurden Fritz Ruchti, Rapperswil der Stauanlagenverordnung zu berücksichtigen seien. und zum ersten Vorstandspräsident Walter Liniger, Lyss, gewählt. Als erste Einnahme durfte der Beitrag der Autobahn A6 in der Das neue Wasserbaugesetz von 1989 gibt nun den Gemeinden Höhe von 1,4 Mio. Franken verbucht werden. Im April legte die In- resp. den Verbänden klar den Auftrag zum aktiven Hochwasser- genieurgemeinschaft den ersten Aktionsplan vor. An oberster schutz. An der Delegiertenversammlung vom November 1992 ist Stelle stand die Überarbeitung des generellen Projektes von 1983. der Projektierungskredit für den Hochwasserschutz von Lyss in Im Protokoll der Delegiertenversammlung vom 14. November der Höhe von Fr. 570’000.– genehmigt worden. Eine Diplomarbeit 1988 steht der bedeutende Satz zu lesen, dass das Thema Rück- der Ingenieurschule Burgdorf befasste sich ebenfalls mit dem haltebecken oder Stollenbau den Gemeindeverband demnächst Hochwasserschutz von Lyss. Die Diplomanden kamen zum beschäftigen werde. Schluss, dass insgesamt acht Rückhaltebecken mit einem Auf- wand von 20 – 30 Mio. Franken erforderlich wären, um Lyss zu 1989 wurde das überarbeitete generelle Projekt mit den in der schützen. Zwischenzeit immer wieder diskutierten 7 Varianten vorgestellt.

22 Der Gemeindeverband Lyssbach «Man musste etwas unternehmen» Jürg Eberle, Präsident Delegiertenversammlung Lyssbachverband

Mit der Eröffnung des Stollens wird ein Grossprojektes viel zu reden. Am Welches Fazit ziehen Sie? Jahrhundertwerk dem Betrieb überge- Schluss gelang es uns aber, alle Eine gute und voraussehende Arbeit ist ben – als Präsident der DV war der Weg Verbandsgemeinden solidarisch für die die halbe Miete. Rund 20 Jahre haben zwischendurch steinig. Umsetzung des Stollens zu gewinnen. wir an diesem Projekt gearbeitet. Zum In der Tat gab es immer wieder Rück- Die Region stand zusammen und jede Glück lag das Konzept 2007 «pfannen- schläge und Verzögerungen. Neue Ideen fertig» vor. Diese Vorarbeit ermöglichte wurden eingebracht und wieder verwor- das rasche Eingreifen des Kantons und «Viele Stimmen waren zuerst fen. Am Schluss wurden sieben Varian- somit auch die Umsetzung des Stollens ten geprüft und analysiert. Fachkräfte der Auffassung, das Projekt innerhalb von fünf Jahren. Das ist der überzeugten uns davon, dass der wäre viel zu gross.» Beweis dafür, dass heutzutage, wenn Lyssbachstollen langfristig der beste der Wille und die Finanzen vorhanden Weg zu einem nachhaltigen Hochwas- sind, eine Vision schnell umgesetzt serschutz von Lyss ist. Auch wenn viele Gemeinde war bereit, einen zusätzlichen werden kann. Stimmen zuerst der Auffassung waren, Beitrag zu leisten. Wir konnten auch dieses Projekt sei viel zu gross. aufzeigen, dass das Stollenprojekt Welches Verhältnis haben Sie heute 15 Tage vor dem ersten Hochwasser langfristig dank den grosszügigen zum Lyssbach? beschloss die Delegiertenversammlung Subventionen von Bund und Kanton für Der Lyssbach ist ein malerisches des Gemeinde­ ­verbandes Lyssbach den die Gemeinden finanzierbar war und das Gewässer. Es kann aber innerhalb einer Lyssbachstollen. Kosten/Nutzen-Verhältnis stimmte. Die halben Stunde von einem bescheidenen Hochwasser 2007 führten uns ja ein- Bächlein zu einem reissenden Bach Sie mussten als Verbandspräsident ja drücklich vor Augen, welche Schäden werden. auch die Meinung nicht direkt betroffe- der Lyssbach anrichten kann. Dies ner Gemeinden vertreten. beschäftigte die ganze Region. In erster Linie gab die Finanzierung des

Im Gespräch mit Jürg Eberle 23 Verschiedene Varianten wurden geprüft

In den Jahren 1990 – 2000 wurden mehrere Varianten für den Hochwasserschutz von Lyss geprüft:

Vollausbau Das Lyssbachgerinne würde über die gesamte Länge verbreitert. Da meistens Strassen entlang des Baches führen oder der Bach direkt an Liegen­ schaften anstösst, wäre diese Variante nur mit grossem Aufwand, ausserordentlichem ­Landerwerb und massivem Eingriff in das Ortsbild realisierbar gewesen. Das Aufgeben der Strassen- und vor allem Radwegverbindungen hätte grosse Konsequenzen auf den ­Verkehr in Lyss gehabt. Zudem wäre dieser Teil mit enormen finanziellen Aufwendun- gen verbunden gewesen.

Rückhaltebecken im Für einen genügenden Hochwasserschutz bedarf es einem Rückhaltevolumen von rund Hauptgerinne 600’000 m3. Dies hätte einen Damm von zirka 3 – 4 Metern zur Folge. Zudem würden durch das Rückhaltebecken oberliegende Liegenschaften eingestaut. Ein Abtiefen des Rückhaltebeckens war ebenfalls nicht möglich, da dies in das Grundwasser reichen würde. Aus diesen Gründen musste auf diese Variante verzichtet werden.

Rückhaltebecken in Die topographische Lage für Rückhaltebecken ist in den Seitengewässern (Seebach, den Seitengewässern ­Allenwilbach, Schmidenbach, Chüelibach und weitere) besser geeignet. Um das nötige Rückhaltevolumen zu erreichen, wären aber rund acht Becken, verteilt auf das ganze Einzugsgebiet, nötig gewesen. Diese Becken hätten zudem je nach ­Er­eignis aufeinander abgestimmt werden müssen. Ein verlässlicher Hochwasserschutz, namentlich von Lyss, konnte so nicht garantiert werden.

Nulllösung Das heisst, Bewusstes in Kauf nehmen von einer unbekannten Anzahl Überschwem- mungen mit einem unbekannten Schadensausmass. Dies war kein vertretbarer Lösungs­ ansatz.

Nulllösung mit minimalem Schutz Die Gemeinde Lyss und der Verband haben mit der Realisierung der Sofortmassnah- men und dem Ausbau des Gerinnes nach den drei schweren Überschwemmungen in etwa ­diesen Ausbaustand bereits erreicht.

Integraler Hochwasserschutz Mit dem integralen Hochwasserschutz ist das Zusammenspiel aller möglichen Mass- nahmen inklusive der konsequenten Versicherung von anfallendem Oberflächenwas- ser gemeint. Die Wirkung wäre nur schrittweise über längere Zeit zu erreichen gewe- sen, z­udem konnte deren Wirkung nicht präzise vorausgesagt werden. Für eine rasche und sichere Umsetzung des Hochwasserschutzes war diese Variante ungeeignet.

Stollen Als letzte Variante wurde das Ableiten des Hochwassers durch einen Entlastungsstol- len geprüft. Das Hochwasser sollte bei einem Ereignis um Lyss herumgeführt werden und unterhalb dem natürlichen Gerinne wieder zugeführt werden. Diese Massnahme erfüllte als einzige Massnahmen alle Anforderungen für einen raschen, sicheren und finanziell tragbaren Hochwasserschutz.

24 Der Gemeindeverband Lyssbach Baustelle Installationsplatz LYSSBACHST Hardern Industriezone Nord OLLEN

re Kiesgrube Alte Aa

LYSSBACHST

Grentschel OLLEN Dreihubelwald

Schwimmbad

e

Försterschul

ssbach Schulhaus Ly Grentschel Grentschelbach

Kaserne

1. Auslaufbauwerk Fulematt

re (Hauptangriffspunkt)

Alte Aa Lyssbach Hirschen – SBB-Querung Kreisel LYSS – Stollenvortrieb – Auslaufbauwerk – Wasserbau, Renaturierung

LYSSBACHST

2. Anschluss Grentschelbach Bären OLLEN Kreisel – Einleitung in Entlastungs­stollen

Eishalle

Lyssbach 3. Einlaufbauwerk Leen Lyssbach – Unterquerung SBB bergmännisch Industriezone Bernstrasse – Einlaufbauwerk – Wasserbau, Renaturierung Kartbahn Leen Lyss Rikartsholz

Wie gross sind die verbleibenden Kosten, Der LyssbachstollenSiechebach die von den Verbandsgemeinden zu tragen waren? Der Kostenverteiler durfte nicht machte das Rennen angetastet werden, denn der Vorstand war überzeugt, dass eine solche Auseinander- setzung nie zu einem Ziel führen und da- mit das ganze Verbandsgebilde gefährden Unter den verschiedenen geprüften Vari- Wasserbauplan Hochwasserschutz Lyss würde. Die Baudirektion hätte im Notfall anten zeigte sich die Stollenvariante als mit dem Stollenprojekt verabschieden, das Projekt in eigener Regie realisiert und die realisierbarste, effektivste und finan- d.h. dass nur 15 Tage vor dem ersten gros- anschliessend den Gemeinden nach Ab- zierbarste. Dies wurde auch von allen bis- sen Hochwasser die definitive Lösung auf zug aller Subventionen schlicht und ein- her involvierten Fachinstanzen von Bund dem Tisch lag.­ fach die Rechnung präsentiert. Nach lan- und Kanton so bestätigt. Die übrigen Die Genehmigung durch die kantonale gem Hin und Her und dank der Vermittlung sechs Projekte wurden aus der Evaluati- Bau-, Verkehrs- und Energiedirektion er- durch die Baudirektion konnte eine gütli- on gestrichen. folgte im November 2007. che Einigung gefunden werden. Die Ge- Im Dezember 1996 kam es zum ersten meinde Lyss als Hauptbetroffene war be- Wechsel an der Verbandsspitze. Fritz Der Verband befasste sich auch mit einer reit, zusätzlich zu ihrem Beitrag gemäss Ruchti wurde als Nachfolger von Walter Revision des Organisationsreglements, da Kostenverteiler einen einmaligen Vorab- ­Liniger zum Vorstandpräsident gewählt. das neue Gemeindegesetz eine Überar- beitrag in der Höhe von 2,5 Mio. Franken In den Monaten November und Dezember beitung erforderte. Die Delegierten muss- zu leisten. Mit dieser Lösung waren alle 1997 fand das Mitwirkungsverfahren statt. ten zweimal über eine Revision befinden, Gemeinden einverstanden und somit Im Mai 2004 erfolgte endlich die öffentli- weil die erste gestützt auf eine Beschwer- stand der Sonderfinanzierung des Entlas- che Auflage, dabei sind 27 Einsprachen de der Gemeinde Schüpfen zu überarbei- tungsstollens nichts mehr im Wege. Sie eingegangen, die alle bis auf eine erledigt ten war. Die Reglementsrevision erforder- fand bei den zuständigen Organen aller werden konnten. Anschliessend musste te eine einstimmige Genehmigung durch sechs Verbandsgemeinden Zustimmung. das Projekt Hochwasserschutz das Ge- alle Verbandsgemeinden. Das Reglement nehmigungsverfahren bei den kantonalen bildete die Grundlage für die Realisierung und eidgenössischen Stellen durchlaufen. ­ des Stollenprojektes. In all den Diskussi- An der Delegiertenversammlung vom onen um einzelne Artikel ging es im Grun- 6. Juni 2007 konnten die Delegierten den de genommen nur um eine einzige Frage:

Der Gemeindeverband Lyssbach 25 Einzugsgebiet Gemeindeverband Lyssbach Busswil

Lyss

Grossaffoltern Rapperswil

Schüpfen Seedorf

Der Lyssbach

– Einzugsgebiet: ca. 56 km2 – Gerinnelänge: ca. 15 km – Seitenbäche: ca. 30 km – ca. 70 km Böschungspflege

von Lyss in den Gemeinden Grossaffoltern und Schüpfen verbes- Die Aufgaben des sert und vor allem renaturiert worden. Zudem sind aufwändige Arbeiten an mehreren Seitenbächen realisiert worden, so am Verbandes Baggwilgraben, am Allenwilbach, am Chefigraben, am Unterlauf des Chüelibachs sowie am Schmidebach. Für Projektierung, Landerwerb­ und Realisierung all dieser Bauvorhaben sind Brut- Selbstverständlich befasste sich der Verband nicht nur mit dem tokredite von weit über 17 Mio. Franken gesprochen worden. Dank Entlastungsstollen von Lyss. Neben diesem Grossprojekt war und massiven Subventionen von Bund und Kanton und aus dem Re- ist der Lyssbach auf seiner ganzen Länge zu sanieren. So sind naturierungsfonds waren diese Sanierungen für die Verbands- bis heute mehrere Strecken in Lyss selbst aber auch oberhalb gemeinden überhaupt realisierbar.

26 Der Gemeindeverband Lyssbach «Das Unwetter hat uns zusammengeschweisst» Stephan Mathys, Feuerwehrkommandant (Naturgefahrenberater) im Gespräch

Als Feuerwehrkommandant haben Sie Wir hatten ja bereits Erfahrungen mit Verzweiflung lässt die Bevölkerung schon viele schwierige Situationen Hochwasser und entsprechend Material näher rücken. War das in Lyss auch der erlebt. Wo ordnen Sie die Hochwasser- angeschafft und Einsatzszenarien Fall? ereignisse 2007 ein? danach ausgerichtet. Wir lernten in den In der Tat ist die Bevölkerung zusam- Jede Katastrophe oder jeder Unfall hat letzten Jahren damit zu leben. Aber mengerückt. Man schaute zueinander seine eigene Geschichte. In meiner natürlich war gerade das dritte Ereignis und leistete Unterstützung. Dieses Funktion als Feuerwehrkommandant Ende August besonders frustrierend. Die Zusammenrücken ist noch heute in den habe ich in den letzten Jahren etliche Köpfen der Lysserinnen und Lysser Situationen erlebt, die mir sehr nahe verankert. gegangen sind. Ich erinnere nur an den «Man kann von Glück sagen, Hausbrand in mit Todesopfern. dass kein Personenschaden Der Hochwasserschutz ist nun herge- Solche Ereignisse sind emotionell hoch entstand.» stellt – schlafen nun auch Sie ruhiger? einzustufen und tiefgreifend. Es ist für uns eine riesige Erleichterung. Die Hochwasserereignisse in Lyss Auch wenn nicht alle Hochwasserproble- führten uns vor Augen, wie machtlos der Meteorologen meldeten eine Schlecht- me in unserer Umgebung gelöst sind, Mensch gegenüber Naturgewalten ist. wetterfront und wir organsierten die vom Lyssbach aus sollte für die Lysser Man kann von Glück sagen, dass kein ersten Massnahmen. Aber die Intensität Bevölkerung keine Gefahr mehr drohen. Personenschaden entstand. der Wassergewalten war zu riesig, der Und so kann man sich wieder in erster Lyssbach schwoll innert 20 bis 30 Min. Linie am friedlichen Bächlein erfreuen. Anfänglich konnten Sie in erster Linie dermassen an und wir konnten einfach Nothilfemassnahmen leisten, mehr war nur noch zusehen und abwarten. nicht möglich. War das frustrierend?

Im Gespräch mit Stephan Mathys 27 Bau des Stollens nimmt konkrete Formen an

rung einer Totalunternehmung (TU) zu übertragen. Somit konnte sichergestellt werden, dass dank Reduzierung der Schnittstellen eine rasche Realisierung möglich war. Zudem wurden entlang der Stollenachse zirka 20 Probebohrungen veranlasst, um den Verlauf der Felsober- fläche genauer zu definieren.

Weiter konnte dank der raschen Manda- tierung eines Ingenieurbüros der vom Bund verlangte Modellversuch des Ein- laufbauwerkes schon im Frühling 2008 gestartet werden. Die aus dem Modellver- such gewonnenen Erkenntnisse flossen anschliessend direkt in die Detailplanung ein. So wurde das Einlaufbauwerk, in­ klusive das davorliegende Beruhigungs- Im Januar 2009 bewilligte das bernische Parlament den Kredit. / zvg. becken, genau nach dem optimierten Mo- dell erstellt. Neben den technischen Schon nach dem zweiten Hochwasser am den Oberingenieurkreis III, mit dieser Auf- Abklärungen musste auch schon zu einem 8. August 2007 wurden in Lyss Stimmen gabe betraut. Der zuständige Wasserbau- frühen Zeitpunkt das Grossratsgeschäft laut, dass eine rasche Realisierung des ingenieur Jörg Bucher übernahm somit vorbereitet werden, da mit der neuen Trä- Hochwasserschutzes der Gemeinde Lyss anstelle der Oberaufsichtsfunktion die gerschaft nun der Kanton über den Brut- durch den Kanton erfolgen soll. Nachdem Vertretung der Bauherrschaft. tokredit zu befinden hatte. Gestützt auf die am 29. August 2007 der Lyssbach innert im Sommer eingegangenen Offerten kürzester Zeit zum dritten Mal zugeschla- Gegenüber der ursprünglichen Planung konnte der voraussichtliche Finanzbedarf gen hatte, wurde zwischen dem Kanton des Verbandes mit einem geplanten Bau- ermittelt werden. Allfällige Risiken, wie Bern, dem Gemeindeverband Lyssbach beginn von frühestens 2012, mussten nun die Querung der beiden Eisenbahntrassen, ­ und den beiden direkt betroffenen Ge- innert kürzester Zeit die noch nötigen De- geologische Unsicherheiten oder Unter- meinden Lyss und Busswil beschlossen, tailabklärungen getroffen werden, damit brüche durch Hochwasser wurden beur- dass die Realisierung der Hochwasser- mit den Bauarbeiten umgehend begonnen teilt und entsprechend im Kostenvoran- schutzmassnahmen durch den Kanton er- werden konnte. Dafür musste für den Be- schlag berücksichtigt. Dies führte dann zu folgen wird. reich des Ein- und Auslaufbauwerkes eine einem Bruttokredit von 52,3 Millionen Innerhalb des Kantons wurde das Tiefbau- Detailplanung in Auftrag gegeben werden. Franken. amt des Kantons Bern, vertreten durch Zudem entschloss man sich, die Ausfüh-

Die Finanzierung Dank der gründlichen und vorausschauenden Ausführungsplanung, aber auch dank Gemeindeverband Lyssbach ­Wetterglück - es gab während der ganzen Bauzeit keine Hochwasser, die den Bauablauf behindert oder erschwert hätten - zeichnete sich sogar eine deutliche Kreditunterschrei- tung ab. Die eingerechneten Risiken sind grossmehrheitlich nicht eingetroffen.

23 % Kredit Endkosten ** Renaturierungs­fonds des Kantons Bern 0.9 % 43,1 % Anteil Bund 43,1 % 22,5 Mio Fr.* 20,0 Mio Fr.* Anteil Kanton 33 % 17,3 Mio Fr.* 15,3 Mio Fr.* Renaturierungsfonds des Kantons Bern 0,9 % 0,45 Mio Fr.* 0,45 Mio Fr.* 33 % Anteil Gemeindeverband Lyssbach 23 % 12,0 Mio Fr.* 10,7 Mio Fr.*

TOTAL 52,3 Mio Fr.* 46,5 Mio Fr.* Bund Kanton Bern (*gerundete Beträge / ** Stand Oktober 2012)

28 Der Lyssbachstollen «Die Hilflosigkeit gegenüber diesen Naturgewalten in dieser «Das Wasser war überall und jegliche Anstrengungen waren verge- finsteren Nacht werde ich nie vergessen. Heute schützt uns der bens. Bei uns drückte das Wasser von unten in die Gebäude. Ein Pro- Stollen vor Hochwasser. Das beruhigt mich. Zudem fühle ich mich blem der Kanalisation. Darum habe ich immer noch Respekt vor dem als Bürger ernst genommen. Die Politik hat reagiert und in die Grundwasser. Ich bin aber überzeugt, dass mit dem Lyssbachstollen «Hände gespuckt». Das Resultat ist der Lyssbachstollen.» ein wichtiges Bauwerk realisiert wurde, welches uns Sicherheit gibt.»

Piero Recchia Antonio Fasano Abwart Schule Stegmatt

«Landunter: das Hochwasser hatte viele Schattenseiten. «Die zweite Überschwemmung war für mich am schlimms- Wir standen den Wassermassen hilflos gegenüber und muss- ten. Kaum hatten wir alles wieder hergerichtet, kam das ten zusehen, wie der Pegel stetig stieg – beim dritten Mal auf Wasser schon wieder. Da ich nicht mehr gut zu Fuss bin, 1,80 m im Keller. Der Sommer 2007 schweisste aber auch die musste ich tatenlos zuschauen und konnte praktisch nichts Bevölkerung zusammen. Die Solidarität unter den Quartier- retten. Am nächsten Tag hat mir eine Unbekannte eine Züpfe bewohnern war gross – man half einander, so gut es ging.» geschenkt. Das hat mich riesig gefreut.»

Familie Rosmarie und Gerhard Leuenberger mit Willy Flückiger Nils, Jan und Noah

Berichte von Betroffenen 29 A Im Teich werden das Geschiebe abgelagert, die Strömung beruhigt und mit dem B Das Wasser staut sich an der Blende und fliesst seitlich in Grobholzrechen das Schwemmgut vom Einlauf in den Stollen ferngehalten. einen Beruhigungsteich.

Wichtige Erkenntnisse aus den Modellversuchen Modellversuche an der ETH in Zürich

Die Funktionstüchtigkeit des Einlaufbau- Längsgefällen konnte im Computermodell chendes Modell erstellt. An dem physika- werkes wurde mittels eines Hybridversu- das Anspringverhalten und das Ableiten lischen Modell im Massstab 1:16 konnten ches untersucht und optimiert. Dabei wur- des Wassers getestet und verbessert wer- die Erkenntnisse der Computerberech- de das Einlaufbauwerk und ca. 200 m der den. Anschliessend wurde, gestützt auf nung überprüft werden. Diverse Feinjus- anschliessenden Stollenstrecke in einem die gewonnenen Daten an der Versuchs- tierungen ermöglichten eine weitere Op- Computermodell aufgesetzt. Mit diversen anstalt für Wasserbau, Hydrologie und timierung des ganzen Stollenbauwerkes. Anpassungen an den Dimensionen und Glaziologie der ETH Zürich, ein entspre-

Das Wasser staut sich an der Blende und Das Wasser gelangt über einen Überfall in das Simulation der ersten 70 Meter: Der Übergangs- fliesst seitlich in einen Beruhigungsteich. Einlaufbauwerk. bereich vom Rechteckprofil zum Kreisprofil.

30 Der Lyssbachstollen «Eine grossartige Teamleistung» Jörg Bucher, Projektleiter Oberingenieur Kreis III, Tiefbauamt des Kantons Bern

Sie sind zum Auftrag gekommen, wie Ich hatte schon Projektleitungserfahrun- Lyssbach geschützt. Eine absolute die Jungfrau zum Kinde – welche gen, beispielsweise beim Projekt Sicherheit gibt es aber nicht. Dies hängt Erinnerungen haben Sie an diesen «Brücke ». Innerhalb kürzester von vielen Faktoren ab. Wir können nur Moment? Frist bauten wir die Organisationsstruk- darauf hinarbeiten, die Gefahren Ich kannte die Projektevaluation sowie tur auf. Eine verantwortungsvolle frühzeitig zu erkennen und die richtigen das Stollenprojekt von meiner Tätigkeit Aufgabe. Umso mehr, dass die Erwar- Entscheide zu treffen, damit grosse als Vertreter der Aufsichtsbehörde. Am tungshaltung der Öffentlichkeit gegen- Schadenereignisse verhindert werden 30. August 2007, ein Tag nach dem über dem Stollenprojekt gross war. Da können. letzten, verheerenden Hochwasser, stellt man sich zwischendurch schon die übernahm der Kanton Bern die Feder- Frage: Kommt das gut, funktioniert der Welche Herausforderung treten Sie als führung beim Projekt und ich wurde Stollen bei Hochwasser? nächstes an? Gerade im Bereich der Alten Aare ist der «Termingerecht wurden die 5 Jahre später – der Stollen ist gebaut Wasserbauverband Alte Aare an den Bauarbeiten beendet und und konnte dem Betrieb übergeben Vorbereitungen weiterer Hochwasser- werden – welche Gefühle bewegen Sie? schutzmassnahmen. Unter anderem der Kostenrahmen wurde Für mich ist es eine grosse Befriedi- werde ich versuchen, hier meine eingehalten.» gung, wie dieses Projekt gemeinsam mit gemachten Erfahrungen beim Projekt allen Beteiligten umgesetzt werden Lyssbach einzuspeisen. quasi über Nacht mit der Projektleitung konnte. Termingerecht wurden die betraut. Damit verbunden war ein Bauarbeiten beendet und der Kosten- grosses Zusatzengagement. Dies hatte rahmen wurde eingehalten. Zudem natürlich auch Konsequenzen auf unser hatten wir auf dem Bau keine nennens- Privatleben, zumal unser drittes Kind werten Unfälle mit Personenschaden. unterwegs war. Eine grossartige Teamleistung und ich bin überzeugt, dass wir stets die Innerhalb kürzester Zeit mussten eine richtigen Entscheide getroffen haben. Organisationsstruktur aufgebaut und die nötigen Vorkehrungen getroffen Ist Lyss nun geschützt? werden. Eine grosse Herausforderung? Die Gemeinde Lyss ist nun vor dem

Im Gespräch mit Jörg Bucher 31 wurde die Portalkonstruktion erstellt. Dieses rund 360 Tonnen Frühling 2009: schwere Portal mit einer Breite von 7.5 m, einer Höhe von 5.9 m und einer Wanddicke von rund 50 cm wurde anschliessend un- ter der SBB-Hilfsbrücke eingeschoben. Ein Arbeitsschritt, der Es geht los! von sämtlichen involvierten Unternehmen viel abverlangte.

Im Bereich des Auslaufbauwerkes Fulematt und dem Mühlen- weg in Lyss wurden im Frühjahr 2009 Holzbestände geschlagen. Diese Arbeiten waren Bestandteil der Revitalisierung des Auen- waldes in diesem Gebiet. Zudem diente ein Teil der gerodeten Fläche während des Stollenbaus als Installationsplatz. An- schliessend wurde das Terrain umgestaltet und bis zu 1,5 m ab- gesenkt. Ziel war es, dass dieses Gebiet zukünftig in regel­ mässigen Abständen überschwemmt wird. Dies fördert die auenwaldspezifische Flora.­

Zu den Vorarbeiten für den Stollenbau gehörten unter anderem die Erstellung der Zufahrt ab dem Industriering über das Indus- triegleis sowie das Aufschütten einer Baupiste. Weiter wurde an- fangs September eine SBB-Hilfsbrücke eingebaut. Parallel dazu

32 Der Lyssbachstollen Nachdem die Portalkonstruktion am richtigen Ort war, wurde an- Teile der Tunnelbohrmaschine wurden vor Ort revidiert und schliessend die SBB-Hilfsbrücke wieder ausgebaut. ­kontinu­ierlich für den Einsatz im Lyssbachstollen vorbereitet. Auf Transportfahrzeugen wurden der 54 t schwere Bohrkopf sowie der 24 t schwere Hauptträger geliefert. Die einzeln angelieferten

Das Bauprogramm

September 2007 Mai 2009 Ende 2011 Projektübernahme durch den Kanton Baustart Inbetriebnahme des Stollens November 2007 Herbst 2009 Mitte 2012 Genehmigung Wasserbauplan Vorbereitungsarbeiten Stollenportal Fulematt Fertigstellung der Bauarbeiten Mai 2008 April 2010 29./30. Juni 2012 Beginn Modellversuche an der ETH Zürich Beginn Stollenvortrieb Einweihung des Lyssbachstollens Sommer 2008 November 2010 August 2012 Submission Durchstich beim Einlaufbauwerk Leen Rückbau des Installationsplatzes Fulematt, Renaturierungsmassnahmen Januar 2009 Sommer 2011 Finanzbeschluss des Grossen Rates des Bau des Kreisels Bernstrasse/Wilerstrasse Kantons Bern

Der Lyssbachstollen 33 Daten und Fakten zur Tunnelbohrmaschine

Bohrdurchmesser 4,75 m Installierte Gesamtleistung 1’500 kW Gewicht TBM + NL 330 t Anzahl Rollenmeissel 35 Stk. Vorschubkraft 6’800 kN Drehzahl 0 – 10 U/min

Die Tunnelbohrmaschine «talpa»

Die Tunnelbohrmaschine hat einen Bohrkopf-Durchmesser von 4,75 m. Die- Maschinenbereich wurde die Tunnelwand mit Spritz- ser ist mit 35 Rollenmeisseln bestückt. Sie graben das Gestein ab, welches beton gesichert und ausgekleidet. Viele Arbeitsschrit- über Förderbänder abtransportiert wird. Der 330 Tonnen schwere Koloss te liefen gleichzeitig ab, was Zeit und Kosten sparte. bewegte sich mit durchschnittlich 18 Metern pro Tag vorwärts. Im hinteren

Das Querprofil des Entlastungsstollens

65.8 m3/s: Extrem Hoch- wasser (Faktor 1,5 des 2007-Hochwassers in Lyss)

Radius = 2.375 m 43,8 m3/s: Jahrhundert-Hoch- Regierungsrätin wasser Barbara Egger-Jenzer (Lyss, August 2007) mit Taufpatin Verena von Aesch

Die Kapazität des 2.16 m Am 30. März 2010 taufte Regierungsrätin Barbara 88 cm 40 cm 88 cm Stollens beträgt rund ­Egger-Jenzer die 330 Tonnen schwere Tunnelbohr- 70 m3/s oder etwa rund Niederwasserrinne maschine auf den Namen «talpa» (Deutsch: Maul- 330 Badewanneninhalte pro Sekunde. wurf). Zudem wurde die Heilige Barbara, Schutz­ patronin der Mineure, gesegnet.

34 Die Tunnelbohrmaschine «talpa» Bohrstart

Die Tunnelbohrmaschine «talpa» hat termingemäss Mitte April 2010 ihre Bohrarbeiten am Lyss- bachstollen aufgenommen. Der 330 Tonnen schwere Koloss be- wegte sich in den kommenden Monaten mit durchschnittlich 18 Metern pro Tag vorwärts.

Die Tunnelbohrmaschine «talpa» 35 Bagguul

Einlauf Dreihubel Murgeliweg Grentschelbach Fulematt Leen

Kiesgrube 60 m m 10 Gefälle 0.58%

0 m 500 m 1000 m 1500 m 2000 m 2500 m

Bohrstart 14. April 2010 Durchstich 22. November 2010

36 Die Tunnelbohrmaschine «talpa» «Eine grosse Herausforderung» Pius Bürge, dipl. Bauingenieur HTL NDS-W, Baustellenchef Implenia Bau AG

Pius Bürge, Sie stammen aus der trag als Totalunternehmer abgeschlos- ser wir es beim Ausbruch zu tun haben Ostschweiz. Wann haben Sie zum ersten sen. Diese Vertragsform wird im Tunnel- würden. Wir hatten Glück, der Tunnel- Mal vom Lyssbach und dem Hochwasser bau immer öfters angewendet. Für mich vortrieb verlief sehr gut, wir konnten die gehört? persönlich war das eine neue, aber gemachten Vereinbarungen einhalten Natürlich wusste ich aus den Medien von interessante Situation. Wir waren nicht und haben das Optimum erzielt. Die den Hochwasserproblemen von 2007 im nur für die Ausführung verantwortlich, Aussenarbeiten erfolgten unter perma- Seeland, aber konkret vom Lyssbach sondern bereits in der Phase der nentem Hochwasserrisiko. Wir hatten habe ich zum ersten Mal im Zusammen- Detailplanung massgebend involviert. immer alle möglichen Massnahmen hang mit der Bauausschreibung gehört. Dies ermöglichte es mir, meine Erfah- vorgesehen, wir mussten sie glückli- rungen zum guten Gelingen des Bau­ cherweise nicht einsetzen. Gibt es vergleichbare Bauwerke für Sie? projektes einbringen zu können. In meiner Nachbargemeinde Uzwil Und was nimmt der Ostschweizer mit wurde ein ähnliches Bauwerk erstellt. «Wir hatten Glück, in die Heimat? Dort wurde ein 1,35 km langer Ich erlebte die Bevölkerung als sympa- Entlastungs­stollen gebaut. Dieser leitet der Tunnelvortrieb thisch, offen und angenehm. Man spürte bei einem Hochwasserereignis die verlief sehr gut.» den gemeinsamen Willen, dieses Projekt Wassermassen von der Uze in die Glatt. durchzuziehen. Dies gilt auch für die Der Stollen wurde ebenfalls mit einer Zusammenarbeit mit der Bauherrschaft, Tunnelbohrmaschine, allerdings mit Im Winter 2008/2009 begannen die den Behörden, der Nachbarschaft und einem Ausbruchdurchmesser von 3,5 m, Bauarbeiten – jetzt ist der Stollen fertig im Projektteam. Ich werde Lyss in guter ausgebrochen. Im Jahr 2007 erfolgte der gestellt. Eine Genugtuung für Sie – sind Erinnerung behalten. Durchschlag, 2008 die Inbetriebnahme. Sie zufrieden mit den Arbeiten, mit dem Resultat? Mit welcher Motivation sind Sie ans Wir wussten, dass der Mergel für die Werk gegangen? Tunnelbohrarbeiten ein schwieriges Für den Bau des Lyssbachstollens wurde Material ist und zu Beginn konnten wir mit der Implenia Bau AG ein Werkver- nicht einschätzen, mit wie viel Bergwas-

Im Gespräch mit Pius Bürge 37 Tag der offenen Baustelle

Rund 1000 Interessierte besuchten am Pfingstsamstag, 22. Mai 2010 den Instal- lationsplatz Fulematt in Lyss. An verschie- denen Informationsposten wurden die ­Besucher aus erster Hand über die En­t­­­ stehungsgeschichte des Stollens, den Stand der Bauarbeiten sowie über weite- re Hochwasserschutzprojekte im Bereich des Lyssbaches und der Alten Aare infor- miert.

Für die Organisation zeichneten das Tief- bauamt des Kantons Bern, Oberinge­ nieurkreis III, der Gemeindeverband Lyss- baches, die Gemeinde Lyss sowie die Bauunternehmung.

38 Der Lyssbachstollen «Die drei Hochwasser im 2007 hatten einschneidende Konsequen- zen auf unser privates wie berufliches Leben. Bei den zwei ersten Hochwassern haben wir uns «aufgerafft» und mit viel Energie und Engagement den Betrieb wieder in Schwung gebracht. Das dritte Hochwasser war aber vernichtend. Ohne Perspektiven auf Sicherheit betreffend weiteren Hochwassern vom Lyssbach, zwang uns dies dann zu unserem Entscheid der Geschäftsaufgabe. Wir schauten vorwärts. Immerhin gab es keine Personenschäden.» «Der Wasserpegel stieg enorm schnell an und wir leite- Beatrice und Michael Rogen ten umgehend unsere Sofortmassnahmen ein. Als dann Ehemalige Inhaber Bäckerei Rogen das Wasser regelrecht aus den Senklöchern schoss, konnten wir nur noch zusehen. Wir hatten ein riesiges Glück, dass wir keine Personenschäden zu verzeichnen hatten. Nach dem Unwetter investierten wir mehrere hunderttausend Franken in Schutzmassnahmen. Und heute freuen wir uns über den Stollen.»

Kurt Michel Technischer Chef Feintool

«Im ersten Moment ist für mich eine Welt zusammen gebrochen – in- nerhalb weniger Momente war unser Werk wie weggefegt. Es hiess: Zurück auf Feld 1! Mit viel Eigenleistungen und grossem Aufwand haben wir aber unser Lokal wieder hergerichtet und nun ist es noch besser und schöner als vorher. Jetzt hoffe ich aber, dass so etwas «Alles lief reibungslos. nie mehr geschieht.» Ich liebe Mergel!» Lucio Stanco Maulwurf Talpa Ehemaliger Präsident Circolo Italiano Maskottchen der Tunnelbohr­maschine

Berichte von Betroffenen 39 40 Der Lyssbachstollen ist ausgebrochen Der 330 Tonnen schwere Koloss benötigte für den 2,5 Kilometer Der Lyssbachstollen ist ­langen Ausbruch des Lyssbachstollens rund sieben Monate. Dies­ entspricht einem wöchentlichen Ausbruch von 75 Laufmeter ausgebrochen ­Stollen. Regierungsrätin Barbara Egger-Jenzer gratulierte an der Durch- stichfeier den Mineuren für das abgelieferte Meisterstück. ­ Planmässig erreichte die Tunnelbohrmaschine «talpa» am «Es sind keine nennenswerten Schwierigkeiten aufgetreten und 22. November 2010 das Einlaufbauwerk Leen im Süden von Lyss. der Zeitplan konnte bestens eingehalten werden».

Stefan Studer, «Ausbruch geschafft!» Zufriedene Gesichter bei der Bauherrschaft: Kantonsoberingenieur Jörg Bucher, Projektleiter, OIK III Stefan Studer, Kantonsoberingenieur (links) und Kurt Schürch, Kreisoberingenieur (OIK III)

Der Lyssbachstollen ist ausgebrochen 41 Das Einlaufbauwerk Leen:

Das Wasser staut sich hinter der Blende, steigt an und fliesst Das Herzstück seitlich in einen Beruhigungsteich. Dieser nimmt verschiedene wichtige Funktionen wahr. Im Teich wird das Geschiebe abgela- gert, die Strömung beruhigt und mit dem Grobholzrechen das Der Einlaufbaubereich im Leen besteht aus einer Drosselblen- Schwemmmaterial vom Einlauf in den Stollen ferngehalten. An- de (eine Klappe) im Lyssbach, dem Beruhigungsteich , ­einem schliessend gelangt das Wasser über einen Überfall in das Ein- Grobholzrechen und dem Einlaufbauwerk . Das Hochwasser­ laufbauwerk zum Entlastungsstollen.­ kann bis zu einer bestimmten Wassermenge das Gerinne des Lyssbaches ungehindert passieren. Wenn der Wasserspiegel bei Nach zwei Dritteln der Stollenstrecke wird über einen Vertikal- der Brücke Bielstrasse ein kritisches Niveau erreicht (24 m3/s), schacht der Hochwasseranteil des Grentschelbaches eingelei­ ­ gibt die Pegelmessung der Blende im Leen den Drosselungs­ tet.­ Das Auslaufbauwerk in der Fulematt wird die Energie des befehl. Wassers vor der Rückgabe in das Lyssbachgerinne abbauen.

42 Das Einlaufbauwerk Das Einlaufbauwerk 43 44 Im Gespräch mit Hermann Moser «Nun kann ich wieder ruhig schlafen» Hermann Moser, alt Gemeindepräsident und Vizepräsident des Gemeindeverbandes Lyssbach

Hermann Moser, als Gemeindepräsi- wassern­ stieg dementsprechend auch fristige Eingreifen des Kantons Bern. dent erlebt man eine derartige Kata­ der Druck auf die Behörden. Die Bevöl- Regierungsrätin Barbara Egger-Jenzer strophe in der Gemeinde auf vielschich- kerung wollte endlich wissen, wann das konnte Ende August 2007 ein ausfüh- tige Art und Weise. Erinnerungen an Problem richtig gelöst wird. Das ist rungsreifes Projekt übernehmen. Ohne den Sommer 2007? verständlich. Dank der grossen Arbeit die vorher geleisteten Arbeiten wäre dies Der Sommer 2007 heisst für mich des Gemeindeverbandes Lyssbach über nie möglich gewesen. Indem der Kanton «10 Wochen - drei Hochwasser» und Jahre hinweg lag ja ein entsprechendes Bern die Bauherrschaft übernommen dies bedeutet drei Mal der Natur Projekt eines Stollens vor, verabschiedet hat, konnte nun der Stollen in 5 Jahren vollständig ausgeliefert zu sein. Die von der Delegiertenversammlung. Einzig realisiert werden. Belastung war riesig. Umso grösser ist die Finanzierung war damals noch nicht die Genugtuung, dass das Problem für gelöst. Dies machte es überhaupt Welches Verhältnis haben Sie heute möglich, dass nun innerhalb dieser Frist zum Lyssbach? von fünf Jahren der Stollen gebaut Der Lyssbach bleibt für mich der werden konnte. idyllische Bach, die grüne Meile von Lyss. Ein Naherholungsraum von Wie grenzt man sich ab, Hermann unbezahlbarem Wert. Moser als Privatperson, Hermann Moser als Gemeindepräsident? Das ist schwierig und verständlicher­ weise erwartet die Bevölkerung von der Gemeindeführung Lösungen. Das private Umfeld gab mir den nötigen Halt und die Zusammenarbeit zwischen Gemeinde- schreiber, Feuerwehr, Gemeinderat Lyss heute weitgehend gelöst ist und funktionierte. Zudem konnte ich auf die die Bevölkerung bei Regen wieder ruhig Hilfe von Fritz Ruchti und Jürg Eberle schlafen kann. vom Gemeindeverband Lyssbach zählen. Sie haben massgebend mitgeholfen, War man auf ein solches Ereignis vorbereitet? Wir waren gut organisiert und ein «Die Bevölkerung wollte eingespieltes Team. Jeder kannte seine endlich wissen, wann das Aufgabe. Zudem war uns die Problema- Problem richtig gelöst wird.» tik bewusst. Wir hatten ja bereits Erfahrungswerte aus früheren Zeiten und entsprechende vorbereitende dass wir heute da sind, wo wir hin Massnahmen getroffen. Namentlich das wollten. Ihnen sei herzlich gedankt. Hochwasser Ende August 2007 war vom Ausmass dermassen gross, dass wir Nun, 5 Jahre später, konnte der Stollen schliesslich an die Grenzen kamen. eingeweiht werden – was bedeutet das für Sie? Wurde auch Kritik an den Behörden Für mich ist dies der Beweis dafür, dass geübt? die Politik etwas bewegen kann, wenn Natürlich gibt es immer Kritik und die richtigen Grundlagen vorhanden Einwände. Durch die Serie von Hoch­ sind. Dies ermöglichte auch das kurz-

Im Gespräch mit Hermann Moser 45 «Das erste Hochwasser nahmen wir noch sportlich, beim zweiten waren wir verzweifelt und das dritte war katastrophal. Innerhalb kürzester Zeit wurde unser Haus drei Mal in Mitleidenschaft gezogen. Wir haben unsere Konsequenzen daraus gezogen. Heute wohnen wir erhöht über Lyss und fühlen uns sicher.»

Katrin und Thomas Flühmann

«Die Hochwasser haben uns drei Mal getroffen. Das erste Mal sah es «Ich kenne den Lyssbach schon von klein auf und auch im Keller, in der Garage und im Bastelraum aus, als hätte eine Bom- dessen Tücken, aber an etwas Vergleichbares wie die be eingeschlagen. Alles lag kreuz und quer durcheinander. Es gingen Hochwasserserie 2007 kann ich mich nicht erinnern. viele Fotos und Dokumente meiner Vorfahren verloren. Jedes Mal Ende August 2007 ist unser Lager im Wasser im wahrsten mit dem Regen kam auch die Angst vor einer weiteren Überschwem- Sinn des Wortes versoffen. Nun aber bin ich überzeugt, mung. Lange überlegten wir uns einen Wegzug. Der Stollen ist für dass wir nie mehr einen solchen Ausnahmezustand erle- uns eine grosse Erleichterung, endlich ist Ruhe eingekehrt.» ben müssen.»

Verena von Aesch Robert von Dach Von Dach Technik AG

46 Berichte von Betroffenen Das Entlastungsbauwerk Grentschelbach funktioniert analog dem Auch der Grentschelbach Prinzip des Einlaufbauwerkes Leen. Ab einem Abfluss von 0,8 m3/s staut sich das Wasser hinter dem Wehr zurück, bis die Überfall- quote erreicht wird. Ab diesem Zeitpunkt wird die zusätzliche Was- wird gezähmt sermenge über das Entlastungsbauwerk dem Lyssbachstollen zu- geführt.

Die Kapazität des Grentschelbaches in seinem Unterlauf ist durch seine künstliche Führung stark eingeschränkt. Namentlich im Be- Das Entlastungsbauwerk Grentschelbach reich der Brücke Rosenmattstrasse ist ein markanter Engpass festzustellen. Bei einem grösseren Hochwasserereignis trat der Fallschachtdeckel Bach über die Ufer. Um das Quartier entsprechend vor Hochwasser zu schützen, wer- den in Zukunft die Wassermassen bei hohem Wasserstand durch einen Schacht in den Entlastungsstollen Lyssbach geleitet.

Lyssbachstollen

Der Grentschelbach 47 Lyss ist vor Hochwasser geschützt

Ende November 2011 hat Regierungsrätin Barbara Egger-Jenzer­ den Lyss- bachstollen in Lyss planmässig und termingerecht dem Betrieb übergeben. Der rund 2,6 Kilometer lange Stollen schützt Lyss vor künftigen Hochwas- sern. Das Projekt wurde vom Gemeindeverband Lyssbach ausgearbeitet und nach dem Hochwasser von 2007 vom Kanton Bern innert weniger Jahre re- alisiert.

48 Die Inbetriebnahme Alte Aare

Lyssbach

Auslaufbauwerk Fulematt

teils nur um Fichtenbestände, die nicht Renaturierung Auenwald auentypisch sind. Auch konnten bestehen- de Tierbauten von Fuchs, Dachs aber auch in der Fulematt und Ameisen umfahren werden. Mittels einer gezielten Nachpflege wird zudem sicher gestellt, dass in den neuen Ruderalflä- die Abschlussarbeiten chen nicht unerwünschte Pflanzenarten sogenannte Neophyten (z.B. Drüsiges von Jörg Bucher, Projektleiter Oberingenieur Kreis III, Springkraut,­ Goldrute, Sommerflieder Tiefbauamt des Kantons Bern oder Knöterich) aufkommen. Mit der Re- naturierung des Auenwaldes in der Fule- matt konnte aber auch eine positive Wir- Der Entlastungsstollen mündet nach dem gischen Ersatzmassnahmen der Wald in kung für die unterliegenden Gemeinden Industriegebiet Nord (Industriering) im der Fulematt als Auenwald zu revitalisie- an der Alten Aare erzielt werden. Zukünf- Gebiet Fulematt in den Lyssbach ein. Von ren sei. Dies bedingte aber, dass der Wald tige Hochwasser können nun viel früher hier aus fliesst bei einem Hochwasser häufiger als bisher überschwemmt wer- in den Auenwald abgeleitet werden. Dies wieder der ganze Hochwasserabfluss im den sollte. Um beide Ziele (Ableitung des mindert die negativen Auswirkungen für Gerinne des Lyssbaches der Alten Aare zu. Hochwassers und Revitalisierung des Au- die Gemeinden unterhalb von Lyss durch Damit das anfallende Wasser auch sicher enwaldes) zu erreichen, entschloss man eine rasche Dämpfung und teilweise Puf- abgeleitet werden kann, hätte in diesem sich, den bestehenden Nutzwald in die- ferung in den natürlichen Rückhalteräu- Abschnitt das bestehende Gerinne auf die sem Bereich zu roden und als zusätzlicher men des Auenwaldes. nötige Kapazität massiv ausgebaut wer- Abflusskorridor den Waldboden auf einer den müssen. Um diesen grossen Eingriff Breite von ca. 20 – 30 Metern zwischen 0,8 in das natürliche Gerinne zu verhindern, bis 1,5 Metern abzusenken. Mit diesem suchten die Planer nach einer alternati- Eingriff konnte das nötige Abflussprofil für ven Lösung. Als Möglichkeit anerbot sich, die Ableitung der Hochwasserspitzen, wie das Hochwasser über den schon bisher auch die ca. jährliche Überflutung des Au- überfluteten Waldbereich ableiten zu las- enwaldes garantiert werden. Weitere öko- sen. Dies bedingte aber, dass längs dem logische Aufwertungsmassnahmen run- Wald zum Schutz der angrenzenden In- deten diesen Eingriff ab. So wurden dustriebetriebe und der ARA Lyss ein zusätzlich noch ein Amphibienweiher und Hochwasserschutzdamm errichtet wer- diverse Unterstände für Kleintiere erstellt. den musste. Zudem bedurfte diese Lö- Die Detailplanung dieser Massnahme er- sung einer Vergrösserung der Abflusska- folgte unter Begleitung eines Umweltbü- pazität durch das Waldareal. Zeitgleich zu ros. So konnte sichergestellt werden, dass dieser Überprüfung der alternativen Ab- vorhandene ökologische Werte weitge- leitmöglichkeit wurde von Bund und Kan- hend geschont wurden. Bei der Rodungs- ton verlangt, dass im Rahmen der ökolo- fläche handelte es sich somit grössten- Überflutung Oktober 2012

Die Inbetriebnahme 49 ordentlichen Ereignis, wie zum Beispiel Ist Lyss nun vor Hochwasser gefeit? ein 1000-­jährliches Hochwasser, zu Über- schwemmungen kommen kann. Ungeachtet der Realisierung des Lyss- von Jörg Bucher, Projektleiter Oberingenieur Kreis III, bachstollens bleiben aber einige Gefah- Tiefbauamt des Kantons Bern rengebiete unverändert in der Gefahren- karte oder müssen bei einer Neu­­erstellung der Gefahrenkarte zusätzlich aufgeführt Dass grosse Gebiete der Gemeinde Lyss de Lyss wurde zusammen mit den übrigen werden. So bleibt die Gefährdung im Be- vom Hochwasser gefährdet sind, war fünf Verbandsgemeinden in den Jahren reich Wannersmattweg oder unterhalb schon vor den Hochwassern im Sommer 2004 bis 2005 diese Gefahrenabklärung des Wallislochs unverändert. Zusätzlich 2007 bekannt. Infolge einer eher seltenen durchgeführt. Die Naturgefahrenkarte lag muss aber auch die Gefährdung längs Eintretenswahrscheinlichkeit und dem Ende 2005 vor und zeigte für die Gemein- dem Heilbach neu geprüft werden, damit Umstand, dass bis zu den 80er Jahren des de Lyss eine deutliche Gefährdung auf. Die Ereignissen wie im Sommer 2007 mit der letzten Jahrhunderts nur geringe Schä- Ereignisse im Sommer 2007 bestätigten nötigen Erkenntnis entgegengetreten den durch Hochwasser entstanden waren, dann in aller Deutlichkeit die Resultate werden kann. Eine weitere, nicht ausser ging man zu sorglos mit diesem Umstand dieser Planung. Acht zu lassende Gefährdung,­­­ sind und um. So wurden – wie auch in anderen Ort- Mit der Realisierung des Hochwasser- bleiben intensive Niederschläge im Be- schaften – Gebiete überbaut, die schon schutzprojektes (Lyssbachstollen) konn- reich der Gemeinde Lyss. Bei solchen Ge- immer gefährdet waren. Die vermehrte ten die Überflutungsgebiete im Bereich witterbrüchen kommt die kommunale Bautätigkeit im Einzugsgebiet, aber des Lyssbaches und des Grentschelba- Entwässerung an ihre Grenzen und das hauptsächlich die veränderten Nieder- ches massiv reduziert werden. Anstelle ei- Wasser bleibt oberflächlich liegen. Daher schlagsintensitäten, zeigten in aller Deut- ner mittleren Gefährdung (blaue Gefah- empfiehlt es sich, auch zukünftig mit der lichkeit diesen Mangel auf. Um weitere rengebiete) wurde die Gefahrenstufe als nötigen Umsicht zu planen und zu bauen. «Bausünden» zu vermeiden, verlangt der Restgefährdung herabgestuft. Dies be- Bund, dass die Kantone allfällige Gefah- deutet, dass es nur noch bei einem Ver- rengebiete ausscheiden. Für die Gemein- sagen des Bauwerkes oder einem ausser-

50 Lyss ist hochwassersicher Teile von Lyss wurden bereits in den 50er-, 60er- und 70er-­Jahren Die Gefahrenkarte von Hochwasser überflutet. Damals konnten die betroffenen Quartiere noch mit relativ einfachen Mitteln geschützt werden. Dies hat sich inzwischen geändert. Seit den 90er-Jahren ist eine von Lyss vor und Häufung von Hochwasserereignissen festzustellen. Hochwasser- gefahr herrscht am Lyssbach bei Schneelagen am Nordabhang nach dem Stollen des Frienisberges, bei Wärmeeinbrüchen in längeren Frost­ perioden oder bei lang andauernden, intensiven Gewittern im Sommer. Das Risiko von Hochwasser am Lyssbach besteht also zu jeder Jahreszeit.

Gefahrenkarte vorher Gefahrenkarte nachher

Lyss ist hochwassersicher 51 «Überall war Wasser» Andreas Hegg, Gemeindepräsident Lyss

Andreas Hegg, als zuständiger Gemein- Heute, fünf Jahre später, sind Sie meiner Meinung nach drei Bauwerke derat für Sicherheit haben Sie die Gemeindepräsident von Lyss. Der entscheidend: Der Bau der SBB Linie Hochwasser im 2007 hautnah miterlebt. Lyssbachstollen ist gebaut und Ihre Bern - Lyss - Biel 1864, die Juragewäs- Welche Erinnerungen haben Sie an Gemeinde vor Hochwasser geschützt. serkorrektion und der Lyssbachstollen. diese für Lyss und Umgebung schwieri- Erfüllt Sie dies mit Genugtuung? Ich bin überzeugt, dass Lyss und die ge Zeit? Ja, sehr. Der Stollen konnte nur dank ganze Region vom Lyssbachstollen Wenn ich mich zurück erinnere, sehe ich den umfangreichen Vorarbeiten des profitieren wird. Dieses Bauwerk gibt Dunkelheit, Weltuntergangsstimmung Gemeindeverbandes Lyssbach in dieser der Bevölkerung Vertrauen und sichert und sintflutartige Regenfälle. Es kurzen Zeit realisiert werden. Dafür bin zudem die mehr als 7000 Arbeitsplätze herrschte keine Panik, aber eine grosse ich sehr dankbar. in Lyss. Ich bin deshalb ausserordentlich Machtlosigkeit. Überall war Wasser, erleichtert und glücklich, dass der überall sah man riesige Schäden. Es war «Dieses Bauwerk gibt der Kanton, der Bund und die Verbandsge- eine unglaubliche Situation, wir hatten meinden die Realisierung dieses Bevölkerung Vertrauen und einfach keine Chance. Bauwerkes ermöglichten. sichert Arbeitsplätze in Lyss.» Wie erlebten Sie die Lysser Bevölke- Welches Verhältnis haben Sie heute rung während diesen schwierigen zum Lyssbach? Momenten? Hat der Lyssbachstollen auch einen Der Lyssbach ist die schönste Lebens- Die Nerven lagen zeitweilen blank, Einfluss auf das Entwicklungspotential ader unserer Gemeinde. Nun können wir verständlicherweise. Wir waren nieder- der Gemeinde? diesen Lebensraum wieder richtig geschlagen, ja auch wütend und wir Der Hochwassersommer 2007 hatte geniessen. wussten, jetzt muss etwas geschehen. einen direkten Einfluss auf unsere Gleichzeitig schweisste das Hochwasser Entwicklung. Wer investiert schon gerne die Bevölkerung auch zusammen. in einem hochwassergefährdeten Ort. Für die Entwicklung von Lyss sind

52 Im Gespräch mit Andreas Hegg Der Lyssbach 53 Bilder tag der offenen Tür Einweihung

54 Einweihungsfeier – Freitag 29.06.2012 Einweihungsfeier – Samstag 30.06.2012 55 von Fritz Ruchti mit grossem Interesse Jahrhundertwerk ist vollbracht das Innere des Stollens zeigen. Allzu viel Zeit wollte die Baudirektorin an diesem von Isabel Rutschmann, Journalistin schönen, sommerlich heissen Tag aller- dings nicht im engen, dunklen, dunstig kühlen Untergrund von Lyss verbringen: Fünf Jahre nach dem Jahrhunderthoch- Einweihung des Entlastungsstollens einen So zackig, wie sie in den letzten fünf Jah- wasser in Lyss konnte die Gemeinde am denkwürdigen Meilenstein zu feiern hat.­ ren den Hochwasserschutz in Lyss voran- 29. Juni 2012 den Entlastungsstollen für «Wir haben ein Jahrhundertwerk voll- getrieben hatte, strebte sie mit schnellen den Lyssbach offiziell einweihen. Ein bracht, weil wir einen Jahrhundert-Willen Schritten vom Einstieg im Leen dem Aus- emotionaler Moment, der in den verschie- hatten und eine Jahrhundert-Zusammen- laufbauwerk in der Fulematt zu und freu- denen Festansprachen und mit der Ent- arbeit geschafft haben», brachte Barbara te sich am Ziel sichtlich, wieder Tageslicht hüllung von Skulptur und Gedenktafel bei Egger-Jenzer die Ereignisse den 150 geladenen Gästen feierliche Wür- der letzten fünf Jahre in ihrer digung fand. Festansprache auf den Punkt. Bei der Stollenbesichtigung Das Wort «Freudentag» fiel bei der offizi- im Vorfeld der abendlichen ellen Einweihungsfeier des Entlastungs­ Einweihungsfeier hatte die stollens für den Lyssbach oft. Sehr oft. Sei Regierungsrätin die Gelegen- es bei der Begrüssung durch Fritz Ruchti, heit genutzt, sich selber da- Präsident des Gemeindeverbandes Lyss- von zu überzeugen, dass das bach, in der Festansprache von Regie- Bauwerk nun definitiv zum rungsrätin Barbara Egger-Jenzer oder in Einsatz bereit ist. Sie durch- den angeregten Gesprächen unter den 150 querte gemeinsam mit einer geladenen Gästen: Alle waren sich an die- Gruppe den gut 2,5 Kilometer sem speziellen Tag einig, dass Lyss mit der langen Tunnel und liess sich

56 Einweihungsfeier – Freitag 29.06.2012 teren Festredner, Anton Affentranger, CEO Implenia und Hanspeter Willi, Vertre- ter des Bundesamtes für Umwelt, gaben ­unter anderem ihrer Bewunderung für den Einsatz von allen beteiligten Seiten Aus- druck. «Als ich mich näher mit dem Pro- jekt Lyssbachstollen auseinandergesetzt habe, habe ich sofort gespürt, wie viel Herzblut und wie viele Emotionen hier mitspielen», so Affentranger. Der Lysser Gemeindepräsident Andreas Hegg zeigte in seiner Schlussrede vor allem seine Dankbarkeit auf: «Dank an alle, die sich mit Kräften für den Bau dieses Tunnels eingesetzt haben.» Im Speziellen dankte er auch seinem Vorgänger Hermann Mo- ser: «Du hast dich in enger und guter Zu- sammenarbeit mit Fritz Ruchti für dieses Bauwerk stark gemacht. Danke, dass ihr mit euren harten ‹Bärner Gringe› mit zu erblicken. Genau so, wie sie später in sprach seine Bewunderung für den Mut Nachdruck zum Gelingen beigetragen ihrer Ansprache ihrer Freude Ausdruck und die Zuversicht von Barbara Egger- habt.» gab, dass die Lysserinnen und Lysser mit Jenzer aus. Er schloss seine Rede mit den der Inbetriebnahme des Stollens im folgenden zwei, alles umfassenden Die Gäste der Einweihungsfeier wurden ­übertragenen Sinne wieder Licht am Ende ­Worten: «Freude herrscht». im Anschluss an den offiziellen Teil kuli- des Tunnels erblicken: «Es hat mir enorm narisch verwöhnt und musikalisch unter- grosse Freude gemacht, mit Ihnen zu- Jürg Eberle, Präsident der Delegierten- halten. Es spielten die Bärebach Musikan- sammen so rasch dafür zu sorgen, dass versammlung des Gemeindeverbandes ten auf, die zu Ehren des Feiertages die Lyss keine Angst mehr vor Unwettern ha- Lyssbach, blickte in seiner Ansprache auf von Hanspeter Bach selber komponierte ben muss.» die bewegte Geschichte des heuer 25-jäh- Lyssbachstollen-Polka uraufführten. Der rigen Verbandes zurück. «Wir feiern die- Lysser Kinderchor überraschte die Gesell- Im Anschluss an die Stollenbesichtigung ses Jubiläumsjahr nicht speziell, ist doch schaft unter der Leitung von Felix Briner erfüllte der Lysser Gemeindepräsident der heutige Tag viel bedeutungsvoller und mit dem Lied «Wind über dem Lyssbach». Andreas Hegg der Regierungsrätin einen wichtiger als jede noch so überschwäng- Und so wurde dieser Freudentag noch bis lange gehegten Wunsch: Er führte sie mit liche Geburtstagsfeier», bezeugte er zum spät in die Nacht gebührend gefeiert. seinem Oldtimer, einem feuerroten Fiat Schluss seinen grossen Respekt vor der 500 mit Baujahr 1970, von der Fulematt Vollendung des Projekts. Die beiden wei- zurück zum Weissen Kreuz, wo der eigent- liche Festakt stattfand. Er hatte ihr vor längerer Zeit eine Fahrt in diesem Auto versprochen. «Mit dem heutigen Freuden- tag ist der Zeitpunkt gekommen, dieses Versprechen einzulösen», so Hegg. Nach ihrer Ankunft beim Weissen Kreuz ent- hüllte Barbara Egger-Jenzer beim Lyss- bach die neue Skulptur und die Gedenk- tafel, die Lyss für immer an die Vergangenheit mit den verheerenden Überschwemmungen erinnern werden.

In seiner Festansprache rief Fritz Ruchti ebendiese Erinnerungen an die letzten fünf Jahre noch einmal ins Gedächtnis der geladenen Gäste zurück. Er lobte das «un- vorstellbare Tempo» der Planungs-, Be- willigungs- und Ausführungsarbeiten und Hermann Moser, Andreas Hegg, Barbara Egger-Jenzer, Fritz Ruchti, Jürg Eberle

Einweihungsfeier – Freitag 29.06.2012 57 «Hoffentlich gibt es kein starkes Gewitter, Bürger erforschen neuen Weg wenn wir im Stollen drin sind», sagt eine Frau und blickt besorgt an den strahlend blauen Himmel, als sie in der Leen aus für das Hochwasser dem Shuttlebus aussteigt. Doch der Pro- von Isabel Rutschmann, Journalistin jektleiter des Entlastungsstollens Jörg Bucher, der die Besucherinnen und Be- sucher beim Einstieg in Empfang nimmt, gibt Entwarnung: «Keine Sorge, heute bleibt es den ganzen Tag trocken.» Die Frau lacht erleichtert. «Wissen Sie, ich spreche aus Erfahrung. Unser Haus stand 2007 drei Mal unter Wasser. Ich traue dem Einmaliges Erlebnis für die Bevölkerung telstundentakt zum Einlaufbauwerk Leen Wetter nicht mehr», sagt sie. Jetzt wolle von Lyss: Am 30. Juni 2012 bestand an - führt. Dort steigen die grossen und klei- sie mit eigenen Augen sehen, wo das lässlich der Einweihungsfeier die Gele- nen Höhlenforscherinnen und –forscher Hochwasser in Zukunft abgeleitet werde, genheit, den Lyssbachstollen zu besichti- in den Stollen ein, um die gut 2,5 Kilome- fügt sie nun wieder gut gelaunt an. Dann gen und Lyss auf diese Weise für einmal ter lange, unterirdische Strecke zu Fuss winkt sie kurz und verschwindet in der unterirdisch zu durchqueren. Über 2500 zurückzulegen, bevor sie beim Auslauf- Dunkelheit des Stollens. Personen folgten der Einladung der Ge- bauwerk Fulematt wieder ans Tageslicht meinde zu diesem Abenteuer. Ihr Fazit: kommen. Zwischen 9 und 16 Uhr beför- Die Lysserin Monika Lüthi war selber nicht «Fantastisch, spannend, imposant». dern die Extrabusse über 2500 Personen von den Überschwemmungen betroffen, zum Einstieg und holen sie nach dem un- will sich den Stollen aber trotzdem selber Aus allen Ecken strömen an diesem son- terirdischen Fussmarsch in der Fulematt aus nächster Nähe ansehen. «Die Gele- nigen und warmen Samstag Familien mit wieder ab, um sie zurück zum Marktplatz genheit, Lyss unterirdisch zu durchque- Kindern, ältere Personen und auch junge zu bringen. Wer den Stollen durchquert ren, gibt es sonst nie», sagt sie. Und: «Es Pärchen mit Wanderschuhen, Rucksack hat, bekommt von der Gemeinde als Gast- interessiert mich, wo die Steuergelder und Taschenlampen in Richtung Markt- geberin zur Belohnung auf dem Festplatz eingesetzt werden.» Doch dann hat sie platz. Vor dem Sieberhaus wartet ein vor dem Weissen Kreuz eine Bratwurst nicht mehr länger Zeit zum Plaudern. Ihre Shuttlebus auf die Leute, der sie im Vier- und ein Getränk offeriert. beiden Töchter Nina und Mascha drängen

58 Einweihungsfeier Samstag 30.06.2012 zum Aufbruch. Mascha hat bereits ihre lich zu erleben. Denn das sei bei seinen «Eine wirklich gute Sache», «ein spannen- ­Taschenlampe angezündet und stapft als Einsätzen bei den Überschwemmungen des Erlebnis», «grossartig», «fantastisch», Expeditionsleiterin voraus in den Tunnel. ganz anders gewesen, erinnert er sich: «eindrücklich», «einmalig», «interessant», «Ich werde diese Bilder der Hilflosigkeit «imposant»: Mit diesen und vielen ande- Andere Gäste geben als Grund für ihren und Verzweiflung bei den Betroffenen nie ren Ausdrücken der Bewunderung bewer- Stollen-Besuch ihr Interesse an den tech- mehr vergessen. Aber solche Bilder gehö- ten andere Besucher beim Ausgang in der nischen Details des Bauwerkes an. Auch ren jetzt zum Glück definitiv der Vergan- Fulematt den Fussmarsch durch das Bau- sie kommen voll auf ihre Kosten: Während genheit an.» werk. «Jetzt habe ich mich selber davon des Fussmarsches im Stollen gibt es drei überzeugt, dass ich bei Regen wirklich Posten mit zahlreichen Informationen zu Mascha, Nina und Monika Lüthi sind inzwi- wieder ruhig schlafen kann», fasst es dessen Entstehung. Bei jedem dieser Pos- schen beim Stollenausgang angelangt. Georgette Bucher, Betroffene von den ten sind Mitglieder der Feuerwehr Lyss «Das war eine wunderbare Abkühlung», Lyss­bach-Überschwemmungen, stellver- stationiert, die bei unvorhergesehenen sagt Monika Lüthi, als sie wieder in die tretend für viele Lysserinnen und Lysser Zwischenfällen sofort eingreifen könnten. Sonne blinzelt, die erbarmungslos heiss zusammen. ­Patrik Moser, Feuerwehrmann mit Ausbil- vom Himmel scheint. «Das ging ja viel zu dung als Sanitäter, ist einer von ihnen. schnell, ich wäre gerne noch länger im Die ausgelassene Stimmung der Lysser «Die Leute sind alle gut gelaunt, vor allem Finsteren geblieben», sagt die kleine Aben- Bevölkerung, die nun keine über- die Kinder haben ein Riesengaudi bei der teurerin Mascha sichtlich enttäuscht. Aber schwemmten Keller, Garagen und Woh- Begehung des Stollens», beschreibt er es sei lustig gewesen, fügt sie an, und nungen mehr befürchten muss, überträgt seinen Postendienst. Es sei eine Freude wenn es Schnee hätte, dann könnte man in sich auch auf den Festplatz beim Weissen für ihn, die Lysser Bevölkerung im Zusam- diesem Tunnel wunderbar Snowboard fah- Kreuz, wo die Gäste verpflegt und musika- menhang mit dem Lyssbach nun so fröh- ren, lässt sie ihrer Fantasie freien­ Lauf. lisch von der Musikgesellschaft Lyss und der Jugendmusik Lyss unterhalten wer- den. Dort sitzen der ehemalige Gemeinde- präsident Hermann Moser und der aktu- elle Gemeindepräsident Andreas Hegg zusammen auf einem Bänklein und beo­ bachten mit zufriedenem, wenn auch ­etwas nachdenklichem Gesichtsausdruck, wie es sich die Besucherinnen und Besu- cher gut gehen lassen. «Schön, dass wir den Leuten heute eine Freude machen können», sagt der eine von ihnen und der andere nickt bestätigend.

Einweihungsfeier – Samstag 30.06.2012 59 Der Stollen funktioniert: Das Einlaufbauwerk Leen im Oktober 2012

Lyssbachstollen zum ersten Mal in Betrieb

Nach den intensiven Niederschlägen anfangs Oktober 2012 konn- Die erstmalige Betriebsaufnahme des Entlastungsstollens zeig- te der Lyssbachstollen zum ersten Mal seine Funktionalität be- te, dass das System funktioniert und die Feuerwehr auf das auf- weisen. Aufgrund anhaltender intensiver Niederschläge im gan- wändige vorsorgliche Verlegen der Beaverschläuche verzichten zen Einzugsgebiet des Lyssbaches staute sich das Wasser an der konnte. Steuerungsklappe im Leen und lief in der Nacht auf den 9. Ok- tober 2012 kurz nach 04.00 Uhr während zirka einer Stunde zum ersten Mal in den Hochwasserstollen.

60 Der Lyssbachstollen Organisation

Die Trägerschaft Bundesamt für Umwelt, BAFU Tiefbauamt des Kantons Bern, TBA Renaturierungsfonds des Kantons Bern Gemeindeverband Lyssbach Einwohnergemeinde Lyss

Betrieb und unterhalt Gemeindeverband Lyssbach

Bauherrschaft Tiefbauamt des Kantons Bern, Oberingenieurkreis III

Bauherrenunterstützung Marchand+Partner AG, Bern / ingenta ag, Bern TEP GmbH, Team-Engineering-Partner, Pieterlen

Ingenieure, Planer Bächtold & Moor AG, Bern und Geologen Kellerhals + Haefeli AG, Bern Prona AG, Biel Urbanum Planer, Ingenieure und Architekten AG, Lyss Dr. C. Lehmann, Hydrologie - Wasserbau, Urtenen-Schönbühl

Totalunternehmung Implenia Bau AG, Bern Gähler und Partner AG, Ennetbaden Kissling + Zbinden AG, Spiez IUB Ingenieur-Unternehmung AG, Bern Geotest AG, Zollikofen

Unternehmungen Fankhauser Tiefbau AG, Lyss

Stahlwasserbau Romag aquacare AG, Düdingen

Eisenbahn Schweizerische Bundesbahn SBB Securitrans AG,

Modellversuche Aqua Vision engineering Sàrl, bhc Projektplanung, Wimmis ETH Zürich, Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW)

Kommunikation GebelGebel, Büro für Öffentlichkeitsarbeit, Biel c2 Beat Cattaruzza GmbH, Visuelle Kommunikation, Biel

Organisation 61

Kapitel