Das Mahnmal für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in und den Nachbargemeinden

von Meinhard Jaster

A. Das Mahnmal

Am Volkstrauertag des Jahres 2016, am 13. November, wurde an der Nordseite der Nortorfer St.-Martin-Kirche ein Denkmal eingeweiht, das an die Menschen aus dem Kirchspiel Nortorf erinnert, die während des Zweiten Weltkriegs von den Nationalsozialisten ermordet wurden.

Vorausgegangen war eine Reihe von Jahren, in denen eine Gruppe von Bürge- rinnen und Bürger aus Nortorf und Umgebung, zusammengeschlossen im Bür- gerforum Nortorf, sich mit der Geschichte Nortorfs während der nationalsozia- listischen Gewaltherrschaft und hier vor allem mit dem Schicksal der Ermorde- ten befasst haben, nach dem Motto des amerikanischen Philosophen George Santayana: „Wer sich nicht seiner Vergangenheit erinnert, ist verurteilt, sie zu wiederholen.“1

Am 8. Mai 1985 führte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa aus: „Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.“2

Dieser Verantwortung hat sich das Bürgerforum Nortorf mit seiner Arbeit – auch gegen nicht geringe Widerstände in der Stadt – gestellt. Das Ergebnis die- ser Arbeit ist das Denkmal, das zugleich ein Mahnmal ist: Als Denkmal erinnert es an die Ermordeten aus Nortorf und den Nachbargemeinden. Nach einem alten jüdischen Sprichwort ist ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name verges- sen ist – das Denkmal gibt diesen Opfern ihre Namen und damit ihre Würde als Menschen zurück. Als Mahnmal soll es Mahnung an die Gegenwärtigen sein, alles Erdenkliche dafür zu tun, dass sich Ähnliches nie wiederholt.

1 George Santayana: "Those who cannot remember the past are condemned to repeat it." – In: The Life of Rea- son, Band 1, Reason in Common Sense, New York 1920, S. 284. 2 Richard von Weizsäcker: „Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialisti- schen Gewaltherrschaft“, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1985, S. 16.

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Abb. 1 Das Mahnmal an der Nortorfer St.-Martin-Kirche

Das Mahnmal, geschaffen und gestiftet vom Bildhauer Manfred Sihle-Wissel aus , trägt auf der einen Seite des Sockels diese Inschrift:

GEDENKET DERER DIE UNTER UNS LEBTEN UND NUR WEIL SIE ANDERS WAREN ERNIEDRIGT UND ERMORDET WURDEN 1933 - 1945

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Auf der anderen Seite des Sockels sind die Namen der Ermordeten festgehalten:

AUGUST ENGELLANDT BRAMMER JOHANN HAMANN NORTORF DETLEF HARTWIG NORTORF JOHANNA HIPPE NORTORF KARL LAFFERENZ NORTORF MAGDALENA LANGFELDT KLEINVOLLSTEDT MARIE MÖLLER NORTORF WERNER OPITZ NORTORF GUSTAV RATHGEN DÄTGEN CLAUS ROHWEDDER GNUTZ OTTO RÖSCHMANN OLDENHÜTTEN HELENE TANCK NORTORF DOROTHEA WEGGEN NORTORF

Im Einzelnen konnte zu diesen Opfern Folgendes in Erfahrung gebracht werden:

B. Die KZ-Opfer

1. Die Konzentrationslager im NS-Staat

Konzentrationslager innerhalb der Grenzen des Deutschen Reichs, z. B. Sach- senhausen oder Neuengamme, waren keine Vernichtungslager wie die KZs Auschwitz-Birkenau oder Treblinka im besetzten Osteuropa. Während der Zweck der Vernichtungslager letztlich allein die Vernichtung aller Inhaftierten war, wurde in den KZs innerhalb der Reichsgrenzen zunächst vor allem die Ar- beitskraft der Häftlinge ausgenutzt. Darüber hinaus waren diese KZs ein Instru- ment des Terrors, der jede Opposition im Reich ersticken sollte. So herrschte dort die SS mit einer so brutalen, menschenverachtenden Willkür, dass Zehntau- sende starben. Überall im Reich werden sich darum heimliche Oppositionelle aus berechtigter Angst vor der Einlieferung in ein KZ vor jeder Kritik an den Nationalsozialisten gehütet haben.3

3 Ausführliche Darstellungen in: Eugen Kogon: Der SS-Staat – Das System der deutschen Konzentrationslager, München 1946. Adalbert Rückerl (Hrsg.): Nationalsozialistische Vernichtungslager im Spiegel deutscher Strafprozesse. Belzec, Sobibor, Treblinka, Chelmno, München 1977.

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2. Die Nortorfer KZ-Opfer

Vielleicht hat es darum in Nortorf während der NS-Zeit keinerlei wirklichen Widerstand gegen das NS-Regime gegeben, auch nicht von sozialdemokrati- scher oder kommunistischer Seite.4 Trotzdem sind, was älteren Nortorfern be- kannt ist, zwei Nortorfer auf Anweisung des NS-Bürgermeisters Waldemar Hein5 in Konzentrationslager verbracht worden: der Handlungsgehilfe Werner Opitz und der Kohlenhändler Karl Lafferenz.

Werner Opitz 2. Juni 1904 - 5. Januar 1940

Werner Opitz wird am 2. Juni 1904 in Berlin geboren. Er wohnt zuletzt in Nor- torf, Postredder 33. Sein Vater besitzt ein Eisenwarengeschäft dort, wo sich heu- te das Fleischereigeschäft Beth befindet. Aus unbekanntem Grund begeht der Vater 1933 oder 1934 Selbstmord. Sein Sohn Werner arbeitet in Nortorf als Handlungsgehilfe, hat aber wohl keine Lust zu geregelter und anstrengender Ar- beit und gilt in der Stadt als „Tunichtgut“ und „Taugenichts“.6

Nach dem „Grundlegenden Erlass über die vorbeugende Verbrechensbekämp- fung durch die Polizei“ vom 14.12.1937 sollen im NS-Staat neben „Berufs- und Gewohnheitsverbrechern“ alle Deutschen, die durch ihr „asoziales Verhalten die Allgemeinheit“ gefährden, in Konzentrationslager eingesperrt werden.7 Auch wenn Werner Opitz niemals „die Allgemeinheit gefährdet“ hat (er wird keinerlei strafbarer Handlungen bezichtigt), so ist er in den Augen des NS-Bürgermeisters Waldemar Hein als sogenannter „Tunichtgut“8 ein solcher „Asozialer“. Hein sorgt deshalb dafür, dass Werner Opitz am 28. August 1938 dem KZ im Ora- nienburger Stadtteil Sachsenhausen nördlich von Berlin überstellt wird.9 Er er-

4 Weder die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN), Landesvereinigung Schleswig-Holstein, (Schreiben vom 22.2.2012) noch der International Tracing Service (ITS) in Arolsen (Schreiben vom 20.4.2012) noch das Bundesarchiv in Berlin (Schreiben vom 15.2.2012) besitzen irgendwelche Unterlagen über Personen aus dem Kirchspiel Nortorf, die durch Aktivitäten gegen das NS-Regime bekannt geworden sind. 5 Landesarchiv Schleswig-Holstein: Akte LASH Abt. 460.11 Nr. 839, Berufungsentscheidung des Entnazifizie- rungs-Berufungsausschusses für den Bezirk Kiel vom 14.12.1949 in der Entnazifizierungssache Waldemar Hein. 6 Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen: Totenschein des KZs Sachsenhausen für Martin Opitz vom 6.1.1940. Schreiben des Hans Jürgen Schönwandt aus Nortorf an Dieter Schlüter (Bürgerforum Nortorf) vom 9.12.2010. 7 Gerhard Werle: Justizstrafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, Berlin 1989, S. 489 ff. 8 Schreiben des Hans Jürgen Schönwandt: a.a.O. 9 Landesarchiv Schleswig-Holstein: Akte LASH Abt. 460.11 Nr. 839, a.a.O.

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hält die Häftlingsnummer 3777 und wird im Häftlingsblock 48 unter der Häft- lingskategorie „Arbeitsscheuer“ geführt.10

In diesem KZ sind zwischen 1936 und 1945 mehr als 200.000 Menschen aus ca. 40 Nationen inhaftiert. Häftlinge sind zunächst politische Gegner des NS-Regimes, dann in immer größerer Zahl Angehörige der von den Nazis als rassisch oder biologisch minderwertig erklärten Gruppen (Juden, Homosexu- elle, Sinti und Roma, sogenannte Aso- ziale), die dem Regime wegen ihrer Re- ligiosität verhassten Zeugen Jehovas und ab 1939 zunehmend Bürger der besetzten Staaten Europas. Zu Zehntau- senden sterben die Häftlinge an Hun- ger, Krankheiten, Zwangsarbeit und Misshandlungen oder werden Opfer systematischer Vernichtungsaktionen und medizinischer Experimente. Be- Abb.2 KZ Sachsenhausen 1941 sonders viele Tote gibt es im Klinker- Klinkerwerk werk Oranienburg, von den Häftlingen als „Todesfabrik“ bezeichnet. Hier werden Ziegel für Albert Speers Großbauvorhaben in Berlin produziert, d. h. für den Aufbau der „Reichshauptstadt Germania“.11 Es ist gut möglich, dass Wer- ner Opitz an den Folgen dieser Sklavenarbeit zu Tode kommt.

Er stirbt am 5. Januar 1940 36-jährig im Block 34. Als Todesursache wird im „Sterbezweitbuch“ des Standesamts Oranienburg „Herzschlag“ genannt12, si- cher eine Lüge, zumal Herzschlag in diesem Alter als Todesursache eher selten ist. Es war in den KZs die Regel, zur Täuschung der Angehörigen eine Todesur- sache zu nennen, die in keinem Zusammenhang mit der tatsächlichen Todesur- sache stand.13

10 Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen (Archiv): Aufnahmeschein des KZs Sachsenhausen für den ehema- ligen Häftling Werner Opitz vom 28.8.1938. 11 Israel Gutman, Eberhard Jäckel, Peter Longerich, Julius H. Schoeps (alle Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust - die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, München/Zürich 1998, S. 1270 f. 12 Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen (Archiv): Auszug aus dem Sterbezweitbuch des Standesamts Ora- nienburg, Blatt 64. 13 Auskunft der Gedenkstätte Sachsenhausen zum ehemaligen KZ-Häftling Werner Opitz vom 10.2.2012.

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Der Mutter Anna Opitz in Nortorf schickt die KZ-Verwaltung eine Urne zu, die am 23. Januar 1940 auf dem Neuen Friedhof in Nortorf beigesetzt wird. Lage und Nr. des Grabes: Block F, Reihe IV E, Nr. 69 L 2.14

Karl Lafferenz 18. August 1887 - 7. Dezember 1942

Friedrich Karl Lafferenz wird am 18. August 1887 in Kiel als Sohn von Anna Maria Lafferenz, geb. Christian, und Johan Friedrich Wilhelm Lafferenz gebo- ren.15 Als junger Mann ist er ein hervorragender Fußballspieler und gewinnt mit Holstein Kiel 1910 die deutsche Fußball-Vizemeisterschaft. Er nimmt als Soldat am Weltkrieg teil und führt danach im Lohkamp 35 (heute das Gelände von Lidl) eine schon 1910 gegründete Kohlenhandlung. Verkauft werden dort auch Schieferplatten, Dachpappen, Karbolineum u. a. m.16

In geringer Auflage gibt Lafferenz 1928/29 die Wochenzeitung „Nortorfer Be- obachter“ heraus, schreibt fast alle Artikel selbst, verherrlicht darin den Front- soldaten und schimpft auf die Demokraten und die Juden.17 Er ist damit eigent- lich einer von Millionen Deutschen, die mit ihrer reaktionären, deutschnationa- len und antisemitischen Grundhaltung wenig später ohne jede Hemmschwelle ihre politische Heimat bei den Nationalsozialisten finden. So kandidiert er auch zur Kommunalwahl am 12. März 1933 auf der Liste „Einheit für den Aufbau“ (NSDAP und bürgerlicher Block).18

Karl Lafferenz aber scheint trotz einer solchen Grundeinstellung sehr bald nicht mehr ohne Einschränkung mit den Nationalsozialisten einverstanden zu sein. Vielleicht entspricht der nationalsozialistische Staat mit all seinen Auswüchsen nicht seiner Vorstellung von einem „ordentlichen“ autoritären Staat. Vor allem aber hat er sich – als hitzköpfiger Choleriker, der er wohl war – wiederholt mit dem NS-Bürgermeister Waldemar Hein angelegt,19 für den Bürgermeister offen- bar Grund genug, auch diesen Gegner der Weimarer Republik der Gestapo zu übergeben.20 Karl Lafferenz wird am 19. Oktober 1940 ins KZ Neuengamme

14 Information der Friedhofsverwaltung der Ev.-Luth. Kirchengemeinde Nortorf vom 14.2.2018. 15 Schreiben der KZ-Gedenkstätte Neuengamme vom 6.2.2012. 16 Informationen seines Enkels Kurt Lafferenz am 10.2.2018. 17 Archiv des Verfassers. 18 Stadtarchiv : „Schleswig-Holsteinische Landeszeitung (Rendsburger Tageblatt)“ vom 8.3.1933. 19 Informationen seines Enkels Kurt Lafferenz vom 15.2.2018. 20 Landesarchiv Schleswig-Holstein: Akte LASH Abt. 460.11 Nr. 839: a.a.O. Wulf Brocke: Die Geheimnisse von Nortorf, Nortorf und Lübeck 2010, S. 114.

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(im Hamburger Süden) eingeliefert21 und dort unter der Häftlingsnummer 9349 als „politischer“ Häftling geführt. Als Beruf ist „Architekt“ angegeben.22

Die wichtigste Aufgabe des KZs Neuengamme ist die Produktion von jährlich 20 Millionen Ziegeln für die „Führerbauten“ am Hamburger El- bufer. Dafür werden auf dem Gelän- de des KZs durch die Häftlinge eine größere Ziegelei und ein Bahnan- schluss errichtet, ein Stichkanal zur Doven Elbe gegraben, die Dove Elbe flussabwärts verbreitert und ein neu- es Hafenbecken gebaut. Auf Ge- Abb. 3 KZ Neuengamme sundheit und Leben der Häftlinge Arbeiten am Stichkanal nimmt auch hier die SS keinerlei Rücksicht: Von den hunderttausend Häftlingen kommt von 1938 bis 1945 jeder zweite um.23

Am 7. Dezember 1942 stirbt auch Karl Lafferenz im Alter von 55 Jahren im

Abb. 4 Reviertotenbuch des KZs Neuengamme (Ausschnitt) mit dem Eintrag (lfd. Nr. 2437) des Todeszeitpunkts von Karl Lafferenz

Am 7. Dezember 1942 stirbt auch Karl Lafferenz im Alter von 55 Jahren im Hauptlager des KZs, laut „Reviertotenbuch“ angeblich an „Versagen v. Herz u. Kreislauf b. Nierenentzündung“, angeblich um „13:30 Uhr“. Selbst die Uhrzeit

21 Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme: KZ Neuengamme: Liste der Zugänge am 19.10.1940. 22 Schreiben der KZ-Gedenkstätte Neuengamme vom 6.2.2012. 23 Israel Gutman (Hrsg.): a.a.O., S. 996 f.

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ist fingiert, denn nach diesem „Reviertotenbuch“ sterben die Häftlinge immer wieder im Zehn-Minuten-Takt.24

Karl Lafferenz‘ Frau wird eine Urne zugeschickt. Im Innern des Pakets findet Justine Lafferenz allerdings nur noch Urnenscherben und lose Asche.25 Die Bei- setzung findet am 10. Januar 1943 auf dem Neuen Friedhof statt (Erbgrab Nr. 340b L 2).26

C. Die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“

1. Die nationalsozialistische „Euthanasie“

Das Wort „Euthanasie“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „schöner, leichter, richtiger Tod“. Gemeint ist damit ursprünglich nur die Hilfe für einen unheilbar erkrank- ten Menschen, der wegen unerträgli- cher Leiden seinem Leben bewusst selbst ein Ende machen möchte.

Die Nationalsozialisten missbrauch- ten diesen Begriff für ihre systemati- schen Morde an Menschen, die sie für „lebensunwert“ hielten. Als „lebens- unwert“ galten alle behinderten und psychisch kranken Menschen, die nicht zur Stärke der „Volksgemein- schaft“ beitragen konnten, ja, diese sogar schwächten, da sie eine finanzi- elle Belastung darstellten.27

Abb. 5 NS-Plakat Darüber hinaus hatten die National- Propaganda für die sog. Euthanasie sozialisten mit ihrer „Euthanasie“ ei- ne rassische Höherzüchtung des deut-

24 Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme: KZ Neuengamme: Reviertotenbuch des KZs Neuengamme. 25 Informationen Helmut Brünns am 13.2.2018. (Helmut Brünn erfuhr dies von Frau Lafferenz persönlich.) 26 Information der Friedhofsverwaltung der Ev.-Luth. Kirchengemeinde Nortorf vom 14.2.2018. 27 Ernst Klee: „Euthanasie“ im Dritten Reich – Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ (Standardwerk über die NS-„Euthanasie“), Frankfurt am Main 1983, S. 19 ff.

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schen Volkes im Blick. Man übertrug Darwins Evolutionstheorie, die sich nie auf Menschen bezogen hatte, in wissenschaftlich unzulässiger Weise auf die menschliche Gesellschaft: Würden die Schwachen getötet, würden am Ende nur noch die Starken Nachkommen haben – das Volk würde rassisch aufgewertet. So erklärte Adolf Hitler schon auf dem NSDAP-Parteitag vom August 1929: „[...] würde Deutschland jährlich eine Million Kinder bekommen und 700.000 bis 800.000 der Schwächsten beseitigt, dann würde am Ende das Ergebnis viel- leicht sogar eine Kräftesteigerung sein.“28 Bis zu vier Fünftel aller Neugebore- nen in Deutschland zu „beseitigen“, also zu ermorden – das hielt Hitler 1929 für eine denkbare Maßnahme!

Als „Führer und Reichskanzler“ war Hitler vorsichtiger, von seinem eigentli- chen Ziel, das deutsche Volk durch Vernichtung „lebensunwerten“ Lebens zu stärken und damit kriegstauglicher zu machen, ließ er aber keineswegs ab. Schon sehr bald nach seiner Machtergreifung erließ er am 14. Juli 1933 – gewis- sermaßen als erste vorbereitende Maßnahme – das „Gesetz zur Verhütung erb- kranken Nachwuchses“29. Auf dessen Grundlage wurden im Deutschen Reich bis 1945 etwa 400.000 Behinderte, Psychiatriepatienten und Alkoholkranke auf oft brutale Weise zwangssterilisiert, z. B. durch eine Überdosis Röntgenstrah- lung auf die Hoden. Etwa 5000 Menschen starben an den Folgen des Eingriffs.30

Die Aktion T4 – die erste Phase der Erwachsenen-„Euthanasie“

Mit der Entfesselung des 2. Weltkriegs schreckte Hitler auch vor dem Massen- mord nicht mehr zurück. Jedoch: Wie es von Hitler keinen schriftlichen Befehl zur Vernichtung der europäischen Juden gibt, so gibt es auch keinen solchen Be- fehl zur Ermordung kranker oder behinderter Menschen. Ebenso wenig hat es ein entsprechendes Gesetz gegeben. Von Hitler persönlich gibt es nur eine Art Ermächtigungsschreiben vom Oktober 1939 an den designierten Organisator der Mordaktion, den Leiter der Reichskanzlei Philipp Bouhler, „dass nach mensch- lichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krank- heitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann“31. Damit begann gleich bei Kriegsbeginn die sogenannte Aktion T4, benannt nach der Tiergartenstraße 4 in Berlin-Mitte, der Adresse der Bürozentrale für die Organisation der Ermor-

28 Klaus Dörner: Der Krieg gegen die psychisch Kranken, Rehburg-Loccum 1980, S. 83. 29 Ernst Klee: a.a.O., S. 39 f.. 30 Ernst Klee: a.a.O., S. 86; Eckhard Heesch: Nationalsozialistische Zwangssterilisierungen psychiatrischer Patienten in Schleswig-Holstein. (Eine umfassende Darstellung der Zwangssterilisationen in S.-H., als Aufsatz erschienen in: Demokratische Geschichte, Jahrbuch zur Arbeiterbewegung und Demokratie in Schleswig Holstein 9, Kiel 1995, S. 55 ff.) 31 Ernst Klee: a.a.O., S. 114.

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dung behinderter Menschen im gesamten Deutschen Reich. Der Aktion T4 fie- len bis zu ihrem offiziellen Stopp genau 70.273 Menschen zum Opfer.32 Selbst schwer verwundete Frontsoldaten des Ersten Weltkriegs, aber auch des Zweiten Welt- kriegs wurden durch die NS-„Euthanasie“ getö- tet.33 Allein in der Gedenkstätte der Tötungsan- stalt Bernburg sind ca. 100 solcher Fälle festge- stellt worden.34

Als in der deutschen Öffentlichkeit die Tatsache durchsickerte, dass in bestimmten Anstalten massenweise Kranke und Behinderte ermordet wurden, protestierten Eltern der Betroffenen, vor allem aber in aller Öffentlichkeit einzelne Kirchenvertreter. Besonders wirksam war der Protest des in seinem Bistum sehr beliebten Bi- schofs von Münster, Clemens August Graf von Abb. 6 Clemens August Galen.35 Der Bruch der Geheimhaltung und die Graf von Galen Beunruhigung der Bevölkerung wurde von der 1878 - 1946 NS-Führung mit Besorgnis registriert, zumal durch den Überfall auf Russland der Krieg dramatisch ausgeweitet worden war und die Kampfmoral der katholischen Soldaten nicht gefährdet werden sollte.

So gab Hitler am 24. August 1941 die mündliche Weisung, die „Aktion T4“ zu beenden und damit diese Erwachsenen-„Euthanasie“ einzustellen.36 Die routi- nierten Mörder der „Aktion T4“ aber bekamen zumindest teilweise ein neue, noch größere Aufgabe: die Massentötung von Menschen in den Vernichtungsla- gern des Ostens, den Holocaust.37

32 Ernst Klee: a.a.O., S. 265. 33 Ernst Klee: a.a.O., S. 453 ff. 34 Ute Hoffmann / Dietmar Schulze: „wird heute in eine andere Anstalt verlegt“, nationalsozialistische Zwangs- sterilisation und „Euthanasie“ in der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg – eine Dokumentation, Dessau 1997 35 Ernst Klee: a.a.O., S. 225 ff. 36 Ernst Klee: a.a.O., S. 260. 37 Ute Hoffmann / Dietmar Schulze: a.a.O., S. 77.

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Die zweite Phase der Erwachsenen-„Euthanasie“ nach dem offiziellen Stopp der T4-Aktion

Der Massenmord an den Kranken und Behinderten kam mit Hitlers Weisung vom 24. August 1941 keineswegs an ein Ende, er wurde seit 1941 nur dezentral und relativ unauffällig, aber erschreckend effektiv fortgeführt.38 So wurde seit 1943 in Heilanstalten Platz geschaffen für Patienten aus Kliniken, die zerbombt waren, indem man die Psychiatriepatienten in Tötungsanstalten besonders an der Peripherie des Deutschen Reiches verbrachte und sie dort ermordete.

Die Kinder-„Euthanasie“

Schon zwei Wochen vor Beginn des 2. Weltkriegs, am 18. August 1939, wurden Hebammen, Geburtshelfer und Ärzte mit einem Erlass aufgefordert, behinderte Neugeborene zu melden – dies galt rückwirkend auch für Kinder bis zu drei Jah- ren. Dieser – wörtlich (!) – „Runderlass betr. Meldepflicht für mißgestaltete usw. Neugeborene“39 war die Grundlage der Kinder-„Euthanasie“, die ebenfalls gleich nach Kriegsbeginn einsetzte und mindestens 5000 Kindern und Jugendli- chen das Leben kostete.40

Zusammenfassung

Es gab also drei Komplexe der nationalsozialistischen „Euthanasie“:

 die Aktion T4 – die erste Phase der Erwachsenen-„Euthanasie“  die dezentrale zweite Phase der Erwachsenen-„Euthanasie“  die Kinder-„Euthanasie“

Fasst man diese drei Komplexe zusammen, so sind in Heimen und Krankenhäu- sern des Deutschen Reichs durch Gas, Giftspritzen, tödliche Medikamente oder schlicht durch Verhungern etwa 200.000 Menschen getötet worden. Wegen oft- mals fehlender, weil gezielt vernichteter Unterlagen konnten die Wissenschaftler eines Forschungsprojekts des Bundesarchivs in Berlin diese Zahl allerdings nur schätzen.41 Hinzu kommen aber noch zwischen 300.000 und 500.000 Psychiat-

38 Ernst Klee: a.a.O., S. 386 ff. 39 Ernst Klee: a.a.O., S. 674 ff. 40 Uwe Danker, Astrid Schwabe: Schleswig-Holstein und der Nationalsozialismus, Neumünster 2005, S. 113. 41 Horst von Buttlar: Forscher öffnen Inventar des Schreckens, in: SPIEGEL online vom 1.10.2003.

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riepatienten, die in den besetzten Gebieten Osteuropas vor allem durch sog. Gaswagen oder im Rahmen von Massenerschießungen umgebracht werden.42 Alle drei Komplexe spielten bei den Menschen, deren Namen auf dem Nortorfer Mahnmal aufgeführt sind, eine Rolle:

Der Aktion T4, der ersten Phase der Erwachsenen-„Euthanasie“, fielen in der Tötungsanstalt Bernburg (Sachsen-Anhalt) zum Opfer:

August Engellandt Johann Hamann Johanna Hippe Otto Röschmann Helene Tanck Dorothea Weggen

Der zweiten Phase der Erwachsenen-„Euthanasie“ nach dem offiziellen Stopp der Aktion T4 fielen in der Tötungsanstalt Meseritz-Obrawalde (Neumark) zum Opfer: Detlef Hartwig Magdalena Langfeldt Marie Kühl Gustav Rathgen

Der Kinder-„Euthanasie“ fiel in der „Kinderfachabteilung“ Schleswig zum Opfer: Claus Rohwedder

Da die Krankenakten zum Teil sehr unvollständig sind, zum Teil sogar ganz feh- len, gab es leider oft nur zu sehr unvollständige Ergebnisse. Die SS hatte sich vor Kriegsende bemüht, alle Krankenakten der Ermordeten zu vernichten, wobei ihr zum Glück Fehler unterlaufen sind.43 Am vollständigsten ließen sich die Le- bensläufe von August Engellandt und Claus Rohwedder rekonstruieren, auch durch die Hilfe von heute lebenden Verwandten.

42 Uwe Danker, Astrid Schwabe: a.a.O., S. 115. Günter Neugebauer: Dr. Hans Hermann Renfranz – „Euthanasie“-Arzt und die Verdrängung der NS- Vergangenheit, Rendsburger Jahrbuch 2017, S. 105 ff. 43 Harald Jenner: Quellen zur Geschichte der „Euthanasie“-Verbrechen in deutschen und österreichischen Archi- ven. Ein Inventar. Bearbeitet im Auftrag des Bundesarchivs, 2003/2004, S. 3.

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2. Die Opfer der „Aktion T4“ in der Tötungsanstalt Bernburg

Der Ablauf der Mordaktion in Bernburg

Ein Teil der „Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg“, die vorher jahrzehnte- lang der Betreuung psychisch erkrankter Menschen gedient hatte, war seit dem 8. November 1940 von der übrigen Anstalt abgetrennt und zur Tötungsanstalt und damit in eine „Reichsanstalt“ umgestaltet worden. Zu Tarnungszwecken hieß sie jetzt gleichwohl „Heil- und Pflegeanstalt Bernburg“. Der nicht umge- staltete Teil blieb therapeutischen Zwecken vorbehalten und firmierte fortan un- ter dem Namen „Anhaltische Nervenklinik“.44

Wie die Ermordung der Patienten in der „Heil- und Pflegeanstalt Bernburg“ ablief, schildern die Leiterin der Gedenkstätte für die Opfer der NS-Euthanasie Bernburg, Ute Hoffmann, und der Historiker Dietmar Schul- ze45:

„Die Busse, mit denen die Patienten nach Bernburg gebracht wurden, fuhren in eine Holzgarage ein, deren Tore geschlossen wur- den, bevor die Insassen aussteigen durften. Von dort wurden sie durch einen geschlosse- nen Verbindungsgang in das Erdgeschoss des Tötungsgebäudes gebracht. [Eine Schreibkraft erinnerte sich:] > Die Ärzte mussten bei jeder Transportabfertigung zugegen sein. Das Me- dizinische, nämlich die kurze Inaugenschein- nahme des Kranken und die anschließende Tötung, war Sache der Ärzte.< […] Abb. 7 Gaskammer Nach dem Entkleiden wurden die Kranken der Tötungsanstalt einem Arzt vorgestellt, der sie kurz begutach- Bernburg tete, manchmal ein Wort sprechen ließ und sich in dieser Zeit für eine fingierte Todesursache entschied, die dann in der Sterbeurkunde angegeben wurde. […] Die Anwesenheit von Pflegern und

44 Ute Hoffmann / Dietmar Schulze: a.a.O., S. 20 ff. 45 Ute Hoffmann / Dietmar Schulze: a.a.O., S. 65 ff.

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Schwestern täuschte bis zur Gaskammer äußerlich immer noch die Normalität eines psychiatrischen Krankenhauses vor. In Gruppen von 60 bis 75 Menschen führte das Pflegepersonal die Kranken in den Keller und dort unter dem Vor- wand des Duschens in die Gaskammer. In dem kleinen Raum mit einer Grund- fläche von 13,78 m² standen die Menschen dicht gedrängt. Drei bis fünf Minuten lang strömte Kohlenmonoxid-Gas ein, bis eine tödliche Konzentration erreicht war. Das Umlegen des Hebels, das zum Einströmen des Kohlenmonoxid-Gases führte, wurde sowohl von Ärzten als auch von den als >Desinfektoren< be- zeichneten >Leichenbrennern< vorgenommen. Durch das Sichtfenster in die Gaskammer beobachtete das Personal die Wirkung des Gases. Bei den Einge- schlossenen blockierte das Einatmen von Kohlenmonoxid die Sauerstoffaufnah- me des Blutes. Nach dem Einsetzen von Hör- und Sehstörungen, Herzrasen, Schwindelgefühl und Muskelschwäche trat je nach Konstitution die Bewusstlo- sigkeit ein. Einige der Kranken waren ruhig, standen zum Teil auch noch unter dem Einfluss von Medikamenten. Andere wehrten sich, schrien und schlugen in Todesangst gegen die Türen.

Die Gaskammer blieb etwa eine Stunde lang verschlossen. […] Danach began- nen die „Leichenbrenner“, die verkrampften Körper zu trennen und aus der Gaskammer zu tragen.

Einige der Toten [die besonders interessant erschienen] wurden seziert. Die be- treffenden Personen erhielten bereits bei der Registrierung nach ihrer Ankunft eine entsprechende Kennzeichnung [ein rotes Kreuz] auf den Rücken. […] Die anderen Toten wurden von den Brennern zunächst in den anschließenden Lei- chenraum gebracht, bevor im benachbarten Krematorium die Verbrennung in zwei stationären Öfen erfolgte […]

Die Familien erhielten neben der Todesurkunde auch einen >Trostbrief<, in dem der jeweilige Unterzeichner gegenüber den Angehörigen sein Bedauern über den Tod der betreffenden Person aussprach.“46

Um die Morde besser vertuschen zu können, vor allem aber, um von den Kran- kenkassen Geld für die „Betreuung“ von bereits ermordeten Menschen zu kas- sieren (pro Tag und Patient zwischen 1,50 und 2,70 RM) und so die „Aktion T4“ mitzufinanzieren, verlegte die Tötungsanstalt Bernburg durch gezielte Falschbe- urkundung das Todesdatum um durchschnittlich zwei bis drei Wochen.47

46 Ute Hoffmann / Dietmar Schulze: a.a.O., S. 66 ff. 47 Schreiben der Gedenkstätte Bernburg vom 30.1.2012 und vom 27.10.2016.

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Den Angehörigen wurde auf deren Kosten auch eine Urne zugestellt, mit ir- gendwelcher Asche. Dazu die Leiterin der Gedenkstätte Bernburg, Frau Dr. Ute Hoffmann: „Es handelte sich hier um einen Massenmord mit zeitversetzter Falschbeurkundung, da gab es keine Urnen mit den sterblichen Überresten der Menschen, deren Name vielleicht auf der Urne stand.“48 Gleichwohl haben die Nortorfer Angehörigen – im guten Glauben an den vermeintlichen Wahrheitsge- halt der Todesurkunde einer deutschen „Heil- und Pflegeanstalt“ – alle diese Urnen feierlich bestattet.49

Ute Hoffmann und Dietmar Schulze fahren fort: „Diejenigen, die für Organisa- tion und Durchführung der „Euthanasie“ verantwortlich waren, haben sich in der Mehrzahl bemüht, diese Menschen als das erscheinen zu lassen, als was man sie gern sehen wollte: als nutzlose Esser, die sowieso keine Umwelt mehr wahrnehmen konnten und für die der Tod eine Erlösung gewesen sei. Dabei wa- ren viele unter ihnen, die schon auf den ersten Blick einen ganz anderen Ein- druck machten: die Kinder, die alten Menschen und die selbst nach laienhafter Beurteilung durchaus Zurechnungsfähigen, die noch durch die Tür der Gas- kammer schrien: >Ihr Mörder! Ihr werdet es bereuen!<“50

So, wie es hier beschrieben wird, starben auch die auf dem Mahnmal genannten August Engellandt, Johann Hamann, Johanna Hippe, Otto Röschmann, Helene Tanck und Dorothea Weggen.

August Engellandt 10. März 1902 - 11. August 1941

Ernst August Wilhelm Engellandt wird am 10. März 1902 in Brammer bei Nor- torf geboren. Sein Vater Hinrich Engellandt ist von 1896 bis 1935 Leiter der dortigen Volksschule. Auch August Engellandt will Lehrer werden und legt am 23. März 1923 in Rendsburg seine erste Lehrerprüfung ab. Nach seiner zweiten Lehrerprüfung in Havetoftloit, Kreis Schleswig, unterrichtet er ab 1. Mai 1930 an der zweiklassigen Dorfschule Dörpum im Kreis Husum. Drei Monate später wird er endgültig im Volksschuldienst angestellt und zum 1. September 1933 an die Volksschule Neu Ekels versetzt (heute Südbrookmerland, Kreis Aurich).51

48 Schreiben der Gedenkstätte Bernburg vom 21.9.2011 an Klaus Schuldt (Bürgerforum Nortorf). 49 Information der Friedhofsverwaltung der Ev.-Luth. Kirchengemeinde Nortorf vom 14.2.2018. 50 Ute Hoffmann / Dietmar Schulze: a.a.O., S. 69 f. 51 Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF), Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung, Preußische Volksschullehrerkartei. (Diese Kartei wurde von Erich Mory, Bürgerforum Nortorf, ge- funden.)

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Mit dem Ende des Schuljahrs 1933/34 enden am 29. März 1934 seine Dienstzeit und damit seine berufliche Tätigkeit als Lehrer. Ob es sich hier um den Beginn einer psychischen Erkrankung handelt, ist nicht mehr zu ermitteln. Jedenfalls folgt „eine lange Urlaubszeit“, wie August Engellandt selbst in einem seiner Fotoalben vermerkt.52

In diesen Alben sind eine Reihe von Reisen durch die schleswig- holsteinische Heimat (auch mit dem Rad), durch Nordfriesland und Nordschleswig, vor allem aber in

Abb.8 August Engellandt zu Gast bei Familie Schandl in Mittenwald, neben ihm „Hannerl“ Plenk die Alpen (Oberstdorf, Berchtesgaden, Mit- tenwald und Südtirol) festgehalten. Er ver- bringt im Sommer 1934 drei Monate in ei- Abb.9 August Engellandt nem Gasthof in Süsel (damals zum Landes- mit Wanderfreund teil Lübeck des Freistaats Oldenburg gehö- auf dem Wörnersattel rig) und ist im Jahr 1935 mindestens vom 23. Juni bis 20. August Urlaubsgast bei der Familie Schandl in Mittenwald. Er lernt das Mädchen Hanna Plenk aus Berchtesgaden kennen, die ihm als „Hannerl“ Postkarten schreibt. Ende April 1936 beklagt sie sich darüber, dass er sich nicht mehr meldet.53

52 Fotoalben des August Engellandt, von seinem Neffen Kurt Engellandt (Haale, Kreis Rendsburg-Eckernförde) dem Verfasser überlassen. 53 Auch diese und andere Postkarten hat August Engellandts Neffe Kurt Engellandt dem Verfasser überlassen.

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Seine Kommentare zu den Fotos in seinen Alben zeigen, wie sehr er auf ver- schiedenen ausgedehnten Wanderungen und Klettertouren die Natur und beson- ders die Bergwelt genießt.

Seine politische Grundeinstellung ist – so lassen wiederum andere Bildunter- schriften erkennen – stark deutsch-national geprägt, typisch für einen Vertreter des damaligen Bildungsbürgertums. Eine Distanz zum NS-Regime wird ange- sichts der unkommentierten Fotos von Hitlerjungen, BDM-Mädchen und SA- Formationen nicht deutlich. Gleichwohl hat mir sein inzwischen verstorbener Neffe Kurt Engellandt berichtet, in seiner Familie sei erzählt worden, August sei der Einzige unter seinen Geschwistern (er hatte vier Brüder und eine Schwester) gewesen, der nicht in die NSDAP eingetreten sei und sich sogar kritisch gegen- über dem NS-Regime geäußert habe.54

Aus der Zeit nach 1936 liegen von August Engellandt keine Fotoalben mehr vor. In diese Zeit fällt seine Entmündigung. Als Vormund erhält er den Rendsburger Rektor C. Struck. In Nortorf erzählt man sich, dass August Engellandt Briefe an Josef Goebbels und Hermann Göring geschrieben habe. Über den Inhalt dieser Briefe scheint damals nichts bekannt zu sein.55 Nicht auszuschließen ist, dass wegen dieser Briefe die Gestapo auf ihn aufmerksam wird.

Am 22. Dezember 1938 wird er in die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Schles- wig-Stadtfeld eingewiesen. In seiner Familie – so wiederum sein Neffe – habe man sich erzählt, Augusts um 13 Jahre jüngerer Bruder Wilhelm, ein überzeug- ter Nationalsozialist, sei im Auftrag der Familie nach Schleswig gefahren, um August zu bewegen, seine kritische Einstellung gegenüber dem NS-Regime zu ändern. August könne dann, so habe sein Bruder in Aussicht gestellt, die Anstalt wieder verlassen. August sei aber bei seiner Haltung geblieben.

Aufgrund des NS-Gesetzes „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 14. Juli 193356 beantragt der Direktor der Anstalt am 6. April 1939 für August Engellandt die „Unfruchtbarkeitsmachung" wegen Schizophrenie. Das Erb- gesundheitsgericht Flensburg kommt am 15. Mai diesem Antrag nach, und drei Monate später wird August Engellandt im Städtischen Krankenhaus Schleswig zwangssterilisiert. In welcher Weise er sterilisiert wird, geht aus den Krankenak- ten nicht hervor.57

54 Informationen von August Engellandts Neffen Kurt Engellandt am 31.3.2014. 55 Schreiben des Hans Jürgen Schönwandt: a.a.O. 56 Ernst Klee: a.a.O. S. 39 f. 57 Landesarchiv Schleswig-Holstein: Patientenakte Abt. 64.1 Nr. 22024.

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Am 18. Juli 1941 wird August Engellandt zusammen mit 40 anderen Männern und 44 Frauen aus der Anstalt abtransportiert in die „Zwischenanstalt" Königs- lutter. (Hier werden die für die Tötung vorgesehenen Kranken offenbar "zwi- schengeparkt".)58 Drei Wochen später, am 11. August 1941, wird er ins Tö- tungslager Bernburg verlegt und dort am selben Tag in der Gaskammer durch Kohlenmonoxid-Gas ermordet.59 Er wird 39 Jahre alt.

Durch Falschbeurkundung wird das Todesdatum um 13 Tage auf den 24. August verlegt.60 Als Todesursache teilt die „Heil- und Pflegeanstalt Bernburg“ (also die Tötungsanstalt Bernburg) seinem Vormund C. Struck mit, nach „vorübergehen- der“ Unterbringung in einem Raum zusammen mit „Bazillenträgern" sei sein Mündel August Engellandt an „Lungenentzündung“ erkrankt und daran „unerwartet" ge- storben.61 Diese erfundene Todesursache wird in Nortorf offenbar geglaubt, denn man erzählt sich dort, Augusts Kleidung sei „wegen Anste- ckungsgefahr mit der Leiche verbrannt“ worden.62 Den Angehörigen in Nortorf schickt man auf deren Kosten Abb. 10 Todesanzeige in der Landeszeitung eine Urne zu, die irgendwel- che Asche enthält. Diese Urne wird am 6. September 1941 auf dem Neuen Friedhof bestattet. Lage und Nr. des Grabes: Block F, Reihe IV E, Nr. 69 L2.63

58 Landesarchiv Schleswig-Holstein: a.a.O. Irene Dittrich: Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945 (Band 7). Schleswig-Holstein 1 (Nördlicher Landesteil). Herausgegeben vom Studienkreis "Deutscher Wider- stand". Frankfurt/Main 1993, S. 193. 59 Schreiben der Gedenkstätte Bernburg vom 21.9.2011 an Klaus Schuldt (Bürgerforum Nortorf). Ute Hoffmann / Dietmar Schulze: a.a.O., S. 121. 60 Liste Günter Richter im Archiv des Verfassers. Der Nortorfer Günter Richter hat sich bemüht, für ein Gedenk- buch der Ev.-Luth. Kirchengemeinde Nortorf die Namen und Lebensdaten aller Opfer des 2. Weltkriegs, der NS- Herrschaft und der Vertreibung im Kirchspiel Nortorf zu sammeln. Das Ergebnis: Ein Gedenkbuch mit 739 Namen liegt seit Dezember 1993 in der Nortorfer St-Martin-Kirche aus. 61 Landesarchiv Schleswig-Holstein: a.a.O. (Schreiben des C. Struck an die Landesheilanstalt Schleswig vom 30.8.1941). 62 Schreiben des Hans Jürgen Schönwandt: a.a.O. 63 Information der Friedhofsverwaltung der Ev.-Luth. Kirchengemeinde Nortorf vom 14.2.2018.

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In die „Schleswig-Holsteinische Landeszeitung (Rendsburger Tageblatt)“ setzt drei Tage später sein Vater Hinrich Engellandt für seinen ermordeten Sohn eine Todesanzeige (Abb. 10).64

Anmerkung zum Tod August Engellandts

Die behauptete Schwere der Erkrankung des August Engellandt muss bezweifelt werden, auch die Diagnose „Schizophrenie". Auf der einen Seite ist es schon merkwürdig, dass er als ausgebildeter Lehrer mit einiger Berufserfahrung nach dem Ende des Schuljahrs 1933/34 nicht mehr unterrichten musste (oder durfte) und stattdessen eine „lange Urlaubszeit" antrat, von deren Ende er in seinen Fo- toalben nichts berichtet. Ebenso ist es seltsam, dass er seit 1936 auf die Post ei- nes Mädchens, das ihn offenbar mag, nicht mehr geantwortet hat. Auf der ande- ren Seite genoss August Engellandt offensichtlich in vollen Zügen seine Reise- und Wandererlebnisse und fand dabei – wie es die Fotos und an ihn adressierte Postkarten zeigen – immer wieder gute Bekannte, die mit ihm zusammen sehr gern Wanderungen unternahmen. Auch war er in den Urlaubsquartieren, die er teilweise wiederholt aufsuchte, ein gern gesehener Gast.

Seine Liebe zur Natur, sein Interesse an fremden Gegenden und anderen Men- schen, seine Bereitschaft zu großen Anstrengungen (ausgedehnten Radtouren, schwierigen Kletterpartien), seine Kontaktfreudigkeit und sein freundliches We- sen – all dies ist bis ins Jahr 1936 dokumentiert und steht durchaus im Wider- spruch zum Krankheitsbild der Schizophrenie. Auch wenn man bedenkt, dass sich die Symptome der Schizophrenie im Laufe der Jahre verstärken können, so überrascht es doch sehr, dass August Engellandt schon 1938, also nur zwei Jahre später, in die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Schleswig-Stadtfeld eingewiesen und im Jahr darauf zwangssterilisiert wurde.

Resümee: August Engellandt war wahrscheinlich krankheitsbedingt nicht mehr in der Lage, sein Lehramt als Volksschullehrer verlässlich auszuüben, aber er war wohl kaum so krank, dass er der Gesellschaft nicht mehr auf andere Weise hätte dienen können. Mir erscheint es darum – vor allem nach dem Bericht des Neffen Kurt Engellandt – als nicht ausgeschlossen, dass sich die Nationalsozia- listen mithilfe der Diagnose „Schizophrenie" und der darauf basierenden Mord- aktion eines Menschen entledigt haben, der ihnen mit seiner offen kritischen Haltung lästig war.

64 Stadtarchiv Rendsburg: Rendsburger „Landeszeitung“ vom 9.9.1941.

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Johann Hamann 14. Juni 1888 - 9. Juli 1941

Johann H. D. Hamann wird am 14. Juni 1888 geboren. Sein letzter Wohnort ist Nortorf. Nach einem Zwischenaufenthalt in Königslutter wird er am 9. Juli 1941 in die Tötungsanstalt Bernburg verlegt und am selben Tag in der Gaskammer ermordet.65 Er wird 53 Jahre alt.

Durch Falschbeurkundung wird das Todesdatum um 13 Tage auf den 22. Juli verlegt.66 Den Angehörigen wird auf deren Kosten eine Urne zugeschickt, die irgendwelche Asche enthält.

Am 19. September 1941 erfolgt die Beisetzung der Urne auf dem Neuen Fried- hof (Erbgrab Nr. 240 L 1).67

Johanna Hippe 29. August 1877 - 23. Mai 1941

Johanna Lucretia Hippe wird am 29. August 1877 in Rendsburg geboren. Ihre Mutter, Margaretha Hippe, ist Nortorferin. Sie beantragt am 23. Januar 1909 für ihre „etwas geistesgestörte“ Tochter Johanna die Aufnahme in die Provinzial- Irrenanstalt in Schleswig, die spätere Landes-Heil- und Pflegeanstalt Schleswig- Stadtfeld. Der Antrag wird durch den Nortorfer Arzt Brodersen unterstützt. Jo- hanna wird noch am selben Tag in die Anstalt aufgenommen. Am 4. Januar 1915 wird sie in die Privat-Pflegeanstalt Schleswig-Klappschau des Herrn Be- rendsen verlegt. Am 21. Mai 1941 wird sie zurückverlegt in die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Schleswig-Stadtfeld; Wilhelm Berendsen vermerkt, dass „wei- tere Anstaltspflege nötig“ ist. Schon zwei Tage später, am 23. Mai, wird Johan- na zusammen mit 139 anderen Frauen aus der Anstalt abtransportiert ins NS- Tötungslager Bernburg68 und dort noch am selben Tag in der Gaskammer er- mordet.69 Sie wird 63 Jahre alt. Das Todesdatum wird durch Falschbeurkundung um 20 Tage auf den 12. Juni verlegt.70 Den Angehörigen wird auf deren Kosten eine Urne zugeschickt, die

65 Schreiben der Gedenkstätte Bernburg vom 21.9.2011 an Klaus Schuldt (Bürgerforum Nortorf). Ute Hoffmann / Dietmar Schulze: a.a.O., S. 121. 66 Liste Günter Richters, siehe Fußnote 61. 67 Information der Friedhofsverwaltung der Ev.-Luth. Kirchengemeinde Nortorf vom 14.2.2018. 68 Landesarchiv Schleswig-Holstein: Patientenakte Abt. 64.1 Nr. 9811. 69 Schreiben der Gedenkstätte Bernburg vom 21.9.2011 an Klaus Schuldt (Bürgerforum Nortorf). Ute Hoffmann / Dietmar Schulze: a.a.O., S. 121. 70 Liste Günter Richters, siehe Fußnote 61.

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irgendwelche Asche enthält. Am 1. Juli wird die Urne auf dem Neuen Friedhof beigesetzt (Erbgrab Nr. 505 L 5).71

Otto Röschmann 7. Juli 1926 - 12. Juni 1941

Otto Röschmann wird am 7. Juli 1926 in Haale als Sohn des Oldenhüttener Landwirts Heinrich Röschmann und seiner Ehefrau Alwine, geb. Rohwer, gebo- ren. Er erkrankt als Kind an Epilepsie und wird, wie sein Bruder Claus Röschmann aus Bargstedt berichtet, „zwangsweise abgeholt und nach Schleswig gebracht“. (Die Eltern hören nichts mehr von ihrem Kind bis zu dem Tag, an dem sie die Urne erhalten.)72 Von Schleswig aus wird Otto in die Zwischenan- stalt Königslutter und am 12. Juni 1941 in die Tötungsanstalt Bernburg verlegt und dort noch am selben Tag in der Gaskammer ermordet.73 Er wird nur 14 Jah- re alt.

Das Todesdatum wird durch Falschbeurkundung um 14 Tage verlegt auf den 26. Juni.74 Den Angehörigen wird auf deren Kosten eine Urne zugeschickt, die ir- gendwelche Asche enthält. Am 15. Juli erfolgt die Beisetzung der Urne auf dem Neuen Friedhof (Erbgrab Nr. 5 b L 1).75

Helene Tanck 28. Juni 1879 - 23. Mai 1941

Anna Helene Maria Tanck wird am 28. Juni 1879 in Nortorf geboren. Sie fällt durch sonderbares Verhalten auf und ist offenbar geistig verwirrt.76 1924 wird sie in die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Schleswig-Stadtfeld aufgenommen und später in die Privat-Pflegeanstalt Schleswig-Klappschau des Herrn Berendsen verlegt. Am 21. Mai 1941 wird sie zurückverlegt in die Landes-Heil- und Pfle- geanstalt Schleswig-Stadtfeld; Wilhelm Berendsen vermerkt, dass „weitere An- staltspflege nötig“ ist. Schon zwei Tage später, am 23. Mai, wird Helene zu- sammen mit 139 anderen Frauen aus der Anstalt abtransportiert ins NS-

71 Information der Friedhofsverwaltung der Ev.-Luth. Kirchengemeinde Nortorf vom 14.2.2018. 72 Informationen des Bruders Claus Röschmann aus Bargstedt bei Nortorf vom 18.3.2016. 73 Schreiben der Gedenkstätte Bernburg vom 21.9.2011 an Klaus Schuldt (Bürgerforum Nortorf). Ute Hoffmann / Dietmar Schulze: a.a.O., S. 121. 74 Liste Günter Richters, siehe Fußnote 61. 75 Information der Friedhofsverwaltung der Ev.-Luth. Kirchengemeinde Nortorf vom 14.2.2018. 76 Schreiben des Hans Jürgen Schönwandt an Dieter Schlüter vom 9.12.2010.

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Tötungslager Bernburg77 und dort am selben Tag in der Gaskammer ermordet.78 Sie wird 61 Jahre alt.

Das Todesdatum wird durch Falschbeurkundung um 19 Tage auf den 11. Juni verlegt.79 Den Angehörigen wird auf deren Kosten eine Urne zugeschickt, die irgendwelche Asche enthält. Am 8. Juli wird die Urne auf dem Neuen Friedhof beigesetzt (Erbgrab Nr. 115 b L 1).80

Dorothea Weggen 28. November 1876 - 23. Mai 1941

Dorothea Marie Weggen wird am 28. November 1876 in Nortorf geboren. Sie hat offenbar geheiratet – ihr Mädchenname ist Michaelsen –, scheint aber dann erkrankt zu sein, denn am 23. Mai 1931 wird sie in die Landes-Heil- und Pflege- anstalt Schleswig-Stadtfeld aufgenommen. Genau zehn Jahre später, am 23. Mai 1941, wird Dorothea Weggen zusammen mit 139 anderen Frauen aus der An- stalt abtransportiert ins NS-Tötungslager Bernburg81 und dort am selben Tag in der Gaskammer ermordet.82 Sie wird 64 Jahre alt.

Das Todesdatum wird durch Falschbeurkundung um 20 Tage auf den 12. Juni verlegt.83 Den Angehörigen wird auf deren Kosten eine Urne zugeschickt, die irgendwelche Asche enthält. Am 12. Juli wird die Urne auf dem Neuen Friedhof beigesetzt (Erbgrab Nr. 17 L 6).84

Anmerkung zu Johanna Hippe, Helene Tanck und Dorothea Weggen

Johanna Hippe und Helene Tanck wurden – sicherlich auf Anordnung der Lei- tung der „Aktion T4“ – am selben Tag, dem 21. Mai 1941, aus der Privat- Pflegeanstalt Schleswig-Klappschau in die Landes-Heil- und Pflegeanstalt

77 Landesarchiv Schleswig-Holstein: Patientenakte Abt. 64.1 Nr. 9013. Irene Dittrich: a.a.O., S. 193. 78 Schreiben der Gedenkstätte Bernburg vom 21.9.2011 an Klaus Schuldt (Bürgerforum Nortorf). Ute Hoffmann / Dietmar Schulze: a.a.O., S. 121. 79 Liste Günter Richters, siehe Fußnote 61. 80 Information der Friedhofsverwaltung der Ev.-Luth. Kirchengemeinde Nortorf vom 14.2.2018. 81 Landesarchiv Schleswig-Holstein: Patientenakte Abt. 64.1 Nr. 22216. Irene Dittrich: a.a.O., S. 193. 82 Schreiben der Gedenkstätte Bernburg vom 21.9.2011 an Klaus Schuldt (Bürgerforum Nortorf). Ute Hoffmann / Dietmar Schulze: a.a.O., S. 121. 83 Schreiben der Leiterin der Gedenkstätte Bernburg, Frau Dr. Ute Hoffmann, vom 30.1.2012. Ute Hoffmann / Dietmar Schulze: a.a.O., S. 121. 84 Information der Friedhofsverwaltung der Ev.-Luth. Kirchengemeinde Nortorf vom 14.2.2018.

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Schleswig-Stadtfeld verlegt, offenbar zu dem Zweck, zwei Tage später gemein- sam mit Dorothea Weggen und 136 anderen Frauen in die Tötungsanstalt Bern- burg verbracht und dort ermordet zu werden. Auch private, nichtstaatliche Pfle- geanstalten blieben also von der NS-„Euthanasie“ nicht verschont.

Bemerkenswert ist, dass die Falschbeurkundung des Todesdatums bei allen drei Frauen fast gleich ist. In Nortorf dürfte aufgefallen sein, dass drei ihrer Mitbür- gerinnen angeblich fast am selben Tag und zudem in derselben Landes-Heil- und Pflegeanstalt, in Bernburg nämlich, gestorben sind.

3. Die Opfer der zweiten Phase der Erwachsenen-„Euthanasie“ in der Tötungsanstalt Meseritz-Obrawalde

Der Ablauf der Mordaktion in Meseritz-Obrawalde

Die Tötungsanstalt Meseritz- Obrawalde als Teil der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Meseritz-Obrawalde lag östlich der Oder in der preußischen Provinz Mark Brandenburg, Regie- rungsbezirk Frankfurt/Oder, verwal- tungstechnisch unterstellt jedoch dem Provinzialverband Pommern. Seit 1941, seit dem offiziellen Ende der „Aktion T4“, wurden dort Kranke er- Abb. 11 Tötungsanstalt mordet.85 Die Transporte kamen mit Meseritz-Obrawalde Kranken, aber auch mit „asozialen Elementen“ (zu denen auch politische Gegner des Regimes zählten) aus allen Teilen Deutschlands, auch aus Schleswig-Holstein. Sie wurden nachts an der Rampe des Anschlussgleises der Anstalt von Pflegern und Pflegerinnen in Emp- fang genommen und selektiert: Wer nicht arbeitsfähig war, wurde schon inner- halb weniger Tage getötet. Die anderen wurden zunächst als Arbeitskräfte aus- gebeutet und dann ebenfalls ermordet, um Platz zu schaffen für neue Todes- transporte. So wurde Detlef Hartwig wohl darum „erst“ nach zwei Monaten um- gebracht.

85 Die Schilderung der Mordaktion in Meseritz-Obrawalde hat als Quelle folgende ausführliche Darstellung: Thomas Beddies: Die Heil- und Pflegeanstalt Meseritz-Obrawalde im Dritten Reich. In: Kristina Hübener (Hrsg.): Brandenburgische Heil- und Pflegeanstalten in der NS-Zeit (Schriftenreihe zur Medizin-Geschichte des Landes Brandenburg 3), Berlin 2002, S. 231 ff.

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Die Ermordung der Frauen in dem sog. „Sterbestübchen“ beschrieb eine Kran- kenschwester so: „Ich begleitete die Kranke in das Behandlungszimmer, nahm aus einer Tüte drei Esslöffel Veronal, löste es in einem Glas Wasser und gab es der Kranken zu trinken. Wenn sich die Kranke widersetzte, musste man eine dünne Sonde anwenden. Gelegentlich gab es dabei Nasenbluten.“

Für die Männerabteilung berichtete ein Pfleger, dass die Kranken in das „Ster- bestübchen“ gerufen wurden, dort eine Injektion mit einer Überdosis Morphium oder Scopolamin in den Oberschenkel erhielten und dann "schnell starben". Als im Januar 1945 die tödlichen Medikamente knapp wurden, wurden Patienten auch durch Luftinjektionen getötet oder erschossen. Die „Tagesleistung“ betrug bis zu zwanzig Menschen; nur an Sonntagen wurde nicht „gearbeitet“ und nicht gestorben.

Die Toten wurden ohne Sarg in Massengräbern verscharrt und die Angehörigen per Telegramm so kurzfristig benachrichtigt, dass sie nicht an einer Beisetzung teilnehmen konnten.

Das Sterberegister von Meseritz-Obrawalde, das von einem eigens für die Tö- tungsanstalt geschaffenen Sonderstandesamt geführt wurde, schloss Ende Januar 1945 mit der Nummer 18.232. Noch am letzten Tag wurde gemordet. Die Schwester Amanda Ratajczak, die im Laufe von zwei Jahren etwa zweieinhalb- tausend Frauen umgebracht hatte, berichtete einer sowjetischen Kommission: „Das letzte Mal habe ich zwei Frauen am 28. Januar 1945 getötet, und am nächsten Tag bin ich nicht mehr zur Arbeit gegangen, da die Rote Armee in un- sere Stadt kam.“

Die Verlegung der Kranken von Schleswig nach Meseritz-Obrawalde

Detlef Hartwig und Marie Möller aus Nortorf, Magdalena Langfeldt aus Kleinvollstedt und Gustav Rathgen aus Dätgen waren bis zum 13. September 1944 Insassen der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Schleswig-Stadtfeld. Als im Herbst 1944 die Kieler Kliniken durch Bomben weitgehend zerstört waren, wurde in Schleswig-Stadtfeld Platz geschaffen für ein Ausweichkrankenhaus. Zu diesem Zweck wurden am 14. September 697 Kranke, darunter 53 Jugendli- che, aus dieser Anstalt vom Güterbahnhof Schleswig aus in Viehwaggons mit der Reichsbahn abtransportiert in die NS-Tötungsanstalt Meseritz-Obrawalde. Die geleerten Gebäude wurden fortan genutzt von der Universitätshautklinik Kiel, der Universitätsnervenklinik, der Inneren Medizin der Universitätsklinik

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sowie der Provinzialverwaltung.86 Detlef Hartwig, Magdalena Langfeldt, Marie Möller und Gustav Rathgen gehörten zu diesem Transport. Alle wurden am Tag darauf, am 15. September, in der Tötungsanstalt „registriert“. Zwar hat das pol- nische Nationalarchiv in Gorzów Wielkopolski noch nicht bestätigt, dass auch Gustav Rathgen diesem Transport angehört hat, bestätigt aber hat das Landesar- chiv Berlin diese Registriernummern87:

Marie Möller: 3245/1944 Gustav Rathgen: 3256/1944 Magdalena Langfeldt: 3476/1944 Detlef Hartwig: 3661/1944

Schon die Reihenfolge der Registriernummern zeigt, dass auch Gustav Rathgen als Patient der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Schleswig-Stadtfeld am 14. Sep- tember 1944 nach Meseritz-Obrawalde verbracht wurde.

Im Einzelnen konnte zu den genannten Personen aus Nortorf und Umgebung Folgendes ermittelt werden:

Detlef Hartwig 26. Mai 1905 - 14. November 1944

Detlef Christian Hartwig wird am 26. Mai 1905 als Sohn des Christian Hartwig und seiner Ehefrau Auguste in Nortorf geboren. Er wohnt in Nortorf, Postredder 21, wo sein Vater einen Schrotthandel besitzt. Detlef erkrankt an Epilepsie. Trotz seiner epileptischen Anfälle hat er im „Landkrug“ gearbeitet.88 Wohl we- gen seiner Epilepsie wird er am 9. Oktober 1942 in die Landes-Heil- und Pfle- geanstalt Schleswig-Stadtfeld aufgenommen. Am 14. September 1944 wird er zusammen mit 696 anderen Männern, Frauen und Jugendlichen mit der Reichs- bahn abtransportiert in die NS-Tötungsanstalt Meseritz-Obrawalde, wo er tags darauf unter der Nummer 3661/1944 registriert wird. Er wird offenbar im Be- reich der Anstalt als Arbeitskraft eingesetzt, dann aber – nach zwei Monaten – am 14. November 1944 ermordet, wahrscheinlich durch eine Giftspritze (Mor-

86 Ernst Klee: a.a.O. S. 472 f. Uwe Danker, Klaus D. Godau-Schüttke, Annette Grewe, Franz Kiefer, Susanna Misgajski, Dörte Stolle: Der Hesterberg – 125 Jahre Kinder- und Jugendpsychiatrie und Heilpädagogik in Schleswig (Veröffentlichungen des Schleswig-Holsteinischen Landesarchivs, Band 56), Schleswig 1997, S. 45. 87 Schreiben des Landesarchivs Berlin vom 15.11.2011 und vom 10.10.2016. 88 Schreiben des Hans Jürgen Schönwandt: a.a.O.

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phium oder Scopolamin). Er wird 39 Jahre alt. Sein Leichnam wird ohne Sarg in einem Massengrab verscharrt.

Seine Mutter Auguste Hartwig erhält per Telegramm die Todesnachricht. Als Todesursache werden zur Täuschung der Mutter „gehäufte Krampfanfälle“ ge- nannt. Er sei, so das Telegramm mit der üblichen Falschinformation, am 17. November „um 8 Uhr morgens“ auf dem Anstaltsfriedhof beerdigt worden; die Grabstelle trage die Nummer 590b.89

Am 20.11.1944 setzt Christian Hartwig in die „Landeszeitung“ eine Todesan- zeige für seinen Sohn Detlef, der „plötzlich und unerwartet“ gestorben sei.90

Magdalena Langfeldt 12. September 1926 - 3. Oktober1944

Magdalena Anna Langfeldt wird am 12. September 1926 geboren, wahrschein- lich in Kleinvollstedt, ihrem letzten Wohnort. Sie wird, da wohl geistig verwirrt, irgendwann eingewiesen in die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Schleswig- Stadtfeld. Am 14. September 1944 wird sie als Nr. 128 der „Transportliste“91 zusammen mit 696 anderen Männern und Frauen mit der Reichsbahn abtrans- portiert in die NS-Tötungsanstalt Meseritz-Obrawalde und dort tags darauf unter der Nummer 3476/194492 registriert. 18 Tage später, am 3. Oktober, wird sie dort ermordet, wahrscheinlich durch eine Überdosis Veronal, und anschließend ohne Sarg in einem Massengrab verscharrt. Sie wird nur 18 Jahre alt.93

Marie Möller 9. Juli 1907 - 19. September 1944

Marie Möller wird als Marie Margarete Kühl am 9. Juli 1907 als Tochter des Heinrich Christian Kühl aus Schülp bei Nortorf in Kiel geboren. Sie heiratet am 12. November 1927 den landwirtschaftlichen Arbeiter Heinrich Wilhelm Möller, geb. am 17. Februar 1902 in Groß Vollstedt. Aus dieser Ehe gehen vier Kinder

89 Diese Darstellung beruht auf der Krankenakte der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Schleswig-Stadtfeld, die die Begleitung des Krankentransports der Tötungsanstalt Meseritz-Obrawalde übergeben hat. Sie befindet sich jetzt im polnischen Nationalarchiv in Gorzów Wielkopolski (früher Landsberg an der Warthe), das dem Verfasser eine vollständige Kopie der Akte zugesandt hat. 90 Stadtarchiv Rendsburg: Rendsburger „Landeszeitung“ vom 21.11.1944. 91 Das polnische Nationalarchiv in Gorzów Wielkopolski konnte mir am 17.2.2012 nur diese Nummer mitteilen. Die Krankenakte des Landes-Heil- und Pflegeanstalt Schleswig wurde dort nicht aufgefunden. 92 Schreiben des Landesarchivs Berlin vom 15.11.2011. 93 Liste Günter Richters, siehe Fußnote 61.

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hervor. Die Familie wohnt in Nortorf, Timmasper Weg 14. Marie Möller leidet während ihrer Ehe wohl zunehmend an geistiger Verwirrung, sodass sie am 28. März 1935 in die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Schleswig-Stadtfeld eingewie- sen wird. Da der Mann die Kinder nicht allein versorgen kann, wird sie auf seine Initiative hin nach fünf Monaten wieder entlassen. Seit dem 17. Januar 1942 gilt ihr Mann, der Wehrmachtssoldat Heinrich Möller, als vermisst. Bei Marie Möl- ler, jetzt mit den Kindern allein, verstärkt sich wohl ihre Erkrankung, sodass sie am 23. Dezember 1942 erneut in die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Schleswig- Stadtfeld eingewiesen wird. Zu der Zeit lebt Eva, das älteste Kind, schon in Nor- torf, Hofkamperweg 2. Die drei jüngeren Kinder Hinrich, Wilhelm und Jürgen werden im Jugendheim Heiligenstedten bei Itzehoe untergebracht. Am 16. Feb- ruar 1943 wird ihre Schwester, Frau Betty Jackstadt, geb. Kühl, wohnhaft in Nortorf, Große Mühlenstraße 77, zur Pflegerin ihrer Schwester Marie bestellt.

Zusammen mit 696 anderen Männern und Frauen wird Marie am 14. September 1944 mit der Reichsbahn abtransportiert in die NS-Tötungsanstalt Meseritz- Obrawalde und dort tags darauf unter der Nummer 3245/194494 registriert. Schon vier Tage später, am 19. September, wird sie ermordet, wahrscheinlich durch eine Überdosis Veronal, und anschließend ohne Sarg in einem Massen- grab verscharrt. Sie wird 37 Jahre alt.

Maries Mutter wird telegrafisch, ihre Pflegerin und Schwester Betty Jackstadt, wohnhaft jetzt Bahnhofstraße 6, mit einem Schreiben benachrichtigt, dem zwei Sterbeurkunden beigefügt sind. Als Todesursache wird „Erschöpfung“ angege- ben.95

Gustav Rathgen 17. Dezember 1920 - 19. September 1944

Gustav Hans Friedrich Rathgen wird am 17. Dezember 1920 in Dätgen als Sohn des Landwirts Hans Rathgen und seiner Frau Margarete geboren. Er wächst auf dem elterlichen Bauernhof in Dätgen, Looper Weg 3, auf und gilt im Dorf als lernschwach, keineswegs aber als geisteskrank. Er ist auf dem Hof eine gute Hil- fe, soll aber in Dätgen „über Hitler und die Nazis geschimpft“ haben.96 Viel-

94 Schreiben des Landesarchivs Berlin vom 15.11.2011. 95 Die gesamte Darstellung hat als Quelle Marie Möllers Krankenakte der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Schleswig-Stadtfeld, die die Begleitung des Krankentransports der Tötungsanstalt Meseritz-Obrawalde überge- ben hat. Sie befindet sich jetzt im polnischen Nationalarchiv in Gorzów Wielkopolski (früher Landsberg an der Warthe), das dem Verfasser eine vollständige Kopie der Akte zugesandt hat. 96 Diese Darstellung beruht auf den Aussagen von Heike Boller aus Schülp und Marlene Wolff aus Dätgen, bei- de verwandt mit Gustav Rathgen, von Dr. Johannes Schmitz (Bürgerforum Nortorf) im Herbst 2013 notiert.

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leicht wird er allein deshalb in die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Schleswig- Stadtfeld eingewiesen. Er gehört dann zu den 697 Psychiatriepatienten, die am 14. September 1944 mit der Reichsbahn nach Meseritz-Obrawalde verbracht werden. Unter der Nummer 3256/1944 wird er dort jedenfalls registriert und schon am 19. September 1944 ermordet, wahrscheinlich durch eine Giftspritze (Morphium oder Scopolamin). Er wird nur 23 Jahre alt. Sein Leichnam wird oh- ne Sarg in einem Massengrab verscharrt.

Dass Gustav Rathgen von den Nationalsozialisten umgebracht worden ist, ist im Dorf kein Geheimnis, über die näheren Umstände seines Todes weiß man aller- dings nichts.

Anmerkung zu den Opfern von Meseritz-Obrawalde

Die meisten der 697 Patienten, die am 14. September 1944 in die Tötungsanstalt Meseritz-Obrawalde verbracht wurden, hatten sich schon 1941 in der Landes- Heil- und Pflegeanstalt Schleswig-Stadtfeld befunden, als im Rahmen der „Ak- tion T4“ viele Patienten nach Bernburg transportiert und dort ermordet wurden. Alle, die damals nicht umgebracht worden waren, waren also nach den Kriterien der Nationalsozialisten offenbar nicht hinreichend „lebensunwert“, weshalb sie zunächst am Leben bleiben durften. Im Herbst 1944 scheute man dennoch nicht davor zurück, auch diese Menschen zu ermorden.

4. Das Opfer der Kinder-„Euthanasie“ in der „Kinderfachabteilung“ Schleswig

Die Kinder-„Euthanasie“ in den NS-„Kinderfachabteilungen“

Der „Runderlass betr. Meldepflicht für mißgestaltete usw. Neugeborene“ vom 18. August 193997 war die Grundlage der NS-Kinder-„Euthanasie“, die gleich nach Kriegsbeginn einsetzte. Die Gutachter, die über Leben und Tod von Kin- dern entschieden, hatten die Kinder in aller Regel nicht einmal gesehen. Die Kinder wurden vor allem durch eine Überdosis des Epilepsie-Medikaments Luminal, ebenso aber auch durch systematische Unterernährung und Nichtbe- handlung getötet. Die Eltern, die der Einweisung in eine solche „Kinderfachab- teilung“ zustimmten, wussten in der Regel nicht, was ihre Kinder dort erwartete.

97 Siehe Fußnote 40.

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Die Totenscheine bescheinigten auch hier eine fingierte, angeblich natürliche Todesursache.98

Unter Leitung von Dr. Erna Pauselius bestand seit Dezember 1941 auch im Landespflegeheim Schleswig-Hesterberg eine "Kinderfachabteilung", die – wie an vielen Kliniken im Reich – der Selektion und Tötung behinderter Kinder im Rahmen der NS-Kinder-"Euthanasie" diente. Eines dieser Kinder war Claus Rohwedder aus Gnutz.99

Claus Rohwedder 20. Mai 1931 - 29. Februar 1944

Claus Hans Rohwedder wird am 20. Mai 1931 in Nortorf geboren und wächst in Gnutz bei seinen Eltern, dem Landwirt Claus Rohwedder und seiner Ehefrau Marie, geb. Harms, auf. Als Zweijähriger erkrankt Claus an Epilepsie. Die An- fälle treten bisweilen sehr häu- fig auf, bisweilen auch recht selten. In der Schule lernt er ein wenig lesen und schreiben, stört aber durch seine Anfälle und durch auffälliges Verhal- ten, vor allem, wenn er gehän- selt wird. Nach einem halben Jahr muss er die Schule verlas- sen. Er spielt nicht mit anderen Kindern, geht aber gern zum Viehhüten und kann sich ein Abb. 12 Claus Rohwedder (rechts) wenig auf dem Feld beschäfti- mit seinem Bruder Johannes gen. in der 1. Klasse der Volksschule Gnutz Am 30. Oktober 1940 erstellt der Amtsarzt des staatlichen Gesundheitsamtes des Kreises Rendsburg ein Gut- achten über den Gesundheitszustand von Claus. Er hält es für notwendig, den Jungen in eine Anstalt einzuweisen, „teils um noch einen Bildungsversuch zu machen, teils wegen seines abnormen Verhaltens“. Darauf bringt der Vater am

98 Ernst Klee: a.a.O., S. 333 ff. 99 Dem Bericht über Claus Rohwedder liegen diese Quellen zugrunde: Landesarchiv Schleswig-Holstein: Claus Rohwedders Krankenakte LA S-H z Abt 64.1 Nr. 23167. Informationen des Bernd Schümann aus Gnutz, eines Verwandten des Claus Rohwedder, am 27.2.2012.

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2. Januar 1941 den Jungen ins Landespflegeheim Schleswig-Hesterberg. Claus ist zu dem Zeitpunkt 138 cm groß und wiegt 39,4 kg.

Auf Anfrage des Vaters vom 14. Januar wird ihm mitgeteilt, dass es seinem Sohn mit Ausnahme seiner Anfälle gut gehe: „Er hat sich recht schnell einge- lebt. Am 1ten Tag wollte er immer nach Hause und Kühe füttern, jetzt spricht er aber nicht mehr davon.“ Und in einer Aktennotiz vom 15. Februar 1941 heißt es: „Claus ist im Allgemeinen sehr gutmütig, nur wenn er Anfälle bekommt, wird er unruhig u. läuft ruhelos umher. Mit den anderen Kindern verträgt er sich gut. Spricht fast nur plattdeutsch und gibt mitunter recht drollige Antworten. Kann einfache tägl. Gegenstände richtig benennen, doch schweift er meistens gleich ab.“

Im Mai und Juni erhält Claus zur Dämpfung der Epilepsie zwei Monate lang das damals übliche Mittel Prominal (2 Tabletten täglich).

Ab 1. Juli 1941 bleibt Claus bis zu seinem Tod zweieinhalb Jahre später ohne jede Medikation. Anfang Dezember 1941 hat er sieben Kilogramm abgenom- men und wiegt nur noch 32 kg.

Nach Auflösung des Landespflegeheims Schleswig-Hesterberg am 3. Februar 1942100 wird Claus von der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Schleswig-Stadtfeld übernommen.

Ein halbes Jahr später wiegt Claus nur noch 27 kg. In der Akte wird im August 1942 vermerkt: „Geht körperlich sehr zurück. Sitzt meistens in einer Ecke u. lutscht auf den Fingern. [...] Während er früher gerne von seinem Zuhause sprach, ist er jetzt völlig teilnahmslos, wenn man danach fragt.“ Und im April 1943: „Claus geht körperlich und geistig immer mehr zurück. Interessiert wird [wirkt?] er nur, wenn das Essen kommt.“ Anfang Januar 1944 wiegt Claus noch 23,3 kg, und in die Krankenakte wird eingetragen: „Körperlich sehr hinfällig; tägliche Anfälle. Geistig völlig stumpf, liegt meistens und schläft. Appetit gut.“

Am 22. Februar 1944, genau eine Woche vor seinem Tod, erhält Claus‘ Mutter (der Vater ist Soldat) die Nachricht: „Bei Ihrem Sohn Claus sind die Krampfan- fälle in letzter Zeit sehr häufig und schwer aufgetreten. Mit der Möglichkeit sei- nes Ablebens muss leider gerechnet werden.“

100 Ernst Klee: a.a.O., S. 363.

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Am 29. Februar wird in der Akte vermerkt: „Claus Rohwedder aus Gnutz [...] ist am 29.2.44 gestorben. Leichengröße 161 cm. Soll vielleicht überführt wer- den.“ Claus wird nur 12 Jahre alt. Auf Wunsch der Mutter wird Claus, der am 3. März in Schleswig beerdigt werden sollte, nach Gnutz überführt. Die Mutter findet die Leiche ihres Kindes, nicht in einem Sarg, sondern in Papier gewickelt, völlig abgema- gert, mit sehr langen Haaren und ohne Fin- gernägel.

In die Rendsburger „Landeszeitung“ setzt zwei Tage später seine Mutter Marie Roh- wedder für ihren Sohn eine Todesanzeige (Abb. 13).101 Abb. 13 Todesanzeige in der Landeszeitung

Anmerkung zum Tod von Claus Rohwedder

In der „Kinderfachabteilung“ Schleswig sind Tötungen mit Gas oder Gift nicht nachzuweisen. Aber hier starben seit Dezember 1940 deutlich mehr Kinder als vorher. Allein in einer einzigen Station der Schleswiger Kinderfachabteilung, in der Station der Oberin Hohensee, starben bis Mai 1945 von 216 Kindern nach- weislich 171 Kinder.102

Claus Rohwedder, zu Beginn des Aufenthalts in Schleswig 138 cm groß und 39 kg schwer, war bis zu seinem Tod um 23 cm gewachsen, hatte aber in derselben Zeit 16 kg abgenommen. Auch die übrigen Einzelheiten seiner Krankenakte und die Umstände seines Todes lassen nur einen Schluss zu: Zu seinem Tod führten seit dem 1. Juli 1941, seit der endgültigen Absetzung des Epilepsie- Medikaments also, absichtlich unterlassene Therapie, unzureichende Ernährung und gezielte Verwahrlosung. Auch dies war eine Form der nationalsozialisti- schen Kinder-„Euthanasie“.

101 Stadtarchiv Rendsburg: Rendsburger „Landeszeitung“ vom 2.3.1944. 102 Uwe Danker, Kl. D. Godau-Schüttke, A. Grewe, F. Kiefer, S. Misgajski, D. Stolle: a.a.O., S. 53.

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D. Ein Schlusswort

Die Stele, die die Nortorfer Kirchengemeinde auf Initiative des Bürgerforums Nortorf als Denkmal und als Mahnmal aufgestellt hat, die „Stürzende Säule“, wie sie der Künstler Sihle-Wissel nennt, stellt in abstrakter Form einen Men- schen dar, der niedergestreckt werden soll, der aber noch im Fallen seine Würde bewahrt. Damit veranschaulicht diese Stele die christliche Überzeugung, dass der Mensch, und zwar auch jeder noch so kranke Mensch, ein Ebenbild Gottes ist und bleibt, über das andere Menschen nie nach Belieben verfügen dürfen. Nicht-theologisch ausgedrückt: Die Stele veranschaulicht treffend die Überzeu- gung eines jeden wahrhaften Demokraten, dass die Würde des Menschen, wie es im ersten Artikel unseres Grundgesetzes heißt, unantastbar ist.

Der vorliegende Aufsatz basiert auf einer Broschüre, die das Bürgerforum Nor- torf aus Anlass der Einweihung des Mahnmals veröffentlicht hat. Weder das Mahnmal noch die Broschüre noch dieser Aufsatz aber wären entstanden ohne die immense Vorarbeit des leider schon 2001 verstorbenen Nortorfers Günter Richter. In jahrelanger akribischer Recherche machte er insgesamt 740 Men- schen aus dem Kirchspiel Nortorf namhaft, die auf dem Schlachtfeld, im Bom- benhagel, auf der Flucht, in den KZs und in den Tötungsanstalten nur deshalb gestorben waren, weil die Nationalsozialisten in Deutschland ein Terrorregime errichtet und Europa mit einem Vernichtungskrieg überzogen hatten.

Der Aufsatz war in dieser Form nur möglich durch die Unterstützung und die Anregungen der Mitglieder des Bürgerforums Nortorf. Nennen möchte ich hier vor allem Erich Mory, Dieter Schlüter, Dr. Johannes Schmitz und meine Frau Sabine Jaster.

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Fotonachweis

Abb. 1: Das Mahnmal an der Nortorfer St.-Martin-Kirche Archiv des Verfassers (Foto von Sabine Jaster)

Abb. 2: KZ Sachsenhausen 1941– Klinkerwerk © Deutsches Historisches Museum

Abb. 3: KZ Neuengamme – Arbeiten am Stichkanal NIOD Instituut voor Oorlogs- Holocaust- en Genocidestudies

Abb. 4: Reviertotenbuch des KZs Neuengamme KZ-Gedenkstätte Neuengamme

Abb. 5: NS-Plakat – Propaganda für die sog. Euthanasie © Deutsches Historisches Museum

Abb. 6: Clemens August Graf von Galen © Deutsches Historisches Museum

Abb. 7: Gaskammer der Tötungsanstalt Bernburg Gedenkstätte Bernburg

Abb. 8: August Engellandt zu Gast bei der Familie Plenk in Mittenwald Archiv des Verfassers

Abb. 9: August Engellandt mit Wanderfreund auf dem Wörnersattel Archiv des Verfassers

Abb. 10: Todesanzeige der Rendsburger “Landeszeitung“ Stadtarchiv Rendsburg

Abb. 11: Tötungsanstalt Meseritz-Obrawalde Herbert Henck, Schulstraße 10, D-27446 Deinstedt

Abb. 12: Claus Rohwedder mit seinem Bruder Johannes Gerhard Rohwedder, Dorfkrug, 24634

Abb. 13: Siehe Abbildung 10.

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Benutzte Literatur und andere Quellen – eine Übersicht

Beddies, Thomas: Die Heil- und Pflegeanstalt Meseritz-Obrawalde im Dritten Reich. In: Kristina Hübener (Hrsg.): Brandenburgische Heil- und Pflegeanstal- ten in der NS-Zeit (Schriftenreihe zur Medizin-Geschichte des Landes Branden- burg 3), Berlin 2002

Brocke, Wulf: Die Geheimnisse von Nortorf, Nortorf und Lübeck 2010

Brünn, Helmut: Informationen zu Karl Lafferenz

Buttlar, Horst von: Forscher öffnen Inventar des Schreckens, in: SPIEGEL onli- ne vom 1.10.2003

Danker, Uwe / Schwabe, Astrid: Schleswig-Holstein und der Nationalsozialis- mus, Neumünster 2005

Danker, Uwe; Godau-Schüttke, Klaus D.; Grewe, Annette; Kiefer, Franz; Misgajski, Susanna; Stolle, Dörte: Der Hesterberg – 125 Jahre Kinder- und Ju- gendpsychiatrie und Heilpädagogik in Schleswig (Veröffentlichungen des Schleswig-Holsteinischen Landesarchivs, Band 56), Schleswig 1997

Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF), Biblio- thek für Bildungsgeschichtliche Forschung, Preußische Volksschullehrerkartei: Informationen zu August Engellandt als Volksschullehrer

Dittrich, Irene: Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945 (Band 7). Schleswig-Holstein 1 (Nördlicher Landesteil). Herausgegeben vom Studienkreis "Deutscher Widerstand". Frank- furt/Main 1993

Dörner, Klaus: Der Krieg gegen die psychisch Kranken, Rehburg-Loccum 1980

Engellandt, Kurt: Informationen zu seinem Onkel August Engellandt

Fotoalben und Postkarten des August Engellandt (dem Verfasser überlassen durch seinen Neffen Kurt Engellandt)

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Friedhofsverwaltung der Ev.-Luth. Kirchengemeinde Nortorf: Informationen über die Lage der Gräber der meisten Nortorfer NS-Opfer

Gedenkstätte Bernburg: Schreiben zu den in der Tötungsanstalt Bernburg er- mordeten Menschen aus dem Kirchspiel Nortorf

Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen: Schreiben und KZ-Dokumente zu Werner Opitz

Gutman, Israel (Hrsg.), (Hrsg. der deutschen Ausgabe:) Eberhard Jäckel, Peter Longerich, Julius H. Schoeps : Enzyklopädie des Holocaust - die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, München/Zürich 1998, S. 1270 f.

Heesch, Eckhard: Nationalsozialistische Zwangssterilisierungen psychiatrischer Patienten in Schleswig-Holstein. (Eine umfassende Darstellung der Zwangssteri- lisationen in S.-H., als Aufsatz in: Demokratische Geschichte, Jahrbuch zur Ar- beiterbewegung und Demokratie in S.-H. 9, Kiel 1995

Hoffmann, Ute / Schulze, Dietmar: „wird heute in eine andere Anstalt verlegt“, nationalsozialistische Zwangssterilisation und „Euthanasie“ in der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg – eine Dokumentation, Dessau 1997

Jenner, Harald: Quellen zur Geschichte der „Euthanasie“-Verbrechen in deut- schen und österreichischen Archiven. Ein Inventar. Bearbeitet im Auftrag des Bundesarchivs, 2003/2004

Klee, Ernst: „Euthanasie“ im Dritten Reich – Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ (Standardwerk über die NS-„Euthanasie“), Frankfurt am Main 1983

Kogon, Eugen: Der SS-Staat – Das System der deutschen Konzentrationslager, München 1946

KZ-Gedenkstätte Neuengamme: Schreiben und Dokumente zum KZ-Häftling Karl Lafferenz

Lafferenz, Kurt: Informationen zu seinem Großvater Karl Lafferenz

Landesarchiv Berlin: Schreiben mit Informationen zu den vier Nortorfer Opfern der NS-Tötungsanstalt Meseritz-Obrawalde

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Landesarchiv Schleswig-Holstein: Krankenakten von vier Nortorfer NS-Opfern sowie Akte zur Berufungsentscheidung in der Entnazifizierungssache Waldemar Hein.

Neugebauer, Günter: Dr. Hans Hermann Renfranz – „Euthanasie“-Arzt und die Verdrängung der NS-Vergangenheit, Rendsburger Jahrbuch 2017

Polnisches Nationalarchiv in Gorzów Wielkopolski (früher Landsberg): Kran- kenakten von drei in Meseritz-Obrawalde ermordeten Nortorfer Psychiatriepati- enten

Richter, Günter: Liste der Opfer des 2. Weltkriegs, der NS-Herrschaft und der Vertreibung, zusammengestellt für ein Gedenkbuch, das seit Dezember 1993 in der Nortorfer St.-Martin-Kirche ausliegt, von seiner Witwe Ingrid Richter dem Verfasser überlassen

Röschmann, Claus, aus Bargstedt bei Nortorf: Informationen zu seinem Bruder Otto Röschmann

Rückerl, Adalbert (Hrsg.): Nationalsozialistische Vernichtungslager im Spiegel deutscher Strafprozesse. Belzec, Sobibor, Treblinka, Chelmno, München 1977

Santayana, George: The Life of Reason, Band 1, Reason in Common Sense, New York 1920

Schönwandt, Hans Jürgen: Schreiben an Dieter Schlüter (Bürgerforum Nortorf) vom 9.12.2010

Schümann, Bernd: Informationen zu seinem Verwandten Claus Rohwedder

Stadtarchiv Rendsburg: Ausgaben der „Schleswig-Holsteinischen Landeszeitung (Rendsburger Tageblatt)“ der Jahrgänge 1933 bis 1945

Weizsäcker, Richard von: Rede zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, hrsg. von der Bun- deszentrale für politische Bildung, Bonn 1985

Werle, Gerhard: Justizstrafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, Berlin 1989