Plenarprotokoll 13/81

Deutscher

Stenographischer Bericht

81. Sitzung

Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996

Inhalt:

Nachruf auf das Mitglied des Deutschen Zusatztagesordnungspunkt: Bundestages Rainer Haungs 7131 A Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes Erweiterung der Tagesordnung 7147 A (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz zur Übernahme befristeter Kündi- Tagesordnungspunkt 12: gungsmöglichkeiten als Dauerrecht (Drucksachen 13/1693, 13/2942, 13/3362, - Zweite und dritte Beratung des von den 13/3527) 7147A Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Tagesordnungspunkt 13: zur Stabilisierung der Krankenhaus- Beschlußempfehlung und Bericht des ausgaben 1996 (Drucksachen 13/3061, Ausschusses für Arbeit und Sozialord- 13/3498) nung zu der Unterrichtung durch die - Zweite und dritte Beratung des von den Bundesregierung: Bericht der Bundes- Abgeordneten Rudolf Dreßler, Klaus regierung über Kinderarbeit in der Kirschner, weiteren Abgeordneten und Welt (Drucksachen 13/1079, 13/1233 der Fraktion der SPD eingebrachten Nr. 1.6, 13/1857) 7147 B Entwurfs eines Gesundheitsstruktur Wolfgang Meckelburg CDU/CSU 7147 C onsolidierungsgesetzes (Drucksachen Petra Ernstberger SPD 7148 C 13/3039, 13/3498) 7131 C CDU/CSU 7149 B Eva-Maria Kors CDU/CSU 7131 D Wolfgang Meckelburg CDU/CSU 7150 A Dr. Martin Pfaff SPD 7133C, 7146 A Dr. Angelika Köster-Loßack BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 7150 D Monika Knoche BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN 7135D Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. 7151 D Rosel Neuhäuser PDS 7152 D Dr. Paul K. Friedhoff F D P. 7137 A Marlies Pretzlaff CDU/CSU 7153 C -K- Dr. PDS 7138 A Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 7154 B CDU/CSU 7138 D Wolfgang Schmitt (Langenfeld) BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN 7155 C Dr. Martin Pfaff SPD 7139C, 7143B, C Waltraud Lehn SPD 7140A Tagesordnungspunkt 14: , Bundesminister BMG . 7142 B, a) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- 7146 B gebrachten Entwurfs eines Strafverfah- rensänderungsgesetzes 1994 (Druck- Dr. R. Werner Schuster SPD 7144 C sache 13/194) 7156 C II Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996 b) Erste Beratung des von der Bundesre- Heinz Lanfermann F.D.P 7161 A gierung eingebrachten Entwurfs eines Dr. Uwe-Jens Heuer PDS 7162 A ... Strafverfahrensänderungsgesetzes - DNA-Analyse („genetischer Finger- CDU/CSU 7163 B abdruck") (Drucksache 13/667) 7156 C Dr. Uwe-Jens Heuer PDS 7163 C c) Erste Beratung des von den Abgeordne- Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Bundesmini ten Dr. Jürgen Meyer (Ulm), Dr. Herta ster BMJ 7165 A Däubler-Gmelin, weiteren Abgeord- neten und der Fraktion der SPD ein- Nächste Sitzung 7166 D gebrachten Entwurfs eines ... Straf- verfahrensänderungsgesetzes - Geneti- scher Fingerabdruck (Drucksache 13/ Anlage 1 3116) 7156 C Liste der entschuldigten Abgeordneten 7 167* A Dr. Dietrich Mahlo CDU/CSU 7156 D Dr. Jürgen Meyer (Ulm) SPD 7158 A (Köln) BÜNDNIS 90/DIE Anlage 2 GRÜNEN 7159 D Amtliche Mitteilungen 7167* C

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81. Sitzung

Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996

Beginn: 10.15 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Liebe Kolleginnen Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe jetzt den und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich möchte Tagesordnungspunkt 12 auf: Sie bitten, stehenzubleiben, um unseres Kollegen - Zweite und dritte Beratung des von den Frak- Rainer Haungs zu gedenken. tionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrach- Gestern abend verstarb unerwartet und auf tragi- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Stabilisie- sche Weise unser Kollege Rainer Haungs mitten in rung der Krankenhausausgaben 1996 der parlamentarischen politischen Arbeit in Bonn., Er - Drucksache 13/3061 - verließ uns von einer Stunde auf die andere. (Erste Beratung 71. Sitzung) Rainer Haungs wurde am 7. September 1942 in Lahr im Schwarzwald geboren. Er besuchte das - Zweite und dritte Beratung des von den Ab- Gymnasium in seiner Heimatstadt, der er sich sehr geordneten Rudolf Dreßler, Klaus Kirschner, verbunden fühlte. Nach seinem Abitur absolvierte er Petra Ernstberger, weiteren Abgeordneten eine Lehre, nahm danach ein Studium der Wi rt und der Fraktion der SPD eingebrachten Ent- -schaftswissenschaft in Freiburg auf, das er als wurfs eines Gesundheitsstruktur-Konsolidie- Diplom-Volkswirt abschloß. Er war verwurzelt in rungsgesetzes Lahr, unternehmerisch, politisch, und - was das - Drucksache 13/3039 - wichtigste ist - dort lebt seine Familie. (Erste Beratung 71. Sitzung) Sowohl als mittelständischer Unternehmer als auch Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- in der politischen Arbeit in anderen Ausschüssen schusses für Gesundheit (14. Ausschuß) brachte sich Rainer Haungs mit seinem Sachverstand nüchtern und sachlich ein. - Drucksache 13/3498 - Berichterstattung: Bereits im Jahre 1975 schloß er sich der Christlich Abgeordnete Eva-Maria Kors Demokratischen Union an, für die er im gleichen Jahr in den Gemeinderat seiner Heimatstadt ein- Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die rückte. 1983 gelang ihm als Direktkandidat des Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu sehe ich Wahlkreises Emmendingen-Lahr der Einzug in den keinen Widerspruch. Wir verfahren so. Deutschen Bundestag. Als Mitglied der Bundestags- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- ausschüsse für Verkehr und Petitionen, später dann gin Eva-Maria Kors. des Wirtschaftsausschusses gelang es ihm, seine Vor- stellungen in die parlamentarische Arbeit einzubrin- gen. Eva-Maria Kors (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute Rainer Haungs war ein Politiker, der mit Mut und zwei Gesetzentwürfe zur Stabilisierung der Kranken- Offenheit nach vorne blickte und die Fähigkeit hatte, hausausgaben. Die Notwendigkeit solcher Gesetze andere für seine Sichtweisen zu gewinnen. Zum Bild wird von keiner Seite bestritten. Das Defizit der - seiner Persönlichkeit gehörte auch, daß er Kunst und Krankenkassen und die Ausgabenentwicklung im Musik liebte. Als Förderer junger Künstler richtete Krankenhaussektor sind hinlänglich bekannt. Wenn sich sein Interesse vor allem auf die moderne Kunst. wir die Ausgabendynamik im Krankenhausbereich Wir gedenken seiner in Dankbarkeit und Anerken- jetzt nicht wirksam begrenzen, stellt sich die Frage nung. Seiner Familie, seiner Frau, seinen beiden nach der Funktionsfähigkeit der gesamten gesetzli- Töchtern, seiner Mutter, gilt unsere tiefempfundene chen Krankenversicherung. Um dies nicht zu riskie- Anteilnahme. ren, ziehen wir die Notbremse und budgetieren die Krankenhausausgaben für ein weiteres Jahr, indem Sie haben sich zu Ehren unseres verstorbenen Kol- wir sie an die Tarifentwicklung im öffentlichen legen Rainer Haungs erhoben. Ich danke Ihnen. Dienst anbinden. 7132 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996

Eva-Maria Kors Leider scheint es, liebe Kolleginnen und Kollegen befürchten, durch unser Gesetz den Arbeitsplatz zu von der SPD, daß Sie unseren Weg nicht gehen wol- verlieren. len. Ihr eigener Entwurf sieht zwar ebenfalls eine Budgetierung der Krankenhausausgaben vor, zusätz- Sehr geehrte Damen und Herren, ich möchte an lich möchten Sie aber die Deckelung für alle Berei- dieser Stelle auch einmal auf die zum Teil doch etwas che festlegen und außerdem eine dauerhafte globale maßlose Kritik der Krankenhäuser oder aus dem Budgetierung der Krankenhausausgaben einführen. Krankenhausbereich an unserem Gesetzentwurf ein- Sie setzen damit für die Zukunft auf staatliche Regle- gehen. Die Krankenhäuser konnten mit der Decke mentierung, obwohl sich in der Vergangenheit lung von 1993 bis 1995 ganz gut leben. Um zirka gezeigt hat, daß die Kostenentwicklung im Gesund- 18 Prozent steigerten sich die Mittel für die stationäre heitswesen durch obrigkeitliche Verordnungen nicht Versorgung in den neuen und um zirka 40 Prozent in in den Griff zu bekommen ist. den alten Bundesländern. Die Steigerungsrate lag damit deutlich höher als der Einnahmenzuwachs der Deshalb setzen wir auf den Vorrang der Selbstver- GKV. Dieser erheblichen Steigerungsrate stehen sin- waltung, der nach unserer Vorstellung auch im kende Belegungstage gegenüber. Diese sind um Krankenhausbereich ab 1997 Wirklichkeit werden zirka 8 bis 10 Prozent zurückgegangen. Fairerweise soll; denn den tatsächlichen Finanzbedarf und die muß man dazu sagen, daß dieser Rückgang politisch Möglichkeiten zur Ausnutzung von Wirtschaftlich- gewollt war. keitsreserven kann doch ein Politiker nicht besser beurteilen als die Partner der Selbstverwaltung. Jetzt ist es unser erklärtes Ziel, die Wirtschaftlich- keitsreserven im Krankenhausbereich voll auszu- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) schöpfen. Denn daß es immer noch zahlreiche unge- nutzte wirtschaftliche Reserven gibt, ist unbestritten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, durch Die Krankenhäuser sind auch gar nicht so einfallslos, unser Gesetz wird die drohende Kostenlawine 1996 wie man das angesichts manchen Lamentos meinen aufgehalten. Es sieht daher auch keine Ausnahme- könnte. Zahlreiche innovative Klinikleitungen haben tatbestände vor, durch die die Budgetierung unter- sich bereits auf die neue Situation eingestellt und laufen werden könnte. Dies bedeutet aber nicht, daß zum Beispiel ihre Labors mit denen anderer Kran- es durch das Krankenhausstabilisierungsgesetz zu kenhäuser zusammengelegt oder durch den zentra- einem Systembruch mit der Krankenhausplanung len Einkauf von Medikamenten Kosten gespart. Ich oder Pflege-Personalregelung kommen soll. weiß aus eigener Erfahrung, daß dies möglich ist. In Deshalb werden zusätzliche medizinische Kapazi- meinem Wahlkreis spart ein kleines Krankenhaus täten, die bereits in der Krankenhausplanung der 100 000 DM jährlich ein, weil es sich mit preisgünsti- Länder für 1995 vorgesehen waren, im Budget 1996 ger einkaufenden Partnern zusammengetan hat. berücksichtigt. Krankenhäuser oder Krankenhausab- Es gibt weitere Beispiele für Einsparpotentiale teilungen, die erst 1996 in Bet rieb gehen, müssen etwa durch Maßnahmen auf dem Gebiet des also nicht um ihre Existenz fürchten. Aus der Bezug- Umweltschutzes. Ich wundere mich etwas, daß ich nahme auf die Krankenhausplanung in dem Gesetz- hierzu bisher nichts von der Fraktion der Grünen entwurf folgt, daß der Sondertatbestand auch dann gehört habe, sondern das erst im „Ärzteblatt" gele- erfüllt sein kann, wenn der Krankenhausplan selbst sen habe. Bei einem Pilotprojekt am Städtischen nicht geändert wurde. Auf diese Weise tragen wir Krankenhaus in München-Neuperlach, bei der das den unterschiedlichen Festlegungen in den Kranken- komplette Krankenhaus einer Umweltbetriebsprü- hausplänen der verschiedenen Bundesländer Rech- fung unterzogen wurde, kam man zu folgenden nung. Ergebnissen: Bis zu 25 Prozent der Energiekosten im Darüber hinaus ist mit der Krankenhausplanung Krankenhaus können durch eine konsequente selbstverständlich nicht nur der Krankenhausplan im Modernisierung der Heizungssysteme eingespart Wortsinn gemeint, sonst hätten wir diesen Begriff ja werden. Das gleiche gilt für Lüftungsanlagen. In auch gewählt. Die Krankenhausplanung kann auch einem 1 200-Betten-Haus sind auf diese Weise ohne durch die Investitionsförderung der Länder berührt irgendwelche Kosten für Neuinvestitionen 160 000 werden, da diese in einem engen Zusammenhang DM eingespart worden. Zudem kann ein beträchtli- mit dem Krankenhausplan steht. cher Teil der Einwegartikel im Krankenhaus ersetzt oder ersatzlos gestrichen werden. Vieles andere ist Ein weiterer Sondertatbestand besteht darin, daß noch möglich. die Folgekosten von Veränderungen des Leistungs- angebots nach Maßgabe der Krankenhausplanung, Meine Damen und Herren, ich finde nicht, daß wir die 1996 erstmals ganzjährig anfallen, zu einer ent- zu viel verlangen, wenn wir die Krankenhäuser auf- sprechenden Erhöhung des Budgets 1996 führen. fordern, diese und andere Potentiale zu nutzen. - Entsprechendes gilt natürlich auch und erst recht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) für das im Laufe des Jahres 1995 auf Grund der Pflege Ein modernes Krankenhausmanagement braucht Personalregelung eingestellte Personal. Auch diese unsere Gesetzesinitiative nicht zu fürchten. Stellen müssen 1996 ganzjährig finanziert werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Diese Klarstellung, meine Damen und Herren, ordneten der F.D.P.) halte ich für wichtig, auch um Mißverständnissen vorzubeugen. Keine Krankenschwester und kein Ein Niedergang der deutschen Krankenhausland- Krankenpfleger, der 1995 eingestellt wurde, muß schaft steht uns nicht bevor. Dies gilt um so mehr, als Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996 7133

Eva-Maria Kors ja gar keine Kürzungen vorgesehen sind. Die BAT- Deshalb haben wir vor, ab 1997 durch die Einbe- Anbindung bedeutet auch für 1996 einen Zuwachs, ziehung des Krankenhausbereichs der Selbstverwal- und zwar auf dem hohen Niveau, das die Kranken- tung die Gesamtverantwortung für die Ausgaben hausausgaben heute erreicht haben. Hinzu kommt, der GKV einzuräumen. Dabei knüpfen wir an die mit daß die Pflegeversicherung den Krankenhäusern dem Gesundheitsstrukturgesetz eingeleitete Reform ermöglicht, Pflegepatienten früher zu entlassen oder an. Die leistungsorientierte Vergütung im Kranken- sie nicht aufzunehmen und damit Fehlbelegungen haus und die strukturelle Entwicklung zu mehr Wirt- oder lange Verweildauern abzubauen. schaftlichkeit bei Sicherung der Qualität läßt sich nur so erreichen. Meine Damen und Herren, sollte dieses Gesetz den Bundestag heute nicht passieren - ich gehe nicht Vor diesem Hintergrund ist die notwendige Stabili- davon aus -, so ist nicht nur mit Mehrausgaben in sierung der Krankenhausausgaben für 1996 zu Milliardenhöhe zu rechnen, sondern für meine sehen. Das vorliegende Gesetz wird deshalb einen Begriffe auch damit, daß alle anderen politischen Beitrag dazu leisten, daß wir eine zukunftsorientierte Reformüberlegungen, zum Beispiel im ambulanten Krankenhausfinanzierung in Deutschland bekom- Bereich, obsolet wären. men, die sowohl den Belangen der Patienten als auch denen der Beitragszahler und der Leistungserbringer (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gerecht wird. Ich möchte auf einen Punkt zurückkommen, den Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ich bereits anläßlich der ersten Lesung dieses Geset- zes angesprochen habe. Sie ahnen es; ich komme auf (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die Frage der Instandhaltungsinvestitionen der Krankenhäuser zu sprechen. Ich habe kein Verständ- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster nis dafür, daß die Bundesländer - mit Ausnahme spricht der Kollege Martin Pfaff. Bayerns, lieber Herr Kollege Zöller - versuchen, sich hier aus ihrer Verantwortung zu stehlen. Bis 1993 haben sie den Erhaltungsaufwand bezahlt. Eine juri- Dr. Martin Pfaff (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kol- stische Spitzfindigkeit hat dazu geführt, daß sie von leginnen! Liebe Kollegen! Der 1. Januar 1996 sollte dieser Verpflichtung befreit sind. Seitdem laufen 500 ein ganz besonderer Termin, ein ganz besonderes bis 600 Millionen DM Instandhaltungskosten auf, Datum werden, ein Datum, das mit Symbolen behaf- 500 bis 600 Millionen DM, die zusätzlich in den Län- tet war, und manche würden sagen, ein Datum, das derkassen verbleiben. Ihnen von der SPD-Bundes- in die Geschichte der Gesundheitspolitik eingehen tagsfraktion - ich bedauere das sehr - fällt dazu sollte. Denn am 1. Januar sollte die Welt der Budge- nichts Besseres ein, als diese Kosten nun ohne Kom- tierung, die die wirtschaftlich arbeitenden Kranken- pensation der Krankenversicherung zuzuweisen. häuser bestraft und die weniger wirtschaftlich arbei- tenden belohnt, zu Ende gehen. Am 1. Januar sollte (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - die neue Welt der Fallpauschalen und Sonderent- Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ gelte, die Leistung entlohnen sollen, eingeleitet und CSU]: Schlimm!) eingeläutet werden. Daß zusätzliche Ausgaben in dieser Größenordnung Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Realität sieht beitragsrelevant sind, müßte eigentlich jedem klar doch ganz anders aus: statt Strukturgestaltung mehr sein. Ebenso klar ist, daß ein Zusammenhang zwi- Kostendämpfung! Statt Stetigkeit und Selbststeue- schen Lohnnebenkosten und Arbeitsplätzen besteht. rung eine Gesetzgebungsflut von seiten der Regie- Die SPD-Bundestagsfraktion sollte deshalb selbstbe- rungskoalition! Und statt Überschaubarkeit ein wußt und mutig genug sein, hier einen anderen, von betriebswirtschaftliches Chaos! Das, Herr Bundesmi- der Sache her notwendigen Standpunkt einzuneh- nister, haben vor allem Sie zu verantworten. men als die SPD-geführten Bundesländer. (Beifall bei der SPD) (Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Wir sind immmer mutig!) Die Tatsachen sprechen eigentlich für sich. Es gibt kein Krankenhaus in Deutschland, das heute, am Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie alle 19. Januar - nicht nur am 1. Januar -, ein wirklich wissen: Wir wollten die Budgetierung für 1996 an abgestimmtes, angepaßtes, prospektives Budget sich nicht. Wir wollten auch im Krankenhausbereich hätte der Selbstverwaltung den Vorrang einräumen, was aber schließlich an Sachzwängen gescheitert ist. Auf (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ gar keinen Fall möchten wir über 1996 hinaus die CSU]: Das ist noch nie anders gewesen!) Kreativität, den Sachverstand und die Selbstverant- - nein, kein einziges -, auf dessen Grundlage es ver- wortung der Betroffenen durch eine obrigkeitliche bindlich planen könnte. Es gelten nur die Fortschrei- Deckelung unterdrücken. bungen der Vergangenheit, aber nicht die prospekti- An dieser Stelle möchte ich Herrn Minister Seeho- ven Budgets unter neuen Bedingungen. Das ist das fer einmal Dank dafür sagen, daß er sein Ziel, eine erste, was ich anmahnen muß, Herr Bundesminister. freiheitliche und selbstverantwortliche Gestaltung Zum zweiten. In mehr als zwei Dritteln aller Län- des deutschen Gesundheitswesens, konsequent und der wissen die Krankenhäuser heute noch immer unermüdlich verfolgt. nicht, welche Punktwerte sie für die Fallpauschalen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und für die Sonderentgelte bekommen werden. 7134 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996

Dr. Martin Pfaff Auch das liegt im hohen Maße in Ihrer Verantwor- Der erste Grund: die mangelnde Transparenz im tung. Wenn ich die „Hohe Schule der gesundheitspo- Leistungsgeschehen. Kein Sektor - das Krankenhaus litischen Kunst" des Herrn Bundesministers charak- ist neben anderen Dingen auch ein Wirtschaftssek- terisieren darf, dann sage ich: Handwerklich mangel- tor - könnte überleben, wenn nicht bekannt wäre, haft! Politisch unverantwortlich! Und für die Kran- wie die Fixkosten und die variablen Kosten sind: Für kenhäuser nicht tragbar! Das ist die Situation bei der das Krankenhaus heißt das, was die Kosten einer heutigen Beratung. Operation sind und was speziell die Hüftoperation von Frau Meier gekostet hat. Deshalb brauchen wir (Beifall bei der SPD - Widerspruch bei der mehr Transparenz, richtig! CDU/CSU - Wolfgang Lohmann [Lüden scheid] [CDU/CSU]: Soll der Minister den Der zweite Grund: Fehlsteuernde Anreize der Rechtsweg beschneiden?) tagesgleichen Pflegesätze führen zu Verweildauern, Die Folgen für das Gesundheitswesen insgesamt die im internationalen Vergleich zu lang sind, Auch gehen leider aber über den Krankenhausbereich hin- richtig! aus; denn wenn die Steuerung im Krankenhausbe- reich versagt, dann wird dies auf alle anderen Berei- Der dritte Grund: Die mangelnde Verzahnung zwi- che ausstrahlen. Das heutige Gesetz, aber auch die schen dem ambulanten und dem stationären Bereich anderen Gesetzeswerke, die sich in der Planung ist ein ganz großes Problem spezifisch für unser befinden, lassen nicht erkennen, daß Sie das alte System. Auch das sollte angegangen werden; dar- Denken in Sektoren wirklich verlassen hätten. über hinaus die ungebührlich langen Verweildauern. (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ Noch ein wichtiger Punkt für das heutige Gesetz: CSU]: Das ist doch ein Witz!) Im internationalen Vergleich, liebe Kolleginnen und Kollegen, lagen wir in Deutschland über Jahrzehnte Sie fordern Veränderungen für den Krankenhausbe- mit bei den Schlußlichtern, wenn es um das Verhält- reich; Sie fordern Veränderungen für den ambulan- nis von Pflegepersonen zu anderen im Krankenhaus ten Bereich - aber Sie vernachlässigenden die Tatsa- Tätigen ging. Dies zu beseitigen war eine der Zielset- che, daß das Kernstück der nächsten Reformstufe in zungen der Pflege-Personalregelung, die Sie heute sektorübergreifenden Konzepten bestehen muß: Die aussetzen wollen. Frage, was für eine Patientin bzw. für einen Patien- ten die richtige Behandlung ist, unabhängig von dem Nun fragt man sich natürlich: Warum denn diese Sektor, diese zentrale Frage lassen Sie unbeantwor- kritische Haltung, wenn doch auch die SPD ein Kon- tet. Eine solche sektorübergreifende Gesamtverant- solidierungsgesetz, ein Stabilisierungsgesetz für die- wortung lassen Sie in Ihren Konzepten nicht erken- ses Jahr vorsieht? Ich möchte das kurz begründen. Es nen. war geplant, daß die Budgetierungsphase auslaufen (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Wolf sollte. Und ich sagte schon: Die Budgetierung gang Zöller [CDU/CSU]: Es steht sogar bestraft natürlich all diejenigen, die sich wirtschaft- drin, daß wir es machen!) lich verhalten, und belohnt diejenigen, die dies nicht tun, weil für die letzteren auf einem höheren Sockel Das trifft für dieses Gesetz zu. Es trifft übrigens auch die Fortschreibung erfolgt. Dies war gerade nur des- für das andere Gesetz zu, das wir in wenigen halb übergangsweise akzeptabel, weil am 1. Januar Wochen beraten werden. 1996 die Fallpauschalen und die Sonderentgelte als Da werden sich viele Menschen zu Recht fragen: leistungsgerechte Finanzierung eingeführt werden War das alles? War das das berühmte Gesundheits- sollten. strukturgesetz im Krankenhausbereich? War das der Nun wissen wir - da kommt der Sündenfall, Herr Fortschritt, den wir mühsam erkämpfen wollten? Bundesminister -, daß die Bundespflegesatzverord- Waren diese Reformen wirklich nötig? nung 1995 den Kriterien, die uns und allen, die sich Beginnen wir doch mit der Ausgangslage. Es gibt für Fallpauschalen und Sonderentgelte ausspre- keinen Zweifel, daß das Krankenhaus in Deutsch- chen, in Lahnstein vorschwebten, nicht gerecht land eine ganz wichtige, eine zentrale Funktion wird. Sie geht von Ist-Kosten aus; es werden also wahrzunehmen hat - als Auffangbecken für viele die verzerrten Strukturen der Vergangenheit fort- ungelöste Probleme unserer Gesellschaft. Es gibt geschrieben. Zum zweiten war die Auswahl der auch keine Zweifel, daß dies auf sehr wirtschaftliche Fälle nicht repräsentativ. Drittens gehen Sie von fal- Art mit einem sehr hohen technischen Standard und schen Verweildauern aus, so daß die steuernde Wir- mit einer sehr hohen Produktivität der Mitarbeiterin- kung der Pflegesatzverordnung nicht im erhofften nen und Mitarbeiter geschieht. Im übrigen sind wir Umfang eintreten wird, da die Fallpauschalen und - im internationalen Vergleich hinsichtlich des Res- Sonderentgelte eher noch kostensteigernd wirken sourcenverbrauchs, also der Krankenhausausgaben werden. pro Kopf oder des Anteils der Krankenhausausgaben am Volkseinkommen, im Mittelfeld plaziert. Nur 25 Prozent des Leistungsgeschehens werden nach den letzten Informationen, die mir vorliegen, Das können also nicht die Gründe für die Reform über Fallpauschalen abgedeckt, weitere 5 Prozent gewesen sein. Nein, es gab Gründe für Reformen, über Sonderentgelte. und es gibt sie weiterhin. Nur sagt das heutige Gesetz der Regierungskoalition leider sehr wenig (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ darüber aus. CSU]: Das war doch von vornherein klar!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996 7135

Dr. Martin Pfaff Wo bleibt die leistungsgerechte Honorierung im satzeffekt von etwas mehr als einem Zehntel eines Januar 1996? Es ergibt doch nur einen Sinn, wenn Beitragssatzpunktes anfallen würde. 70, 80 Prozent und nicht 25, 30 Prozent über Fallpau- Herr Minister, wenn ich mich erinnere, mit welcher schalen abgegolten werden! großartigen Nonchalance Sie den Ärzten noch vor Für diese Umsetzung haben Sie, Herr Minister, die einigen Wochen - vor Weihnachten wohlgemerkt - Verantwortung zu tragen. In einer Situation, in der 850 Millionen DM zugedacht haben, dann frage ich ein Restbudget besteht, gibt es starke Anreize, mich: Ist es nicht angemessen, daß den Frauen und Kosten von den Sonderentgelten zu den Fallpauscha- Männern, die im Krankenhaus wirklich schweren len zu verschieben. Die Wirkung ist klar: Die Ver- Dienst leisten, eine weitere Anerkennung, eine wei- weildauer wird verkürzt, die Fallzahlen werden stei- tere Unterstützung zukommt? gen, und der Trend zur Spezialisierung wird fortge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- führt werden. ten der PDS - Wolfgang Lohmann [Lüden- Die Pflegesatzverordnung enthält kein Instrument scheid] [CDU/CSU]: Sagen Sie das mal den der Mengensteuerung, kein ausreichendes Instru- neuen Bundesländern!) ment zur Qualitätssicherung. Krankenhausverglei- Herr Bundesminister, ich hatte Anfang letzten Jah- che, die früher eher möglich waren, werden erst im res gesagt: Wenn Sie so weitermachen, sehen wir uns Jahr 1998 möglich sein. Das heißt, die Bundespflege- nicht in Lahnstein, sondern in Philippi wieder. Ich satzverordnung hat die Möglichkeit, aus dem Lei- habe vor zwei Tagen gehört, daß der Redakteur einer stungsgeschehen zu lernen, sogar verschlechtert! Ich bekannten Wochenzeitschrift, nachdem diese meine wäre ja nicht so kritisch, wenn man wenigstens eine Prognosen über die Beitragssatzentwicklung im Mechanik hätte, um aus dem Leistungsgeschehen zu letzten Jahr abgedruckt hatte, mit Ihnen eine Wette lernen und die Fallpauschalen anzupassen. Nichts „um eine Flasche edlen Whiskys" eingegangen ist, dergleichen! die Sie mittlerweile verloren haben, Herr Bundesmi- Wenn ich das zusammenfasse, dann sage ich, daß nister. Ich befürchte nur, daß Sie mehr verlieren wer- die Sofortbremsung, die Sie hier vorsehen, eigentlich den, daß wir alle sehr viel mehr verlieren werden, weiterhin diejenigen bestraft, die in ihrem Bemühen, wenn wir dies nicht ernst nehmen. Deshalb sage ich, dieses Gesetz umzusetzen, rationalisiert haben, Herr Bundesminister: Ihr Philippi ist viel näher, als Sie meinen. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das gleiche haben Sie in Ihrem Gesetzesvorschlag doch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- auch!) ten der PDS) und die Unwirtschaftlichen belohnt. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt Ähnliche Wirkungen bei der Pflege-Personalrege- die Kollegin Monika Knoche. lung: Diejenigen Krankenhäuser, die bereits ihren Personalbestand aufgestockt haben, können damit Monika Knoche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): recht gut leben. Wie sieht es aber mit den Kranken- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und häusern aus, die von dieser Regelung sparsam und Damen! Die bevorstehende Dramatik haben Sie, sorgfältig Gebrauch machen? Sie werden auch in wenn ich es richtig gelesen habe, Herr Seehofer, mit Zukunft Probleme haben. den Worten „Die dritte Stufe Gesundheitsstruktur Deshalb diskutieren wir in unseren Reihen - die wird schmerzhaft werden" angekündigt. Es mag ja Diskussion geht noch weiter, auch über die heutige sein, daß Sie deshalb die SPD irgendwie zur Mitver- Entscheidung über unseren Gesetzentwurf hinaus - antwortung einladen. Ich denke, uns gereicht es eher intelligente und flexible Formen der sektoralen Bud- zur Ehre, keine solche Offerte erhalten zu haben. getierung, beispielsweise ein System, bei dem die Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens zu Krankenhäuser, die wi rtschaftlich gearbeitet haben, betreiben - um auf diesen Sachverhalt jetzt ernsthaft Zuschläge bekommen, und die Krankenhäuser, die zu kommen -, halte ich für ein gefährliches Unterfan- unwirtschaftlich waren, nicht noch für diesen gen. Es muß hier hervorgehoben werden, daß die höheren Sockel belohnt werden. Leistungsansprüche der Versicherten aus ihren (Bundesminister Horst Seehofer: Das eigenfinanzierten Kassen mit steuerfinanzierten machen wir doch im nächsten Jahr! - Zuruf Wohlfahrtsleistungen des Staates nichts gemein von der CDU/CSU: Sie sprechen doch jetzt haben. Diese undifferenzie rte Beitragsstabilitäts- von 1997!) und Lohnnebenkostendiskussion im Gesundheitswe- sen will im Grunde genommen die Destruktion des- Das ist ein Ansatz, der eigentlich die Gesamtausga- Sozialstaates mit pseudoökonomischen Argumenten benhöhe nicht erhöht. ausstatten. Das ist mein Eindruck, wenn ich Ihre Pressemeldungen lese. Zum zweiten: Ist es denn wirklich so problema- tisch, die Pflege-Personalregelung einfach um ein Gestern abend bekräftigte die versammelte Ärzte- weiteres Jahr zu strecken? Was würde es denn bei- schaft Deutschlands, daß die gesetzliche Kranken- tragssatzmäßig bedeuten? Ich habe es einmal - „Pi versicherung eigentlich gesund ist, wären da nicht mal Daumen" - umgerechnet. Es würde bedeuten, die durch die Politik verursachten Kostenverschie- daß für die cirka 3 000 Stellen, die im Jahr 1996 bungen in die Krankenkassen, die eigentlich zu gro- zusätzlich geschaffen werden könnten, ein Beitrags ßen Teilen der Staat leisten müßte. Herr Pfaff, ich 7136 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996

Monika Knoche danke Ihnen, daß Sie die Gelegenheit ergriffen Stellen soll jetzt kein Geld mehr da sein. Das Arbeits- haben, viel über die ökonomischen Zusammenhänge zeitgesetz ist rechtsgültig. „Bündnis für Arbeit" - zu sagen. Die kurze Zeit reicht uns Rednerinnen und ganz konkret, aber es ist kein Geld vorhanden. Rednern meist nicht aus, um darauf einzugehen. Ein hochqualifizierter Wirtschaftssektor mit (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ 100 Milliarden DM Jahresumsatz und 1 Million CSU]: Brauchen Sie auch nicht! Stimmt zum Beschäftigten wird jetzt für die Lohnnebenkosten- größten Teil!) steigerung verantwortlich gemacht. Was ich nicht verstehe, ist, warum man die Aber es geht doch hier um die Frage, wie der hoch Tarifverhandlungen der ÖTV und anderer Gewerkschaften und den BAT entwickelte Dienstleistungssektor Gesundheitswe- in die Verantwortung für die sen am Sozialstandort Deutschland künftig ausge- Beitragssatzstabilität staltet sein muß, damit er den gleichen Zugang und einbezieht. Ich kann mir einfach nicht erklären, was die allgemein gleiche Versorgungsqualität gewähr- der Umfang und die Zahl medizinischer und pflegeri- leisten kann, unabhängig davon, wo die Menschen scher Behandlungserfordernisse im Krankenhaus, versichert sind. Das Gesundheitswesen muß man vor der demographische Wandel usw. mit den Tarifver- marktwirtschaftlichen Vernutzungen schützen und handlungen und ihren Ergebnissen zu tun hat. die öffentlichen Krankenhäuser vor einer systemati- Welche Ziele verfolgen Sie mit Ihrem Gesetzent- schen Auszehrung bewahren. wurf? Die Krankenhäuser brauchen eine stabile (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Voraussetzung für Entwicklung. Deshalb fürchten sie und der PDS) dieses Gesetz. Stabilität erhalten sie zum Beispiel durch ihre Umwandlung in ganzheitliche Gesund- Zum vorliegenden Gesetzentwurf sagt der Marbur- heitszentren. Sie müssen im ambulanten spezialärzt- ger Bund, es sei die Tyrannei des Status quo. Ich lichen Versorgungsauftrag enthalten sein. Das geht meine, selbst der Status quo wäre dahin, wenn dieser nicht ohne eine integrierte Reform in beiden Sekto- Entwurf Gesetz würde. ren. Der gesplittete Sicherstellungsauftrag muß in die Hände eines regionalen Gesundheitsrates kom- In deutschen Krankenhäusern herrscht Chaos. men. Nur so lassen sich Versorgungsbedarfe wirklich Darüber brauchen wir gar nicht mehr zu streiten; das ermitteln und sinnvoll steuern, und nur so bekom- ist eine Realität. Seit Januar gelten die angeblich men die Krankenkassen auch eine planerische Kom- leistungsorientierten neuen Entgeltsysteme. Ohne- petenz, gegen die wir überhaupt nichts haben. Sie hin lassen sich die klinischen Leistungen mit rein konzeptionell einzubinden ist wirklich vernünftig. betriebswirtschaftlichen Maßstäben nicht messen. Jetzt setzen Sie mittels Budgetierung Ihre eigene In den Krankenhäusern selber ruhen enorme wirt- Logik außer Kraft. Dennoch wird dadurch nichts bes- schaftliche Potentiale. Aber wenn man modernisie- ser. Das sage ich gerade auch in Richtung SPD, die ren will, muß man, denke ich, zuallererst die anti- da einige Reformierungsvorschlägchen macht. Viel- quierten Chefarztprivilegien abbauen und zu einem mehr ist es ein untrügliches Zeichen dafür, daß Sie, interdisziplinären Klinikaufbau kommen. meine Damen und Herren, das öffentliche Kranken- haus politisch eigentlich aufgegeben haben. Wenn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie Ihre Gesetze für den ambulanten Bereich vor- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten legen, wenn die Konkurrenz der Praxiskliniken der PDS) durchbricht, wird der Einstieg in die allgemeine Überhaupt haben Sie eine für mich äußerst merk- Unübersichtlichkeit und Steuerungslosigkeit, der Sie würdige Einstellung, was modernes das allgemeine Gesundheitssystem aussetzen wol- Management im len, offenkundig werden. Krankenhaus angeht. Qualitätsmanagement, Quali- tätskontrolle schließt das Öko-Audit ein, (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Was haben Sie eigentlich gegen Viel (Zustimmung bei der SPD) falt?) muß aber auf jeden Fall zu mehr Arbeitszufrieden- Manchmal mag es notwendig sein, im Falschen nach heit für die Beschäftigten und zu einer höheren dem Richtigen zu suchen. Aber es gibt nichts schön- Transparenz und Sicherheit der Patienten im Kran- zubessern; die einseitige Budgetierung ist strukturell kenhaus führen. In den Krankenhäusern liegen wert- vollkommen falsch. Die anhaltende Kostenschraube volle Potentiale verborgen. Wenn Sie integrie rte der Budgetierung würgt Reformen ab; davon bin ich Reformkonzepte hätten, würden sie wach werden. überzeugt. Was Sie hier vorlegen, führt dazu, daß diese wertvol- len Schätze nicht gehoben, sondern zugeschüttet Die Pflege-Personalregelung von Lahnstein war werden. - gewollt. Jetzt, wo es vielen Häusern besser geht, die Krankenschwestern erträgliche, gute Arbeitsbedin- Danke schön. gungen vorfinden können, wird das als Kostenfaktor gebrandmarkt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ PDS) CSU]: Das war immer ein Kostenfaktor!) Die Arbeitsdichte hat zugenommen, das ist völlig Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der unstrittig. Auch für die laut ÖTV notwendigen 6 000 Kollege . Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996 7137

Paul K. Friedhoff (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine Mechanismen zu stärken und hierdurch zur Freiset- lieben Kolleginnen und Kollegen! Zunächst darf ich zung von Rationalisierungsreserven zu kommen. von dieser Stelle meinen beiden Kollegen Dieter Thomae und Jürgen Möllemann gute Besserung Aber niemand weiß zum jetzigen Zeitpunkt hun- wünschen. Die Tatsache, daß sie im Bett liegen, dertprozentig, wie sich das neue System auswirken zeigt, daß Krankheiten auch vor Gesundheitspoliti- wird. Wir haben zudem das nicht zu unterschätzende kern keinen Halt machen. Es ist wahrscheinlich für Problem, daß wirksame Mengen- und Preissteue- alle sehr erfreulich, daß es dabei keine Privilegien rungselemente durch den Bundesrat bei der Umset- gibt. zung des neuen Systems in der Bundespflegesatzver- ordnung verwässert bzw. völlig konterkariert worden Frau Knoche, Sie haben, wie ich finde, hier gerade sind. eine sehr interessante Formulierung benutzt, näm- lich die, daß man das Gesundheitswesen vor der Dies zu ändern und endlich zu ökonomisch sinn- Marktwirtschaft schützen muß. Ich finde das sehr vollen Anreizsystemen zu kommen, das ist unser stark. Insbesondere habe ich mir überlegt, zu was ein Ziel. Wir wissen aber auch, daß dieses Ziel nicht planwirtschaftliches System, das in den neuen Bun- kurzfristig zu erreichen ist, weil die Verhandlungen desländern gerade völlig reformiert wird, führt. Am mit den Bundesländern hierüber geraume Zeit und Ende Ihrer Rede haben Sie allerdings von Transpa- sicherlich noch sehr viel Energie in Anspruch neh- renz usw. gesprochen. Wenn ich das alles richtig ver- men werden. Wir haben deshalb zusätzlich zu dem standen habe, hatte das eine Menge mit Marktwirt- Verfahren, das ab 1997 gelten soll, das heute zu bera- schaft zu tun. Sie sollten einmal überlegen, was Sie tende Krankenhausausgabenstabilisierungsgesetz unter Marktwirtschaft verstehen und was Marktwirt- für dieses Jahr eingebracht. schaft bedeutet. Betriebswirtschaft ist sicherlich nicht Ich gebe gerne zu, daß die Sofortdeckelung nicht alles. Aber wenn Sie daraus folgern, daß man unsere Erfindung ist. Aber wir haben ihr zugestimmt, Betriebswirtschaftlichkeit in das System eigentlich und wir werden aus den Gründen, die ich genannt gar nicht einziehen lassen könnte, dann, glaube ich, habe, dazu stehen. Natürlich ist uns klar, daß es ins- sind Sie auf dem Holzweg. Davor, daß Sie diesen besondere für die Krankenhäuser schwierig ist, die Weg beschreiten können, müssen wir Sie bewahren. bereits im vorausgegangenen Jahr auf das neue Deswegen werden wir einen anderen Weg gehen. System umgestellt haben und die dementsprechend Die Ausgabenentwicklung in der gesetzlichen aus der Deckelung gefallen sind. Aber ich hoffe, daß Krankenversicherung gibt uns sicher keinen Anlaß sich diese nochmalige Übergangsphase von einem zu der Hoffnung, daß sich der Trend zu den hohen Jahr insoweit lohnen wird, als nunmehr vielleicht Defiziten in 1996 ohne gesetzgeberische Maßnah- auch die Bundesländer erkannt haben, daß es im men umkehren würde. Für die Entscheidung, wie Krankenhausbereich so wie bisher nicht weitergehen diese Maßnahmen aussehen sollen, ist ein Blick auf kann. die Ursachen der defizitären Entwicklung wichtig Wie sehr sich diese Erkenntnis durchgesetzt hat, und interessant. sieht man ja an den Bayern, die, get rieben durch die Die bisher aufgelaufenen Defizite lassen sich fast Beitragsentwicklung, in der Verhandlungskommis- vollständig durch zwei Faktoren erklären: erstens sion massiv die Forderung unterstützt haben, im aus dem vom Gesetzgeber mit dem Rentenreformge- Krankenhausbereich mit einer rigiden Deckelung setz in Gang gesetzten Verschiebebahnhof zwischen jetzt sofort etwas für das Jahr 1996 zu tun. Wir gehen Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung natürlich davon aus, daß sich diese Haltung auch bei auf der einen Seite und der Krankenversicherung auf der Entscheidung im Bundesrat widerspiegeln wird. der anderen Seite und zweitens aus der Ausgaben- Meine Damen und Herren, mit der Anhebung des entwicklung im Krankenhausbereich, die mehr als Budgets um die BAT-Steigerungsrate ist sicherge- doppelt so hoch liegt wie die Entwicklung der Löhne stellt, daß auf jeden Fall schon einmal die Personal- und Gehälter. kostensteigerungen hieraus finanziert werden kön- Allein aus dem Krankenhausbereich wären für die- nen. In bezug auf die Sachkosten ist bei der jetzigen ses Jahr Beitragssteigerungen in der Krankenversi- Inflationsrate auch davon auszugehen, daß die Stei- cherung in Höhe von 0,6 bis 0,8 Prozent zu erwarten. gerungen nicht über der BAT-Entwicklung liegen Dies ist, wenn man die Belastung der Arbeitskosten werden. Damit bleibt das Problem, wie in den Fällen insgesamt anschaut, so wirklich nicht mehr hinnehm- zu verfahren ist, in denen bestimmte Maßnahmen bar, weder für Arbeitnehmer noch für Arbeitgeber erst im Laufe des Vorjahres eingeführt worden sind, und schon gar nicht für die Arbeitslosen, die auf so daß die entsprechenden Kosten nicht für die einen Job warten. gesamten zwölf Monate angefallen sind. Wir haben dafür gesorgt, daß diese Krankenhäuser nicht (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) benachteiligt werden. Berücksichtigt werden auch die Folgekosten einer Erweiterung medizinischer Sie wissen, meine Damen und Herren, daß wir Kapazitäten, die 1996 auf Grund der Krankenhaus- Liberalen einer Ausgabendeckelung äußerst skep- planung erstmals anfallen. tisch gegenüberstehen, weil wir nicht der Auffas- sung sind, daß sich hierdurch mittelfristig ein ver- Meine Damen und Herren, wenn wir den Kranken- nünftiges gesundheitspolitisches Konzept realisieren hausbereich nicht in den Griff bekommen, dann wer- läßt. Wir haben gerade im Krankenhausbereich den wir im Jahr 1996 wiederum mit einem erhebli- immer darauf gesetzt, die marktwirtschaftlichen chen Defizit der gesetzlichen Krankenversicherung 7138 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996

Paul K. Friedhoff bzw. mit stark steigenden Beitragssätzen zu rechnen Meine Damen und Herren, die heutige Situation in haben. Ich hoffe deshalb sehr, daß Sie, meine Damen der GKV ist keineswegs über Nacht hereingebro- und Herren von der SPD, sich dieser gesamtgesell- chen. Von daher gewinnt die Tätigkeit der Koalition schaftlichen Verantwortung ebensowenig verschlie- im Jahre 1995 ihre eigentliche Brisanz. Sie erschöpfte ßen werden wie die Länder, zumal es vom Grundsatz sich bekanntlich in einer Abfolge überwiegend kon- her in der Sache kaum einen Dissens gibt. traproduktiver Minigesetze und in mehr oder weni- ger medienwirksamen Vorbereitungen der dritten Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Stufe der Gesundheitsreform. Das Thema Beitrags- stabilität wurde leider verfehlt. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Würde die Budgetierung für das Jahr 1996 nicht fortgesetzt - darüber sind sich alle im klaren -, lie- Als nächste spricht fen die Kosten der gesetzlichen Krankenversiche- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: rung endgültig aus dem Ruder. Die Folgen für die die Kollegin Ruth Fuchs. Versicherten, aber auch für die Wirtschaft und die Gesellschaft als Ganzes wären unabsehbar. Das ist Dr. Ruth Fuchs (PDS): Frau Präsidentin! Meine die wirkliche gesundheitspolitische Bilanz dieser Damen und Herren! Die zur Debatte stehenden zerstrittenen Koalition seit Beginn der Legislaturpe- Gesetzentwürfe der Koalitionsparteien bzw. der SPD- riode. Fraktion zielen in ihrem Kern - wenn auch auf deut- lich unterschiedliche Weise - auf eine Verlängerung Aber wenn schon budgetiert werden muß, dann der Budgetierung der Krankenhausausgaben für meinen wir allerdings auch, daß dies nicht allein für 1996. die Krankenhäuser, sondern so wie bisher für alle wesentlichen Bereiche des Gesundheitswesens gel- Die Notwendigkeit fortgesetzter Budgetierung, ten muß. Das Aussetzen der Pflege - Personalrege- die in der gegebenen Situation überhaupt nicht ver- lung halten wir für einen empörenden Umgang mit kannt werden kann, kommt aber zunächst einmal diesem vielleicht sensibelsten Bereich des Kranken- einem Offenbarungseid der Gesundheitspolitik von hauses. Regierung und Koalition gleich. Natürlich muß im Gefolge von Budgetierung ge- Das für 1995 zu erwartende Defizit in der gesetzli- spart werden. Aber gerade im Pflegesektor besteht chen Krankenversicherung liegt mit fast 10 Mil- noch immer ein erheblicher Nachholbedarf. Dabei liarden DM wieder in der Größenordnung von 1992, handelt es sich hier um weniger als ein halbes Pro- und bereits jetzt sehen sich die Krankenkassen zu zent der Gesamtausgaben der Krankenhäuser. Jeder Beitragserhöhungen auf breiter Front gezwungen. weiß, daß die Krankenhäuser durchaus an anderen Dabei weiß man, daß sie das in keinem Fall leichtfer- Stellen sparen können. tig tun, verringert das doch unter den Bedingungen der freien Kassenwahl ihre Attraktivität in entschei- Was die Instandhaltungskosten und generell die dendem Maße. Investitionskosten betrifft, so plädieren wir erneut für die Beibehaltung einer dualen Finanzierung, natür- Ein Sündenbock für die eingetretene Misere lich verbunden mit dem notwendigen Mitsprache- wurde allerdings schnell gefunden. Schuld sind die recht der Krankenkassen. verantwortungslosen und mittelverschwendenden Krankenhäuser. Obwohl auch Minister Seehofer fai- Mit all dem hier Gesagten möchte ich zur Kenntnis rerweise die Verantwortung der Politik stets mitbe- geben, daß wir beiden Gesetzesvorlagen nicht nannt hat, ist davon in der Öffentlichkeit nur wenig zustimmen werden. angekommen. Aber auch wenn eingeräumt wird, daß sich ein beträchtlicher Teil des aktuellen Defizits (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne- aus gesetzlich verordneten Mindereinnahmen der ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Krankenversicherung und anderen Regelungen ergibt, also von der Politik hausgemacht ist, so bleiben die wesentlichsten Ursachen doch ausge- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der blendet. Kollege Ulf Fink, CDU/CSU. Sie liegen bekanntlich darin, daß auch mit dem Gesundheitsstrukturgesetz die entscheidenden Ulf Fink (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr kostentreibenden Sprengsätze im Gesundheitswesen verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir haben eini- nicht entschärft wurden. Ich nenne nur Einzellei- ges an Nörgeleien an den Koalitionsplänen gehört, stungsvergütung und enorme medizinisch nicht ohne daß wirklich eine grundsätzliche Alternative begründete Mengenausweitung, fehlende Zusam- vorgestellt worden ist. In Wirklichkeit sind die Pläne menarbeit der Akteure im Gesundheitswesen und der Koalition, die Pläne der Bundesregierung von die noch immer zunehmende Zahl von Doppel- und denjenigen, die das aus einer unabhängigen Position Mehrfachleistungen sowie unwirtschaftliche Be- beurteilen können, ausgesprochen positiv bewertet triebsformen und ähnliche grundlegende Fehlsteue- worden. Ich darf nur einmal die Presseinformation rungen und Strukturmängel. des AOK - Bundesverbandes zu Rate ziehen. (Vorsitz : Vizepräsident Hans-Ulrich Klose) (Zuruf von der SPD: Waren Sie dabei?) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996 7139

Ulf Fink Dort heißt es unter der Überschrift „AOK begrüßt Kosten in Milliardenhöhe auflasten. Ich finde, das Koalitionspläne zur Krankenhausreform" wörtlich: kann doch nicht richtig sein. Als dringend notwendigen Beitrag zu mehr Wirt- (Zustimmung bei der CDU/CSU) schaftlichkeit im Krankenhaus hat Dr. Hans Jür- gen Ahrens, Geschäftsführer des AOK-Bundes- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege verbandes, die von Minister Seehofer vorgestell- Fink, gestatten Sie eine Zwischenfrage? ten Koalitionspläne zur Fortführung der Kranken- hausreform begrüßt. Ulf Fink (CDU/CSU): Sehr gerne. (Zuruf von der CDU/CSU: Na also!) Das ist die Wertung von unabhängigen Sachver- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte, Herr Kol- ständigen. Ich denke, der könnten Sie sich anschlie- lege Pfaff. ßen, zumal, lieber Herr Pfaff Sie wissen, daß ich Ihre Sachbeiträge schätze, aber heute war doch der Dr. Martin Pfaff (SPD): Herr Kollege Fink, ist es eine oder andere falsche Zungenschlag dabei -, der richtig, daß sich Herr Rebscher bei dieser Anhörung der SPD angehörende Gesundheitsminister von auf einen ganz konkreten Punkt bezogen hat, näm- Rheinland-Pfalz in einem Interview der „Wirt- lich auf die Tatsache, daß bei der Budgetierungsfort- schaftswoche" die Vorstellungen, die Herr Seehofer schreibung, die ja auch im SPD-Entwurf enthalten dazu entwickelt hat, ausdrücklich begrüßt hat. Er hat ist, die Fallpauschalen und Sonderentgelte eben hinzugefügt: Wir sind zu Gesprächen bereit. - So nicht in dem Gesamtdeckel enthalten sind? Er meint, sieht es in Wahrheit aus! dies würde eine Mengendynamik entwickeln. Mit anderen Worten: Wir setzen genau hier Vertrauen in (Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Die Wahrheit die Selbststeuerungsfähigkeit von preisähnlichen ist das nicht! - Dr. Heiner Geißler [CDU/ Instrumenten - von Fallpauschalen und Sonderent- CSU]: Was ist jetzt?) gelten - und müssen Ihnen vorwerfen, daß Sie dieje- Dann wollen wir uns vielleicht doch einmal mit den nigen sind, die die staatliche Bürokratie auf die kleineren Abweichungen in den Gesetzentwürfen Spitze treiben. Sie trauen Ihren eigenen Instrumen- zur Krankenhausreform, die die SPD vorgelegt hat, ten nicht. näher beschäftigen. Denn in Wirklichkeit, Herr Pfaff, (Beifall bei der SPD) sind Sie da eingeknickt, und zwar gegenüber dem Stimmt das, oder stimmt das nicht? einen oder anderen Interesse Ihrer Länder, was die Krankenhauspolitik insgesamt angeht. Ulf Fink (CDU/CSU): Ihre grundsätzliche Alterna- Zu diesem Punkt gab es ein Hearing des Gesund- tive, die das Präsidium der SPD gegenüber den Vor- heitsausschusses. Dort habe ich den Vorsitzenden stellungen der Union entwickelt hat, besteht doch des Vorstandes des Verbandes der Angestelltenkran- darin, sämtliche Bereiche budgetieren zu wollen. kenkassen, Herrn Rebscher, einmal gefragt, wie er denn nun die Pläne der SPD bewertet, ob sie nun (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wirklich zu mehr Kostendämpfung oder aber zu Sie müssen sich schon entscheiden, was Sie wollen. mehr Kosten beitragen. Zum Thema Gesamtbudgetierung noch folgendes: Ich will nun einmal wiederholen, was Herr Reb- Wir wollen nur das budgetieren, was budgetiert wer- scher dazu gesagt hat - denn der kann das wirklich den muß. Das ist doch viel richtiger. In den Berei- beurteilen -: Ihre Pläne bedeuten - ich komme gleich chen, in denen sich Ärzte und Krankenkassen auf auf das Thema Instandhaltung -, weil sie eine Preis- eine freiwillige, sogar anderthalbjährige, Budgetie- budgetierung und keine wirkliche Budgetierung rung eingelassen haben, wollen wir eben nicht beinhalten, ein Kostenrisiko von 1,5 bis 1,8 Mil- zwangsweise budgetieren. Sie müssen in Ihrer eige- liarden DM. - Wenn wir also Ihre Pläne verwirkli- nen Partei endlich einmal klären, was Sie nun wirk- chen würden, würde das für die Krankenkassen im lich wollen. Krankenhaussektor zusätzliche Risiken in Höhe von (Beifall bei der CDU/CSU) 1,5 bis 1,8 Milliarden DM bedeuten. Ich komme zu einem zweiten Punkt. Aus einer Noch nicht berücksichtigt ist dabei, daß Sie die ganz anderen Richtung wird gesagt: Jetzt kommt Instandhaltungskosten den Krankenkassen auflasten diese ganze Kostendämpfung im Krankenhauswe- wollen. Er bewertet auch dieses Risiko: Unter diesen sen; jetzt können wir schon wieder erwarten, daß Prämissen ergibt sich aus einem finanziellen Ver- Wartelisten aufgestellt werden müssen und notwen- gleich, daß für die Krankenkassen ein zusätzliches dige Operationen nicht mehr vorgenommen werden Risiko in Höhe von 3 Milliarden DM entsteht. können. Auch so etwas haben wir gehört, zum Bei- spiel von Herrn Montgomery, wenn ich es recht in Lieber Martin Pfaff, wenn man sich das einmal vor Erinnerung habe. Augen führt, dann versteht man sehr wohl, daß Sie gesagt haben: Wir überlegen, über die vorhandenen Dazu will ich ein ganz klares Wort sagen. Die Kran- Gesetzentwürfe noch neue, intelligente Formen in kenhäuser haben, global gesehen, im Jahr 1993 kein die Gesetzgebung einzubringen. Aber die Wahrheit Defizit gemacht, sondern sogar einen Überschuß von ist: Sie reden auf der einen Seite von Kostendämp- 4 Milliarden DM erzielt und in 1994 sogar einen fung, wollen aber den Krankenkassen zusätzliche Überschuß von über 5 Milliarden DM. Wir sagen: Wir 7140 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996

Ulf Fink wollen in Zukunft eine maßvolle Kostenentwicklung cherung ohne jede Frage eingeleitet. Aber eine und keine Steigerung über die des BAT hinaus Krankenversicherung, bei der die persönlichen haben. Wer in dem Zusammenhang von unmögli- finanziellen Mittel des einzelnen Patienten über den chen Einschränkungen und dergleichen mehr Zugang zu medizinischen Leistungen entscheiden, spricht, der ist nun wirklich unglaubwürdig. Das wird es mit uns nicht geben. kann überhaupt nicht sein. Ich finde, das ist etwas, was man auch als gesundheitspolitisch Verantwortli- (Beifall bei der SPD und der Abg. Dr. Ruth cher wirklich sagen kann. Fuchs [PDS]) Die Vorstellungen, die die Bundesregierung und Meine Damen und Herren, wir machen auch nicht die Koalition entwickelt haben, sind auf der einen bei dem - zugegeben kläglichen - Versuch der Koali- Seite unerhört sachgerecht. Sie dienen der Erhaltung tion mit, von eigenen Fehlern abzulenken, auf die eines freiheitlich organisierten Gesundheitswesens. Herr Pfaff vorhin bereits aufmerksam gemacht hat, Auf der anderen Seite zeigen sie aber auch die finan- und den Krankenhäusern allein die Verantwortung zielle Verantwortung, die wir gegenüber den Men- für Fehlentwicklungen im Gesundheitsbereich aufs schen, die nach Arbeit suchen, in jedem Falle an den Auge zu drücken. Tag legen müssen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- (Abg. Dr. Martin Pfaff [SPD] meldet sich zu ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) einer Zwischenfrage) Erst recht widersprechen wir ausdrücklich Ihren Vor- Herzlichen Dank. stellungen, die Ursachen von Unwirtschaftlichkeit in Krankenhäusern den do rt beschäftigten Schwestern (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und Pflegern aufs Auge zu drücken. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Außer Ihnen Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege macht das doch niemand! - Wolfgang Loh- Fink, gestatten Sie - - Zu spät. mann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Nie Das Wort hat jetzt die Kollegin Waltraud Lehn, mand!) SPD. - Wer schreit, hat nicht unbedingt immer recht. (Zustimmung bei der SPD) Waltraud Lehn (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolle- ginnen und Kollegen! Auch die SPD-Fraktion will die CDU/CSU und F.D.P. wollen die Pflege-Personal- Stabilität der Krankenkassenbeiträge. regelung gänzlich aussetzen. So einfach geht das nicht. Die Pflege-Personalregelung ist eine leistungs- (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Gut, daß Sie bezogene Personalbemessung, das heißt, die Perso- das noch einmal sagen!) nalstellen im Pflegebereich werden auf genau - Richtig. - Es ist deshalb keine Frage, daß gespart beschriebenen Grundlagen von Minutenwerten werden muß. Es ist aber sehr wohl eine Frage, wo ermittelt. und wie gespart werden soll. (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Sagen Sie (Beifall bei der SPD und der PDS) doch, was Sie wollen!) CDU/CSU und F.D.P. offenbaren mit dem, was sie Diese Grundlagen wurden von Experten beraten und hier heute vorlegen, eindeutig, daß sie überhaupt vorgelegt und hier beschlossen. Die Pflege-Personal- nicht in der Lage sind, ein Gesamtpaket, das drin- regelung hat sich ohne jede Frage als ein geeignetes gend erforderlich wäre, auf den Weg zu bringen. Steuerungsinstrument erwiesen. Niemand, auch nie- mand von Ihnen, ist aufgestanden und hat gesagt, Für diese Salamitaktik der Koalition gibt es zwar daß wir hier eine Korrektur der qualitativen Sicher- keine guten Gründe, aber sehr eindeutige Erklärun- stellung der Pflege einleiten müßten. Auf dem Tisch gen. Wenn diese Taktik nämlich aufginge, den von liegt allerdings Ihre Absicht, die vierte Stufe der der Zustimmung des Bundesrates abhängigen Kran- Pflege-Personalregelung nicht umzusetzen, kenhausbereich vorab zu regeln, wäre danach der Weg für sie frei, beim zustimmungsfreien Teil ohne (Zuruf von der CDU/CSU: Auszusetzen!) Hemmungen - ohne Scham sowieso - die bekannten und dies allein aus fiskalischen Gründen. Koalitionsforderungen anzugehen, Wenn aber nicht die Qualität, sondern die Quanti- (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Meinten Sie Charme oder Scham?) tät das Problem ist, muß man die Lösung auch bei den quantitativen Vorstellungen suchen. Sie wollen - wie zum Beispiel mittelbare Leistungsausgrenzun- hingegen etwas zurücknehmen, was man inhaltlich gen, höhere Patientenzuzahlungen, Eintrittsgelder sowohl in der Vergangenheit als auch derzeit für der Patientinnen und Patienten für die medizinische unstreitig hält. Versorgung. Wenn man sich bei der Pflege-Personalregelung Letztlich würde auch nicht vor den bekannten For- als Teil des Gesundheitsstrukturgesetzes in der derungen der F.D.P. und des CDU-Wirtschaftsflügels Menge geirrt hat, wenn man geglaubt hat, 13 000 nach dem Ausstieg der Arbeitgeber aus der paritäti- Stellen würden ausreichen - 20 000 haben wir inzwi- schen Beitragsfinanzierung haltgemacht. Damit wäre schen, und weitere 6 000 oder 7 000 könnten dazu- das Ende der solidarisch finanzierten Krankenversi- kommen -, dann könnte das dazu führen, daß ich Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996 7141

Waltraud Lehn Herrn Minister Seehofer zwei Fragen stelle. Aller- aufgedeckt ist. Das würde mir auch nicht gefallen, dings würde ich sie ihm wirklich nur stellen, wenn aber ich müßte es mir anhören. ich auf eine ehrliche und offene Antwort hoffen Richtig ist es, mehr Wirtschaftlichkeit zu fordern könnte. und Überkapazitäten im Krankenhaus abzubauen. Ich würde erstens fragen: Wollen Sie wirklich, daß Das wird auch nicht ohne Auswirkungen auf den wir - wie vor Inkrafttreten der Pflege-Personalrege- Stellenbereich bleiben. 8 000 Betten allein in Nord- lung - in Europa wieder das Schlußlicht im Verhält- rhein-Westfalen - jeder kann sich ausrechnen, was nis von Patient und Patientin zu Schwester und Pfle- das, auch auf Stellen bezogen, ausmacht. Die Lösung ger bilden? Zweitens würde ich fragen: Ist es wirk- liegt nicht darin, die Qualität der Pflege anzugreifen. lich Ihre Überzeugung, daß die notwendige Kosten- (Beifall bei der SPD - Zuruf von der CDU/ begrenzung im Krankenhaus auf dem Rücken von CSU: Wo steht das eigentlich?) Patientinnen und Patienten und auf dem Rücken des Pflegepersonals ausgetragen wird? - Es ist interessant zu hören, daß Sie die Qualität der Pflege angreifen wollen. (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: So ein Blödsinn!) (Widerspruch bei der CDU/CSU - Zuruf von der CDU/CSU: Wo steht das denn?) Weil ich, wie gesagt, auf entsprechende Antworten nicht hoffen kann und „Blödsinn" in der Tat eine Lassen Sie mich bitte auf folgendes zu sprechen Bemerkung, aber keine Antwort ist und weil ich eine kommen. Grundsätzlich falsch ist es, ein Gesund- solche Antwort nicht erwarte - dafür wird die F.D.P. heitswesen in Sektoren aufzuteilen. Es ist fachlich schon sorgen, solange sie es jedenfalls noch kann -, falsch, aber ich meine, es ist auch politisch falsch. hier unsere Antwort: Wenn Sie hier gerade angesprochen haben, die AOK habe gesagt, daß die Budgetierung etwas ganz Wun- (Zuruf von der CDU/CSU: Aha! Jetzt wird derbares sei, so muß ich hinzufügen: Die gleiche es spannend!) AOK hat im gleichen Zusammenhang gesagt, es müsse aber auch ein Gesamtkonzept her. Die qualitätsgerechte Pflege der Patienten und Patientinnen darf nicht ernsthaft gefährdet werden. (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ Deshalb darf das bisher in diesem Bereich Erreichte CSU]: Jawohl, richtig!) auch nicht rückgängig gemacht werden. Wer ein Gesundheitswesen will, das kranken Men- (Zuruf von der CDU/CSU: Wer will denn schen hilft und nutzt, wer ein Gesundheitswesen das?) will, das weder zu Lasten der Patientinnen und Patienten noch zu Lasten der in diesem Bereich Bereits jetzt gibt es personelle Engpässe, und eine Beschäftigten geht, der muß dieses Gesundheitswe- Minderung der Qualität wird eine Flucht aus der sen als Gesamtheit betrachten, und er muß vor allem Pflege verstärken. Jeder Angriff auf den Wert der entsprechend handeln. Wer sich nur auf den stationä- Pflege - daß das als Angriff verstanden wird, müßten ren Bereich einigt - lassen Sie uns in diesem Punkt doch selbst Sie, die Sie vielleicht bisweilen noch Stel- einander nichts vormachen -, der hat den kleinsten lungnahmen von Betroffenen lesen, inzwischen koalitionsinternen Nenner gewählt, der gleichzeitig kapiert haben -, jede Verschlechterung der Patien- wohl auch der größte koalitionsinterne Nenner ist. tenversorgung ist nicht nur unangemessen, sie ist auch falsch. Ich war vorhin fast geneigt, bei der Entschuldi- gung der beiden erkrankten Gesundheits- „ exper- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten" aufzustehen und zu fragen, ob die Botschaft von ten der PDS - Zurufe von der CDU/CSU: Herrn Seehofer, die heute morgen in der Presse zu Was wollen Sie denn?) lesen war, ihnen dera rt auf den Magen geschlagen Die Pflegenden in den Krankenhäusern leisten ist. Ich habe das allerdings unterlassen. viel. Ihre physische und auch ihre psychische Bela- Wir finden hier den zweiten Grund der von Ihnen stung ist überdurchschnittlich groß. Niemand kann gewählten Salamitaktik. Ein Einzelgesetz nach dem den Eindruck haben, daß sie unterbeschäftigt sind, anderen durchzusetzen ist nicht nur politisch falsch. und niemand geht doch her und sagt, sie irrten auf den Fluren umher und wüßten nicht, was sie tun sol- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ihr versteht ja len. zwei auf einmal nicht!) Wenn also der Stellenzuwachs größer ist, als er ein- Man gewinnt außerdem zunehmend den Eindruck, geschätzt wurde, dann hat hier die Realität die Theo- daß der Gesundheitsminister - vielleicht muß man- rie eingeholt. So ist das manchmal. demnächst, um im Bild der Salamitaktik zu bleiben, weil das anscheinend beherrschend ist, vom Dauer- (Zustimmung bei der SPD - Zuruf von der wurstminister sprechen - bei der Vielzahl von Einzel- CDU/CSU: Die Theorie war falsch!) regelungen den Überblick über die Gesamtproble- matik längst verloren hat. Dem muß man dann entweder Rechnung tragen, oder man muß die Realität verändern. Die CDU/CSU Der Spagat zwischen Kostendämpfung und Quali- und die F.D.P. wählen nun eine dritte Va riante. Sie tätssicherung ist schwierig. Die F.D.P. setzt auf die ignorieren die Realität. Aber das ist dann ihr Pro- Amerikanisierung des Gesundheitswesens nach blem. Zu Recht können Sie sich aufregen, wenn das dem Motto: Wer im Gesundheitsbereich arbeitet und 7142 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996 Waltraud Lehn nicht daran verdient, ist selber schuld. Oder: Wer Wir haben alle bisher eingebrachten Gesetze, von gute Qualität in der Versorgung haben will, der soll den Hausärzten bis zur Positivliste, im Bundesrat dafür bezahlen. - Die Freidemokraten streben nach durchgesetzt. Deshalb stimmt unser Kompaß, Frau einer Grundversorgung für alle und Wahlleistungen Lehn. für diejenigen, die sie bezahlen können. Meine Damen und Herren, weder Gesundbeterei In diesem Zusammenhang muß man, so denke ich, noch Schönfärberei führen an der Realität vorbei: Die auch darauf hinweisen, daß sich hinter der vielfach Ausgabendynamik in den Sozialsystemen ist nicht zitierten Überschrift „mehr Wettbewerb im Kran- mehr finanzierbar. Wir werden in diesem Jahr in der kenhaus" jedenfalls auf seiten der F.D.P. nichts an- Sozialversicherung insgesamt durch Gesetze, die wir deres verbirgt als die Absicht, den Krankenhäusern im Konsens beschlossen haben, Beitragserhöhungen zum Wohle der F.D.P.-Klientel ein Standbein abzu- bekommen, die alles bisher Dagewesene in den hacken. Schatten stellen. (Beifall der Abg. Uta Titze-Stecher [SPD]) Die gemeinsam beschlossene Pflegeversicherung wird Mitte dieses Jahres zu Beitragserhöhungen von Eine der Äxte, die hier ins Spiel gebracht werden, 0,7 Prozentpunkten führen; die gemeinsam beschlos- heißt Praxiskliniken. Anstatt bestehende gute Struk- sene Rentenreform hat bereits zu einer Beitragserhö- turen zu sichern, wird ein zusätzlicher und, so sage hung von 0,6 Prozentpunkten geführt. Ich bleibe ich, sinnloser Bereich geschaffen, der sich nur als dabei: In der gesetzlichen Krankenversicherung lukratives Projekt für Investitionsgesellschaften bekommen wir im Laufe des Jahres eine durch- lohnt. schnittliche Beitragserhöhung von mindestens Die Gesundheit ist kein Konsumgut, das der Versi- 0,5 Prozent, was auf einen Verschiebebahnhof cherte auf dem freien Markt kauft, wie zum Beispiel zurückzuführen ist, der 1989 parteiübergreifend zwi- ein Auto. Würden allein marktwirtschaftliche Prinzi- schen der SPD und der Koalition im Zuge der Ren- pien zur Grundlage unseres Gesundheitswesens, tenreform beschlossen worden ist: Für Arbeitslose sähe es bald so aus, daß sich die einzelnen Patienten werden nämlich ab 1995 geringere Beiträge zur auf Grund ihrer finanziellen Möglichkeiten die Lei- Krankenversicherung gezahlt. stungen kaufen und nicht mehr auf der Basis des medizinisch Notwendigen versorgt werden. Des weiteren sind Beitragserhöhungen in der Krankenversicherung auf Druck der Bundesländer Meine Damen und Herren, mehr als die Scheib- im Zuge der Krankenhausreform 1992 zustande chenpolitik läßt die Zerstrittenheit zwischen CDU/ gekommen. CSU und F.D.P. wohl nicht mehr zu. Die Kosten für diese Stückelei werden die Versicherten und die Beitragserhöhungen um höchstens 1,8 Prozent - Patienten zu zahlen haben. Ich denke, das können 0,7 Prozent bei der Pflegeversicherung, 0,6 Prozent und werden wir nicht hinnehmen. Sie wären gut bei der Rentenversicherung, durchschnittlich beraten, über die Art Ihrer Vorgehensweise - gar 0,5 Prozent bei der Krankenversicherung - werden nicht einmal so sehr über jeden Ihrer Vorschläge -, nur dann Realität bleiben, wenn es gelingt, diese nämlich Dinge auseinanderzuziehen, die zusam- Gesundheitsreform zu realisieren. Wenn sie schei- mengehören, noch einmal gründlich nachzuden- tert, werden wir allein im Jahr 1996 eine Erhöhung ken. Sie zahlen einen verflixt hohen Preis dafür, der Gesamtsozialversicherungsbeiträge von über daß Sie unfähig sind, sich mit der F.D.P. zu verstän- 2 Prozent bekommen. digen. (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das haben (Beifall bei der SPD und der PDS - Zurufe Sie zu verantworten!) von der CDU/CSU: Wo sind denn nun die Meine Damen und Herren, vor dem Hintergrund Vorschläge?) der aktuellen Diskussion um den Solidaritätszu- schlag, dessen jährliches Aufkommen 29 Milliarden Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat DM ausmacht, möchte ich darauf hinweisen, daß die Herr Bundesminister Horst Seehofer. Gesamtbeitragsbelastung in der Sozialversicherung für Arbeitgeber und Arbeitnehmer etwa 35 Mil- liarden DM jährlich beträgt. Ich bin immer wieder Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: überrascht, daß man über diese Größenordnung, die Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie bei ja weit über die des Solidaritätszuschlags hinaus- jeder gesundheitspolitischen Debatte der letzten geht, so gut wie keine Diskussion führt. Monate erleben wir hier starke Worte der SPD und einige Wochen später im Bundesrat die Tatsache, daß Ich spreche von diesem Aspekt zu Beginn meiner die SPD die hier kritisierten Gesetze passieren läßt. Rede, weil immer noch viele Politiker und Funktio- Das ist die Realität. näre die Träume hegen, man könnte die Finanz- grundlagen in der Sozialversicherung stabilisieren, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ohne daß es jemand merkt. Frau Lehn, wir haben den totalen Überblick. Der (Waltraud Lehn [SPD]: Wer macht das?) genialste Einfall der Koalition seit der neuen Regie- rungsbildung war, die Gesundheitspolitik auf ein- Ich trete mit Nachdruck dafür ein, daß man dieses zelne Sektoren und einzelne Gesetze aufzuteilen; die realistische Bild der Öffentlichkeit auch vor Wahlen SPD hat das bis heute gar nicht so richtig erkannt. mitteilt; denn die Öffentlichkeit hat einen Anspruch Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996 7143

Bundesminister Horst Seehofer darauf, daß sie vor dem 10. und 24. März dieses Jah- Nur werden Sie andererseits nicht bestreiten kön- res die Wahrheit erfährt. nen, daß dieser gewaltige Zuwachs in den Kranken- häusern, von dem ich gerade sprach und über den (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sich die Krankenhäuser freuen, weil die Politik ihn Mich muß niemand überzeugen, daß die Mobilisie- ermöglicht hat - das sind nämlich Milliardenüber- rung der Wachstumskräfte und die Steigerung der schüsse in den Krankenhäusern -, mit der deutschen Beschäftigung die zentralen Aufgaben der nächsten Einheit überhaupt nichts zu tun hat, sondern darauf Wochen sind. Wir müssen aber auch die Spirale zurückzuführen ist, daß die Politik im Jahr 1992 ins- durchbrechen - die Sozialpolitik muß dazu ihren Bei- besondere auf Druck der Bundesländer die Kranken- trag leisten -, daß steigende Sozialausgaben durch hausbudgets so großzügig gestaltet hat, daß diese Kostensteigerungen zur Erhöhung der Arbeitslosig- Defizite von 1992 bis 1995 entstanden sind. Deshalb keit führen und Arbeitslosigkeit ihrerseits wieder teile ich Ihre Meinung, daß man die Ausgabenent- steigende Sozialausgaben bewirkt. Wer diese wicklung dort beenden muß, wo die Ursachen ent- schlimme soziale Spirale durchbrechen will, muß standen sind, nämlich bei den großzügigen Budge- auch über die Sozialpolitik einen Beitrag zur Stabili- tierungen. sierung der Finanzgrundlagen in unseren Sozial- (Beifall bei der CDU/CSU) haushalten leisten. Dazu zählt auch der Kranken- hausbereich. Herr Minister, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Kolle- Von 1992 bis heute sind die Krankenhausausgaben gen Pfaff? in Deutschland von 64 Milliarden DM auf 80 Mil- liarden DM gestiegen. Das ist ein Zuwachs von 24,3 Prozent. Allein durch diesen Zuwachs ist in der Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: gesetzlichen Krankenversicherung in diesem Zeit- Ja. raum ein Defizit von 8,5 Milliarden DM entstanden. Wir müssen aber hinzufügen, daß dieses Defizit der Krankenversicherung gleichzeitig einen Milliarden- Dr. Martin Pfaff (SPD): Herr Bundesminister, ist überschuß für die Krankenhäuser bedeutet - Ihnen bekannt, daß das Defizit im Krankenhausbe- reich, das durch die Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben entstanden ist - Sie haben das richtig Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Minister, geschildert -, nicht insbesondere auf die Pflege-Per- gestatten Sie eine Zwischenfrage? sonalregelung zurückgeht, sondern daß von den 3,2 Prozentpunkten laut Krankenhausbericht im Net- Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: - toeffekt dadurch „nur" 0,45 Prozentpunkte entstan- sofort -, weshalb die Krankenhäuser finanziell im den sind, so daß eine Aussetzung der Pflege-Perso- Moment besser dastehen, Herr Professor Pfaff, als nalregelung, die auch ein Teil Ihres Paketes ist, kei- jemals zuvor in den 90er Jahren. nerlei Lösung der Probleme bringt? Jetzt bitte die Zwischenfrage. Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte, Herr Kol- Wer sagt denn, daß die Aussetzung der Pflege-Perso- lege Pfaff. nalregelung allein die Lösung der Probleme bringt? Ich darf Ihnen hier sagen, Herr Professor Pfaff: Keine Regierung und keine Koalition hat für die Schwe- (SPD): Herr Bundesminister, Sie Dr. Martin Pfaff stern und Pfleger in den Krankenhäusern mehr beklagen die Finanzprobleme der sozialen Siche- getan, als in den letzten drei Jahren zugunsten der rung. In diesem Zusammenhang möchte ich eine Pfleger und Schwestern geschehen ist. zweiteilige Frage aufwerfen: Ist Ihnen bekannt, daß die Sozialleistungsquote in (Beifall bei der CDU/CSU) den letzten 20 bzw. 30 Jahren überhaupt nicht gestie- gen ist und daß die Beitragssatzeffekte zum einen Annähernd 25 000 zusätzliche Stellen sind in den daraus resultieren, daß die Lohnquote - also die deutschen Krankenhäusern geschaffen worden, Finanzierungsgrundlage - gesunken ist, und zum meine Damen und Herren, trotz des gewaltigen anderen daraus, daß gesamtgesellschaftliche Auf ga- Finanzdrucks, der in der gesetzlichen Krankenversi- ben, beispielsweise die Finanzierung der deutschen cherung besteht! Einheit, über Beiträge zur Sozialversicherung finan- Herr Professor Pfaff, ich respektiere Ihre hohe ziert werden? Folglich müßte man an den Ursachen Sachkunde. Nur: Sie haben heute eine, jedenfalls und nicht an den Wirkungen ansetzen. Stimmen Sie aus meiner Sicht, höchst unglaubwürdige Rede dem zu? gehalten. Sie haben auf der einen Seite die Budgetie- rung im Krankenhausbereich kritisiert und haben auf Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: der anderen Seite den am deutschen Gesundheits- Herr Professor Pfaff, das ist in der Ursachenanalyse wesen Beteiligten verschwiegen, daß exakt zur glei- eine Wahrheit, sogar eine sehr zentrale Wahrheit, die chen Zeit die SPD im Deutschen Bundestag einen ich auch öffentlich immer ausspreche. Gesetzentwurf eingebracht hat, der alle Bereiche des 7144 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996

Bundesminister Horst Seehofer deutschen Gesundheitswesens budgetieren will, ein- Dieses Argument stimmt. Deshalb bin ich der deut- schließlich des Krankenhauses. schen Ärzteschaft dankbar, daß sie der Öffentlichkeit jetzt ein Konzept vorgestellt hat, durch das die ambu- (Beifall bei der CDU/CSU - Zurufe von der lante Versorgung in der Weise optimiert wird, daß SPD) Ärzte rund um die Uhr im ambulanten Bereich stär- Und was auch unfair ist, Herr Professor Pfaff: Sie ker präsent sind, als das in der Vergangenheit der bringen diese Pflege-Personalregelung in die öffent- Fall war. Sie werden den Notfalldienst am Wochen- liche Diskussion ein, natürlich immer wieder vor ende wieder verstärkt durchführen. Wahlen, weil es bei Schwestern und Pflegern um Damit wird vermieden, daß Patienten nur deshalb viele Personen geht, und verschweigen der Öffent- ins Krankenhaus eingewiesen werden müssen oder lichkeit, daß auch die SPD dem Deutschen Bundes- sich selbst ins Krankenhaus einweisen, weil der nie- tag die Aussetzung der Pflege-Personalregelung für dergelassene Arzt zu einer bestimmten Uhrzeit nicht 1996 vorgeschlagen hat. zur Verfügung steht. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Das ist kümmerlich, Herr Professor Pfaff, so daß ich ordneten der F.D.P.) Verständnis dafür habe, wenn die Bevölkerung gele- gentlich bezüglich der Geradlinigkeit und Glaub- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Minister, würdigkeit der Politik so ihre Zweifel hat: Politiker gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schu- der SPD bringen auf der einen Seite Gesetzentwürfe ster? hier im Deutschen Bundestag ein, die fast identisch sind mit den Vorschlägen der Koalition. Dann kommt der Gegenwind in der öffentlichen Diskussion, und Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: schon laufen sie wie aufgescheuchte Hasen von Ja, Herr Dr. Schuster. ihren eigenen Vorschlägen weg und bekennen sich hier im Deutschen Bundestag nicht mehr zu ihren Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte. eigenen Gesetzentwürfen. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. R. Werner Schuster (SPD): Herr Minister, wür- den Sie mir zustimmen, daß mit Ihrem Vorschlag das Niemand hat für die Pflegekräfte mehr getan als wir. zentrale fiskalische Problem des Gesundheitsversor- Wenn wir das Defizit, das in den letzten drei Jah- gungssystems, nämlich die wirkliche Verzahnung ren durch die Krankenhäuser entstanden ist, hier von ambulanter und stationärer Versorgung, bei der ansprechen, dann kritisieren wir nicht die Mediziner, nach meinem Verständnis immer noch Rationalisie- die Schwestern, die Pfleger, das Funktionspersonal rungsreserven von - beide Seiten zusammen gese- in den Krankenhäusern. Ich teile die Meinung, daß hen - 20 Prozent liegen, nicht gelöst wird? die ganz hervorragende Arbeit leisten. Ich meine vielmehr, daß diese Steigerungsraten politisch und Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: nicht medizinisch indiziert sind und daß es ange- Herr Dr. Schuster, wenn es nur um den heute zu sichts der gesamten wirtschaftlichen Probleme die beratenden Gesetzentwurf ginge, dann würde ich verdammte Pflicht und Schuldigkeit der Politik ist, Ihnen recht geben. Aber es liegt dem Deutschen diese politisch indizierten Wachstumsraten für die Bundestag gleichzeitig ein Gesetzentwurf vor, der all Zukunft abzuschneiden. die Fragen, die Professor Pfaff und Sie angesprochen haben, beinhaltet. (Beifall bei der CDU/CSU) Eine intelligente Budgetfindung für 1997 und ab Ich könnte auch für die ganze Koalition hier heute 1997 auf Dauer ist unser gesetzgeberischer Vor- sagen: Wir tun noch mehr für Stationsärzte, wir tun schlag. Er beinhaltet, daß Krankenhäuser, die mehr noch mehr für Schwestern und Pfleger, wir tun noch Leistungen erbringen, eine höhere Gesamtvergü- mehr für die Patienten in den Krankenhäusern. Aber tung mit den Krankenkassen vereinbaren können wenn wir die hohe Leistungskraft der Krankenhäu- und daß Krankenhäuser, die ihre Leistungen - aus ser mittel- und langfristig erhalten wollen, dann müs- welchen Gründen auch immer - reduziert haben, sen wir vermeiden, daß es zum Kollaps der Finanz- einen Abschlag seitens der Krankenkassen erwarten grundlagen in den Krankenhäusern kommt. Sonst müssen. können wir diese Leistungsfähigkeit nicht erhalten. Diese intelligente Budgetierung, die Herr Professor (Beifall bei der CDU/CSU) Pfaff reklamiert hat, hat die intelligente Koalition Ein zweites gehört hinzu - da bin ich den deut- bereits in einem Gesetzentwurf, der hier eingebracht schen Ärzten sehr dankbar -: Wir werden die Struk- wurde, vorgesehen. turreform im Krankenhaus nur beherrschen, wenn (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- die niedergelassenen Ärzte die Versorgung im ordneten der F.D.P.) ambulanten Bereich optimieren. Denn ein Argument der Krankenhäuser stimmt: Sie können gar nicht so Herr Dr. Schuster, ich komme nun zu dem von viel sparen und ihre Effizienz steigern, wie auf der Ihnen angesprochenen Problem. Natürlich muß es zu anderen Seite zusätzliche Kosten dadurch entstehen, mehr Koordination und Kooperation kommen. Ich daß die Krankenhaushäufigkeit so überdurchschnitt- nannte das Beispiel der niedergelassenen Ärzte zur lich wächst wie in den letzten zehn oder 15 Jahren. Optimierung des niedergelassenen Bereichs. Die Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996 7145

Bundesminister Horst Seehofer Koalition schlägt vor, daß in Regionen, in denen es erreicht. Es wäre für ihn besser, wenn er mir manch- notwendig ist, ein Spezialist, der nur im Kranken- mal zuhören würde. haus, aber nicht im ambulanten Bereich vorhanden ist, die Patienten unter bestimmten Voraussetzungen (Beifall bei der CDU/CSU) im Krankenhaus ambulant behandeln kann, weil Meine Damen und Herren, sowohl Maßnahmen im damit die Unwirtschaftlichkeit vermieden wird, daß ambulanten Bereich als auch beim strukturellen Teil sich ein Patient, der von diesem Spezialisten behan im Krankenhaus sind zustimmungspflichtig, nur die delt werden will, zunächst ins Krankenhausbett Budgetierung für 1996 ist zustimmungsfrei. Wir müs- legen muß. sen diesen budgetierten Bereich im ersten Quartal im Parlament verabschieden; denn das Bundesjustiz- Das alles ist Bestandteil unserer Strukturreform, ministerium sagt uns, ein rückwirkendes Inkrafttre- die wir dem Parlament vorgelegt haben. Herr Dr. ten zum 1. Januar 1996 ist nur möglich, wenn Bun- Schuster, diese Reform ist zustimmungspflichtig und destag und Bundesrat die Budgetierung im ersten wird deshalb mit Sicherheit zu Verhandlungen und Quartal 1996 verabschieden. Gesprächen zwischen Ihnen und uns führen. Diese Budgetierung nimmt keine Strukturmaß- Heute geht es nur darum, den finanziellen Kollaps nahme vorweg, - weder im Krankenhaus noch im in der gesetzlichen Krankenversicherung zu vermei- ambulanten Bereich. Anschließend haben wir alle den. Ich hoffe, dabei haben wir Ihre Unterstützung. Ruhe und auch Zeit, im Deutschen Bundestag und im Bundesrat, zwischen Koalition und Opposition einer- Meine Damen und Herren, es ist Dreh- und Angel- seits und Koalition und Bundesländern andererseits punkt, daß wir die überproportionalen Ausgabenzu- die dauerhaften Strukturreformen im Gesundheits- wächse im Krankenhausbereich reduzieren. Wenn wesen miteinander zu besprechen, zu verhandeln uns das nicht gelingt, werden uns 1996 und 1997 und dann zu entscheiden. Ausgabensteigerungen um die Ohren fliegen, wie wir sie bisher noch nicht erlebt haben. Deshalb muß Wir wissen, daß wir Ihre Zustimmung brauchen. uns diese Operation gelingen. Wir bitten Sie darum, daß Sie diese Verhandlungen dadurch ermöglichen, daß wir die Budgetierung im Ich weiß, daß ich bis tief hinein in meine eigene Krankenhaus vorwegnehmen. Wir nehmen damit Partei - auch weil Wahlen sind - mit diesen Vorschlä- keine Entscheidung im Strukturbereich vorweg. Des- gen manche Diskussion ausgelöst habe. Ich werde halb ist es auch kein Trick. Wenn Sie das im Bundes- diesen Weg ganz konsequent weitergehen, und ich rat nicht mitmachen, dann macht eine Reform im möchte öffentlich sagen: Wenn die Reform für den ambulanten Bereich keinen Sinn. Krankenhausbereich mit dessen Stabilisierung im Bundesrat - aus welchen Gründen auch immer - Meine Damen und Herren, ich möchte zum Schluß scheitern sollte, werde ich die Reformbemühungen noch einmal betonen: Es geht bei der Budgetierung für den ambulanten Bereich, die den Patienten, den im Krankenhausbereich nicht um eine Kürzung der Ärzten, den Masseuren und Krankengymnasten Krankenhausausgaben, sondern um eine pure Maß- Opfer abverlangen, postwendend einstellen, weil wir nahme der Vernunft, nämlich dafür zu sorgen, daß die Politik der letzten 25 Jahre nicht fortsetzen dür- die Ausgabenzuwächse in den Sozialhaushalten in fen. einer Balance mit den Zuwächsen in unserer Volks- wirtschaft bleiben. Wenn wir keinen gesellschaftli- Wir dürfen die Krankenhäuser dort, wo öffentliche chen Konsens erzielen, daß angesichts der riesigen Verantwortung gegeben ist, nicht schonen und auf Arbeitslosigkeit, unserer großen wirtschaftlichen Pro- der anderen Seite Patienten, Ärzten, Masseuren, bleme, unserer Probleme auf dem Arbeitsmarkt die Krankengymnasten und anderen Beteiligten im deut- Zuwächse in den Sozialhaushalten und damit auch schen Gesundheitswesen Reformopfer zumuten. die Zuwächse in den Krankenhäusern nicht stärker steigen dürfen als die Zuwächse in unserer Volks- (Waltraud Lehn [SPD]: Pfui!) wirtschaft, dann können wir jede Hoffnung begra- ben, daß wir unsere Sozialhaushalte und unsere Eine solche Politik, meine Damen und Herren, öffentlichen Haushalte in Ordnung bringen. werde ich nicht vertreten. Wir können nicht diesen Personen Opfer zumuten und die Krankenhäuser (Beifall bei der CDU/CSU) verschonen. Wir kürzen nicht, sondern wir begrenzen das Aus- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) maß des Zuwachses. Deshalb werden die Schwe- stern, die Pfleger und die Ärzte in den Krankenhäu- - Ich komme zu Ihrem Vorwurf, Frau Kollegin Lehn, sern ihren Dienst weiterhin auf hohem Niveau er- wir würden hier einen Trick anwenden und deshalb bringen können. Die Personalkosten sind damit zu eine Entscheidung im Krankenhausbereich vorweg- 100 Prozent gedeckt. Die Sachkosten werden sich in nehmen. diesem Bereich bewegen. (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das tun Meine Damen und Herren, deshalb kann ich der Sie auch! - Christian Schmidt [Fürth] [CDU/ Öffentlichkeit guten Gewissens sagen: Es wird kei- CSU]: Hören Sie doch einmal zu!) nem Patienten im Krankenhaus etwas weggenom- men. Ich kann den Beschäftigten im Krankenhaus - Der Herr Büttner hört bei mir im Wahlkreis auch nie sagen: Sie werden weiterhin ihre segensreichen zu. Deshalb hat er bei Wahlen noch nie 30 Prozent Dienste auf hohem Niveau erbringen können. 7146 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996

Bundesminister Horst Seehofer Deshalb appelliere ich an die Opposition: Beenden Sie auch in Ihrer Rede eben gefordert haben bezüg- Sie diese Diskussion, die Sie heute wieder begonnen lich Fallpauschalen, Sonderentgelten, mehr Wirt- haben, als würde auf dem Rücken der Patienten schaftlichkeit, geringeren Beiträgen, anderen Struk- gespart, als würde die Krankenhauslandschaft zer- turen, haben wir fast deckungsgleich mit dem, was schlagen. Diese Argumente haben wir jetzt drei Sie hier gesagt haben, in den Bundesrat eingebracht. Jahre lang gehört. Aber die Krankenhauslandschaft Aber es waren die SPD-regierten Länder, die uns blüht, sie steht finanziell so gut da wie selten zuvor in unsere gemeinsamen Vorstellungen im Bundesrat der Geschichte der gesetzlichen Krankenversiche- zerschlagen haben. Auch das gehört zur Wahrheit. rung. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Das ist doch die fatale Situation, daß Ihre Einlas- sungen hier nicht mit dem übereinstimmen, was mir Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Das Wort zu im Bundesrat präsentiert wird. einer Kurzintervention hat der Kollege Professor Pfaff. Das zweite: Ich habe ein Verhandlungsangebot für den Gesundheitsausschuß des Bundestages und für den Bundesrat gemacht. Eine Voraussetzung für Ver- Dr. Martin Pfaff (SPD): Herr Bundesminister, daß die SPD gesprächsbereit ist, wissen wir alle schon handlungen ist allerdings, daß man weiß, was der lange. Nur: Wir müssen die Gespräche führen, die Gesprächspartner will. Herr Professor Pfaff, Sie wer- wirklich zu einer Lösung des Problems beitragen. den nicht bestreiten können: Alles, was wir bis zur Dazu bedarf es eines umfassenden Konzepts, und Stunde von der SPD für eine parlamentarische Bera- man kann nicht scheibchenweise einen Sektor nach tung haben, ist ein Gesetzentwurf zur Budgetierung dem anderen behandeln. in allen Bereichen, aber keinen Gesetzentwurf dazu, wie es nach dem Jahre 1996, wenn die von Ihnen vor- Zu Ihren Ausführungen möchte ich in gebotener gesehene einjährige Budgetierung ausläuft, struktu- Kürze einige wenige Fragen aufwerfen. rell weitergehen soll. Erster Punkt. Sind die Vorschläge, die ich genannt Deshalb appelliere ich an Sie: Legen Sie so schnell habe - das ist vielleicht auch für die andere Seite des wie möglich, und zwar vor dem 24. März 1996, kon- Hauses wichtig -, nämlich keine Durchbrechung der krete Gesetzentwürfe vor. Auf die warten wir. Ich gesamtsektoralen Budgetierung, sondern Zu- und verspreche Ihnen: Wenn Sie sie hier einbringen, neh- Abschläge, nicht gerechter? Sie haben es selbst als men wir innerhalb von 24 Stunden das Gespräch mit intelligente Form der Budgetierung bezeichnet, und Ihnen auf. Sie haben selbst gesagt, Sie wollen es im nächsten Jahr einführen. Ich sehe nicht ein, warum Sie das (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nicht schon jetzt einführen können und wollen. Ist das nur deshalb so, weil wir diesen Vorschlag Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Ich schließe die machen? Können Sie mir das erklären? Ich kann das Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung, und nicht nachvollziehen. zwar zunächst - in Abweichung von der Reihenfolge Ein zweiter Punkt, die Devise: Haltet den Dieb! der Tagesordnung - zu dem von der Fraktion der Herr Bundesminister, Sie tun so, als ob es hier fin- SPD eingebrachten Entwurf eines Gesundheitsstruk- stere Mächte gäbe, die diese Ausgabendynamik ver- tur-Konsolidierungsgesetzes auf Drucksache 13/ ursachen. Andererseits gestehen Sie sehr bescheiden 3039. ein: Ja, die Politik hat einiges zu verantworten. Der Ausschuß für Gesundheit empfiehlt auf Druck- Wir haben die Konzeption gemeinsam formuliert sache 13/3498 unter Nr. 2, den Gesetzentwurf abzu- und gemeinsam zu verantworten, aber die Umset- lehnen. zung haben Sie zu verantworten, wenn Sie die Posi- Ich lasse jetzt über den Gesetzentwurf der Fraktion tivliste aussetzen, wenn Sie bei der EBM-Reform der SPD auf Drucksache 13/3039 abstimmen. Ich keine steuernde Wirkung vorsehen, wenn Sie den bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen Ärzten Geschenke machen. Wenn Sie, Herr Bundes- wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - minister - ich sage das etwas polemisch; ich bin mir Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter dessen bewußt -, statt Schauveranstaltungen auf Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, dem Petersberg die Knochenarbeit geleistet hätten, von Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS die Bundespflegesatzverordnung derart umzusetzen, gegen die Stimmen der SPD abgelehnt. daß sie wirklich steuernde Wirkung hat - Sie hatten drei Jahre Zeit dafür -, dann hätten Sie sich diese Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die Form der Sektoralbudgetierung ersparen können. weitere Beratung. (Beifall bei der SPD) Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. einge- brachten Gesetzentwurf zur Stabilisierung der Kran- Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Herr Minister, bitte. kenhausausgaben 1996 auf Drucksache 13/3061. Der Ausschuß für Gesundheit empfiehlt auf Druck- Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: sache 13/3498 unter Nr. 1, den Gesetzentwurf unver- Herr Professor Pfaff, nur zwei Realitäten. Das, was ändert anzunehmen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996 7147

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegen- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Kein probe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist Widerspruch. Dann ist so beschlossen. damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koa- litionsfraktionen gegen die Opposition angenom- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kol- men. lege Meckelburg, CDU/CSU. Dritte Beratung Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Herr Präsident! und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die Meine Damen und Herren! Eines sei deutlich und dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe- direkt am Anfang meines Redebeitrags gesagt: Es ben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der gibt Themen, die nicht für die parteipolitische Aus- Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen der Koaliti- einandersetzung im herkömmlichen Sinne taugen. onsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition Kinderarbeit in der Welt ist ein solches Thema. Las- angenommen. sen Sie uns ruhig im Detail um das eine oder andere Verehrte Kolleginnen und Kollegen, interfraktio- politisch ringen - das hält die Diskussion wach -, nell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die aber lassen Sie uns darüber nicht die vielen Gemein- Beratung der Beschlußempfehlung des Vermittlungs- samkeiten und das gemeinsame Ziel vergessen, Kin- ausschusses zum Gesetz zur Übernahme befristeter derarbeit in der Welt zu ächten und zu bekämpfen. Kündigungsmöglichkeiten als Dauerrecht zu erwei- Die Frage darf nicht nur lauten: Wie kann das Pro- tern. Die Vorlage soll gleich jetzt hier behandelt wer- blem der Kinderarbeit in der Welt gelöst werden? Die den. Gibt es darüber Einverständnis? - Ich höre kei- Frage muß konkreter gestellt werden, nämlich: Was nen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. können wir tun, um die Situation von Indonesien bis Thailand, von Kolumbien bis Tansania zu verbes- sern? Ich rufe den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt auf: Diese Aufgabe ist enorm. Denn einerseits ist das Beratung der Beschlußempfehlung des Aus- Problem riesig. Die Zahl der arbeitenden Kinder wird schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes mit 100 bis 200 Millionen - Sie sehen die Bandbreite (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz zur der Schätzungen - angegeben. Das zeigt, daß das Übernahme befristeter Kündigungsmöglich- Problem wirklich schwer einschätzbar, ja geradezu keiten als Dauerrecht unvorstellbar ist. Die Formen der Kinderarbeit sind - Drucksachen 13/1693, 13/2942, 13/3362, vielfältig; sie reichen von Familienarbeit in den Ent- 13/3527 - wicklungsländern, die gar verdeckt sein kann, bis hin zu widerwärtigen und brutalen Formen, wenn Berichterstatter im Bundestag: man an die Schuldknechtschaft denkt. Andererseits Abgeordneter Dr. ist die Lösung immens schwierig. Wir können den Berichterstatter im Bundesrat: Kampf hier ja nicht direkt per Gesetzgebung oder Minister Dr. Arno Walter per administrative Regelung angehen. Wir sind in all unseren Bemühungen zunächst einmal einge- Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - schränkt und können nicht von heute auf morgen Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zu Erklärungen handeln. gewünscht? - Das ist ebenfalls nicht der Fall. Wir alle wissen: Zur Lösung dieses Problems Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die bedarf es zweifelsohne der internationalen Zusam- Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses menarbeit, und das braucht seine Zeit. Staatliche auf Drucksache 13/3527? - Die Gegenprobe! - Ent- Einflußnahme auf andere Staaten ist eine sensible haltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Angelegenheit. Aber, ich glaube, darüber besteht Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion Einigkeit: Unser Ziel muß sein, die Verhältnisse in und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die den Staaten, in denen Kinderarbeit stattfindet, zu Stimmen der Gruppe der PDS angenommen. verändern und darauf hinzuwirken, daß wir do rt Ver- bündete finden. Sonst wird all das, was wir tun, Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 13 auf: nichts sein. Beratung der Beschlußempfehlung und des Der Bereich, mit dem wir es zu tun haben, wird Berichts des Ausschusses für Arbeit und So- häufig - mit Recht - als Teufelskreis beschrieben. zialordnung (11. Ausschuß) zu der Unterrich- Kinderarbeit, die in den Familien anfängt, weil sie tung durch die Bundesregierung zum Teil notwendig ist, um das Einkommen der Familien in Entwicklungsländern zu sichern, bedeu- Bericht der Bundesregierung über Kinderar- tet: Wer als Kind arbeitet, kann nicht zur Schule beit in der Welt gehen. Wer nicht zur Schule geht, hat keine Ausbil- - Drucksachen 13/1079, 13/1233 Nr. 1.6, dung und wird später im Leben in Berufen landen, 13/1857 - für die niedriger Lohn gezahlt wird, oder er wird Berichterstattung: überhaupt keine Arbeit finden. Das führt dann dazu, Abgeordnete Dr. Maria Böhmer daß die Kinder solcher Leute wieder in diesen Kreis- lauf hineinkommen. So wird die Kinderarbeit von Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Generation zu Generation weitergegeben. Diesen Bündnis 90/Die Grünen vor. Kreislauf müssen wir unterbrechen. Dies zu schaffen 7148 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996

Wolfgang Meckelburg ist natürlich das Schwierigste; aber es muß gesche- und für Bewußtseinsbildung in Politik und Gesell- hen. Ich will es noch einmal deutlich sagen: Die schaft sein kann. Gesetzgebung und die sonstigen Regelungen in den betreffenden Ländern müssen verbessert werden. An Schönen Dank. den internationalen Abkommen - insbesondere an (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) denen, bei denen die Internationale Arbeitsorgani- sation, IAO, eine Rolle spielt - darf es für immer mehr

Staaten keinen Weg vorbei geben. Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Das Wort hat die Kollegin Petra Ernstberger, SPD. Was die Diskussion über handelspolitische Maß- nahmen angeht, sage ich deutlich: Diese Diskussion muß vermehrt geführt werden. Zur Zeit sind wir aber Petra Ernstberger (SPD): Herr Präsident! Meine nicht in der Lage, Regelungen zu treffen, die am Damen und Herren! Der aus meiner Heimat stam- Ende wirklich zum Ziel führen. Wir müssen in inter- mende Schriftsteller Jean Paul hat einmal gesagt: nationalen Diskussionen mehr Gemeinsamkeit errei- „Mit einer Kindheit voll Liebe kann man ein halbes chen. Leben hindurch für die kalte Welt haushalten." (Beifall des Abg. Ulrich Irmer [F.D.P.]) Ich will einen Punkt ansprechen, der in dem Zusammenhang wichtig ist, bei dem wir direkt etwas Aber wie steht es mit der Kindheit vieler Kinder in tun können. Ich würde es Verbraucherverantwor- unserer Welt? Ist sie voller Liebe, Zuneigung und tung nennen: Überall da, wo es die Warenkennzeich- Vertrauen? Ist sie geprägt von Weiterentwicklung, nung bereits gibt - beispielsweise haben manche von Bildung, von gedeihlichem Wachsen? Betrachtet Teppiche ein Warenkennzeichen, das besagt, daß sie man nämlich einmal die offiziellen Angaben der nicht mit Kinderarbeit hergestellt worden sind -, Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, und des sollte sie als solche vom Verbraucher auch erkannt Internationalen Arbeitsamtes in Genf, IAA, so stellt werden; er sollte die entsprechenden Produkte dann man fest, daß man von einer so gearteten positiven bevorzugt kaufen. Und überall da, wo keine Kenn- Kindheit überhaupt nicht sprechen kann - ganz im zeichnung möglich ist, sollte man als Verbraucher Gegenteil. Der World Labour Report der ILO schätzt nachdenklich werden. die Zahl der zur Zeit arbeitenden Kinder auf 100 Millionen bis 200 Millionen. Die Zahl der Kinder- Dieses konkrete Beispiel zeigt, wie jeder als Ver- arbeiter hat sich in den letzten zwei Dekaden noch braucher seine Macht in unserer freien Gesellschaft erhöht. Die Umstände und die Rahmenbedingungen, ausüben und einen Beitrag leisten kann. unter denen sie arbeiten, haben sich derweilen dra- stisch verschlechtert. ( [SPD]: Das kann doch nicht alles sein!) Obwohl diese grausame Wirklichkeit der Bundes- regierung bekannt war, mußte der Deutsche Bundes- Da kann jeder einzelne etwas tun. Das dürfen wir tag die Vorlage eines Berichtes zur Kinderarbeit, nicht vergessen. Es ist außerordentlich wichtig, daß über den wir heute diskutieren, von der Bundesre- wir nicht meinen, nur Politiker könnten das Pro- gierung 1994 erst einfordern. Mehrmals angekün- blem lösen. Das ist ein Problem, das nur gelöst wer- digt, mehrmals verschoben liegt er dem Deutschen den kann, wenn wir alle Steinchen zusammenbrin- Bundestag letztendlich erst seit April 1995 vor. gen. Unterziehen wir ihn einmal einer kritischen Prü- Wir brauchen diesen Verantwortungsdruck der fung. Die im Bericht genannten Ursachen für Kinder- Verbraucher auf der einen Seite, damit wir auf der arbeit sind sicherlich richtig, aber er spart meiner anderen Seite eine Produzentenverantwortung Meinung nach einen wesentlichen Grund aus, näm- erreichen können. Denn nur durch Druck und lich die sich stetig beschleunigende Verarmung wei- dadurch, daß die Leute in den Entwicklungsländern ter Bevölkerungskreise in den Entwicklungsländern. spüren, daß Waren, die mit Kinderarbeit hergestellt Sie nimmt den Erwachsenen dort mehr und mehr die worden sind, nicht gekauft werden, kann geholfen Grundlage, für den Unterhalt ihrer Familien allein werden. zuständig sein zu können. Unzweifelhaft ist dabei, daß die sozial unausgewogenen Strukturanpassungs- (Rudolf Bindig [SPD]: Profiteur ist doch der programme des Internationalen Währungsfonds und Handel!) die Globalisierung der Weltwirtschaft nicht unwe- sentlich zu dieser Verarmung beigetragen haben. - Der Handel ist die nächste Stufe. Auch darüber müssen wir reden. Weiterhin möchte ich kritisch anmerken, daß eine geschlechtsspezifische Analyse der Kinderarbeit in Meine Damen und Herren, ich glaube, auch die dem vorliegenden Bericht völlig fehlt. Anscheinend heutige Debatte und die Tatsache, daß die Bundesre- ist der Bundesregierung nicht bekannt - wahrschein- gierung diesen Bericht vorgelegt hat, sind Steinchen licher ist, daß sie es nicht zur Kenntnis nehmen will -, auf dem Weg zur Lösung des Problems. Wir müssen daß Mädchen nicht nur zur Ausbeutung ihrer auch bei uns für Bewußtseinsbildung sorgen - bei Arbeitskraft gezwungen werden, sondern häufig Politikern, aber auch bei den Bürgern. Insofern zusätzlich sexueller Diskriminierung und Belästi- glaube ich, daß unsere heutige Debatte ein Schritt gung ausgesetzt, ja, zur Prostitution gezwungen wer- gegen die Gleichgültigkeit der öffentlichen Meinung den. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996 7149

Petra Ernstberger Die Vereinten Nationen verkündeten 1989 das ziertes Arbeitsleben, und stimmen Sie mir zu, daß Übereinkommen über die Rechte des Kindes, das sich da die Leistung der Bundesregierung durchaus seither von der großen Mehrheit der Staatengemein- sehen lassen kann - in den vergangenen Jahren wur- schaft ratifiziert und unterzeichnet wurde und gegen den 50 Millionen DM in dieses Programm investiert -, das - wie bei kaum einer zweiten Konvention - per- während andere westliche Industrieländer sich mit manent verstoßen wurde und wird. Art. 32 der UN- weit geringeren Beträgen, etwa mit 2 oder 3 Millio- Kinderkonvention betrifft unmittelbar die Kinderar nen DM, beteiligt haben? beit; in ihm anerkennen die Vertragsstaaten den Schutz des Kindes vor ökonomischer Ausbeutung Petra Ernstberger (SPD): Ich kann Ihnen in der und verpflichten sich, entsprechende nation ale Richtung zustimmen, daß dieses Programm sehr Schutzgesetze zur Sicherstellung dieses Rechts zu lobenswerte Ansätze hat. Nur ist es ein Steinehen in erlassen. einem großen Puzzlespiel, und es sind weit mehr Viele Länder, auch Staaten mit exzessiver Kinder- gemeinsame Anstrengungen zur Verhinderung von arbeit, haben seitdem nationale Regelungen geschaf- Kinderarbeit nötig; zu den weiteren Forderungen fen, deren Durchsetzung gleichwohl zugegebener- werde ich gleich kommen. maßen oftmals große Probleme aufwirft. Nicht akzep- (Beifall bei der SPD) tabel ist aber die dadurch begründete Schlußfolge- rung der Bundesregierung, den betroffenen Staaten Der Bundesregierung sei in Erinnerung gerufen, im Rahmen ihrer Souveränität die Umsetzung der daß die einschlägigen Arbeitsnormen die Abschaf- vorhandenen Gesetze allein zu überlassen. Vielmehr fung der Kinderarbeit verlangen, vor allem das stellen die Ausbeutung und Vernichtung von Kin- Übereinkommen 138 und die Empfehlung 146 der dern durch Arbeit grundlegende Verletzungen der ILO über das Mindestalter für die Zulassung zur Menschenwürde und somit Menschenrechtsverlet- Beschäftigung. Dahinter steht die grundlegende zungen dar. Von daher ist es eine zentrale Verpflich- Überzeugung, daß Kindheit ein Lebensabschnitt sein tung für die Staatengemeinschaft, auf die Einhaltung sollte, der der Erziehung und dem Lernen, aber der verbrieften Menschenrechte politisch hinzuwir- sicherlich nicht der Arbeit gewidmet ist. Von daher ken. fordere ich die Bundesregierung auf, alle Kräfte dafür einzusetzen, daß das ILO-Übereinkommen 138 Angesichts der Liberalisierung und Globalisierung von allen in Betracht kommenden Ländern endlich der Weltwirtschaft werden mit Recht Stimmen laut, ratifiziert wird. die auf eine Reform des Welthandels drängen und die Einführung von verbindlichen Sozialklauseln in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- internationalen Handelsverträgen fordern. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es ist klar, daß Kinderarbeit nicht einfach von Das Europäische Parlament hat sich in seiner Ent- heute auf morgen abgeschafft werden kann. Jedoch schließung vom 9. Februar 1994 für die Integration beginnt auch die längste Reise immer mit dem ersten einer Sozialklausel, die unter anderem die Bekämp- Schritt. Das heißt, die fundamentalen sozialen Stan- fung von Kinder- und Zwangsarbeit zum Ziel hat, in dards müssen geschaffen und gesichert werden. das multilaterale und unilaterale System des interna- Dazu gehören das Verbot von Kinder- und Zwangsar- tionalen Handels ausgesprochen. beit, die Existenz freier Gewerkschaften, die Tarifau- Sicherlich könnte die Einführung sozialer Mindest- tonomie sowie jegliche Diskriminierung bei der standards Befürchtungen bei den Dritte-Welt-Län- Beschäftigung. „Eine Sozialgesetzgebung, die die- dern in bezug auf protektionistische Bestrebungen sen Namen verdient, beginnt immer mit dem Schutz der Industriestaaten nähren. Andererseits aber muß der Kinder." Diese Aussage des ersten Generaldi- es das Anliegen aller Beteiligten im internationalen rektors des Internationalen Arbeitsamtes, Albert Tho- Handel sein, die Einhaltung der elementaren Men- mas, sollte uns alle mahnen. schenrechte und der sozialen Standards zu gewähr- leisten. Auf der GATT-Schlußkonferenz 1994 sprach Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Frau Kollegin sich der EU-Handelskommissar Sir Leon Brittan Ernstberger, gestatten Sie eine Zwischenfrage? dafür aus, daß sich die GATT-Nachfolgeorganisation WTO auch mit Problemen wie der Ausbeutung von Kindern und der Zwangsarbeit befassen solle. Petra Ernstberger (SPD): Ja. Vor diesem Hintergrund fordere ich die Bundesre- gierung auf, unverzüglich entsprechende Initiativen Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte, Herr Kol- zur Errichtung einer Arbeitsgruppe in der WTO für - lege. soziale Aspekte des internationalen Handels einzu- leiten. Das ist ein weiterer Baustein bei dem Versuch Johannes Singhammer (CDU/CSU): Frau Kolle- der Lösung des Problems. gin, angesichts des Berges von Problemen, der natür- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- lich hier vor uns steht, frage ich Sie: Stimmen Sie mir ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zu, daß nur ein Bündel von Maßnahmen Kinderarbeit und der PDS) letztendlich beseitigen kann, wie es beispielsweise im IPEC vorgesehen ist, nämlich Herauslösung aus Das Vorhaben der Europäischen Kommission, das dem Arbeitsprozeß, bessere Ausbildungsmöglichkei- Allgemeine Präferenzsystem - APS - der EU so zu ten und dann auch eine Eingliederung in ein qualifi- modifizieren, daß die Einhaltung sozialer Mindest- 7150 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996

Petra Ernstberger standards ihre Entsprechung in einer präferentiellen Gleiches gilt für die Haltung der Bundesregierung Behandlung solcher Länder findet, ist zu begrüßen; zur Existenz der Kinderarbeit im eigenen Haus, in denn Belohnung sollte vor Bestrafung gehen. Deutschland. Sicherlich läßt sich die Kinderarbeit in Deutschland nicht mit der in den Dritte-Welt-Staaten vergleichen. Jedoch zeugt eine Verniedlichung der Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Frau Kollegin, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? zweifellos vorhandenen Problematik in Richtung „Taschengeld-Kinderarbeit" nicht gerade von einer ausgeprägten Sensibilität gegenüber der realen Petra Ernstberger (SPD): Ja. sozialen Lage „in diesem unserem Lande". Aber auch das überrascht den Bürger schon lange nicht Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte. mehr. Schließlich weiß er: Die Bundesregierung ver- schließt ihre Augen vor der sich verschärfenden Armut in Deutschland. Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Frau Kollegin, nachdem ich jetzt eine ganze Weile Ihrem Beitrag (Beifall bei der SPD - Wolfgang Meckelburg zugehört und hier und da Kritisches gehört habe, [CDU/CSU]: Sie stellen Verbindungen her, möchte ich einmal die Frage stellen, ob Sie meinen die unerträglich sind!) Eindruck teilen, daß Sie im Grunde genommen die Theorie vertreten, daß wir viele Bausteinehen und Die Bundesregierung sollte sich also endlich auch -steine brauchen - Sie haben zugestanden, daß die mit dem Problem der Kinderarbeit in Deutschland Bundesregierung an vielen Stellen aktiv geworden beschäftigen und nicht nur den Finger arrogant auf ist -, und ob mein Eindruck richtig ist, daß Sie hier die Länder der Dritten Welt richten und Riesenkroko- und da lediglich ein bißchen mehr fordern. Ihre For- dilstränen vergießen. Das nimmt nämlich der Kritik derung an uns alle, überall ein bißchen mehr zu tun, an den Problemen dieser Staaten die Glaubwürdig- ist sicherlich richtig und zutreffend. Aber grundle- keit und verstärkt den Eindruck, gende Kritik an der Bundesregierung ist doch hier (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sie von Ihnen nicht vorgetragen worden. verspielen Ihre eigene Glaubwürdigkeit, wenn Sie so an dieses Thema herangehen!) Petra Ernstberger: (SPD): Ich möchte mich jetzt nicht wertend zu „grundlegend" oder „weniger daß der Bundesregierung die dramatisch schlechte grundlegend" äußern, sondern ich möchte einfach Situation vieler Familien schlichtweg egal ist. Wenn sagen: Es wäre gut, wenn wir alle an einem Strang Ihnen hier im Haus die schlimme soziale Lage unse- ziehen könnten und hier wirklich etwas vorwärts- rer Bürger kein Interesse abnötigt, so sollten Sie beim bringen würden. Dazu brauchen wir aber die Regie- Schutz unserer Kinder wenigstens an die Sicherung rung; denn ohne sie geht es nicht. der Zukunft unserer Gesellschaft denken. Denn wenn, wie Claude Dumont vom IAA resümiert, „eine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Gesellschaft die Ausbreitung und Verewigung der ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kinderarbeit zuläßt, verschwendet sie die Arbeits- kraft, die sie morgen braucht". In diesem Sinne greife ich noch einmal das auf, was ein Kollege vorhin gesagt hat, der von der Not- Den Bericht nehmen wir nur „zur Kenntnis". wendigkeit gesprochen hat, den Aufbau einer deut- schen Vertretung und auch einer europäischen Ver- Danke. tretung der Rugmark - Stiftung zu fördern. Diese setzt (Beifall bei der SPD - sich für die Verbraucherkennzeichnung von Teppi- [CDU/CSU]: Das war erbärmlich!) chen ein, die ohne Kinderarbeit hergestellt worden sind. Hier ist nicht nur der einzelne Verbraucher gefordert, sondern hier ist eine öffentliche Kampa- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die gne, die sich an die gesamte Bevölkerung richtet, Kollegin Angelika Köster-Loßack, Bündnis 90/Die vonnöten. Grünen. Deswegen ist es wichtig, sich einmal über die Auf- (BÜNDNIS 90/DIE klärung hierzulande Gedanken zu machen. Prüft Dr. Angelika Köster-Loßack GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und man nämlich einmal die Etatansätze des Bundesmini- Kollegen! Wir debattieren heute über eines der dun- steriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit, dann kelsten Kapitel des internationalen Wirtschaftssy- stellt man fest, daß sich von 1980 bis heute die Mittel für die entwicklungspolitische Öffentlichkeits- und stems, über Kinderarbeit. Es reicht nicht aus, unsere Bildungsarbeit inflationsbereinigt halbiert haben. Besorgnis über deren zunehmende Verbreitung zu betonen und die Bekämpfung der schlimmsten Aus- Nur noch 0,05 Prozent des Haushalts des BMZ wird - wüchse zu fordern. Es reicht auch nicht aus, in erster für die entwicklungspolitische Informationsarbeit Linie länderspezifische Rahmenbedingungen für die aufgewandt. Hier klaffen Anspruch und Wirklichkeit Ausbeutung der kindlichen Arbeitskraft zu benen- bei der Bundesregierung meilenweit auseinander. nen. Wenn wir die Der Schein soll zum Sein werden, das wohlfeile Lip- Ursachen der Kinderarbeit nach- haltig bekämpfen wollen, müssen sowohl die inter- penbekenntnis zur politischen Tat! nationalen Wirtschaftsstrukturen als auch die inter- (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: nen Bedingungen der Ungleichheit in den Ländern Schade, daß Sie das Thema hier so ange des Südens grundlegend verändert werden. Der freie hen!) Markt, das Credo des Welthandels, bietet - das zeigt Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. 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Dr. Angelika Köster-Loßack sich jetzt immer deutlicher - eben nicht nur Entwick- Wir fordern die Bundesregierung darüber hinaus lungschancen für neue ökonomische Akteure. Dieser auf, zu prüfen, welche weiteren positiven handels- freie Markt führt zur Verschärfung der Massenarmut, rechtlichen Anreizsysteme und Möglichkeiten ihrer was den Druck auf die Familien erhöht, durch die rechtlichen Umsetzung geschaffen werden können, Arbeit ihrer Kinder das Überleben zu sichern. auch in den bilateralen Beziehungen. Bei Ländern, die es weiterhin dulden, daß Kinder als Arbeitsskla- Der Bericht der Bundesregierung dokumentiert, vinnen und Arbeitssklaven oder in Schuldknecht- daß weltweit bis zu 200 Millionen Kinder unter men- schaft - die sich über mehrere Generationen schenunwürdigen Bedingungen zur Arbeit gezwun- erstreckt - gehalten werden, müssen Sanktionen, gen werden, sei es unter den Bedingungen der zum Beispiel Importverbote, angewendet werden Schuldknechtschaft wie in den Ziegelbrennereien können. Dies ist im Kontext von Art. XX des GATT- Pakistans, sei es unter den Bedingungen der Abkommens, das ein Importverbot von in Gefängnis- Zwangsarbeit in Exportindustrien wie dem Teppich- sen hergestellten Produkten vorsieht, durchaus mög- handel. Hier sind genug Beispiele bekannt. Ich lich. Ich frage Sie, Herr Blüm, ist die Schuldknecht- nenne nur Indien und Nepal. schaft von Kindern weniger schlimm als die Zwangs- arbeit in Gefängnissen? Notwendige Daten, zum Beispiel die Verteilung (Bundesminister Dr. Norbert Blüm: Nein!) der Kinderarbeit auf Jungen und Mädchen, fehlen in dem Bericht. Insbesondere Mädchen aber arbeiten In jedem Fall bedarf es aber flankierender Maß- in sogenannten unsichtbaren Arbeitsverhältnissen, nahmen der Entwicklungszusammenarbeit. Dazu zum Beispiel als Hausmädchen und im Dienstlei- gehören vorrangig die Rehabilitation und Bildungs- stungssektor. Dort werden sie mehrfach diskriminiert maßnahmen für die befreiten Kinder, aber ebenso und häufig sexuell ausgebeutet. Wir fordern deshalb, Aufklärung durch Öffentlichkeitsarbeit sowohl in daß die Analyse dieser Bedingungen einen vorrangi- den Produktions- wie auch in den Nachfrageländern. gen Stellenwert bekommt.

Konkrete Maßnahmen gegen die massive Ausbeu- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Frau Kollegin, tung, gegen physische und psychische Zerstörung Sie müssen zum Schluß kommen. Es tut mir leid. von Kindern können aber erst dann greifen, wenn die Bundesregierung in Zusammenarbeit mit den Dr. Angelika Köster-Loßack (BÜNDNIS 90/DIE Partnerländern weitreichende Entschuldungsmaß- GRÜNEN): Ich komme zum Schluß. - Wir bitten Sie: nahmen, sozialverträgliche Strukturanpassungspro- Unterstützen Sie unseren Antrag und lassen Sie uns gamme und die Einhaltung sozialer Mindeststan- gemeinsam über alle Fraktionen hinweg dafür ein- dards durchsetzt. Politische Priorität müssen positive treten, daß Kinderarbeit in ihren ausbeuterischen Anreize für jene Länder haben, die nachweisen, daß Formen, auch im Rahmen von Zwangsprostitution im ihre Produkte nicht von Kinderhand gefertigt wer- Sextourismusgeschäft, endlich wirksam bekämpft den. Das Präferenzsystem der Europäischen Union wird! ist ein solches Instrument. Im Zusammenhang mit den erfaßten Verstößen gegen die internationale Danke. Konvention zum Schutz des Kindes und gegen Über- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, einkommen der Internationalen Arbeitsorganisation bei der SPD und der PDS, sowie bei Abge- gegen Zwangsarbeit und für Mindestalter und ordneten der CDU/CSU) Arbeitsschutz für Kinder hat die von seiten der EU und der USA kürzlich ausgesprochene Warnung an Pakistan, diesen allgemeinen Präferenzstatus zu ver- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der lieren, zu heftigen Debatten in der Politik und in den Kollege Hildebrecht Braun, F.D.P. führenden Wirtschaftszeitungen des Landes geführt. Das nur dazu, daß solche Maßnahmen - natürlich auf Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Meine sehr gesetzlicher Grundlage - und politische Initiativen geehrten Damen und Herren! Als vor einem Jahr sehr wohl eine Resonanz finden, auch wenn das oft einige Wale vor Alaska zu verenden drohten, weil sie geleugnet wird. den Weg ins freie Meer hinaus nicht mehr fanden, ging eine Welle der Hilfsbereitschaft durch die Welt. Besondere Unterstützung verdienen unserer Mei- Millionen Menschen setzten sich für die arme Krea- nung nach positive Anreizsysteme, zum Beispiel die tur ein. Viele Millionen wurden aufgewandt, um eine Warenzeichenkampagne „Rugmark", die vorrangig Rettungsaktion zustande zu bringen. Das Fernsehen an unserem Verbraucher- und Verbraucherinnenver- war natürlich dabei. Einige Jahre früher fuhr der Prä- halten ansetzt. Hierbei handelt es sich um ein vor- sident des Deutschen Tierschutzbundes in ein süd- bildliches Beispiel dafür, wie nichtstaatliche Akteure ostasiatisches Land, um dort einige Hunde vor ihrem sinnvolle und wirksame Maßnahmen kreativ entwik- Schicksal zu retten, indem er sie mit nach Deutsch- keln und umsetzen können. Den Initiatoren in die- land brachte. „Bild" war dabei. Deutschland atmete sem Land von Terre des hommes über Brot für die auf. Welt bis hin zu Misereor und UNICEF-Deutschland gebührt dafür unser Dank und Respekt für ihre Lei- Aber eine Demo für geschundene Kinder in Peru, stungen. Bangladesch oder Thailand - bisher unbekannt. Woran mag es nur liegen, daß wir Menschen uns (Beifall im ganzen Hause) leichter für leidende Tiere engagieren als für unsere 7152 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996

Hildebrecht Braun (Augsburg) eigenen Artgenossen, insbesondere für Kinder? Es ist nen Land zu Hochleistungssportlerinnen getrimmt ja nicht neu, daß nach Schätzungen der IAO 20 bis werden. 30 Prozent aller Kinder in der Welt zwischen 6 und 15 Jahren in irgendeiner Form erwerbstätig sind. (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kindern wird die Chance für eine gesunde körper- liche, geistige und seelische Entwicklung genom- Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Herr Kollege men. Sie leiden in riesiger Zahl und in unbeschreibli- Braun, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- chem Maß: Kinder arbeiten in Kohleminen, in hoch- gen Bindig? gefährlichen Fabriken zur Herstellung von Streich- hölzern, in der Glasindustrie, in der Herstellung von Teppichen, aber auch als Prostituierte - statt in die Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Nein, ich Schule zu gehen, zu spielen, ihre menschlichen Anla- möchte gerne am Stück sprechen. gen zu entwickeln und sich auf das Leben als Die immens schwierigen Übungen an gar nicht Erwachsene in einer humanen Gesellschaft vorzube- kindgemäßen Turngeräten setzen jahrelange Ent- reiten. behrungen, allerschwerste körperlicher Arbeit und Wir in Deutschland haben ganz andere Sorgen. Verzicht auf wesentliche Elemente natürlicher und Wir sind dabei, im öffentlich-rechtlichen Fernsehen richtig genutzter Kindheit voraus. Psychischer Terror einen Kinderkanal einzurichten, der jährlich minde- von erfolgsgeilen Eltern zu Lasten unserer Kinder ist stens 100 Millionen DM erfordern wird. Das ist natür- allzuoft die Grundlage des Erfolgs später hochgefei- lich nötig - obwohl wir schon jetzt eine unglaubliche erter Stars in unserer eigenen Sensationsgesellschaft. Vielzahl von Fernsehprogrammen für Kinder auf Wer glaubt denn, daß ein 16jähriges Mädchen so allen Kanälen haben -, da das Recht der deutschen gut Schlittschuh laufen kann, daß es Meisterschafts- Kinder auf Rundumberieselung während der gesam- chancen in unserem Lande hat, ohne bereits im Kin- ten Wachzeit befriedigt werden muß. dergartenalter zu Leistungen gedrillt worden zu Wenn unser Land nur diesen Betrag statt für über- sein? Wer mag ermessen, welcher Streß bereits flüssige, zusätzliche Sendungen, die unseren Kin- einem kleinen Mädchen im Kindesalter abgefordert dern möglicherweise mehr schaden als nutzen, zur wurde, bevor es unter dem Beifall unseres ganzen Unterstützung von Aktionen gegen die Ursachen der Landes bis zum Platz eins der Weltrangliste im Ten- Kinderarbeit speziell in der Dritten Welt ausgeben nis aufsteigen konnte? würde, dann könnten wir möglicherweise ungezähl- Meine Damen und Herren, schon als Mitglied der ten Kindern zu einer Lebensperspektive, zu einer Kinderkommission des Deutschen Bundestages setze positiven Zukunft verhelfen. ich mich mit Nachdruck für alle Maßnahmen ein, die (Beifall bei der F.D.P., der SPD und der PDS) dem Ziel dienen, Kinderarbeit in der Welt einzudäm- men. Ich fordere aber auch den Bundestag auf, sich Wir werden in Deutschland sehr wohl das Ergebnis mit der Frage des Terrors gegenüber den sportlichen der Untersuchung verschiedener internationaler und musikalischen Wunderkindern im eigenen Land Organisationen zur Frage zu prüfen haben, ob wir auseinanderzusetzen. nicht doch durch unsere Handelspolitik Druck auf diejenigen Staaten ausüben sollten, die bisher nicht Das Elend der Ausbeutung der Kinder in der Welt bereit waren, in ihren Ländern für die Durchsetzung und in unserem Land erinnert uns mit Nachdruck an von sozialen Mindeststandards im Interesse der die zentrale Aufgabe, die uns das Grundgesetz in sei- Würde des Menschen zu sorgen, obwohl sie dies tun nen ersten beiden Sätzen mit auf den Weg gibt: könnten. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu (Rudolf Bindig [SPD]: Leider ist Ihr Wirt achten und zu schützen ist Verpflichtung aller schaftsminister doch dagegen!) staatlichen Gewalt. Ich erwarte, daß sich die Bundesrepublik Deutsch- (Rudolf Bindig [SPD]: Gute Einsicht, aber land wenigstens mit gleicher Intensität in internatio- Ihr Wirtschaftsminister macht doch nichts!) nalen Organisationen dafür stark macht, daß misera- Vielen Dank. ble Formen der Kinderarbeit bekämpft werden, wie sie sich für die Durchsetzung des Verbots der Tötung (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und von Walen einsetzt. dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Heinz Lanfermann [F.D.P.]: Warum schreit er Es ist allerdings nur allzu wohlfeil, heute auf Ent- dazwischen? - Rudolf Bindig [SPD]: Die wicklungsländer in Asien, Afrika und Lateinamerika Rede war sehr gut, aber der Wirtschaftsmi-- zu deuten und dort unbeschreibliche Mißstände im nister macht nichts!) Umgang mit Kindern anzuprangern. Ich glaube, wir haben allen Anlaß, uns intensiv mit der Frage zu beschäftigen, ob die Dinge in unserem eigenen Land Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Das Wort hat die in Ordnung sind. Wenn ich in die Gesichter von Kollegin Rosel Neuhäuser, PDS. 14jährigen Teilnehmerinnen bei Meisterschaften im Geräteturnen für Frauen sehe, dann signalisieren sie Rosel Neuhäuser (PDS): Herr Präsident! Meine mir, daß diese Kinder unter unbarmherzigen, ja unter Damen und Herren! Ein Zyniker könnte bemerken, unverantwortlichen Bedingungen in unserem eige- daß das heutige Thema gleich zwei strategische Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996 7153

Rosel Neuhäuser Nachteile hat: Weder Kinderpolitik noch Entwick- der Industrienationen einschließlich der Bundes- lungspolitik gehören zu den Themenbereichen, zu regierung. denen in diesem Haus tiefgründige Erörterungen Menschliche Betroffenheit angesichts des Elends üblich oder möglich sind, und das noch in von Millionen von Kinderarbeitern und Kinderarbei- 30 Minuten. terinnen ist verständlich. Eine Politik, die ihre Mög- Daß der Bericht der Bundesregierung eine ganze lichkeiten zur Bekämpfung dieses Elends nicht aus- Reihe von Unzulänglichkeiten aufweist, ist sowohl in schöpft, läßt sie zur Heuchelei verkommen. den Ausschußberatungen als auch in der heutigen (Beifall bei der PDS) Debatte deutlich geworden. Ich erwähne nur die Ausblendung des gesamten Themenbereichs Kinder- arbeit in Deutschland und die geschlechtsspezifische Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die Analyse der Kinderarbeit. Kollegen Marlies Pretzlaff, CDU/CSU. (Zuruf von der CDU/CSU: Da gibt es doch (CDU/CSU): Herr Präsident! eine Vereinbarung!) Marlies Pretzlaff Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte gehofft, Auffällig ist die Beharrlichkeit, mit der die Bundes- daß wir uns in dieser Debatte über den ersten Bericht regierung in diesen wie in den meisten anderen ent- der Bundesregierung über Kinderarbeit in der Welt, wicklungspolitischen Zusammenhängen die Benen- die kurz genug ist, bei allen kritischen Anmerkun- nung der eigentlichen Ursachen von Problemen ver- gen gemeinsam einigen könnten, zur Stärkung der meidet. Auch Kinderarbeit ist letzten Endes ein Sym- Bekämpfung der Kinderarbeit in der Welt beitragen ptom der Verarmung und Verelendung immer breite- zu wollen, zumindest Lösungsansätze miteinander zu rer Schichten der Bevölkerung in den Ländern des besprechen. Ich finde es bedauerlich, daß aus man- Trikont. Solange die Bundesregierung die weltwirt- chen Ecken dieses Hauses Töne laut wurden, die den schaftlichen Rahmenbedingungen aus einer Ursa- Schluß nahelegen, daß die Kinderarbeit doch wieder chenanalyse ausklammert und die Folgen von Ver- zu einem Streitthema parteitaktischer Spielchen schuldungskrise und Strukturanpassungsprogram- werde. Das finde ich sehr bedauerlich. men nicht zur Kenntnis nimmt, wird sie schwerlich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) realistische Vorstellungen zur Bekämpfung oder auch nur zur Eindämmung solcher Probleme wie der Das Problem der weltweit schätzungsweise 100 Kinderarbeit entwickeln - wenn dies überhaupt Millionen bis 200 Millionen Kinder, die zum Fami- beabsichtigt ist. lieneinkommen beitragen müssen und zeitweilig sogar einzige Erwerbsarbeiter ihrer Familie sind, An diesem Mangel an Problembewußtsein krankt müßte eigentlich uns alle aufrufen - wie dies im aber nicht nur der vorliegende Bericht der Bundesre- Bericht dargestellt ist -, noch intensiver aktiv zu wer- gierung, sondern auch die bundesdeutsche Entwick- den. Ich selbst bin in der Entwicklungshilfe tätig und lungspolitik als Ganzes. Daß nun ausgerechnet ent- möchte auf diesen Bereich jetzt ein wenig näher ein- wicklungspolitische Maßnahmen helfen sollen, Kin- gehen. derarbeit einzudämmen, spricht entweder für Blau- äugigkeit oder für Unverfrorenheit. Besorgniserregend ist vor allen Dingen die Ver- schiebung der Form von Kinderarbeit. Die Mitarbeit Natürlich kann im Rahmen entwicklungspoliti- von Kindern in der Familie ist in vielen Entwick- scher Projekte den betroffenen Kindern vor Ort und lungsländern durchaus eine Selbstverständlichkeit punktuell geholfen werden, solange das Geld reicht gewesen. Es ist jetzt aber, vor allem auch in den oder das Projekt dauert. Trotzdem verdienen sowohl Schwellenländern, eine rasante Entwicklung hin zu die Arbeit der Entwicklungshelfer als auch das viel- immer mehr Ausbeutung, zu Kinderhandel, sogar fältige Engagement von Initiativen der Nichtregie- zum Kinderverkauf und zur Versklavung von Kin rungsorganisationen und anderer jede nur mögliche -dern zu beobachten, vor allem in Großstädten und Unterstützung; denn oftmals sind sie die einzigen, Tourismuszentren. die überhaupt so etwas wie Hoffnung vermitteln kön- nen. Die wirtschaftliche Aufholjagd der Entwicklungs- länder, die verstärkte Exportorientierung, zunehmen- (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne der Wettbewerb und nicht zuletzt die Bevölkerungs- ten der SPD) explosion in den Ländern der Dritten Welt haben - das ist unwidersprochen - zu Veränderungen der Wenn es aber nicht beim Kampf gegen Windmüh- Arbeitsbedingungen, zu Landflucht, zu Abwande- len bleiben soll, bedarf es grundlegender Verände- rung, zu Vertreibung geführt und damit zu den uner- - rungen in den weltwirtschaftlichen Beziehungen träglichen Auswüchsen der Kinderarbeit bis hin zu und einer dauerhaften Lösung der Verschuldungs- kommerzieller Kinderprostitution beigetragen. krise. Die Impulse hierzu müssen vom Norden aus- Diese betrifft übrigens - ich denke an Sri Lanka - gehen. In den verschiedenen Debatten zur Schul- nicht nur Mädchen, sondern auch Jungen. Diese Pro- denproblematik in diesem Haus ist mehr als einmal bleme müssen wir unbedingt stärker ins Auge fas- deutlich geworden, daß der beliebte Vorwurf fehlen- sen, als wir es bisher getan haben. den politischen Willens bei der Bewältigung ent- wicklungspolitischer Probleme keineswegs nur den In diesen Zusammenhang paßt vielleicht der Hin- Regierungen der Länder der Dritten Welt zu machen weis auf die Initiative des Justizministeriums Ende ist, sondern ebenso den verantwortlichen Politikern des letzten Jahres, in dessen Zuge ein Symposium 7154 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996

Marlies Pretzlaff mit dem Ziel besserer länderübergreifender Strafver- Ich finde, es darf gar keinen Zweifel geben, daß es folgung im Bereich der Kinderprostitution durchge- in diesem Hohen Haus niemand gibt, der Kinderar- führt wurde. Denn leider sind wir Deutschen auch beit befürwortet. Weltmeister im Kindersextourismus. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Hauptursache der Kinderarbeit ist und bleibt die Es ist doch für die Öffentlichkeit ungeheuer viel - - absolute Armut und Verschuldung vieler Familien in der Dritten Welt. Aber wir sollten auch nicht überse- (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Was soll das?) hen, daß als Motivation auch zunehmender Wohl- - Ja, ja. Ihr könnt versuchen, noch ein bißchen partei- stand und wachsende Konsumwünsche immer mehr politische Pluspunkte zu sammeln. Das ist viel zu in den Vordergrund treten können. Leider müssen klein. wir erkennen, daß wir, die Industriestaaten, manche Entwicklung mitzuverantworten haben, daß welt- Es ist ungeheuer wichtig: Dieser Bundestag springt wirtschaftliche Rahmenbedingungen, Strukturanpas- einmal über alle kleinen Schatten und sagt gemein- sungsprogramme - darauf wurde schon hingewie- sam, Kinderarbeit ist eine Schande für die zivilisierte sen - und gutgemeinte Entwicklungshilfemaßnah- Menschheit, ohne Abstriche. men der Vergangenheit in vielen Ländern weder die weitere Verarmung großer Bevölkerungsteile verhin- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der dern konnten noch zur Durchsetzung höherer Sozial- SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) standards, zu besseren Bildungschancen oder zum Dabei ist das Wort Kinderarbeit eher verniedli- Abbau von Menschenrechtsverletzungen überall auf chend. Da stellen sich manche ein bißchen Nebenbe- der Welt führten. schäftigung für Kinder vor, ein bißchen Ablenkung durch Arbeit. Dabei ist Kinderarbeit die klassische Trotz der im Bericht angesprochenen vielen Kon- Form von Ausbeutung. ventionen, Übereinkommen, Schutzbestimmungen, die in vielen Ländern der Dritten Welt durchaus Ich selber wußte gar nicht, daß es noch Sklaverei Gesetzeslage sind, trotz zum Teil noch fehlender auf der Welt gibt. Ich dachte, das gehöre vergange- Ratifizierungen in einigen Ländern ist es uns Indu- nen Zeiten an. Bei Kindern gibt es sie noch. Sie hat strienationen allein nicht möglich, wirkliche Abhilfe nur den etwas beschönigenden Namen Schuld- der Kinderarbeit zu schaffen. Wir sind auf die Mit- knechtschaft. Man muß einmal in der Wohlstandsge- hilfe der Länder angewiesen. Wenn sie nicht bereit sellschaft verkünden, daß Sklaverei auf der Erde sind, uns ihre Mithilfe bei der Umsetzung von mehr nicht ausgestorben ist, daß Millionen von Kindern Kinderrechten zu geben, wenn sie Eigeninitiative wie Sklaven gehalten werden, daß ihre Eltern sie ver- verweigern, wenn schulische Alternativen fehlen, kaufen, daß Kinder als Pfand eingesetzt werden, daß wenn wirksame Kontrolle zum Teil bewußt unterlau- ihre Eltern in die Schulden getrieben werden, die sie fen wird, werden unsere Bemühungen auch weiter- nicht anders abbezahlen können als durch Verkau- hin nur ein kleines Bausteinchen, wie vorhin gesagt fen der Kinder. Gegen einen solchen Skandal gibt es wurde, sein können. keinen F.D.P.-, CDU-, CSU-, Grüne- oder Protest der Roten, da gibt es nur einen Protest der zivilisierten Menschheit. Das finde ich ganz wichtig. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Frau Kollegin, ich muß Sie auf die Zeit hinweisen. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 200 Millionen - ich lasse mich auch auf die statisti- Marlies Pretzlaff (CDU/CSU): Leider ist die schen Diskussionen nicht ein. Ich weiß nur - der Kol- Debatte zu kurz. lege Meckelburg hat es gesagt -, es ist ein Teufels- Vielleicht einen letzten Satz: Lassen Sie uns diese kreis. Insofern hat der Kampf gegen Kinderarbeit erste Debatte zur Kinderarbeit in der Welt als Ein- geradezu eine Schlüsselstellung im Kampf für Ent- stieg nehmen, der möglicherweise gute Folgen wicklung. Weil die Kinder zur Arbeit gezwungen haben wird. werden, gehen sie nicht in die Schule. Weil sie nicht in die Schule gehen, sind sie als Erwachsene nicht Danke. ausgebildet. Weil sie nicht ausgebildet sind, haben sie keine Arbeitsmöglichkeit. Deshalb müssen deren (Beifall im ganzen Hause) Kinder wieder in die Kinderarbeit gehen, um den arbeitslosen Vater und die arbeitslose Mutter zu ernähren. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der Herr Bundesminister Norbert Blüm. Ein Stück Schizophrenie: 800 Millionen Menschen in der Dritten Welt ohne Arbeit und 200 Millionen Kinder zur Arbeit gezwungen. Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Präsident! Meine Damen und (Rosel Neuhäuser [PDS]: Warum?) Herren! Ich habe überhaupt keine Lust, heute auf Die schändlichen Beispiele sind schon genannt wor- das übliche Spiel zwischen Regierung und Opposi- den. tion einzugehen; wirklich nicht. Das ist kleine Münze. „Heuchelei" - ich meine, dies ist nicht der Ich weiß, es gibt eine große, auch ideologische Dis- Tag, an dem man eine Debatte so führt. kussion - ich habe sie sogar vor Ort erlebt - zur Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996 7155

Bundesminister Dr. Norbert Blüm Frage: Erst verbieten oder erst helfen? Da wird Drittens. Die Marktwirtschaft ist nicht ganz wehr- gesagt: Erst muß geholfen werden, und dann kann los gegen Kinderarbeit. Das Grundgesetz der Markt- man verbieten. Ich glaube, daß das eine mehr akade- wirtschaft heißt: Der Kunde ist König. Ich frage mich: mische Diskussion ist. Man muß beides gleichzeitig Ist der Kunde eigentlich nur ein Geldzähler, oder hat tun. er auch moralische Verantwortung? Wenn man nur verbietet, so ist das, finde ich, der Es ist ja nicht so ganz erfolglos gewesen: Es trägt bequeme Weg der Wohlstandsgesellschaft. Wir ver- heute niemand mehr Elfenbeinschmuck, weil es uns bieten es, haben ein gutes Gewissen, Ende! Nein, offenbar gelungen ist, die Ausrottung der Elefanten man muß auch helfen. zu diskrimieren. Es trägt heute niemand mehr ein Tigerfell als Mantel. Elefanten sind schön und lie- (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Was?) benswert, Tiger sind schön und liebenswert - noch liebenswerter sind Kinder. - Ja, wir machen es. Sie können sagen: zu beschei- den; aber wir machen es. Es ist dumm, daß ich das Deshalb finde ich: Laßt es uns nicht so allgemein jetzt auf Grund dieses Zwischenrufs sagen muß. Wir sagen. Ich unterstütze von diesem Rednerpult aus haben es in der ILO gegen manchen Widerstand „Rugmark", jene Kennzeichnung von Teppichen aus durchgesetzt, im übrigen sogar gegen den Wider- Indien, der sich die Händlerorganisationen ange- stand der Länder, in denen Kinderarbeit geschieht, schlossen haben. die sich von uns sogar so bedrängt fühlen, daß sie auf Hilfsprojekte verzichten wollen. Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Gestatten Sie Ich glaube, man muß helfen; denn das Verbot ist eine Zwischenfrage, Herr Minister? wirklich der bequeme Weg. Allerdings bleibe ich dabei, daß auch verboten werden muß. Es gibt ja Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Leute, die sind für eine Übergangslösung. Wie soll Sozialordnung: Ja, bitte schön. denn eine Übergangslösung bei der Schuldknecht- schaft aussehen? Soll es vielleicht einen sklaven- (Langenfeld) (BÜNDNIS 90/DIE freien Tag geben oder wie? Wolfgang Schmitt GRÜNEN): Herr Minister, es ehrt Sie, daß Sie auch Wie soll die Übergangslösung bei Kinderarbeit im vom Rednerpult des Deutschen Bundestages so Bergbau aussehen? Sollen die Stollen statt 90 Zen- vehement für die von, so glaube ich, großen Teilen timeter 1,20 Meter hoch sein, damit auch ein paar des Deutschen Bundestages unterstützte Initiative ältere Kinder durchkommen? Da gibt es nur Verbie- „Rugmark" eintreten. Ich frage Sie: Tun Sie das nur ten. als Minister Blüm, oder sprechen Sie auch für die gesamte Bundesregierung einschließlich des Bun- Im übrigen ein Hinweis auch auf unsere Sozialge- deswirtschaftsministeriums? schichte. Dieselbe Diskussion darüber, ob sich erst (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die allgemeinen Verhältnisse verbessern müßten und dann die Kinderarbeit verboten werden könnte oder ob erst die Kinderarbeit verboten werden müßte und Dr. Norbe rt Blüm, Bundesminister für Arbeit und sich dann die allgemeinen Verhältnisse verbessern Sozialordnung: Davon gehe ich aus, weil auch das würden, wurde im 19. Jahrhundert hier auch geführt; Bundeswirtschaftsministerium die dortige Initiative absolut die gleiche Diskussion. unterstützt hat. Der Hauptinitiator kommt im übrigen aus dem auswärtigen Dienst, hat Kammererfahrung. Nur war es damit bei uns ganz schnell zu Ende, als Ich gehe also von dieser Selbstverständlichkeit aus, die Militärs feststellten, daß sie keine gesunden zumal es ja ordnungspolitisch ganz sauber ist. Ich Rekruten mehr hatten. Da war es plötzlich möglich. will aber jetzt keine Ironie. 20 Jahre lang wurde darüber gestritten, ob es ein Verbot geben kann. Als die Militärs sagten, sie hät- Es ist marktwirtschaftlich: Der Kunde hat Sanktio- ten keine gesunden Rekruten mehr, ging es plötzlich. nen in der Hand. Deshalb sehe ich für diese „Rug- Aus dieser Erfahrung sage ich: Es muß beides mark" -Initiative nicht nur die Unterstützung von geschehen, Verbot und Hilfe. Blüm - das wäre viel zu wenig -, sondern die der Bundesregierung und, wie ich hoffe, des ganzen Wir brauchen dazu erstens ein öffentliches Deutschen Bundestages. Bewußtsein. Dazu soll diese Debatte auch beitragen. Ich glaube, die Problematik ist nicht in den Köpfen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der Menschen. Ich gehöre zu denen, die sagen: Ich kenne auch die Einwände: Wird es denn eine Bevor etwas nicht in den Herzen und Köpfen der Kontrolle geben? Ich glaube, daß Kontrolle auch Menschen ist, bewegt sich gar nichts. darin besteht, daß die, die drin sind, darauf achten, daß ihr Gütesiegel nicht von anderen mißbraucht Zweitens brauchen wir internationale Solidarität. wird. Da hatten wir den Weltsozialgipfel. Unser spezifi- scher Beitrag war der Kampf gegen Kinderarbeit. Die Ich meine auch, es ist notwendig, daß man sich allgemeine Betroffenheit über das Elend der Welt ist nicht nur mit Teppichen begnügt. Doch ich gehöre viel zu abstrakt und hat eher einen Beruhigungscha- als alter Sozialpolitiker zu den Anhängern der Theo- rakter. Man muß das Elend beim Namen nennen, rie: Ich warte nicht, bis alles möglich ist, ich mache und am schlimmsten sind die Kinder dran. das Mögliche heute. Das ist, wie ich zugebe, ein 7156 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996

Bundesminister Dr. Norbert Blüm bescheidener, ein ganz bescheidener Beitrag. Aber - Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 14 a bis dieser Satz ist hier schon gesagt worden - besser ein 14c auf: Schritt als gar keiner. Das darf kein Schritt sein, nach a) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- dem wir uns wieder beruhigen. brachten Entwurfs eines Strafverfahrens- Vielleicht trägt diese Debatte aber auch dazu bei - änderungsgesetzes 1994 (StVÄG 1994) das wäre ein ganz bescheidener Beitrag -, Teppich- - Drucksache 13/194 - käufer darauf aufmerksam zu machen, sich den Tep- Überweisungsvorschlag: pich vorher ganz genau anzusehen. Ich wünsche Rechtsausschuß (federführend) allen auf einem Teppich, der durch Kinderhand her- Innenausschuß gestellt, mit der Gesundheit von Kindern bezahlt ist, ungemütliche Stunden. Niemand sollte darauf mit b) Erste Beratung des von der Bundesregierung gutem Gewissen auch nur ein Glas Sekt trinken dür- eingebrachten Entwurfs eines ... Strafver- fen. Das wäre ein Beitrag. fahrensänderungsgesetzes - DNA-Analyse („genetischer Fingerabdruck") - (. . . StVÄG) (Widerspruch der Abg. Dr. Ruth Fuchs - Drucksache 13/667 - [PDS]) Überweisungsvorschlag: - Doch, ich selbst habe das bei diesen Ländern Rechtsausschuß (federführend) Innenausschuß erlebt. Es gibt die großen Ideologen, die sagen: Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Zuerst muß sich das System ändern, dann können Ausschuß für Gesundheit wir auch die Kinderarbeit bekämpfen. Bis zu einer Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Systemänderung müssen noch sehr viele Kinder blu- Technologie und Technikfolgenabschätzung ten und verhungern. c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ich selbst bin ja für die Beseitigung von Systemun- Dr. Jürgen Meyer (Ulm), Dr. Herta Däubler- gerechtigkeiten. Wir können aber nicht auf die große Gmelin, Hermann Bachmaier, weiteren Ab- Lösung warten. Wir dürfen nicht ein Kind verhun- geodneten und der Fraktion der SPD ein- gern lassen, nur weil wir auf die große ideologische gebrachten Entwurfs eines ... Strafverfah- Systemänderung warten. Es muß beides geschehen: rensänderungsgesetzes - Genetischer Finger- Es muß geholfen und verboten werden; es müssen abdruck - (... StVÄG) auch Systeme verbessert werden. - Drucksache 13/3116 - Überweisungsvorschlag: Die Welt kommt aber nur mit kleinen Schritten vor- Rechtsausschuß (federführend) wärts. Wenn es uns gelänge, erstens das Bewußtsein Innenausschuß dafür zu stärken, daß dies eine Schande ist, und Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zweitens den marktwirtschaftlich handelnden Kun- Ausschuß für Gesundheit den an seine Pflicht zu erinnern, nicht nur Preise zu Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung vergleichen, sondern sich auch zu fragen, ob die Ware, die er kauft, mit Ausbeutung verbunden ist, Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die wäre das schon gut. gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und so beschlossen dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kol- lege Dr. Dietrich Mahlo, CDU/CSU.

Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Ich schließe die Aussprache, Dr. Dietrich Mahlo (CDU/CSU): Herr Präsident! Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluß- Meine lieben Kollegen! Die Debatte erfolgt zu etwas empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozial- später Stunde. Das Gesetz ist gleichwohl wichtig, ordnung zu dem Bericht der Bundesregierung über aber nicht von öffentlichem Interesse. Kinderarbeit in der Welt. Es handelt sich um die Der Auslöser für unser heutiges Debattenthema ist, Drucksachen 13/1079 und 13/1857. Wer stimmt für wie Sie alle wissen, ein Urteil des Bundesverfas- diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal- sungsgerichts aus dem Jahre 1983, welches klarge- tungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stim- stellt hat, daß das allgemeine Persönlichkeitsrecht in men der Koalitionsfraktionen, des Bündnisses 90/Die Art. 1 des Grundgesetzes den Schutz des einzelnen Grünen und der SPD bei Stimmenthaltung der gegen unbegrenzte Erhebung und Verwendung sei- Gruppe der PDS angenommen. ner persönlichen Daten umfaßt und daß Einschrän- kungen dieses Rechts nur bei überwiegendem allge- Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag meinen Interesse zulässig sind und einer gesetzli- der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache chen Grundlage bedürfen. Um diese gesetzliche 13/3522 zur federführenden Beratung an den Aus- Grundlage geht es heute zunächst. schuß für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitbera- tung an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusam- Der zweite Gesichtspunkt, der im Auge zu behal- menarbeit und Entwicklung zu überweisen. Sind Sie ten ist, ist die Tatsache, daß uns das Strafverfahrens- damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die änderungsgesetz bereits seit über sechs Jahren Überweisung so beschlossen. beschäftigt, ohne daß bisher eine Einigung gelun- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996 7157

Dr. Dietrich Mahlo gen, und daß die vom Bundesverfassungsgericht ein- notwendig ist. Wenn schon die Hilfsbeamten der geräumte Übergangsfrist allmählich als abgelaufen Staatsanwaltschaft nicht tätig werden können, dann oder demnächst auslaufend anzusehen ist. Dadurch doch wenigstens die Staatsanwaltschaft selbst. besteht die Gefahr, daß die Rechtsprechung die auto- matisierte Datenverarbeitung der Staatsanwaltschaft Das dieser gegenüber oft zum Ausdruck gebrachte wegen Fehlens einer gesetzlichen Grundlage für Mißtrauen ist nicht gerechtfertigt. Der Staatsanwalt nicht mehr zulässig erklärt und damit die Funktions- ist ausgebildet wie ein Richter und kann nicht als fähigkeit der Strafverfolgung akut in Frage gestellt Bösewicht vom Dienst gelten. Die letzten fünfzig ist. Ich darf daher gleich an alle appellieren, sich die- Jahre deutscher Justizgeschichte kennen meines ser Brisanz bewußt zu sein und zu einer schnellen Wissens keinen einzigen Willkürakt der Staatsan- Beschlußfassung und Gesetzgebung beizutragen. waltschaft. Die Prüfungsmuster der Staatsanwalt- schaft sind mit denen des Richters identisch mit der Der dritte Gesichtspunkt, den wir meines Erach- Einschränkung, daß der eine die Antragskompetenz tens keinen Augenblick aus dem Auge verlieren dür- und der andere die Entscheidungskompetenz hat. fen, ist die Tatsache, daß unser Staat und unsere Fehler machen alle, offenbar auch Richter; denn Gesellschaft durch die organisierte Kriminalität in gegen diese eingelegte Rechtsmittel haben nicht sel- einer Weise herausgeforde rt wird, die an Technik, ten Erfolg. Ein besonderes Mißtrauen aber gegen Organisation, Kapitaleinsatz und Brutalität all das in eine eigenständige Rolle der Staatsanwaltschaft den Schatten stellt, was diesem Lande vorher scheint mir nicht angemessen. bekannt war. Zweitens. Problematisch erscheint mir weiter die In Deutschland finden täglich über 500 komplette Absicht, eine Rechtsmittelmöglichkeit bei der Versa- Ausräumungen von Wohnungen statt. Die Euro- gung von Akteneinsicht zu schaffen. Schon heute ist cheque-Kriminalität liegt bei jährlich 70 Milli- es Praxis, daß die Staatsanwaltschaft eine abschlä- onen DM, die der organisierten Kriminalität bei gige Antwort genau begründen muß. Wenn die Akten- 4,5 Milliarden DM. In Italien wird allein der Gewinn einsicht zu Unrecht verweigert wird, kann der der Mafia pro Jahr auf 30 Milliarden US-Dollar und Rechtsanwalt das genau überprüfen; denn er der Umfang der erpreßten Schutzgelder auf bekommt die Akte ja hinterher. Gegebenenfalls gibt 40 Milliarden DM geschätzt, während amerikanische es die Dienstaufsichtsbeschwerde, die für den Staats- Sicherheitsexperten den Umfang des Bruttoeinkom- anwalt unangenehm genug ist. mens aus organisiertem Verbrechen in den USA auf 1 Prozent des dortigen Bruttosozialprodukts, das Eine neu einzurichtende Möglichkeit der Anfech- heißt auf 50 Milliarden Dollar bzw. auf einen Verlust tung der Versagung von Akteneinsicht ist problema- von 400 000 Arbeitsplätzen, einschätzen. tisch. Dies führt mit Sicherheit laufend zu Streit zwi- schen Staatsanwaltschaft und Richter, ob der Unter- In Zeiten, in denen wir mit Personalvermehrung suchungszweck gefährdet ist und, wenn ja, b die nicht rechnen können, vielmehr Personalreduzierun- Offenlegung der Gründe hierfür ihrerseits eine gen hinnehmen müssen, gibt es eine ganz besondere Gefährdung darstellt. Verantwortung für die Wahrung der Effizienz der Strafverfolgung. Es geht darum, in einer vorsichtigen Das gleiche gilt für den vom BMJ vorgesehenen Abwägung einerseits rechtsstaatliche Bedingungen Abs. 7, wonach auch der Beschuldigte ohne Anwalt wie rechtliches Gehör, justizförmiges Strafverfahren, vorab Auskünfte und Abschriften erhalten kann. Der Belange des Datenschutzes und des Rechts auf infor- ordnungsgemäße Umgang mit den Kopien ist nicht mationelle Selbstbestimmung zu sichern, aber die- gewährleistet. Die Vorschrift würde zu einem enor- sem Staat andererseits auch die Instrumente zu las- men Arbeitsaufwand führen, weil in jedem Einzelfall sen, die er braucht, um im Kampf gegen das organi- das schutzwürdige Interesse Dritter, das der Heraus- sierte Verbrechen zu bestehen. gabe von Kopien entgegenstehen könnte, zu prüfen ist. Die Angst der Menschen vor solchen Verbrechen ist mindestens so groß wie die Furcht vor einer Ver- Das alles wären paradiesische Verhältnisse für letzung der informationellen Selbstbestimmung. Das Querulanten, die auch unter Strafgefangenen vor- Problem unserer Zeit ist nicht, daß der deutsche Staat kommen sollen. All dies ist geeignet, die Staatsan- eine latente Gefahr darstellt, einzelne Individuen waltschaft von den eigentlichen Aufgaben abzuhal- plattzumachen, sondern umgekehrt, daß moderne ten. Wenn der Dezernent gar im Urlaub oder krank Formen des Verbrechens sich die Gesellschaft zur ist, muß die Vertretung ganze Akten durchwühlen, Beute zu machen drohen. um entscheiden zu können, in welchem Umfang sie herausgegeben werden dürfen und in welchem Die erste Lesung des Gesetzes ist nicht der Ort für Umfang nicht. Man muß wissen, daß allein in Berlin Detaildiskussionen. Wir erledigen das im Ausschuß. im Jahr etwa 600 000 Straftaten begangen werden, Ich beschränke mich daher nur auf wenige Bemer- auch wenn nicht über jede von ihnen eine Akte kungen zu Einzelpunkten. angelegt wird. Wer soll die Kopien zahlen? Das Gerichtsmarkensystem würde zusätzlich bürokra- Erstens. Bei den vom Bundesministerium der Justiz tischen Aufwand verursachen. vorgesehenen Regelungen über die Ausschreibung zur Festnahme und über die Öffentlichkeitsfahndung Drittens. Auch die Statuierung des Verhältnismä- wird im wesentlichen die geltende Rechtspraxis fest- ßigkeitsgrundsatzes im Ermittlungsverfahren ist geschrieben. Fraglich ist allerdings, ob der in § 131 e problematisch. Es sollte das Legalitätsprinzip unein- StPO neu vorgesehene Richtervorbehalt wirklich geschränkt gelten. Aufklärung ist geboten, und zwar 7158 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996

Dr. Dietrich Mahlo mit allen Mitteln. Die Einführung des Verhältnismä- Gerichte, die sich dieser Methode bedienten, näm- ßigkeitsprinzips würde zum Beispiel bedeuten, daß lich die Landgerichte Berlin und Darmstadt, das Spu- bei Bagatellkriminalität keine Durchsuchung mehr renmaterial zur Durchführung der Analyse nach angeordnet werden könnte. Wird ein Dieb erwischt, England geschickt haben. ist jedoch die Durchsuchung seiner Wohnung in der Regel geboten, da dort häufig weiteres Diebesgut zu Deshalb stützt sich auch der von der SPD-Bundes- finden ist. Bei stärkeren Eingriffen, etwa bei Überwa- tagsfraktion erstmals 1992 und erneut 1995 einge- chung des Fernmeldeverkehrs und bei Einsatz ver- brachte Gesetzentwurf auf eine rechtsvergleichende deckter Ermittler, ist das Übermaßverbot bereits Untersuchung unter Einbeziehung der Erfahrungen heute im Gesetz vorgesehen. Es darf aber nicht dazu in Großbritannien, die auf meine Anregung im Frei- kommen, daß der allgemeine Erosionsprozeß bei burger Max-Planck-Institut für ausländisches und Kleinkriminalität, Entkriminalisierung genannt, jetzt internationales Strafrecht durchgeführt und 1993 von auch von seiten des Verfahrensrechts her unterstützt Birgit Klumpe veröffentlicht worden ist. Der Vollstän- wird. digkeit halber sei erwähnt, daß es zum Zeitpunkt unserer Gesetzesinitiative im Jahre 1992 immerhin Meine Damen und Herren, dies waren nur einige auch einen Diskussionsentwurf des Bundesjustizmi- Bemerkungen zu einem wichtigen Gesetz. Denken nisteriums gegeben hat. wir bei allem, was wir tun, daran, daß ein schwacher Rechtsstaat, der sich gegen die Verbrechen nicht Warum also bedarf der genetische Fingerabdruck mehr adäquat wehrt oder resigniert, für den einzel- dringend einer gesetzlichen Regelung? Die Untersu- nen Bürger eine ebenso große Bedrohung ist wie der chung des menschlichen Erbmaterials ist ein tiefer übermächtige Staat. Eingriff in die Persönlichkeitsrechte, für die nicht Vielen Dank. zuletzt das 1983 vom Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil entwickelte Grundrecht auf (Beifall bei der CDU/CSU) informationelle Selbstbestimmung gilt. Für derartige Eingriffe bedarf es einer gesetzlichen Grundlage. Diese fehlt bisher. Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Das Wort hat der Kollege Professor Jürgen Meyer, SPD, Zu Unrecht verweist die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf pauschal auf §§ 81 a und 81 c StPO; Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (SPD): Herr Präsident! denn diese decken nur den Eingriff in die körperli- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der geneti- che Integrität durch die Entnahme von Körperzellen. sche Fingerabdruck - in diesem Punkt stimme ich Der entscheidende zweite Schritt, nämlich die Unter- mit dem Kollegen Dr. Mahlo überein - bedarf drin- suchung des menschlichen Erbmaterials durch die gend einer gesetzlichen Regelung. 1987 erstmals in sogenannte Genomanalyse, bedarf noch einer aus- England angewandt, ist er inzwischen als moderne drücklichen gesetzlichen Regelung. Das gilt um so Methode zur Gewinnung von Sachbeweisen und mehr, als mit fortschreitender technischer Entwick- zur Überführung von Straftätern auch in Deutsch- lung nicht nur die Identität und Abstammung, son- land weitgehend anerkannt. dern durch Untersuchung der kodierenden Teile des Gegenstand der Spurenuntersuchung ist ein Rie- Spurenmaterials auch Gendefekte wie Erbkrankhei- senmolekül, welches das gesamte Erbmaterial eines ten oder gar bestimmte Charaktereigenschaften fest- Menschen enthält und in jeder kernhaltigen Körper- gestellt werden könnten. Wir sind der Auffassung, zelle zu finden ist. Durch die Untersuchung läßt sich daß der Gesetzgeber das erlaubte Ziel der Genom- nachweisen, ob am Tatort gefundenes Spurenmate- analyse eindeutig bestimmen und verfassungskon- rial wie Haare, Blut, Hautpartikel oder Sperma vom form einschränken sollte. Tatverdächtigen stammt. Das von dem Engländer Übrigens, Herr Kollege Dr. Mahlo, der Grundsatz Alec Jeffrey entwickelte Verfahren dient seit über der Verhältnismäßigkeit gilt ohnehin im Strafverfah- zehn Jahren auch zur Klärung von Abstammungsfra- ren, ob man ihn ausdrücklich nennt oder nicht. gen. Weltweit bekannt wurde der genetische Fingerab- (Dr. Dietrich Mahlo [CDU/CSU]: Im Ermitt- druck durch den Fall Pitchfork, den Fall eines lungsverfahren nicht!) Beschuldigten, der mit diesem Verfahren der Verge- waltigung und Ermordung von zwei jungen Mäd- - Er gilt auch im Ermittlungsverfahren. chen in den Jahren 1983 und 1986 in Leicestershire Die gesetzliche Regelung muß die verfassungs- überführt werden konnte. Die Polizei hatte 5 511 beachten Männer, die zur Tatzeit in jener Gegend wohnten, rechtlichen Vorgaben des Datenschutzes und durchsetzen. Sie kann sich also nicht darauf aufgefordert, sich zur Blutprobe zur Verfügung zu beschränken, eine Praxis, die sich inzwischen ent- stellen. Unter ihnen war auch Colin Pitchfork, der wickelt hat, ohne nähere Prüfung zu legitimieren. zunächst einen Arbeitskollegen für 200 Pfund mit fal- Das ist die Hauptschwäche des vorliegenden Bun- schem Ausweis zur Blutabnahme geschickt, sich desratsentwurfs, der allen Ernstes meint, die mögli- dann aber selbst zur Verfügung gestellt hatte. cherweise über das Schicksal des Angeklagten ent- Warum erwähne ich diese Vorgeschichte? Sie scheidenden Untersuchungen könnten von Sachver- macht deutlich, daß es die größten Erfahrungen mit ständigen durchgeführt werden, die der ermittlungs- dem genetischen Fingerabdruck in England gibt. So führenden Behörde angehören. Gemeint sind offen- war es nur konsequent, daß die ersten deutschen bar die Landeskriminalämter. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996 7159 Dr. Jürgen Meyer (Ulm) Mit Recht fordert auch der Bundesbeauftragte für materials von Tausenden von Personen aus der den Datenschutz, daß Strafverfolgung und DNA- Region des Tatortes ohne den sonst im Strafverfahren Analyse funktionell getrennt werden müssen, um erforderlichen einfachen oder dringenden Tatver- Mißbrauchsgefahren einzudämmen. Mehr Einsicht dacht möglich sein? Auch dies werden wir näher prü- zeigt hier schon die Bundesregierung, die immerhin fen müssen. fordert, daß die Forschungsabteilung des Kriminal- amtes von der ermittlungsführenden Organisations- Viertens. Wie steht es um die Zweckbestimmung einheit zumindest abgeschottet sein sollte. der im Strafprozeß gewonnenen Daten? Sollen diese allen Ernstes entsprechend dem Vorschlag der Bun- Ich finde es übrigens befremdlich, daß der Bundes- desregierung nicht nur für andere Strafverfahren, rat seinen unter anderem in diesem wichtigen Punkt sondern auch für Zivilverfahren verwandt werden abweichenden Gesetzentwurf in der heutigen können? Debatte anscheinend nicht vertreten will. Ich hätte es gut gefunden, wenn wir eine Debatte über den Ent- Fünftens. Eine dringend regelungsbedürftige wurf des Bundesrates und eine Begründung durch Frage ist auch die Vernichtung des gewonnenen den Bundesrat hätten hören können. Datenmaterials. Sollten die gewonnenen Untersu- chungsergebnisse nicht ausnahmslos entsprechend (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Das ist ein altes Pro unserem Vorschlag bei Wegfall des Tatverdachts blem!) ebenso vernichtet werden wie das untersuchte Spu- Alle drei Entwürfe sprechen eine Vielzahl von Pro- renmaterial selbst? Der Entwurf der Bundesregie- blemen mit unterschiedlichen Lösungsvorschlägen rung sagt nichts zum Verbleib der Ergebnisse und an. Ich will beispielhaft nur acht Punkte nennen, zur eventuellen Vernichtung des erstellten Gutach- aber bereits jetzt feststellen, daß überzeugende tens. Lösungen nur auf der Grundlage einer Sachverstän- Sechstens. Wie steht es um den Schutz der Opfer digenanhörung zu finden sein werden, die zumin- von Straftaten vor Untersuchungen, die nichts brin- dest die Mitglieder des federführenden Rechtsaus- gen und deshalb als weitere Schikane empfunden schusses und der mitberatenden Ausschüsse mit der werden könnten? Sollte im Zeitpunkt der Anordnung außerordentlich komplexen Materie vertraut macht. einer Untersuchung nicht bereits - entsprechend Erstens. Während SPD und zumindest ursprüng- dem Vorschlag der SPD - zumindest Vergleichsmate- lich die Bundesregierung die ausschließliche Anord- rial eines Tatverdächtigen vorhanden sein? nung der Genomanalyse durch einen Richter vor- Siebtens. Mit der Bundesregierung fordern wir die schlagen, möchte der Bundesrat den Richtervorbe- Überwachung des Verfahrens durch die Daten- halt durch eine Eilzuständigkeit der Staatsanwalt- schutzbeauftragten. Der Streichungsvorschlag des schaft relativieren. Der Kollege Dr. Mahlo scheint Bundesrates - es tut mir leid, dies so deutlich feststel- dem folgen zu wollen. len zu können - belegt insoweit ein weniger entwik- Hier wird möglicherweise die erste Stufe der Siche- keltes Problembewußtsein. rung des Spurenmaterials, bei der Eile geboten sein Und schließlich achtens. Wer den Datenschutz kann, nicht deutlich genug von der zweiten Stufe, ernstnimmt, sollte unserem Vorschlag folgen, die der Genomanalyse, getrennt. Uns ist jedenfalls kein unbefugte Weitergabe von genetischen Daten durch einziger Fall bekannt, bei dem die Analyse so rasch eine Erweiterung von § 203 Strafgesetzbuch zu pöna- angeordnet werden mußte, daß für die zu treffende lisieren. Der Schutz dieser besonders empfindlichen Entscheidung ein Richter nicht aufzufinden war. In Daten sollte auch strafrechtlich gewährleistet wer- aller Regel kann das Spurenmaterial auch nach län- den. gerer Zeit noch problemlos analysiert werden. Die in (Vorsitz : Vizepräsident Hans Klein) der Praxis gelegentlich festzustellende allzu voreilige Annahme von Eilbedürftigkeit darf nach unserer Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, Auffassung nicht dazu führen, den Richtervorbehalt die wenigen Hinweise, die ich ohne Ausschöpfung zu unterlaufen oder den zuständigen Richter bei meiner Redezeit vorgetragen habe, zeigen: Wir bera- einer nach einigen Tagen erforderlichen Bestätigung ten heute drei Gesetzentwürfe in erster Lesung, die vor vollendete Tatsachen zu stellen. zumindest teilweise deutlich unterschiedliche Vor- schläge für die Regelung des genetischen Fingerab- Zweitens. Mit dem Bundesrat ist meine Fraktion drucks machen. Erfreulich ist, daß die überfällige der Auffassung, daß sich die strafprozessuale Unter- Entscheidung durch den Gesetzgeber heute einen suchung nicht auf Bereiche erstrecken darf, die Auf- Schritt näherrückt, aber gefunden haben wir die Ent- schluß über Erbanlagen des Betroffenen geben kön- scheidung noch nicht. nen. Das kann nicht Sache des Strafverfahrens sein. - Ich danke Ihnen. Drittens. Kurioserweise sehen Bundesrat und Bun- desregierung im Unterschied zur SPD-Bundestags- (Beifall bei der SPD) fraktion keine Einsatzschwelle für die Anordnung der Untersuchung vor. Soll etwa sogar auf das Erfor- dernis eines einfachen Tatverdachts bei der Untersu- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Volker chung von Spurenmaterial verzichtet werden, Beck, Sie haben das Wort. obwohl doch nach der Rechtsprechung des BGH eine Beweisführung allein durch die DNA-Analyse ohne- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): hin nicht möglich ist? Soll die Untersuchung des Erb Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den 7160 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996

Volker Beck (Köln) drei Entwürfen geht es vermeintlich darum, den freie Identifizierung einer Person. Bei der DNA-Ana- Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts aus lyse gibt es keine absolute Sicherheit. Sie erlaubt dem Volkszählungsurteil Rechnung zu tragen. Den lediglich eine statistische Aussage. Sprengstoff, den diese Entwürfe für die Bürgerrechte Meine Fraktion hat bereits in der 11. Legisla- enthalten, kann man in sieben Minuten leider nur turperiode schwerwiegende ethische, medizinische andeuten. und rechtliche Bedenken gegen die DNA-Analyse Im Entwurf des Strafverfahrensänderungsgesetzes im Strafverfahren geäußert und auf die Gefahren hin- 1994 des Bundesrates wird verharmlosend von Akten gewiesen, die von einer lückenlosen Erfassung des einsichtsrechten und Dateiregelungen gesprochen. Menschen ausgehen. Beide Entwürfe können diese Seit dem ersten Referentenentwurf zu einem Straf- Bedenken nicht ausräumen. verfahrensänderungsgesetz von 1988 wollen Sicher- Immerhin erkennt die Bundesregierung heute heitspolitiker jedoch vor allem den Informationsfluß selbst an: Eine Trennung von kodiertem und nicht von allen staatlichen Behörden und die umfassende kodiertem Bereich der DNA ist nicht möglich. Auch Verwendbarkeit der persönlichen Daten ermögli- im nicht kodierten Bereich der DNA sind Erbinfor- chen. mationen enthalten, die Aufschluß über Eigenschaf- Der damalige Entwurf ist zu Recht, wie ich meine, ten eines Menschen geben können. an einer starken Opposition und lautstarken öffentli- Die Regierungskoalition will den Ängsten der chen Protesten gescheitert. Den Wunschzettel von Bevölkerung durch Einführung eines Richtervorbe- 1988 finden wir nun im Entwurf eines Justizmittei- halts lediglich Sand in die Augen streuen und im lungsgesetzes und im vorliegenden Bundesratsent- wesentlichen der heutigen Ermittlungspraxis den wurf wieder. Segen des Gesetzgebers erteilen. Die SPD stellt Mit einer Öffnungsklausel will man Informationen wenigstens auf einen dringenden Tatverdacht ab, aus Strafverfahren auch für präventiv-polizeiliche läßt aber völlig offen, für welche Delikte ein solcher Zwecke nutzen können. Die strikte Bindung der bestehen muß. Der Regierungsentwurf enthält noch Daten an den Erhebungszweck Strafverfolgung wird nicht einmal eine Einsatzschwelle. aufgehoben, eine gefährliche Entwicklung, wie ich Der Analyse einer Vielzahl von Personen ist damit meine. Staatsanwälte und Richter sollen noch mehr Tür und Tor geöffnet. Unter dem Vorwand, Tatver- als bisher in die ausufernde Arbeit der Polizei im Vor- dächtige möglichst früh auszuscheiden, ist zu vieles feld eingebunden werden, im krassen Gegensatz zur erlaubt. Ein Beispiel: In Basel fing die Polizei im letz- gesetzlichen Situation. ten Jahr alle Dunkelhäutigen auf der Straße und an Die Richterinnen und Richter in der ÖTV haben der Grenze ein, um sie einem Bluttest zuzuführen. recht, wenn sie feststellen: Wenn der Bürger keinen Der Grund: Viermal wurden Frauen von einem Dun- Überblick mehr hat, an wen die hochsensiblen kelhäutigen vergewaltigt. - Das macht deutlich: Ver- Erkenntnisse aus den Strafakten gehen, wird das dächtig sind damit alle, die testbar sind. Vertrauen der Bevölkerung in die Gerichte untergra- Auch die vorgesehenen Vernichtungsregelungen ben. in beiden Entwürfen gehören auf den Prüfstand. Was Nach dem Entwurf des Bundesrates müssen künf- soll etwa mit den Untersuchungsergebnissen, die tig Verdächtige wie Opfer, Zeugen und sogar Unbe- nach dem Regierungsentwurf nicht von der Vernich- teiligte mit der Weitergabe von Informationen aus tung erfaßt sind, geschehen? Sollen diese etwa auch Strafakten an Dritte rechnen: Psychiatrische oder schlicht abgespeichert werden dürfen und so dem medizinische Gutachten, familiäre Hintergründe, aus permanenten Zugriff interessierter Kreise preisgege- Ermittlungen und Abhörprotokollen von Abertausen- ben werden? den jährlicher Telefonüberwachungen stünden inter- Unberücksichtigt bleibt bei dem Gesetzentwurf essierten Personen offen. der SPD wie bei dem der Bundesregierung die Nur scheinbar einschränkend nimmt die Länder- extreme Fehleranfälligkeit der DNA-Analyse. Win- mehrheit auf ihre eigenen Polizeigesetze Bezug: Poli- zige Verunreinigungen wie Pilze und Bakterien rei- zeibehörden dürften Daten aus Strafverfahren nach chen aus, um das Ergebnis zu verfälschen. Es fehlen Maßgabe der Polizeigesetze verwenden. Dabei öff- verbindliche Standards für die zu testende Anzahl nen gerade diese heute alle Möglichkeiten zur Nut- von DNA-Banden und die Beurteilung der Analyse- zung. Schlicht zur Gefahrenabwehr dürfen Daten ergebnisse. Auch in der Bundesrepublik hat es des- aus Akten verwendet und - wie etwa in Nordrhein halb schon Verfahren gegeben, in denen Unschul- Westfalen - bis zu zehn Jahren gespeichert werden. dige auf Grund der trügerischen Sicherheit dieser Methode hinter Gitter kamen. - Wohlgemerkt: Wir wollen der Polizei nicht die Informationen verwehren, die sie zur Erfüllung ihrer Nur mit einer generell vorgeschriebenen Zweitun- könnte man erreichen, daß im Prozeß Aufgaben benötigt. Wir halten aber gar nichts von tersuchung wenigstens mögliche methodische Bedenken, Kritik dieser Art Blankoscheck zu Lasten der Bürgerrechte. und Fehlerquellen überhaupt zur Sprache kommen. Die Sorglosigkeit im Umgang mit hochsensiblen Die Überprüfung der Institute durch Datenschutzbe- Daten offenbart sich auch in den beiden anderen auftragte ist ein Schritt in die richtige Richtung. Es Entwürfen. Bereits der Begriff „genetischer Finger- fehlt aber an Regelungen, wie bei festgestellten abdruck" im Titel ist irreführend: Echte Fingerab- Mängeln zu verfahren ist. Es reicht doch nicht aus, drücke sind einmalig. Sie ermöglichen eine zweifels daß auf Abhilfe gedrängt wird. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996 7161 Volker Beck (Köln) Meine Damen und Herren, wir dürfen uns die Ent- ben, denen ja oft lange Verfahren erspart bleiben scheidung für die gesetzliche Fixierung der DNA- können, Analyse im Strafverfahren nicht leichtmachen. Die Ergebnisse der Anhörung von 1988 sind angesichts (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) des rasanten technischen Fortschritts nur noch weil es eben doch und nach allen Regeln der Wissen- begrenzt verwertbar. Wir werden daher im Rechts- schaft zweifelsfrei möglich ist, einen Täter zu über- ausschuß auf eine erneute Anhörung zu den Risiken führen oder einen Nichttäter zu entlasten. der DNA-Analyse im Strafverfahren drängen. Was Sie über den Unterschied zwischen dem Für die Behandlung aller drei vorliegenden Ent- kodierten und dem nicht kodierten Teil gesagt würfe gilt: Unsere Aufgabe als Gesetzgeber besteht haben, soll ja auch nur wieder eine neue Unsicher- nicht darin, den Ermittlungsbehörden alles technisch heit erzeugen. Tatsächlich verhält es sich so: Fluch Mögliche und ohne gesetzliche Grundlage bereits und Segen sind, wie so oft bei neuen wissenschaft- Praktizierte mit leicht handhabbaren Regelungen zu lichen Erkenntnissen oder Methoden, zwei Früchte legalisieren. Wir müssen unter Achtung der Bürger- desselben Baumes. Ich gebe auch gern zu - des- rechte klare Vorgaben für ihr Handeln schaffen. wegen sind wir derart sensibel an diesen Bereich herangegangen -, daß es noch niemals in der Vielen Dank. Geschichte der Menschheit in derartiger Weise mög- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lich war, einen Menschen sozusagen in die Einzel- sowie des Abg. Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS]) teile seiner körperlichen Persönlichkeit zu zerlegen. Ich weiß auch, daß der Laie es schwer verstehen kann, wie diese Untersuchungsmethoden eigentlich Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- funktionieren und welche Erkenntnisse man gewin- lege Heinz Lanfermann. nen kann, und daß dadurch natürlich auch Ängste und Vorbehalte entstehen. Deswegen habe ich Heinz Lanfermann (F.D.P.): Herr Präsident! Meine gegen eine Politik Bedenken, wie sie gerade bei Damen und Herren! Das sind die parlamentarischen Ihnen, Herr Beck, und bei den Grünen üblich ist, Spielregeln: Der Kollege Meyer hat trotz seiner brei- nämlich zunächst einmal auf diesem eingeschränk- ten Ausführungen über verschiedenste Gebiete nicht ten Wissen weiter Bevölkerungskreise aufzubauen einmal seine Redezeit ausgeschöpft; ich werde bei und dann diese Unsicherheiten zu schüren, um damit weitem nicht genügend Redezeit haben, um auf all Stimmung zu machen und Stimmen zu gewinnen. seine interessanten Argumente eingehen zu können. Ich glaube, daß man diese besondere Herausforde- Aber da im Anschluß sicherlich auch noch der Bun- rung an Recht und Moral, an die Aufgabe, die Men- desjustizminister zu dem Regierungsentwurf einiges schenwürde zu schützen, in diesem Gebiet nicht sagen wird, will ich mich hier auf einige grundsätzli- ernst genug nehmen kann. Aber, wir wissen auch: che Bemerkungen gerade zu dem Thema DNA-Ana- Technik und Wissenschaft sind nicht gut oder böse lyse beschränken. an sich, es kommt immer maßgeblich darauf an, was der Mensch daraus macht, das heißt in dem Fall, was Ich möchte sagen, Herr Kollege Beck: Bürger- der Gesetzgeber daraus macht. rechte schützt man nicht durch Aufgeregtheit, son- dern durch gute Gesetze, (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Die Grünen glauben nicht an den Teufel!) (Beifall bei der F.D.P.) Deswegen will ich loben, daß die Bundesregierung und man schützt sie auch nicht dadurch, daß man hierbei auf dem richtigen Wege ist und daß wir eine dauernd irgendwelche Vermutungen anstellt und spezielle gesetzliche Regelung bekommen, die Behauptungen hier in den Raum stellt, dahin rechtspolitisch zumindest notwendig ist, um gerade gehend, was denn alles Schlimmes passieren kann. diese Verunsicherungen zu beseitigen. Die Voraus- Wir werden im Ausschuß genügend Gelegenheit setzungen, der Inhalt der Untersuchungen, die haben, dies alles in Ruhe zu diskutieren. Selbstver- Zweckbindung, die Vernichtung des Materials wer- ständlich gehe auch ich davon aus, daß es zu einer den geregelt. So wird sichergestellt, daß sich die Anhörung kommen wird. Aber wir müssen doch Strafverfolgung - natürlich in den Grenzen, die von sehen, daß wir es, wenn ich jetzt einmal auf diesen Recht und Ethik gesetzt werden - einer modernen Punkt zurückkommen darf, in der Tat hier mit völlig Errungenschaft der Wissenschaft bedienen kann. neuen Perspektiven für die Rechtsmedizin und die Dies ist sowohl für unsere Rechtspflege als auch für - Rechtsprechung zu tun haben. Das hat sich ja in der den einzelnen, der davon betroffen ist, gut. Wir Tat seit etlichen Jahren auch schon in der Praxis begrüßen, daß in diesem Bereich Rechtsklarheit und bewährt. Es war, glaube ich, im August 1988, daß in Rechtssicherheit geschaffen werden sollen. Deutschland, in Berlin, zum ersten Mal ein Haft- befehl auf Grund eines solchen genetischen Finger- Die hohen rechtsstaatlichen Hürden sind von den abdrucks erlassen worden ist. Vorrednern zum Teil schon erwähnt worden, zum Beispiel die Anordnung durch einen Richter und Man muß ja auch einmal, Herr Kollege Beck - dar- andere Punkte, auf die ich jetzt nicht mehr eingehen auf sind Sie bei Ihrer etwas einseitigen Betrachtungs- kann, da meine Redezeit schon abgelaufen ist. Auch weise ja auch gar nicht eingegangen - sehen, welche der Datenschutzbeauftragte ist - ich hoffe, das war Chancen sich für die Entlastung Unschuldiger erge lobend gemeint - hier schon erwähnt worden. 7162 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996

Heinz Lanfermann Ich bin überzeugt davon, daß wir dies alles im bei der Aufklärung von Verbrechen nicht aufzuhal- Rechtsausschuß in der bei uns üblichen Art, ohne ten ist. Natürlich ist es wünschenswert, mit möglichst Aufgeregtheiten und in Ruhe werden diskutieren hoher Sicherheit Täter ermitteln zu können und können. Verbesserungsvorschläge sind jederzeit Kenntnisse über Abstammungen zu gewinnen. Das willkommen. Niemand kann behaupten, er habe in allein rechtfertigt nicht, diesen besonderen Beweis in einem so komplizierten Gebiet, bei dem es darum der Strafprozeßordnung zu regeln. geht, neue Regeln zu schaffen, von Anfang an alles Seit ein britisches Ge richt den „gewöhnlichen Fin- richtig gemacht oder gesehen. Deswegen denke ich: gerabdruck" als Beweis zugelassen hat, sind viele Es wird eine fruchtbare Diskussion sein. Jahrzehnte vergangen. Der deutsche Gesetzgeber Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. hat es bis heute nicht für notwendig erachtet, ihn gesetzlich zu regeln. Dies ist auch nicht notwendig, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) weil dabei „Nebenerkenntnisse", die die DNA-Ana- lyse ermöglicht, nicht anfallen. Dies trifft in gleicher Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- Weise auch auf die herkömmlichen Abstammungs- lege Professor Uwe-Jens Heuer. untersuchungen an Hand von Blutproben zu, die übrigens auch schon eine Genauigkeit von über Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS): Herr Präsident! Meine 99 Prozent erreicht hatten. Damen und Herren! Das Anliegen des Bundesrats- Es geht meines Erachtens nicht nur oder nicht in entwurfs auf Drucksache 13/194 ist zu begrüßen. Es erster Linie um irgendwelche irrationalen Ängste, ist zweifellos an der Zeit, den Umgang mit den im die die Bürger immer haben, wenn von Genetik die Strafverfahren gewonnenen personenbezogenen Rede ist. Der SPD-Entwurf auf Drucksache 13/3116 Daten auf der Höhe des Volkszählungsurteils des weist zutreffend darauf hin, daß es um einen zweistu- Bundesverfassungsgerichts durch ein Gesetz zu figen Eingriff in Grundrechte geht. Auf der ersten regeln und nicht irgendwelchen Richtlinien zu über- Stufe wird Körpermaterial unter Umständen auch lassen. gegen den Willen des Betroffenen gewonnen, auf der Ich habe auch keinen Zweifel, daß im wohlverstan- zweiten wird mit genanalytischen Methoden analy- denen Interesse einer Beschleunigung der Rechts- siert. Um diese zweite Stufe geht es. Es werden mit pflege ein flüssiger Datenaustausch zwischen den dieser Analyse eben auch Erkenntnisse gewonnen, Rechtspflegeorganen sehr wünschenswert ist. Ich die mißbrauchbar sind und an denen nicht nur die habe aber große Zweifel, daß die unter der Über- Strafverfolgungsbehörden interessiert sind. schrift „Dateiregelung" ermöglichten Segnungen der Es versteht sich für mich von selbst, daß, wenn Großdateien, von Datenverbünden bis hin zur auto- man sich zu diesem Grundrechtseingriff entschließt, matischen Abfrage, hinreichend mißbrauchssicher dies nur unter maximalen Vorkehrungen gegen sind und ob damit nicht genau das, was angeblich mögliche Mißbräuche geschehen kann. Das heißt: verhindert werden soll, nämlich der Mißbrauch per- Der Grundrechtseingriff darf erst jenseits einer sonenbezogener Daten, gerade erst ermöglicht wird. hohen Eingriffsschwelle erlaubt sein. Eine richterli- Herr Beck hat dazu ausführlich gesprochen. che Anordnung ist als Voraussetzung vorzusehen. Nachdenklich macht mich auch der Vorschlag zur Die ausschließliche Verwendung der gewonnenen Neufassung des § 485 Abs. 4 StPO. Dort heißt es, daß Erkenntnisse und des gewonnenen Materials für den die speichernde Stelle, wenn sie feststellt, daß sie vorliegenden Fall der Strafverfolgung ist sicherzu- versehentlich unrichtige, zu löschende, gesperrte stellen. Ich halte es auch für notwendig, in der Rege- oder zu sperrende personenbezogene Daten an lung ausdrücklich das Verbot von Feststellungen Dritte weitergegeben hat, dies dem Empfänger mit- über genetische Anlagen zu erwähnen. Die Körper- zuteilen hat, es aber auch unterlassen kann, wenn zellen für die Untersuchung sind zu anonymisieren. die Mitteilung „einen unverhältnismäßigen Aufwand Das bedeutet auch, daß nicht mehr benötigte Körper- erfordert". zellen und Unterlagen zu vernichten sind. Schließ- lich sind auch der Eingriff bei Personen, die nicht Daß auch die Justizbeamten, die mit personenbe- Beschuldigte sind, und der Umgang mit aufgefunde- zogenen Dateien umgehen, fehlbar sind, ist uns allen nen Körperzellen zu regeln. klar. Daß ihnen hier aber qua Gesetz die Möglichkeit gegeben wird, ihre Fehler mit dem Mantel der Näch- Es geht also uni eine Regelung der Materie, die stenliebe zu umgeben, scheint mir bei einer so sensi- rechtsstaatlich akzeptabel ist und Mißbräuche aus- blen Materie völlig unzulässig. Wer entscheidet hier, schließt. Wir werden darüber weiter diskutieren. Ich was ein „unverhältnismäßiger Aufwand" ist? Was unterstütze die Forderung des Kollegen Beck auf soll man sich im Zeitalter von Datennetzen und Mail- eine Anhörung zu diesem Problem. boxen überhaupt unter einem „unverhältnismäßigen Ich möchte noch eine Bemerkung zu der Feststellung Aufwand" zur Datenkorrektur vorstellen? Hierzu des Kollegen Mahlo machen, der hier in seinen Aus- besteht im Ausschuß also noch Nachbesserungsbe- führungen eingangs über den „starken Rechtsstaat" darf. Wir können uns darüber unterhalten; das wer- sprach. Ein großer Teil von Ihnen wird den Film „Der den wir sicher auch tun. Schattenmann" und vielleicht auch manche gestern Ähnlich ambivalent ist meine Haltung zum Pro- die Diskussion im ZDF gesehen haben. Dort wurde blem des sogenannten genetischen Fingerabdrucks. sehr deutlich, daß dieser Film in hohem Maße auf Mir ist natürlich klar, daß die Nutzung wissenschaft- Wünsche der Polizei und der Staatsanwaltschaft licher Erkenntnisse und technischer Möglichkeiten zurückgeht, die sich ungenügend durch die Politiker Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996 7163

Dr. Uwe-Jens Heuer unterstützt sehen. Es war übrigens kein einziger in Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Pofalla, dieser Diskussion, der auf Probleme bei Ausdehnung Entschuldigung, Herr Kollege Heuer möchte Ihnen der verdeckten Ermittlungen und anderen Fragen eine Zwischenfrage stellen. hingewiesen hat. Ich habe Probleme mit der ständi- gen Betonung des Wortes „stark" in der Wendung (CDU/CSU): Bitte schön. „starker Rechtsstaat". Man kann über den Begriff Ronald Pofalla des demokratischen Rechtsstaates diskutieren; Demokratisierung halte ich für möglich. Aber ich Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS): Ich wollte gerne wis- halte es nicht für gut, wenn das Adjektiv „stark" sen: Wieso war es unangebracht? Ich habe mich immer mehr das Wort „Rechtsstaat" übertönt. gegen die ständige Verwendung der Vokabel „star- ker Rechtsstaat" von bestimmter Seite gewandt. Das (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Sie waren mehr für ist mir unheimlich. Mir würde der normale Rechts- den starken Unrechtsstaat!) staat schon reichen. - Mein lieber Herr Kollege, das kenne ich von Ihnen. (Lachen bei der CDU/CSU, der SPD und Das können Sie hier tausendmal sagen. der F.D.P. - Detlef Kleinert [Hannover] (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Sie müssen sich das [F.D.P.]: Das können wir gut verstehen!) schon gefallen lassen!) Warum soll er immer auch noch stark sein? Aber es geht darum, was wir hier und heute sagen. Ronald Pofalla (CDU/CSU): Ich kann es gut verste- Herr Lanfermann erklärte vorhin, wir sollten nicht hen, daß Sie mit diesem Begriff Probleme haben. aufgeregt sein. Ich habe gestern die Aufregung von Aber hätten Sie in Ihrer persönlichen Biographie an Herrn Lanfermann in einem anderen Punkte erlebt. den verschiedenen Stellen, wo Sie die Möglichkeit Als es nämlich um das Privateigentum ging, war Herr hatten, darauf hingewiesen, daß es einen Rechtsstaat Lanfermann aufgeregt. Bei den Bürgerrechten ist er gibt, wäre vielleicht in einem kleinen Bereich, in dem es nicht. Ich bin also besorgt, daß dann, wenn wir das Sie verantwortlich waren, in der ehemaligen DDR Adjektiv „stark" nur lange und laut genug gebrau- manches anders gelaufen. chen, der Rechtsstaat unter die Räder kommt. (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Der ist stark rechts- (Beifall bei der PDS - Detlef Kleinert [Han staatsgeschädigt! - Dr. Uwe-Jens Heuer nover] [F.D.P.]: Eklatante Wahrnehmungs [PDS]: Darf ich Ihnen mein Buch „Marxis- fehler!) mus und Demokratie" empfehlen? - Lachen bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. - Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Ronald Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]: Das ist Pofalla, Sie haben das Wort. eine Professorenmanie! - Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS]: Ich kann es empfehlen! Haben Sie es gelesen? Nein! Ich würde Sie Ronald Pofalla (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe bitten, das zu lesen! Ich halte mich außer- Kolleginnen und Kollegen! Bis zu dem Wortbeitrag dem heute für berechtigt, das zu sagen, was des Kollegen Heuer ist die Debatte eigentlich sehr ich im Auftrag meiner Wähler sagen muß! sachlich geführt worden; das gilt auch für den Ich lasse mir doch nicht von Ihnen das Wort Ansatz, in diesem Gesetzgebungsverfahren eine verbieten, die Sie nicht wissen, was ich frü- Anhörung durchzuführen. Diesen sachlichen Teil her gedacht und getan habe! Das steht möchte ich durch meinen Redebeitrag fortsetzen. Ihnen nicht zu!) Aber in Richtung des Kollegen Heuer erlaube ich mir schon die Anmerkung: Daß Sie hier als jemand Vizepräsident Hans Klein: Verzeihung, Herr Kol- auftreten, der Unterscheidungsmerkmale zwischen lege Profalla, darf ich schnell die Stenographen fra- Rechtsstaat und starkem Rechtsstaat zu finden ver- gen, ob das aufgenommen werden konnte, weil das sucht, empfinde ich schon als ein starkes Stück, mit dem Mikrophon mal wieder nicht so richtig wenn man Ihren Hintergrund kennt. Mit Verlaub, geklappt hat. Ihren Beitrag habe ich zum jetzigen Zeitpunkt, zu dem wir noch gar nicht wissen, was das Ergebnis der (Zuruf vom Stenographentisch: Es war Beratungen sein wird, wenn wir denn zu einer Anhö- schwierig, Herr Präsident! Ich bin nicht rung kommen, für völlig unangebracht gehalten. sicher, ob es komplett ist! Wir bemühen uns!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) - Vielleicht geben Sie es dann nachher dem Fragestel- Meine sehr verehrten Damen und Herren, soweit ler noch einmal zum Gegenlesen. wir uns heute mit dem Gesetzentwurf der Bundesre- Bitte, fahren Sie fort. gierung zur Änderung des Strafverfahrens im Hin- blick auf Zweck und Umfang der Zulässigkeit einer DNA-Analyse, also des sogenannten genetischen Ronald Pofalla (CDU/CSU): Herr Heuer, zu Ihrem Fingerabdrucks, beschäftigen - darauf möchte ich im Buch: Da ich ja nun auch Ihre Wortbeiträge im Schwerpunkt eingehen -, muß ich aus meiner Sicht Rechtsausschuß kenne und Sie ähnliche Beiträge, eine Vorbemerkung vorwegschicken. Da bin ich wie ich sie gerade hier zu kritisieren versucht habe, anderer Auffassung - - auch im Rechtsausschuß hin und wieder vortragen, 7164 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996

Ronald Pofalla glaube ich nicht, daß ich es mir antun muß, dieses Die Eingriffsvoraussetzungen für diese Untersu- Buch zu lesen. chungen und deren Zulässigkeitsgrenzen bemessen sich nach dem neu einzufügenden § 81 e StPO. Ich möchte eigentlich auf das zurückkommen, zu Gleichzeitig beinhaltet diese Vorschrift eine Klarstel- dem ich eher etwas sagen wollte, nämlich zum lung im Hinblick auf die generelle Zulässigkeit sol- Gesetzentwurf der Bundesregierung zum geneti- cher zusätzlichen Untersuchungsmethoden. schen Fingerabdruck. Die Ausforschung schutzbedürftiger genetischer Es handelt sich hier - da unterscheide ich mich in Anlagen des Betroffenen sowie die Feststellung psy- der Rechtsauffassung vom Kollegen Meyer - nicht chischer, charakterbezogener und krankheitsbezoge- etwa um ein Gesetz, welches den Strafverfolgungs- ner Persönlichkeitsmerkmale soll § 81 e Abs. 1 Satz 3 behörden neue, erweiterte Befugnisse eröffnet; viel- StPO des Entwurfs der Bundesregierung verhindern. mehr ist Gegenstand des vorliegenden Gesetzent- wurfs, Voraussetzungen, Beschränkungen und Die verfahrenssichernden Rahmenbedingungen Schutzmechanismen des besagten medizinischen schafft schließlich der ebenfa lls neu einzufügende Sachbeweises expressis verbis klarzumachen und § 81 f StPO. Sowohl die Untersuchung des entnom- festzulegen. menen Vergleichsmaterials als auch des aus der Tat- spur gewonnenen Mate rials steht dort unter einem (Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD]: Die Frage ausschließlichen Richtervorbehalt. Hier erlaube ich ist, ob das ausreicht! Das ist das Problem!) mir eine Anmerkung in Richtung des Kollegen Beck. Dies ist insofern geboten, als in weiten Teilen der An anderer Stelle wird häufig kritisiert, daß es solche Bevölkerung im Hinblick auf die Genetik allgemein Richtervorbehalte nicht gibt. An dieser Stelle sieht sowie bezüglich der dadurch ermöglichten Eingriffe die Bundesregierung einen solchen Richtervorbehalt in Persönlichkeitsrechte des einzelnen Ängste und vor. Daß jetzt auch der von Ihnen noch kritisiert wird, Befürchtungen vorherrschen. stößt bei mir offen gestanden auf völliges Unver- ständnis. Zur näheren Konkretisierung und zum Abbau von (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Ängsten sowie zur Demontage eines vorgezeichne- Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ten Feindbildes bzw. Schreckgespenstes empfiehlt NEN]: Nicht zuviel, sondern zuwenig!) sich übrigens zunächst einmal die genaue Definition einer DNA-Analyse. Diese dient einerseits zur Fest- Die SPD erhebt den Vorwurf, daß in diesem Ent- stellung der Abstammung oder Identifizierung, aber wurf im Gegensatz zum eigenen Entwurf eine gerin- andererseits auch zum Ausschluß von Spurenverur- gere Einsatzschwelle für die DNA-Analyse vorgese- sachern. Herr Meyer, darauf will ich nachher noch hen werde, einmal kurz eingehen. (Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD]: Gar keine!) Eine hochgradige Steigerung der Nachweisem- die Zweckbindung weiter sei und die Verpflichtung pfindlichkeit konnte hierbei durch den Einsatz zur Vernichtung nicht mehr benötigter Informationen moderner Technik und durch naturwissenschaftliche weniger streng sei. Bei genauerem Hinsehen erweist Neuerungen im Bereich der Spurenanalytik erzielt sich aber gerade der SPD-Entwurf nach meiner Über- werden. zeugung als unzureichend. Soweit dort nämlich Inhaltlich umfaßt der Gesetzentwurf der Bundesre- gefordert wird, genanalytische Untersuchungen nur gierung im wesentlichen drei Teile. Zum einen ent- im Falle des sogenannten dringenden Tatverdachts hält er Vorschriften über die zulässige Verwendung zuzulassen, werden dabei die Fälle von vornherein ordnungsgemäß entnommenen Mate rials sowie des- ausgeklammert, in denen die DNA-Analyse zum sen Vernichtung nach Gebrauch. Ferner werden Vor- Ausschluß eines Spurenverursachers angeordnet aussetzung und Inhalt von Untersuchungen mit werden könnte. molekulargenetischen Methoden geregelt. Schließ- (Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD]: Das ist doch lich schreibt der Entwurf noch verfahrenssichernde abwegig!) Rahmenbedingungen vor. So wird etwa § 81 a StPO dadurch ergänzt, daß die gemäß Abs. 1 erfolgte Ent- Dringender Tatverdacht bedeutet doch regelmäßig, nahme von Blut, Samen, Haaren oder sonstigen Kör- Herr Kollege, die große Wahrscheinlichkeit, daß der perzellen den bestimmten Zweckbindungen des der Beschuldigte Täter oder Teilnehmer einer Straftat ist. Entnahme zugrunde liegenden oder eines anderen Den dringenden Verdacht, eine Tat nicht begangen anhängigen Strafverfahrens unterliegt. Die Verwen- zu haben, kennt nach meinem Kenntnisstand das dung ist demnach zulässig zur Aufklärung der pro- deutsche Strafprozeßrecht nämlich nicht. zessualen Tat im Sinne von § 264 StPO, wegen der (Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD]: Unser Vor- die Untersuchung angeordnet wurde, sowie eben- schlag bezieht sich natürlich nur auf die falls zur Erforschung einer anderen prozessualen Tat. Beschuldigten!) Über diese Bindung hinaus sind eine solche Flüs- Aus dem Regierungsentwurf hervorgehende bedeu- sigkeits- bzw. Körperzellprobe sowie die daraus tende Schutzvorschriften zugunsten von Betroffenen gewonnenen Zwischenprodukte unverzüglich zu werden im SPD-Entwurf nach meiner Überzeugung vernichten, sobald sie für eben diesen Zweck nicht einfach übersehen. mehr benötigt werden, wobei gleichgültig ist, ob das Material tatsächlich für die Untersuchung benutzt Man kann es auch noch auf die Ebene eines Ver- wurde oder nicht. gleichs mit dem Entwurf des Bundesrates ziehen. In Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996 7165

Ronald Pofalla einer Anhörung können wir die unterschiedlichen verfolgungsbehörden übermittelt werden, als auch Auffassungen hierüber erörtern. Ich glaube für für solche, die im Strafverfahren erlangt wurden und meine Fraktion vortragen zu können, daß wir dieser an andere öffentliche Stellen weitergegeben werden Anhörung offen gegenüberstehen und bei uns auch sollen. der Wunsch vorhanden ist, im Bereich des geneti- schen Fingerabdrucks fußend auf den Ergebnissen Es kann nicht ausreichen, wie dies zum Beispiel in der Anhörung zu einer einvernehmlichen Lösung zu § 474 StPO nach dem Bundesratsentwurf geschieht, gelangen. daß für die Weitergabe im Ermittlungsverfahren erhobener sensibler Daten an öffentliche Stellen nur Herzlichen Dank. die Erforderlichkeit zur Erfüllung der öffentlichen Aufgaben dargetan werden muß sowie ein das (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Geheimhaltungsinteresse des Betroffenen überwie- gendes Interesse an der Versendung der Daten. Hier Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem bedarf es konkreterer, vor allen Dingen aber vorsich- Bundesminister der Justiz, Edzard Schmidt-Jortzig. tiger Regelungen, die die besondere Sensibilität der Daten berücksichtigen. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Bundesminister der Nicht minder bedenklich ist letztlich, daß Vor- Justiz: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! schriften des Bundesratsentwurfs in ihrer prakti- Um es vorwegzunehmen: Notwendigkeit und Eilbe- schen Auswirkung zu einer völligen Aufhebung der dürftigkeit gesetzlicher Regelungen für die Verwen- vom Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsur- dung von personenbezogenen Informationen, die in teil geforderten Zweckbindung von Daten für den einem Strafverfahren erhoben worden sind, sowie für Bereich des Strafverfahrens führen. Hinter der Rege- die Verarbeitung personenbezogener Informationen lung des § 160 Abs. 4 StPO des Bundesratsentwurfs in Dateien und ihre Umsetzungen stehen außer steht zwar die gutgemeinte Absicht, eine Verwen- Frage. Es ist deshalb zu begrüßen, daß der Bundesrat dungsbegrenzung festzuschreiben. Wenn hiernach den Entwurf eines Strafverfahrensänderungsgeset- Informationserhebungen aber nur dann unzulässig zes 1994 vorgelegt hat, der gesetzgeberische Maß- sein sollen, wenn Vorschriften entgegenstehen, die nahmen zur Akteneinsicht und sogenannte gesetzli- die Verwendung für Strafverfahren besonders che Dateiregelungen enthält. regeln, so mißlingt eine Verwendungsbegrenzung; Allerdings - dies hat die Bundesregierung bereits denn solche Vorschriften gibt es kaum. in ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf des Bun- Zu dieser Lücke paßt auch, daß der Länderentwurf verdeutlicht - ist abzulehnen, in welcher desrates darauf verzichtet, die Frage der Verwertung von Weise die Folgerungen aus dem Volkszählungsurteil Informationen aus der Gefahrenabwehr für Zwecke in dem Gesetzentwurf umgesetzt werden. Nach Auf- der Strafverfolgung zu regeln. Hier muß aber der fassung der Bundesregierung wird der bestehende Gesetzgeber die Voraussetzungen eindeutig festle- gesetzgeberische Handlungsbedarf nämlich nur gen, unter denen eine Verwertung von Präventivin- unzureichend aufgegriffen. Die Regelungsvor- formationen für die Strafverfolgung zulässig sein schläge tragen datenschutzrechtlichen Erfordernis- soll. Andernfalls droht die Gefahr - ich verweise auf sen nicht ausreichend Rechnung. den Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 7. Juni Zunächst bedarf der kritischen Anmerkung, daß 1995 -, daß im Rahmen der Strafverfolgung der Entwurf den Gesetzesvorbehalt nur unzurei- bestehende Eingriffsschwellen für besonders sensi- chend einlöst. Dies gilt insbesondere für die bisher ble Maßnahmen, beispielsweise die Telefonüberwa- weitgehend nur in Richtlinien geregelte Fahndung. chung oder den Einsatz verdeckter Ermittler, durch Ein so sensibler Bereich wie die Öffentlichkeitsfahn- Informationserhebungen anläßlich polizeilich gefah- dung nach Beschuldigten und Zeugen kann nicht renabwehrender Tätigkeiten umgangen werden. allein nach Verwaltungsvorschriften ablaufen. Hier Unbestreitbar enthält der Entwurf - dies soll bei muß der Gesetzgeber selbst Regelungen treffen, die aller Kritik natürlich nicht verschwiegen werden; ich einerseits den Strafverfolgungsbehörden Zulässig- habe darauf auch schon am Anfang hingewiesen - keit und Grenzen der Maßnahmen klar aufzeigen, hilfreiche Ansätze. Deshalb ist es zu begrüßen - ich andererseits aber auch den von den Maßnahmen betone das noch einmal -, daß der Bundesrat den potentiell Betroffenen verdeutlichen, welche Ein- Entwurf eines Strafverfahrensänderungsgesetzes griffe in ihre Rechtspositionen unter welchen Voraus- 1994 vorgelegt und damit Regelungsvorschläge für setzungen zulässig sind. die Akteneinsicht und sogenannte gesetzliche Datei- Schwerwiegender als die festzustellenden Rege- regelungen unterbreitet hat. lungslücken ist jedoch, daß die in dem Gesetzent- Meine kritischen Anmerkungen dürften jedoch wurf vorgesehenen Akteneinsichts- und Dateirege- deutlich gemacht haben, daß der Gesetzentwurf des lungen datenschutzrechtlich und letztlich immer Bundesrates aus der Sicht der Bundesregierung von auch verfassungsrechtlich bedenklich sind. einer ebenso datenschutzkonformen wie sachgemä- Auf Regelungen, die die Zweckbindung bestimm- ßen Regelung noch einigermaßen weit entfernt ist. ter Daten zum Inhalt haben, kann nach dem Volks- Der von der Verfassung garantierte Schutz des Bür- zählungsurteil nicht mehr verzichtet werden. Gerade gers vor rechtswidrigen und mißbräuchlichen Ein- dies geschieht aber in dem Gesetzentwurf eines griffen in sein Persönlichkeitsrecht, insbesondere der Strafverfahrensänderungsgesetzes 1994 sowohl für so bedeutsame Schutz seiner persönlichen Daten, solche Daten, die von öffentlichen Stellen an Straf- gebietet eine Zurückhaltung, die der Gesetzentwurf 7166 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996

Bundesminister Dr. Edzard Schmidt-Jortzig -des Bundesrates an vielen Stellen vermissen läßt. lässiger Feststellungen, das heißt die Abstammungs Aus diesem Grunde verfolgt die Bundesregierung und Identitätsfeststellung, beschränkt und so eine den in ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf des Ausforschung der Persönlichkeit unterbindet. Bundesrates angekündigten Regierungsentwurf, den sogenannten Rest-StVÄG-Entwurf, der derzeit in (Zuruf von der SPD: Das Ergebnis ist aber Koalitionsgesprächen behandelt wird, weiter. dasselbe!) Mit der Beschränkung der Untersuchung auf den Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir ergän- nicht kodierenden Bereich der DNA, wie sie im Ent- zend und abschließend noch einige Anmerkungen wurf der Opposition erfolgt, kann dieses Ziel nicht zu dem von der Bundesregierung vorgelegten gewährleistet werden. Auch nicht kodierende Ab- Gesetzentwurf zur Regelung der DNA-Analyse im schnitte des menschlichen Genoms enthalten Infor- Strafverfahren. Der Einsatz dieser Untersuchungs- mationen, die der Persönlichkeitssphäre zuzurech- methode findet zwar offenbar heute bereits eine nen sind. Dem Regierungsentwurf gebührt daher Rechtsgrundlage in der Strafprozeßordnung. Herr eindeutig der Vorzug. Kollege Meyer, ich stimme Ihnen zu, daß diese Aus- sage die Qualifizierung „offenbar" braucht. Jeden- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. falls meint der Bundesgerichtshof, es läge eine hin- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) reichende Grundlage vor. Die Regierung hält es für wünschenswert, aus meiner Sicht - da stimme ich Ihnen völlig zu - ist es erforderlich, hier besondere Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Aus- Regelungen zu schaffen. Deswegen liegt dieser sprache. Gesetzentwurf vor. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 13/194, 13/667 Mit diesen besonderen gesetzlichen Regelungen und 13/3116 an die in der Tagesordnung aufgeführ- sollen die Voraussetzungen und Beschränkungen, ten Ausschüsse vor. Der Gesetzentwurf auf Drucksa- die sich für den einzelnen aus der Durchführung che 13/3116 soll zusätzlich dem Ausschuß für Fami- einer solchen Untersuchung ergeben, klar festge- lie, Senioren, Frauen und Jugend, dem Ausschuß für schrieben werden. Auf diesem Wege kann insbeson- Gesundheit und dem Ausschuß für Bildung, Wissen- dere den in weiten Teilen der Bevölkerung anzutref- schaft, Forschung, Technologie und Technikfolgen- fenden, mit der Gentechnik ganz allgemein verbun- abschätzung - wir sollten uns nicht wundern, daß denen Befürchtungen begegnet werden, der Einsatz uns die Öffentlichkeit manches Mal nicht versteht, solcher Untersuchungsmethoden im Strafverfahren wenn wir solche Wortungeheuer schaffen - führe zu übermäßigen, den Kern der Persönlichkeit berührenden Eingriffen. (Beifall des Abg. Ulrich Irmer [F.D.P.]) Der mit dem Regierungsentwurf mitberatene Ent- überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vor- wurf der sozialdemokratischen Partei leidet aus unse- schläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Über- rer Sicht hingegen unter dem Mangel der Aktualität. weisungen so beschlossen. An diesem Punkt möchte ich mich durchaus den Ein- Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. wänden von Herrn Kollegen Beck anschließen. Der Oppositionsentwurf differenzie rt nämlich bei der Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Frage der Zulässigkeit der DNA-Untersuchungen destages auf Mittwoch, den 31. Januar 1996, 13 Uhr immer noch zwischen kodierenden und nicht kodie- ein. renden Teilen der DNA, während der Regierungs- Die Sitzung ist geschlossen. entwurf - neuen medizinisch-wissenschaftlichen Er- kenntnissen Rechnung tragend - den Umfang zu (Schluß der Sitzung: 13.39 Uhr)

- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996 7167*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 Anlage 2

Liste der entschuldigten Abgeordneten Amtliche Mitteilungen Der Bundesrat hat in seiner 692. Sitzung am 15. Dezember entschuldigt bis Abgeordnete(r) 1995 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzustimmen einschließlich bzw. einen Antrag gemäß § 77 Abs. 2 GG nicht zu stellen: - Zweites Gesetz zur Änderung des Arbeitsförderungs- Belle, Meinrad CDU/CSU 19. 1. 96 gesetzes im Bereich des Baugewerbes Borchert, Jochen CDU/CSU 19. 1. 96 - Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Reform der Brandt-Elsweier, Anni SPD 19. 1. 96 agrarsozialen Sicherung (ASRG-AndG) Deß, Albert CDU/CSU 19. 1. 96 - Gesetz zur Änderung des Sechsten Buches Sozial- gesetzbuch und anderer Gesetze Doss, Hansjürgen CDU/CSU 19. 1. 96 - Fünftes Gesetz zur Änderung des Fünften Buches Eymer, Anke CDU/CSU 19. 1. 96 Sozialgesetzbuch und anderer Krankenversicherungs- Dr. Gerhardt, Wolfgang F.D.P. 19. 1. 96 rechtlicher Vorschriften (Fünftes SGB V-Änderungs- gesetz - 5. SGB V-ÄndG) Glücklich, Wilma CDU/CSU 19. 1. 96 Gröhe, Hermann CDU/CSU 19. 1. 96 - Gesetz zur Änderung des Strafrechtlichen Rehabili- tierungsgesetzes, des Verwaltungsrechtlichen Reha- Großmann, Achim SPD 19. 1. 96 bilitierungsgesetzes und des Beruflichen Rehabili- Dr. Hartenstein, Liesel SPD 19. 1. 96 tierungsgesetzes Dr. Hauchler, Ingomar SPD 19. 1. 96 - Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Miethöhe Dr. Haussmann, Helmut F.D.P. 19. 1. 96 - Erstes Gesetz zur Änderung des Verkehrswegepla- Höfken, Ulrike BÜNDNIS 19. 1. 96 nungsbeschleunigungsgesetzes 90/DIE - Gesetz über die Feststellung des Wirtschaftsplans des GRÜNEN ERP-Sondervermögens für das Jahr 1996 (ERP-Wirt- Hörsken, Heinz-Adolf CDU/CSU 19. 1. 96 schaftsplangesetz 1996) Hornung, Siegfried CDU/CSU 19. 1. 96 ' - Gesetz zu dem Vertrag vom 19. Mai 1995 zwischen der Junghanns, Ulrich CDU/CSU Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen 19. 1. 96 ' Republik über Erleichterungen der Grenzabfertigung Koschyk, Hartmut CDU/CSU 19. 1. 96 im Eisenbahn-, Straßen- und Schiffsverkehr Kronberg, Heinz-Jürgen CDU/CSU 19. 1. 96 - Gesetz zu dem Abkommen vom 18. April 1994 zwi- Leidinger, Robert SPD 19. 1. 96 schen der Bundesrepublik Deutschland und dem Großherzogtum Luxemburg über den Autobahnzu- Lemke, Steffi BÜNDNIS 19. 1. 96 sammenschluß und den Bau einer Grenzbrücke über 90/DIE die Mosel im Raum Perl und Schengen GRÜNEN - Gesetz zu dem Protokoll vom 10. Mai 1984 zur Ände- Meißner, Herbert SPD 19. 1. 96 rung des Abkommens vom 7. Dezember 1944 über die Internationale Zivilluftfahrt (9. Änderung des Abkom- Michels, Meinolf CDU/CSU 19. 1. 96 ' mens über die Internationale Zivilluftfahrt) Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 19. 1. 96 - Gesetz zu dem Internationalen Kaffee-Übereinkom- Neumann (Berlin), Kurt SPD 19. 1. 96 men von 1994 Neumann (Gotha), SPD 19. 1. 96 - Gesetz zur Neuregelung der Rechtsstellung der Gerhard Abgeordneten Otto (Erfurt), Norbert CDU/CSU 19. 1. 96 - Mikrozensusgesetz und Gesetz zur Änderung des Bundesstatistikgesetzes Dr. Probst, Albert CDU/CSU 19. 1. 96 ' Dr. - Gesetz über die Anpassung von Dienst- und Rappe (Hildesheim), SPD 19. 1. 96 Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 1995 Hermann (Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungs - Reschke, Otto SPD 19. 1. 96 gesetz 1995 - BBVAnpG 95) Rixe, Günter SPD 19. 1. 96 - Zweites Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Än- derung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßord- Dr. Scheer, Hermann SPD 19. 1. 96 ' nung des Versammlungsgesetzes und zur Einführung Sebastian, Wilhelm-Josef CDU/CSU 19. 1. 96 einer Kronzeugenregelung bei terroristischen Straf- taten (Zweites Kronzeugen-Verlängerungs-Gesetz) Seuster, Lisa SPD 19. 1. 96 - Gesetz zur Aufhebung des Gesetzes über den Abbau Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 19. 1. 96 von Salzen im Grenzgebiet an der Werra Dr. Thomae, Dieter F.D.P. 19. 1. 96 - ... Gesetz zur Änderung des Fünften Buches Sozial- Vogt (Duren), Wolfgang CDU/CSU 19. 1. 96 gesetzbuch (. . . SGB V-Anderungsgesetz - ... SGB Wallow, Hans SPD 19. 1. 96 V-ÄndG) Würzbach, Peter Kurt CDU/CSU 19. 1. 96 - Zweites Gesetz zur Änderung des Fleischhygiene- gesetzes - Gesetz zur Ergänzung des Jahressteuergesetzes 1996 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Ver- und zur Änderung anderer Gesetze - Jahressteuer- sammlung des Europarates Ergänzungsgesetz (JStErgG) 1996 - 7168* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996

- Gesetz über die Feststellung des Bundeshaushalts- Es ist nicht tolerierbar, daß Tiere mit Rückständen von plans für das Haushaltsjahr 1996 (Haushaltsgesetz verbotenen Stoffen oder Schlachttiere innerhalb fest- 1996) gesetzter Wartezeiten in den Verkehr gebracht oder geschlachtet werden. Da es praktisch unmöglich ist, die Zu den vier letztgenannten Gesetzen hat der Bundes- gesamte Palette von Rückständen im Rahmen der rat die folgenden Entschließungen gefaßt: routinemäßigen Schlachttier- und Fleischuntersuchung abzudecken, der Besitzer aber über die eingsetzten Entschließung des Bundesrates zum ... Gesetz zur Stoffe unterrichtet ist, muß sich ein entsprechendes Ver- Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch bot schon im Vorfeld der Lebensmittelgewinnung an ihn (. . . SGB V-Änderungsgesetz -): richten. Die vom Deutschen Bundestag mit Koalitionsmehrheit Es muß die Möglichkeit geschaffen werden, die für die beschlossene Änderung des § 311 SGB V widerspricht Manipulation am lebenden Tier Verantwortlichen wirk- der einstimmig beschlossenen Initiative des Bundesrates sam zur Rechenschaft ziehen und einer Ausuferung kri- vom 22. September 1995 zur unbef risteten Verlängerung mineller Machenschaften begegnen zu können. der kirchlichen Fachambulanzen. Die vorgesehene Um- wandlung der Ambulanzen in Gemeinschaftseinrichtun- In diesem Zusammenhang wird auch an die Forderung gen niedergelassener Vertragsärzte und das erleichterte nach Maßnahmen bei mangelhafter Kennzeichnung der Niederlassungsrecht für an den Fachambulanzen tätige Schlachttiere nach dem Beschluß des Bundesrates vom Ärzte bedeutet die Auflösung der Fachambulanzen. Dies 17. Februar 1995 (- BR-Drucksache 1895 [Beschluß] -) bedauert der Bundesrat. erinnert.

Der Beschluß des Bundestages berücksichtigt in keiner Der Bundesrat forde rt die Bundesregierung auf, die Weise, daß die kirchlichen Fachambulanzen in der ehe- aufgezeigten Rechtslücken durch entsprechende Ände- maligen DDR unter schwierigsten Bedingungen Hervor- rung des Fleischhygienegesetzes bei nächster Gelegen- ragendes für die Bevölkerung geleistet haben, daß sie heit zu schließen und ergänzende Vorschriften bei der sich auch nach der Vereinigung bewäh rten und bei den anstehenden Änderung der Fleischhygiene-Verordnung Menschen in einem hohen Ansehen stehen, daß sie einen aufzunehmen. festen Platz in der ambulanten Versorgung haben, wirt- schaftlich und effizient arbeiten und außerdem dem Der Bundesrat bittet ferner, in bezug auf das Geflü- gesundheitspolitisch gewollten Wettbewerbsgedanken gelfleischhygienerecht analog zu verfahren und zu prü- und der Wahlmöglichkeit von Versicherten in der gesetz- fen, ob zur Sicherstellung des Verbraucherschutzes vor lichen Krankenversicherung Rechnung tragen. Rückständen von Stoffen mit pharmakologischer Wir- kung auch die Ergänzung anderer Rechtsvorschriften Mit der Auflösung wird zugleich ein Modell für die erforderlich ist. Verzahnung von stationärer und ambulanter Behandlung zerschlagen. Entschließung des Bundesrates zum Gesetz zur Ergän- Die Auflösung der 45 bestehenden Fachambulanzen zung des Jahressteuergesetzes 1996 und zur Änderung bedeutet auch eine Ungleichbehandlung gegenüber den anderer Gesetze - Jahressteuer-Ergänzungsgesetz rund 200 kommunalen und staatlichen Polikliniken. (JStErgG) 1996-: Diese sind weiterhin unbef ristet zugelassen. Dies ist um so unverständlicher, als eine Umwandlung der kirchli- 1. Mit dem Jahressteuergesetz 1996 ist eine Neurege- chen Fachambulanzen in den Polikliniken vergleichbare lung des steuerlichen Reisekostenrechts erfolgt, die eigenständige ambulante Einrichtungen, die ein auch im Hinblick auf die nicht erfolgte Anpassung der von den kirchlichen Fachambulanzen mitgetragener außersteuerlichen Bestimmungen des Reisekosten- Kompromiß gewesen wäre, nicht zugelassen wurde. rechts in Bundes- und Landesgesetzen in vielen Der Bundesrat verzichtet dennoch auf die Anrufung Fällen zu einer Besteue rung des Auslagenersatzes bei des Vermittlungsausschusses, weil ansonsten die kirch- Dienstreisen führt. Der Bundesrat hält die damit ver- lichen Fachambulanzen aufgrund der bestehenden bundene erhebliche Verwaltungsmehrarbeit für nicht Rechtslage schon zum 31. Dezember 1995 aufzulösen vertretbar. Er bittet die Bundesregierung, in Ab- wären und dies zum aktuellen Verlust von mehreren stimmung mit den Ländern unverzüglich eine hundert Arbeitsplätzen führen würde. Neuregelung zu erarbeiten, die den nach der Rege- lung des Jahressteuergesetzes 1996 auftretenden Ver- waltungsaufwand vermeidet. Dazu verweist er auf Entschließung des Bundesrates zum Zweiten Gesetz seinen Beschluß vom 3. November 1995 zu Punkt 39 zur Änderung des Fleischhygienegesetzes: (Drucksache 600/95 - Beschluß -).

Die Anwendung des Fleischhygienerechts in der Pra- Der Bundesrat sieht trotz seiner Bedenken gegen den xis hat gezeigt, daß insbesondere im Zusammenhang mit vorliegenden Gesetzesbeschluß davon ab, aus dem dem illegalen Einsatz von Stoffen mit pharmakologischer o. g. Grund den Vermittlungsausschuß anzurufen, Wirkung bei Tieren, die der Lebensmittelgewinnung die- damit das Gesetz rechtzeitig zum 1. Januar 1996 in nen und in Teilbereichen erhebliche Probleme bei der Kraft treten kann. Ahndung und einer effektiven Überwachung bestehen. Da die Verbraucherschutzmaßnahmen schon am 2. Das Jahressteuergesetz 1996 sieht vor, daß ab 1. Ja- lebenden Tier einsetzen müssen und eine strafrechtliche nuar 1996 sowohl im unternehmerischen Bereich als Verfolgung von rechtswidrig handelnden Tierbesitzern auch bei der Gestellung von Kraftwagen durch unabdingbar ist, müssen die Rechtslücken - den §§ 8, 15 Arbeitgeber an Arbeitnehmer der Vorteil aus der und 17 des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegeset- privaten Pkw-Nutzung pauschaliert wird. Für reine zes vorgelagert - geschlossen werden. Privatfahrten sollen monatlich 1 v. H. des Listenprei- ses und für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeits-/ Dazu ist es erforderlich, grundsätzliche Beschaffen- Betriebsstätte monatlich 0,03 v. H. des Listenpreises je heitsanforderungen für die der Lebensmittelgewinnung Entfernungskilometer angesetzt werden. dienenden Tiere festzuschreiben. Dieses auch deshalb, weil die Stoffe beim lebenden Tier angewendet werden Eine weitere Prüfung der Auswirkungen dieser Neu- und die fleischhygienerechtliche Genußtauglichkeits- regelung auf die Automobilindustrie hat ergeben, daß kennzeichnung nicht die allgemeine Verkehrsfähigkeit bei der im Vermittlungsverfahren getroffenen Rege- des Fleisches, sondern lediglich das dokumentiert, was lung nicht alle Einzelheiten bedacht worden sind. Ins- die amtliche Schlachttier- und Fleischuntersuchung ein- gesamt wird die neue Regelung - besonders bei Fahr- schließlich der Trichinenuntersuchung sowie der stich- zeugen der gehobenen Preisklasse - gegenüber probenweisen Rückstandsuntersuchungen nach den dem geltenden Recht zu einer deutlich höheren rechtlich fixierten Vorgaben zu leisten vermögen. Besteuerung führen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996 7169*

Hinzu kommen Auswirkungen auf die Arbeitnehmer den Zinszuschüssen zur Finanzierung von Aufträ- in der Automobilindustrie, die sich dadurch ergeben, gen an die deutschen Schiffswerften trotz sektora- daß die Automobilhersteller ihren Mitarbeitern - als ler Förderzuständigkeit auf die Hälfte reduziert Alternative zum Kauf eines Jahreswagens - verschie- worden. dentlich ein Fahrzeug zur Miete anbieten. In diesen Fällen war unter Zugrundelegung der geltenden Be- c) Die Deckung der Defizite durch geplante Priva- stimmungen bei den Arbeitnehmern, die von diesem tisierungen, welche Erlöse von 9 Milliarden DM Angebot Gebrauch gemacht haben, regelmäßig kein erbringen sollen, stellt eine Maßnahme dar, die geldwerter Vorteil zu erfassen. Nach der vorgesehe- ausschließlich zur Finanzierung der Ausgaben des nen Neuregelung würde sich dies ändern. Jahres 1996 dienen soll. Maßnahmen zur nachhal- tigen Ausgabenplanung angesichts verminderter Der Bundesrat spricht sich dafür aus, diese neuen Einnahmen und eines strukturellen Defizits fehlen. Regelungen im Rahmen der geplanten Unterneh- menssteuerreform noch einmal zu überprüfen und d) Der Bundesrat hält insbesondere die angekündigte ggf. zu korrigieren. Veräußerung der Bundesanteile an der „Frank- furter Siedlungsgesellschaft mbH" und der „Ge- Entschließung des Bundesrates zum Gesetz über die meinnützigen Deutschen Wohnungsbaugesell- Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haus- schaft - Deutschbau -" für bedenklich. Die erwar- haltsjahr 1996 (Haushaltsgesetz 1996): teten Privatisierungserlöse i. H. v. 4 Milliarden DM sind mit dem Verkauf der beiden Wohnungsgesell- 1. Der Bundesrat weist hinsichtlich der im Etatentwurf schaften im Jahre 1996 nicht zu erzielen. Unter der- 1996 vorhandenen Finanzierungslücke und der zur artigem Zeit- und Erlösdruck sind seriöse Priva- Deckung dieses Defizits ergriffenen Maßnahmen auf tisierungen nicht erreichbar. Es werden lediglich folgendes hin: Ängste und Unsicherheiten bei den betroffenen rund 50 000 Haushalten ausgelöst. a) Der Bundesrat hat bereits in seiner Stellungnahme vom 22. September 1995 zum Entwurf eines Geset- 2. Der Bundesrat nimmt mit Befremden zur Kenntnis, zes über die Feststellung des Bundeshaushalts- daß von ihm wegen der erheblich angewachsenen plans für das Haushaltsjahr 1996 (Haushaltsgesetz Aufgaben geforderte Personalstellen und geltendge- 1996) - BR-Drucksache 450/95 - und zu dem machter Sachmittelbedarf nicht in vollem Umfang be- Finanzplan des Bundes 1995 bis 1999 - BR-Druck- rücksichtigt worden sind. Die Anforderungen sind zur sache 451/95 - hervorgehoben, daß die Ausgaben- Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Bundesrates er- kürzungen 1996 für den gesamten Bereich Arbeits- forderlich. Bundestag und Bundesrat sind nach dem markt und Arbeitsschutz die Entwicklung auf dem Grundgesetz souveräne Verfassungsorgane. Hiermit Arbeitsmarkt verkennt. ist die Nichtberücksichtigung der Anforderungen des Bundesrates durch den Bundestag nicht vereinbar. Soweit nunmehr in dem Bundeshaushalt ein Zu- Denn diese Nichtberücksichtigung ist gleichbedeu- schuß von 4,3 Milliarden DM an die Bundesanstalt tend mit der Beschneidung der Arbeits- und Funk- für Arbeit eingestellt ist, trägt auch dieser Ansatz tionsfähigkeit des einen Gesetzgebungsorgans durch nach wie vor der Entwicklung auf dem Arbeits- das andere. markt nicht hinreichend Rechnung. Die wirtschaft- liche Entwicklung läßt bedauerlicherweise erwar- Der Bundesrat erwartet, daß bei künftigen Haushalts- ten, daß die Arbeitslosigkeit auf hohem Niveau planungen den guten parlamentarischen Gepflogen- weiterhin Bestand haben wird. Seit der Vorlage heiten entsprechend seine für eine effektive Arbeit des Haushaltsentwurfs hat sich hieran nichts geän- erforderliche sächliche und personelle Ausstattung im dert. Damit verbleibt es dabei, daß kein besonderer Bundeshaushalt angemessen dotiert wird. Grund zu der Annahme besteht, der bisherige Zu- schuß zur Bundesanstalt für Arbeit i. H. v. 8 Mil- 3. Im übrigen verweist der Bundesrat auf seinen Be- liarden DM könne gekürzt werden. schluß vom 22. September 1995 - Drucksache 450/95 (Beschluß) -. b) Die Aufstockung des Ansatzes für die Arbeits- losenhilfe um 2,2 Milliarden DM gegenüber dem Die Gruppe der PDS hat mit Schreiben vom 16. Januar 1996 ursprünglichen Ansatz von 14,8 Milliarden DM ihren Gesetzentwurf „Entwurf eines Gesetzes über den Tag berücksichtigt die vom Bundesrat bereits erhobe- der Mahnung und Erinnerung an die jüdischen Opfer des Mas- nen Einwände gegen die Pläne zur Kürzung der senmordes während der Nazidiktatur zwischen 1933 und 1945 Leistungen im Bereich der Arbeitslosenhilfe nicht. in Deutschland" - Drucksache 13/810 - zurückgezogen.

Der Bundesrat weist nochmals daraufhin, daß er Des weiteren hat die Gruppe der PDS mit Schreiben vom insbesondere folgende - z. T. erst jetzt konkre- 18. Januar 1996 ihren Gesetzentwurf „Entwurf eines Gesetzes tisierte - geplante Maßnahmen ablehnt: zur Änderung des Baugesetzbuchs" - Drucksache 13/1726 - zurückgezogen. - Die Abschaffung der originären Arbeitslosen- hilfe, Die Vorsitzenden folgender Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung - die Senkung der Bemessungsentgelte für die von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen Arbeitslosenhilfe jährlich um 5 Prozent bis auf absieht: den durchschnittlichen Tariflohn der untersten Lohngruppe, Auswärtiger Ausschuß - die Einbeziehung von Arbeitslosen in die Ar- beitsbeschaffungsmaßnahmen erst nach 12 Mo- Drucksachen 13/2109, 13/2402 Nr. 1 naten (bisher nach 6 Monaten). Drucksachen 13/2139, 13/2402 Nr. 2 Drucksachen 13/2248, 13/2402 Nr. 4 Diese Maßnahmen führen zu Kostenverlagerun- Drucksachen 13/2144, 13/2643 Nr. 1 gen auf die Länder und Gemeinden. Der Bund will damit Etatsanierung auf Kosten dieser Gebietskör- perschaften durchführen. Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten

Dies gilt auch für die Schiffsbauhilfen. Nachdem Drucksachen 13/1718, 13/2275 Nr. 1.1 die Bundesregierung bedauerlicherweise bereits bei den Wettbewerbshilfen eine Reduzierung des Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Bundesanteils von 50 v. H. auf 33,3 v. H. vorgenom- men hat, ist nunmehr auch der Bundesanteil an Drucksachen 12/7539, 13/725 Nr. 133 7170* Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 81. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. Januar 1996

Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Tech- Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung nologie und Technikfolgenabschätzung Drucksache 13/2494, Nr. 1.7 Drucksachen 12/7144, 13/725 Nr. 170 Drucksache 13/2494, Nr. 1.11 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitge- Drucksache 13/2674, Nr. 2.30 teilt, daß der Ausschuß die nachstehenden EU-Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parlament zur Kennt- Ausschuß für Gesundheit nis genommen oder von einer Beratung abgesehen hat: Drucksache 13/218, Nr. 91 Innenausschuß Drucksache 13/614, Nr. 2.10 Drucksache 13/614, Nr. 2.11 Drucksache 12/3002, 13/725, Nr. 12 Drucksachen 12/7741, 13/725, Nr. 1.50 Drucksachen 13/1096 (Berichtigung) Drucksache 13/2306, Nr. 2.52 Drucksache 13/1338, Nr. 2.13 Drucksache 13/2674, Nr. 2.12 Ausschuß für Verkehr Finanzausschuß Drucksache 13/2306, Nr. 2.48 Drucksache 13/2306, Nr. 1.1 Drucksache 13/2306, Nr. 2.88 Drucksache 13/2674, Nr. 2.22 Drucksache 13/2306, Nr. 2.99 Drucksache 13/2674, Nr. 2.24 Drucksache 13/2494, Nr. 1.8 Drucksache 13/2674, Nr. 2.32 Drucksache 13/2674, Nr. 2.42 Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Wirtschaft Drucksache 13/2306, Nr. 2.32 Drucksache 13/2306, Nr. 2.4 Drucksache 13/2306, Nr. 2.43 Drucksache 13/2426, Nr. 1.6 Drucksache 13/2306, Nr. 2.89 Drucksache 13/2674, Nr. 2.29