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Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 12. Oktober 1998 Betr.: Irland, SPIEGEL-Almanach ’99

a, das ist schwer vermittelbar.“ So die Antwort des EU-Kommissionspräsidenten JJacques Santer im Interview mit der Brüsseler SPIEGEL-Redaktion (Seite 66) auf eine Frage, die sich stellt: ob das Grundübel bei den Finanzproblemen der Gemeinschaft nicht darin liege, daß in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit fast die Hälf- te des EU-Gesamthaushaltes, 90 Milliarden Mark, in die Taschen nur eines Berufs- standes, der Landwirte, fließe. Ein heikles Thema, wie Dirk Koch, SPIEGEL-Korre- spondent in Brüssel, zu spüren bekommt. Seit mehreren Wochen wogt große Aufre- gung quer durch Irland wegen Kochs Geschichte über die cleveren Bauern der Insel, die das EU-Subventionssystem bestens zu nutzen wissen und deshalb auf einer internen „Neidliste“ des Bonner Landwirtschaftsministeriums weit oben ran- gieren (SPIEGEL 39/1998). Beim Rind- fleisch greift danach der irische Bauer je Kilogramm 1,78 Mark ab, sein deutscher Kollege ganze 45 Pfennig. Dabei hatte Koch nicht die irischen Bauern, sondern ein fragwürdiges System im Visier, das die Direktzahlungen an die Landwirte künftig noch kräftig erhöhen will – ein System, dessen gesamte sogenannten obligatori- schen Ausgaben keiner parlamentarischen

W. VAN CAPELLEN / REPORTERS CAPELLEN VAN W. Kontrolle unterliegen. Koch, Santer Koch wußte, wovon er schrieb, weil er seit über 25 Jahren unter Iren lebt: Er hat ei- nen Feriensitz im Süden der Insel. Das macht ihn auch persönlich zum Ziel des Zorns. Der „Cork Examiner“ erging sich gar in deutschfeindlichen Parolen: Die meisten Deutschen, die sich in Irland angesiedelt hätten, seien gekommen, um für sich „die alte Ideologie der Nationalsozialisten vom ,Lebensraum‘“ zu verwirklichen, nicht mehr im Osten, sondern im Westen.Andere blieben vernünftig. „Tatsache ist“, schrieb der „Irish Independent“, „daß der Artikel Kochs unverblümt einige bittere Wahrheiten festge- halten hat. Viele in Brüssel sind auch der Meinung, daß es an der Zeit ist, einen stren- gen Blick auf das landwirtschaftliche Unterstützungssystem der EU mit seinen jährli- chen 35 Milliarden Pfund zu werfen.“ Einen Mißgriff bedauert Koch. Er nannte die Iren in seiner Geschichte einmal „Pad- dys“, im freundlichen Sinne des deutschen Sprachgebrauchs. Die irischen Leser fühl- ten sich beleidigt, weil sie – wie sollten sie anders – das Wort im historisch belasteten Sinne lasen, so wie es herablassend die einstigen britischen Herren der Insel gebraucht hatten. Sorry for that.

ie Welt auf 640 Seiten und von vielen Seiten. Zur Buchmesse erschien (ab Don- Dnerstag dieser Woche im Handel), im Hoffmann und Campe Verlag, erstmals ein Nachschlagewerk der besonderen Art, -Almanach ’99: ein journalistisches Lexikon von A (Afghanistan) bis Z (Zypern) mit historisch-po- litischen Analysen, mit einer Chronik der laufenden Ereignisse (Bundestagswahl inklusive), mit Themen des Jahres (Viagra in- klusive), mit Statistiken (Lebenserwartung eines Mannes in Ruan- da: 39 Jahre), mit Tabellen (größte Flughäfen, Nobelpreisträger, Formel-1-Sieger), mit Darstellungen internationaler Organisa- tionen. Preis: 25 Mark (als CD-Rom: 30 Mark; Buch plus CD- Rom: 48 Mark). Heinz P. Lohfeldt, verantwortlicher Redakteur des SPIEGEL-Almanach ’99: „Ein handliches und übersichtliches Nachschlagewerk, in dem man manches findet, was man wissen sollte, und vieles, was man schon immer wissen wollte.“

der spiegel 42/1998 3 Werbeseite

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Werbeseite In diesem Heft

Titel Weltwirtschaft auf der Kippe...... 110 Umverteilung von oben nach unten Seite 22 Indonesiens Sturz in die Armut ...... 122 Prominente Ökonomen über Wege Gerhard Schröder und Joschka Fischer aus der Krise ...... 128 Seite an Seite bei Bill Clinton: Rot-Grün SPIEGEL-Gespräch mit DIW-Chef und präsentiert sich der Weltmacht als Er- Lafontaine-Berater Heiner Flassbeck über folgs-Duo. Der US-Präsident gewährt den Spekulanten und neue Spielregeln für das Weltfinanzsystem ...... 132 neuen Partnern großzügig Aufschub bei der Entscheidung über eine deutsche Be- teiligung im Kosovo-Konflikt. Daheim Deutschland ziehen die beiden ihr Programm für den Panorama: Schon wieder Regierungsbeamte Koalitionspakt flott durch. Das Reform- befördert / Viagra-Schulung für Notärzte...... 17 Rot-Grün: Harmonie im Programm...... 22 paket sieht den Abbau vieler Steuerer- Interview mit dem grünen leichterungen für Unternehmen vor und Parteisprecher Jürgen Trittin über Entlastungen in den niedrigen Einkom- die Koalitionsverhandlungen ...... 26 / PANDIS R. WATSON mensklassen – eine kleine Umverteilung Bundespräsident: Der ungeliebte Clinton, Schröder von oben nach unten. Kandidat Johannes Rau ...... 28 FDP: Die neue Freiheit in der Opposition ...... 30 CDU: Junge Wilde gegen Volker Rühe ...... 31 SPD: Die Forderungen der Ost-Genossen ...... 32 Verkehr: Schnelles Ende für den Transrapid... 34 Hauptstadt: Mompers Comeback-Versuch.... 40 Partnerschaft mit den Siegern Seite 136 DDR: Die Akte Häber – Intrige im Politbüro... 48 Straßenkinder: Bilder aus der Gosse ...... 56 Eine rot-grüne Koalition schien Debatte: Der Berliner Innensenator ihnen der Untergang Deutsch- Jörg Schönbohm über die kirchliche Kritik lands zu sein, doch nach der an seiner Abschiebepraxis...... 61 Wahl arrangieren sich die Ver- Europäische Union: Interview mit treter der Wirtschaft mit den Kommissionspräsident Jacques Santer über neuen Regenten. Die Arbeitge- die Neuordnung der EU-Finanzen ...... 66 ber, so ihr Verbandspräsident Intellektuelle: Ende des Lagerdenkens nach dem Sieg von Rot-Grün?...... 72 Hundt, streben eine „neue Kul- Spielbanken: „Rien ne va plus“ in Sachsen ... 81 tur der Partnerschaft“ an. Das Zeitgeschichte: Wie Herbert Wehner seine Bündnis für Arbeit, das Kanz- stalinistische Vergangenheit schönte ...... 85 lerkandidat Gerhard Schröder A. FROESE versprach, scheint gesichert. Industrievertreter Hundt, Henkel, Stihl Gesellschaft Szene: Boom für Freizeitparks / Sterbehilfe aus der Schweiz ...... 91 Mode: Wolfgang Joop über den Trend zum Bizarren und Häßlichen...... 92 Seite 72 Fernsehen: Zum Abschied von Derrick – Was macht die Linke ohne Kohl? Horst Tapperts Memoiren ...... 98 Viele Jahre lebte der intellektuelle Diskurs vom Spott auf den Lieblingsfeind der Interview mit Derrick-Erfinder Linken, den ewigen Kanzler aus Oggersheim. Sorgt die neue „Berliner Republik“ für Herbert Reinecker über den Welterfolg seiner Krimi-Serie ...... 102 das Ende ideologischen Lagerdenkens – für eine neue Politik ohne Illusionen?

Wirtschaft Trends: Garzweiler-Streit in NRW beendet / Neuer Milliardenschaden bei der Treuhand ...... 107 Makel als Schönheitsideal Seite 92 Medien: Ex-Springer-Chef rechnet mit Kohl ab / Poker um Interview mit Erin O’Connors Hüfte ist zu Monica Lewinsky ...... 108 breit, das Gesicht von Karen Geld: 30-Jahre-Hypotheken kommen wieder / Elson sieht seltsam nackt aus Preisauftrieb für Ferienhäuser...... 109 – keines der neuen Star- Arbeitgeber: Funktionäre auf Schmusekurs Models, die bei den Moden- mit SPD und Gewerkschaften ...... 136 schauen in London und Interview mit Gesamtmetall-Präsident Werner Stumpfe über seine Idee Mailand auftraten, ist so per- einer Erfolgsbeteiligung für Arbeitnehmer.... 138 fekt wie Naomi Campbell. Privatisierung: Rostocker Hafen vor Der Designer Alexander dem Ruin...... 143 McQueen ließ seine Kleider Staatsbetriebe: Wer bleibt, wer geht? ...... 144 von einer Frau vorführen, die Autoindustrie: Überraschender ohne Unterschenkel geboren Chefwechsel bei ...... 148 wurde. Der Makel ist jetzt Telekommunikation: Mobilcom-Milliardär das Schöne. Wolfgang Joop Gerhard Schmid plant den nächsten Coup.... 150 (l.; m.) SIPA; (r.) STILLS / STUDIO X STILLS (r.) (l.; m.) SIPA; analysiert den Trend zur mo- Musikindustrie: SPIEGEL-Gespräch mit MTV-Chef Tom Freston Models Elson, Campbell, McQueen-Entwurf dischen Desillusionierung. über Jugendkult und Popgeschäft...... 156

6 der spiegel 42/1998 Ausland Panorama: Jean-Marie Le Pen zu seiner drohenden Anklage in München / Iranische Attacke auf die Taliban...... 163 Italien: Kommunisten stürzen Prodi...... 164 Rußland: Die Oktoberrevolution fand nicht statt ...... 168 Regierungsberater Oleg Bogomolow über die Bewältigung der Wirtschaftskrise .... 169 Türkei: Aufmarsch gegen Syrien ...... 171 Propaganda: Kriegshysterie der Serben ...... 174 USA: Clintons Schutzengel Hillary...... 178 Großbritannien: Schottische Nationalisten wollen weg von England ...... 188

Sport Fußballnationalelf: SPIEGEL-Gespräch mit Stefan Effenberg und Ehefrau Martina über die Gründe seines Rücktritts.... 196 ROBERTS / SIPA Handball: Gummersbach vor dem Ruin...... 201 Hillary Clinton Wissenschaft + Technik Prisma: Leguane reisen auf Flößen / Die betrogene Heldin Seite 178 Früherkennung von Brustkrebs-Metastasen... 205 Prisma Computer: Buch der Zukunft / Bill Clinton in den Mühlen des Impeachment-Verfahrens: Der Kongreß hat Unter- Chip bildet das Menschenhirn nach ...... 206 suchungen zur Amtsenthebung eingeleitet, jetzt kann den US-Präsidenten nur noch Biologie: Naturkundler erfassen seine Popularität retten – und die hängt auch von seiner Frau Hillary ab. Die Betro- Artenvielfalt...... 208 gene kämpft für ihn. Einst als kalt verschrien, wird sie nun bewundert. Automobile: Die neue S-Klasse – teures Wunderauto von Mercedes ...... 214 Asylpraxis: Beamte und Richter mißachten die Aussagen von Folteropfern ...... 216 Raumfahrt: Recycling-Raketen starten in Australien...... 223 Quotenrekorde mit Musik Seite 156 Utopien: Weinbau im Mittelmeer ...... 226 MTV wolle nicht nur Hits abspielen, sondern auch abenteuerlustig sein, sagt Tom Kultur Freston, Chef des amerikanischen Musikkanals. Der TV-Sender feiere in den USA Szene: Berner Justiz verfolgt den Nestbe- „einen Quotenrekord nach dem anderen“. Deutschland sei der Eckpfeiler in Europa. schmutzer Ziegler / Tom Stromberg über seine Pläne am Hamburger Schauspielhaus .. 233 Schauspieler: Wie DDR-Star Corinna Harfouch auch im Westen Furore macht ...... 236 SPIEGEL-Gespräch mit Corinna Harfouch über die Wende von 1989 und ihre Rolle in Eigensinnige Schöne Seiten 236, 238 dem neuen Film „Solo für Klarinette“...... 238 Theater: Marius von Mayenburgs Inzest- In der DDR war die Schau- Stück „Feuergesicht“ in München...... 243 spielerin Corinna Harfouch Zeitgeschichte: Rudolf Augstein über die ein Star, nach der Wende neue Hitler-Biographie von Ian Kershaw...... 244 Werbung: Hollywood-Star Dennis Hopper 1989/90 wurde sie es auch als Philosoph der Reklame...... 248 für das Fernseh- und Kino- Fernsehtechnik: Pro Sieben wagt einen publikum im Westen. Doch neuen Versuch mit 3D-Effekten...... 253 im SPIEGEL-Gespräch zu Pop: Wie Rockbarde Billy Bragg Texte von ihrem neuen Film, dem Woody Guthrie vertonte ...... 254 Psychothriller „Solo für Literatur-Nobelpreis: Interview mit dem Klarinette“ mit Götz Geor- Schriftsteller José Saramago über seine portugiesische Heimat ...... 256 ge, bekennt sich die eigen- Unterhaltung: Die Autorin Tanja Kinkel und sinnige Schöne zu einem ihre erfolgreichen historischen Romane ...... 258 Rest Ostalgie: „Ganz klar, Verleger: Interview mit der die DDR ist mein Lebens- FILM SENATOR türkischen Menschenrechtsaktivistin thema.“ Harfouch, George im Film „Solo für Klarinette“ Ay≠e Nur Zarakoglu...... 262 Bestseller...... 263 Film: „Liebe das Leben“ von Erick Zonca .... 264 Fernseh-Vorausschau ...... 274

Briefe ...... 8 Dennis Hoppers Liebe zur Werbung Seite 248 Impressum...... 14, 268 Hollywood-Star Dennis Hopper interessiert sich, in einer TV-Dokumentation zur Leserservice ...... 268 Chronik...... 269 Werbe-Welt, vor allem dafür, wie man am besten „Menschen von ihrem Geld trennt“. Register ...... 270 Schon beim Kultfilm „Easy “ sei er durch Reklame inspiriert worden. Personalien...... 272 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 278

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nach vier Jahren Erfolglosigkeit wird die CDU/CSU mit neuem Kanzlerkandidaten „Nach 100 Tagen der gewählten gewählt, und die Bundesrepublik geht wei- Regierung vergessen die ter den Bach runter. Und Peter Zadek als einsamer Rufer in der Wüste. meisten Wähler die Versprechen der Kiel Rolf Raabe Gewählten. Die Differenz zwischen Das 100-Tage-Programm des SPIEGEL – Anspruch und Wirklichkeit als ob sich das Volk der Pfründiers vom verkümmert auf ein Minimum: Kaviar etwas wegkratzen ließe! unbeschwertes Weiterregieren.“ Inzlingen (Bad.-Württ.) Wolfgang Rüsch In vielen Punkten stimme ich mit Franzis- Walter Beer aus Bad Kreuznach zum Titel „Was tun? – Das 100-Tage-Programm (für jede Regierung)“ ka Schenk überein, dennoch denke ich, SPIEGEL-Titel 40/1998 daß sie ihre Landsleute unter Wert ver- kauft. Aus grauen Städten sind liebens- werte Schmckstücke geworden, die vielen Mensch, Biermann, jetzt halt doch endlich Städten im Westen den Rang ablaufen kön- Einsamer Rufer in der Wüste mal das Maul. Du warst Kommunist und nen; auch Erfurt gehört dazu. Nr. 40/1998, Titel: Was tun? – bist Renegat, na gut. Das mußt Du mit Dir Braunschweig Tobias B. Schrader Das 100-Tage-Programm (für jede Regierung) selbst ausmachen. Aber jetzt permanent DVU und PDS über einen Kamm zu sche- Eine Bürgerbitte frei nach „Herbsttag“ von Ein langer, oft peinlicher Alptraum ist zu ren und als „totalitäre Kadaverchen“ Rainer Maria Rilke: Herr: Es ist Zeit. Der Ende. Das bürgerliche Lager ist endlich an gleichzusetzen, das ist einfach peinlich. Wahlkampf war sehr groß. Leg Tatendrang seiner fundamentalistischen Marktgläu- Gregor Gysi gleich Gerhard bigkeit gescheitert. Der gesellschaftliche Frey, hast Du eigentlich noch Schaden ist enorm, die verlorenen Jahre alle Tassen im Schrank? fehlen. Ohne wirksame Kontrolle bleibt Hofheim (Hessen) Hadi Geiser der Markt eine Veranstaltung zur Profit- maximierung zum Vorteil weniger. Es fragt Unter der Überschrift „Tut was sich nun: Will Schröder ebenfalls am unre- für unser Land“ haben Sie 31 gulierten Markt scheitern? Zeitgenossen (in der Regel mit München Werner Mitkin erheblichem Einkommen) die Chance einer Stellungnahme Der unerwartet eindeutige rot-grüne Wahl- anläßlich der Bundestagswahl sieg ist der „größte anzunehmende Glücks- eingeräumt. Wie man solche fall“ für die Nachkriegs-BRD, die damit Herrschaften kennt, war es endgültig historisch geworden ist. Mit die- kaum verwunderlich, daß kaum sem wahrhaft demokratischen Ereignis ha- einer schreibt, was er/sie denn ben wir uns selbst und der Welt bewiesen, für unser Land tun will, viel- daß Bonn nicht für Weimar stand: Deutsch- mehr werden jede Menge For- „Na, dämmert’s?“ kölner stadt-anzeiger land hat seine Hausaufgaben gemacht. derungen an andere und dümm- Regensburg Gertrud Pawlik liche Allgemeinplätze losgelassen. Der in all die Wahlversprechen, und auf die Lü- SPIEGEL hätte besser Karl Eimer von der gen laß die Hunde los. Befiehl den Macht- Erzbischof Dyba nennt uns ein „vergrei- Zeche Prosper fragen sollen. Der hätte Ih- habenden, klug zu sein; gib ihnen keine sendes Volk von Individualisten und Egoi- nen keine Sülze geboten, sondern klar ge- Krisen für die ersten Tage. Dräng sie zum sten, die ihre Altersversorgung vom Staat sagt, was er geändert haben will. Der hät- Miteinander hin und jage Ehrlichkeit (und erwarten“. Damit kann er nur sich und sei- te auch keine Hemmung gehabt zu beken- etwas Spaß) in sie hinein. Wer jetzt nicht nesgleichen meinen, die eine fette Pension nen, wen er wählen wird. Arbeitsplätze schafft, dem glaubt man beziehen (17000 Mark monatlich für ihn), Essen Johannes Gorlas nimmer mehr.Wenn jetzt die Steuern stei- ohne jemals auch nur einen Pfennig ein- gen, wird man wütend werden. Wird gezahlt zu haben. Die Arbeitnehmer je- Der Beitrag von Peter Zadek trifft als ein- schimpfen, seine Meinung ändern und er- doch zahlen nicht nur in eine Solidarge- ziger den Nagel auf den Kopf. Nur, keine härten. Und wird in Streiks und Demos meinschaft ein, sondern versorgen alle Aus- der gewählten Parteien wird wirklich die immer hin und her unruhig wandern oder und Übersiedler, Flüchtlinge, Kriegsopfer Forderungen erfüllen wollen. SPD/Grüne in den eigenen vier Wänden. und andere, für die der Staat aufkommen werden nichts Wesentliches ändern, und Erlangen Thomas Schroth müßte, mit einer Altersrente. Außerdem kommen die pflichtversicherten Beitrags- zahler über ihre Beiträge zur gesetzlichen Vor 50 Jahren der spiegel vom 16. Oktober 1948 Krankenkasse für die hohen Krankheits- Der französische Außenminister Robert Schuman zu Besuch in Rhein- kosten von Asylbewerbern, Bürgerkriegs- land-Pfalz Eine „Basis absoluten Vertrauens“. Die „Zentrale Kontroll- flüchtlingen und anderen Zugereisten auf, Kommission“ in Sachsen Überprüfung der „Plan-Disziplin der Privat- und über die Pflegeversicherung finanzie- Textilindustrie“. Der französische General Charles de Gaulle wirbt für ren sie eingereiste gebrechliche Alte. Gut- sich auf Korsika „Nichts kann mich hindern, legal die Macht zu ergrei- fen. Kein Ausweg für die verzwickte Situation der polnischen Kirche menschen wie Erzbischof Dyba tragen kei- Der Papst kritisiert die Vertreibung der Deutschen. Der Schriftsteller nen Pfennig zu diesen Lasten bei, erdrei- Werner Bergengruen fragt: „Warum ich dichte?“ sten sich aber, immer mehr Forderungen an Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de die Arbeitnehmer zu formulieren. Titel: Konrad Adenauer als rheinischer Gartenfreund Berlin Ingrid Freitag

8 der spiegel 42/1998 Werbeseite

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Es ist unerträglich und Erbrechen erzeu- Ohne Skrupel, ohne Reue, ohne Scham gend, dem omnipotenten Gequatsche jen- Nr. 40/1998; Judenvernichtung: seits jeder Schuld und Sühne des Herrn Dr. Die Erinnerungen des Auschwitz-Arztes Hans Münch Münch zuzuhören. Ist dieses „Nichts“, zu dem Auschwitz wird, nichts als die Banalität Die Ignoranz – oder ist es tatsächlich das Al- des Bösen, die Hannah Arendt gemeint hat? ter – des Hans Münch lassen mich frösteln. War in den Köpfen der Täter dieses Nichts Ich selbst wurde in jungen Jahren mit dem und nicht nur in deren Erinnerung? Es Schrecken von Auschwitz konfrontiert. Im könnte erklären, warum all die bohrenden Rahmen einer deutsch-polnischen Jugend- Fragen immer wieder zu „nichts“ führen. Es begegnung besuchten wir diesen unheimli- grenzt an ein Trauma, den Artikel von Bru- chen und beängstigenden Ort deutscher Ge- no Schirra zu lesen, aber er könnte geeig- schichte. Ich kann nicht nachvollziehen, wie net sein, ganze Abhandlungen zu ersetzen. Menschen, die diesen Schrecken überlebt Kehl (Bad.-Württ.) Roland Knebusch haben, mit Menschen, die ihn verursacht haben, in Kontakt treten können. Hier bleibt Es ist schon erstaunlich, daß es Ihnen ge- mir nur Bewunderung für deren Stärke! lungen ist, meinem 87jährigen Vater, der Worms Kai Müller seit zwei Jahren zunehmend an geistiger Konzentrationsschwäche lei- det, nach drei Stunden und sieben Minuten „Schindlers Liste“ noch ein Interview ab- zuringen. Da kann es schon passieren, daß ganze Sätze falsch verstanden oder inter- pretiert werden, wie zum Bei- spiel, daß der Kater Peter eine Kätzin ist und Minka heißt. Roßhaupten Dirk Münch

Wie ist es möglich in einem Rechtsstaat, daß ein KZ-Arzt ARCHIWUM H. KOELBL im katholischen Allgäu un- KZ-Arzt Münch 1944, 1998: Völlig unbelehrbar behelligt ein biederes Dasein führen kann, bis zum Lebens- Es verwundert uns sehr, daß der SPIEGEL ende? Ohne Skrupel, ohne Reue, ohne es anscheinend für angemessen hält, einem Scham, ohne intellektuelle Einsicht ? offensichtlich völlig unbelehrbaren und in Luxemburg Gaston Hoffmann seiner Realitätswahrnehmung gestörten Mörder und Folterer im Namen der Wis- senschaft ein Forum zu bieten, seine schwer Das niedrigste Maß an Ablehnungen antisemitischen Parolen nahezu unkom- Nr. 39/1998, Irland: Europameister im Absahnen mentiert und unbewertet von sich zu geben. Dies empfinden wir für die Opfer dieses Ich bin enttäuscht, daß der SPIEGEL es für Mannes und auch für uns als untragbar. angebracht hielt, einen nach unserer Auf- Berlin Lutz Mauersberger, Janne Partikel fassung unausgewogenen und schlecht re- cherchierten Artikel zu veröffentlichen.Als Die abstoßende Gestalt des greisen KZ-Arz- erstes muß festgestellt werden, daß die EU- tes Hans Münch gibt ein Beispiel für das, Agrarpolitik und sämtliche EU-Programme was Robert Jay Lifton in seiner hervorra- für alle Mitgliedstaaten gelten, nicht nur für genden psychologischen Studie „Ärzte im Irland. Zweitens: Da die Landwirtschaft für Dritten Reich“ (Klett-Cotta, ; 1988) die irische Wirtschaft sechsmal wichtiger ist das Phänomen der „Dopplung des Viktimi- als für Deutschland, profitieren wir propor- sierers“ (einer, der andere zu seinen Opfern tional mehr von der gemeinsamen Agrar- macht) nennt. Auschwitz war eine Wirk- politik – so wie Deutschland als hochindu- lichkeit für sich, wo sich ein omnipotentes, strialisiertes Land mehr vom Binnenmarkt gewissenloses Auschwitz-Selbst von der ei- für industrielle Produkte profitiert. Drittens gentlichen, mitunter gar liebenswürdigen ist der Vergleich im Bereich Rindfleisch ein- Person des Arztes abspaltete. Daher, so seitig, da er sich auf Prämien konzentriert Lifton, konnte man selbst von Mengele sa- und dabei andere EU-Unterstützungen für gen, daß er unter anderen Umständen ein den Rindfleischsektor außer acht läßt.Vier- relativ normaler deutscher Medizinprofes- tens gibt es in Irland ein umfangreiches Sy- sor geworden wäre. Die Heranbildung eines stem für die Inspektion von Bauernhöfen, Auschwitz-Selbst bewirkte eine seelische das auf EU-Ebene überwacht wird. Das Er- und moralische Kapitulation: „Ich kann gebnis war, daß wir das niedrigste Maß an nichts daran ändern, daß die Gefangenen Ablehnungen von allen Mitgliedstaaten im hierher kommen … Ich kann bloß versu- letzten Prüfungsjahr hatten. chen, das Beste daraus zu machen.“ Bonn Philip Carrol Hennef (Nrdrh.-Westf.) Wolf B. Reuter Botschaft von Irland

12 der spiegel 42/1998 Stimmung in lichtarmer Zeit Nr. 40/1998, Medizin: Johanniskraut – der deutsche Sonderweg in der Depressionsbehandlung

Es entsteht bedauerlicherweise der gänzlich falsche Eindruck, Depressionen könne man mit Psychopharmaka wegwaschen – und da erweise sich (nach Prozac) in Deutsch- land das altbekannte Johanniskraut nun- mehr als besonders gute Schmierseife! Vorwiegend medika- mentöse Behandlung – auch mit natür- lichen Substanzen – ist aber auch in Deutschland nur bei wenigen Depres- sionsformen ange- bracht. Bei den mei- sten Depressionen, das heißt den neuro-

M. RUCKSZIO / HELGA LADE FOTOAGENTUR / HELGA M. RUCKSZIO tisch bedingten Ver- Johanniskraut stimmungen ist als kausale – und nicht nur als „zuschmierende“ und nur vorüber- gehend wirkende – Therapie viel eher eine psychotherapeutische Behandlung ange- zeigt. Rechtzeitige fachpsychotherapeuti- sche Krisenintervention, Kurzzeit- oder wenn nötig, auch Langzeitpsychotherapie verhindern oft Chronifizierung, unergiebi- ge Ärzte-Odysseen und unnötige und jah- relange Medikamentenbehandlungen ohne Bekämpfung der Ursachen, die nicht selten zu Mißbrauch und Sucht führen. a. M. Dr. Frank Roland Deister Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten

Aus meinem Freundeskreis ist mir ebenfalls ein Fall bekannt, bei dem diese Heilpflan- ze „wahre Wunder“ vollbracht hat und der Einsatz von „harten“ Antidepressiva ver- mieden werden konnte. In diesem Zusam- menhang habe ich mich mit diesem Medi- kament näher befaßt und möchte Sie nun darauf hinweisen, daß Johanniskraut-Mit- tel, besonders in hoher Konzentration, die Lichtempfindlichkeit der Augen stark her- aufsetzen, so daß vor einem Sonnenbad oder Solariumbesuch gewarnt werden muß. Nicht zuletzt deshalb wird Johannis- kraut in den Lexika der Naturheilmedizin als das „Wintermittel“ beschrieben, das dem Menschen helfen soll, in der lichtar- men Jahreszeit „in Stimmung zu bleiben“. Duisburg Eberhard Seitz

Ihre Formulierung, das von Lichtwer Phar- ma hergestellte Jarsin 300 sei das einzige Präparat mit einer Zulassung mit der Indi- kation „leichte bis mittelschwere depressive Episoden“ mag als solche richtig sein, ist aber irreführend. Schließlich gibt es eine ganze Reihe von zugelassenen Johannis- krautpräparaten mit ähnlichen Indikationen. St. Georgen (Bayern) Dr. Anton Kraus

der spiegel 42/1998 Briefe

te Reform des Bundesan- war 1994 – , sanken die Scheidungen um 25 gestelltentarifvertrages ist Prozent. Seine flexiblen Arbeitszeiten prak- ausgeblieben. Daher müs- tiziert VW mit wenigen Haupt- und vielen sen die Reformen des Ar- persönlichen Teilzeitmodellen. Über 20000 beitsrechts in der Diako- Mitarbeiter in Wolfsburg bestimmen ohne nie eigenständig begon- Zeiterfassung ganz individuell, wann sie für nen werden. Bei dem jetzt das Erbringen ihrer Arbeitsleistung kom- „geschaffenen Niedrig- men und gehen. Weitere 22000 arbeiten in lohnbereich“ handelt es klaren Schichtsystemen auf Basis einer 28,8- sich um Vergütungen in Stunden-Woche.Von den 168 Stunden einer Höhe der gewerblichen Kalenderwoche bleibt damit viel für Fami- Wirtschaft, um Arbeits- lie und Freizeit übrig. plätze in der Diakonie zu Wolfsburg Dr. Helmuth Schuster erhalten, die ohne die Re- Zentrales Personalwesen der VW AG

DPA form outgesourct, also Protest gegen kirchlichen Arbeitgeber: Altbekannter Choral fremdvergeben würden. Die „Notlagenregelung“ In zentralen Punkten unvereinbar darf nur zeitlich befristet durch Dienst- Nr. 40/1998, Hauptstadt: Warum nicht gleich ehrenamtlich? vereinbarung beschlossen werden, wenn Aufschwung für die Möbelspediteure Nr. 40/1998, Arbeitgeber: die Ausgaben die Einnahmen übersteigen Wie die Kirche mit ihren Mitarbeitern umspringt und die Einrichtung sich verpflichtet, kei- In Ihrem Artikel zum Bonn-Berlin-Umzug ne betriebsbedingten Kündigungen durch- wird der Eindruck vermittelt, ich hätte mit Selbstgestricktes, minderwertiges (Kirchen-) zuführen. meinem Widerspruch gegen den vom Bun- Recht, undurchschaubare Hierarchien mit desbauministerium geplanten verbindli- Stuttgart B. Adamek der Folge organisierter Reibungsverluste Diakonisches Werk der chen Rahmenvertrag für die Privatumzüge und vom Geist wenig erhelltes Führungs- Evangelischen Kirche in Deutschland der Mitarbeiter Maßnahmen zugunsten personal, gepaart mit unermeßlichem Reich- kleiner und mittelständischer Spediteure tum, bilden den konstituierenden Rahmen, Dazu fällt mir nur ein Satz aus der Tragö- verhindert. Das ist schon deswegen nicht in dem die beiden großen Kirchen unkon- die „Der Tod des Empedokles“ ein: „Hin- richtig, weil die möglichen Kostenvorteile trolliert, ja unkontrollierbar, als „knallhar- weg von mir, ich kann den Mann nicht se- eines solchen Verfahrens auf seiten der te Arbeitgeber“ agieren. Für die bei den hen, der Heiliges wie ein Gewerbe treibt.“ Kirchen Beschäftigten – in der großen Waiblingen (Bad.-Württ.) Anneliese Fritz Mehrzahl Frauen – sind „Sparzwänge“, „betriebswirtschaftliche Notwendigkeiten“ und der gebetsmühlenartig vorgetragene Viel Freizeit Verweis auf sinkende Kirchensteuereinnah- Nr. 40/1998, Arbeitszeit: Turbulenzen in Wolfsburg men keineswegs eine aktuelle, wieder vor- übergehende Erscheinung. Seit vielen Jah- Was ist in Wolfsburg los? Scheidungsboom, ren kennen sie diesen Choral. Verkehrschaos und Vereinsdürre – alles we- Berlin Christian Robbe gen der Vier-Tage-Woche bei VW? Nein. Die Sportvereine erfreuen sich reger Mit-

Was für Millionen von Beschäftigten in gliedschaft – 33 Prozent der Wolfsburger DIAGONAL Deutschland Normalität ist, muß endlich sind aktiv. Die Quote ist seit Jahren stabil. Möbelpacker bei der Arbeit auch für die Kirche Gültigkeit haben: ta- Nur Abwanderungen ins Umland hat es ge- Besser genutzte Kosten-Vorteile rifvertragliche Absicherung der Arbeitsbe- geben und damit mehr Individualverkehr. dingungen, das heißt keine Arbeitsrechts- Der Scheidungsanstieg in der Stadt wird Spediteure von großen Unternehmen we- setzung nach Gutsherrenart. Bezeichnen- hier und da auf VW zurückgeführt. Doch sentlich besser genutzt werden könnten als derweise ist die gewerkschaftliche Organi- von den 47000 bei VW in Wolfsburg Be- von kleineren. Vor allem aber mußte das sierung bei der Kirche sehr gering (?!); die schäftigten wohnen lediglich 11700 verhei- Justizministerium der entsprechenden Ka- Durchsetzungsfähigkeit der Interessen der ratete Mitarbeiter in Wolfsburg, einer Stadt binettsvorlage schon deshalb widerspre- kirchlich Beschäftigten wächst mit jedem mit insgesamt 127000 Einwohnern. Und: Als chen, weil der Entwurf in zentralen Punk- Gewerkschaftsmitglied. Soziale Arbeit die Vier-Tage-Woche eingeführt wurde – das ten mit dem geltenden Handels-, Umzugs- wird sonst immer mehr zum Billiglohn- kosten- und Verbraucherschutzrecht nicht sektor.Warum nicht gleich ehrenamtlich?“ vereinbar war.Vor diesem Hintergrund hat Neunkirchen (Bayern) Norbert Feulner das Bauministerium die Kabinettsvorlage VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für aus eigenem Entschluß zurückgezogen. Panorama, SPD, Hauptstadt, DDR, Straßenkinder, Debatte, Spiel- Die Diakonie ist ein Verband mit über banken, Privatisierung: Gunther Latsch; für Rot-Grün, Bundespräsi- Bonn Heinz Lanfermann 30000 selbständigen, unabhängig vonein- dent, FDP, CDU, Verkehr, Zeitgeschichte (S. 85), Chronik: Michael Staatssekretär des Justizministeriums ander wirtschaftenden Einrichtungen. Die Schmidt-Klingenberg; für Trends, Medien, Geld, Titelgeschichte, paritätisch aus Vertretern der Mitarbeiter Arbeitgeber, Staatsbetriebe, Autoindustrie, Telekommunikation, Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Musikindustrie: Gabor Steingart; für Europäische Union, Titelge- vollständiger Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu und Einrichtungsleitungen besetzte Ar- schichte (S. 122), Panorama Ausland, Italien, Rußland, Türkei, Propa- veröffentlichen. beitsrechtliche Kommission des Diakoni- ganda, Großbritannien: Dr. Romain Leick; für Fußballnationalelf, Handball: Alfred Weinzierl; für Prisma, Biologie,Automobile, Raum- schen Werkes der EKD („Diakoniekom- fahrt, Utopien: Johann Grolle; für Szene, Mode, Fernsehen, Pop, mission“) orientiert sich weiterhin am Öf- Literatur-Nobelpreis, Verleger, Bestseller, Fernseh-Vorausschau: Dr. In der Heftmitte dieser SPIEGEL-Ausgabe befindet sich fentlichen Dienst, weshalb die Vergütungen Mathias Schreiber; für namentlich gezeichnete Beiträge: die Verfas- in einer Teilauflage ein vierseitiger Beihefter der Firma ser; für Briefe, Register, Personalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Subaru, Friedberg. Einer Teilauflage dieser SPIEGEL- für Diakoniemitarbeiter dieses Jahr im We- Manfred Weber; für Titelbild: Thomas Bonnie; für Gestaltung: Rainer Ausgabe klebt eine Postkarte der Firma Rover Deutsch- sten zum selben Zeitpunkt und in der sel- Sennewald; für Hausmitteilung: Dr. Fritz Rumler; Chef vom Dienst: land, Neuss, sowie des SPIEGEL-Verlages/Abo, Ham- ben Höhe wie im Öffentlichen Dienst er- Thomas Schäfer (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) TITELBILD: Zefa; Sygma burg, bei. Eine Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ent- höht worden sind. Die einhellig geforder- hält eine Beilage der Firma ars mundi, Hannover.

14 der spiegel 42/1998 Werbeseite

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Werbeseite Panorama Deutschland FOTOS: W. MAUSOLF W. FOTOS: Sprengung eines Wohnblocks in Eisenhüttenstadt

PLATTENBAUTEN Doch es war die billigste Lösung. Eine richtige Sanierung wäre zehnmal so Zitate Sanierung teuer geworden. 1967 war das Betonsilo fertiggestellt »Ein toter Indianer ist ein mit Dynamit worden und diente als Ledigenwohn- guter Indianer.« heim. Die „Siedlung des komplexen Helmut Kohl, Noch-Vorsitzender der CDU, ei der Totalsanierung von Platten- Wohnungsbaus“, wie die Platten- über seine künftige Rolle in der Partei Bbauten in Ostdeutschland ist ver- ansammlungen in der DDR hießen, soll- gangene Woche in Eisenhüttenstadt te nach der Wende als Bürohaus ver- »Mit Ihren 60, so wie Sie erstmals die radikalste Methode ange- wendet werden. Es fanden sich aber da sitzen, sind Sie noch ein wandt worden: Rund 250 Kilogramm nicht genügend Mieter für die triste Im- Sprengstoff ließen einen 35 Meter ho- mobilie. Nun soll dort eine Grünanlage junger Mann. Sie könnten hen und 80 Meter langen Wohnblock entstehen. bei uns noch mitmachen als binnen Sekunden in sich zusammen- In Ostdeutschland leben rund drei Mil- Junger Wilder.« sacken. Der große Knall kostete den Ei- lionen Menschen in Plattenbauten. Wo Helmut Kohl auf einem Geburtstagsempfang gentümer, die Eisenhüttener Gebäude- es machbar ist, werden die Häuser sa- für Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt wirtschaft, rund zwei Millionen Mark. niert, andernorts wird abgerissen.

BEFÖRDERUNGEN nicht gekannten Ausmaß nach. Daß es sich hierbei um CDU- Parteimitglieder bzw. -Sympathisanten handelt, kann beim be- sten Willen nicht als Zufall bezeichnet werden“. Bohl habe den Letzter Guß Personalrat nicht „rechtzeitig und umfassend“ informiert. „Nicht nachvollziehbar“ sei auch, daß „trotz fehlender Haus- haltsmittel“ rasch noch sechs Regierungsdirektoren und Mini- aus dem Füllhorn sterialräte im Kanzleramt auf eine höhere „Leistungsstufe“ angehoben worden seien – was immerhin zu einer Gehalts- nbeeindruckt von öffentlicher Kritik haben die Noch- steigerung von monatlich 300 Mark führt. URegierenden in Bonn auch vorige Woche weitere Partei- Eine Gefälligkeitsentscheidung konnte der Personalrat freilich gänger befördert: Kanzleramtschef Friedrich Bohl (CDU) hob stoppen: Matthias Freundlieb, Vorsitzender des „CDU/CSU- drei Ministerialräte auf den letzten Drücker von A-16-Stellen Arbeitskreises im Bundeskanzleramt und Bundespräsidialamt“, auf B-3-Posten. Das bringt den Betroffe- sollte Ministerialrat für Bundesratsangele- nen 2000 Mark mehr im Monat. Gegen genheiten werden. Nach Uecks Protest zog die allzu offensichtliche Vetternwirtschaft Bohl die Ernennung des Parteifreundes hat inzwischen der Personalrat des Hau- zurück. Freundlieb hatte sich noch im Juni ses protestiert. Dessen Vorsitzender Car- mit hehren Worten dagegen gewehrt, daß sten Ueck teilte seinen Kollegen vergan- „ihre Pflicht erfüllende Beamte ungeach- genen Donnerstag mit, daß er bis zum tet ihrer Eignung und Qualifikation zum Regierungswechsel „keine Beförderungs- Spielball parteipolitischer Machtinteressen entscheidungen mehr“ mittragen will. werden“. Damals war es ihm freilich dar- Nach der verlorenen Wahl, so Ueck, kä- um gegangen, vom Personalrat vor mögli- men Bohl „bzw. seine Getreuen ihrer chen Grausamkeiten einer neuen Regie-

,Fürsorgepflicht‘ gegenüber verdienst- PRESS ACTION rung geschützt zu werden – und nicht vor vollen Amtsangehörigen in einem bisher Bohl vor Kanzleramtsbaustelle in Berlin den Freundlichkeiten der alten.

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BUNDESBEAMTE West-Geld für alle ngleicher Lohn soll die Deutschen Uin Ost und West nicht länger tren- nen – zumindest dann nicht, wenn sie Beschäftigte des Bundestags sind. Auch nach dem Umzug sollen rund 4000 Par- lamentsmitarbeiter in Berlin in den Ge- nuß einer Vergütung nach Westtarif kommen, obgleich die meisten von ihnen im Ostteil der Stadt arbeiten wer- den. Darauf verständigte sich die Bon-

ner Personal- und Sozialkommission in BÖNING / ZENIT P. J. ihrer letzten Sitzung kurz vor der Wahl. Tennisanlage in Wandlitz (Modell) Nach geltendem Recht bekommen Be- amte in Ost-Berlin nur 86,5 Prozent der UMZUG Besoldung ihrer Kollegen mit Arbeits- platz im Westen. Trickreich argumen- tierten die Umzugsplaner nun in einem Return nach Wandlitz internen Bericht, die Bundestagsverwal- tung könne ihre „Dienstleistungen nur er Machtwechsel in Bonn, weiß der litz“, ehemals streng bewachte Wohn- unmittelbar, insgesamt und ungeteilt er- DFachmann Günther Bosch, „ist ein anlage des SED-Politbüros. Hier, neben bringen“. Folglich sei der „Begriff des Gewinn für den deutschen Tennissport“. einer Reha-Klinik, eröffnet Bosch An- Arbeitsplatzes für die Beschäftigten ein- Der ehemalige Boris-Becker-Trainer fang nächsten Jahres eine internationale heitlich auf das Reichstagsgebäude hin rechnet Gerhard Schröder „zusammen Tennisakademie, hier will auch der zu definieren“ – und der Bau liegt im mit Klaus Kinkel zu den beiden besten Bundestagsverein sein Wettkampfzen- Westen. tennisspielenden Politikern“. trum einrichten. Pech dagegen haben jene Beamte, die An der neuen Kompetenz ist auch ein Klaus-Rüdiger Landowsky, Berlins CDU- für die Regierung in Berlin arbeiten CDU-Mann interessiert: Engelbert Nelle, Fraktionschef und Mitglied im exklusi- werden. Mit Ausnahme des Innen- und Vorsitzender der Sportgemeinschaft ven Tennisclub LTTC Rot-Weiß, wirft Verteidigungsministeriums stehen alle Deutscher Bundestag e.V., will dem künf- den Bundestagskollegen vor, die „Ten- Dienstgebäude östlich der einstigen tigen Regierungschef ein Aufnahmefor- nis-Quarantäne Wandlitz“ den Berliner Mauer. Zwar werden Umzügler aus mular schicken – Noch-Kanzler Helmut Vereinen nur deshalb vorzuziehen, weil Kohl ist schließlich auch Mitglied. sie „inkubationsfrei wie in Bonn leben Doch wenn Schröder unterschreibt und wollen“. Nelle weist das zurück: „Jeder in der Tennisabteilung des Vereins ab und kann sich fürs tägliche Training einen an spielt, würde er damit nicht nur zum Verein suchen, kann also auch bei Herrn Nachfolger Kohls, sondern auch von Landowsky spielen – wenn er es sich lei- Erich Honecker. Denn die Bundestags- sten kann.“ sportler werden nach dem Berlin-Um- Rot-Weiß nimmt freilich nicht jeden auf. zug dort antreten, wo früher Walter Aber „Minister, Staatssekretäre und Ab- Ulbricht Pingpong spielte, Honecker geordnete“, so Landowsky, seien durch- schwamm und Egon Krenz um die Häu- aus willkommen: „Denen bieten wir Di- ser joggte: in der „Waldsiedlung Wand- plomatenstatus“ – also Rabatt.

JUSTIZ P. LANGROCK / ZENIT P. Wirtschaftsministerium im Osten Berlins Am Tatort kassieren Bonn finanziell nicht heruntergestuft, iedersachsens Justizminister Wolf Weber (SPD) will, um Bagatelldelikte schneller egal wo sie sitzen. Wohl aber gibt es Nund wirksamer ahnden zu können, ertappte Ladendiebe oder Schwarzfahrer mit eine nach Ost und West gesplittete Ar- einem Strafgeld belegen. „In der Regel 300 Mark“, so Webers Vorschlag, sollen die Tä- beitszeit. Die Beschäftigten etwa im ter „möglichst noch am Tatort“ zahlen. Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft wie etwa Auswärtigen Amt oder Justizministe- speziell geschulte Polizisten sollen das Geld eintreiben. Bisher werden Kleinkriminelle rium werden in der Woche 1,5 Stunden meist erst Monate nach der Tat von der Staatsanwaltschaft befragt, viele Verfahren länger arbeiten müssen als ihre Kolle- anschließend gegen Zahlung einer Geldbuße eingestellt. „Die sollen aber sofort gen im nur drei Kilometer entfernten spüren, was sie getan haben“, fordert der SPD-Politiker. Darüber hinaus plädiert We- Innenressort. Im Osten gilt nämlich die ber für ein bundesweites Zentralregister für Bagatelldelikte, um Mehrfachtäter besser 40-Stunden-Woche. „Da kann kein identifizieren zu können. In vielen Großstädten müssen Staatsanwälte bereits über 60 Westbeamter Bestandschutz beanspru- Prozent ihrer Zeit Kleindelikten wie Ladendiebstahl oder Schwarzfahren widmen. chen“, so ein Sprecher der ÖTV, „das Weber will seinen Vorschlag „möglichst noch in diesem Jahr“ per Bundesratsinitiative kann nur die neue Regierung ändern.“ oder zusammen mit dem Bundesjustizministerium im Parlament einbringen.

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JUNGE UNION der Jungen Union niederlegen. Seine potentielle Nachfolgerin Hildegard Mül- Zank unter Wilden ler, 31, wird hingegen Schwierigkeiten haben, einen CDU-Führungsposten zu stdeutsche Landesvorsitzende der erhalten, weil sie zum Zeitpunkt des OJungen Union (JU) haben die Kan- Parteitags noch gar nicht im Amt ist. didatur des derzeitigen Bundesvorsit- „Dann sind wir als CDU-Jugend ab- zenden der JU, Klaus Escher, für das genabelt – auch vom Geld der Partei“, Präsidium der CDU heftig kritisiert. fürchtet Reschke. Der Brandenburger Der Berliner JU-Chef Thorsten Reschke Petke wirft Escher gar gezielte Manipu- und sein Brandenburger Kollege Sven lation um der eigenen Karriere willen Petke fürchten um den Einfluß der Ju- vor: Escher habe das Treffen der Jungen gendorganisation in der CDU. Hinter- Union absichtlich auf Ende November grund: Als JU-Vorsitzender hat Escher, verschoben, rund drei Wochen nach 33, zwar gute Chancen, auf dem Son- dem CDU-Konvent. Petke: „Das hat er derparteitag Anfang November in die doch nur gemacht, um sich noch als JU- CDU-Führung einzurücken – Ende No- Chef das Fenster für seine Kandiatur vember aber wird Escher sein Amt in zum Präsidium zu öffnen.“ J. H. DARCHINGER J. M. URBAN Escher Müller

POTENZPILLE stellerfirma Pfizer im Rettungsdienst tätige Organisationen und Notärzte hin- Warnung an Retter gewiesen. In Kombination mit Nitrat- Medikamenten, die bei Herzattacken otärzte sollten Herzpatienten vor häufig routinemäßig gegeben würden, Neiner Behandlung immer fragen, ob könne es zu einem „plötzlichen, be- sie das Potenzmittel Viagra eingenom- drohlichen Blutdruckabfall“ kommen, men haben. Darauf hat die Viagra-Her- heißt es in einer Mitteilung des Unter- nehmens. So dürfe Patienten, die auf- grund sexueller körperlicher Anstren- gungen eine Angina-pectoris-Attacke erlitten, keinesfalls wie üblich ein Nitro- Spray verabreicht werden, wenn sie vorher Viagra eingenommen hätten. Pfi- zer weist außerdem darauf hin, daß in „bestimmten Kreisen“ flüchtige Nitrate – sogenannte „Poppers“ – zur Steige- rung der sexuellen Erlebnisfähigkeit in- haliert werden. Bei gleichzeitiger Ein- nahme von Viagra könne ebenfalls ein bedrohlicher Blutdruckabfall eintreten. Das Unternehmen informierte die Notärzte und Rettungshelfer Anfang September über mögliche Komplikatio- nen, also bevor die Potenzpille europa- weit zugelassen wurde. „Sicher reden wir hier nur von seltenen Ausnahmen“, begründet der deutsche Viagra-Marke-

DPA ting-Chef Rudolf Ertl die Warnung, Viagra aber: „Jeder Fall ist einer zu viel.“

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RÜSTUNG Am Rande Rest-Posten Panzer und Tiger gestoppt orerst ist das europäische Milliar- die später einmal entwickelt werden Haben Sie vielleicht Vdenprojekt „Radpanzer GTK“ ge- sollen. SPD und Grüne wollen das Pro- Lust, neuer Bundes- stoppt. Der Rüstungsauftrag war kurz jekt jetzt ebenso „überprüfen“ wie den präsident zu werden? vor der Sommerpause noch eilends französisch-deutschen Kampfhub- Oder Bundespräsi- durch das Parlament gedrückt worden. schrauber „Tiger“: Auch dieses Multi- dentin? Der Posten Die Verträge über den Bau von Milliardenprojekt hat der Bundestag be- zunächst 600 Panzern für wird nämlich bald Frankreich, Großbritan- frei. Sie müssen aber nien und Deutschland ein paar Voraussetzungen mitbrin- waren unterschriftsreif. gen. Also aufgemerkt: Noch vor dem Regie- Zunächst müssen Sie der SPD ge- rungswechsel in Bonn sollte alles unter Dach fallen, was aber so schwer nicht ist, und Fach sein. Doch nun weil in der Partei mittlerweile so verweigert Partner viele Meinungen möglich sind, daß Frankreich die Signatur. eine davon sich mit Ihrer schon Nach langem Hin und decken wird. Dann aber wird’s Her – mal waren die kompliziert: Alle anderen Lobby- Franzosen dabei, mal wollten sie eigene Pan- gruppen und Regionen müssen zer entwickeln – hatte auch repräsentiert oder zumindest Paris im Frühjahr dann großzügig abgefunden werden. doch auf Beteiligung an Radpanzer GTK (Modell) Falls Sie also nicht gerade eine Frau dem Projekt bestanden, sind (oder zumindest von der Ar- das insgesamt den Bau von rund 6000 reits bewilligt; das Wehrressort unter- GTK vorsah. Aber kaum hatte der Bun- schrieb aber die Verträge mit der Rü- beitsgemeinschaft Sozialdemokra- destag den Rüstungsauftrag trotz erheb- stungsindustrie nicht, weil das elektro- tischer Frauen schon mal lobend er- licher Einwände des Bundesrechnungs- nische Zielvisier nur zittrige Bilder lie- wähnt wurden), falls Sie nicht aus hofs abgesegnet, verlangte die französi- fert – und weil Frankreich aus der Ent- Ostdeutschland stammen (oder zu- sche Regierung nachträglich Preis- und wicklung neuer Panzerabwehrraketen mindest glaubhaft versichern kön- Leistungsgarantien für GTK-Varianten, für den „Tiger“ ausgestiegen ist. nen, daß Spreegurken Ihr Leibge- richt sind), falls Sie nicht auf einem Pöstchen sitzen, von dem Sie drin- VERFASSUNGSSCHUTZ gend weggelobt werden müssen Nachgefragt (oder zumindest glaubhaft einen Beichte im Handel solchen Posten anstreben) und falls ie Lebenserinnerungen des frühe- Stabil Sie trotz all dieser Einschränkungen ren Kölner Verfassungsschützers als Integrationsfigur gelten (oder zu- D Wie lange wird die rot-grüne und DDR-Überläufers Hansjoachim Koalition in Bonn halten? mindest den richtigen Journalisten Tiedge, 61, sind trotz eines gültigen Be- erzählt haben, Sie seien eine), dann schlagnahmebeschlusses an deutsche Sie hält volle vier Sie bricht wird’s schwer für Sie. Dann müssen und schweizerische Buchhändler ausge- Jahre durch vorher liefert worden. Tiedges Verlag hatte die auseinander Sie nämlich die nicht von Ihnen ver- 5000 Exemplare der ersten Auflage in 71% tretenen Lobbygruppen anderweitig der Schweiz vor dem Zugriff der Staats- entschädigen. Wie das geht? Etwa anwälte bewahrt. Die deutsche Justiz so: Schaffen Sie einen schönen Po- sieht die „Lebensbeichte“ (Untertitel) als Geheimnisverrat an. „Wichtige öf- sten und besetzen Sie ihn zur Zu- 24% friedenheit aller – also mit einer fentliche Interessen der Bundesrepu- blik“ seien gefährdet. Tiedge, bis August Gesamt rechtssozialdemokratischen ost- 1985 Chef der Spiona- CDU 62% 34% deutschen Bisexuellen, die mal bei geabwehr, berichtet auf den Grünen Finanzexpertin und bei 478 Seiten über Sünden SPD 80% 16% der Bürgerbewegung als Vollbart- und Affären im Bun- B’90/ Grüne 91% 9% beauftragte tätig war. desamt für Verfassungs- schutz. Auf der Frank- So eine kennen Sie nicht? Tja, dann furter Buchmesse wur- wird eben doch Johannes Rau Bun- den vergangene Woche

despräsident. KASSIN P. prompt drei Bände be- Emnid-Umfrage für den SPIEGEL; rund 1000 Befragte; Tiedge schlagnahmt. 6. und 7. Oktober; an 100 fehlende Prozent: keine Angabe

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Werbeseite Deutschland M. SIMON / SABA Besucher Schröder, US-Präsident Clinton, deutsche Sfor-Truppen in Bosnien*: „Wir denken auf gleicher Wellenlänge“

ROT-GRÜN Man kennt sich, man duzt sich Die neue Koalition ist auf Erfolg programmiert. Im Schnellgang ziehen Gerhard Schröder und Joschka Fischer alle kritischen Punkte ihres Pakts durch. Auch ein deutscher Einsatz in der Kosovo-Krise soll keinen rot-grünen Konflikt auslösen. Doch hinter der harmonischen Fassade werden Bruchlinien sichtbar – besonders innerhalb der SPD.

s sollte ein entspannter Ausflug aus USA bestiegen, hatte ihr Gastgeber in Wa- Nacken. Sie lehnen einen Nato-Schlag den Niederungen der Bonner Koa- shington die gute Laune schon getrübt: Bill ohne klares Uno-Mandat strikt ab – eine Elitionsverhandlungen in die große Clinton, so schien es, macht Druck. Der Zwickmühle, mit unkalkulierbaren Folgen. weite Weltpolitik werden. Gerhard Schrö- US-Präsident will den Serbenführer Slo- Als die Bonner Delegation – außer der und Joschka Fischer im Weißen Haus bodan Milo∆eviƒ notfalls mit Waffengewalt Schröder und Fischer waren auch die in Washington – die perfekt inszenierte zum Einlenken im Kosovo zwingen. Er er- Außenpolitiker Günter Verheugen (SPD) Besiegelung des rot-grünen Regierungs- wartet, daß ihn die neue deutsche Regie- und Ludger Volmer (Grüne) mit von der pakts vor den Kameras der internationalen rung dabei unterstützt. Partie – in Washington angekommen war, Medien. Das hätte die rot-grüne Harmonie arg sah die Welt für die zukünftigen Koali- Wer bis ins Zentrum der Supermacht gestört. Schröders Leute sahen jedenfalls tionäre schon wieder entspannter aus. Amerika vorgedrungen ist, so die Botschaft schon die schöne, neue Beziehung bedroht. Clinton zeigte Verständnis für die für das heimische Fernsehpublikum, den Denn der künftige SPD-Kanzler hat nie Schwierigkeiten Schröders, erst einmal sei- hält zu Hause nichts und niemand mehr einen Zweifel daran gelassen, daß er den ne Regierung zu bilden: „Da sollten wir auf: kein Transrapid und keine Ökosteuer, Balkaneinsatz deutscher Kampfflugzeuge ihm keine weiteren Lasten aufbürden“, keine roten Sozialpolitiker und keine grü- mittragen würde. Dem Bündnisgrünen Fi- sagte der Präsident zu dem „Chancellor- nen Fundis. scher aber sitzen seine Partei-Pazifisten im elect“ bei ihrem gemeinsamen Auftritt im Aber als der designierte Kanzler und Rosengarten des Weißen Hauses. sein künftiger Außenminister am vergan- * Links: am vergangenen Freitag im Weißen Haus in Clinton reiche es, wenn die Deutschen in genen Donnerstag das Flugzeug in die Washington; rechts: im August 1997 in Sarajevo. Brüssel der Aktivierung von Nato-Trup-

22 der spiegel 42/1998 T. SANDBERG T. pen zustimmten. Für die erste Angriffs- dem Wahlsieg sind nun alle auf Erfolg pro- demarie Wieczorek-Zeul in letzter Minute welle seien ohnehin nur amerikanische grammiert. als Entwicklungshilfeministerin ins Kabi- Marschflugkörper vorgesehen. Dicke Brocken liegen zwar noch vor den nett schleust. Freudig stimmten die Deutschen zu. Unterhändlern, aber Konturen eines rot- Vor allem bei den Ostdeutschen versagt Denn Clinton versprach, auch ihr Gesicht grünen Regierungsprogramms sind schon seine Autorität. Mit Schröder ist sich La- zu wahren: Er werde nicht mit dem Finger zu erkennen: fontaine einig, daß als Ausgleich zum auf die Bonner zeigen. „Damit stehen π Benzin, Heizöl, Gas und Strom werden männlichen Präsidentschaftskandidaten Jo- wir“, freut sich Verheugen, „jedenfalls teurer; hannes Rau eine Frau Bundestagspräsi- nicht als die Weicheier da.“ π die Lohnnebenkosten werden im Ge- dentin werden soll. Zur Auswahl stehen Auch Helmut Kohl spielte mit. Er werde genzug binnen vier Jahren auf unter 40 zwei weithin unbekannte Damen: Christel „diese Sache nicht parteipolitisch behan- Prozent gesenkt; Hanewinckel aus Halle oder Sabine Kas- deln“, versicherte der amtierende Kanzler π Einkommensteuerzahler werden durch pereit aus dem sachsen-anhaltinischen seinem Nachfolger. So wird das alte Kabi- ein höheres steuerfreies Existenzmini- Wengelsdorf. Doch der bisher für das Amt nett an diesem Montag zwar das deutsche von der Fraktion favorisierte Parteivize Ja zum Nato-Einsatz geben.Aber der Bun- Statt gegeneinander zu Wolfgang Thierse will nicht weichen – und destag muß zunächst nicht einberufen wer- intrigieren, halten die grünen wird massiv von den ostdeutschen Lan- den, weil Kampfflugzeuge der Bundeswehr desverbänden unterstützt. vorerst nicht eingesetzt werden – die Flügelmänner zusammen Gravierender noch ist jedoch der Streit Koalitionäre können ihre Verhandlungen um den Fraktionsvorsitz. Scharping wei- in Ruhe zu Ende führen. mum und einen niedrigeren Eingangs- gert sich, dem Wunsch Lafontaines und Ungewohnt friedlich begann vergange- steuersatz entlastet; Schröders zu folgen, als Verteidigungsmi- nen Mittwoch die große Gesprächsrunde π Spitzenverdiener und Firmen verlieren nister ins Kabinett Schröder zu gehen und der rot-grünen Unterhändler. Altgediente Steuersparmöglichkeiten und werden seinen Platz für Bundesgeschäftsführer Politprofis aus beiden Parteien hatten sich draufzahlen müssen; Franz Müntefering freizumachen. Der Wi- auf Knatsch an den Knackpunkten ein- π der Atomausstieg wird besiegelt, und derstand wirbelte die mühsam gefundene gestellt, wie bisher in rot-grünen Lan- π ein „Bündnis für Arbeit“ und zusätzliche Machtbalance zwischen Schröder, Lafon- deskoalitionen üblich. Programme für den Arbeitsmarkt sind taine und Scharping durcheinander. Ver- „Das geht ziemlich ruhig ab“, wunder- auf den Weg gebracht. gangene Woche verhärteten sich die Fron- te sich die nordrhein-westfälische Grünen- Krach gibt es derzeit nur um die Beset- ten derart, daß Genossen schon ein „zwei- Ministerin Bärbel Höhn, die schon man- zung wichtiger Fraktions- und Parlaments- tes Mannheim“ heraufziehen sahen. chen Koalitionsstreit mit der SPD erlebt posten. Lafontaines bisher geachtetes Par- Lafontaine bevorzugt den ihm treuen hat. „Alles läuft ausgesprochen erfreulich.“ teiregime scheint plötzlich nicht mehr un- Müntefering und Schröder stimmt zu – Das Gemeinschaftsprogramm der neuen eingeschränkt zu funktionieren. Die unzu- schließlich hat Lafontaine auch Bodo Hom- Regierung ist schon lange vor den Wahlen friedenen Linken und die Frauen versucht bach als Kanzleramtschef geschluckt. Nun in kleinen Zirkeln sondiert worden. Nach er noch halbwegs zu trösten, indem er Hei- findet auch Schröder, daß Scharping seine

der spiegel 42/1998 23 Wer sich fügt, wird reichlich belohnt: Die Vorauswahl des Obergrünen Rezzo Schlauch zum neuen Fraktionschef seiner Partei im Bundestag geschah auf Fischers dringenden Wunsch. Mit dem kantigen Fraktionsgeschäftsführer Werner Schulz aus Leipzig war er des öfteren aneinan- dergeraten. Auch untereinander ist das rot-grüne Männerquartett, das derzeit über die Zu- kunft der Republik verhandelt, vielfältig miteinander verbandelt. Man kennt sich, man duzt sich, man sortiert sich – auch schon mal quer. Fischer und Lafontaine sind gut be- freundet. Schröder kommuniziert häufig mit Trittin, mit dem er in Hannover als Chef einer rot-grünen Koalition Erfolg hatte. Den neuen Partner „Joschka“ kennt er allerdings noch aus den legendären acht- ziger Jahren, als Grüne und linke Sozial- demokraten in der Polit-Kneipe „Provinz“ mit starken Sprüchen die Republik um- krempelten. Direkt in Sichtweite zum Kanzleramt wurden dort nächtelang Pläne geschmiedet, wie man den Hausherrn auf der anderen Straßenseite vertreiben könnte. Damals wurden die Kabinettslisten auf Bierdeckeln entworfen. Heute liegen sie sorgsam verschlossen in den ledernen Ak- tentaschen derjenigen Getreuen, die für die grüne und die rote Seite die Protokol- le führen. Aber trotz aller Harmonie an der Spit- ze knirscht es merklich in der Partei. Noch halten die Matadore ihre Flügel in Schach. M. URBAN Rot-grüne Koalitionsverhandlungen in Bonn: „Das geht ziemlich ruhig ab“

Fähigkeiten im Kabinett besser nutzen schaftspolitik bekäme, hätte sein parteilo- kann. „Als Regierungspartei brauchen wir ser Wirtschaftsminister Jost Stollmann gar einen hochkommunikativen Fraktions- nichts mehr zu sagen. Oder Lafontaine chef“, so ein Schröder-Vertrauter. Der müs- zu viel? se den Abgeordneten erklären, „wie aus Der Konflikt blieb bisher unbemerkt.

dem Wünschbaren nun das Machbare“ Den SPD-Dompteuren war es wichtiger, DPA wird. nach außen Frieden und die Gefolgschaft Däubler-Gmelin, Müller, Wettig-Danielmeier Sollte Scharping hart bleiben und den ruhig zu halten. Trost für die Frauen Fraktionschefsposten behalten wollen, Auch die Bündnisgrünen erleben der- wird Schröder Müntefering als Verkehrs- zeit die Renaissance der „Doppelspitze“ in In der SPD werden die alten Gegensätze minister einsetzen.Verheugen müßte dann der Politik. Statt gegeneinander zu intri- zwischen den „Modernisierern“ und den Verteidigungsminister werden. gieren, halten die Flügelmänner zusam- „Traditionalisten“ jedoch nur durch den Auch Lafontaine pokerte um mehr Ein- men. Im Konflikt wären sie schwach – ge- glänzenden Wahlsieg überdeckt. fluß. Es war ein kurzes, heftiges Tauziehen meinsam aber sind sie unschlagbar. So ein- Schadenfroh zeigen die Grünen inzwi- hinter den Kulissen. Der SPD-Chef wollte fach läuft das Spiel. schen auf die andere Seite des Koali- ein Superministerium nach Art des briti- Solange es geht, soll die im Wahlkampf tionstisches: Man verhandele, stellen sie schen „Schatzamtes“ basteln und sich des- erprobte Stillhaltestrategie beibehalten hämisch fest, oft nicht mit einer, sondern halb die Grundsatzabteilung des Wirt- werden: Die Stimmenfänger Schröder und mit zwei Parteien. schaftsministeriums einverleiben. Fischer sind für die Wähler aus der Mitte Tatsächlich sahen Parteilinke und ge- Aber Schröder war dagegen. Wenn der da. Die Parteisoldaten Trittin und Lafon- standene Sozialpolitiker vergangene Wo- Finanzminister auch noch die Zuständig- taine halten die Querschläger von den Rän- che schon das Ende des Burgfriedens ge- keit für alle Grundsatzfragen der Wirt- dern ab. kommen. Seit Schröders designierter Kanz-

24 der spiegel 42/1998 Deutschland leramtschef Bodo Hombach den „Befrei- Die Kernfrage, ob Schröder oder ob die groß wie zuletzt der des Dauerkanzlers ungsschlag“ zur „Neuen Mitte“ prokla- Partei die Wahl gewonnen hat, ist bis auf Kohl. Schlanke Administration – daraus mierte, ist die Partei alarmiert. weiteres vertagt. Aber wenn die Koalition wird nichts. Mit schön formulierten Parolen treibt erst mal sicher etabliert ist, wird sie wieder Obwohl über Personalfragen angeblich der SPD-Minister ganze Herden von heili- auftauchen. nicht gesprochen wird, steht die Posten- gen SPD-Kühen zur Schlachtbank: Der So- Ohne Lafontaine, das wissen auch verteilung weitgehend fest. Auswärtiges zialstaat sei zu teuer und führe „zu einer Schröders Getreue, hätte die SPD im Wahl- Amt und Umwelt gehen an die Grünen. Verfestigung der Subventionsmentalität“, kampf nicht die Disziplin gezeigt, sich hin- Offen ist nur noch, ob das dritte Ressort die zur Tabuzone erklärte Rentenstruk- ter den Kandidaten zu stellen. das Bauministerium sein wird (Kandida- turreform sei „bedrückend“, die Aber ohne Schröder, so tin: Franziska Eichstädt-Bohlig) oder das Wirtschaftspolitik der SPD erfor- glauben sie auch, wäre der Gesundheitsministerium (Andrea Fischer). dere „mehr Radikalität bei der Realitätsbewältigung“ (SPIEGEL 41/1998). Rot-grüne Streichliste Daß Schröder die Hombach- Die wichtigsten von 72 Positionen zum Abbau von Steuererleichterungen Thesen durch ein Nachwort sank- tionierte, erhöhte die Brisanz der EINNAHMEN MASSNAHMEN Streitschrift. Deren auszugsweise in Millionen Mark Vorabveröffentlichung im SPIEGEL Verringerung von Abschreibungen löste heftige Reaktionen aus. Hombachs 4500 (Streichung der Teilwertabschreibungen für Wirtschaftsjahre nach dem 31.12.98) Diagnosen, poltert der SPD-Sozialexperte Rudolf Dreßler, seien „interessant“. Sie Unternehmen dürfen keine steuerfreien Reserven hätten aber leider „mit den Fakten nichts 3530 mehr bilden, wenn sie bestimmte Produktions- zu tun“. anlagen später durch neue ersetzen wollen Detlev von Larcher, Sprecher des linken 3240 Versicherungen müssen Teile ihrer „Frankfurter Kreises“, fragte, „wie lange Reserven auflösen und versteuern Schröder seinem Kanzleramtschef solche Sparer müssen mehr Zinserträge versteuern Extratouren noch gestattet“. 3020 Auch Parteichef Lafontaine fühlte sich 2500 Die Höhe der Rückstellungen wird begrenzt, betroffen und ermahnte den leidenschaft- wodurch der Firmen-Gewinn höher ausfällt lichen Strippenzieher aus dem Revier, er 2000 Abschaffung der steuerneutralen Übertragung von möge die Geschlossenheit der SPD- aufgedeckten stillen Reserven Führung nicht strapazieren. 1975 Unternehmen müssen ihre Vermögenswerte Gleichzeitig machte er dem künftigen höher bilanzieren, wenn deren Wert steigt Kanzleramtsminister klar, wer im Kabinett Betreiber von Kernkraftwerken dürfen pro Jahr nur Schröder die Nummer zwei hinter dem 1500 Kanzler sei: Superminister Lafontaine – noch geringere steuerfreie Rückstellungen für den wer sonst? Abriß eines Meilers bilden Auch bei den Koalitionsgesprächen 1040 Unternehmen müssen Dividenden versteuern, agiert der Parteichef als Verhandlungsfüh- die für den Empfänger steuerfrei sind rer. Er erteile das Wort, berichten Teilneh- 845 Einschränkungen der Steuerbefreiung für mer, er erteile es sogar auch dem künftigen Abfindungen gekündigter Arbeitnehmer Kanzler. Und er rede jederzeit, wann und Land- und Forstwirte werden genauso solange er es für richtig halte – vorzugs- 750 besteuert wie alle Steuerzahler weise – wie weiland Helmut Schmidt – in seiner Eigenschaft als Weltökonom. Schröder läßt ihn noch gewähren. Gele- Sieg nicht so eindeutig ausgefallen. „Wir Schröders Kulturbeauftragter Michael gentlich nur verraten kleine Gesten und können uns nicht von der Neuen Mitte Naumann wird sich allerdings mit Mini- die Körpersprache die zwischen den bei- wählen lassen“, sagt ein enger Schröder- Kompetenzen und einem ganz klei- den Männern knisternde Rivalität. Vertrauter, „um uns dann in die alten Ses- nen Apparat bescheiden müssen: Der Wenn Schröder das Wort hat, lächelt der sel zu setzen.“ neue Außenminister Fischer denkt nicht andere bisweilen „sardonisch“, ein wenig Bislang bleibt Schröder bei den großen daran, ihm die Zuständigkeit für die verkrampft, vor sich hin, wie man von der Linien und meidet Details. Er habe keine Auswärtige Kulturpolitik zu übertragen, grünen Tischseite beobachtet hat. Lust, beschied der designierte Kanzler die und auch der designierte Innen-Ressort- Wenn andererseits Lafontaine die Run- Koalitionsrunde, sich leichtfertig auf Zah- chef Otto Schily hält die Hand auf die de mit seiner Weltwirtschaft nervt, zwin- len und Termine festlegen zu lassen. Sein Abteilung K („Kultur und Medien“) des kert Schröder schon mal dem Koalitions- Vorgänger Kohl habe „die Halbierung der Ministeriums. partner zu. Oder er grinst vergnügt, wenn Arbeitslosenzahlen“ versprochen und sich Bei der Aushandlung der ersten Kom- der grüne Professor Fritz Kuhn, Fraktions- damit lächerlich gemacht: „Das wird mir promisse kamen Schröder seine Erfahrun- chef im Stuttgarter Landtag, den SPD-Chef nicht passieren.“ gen aus Hannover zugute. Ziele verbind- unterbricht und „die Politik des leichten Mindestens ein Wahlversprechen hat er lich festschreiben, aber die Schritte dahin Geldes“ rügt. schon in aller Stille kassiert: Die „deutliche nicht allzu eng fassen – nach diesem Mu- Solche kleinen Hakeleien gefallen dem Verkleinerung“ des Kabinetts findet nicht ster sind fast alle rot-grünen Vereinbarun- künftigen Kanzler.Aber zum offenen Streit statt. Welche anderen Versprechen den gen gestrickt. läßt er es ebensowenig kommen wie um- neuentdeckten Haushaltslöchern zum Op- Zur Energiesteuer beispielsweise führt gekehrt Lafontaine. Noch funktioniert die fer fallen, wird sich erst in den kommenden ein Mehr-Stufen-Modell: Bis zum Freitag Rollenverteilung: Schröder fühlt sich für Tagen erweisen. abend konnten sich die Koalitionäre nur die Neue Mitte verantwortlich, Lafontaine Schröder wird mit 15 Ressortministern auf den ersten Schritt verständigen. Der bedient die Emotionen der alten Linken. regieren. Damit ist sein Apparat genauso- Benzinpreis, so die Abrede, wird zunächst

der spiegel 42/1998 25 Deutschland „Jetzt den Tiger reiten“ Der grüne Parteisprecher Jürgen Trittin über die Verhandlungen mit der SPD und Nato-Einsätze im Kosovo

SPIEGEL: Herr Trittin, wird der mögliche Nato-Einsatz im Kosovo zum unvorher- gesehenen Konfliktfall für Rot-Grün? Trittin: Das ist eine sehr schwierige völ- kerrechtliche Situation. Der Fall ist über- dies so kompliziert, weil die alte Regie- rung nicht mehr und die neue noch nicht ist. Wir müssen uns jetzt schon als künf- tige Koalition mit einer Lage auseinan- dersetzen, deren Zustandekommen wir nicht beeinflussen konnten. Zur Zeit führen wir dazu eine Reihe von Ge- sprächen. Joschka Fischer und Gerhard Schröder haben das Thema auch mit Bill Clinton in Washington erörtert. Hier wird es eine enge Abstimmung zwischen SPD und Grünen geben. SPIEGEL: Ist ein Uno-Mandat für Sie un- bedingte Voraussetzung für ein Eingreifen mit deutscher Beteiligung? Trittin: Jede andere Handlungsgrundlage

wirft unendliche Völkerrechtsprobleme H. DARCHINGER J. auf und schafft Präzedenzfälle. Koalitionspolitiker Trittin*: „Das Land verantwortlich regieren“ SPIEGEL: Die Deutschen sollen den Nato- Einsatz billigen, ohne sich selbst daran nur für die Mitglieder der Partei, sondern Trittin: Durchaus. Wir haben ganz in un- militärisch zu beteiligen.Werden die Grü- auch der Bundestagsfraktion. Die grüne serem Sinne nicht blinde Innovationen, nen dem zustimmen? Fraktion war bislang immer eine Art sondern Nachhaltigkeit als Zielpunkt ei- Trittin: Das ist eine Entscheidung der jet- Ideenschmiede. Nunmehr müssen sie ner gemeinsamen Wirtschaftspolitik fest- zigen Regierung. Ideen umsetzen und statt konzeptioneller gelegt. Die Senkung der Sozialversiche- SPIEGEL: Die rot-grüne Harmonie scheint mehr kommunikative Arbeit leisten. Das rungsbeiträge wollen wir durch eine öko- nichts zu erschüttern. Gab es keine Schwie- Gefühl für diese Veränderung bekom- logische Steuerreform finanzieren. Das rigkeiten in den Koalitionsgesprächen? men viele erst mit Verzögerung. ist ein Punkt, wo unsere Vorstellungen Trittin: Die üblichen: Wir sind offensicht- SPIEGEL: Läßt der große Partner den klei- umgesetzt wurden. lich bei den notwendigen Veränderungen nen seine Stärke spüren – die SPD ist der SPIEGEL: Der designierte Kanzler Gerhard freudiger und tatkräftiger. Die SPD ist Koch, die Grünen spielen den Kellner? Schröder hat kurz vor den Verhandlungen eher strukturkonservativ. Trittin: So läuft das überhaupt nicht. Die noch ein Bekenntnis für den Benzinpreis SPIEGEL: Woran zeigt sich das in den Ver- SPD ist gestärkt aus der Wahl hervorge- abgelegt: allenfalls sechs Pfennig mehr. handlungen? gangen, die Grünen leicht geschwächt. Es Bleibt es dabei? Trittin: Ein klassisches Beispiel: Wenn wir gibt aber einen klaren Wählerauftrag für Trittin: Wenn Sie sich mal angucken, wie über die Senkung der Sozialversiche- beide. Das berücksichtigen beide Seiten. sich die Mineralölsteuer in den letzten rungsbeiträge, also die Verbilligung des Denn beide wissen, daß es einen Erfolg zehn Jahren entwickelt hat, kann man Faktors Arbeit, diskutieren, gibt es bei das nur belächeln. Die Bundesrepublik der SPD gegensätzliche Positionen. Die „Unser Streit über Außenpolitik ist doch im Vergleich zu vielen ihrer einen sagen, das ist verteilungspolitisch war ein Streit über Nachbarn geradezu ein Billigbenzin- arbeitnehmerfeindlich, die anderen sa- Land.Wir wissen natürlich auch, daß vie- gen, das ist unternehmerfeindlich. Unter Verhalten in der Opposition“ le Menschen bei dem Thema emotional dem Strich sind aber alle zu dem Ergebnis reagieren. Uns kommt es auf das Ziel an. gekommen, daß das, was die Grünen da der Koalition nur geben wird, wenn bei- Mit einer höheren Belastung des Ener- vorschlagen, eigentlich doch ganz ver- de sich in ihr wiederfinden. Niemandem gieverbrauchs werden wir die Lohnne- nünftig ist – Arbeit zu verbilligen und ist damit gedient, das Bild einer kra- benkosten unter 40 Prozent drücken und Energie zu verteuern. chenden, zerstrittenen Koalition vorzu- so Arbeit billiger machen. Uns ging es SPIEGEL: Aus der Opposition in die Re- führen. darum, die Weichen zu stellen für ein gierung des drittgrößten Industriestaates: SPIEGEL: Kann man denn die Handschrift neues ökologisches Steuersystem. ein schwieriger Rollenwechsel? der Grünen schon erkennen? SPIEGEL: Die Steuerreform soll den Stand- Trittin: Das ist eine enorme Herausforde- ort Deutschland wieder attraktiv machen. rung, auch eine enorme Belastung, nicht * Mit Gunda Röstel am 29. September. Ist das Ziel erreicht?

26 der spiegel 42/1998 um nicht mehr als sechs Pfennig pro Liter ein neues Kernkraftwerk genehmigt wer- erhöht, so wie es der „Automann“ Schrö- den. Auch der zügige Ausstieg aus der Trittin: Das Ziel ist ein doppeltes: mehr so- der im Wahlkampf versprach. „Mehr ist Wiederaufarbeitung verbrauchter Brenn- ziale Gerechtigkeit und Verbesserung der nicht drin, da bleibe ich hart“, verkündet stäbe in Frankreich und Großbritannien ist Wettbewerbsfähigkeit. In drei Stufen wer- er, „denn sonst laufen uns die neugewon- so gut wie beschlossene Sache. Und mög- den wir vorgehen, zuerst wird die Kör- nenen Wähler in Scharen weg.“ Wie die lichst rasch sollen an allen Meilern Zwi- perschaftsteuer gesenkt, das steuerfreie nächsten Schritte aussehen, sollte am Wo- schenlager entstehen, um Nukleartrans- Existenzminimum und das Kindergeld chenende zwischen Scharping und Kuhn porte quer durch die Republik zu ver- werden angehoben. Familien mit Kindern ausgetüftelt werden. meiden. und normale Arbeitnehmerhaushalte Die Unternehmen, wichtige Bedingung Die Steuerreform, zweiter dicker werden entlastet. für Schröder, bleiben von den Energieab- Brocken im Verhandlungsprogramm, wird SPIEGEL: Das ist vor allem die sozialde- gaben weitgehend verschont – zum Ver- nicht auf einen Schlag realisiert, sondern mokratische Handschrift. druß vieler Ökofreunde. „Daß wir unser Trittin: SPD und Grüne sind sich im Ziel Programm in Gänze verwirklichen“, trö- „Hier geht es nicht um einig. Aber grünes Insistieren beim Stop- stete sich Schleswig-Holsteins grüner Um- grüne, sondern um gemeinsame fen von Steuerlöchern eröffnet die Chan- weltminister Rainder Steenblock, habe ce, den Eingangssteuersatz auf unter 20 „schließlich keiner erwartet“. deutsche Außenpolitik“ Prozent abzusenken. In diesem Bereich Unnachgiebige Härte drohten Fischer gibt es Konsens zwischen den Partnern. und die Seinen ihrem Verhandlungspart- in drei Schritten. Das Ziel und die wichti- Beide Seiten haben auch immer gesagt, ner Schröder bei der wichtigsten energie- gen Eckpunkte sind schon verbindlich for- die Unternehmer sollten durch niedrige- politischen Weichenstellung an – der Ab- muliert: Umverteilung von oben nach un- re Steuern im globalen Wettbewerb ge- wicklung der Atomwirtschaft. ten. Das steuerfreie Existenzminimum stärkt werden. Per Ausstiegsgesetz, mit dieser Vorgabe steigt, der Eingangssteuersatz sinkt. Beim SPIEGEL: In der Außen- und Sicherheits- gingen sie am Sonntag in die Verhand- Spitzensteuersatz tut sich wenig bis gar politik sind die Grünen traditionell zer- lungsrunde, müsse das Ende der Kernkraft nichts. stritten. Das belastet die Verhandlungen? definitiv besiegelt, das letzte Atomkraft- Schon nächstes Jahr, freut sich Grünen- Trittin: Als wir unsere Positionen für die werk möglichst schon in fünf Jahren ab- Sprecher Jürgen Trittin, werde die Reform Verhandlungen in dieser Frage vorberei- geschaltet werden. „eine bedeutsame Entlastung für Normal- tet haben, war das eine der kürzesten Sit- Das ist für Schröder indiskutabel. Der verdiener bringen“. Draufzahlen werden zungen. In dieser Frage ist der Konsens neue Regierungschef sieht sich auch hier vor allem Besserverdienende und Unter- relativ breit … im Wort: Er will erst Konsensgespräche nehmen. Ihnen sollen, da waren sich die SPIEGEL: … auch über die Nato und die mit der Stromwirtschaft führen und rot-grünen Koalitionäre rasch einig, etli- Ost-Erweiterung des Verteidigungsbünd- dann den Fahrplan für den Ausstieg aus- che Steuervergünstigungen gestrichen wer- nisses? handeln. den. 72 Positionen listet eine interne Trittin: Die Erweiterung ist doch be- Auch hier deutet sich eine Lösung mit Streichliste auf zehn Seiten auf. So sollen schlossen. Was sollen wir da hinterher- festem Ziel und variablen Schritten an: Spekulationsgewinne bei Aktien und Im- rennen, das ist doch Quatsch. Nunmehr gilt es zu begreifen, daß Menschen- rechtspolitik eine zentrale Bedeutung hat. Sie ist für die Entwicklung globaler wirt- schaftlicher Stabilität ein ganz wichtiger Standortfaktor, wie die Asienkrise zeigt. Das hat die frühere Regierung nicht be- griffen. Da umzusteuern wird eines der außenpolitischen Schlüsselprobleme sein. SPIEGEL: Die Grünen entwickeln auch in der Außenpolitik ein neues Rollenver- ständnis? Trittin: Ein Teil unserer Streitigkeiten über die Außenpolitik war auch ein Streit über ein richtiges Verhalten in der Opposition. Jetzt müssen wir das Land verantwortlich regieren. In Zukunft ist Konsensfähigkeit gefragt. SPIEGEL: Keine grüne Urtugend. Trittin: Joschka Fischer und Ludger Vol- mer haben in der einen oder anderen außenpolitischen Frage unterschiedliche

Auffassungen vorgetragen.Aber jetzt sind DPA sie beide auf dem Weg zu einer gemein- Parteifreunde Lafontaine, Schröder: Noch funktioniert die Rollenverteilung samen Regierungspolitik. SPIEGEL: Trittin, die neue Mitte der Partei? Bereits am vergangenen Freitag sondier- mobilien schärfer besteuert und die Mög- Trittin: Die Grünen wissen sehr genau, te eine Arbeitsgruppe in Hannover Wege lichkeiten von Unternehmen eingeschränkt worum es jetzt geht. Sie wissen, daß man zur Einigung. Noch in dieser Legislatur- werden, durch günstige Bewertung ihres jetzt versuchen muß, den Tiger zu reiten. periode, so dürfte der Kompromiß schrift- Vermögens und ihrer Rückstellungen Steu- Und sie wissen, daß es einen großen öf- lich lauten, muß der Ausstieg unwiderruf- ern zu sparen. fentlichen Erwartungsdruck gibt. lich festgezurrt werden. Aber auch Otto Normalsparer muß sei- Nie wieder, darüber sind sich beide nen Reformbeitrag leisten: Der Sparerfrei- Seiten längst einig, soll in Deutschland betrag, der jetzt Zinsen bis 6000 Mark vor

der spiegel 42/1998 27 Deutschland dem Fiskus verschont, soll eingeschränkt Doch diesmal, glauben Realos und Re- werden (siehe Grafik Seite 25). Mehr als 40 gierungslinke, werde die Cremer-Position BUNDESPRÄSIDENT Milliarden Mark, so das Papier, wollen die in der Minderheit bleiben. Koalitionäre auf diese Weise zusammen- Angelika Beer, die in der Vergangenheit Nur noch Dönkes bringen, um ihre Wohltaten zu finanzie- oft massive Kritik an Fischers Haltung zu ren. Militäreinsätzen in Bosnien geübt hatte, Muß es Johannes Rau sein? Die umstrittene Lehrstellenumlage wird stärkte dem künftigen Außenminister von im Koalitionsvertrag listig versteckt. Bonn aus den Rücken. Es gebe keinen Schröder und Lafontaine Schröder wollte nur das Ziel proklamie- Grund, an Fischers Fähigkeit zu zweifeln, fühlen sich wegen der Herzog- ren: die Verpflichtung jedes Unternehmens, „in dieser schwierigen außenpolitischen Nachfolge bei ihm im Wort. Lehrstellen bereitzuhalten. Die Grünen Situation richtig zu handeln“, sagte sie im verlangten, schon die Umlage als verbind- besten Diplomatendeutsch. Und: Am Ko- er Bundespräsident dachte nach – lichen Beschluß auch in den Koalitions- sovo-Konflikt werde „Rot-Grün nicht übers Altern und die Ansprüche des vertrag zu schreiben. scheitern“. DPublikums. „Eigentlich würde ein Über neue Instrumente, so lautet die Viele Kritiker von einst sind längst in anderes und jüngeres Gesicht diesem Amt Kompromißformel, werde der Gesetzgeber die Regierungsmaschine eingebunden oder außerordentlich guttun“, überlegte Roman im Lichte der Gespräche zwischen Regie- werden, wie Fischers alter Parteifeind Vol- Herzog im Frühjahr vor Vertrauten. Seine rung, Arbeitgebern und Gewerkschaften mer, zu Staatsvisiten mitgenommen. Zuhörer widersprachen ihm höflich. Es war über das „Bündnis für Arbeit“ entscheiden. Fischer wie Volmer treten bei Clinton zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht ausge- Doch zuerst muß sich die neue Koali- im feinsten Zwirn an und geben sich rou- schlossen, daß der populäre „Ruck“-Baju- tion statt der Innen- die Außenpolitik vor- tiniert staatsmännisch: „Hier geht es nicht ware für eine zweite Amtszeit zur Verfü- nehmen: die Rolle der Deutschen in der um grüne, sondern um gemeinsame deut- gung stehen könnte. Kosovo-Krise. Bereits an diesem Montag sche Außenpolitik.“ Herzog, 64, aber fühlte sich mißverstan- wollen sich Kohl,Außenminister Klaus Kin- Der künftige Kanzler war höchst zufrie- den, denn er dachte weniger an sich als kel und CSU-Chef Theo Waigel mit Schrö- den mit dem Auftritt seines Chefdiploma- an den anderen Aspiranten. „Entschuldi- gung“, brach das Staatsoberhaupt den Dis- put ab, „ich wollte mich damit nicht gegen Johannes Rau aussprechen.“ Heute mag Herzog über die Erforder- nisse seines Amtes denken oder sagen, was er will: Zu seinem Nachfolger dürfte die rot-grün dominierte Bundesversammlung am 23. Mai einen sozialdemokratischen Ol- die aus der Altersklasse des Bundespräsi- denten und des abgewählten Bundeskanz- lers küren. Für den Wuppertaler Polit-Rent- ner Johannes Rau, 67, würde sich ein Le- benstraum erfüllen: der Einzug nebst Ehe- frau Christina samt drei Kindern ins Berli- ner Schloß Bellevue. So jedenfalls will es die Spitze der Sozi- aldemokratie, die nach dem Bürgerpräsi- denten Gustav zum zweiten- D. HOPPE / NETZHAUT M. DARCHINGER mal das höchste Staatsamt besetzen kann. SPD-Kontrahenten Dreßler, Hombach: „Die Diagnose hat nichts mit den Fakten zu tun“ Dagegen ist eigentlich wenig einzuwenden. Aber warum ausgerechnet Rau, der nach der und seinen Außenpolitikern Fischer ten in spe: „Fischer verschafft sich schnell 20 Jahren verdienstvoller Regentschaft ver- und Verheugen treffen. Respekt, der kriegt bei seinen Kollegen brauchte und im Frühsommer von der Die grüne Friedenspartei wird ihren mal ein richtig gutes Ansehen“, lobte SPD, besonders von seinem Nachfolger Oberrealos keine Schwierigkeiten machen. Schröder. Auch die Debatte über Ökopro- Wolfgang Clement, aus dem Amt ge- Selbst wenn es zu einem Militäreinsatz bleme beim gemeinsamen Lunch habe drängte nordrhein-westfälische Minister- ohne ausdrückliches Uno-Mandat kommt, Clinton sichtlich beeindruckt. präsident – ein Fossil der Welt von gestern? „wird es keinen Zoff geben“, hofft der Schröder ist sicher, daß er zu diesem Als Symbol für den Aufbruch, den der künftige Fraktionschef Rezzo Schlauch. Präsidenten bald auch einen sehr persön- designierte SPD-Kanzler gern propagiert, Der eine oder andere Linke werde dem lichen Draht finden werde: „Wir denken kann der angejahrte und zudem gesund- Einsatz nicht zustimmen, „aber dem Fi- auf gleicher Wellenlänge.“ heitlich angeschlagene Predigersohn aus scher werden keine Prügel zwischen die Allerdings hat er diesmal noch nicht ge- dem Bergischen schwerlich herhalten. Beine geworfen“. Voraussetzung sei aber, wagt, ein heikles Thema anzuschneiden, Gleichwohl versichert Gerhard Schröder „daß die Russen den Einsatz auf diploma- das die US-Medien auch an diesem Tag be- – obwohl wenig enthusiastisch –, wenn Rau tischer Ebene dulden – auch wenn sie sich herrschte: Monica und die möglichen Fol- wolle, „dann wird er es“. öffentlich dagegenstemmen“. gen einer Amtsenthebung. Vielleicht, so Vom Kanzle1r in spe stammt auch der la- Echter Widerstand ist nur vom radikalen dachte sich der Deutsche, wäre die Zu- konische Satz, das sei der Preis gewesen – Flügel um den Hamburger Grünen Ulrich sammenkunft mit Clinton im Oval Office der Preis dafür, daß Schröder-Freund Cle- Cremer zu erwarten. Cremer hatte auf für solch eine Erörterung auch nicht unbe- ment Ministerpräsident werden durfte und dem Magdeburger Parteitag in einer Ko- dingt der beste Platz gewesen. daß die SPD in Nordrhein-Westfalen still- alition mit Linken wie Hans-Christian Strö- Dabei hätte Gerhard Schröder sei- hielt, anstatt Schröder im Wahlkampf Stei- bele einen Antrag des Parteivorstands zu nem Gastgeber gern gesagt, „wie würde- ne in den Weg zu werfen. Bosnien verhindert, der ihm nicht pazifi- los und verrückt ich dieses Spektakel Es ist ohnedies kein Geheimnis, daß Rau stisch genug war. finde“. ™ nicht großzügig Amtsverzicht leistete. Ein

28 der spiegel 42/1998 Einige in der SPD ermuntern die Grü- nen, eine Diskussion über Rau zu entfa- chen und statt seiner einen Kandidaten aus dem Osten vorzuschlagen – etwa Richard Schröder, 54, den nüchternen Theologie- Professor und erdverbundenen Intellektu- ellen, gewiß keine schlechte Wahl. Doch dieser Kandidat, so sehen es sozialdemo- kratische Dogmatiker, hat in der Vergan- genheit zuviel Nähe zur Union einge- schlagen. Außerdem fehle ihm der Sinn fürs Repräsentative. Der sozialdemokratische Favorit ent- spannt sich derzeit mit seiner Familie auf der Insel Spiekeroog. „Ich lese viel, gehe spazieren, mache Gesellschaftsspiele mit den Kindern und spiele Skat“, erzählt Rau. In einen Laptop („Eine tolle Erfindung“) tippt er Briefe an alte Freunde und redigiert einen Vortragstext zum Thema Sterbehilfe. Was in Bonn passiert, verkündet Rau auf seine unnachahmlich kalauernde Weise, verfolge er „im Moment ziemlich gelassen, das liegt an der guten Nordsee-Luft“. Völlig abschalten könne er aber auch im

M. DARCHINGER Urlaub nicht, bekennt er: „Darin war ich Sozialdemokraten Lafontaine, Rau, Schröder: „Nie eine Zusage erbeten“ noch nie richtig gut.“ In den Zeitungen, sagt Rau, als sei gar nicht von ihm die Rede, Gegengeschäft dementiert er seither aller- Daß Raus Spannkraft arg nachgelassen verfolge er die Diskussion um die Herzog- dings beharrlich: „Ich habe nie eine Zusa- hat, geben seine treuesten NRW-Genossen Nachfolge: „Das wird in der Familie strei- ge erbeten und auch nie eine bekommen.“ zu. Enttäuschte Rau-Freunde wundern sich tig diskutiert.“ Schröder, der sich übrigens in wachsen- über dessen „zunehmendes Gesabbel“. Ein Auf Spiekeroog ist auch Nachdenken an- dem Maße am amtierenden Präsidenten Bundespräsident Rau, so geben sie schon gesagt, ob Rau sich einer schweren Opera- Herzog begeisterte, spielte bis zur Bun- länger drastisch zu bedenken, werde „zu- tion unterziehen soll. Vor Vertrauten er- destagswahl auf Zeit. Der Drängler ist nun mal in der Herzog-Nachfolge von den Jour- klärte er unlängst, daß er womöglich – Oskar Lafontaine, dem sich Schröder fügt. nalisten innerhalb weniger Wochen gna- nach bereits überstandener Krebserkran- Lafontaine behauptet, der Elder States- denlos niedergeschrieben“. kung – eine andere „Zeitbombe“ aus sei- man der SPD sei „über die Parteigrenzen Ein alter Weggefährte aus dem gegneri- nem Körper entfernen lassen müsse. hinaus“ anerkannt und wie kein anderer schen Lager, Sachsens CDU-Regierungs- Wenn Rau denn am 23. Mai antritt, ist geeignet, „die Menschen zusammen- chef Kurt Biedenkopf, registrierte bei ihm eine Mehrheit in der Bundesver- zuführen“. Rau-Zweifler werden vom einem Bibelkreis-Auftritt Raus in Dresden sammlung so gut wie sicher. Zwar verfügen SPD-Chef brüsk zurechtgewiesen, es gebe „die erloschene Intensität, das reduzierte Rote und Grüne nicht über die in den er- in der rot-grünen Regierung mit dem sich wirklich nur auf Dönkes“. sten beiden Wahlgängen notwendige ab- Dreamteam Schröder/Fischer schon genü- Die Kritik an seiner Person bleibt Rau solute Mehrheit, aber im dritten genügt die gend „neue und junge Helden“. nicht verborgen. Auf die Frage, ob er auch relative Mehrheit.Vielleicht klappt es aber Die ganze Spitzengarde der SPD fühlt Gegner habe, sagt er: „Gegner hat jeder, schon auf Anhieb, wenn die Liberalen für sich im Wort bei Rau: „Und ein Wort bricht aber nicht Feinde. Und dann gibt es noch Rau stimmen. man nicht ohne Not“, meint nibelungen- die, die sich nicht so recht entscheiden kön- Einer aus dem SPD-Spitzenteam hat die treu Fraktionschef Rudolf Scharping. nen.“ Daß er in den Zeitungen gelegentlich Führung der FDP bereits ermuntert, auf Begeisterungsstürme löste das Votum von seiner Obsession, die Herzog-Nach- diese Weise ein Signal zu setzen. „Denn der SPD-Führung für den bibelfesten Men- folge betreffend, lesen muß, kränkt ihn wer weiß“, so die Überlegung, „wie lange schenfischer beileibe nicht aus. Zu offen- „zutiefst“. Er bedürfe „überhaupt keiner das rot-grüne Wagnis andauert.“ ™ kundig ist, daß hier „in schwiemeliger Krönung mehr“, zürnt der Ver- Sozi-Treue“ („Süddeutsche Zeitung“) ei- söhner. nem Veteranen, der den Zenit seiner poli- Glücklich ist niemand so recht tischen Laufbahn längst überschritten hat, mit der Loyalitätsübung Schrö- der Herzenswunsch erfüllt werden soll. ders und Lafontaines. „Aber die Mit dem unbeirrten Festhalten an sei- Alternativen“, gibt ein SPD-Vor- nem Lebensplan hatte „Bruder Johannes“ ständler zu bedenken, „wirken schon vor vier Jahren seine Partei in die auch nicht überzeugend.“ Bredouille gebracht. Da unterlag er, wie zu Jutta Limbach, 64, Präsidentin erwarten war, gegen Roman Herzog. Da- des Bundesverfassungsgerichts, mals ließ ihn die Parteispitze gewähren. Ein gilt als zu nervig und spröde; Umschwenken der SPD auf die FDP-Kan- Schleswig-Holsteins Regierungs- didatin Hildegard Hamm-Brücher im drit- chefin Heide Simonis, 55, als zu ten Wahlgang hätte womöglich die Weichen bizarr. Die Berliner Senatorin anders gestellt. Aus Pietät vor dem guten und Apothekerin Christine Berg-

Mann, kritisiert die „Zeit“, winde sich nun mann, 59, wird in Schröders Ka- DPA auch Rot-Grün in einer „Schweigespirale“. binett gebraucht. Herzog, Rau (1994): „Im Moment ziemlich gelassen“

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gen den Parteichef, wie ihn einige vor der Wahl prophezeit hatten, plant er nicht. FDP Denn langfristig, das ist unumstritten, ist der Bonner Jurist die Führungsfigur der FDP. Und in einem Land, in dem 45jähri- Schnell herauswinden ge als Junge Wilde durchgehen, dürfte die Zeit für den 36jährigen Westerwelle wie Ohne parteiinterne Konflikte richtet sich von selbst kommen. Er beabsichtigt, als Gegenspieler des die FDP in der Opposition ein – in der Hoffnung, daß möglichen SPD-Innenministers Otto Schi- der Zustand nicht allzu lange währt. ly aufzutreten und in dieser Rolle sein The- menspektrum zu erweitern. Zurück zur FDP als Wirtschafts- und Bürgerrechtspar- tei will Westerwelle auch – allerdings an- ders als seine Kritikerin Leutheusser- Schnarrenberger. Schutz durch den Staat statt Schutz vor dem Staat laute heute die Devise, darin ist sich der Generalsekretär mit Parteichef Gerhardt einig. Dritter im Bunde der FDP ist der neue Fraktionsvize Rainer Brüderle. Der gab sein Wirtschafts- und Weinbauministerium in der Mainzer SPD/FDP-Regierung auf, um als Bundestagsabgeordneter den Mit- telstand für die Liberalen zurückzugewin- nen. Das Wort „fundamentaler Anti-Eta- tismus“, eine von Westerwelles Lieblings- vokabeln, kommt ihm nicht über die Lip- pen: „Wir sind doch keine Ajatollahs.“ Statt dessen will er „Wirtschaftspolitik mit Herz“ machen. Zum Hauptgegner erklärte die Troika der Liberalen die Grünen.Während die Fi-

M. URBAN scher-Partei im Regierungsalltag immer FDP-Führungstrio Westerwelle, Gerhardt, Brüderle: „Wirtschaftspolitik mit Herz“ mehr Profil verlieren und „verbürgerli- chen“ werde, so die Überlegung Wester- uf dem Weg in die Opposition hat ein Unterfangen, das die Partei mehr noch welles, könne die FDP ihre Konturen schär- die FDP ein neues Sinnbild ent- als 1982 in Aufruhr versetzt hätte. fen, sich bald gegen die Regierung, bald Adeckt: das australische Schnabel- Jetzt ist die „babylonische Gefangen- gegen die Union stellen, und langsam wie- tier aus der Gruppe der Kloakentiere. Die schaft“ durch die Union ausgestanden. der manövrierfähig werden. plattfüßige Fellwurst aus Übersee sei des- Und wenn es in der Regierung mit den Ein Vorbild sieht Westerwelle in den nie- halb so bekannt, erklärt Bundesgeschäfts- Grünen nicht klappt, will die FDP für die derländischen und dänischen marktlibera- führer Hans-Jürgen Beerfeltz den PR-Gag, SPD bereitstehen – irgendwann. len Parteien VVD und Venstre, die bei rund weil sie als eierlegendes Säugetier einzig- Daß Jürgen Möllemann in Cato-Pose 25 Prozent liegen, während ihre linkslibe- artig sei und „sozusagen aus der Rolle schon jetzt bedeutungsvoll auf ein Bündnis ralen Pendants in diesen Ländern von fällt“. Das möchten die Liberalen auch un- mit der SPD hinweist, geriet ihm zum Nach- solchen Höhen nur träumen können. „Die ter den neuen, erschwerten Verhältnissen. teil: Bei den Wahlen zum Fraktionsvorstand Eindeutigen gewinnen“, hat Westerwelle So üben sie sich schon mal in radikaler fiel er durch. Auch Sabine Leutheusser- gelernt, „die Uneindeutigen stürzen ab.“ Rhetorik. „Bürgerliche Fundamentaloppo- Schnarrenberger wurde abgestraft – ihre Allerdings haben VVD und Venstre den sition“ werde die FDP einschlagen, be- Dauerkritik am neoliberalen Westerwelle- Sprung nach vorn nicht als Interessenver- hauptet der künftige Bundestagsvizepräsi- Kurs mag in der FDP keiner mehr hören. tretungen von Marktwirtschaft und Ent- dent Hermann Otto Solms. „FDP pur“, Was Möllemann und Leutheusser- bürokratisierung geschafft, sondern mit re- kündigt Parteichef Wolfgang Gerhardt an, Schnarrenberger aus unterschiedlichen striktiver Asyl- und Ausländerpolitik. Eine der nun auch die Fraktion führen darf. Als Gründen anstreben – eine FDP, nach allen vergleichbare deutschnationale Ausrich- einzige strikt anti-etatistische Partei werde Seiten offen –, hat die alt-neue Führungs- tung à la Haider in Österreich lehnen die sich die FDP gegen Umverteiler und clique auch im Sinn, jedenfalls langfristig. deutschen Liberalen jedoch ab. Staatsgläubige in der von der 68er Gene- Dem Fall in die Opposition versucht We- Entscheidend für den Erfolg der FDP ist ration getragenen Regierung abgrenzen, sterwelle etwas abzugewinnen. Das wett- letztlich der Mißerfolg ihrer Gegner. Die verspricht Generalsekretär Guido Wester- bewerbsorientierte Parteiprogramm, die Liberalen können im Grunde nur hoffen, welle. „In der Partei herrscht beinahe Eu- „Wiesbadener Grundsätze“, hat im we- daß Rot-Grün scheitert und die Liberalen phorie über die Oppositionsrolle“, sagt der sentlichen er geschrieben. Nun hofft der dann als Alternative bereitstehen. zurückgetretene bayerische Landeschef Nachwuchsstar der Liberalen, die FDP So empfiehlt sich auch in puncto Be- Max Stadler. endgültig zu seiner Partei zu machen. weglichkeit das australische Schnabeltier Es hätte ja auch schlimmer kommen kön- Zwar wählten die 44 Abgeordneten Ger- der FDP als Vorbild. Dank seiner Strom- nen, meint Westerwelle – noch ein paar hardt zur offiziellen Nummer eins. Der linienförmigkeit, so heißt es in Grzimeks Jahre unter Helmut Kohl als Kanzler hätten muß sich neben dem quirligen Westerwel- „Enzyclopädie Säugetiere“, sei das Schna- die FDP gezwungen, aus der Regierung le aber erst einmal in Szene setzen. beltier in der Lage, „seine Körperform so auszusteigen, entweder durch Rückzug ih- Nun will sich der Generalsekretär auf zu verändern, daß es sich auch aus festem rer Minister oder durch Koalitionswechsel: die Innenpolitik stürzen. Einen Putsch ge- Griff schnell herauszuwinden vermag“. ™

30 der spiegel 42/1998 CDU Die Leere füllen Wolfgang Schäuble und Volker Rühe sollen die CDU in die Zukunft führen. Doch Rühe könnte bei der Wahl zum Vize-Vorsitzenden durchfallen. olker Rühe ist ein Mann der Tat. „Ich kümmere mich nur um das, Vwas ich ändern kann“, lautet das Credo des scheidenden Verteidigungsmi- nisters. „Wenn mir ein Teller aus der Hand rutscht, dann habe ich ihn schon vergessen, bevor er auf dem Boden zerschellt.“ Kein Blick zurück im Zorn: So wünscht sich Rühe, 56, auch seine Partei, die kon- sterniert vor dem größten Scherbenhau-

fen ihrer Geschichte steht. M. DARCHINGER Nur wenige Tage nach Helmut Kohls CDU-Politiker Wulff, Geißler, Müller: Eher mild als wild Wahldebakel gegen Rot-Grün sieht Rühe die CDU bereits mit einem neuen Dream- fehlt aber noch. Wahrhaft vereint sind sie Team in den Kampf ziehen. An der Seite nur in einem: Sie helfen sich beim Marsch von Wolfgang Schäuble, dem Fraktions- durch die CDU-Institutionen. und designierten Parteichef, will der Ham- Nur vier Tage nach dem Wahldesaster burger die „neue Formation“ anführen. hatte Wulff bereits die Rückendeckung al- Fraglich ist, ob die Partei mitmacht. In ler vier norddeutschen Landesverbände der CDU hat das Ringen eingesetzt, wer organisiert. Dem Kandidaten Rühe, per Te- beim Parteitag im November als Stellver- lefon aus der Runde informiert, widmete treter Schäubles gewählt wird. Fünf Kan- selbst der eigene Hamburger Landesver- didaten treten für vier Posten an. Schäubles band nur eine laue Solidaritätsbekundung.

Partner Rühe ist in Gefahr durchzufallen. DARCHINGER F. „Für Rühe wird es gefährlich“, so ein Sein Scheitern wäre eine schwere Schlap- Führungsduo Schäuble, Rühe CDU-Landeschef. Selbst sein Zweckbünd- pe für den neuen Parteichef. „Ohne uns ist die Union nichts mehr“ nis mit Schäuble, ohnehin nicht von Innig- Lange vor dem Wahltag vereinbarten keit geprägt, hat bereits gelitten. Vor zwei Schäuble und Rühe, als Duo den Leerraum NRW-Parteichef angekündigt, bei einem Wochen bot Schäuble dem Hamburger ei- zu füllen, den Kohl nach 25 Jahren an der Scheitern als Bundes-Vize wäre er ohne nen Vizeposten de luxe an. Die Parteisat- Parteispitze hinterläßt. „Ohne uns zwei“, Amt. Der Stuttgarter Ministerpräsident zung sollte geändert und Rühe zum ge- rühmt sich der Hamburger vor Vertrauten, Teufel muß fürchten, eine Abwahl als schäftsführenden Vize erwählt werden. „ist die Union nichts mehr.“ CDU-Vize wäre das Startsignal, ihm zur Der lehnte ab. Als vergoldeter General- Nur beim Personal kann Schäuble, der Landtagswahl 2001 die Spitzenkandidatur sekretär will Rühe sich nicht einfügen. Er am vorigen Dienstag vom CDU-Vorstand streitig zu machen. sieht sich als Libero, der als erster Außen- als Chef-Kandidat nominiert wurde, Nur der Niedersachse Christian Wulff, und Sicherheitspolitiker der Union Schrö- schnell Akzente setzen. Es wird Monate, 39, kann behaupten, als Kandidat ein we- der und Fischer im Bundestag Paroli bietet. vielleicht Jahre dauern, der CDU auch im nig die neue Zeit zu verkörpern.Weil er ein Doch damit schickte er den düpierten Programm eine zukunftsfähige Identität zu paarmal wider den Stachel löckte und 1997 Schäuble auf die bisher vergebliche Suche geben. Im Machtsystem Kohls waren die die Ablösung Theo Waigels als Finanzmi- nach einem Generalsekretär. Zunächst Vizes nur schmückendes Beiwerk. Jetzt sol- nister forderte, verfolgt ihn der Zorn Hel- durchforschte der Fraktionschef die Rei- len sie den Neuanfang symbolisieren. mut Kohls.Wulff soll die „Verjüngung“ der hen seiner jungen Parlamentarier. Friedrich Doch drei Bewerber waren bereits zuvor Union anführen, die andere „junge Wilde“ Merz, Andreas Krautscheid, Hermann im Amt. Umweltministerin Angela Merkel, wie der Saarländer Peter Müller und Hes- Gröhe – keiner der Nachwuchskräfte über- 44, Landesvorsitzende von Mecklenburg- sens Roland Koch einfordern. zeugte. Dann fragte er bei den Frauen an: Vorpommern, ist dank Frauen-Quorum Beide Landeschefs verzichteten auf eine erst bei der Stuttgarter Kultusministerin und versammelter Unterstützung der Ost- Kandidatur, weil sie nächstes Jahr Land- Annette Schavan, schließlich bei Noch- Verbände sicher wieder dabei. tagswahlen gewinnen wollen. Das Risiko, Umweltministerin Angela Merkel. Die Alt-Vorderen Norbert Blüm, 63, und sich beim Parteitag mit einer Niederlage zu Bis nächsten Donnerstag soll das Perso- Erwin Teufel, 59, stets in Treue fest zu Hel- blamieren, wollten sie nicht eingehen.Wulff naltableau stehen. Nur wenn Schäuble mut Kohl, versuchen, sich durch Wahlab- hat zwar auch noch keine Landtagswahl ge- noch vor dem Parteitag einen Appell an sprache gegenseitig im Amt zu stützen. Ihre wonnen, nimmt jedoch erst in fünf Jahren die Delegierten ergehen läßt, ihm Rühe Landesverbände Nordrhein-Westfalen und den dritten Anlauf in Niedersachsen. unbedingt zur Seite zu stellen, gilt dessen Baden-Württemberg stellen die beiden Nicht ganz jung, eher mild als wild – Wahl zum Vize als sicher. Ende voriger größten Delegiertenblöcke. und erfolglos? Die neue Garde der Union Woche verhüllte Schäuble seine Wünsche Beide Bewerber kämpfen um ihr politi- will zwar die CDU-Führer nach der Jahr- jedoch in diplomatischen Floskeln. „Alle sches Überleben.Arbeitsminister Blüm hat tausendwende stellen. Das gemeinsame fünf“, erklärte er lächelnd, seien „hervor- für Januar 1999 schon seinen Rückzug als politische Programm zu diesem Anspruch ragende Persönlichkeiten“. ™

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chen worden – als Entschädigung, weil für ihn kein Platz im Schröder-Team war. Doch SPD von einer einmütigen Zustimmung zur Thierse-Kandidatur kann keine Rede mehr sein. Sollte Thierse nicht Bundestagspräsi- Stolz wie Oskar dent werden, kündigt Thüringens SPD- Chef Richard Dewes bereits neue Forde- Ostdeutschlands Sozialdemokraten geben sich selbstbewußt: rungen an: „Dann bestehen wir auf einem weiteren Kabinettsmitglied.“ Nach ihrem Triumph an den Wahlurnen fordern Um dem wachsenden Unmut über das sie nun mehr Einfluß und Posten. Bislang mit mäßigem Erfolg. Postenroulette wenigstens im Fall des Auf- bau-Ost-Beauftragten zu begegnen, tüfteln ie Geste war wohl kalkuliert, auch enden“ solle: von der Fortführung der führende Sozis aus den neuen Ländern an wenn sie nur von wenigen wahrge- arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen „in einer Lösung, „die Schröder einfach ak- Dnommen wurde. Beim Einzug von erheblichem Umfang“ bis zur Beibe- zeptieren muß“. Das Modell: Schwanitz Gerhard Schröder ins Erich-Ollenhauer- haltung der Verkehrsprojekte Deutsche bekommt einen eigenen Stab und hat Zu- Haus, am Tag nach dem Sieg bei der Bun- Einheit. griff auf den gesamten Apparat des Kanz- destagswahl, rückte SPD-Chef Oskar La- Ärger mit westdeutschen Genossen leramts. Er wird direkt dem Kanzler un- fontaine ein beim Bonner Pressetroß weit- scheint vorprogrammiert – etwa beim The- terstellt. Eine Zuordnung unter den künf- hin unbekanntes Gesicht ins Rampenlicht. ma ökologische Steuerreform. Bei der Er- tigen Kanzleramtschef Bodo Hombach gilt Hinter dem künftigen Kanzler durfte Karl- höhung von Energiesteuern wollen die Ost- als nicht annehmbar. Nur so könne das Heinz Kunckel, SPD-Vorsitzender in Sach- Sozis die Braunkohleverstromung ausge- Versprechen Schröders, den Aufbau Ost sen, in die Kameras lächeln. nommen wissen, bei einer höheren Mine- zur Chefsache zu machen, eingehalten Der wohlmeinende Akt freute die Ost- ralölsteuer fordern sie Sonderregelungen werden.Außerdem soll Schwanitz mit Son- Sozis, begnügen werden sie sich damit für Fernpendler. Darüber hinaus wünschen derstatus an den Kabinettssitzungen teil- nicht. Gestärkt durch ordentliche Stim- die Verfasser des Papiers eine Bevorzugung nehmen. mengewinne wollen sie in der Berliner Re- der neuen Länder bei der Auftragsvergabe Bei der Absicherung des Koordinators publik ein gewichtiges Wort mitreden. durch den Bund. wollen sich die ostdeutschen Sozialdemo- Wo die Gelder zur kraten aber nicht nur auf ihre Überzeu- Finanzierung der ge- gungskraft verlassen. Am vergangenen forderten Maßnah- Mittwoch trafen sich die Chefs der SPD- men herkommen sol- Landesgruppen aus dem Beitrittsgebiet in len, darüber sagen die Berlin-Mitte. Einziges Thema: Posten in Genossen im Osten Fraktion und Regierung. auf beredte Weise Die Teilnehmer waren sich schnell einig nichts. Gunter Weiß- – ein Vizefraktionschef und „eine ange- gerber, Sprecher der messene Berücksichtigung“ bei den Aus- sächsischen SPD-Bun- schußvorsitzenden müßten sein. Und: destagsgruppe: „Über Bergmann dürfe nicht die einzige Ministe- die Finanzierung muß rin aus dem Osten bleiben.Auch das Land- man im Rahmen ei- wirtschaftsressort wird angepeilt. Ein Kan- nes Gesamtkonzepts didat ist vorhanden: der als Fachmann ge- Steuerreform disku- achtete Bundestagsabgeordnete Gerald tieren.“ Nur ein De- Thalheim aus Chemnitz. tail gibt er vorab gern Vieles spricht dafür, daß der Sachse nur preis: „Es kann nicht als Joker ins Spiel gebracht wird, um den sein, daß im Osten Sonderstatus für Schwanitz festzuzurren. eingespart wird, was Dennoch: Es gibt auch agrarpolitische im Osten ausgegeben Gründe, das Landwirtschaftsressort für den werden muß.“ Osten zu beanspruchen. Dem von Schröder

T. SANDBERG T. Dennoch scheint es für das Amt gesetzten Karl-Heinz Funke, Designierter Kanzler Schröder, Ost-Genossen*: Wachsender Unmut mehr als wahrschein- zur Zeit noch Landwirtschaftsminister in lich, daß die Bäume Niedersachsen, traut kaum einer, der jen- Stolz wie Oskar sind die Ministerpräsi- für die Ost-SPD nicht in den Himmel wach- seits der Elbe lebt, zu, die Interessen der denten von Brandenburg und Sachsen-An- sen werden. Das haben bereits die Perso- Landwirtschaftsbetriebe zwischen Ostsee halt, Manfred Stolpe und Reinhard Höpp- naldebatten in den vergangenen zwei Wo- und Erzgebirge überzeugend zu vertreten. ner. Sie nehmen wie selbstverständlich an chen gezeigt. Mit zunehmendem Unbeha- So hegt Sachsen-Anhalts Ministerpräsi- den Bonner Koalitionsverhandlungen teil – gen registrierten die Parteifreunde im Bei- dent Reinhard Höppner schon jetzt Zwei- ein Privileg, das ihr Düsseldorfer Kollege trittsgebiet, daß auf Kabinettslisten nur fel, ob Schröders Landsmann sich in Ver- Wolfgang Clement nicht hat, wie ihre En- noch eine der Ihren auftauchte: die Berli- handlungen mit Brüssel entschieden genug tourage süffisant hervorhebt. ner Arbeitssenatorin Christine Bergmann gegen mögliche Subventionskürzungen für Bereits wenige Tage vor dem Urnengang als künftige Familienministerin.Vom Plau- Höfe im Osten stemmt. Funke gilt als Mann hatten führende Ost-SPD-Politiker einen ener SPD-Abgeordneten Rolf Schwanitz der westdeutschen Kleinbauern, die Kon- ausführlichen Forderungskatalog zusam- sprach niemand mehr. Dabei war der noch kurrenz der großflächig arbeitenden Agrar- mengestellt. Auf acht Seiten steht, wie ein im Wahlprogramm als Minister für den betriebe in den neuen Ländern fürchten. SPD-Kanzler die „innere Einheit voll- Aufbau Ost vorgesehen. Sollten sich die Ost-Sozialdemokraten Auch in puncto Bundestagspräsidium auch hier nicht durchsetzen, bliebe immer * Harald Ringstorff, Christine Bergmann, Manfred Stol- galt nicht mehr, was einst ausgemacht war. noch die Hoffnung auf den Staatssekretärs- pe und Rolf Schwanitz. Der Posten war Wolfgang Thierse verspro- posten für den Chemnitzer Thalheim. ™

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VERKEHR Das Kujau-Prinzip Der Transrapid schwebt drohend über den rot-grünen Koalitionsverhandlungen. Automann Gerhard Schröder ist von der schnellen Bahn fasziniert, die Grünen halten den Plan für Unsinn. Gebaut wird wohl nicht, weil das Geld fehlt.

erhard Schröder hat seinem Vor- gnose eingetroffen, nie ein Versprechen ge- gänger Helmut Kohl eines voraus. halten worden. GEr ist schon Transrapid gefahren. Kaum je hat ein Stück Technik Bonner Und bei Tempo 420 auf der Teststrecke Politiker so besoffen gemacht: Jahrelang der Magnetschwebebahn in der Nähe von haben sie falschen Zahlen einfach nicht Lathen im Emsland ging es dem SPD-Mann mißtrauen wollen, haben sie sich Stück für wie den meisten Testfahrern: „Der Schrö- Stück von der Industrie über den Tisch zie- der war völlig begeistert“, erzählt der Test- hen lassen. „Wenn die Strecke gebaut streckenchef Günter Steinmetz, „und er wird“, warnte schon vor Jahren Ralf hat gesagt, den bauen wir auch.“ Kochlitz vom Bundesrechnungshof seine Damals konnte Schröder so etwas ge- Regierung, „könnte der Bund auf einem

fahrlos sagen, denn er regierte nur in Nie- AP Milliardenberg Schulden sitzen“. dersachsen, wo es offenkundig keinen Platz Transrapid-Gegnerin Altmann Der Berg wird nahezu wöchentlich für eine richtige Magnetbahntrasse gab. „Wir sind ja keine Technikkiller“ größer. 5,6 Milliarden Mark, so lautete die Doch nun belastet die spontane Begeiste- rungsfähigkeit des künftigen Regierungs- chefs die rot-grünen Koalitionsverhand- lungen. Anders als der kluge Kohl hat Fahrgast Schröder den Streit um die Transrapid- Strecke zwischen Berlin und Hamburg zur Chefsache gemacht: Der Zauberzug, in den Augen der interessierten Industrie ein Ex- portschlager, werde gebaut. Zwar lehnte vergangenes Jahr der SPD- Bundesparteitag in Hannover das Projekt als Milliardenirrtum ab. Doch Schröder versprach den widerstrebenden Grünen zum Trotz der Industrie die Treue: „Wer mit uns zusammenarbeiten will, muß wis- sen, das ist die Bedingung dafür, daß wir überhaupt in Koalitionsverhandlungen ein- treten.“ Warnungen zwecklos: „Das Glitzern in den Augen“, das die SPD-Verkehrsexper- tin Elke Ferner bei allen Männern ausge- macht haben will, die sich jemals mit dem Riesenspielzeug beschäftigt haben, ent- deckten Genossen nun auch bei Auto- Schröder. „Astronomische Summen“, ahnt Peter Witt, Manager beim Verband der Deut- schen Bahnindustrie, werde der Trans- rapid noch kosten. Und der Chef-Volks- wirt der Deutschen Bank, Norbert Walter, forderte den sofortigen Stopp der staat- lichen Subventionen für die Magnetbahn. Doch der designierte Kanzler verteidigt die von Thyssen, Siemens und Adtranz gesponserte Schwebebahn: „Wenn sich das Finanzierungsverhältnis nicht ändert, dann halte ich das Projekt für verant- wortbar.“ Ja, wenn. In der irren Geschichte vom Zug, der schwebt, aber nicht fliegt, der fährt, aber nicht rollt, ist fast nie eine Pro- Transrapid auf der Teststrecke im Emsland bei Lathen: Kaum je hat ein Stück Technik Bonner

34 der spiegel 42/1998 ursprüngliche Rechnung, dürfte der Fahr- EU-Richtlinien erst im letzten Monat er- schrottet werden muß, bezahlt das, na wer weg für die Magnetbahn übers platte Land lassen worden. wohl, der Bund. zwischen den beiden deutschen Metropo- Ansichtssache sind auch die Berechnun- Modellfall Transrapid: Drei Unterneh- len kosten. 1997 waren es dann schon 6,1 gen der Kosten für neue Sicherheitsmaß- men der Großindustrie haben einen staat- Milliarden Mark, die Bonn dafür zahlen nahmen. Seit im Juni ein ICE bei Eschede lich lizensierten Mechanismus zur Plünde- sollte. entgleiste und mit 200 Stundenkilometern rung der Steuerkassen entwickelt. Und so weiter: Im August wurde be- gegen einen Brückenpfeiler knallte, denken Die Entwicklungsarbeiten begannen kannt, daß mit 7,5 Milliarden Mark für den Experten beim Eisenbahn-Bundesamt ganz 1989 mit dem Versprechen der Regierung, Fahrweg zu rechnen sei. Nun gibt es neue neu darüber nach, was wohl passiert, wenn sie werde keinen Pfennig dazuzah- Gutachten, die den Preis auf mehr als 9 so etwas beim Transrapid-Tempo von 450 len. Wenn die Industrie eine Magnet- Milliarden taxieren. vorkommt. bahnstrecke bauen wolle, so beschloß All das sind nahezu willkürliche Anga- Gar nicht auszudenken: Ein Lastwagen das Kabinett, solle sie das gefälligst selbst ben. Noch immer ist nicht genau ausge- rast in einen Pfeiler der aufgeständerten zahlen. macht, welche zusätzlichen Baukosten der Doch die Transrapid-Bauher- teils sandige, teils sumpfige Boden zwi- ren von Thyssen machten in schen dem Sachsenwald und der Mark Bonn so lange Druck, bis aus der Brandenburg verursacht. Noch immer ist fixen Idee vom berührungsfreien nicht ausgerechnet, welche Auswirkungen Schweben eine nationale Ange- die von Bonn so gern übersehenen Um- legenheit geworden war. Zwei weltrichtlinien der EU haben werden: Meh- Milliarden Mark butterte der rere Vogelschutzgebiete werden von der Forschungsminister in die Ma- geplanten Trasse durchquert. gnetbahntechnik. Die Umweltschutzbestimmungen, räum- Das Prinzip hatte schon der te der einstige Verkehrsminister Matthias Hitler-Tagebuch-Fälscher Konrad Wissmann im September ein, würden wohl Kujau als gewinnversprechend „Auswirkungen für die Investitionskosten- erkannt: Wenn eine Sache viel

abrechnung“ haben – gerade als wären die OSSENBRINK F. Geld kostet, kann sie nicht ganz Transrapid-Freund Clement: Sprung auf der Schiene falsch sein. Kujau plünderte mit immer neuen und immer teure- Transrapid-Strecke und knickt die Schiene. ren Hitler-Falsifikaten die Kassen der Fir- Oder: Von einer Überführung fällt ein Ge- ma Gruner + Jahr. genstand auf einen ebenerdig geführten Das Kujau-Prinzip hatte sich im Großen Teil der Magnetbahntrasse. Der Magnet- beim Schnellen Brüter von Kalkar bewährt. zug, rühmen die Experten, sei „entglei- Das Ding wurde zum Super-GAU der deut- sungssicher“, aber wie sieht ein Transrapid schen Technologiepolitik, immer neue Mil- aus, nachdem er mit über 400 Stundenki- liardensubventionen machte der Staat lometern auf ein Hindernis gefahren ist, locker, damit die bereits investierten nicht ohne entgleisen zu können? umsonst investiert worden waren. Rund 7,5 Daß mit den Zahlen etwas nicht stimmt, Milliarden kostete das Experiment, bis es merkten schon vor Jahren die Rechner im schließlich abgebrochen wurde. Auf dem Bonner Finanzministerium. Der Fahrweg, Gelände ist nun ein Freizeitpark. so die Prognose in einem Vermerk, werde Nicht anders begann es beim Transra- alles in allem 15 Milliarden Mark kosten, pid. Damit das teure Spielzeug auf Staats- vorausgesetzt, noch 1997 werde mit dem kosten vorangetrieben werden konnte, Bau begonnen. 10 Milliarden – das ist die mußte ein Bedarf dafür festgestellt wer- Schätzung der SPD-Expertin Ferner. den.Also beschloß der Bundestag, was ihm Die Industrie zeigt sich gegenüber sol- die Planer aufgeschrieben hatten: Das chen Zahlenspielen gelassen: „Wir setzen „Magnetschwebebahnbedarfsgesetz“, des- auf die Verläßlichkeit der Politik“, sagt Pe- sen Paragraph 1 lautet: „Es besteht Bedarf ter Wiegelmann, Sprecher der Vermark- für den Neubau einer Magnetschwebe- tungsgesellschaft Transrapid International. bahnstrecke von Berlin nach Hamburg“. So kann auch nur jemand reden, der Das war natürlich falsch, denn schon da- weiß, daß er nichts zahlen muß. Egal, was mals hatte die Bundesbahn darauf hinge- passiert: Die Rechnung begleicht Bonn. wiesen, daß sie für weitaus weniger Geld Nicht nur der Fahrweg geht auf Staatsko- mit ihren neuen Schnellzügen ebenfalls sten. Auch die ebenfalls absehbare Steige- flott nach Berlin kommt – wenn man sie rung der Preise für Züge und Technik – nur bauen läßt. Doch Gesetz ist Gesetz, Prognose: 4 bis 5 Milliarden Mark – ist und so wurde der Bahn verboten, ihre Aus- letztlich Bonner Risiko: Die Bahn, so ist baupläne voranzutreiben. vereinbart, wird unter dem Strich über Die Parlamentarier freilich wurden da- Nutzungsentgelte für diese Investitionen mals hinters Licht geführt. Der Bau der aufkommen. Und was die Bahn nicht hat, Strecke koste 5,6 Milliarden Mark, hieß es bekommt sie aus dem Steuertopf. in der Begründung – und weiter: „Diese Die Magnetbahnmanager kassieren so- Kosten müssen nach einer noch zu gar, wenn kein Fahrgast jemals seinen Fuß schließenden Vereinbarung zwischen dem in den Zauberzug setzt. Denn das Be- Bund und den privaten Projektträgern auf- triebsrisiko trägt die Bahn. Und wenn, was geteilt werden.“

P. LANGROCK / ZENIT P. viele befürchten, eines Tages der teuer ge- Doch die Partner dachten überhaupt Politiker so besoffen gemacht baute Fahrweg wieder abgerissen und ver- nicht daran, den Streckenbau aus der Fir-

der spiegel 42/1998 35 menkasse zu finanzieren. Als nächstes legten sie Bonn eine Vereinbarung darüber vor, nach der sie als Betreiber der Magnetbahn die Gelder für die Fahrkarten einsammeln soll- ten. Aus den Überschüssen würden sie dann der Staats- kasse einen Teil der Baukosten erstatten – falls es welche ge- ben würde. Alsbald jedoch wurde klar, daß mit Überschüssen kaum zu rechnen war. Die Progno- sen über die Fahrgastzahlen mußten von 14,5 Millionen auf unter 11 Millionen pro Jahr re- duziert werden. Für die Ma- gnetbahnunternehmer Anlaß, Bonn ein neues Vertragsange- bot zu machen. Im Frühjahr 1997 wurde der Coup besiegelt. Danach wer- den die Transrapid-Erbauer ihr System nicht selbst betreiben, sondern diese vorhersehbar defizitäre Aufgabe wird von der Deutschen Bahn AG über- nommen. Das Firmenkonsor- tium wird der Bahn die 51 Züge liefern – und was sonst noch an Technik nötig ist. Die Kosten für die Betriebs- technik aber werden die Fir- men nicht etwa selbst aufbrin- gen, sondern zum allergrößten Transrapid-Versuchsstrecke im Emsland: „Der Bund könnte Teil über Kredite finanzieren. Alles ist gut durchdacht. Natürlich ste- ist gleich doppelt geneppt. Sollte sie wirk- hen Thyssen und Co. für die Kredite nicht lich beim Betrieb des Transrapid Gewinne gerade. Zinsen und Tilgung müssen von erwirtschaften, geht das nur auf Kosten der der Bahn AG bezahlt werden – als „ga- Einnahmen aus dem Eisenbahnbetrieb. rantiertes Nutzungsentgelt“ für den Be- Denn die allermeisten Transrapid-Fahrgä- trieb der Magnetbahn. ste, so die Prognosen, sind Umsteiger von Auf die Mark genau ist im Kleinge- der Bahn. druckten des Vertrags schon ausgerechnet, Und damit auch genügend umsteigen, was das kaum sanierte Bundesunterneh- muß die Bahn ihre Alternativstrecke für men pro Jahr an die Magnetindustrie ab- die Reise von Hamburg nach Berlin extra führen muß: im Schnitt eine halbe Milliar- unattraktiv machen. 1933 schaffte der die- de Mark. sel-elektrische Triebwagen „Fliegender Sollten, womit niemand ernsthaft rech- Hamburger“ die Strecke in 2 Stunden net, die Erlöse aus dem Fahrkartenverkauf und 18 Minuten. Soweit darf es nie wieder so hoch sein, daß sie über Betriebskosten kommen. und Nutzungsentgelte an die Industrie hin- Im Mai vorigen Jahres feierten Ham- aus auch noch Gewinne abwerfen, käme burgs damaliger Stadtchef Henning Vo- ein Drittel davon zurück an die Steuer- scherau und Bahnchef Johannes Ludewig kasse: eine Art Trinkgeld für die Jungs in mit Sekt auf offenem Bahnhof, daß vom Bonn, die so eine schöne neue Trasse ge- Fahrplanwechsel an künftig ICE-Züge den- baut haben, ohne daß jemand richtig dan- selben Weg in 2 Stunden und 22 Minuten ke gesagt hätte. schaffen – einmal am Tag. Dabei hatte die Die Banken kassieren für die Transrapid- Strecke, die künftig mit Rücksicht auf den Kredite sieben Prozent Zinsen im Jahr. Ein Transrapid sogar nur noch mit Interregio- schönes Schnäppchen, gibt der Bundes- zügen befahren werden soll, 4,5 Milliarden rechnungshof zu bedenken, sei das für die Mark Umbaukosten verschlungen. Geldverleiher. Schließlich bekommen die Für gerade mal eine halbe Milliarde mit der Bahn einen „Schuldner bester Bo- mehr, so rechnen Experten, hätte die Bahn nität“, dessen Kassen im Ernstfall auf Steu- zwischen Hamburg und Berlin eine nagel- erkosten ständig nachgefüllt werden. neue Rennstrecke bauen können, die der Die Bahn, die sich unter Bonner Druck ICE in 70 Minuten absolviert hätte. Das auf den selbstmörderischen Deal einließ, sind nicht mal zehn Minuten mehr, als der

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Als letzter aufrechter Transrapid-Freund trommelt immer noch der nordrhein- westfälische SPD-Regierungschef Wolfgang Clement, der sich Beschäftigung für Zulie- ferfirmen in seinem Land verspricht. Dafür ließ er Texte verbreiten, die wie aus dem Thyssen-Werbeprospekt klingen: Es gehe um „den Aufbruch in eine neue Generation der Verkehrstechnologie und um einen Quantensprung“ auf der Schiene. Der Jubel wirkt kaum noch ansteckend, denn es gibt es keine greifbare Hoffnung, daß der teure High-Tech-Zug irgendwo in der Welt verkäuflich ist. Wenn der Trans- rapid fahre, hatte voreilig Thyssen-Vor- stand Eckhard Rohkamm angekündigt, werde es „noch vor dem Jahr 2000“ erste Exportaufträge geben. Statt dessen gab es Absagen. Eine Plei- te erlebte Thyssen in Australien. Zwischen Sydney und Canberra wird nicht der Trans- rapid, sondern der französische ICE-Kon- kurrent TGV fahren. Dabei hatten sich mehrere Kabinettsmitglieder und Thyssen- Manager in Sydney für den deutschen Zug stark gemacht. Einige Monate zuvor schon hatte die US- amerikanische Planungsgesellschaft, die eine Schnellbahnverbindung zwischen Los Angeles und Las Vegas projektiert, den Deutschen ihre Unterlagen zurückge- schickt: „Betriebswirtschaftlich nicht durchführbar“, lautete das Urteil.

W. STECHE / VISUM W. Siehste. Das sagen die Grünen auch. auf einem Milliardenberg Schulden sitzen“ Und doch ist da irgend etwas, was selbst die Schröder-Widersa- Transrapid brauchen soll. Und noch billiger cher zögern läßt, sich wäre es gewesen, auf der Hamburg-Berli- Schleswig- Transrapid von dem schicken matt- Holstein Hamburg – Berlin ner Bummelzugstrecke die schienenglei- Mecklenburg- weißen Spielmobil so chen Bahnübergänge zu beseitigen und geplante Trasse ganz und für immer zu Hamburg Vorpommern geplante Haltepunkte die Trasse dann mit Neigezugtechnik zu trennen. Hamburg Schwerin bestehende Bahnlinie befahren. Die Bauzeit für die dann 90 Hbf. Holthusen Es müsse ja nicht, Minuten schnelle Strecke: vielleicht ein Moorfleet so debattieren die grü- Jahr. nen Koalitionäre, die Mindestens sieben Jahre noch soll es 24 Strecke zwischen Berlin dauern, bis auf der Strecke der erste Trans- und Hamburg sein. rapid schweben könnte: in der übernäch- Niedersachsen Brandenburg Aber vielleicht könnte sten Wahlperiode. Wer weiß, ob Ger- Instandhaltungs- sich ja eine andere hard Schröder bei der Jungfernfahrt noch zentrale Perleberg Berlin Strecke finden, eine dabei ist. 50 Kilometer kleine wenigstens. „Ob das der Schröder weiß?“ fragt sich Lehrter Schon gibt es Kom- Sachsen- Bahnhof die Grünen-Abgeordnete Kristin Heyne, Hannover Anhalt Spandau promißvorschläge an die das fatale Zahlenwerk durchgearbeitet die Adresse der SPD: hat, um die Koalitionsverhandlungen vor- Die Strecke etwa zwi- zubereiten. Die Grünen sinnen über Ar- Bei Adtranz und Siemens würde das schen dem Frankfurter Flughafen und der gumente, dem künftigen Kanzler im letz- Ende des magnetischen Traums wahr- geplanten Charter-Dependance in Hahn ten Augenblick die „gigantische Fehlinve- scheinlich sogar auf klammheimliche Er- im Hunsrück wäre doch auch ganz schön. stition“ auszureden. leichterung treffen. Schließlich hat auch Natürlich hat das alles keine Chance auf Tatsächlich wäre es nicht schwer, das Rie- Schröder schon angedeutet, daß „Mehr- Realisierung und ist darum auch als Koali- senspielzeug ohne Räder auf den Schrott zu kosten die privaten Investoren“ überneh- tionskompromiß kaum geeignet. Es ist aber tun. Von Planungs- und Forschungskosten men müßten. nett gemeint: „Wir sind ja keine Technik- abgesehen, ist noch kein Geld verpulvert. Zusätzliche Risiken aber können beide killer“, sagt die grüne Fundi-Frau und Ver- Noch nicht mal eine Baugrube hat Ver- Firmen zur Zeit nicht eingehen. Der Be- kehrsexpertin Gila Altmann. kehrsminister Wissmann seinen Nachfol- reich Verkehrstechnik bei Siemens bringt Mitleid mit dem Magnetmonster? Glit- gern hinterlassen. Und die Vereinbarungen ohnehin Verluste, Adtranz muß sich mit zern auch bei den Grünen? Was Schröder Bonns mit der Industrie sind ohnehin unter teuren Problemen bei den Neigezügen nicht weiß: Auch Gila Altmann ist schon dem Vorbehalt abschließender Detailver- quälen, die bereits an die Bahn ausgeliefert mal mit dem Transrapid gefahren. handlungen getroffen. wurden. Thomas Darnstädt

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HAUPTSTADT Warten auf Walter Die Berliner SPD sucht einen Bürgermeisterkandidaten für die nächste Wahl – und hat ähnliche Probleme wie einst die Bundespartei. Die neue Bonner Regierung favorisiert Walter Momper, den Mann mit dem roten Schal.

bensfähig hielt, belohnt sehen. Der Par- teisoldat macht sein Anrecht auf ein bißchen Glanz geltend, baut auf den Rückhalt der rechten Mehrheit unter den Genossen; π Umweltsenator Peter Strieder, 46, setzt auf ein Ticket der Linken in der Haupt- stadt, denen der Weg der SPD in die neue Mitte mehr als suspekt ist, und π Ex-Bürgermeister Momper, als Mann von gestern abgestempelt, glaubt an eine Zukunft dank Gerhard Schröder. Der Sog des politischen Umbruchs, kalku- liert der erklärte Freund des designier- ten Kanzlers, werde auch seine medien- wirksame Popularität wieder gefragt machen: „Ich habe einen hohen Wie- dererkennungswert.“ Eigentlich waren sich Partei und Trio ei- nig, erst zu Beginn des nächsten Jahres die Kandidaturen zu erklären. Doch dann mochte ausgerechnet der Solideste nach

R. SUCCO / ACTION PRESS R. SUCCO / ACTION der Bundestagswahl nicht länger warten, Regierender Bürgermeister Momper*: „Ich traue es mir unverändert wieder zu“ Böger sprang als erster. Offensichtlich fürchtete der Mann mit der Ausstrahlung r war der Bürgermeister der Einheit. SPD sucht auch die Berliner Landespartei einer Systemwette im Lotto, daß nach Doch populär wurde Walter Mom- nach einem Kandidaten, der bei der Wahl Schröders Wahlsieg ehrbare Arbeit in der Eper als „Mann mit dem Schal“. Wer zum Abgeordnetenhaus im nächsten Partei nicht mehr reichen könnte. Schließ- auch immer heute zum dunklen Mantel Herbst den Regierenden Bürgermeister lich hatten Mompers Helfer in den letzten das rote Halstuch trägt, wird unweigerlich Eberhard Diepgen ablösen kann – der im- Wochen immer wieder gestreut, Schröder auf den „Momper-Schal“ angesprochen. merhin fast so lange amtiert wie Helmut werde sich nach gewonnener Bundestags- Das rote Stück Kaschmir läßt der So- Kohl. Und ähnlich wie sich Scharping, La- wahl „postwendend auch um das Haupt- zialdemokrat derzeit bewußt „zu Hause fontaine und Schröder um die Rolle des stadt-Personal kümmern“. im Schrank“. Walter Momper, 53, möchte Herausforderers balgten, treten auch in Jetzt erfährt der Politiklehrer, daß das am liebsten nur mit „eigenständiger poli- Berlin drei Genossen an, die für die unter- Leben auch den bestraft, der zu früh tischer Präsenz“ wieder werden, was er schiedlichsten Strömungen und Gefühle kommt. Das Coming-out ihres Vormannes schon mal 22 Monate lang war: die Num- der Partei stehen: irritierte die Funktionärsriege. Ein Mitglied mer eins in Berlin. π Fraktionschef Klaus Böger, 53, möchte murrte, er habe „mit seiner Hektik eine ge- In der Hauptstadt wiederholt sich gera- seine Kärrnerarbeit, mit der er in den plante Inszenierung der Partei unterlaufen“. de die Geschichte. So wie einst die Bundes- letzten Jahren die Große Koalition le- Strieder verhielt sich geschickter. Wis- send, daß die Zeitläufe nicht gerade für ei- nen Linksruck sprechen, blieb er vorerst in Deckung. Dabei krebst nach jüngsten Um- fragen die Regierungspartei CDU in der Hauptstadt abgeschlagen im 30-Prozent- Bereich, während Rot-Grün längst die ab- solute Mehrheit erhält. Mompers Gegner von rechts wie links verweisen beim Blick nach vorn auf seine Vergangenheit: Er verhinderte 1990 den Bruch der rot-grünen Koalition auch des- halb nicht, weil er sie für ein „Auslauf-

* Bei der Öffnung des Brandenburger Tores mit DDR- VISION PHOTOS P. GLASER P. Ministerpräsident Hans Modrow (l.) und Kanzler Helmut Kandidaten Böger, Strieder: „Die Linken johlen doch, wenn der Name Böger fällt“ Kohl (r.) am 22. Dezember 1989.

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Werbeseite Deutschland modell“ hielt. Wer damals dabeigewesen Wirtschaft und Politik in seinen „Politi- sei, behaupten seine Kritiker, „kriegt heu- schen Salon“, in dem die Grenzen des te noch die Krätze, wenn er nur an Mom- Wohlfahrtsstaats dann ebenso Thema wa- per und Rot-Grün denkt“. ren wie eine Runderneuerung rot-grüner Das Debakel der damals zunächst als Regierungspolitik. „Jahrhundertkoalition“ gefeierten Regie- Wenn es um die Frage seiner Kandida- rung hängt dem Kandidaten wie ein Klotz tur geht, erklärt Momper bisher nur sibyl- am Bein. Dem Parteiapparat gilt er seitdem linisch, er habe es sich „einmal zugetraut als „nicht teamfähig“. Und „die Linken – ich traue es mir unverändert wieder zu“. johlen schon, wenn der Name Böger fällt, Allerdings macht er einen medienwirksa- aber bei Momper ist die Häme noch men Wahlkampf nach Schröder-Muster. Bei größer“, sagt Vorstandsmitglied Klaus-Uwe allen relevanten gesellschaftlichen Ereig- Benneter, der sich Strieder wünscht. nissen erscheinen Momper und Gattin An- In der SPD wurde Momper, im Urteil ei- negret – als seien sie niemals weggewesen. ner Ex-Senatorin „entscheidungsfroh bis Je häufiger er in der vergangenen Woche hin zur Skrupellosigkeit“, nachhaltig ab- in den Fernsehstudios der Stadt talkte, gestraft. In der folgenden Großen Koalition des Wahl- siegers Diepgen bekam er nicht einmal mehr einen Se- natsposten, wenig später war er als Parteichef abge- halftert und 1995 wurde ihm in einer Urwahl die er- neute Spitzenkandidatur verwehrt. Der Mann, der zuvor mit George Bush in Washington parlierte und mit rotem Schal und Kanz-

ler Kohl das Brandenburger DPA Tor geöffnet hatte, stürzte Kandidat Momper: „Hoher Wiedererkennungswert“ ins Bodenlose. Er suchte, wie vor und nach ihm gestolperte Senato- ohne Kandidaturfrage oder Programm- ren, Zuflucht am Bau. Wenn Momper nun inhalte explizit zu diskutieren, staunte wieder antrete, droht Benneter, „wollen die „Berliner Morgenpost“, um so mehr alle wissen, was er in den letzten sechs Jah- „macht er sich interessant“. Schon rea- ren gemacht und wovon er gelebt hat“. gierte Diepgen wie Kohl bei Schröder: Von seinem Büro im Hilton-Hotel am Populist Momper sei, weil politisches Gendarmenmarkt aus betreut Momper Leichtgewicht, der leichtere Gegner. Der („Ich bin kein Bauherr, kein Makler, erst Herausforderer hält eine andere Lesart da- recht kein Umwandler“) einzelne Baupro- gegen: Sicher tauge einer, der wie er pola- jekte wie etwa das 80-Millionen-Vorhaben risiere, besser zur Zielscheibe – mache aber „Hafenquartier Potsdam“. Die Jahresum- auch die Alternative für Berlin deutlich. sätze seines siebenköpfigen „Dienstlei- Während in Berlin die einflußreichsten stungs-Betriebes“ erreichten laut Ge- Funktionärskreise vergeblich gegen eine schäftsbericht 1995 gerade mal 1006074 Urwahl der 22000 Berliner SPD-Mitglie- Mark, ein Jahr später 995314 Mark. Es sei- der kämpften und sich nun für die beiden en dennoch, sagt er – wie immer einsilbig, aussichtsreichsten Kandidaten Momper wenn er auf den ungeliebten Job angespro- und Böger eine Lösung „wie beim Duo chen wird –, „lehrreiche Jahre gewesen“. Lafontaine/Schröder“ wünschen, hat sich Tatsächlich aber hat Momper all die Jah- die Bundespartei schon entschieden. Für re nichts anderes getan als gewartet – dar- einen externen Kandidaten sei es zu spät, auf, daß er und sein roter Schal endlich heißt es im Ollenhauer-Haus. Also setze wieder in der Hauptstadt gefragt sind. Ha- man angesichts der widerstreitenden Ber- ben ihn zur Wendezeit weniger Biographie liner Parteiflügel, die nur noch „Tradi- und Naturell als vielmehr günstige Zeit- tionskompanien ohne inhaltliche Platt- umstände in eine Reihe mit den großen form“ seien, lieber auf den Symbolwert Bürgermeistern gestellt, sollen diesmal In- Mompers: „Der hat die besten Karten“. halte das Comeback ermöglichen. Wie schnell so ein Symbol zu erneuern Momper gibt sich geläutert, kritisiert die ist, weiß niemand besser als Momper Große Koalition zum Wohlgefallen der Ba- selbst. Jenes rote Stück Kaschmir, mit dem sis als „politisches Vakuum“ oder „organi- er 1989 seine Karriere begann, gibt es sierte Verantwortungslosigkeit“. Mit der längst nicht mehr. Der Ex-Regierende hat „Speckschicht der Funktionäre“ befaßt er es für die Tombola einer Benefizveranstal- sich ebenso wie mit „Innovation und Be- tung gestiftet, so wie fast zwei Dutzend schäftigung für Berlin“ – ein Parteitag mit weitere. Der rote Schal, der jetzt darauf diesem Motto trug seine Handschrift. wartet, wieder zum Markenzeichen der Po- Monatlich einmal bittet Momper die ver- litik zu werden, „ist mindestens schon die bliebenen Altgetreuen und Größen aus Nummer 20 bei mir im Schrank“. ™

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DDR Wanzen in Wandlitz Aktenfunde in der Berliner Gauck-Behörde belegen: Honeckers deutschlandpolitischer Top-Unterhändler, Herbert Häber, wurde durch eine Intrige gestürzt und anschließend zwangspsychiatrisiert. Erich Mielke persönlich zog im Hintergrund die Fäden. JÜRGENS OST UND EUROPA PHOTO JÜRGENS OST UND EUROPA SED-Politbüromitglied Häber (l.), CDU-Politiker Rühe (2. v. r., 1984): Deutsch-deutscher Sonderweg der Entspannung

er Brief war mit der Hand ge- 1985 wegen gesundheitlicher „Probleme“ oder Wolfgang Schäuble trugen mit dazu schrieben, die Anrede ließ auf eine aus allen Ämtern geschieden. Der Vorgang bei, daß auch nach dem Regierungswechsel Dgewisse Nähe schließen. „Liebe Ge- „Säule“ indes beweist: Häber wurde Opfer in Bonn 1982 Kontinuität in den Be- nossen“, schrieb Annemarie Schneider aus einer Mobbing-Kampagne, die auf Druck ziehungen der beiden deutschen Staaten Berlin-Hohenschönhausen den Freunden aus Moskau von SED-Führung und Stasi herrschte. in Mielkes Ministerium, „seit dem Zeit- exekutiert wurde. Häbers Absetzung 1985 machte deutlich, punkt der Wahl des Prof. Häber als Mit- Die Aktion traf einen Mann, der seit daß zwischen Bonn und Ost-Berlin keine glied des Politbüros“ befinde sie sich „in ei- mehr als zehn Jahren einer der wichtig- Kooperation möglich war, wenn die nem Gewissenskonflikt“. sten Deutschlandpolitiker der DDR war. Großmächte auf Konfrontation setzten. Grund: Der Vater des ranghohen DDR- Schon bei den historischen Treffen der Re- Der SED-Westexperte, den die „Frank- Politikers sei im Zweiten Weltkrieg An- gierungschefs Brandt und Stoph 1970 in furter Allgemeine“ 1984 als „sachkundi- gehöriger eines Erschießungskommandos Kassel und Erfurt war Häber als Macher im gen, undogmatischen und offenen Ge- der Wehrmacht gewesen – ein Umstand, Hintergrund mit von der Par- sprächspartner“ einstufte, paß- der, falls er bekannt würde, dem „Ansehen tie. Zur zentralen Figur wurde te nicht mehr in die politische unserer Partei und unseres Staates“ schwe- er durch den Aufbau einer ge- Landschaft des Ostblocks. ren Schaden zufügen könne. heimdiplomatischen Ebene für Nach der Stationierung ame- Die vierseitige Denunziation vom 17. Gespräche mit Unionspoliti- rikanischer Mittelstrecken- Oktober 1984 ist Bestandteil eines jüngst in kern in den siebziger Jahren. raketen vom Typ „Pershing II“ der Gauck-Behörde gefundenen Akten- Damals liefen CDU und CSU in der Bundesrepublik 1983 konvoluts, das unter dem Decknamen noch offiziell Sturm gegen die waren wieder Kalte Krieger „Säule“ bislang im Archiv lagerte. Die Do- Ost- und Deutschlandpolitik gefragt und nicht Genossen, kumente lassen das Ende der politischen der Regierungen Brandt und die einen deutsch-deutschen Karriere des SED-Politbüromitglieds Her- Schmidt. Häbers Gespräche Sonderweg der Entspannung bert Häber in neuem Licht erscheinen. mit Christdemokraten wie propagierten.

Offiziell war der Sekretär des Zentral- Walther Leisler-Kiep, Richard K. MEHNER Bis zu diesem Zeitpunkt galt komitees (ZK) der Staatspartei im Herbst von Weizsäcker, Volker Rühe Stasi-Opfer Häber Häber als Honecker-Schützling

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Werbeseite Deutschland und als realsozialistischer Bilderbuchkar- Wenige Wochen später ließ der von den rierist. Als 16jähriger Schüler war er 1946 sowjetischen Brüdern bedrängte Honecker in die SED eingetreten. Seit 1950 befaßte er seinen altgedienten Westunterhändler fal- sich im SED-Zentralkomitee mit Westpoli- len. Es begann eine Phase der systemati- tik. Im Alter von 35 Jahren avancierte er schen Ausgrenzung Häbers aus allen wich- zum stellvertretenden Staatssekretär für tigen Gremien der DDR-Führung. Im Ok- gesamtdeutsche Fragen.Acht Jahre später, tober 1984 entzog sein einstiger Förderer 1973, beförderte Honecker ihn zum Leiter ihm erstmals auf einer Politbürositzung das der Westabteilung des ZK, dem er seit 1978 Wort: „Halt hier keine vorlauten Reden.“ als Vollmitglied angehörte. Fortan bekam er nicht mehr die üblichen Als die Kreml-Oberen mit der Statio- Informationen, wurde zu wichtigen Sit- nierung von SS-20 Mittelstreckenraketen zungen nicht mehr eingeladen. Politbüro- eine neue Runde des Wettrüstens einläu- mitglied Joachim Herrmann, den Häber teten, versuchte die DDR-Führung ab 1979, für einen Freund hielt und nach Gründen trotz des Nato-Doppelbeschlusses die Be- für die rüden Umgangsformen fragte, gab ziehungen zur Bundesrepublik weiter aus- ihm kalt zur Antwort: „Hier gibt es keine zubauen. Eine Aufgabe, die vor allem Hä- Freundschaften.“ ber zufiel. Aus Rücksicht auf den „ewigen Bruder- Im Oktober 1983 verfaßte er für Erich bund“ mit der Sowjetunion wollten Honecker einen Brief an Helmut Kohl, in Honecker und die SED-Spitze den poli- dem er angesichts der neuen Ost-West- tischen Konflikt mit Häber jedoch nicht Spannungen eine „Koalition der Vernunft“ offen austragen. Hinzu kam: Es galt forderte. Noch ungewöhnlicher für die sonst eher auf Abgren- zung bedachte SED-Riege war Häbers Formulierung am Schluß des Schreibens: Die DDR be- treibe Politik „im Namen des deutschen Volkes“. Mit seinem diplomatischen Geschick empfahl er sich für höhere Weihen – im Mai 1984 holte Honecker den Westexper- ten ins Politbüro. Doch zu die- sem Zeitpunkt stand Häber be- reits mit dem Rücken an der

Wand. Daß seine politischen K. MEHNER Vorstellungen in der Sowjet- Häber, Schäuble (1984): Offen und undogmatisch union negativ bewertet wurden, war ihm schon im Oktober 1983 auf- den Mythos von der „Einheit und Ge- gefallen. Damals hatte Häber den Vize schlossenheit“ der Partei aufrechtzu- der Internationalen Abteilung des ZK der erhalten. KPdSU, Wadim Sagladin, in Moskau be- Honecker kam mit Stasi-Chef Erich sucht. Der forderte, die sozialistischen Län- Mielke überein, Belastendes über Häber der sollten den Westen nach einer Per- zusammenzutragen. Einen aktuellen An- shing-Stationierung „bestrafen“, vielleicht laß für eine Untersuchung schuf sich die sogar durch einen Abzug der Botschafter. Staatssicherheit selbst. Im Juli 1984 versuchten die Sowjets über Am 17. Oktober 1984 erschienen zwei den Leiter der Abteilung Auslandsinfor- korrekt gekleidete Herren um die 40 bei mation des ZK, Manfred Feist – den Bru- der Schwester von Häbers Ex-Frau. Sie ba- der der Honecker-Ehefrau Margot – einen ten Annemarie Schneider, SED-Genossin grobschlächtigen Artikel über „westdeut- seit 1956, einen Brief an das MfS zu schen Revanchismus“ im SED-Zentral- schreiben. „Etwas über die Vergangenheit organ „Neues Deutschland“ zu plazieren. von Häbers Vater“ sollte es sein. Schneider, Häber verhinderte die Veröffentlichung die ahnte, daß die Besucher „wohl von durch eine direkte Intervention beim SED- der Firma“ kamen und wußte, worum es Generalsekretär. Von nun an galt die ge- ging: Häber senior war 1943 als Wehr- samte DDR-Westpolitik den Sowjets als machtssoldat zur Hinrichtung eines fran- Sicherheitsrisiko. Nur wenige Wochen spä- zösischen „Fremdarbeiters“ befohlen wor- ter, im August 1984, geriet Häbers Förderer den, der an der Plünderung eines aus- Honecker bei einem Treffen mit der so- gebombten Hauses beteiligt gewesen sein wjetischen Führungsspitze in Not. sollte. Als seine Beteiligung an dem KP-Chef Konstantin Tschernenko mach- Erschießungskommando 1954 bekannt te aus seinem Mißfallen gegenüber der wurde, schloß die SED Fritz Häber aus der DDR-Politik kein Hehl, verbot Honecker Partei aus. einen geplanten Besuch in Bonn und Der Karriere des Sohnes hatte dies nie drohte ihm für den Fall weiterer „Eigen- geschadet. Politbüromitglied Karl Schirde- mächtigkeiten“ sogar mit einer möglichen wan versicherte schon dem jungen Häber, Absetzung. der sich ängstlich nach möglichen weiteren

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Konsequenzen erkundigt hatte: „Wir be- Honecker warf dem in Ungnade gefal- treiben keine Sippenhaft.“ lenen Genossen vor, er habe „öffentlich 1984 galt diese Devise nicht mehr. über Differenzen zwischen SED und Während die Abgesandten des Mielke-Mi- KPdSU diskutiert“. Tatsächlich hatte Hä- nisteriums in der Küche Kaffee tranken, ber bei einer Plauderei mit seiner Ärztin schrieb Häbers Ex-Schwägerin die gefor- zwei Monate zuvor eingeräumt, die neue derte Denunziation. Heute bedauert sowjetische Politik Gorbatschows stimme Schneider, daß ihre Parteidisziplin stärker wohl nicht völlig mit der DDR-Politik über- war als ihr Gewissen: „Ich habe großen ein. Die Medizinerin machte offenbar brav Mist gemacht.“ der Stasi Meldung. Der langersehnte kon- Ihr Brief landete beim MfS in der für krete Anlaß war da. Gegenspionage zuständigen Hauptabtei- Der SED-Chef nötigte den Westexper- lung II/6 – als „Sonderauftrag“ von Miel- ten, ein Rücktrittsgesuch aus Krankheits- ke, wie sich ein Offizier der Truppe erin- gründen einzureichen. Parteiintern ließ die nert. Die Stasi verwanzte Häbers Woh- SED-Spitze verbreiten, Häber habe Krebs. nung im Funktionärsghetto Wandlitz bei Zum Jahreswechsel 1985/86 wies die Berlin, hörte sein Telefon ab und obser- SED ihrem abservierten Westexperten vierte ihn – immer in der Hoffnung, einen Arbeitsplatz an der Akademie für einen Vorwand zu finden, der die politische Gesellschaftswissenschaften des Zentral- Kaltstellung Häbers plausibel erscheinen komitees zu, einen Job ohne Aufgaben- ließe. Doch der Verdächtige verhielt sich bereich. Als Häber am 3. Januar 1986 im korrekt. Büro Honeckers anrief, um den Parteichef Die Verzweiflung der zuständigen Bear- zu fragen, welche Aufgaben er überneh- beiter muß groß gewesen sein. Sogar seine men solle, war der nicht zu sprechen. „Funktionen im faschistischen Jungvolk“ warf die Stasi Hä- ber in ihrer Beweisnot vor. Als Zwölfjähriger hatte er als „Jungenschaftsführer“ eine Gruppe von fünf Pimpfen ge- führt. Gefährlicher war der Ver- dacht, das Politbüromitglied könne ein Spitzenspion sein. In den Stasi-Unterlagen fin- det sich eine Information des sowjetischen Geheimdien- stes KGB von 1978, Häber sei

bei der CIA erfaßt und solle PHOTO JÜRGENS OST UND EUROPA möglicherweise geworben Häber (4. v. l.), Genossen*: Druck aus Moskau werden. Am bedrohlichsten für Häber war eine Honeckers Mitarbeiter baten ihn, noch Unterlage des MfS, aus der hervorging, daß einmal zu einer Besprechung ins Regie- ein Agent des Bundesnachrichtendienstes rungskrankenhaus zu fahren. Seiner Frau, (Deckname: „Kreuzspinne“) 1954 berichtet die als Sekretärin im ZK-Gebäude arbei- hatte, er habe Kontakt zu ihm. Der lasse tete, versprach er, sie abends abzuholen. sich für die „Organisation nutzbar ma- Erst drei Monate später sah er sie wieder. chen“. Solche Aussagen konnten in der Häber wurde im Regierungskranken- DDR für den Betreffenden lebensgefähr- haus festgehalten, mit Medikamenten ru- lich sein. Doch die Stasi fand nichts, was higgestellt und drei Tage später in die die Verdachtsmomente bestätigte. Psychiatrie nach Bernburg gebracht. Dort Die „Zersetzung“ des Genossen Häber blieb er bis Ende März 1986. funktionierte, auch ohne daß Mielkes Man- Daß er die „stalinistische Kadervernich- nen Kompromittierendes zu Tage förder- tung“ jetzt durch die in der Gauck-Behör- ten. Im August 1985 erlitt er nach einem de gefundenen Akten belegen kann, erfüllt Jahr Mobbing und Isolation einen Nerven- den heute 67jährigen mit Genugtuung. zusammenbruch und wurde ins Regie- Er ist sicher, daß es ihm gelingt, deutlich rungskrankenhaus Berlin-Buch eingeliefert. zu machen, daß er die Mauer schon Mitte Dort war das SED-Führungsmitglied von der achtziger Jahre durchlässiger machen jedweder Information abgeschnitten – auch wollte. Ein Problem Häbers ist damit aber Nachrichten und Zeitungen fehlten. Vier nicht erledigt: Die Berliner Staatsanwalt- Wochen nach seiner Einlieferung erhielt schaft hat ihn wegen der Schüsse an der Häber überraschend Besuch von Honecker. deutsch-deutschen Grenze angeklagt. Sie Seine anfängliche Freude verflüchtigte sich wirft ihm Totschlag durch Unterlassung schnell. Der SED-Chef eröffnete ihm: „Du vor, weil er das Grenzregime in seiner hast keinen Grund, dich zu freuen.“ Amtszeit nicht geändert, sondern aktiv ge- billigt habe. „Das“, so der frühere Deutsch- * Auf dem Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei landpolitiker halb sarkastisch, halb empört, Westberlins 1984. „nenne ich Ironie der Geschichte.“ ™

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„Kennen wir uns?“-Ausstellungsbilder: „Fortgeworfen wie ein benutztes Taschentuch, ausgetreten wie eine Zigarettenkippe, beachtet wie

hinterlassen können oder die Glut von STRASSENKINDER Zigaretten. Beide Bilder gehören zu einer Serie von 40 Fotos aus dem Alltag von Straßenkin- So nah dran, wie es geht dern in Deutschland. Die Ausstellung mit dem Titel „Kennen wir uns?“ tourt der- Mit 500 gespendeten Kameras haben jugendliche Ausreißer zeit durch Großstadt-Hauptbahnhöfe. Noch ist sie in Frankfurt am Main zu sehen, in ganz Deutschland ihr Leben fotografiert. von Mittwoch an folgen im Wochenturnus Die Ausstellung tourt jetzt durch die Bahnhöfe der Großstädte. München, Stuttgart und Dresden. Drei Unternehmen sponsern das einzig- äre nicht das Stückchen Finger artige Projekt, obwohl das Elend der Tre- vor der Linse deutlich zu sehen, ber schlecht zur heilen Werbewelt paßt. Wkönnte das Bild auch ein Presse- Und nicht Profis haben fotografiert, son- fotograf geschossen haben. Thema Baby- dern die Ausreißer selbst. strich: Da steht ein blondes Mädchen mit „Wenn deine Bilder nicht gut sind, warst Minikleid und Plateaustiefeletten an einen du nicht nah genug dran“, pflegte der Pfahl gelehnt; es reckt die Brust raus, zieht legendäre Kriegsreporter Robert Capa zu den Bauch ein und raucht – kokett und sagen. Die Bilder der Ausstellung sind cool wie eine Profi-Hure auf St. Pauli. gut, weil die Kinder so nah dran waren, Alles Pose: Ein zweites Foto zeigt nur wie es nur geht. Manche Aufnahmen wir- die Beine des Mädchens im Gras einer ken wie Notizen vom Überleben ganz

schütteren Wiese. Die Knie sind wundge- FLUMI / OFF-ROAD-KIDS unten. Sie zeigen Dreck und Drogen, Sze- stoßen, die Unterschenkel übersät von Junger Fotograf mit Wegwerfkamera nen mit Punks, Bierdosen und struppi- braunen, runden Narben, wie Nadeln sie Notizen vom Überleben gen Hunden, wie sie jeder Großstadt-

56 der spiegel 42/1998 (l.) RUTH / OFF-ROAD-KIDS ; (r.) HARDCORE / OFF-ROAD-KIDS (l.) RUTH / OFF-ROAD-KIDS ; (r.) JAN M. / OFF-ROAD-KIDS JAN ein Stück Scheiße am Wegrand“

passant kennt. Andere erzählen von der Not dahinter – so etwa das Bild eines Mädchens, das sich ein Fischgrätmuster in den Arm geritzt hat.

„Du schaust auf dein Handgelenk. Du / OFF-ROAD-KIDS TOBLERONE denkst an Vergangenes zurück. Die Schläge, die Verbote, die Verachtung. Du ertastest das Messer in deiner Tasche. Nur das Vergangene gibt dir den Mut aufzu- geben“, schreibt eines der Straßenkinder dazu. Ein anderes dichtet, wie Teenies das eben tun, nur trauriger: Es fühle sich „fortgeworfen wie ein benutztes Taschen- tuch, ausgetreten wie eine Zigarettenkip- pe, beachtet wie ein Stück Scheiße am Wegrand“. Wie viele Ausreißer durch die Republik stromern, weiß niemand genau: 7000, mei- nen Beamte des Bonner Jugendministeri- ums. Der Deutsche Kinderschutzbund ar- beitet lässig mit Dunkelziffer und kommt so auf mehr als 30000. Beide Zahlen seien weit übertrieben, glaubt Buchautor Markus Seidel („Straßenkinder in Deutschland“).

Er stützt sich auf Vermißtendaten des Bun- UTEG. / OFF-ROAD-KIDS

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Werbeseite deskriminalamts und rechnet die auf etwa 2000 junge Streuner hoch. „Klar, meistens ist die Straße vorerst er- träglicher, als es dort war, wo man her- kommt“, meint Janine, 16, die mit zwei Fo- tos in der Ausstellung vertreten ist: „Aber irgendwie ist man immer auf der Flucht, je- denfalls wenn man vermißt gemeldet wur- de.“ Die meisten Straßenkinder schlagen sich durch, indem sie klauen und schnor- ren. Manche dealen ein wenig, andere pro- stituieren sich. Um ihnen überregional zu helfen, hat Seidel 1993 den Verein „Off-Road-Kids“ gegründet, der jetzt die Ausstellung orga- nisiert. Der Journalist, Buchautor und Wer- bemann mag sich nicht mit Behörden her- umplagen – er setzt auf die Wirtschaft: „Wenn ich da eine Entscheidung brauche, krieg’ ich die innerhalb von Stunden.“ Sein Hauptsponsor ist der Telefonnetz- betreiber Mannesmann Mobilfunk. Seit 1996 beschäftigt die Firma eigens eine Angestell- te, die jährlich eine Million Mark für „Soci- al Sponsoring“ ausgeben darf – Peanuts für das Unternehmen (Gewinn 1997: rund eine Milliarde Mark nach Steuern), aber ein Ver- mögen für klamme Sozialarbeiter. In den USA ist das Geschäft Nothilfe ge- gen PR längst gang und gäbe, in Deutsch- land setzt es sich langsam durch, obwohl es viele Helfer noch für anrüchig halten. „Ich habe damit aber nicht das geringste Pro- blem“, sagt Seidel, 31: „Wir brauchen das Geld, und kein Straßenkind läuft deshalb nun mit Mannesmann-Käppi durch Berlin.“ „Wir dachten, laßt uns sachte testen, wie das ist mit dem Social Sponsoring“, sagt Patrizia Westermann, PR-Chefin der Deut- schen Bahn AG. Sie spendiert unter ande- rem Jahresnetzkarten für die Sozialarbei- ter, die damit ihrer Klientel kreuz und quer durch Deutschland hinterherfahren kön- nen. Die Bahn macht keinen Rummel um ihre Wohltätigkeit für Off-Road-Kids, und dennoch bekommt Westermann inzwi- schen „jeden Tag 20 bis 30“ Bittbriefe von Vereinen, die Geld brauchen, weil Sozial- behörden sparen müssen. Für das Fotoprojekt spannte Seidel zu- dem noch den Fotokonzern Fuji ein, der 500 Wegwerfkameras schickte. Im Mai ver- teilten Streetworker diverser Hilfsorgani- sationen sie in der Szene, im Juni wurden die Filme wieder eingesammelt. Janine hat durch die Aktion in ein nor- males Leben zurückgefunden: „Der Tag be- gann nicht so gut“, erzählt sie, „ich hatte kei- nen Pfennig, hatte aber Hunger.“ Da drück- te ihr auf dem Berliner Alexanderplatz ein Streetworker die Kamera in die Hand. „Ich fand die Idee so gut, daß ich gleich begann, alles abzuknipsen, was sich bewegte.“ Das Mädchen hielt danach weiter Kon- takt zu dem Sozialarbeiter, der lotste sie in ein Heim. Jetzt geht Janine wieder zur Schule, später will sie sich einen Ausbil- dungsplatz suchen – „vielleicht als Foto- grafin“. ™

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DEBATTE Einseitige moralische Anmaßung Innensenator Jörg Schönbohm über den Widerstand der Kirche gegen die Berliner Abschiebepraxis und die Überlegung, ihn vom Abendmahl auszuschließen

Schönbohm, 61, hatte im Juli bosnische Bürger- „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“, kriegsflüchtlinge im Morgengrauen in Sicher- heißt es in den Zehn Geboten. Das ist ein zentrales Gebot der heitsverwahrung nehmen und abschieben Menschlichkeit und ist von Wischnath ebenso mißachtet worden lassen. Der Generalsuperintendent der evange- wie das Prinzip des präzisen Quellenstudiums, dem vor allem die lischen Kirche für das südliche und östliche protestantische Theologie seit Jahrhunderten verpflichtet ist. Es Brandenburg, Jörg Wischnath, hatte im SPIE- fordert, Nachrichten bis zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen, GEL (39/1998) deshalb kirchliche Sanktionen sie im Kontext zu betrachten und erst dann Urteile zu fällen, statt gegen den protestantischen Senator gefordert. Vorurteile in einseitig moralische Anmaßungen zu gießen.

J. GIRIBÁS J. Berlin hat ein Zeichen der Humanität gesetzt und 36000 Bür- eneralsuperintendent Rolf Wischnath hat im SPIEGEL die gerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, davon von mir zu verantwortende Ausländerpolitik „menschen- 29 000 aus Bosnien, aufgenommen – mehr als Frankreich und Gunwürdig“ genannt und von „unmenschlicher Abschiebung Großbritannien zusammen. Der Krieg ist seit dem Frieden von von Kriegsflüchtlingen“ gesprochen. Er folgert, daß ich mich da- Dayton auch formell seit knapp drei Jahren zu Ende, die Rück- durch selbst vom evangelischen Abendmahl ausgeschlossen habe. kehr möglich. Sie ist auch notwendig, um das Land aufzubauen Absichtsvoll zitiert er den Neutestamentler Käsemann: „Man kann und die enormen Belastungen allein des Berliner Haushalts in an Jesu Tisch loben, beten, andächtig und doch ein Verräter wie Höhe von bisher über 500 Millionen Mark jährlich zu senken. Judas sein, welcher immerhin das Herrenmahl mitgefeiert hat.“ Die freiwillige Rückkehr aus Berlin geht jedoch trotz weitrei- Die Intervention des Cottbuser Sprengel-Fürsten ist jedoch chender Förderung von Familien und bosnischen Gemeinden keine religiöse. Wischnath will vielmehr massiv politisch Einfluß durch den Berliner Senat zögerlicher voran als in anderen Bun- nehmen, um religiös ummäntelte Ziele durchzusetzen. Damit desländern. In Berlin gibt es ein dichtes Beratungsnetz kirchlicher mißachtet er das Gemeinwohlprinzip und versucht, den Wähler- und anderer Organisationen, die ihr Hauptaugenmerk darauf willen zu manipulieren. Deutschland ist ein säkularer Staat. Ein richten, die Rückkehr in die Heimat zu verzögern, aber kaum Un- demokratisch gewählter Innenminister ist auf Verfassung und Ge- terstützung zur Förderung der freiwilligen Rückkehr geben. setze der Bundesrepublik verpflichtet. Staatliches Handeln ist Nach der rechtmäßigen Abschiebung von Flüchtlingen – stets Ul- mithin kein kirchliches Handeln und darf es auch nicht sein. tima ratio nach sorgfältigen und überaus korrekten Prüfungen – C. SHIRLEY / SIGNUM Bosnische Flüchtlinge in Berlin-Hohenschönhausen: Abschiebung als Ultima ratio nach sorgfältiger und korrekter Prüfung

der spiegel 42/1998 61 wurden von der Kirche unsub- stantiierte Vorwürfe erhoben, dieses Bekenntnisses muß es aber nicht nachvollziehbar belegt. sein, die demokratische Legiti- Unsere Aufforderung, konkrete mation der politischen Entschei- rechtswidrige Abschiebungen zu dungsträger anzuerkennen. benennen, wurde unverbindlich Es ist daher befremdlich, oder gar nicht beantwortet. Eine wenn ein Vertreter der Kirche Gemeindeversammlung der evan- offensichtlich aus dem Evange- gelischen Kirche „Zum Heiligen lium ein Widerstandsrecht ge- Kreuz“ tolerierte statt dessen, gen unsere Verfassung heraus- daß während einer Diskussion in liest und demokratische Mehr- der Kirche das diffamierende heiten nicht anerkennt. Er läßt Transparent „Jörg Schönbohm: völlig außer acht, daß rechts- Schreibtischtäter, Menschenjäger, staatlich verantwortlich nur han-

Deporteur“ aufgehängt wurde. / IMAGES.DE M. TRIPPEL deln kann, wer immer wieder Schließlich entbehren auch die Schönbohm-Kritiker Wischnath: „Mißbrauch der Lehre Christi“ die Prinzipien des Gemeinwohls Vorwürfe des Berliner evangeli- und des individuellen Interes- schen Bischofs Wolfgang Huber und des katholischen Erzbischofs ses gegeneinander abwägt. Wischnath hingegen erklärt seinen Georg Sterzinsky, der Senat habe gegen ein international verein- moralischen Rigorismus zur Vorgabe für staatliches Handeln, bartes Positionspapier des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Na- ohne auf die politischen Notwendigkeiten und rechtlichen Sach- tionen verstoßen, jeder Grundlage. All diese Zusammenhänge verhalte einzugehen. Insofern drängt sich die Frage auf, ob hätte Herr Wischnath prüfen können und müssen. So aber kann Wischnath die Rückkehr der Flüchtlinge möchte, oder ob er das ich ihm nur ein weiteres Gebot entgegenhalten: „Du sollst den Na- gesetzlich zwingend vorgeschriebene Institut der Abschiebung ge- men Deines Herrn nicht zu Unrecht im Munde führen.“ nerell ablehnt. In der vom Rat der Evangelischen Kirche in der Bundesrepu- Der Schlüssel für Wischnaths einseitige Haltung liegt womög- blik Deutschland 1985 herausgegebenen Denkschrift „Evangeli- lich in seiner Biographie. Er entstammt dem Reformierten Bund, sche Kirche und freiheitliche Demokratie“ bekennen sich die der während der Nato-Nachrüstungsdebatte zu Beginn der acht- evangelischen Christen zur freiheitlich-demokratischen Grund- ziger Jahre gegen die Politik der Bundesregierung den Status con- ordnung und unterstreichen damit, daß sie das rechtsstaatliche fessionis als äußerste Protestform ausgerufen hat. Der Sache nach Normengefüge aktiv annehmen und mitverantworten wollen. bedeutete das die Aufkündigung der kirchlichen Gemeinschaft. Das macht die Demokratie der Bundesrepublik nicht zu einer Wer für die Nachrüstung votierte, wurde de facto zum Verleug- „christlichen Staatsform“, gleichwohl ist sie damit zum Gestal- ner des Evangeliums abgestempelt. Wörtlich erklärte damals der tungsraum auch christlichen Handelns erklärt worden. Ausdruck Reformierte Bund: „Wie im Kirchenkampf ,die Judenfrage‘ zur Deutschland

Bekenntnisfrage wurde, so stellt uns heute das Gebot des Be- men und so zu Repräsentanten eines neuen Pharisäertums zu wer- kennens in der Frage des Friedens und seiner Bedrohung durch den drohen. Sie zeigen auf den Splitter im Auge des Bruders und die Massenvernichtungsmittel in den Status confessionis.“ übersehen den Balken im eigenen. Und dieser „Balken“, eben die Der Standpunkt, daß der Nato-Nachrüstungsbeschluß eine Versäumnisse eines Teils der evangelischen Kirche, ist groß. Notwehr der freien Welt war, wurde mit einem moralischen Al- Vielen Kirchenfunktionären fehlt zum Beispiel der Wille, den leinvertretungsanspruch beiseite geschoben und in die Nähe der biblischen Missionsauftrag ernst zu nehmen. Das wiegt besonders Nazi-Politik gegen die Juden gerückt. Ähnlich argumentierte schwer im Land Brandenburg, wo sich nur noch etwa 20 Prozent Wischnath 1985 gegen das US-Rüstungsprojekt SDI. Inzwischen der Menschen zum christlichen Glauben bekennen. Kann eine Kir- ist unzweifelhaft, daß Nachrüstung und SDI entscheidend gehol- che überhaupt noch den Anspruch erheben, eine Volkskirche zu fen haben, das diktatorische Sowjetimperium friedlich aufzulösen. sein, wenn ihr weniger als 20 Prozent der Bevölkerung angehören? Die Kirchenaktionisten haben weder diesen Irrtum eingestanden In der evangelischen Kirche nehmen die Tendenzen zu, vorran- noch sich für die Demagogie entschuldigt. Wenn aber gig bestimmte Minderheitenpositionen zu vertreten, Kirche die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln mit denen die meisten Gemeindemitglieder sich nicht wird, verliert sie die ethische Kompetenz als kritische Moralischer mehr identifizieren können. Der brandenburgische Kul- Begleiterin des Rechtsstaates. Wie unredlich die Beru- Gutmenschen- turminister etwa, ein ordinierter Pfarrer, tritt bei Ju- fung auf das Evangelium mit dem Ziel der Verhinderung Rigorismus gendweihefeiern auf und stimmt der Abschaffung des von Abschiebungen letztlich ist, beweist auch die De- wird keinen Religionsunterrichts zu. Andere – wie die Bischöfin batte um den Paragraphen 218. In dieser Gewissensfrage Beitrag Maria Jepsen – verzerren die biblische Botschaft durch sind die christlich motivierten Abtreibungsgegner als einseitig feministische Auslegungen. ewig gestrige Moralapostel ausgerechnet von denen zur Volkskirche Der Charakter der evangelischen Volkskirche im We- gescholten worden, die ihre Argumente auf anderen leisten sten ist durch Austritte oder Nichtteilnahme am kirch- Politikfeldern mit dem Evangelium abstützen. Eine lichen Leben zunehmend gefährdet. Im Osten wird es Steigbügelhalterexegese des Evangeliums kann daher von einer nicht gelingen, wieder zu einer Volkskirche zu werden, wenn die Güterabwägung zwischen Einzel- und Gemeinwohlinteresse und Sorgen und Nöte der Menschen nicht ernst genommen werden. der folgenden Gewissensentscheidung nicht befreien. Der religiös Kirchliche Aktivisten mit Fundamentalpositionen und dem mo- neutrale Staat hat dabei die wesentliche Gewissensentscheidung ralischen Rigorismus des „Gutmenschen“ werden keinen Beitrag bereits in der Verfassung festgeschrieben, wenn er politisch Ver- zur Volkskirche und zum Gemeindeleben leisten. folgten Schutz vor Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit ge- Der frühere sozialdemokratische Verteidigungsminister Hans währt. Die bosnischen Flüchtlinge können zurückkehren, ohne Apel hat 1996 ein leider wahres Wort wiederholt: „Die Kirchen- diesen Gefahren ausgesetzt zu sein. Ich hatte daher das „Wann“ leere kommt auch von der Kirchenlehre.“ Anläßlich des einsei- und nicht das „Ob“ ihrer Rückkehr zu entscheiden. tig-parteipolitischen Mißbrauchs des kirchlichen Predigtamts Wischnath gehört zu den Theologen, die einseitige fundamen- durch den Herrn Wischnath ist es viel eher geboten, über den Sta- talistische Positionen unter Mißbrauch der Lehre Christi einneh- tus confessionis nachzudenken. ™ Werbeseite

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Werbeseite drei Optionen, die wir in Betracht ziehen, würden den Nettozahlern zugute kommen. SPIEGEL: In gleichem Maße? Santer: Nein. Kappt man die Nettozahlun- gen aller Länder bei ungefähr 0,3 Prozent des Bruttosozialprodukts, schnitten die Deutschen um reichlich fünf Milliarden Mark besser ab. Sie könnten immerhin noch 1,4 Milliarden sparen, wenn die di- rekten Zuschüsse an die Landwirte nicht mehr zu hundert Prozent aus der EU-Kas- se kämen, sondern zu einem Viertel aus dem nationalen Budget bezahlt würden. Das rührt daher, daß die Deutschen zu den Einnahmen der EU wesentlich mehr bei- tragen als an Agrarsubventionen zurück- fließt. Und wenn man sich noch stärker als bisher am Bruttosozialprodukt als Maß- stab für die Beiträge der Mitgliedstaaten orientierte, wäre auch das für die Netto-

JARDAI / MODUS JARDAI zahler ein Vorteil. Kommissionspräsident Santer: „Die Ungleichgewichte haben sich verschärft“ SPIEGEL: Ginge es vielleicht doch etwas kla- rer? Auf welche Größenordnung hat sich die neue Regierung in Bonn einzustellen? EUROPÄISCHE UNION Santer: Ich kann nur einen Fächer der ver- schiedenen Möglichkeiten aufklappen. Die Verständigung muß im Europäischen Rat „Es sollte gerecht zugehen“ gefunden werden. Entscheidend ist: Die Deutschen sollen das Empfinden haben, es Der Präsident der Brüsseler Europäischen Kommission, geht gerecht zu. Deutschland als großer Nutznießer der EU wird auch schon des- Jacques Santer, über die Reform der EU-Finanzen halb Nettozahler bleiben, weil es sich dem Prinzip des sozialen Ausgleichs und der SPIEGEL: Herr Präsident, jahrelang hat die te auch die größten Nettozahler der Zu- Solidarität in der EU verpflichtet fühlt. Regierung Kohl vergebens geklagt, die kunft bleiben werden. SPIEGEL: Die Widerstände gegen die Entla- Deutschen müßten zuviel für Europa zah- SPIEGEL: Wieviel weniger müssen die Deut- stung der wohlhabenderen Staaten sind len. Plötzlich akzeptiert die Kommission, schen zahlen? enorm. Die Ärmeren müßten ja dann daß die Deutschen zu stark belastet wur- Santer: Dazu haben wir keine Vorschläge größere Bürden tragen. Spanier, Griechen den. Kann Gerhard Schröder nun die Ern- gemacht. Wir haben Wege aufgezeigt, wie und Portugiesen schlagen sogar vor, die te einfahren? man zu einem Konsens kommen kann.Alle reicheren Staaten noch stärker zur Kasse Santer: Erstmals können wir in voller Sach- zu bitten. kenntnis über die Finanzen der Europäi- Santer: Obgleich wir in unserem Bericht schen Union und deren Reform diskutie- Nehmen und Geben keine Wertungen vornehmen, wird doch ren. Ich habe dafür gesorgt, daß die Kom- Netto-Zahler und -Empfänger in der EU klar, daß wir diesen Vorstoß als nicht rea- in Millionen ECU mission früher als vorgesehen einen Be- NETTO-ZAHLER listisch empfinden. Wir wollen solche Fi- richt darüber vorlegt, wie sich die Beiträ- nanztransfers von den rei- ge der Mitgliedstaaten neu ordnen lassen. Deutschland 10 943,5 cheren zu den ärmeren Staa- Nun können wir über alle Einwände, nicht Niederlande 2276,2 ten ausschließen. Die soziale nur aus Deutschland, sondern auch von Großbritannien 1798,8 Kohäsion der EU soll über Strukturfonds anderen Nettozahlern wie Österreich, den erreicht werden. Deshalb erhalten wir auch Niederlanden und Schweden, auf objekti- Schwedenn 1129,5 die Kohäsionsfonds für ärmere Staaten wie ver Grundlage offen reden. Frankreich 781,1 Spanien, Griechenland, Portugal und Ir- SPIEGEL: Bisher hatte es die Kommission land aufrecht. Die Umverteilung besteht aber immer abgelehnt, sich überhaupt auf ÖsterreichÖsterre 723,6 darin, daß die ärmeren Länder bei der Ver- die Nettozahler-Diskussion einzulassen – Italien 61,3 teilung der EU-Mittel ein größeres Stück solches Aufrechnen würde nicht die wah- 1 ECU = 1,97 Mark vom Kuchen bekommen. ren Vorteile widerspiegeln, die ein großer NETTO-EMPFÄNGERNETT SPIEGEL: Dank guter wirtschaftlicher Ent- Exportstaat wie Deutschland aus dem Bin- 5936,0 Spanienn wicklung hätte Irland eigentlich keinen An- nenmarkt ziehe. Warum jetzt dieser Um- 4371,8 GriechenlandGr spruch mehr auf Mittel aus dem Kohäsi- schwung? onsfonds. Dennoch wird es viel Ärger ge- Santer: Wir bleiben dabei, Nettozahlen 2721,8 Portugal ben, wenn die reichen Deutschen weniger sind mit Vorsicht zu genießen. Die Vortei- 2676,7 Irland zahlen, die Iren dagegen ihren Bauern mit le der EU sind nicht einfach mit Zahlungen eigenem Geld aufhelfen müssen. 1079,5 Belgien des Haushalts gleichzusetzen.Aber wir ha- Santer: Als Nettoempfänger schneidet Ir- ben feststellen müssen: Es gibt Ungleich- 725,4 Luxemburg land bisher pro Kopf der Bevölkerung am gewichte, und die haben sich in den letzten 68,6 Dänemark besten von allen EU-Staaten ab. Irland Jahren verschärft, zu Lasten der Deutschen wird sicher auch in Zukunft noch Emp- und der anderen. Dennoch ist jetzt schon Quelle: 56,1 Finnland fängerland bleiben, es muß aber mit Ein- klar, daß die größten Nettozahler von heu- Europäische Kommission bußen rechnen.Allein bei der Kofinanzie-

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Werbeseite Deutschland rung der Landwirte würde die Minderung mehr europäische Beschäftigungspolitik rund 200 Millionen Mark betragen. Auch machen könnten. Leider bin ich mit mei- hier wird man wie bei den anderen ärme- nen Vorstößen, einen Vertrauenspakt für ren Staaten fragen müssen: Was ist ge- Beschäftigung auf europäischer Ebene zu rechtfertigt? schließen, nicht durchgedrungen. SPIEGEL: Wenn Sie sagen, bei den deutschen SPIEGEL: Auch wegen der Widerstände aus Nettozahlungen gehe es ungerecht zu, Bonn … müssen Sie auch genauer sagen können, Santer: … es wäre immer noch Zeit, sehr ab welcher Grenze es wieder gerecht wird. viel mehr zu tun. Ich will keine teuren Be- Santer: Gerechtigkeit ist ein metaphysi- schäftigungsprogramme in Europa. Aber sches Prinzip … wir sollten mehr Strukturmittel, die ja vor- SPIEGEL: … hier ist es ganz einfach ein De- handen sind, für die Finanzierung etwa von finitionsproblem. transeuropäischen Verkehrsnetzen einset- Santer: Der Begriff ist dennoch subjektiv – zen, auch aus Beschäftigungsgründen. Ein gerecht ist, was als gerecht empfunden integrierter Binnenmarkt braucht entspre- wird. Die Nettozahler profitieren immer- chende Infrastrukturen. Davon profitiert hin auch finanziell von den Geldern zur die Wirtschaft, zum Vorteil der Arbeits- Strukturverbesserung, die in ärmere Län- losen. der fließen. Ein Beispiel: Der neue Athener SPIEGEL: Wird das mit dem Gespann Schrö- Flughafen ist mit vier Milliarden Mark, ko- der/Fischer leichter zu machen sein als mit finanziert durch die EU, das größte Inve- Kohl/Waigel? stitionsvorhaben Griechenlands, und es Santer: Wir werden die neue deutsche Re- wird weitgehend von einem deutschen Fir- gierung an ihren Taten messen. Ich bin menkonsortium realisiert. nicht pessimistisch. Wir stehen allerdings SPIEGEL: Den Briten halten Sie in Ihrem unter enormem Zeitdruck. Wir müssen neuen Bericht vor, ihr Anspruch auf Bei- tragsrabatt – sie bekommen von den Net- tozahlungen an die EU stets zwei Drittel zurück – sei nicht mehr zu rechtfertigen. Bis wann muß diese Regelung auslaufen? Santer: Der jetzige Briten-Rabatt ist, auch angesichts der Wohlstandsentwicklung im Vereinigten Königreich, auf die Dauer nicht zu rechtfertigen, insbesondere nicht im Hinblick auf die Aufnahme neuer Mit- glieder. An den Kosten der Erweiterung müssen sich alle beteiligen, ohne Korrek- tur. Der Briten-Rabatt muß spätestens beim Beitritt neuer EU-Mitglieder fallen.

Denn dann werden alle Alt-Mitglieder ver- M. MEYBORG / SIGNUM gleichsweise sehr viel reicher sein als die Getreideernte in Mecklenburg-Vorpommern neu Dazutretenden. „Ein größeres Stück vom Kuchen“ SPIEGEL: Nach bestehender Vertragslage können Sie den Briten den Rabatt aber auf dem Wiener Gipfel im Dezember poli- nicht ohne deren Zustimmung nehmen. tische Vorentscheidungen treffen, damit es Und Tony Blair hat schon Nein gesagt. unter der dann folgenden deutschen Prä- Santer: Auch die Briten wollen die rasche sidentschaft im Rat überhaupt mög- Erweiterung der EU. Sie können aber dann lich wird, bis zum März die Reform abzu- nicht Reformen ablehnen und noch we- schließen.Wir brauchen den Konsens zwi- niger Geld nach Brüssel abführen. Die schen Nehmer- und Geberländern. Das Gleichung geht eben nicht auf. Wie ich werden wahrscheinlich die schwierigsten die Staats- und Regierungschefs kenne, Verhandlungen, die wir je zu führen werden sie schon zu einer einvernehmli- hatten. chen Regelung gelangen, wenn sie unter SPIEGEL: Bei den Nehmerländern wächst wirklichem politischem Druck stehen und der Widerwille gegen eine rasche Erweite- eine Weiterentwicklung der Gemeinschaft rung. Tun sich da nicht Möglichkeiten zur wünschen. Erpressung auf? SPIEGEL: Liegt das Grundübel nicht woan- Santer: Es ist die Aufgabe dieser Generati- ders? Bei 18 Millionen Arbeitslosen euro- on, die Erweiterung zügig vorzunehmen. paweit ist es doch immer weniger ver- Unser Kontinent hat zum ersten Mal seit ständlich, daß fast die Hälfte des Gesamt- 500 Jahren die Chance, sich mit sich selbst haushaltes der EU – 90 Milliarden Mark – zu versöhnen. Diese Gelegenheit darf nicht in die Taschen nur eines Berufsstandes, der vorübergehen. Alle müssen sich bewegen. Landwirte, fließt. SPIEGEL: Herr Santer, Ihre Amtszeit läuft Santer: Ja, das ist schwer vermittelbar, aber Ende 1999 aus.Wer wird Ihr Nachfolger? Es es ist nun einmal die Folge der Gemein- gibt den Vorschlag: Helmut Kohl. samen Agrarpolitik, die der Zuständig- Santer: Den könnte ich mir natürlich keit der Mitgliedstaaten weitgehend ent- sehr gut vorstellen. Aber das hängt von zogen ist. Ich wünschte mir sehr, daß wir ihm ab. ™

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INTELLEKTUELLE Erschrocken über den Erfolg Rot-Grün, die linke Opposition, ist an der Macht. Wie verhält sich nun die intellektuelle Boheme? Was tun die Großmeister des kritischen Diskurses? Kommen sie ohne ihr vertrautes Feindbild vom ewigen Kanzler über die Runden? Von Reinhard Mohr M. SIMON / BLACK STAR M. SIMON / BLACK Schröder-Berater Heye, Wahlsieger Schröder, Filmemacher Buck, Intendant Flimm*: Irgendwie doch ein Kulturbruch durch die Hintertür

iner hat wieder mal am schnellsten für die gefangenen „Märtyrer der natio- an der Pariser Place de la Bastille nach sein Urteil parat: „Noch peinlicher nalen Wiedergeburt Deutschlands“, die, Mitterrands Wiederwahl zum französi- Eals Schröder und Fischer – sofern das zum Beispiel wegen Holocaust-Leugnung schen Staatspräsidenten, keine Euphorie, überhaupt möglich ist – sind allerdings die verurteilt, als Neo-Nazis „ausgegrenzt“ keine kühnen Visionen von rot-grüner Leute, die sich diese Lemuren gewählt ha- würden. Zugleich versuchte er, Schröder Zukunft, kein tanzendes Volk, allenfalls ben“, tönte der Berliner Biertischdenker als Kanzler dieser „Wiedergeburt“ zu ver- stille Freude über die demokratische des realschwurbelnden Kiez-Sozialismus, einnahmen. Normalität dieses Wechsels: Kohl ist weg, Wiglaf Droste, in der „taz“. Lemuren, das Droste und Mahler, zwei ideologische endlich. muß man wissen, sind wahlweise mada- Überzeugungstäter der alten Bundesrepu- Aber auch: O je – denn nun fehlt die gassische Halbaffen oder böse Geister aus blik, repräsentieren exotische Schwund- Vaterfigur, das übermächtige „pfälzische der römischen Mythologie. Droste, 37, ei- formen jenes überkommenen Lagerden- Gesamtkunstwerk“ (Fischer) als kuscheli- ner jener altlinken Antidemokraten, deren kens, das sich niemals, schon gar nicht ges Dauerversteck der vielen kleinen volkstümliche Ressentiments gegenüber durch die Wirren der Wirklichkeit, irritie- Fluchten, die riesige multifunktionale Pro- opportunistischen Politikern genausogut in ren läßt. jektionsfläche enttäuschter Hoffnungen, der rechten „Jungen Freiheit“ stehen könn- Das linksliberale intellektuelle Milieu der Schutzschild eigenen Versagens. ten, ist stolz, kein Lemur zu sein. der Republik immerhin war sprachlos an- „Akute Erfolgserschrockenheit“ dia- Das ist auch Ex-RAF-Mitglied Horst gesichts der über Nacht veränderten Rea- gnostiziert der Schriftsteller Hans Magnus Mahler, 62. Drei Tage nach der Bundes- litäten. Kein massenhafter Jubel wie 1988 Enzensberger, 68, gegenüber dem SPIE- tagswahl offenbarte der frühere Terrorist in GEL. Oder ist es nur die „neue deutsche der „Süddeutschen Zeitung“ sein Faible * Im Juli in Potsdam. Gelassenheit“, wie die „Zeit“ mutmaßt,

72 der spiegel 42/1998 ein illusionsloses Hoffen auf das irgendwie linke Biedermeier in der Kohl-Ära: „Kein tentunnel, Dritte-Welt-Laden und Austritt andere, irgendwie Bessere, Modernere? Gespräch über Politik, das nicht mit Blick aus der Nato, ist plötzlich – List der Ver- Wird also Klaus „Monitor“ Bednarz, auf den Kanzler geradezu hingebungsvoll nunft? – durch die postideologische Hin- das unbeugsame Gesicht der deutschen verflachte, weil man sich in der Tiefebene tertür auf die große Staatsbühne gelangt, TV-Moderationslinken, jetzt auch einmal wähnte. Leichter war es nie, mit unpoliti- wie durch ein Versehen. So lakonisch kann in den Teleprompter lächeln? Kehren schen Argumenten Politik zu treiben und Geschichte sein. Friedrich Küppersbusch und Roger Wil- dabei auch noch das distinguierte Gefühl ei- Als politische Perspektive schon abge- lemsen, die Großmeister der ausgespro- gener intellektueller Würde auszukosten.“ schrieben, glanzlos, ja scheinbar anachro- chenen Kulturkritik, auf den Bildschirm Nun aber bremst das eigenartig prag- nistisch kommt nun jene Konstellation an der „neuen Mitte“ zurück – oder wird matische Paradox des überraschenden die Macht, die weithin das gesellschaftliche der erzkonservative Gerhard Löwenthal Wahlsiegs die intellektuelle Eloquenz. Rot- Erbe von 1968 repräsentiert. Der rot-grüne mit seinem „ZDF-Magazin“ aus den Grün ist die Hoffnung, aber keiner glaubt Untergang Deutschlands (Tankwart Hint- Hochzeiten ideologischer Entscheidungs- daran. Oder doch? ze) tritt an zum graumelierten Staatsakt: Die Diskursmaschine des deutschen Feuilletons zwischen „Kein Gespräch über „Frankfurter Rundschau“, Politik, das nicht „Zeit“ und „Kursbuch“ ist mit Blick auf noch nicht recht angelaufen. den Kanzler gerade- Auch der designierte, debat- zu hingebungsvoll tenfreudige Staatsminister für verflachte“ Kunst und Reflexion, Michael

Naumann, ist noch nicht in Amt GIRIBÁS J. Frank Schirrmacher und Würden, um für Orientie- rung zu sorgen, und selbst „Berliner Republik, wir kommen.“ Schon Schröders Kulturberater aus warnen besorgte Stimmen, meist über 60 heißen Wahlkampftagen, Ham- und in gutsituierter Stellung, vor über- burgs Thalia-Intendant Jürgen mäßiger „Anpassung“ und „Verspieße- Flimm, hält sich zurück. rung“, trauern gar dem schönen bunten So bleibt der kritische Geist Chaos früherer Tage nach. erst einmal zu Hause, schaut Zur Ironie der Geschichte gehört, daß fern und wundert sich: Gerhard durch die Regierungsübernahme der Ge- Schröder redet zum achten Jah- neration Schröder/Fischer die Revolte von restag der deutschen Einheit ’68 endgültig historisiert und vom Fluch mit erstaunlich angenehmem, ihres immerwährenden Geltungs-, ja Wahr- unpathetischem Timbre, klarer heitsanspruchs erlöst wird. Sie hat ihr Werk Semantik und stilvoller Reve- getan und darf in Frieden ruhen – ein paar renz an seinen Vorgänger Kohl. Zombies und Irrläufer wie Klaus Staeck Abends hebt er Klaus Mei- und Jutta Ditfurth ausgenommen: Die ne, den Sänger der Rockgruppe emeritierte Oberfundamentalistin wünsch- „Scorpions“, vor lauter Begei- te noch kurz vor der Wahl im „Stern“ ihren sterung über den musikhistori- alten Weggefährten bei den Grünen ein Er- schen Augenblick für ein paar gebnis von 4,9 Prozent an den Hals, eine Sekunden in die Luft. So etwas ganz private Vernichtungswut. hätte Kohl nie über sich ge- Mit der historischen Aufhebung von 1968 bracht. hätte sich auch der ewige Widerspruch Tage später drückt Joschka zwischen „geistig-moralischer Wende“ Fischer, zum Antrittsbesuch à la Kohl und jener außerparlamentari- Kohl-Karikatur: Was tun ohne das geliebte Feindbild? in Washington gelandet, Bill schen Protestkultur erledigt, die lange Zeit Clintons Hand im Weißen als ideologisches Basislager der Grünen schlachten reaktiviert – als einzig wahrer Haus. Günter Verheugen, die Ausgeburt galt. Unten war gut, oben aber schlecht Opponent? eines Zivilisten, wird womöglich Ver- und böse. Nur allmählich, dafür un- Die Frage lautet: Was nun, deutsche In- teidigungsminister, Herr über Hunderte aufhaltsam setzte sich unter den linken telligenz, Linke aller Bundesländer und Ge- Tornado-Kampfflugzeuge; und eine ehe- Systemkritikern die Erkenntnis durch, meinden, was nun so ganz ohne Helmut malige „taz“-Druckerin, Andrea Fischer, daß die „kapitalische Gesellschaft“ viel of- Kohl, diesen gutbösen Geist konservativ- 38, soll die Nachfolge Horst Seehofers fener, flexibler und veränderungsfähiger bräsiger Entpolitisierung, unser aller, auch antreten. war als sämtliche Theorien zu ihrer Ab- des SPIEGEL, geliebtes Feindbild? Kom- Der Betrachter reibt sich die Augen.Also schaffung. men nun die „Untoten“, die verbitterten doch irgendwie ein Kulturbruch. Aber das Jetzt, da es zum Schwur kommt, zeigt Alt-Jusos und Ex-Alternativen aus der Stück namens rot-grüner Machtwechsel, sich, daß das rhetorische Trommelfeuer ge- Gruft, um als Wiedergänger ihre eigene einst ein utopisches Projekt zwischen Krö- gen das „System Kohl“ auch den politisch spießige Kohl-Welt von links zu etablieren, korrekten Paravent bildete, hinter dem die wie vor Monaten die „Berliner Zeitung“ „Die rot-grüne deutsche Linke halbwegs ungestört einige prophezeite? Was nun, ohne den sprich- Regierung wird den ihrer Irrtümer eingestehen,Verrat an alten wörtlichen Provinzmuff aus Oggersheim, Wählern jene sozia- Idealen üben und überfällige politische Re- ohne verunglückte Silvesteransprachen in len Grausamkeiten visionen vornehmen konnte. Nur so ist diesem unseren Vaterlande, ohne Birnen- zumuten, die überhaupt denkbar, daß ein Außenmini- Witze und die Gnade später Geburt? Kohl vermieden hat“ ster Joschka Fischer schon in wenigen Ta- Treffsicher analysiert Frank Schirr- gen für Luftangriffe der Nato im Kosovo-

macher, 39, rückblickend in der „FAZ“ das R. WESTENBERGER Cora Stephan Konflikt plädieren könnte, die er noch vor

der spiegel 42/1998 73 Werbeseite

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Werbeseite wenigen Jahren auf das ralischen Schrebergärten“ schärfste verurteilt hätte. auszubrechen und, wieder Plötzlich scheint, mit einmal, gesellschaftliche gehöriger Verspätung, zu gel- Strukturen zu verändern, die ten, was der Ost-Berliner Au- in Widerspruch zu den ver- tor Friedrich Dieckmann nünftigen Zielen des Ge- nach dem Fall der Mauer for- meinwesens geraten sind. mulierte: „Die Stunde des Thomas Schmid, 53, Realismus hat geschlagen; ob langjähriger Mitstreiter der Mensch gemacht ist, sie Joschka Fischers, politischer auszuhalten, ist die bange Theoretiker und Autor, dem- Frage. Denn die Wirklichkeit nächst Chefkorrespondent selbst hat utopischen Cha- der „Welt“, bezweifelt aller- rakter angenommen.“ dings die Entschlossenheit ei- Der deutsche Mensch als ner rot-grünen Bundesregie-

Citoyen, Bürger seines Staa- SIPA rung, das Notwendige auch tes, sollte sie aushalten, meint Wahlsieger Mitterrand (1981): Das Volk tanzte auf der Straße gegen unmittelbare Interes- die Frankfurter Publizistin sen der eigenen Klientel Cora Stephan, wie Joschka Fischer einst schreckt sei. Sie wartet förmlich auf die durchzusetzen. Dem früheren Sponti-Ge- Mitarbeiterin des Frankfurter Sponti-Blatts „Blut-, Schweiß- und Tränenrede“ eines nossen und künftigen Außenminister Fi- „Pflasterstrand“. Denn: die Frage verspre- Kanzlers Schröder – sicher nicht ohne Kon- scher wirft er noch heute sein Fehlurteil che „Spannung“: „Setzt sich der moderne sens- und Gerechtigkeitsbeigaben, die Kohl von 1989 vor, die deutsche Einheit sei durch oder der linkskonservative Flügel bei SPD noch vermieden habe. Womöglich werde Auschwitz für alle Zeiten moralisch wie und Grünen durch?“ Anders gesagt: Wer- der unabdingbare Umbau des Sozialstaats faktisch verwirkt: „Das qualifiziert ihn den die alten ideologischen Grabenkriege mit einem „linken Revival der Vaterlands- nicht gerade für sein neues Amt.“ wieder ausgefochten, oder kommt die liebe“ unter dem Emblem „Bündnis für Ar- Wie auch immer: Daß nun ausgerech- ganze, teils bittere Wahrheit auf den Tisch? beit“ einhergehen. Motto: Wir sind bereit. net der frühere Opel-Arbeiter, Straßen- Ausgerechnet die neue, rot-grüne Regie- Gemeinsam packen wir’s. kämpfer, Hausbesetzer, Taxifahrer, An- rung, so Cora Stephan, werde den Wählern „Soziale Phantasie“ hält auch der Hi- tiquar und Rhetoriker von hohen Graden schließlich jene sozialen „Grausamkeiten“ storiker Gerd Koenen, 53, einst führender zum Vizekanzler der wiedervereinigten nach amerikanisch-englisch-holländischem Kader im „Kommunistischen Bund West- „Berliner Republik“ mit Amtssitz Nähe Vorbild zumuten müssen, vor denen die deutschland“, für die vordringlichste poli- Führerbunker avanciert und diese Repu- bisherige konservative Mehrheit zurückge- tische Ressource, um aus den „geistig-mo- blik auch noch in aller Welt vertreten soll, Deutschland markiert eine Zäsur, die man durchaus mit tion“ und elegante Medien-Inszenierun- ger die verzweifelte Flucht der Post-Post- dem seit 1989 geläufigen Attribut „Wahn- gen erwartet Enzensberger von der „Ber- Postmodernisten fortsetzen. Wir müssen sinn“ versehen kann. liner Republik“, die ja die Fortsetzung der uns nicht länger an die Avantgarde der Enzensberger, der Doyen der bundes- Bonner sei, aber keine neue Dynamik in- Avantgarde hängen.“ deutschen Gesellschaftsbetrachtung, sieht tellektuell-politischer Debatten. Bleibt also Lau fügt an: „Wir haben niemanden zu auch darin ein Symptom für jene „orien- nur die Hoffnung auf jene geheimnisvoll- entlarven.Wir versprechen uns auch nichts tierungsschwache Situation“, in der wir diffuse „Generation Berlin“ der Anfang- mehr von Subversion, Überschreitung, De- uns befinden. „Die Zeit der gemütlichen dreißigjährigen, die sich auf der Love Pa- struktion und Dekonstruktion. Wir stehen Schachtelwesen, die Epoche der ideologi- rade oder auf Techno-Partys der Kunst- nicht mehr im Namen des gefährdeten Par- schen Schubladenkultur ist nun endgültig Biennale in Berlin-Mitte tummelt, beim In- tikularen gegen irgendein monströses vorbei“, meint er. „Die Veteranen der al- Italiener in Friedrichshain speist und dabei Ganzes. Wir haben eher eine dunkle Ah- ten Lagerordnung, die Aufpasser des deut- nung, das Ganze selber sei eine ziemlich schen Feuilletons, werden in die Minder- „Die Zeit der wackelige Konstruktion, die oft genug ge- heitenposition geraten.“ Jene Kulturlinke Schachtelwesen, gen ihre eigene Logik verteidigt werden der siebziger und achtziger Jahre, die sich die Kultur muß.“ Eine sanft-kritische, durchaus iro- kürzlich vor der Welt noch einmal zum Fa- der ideologischen nische Haltung, die im Zweifelsfalle lieber milientreffen im Berliner Willy-Brandt- Schubladen bewahrt als zerstört. Haus versammelte, werde keine intellek- ist nun vorbei“ Wer weiß, vielleicht ereignet sich im Zu- tuelle Prägekraft mehr entfalten. sammenspiel zwischen den klugen Kindern

Bis auf vereinzelte polemische Zwi- I. OHLBAUM Hans Magnus Enzensberger der Postmoderne und den desillusionierten schenrufe aus der norddeutschen Tiefebene Vätern der Revolte doch noch jene Wie- schont inzwischen ja auch das literarische auch die Frage diskutiert, warum die derentdeckung des Politischen, jenseits von Nationalheiligtum Günter Grass sich selbst „Harald Schmidt Show“, das virtuelle Er- modischem Vulgärliberalismus und auto- und sein Publikum, während der Philosoph frischungstuch der späten Kohl-Ära, ir- ritärer Staatsgläubigkeit, deren Vision die Jürgen Habermas längst in den Weiten der gendwie fadenscheinig, ja, a bisserl fad ge- pragmatische Veränderung der Gegenwart „postnationalen Konstellation“, so der Ti- worden ist? Wo die Kohl-Welt wegbricht, wäre. Politisch im Sinne von: im Dschun- tel seines jüngsten Buches, unterwegs ist leidet auch die satirische Gegenwelt. gel der Einzelinteressen Prinzipien, die den und nach neuen Projekten Ausschau hält. Jörg Lau, 34, unfreiwilliges Mitglied die- Gemeinsinn stärken, öffentlich verhandeln Doch die Globalisierungsfalle, so scheint ser Alterskohorte, zitiert im „Merkur“ zur – ohne Utopie und deutsche Apokalypse- es, droht auch den kritischsten Geist zu Bilanz der „Postmoderne“ den französi- verliebtheit, jene hochwirksamen „Sekun- absorbieren. schen Philosophen Bruno Latour: „Ich be- denkleber der Ideologie“ (Enzensberger). „Symbolisch-stilistische Akzentver- haupte nicht, daß wir in eine neue Ära ein- Lemuren aller Bundesländer, vereinigt schiebungen“, einen „Schuß Blair-Imita- treten. Im Gegenteil, wir müssen nicht län- euch! ™ Werbeseite

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Minus von zwei Millionen Mark tiefrote Fendel kann den Unmut nicht so recht SPIELBANKEN Zahlen. Ein Jahr später summierten sich verstehen. Er gibt den Beschäftigten die die Verluste bereits auf 6,3 Millionen Mark. Hauptschuld an der desolaten Finanzsi- Buchstäblich Der Minister hatte in seiner Vorfreude tuation. Ihre „überzogenen Gehaltsforde- übersehen, daß die stattlichen Gewinne rungen“ hätten den Schließungsbeschluß der Spielbanken in den ersten drei Jahren „unausweichlich gemacht“. verzockt nach der Einheit westlichen Firmenver- Nach altem Brauch werden die Crou- tretern zu verdanken waren, die damals in piers aus den Trinkgeldern der Spieler be- „Rien ne va plus“: In Sachsen jenen Hotels logierten, in denen die Kasi- zahlt. Der sogenannte Tronc reicht aber nos untergebracht waren.Als die wieder in bei sinkendem Spielaufkommen nicht werden im nächsten Jahr die der Heimat waren, ging es bergab. Allein mehr aus, tariflich garantierte Gehälter klassischen Kasinos geschlossen – 1996 wurden 350 000 Mark Gutachter- (durchschnittlich zwischen 4000 und 6000 aus wirtschaftlichen Gründen. kosten für „nicht realisierbare Standorte“, Mark) zu finanzieren. Im vorigen Jahr so ein ehemaliger Mitarbeiter, „buchstäb- mußte die Spielbankengesellschaft mehr ie Botschaft war knapp und ein- lich verzockt“. als eine dreiviertel Million Mark zu- deutig: „Ein weiterer Betrieb“, er- Fehler im Management der landeseige- schießen. Dklärte Michael Fendel, Chef der nen Spielbankengesellschaft und bei der 1997 war die Finanzlage ohnehin so dra- landeseigenen Spielbankengesellschaft, auf zuständigen Abteilung im sächsischen Fi- matisch, daß nur noch Millionenkredite der einer Belegschaftsversammlung am Frei- nanzministerium verschärften die Situati- sächsischen Landesbank und der landes- tag vorvergangener Woche in Leipzig, „ist on. So wurde die Suche nach alternativen eigenen Lottogesellschaft den drohenden ökonomisch nicht mehr verantwortbar.“ Standorten für die provisorisch in Hotels Zusammenbruch abwenden konnten. Al- Am 30. Juni kommenden Jahres werden untergebrachten Kasinos zum Fiasko. lein mit den Darlehen, diagnostizierten die an den Spieltischen von Dresden und Leip- Auch in Personalangelegenheiten hatte Wirtschaftsprüfer Dornhof Kloss und Part- zig die Lichter ausgehen. Geschäftsführer Fendel nicht immer ein ner, konnten „die Liquiditäts- und Finan- Allein im vorigen Jahr machten die glückliches Händchen. Im Juni 1996 feuer- zierungsprobleme gelöst werden“. Insge- Spielbetriebe rund 4,3 Millionen Mark Ver- te er seinen technischen Direktor Bernd samt nahm die Spielbankengesellschaft lust. 92 Croupiers und Verwaltungsange- Dielenschneider „aus betriebsbedingten Kredite von über 11,5 Millionen Mark auf. stellte werden entlassen, nur die wenig prestigeträchtigen Spielautomatenhallen werden weiter betrieben. Ein bemerkenswerter Vor- gang. Daß eine Spielbank aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen wird, kommt hierzulande äußerst selten vor. Gemeinhin, giftet Hans Wondracek, Landessekretär der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen, gelte eine „Spielbankenlizenz als Lizenz, Geld zu drucken“. Auch für den Staat sind Kasinos normalerweise eine sichere Bank. 80 bis 90 Pro- zent der Bruttospielerlöse fließen als Spielbankenabga- P. GRAMSER P. be an den Fiskus. Doch viele S. DÖRING / PLUS 49 VISUM Länder wollen nicht mehr nur Finanzminister Milbradt, Spielbank Leipzig: „Liquiditäts- und Finanzierungsprobleme“ den Löwenanteil aus staatlich lizenzierten Kasinos, sondern gleich den Gründen“. Der Rechtsassessor hätte wis- Da an eine Rückzahlung aus den Spiel- ganzen Gewinn. Für 4,7 Millionen Mark sen müssen, daß dies arbeitsrechtlich nur gewinnen nicht zu denken ist, hat der säch- kaufte der Freistaat 1995 von der Neuen unter bestimmten Voraussetzungen mög- sische Finanzminister zu einem rechtlich Deutschen Spielcasino Gesellschaft die lich ist. Das Arbeitsgericht Leipzig kas- zweifelhaften Trick gegriffen. Die landes- Spielbetriebe in Leipzig und Dresden – sierte auch prompt die Kündigung. Die Ak- eigene Gesellschaft soll über den Fiskus samt Inventar. tion schlug für den Freistaat beträchtlich zu entschuldet werden. Von der Übernahme versprach sich Buche: rund 400000 Mark für eine Abfin- Diskret senkte das Ministerium rück- Sachsens Finanzminister Georg Milbradt dung und für Anwaltskosten. wirkend die Spielbankenabgabe in Dres- viel. In einem internen Schreiben an den Für Probleme sorgte auch die Entschei- den von 80 auf 74,9 Prozent, in Leipzig gar Haushaltausschuß des sächsischen Land- dung von Geschäftsführer Fendel, Spiel- auf 69,7 Prozent. Was dadurch der Spiel- tags hatte er schon 1993 von sicheren Mil- tische, an denen hohe Einsätze möglich bankengesellschaft bleibt, soll zur Tilgung lionengewinnen geschwärmt.Allein für das waren, zu schließen. Die Belegschaft pro- der Kredite verwendet werden. Jahr 1998 prognostizierte Biedenkopfs testierte vergeblich, ihre Befürchtungen Der Finanztrick dürfte vor allem bei der Kassenwart Einnahmen von 74,4 Millionen bestätigten sich: Im sogenannten großen Opposition im sächsischen Landtag Er- Mark. Im günstigsten Fall erhalte die öf- Spiel, dem Roulette und Black Jack, gingen staunen auslösen. Denn noch vor einem fentliche Hand, so der Minister, „mehr als daraufhin die Besucherzahlen zurück. Das Jahr schloß das Ministerium auf Anfrage ei- 100 Prozent des Spiel-Ertrags“. Bruttospielergebnis an den Kartentischen nes SPD-Abgeordneten ein Senken der Doch schon 1996 schrieben die Spiel- sank im Vergleich zu 1996 im Vorjahr um Abgabe aus. Das sei „nach der gegenwär- banken in Leipzig und Dresden mit einem fast ein Viertel, auf 2,1 Millionen Mark. tigen Gesetzeslage nicht möglich“. ™

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sche Polizei nahm Wehner 1942 fest, gut zwei Jahre saß er in Haft; die Moskauer ZEITGESCHICHTE KPD-Führung schloß ihn unterdessen aus der Partei aus, weil sie ihn für einen Ver- räter hielt. Schreckliche Abgründe Vergebens hoffte Wehner nach seiner Freilassung auf einen kommunistischen Jetzt aufgefundene Briefe Herbert Wehners aus den Neuanfang; als die Moskauer Exilgruppe um Walter Ulbricht in der Sowjetischen ersten Nachkriegsjahren zeigen, wie der Besatzungszone 1946 die Macht an sich Sozialdemokrat seine stalinistische Vergangenheit schönte. riß, wandte er sich enttäuscht ab. Er hielt Ulbricht und dessen politische Begleiter uf dem Dachboden des Hauses im Posten eines Sekretärs des Politbüros. Bei- für „herzlose Karrieristen“. An Reimann feinen Manhasset auf Long Island de Aufsteiger interessierten sich für die schrieb er am 20. April 1946 aus Schwe- Astieß Karen Reimann auf einen Wirkung der Weltwirtschaftskrise auf das den, daß er in der KPD „nichts mehr zu su- Stapel verstaubter Briefe mit bekanntem Bewußtsein der deutschen Arbeiter. chen habe oder zu finden hoffe“. Absender: Herbert Wehner, Uppsala. Reimann bewunderte das administrative Der Weg zu dieser Einsicht war schmerz- Aus dem schwedischen Exil hatte der Talent des Genossen aus der Provinz („ein haft: 1937 geriet Wehner in Moskau in das spätere SPD-Fraktionschef 1946, er war Organisationsgenie“) und versuchte verge- Fegefeuer der Stalinschen Säuberungen. damals Archiv-Hilfskraft am Rassebiolo- bens, Wehner für eine innerparteiliche Op- Dutzende von Genossen hatte er – in Le- gischen Institut in Uppsala, an den Vater position gegen Stalin zu gewinnen. Ökonom bensgefahr – bei Verhören der sowjetischen der Brief-Finderin geschrieben: Günter Reimann hatte sich nach einem Besuch in Geheimpolizei belastet, mindestens sieben Reimann, ein deutscher Marxist, der es der Sowjetunion von dem Kreml-Herrscher wurden danach verhaftet. Er habe, berich- nach dem Krieg in den Vereinigten Staaten abgewandt. Wehner hingegen, so Reimann, tete Wehner am 22. März 1946 an Reimann, als Herausgeber eines Finanzreports für „glaubte an Stalin wie an einen Gott“. „in schreckliche Abgründe innerhalb der Banken und Währungsexperten zu Reich- Die beiden Männer entfremdeten sich, Organisation und innerhalb vieler ihrer tum brachte. als 1932 der Genosse Heinz Neumann aus Menschen zu blicken gehabt“. Der jetzt 93jährige Reimann gab den Fund nun zur Veröffentlichung frei*. Die 20 Briefe aus den Jahren 1946 bis 1948 zeigen Wehner in der schwierigen Phase seines Bruchs mit dem Kommunismus, auf der Suche nach einer neuen politischen Identität. Die Briefpartner kann- ten sich aus ihrer Zeit in der KPD. Wehner war vor 1933 für Organi- sationsfragen verantwortlich, Rei- mann arbeitete gelegentlich als Kapitalismusexperte für die Kom- munisten. Der Minister für Gesamtdeut- sche Fragen der Großen Koalition von 1966 und wortmächtige Führer der SPD-Bundestagsfraktion unter Willy Brandt und Helmut Schmidt erfand für sich und für die anderen nach dem Krieg seine Lebensge- schichte neu – die Verdrängung der eigenen Biographie begann in den Briefen an Reimann. Der einst glü- hende Stalinist Wehner stilisierte DPA sich zum verkappten Oppositio- TELENOVELA nellen, der sich schon 1932 vom Sozialdemokrat Wehner (1976), Alt-Marxist Reimann: „Er glaubte an Stalin wie an einen Gott“ Übervater gelöst haben will. Wehner und Reimann hatten sich 1931 in dem Politbüro ausgeschlossen wurde, weil Als er 1941 Moskau verließ, schrieb er einem Café in der Nähe des Hackeschen er gegen Thälmann intrigiert hatte.Wehner seiner Frau zum Abschied: „Halte auch in Marktes in Berlin kennengelernt. Der jun- half bei der anschließenden Säuberung der den schwierigsten Lagen durch das uner- ge Reimann, er war 1923 mit 19 Jahren in KPD. Reimann hielt sich heraus. Nach dem schütterliche Vertrauen zur Partei Lenins- die KPD eingetreten, galt unter Genossen Zweiten Weltkrieg bereute Wehner in ei- Stalins den Kopf aufrecht.“ als Wirtschaftsexperte; den zwei Jahre jün- nem Brief: „Es war falsch, daß ich die mir Wehner hatte in Moskau auch Reimann geren Wehner hatte KPD-Chef Ernst auferlegte Arbeit übernommen habe.“ angeschwärzt. So steht es jedenfalls in („Teddy“) Thälmann gerade aus Sachsen in Der Brief war in Uppsala abgestempelt. dessen Kaderakte, die in einem Moskauer die Parteizentrale geholt. Kurze Zeit spä- Die Exil-Führung der KPD, die während Archiv liegt. Reimann habe versucht, mel- ter setzte er ihn auf den einflußreichen des Dritten Reiches im Moskauer Hotel dete Wehner 1939, „den Trotzkismus in der Lux residierte, hatte Wehner 1941 nach KPD zu verbreiten“ – eine Todsünde. Dar- Schweden geschickt, um von dort aus den an mochte sich Wehner sieben Jahre spä- * Günter Reimann, Herbert Wehner: „Zwischen zwei Epochen“. Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig; 159 Sei- Widerstand der illegalen KPD in Deutsch- ter nicht mehr erinnern. An Reimann ten; 39,90 Mark. land zu reorganisieren. Doch die schwedi- schrieb er, er sei in der Moskauer Zeit

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Werbeseite Deutschland DPA WDR / NDR Wehner in Dresden (1928), bei Erich Honecker in Berlin (1985)*: „Ich komme mir vor wie ein Hund“

„nicht müßig gewesen … in der konkreten stein, später Bundestagsabgeord- Hilfe für unschuldig verfolgte und leiden- neter und Belgrad-Botschafter. de Menschen“. Als Blachstein ein von den USA Reimann nimmt ihm den Verrat nicht wiederaufgebautes Westdeutsch- übel. Wehner habe nur die Wahl gehabt, land „als Bollwerk gegen Ruß- sich selbst zu opfern oder mitzumachen. land“ vorhersagte, ekelte es Rei- Und Reimann schaden konnte Wehner mann derart, daß er sich übergab. nicht, denn der Wirtschaftsexperte befand Verdrängung gehört zum Le- sich „im Westen in Sicherheit“. bensweg fast aller Ex-Stalinisten. Als Kommunist und Sohn jüdischer El- Nur so ließ sich hinterher vor tern doppelt bedroht, war Reimann vor den sich selbst und anderen behaup- Nazis nach England geflohen. 1936 warfen ten, den eigenen Idealen immer ihm in London deutsche Genossen die Un- treu geblieben zu sein. Wider- terschlagung von Parteigeldern vor. Rei- stand gegen jede Form des Tota- mann („eine Intrige“) forderte von der litarismus wurde zum durchge- Parteiführung ein Treffen in Paris. Zu seiner henden Lebensmotto erhoben. Überraschung erwartete ihn im Emigran- Zwischen Nazis und Stalinisten,

tentreffpunkt „Café de la Paix“ Freund SÜDD. VERLAG schrieb Wehner jetzt, sei „vieles Wehner. Ehemaliges Hotel Lux in Moskau: „Hilfe für Verfolgte“ kongruent“. Die Machtergrei- Der Politbüro-Kandidat beruhigte ihn: fung der SED in Ostdeutschland „Mach dir über den Dreck in London kei- Der Abfall vom Stalinismus hatte ihn in enthalte „alle Tendenzen eines ,roten‘ ne Sorge.“ Gegenüber den britischen Ge- eine Orientierungskrise gestürzt; er suchte Faschismus“. nossen, so Reimanns Kaderakte, setzte sich einen vertrauenswürdigen Gesprächspart- Später behauptete Wehner, er habe be- Wehner damals noch für ihn ein: „ein qua- ner. Verbittert beklagte er sich, er müsse reits 1941 eine von Moskau unabhängige lifizierter theoretischer Mitarbeiter“. „allein mit zahllosen Fragen fertig werden“. Arbeiterbewegung in Deutschland ange- Trotzdem trat Reimann aus der KPD Dem fernen Reimann präsentierte er sei- strebt. Die Lösung vom sowjetischen Joch aus und ging 1938 nach New York. In der ne Jahre in der KPD-Führung in mildem wollte er tatsächlich – allerdings erst nach PDS zählt er deshalb heute zu den Helden Licht. Er habe schon 1932 an der Partei ge- seinem Bruch mit dem Stalinismus, wie aus der Geschichte. Den ostdeutschen Altge- zweifelt und nur gehorsam mitgemacht, dem Briefwechsel hervorgeht. Deutschland nossen symbolisiert er einen Sozialismus weil er glaubte, „es sei meine Pflicht zu „dem Osten zu überlassen“, notierte Weh- ohne Stalins Terror. tun, was beschlossen war“. In der Emigra- ner am 3. August 1946, „würde bedeuten, In den Staaten vergaß Reimann seinen tion sei er „im schweren Kampf um Sau- dessen Kräfte für Asien zu vervielfachen“. ehemaligen Genossen nicht. Bei den Quä- berkeit und kritische Überprüfung der Die ehemaligen Genossen aus der KPD sei- kern, die Hilfe für politische Gefangene Politik“ gegen den „Ungeist der Apparat- en dabei die „Prätorianergarde“ Moskaus. organisierten, erkundigte er sich im letzten wirtschaft“ aufgestanden. Nach den Ver- Es war der Widerstand der Sozialdemo- Kriegsjahr, ob sie wüßten, wo sich Wehner hören durch die sowjetische Geheimpolizei kraten gegen den Vormachtanspruch der aufhalte. Bevor die Antwort kam, traf im sei er nur dabeigeblieben, weil ihm Geor- Kommunisten, der Wehner für die SPD Februar 1946 Wehners erster Brief aus gi Dimitroff, Chef der Kommunistischen einnahm. Dort gebe es „viel mehr Leute“, Uppsala ein. Internationalen, vorgegaukelt habe, er kön- die eine „deutsche Orientierung“ hätten, Der künftige Ex-Kommunist saß dort fest. ne in Zukunft „selbständig arbeiten“. schrieb er an Reimann.Als Wehner im Sep- Die schwedische Regierung wollte ihn los- Im Frühsommer 1946 breitete Wehner tember 1946 nach Hamburg ausreisen durf- werden; doch im besetzten Nachkriegs- diese Legende auf über 200 Seiten aus. Zu te, trat er in die SPD ein. deutschland trat niemand für ihn ein. „Ich Reimann brachte das Papier Peter Blach- Reimann bedauert das noch heute.Weh- komme mir vor wie ein Hund“, schrieb er ner habe „ein Freund gefehlt, von dessen Reimann am 16. Mai 1946, von dem er außer * Links: mit der Frau des Kommunisten Albert Hensel; theoretischen Einsichten er hätte lernen Care-Paketen „Verständnis und Rat“ erbat. rechts: mit Ehefrau Greta. können“. ™

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STERBEHILFE Höfliche Polizei or rund zehn Monaten reiste der Vevangelische Schweizer Pfarrer Rolf Sigg zum erstenmal nach Deutschland, im Gepäck eine tödliche Dosis Natri- um-Pentobarbital. Er gab das Medika- ment einem schwer krebskranken Mann, der sich damit das Leben nahm (SPIEGEL 6/1998). Aktive Sterbehilfe ist in Deutschland verboten, ebenso der Import der Che- mikalie. Sigg leitet den Ver- ein „Ex-International“, den er im vergangenen Jahr mit PARAMOUNT „Enterprise“-Crew auf der Brücke des TV-Raumschiffs dem inzwischen verstorbe- nen Julius Hackethal ge- SCIENCE-FICTION gründet hatte. Mittlerweile hat er sechs todkranken

Deutschen beim Selbst- REUTERS „Star Trek“ in Düsseldorf mord geholfen. In einem Sigg demnächst erscheinenden anz wie im 24. Jahrhundert sollen sich die Besucher der Messe Düsseldorf vom Buch („Warum Menschen freiwillig aus G5. Dezember bis zum 2. Januar fühlen – dann macht das „Raumschiff Enterprise“ dem Leben gehen. Eine Dokumentation Station am Rhein. Die Kommandobrücke der „U. S. S. Enterprise 1701-D“, wie sie un- der Menschlichkeit“) zieht Sigg Bilanz. ter Captain Picard in der Reihe „Das nächste Jahrhundert“ zum Einsatz kam, soll Und ist voll des Lobes für die deutsche ebenso originalgetreu nachgebaut werden wie der Maschinenraum, Bars und Verbin- Polizei: Die habe ihn „mit ausgesuchter dungsgänge. Für irdische 45 Mark Eintritt versprechen Messegesellschaft und Mit- Höflichkeit behandelt“, als er sie nach Präsentator Sat 1 eine „komplette 24.-Jahrhundert-Umgebung zum Einkaufen, Essen, dem Suizid zur Leiche rief. Zwar wurde Tanzen und mehr“ inklusive Flugsimulation. In einer als „Museum“ bezeichneten Ab- Sigg jedesmal vernommen, einen An- teilung können Kostüme, Waffen und sonstiges „Star Trek“-Zubehör bestaunt wer- walt brauche er aber nicht, habe man den. Der Schwerpunkt indes dürfte auf dem Handel mit „Enterprise“-Devotionalien ihm versichert. Weil Beamte ihm kürz- liegen.Weitere Stationen der „Star Trek World Tour“ stehen noch nicht fest, doch die lich doch Schwierigkeiten machten, ließ Veranstalter geben sich zuversichtlich, daß es tatsächlich eine Welttournee wird – noch er die nächste Suizidwillige in die in diesem Jahrhundert. Tickets gibt es bei allen Reisebüros und Vorverkaufsstellen. Schweiz reisen. Sie starb „in einem pri- vaten Logis“.

PSYCHOLOGIE FREIZEIT Sex und Beruf Glück unter Glas ange standen sich zwei Theorien ge- uf große Begeisterung stoßen die Lgenüber: Wer viele Rollen erfüllen Aneuen künstlichen Freizeit- und Er- muß – beispielsweise Ehefrau, Mutter, lebniswelten vom Spaßbad bis zum Dis- Berufstätige –, hat wenig Sex, lautet die neyland bei den Deutschen: Fast jeder Knappheits-These; die Verstärkungs- zweite Befragte sieht in ihnen ein ech- These behauptet das Gegenteil. Nun ha- tes Vergnügen für die ganze Familie, vor ben Psychologen von der University of allem Jugendliche loben sie als Attrak- Wisconsin in Madison in einer Studie an tionen und „erlebbare Sehenswürdig- über 500 Paaren die Theorien gegenein- keiten“. Das besagt eine repräsentative ander getestet. Ergebnis: Beide sind Studie des BAT-Freizeit-Forschungsinsti- falsch. Nicht die Tatsache, wie viel oder tuts in Hamburg. „Die Erlebniskonsu- wenig beschäftigt Mann und Frau sind, menten von heute wollen perfekte Illu- beeinflußt Quantität und Qualität der sionen. Und sind auch mit Scheinwelten sexuellen Aktivität, es kommt darauf an, zufrieden, wenn sie die Wirklichkeit wie befriedigend die Arbeit ist. Den be- übertreffen“, so Institutsleiter Horst sten Sex erleben Paare, denen der Beruf Opaschowski. Über 20 Millionen Bun- Spaß macht. Am traurigsten sieht das desbürger jährlich besuchen die kollek- Sexualleben aus, wenn die Frau einen tiven Freizeitparks, Musicals, Open-Air- guten Job hat und der Mann mit seinem Events und Multiplex-Kinos. Aber jeder unzufrieden ist: Männer können keine fünfte Befragte schimpft über die Ge-

erfolgreichere Frau vertragen – sie sind D. SCHMID / BILDERBERG schäftemacherei, zwölf Prozent finden dann neidisch und versagen im Bett. Jugendliche im Spaßbad die inszenierte Freizeitwelt kitschig.

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MODE Abartig oder einzigartig? Die Zeit der Supermodels ist vorbei – perfekte Schönheit ist in der Mode nicht mehr gefragt. Designer und Magazine präsentieren jetzt das Abweichende als neues Ideal. Dahinter steht der Wunsch nach Individualität. Von Wolfgang Joop

er britische Designer-Star Alexan- der McQueen hat den abstürzen- Dden Börsenkursen nicht jeden Tag hinterhergesehen, das mußte er gar nicht. Er wußte schon Bescheid, als er vor vielen Wochen seine Modekollektion und die Schau für das Frühjahr 1999 konzipierte. Denn kreative Menschen sind empfind- samer als andere; und was sie fühlen, das führen Modedesigner in ihren Entwürfen vor: Während der Londoner Fashion Week in der vorvergangenen Woche zeigte McQueen seine Kleider, für die ohnehin bald keiner mehr Geld haben wird, in ei- ner Inszenierung von Träumen und Alp- träumen. Entsetzt flüsterte das „Rat Pack“, wie die Modeszene sich dort nennt, es habe das Gespenst der Rezession gesehen. Spä- testens in einem halben Jahr werde es die Welt – vor allem die Welt der Mode – in Angst und Schrecken jagen. Auf den schönen Schein ist ein Schatten gefallen. Jeder, der angesichts der herauf- ziehenden Wirtschaftskatastrophe noch eine perfekte, hübsche heile Welt insze- niert, verdrängt die Wirklichkeit. Wer der Rezession entgegensieht, kann auf dem Laufsteg nicht so tun, als habe man nichts zu befürchten. Die Supermodels mit makelloser Schön- heit hat es als erste getroffen, nicht nur wegen ihrer hohen Gagen. Sie sind out: Die italienische „Vogue“ beispielsweise buchte in der letzten Ausgabe keine einzi- ge von ihnen für eine Modestrecke. Naomi Campbell ist zwar noch auf dem Laufsteg zu sehen, vergangene Woche in Mailand bei den Schauen von Krizia und Fendi zum Beispiel; aber Claudia Schiffer hat ihren allmählichen Rückzug von den Mo- deschauen angedeutet, bevor ein anderer auf die Idee kommt, sie zu verabschieden. „Noch 15 Minuten bis zum Countdown“, schrieb die britische Zeitschrift „Scene“ auf ihrem Cover über die Supermodel-Ära. Naomi Campbell, die auf dem Titelbild ge- zeigt wurde, sagt in dem Heft: „Das Su- permodel-Ding kommt nie wieder.“ Gianni Versace hatte Ende der Achtziger die Mädchen zu Stars gemacht, als er die- selben Models auf den Laufsteg schickte, die er auch in seinen Anzeigen zeigte. Von da an konnten die Supermodels nur noch

Concorde fliegen, First Class. Die Nach- N. MCINERNEY folgerinnen der phantastischen Fünf – Behindertes Model Mullins in der McQueen-Show: Der Makel ist jetzt das Schöne

92 der spiegel 42/1998 traurig in den Anzeigenfotos der großen Marken herum, von Chanel bis Fendi und Max Mara. Jetzt ist der Makel das Schöne. McQueen, der auch Chefdesigner von Gi- venchy ist, hat das mit seiner eigenen Kol- lektion in London im Extrem vorgeführt. Die Schau ließ er von der Amerikanerin Aimee Mullins eröffnen, die ohne Unter- schenkel geboren wurde. Auf hölzernen Stelzen, an denen ein Kunstschnitzer fünf Wochen lang gearbeitet hatte, ging sie über den Laufsteg. Sie trug einen ledernen Pan- zer und einen Rock aus Rüschkaskaden wie die mexikanische Carmencita – ein Bild verletzter Endzeitromantik: das Har- te kombiniert mit dem Zarten, poetische Interpretationen einer uralten Mystik von Schönheit und Schmerz.

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Naomi Campbell, Elle MacPherson, Linda aus Liebe zu einem Prinzen ihren Fisch- Evangelista, Cindy Crawford und Claudia schwanz gegen menschliche Beine ein- Schiffer – sehen dagegen nach Economy- tauscht. Der Preis dafür sind Schmerzen. Class aus. Deshalb versucht sie, beim Gehen den Bo- „Es geht heute nicht mehr um Glamour. den nicht zu berühren; ihr Gang wirkt Die Welt will etwas weniger Blondes“, ver- schwebend und anmutig. Mullins fühlt kündete kürzlich Anna Wintour, die Chef- nicht den Boden, auf dem sie geht. Doch redakteurin der amerikanischen „Vogue“. was sie nicht will, ist Mitleid. Und es gab Die italienische Ausgabe der Zeitung hat- auch keines: Mullins war der Star der te die Britin Karen Elson schon vorher auf Schau. den Titel genommen. Das Mädchen mit Für die September-Ausgabe der briti- dem seltsam nackten Science-fiction-Ge- schen Zeitschrift „Dazed and Confused“ sicht lief in London und Mailand über den (auf deutsch etwa: „Benommen und ver- Laufsteg und posiert in Anzeigen für Do- stört“) hatte McQueen zuvor eine Mode- natella Versace, die sich ansonsten mit Glit- strecke ausgearbeitet. Das Magazin hatte zer und fehlerfreier Schönheit umgibt. Behinderte aufgefordert, sich als Models Ähnlich merkwürdige Gestalten stehen zu bewerben – als Gegenentwurf zu einer

Max-Mara-Anzeige Neue Model-Generation in der Werbung „Die Welt will etwas weniger Blondes“

Dies sei nicht der Versuch zu schockie- ren, sondern ein „Statement of Beauty“, verkündete McQueen. Abartig oder ein- zigartig, freak or unique? „Ich möchte nicht, daß man mich trotz meiner Behin- derung schön findet“, sagt Aimee Mullins, „sondern wegen ihr.“ Und: „Ich verkör- pere Stärke und Weiblichkeit.“ Ihre künst- lichen Unterschenkel aus Silikon, die sie im Alltag trägt, versteckt sie nicht. Sie wünscht sich weitere in anderen Farben, grün, schwarz, mit Schlangenhaut be- zogen. Selbstbewußt und leichtfüßig ging sie mit ihren Holzbeinen über den Laufsteg. Sie erinnerte an die kleine Meerjungfrau in Fendi-Anzeige Hans Christian Andersens Märchen, die O’Connor in der Versace-Anzeige

der spiegel 42/1998 93 Gesellschaft

Welt, „in der das Mainstream-Konzept, zwischen Anonymität und was schön ist und was nicht, immer enger Individualität die Schlüssel- wird“. Aimee Mullins schickte ihr Bild ein frage: Im Datennetz sind und wurde für die Titelseite vom Londoner alle Menschen gleich – wer Starfotografen Nick Knight abgelichtet: also bin ich? Metallsprungfedern ersetzen ihre Unter- Die Bedeutungslosigkeit schenkel. Andere Models sind kleinwüch- von Status und Konvention sig, armlos, beinlos. ist beängstigend, weil damit Die Zeitschrift will das nicht als aufge- auch Fixpunkte für die putzten Sozialprotest verstanden wissen, Orientierung verschwin- sondern als „fröhliches Feiern des Unter- den. Aber die neue Unter- schiedes“. Tatsächlich gleicht das Ausstel- schiedslosigkeit verschafft len der Behinderung, die Entblößung der gleichzeitig einer jungen Wunden nicht einer Demonstration des Kultur Raum, die aus dem Kreuzes, an das der Märtyrer geschlagen Gleichen heraus das Ande- wird. Die Enthüllung soll auch keinen re, das Individuelle formt. Schreck provozieren, der Distanz zur Fol- Im besten Sinne werden ge hätte. Im Gegenteil: Hinter den Fotos solche Designer damit zu steht der Wunsch, den Betrachter in die ei- Philosophen, die mit ihren gene Intimität einzubeziehen. Wie die Entwürfen und mit der Selbstporträts der verletzten Frida Kahlo Wahl der Models den Zu- ist allerdings auch dieser Exhibitionismus stand der Welt reflektieren nicht ohne Eitelkeit. Dem Voyeur aber und kommentieren. nimmt die offensive Entblößung des sonst Im Widerspruch von schamvoll Versteckten den Genuß. Anonymität und Individua- Abweichung ist Risiko. Deshalb wirkt lität kann man sich aber das Vorzeigen eines Makels mutig und auch für die Anonymität wahrhaftig. Natürlich ist auch das eine Il- entscheiden. Nach Perfek- tion zu streben, ist ein Stre- ben nach Gleichheit. Das schönste Gesicht ist, wie Psychologen bewiesen ha- ben, auch das durchschnitt- lichste. Diesem Konformismus

GRAZIA NERI entspricht in der Mode die Schau der Prada-Linie „Miu Miu“: Mode als Uniform Uniform. Prada und Gucci schneidern sie seit ein paar wünscht: Die zum Monster operierte Ame- Jahren am erfolgreichsten: ein gefahrloser rikanerin Jocelyn Wildenstein, die sich gemeinsamer Nenner, in Tokio wie in Mün- wegen ihrer zum Schlitz gezerrten Augen chen und New York. Der am vorvergange- „Tigerwoman“ nennt, verhandelt mit dem nen Samstag eröffnete Gucci-Shop in Mai- Pariser Modemacher Thierry Mugler über land machte am ersten Tag knapp 700000 einen Auftritt bei seiner nächsten Schau. Mark Umsatz. Auch dafür werden die ita- „Wie hat man jahrelang über meine lienischen Modemarken in London gehaßt. Unperfektion gelästert“, wundert sich In Paris wird in dieser Woche die Prêt- O’Connor, die rabenschwarzhaarig, krei- à-porter-Frühjahrsmode präsentiert, von deweiß, schafsnasig und seltsam blicklos Altstars wie Karl Lagerfeld, von Jungstars aus der Chanel-Anzeige schaut oder gro- wie Marc Jacobs und Dirk Bikkembergs, tesk schlaksig in der Versace-Werbung po- von Neustars wie Olivier Theyskens und siert. „Werde ich heute gebucht, weiß ich, Jeremy Scott. Die Jungen werden versu- man will mich, weil ich so bin, wie ich bin.“ chen, mit einem Avantgarde-Statement Ihr Körper gilt als unproportioniert: die aufzufallen. Auch Alexander McQueen Science-fiction-Model Elson Hüften zu breit, der Oberkörper zu schmal. wird wieder dabeisein, als Chefentwerfer „Kids wollen keine Perfektion mehr“ Karen Elson sagt: „Kids von heute sind von Givenchy. Es wird den Designern letzt- aufgewachsen mit all dieser Perfektion. Sie endlich nicht darum gehen, jemanden rich- lusion, aber in der Mode sind Illusionen wollen das nicht mehr. Sie wollen anders tig gut aussehen zu lassen, wegen oder gewollt. Das Absurde wird inthronisiert als aussehen, sie wollen einen individuellen trotz eines Makels, sondern das Publikum Antwort auf eine absurde Welt. „Warum Charakter.“ über ihre Haltung zur Welt zu informieren. die und nicht ich?“ lautete die fragende Nichts ist monokausal, schon gar nicht in Wenn alle Frühjahrsschauen vorbeige- Überschrift in der französischen Avant- der Mode. Das Unperfekte als Designprin- zogen sein werden, entscheiden die Ein- garde-Zeitschrift „Jalouse“ („eifersüch- zip ist nicht allein die Widerspiegelung ei- käufer – allerdings nicht über Haltungen tig“), als sie die Garde der neuen Models ner unperfekten, der Rezession entgegen- und Statements, sondern über Kleider. abbildete, darunter Karen Elson, Erin wankenden Welt.Wer sich absichtlich vom André Kostolany, der 92jährige Börsen- O’Connor, Stacy McKenzie. Keine von ih- Ideal entfernt und seine persönlichen Ma- guru, hat neulich bei Harald Schmidt über nen entspricht dem Vorbild der kosmeti- kel hervorhebt, anstatt sie zu vertuschen, die Welt gesagt, in der Werte und Ansich- schen Norm, wie sie in Los Angeles von betont seine Einzigartigkeit. Denn für die- ten kurze Haltbarkeitsdaten haben: Schönheitschirurgen produziert wird. jenigen, die mit Computern und World „Schönheit vergeht. Doch mies bleibt Höchstens der medizinische Unfall ist ge- Wide Web groß werden, ist der Konflikt mies.“ ™

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Werbeseite Gesellschaft KÖVESDI „Derrick“-Darsteller Weisgerber, Tappert in der letzten Folge: „Ich habe Deine Drehbücher nicht immer gut gefunden“

FERNSEHEN In Wahrheit ein Prediger Derrick hört auf, und der Kult um ihn geht richtig los. Wer den Anstoß zum Ende der Serie gegeben hat, darüber sind sich Autor und Darsteller uneins.

n der letzten Folge, endlich, darf Der- heraus mit verschiedenen Dancefloor- rick das tun, was er eigentlich immer Versionen der Titelmusik. Wie nur hat Ischon wollte: als guter Mensch von es ausgerechnet ein solcher Bravbürger München der Welt das Böse erklären. Do- geschafft, zum Hipster der Nation zu zent Derrick hält eine Abschiedsrede vor werden? den Mitarbeitern seiner Mordkommission, Das „kann man nicht analysieren“, denn er – so will es das Drehbuch – geht meint Tappert, der soeben seine Memoiren nach Brüssel zu Europol. unter dem schizoiden Doppeltitel „Der- Am kommenden Freitag verschwindet rick und Ich. Meine zwei Leben“ veröf- Derrick aus der Fernsehwelt – für immer. fentlicht hat*. „Welche Aura ein Schau- Doch vieles, vor allem der Trubel der spieler persönlich oder auf dem Bildschirm vergangenen Wochen spricht dafür: Der ausstrahlt, bleibt unberechenbar – eben ein Kult um den Oberinspektor geht jetzt erst Geheimnis“, fährt Tappert fort. richtig los. Von Samstag auf Sonntag zeigt An anderer Stelle müht er sich doch, das ZDF fünf alte Derrick-Folgen, davor und zwar seitenweise, um die Ergründung gibt es auch noch die „Good bye, Derrick“- des rätselhaften Derrick-Erfolgs: „Mit Höf- Party, eine Groß-Hommage, moderiert von lichkeit und Anteilnahme sorgt Derrick … Thomas Gottschalk – einem berühmten für eine Atmosphäre des Vertrauens.“ Deutschen, der in der Welt aber längst Menschen seien versessen darauf, daß ih- nicht so bekannt ist wie Derrick-Darsteller nen jemand richtig zuhöre, denn: „Sie Horst Tappert. Den kennen Bewohner von erleben es so selten.“ Wahrlich: „Wie ein 102 Ländern. erfahrener Therapeut wurde er, der Psy-

Vor kurzem brachte die Plattenfirma AKG „eastwest records“ die – technoblau und Tappert, Wepper (1974) * Horst Tappert: „Derrick und Ich. Meine zwei Leben“. orange gefärbte – CD „Derrick 1998“ Ein erfahrener Therapeut , München; 272 Seiten; 39,80 Mark.

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Werbeseite Gesellschaft chologe der Nation, durch seine Souverä- nität und nie gefährdete Zuverlässigkeit zum Katalysator der geheimen oder be- wußten Sehnsucht nach Verständnis und Gerechtigkeit.“ Derrick auf dem Jangtse Ein Kapitel seiner Memoiren widmet Tappert seinem Verhältnis zu Derrick-Au- Drehbuchautor Herbert Reinecker über den Welterfolg seiner tor Herbert Reinecker. „Ach, Herbert“, lauten die ersten Worte, und der Seufzer Krimi-Serie und den Abschied von ihr gilt dem angeblichen Streit zwischen Hauptdarsteller und Autor. In den vergan- SPIEGEL: Herr Reinecker, hat es den be- Reinecker: Mir ging es um die Fälle und genen Monaten stand immer mal wieder in rühmten Satz „Harry, hol schon mal den Themen. Am Anfang hatte Derrick ja eine den Zeitungen, Tappert habe die Serie ge- Wagen“ je in einem Ihrer Drehbücher Freundin. Aber wir konnten keine gute schmissen, weil ihm Reineckers Dreh- gegeben? Schauspielerin halten, die 20 Jahre zur bücher zu philosophisch wurden. Reinecker: Nein, nie. Verfügung steht, aber kaum etwas zu tun Das war, deckt Oberinspektor Tappert SPIEGEL: Dennoch ist Derricks Befehl ein bekommt. nun auf, natürlich nur eine gemeine geflügeltes Wort, ein Slogan in der Fern- SPIEGEL: Fritz Wepper als Assistent Harry Finte der Medi- sehwerbung. konnte schauspielerisch auch nicht gerade en: „Die Journa- Reinecker: Uns hat es erst weh getan, aber viel zeigen. listen haben es dann haben wir es akzeptiert. Reinecker: Wepper ist tatsächlich zu bedau- wie üblich aufge- SPIEGEL: Derrick ist Kult. ern. Die Rolle war nie groß, aber sie vertrat bauscht.“ Eini- Reinecker: Ich mag das Wort Kult nicht. das Menschliche fast stärker als Derrick. ge Zeilen später Das klingt so nach Anbetung. Und ich sehe SPIEGEL: Tappert hat sich in letzter Zeit steht allerdings im Moment nichts Anbetungswürdiges – über seine Rolle beschwert. Sogar er sah Tapperts Tadel außer Gott natürlich. sich unterfordert. an Reinecker: SPIEGEL: Sie sind der Schöpfergott der Fi- Reinecker: Die Figur Derrick stand da wie „Ich habe Deine gur. Jetzt geht es mit ihr zu Ende. Was ein Denkmal, und das hat ihn oft geärgert. CD-Cover Drehbücher oder fühlen Sie? Ich kann verstehen, daß er nicht zufrieden Teile davon nicht Reinecker: Ein bißchen traurig bin ich war, denn die anderen spielten immer die immer gut gefunden, das weißt Du, und schon, aber nicht sehr. Eine Serie wird ge- großen Rollen. Jeder Schauspieler möchte ich werde erklären warum.“ boren, manche erreichen das Kindesalter lieber einen abgründigen Part haben, als ei- Reinecker sei in Wahrheit ein Prediger, nicht mal; diese wurde sehr alt, zweiein- nen Gütigen darzustellen. der Umwege gehe, Tempo aus dem Spiel halb Jahrzehnte. Die Figur ist eben akzep- SPIEGEL: Wenn Sie an den „Derrick“-Fol- nehme, „um eine kleine Botschaft über tiert worden. gen schrieben, haben Sie da immer an Tap- den Sinn des Lebens und den Unsinn der SPIEGEL: Und das, obwohl Derrick weder pert gedacht? Gewalt anzubringen, durch Derrick oder Kind noch Kegel, Sex oder sonst eine Lei- Reinecker: Das ist ein merkwürdiger Vor- den Hausmeister oder den Mörder“. denschaft hatte. gang: Zunächst war Tappert ein Schau- Er, Tappert, habe Reinecker immer wie- spieler, der etwas spielte, was ich der auf diese „Schwachpunkte“ hingewie- erfunden hatte. Doch dann wuchs sen – doch der wollte nicht hören. Nach er in die Rolle hinein, und auch mehr als zwei Jahrzehnten dann der Bruch: meine Vorstellung veränderte sich. „Man wird sensibler, nimmt Dinge, die ei- Tappert wurde mein Held. nem nicht passen, nicht mehr einfach so SPIEGEL: Sie sind vom Schauspieler hin, wird es müde, das, was man schon tau- enteignet worden? send Mal moniert hat, zum tausendunder- Reinecker: In gewissem Sinne, ja. sten Mal zu erwähnen … Und irgendwann Das führt dann dazu, daß der sagt man dann: Es reicht.“ Also hat doch Schauspieler manchmal glaubt, er der Darsteller die Serie gekippt? habe die Rolle selbst erfunden. Reinecker beharrt darauf, daß er es war, SPIEGEL: Waren Sie neidisch? der den Anstoß gab, Derrick einzustellen. Reinecker: Man fragt sich manch- Er habe Produzent Helmut Ringelmann mal, warum der Schauspieler im- und die Leute vom ZDF schriftlich gebe- mer erwähnt wird, obwohl der Au- ten, neue Autoren zu suchen, weil ihm das tor doch alles geschrieben hat. Ich Drehbuchschreiben durch seine Augen- habe mir dann gesagt, der ist der krankheit immer schwerer werde. Produk- optische Vertreter für uns alle und tionsfirma und Sender seien übereinge- nimmt die Anerkennung entgegen, kommen, daß Reinecker als Vater der Se- die allen gilt. Wissen Sie, man hat rie auch das Ende gestalten, die letzte Fol- hierzulande Schwierigkeiten, ei- ge schreiben dürfe. nem Drehbuchautor literarischen Tapperts abschließende Worte zum er- Rang zuzubilligen. folgreichsten deutschen Fernsehautor sind SPIEGEL: Aber Ihr Welterfolg müß- versöhnlich: „So oder so wird Herbert te Sie doch trösten! Reinecker sich in seiner Arbeit nicht be- Reinecker: Sicher. Gerade habe ich eindrucken lassen. Er wird weiter auf sei- einen Brief bekommen, von einer ne bewährte Art schreiben, und das bis zur Australierin, die auf dem Jangtse letzten Minute. Er ist einer von denen, die mit Chinesen über Derrick gespro- nicht aufhören können. Wie ich.“ chen hat – also so was freut mich

Derrick lebt weiter. So oder so. War TEUTOPRESS schon. Ich merke daran, daß wir doch klar. Autor Reinecker: Griechische Erzählkunst etwas transportieren. Oder neulich

102 der spiegel 42/1998 KINDERMANN „Derrick“-Darsteller Wepper, Maria Schell, Tappert (1977): „Die Kriminalität beginnt Weltschicksal zu werden“ habe ich mit einem meiner Enkel telefo- spieler sollten schneller sprechen, die reden Reinecker: Das Konzept „Derrick“ entstand niert. Der lebt in Amerika. Und ich fragte viel zu getragen. aus einer persönlichen Weltansicht. Sie gip- ihn: „Warum sprichst du so gut Deutsch?“ SPIEGEL: Sie standen unter Quotendruck. felt in der Erkenntnis, daß die Kriminalität Und er antwortete: „Ich lerne im Unter- Reinecker: Natürlich mußten wir mithal- Weltschicksal zu werden beginnt. Die Evo- richt Deutsch mit Derrick.“ ten. Wenn ich zum Beispiel ins Drehbuch lution vollzieht sich nach naturgesetzlichen SPIEGEL: Wie erklären Sie sich, daß „Der- schrieb, eine Szene findet in einer Bar statt, Regeln. Zu den naturgesetzlichen Regeln rick“ die einzige deutsche Fernsehsendung da staunte ich manchmal, was der Regis- gehört die Aggression. Wir leben in einer ist, die auf dem Weltmarkt Erfolg hat? seur da aufbot, Nacktszenen und so was. Zeit der ausufernden Aggression. Die Ag- Reinecker: Es gibt eine Erzählkunst, die ist Einmal habe ich eine ältere Dame gefragt, gression – naturgesetzlich gesehen, gedacht zweieinhalbtausend Jahre alt. Von der ob sie das stört. „Ach“, sagte sie, „das muß und geschaffen zur Verteidigung des Be- wußten schon die Griechen. Zuerst gibt wohl heute so sein.“ stehenden – beginnt eigengesetzlich zu es das Thema, man sucht sich eine Aus- SPIEGEL: Sie wollten vor allem werden. Sie beginnt sich der gangssituation, und alles, was der Autor die Welt erklären: Reinecker- Kontrolle zu entziehen. Die Welt anschließt, muß mit diesem Thema zu- Drehbücher sind immer pädago- „Die Figur wird immer aggressiver, und es sammenhängen. Es darf keine Leerstelle gisch. Derrick stand wird immer schwerer, in einer geben. Man muß den Zuschauer an die Reinecker: Wir erleben ja auch da wie ein immer aggressiver werdenden Hand nehmen, darf ihn nie loslassen. Ich andauernd Dinge, die erklärt Denkmal, Welt zu leben. In den normalen erzähle so deutlich und einfach wie mög- werden müssen. Die Zeit will und das hat Kriminalfilmen feiert die Aggres- lich. Das wird in der ganzen Welt ver- erklärt werden. Tappert sion sich selbst. Das ist das Ge- standen. SPIEGEL: In der letzten Folge der fährliche daran. Die Leute fan- SPIEGEL: Obwohl viele Fernsehkrimis viel Serie hält Derrick einen Vortrag oft geärgert“ gen an,Aggression für normal zu mehr Wert auf Action, optische und szeni- und wettert dagegen, daß Mord halten. Derrick erklärt nicht das sche Opulenz legen. zum Unterhaltungsgegenstand geworden Böse, sondern er zeigt, wo es ist, es liegt in Reinecker: Bild und Wort liegen heute ist. Ihr Credo? jedem Menschen als Evolutionsmitgabe. im Wettbewerb miteinander. Das Bild Reinecker: Ja, ich erlaube mir, es nicht gut Und so hat nach meinem Konzept Derrick gewinnt immer mehr, das Wort verliert. zu finden, wenn Krimis nur der Unterhal- seine Arbeit aufgefaßt. Die Augen werden betäubt mit Bildern. tung dienen. SPIEGEL: Aber bei Derrick waren vor allem Aber irgendwann haben die Leute genug SPIEGEL: Aber Sie wirken doch an der Be- die Reichen böse. davon. friedigung des Unterhaltungstriebs mit. Reinecker: Das Böse befindet sich überall. SPIEGEL: Genug davon? Der Rhythmus des Reinecker: Es gibt auch gute Unterhal- Ich wollte Verbrechen nicht unter Asozia- Mediums wird doch immer schneller. tung. Und zu der gehört, daß auch die len ansiedeln. Dadurch würde es in eine Reinecker: Im Moment trifft das zu, und Nachdenklichen ein Befriedigungserlebnis Ecke gedrängt werden, in die es nicht rein- man muß sich da ein bißchen anpassen. haben. gehört. Das Verbrechen ist ein absolut Ich habe immer zu meinem Produzenten SPIEGEL: Was ist Ihr Anliegen? Die Er- menschliches Thema, und zwar das größte, Helmut Ringelmann gesagt, die Schau- klärung des Bösen? das wir haben. ™

der spiegel 42/1998 103 Werbeseite

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Werbeseite Trends Wirtschaft

DEUTSCHE POST Neue Kunden per Datenklau um Bruch des Postgeheimnisses soll Zdie Deutsche Post AG Mitarbeiter verleitet haben. Dieser Ansicht sind die privaten Paket- und Kurierdienste, de- ren Verband vergangene Woche eine Einstweilige Verfügung gegen die Post erwirkte. Den privaten Zustellern, die über ein Drittel aller Pakete befördern, war eine Aufforderung der Post Wup- pertal in die Hände gefallen, wonach deren Sortiermitarbeiter bei bestimm- ten Briefen die Namen und Anschriften der Empfänger aufschreiben sollten: LS-PRESS Wenn der Absender ein privater Paket- Braunkohle-Abbau in Garzweiler I dienst und damit Konkurrent der Post war – beispielsweise UPS, DPD oder UMWELT German Parcel –, sollten die Post-Be- diensteten die entsprechenden Daten auf einer Liste notieren. Damit wollte Grüne lenken ein das Bundesunternehmen offenkundig gezielt für seinen eigenen Paketdienst ie umstrittene Genehmigung für fen sich Vertreter der Landesregierung, Deutsche PostExpress die Kunden der Dden Braunkohletagebau Garzwei- die Betreiber-Gesellschaft Rheinbraun Konkurrenz abwerben. Im Raum Wup- ler II soll nun doch erteilt werden. Dar- und das Oberbergamt zur Klärung wei- pertal lagen in 21 Sortierfilialen solche auf einigten sich am vorigen Donnerstag terer Details. Das Umweltministerium Listen („Firmenname – Empfänger – in einem zweistündigen Spitzenge- besteht offiziell allerdings darauf, daß es Absender“) aus. Die privaten Paket- spräch NRW-Ministerpräsident Wolf- sich noch immer um ein „ergebnisoffe- dienste überlegen derzeit, ob sie auch gang Clement,Wirtschaftsminister Bodo nes Verfahren“ handele. Der Durch- eine Strafanzeige wegen Bruchs des Hombach, Umweltministerin Bärbel bruch im Streitfall Garzweiler soll auch Postgeheimnisses einreichen wollen. Höhn und die Landesvorsitzenden von die Stabilität einer rot-grünen Koalition SPD und Grünen. Nächste Woche tref- in Bonn sichern.

AUFBAU OST Teure Liquidationen ei der Liquidation stillgelegter DDR-Betriebe hat die Treuhandanstalt 16 Milliar- Bden Mark verloren. Das geht aus internen vorläufigen Berechnungen der Treu- hand-Nachfolgerin BvS für die Schlußbilanz des ehemaligen Treuhand-Direktorats Abwicklung hervor. Den rund 3000 Liquidationsbetrieben waren Darlehen von knapp 20 Milliarden Mark zur Verfügung gestellt worden, die weitgehend verloren sind. Die Treuhandanstalt hatte die Darlehen durch eigene Kreditaufnahme am Kapi-

B. BOSTELMANN / ARGUM talmarkt beschafft. In welchem Ausmaß sich die Milliardenverluste auf den Bonner Briefsortierung bei der Post Haushalt auswirken, ist noch nicht geklärt.

TELEKOMMUNIKATION kom geschlossen: Kann sich in der deut- schen Provinz ein Handy-Benutzer nicht E2 in Schwierigkeiten in das E2-Netz einwählen, wird er von der Swisskom – die wiederum Roaming-Ver- rst Anfang des Monats startete Viag-Interkom-Chef Peter träge mit anderen Mobilfunk-Betreibern EBriese den Mobilfunk E2 – und der steckt schon jetzt in hat – in das D1-, D2- oder E-Plus-Netz ge- Schwierigkeiten. Konkurrenten wie die Telekom (D1), Man- leitet. Die EU-Wettbewerbskommission nesmann (D2) und RWE/Veba (E-Plus) gehen gegen den Neu- hat ein Prüfverfahren eingeleitet. Untersa- ling vor: Sie monieren seit Wochen einen Trick der Viag Inter- gen die Brüsseler der Viag Interkom, in kom, die wegen noch unzureichender Versorgung gleichsam Briese den von ihnen noch nicht versorgten Ge- durch die Hintertür die Netze der deutschen Wettbewerber bieten Deutschlands Gespräche über die benutzt. Weil E2 bislang nur in acht deutschen Ballungszen- Swisskom abzuwickeln, hätte dies böse Folgen: Für die mei- tren funktioniert, hatte die Viag Interkom einen sogenannten sten Kunden würde E2 uninteressant – die Firma verfügt erst Roaming-Vertrag mit der Schweizer Telefongesellschaft Swiss- nach der Jahrtausendwende über ein flächendeckendes Netz.

der spiegel 42/1998 107 Medien

KONZERNE PRESSE Waigel-Sprecher zu Abrechnung mit Kohl Leo Kirch er frühere Chef des Axel Springer Verlags, on der Politik ins Mediengeschäft DJürgen Richter, sieht sich als Opfer einer Vwechselt der eher unauffällige politischen Intrige der CDU. Es war „offen- CSU-Sprecher Maximilian Schöberl, 35. sichtlich nicht fehlender Erfolg“, der Ende 1997 Der Vertraute des Noch-Parteichefs zu seinem Abschied bei Springer geführt habe, Theo Waigel und frühere ZDF-Journa- erklärt Richter, der bei Springer den Gewinn list heuert in wenigen Wochen beim hochgetrieben hatte und jetzt für Münchner Medienunternehmer Leo arbeitet. Er habe „einfach die politischen Kon- Kirch an. Schöberl soll sich bei Kirch stellationen, in die Springer eingebunden ist, um Kommunikation und um Beziehun- unterschätzt“, sagt Richter in einem Interview gen zur Politik kümmern. Seit einiger mit einer Bertelsmann-Hauszeitschrift. Mit sei- Zeit baut die Kirch-Gruppe ihre Öffent- nem Appell Mitte 1997, die Unabhängigkeit der lichkeitsarbeit aus, offenbar in Vorberei- Redaktionen zu wahren, habe er „wohl Teile tung eines für das Jahr 2001 geplanten eines Netzwerks verunsichert“. Richter: „Die Börsengangs. Derzeit prüfen Investoren Entscheidung folgte dann aus politischer Taktik, wie der italienische Unternehmer und die nicht innerhalb des Hauses Springer ent- Politiker Silvio Berlusconi einen Ein- standen ist.“ Der Ex-Verlagschef zielt auf enge stieg in den deutschen TV-Konzern.

Bande zwischen Helmut Kohl und dem Sprin- SCHMIDT / NOVUM W. ger-Großaktionär Leo Kirch. Nach seinem Ab- Richter gang übergab Richter dem Springer-Aufsichts- FERNSEHEN ratschef Bernhard Servatius Dokumente, die den Verdacht erhärten sollen: Infor- mationen über eine interne Runde im Kanzleramt Ende August 1997, bei der Kohl Poker um Monica den Sturz Richters vorbereitet haben soll – kurz bevor Kohl die Verlegerin Friede Springer traf. Und nach einem Vermerk aus der bayerischen Staatskanzlei von An- onica Lewinsky, ehemalige Prakti- fang September habe Kohl bei einer CSU-Klausurtagung im Kloster Andechs vor Mkantin bei US-Präsident Bill Clin- Vertrauten den Eindruck erweckt, die Lösung des Problems Richter mache Fort- ton im Weißen Haus, will ihren Ruhm in schritte. Servatius will den Vorgang nicht kommentieren: „Dazu sage ich nichts.“ Reichtum verwandeln. Über Anwälte Das Kanzleramt bestreitet, den Sturz Richters vorbereitet zu haben. und Vermittler, darunter Medienunter- nehmen wie BSkyB von Rupert Mur- doch, läßt sie bei Fernsehsendern son- dieren, wer Interesse an einem Inter- Duell mit Amazon view mit ihr hat. In Deutschland erwar- Barnesandnoble.com tet Lewinsky rund 300000 Dollar für 50% die nationalen Exklusivrechte. Zuviel, Amazon.com 50% Bertelsmann sagt RTL-Chefredakteur Hans Mahr, Barnes & Noble sein Sender biete im Poker um die Ex- Bedeutendster Internet- Weltgrößter Buchverlag nach klusivrechte „deutlich weniger“. Ihn in- massiven Zukäufen in letzter Buchanbieter, Verkauf auch Größter Buch- teressiere, so Mahr, „vor allem das von CDs und Computer- händler mit über Zeit ( in den spielen über das Netz 1000 Großläden USA); eigener Internet-Buch- Schicksal des Mädchens Monica“, das 41% Beteiligung in den USA verkauf Bertelsmann Online mit ihren Enthüllungen einem von ihr (BOL) ab November, geliebten Menschen geschadet habe. Se- Jeffrey Bezos 3 voraussichtlich 4 Millionen xuelle Details spielten keine Rolle, sagt Eigentümer 2,5 Titel außerhalb der USA; zumindest Mahr: „Die waren im Inter- Titel in Mio. 65 Beteiligung an „Rocket-E-Book” net schon ergiebig einsehbar.“ (im Angebot) (elektronische Bücher); 1998 450 weltweit Buchclubs mit insge- Umsatz * –78 samt 26 Millionen Mitgliedern in Mio. Dollar 1998 –45 * Verlust * 1000 in Mio. Dollar *geschätzt Firmenwert 4300 in Mio. Dollar Beim zukunftsträchtigen Buchverkauf über das Internet bahnt sich ein Zweikampf zwischen dem US-Börsenliebling Amazon und dem Medienriesen Bertelsmann an. Für 200 Millionen Dollar und weitere 100 Millionen Dollar für Investitionen kauften die Gütersloher 50 Prozent der Online-Tochter des US- Buchhandelsriesen Barnes & Noble. Vor einigen Monaten war eine Übernahme von rund 30 Prozent von Amazon durch Bertelsmann gescheitert: Amazon-Gründer Jeffrey Bezos forderte zuviel Geld und wollte auch im Online-Buchgeschäft in Europa mitreden. In

Kürze wird nun Bertelsmann Online (BOL) in Europa eigenständig aktiv, mit REUTERS jeweils wechselnden Partnern in den einzelnen Ländern. Lewinsky

108 der spiegel 42/1998 Geld

DIVIDENDEN Aktien besser als Anleihen ür die meisten Aktionäre spielt P. LANGROCK / ZENIT P. F. OSSENBRINK F. Fdie Höhe der ausgeschütteten Di- Plattensee Gran Canaria vidende eine untergeordnete Rolle. Für Anleger allerdings, die ständige IMMOBILIEN ten bieten sich noch in Ungarn und Einnahmen erzielen wollen, bieten Kroatien. Immobilienvermittler sich nach dem Kurssturz dennoch Plattensee statt registrieren eine wachsende Nachfrage Aktien an: Aktien bringen oft eine vor allem nach Ferienhäusern in Un- höhere Barrendite als Anleihen, und Mittelmeer garn, die überwiegend als Alterssitz, die Gewinne der Unternehmen sind aber auch als Kapitalanlage gesucht noch immer ordentlich. Nebenwerte m Süden werden Ferienhäuser teurer. sind. Am Plattensee, der beliebtesten werfen – einschließlich der Steuer- IMallorca ist selbst für die meisten Ferienregion des Landes, sind die Preise gutschrift – Renditen bis zu zehn Pro- Besserverdiener unerschwinglich ge- schon kräftig gestiegen. Ein Häuschen zent ab, aber auch die Erträge vieler worden. An der Costa del Sol sind nach am See in ordentlichem Zustand – etwa Blue Chips – ausgeschüttete Divi- Beobachtung der Schutzgemeinschaft 100 Quadratmeter Wohnfläche, 1000 bis dende plus Steuergutschrift – sind für Auslandsgrundbesitz in diesem Jahr 2000 Quadratmeter Grundstück – ist derzeit höher als die Verzinsung öf- die Preise um 30 bis 40 Prozent gestie- kaum unter 200000 Mark zu haben. fentlicher Anleihen. Vor allem US- gen, und auch in Ober- und Mittelita- Fünf bis zehn Kilometer weiter kostet Konzerne zahlen häufig höhere Di- lien, vor allem in der Toskana, klettern ein vergleichbares Objekt oft weniger videnden als deutsche Unternehmen. die Preise weiter. Günstige Gelegenhei- als ein Drittel. Renditen im Vergleich*

TAGESGELD Umlaufrendite öffentlicher Anleihen 3,85 % *8. Oktober 1998 Mehr Zinsen mit Zloty? Thyssen 7,52 % ür täglich verfügbares Geld zahlen Banken derzeit – bei Beträgen unter 50000 FMark – Zinsen von höchstens 2,8 Prozent. Fast alle Kreditinstitute richten für ihre Commerzbank 5,65 % Kunden aber auch Fremdwährungskonten ein, die deutlich höhere Zinsen abwerfen. BASF Vielfach kompensieren zweistellige Zinsen mögliche Währungsverluste. So kann der 5,38 % südafrikanische Rand in einem Jahr gegenüber der Mark rund 13 Prozent seines Wer- Lufthansa tes verlieren, ohne daß der Anleger sich schlechter stellt als bei einem Tagesgeldkon- 4,82 % to in Mark – der Rand verzinst sich derzeit mit 16 Prozent. Spitzenzinsen für Tages- Deutsche Telekom 3,99 % geld bringen auch der mexikanische Peso mit 17 Prozent, der polnische Zloty mit 13 und die griechische Drachme mit 10 Prozent. Für Tagesgeldkonten in ausländischer Veba 3,95 % Währung verlangen Banken in der Regel eine mindestens fünfstellige Summe. Die Frankfurter Santander Direktbank führt solche Konten bereits ab 5000 Mark.

HYPOTHEKEN zem auch 30jährige Hypotheken an, al- Durchschnittliche Hypothekenzinsen lerdings ohne sie der Kundschaft nahe- Effektivzins in Prozent, Stand 8. Oktober 30 Jahre Sicherheit zulegen. Die Hamburger DG Hyp will Laufzeit in Jahren ihre 30jährige Hypothek (6,17 Prozent achdem die Kreditzinsen auf den nominal) künftig „etwas offensiver“ 5 5,07 Nniedrigsten Stand seit 30 Jahren ge- verkaufen. Aus Furcht vor möglichen fallen sind, werden jetzt – erstmals seit Zinssteigerungen in den nächsten Jah- 10 5,54 Jahrzehnten – auch Hypotheken mit 20- ren bestehen immer mehr Häuslebauer bis 30jähriger Laufzeit angeboten; aller- und Wohnungskäufer auf einer langfri- 15 5,62 dings müssen Kreditnehmer oft aus- stigen Bindung und nehmen dafür auch drücklich nach solchen Langläufern ver- etwas höhere Zinsen in Kauf. Hypothe- langen. Noch weigern sich viele Institu- ken mit fünfjähriger Zinsbindung wer- 20 5,91 te wie beispielsweise die Depfa, den nur noch selten verlangt. Darlehen Deutschlands größte Hypothekenbank, mit Laufzeiten von 20 bis 30 Jahren wa- 30 6,28 Darlehen mit 20jähriger Laufzeit zu ren früher die Regel. Sie verschwanden Anfang der siebziger Jahre, als die Zins- Quelle: Max Herbst Finanzberatung vergeben. Doch einige Banken wie die Frankfurter Rheinhyp bieten seit kur- ausschläge heftiger wurden.

der spiegel 42/1998 109 Titel

Börse in Chicago: Ein Jahrhundertsturm saust über die Weltmärkte und verwüstet eine Region nach der anderen Globaler Wahnsinn Kurssturz an den Börsen, Rezession in weiten Teilen der Welt: Der Boom der neunziger Jahre ist abrupt zu Ende, riesige Vermögenswerte wurden vernichtet, Millionen Menschen droht Arbeitslosigkeit, Elend und sogar Hungersnot. Eine aberwitzige Spekulation hat die Welt an den Rand einer Wirtschaftskrise geführt.

ie Stimmung war bombig. In den Glastürmen von Frankfurt, dem Fi- Dnancial District von London und an der New Yorker Wall Street schauten die Ökonomen begeistert in die Computer. Alles, was sie da sahen, kannte nur eine Richtung: aufwärts. An den Bars floß der Champagner – und so sollte es ewig bleiben. Stetig wachsen- de Gewinne versprachen die Volkswirte den Unternehmen, fleißig kletternde Ak- tienkurse prophezeiten die Bankiers ihren Kunden. „Hier wird es nur einen Crash ge- ben“, hieß eine beliebte Börsen-Losung, „und das ist ein Crash nach oben.“ Star-Analysten wie Ralph Acampora sagten dem Dow-Jones-Index zur Jahrtau- sendwende glitzernde 10000 Punkte vor- her. Die Manager der New Yorker Invest-

mentbank Merrill Lynch interpretierten SÜDD. VERLAG den Boom als eine „rationale Antwort auf Protestmarsch (zum 1. Mai 1930 in Berlin): Eine große Depression ist nicht ausgeschlossen

110 der spiegel 42/1998 850

800 Globaler Kursabsturz Aktienindex aller Welt-Börsenplätze

750

700

Verlust seit Juli P. CHESLEY / TONY STONE CHESLEY / TONY P. 20,6% positive Fundamentaldaten“. Millionen Quelle: Datastream, 650 Kunden wollten bei dieser Party unbedingt World-DS-Market dabeisein. Sie pumpten ihr Erspartes in Aktien und Fonds. Brave Handwerker, Ta- JuliAugust September Oktober xifahrer und Botenjungen zockten plötz- lich wie alte Profispekulanten. Eine Nation nach der anderen wurde vom Börsenfieber erfaßt, auch die in Geld- dingen konservativen Deutschen mischten kräftig mit. Nichts schien in diesen Jahren verdoppeln und Milliarden von Menschen allein in Amerika vernichtet. Tausende Un- einfacher, als mit Aktien Geld zu verdie- nie erlebten Wohlstand bringen: „Vor uns ternehmen wurden zerstört, Millionen nen. „Jetzt an der Börse mitmachen“, häm- liegen 25 Jahre Reichtum und Freiheit – Menschen in Asien und Lateinamerika ver- merten die Wirtschaftsmagazine ihren Le- haben Sie etwa ein Problem damit?“ loren die Arbeit. Rund 100 Millionen Men- sern ein. Heute sind die Kursrekorde des Früh- schen sind bereits wieder unter die Ar- Niemand brauchte sich allein auf sein sommers nur noch ein Erinnerungsposten mutsgrenze gefallen, seit die Krise vergan- Gefühl zu verlassen, die richtigen Daten – und die ganze Welt hat ein Problem. Die genen Sommer in Thailand losbrach. waren stets parat. Goldene Jahre für Asien, sich abzeichnende Weltwirt- Fast die Hälfte der Weltwirt- schwärmten die Strategen des Internatio- schaftskrise, die in Asien begann, Nur schaft rutschte in den vergange- nalen Währungsfonds (IWF) in Washing- dann Rußland erfaßte, mitt- nen 24 Monaten in die Rezes- ton. Die Wirtschaft werde im Fernen Osten lerweile Brasilien und ganz La- Scharlatane sion, darunter Musterländer wie weiterhin mit fünf bis zehn Prozent im Jahr teinamerika nach unten zieht trauen Südkorea und Brasilien, für den wachsen. und auch in den Vereinigten sich derzeit Rest werden die Aussichten mit Der ehemalige russische Wirtschaftsmi- Staaten und Westeuropa erste noch eine jedem Tag düsterer. Wachstum nister Jewgenij Jassin versprach den Inve- Spuren hinterläßt, traf die Welt gesicherte scheint vielerorts für längere storen „sechs Prozent Wachstum bis zum völlig unvorbereitet. Zeit abgestellt. Eine Große De- Jahr 2000“. Auch die Konjunktur in den Ein Jahrhundertsturm saust Prognose zu pression, die mancherorts das Vereinigten Staaten zeige, jenseits der üb- derzeit über die Weltmärkte und Elend der frühen dreißiger Jah- lichen Zyklen, keinerlei Ermüdungser- verwüstet eine Region nach der anderen. re zurückbringt, ist jetzt nicht mehr aus- scheinungen, so lautete die Analyse vieler Sein Kurs ist so schwer vorauszusagen wie geschlossen. Großbanken des Landes. der Weg eines Hurrikans: Wohin er zieht, Die Amerikaner, die noch vor kurzem „Wir sind Zeugen eines historischen wie lange er noch wütet, getrauen sich heu- ihre Wirtschaft als die beste der Welt Booms von nie gekannter Dimension“, te nicht einmal die besten Ökonomen zu priesen, könnten bereits das nächste schrieb im Juli vergangenen Jahres das prophezeien. Fest steht nur, daß der Scha- Opfer sein. Das US-Wochenmagazin amerikanische Zeitgeistblatt „Wired“. Die den schon heute verheerend ist. Mehr als „Newsweek“, das in der Vergangenheit Weltökonomie werde sich alle zwölf Jahre zwei Billionen Dollar Aktienkapital sind die Euphorie mitgeschürt hatte, entschul-

der spiegel 42/1998 111 Titel

die Investoren und Kunden durchdringlich ist das Geflecht der Wech- wieder zum Geldausgeben zu selwirkungen. ermuntern? Braucht die ge- Was in der zweiten Hälfte der neunziger samte Weltwirtschaft nicht Jahre auf den Weltfinanzmärkten passier- vielleicht doch ganz neue Re- te, hatte weniger mit Ökonomie zu tun als geln, um wieder auf Trab zu mit tiefsitzenden Instinkten und Psycholo- kommen? Oder ist das Ärgste gie. Es ist die Geschichte von Illusionen womöglich schon überstan- und Massentrieb, von Gier und Panik. den, folgt dem Absturz bald Geradezu blind hatten schon ein kräftiger Auf- sich Investoren und Geld- schwung? anleger in den vergange- Das Nur Scharlatane trauen sich nen Jahren in jedes Ri- eigentliche derzeit noch eine gesicherte siko gestürzt. Manager Drama Prognose zu: Die meisten investierten in Asien, begann im Mai Ökonomen haben sich zu oft obwohl die Zeichen für an den Ufern und zu massiv geirrt, als die Krise deutlich sicht- daß sie ihren eigenen Analy- bar waren: Bauruinen, des trüben sen noch wirklich glauben Korruptionsskandale, Chao Phraya würden. Bankenschwindel. Selbst innerhalb der Deut- Kleinanleger kauften im Frühjahr Inter- schen Bank herrscht keine net-Aktien zu Höchstpreisen, obwohl jeder Einigkeit. „Wir haben keine wußte, daß die verlustreichen Firmen gro- Anzeichen für eine allgemei- tesk überbewertet waren – heute sind die ne Rezession“, sagte in der Kurse um 50 bis 80 Prozent eingebrochen. vergangenen Woche der Deut- Und auch die Profis ließen sich mehr sche-Bank-Chef Rolf Breuer. von ihren Wünschen denn von den Rea-

N. FEANNY / SABA Sein oberster Volkswirt, Nor- litäten leiten: „Größere Abschläge sind ak- Spekulant Soros: Milliarden-Wetten gegen Staaten bert Walter, widerspricht: tuell nicht zu erwarten“, behauptete der „Wenn 40 Prozent der Welt- Analyst Achim Matzke von der Com- digt sich schon vorsorglich bei seinen wirtschaft in Rezession sind und bleiben“, merzbank im August. „Dax 10000. Exper- Lesern: „Sorry folks, es sieht nach Re- sei auch hierzulande ein „Wirtschaftsab- ten-Studie: Warum die Kurse steigen“, ti- zession aus.“ schwung unvermeidbar“. telte das Fachblatt „Finanzen“, das sich Die Jubelstimmung der vergangenen Fest steht, daß sich alle geirrt haben und nebenbei „Das Wirtschaftsmagazin für er- Jahre ist jedenfalls wie weggeblasen. sich viele irren wollten, weil der Glaube an folgreiche Kapitalanlage“ nennt, noch auf Verunsicherung, Angst, erste Anzeichen den schnellen Reichtum schon seit jeher seiner September-Ausgabe. von Panik sind erkennbar. Denn Ban- seine eigene Dynamik entfaltet. Und viel- Neun Billionen Dollar pumpten Anle- kiers und Politiker sind in Ratlosigkeit leicht ist die Datenfülle, über die Anleger ger allein in den neunziger Jahren in den vereint. heute verfügen, längst nicht mehr analy- amerikanischen Aktienmarkt, 43 Prozent Wie kann der Taifun gestoppt werden? sierbar, zu komplex sind die Fakten, zu aller erwachsenen Amerikaner haben Geld Reicht eine simple Zinssenkung aus, um willkürlich die Interpretationen, zu un- in Wertpapieren oder Fonds angelegt. In

Der Domino-Effekt Schlaglichter der Wirtschaftskrise 21. Mai 1998: Indonesien Nach massivem Kursverfall der Rupiah 2. Juli 1997: Thailand steht das Land vor dem Ruin. Gewalt- Die Bank von Thailand gibt nach heftigen tätige Demonstranten veranlassen Prä- Spekulationsattacken am 2. Juli den Baht sident Suharto zum Rücktritt, sein Vize frei. Die Währung verliert innerhalb eines Habibie wird zum Nachfolger ernannt. Tages über 15 Prozent.

Protestierende Arbeiter in Seoul 19. November: Südkorea Rücktritt des Finanzministers. Zwei Tage später bittet das Land den IWF um So- forthilfe. Der Aktienmarkt bricht zusam- men. Ende November erreicht die Börse Ausverkauf von Luxusartikeln in Bangkok den tiefsten Stand seit zehn Jahren. Rücktritt Suhartos, Nachfolger Habibie

112 der spiegel 42/1998 Deutschland trieb die Börseneuphorie Mil- lionen neuer Kleinanleger in Aktien. Eine Öl-Produktion Armada aus Analysten, Brokern, TV-Kom- 45 3500 3474,7 mentatoren und spekulierenden Freunden 40 3450 redete auf den potentiellen Anleger ein. 35 3400 Nur allzu bereitwillig ließ er sich mitreißen Öl-Preis – obwohl die wirtschaftlichen Daten ihn 30 3350 eigentlich zur Vorsicht mahnten. in US-Dollar pro Barrel in Millionen Tonnen Selten hatte ein Boom Investoren so die 25 3300 Vernunft vernebelt wie der Wirtschafts- 20 3250 aufschwung in Asien. Angelockt von Be- 14,02 15 3200 richten über märchenhafte Renditen und zweistellige Wachstumsraten, pumpten 10 3150 westliche Konzerne und Geldanleger Mil- 1990 1998 1990 1997 liarden in die aufstrebenden Volkswirt- schaften, ohne sich recht darum zu küm- Rohstahl-Preis Rohstahl-Produktion mern, ob die Länder die massenhafte 600 800 790 794,5 Zufuhr an Cash auch sinnvoll verarbeiten 550 780 konnten. in Millionen Tonnen Jeder wollte dabeisein: Nur eine eigene 500 770 Goldader war besser als eine Geldanlage in 760 450 den sagenhaften Emerging Markets. 750 Niemand wollte wahrhaben, daß in 400 740 Bangkok längst genügend Hochhäuser 730 standen, in Malaysia reichlich Chipfabri- 350 335,0 ken, in Jakarta mehr als genug Hotels. Lu- in US-Dollar pro Tonne 720 300 710 xus, Glanz und Reichtum in den Dritt- 1990 1998 1990 1997 weltmetropolen übertünchten Korruption und marode Bankbilanzen. Mehr Geld be- deutet mehr Gewinn, lautete die Devise – In einem grauen Betonbau am Rand der Westen die Thais als ihre Lieblinge be- und blind preßten Anleger und Investoren Hauptstadt Bangkok hatten sich die Be- handelt. Doch urplötzlich war die Stim- die Millionen in Richtung Fernost. amten der Bank von Thailand mit ihrem mung gekippt. Das eigentliche Drama begann im Mai Chef Rerngchai Marakanond verschanzt Immer öfter tuschelten die Bankiers bei vergangenen Jahres an den Ufern des trü- und verteidigten verzweifelt ihre Wäh- ihren Cocktail-Empfängen über die halb- ben Chao Phraya in Thailand. Zur selben rung, den Baht. Tag und Nacht harrten sie fertigen Hochhäuser, über die sinkenden Zeit, als die „Wired“-Redakteure in ihren hinter ihren Computern aus und rangen Exporte, über die immer neuen „Closed“- trendigen Lofts im fernen San Francisco mit übermächtigen Spekulanten in den Zeichen an den Türen der Luxus-Bou- ihre große Titelgeschichte vom ewigen Geldmetropolen der Welt, die Millionen tiquen. Das hatte die Spekulanten aus New Boom ins Blatt hoben, kämpfte dort eine von Baht abstießen wie Müll. Über Jahre York und London gelockt, die Wölfe der Fi- kleine Schar die Schlacht ihres Lebens. hatten die Glücksritter aus dem fernen nanzmärkte. Nun wetteten sie mit Macht 17. August: Rußland Der russische Rubel wird am 17. August abgewertet und stürzt innerhalb von drei Wo- chen um 67 Prozent.

Wechselstube in Moskau Obdachlose Bauern in Shenzen 8. Oktober: China China schließt die zweit- 1. Oktober: größte Investmentbank des Landes. Die Gitic hat Aus- Brasilien landsschulden von bis zu Internationale Finanzorga- einer Milliarde Mark. Ursa- nisationen beschließen ei- che der Pleite: faule Kredite nen 30-Milliarden-Dollar- und der Verfall der Aktien- Kredit, um die Zahlungsfä- preise. higkeit Brasiliens sicherzu- stellen. Der Land steckt in einer Rezession. Börse in São Paolo

der spiegel 42/1998 113 Titel

6,8 71,3

Osteuropa, 105,9 Rußland Nord- 142,3 West- 49,1 europa amerika Japan 170,9

Exporte Westeuropas Asien und Nordamerikas 51,2 220,0 ohne gegenseitig 108,6 Japan und in die Krisenregionen 139,2 in Milliarden US-Dollar Quelle: Unctad; Stand: 1996 Latein- 4,2 4,1 amerika 3,9 3,7 *Prognose Quelle: IWF 2,7 2,5 2,6 Welt-Wirtschaftswachstum 1,8 2,0 Veränderung gegenüber dem Vorjahr in Prozent 1990 91 92 93 94 95 96 97 98* gegen die thailändische Wäh- grund entgegen. Der Währungs- verkrochen, plötzlich wollten es alle schon rung. Schon bald sprachen sich Als hätte eine fonds marschierte ein, die Ar- immer gewußt haben: Waren nicht die Ban- die Attacken herum und mach- gute Fee beiter protestierten. Abwärts ken bekanntlich wackelig, die Regierun- ten Manager, Investoren und die die düsteren ging es mittlerweile auch mit gen korrupt, die Manager unfähig, die Thais nur noch nervöser. Wenn dem Singapur-Dollar, danach Arbeiter schlecht ausgebildet? so mächtige Männer wie George Wolken traf es die Börse in Hongkong, Westliche Politiker, Geldmanager, Jour- Soros gegen das Land wetteten, über den und selbst China begann zu zit- nalisten und Anleger verhöhnten die einst- dann mußte dort etwas faul sein. Weltmärkten tern. mals stolzen Nationen Südostasiens als Pa- Rette sich, wer kann, lautete weggeblasen Plötzlich war ein halber Kon- piertiger. „Sie hofften auf ein Wunder“, schon bald die Parole. Statt Gel- tinent im Rutschen.Wo noch vor schimpfte selbst IWF-Chef Camdessus, der der ins Land zu pumpen, saugten die In- wenigen Monaten westliche Banken gi- die Probleme längst erkannt haben wollte. vestoren Milliarden ab – die Asienkrise gantische Geschäfte witterten, machte sich Immer wieder habe er die Asiaten hinter hatte begonnen. plötzlich Panik breit. Doch der Währungs- verschlossener Tür zur Reform gedrängt, Im Juli 1997 mußten die Zentralbankiers fonds meldete: Alles unter Kontrolle. „Wir sagte er. aufgeben und den Wechselkurs, der bisher sehen erste Erfolge in Südkorea, und auch Aber Beruhigendes gab es auch: Ban- an den Dollar gebunden war, freigeben. in Thailand geht es leicht aufwärts“, ver- ker,Währungsfonds, die ganze Wall-Street- Die Bilanz war verheerend: Bei ihrem ver- kündete IWF-Chef Michel Camdessus im Industrie waren sich einig, daß die Krisen zweifelten Kampf hatten sie mehr als 20 Februar. lokaler Natur seien. Dem westlichen Wohl- Milliarden Dollar an Reserven verpulvert In Wahrheit glichen die Finanzplätze der stand drohe keine Gefahr. Der Absturz im – und doch nichts erreicht. Region zu dieser Zeit einem rauchenden Fernen Osten, so war die verbreitete Mei- Nun stürzte der Wert der Währung na- Trümmerfeld. Die Schönredner hatten sich nung, war nicht eine Krise des weltweiten hezu täglich nach unten und riß die ganze Wirtschaft mit herab. Dennoch hielten die meisten Ökonomen die Schlacht um den Baht eher für ein Scharmützel an einem exotischen Platz der Finanzwelt. Niemand sah die Massenpanik der nächsten Wochen voraus, niemand den Beginn einer welt- weiten Rezession. Es war die Stunde der Beschwichtiger. Dann fielen Malaysia und Indonesien. Der Westen war entsetzt, Anleger gerie- ten in Aufruhr. Im Oktober gingen die Aktienkurse in Europa und an der Wall Street nach unten. Zum erstenmal hatten die Schockwel- len aus Asien den sicheren Boden in New York, Frankfurt und London erschüttert. Es ging weiter abwärts, und zwar zügig.

Südkorea kippte als nächstes, Währung AP und Aktien purzelten munter dem Ab- IWF-Präsident Camdessus: Als Feuerwehr grandios versagt

114 der spiegel 42/1998 Werbeseite

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würden mit ihren Milliarden selbst in den armseligsten Regionen dieses Planeten für Wohlstand sorgen. Statt in den üblichen sieben Boomjahren steckte die Welt, so wollten es die Optimisten, in einem jahr- zehntelangen Aufschwung. „Amerika ge- hörte das 20. Jahrhundert“, pries Mortimer Zuckerman, Chefredakteur des Wochen- blattes „US and World Report“, „und ihm wird auch das 21. Jahrhundert gehören.“ Für den Blick zurück blieb in all der Hektik keine Zeit. Dabei ist die Wirtschaftsgeschichte im- mer auch eine Geschichte der gescheiterten Spekulationen. Immer war es eine fatale Mi- schung aus Gier und Panik, die schließlich den Ballon zum

SYGMA Platzen brachte. LTCM-Zentrale, Chef John Meriwether: Zerstörter Wall-Street-Mythos Vor 360 Jahren begannen die Holländer plötzlich mit Tulpen-

Finanzsystems, sondern eine Krise der hatte eben den Kommu- L. BARNA zwiebeln zu spekulieren. Ein Asiaten. nismus besiegt. Die Wirt- Händler hatte damals die ersten Zunächst schien das vielen im Westen schaftsgesetze der Vergangenheit sollten Knollen der exotischen Pflanze aus der nur allzu glaubhaft. Im Januar war von ei- nur noch beschränkt gelten, Computer- Türkei an die Nordsee gebracht. Binnen ner Finanzkrise kaum etwas zu hören. technik und Globalisierung für super- kurzem verfielen die Flachländer einem Kleinanleger und Großinvestoren dräng- effiziente Produktion sorgen. regelrechten Tulpenrausch. ten zurück in den Aktienmarkt, als hätte Die diensthungrige Servicegesellschaft Schon bald waren die Holländer so von eine gute Fee die düsteren Wolken über würde Jobs für alle schaffen. Kreditfreudi- der Pflanze besessen, schrieb ein Chronist, den Weltmärkten für immer weggeblasen. ge Banken und wagemutige Investoren „daß sie ihre eigentliche Wirtschaft ver- Es begann ein bizarrer Börsenauf- nachlässigten und selbst noch Laufbur- schwung. Obwohl ein Viertel der Welt gen schen, Seemänner und Bauern in den Abgrund rutschte, trieben Anleger die Kur- Tulpenhandel einstiegen“. se in Europa und Amerika bis zum Som- 9500 An den Börsen von Amsterdam, Rotter- mer geradezu rauschhaft auf nie gekannte dam und anderen Städten wurden speziel- Rekordmarken. Dresdner-Bank-Vorstand le Handelsplätze für Tulpenzwiebel-Pa- 9000 Leonhard Fischer sprach früh schon von ei- Dow Jones piere eingerichtet, und schnell trieben ner „asset inflation“. Doch nur wenige Index Glücksritter die Werte nach oben. Die Prei- wollten wahrhaben, daß sich die letzte 8500 se für eine einzige Zwiebel erreichten den Stunde einer großen Party ihrem Ende Gegenwert von einem halben Dutzend näherte. 8000 Ochsen, einer Kutsche samt Zugpferden Während sich in Asien Hunger breit- und schließlich bis zu zwölf Morgen Bau- machte, gab sich die Geldelite nun erst 7500 grund. recht dem Exzeß hin. Sie Doch irgendwann begannen einige der schmiedeten gigantische 7000 klügsten Köpfe, sich aus dem Handel Eine fatale Konzerne, leichtfertig zurückzuziehen, weil sie Böses ahnten.Als Mischung aus übersehend, daß viele der 6500 sich diese Nachricht herumsprach, beka- Gier und Panik, Fusionen keinen rechten men es plötzlich alle mit der Angst. Panik Quelle: Datastream die schließlich Sinn machen. Sie bezahl- 6000 brach aus, die Preise schnurrten zusam- den Ballon ten Rekordpreise für Im- Jan. 1997 Jan. 1998 men. Tausende Spekulanten verloren ihr mobilien und pumpten Vermögen. zum Platzen munter neues Geld in Auch am Beginn der Großen Weltwirt- brachte Aktien. Kamen einem 140 US-Konsumklima schaftskrise von 1929 stand eine giganti- Geldmann doch einmal Index: 1985=100 sche Fehlspekulation, die dem üblichen Zweifel, beruhigten ihn seine Kollegen mit Muster folgte: Jubel, Hysterie, Absturz. den Worten: „Dieser Markt ist anders.“ 135 „In den letzten fünf Jahren sind wir in Die traditionellen Berechnungsmetho- eine neue industrielle Ära eingetreten. Un- den, so hieß es plötzlich bei Banken und sere Industrie macht Fortschritte nicht auch in deutschen Insiderbriefen, seien 130 in kleinen Sprüngen, sondern in heroi- nicht mehr gültig. Das Kurs-Gewinn-Ver- schen Schritten“, schrieb das US-Magazin hältnis einer Aktie, früher ein Maßstab für 125 „Forbes“ im Juli 1929, vier Monate bevor jeden Anleger, spiegele die neuen Chancen der größte Crash des Jahrhunderts die der Konzerne in einer globalisierten Welt Große Depression einleitete. nicht mehr wider. Wer so rechne, sei 120 Auch damals erklärten die Gurus der „oldfashioned“. Wall Street die konservativen Regeln der Die Finanzwelt schwärmte von der Quelle: The Conference Board Aktienbewertung für ungültig. Wenn ein 115 „New Economy“, einem Zeitalter des Wertpapier jenseits aller historischen Maß- Jan. 1997 Jan. 1998 dauerhaften Wachstums. Der Kapitalismus stäbe notierte, dann war nicht etwa der

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Börsenkurs zu hoch, sondern der Maßstab sturz bringen mußte. Eine Abwertung des veraltet. Innerhalb eines Jahres schossen Rubel schien unausweichlich. damals die Werte in den Himmel. Das ahnten freilich auch die Herren in „Geld an der Börse zu machen war nun Frankfurt, London und New York. Und die leichteste Übung der Welt“, schrieben dennoch wollte sich keiner die Gewinne die US-Ökonomen Benjamin Graham und entgehen lassen. Am 17. August bekamen David Dodd 1934 in ihrer Analyse der sie die Rechnung: Auf einen Schlag werte- zwanziger Jahre: „Der Treck der Glücks- te die russische Regierung den Rubel ab sucher in den Finanzdistrikt hinein ähnel- und stoppte die Bezahlung von kurzfristi- te dem famosen Goldrausch in Klondike, gen Staatsschulden im Wert von 40 Mil- mit dem feinen Unterschied, daß es in liarden Dollar. Plötzlich waren die Staats- Klondike tatsächlich Gold gab.“ papiere wertlos, die wagemutigen Invest- Die Angst, seine Hoffnungen auf Super- mentbanker ihren Einsatz los. wachstum blieben unerfüllt, packt irgend- Es reicht, dachten jetzt viele in der Fi- wann noch jeden Spekulanten. So ging nanzszene.Wer konnte, zog nun sein Geld auch der Sommerboom des Jahres 1998 ab- aus all den riskanten Ländern dieser Erde rupt zu Ende. Eine ökono- zurück. Ein Milliarden- mische Nebensächlichkeit strom floß in die USA und war es, die das Nachden- in das sichere Europa. ken beschleunigte: der Zu- Das Geld fehlt anderswo. sammenbruch der russi- Kein Wunder also: Brasi- schen Volkswirtschaft. lien wackelt, die einstigen Die Regierung war im Musterländer Chile und August plötzlich zahlungs- Argentinien auch. Deren unfähig, da endlich purzel- Währungen sind nun mas- ten auch die Aktien in siv unter Druck, weil mehr Moskau, der Rubel sauste Verkäufer als Käufer auf nach unten. Ein neuer Do- dem Markt sind. Plötzlich minostein war gefallen. reden alle von den Risiken, Obwohl die russische den Ungleichgewichten, Volkswirtschaft, die mit dem Abwertungsdruck.

knapp 150 Millionen Men- AP Dabei war den Investo- schen nur das Bruttoin- Notenbankchef Greenspan ren bekannt, daß etwa die landsprodukt der 5 Millio- brasilianische Währung nen Niederländer erwirt- Es ist ein Trugschluß Real überbewertet ist, die schaftet, eigentlich ohne zu glauben, daß der Regierung in Brasilia ihren Bedeutung für die Welt- Westen „eine Oase des Haushalt nicht sanierte und wirtschaft ist, gab es jetzt Wohlstands“ in einer früher oder später eine Ab- kein Halten mehr. Die Gier wertung droht. Doch kaum der letzten Monate wan- turbulenten Welt- ein Unternehmen, eine delte sich in Angst, aus situation bleiben könnte Bank oder ein Aktienfonds Angst wurde Panik. hatte sich davon abhalten Dabei waren auch in Rußland alle Risi- lassen, neue Millionen nach Brasilien zu ken bekannt. Alle wußten, daß es mit der pumpen, die im Fall einer Abwertung er- Wirtschaft seit 1989 bergab ging, daß der heblich an Wert verlieren würden. russische Staat chronisch klamm war, daß Mit der Flucht der Anlagegelder in die die Regierung wie etwa 1996 ihr Budget Hochburgen der westlichen Welt ist die nur mit einem Vier-Milliarden-Mark-Kredit Krise beendet, Dollar und Euro-Raum sind des deutschen Bundeskanzlers decken die Brandmauern, so redeten viele. In konnte. „Helmuts Geschenke“ hießen sol- Asien, Rußland, Lateinamerika würde es che Hilfen in Moskau. schwierig bleiben, der Westen aber könn- Doch gegen die Spielwut der Spekulan- te von der neuen Liquidität sogar profitie- ten halfen auch diese kleinen Gefälligkei- ren. Tollkühne Analysten sahen schon eine ten nicht. Die professionellen Zocker in- neue Kursrallye starten. teressierten nur die Traumrenditen kurz- Mit der Beinahe-Pleite des New Yorker fristiger russischer Staatsanleihen. Diese Hedge-Fonds Long Term Capital Manage- Papiere, T-bills oder GKO genannt, ver- ment (LTCM) vor drei Wochen war auch kaufte die Regierung in Moskau so billig, diese Meinung passé. Nun hatte die Krise daß sie teilweise Renditen von über 100 endgültig die Geldmetropolen im indu- Prozent im Jahr brachten. strialisierten Westen erreicht. Dabei war das Investment alles andere Der Traum, mit ausgefeilten Computer- als sicher. Immer wenn die Papiere zurück- programmen die Märkte überlisten zu kön- gezahlt werden mußten, ersetzte die Re- nen, ist seither ausgeträumt. Die Milliar- gierung im Kreml sie einfach durch neue denverluste der LTCM waren nicht allein Anleihen. Immer öfter plazierte das Fi- durch Fehlgriffe exzentrischer Spekulanten nanzministerium neue GKOs im Markt, entstanden, sondern auch durch ein paar immer kürzer wurden die Laufzeiten. Es Programmierer und ihre vermeintlich per- kam zu einer Art Wertpapierinflation, die fekte Software. Eine junge Garde von irgendwann das ganze System zum Ein- hochintelligenten Spezialisten hatte in den

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Werbeseite Titel Die Reisportionen werden immer kleiner Millionen hungern, jeden Tag verlieren 15000 Menschen ihren Job, Kinder gehen nicht mehr zur Schule: Über Indonesien ist die Armut hereingebrochen wie eine tödliche Epidemie.

agak sieht zunächst aus wie ein dem Werksgelände auf und kam sogar Tasche. Das Ehepaar kann einen Zwei- kleines Paradies. Das Dorf liegt in- auf 76 Mark – genug, um sich Fernseher Millionen-Kredit nicht mehr tilgen, den es Pmitten von Reisfeldern und Pal- und Kühlschrank zu leisten und alle Kin- für seine kleine Tischlerei aufgenommen menhainen, über den nahen Bergen Zen- der in die Schule zu schicken. „Wir aßen hatte. Der Verkauf des Bambushauses für traljavas flimmert die Luft vor Hitze. Bunt jeden Tag Fleisch“, sagt Jamira stolz. 450 000 Rupiah (76 Mark) brachte nur bemalte Einspänner schaukeln über die Damit ist es vorbei. Die Fabrik ging eine kurze Atempause, der Erlös ist längst Wege, die Häuser sind sauber gestrichen. pleite, Jamira verlor die Kunden vor dem ausgegeben. Zum Glück kann die Fami- Doch hinter dem Idyll verbirgt sich schlei- Werktor und Mahudi den Job. Über Nacht lie bis nach Id el-fitr, dem Fest nach Ende chende Not. wurde ihre Existenz zerstört. Zwar besitzt des islamischen Fastenmonats Ramadan, Die 3200 Einwohner, meist Kleinbau- das Ehepaar in Pagak ein kleines Reisfeld. darin wohnen bleiben. Dann werden War- ern und Landarbeiter, kämpfen um ihre Das wirft aber nur 300 Kilogramm pro san und Chidiah mit den fünf Kindern zu Existenz. „Letztes Jahr konnten wir drei- Saison ab – davon kann die Familie sich Verwandten ziehen. mal am Tag Reis essen, dazu gesalzenen zweieinhalb Monate lang ernähren. Die Reisportionen haben sie mittler- Fisch oder Gemüse. Jetzt müssen wir „Wir verkaufen alles, was wir entbehren weile auf ein Minimum reduziert. uns alles vom Munde absparen“, klagt können“, sagt Mahudi. Der Kühlschrank, „Manchmal“, sagt Chidiah, „kaufe ich Bürgermeister Suwadi Isworo ein Stückchen Fleisch für die Sudirdjo. Jüngste.“ Dann schränkt sie Die Felder sind zu klein, um ein: „Es sind eigentlich nur die Menschen ein ganzes Jahr Knochen.“ Die Frau sieht aus- über zu ernähren. Und die Le- gezehrt aus, hustet und klagt bensmittelpreise zogen seit über Schmerzen und ge- Ausbruch der Wirtschaftskrise schwollene Lymphknoten. Ein so gewaltig an, daß Reis, Spei- Freund der Familie glaubt, daß seöl und Nudeln für viele un- sie Tuberkulose habe.An eine erschwinglich geworden sind. Röntgenuntersuchung oder Zu allem Unglück haben noch gar einen Krankenhausauf- Schädlinge die Hälfte der Ern- enthalt ist jedoch nicht zu te aufgefressen. Pflanzen- denken: Ein Tag im Hospital schutzmittel sind viermal so würde 1,70 Mark kosten. teuer wie im Vorjahr. Das sind 19 Pfennig mehr Den Rest ihrer spärlichen als die monatlichen Schul- Erträge verteidigen Pagaks gebühren für ein Kind. Also

Bauern verbissen: Nachts wa- DPA versucht Chidiah lieber, die chen sie auf den Feldern, um Angestellte der Zentralbank: Chinesen als Sündenböcke Ausbildung ihrer drei Söhne Diebe aus den Nachbardör- zu finanzieren – was nicht im- fern zu verscheuchen. „Es wird immer die zwei Ziegen, die elf Enten und die drei mer gelingt. Der 15jährige hat jetzt die mehr Reis geklaut“, sagt der Stellvertre- Hühner sind schon weg. Bald wird wohl Schule verlassen. „Er wollte nicht mehr, ter des Bürgermeisters. auch der kleine Grundig-Fernseher ver- weil der Lehrer losschimpfte, wenn wir Früher konnte das Dorf überleben, weil schwinden. Damit alle Familienmitglieder mit dem Geld in Rückstand gerieten.“ die Jungen in die Industriestädte Javas satt werden, borgt Jamira Geld von Ver- Klampok und Pagak sind nur ein klei- zogen und Geld heimschickten. Nun ste- wandten und Nachbarn. Längst aufgege- ner Ausschnitt aus einem düsteren Bild. hen Fließbänder und Kräne in Jakarta ben ist der Plan, einen neuen Imbißstand Allein auf Java, mit etwa 120 Millionen oder Surabaya still, und die entlassenen zu eröffnen: Dazu bräuchte sie eine Mil- Menschen die am dichtesten besiedel- Arbeiter kehren nach Hause zurück. In lion Rupiah (168 Mark) Anfangskapital. te Insel Indonesiens, sind über 18 Millio- Pagak sind in den letzten Wochen über Ein paar Kilometer weiter, in dem nen Menschen vom Hunger bedroht, 200 eingetroffen. Kreisstädtchen Klampok, hat der Tischler fürchtet Ernährungsminister Saefuddin. Mahudi, 47, und seine Frau Jamira, 46, Warsan, 35, noch Arbeit. In einer Möbel- Nach dem Zusammenbruch der Währung bezogen vor drei Monaten wieder ihr fabrik verdient er jeden Tag bis zu 7500 steckt Indonesien in einer beispiello- Häuschen, in dem sie ihre neun Kinder Rupiah (1,26 Mark) – immerhin fast dop- sen Rezession. Die Wirtschaft wird in zurückgelassen hatten. Zwölf Jahre und pelt soviel wie ein einfacher Landarbei- diesem Jahr voraussichtlich um 15 Pro- sieben Monate hatten sie sich in Tange- ter. Trotzdem geht es ihm schlecht. Die ei- zent schrumpfen. Die Nahrungsmittel- rang bei Jakarta erfolgreich durchge- gene Werkstatt mußte er vor sieben Mo- preise stiegen um 123 Prozent, jeden Tag schlagen. Mahudi verdiente in der Röh- naten schließen, da sich niemand mehr verlieren 15 000 Menschen ihren Job. renfabrik „PT Panca Pipaindo Indah“ seine Stühle und Sofas leisten konnte. „Kein Land in der jüngeren Geschichte, rund 200000 Rupiah im Monat (34 Mark), Nervös fingert seine Frau Chidiah, 40, ganz zu schweigen ein so großes wie In- seine Frau baute einen Imbißstand vor grüne Zahlungsbefehle der Bank aus der donesien, hat jemals eine so dramatische

122 der spiegel 42/1998 AFP / DPA Plünderer in Jakarta: „Kein Land in der jüngeren Geschichte hat eine so dramatische Wende erleiden müssen“

Schicksalswende erleiden müssen“, ur- schoben hatten. Die wiederum verkauf- vergangenen Jahren in den Rechenzentren teilte jüngst die Weltbank. ten den billigen Importreis mit Gewinn der Wall-Street-Türme hochgeheime Fi- Das plötzlich hereingebrochene Elend nach Malaysia. nanzprogramme ausgetüftelt. Die flinken schürt die Gewaltbereitschaft. Vor allem Auf dem Markt von Klampok dagegen Techniker galten als Geheimwaffe der In- auf Java kommt es häufig zu kollektiven stapeln sich Säcke mit Reis aus Thailand vestmentbanken, ihre Formeln wurden Wutausbrüchen und spontanen Raub- und Vietnam. Das Kilo ist nur rund 1000 schärfer geschützt als manche CIA-Ope- zügen. Die Menschen räumen Super- Rupiah billiger als die bessere einheimi- ration. märkte und Lager aus, überfallen Gar- sche Sorte und damit für viele immer Das Geheimnis der Quants, wie die Pro- nelenfarmen, holzen Teakholzplantagen noch zu teuer. Dafür erhalten die Be- grammierer genannt wurden, war eine Soft- ab und verwandeln Golfplätze in Reis- dürftigen von September an jeden Monat ware, die den Kosmos aus Tausenden von felder. zehn Kilogramm zum Preis von umge- Aktien und Anleihen ständig nach neuen Wie schon vor dem Sturz Präsident Su- rechnet 1,70 Mark. „Aber“, fragt der So- Kaufgelegenheiten durchforstete. Die Com- hartos im Mai müssen vor allem chine- zialarbeiter Edy Purwanto, „wer kommt puter spürten Werte auf, die sich normaler- sischstämmige Händler als Sündenböcke schon mit zehn Kilo im Monat hin, wenn weise parallel entwickeln, aber zeitweise herhalten. In Kebumen gingen Anfang er sich sonst nichts leisten kann?“ um winzige Prozentpunkte von ihrer Nor- September rund 50 Geschäfte in Flam- Der Soziologe arbeitet im priva- malkurve abgewichen waren. Dann setzten men auf. Die Fenster des Supermarkts ten Emanuel-Krankenhaus an Klampoks die Käufer darauf, daß sich die Werte wie- „Rita Pasaraya“ sind nun zum Schutz ge- Hauptstraße. In seinem Büro gibt er eine der an die Normalspanne annäherten. gen Steine und Molotow-Cocktails mit Schreckensstatistik nach der anderen in Doch normal war in diesem Sommer gar Sperrholzplatten vernagelt. Viele Kauf- den Computer ein: Von 10000 Familien in nichts mehr. Die Quants verhalfen Ban- leute haben das Weite gesucht, manche acht Dörfern der Umgebung sind seit kiers und Spekulanten zu gewinnträchtigen sind bis nach Hongkong geflohen. Ausbruch der Krise über 40 Prozent in Wetten mit vermeintlich Die Regierung kauft mit Krediten des Armut gestürzt. Konkret heißt das: 4000 kalkulierbarem Risiko, doch Internationalen Währungsfonds Reis in Familien müssen mit weniger als 81 Mark in Krisenzeiten versagten Wer keine Pakistan, Vietnam und Thailand. Die Im- im Jahr auskommen. 2000 von 6000 ihre Programme. Ihre Tech- Rückschläge porte, meist Ware minderer Qualität, Grundschülern gehen nicht mehr zum nik mag perfekt gewesen aushält, bringt die staatliche Monopolgesellschaft Unterricht, weil ihre Eltern das Schulgeld sein, doch die Märkte woll- darf nicht Bulog derzeit tonnenweise unter dem nicht aufbringen oder die Kinder – etwa ten einfach nicht kooperie- mal in die Marktwert in die Läden, um die Preise zu als Müllsammler – zum Lebensunterhalt ren – ein weiterer Mythos drücken. Der neue Präsident Jusuf Habi- der Familie beitragen müssen. der Wall Street war zerstört. Nähe der bie weiß, woran sein politisches Schicksal Die überwiegend protestantischen Ärz- Die Brandmauer ist da- Börse gehen hängt: „Habibie steht und fällt mit den te und Schwestern verstehen sich deshalb mit übersprungen. Immer Reispreisen“, sagt der Vizevorsitzende jetzt als Entwicklungshelfer im eigenen mehr professionelle Geldanleger erwarten, der Nationalen Menschenrechtskommis- Land. Unlängst sammelten sie Geld für daß die Krise auch die Unternehmen in sion, Marzuki Darusman. Reis, Speiseöl und Nudeln, beluden die Europa und Amerika durchrütteln wird. Dennoch kommt es in dem Reich der Ambulanzwagen und fuhren die Nah- Vergangene Woche prophezeite die Bank 17 500 Inseln immer wieder zu Eng- rungsmittel in die umliegenden Dörfer. J. P. Morgan als erstes US-Geldinstitut der pässen: Mal brechen altersschwache Mit Spenden der Hilfsorganisation weltgrößten Volkswirtschaft eine Rezes- Fähren und Lastwagen zusammen, mal Terre des Hommes will das Hospital auch sion im kommenden Jahr. Es sei ein Trug- horten Händler den Reis, weil sie auf künftig Carepakete verteilen, für Medi- schluß zu glauben, daß der Westen „eine höhere Preise spekulieren. Die Polizei kamente und Stipendien bezahlen. „Die Oase des Wohlstands“ inmitten einer tur- erwischte jüngst hohe Bulog-Funktionä- Schulabbrecher“, sagt der Arzt Yayha bulenten Weltsituation bleiben könnte, re, die jeden Tag die Hälfte der für Ja- Wardoyo, „sind unsere größte Sorge. warnte der amerikanische Notenbankprä- karta bestimmten 5000 Tonnen an Ohne Abschluß haben die Jugendlichen in sident Alan Greenspan. Scheinfirmen und Geschäftsleute ver- Krisenzeiten überhaupt keine Chance.“ Die deutschen Top-Banker pflichten bei: „Wenn der Himmel einstürzt, können auch die Tauben nicht mehr fliegen“, sagte

der spiegel 42/1998 123 Titel

Rein in die Währung, raus aus der Währung So funktioniert eine Devisenspekulation gegen den Yen

Einstieg in die Spekulation Gewinn 117 000 Ein Spekulant nimmt einen US-Dollar Kredit in Höhe von 12,5 Milliarden Yen bei einer japanischen Bank auf. Devisenkurs 1 US-Dollar: 125 Yen

Zur Tilgung seiner Schulden bei der japanischen Bank verkauft Er tauscht den Kredit der Spekulant einen Teil seiner in Dollar-Anleihen Dollar-Anleihen. Für die 12,5 Devisenkurs (eine Million US- Milliarden Yen muß er jetzt nur 1 US-Dollar: 140 Yen des Yen Dollar). Bei umfang- 893000 US-Dollar bezahlen. reichen Spekulati- ABWERTUNG onsaktivitäten gerät der Yen unter Druck: Der Kurs fällt.

Ausstieg aus der Spekulation

Albrecht Schmidt, Vorstandssprecher Noch kompensiert die Nachfrage im In- der Hypo-Vereinsbank. Sollte es nicht land sowie in den europäischen Nachbar- bald wieder aufwärtsgehen, erwartet der ländern viele negative Effekte. Doch in die Chef des zweitgrößten deutschen Kredit- Krisengebiete Asiens, Lateinamerikas und instituts niedrigere Gewinne, weniger Afrikas gehen immerhin 20 Prozent der Wachstum und neue Arbeitslose in deutschen Maschinenexporte. Firmen wie Deutschland. FAG Kugelfischer oder Krones liefern ei- Schon sacken in Europa die Ausfuhren nen guten Teil der Produktion dorthin. weg, das amerikanische Handelsdefizit „Es gab noch nie eine so pessimistische wächst bedrohlich. Die Importe steigen, Stimmung wie dieses Jahr“, sagt Bernd weil sich immer mehr der be- Fahrholz, der im Vorstand der drängten Länder mit billigen Dresdner Bank das Firmenkun- Warenverkäufen an den Westen Hartgesottene dengeschäft verantwortet. Der aus der Krise zu retten versu- Börsenprofis Banker fürchtet, daß nach Asien, chen. fassen wieder Rußland und Südamerika nun Obwohl die Stimmung von Mut – oder auch die USA und Europa in den vielen Wirtschaftsverbänden vor zumindest Sog der globalen Finanzkrise der Bundestagswahl rosarot ge- hineingezogen werden könnten. malt wurde, zeigen sich bereits machen sie Die Banken, von der Krise erste Alarmzeichen. Ruprecht sich welchen hart getroffen, setzen nun voll Vondran, Präsident der Düssel- auf Sicherheit – und sorgen da- dorfer Wirtschaftsvereinigung Stahl, be- mit für noch mehr Unsicherheit. Selbst klagt „einen Wettersturz am Weltstahl- gutgeführte Unternehmen in Ländern wie markt“. Indonesien oder Brasilien bekommen kei- Die südostasiatischen Länder, früher ein- ne Kredite mehr. „Die erhöhten Ausfallri- mal die weltweit größten Importeure für siken zwingen die Banken zu einer Ver- Stahl, sind als Nachfrager nahezu komplett schärfung der Kreditstandards“, sagt ausgefallen. Im Gegenteil: Begünstigt Hypo-Vereinsbank-Chef Schmidt. durch ihre niedrig bewerteten Währungen Solche Maßnahmen schützen die Ban- machen sie der deutschen Stahlindustrie ken, treiben die Welt aber nur noch tiefer mit Dumpingpreisen Konkurrenz. in die Rezession. „Credit Crunch“, nen- Auch im deutschen Maschinenbau, für nen die Amerikaner eine solche Zangen- den 924000 Menschen arbeiten, zeigen sich bewegung. im Auftragseingang seit Juni „deutliche Obendrein sackt auch noch der Wert des Ermüdungserscheinungen“, so Michael Dollar ab und macht damit Exporte der Rogowski, der scheidende Präsident des deutschen Unternehmen weniger lukrativ. Verbandes Deutscher Maschinen- und Erstmals seit Januar 1997 fiel die US- Anlagenbau. Da Exporte in viele asiati- Währung unter 1,60 Mark. Hält der Trend sche Schwellenmärkte nicht mehr stattfin- an, werden die Gewinnschätzungen sämt- den, sanken die gesamten Bestellungen um licher deutscher Exporteure hinfällig. vier Prozent gegenüber dem Vorjahres- Die düsteren Vorhersagen sorgten ver- zeitraum. gangene Woche für panische Aktienver-

124 der spiegel 42/1998 Werbeseite

Werbeseite käufe an nahezu allen Börsen. sie dafür in Kauf nehmen. Die Der deutsche Dax endete Freitag Welt sollte mehr wie ein Schulbus bei 4021 Punkten, minus 35 Pro- vorantuckern und nicht wie ein zent gegenüber dem Höchststand, Porsche. in Japan stürzten die Kurse auf Vor allem sollte sich eine Spe- das tiefste Niveau seit zwölf Jah- kulationsblase nie wieder bilden ren, an der Wall Street trieben die können.Also wurde 1944 in Bret- Anleger die Werte seit Juli um fast ton Woods ein System der festen 20 Prozent nach unten. Wechselkurse verabredet: Die Nur hartgesottene Börsenpro- großen Währungen der Welt, seit fis fassen wieder neuen Mut – 1952 auch die Deutsche Mark, oder zumindest machen sie sich wurden fest an den Dollar ge- welchen. So sei das Leben als koppelt. Nur innerhalb bestimm- Anleger nun mal, die Börse sei ter Bandbreiten, ein bißchen drü- eben kein verläßlicher Kamerad, ber oder ein bißchen drunter, orakelt André Kostolany: „Sie konnten die Währungen schwan- schwimmt, sie schwankt, aber ken. Die Amerikaner bürgten geht nicht unter.“ Menschen, dafür mit ihren Goldreserven in die keine Rückschläge aushalten Fort Knox, und der Internationa- könnten, dürften nicht mal in die le Währungsfonds überwachte das Nähe der Börse gehen. Ganze. Doch längst geht es nicht mehr Aber als die Erinnerung an die nur um die Börse. Die zuckenden Depression langsam verblaßte, Blitze der Weltwirtschaft haben verschwanden auch nach und

das reale Leben von Millionen REUTERS nach die Regeln. Zur Finanzie- Menschen erreicht, für viele ist es Händler an Tokioter Börse: Jubelstimmung wie weggeblasen rung des Vietnamkriegs und für kälter geworden.Arbeitslosigkeit Sozialprogramme druckten die im Westen, Hunger in Latein- Amerikaner massenweise Dollar amerika, Elend in Rußland – die Bruttoinlandsprodukt – 1973 schließlich brach das Folgen einer Weltwirtschaftskri- in Prozent System von Bretton Woods end- se sind mit keiner Charttechnik 4,5 6 gültig zusammen. zu bekämpfen. 4,1 5 Feste Wechselkurse wurden 4,0 Noch besteht Hoffnung, daß 4 aufgehoben, bremsende Bankre- der ganz große Knall ausbleibt. Arbeits- geln abgeschwächt, der Kapital- 3 Doch bisher haben alle versagt, 3,5 losenrate markt dem freien Spiel der Kräf- die eigentlich den großen Crash in Prozent 2 te überlassen. verhindern sollten: Der Markt, 3,0 1 Schnell entpuppte sich auch der IWF, die Weltbank, die 0 dieses System als höchst anfällig: führenden Zentralbanken – 2,5 Die Wechselkurse schwankten keiner sah die Krise kommen, –1 heftig und drückten keineswegs –1,8* keiner reagierte rechtzeitig, kei- 2,0 –2 die realen Kräfteverhältnisse der ner konnte die Milliarden-Ver- 1990 1998 1990 1998 Volkswirtschaften aus. Interna- luste verhindern. * Prognose tionale Spekulanten betraten die Und die Rezepte gegen ein Grundstückspreise Nikkei-Index Bühne. Unterstützt vom Main- weiteres Dahintrudeln hatten bis- stream der Ökonomen sorgten sie her kaum Erfolg. Heute hat der 115 1990 = 100 17 500 nach und nach für einen deregu- IWF in Asien über 60 Milliarden 110 lierten Geldkreislauf. Dollar Nothilfe gezahlt oder zu- 16 500 In den achtziger Jahren fielen gesagt, und noch immer ist kaum 105 in vielen Industriestaaten die letz- 15 500 Besserung in Sicht. Als Feuer- 100 ten Hemmnisse für den freien Ka- wehr der Finanzmärkte hat der pitalverkehr. Die Lobbyisten der Apparat versagt. Auch die hasti- 95 14 500 Wall Street hatten gesiegt. gen Aktionen der Notenbanken 90 „Nun haben wir, was wir blieben ohne Resonanz. Green- 13 500 wollten“, mokierte sich der Autor 85 span senkte die Zinsen, die Bör- 84,4 Russell Mead: „Ein System, das se rutschte trotzdem ab. England 80 12 500 13 825,61 schnell wachsen kann. Und – senkte ebenfalls, doch auch hier 1990 1998 Jan. 1998 Okt. 1998 Überraschung, Überraschung – gab der Aktienmarkt nach. Das zusammenbrechen und brennen Rezept wirkt nicht mehr. kann.“ Ratlosigkeit herrscht in den Regierungs- stellen: freier Handel, freie Märkte, freier „Ganz Washington ist gloom and etagen, und nicht umsonst ging das Treffen Geldfluß. doom“, wunderte sich Rolf Breuer, Chef der Staatslenker in Washington in der Schon einmal hatten die Regierenden in der Deutschen Bank, bei der IWF-Tagung vergangenen Woche ergebnislos aus. 25 diesem Jahrhundert das Weltfinanzsystem in der vergangenen Woche. Bei solch dü- Jahre lang bastelten die Länder unter neu aufgebaut. Nach Depression und Krieg sterer und verlorener Stimmung sei es gut, Führung der Vereinigten Staaten daran, glaubten die Architekten der neuen Welt- etwas Entspannung zu suchen. Auf Einla- den Finanzapparat in ein Laissez-faire-Sy- ordnung, daß die Kapitalmärkte nur mit dung der Bank beruhigte ein schwedisches stem umzubauen. 25 Jahre lang taten sie festen Regeln in den Griff zu bekommen Kammerorchester die Nerven der versam- alles, um die gleichen Bedingungen wie seien. Die Nachteile, langsameres Wachs- melten Finanzelite – mit Haydn und vor der Großen Depression wiederherzu- tum, ökonomische Ineffizienz, wollten Beethoven.

126 der spiegel 42/1998 Werbeseite

Werbeseite Titel Sind Spekulanten Störenfriede? Wie läßt sich die aktuelle Krise bekämpfen? Durch Kapitalverkehrskontrollen? Durch neue Spielregeln für die Spekulanten? Oder werden die freien Finanzmärkte alles von allein regeln? Renommierte Wirtschaftsexperten geben Antwort.

lichen Institutionen, vor allem auf interna- „Überbewertung aus der Welt“ tionaler Ebene, steinhart sind. „Banken unter Staatsaufsicht“ Der IWF begann so mit seiner neuen Milton Friedman, 86, US-Ökonom Tätigkeit zwischen Berater und Finanzin- Akiyoshi Horiuchi, 55, Ökonom und Nobelpreisträger stitution, die kurz- und mittelfristige An- an der Universität Tokio leihen vergibt. Aber anstatt sich bezahlen er amerikanische Aktienmarkt produ- zu lassen, verteilt er kostenlose Ratschlä- apan darf nicht zum Herd eines globa- Dzierte eine Seifenblase, und an einem ge, die er im wesentlichen so formuliert, Jlen Finanzbebens werden. Deshalb muß bestimmten Punkt konnte die Blase nicht daß sie die Hilfsleistungen rechtfertigen, es dringend sein Bankenwesen in Ordnung anders als platzen. Dieser schnelle Nie- die er daraufhin zahlen muß. Brutal ge- bringen. Nur so läßt sich das Vertrauen der dergang der Börsen hat die Überbewer- sagt, bezahlt der Internationale Währungs- Finanzmärkte zurückgewinnen. Unser Un- tung aus der Welt geschafft. Um das je- fonds dafür, daß seine wirtschaftspoliti- terhaus hat bereits ein Gesetz zur Sanie- doch mit Sicherheit zu wissen, werden wir schen Analysen akzeptiert und angewen- rung jener Banken, die unmittelbar vom einige Monate abwarten müssen. det werden. Zusammenbruch bedroht sind, verab- Spekulanten wie George Soros üben Mit der Krise in Mexiko hat er sich wie- schiedet. Nun muß die Regierung auch sol- eine extrem nützliche Funktion aus, sie sta- der umgestellt, indem er sich zum letzten chen Instituten vorsorglich unter die Arme greifen, bei denen die Situation zwar noch nicht extrem gefährlich, aber immerhin ziemlich brisant ist. Japans Finanzministerium und die Ban- ken haben die Lage viel zu lange viel zu optimistisch eingeschätzt. Sie haben das Problem einfach vor sich hergeschoben und gedacht: Wenn sich die Konjunktur nur erst wieder erholt, Aktienkurse und Immobilienpreise steigen, bekommen wir auch die Bankenkrise in den Griff. Zu- dem fürchteten sowohl Bankmanager als auch Finanzbürokraten, für die Krise zur Verantwortung gezogen zu werden. Daher haben sie eine schnelle Lösung verhindert. Doch jetzt ist die Lage der japanischen Banken so ernst, daß selbst bei den stärk- sten Großbanken die Verbindlichkeiten of- fenbar das Eigenkapital übersteigen. Die Frage, wann Japans Bankensystem zusam- menbricht, ist daher bereits überholt: Das ist praktisch schon passiert. Deshalb muß der gesamte Bankensektor vorübergehend

GAMMA / STUDIO X mit öffentlichen Geldern gestützt werden – im Klartext: Er muß unter staatliche Ver- bilisieren die Märkte. Man kann sagen, daß Retter für die verzweifelten Nationen ver- waltung gestellt werden. Anschließend die Analysen der Spekulanten oft untrag- wandelt hat. Es wird gesagt, er habe Mexi- muß er schnellstens saniert und wieder bare Situationen aufzeigen, noch bevor ko oder Südkorea zu einer Haftverscho- privatisiert werden. diese offenbar werden.Wer spekuliert, be- nung verholfen – nichts dergleichen! Er Dieser Prozeß wird mehrere Jahre dau- schränkt sich also nur darauf, die extre- hat vielmehr diejenigen befreit, die jenen ern. Denn die Banken müssen ja nicht nur men Auswirkungen instabiler Wirtschafts- Ländern Darlehen in Fremdwährung ihre faulen Kredite abbauen und mangeln- systeme vorwegzunehmen. gegeben haben. des Eigenkapital aufstocken.Vielmehr müs- Versagt hat der Internationale Wäh- Und ich sehe nicht ein, warum der Steu- sen sie sich modernisieren, um im Zeitalter rungsfonds. Dieser war geschaffen worden, erzahler den Bankern und den anderen, des „Big Bang“ – der von der Regierung um das feste Wechselkurssystem der in die unbedacht Gelder investiert haben, zu geplanten Liberalisierung der Finanzmärk- Bretton Woods paraphierten Abkommen Reichtum verhelfen soll. Heute hat der te – zu bestehen. Gelingt es ihnen nicht, zu schützen. 1978 fielen die Voraussetzun- IWF keinerlei Funktion mehr, er hat viel eine langfristige Strategie zu entwickeln, gen für seine Existenz weg, und bereits da Schaden angerichtet. Deshalb glaube ich, wird Japans Bankensektor verschwinden hätte auch der IWF abgeschafft werden daß jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, ihn und der ausländischen Konkurrenz das Feld müssen.Aber es ist bekannt, daß die staat- abzuschaffen. überlassen.

128 der spiegel 42/1998 abwenden. In bezug auf Japan und Asien über die Umschuldung russischer Aus- plädiere ich für eine keynesianische Ange- landsverbindlichkeiten besser früher als botspolitik in Form von kräftigen Investi- später aufgenommen werden. tionen in die Infrastruktur, zum Beispiel Im übrigen sind – und das gilt nicht nur in den Bildungssektor. für Rußland – einige wichtige Lehren zu Auf diese Weise ließe sich auch verhin- ziehen: Allgemein ist unterschätzt worden, dern, daß die Krise Westeuropa erreicht. wie entscheidend die Schaffung von glaub- Diese Gefahr scheint gering: Eher könnte würdigen Institutionen beim Aufbau einer Westeuropa von Kapitalflucht aus den Kri- Marktwirtschaft ist. Märkte können zum senregionen profitieren. So oder so fällt Beispiel ohne einen angemessenen Rechts- Europa eine wichtige ökonomische Ver- rahmen und einen Staat, der diesen auch antwortung zu: Geht Europa das Problem durchsetzen kann, nicht funktionieren. der Arbeitslosigkeit an, leistet es einen Eine weitere Lehre ist, daß Reformen wichtigen Beitrag zur globalen Stabilität. von der Gesellschaft mitgetragen werden müssen, wenn sie nachhaltig zu Erfolg führen sollen. Das erfordert die Beachtung von Kultur, Geschichte und Tradition eines „Zu viel Zynismus“ Landes. In Rußland wird jetzt die Markt-

AP wirtschaft vielfach mit Armut, Not, Ver- Horst Köhler, 55, Präsident der brechen und Chaos gleichgesetzt. Die rus- Auch im Interesse des übrigen Asien Osteuropabank, London sische Regierung sollte dazu ermutigt wer- muß Japan die Krise schnell bewältigen. den, ihre Reformvorstellungen mit der Dank der IWF-Reformen ist Asien bereits ch kenne keinen Ökonomen, der ein Pa- breiten Öffentlichkeit zu diskutieren. Die auf dem richtigen Weg. Gewiß, in jüngster Itentrezept vorweisen kann. Dafür ist die internationale Gemeinschaft sollte ihrer- Zeit nimmt die Kritik an den orthodoxen Lage in den einzelnen Krisenländern zu seits gesellschaftliche Präferenzen auf dem Liberalisierungsreformen des IWF zu.Aber kompliziert und zu unterschiedlich: Thai- Weg zur Marktwirtschaft dann auch re- ich halte nichts davon, den IWF übermäßig land läßt sich nicht mit Rußland gleichset- spektieren und das Ergebnis solcher Dis- zu beanspruchen. Der IWF sollte an den zen, Indonesien nicht mit Brasilien. kussionen unterstützen. strengen Auflagen gegenüber Entwick- Es muß jetzt darum gehen, die Vertrau- Es ist jedoch auch deutlich geworden, lungsländern festhalten. enskrise zu stoppen – auch in Europa und daß die Länder, die den Reformprozeß am Denn was in Ländern wie Japan, Thai- Amerika hat sich viel zu viel Pessimismus weitesten vorangetrieben haben, der Krise land, Indonesien, Korea, Malaysia, aber und Zynismus breitgemacht. Das wichtig- sehr gut standhalten. Man muß sich vor auch Rußland passiert ist, bestätigt die ste ist: Die Weltwirtschaft darf nicht in eine Verallgemeinerungen hüten – dies ist nicht Richtigkeit der IWF-Strategie: In allen Fäl- Rezession rutschen, und dies müssen vor eine Krise der Marktwirtschaft, sondern len handelte es sich um extrem ungesunde, allem die G7-Staaten verhindern.Wir brau- Ergebnis unaufmerksamer Politik im Osten teilweise politisch korrupte Systeme. Was chen eine konzertierte Aktion, um einen wie im Westen. diesen Ländern fehlt, ist eine strenge Fi- weltweiten „credit crunch“ zu vermeiden. Insgesamt braucht die Weltwirtschaft ei- nanzaufsicht, die im Interesse ausländi- Dies fordert zum einen die Zinspolitik. Ge- nige neue, klarere Leitlinien – aber es wäre scher Investoren über die Einhaltung der nauso wichtig ist aber eine Beschleunigung fatal, jetzt alle bisherigen Grundsätze über Marktregeln wacht. Gleichzeitig muß der der nötigen Strukturreformen – in Europa Bord zu werfen. Natürlich müssen derarti- IWF aber mehr als bisher lokale Eigenhei- vor allem bei den Steuern und auf dem ge Schwankungen, wie wir sie jetzt auf den ten der jeweiligen Länder respektieren. Arbeitsmarkt. Finanzmärkten er- Dagegen halte ich nichts von Kapital- Eine besonders große Verantwortung leben, eingedämmt verkehrskontrollen, wie sie Malaysia ein- trägt Japan. Solange es nicht aus der Re- werden. Es ist eine geführt hat. Das Land braucht langfristige zession herauskommt, wird es keine nach- intensive Debatte Kapitalinvestitionen. Doch wenn es aus- haltige Überwindung der Wachstumskrise über die Rolle der ländischen Investoren verbietet, ihr Kapi- in Asien geben. Es ist darüber hinaus be- Finanzmärkte und tal gegebenenfalls auch kurzfristig abzu- merkenswert und richtig, daß der Interna- ihrer Institutionen ziehen, wird es auch kein langfristiges Ka- tionale Währungsfonds und insbesondere vonnöten. Die Bei- pital anlocken. Im übrigen glaube ich nicht, die USA sich intensive Gedanken machen, nahe-Pleite des ame- daß sich Kapitalströme der Praxis wirk- wie die Krisenausdehnung in Lateiname- rikanischen Speku- sam kontrollieren lassen. rika eingedämmt werden kann. Darüber lationsfonds LTCM Die Furcht vor einer Weltwirtschaftskri- sollte aber die Krise in Rußland nicht ver- hat dies nur noch- se darf uns nicht dazu verleiten, das Heil in gessen werden. Rußland ist zu bedeutend, mals bestätigt. neuen Reglementierungen zu suchen. So als daß man es allein lassen kann – das Dennoch darf wird in Europa derzeit mit dem Gedanken Risiko für die ganze Welt wäre zu groß. nicht vergessen wer-

gespielt, feste Bandbreiten für Wechsel- Falsch wäre es allerdings, der Moskauer M. DARCHINGER den, daß die Frei- kurse einzuführen. Davon halte ich nichts. Regierung bloß einen Wunschzettel aller heit des Kapital- Nehmen wir an, es würden feste Band- denkbaren Reformen zu präsentieren und verkehrs viel zur Entwicklung der auf- breiten für Yen, Dollar und Euro einge- dann zu sagen: „Let’s wait and see!“ Statt strebenden Schwellen- und Entwicklungs- führt. Dann müßten diese drei Wirt- dessen sollte der Westen mit praxisorien- länder beigetragen hat – und dafür auch in schaftszonen aber auch ihre makroökono- tierten Konzepten und Beratern der Regie- Zukunft sorgen kann. Deshalb sollten die mische Politik aufeinander abstimmen. rung helfen, Wege aus der Krise zu finden. nötigen Reformdiskussionen und -ent- Daß das kaum funktionieren würde, lehrt Abhängig von glaubwürdigen Entscheidun- scheidungen das Kind nicht mit dem Bade uns die Asienkrise: Die Asiaten sind mit gen der russischen Regierung sollte dazu ausschütten. Gefährlich sind Schnellschüs- dem Versuch gescheitert, ihre Währungen auch weitere finanzielle Hilfe gehören. Ich se. Sie könnten nach hinten losgehen und an den Dollar zu koppeln. halte es etwa für ganz wichtig, daß die Han- zu neuem Protektionismus und Überregu- Vielmehr sollten wir die Gefahr einer delsfinanzierung in Rußland nicht zusam- lierung führen.Auch diese Fehler von 1929 Weltwirtschaftskrise makroökonomisch menbricht. Auch sollten Verhandlungen dürfen sich nicht wiederholen.

der spiegel 42/1998 129 auszuschließen. Es herrscht keine Inflation, deshalb hat die US-Zentralbank beide „Marshallplan für Asien“ Hände frei. Außerdem gibt es einen Haus- Norbert Walter, 54, Chefökonom haltsüberschuß, große Steuerkürzungen sind somit ohne weiteres machbar. der Deutschen Bank Der Optimismus ist allerdings gedämpft: icht nur Japan, sondern auch weniger Der US-Präsident wehrt sich aus wahltak- Nmarktorientierte Volkswirtschaften tischen Gründen standhaft gegen Steuer- der Region, aber auch Länder in Transfor- kürzungen. Deshalb könnte es ihm schwer- mation und Entwicklung sind von der Kri- fallen, schnell genug zu reagieren. Immer- se angesteckt worden. Diese Länder, lan- hin geht Lateinamerika gerade im großen ge bevorzugter Platz für die Anlage von Stile unter, mit unerfreulichen Auswirkun- Ersparnissen aus der „Alten Welt“, die gen für Handel und Wachstum in den USA. hohe Renditen suchten, sind nun von Ka- Natürlich gibt es auch in Europa einige pitalflucht betroffen. Die Risikoprämien Fragezeichen, und sie werden größer. Eine für Kredite und die Kosten der Bedienung Senkung der Zinssätze ist dringend erfor- von Fremdwährungsanleihen sind dra- derlich. Die Bundesbank kämpft immer stisch gestiegen und überfordern oft die noch den letzten Krieg gegen die Inflation. Leistungsfähigkeit dieser Länder, zumal Durch die Provokationen Oskar Lafon-

jetzt, da sie angeschlagen sind. SCHICKE + M. JÜSCHKE J. taines wird Tietmeyer nur noch sturer – zu Die internationalen Organisationen, die Recht. Die neue Europäische Zentralbank als Feuerwehr konzipiert sind, haben zu gionen ihre internen Reformen zügig vor- wird ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis viele Brände gleichzeitig zu bekämpfen. anbringen: ihre Märkte öffnen, ihre Struk- stellen wollen, und das bedeutet eine Sie sind überfordert, und ihnen ist das turen transparent machen, die Vettern- knappe statt einer großzügigen Geldver- Löschwasser ausgegangen. Insbesondere wirtschaft überwinden und eine ausländi- sorgung. der US-Kongreß steht der Wiederauffül- sche Teilnahme am Wirtschaftsprozeß nicht Auf steuerpolitischer Seite wird man die lung der Tanks, sprich: der erneuten Aus- diskriminieren. Nur dann könnte ein Mar- hart erkämpfte Konsolidierung nicht ein- stattung mit neuen Mitteln, skeptisch ge- shallplan für Asien zustande kommen: eine fach durch Steuerkürzungen gefährden, um genüber, will man doch nicht das Fehlver- weitgehend privat organisierte und mit Ei- das Wachstum zu beleben. Tatsächlich führt halten der betroffenen Länder und westli- genkapital finanzierte Infrastrukturoffen- der Euro dazu, daß Europa viel weniger am cher, privater Investoren in diesen Ländern sive für die Region. Solche Investitionen Weltgeschehen teilnimmt und sich viel weiter ermuntern. versprächen Renditen, die in den alternden mehr auf die Entwicklungen innerhalb sei- Im Zuge der Krise sind freilich nicht nur Volkswirtschaften des Westens, aber auch ner Grenzen konzentriert. das Eigenkapital der Finanzinstitute und in Japan nicht mehr zu erzielen sind. In Zeiten einer labilen Weltwirtschaft die Währungsreserven der Entwicklungs- Da solche strukturellen Reformen aber könnte das die falsche Perspektive sein. länder geschrumpft oder gar aufgezehrt Zeit zur Planung brauchen und nur schritt- Wie man auf eine schwere globale Krise worden, auch die Finanzinstitute Japans weise umzusetzen sind, sollte in der Zwi- reagieren sollte, gehört gewiß zu den ober- und eine Reihe exponierter westlicher Fi- schenzeit die Makropolitik der westlichen sten Tagesordnungspunkten für die Ge- nanzinstitute haben beträchtlichen Aderlaß Länder nicht restriktiv sein. Zwar können stalter der europäischen Politik. So ver- zu verkraften. Dies hat die Sorge vor sy- in den USA sowohl Fiskal- als auch Geld- lockend dies auch sein mag: Europa ist als stematischen Risiken verstärkt und den politik expansiv gestaltet werden, in Euro- Trittbrettfahrer zu groß. „lender of last resort“, die US-Notenbank, pa ist jedoch wegen der Laxheit der ver- Wir müssen trotz der Krise die Stärke alarmiert und zur Koordination von Hilfs- gangenen Jahrzehnte die Finanzpolitik besitzen, schlechte Ideen zu vermeiden. maßnahmen für den Hedgefonds LTCM nicht mehr expansiv einsetzbar. Ein System von Kapitalkontrollen ist ebenso veranlaßt wie zur Senkung der US- Formal steht einer solchen Politik nun falsch. Die Probleme in den aufstrebenden Geldmarktzinsen. auch der Europäische Stabilitätspakt im Märkten kommen nicht von der Mobilität Die exzessive Abwertung einiger asiati- Wege. Die Geldpolitik indes dürfte Spiel- des Kapitals, sondern von der Kurzfristig- scher Währungen und die extrem hohen raum für Lockerung haben: die Zinsstruk- keit der Investitionen. Bessere Bankenauf- Risikozuschläge für fast alle Entwick- turkurve in Europa ist flach, die Realzinsen sichten und eine solidere Kreditaufnahme lungsländer sind nicht durchhaltbar. Sie sind hoch. Somit wird eine Senkung der sind die richtige Antwort. würden in vielen Entwicklungsländern zur Geldmarktzinsen unbedenklich sein und Die andere schlechte Idee ist eine Rück- Unbezahlbarkeit der Schulden führen und den glaubwürdigen Start des Euro als sta- kehr zu festen Wechselkursen. Frankreich zu fortgesetzter wirtschaftlicher Schwind- bile Weltwährung nicht gefährden. befürwortet die Idee sucht.Wenn 40 Prozent der Weltwirtschaft eines reformierten in Rezession sind und bleiben, dann hat Währungssystems, dies beträchtliche Dämpfungseffekte für so auch Lafontaine die USA und Westeuropa; ein Wirtschafts- „Lateinamerika geht unter“ in Deutschland – abschwung ist dann unvermeidbar. vergessen Sie es! Wir Der Umfang der faulen Kredite Japans Rudiger Dornbusch, 56, Ökonom brauchen flexible erfordert Jahre der Aufarbeitung unter am MIT, Cambridge, USA Wechselkurse, weil günstigen internationalen Umständen, es ausgeschlossen ist, sprich: einen vergleichsweise schwachen ie Risiken einer weltweiten Rezession daß eine weltweite Yen (140 Yen zum US-Dollar) und einen Dund deflationärer Tendenzen sind Geldpolitik funktio- fortgesetzt hohen japanischen Leistungs- groß. Asien, Rußland und Lateinamerika nieren kann. Das bilanzüberschuß vor allem gegenüber den werden keine Kredite mehr erhalten, das internationale Wäh- USA und Europa. Wachstum wird zum Erliegen kommen. rungssystem ist un- Solche günstigen Übergangsbedingun- Das wird die USA hart treffen. Doch es vollkommen, aber gen werden indes nur akzeptabel sein, stehen die Mittel der Währungspolitik zur besser als alles, was

wenn Japan und die asiatischen Krisenre- Verfügung, um einen finanziellen GAU REUTERS wir vorher hatten.

130 der spiegel 42/1998 Werbeseite

Werbeseite M. DARCHINGER A. SCHOELZEL Wirtschaftsfachleute Flassbeck, Lafontaine (mit Ehefrau Christa Müller): „Bis Ende nächsten Jahres wollen wir einen Vorstoß machen“

SPIEGEL-GESPRÄCH „Eins auf die Nuß“ Heiner Flassbeck, der ökonomische Berater von SPD-Chef Oskar Lafontaine und Konjunkturexperte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, über Spekulanten, die drohende Weltwirtschaftskrise und das Währungssystem der Zukunft

SPIEGEL: Herr Flassbeck, im Mai 1997 wur- Insel der Seligen. Die gefährliche Drehung Flassbeck: In Deutschland schrammen wir de erstmals gegen die thailändische Wäh- der Spirale kommt dann, wenn Europa schon jetzt so gerade an einer Deflation vor- rung spekuliert. Haben Sie da geahnt, daß nicht akzeptiert, daß es ganz schnell von bei, die Preise sinken seit Monaten.Wir dür- sich daraus eine globale Finanzkrise ent- den hohen Überschüssen runter muß. fen jetzt nicht versuchen, den Gürtel noch wickelt? Schlimmer noch: Wenn die Europäer jetzt enger zu schnallen, sondern müssen die Bin- Flassbeck: Das hat niemand geahnt, ehe der versuchen, diese Überschüsse über einen nennachfrage in ganz Europa stimulieren. zweite oder dritte Dominostein gefallen war. neuen Standortwettbewerb zu halten oder SPIEGEL: Börsenguru André Kostolany wirft Aber im Grunde haben die Länder alle den gar noch zu erhöhen, werden die anderen der Bundesbank schon eine „Deflations- gleichen Fehler gemacht: Aus Prestigegrün- Länder noch stärker an die Wand gedrückt. politik wie unter Brüning“, dem damaligen den haben sie zu lange an einem falschen, zu SPIEGEL: Steht uns, ähnlich wie nach dem deutschen Reichskanzler, vor. hohen Wechselkurs festgehalten. Das halten Börsencrash von 1929, nun auch eine De- Flassbeck: Das ist etwas übertrieben. Aber sie zwei, drei Jahre durch, dann kracht es. flation bevor? in der Tat: Die kurzfristigen Zinsen, die SPIEGEL: Droht nun eine Weltwirtschafts- krise? Flassbeck: Wenn wir weiter über Thera- Heiner Flassbeck ministeriums. Derzeit leitet er die Kon- pien reden, die keine sind, dann ja. Viele berät seit einigen Jahren SPD-Chef Oskar junkturabteilung des Deutschen Instituts Ökonomen sagen, die Russen oder die Ti- Lafontaine und gilt als möglicher Staats- für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. ger in Asien müßten erst mal ihre struktu- sekretär im Bonner Finanzministe- rellen Probleme lösen. Doch auch Länder rium – zuständig dann für interna- ohne Strukturprobleme erleiden Wäh- tionale Währungsfragen. Die Vor- rungskrisen. Bestes Beispiel: der Absturz aussetzung: Lafontaine wird, wie des britischen Pfund vor sechs Jahren. erwartet, Finanzminister und nicht SPIEGEL: Gibt es derzeit Parallelen zur Fraktionschef. Flassbeck, 47, liegt Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre? mit seinen Aussagen meist quer Flassbeck: Auch damals gab es Abwer- zum „Mainstream“ der Ökono- tungswettläufe. Jeder versuchte zu expor- men. Seine Karriere begann er als tieren, keiner wollte importieren. Europa Mitarbeiter des Sachverständigen- fühlt sich mit seinen hohen Leistungsbi- rats, später arbeitete er unter dem lanzüberschüssen noch immer auf einer heutigen Bundesbankpräsidenten

Hans Tietmeyer in der Grundsatz- M. DARCHINGER * Im Bonner SPIEGEL-Büro; das Gespräch führten die abteilung des Bonner Wirtschafts- Flassbeck (M.), SPIEGEL-Redakteure* Redakteure Armin Mahler und Ulrich Schäfer.

132 der spiegel 42/1998 Titel von der Bundesbank bestimmt werden, sind inzwischen fast so hoch wie die lang- fristigen Zinsen, die sich an den Kapital- märkten bilden. Das ist ein Alarmzeichen ohnegleichen. Und darauf muß die Geld- politik reagieren, ansonsten schichten An- leger und Firmen ihr Geld in kurzfristige, spekulative Anlagen um, anstatt durch langfristige Investments Jobs zu schaffen. Die kurzfristigen Zinsen müssen deshalb um ein Prozent runter, und zwar schnell. SPIEGEL: Das Beispiel Japan zeigt, daß eine Zinssenkung nichts bringt. Trotz Zinsen nahe Null herrscht Rezession. Flassbeck: Vielleicht hat Japan dadurch zu- mindest den ganz großen Kollaps verhin- dert. Kein vernünftiger Ökonom – und erst recht kein Keynesianer wie ich – hat je be- hauptet, daß man mit einer Zinssenkung die Wirtschaft auf jeden Fall in einen Boom bringt. Aber man muß es ausprobieren. SPIEGEL: Nach dem Crash von 1987 hat die Notenbank auch die Zinsen gesenkt – zu früh, zu schnell, zu stark, so daß an- schließend wieder die Inflation ausbrach. Flassbeck: Dann möge man sich doch bit- te mal die Wirtschaftsgeschichte etwas ge- nauer ansehen. 1987 bis 1989 war die ein- zige Phase in den letzten 20 Jahren, wäh- rend der in der ganzen Welt inklusive Deutschland die Investitionen massiv stie-

„Wenn das Haus brennt, muß man die Feuerwehr holen“ gen und die Arbeitslosigkeit zurückging. Natürlich müssen wir immer darauf achten, daß die Preise nicht zu stark steigen, aber man kann doch nicht deswegen fünf Jahre, bevor möglicherweise eine Inflation droht, die Investitionen zurückdrängen, also aus Angst vor dem Tode Selbstmord begehen. SPIEGEL: Aber Deutschland hat doch kaum Spielraum. Bis zum Beginn der Europäi- schen Währungsunion müssen die anderen Euroländer ihre Zinsen erst mal an das niedrigere deutsche Niveau angleichen. Flassbeck: Deutschland bringt als Anker- land beides in die Währungsunion ein: sei- ne niedrigen Zinsen und die deflationären Tendenzen. Wenn die Bundesbank jetzt die Zinsen senkt, müssen die anderen Mit- glieder im Euroland das eben auch tun. SPIEGEL: Eine weltweite Zinssenkung brächte also den großen Befreiungsschlag? Flassbeck: Angesichts der weltweiten Di- mension der Krise ist eine Zinssenkung schon aus dem Eigeninteresse jeder Re- gion heraus richtig. Es ist das mindeste, um die Ertragserwartungen der Unternehmen nicht noch weiter zu verschlechtern. SPIEGEL: Haben Sie denn die Hoffnung, daß Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer für diese Argumente zugänglich ist? Flassbeck: Ich kann nur Überzeugungs- arbeit leisten. SPIEGEL: Und wenn die nichts nützt?

der spiegel 42/1998 Titel

Flassbeck: Dann werden wir wahrschein- wettläufe. Nur Unternehmen können an- se Zielzonen festlegen und das System lich durch die Wirklichkeit eines Besseren dere Unternehmen vom Markt verdrän- mehr oder weniger gut lenken. belehrt. gen, aber Volkswirtschaften nicht ganze SPIEGEL: Wie sieht das im Detail aus? SPIEGEL: Das weitere Schicksal der Welt- Nationen. Flassbeck: Das ist eine Herkulesarbeit – wirtschaft hängt auch davon ab, was in den SPIEGEL: Der US-Ökonom Jeffrey Sachs und es wird sicher Jahre dauern, alles zu Krisenländern selber passiert. Derzeit sieht nun, wie viele seiner neoliberalen klären. Aber das Grundprinzip sollte sein, kracht es gerade in Brasilien. Kollegen, flexible Wechselkurse als All- daß es drei große Blöcke gibt: Euro, Dollar Flassbeck: Hoffentlich haben die Brasilia- heilmittel. und Yen. Kleine Länder suchen sich eine ner aus den Fehlern der anderen Krisen- Flassbeck: Es ist erstaunlich naiv, was Sachs Leitwährung, an die sie sich ankoppeln. länder gelernt und werten nicht so chao- dazu vorige Woche im SPIEGEL-Gespräch Innerhalb dieser Blöcke muß dann – und tisch ab. Es bringts nichts, ein Überschießen gesagt hat. Alle Erfahrungen zeigen, daß das ist das Zentrale – dafür gesorgt werden, des Wechselkurses in die eine Richtung dies nicht funktioniert. Die Idee in den daß geordnet ab- und aufgewertet wird. durch ein massives Herunterschieben in Lehrbüchern war doch, daß flexible Kur- Wenn die drei Blöcke alle eine ähnlich die andere Richtung kompensieren zu wol- se unterschiedliche Preisentwicklungen in niedrige Inflationsrate haben – und nichts len. In Rußland ist der Rubel- kurs um 50, 60 Prozent gefallen, das ist doch absurd. SPIEGEL: Hat denn der Interna- tionale Währungsfonds (IWF) den Russen überhaupt die rich- tige Medizin verordnet? Flassbeck: Es ist unbegreiflich, was der IWF dort getan hat. Die Zinsen waren drei Jahre lang extrem hoch, der Rubel wurde aufgewertet, die Regierung fuhr eine restriktive Fiskalpolitik. Keine Volkswirtschaft der Welt hätte das durchhalten können. SPIEGEL: Der IWF wird auch ge- prügelt, weil er zu schnell zu große Kreditpakete geschnürt hat. Zu Recht? Flassbeck: Nein.Wenn das Haus brennt, muß man die Feuer- wehr holen. SPIEGEL: Vom teuren Feuerwehr- einsatz des IWF profitieren in- direkt auch Spekulanten, die ihr Geld in den Ländern anlegen. Flassbeck: Das ist natürlich pro- blematisch. Aber wenn die De- visenbörsen derart stark über- treiben, dann muß manchmal

auch die Feuerwehr eingreifen. DPA Durch völlig absurde Abwer- Weltwirtschaftskrise 1929: „Jeder versucht zu exportieren, keiner will importieren“ tungen werden sonst innerhalb von wenigen Tagen Strukturen zerschla- den Ländern ausgleichen. Was dabei ver- spricht eigentlich dagegen –, dürfen natür- gen, die in Jahrzehnten aufgebaut wurden. gessen wird: Zum höheren Preisniveau lich auch die Kurse von Dollar, Euro und SPIEGEL: Wie sieht Ihre Lösung für die glo- gehören auch höhere Zinsen – und die sor- Yen nicht so irre schwanken wie bisher. bale Währungskrise denn aus? gen dafür, daß ständig neues Kapital in SPIEGEL: Nötig ist auch eine ähnliche Kon- Flassbeck: Wir brauchen einen Mechanis- das Land mit den höheren Zinsen fließt. junkturentwicklung in den Blöcken. mus, durch den die Wechselkurse über eine Kurzfristige Anleger interessiert bloß die- Flassbeck: Gewiß, das ist ein Ausgangspro- vernünftige Frist stabil gehalten werden ser höhere Zinssatz, die höhere Infla- blem, weil die US-Wirtschaft fast schon tionsrate stört sie nicht, denn sie wollen überhitzt, während die Japaner tief in der „Soros zeigt jedem Land, dort keine Waren kaufen. Durch den Ka- Rezession stecken. Deshalb sollten die Kur- was es in der pitalzufluß wird die Währung aber ständig se nicht starr fixiert werden, sondern in ei- aufgewertet, sie überschießt nach oben – ner Bandbreite von 10 bis 15 Prozent Wirtschaftspolitik falsch macht“ und zwar unabhängig vom Wechselkurs- schwanken dürfen – aber mehr nicht. Dar- system. Egal, wie das System ausgestal- an können sich Unternehmen ausrichten. und nicht zu stark nach oben und unten tet ist, es endet grundsätzlich in einer Wichtig ist, daß der Dollar nicht, wie in schwanken. Währungskrise. den achtziger Jahren, erst auf 3,40 Mark SPIEGEL: Das klingt nach Planwirtschaft. SPIEGEL: Sie halten also beides für falsch: steigt und zwei Jahre später auf 1,80 Mark Flassbeck: Nein, ich bin ein glühender feste Wechselkurse, aber auch flexible? kracht. Anhänger des Freihandels. Aber Freihan- Flassbeck: Ja, nötig ist ein dritter Weg. Wir SPIEGEL: Schwebt Ihnen eine Konferenz vor del muß heißen, daß alle gewinnen und brauchen eine geordnete, gelenkte Flexi- wie 1944 in Bretton Woods, auf der das sich nicht einer zu Lasten der anderen bilität – ein System stabiler Wechselkurse, Währungssystem für die Zeit nach dem Vorteile verschafft. Deswegen muß als die sich in bestimmten Zielzonen bewe- Krieg entworfen wurde – mit einem Ver- oberste Regel gelten: keine Abwertungs- gen. Internationale Gremien könnten die- trag, den alle unterzeichnen?

134 der spiegel 42/1998 Flassbeck: Es geht darum, einvernehmliche nicht gewinnnen, gerade deshalb müssen solange die Staaten nicht intelligente Ge- Lösungen zu finden. Bretton Woods hatte sie ihre Währungen auf Dauer an die genmaßnahmen ergreifen. ja eine gute Regel: Die Länder mußten ihre großen Blöcke andocken. Das darf aber SPIEGEL: Falls die Kurse doch aus dem Ru- Kurse anpassen, wenn es außenwirtschaft- nur nach klar definierten Regeln erfolgen. der laufen, müßten die Zentralbanken mit liche Ungleichgewichte gab. Das kann man SPIEGEL: Und dann können Soros und gigantischen Summen intervenieren. Ver- heute intelligenter machen, wenn man die die Hedge-Fonds kein Unheil mehr an- pulvern sie da nicht nur ihre Reserven? Wettbewerbsposition eines jeden Landes, richten? Flassbeck: Wenn auch die Zentralbank der also den realen Wechselkurs, konstant hält. Flassbeck: Ja, weil man Korsettstangen Ankerwährung eingreift, etwa die Eu- SPIEGEL: Sie wollen die Anpassungen von eingezogen hat, an denen sie sich aus- ropäische Zentralbank (EZB), werden die technischen Kriterien abhängig machen? zurichten haben. Das ist viel besser, als Spekulanten eins auf die Nuß bekommen Flassbeck: Als Indikator könnte die Diffe- jetzt virtuos mit Devisenmarktinterven- und es nicht so schnell wieder versuchen. renz der Inflationsraten oder der Lohn- tionen oder gar Kapitalverkehrskontrollen Die EZB hat mehr Euro als jeder Spekulant stückkosten dienen. Es wäre gefährlich, das zu spielen. Gerade in der globalisierten der Welt, schließlich druckt sie das Geld einzelnen Regierungen zu überlassen. Wir Welt brauchen wir supranationale Insti- selber. Sie muß es nur für ein paar Tage auf den Markt werfen und dann, wenn die Attacke vorbei ist, wieder herausziehen. Aber entscheidend ist, daß das gan- ze System glaubwürdig kon- struiert ist. Dann wird der Markt das mitmachen und ein- fach daran glauben, daß dieser multilaterale Komplex das auch durchsetzen wird. SPIEGEL: Die herrschende Leh- re ist das nicht. Sind Sie nicht in der Minderheit? Flassbeck: Nein. Es ist irre, wie viele Kollegen durch die Er- fahrungen mit flexiblen Kur- sen desillusioniert wurden. SPIEGEL: Aber Ihr System wird ja erst in fünf oder zehn Jahren kommen. Das hilft doch nicht gegen die derzeitige Krise. Flassbeck: Das wollen wir schneller machen. Bis Ende nächsten Jahres wollen wir ei- nen ersten Vorstoß machen. Natürlich kann man es bis da- hin nicht voll aufbauen, aber es ließen sich prophylaktische Notmaßnahmen treffen. Es gibt weltweit eine Bewegung

REUTERS dahin und eine deutsche Re- Demonstranten in Moskau: „Keine Volkswirtschaft der Welt hätte das durchgehalten“ gierung, die sich daran beteili- gen wird. brauchen einen stringenten Kontrollme- tutionen, die ein solches Frühwarnsystem SPIEGEL: Und bis dahin verhindern wir mit chanismus. Diese Indikatoren müßten alle aufbauen. Kapitalverkehrskontrollen, die seit kurzem ein, zwei Jahre überprüft werden. Wenn SPIEGEL: Die Staaten müssen aber einen en vogue sind, das Schlimmste? der Kurs massiv abweicht, muß das Kon- Teil ihrer Souveränität abgeben. Flassbeck: Das ist jetzt wieder die Feuer- trollgremium sagen: Du, Land, so geht es Flassbeck: So ist es. Sie müssen sich an wehr, die verhindert, daß spekulatives Geld nicht weiter; du bist jetzt im Vorfeld einer die vorher vereinbarten Spielregeln hal- in bestimmte Länder strömt oder von dort Krise, und wir wollen diese Krise nicht, ten, sonst funktioniert das nicht. Diese abfließt. Ich bin prinzipiell kein Freund da- sondern das vernünftig regeln. Abhängigkeit vom Rest der Welt gibt es von. Die Kontrolle ist einfach zu schwierig. SPIEGEL: Und wenn das Land sich sträubt, aber schon jetzt – und zwar völlig unab- Es ist besser, dem Markt eine Orientierung kommt ein Spekulant wie George Soros, hängig vom Währungssystem. Sie ist zu geben und ihn dann laufenzulassen. der 1992 das Pfund aus dem Europäischen schlicht eine Folge des Freihandels. Weil SPIEGEL: Das Zeitalter der Globalisierung Währungssystem herauskatapuliert hat, wir offene Grenzen für Güter und Kapi- ist also nicht vorbei, ehe es begonnen hat? und sprengt den Laden in die Luft. tal haben, sind die Staaten nicht mehr sou- Flassbeck: Die Globalisierung schreitet seit Flassbeck: Diese Gefahr besteht – aber nur verän. Und deshalb ist es besser, die Sou- vielen hundert Jahren voran. Sie ist nicht dann, wenn man das System dauernd veränität an eine internationale Institu- neu, auch keine Bedrohung. Hätten wir uns falsch steuert. Genau das will ich durch die tion abzugeben … nicht in den letzten Jahren von diesem Glo- eingebaute Flexibilität verhindern. SPIEGEL: … als an Herrn Soros. balisierungswahn, vom Irrsinn des Stand- SPIEGEL: Auf den Finanzmärkten gibt es Flassbeck: Das ist der Punkt. Denn Soros ortwettbewerbs, anstecken lassen, würde aber inzwischen viele Spieler, gegen die zeigt schon jetzt jedem Land, was es in der es uns viel besser gehen – und die Regie- eine Zentralbank relativ klein wirkt. Wirtschaftspolitik falsch macht. Den Spe- rung Kohl wäre wohl noch im Amt. Flassbeck: Natürlich können Ungarn oder kulanten mache ich überhaupt keinen Vor- SPIEGEL: Herr Flassbeck, wir danken Ihnen Tschechien gegen die weltweiten Fonds wurf, die nutzen diese Situation nur aus, für dieses Gespräch.

der spiegel 42/1998 135 Wirtschaft

ARBEITGEBER Bussi von den Bossen Die harten Worte aus dem Wahlkampf sind nicht mehr gefragt. Die Vertreter der Arbeitgeber arrangieren sich mit den neuen Regenten.

ür ein paar Stunden war es, als hätte Präsident des Deutschen Industrie- und Han- die rot-grüne Ära nie begonnen. Der delstages (DIHT), Riester als „kreativen, FNoch-Bundeskanzler Helmut Kohl intelligenten und kompetenten Mann, der hielt eine etwas zu ausführliche Laudatio, weniger dogmatisch ist als Norbert Blüm“. der Noch-Arbeitsminister Norbert Blüm Vergangene Woche verständigte sich die machte Witzchen über die Sicherheit der Führungsspitze der Bundesvereinigung der Rente, Noch-Generalsekretär Peter Hintze Deutschen Arbeitgeberverbände auf eine grinste wie eh und je. neue Konsenslinie: An einem Bündnis für Fast die gesamte Führungscrew der bis- Arbeit der künftigen Bundesregierung wer- herigen Koalitionsparteien und des Kabi- de man teilnehmen – auch wenn der neue netts war versammelt, als Arbeitgeberprä- Kanzler die Rücknahme der Reformen bei

sident Dieter Hundt am Donnerstag ver- Kündigungsschutz, Lohnfortzahlung und IMO gangener Woche mit über hundert Gästen Rente verordne. SPD-Trio Hombach, Lafontaine, Schröder seinen 60. Geburtstag feierte.Während die Es komme darauf an, die reformfreudi- Lob vom Arbeitgeberpräsidenten Wahlsieger ein paar Straßen weiter in den ge Riege in der SPD zu stützen, heißt es Koalitionsverhandlungen um die Macht nun in den Verbänden. Zwei Szenarien Trittins wirtschaften das Land nach unten. feilschten, tafelte die Spitze der deutschen kann sich etwa Hans-Olaf Henkel, Präsi- Dann erleben wir anschließend eine Radi- Wirtschaft mit dem Ancien régime. dent des Bundesverbandes der Deutschen kalkur wie in England unter Margaret Grüne Politiker waren nicht erschienen, Industrie (BDI) vorstellen: „Entweder brin- Thatcher.“ von der SPD gaben sich nur der Wirt- gen Schröder und Hombach die Koalition Noch im Wahlkampf lagen zwischen schaftsexperte Ernst Schwanhold und der auf ihre Linie, oder die Lafontaines und SPD und Wirtschaftslobby Welten. Zwar künftige Arbeitsminister Wal- läßt sich Wahlsieger Gerhard ter Riester die Ehre. Jubilar Schröder gern als „Genosse der Hundt rückte mit Riester spät- Bosse“ feiern, doch verbunden abends noch einmal vor einer fühlt er sich allein den Unter- Journalistenrunde demonstra- nehmern, die Verbandschefs tiv zusammen. sind für ihn nur „bezahlte Es war nicht das einzige Zei- Funktionäre“. Parteichef Oskar chen, daß gegensätzliche Stand- Lafontaine lästerte gar über das punkte in der Wirtschaft derzeit „Trio Asoziale“. mit versöhnlichen Worten und Die Verbandsoberen waren Gesten überbrückt werden. ihrerseits auch nie zimperlich Unternehmensführer,Verbands- im Umgang mit Rot und Grün. präsidenten und Sozialpolitiker Mal warnte Stihl vor einem arrangieren sich. Rückfall Deutschlands in ein Dem Gewerkschafter Riester, „vorindustrielles Zeitalter“, den er seit vielen Jahren aus mal tönte Henkel, die Grünen dem Tarifgeschäft kennt, müsse würden das Land zu einem er manchmal „laut widerspre- Agrarstaat machen, wie ihn der chen“, obwohl er „innerlich zu- amerikanische Minister Henry stimme“, gestand Hundt. Gut Morgenthau nach dem Zweiten gefalle ihm auch der designier- Weltkrieg für Deutschland an- te Kanzleramtschef Bodo Hom- steuerte. bach, der im SPIEGEL Leitli- Noch am Wahlabend warnte nien für eine neue SPD-Wirt- ein dauerempörter Henkel vor schaftspolitik skizziert hatte: einer rot-grünen Allianz. Ein „Der hat wahrscheinlich bei uns paar Stunden später ließ er es abgeschrieben.“ sich dennoch nicht nehmen, Der Machtwechsel hat die Schröder persönlich zu gratu- Bosse kalt erwischt, Rot-Grün lieren („Ich bin immer da, wo war nicht ihre Wahl. Manchmal der Sieger ist.“). Er habe den unbeholfen, manchmal mit pein- SPD-Mann jedoch nicht um- lichem Übereifer begrüßen die armt, schob Henkel vorige Wo- Wirtschaftslenker die neuen Re- che schnell hinterher, sondern genten. Mal bietet Hundt eine ihm nur die Hand geschüttelt.

„neue Kultur der Partnerschaft“ DPA „Es wird auf beiden Seiten an, mal lobt Hans Peter Stihl, Unternehmervertreter Stihl, Hundt, Henkel: Auf Konsenslinie Frustrationen geben“, glaubt

136 der spiegel 42/1998 Werbeseite

Werbeseite Wirtschaft

BDI-Geschäftsführer Ludolf von Warten- berg, der auch in den Kohl-Jahren die Kon- takte zur Bonner Opposition pflegte und etliche SPD-Politiker noch aus seiner Zeit „Viele fürchten Glasnost“ im Bundestag kennt. Den Regierungs- wechsel empfinde er auch als eine „große Gesamtmetall-Präsident Werner Stumpfe über seine Pläne Chance“. Die SPD sei eine Partei, „die auf für eine neue Tarifpolitik gewachsene Strukturen setzt“. Tatsächlich wertet ein neues Bündnis für SPIEGEL: Sie haben für eine neue Tarif- schritt nicht für Lohnerhöhungen ver- Arbeit zunächst mal alle Beteiligten auf. runde einen Verteilungsspielraum von braucht wird. Unsere Erfahrungen be- Wer in der Kanzlerrunde sitzt, braucht sich vier Prozent genannt. Die IG Metall weisen, daß dieses Prinzip im Positiven um öffentliches Interesse nicht zu sorgen. fordert aber ein Gesamtvolumen von wie im Negativen funktioniert. Schwierige Forderungen lassen sich dort bis zu 6,5 Prozent. Kommt dann das SPIEGEL: Warum schaffen Sie nicht Ver- womöglich leichter durchsetzen. Ende der Bescheidenheit? bindlichkeit auf Betriebsebene? Lohn- Den Gewerkschaften käme es zum Bei- Stumpfe: Mich irritiert, daß sich alles verzicht gegen neue Arbeitsplätze. spiel gelegen,Arbeitgeber und Staat in den auf der Welt ändert, nur die IG Metall Werden die festgelegten Ziele nicht er- Kanzlerrunden als Verbündete für den Ab- will ihre Rituale und eine Forderung reicht, gibt es einen Nachschlag. bau von Überstunden zu gewinnen. Solche aus Inflationsausgleich plus Produkti- Stumpfe: Verbindlichkeit kann nur auf Absprachen sind schließlich unpopulär, vitätsfortschritt plus Umverteilungs- der betrieblichen Ebene hergestellt denn sie bedeuten für viele Beschäftigte komponente beibehalten. Im- reale Einkommensverluste. mer noch schreiben rund 20 IG-Metall-Vorsitzender Klaus Zwickel Prozent unserer Betriebe rote hat zudem vergangene Woche eine Idee Zahlen. Dann kann der Flä- aufgegriffen, die Riester seit Monaten in chentarifvertrag doch kein Hintergrundgesprächen thematisiert – als Instrument zur Umverteilung mögliches Element im Bündnis für Arbeit. sein.Wir müssen deshalb in der Danach soll ein neuer, von Staat und Tarifpolitik nach neuen Wegen Tarifpartnern getragener Fonds den vor- suchen. zeitigen Ruhestand von älteren Arbeit- SPIEGEL: Wie könnte eine sol- nehmern erleichtern. Dafür würde jähr- che neue Tarifpolitik aussehen? lich ein Prozent der Lohnerhöhungen Stumpfe: Wir brauchen einen einbehalten, der Staat soll die Beiträge Tarifvertrag, der aus mehreren steuerfrei stellen. Komponenten zusammenge- Die Wirtschaftsverbände wollen in setzt ist: einer festen, einheit- den Kanzlerrunden mitreden, um einen lichen Lohnerhöhung für alle Anstieg der Abgabenlast zu verhindern Mitarbeiter und Zahlungen, oder zumindest zu beschränken. Deshalb die die unterschiedliche wirt- drängen sie darauf, ein breites Themen- schaftliche Situation der Be- spektrum zu verhandeln – es geht ihnen triebe berücksichtigt. Die Mit- vor allem um die Steuerreform. Außer- arbeiter gutgehender Betriebe dem können die Arbeitgeber in den Bünd- müssen angemessen am Er- nisrunden noch am ehesten durch- folg beteiligt werden, ohne drücken, daß die Lohnerhöhungen karg daß dadurch Arbeitsplätze in ausfallen. gefährdeten Betrieben aufs Inzwischen machen gerade diejeni-

Spiel gesetzt werden. Ich den- SCHUERING W. gen konstruktive Vorschläge, die noch ke da in Richtung von Ein- Tarifexperte Stumpfe: „Alles ändert sich“ vor einigen Wochen in Kanzlerrunden malzahlungen. wenig Sinn erkannten. So kann sich Tyll SPIEGEL: Und wer entscheidet darüber, werden. Lohnverzicht gegen neue Necker, Vize-Präsident des BDI, auch welcher Betrieb mehr zahlen muß? Arbeitsplätze ist die Formel der be- Modelle vorstellen, die bislang in einzel- Stumpfe: Arbeitgeber und Betriebsrat trieblichen Bündnisse. Für solche Bünd- nen Bundesländern Lehrstellen geschaffen müssen gemeinsam entscheiden, ob sie nisse müssen wir im Tarifvertrag die haben, wie in Thüringen, wo die Vergü- in ihrem Betrieb zahlen können oder Voraussetzung schaffen. tung für Lehrlinge gekürzt, oder in Nie- um der Arbeitsplätze willen verzich- SPIEGEL: Das verlangt nach Glasnost in dersachsen, wo ein Berufsschultag ge- ten wollen. Dort kennt man die Situa- den Unternehmen. strichen wurde. „Überall, wo es um See- tion am besten. Die Tarifparteien müs- Stumpfe: Viele Betriebe fürchten Glas- lenmassage geht, können wir helfen“, sen Verfahren finden, bei denen weder nost. Deshalb sollten wir ihnen das glaubt Necker. die eine noch die andere Seite über den nicht zwingend vorschreiben. Eine Von der angekündigten Korrektur der Tisch gezogen werden kann. Abweichung vom Tarifvertrag ist nur Gesetze zu Lohnfortzahlung und Kündi- SPIEGEL: Sie wollen einen Verteilungs- mit Zustimmung beider Seiten mög- gungsschutz werden sich die rot-grünen spielraum abstecken, in dessen Rah- lich. Lehnt eine Seite ab, muß ge- Koalitionäre jedoch kaum abbringen las- men entschieden wird, wieviel davon zahlt werden. Dann kann der Arbeit- sen. „Die SPD hat mit dem Thema soziale für Lohnerhöhung, Beschäftigungssi- geber überlegen, ob er die Bücher of- Gerechtigkeit die Wahl gewonnen“, mahnt cherung oder neue Arbeitsplätze ver- fenlegt, um Kostenentlastungen zu Dieter Schulte, der Vorsitzende des Deut- wendet wird? bekommen, oder ob er lieber seine schen Gewerkschaftsbundes. Stumpfe: Arbeitsplätze werden nur dann Bücher geschlossen hält und dafür Zuviel Harmonie sei ohnehin schlecht gesichert, wenn der Produktivitätsfort- mehr zahlt. für beide Seiten, glaubt einer der Präsi- denten: „Schröder soll ja als Versöhner und Moderator dastehen.“ ™

138 der spiegel 42/1998 Werbeseite

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Werbeseite F. HORMANN / NORDLICHT F. Privatisierter Hafen in Rostock: „Aus den neuen Ländern keine ausreichende Ladung zu erwarten“

Atzmon war Schatzmeister der Likud- (RAL) floppte bereits im März, nach drei PRIVATISIERUNG Partei. 1996 wurde er wegen einer Partei- nahezu frachtlosen Fahrten. spendenaffäre zu 50000 Mark Geldstrafe Das Bremer Institut für Seeverkehrswirt- Fauler Deal verdonnert, ein Urteil, das er angeblich an- schaft und Logistik hatte 1996 in einer ver- fechten will. Lord Young, Ex-Minister der traulichen Studie für die Stadt von dem Windige Investoren und ein Thatcher-Regierung, wurde 1995 als Chef Projekt abgeraten. Grund: Für Container- des britischen Konzerns Cable & Wireless fracht zwischen Rostock und den USA sei selbstherrlicher Bürgermeister gefeuert. Grund: mangelnder Erfolg. „aus den neuen Ländern keine ausrei- manövrieren den Rostocker Daß der Rostocker Unternehmerver- chende Ladung zu erwarten“. Hafen in die Nähe des Ruins. band wegen der fehlenden Ausschreibung Doch der gelernte Kapitän Pöker war eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen damals in Rostock gerade an Deck gegan- n seine Vergangenheit als Gewerk- Pöker im Schweriner Innenministerium gen und feilte an seiner Vision vom Hafen schaftskader will Arno Pöker, 39, einreichte, konnte den faulen Deal nicht als Wirtschaftsmotor. Dafür hatte er sei- Anicht mehr erinnert werden: „Da- verhindern. Verbandschef Ulrich Seidel nen ostfriesischen Landsmann und Ex- mals war ich Lobbyist“, sagt er, „und die rügt auch den „lächerlich niedrigen“ Ver- Chef von Hapag-Lloyd-USA, Werner Pin- ÖTV war gegen Privatisierungen.“ kaufspreis von 19 Millionen Mark. Dem now, zum Boß der kommunalen Um- Als Oberbürgermeister der Hansestadt standen von Gutachtern geschätzte Ver- schlagsgesellschaft gemacht. Dessen Emp- Rostock hat er die Überführung des Hafens mögenswerte von 77 Millionen Mark ge- fehlungen vertraute er offenbar mehr als in privaten Besitz zur Chefsache erklärt genüber. Bisher bezahlt wurden 9,5 Mil- externen Gutachtern. und gegen alle Widerstände durchgeboxt. lionen, die zweite Rate steht noch aus. Heute klagt Pöker, Pinnow habe als Chef Jetzt macht sich der SPD-Mann „erhebli- der RAL „zu früh die Puste verloren“. che Sorgen“, wie er am vergangenen Mitt- Denn nicht nur Miteigner Pinnow und Kent woch vor der Bürgerschaft gestand. Investment ist durch die Pleite Schaden Aus gutem Grund: Vor einer Woche sind entstanden. Auch das Land Mecklenburg- 450 Hafenarbeiter an der mecklenburgi- Vorpommern und die Stadt Rostock sind schen Ostseeküste in die Kurzarbeit ent- betroffen: Die RAL-Schiffe wurden mit ei- lassen worden. Der Umschlag sank im er- ner Landesbürgschaft von zehn Millionen sten Halbjahr dieses Jahres gegenüber dem Mark finanziert. Und: Die Umschlagsge- Vorjahr um acht Prozent, das Scheitern der sellschaft hatte noch vor ihrer Privatisie- neuen Umschlagbetreiber scheint abseh- rung der Reederei einen Kredit von rund bar. Auch der auf dem Hafengelände ge- einer Millionen Mark gewährt. plante Industriepark ist bisher nur ein Wol- Ob Stadt und Land das Geld je zurück- kenkuckucksheim und wird es wohl auch bekommen, ist so fraglich wie die Erfüllung

bleiben. HAENTZSCHEL / NORDLICHT T. einer weiteren vertraglichen Verpflichtung. Kaufmännische Inkompetenz, ein selbst- Geschäftspartner Atzmon, Lustgarten, Pöker Kent muß im Hafen mindestens fünf Fir- herrlicher Wessi-Bürgermeister, windige In- Kaufmännische Inkompetenz men ansiedeln. Bisher ist erst eine da: vestoren und ein hilflos zuschauendes Ost- Clean System Technologies, eine von Kent- volk – in Rostock haben sich all jene Fak- Den günstigen Preis hatte der Bürger- Mann Atzmon und Landsmann Jacob Lust- toren geballt, aus denen standortpolitische meister mit der dreijährigen Beschäfti- garten gegründete Firma für Reinstraum- Desaster entstehen. gungsgarantie der Investoren für die rund technik. Produziert wird dort nichts – nur Im November 1997 war die Umschlags- 500 Hafenarbeiter gerechtfertigt. Doch den umgeschult: Mit 1,5 Millionen Mark EU-Hil- gesellschaft mitsamt 100 Hektar gepachte- Löwenanteil ihrer Gehälter zahlt bisher fe lernen Schauerleute das High-Tech-Ge- ter Hafenfläche ohne öffentliche Aus- das Arbeitsamt. „Wegen der Asienkrise ist werbe. Das Geld scheint nicht zu reichen: schreibung an die Kent Investment ver- im Hafen erneut Kurzarbeit bewilligt wor- Seit Monaten zahlt die Firma keine Löhne. kauft worden – eine auf den pazifischen den“, sagt Amtsleiter Horst Backes. Dies Das Wirtschaftsministerium von Meck- Marshallinseln registrierte Holding. sei möglich, weil Kent Investment die Leu- lenburg-Vorpommern lehnt die Förderung Deren Gründer, der Israeli Menachem te „zwischenzeitlich“ vollzeitbeschäftigt von Clean System Technologies und wei- Atzmon, der Brite Lord David Young of habe – von Juli bis September. terer fünf „Gesellschaften in Gründung“ Graffham und der Amerikaner Ezra Harel, Auch andere Hoffnungen scheiterten. ab. Antragsteller Atzmon habe, so Spre- konnten zwar mit besten politischen Ver- Das Kent-Trio hatte sich vertraglich ver- cher Andreas Petters, „weder die Gesell- bindungen prahlen, doch der Lord und der pflichtet, eine Container-Reederei zu grün- schaftsstruktur der Firmen noch ein schlüs- Israeli haben nicht den besten Ruf. den. Doch die Rostock-Atlantik-Linie siges Finanzkonzept“ vorlegen können. ™

der spiegel 42/1998 143 Wirtschaft

sehr schnell auf die Bundesunternehmen richten. Da wird in Milliarden gerechnet – STAATSBETRIEBE Gewinn oder Verlust. Mit insgesamt fast 700 000 Beschäftig- ten zählen Telekom, Bahn, Post und Post- Profis bevorzugt bank zu den größten Arbeitgebern der Republik (siehe Grafik). Längst haben Der Machtwechsel in Bonn bringt Unruhe in die die Politiker erkannt, daß der Staat sich auf Dauer von diesen Unternehmen, die Führungsetagen der Bundesunternehmen: Spitzenpositionen in ihn zum Teil schwer belasten, trennen Vorständen und Aufsichtsräten werden neu besetzt. muß; die Privatisierung der Konzerne ist jedoch eine der schwierigsten Aufgaben. Die SPD bevorzugt daher Profis aus der Wirtschaft. Im Laufe der nächsten Jahre sollen Post und Postbank an die Börse gebracht wer- den. Der Bund will überdies seine Tele- kom-Aktien – nach der Teilprivatisierung noch immer 74 Prozent – vollständig abgeben. Die Privatisierung der Bahn soll ebenfalls abgeschlossen werden. Im kommenden Jahr beginnt die Bahnreform, Teil zwei. Die Unterhändler in den Bonner Koali- tionsgesprächen haben noch keine endgül- tigen Entscheidungen getroffen, weil die entsprechenden Gremien erst in den näch- sten Tagen und Wochen zusammentreffen. Doch die Grundzüge der geplanten Verän- derungen in den vier Bundesunternehmen sind bereits jetzt erkennbar. So planen Sozialdemokraten und Grüne die Zukunft der Bahn AG ganz offenbar ohne deren amtierenden Vor- standschef Ludewig. Offen forderte der verkehrspolitische Sprecher der Grünen, Albert Schmidt, einen „Schnitt“ an der Konzernspitze. Ludewig sei einfach „nicht länger tragbar“. Der große Koalitionspartner äußert sich

AP dagegen noch vorsichtig: Personalent- Bahnchef Ludewig: Keine Begeisterung hervorgerufen scheidungen, heißt es in der SPD offiziell, würden durch den Auf- as Dementi kam prompt und er- sichtsrat getroffen. Doch auf wartungsgemäß.Alle Spekulationen Konzerne unter Staatskontrolle großen Rückhalt kann der Dum seinen Rücktritt als Chef der BUNDES- MITARBEITER GEWINNE/VERLUSTE Bahnchef gerade da nicht Deutschen Bahn AG, so verkündete Johan- ANTEILE in Tausend* in Millionen Mark hoffen. In Kürze schon wird nes Ludewig vergangene Woche in Frank- 5270 der Aufsichtsrat oder zu- Deutsche 3588 furt, entbehrten der realistischen Grundla- Telekom mindest Teile des Gremiums 1300 1921 ge. Freiwillig werde er nicht gehen, seinen 74% 191 –2900 mit dem neuen Kanzler zu- Fünfjahresvertrag wolle er erfüllen. sammentreffen. Die führen- Im kleinen Kreis klang es schon etwas den Männer des Aufsichts- anders. Mehrere Aufsichtsräte sollten Lu- rates wollen dann die Ab- Deutsche Umwandlung 1233 dewig die besorgte Frage beantworten, wer Bahn in Aktien- berufung Ludewigs empfeh- denn überhaupt noch zu ihm stehe und gesellschaft 582 len. Ein Nachfolger würde 100% 224 ab 1994 vor allem: was denn – im Ernstfall – mit sei- 181 264 womöglich aus den Reihen ner Abfindung sei. der Bahn kommen und nicht Ludewig, ein langjähriger Berater des – wie bisher von vielen ver- Deutsche –1700 –2921 337 CDU-Kanzlers Helmut Kohl, macht sich Post mutet – von außen. nach der für die Union verlorenen Bun- –384 Der Noch-Bahnchef gilt destagswahl mit Recht Gedanken um seine 100% 267 –1157 den Aufsehern als bürokra- berufliche Zukunft. Bei der Bahn, aber auch tisch. Er arbeite lediglich bei Telekom, Post und Postbank wird sich Aktenordner ab, habe kein 226 mit der neuen Regierung einiges ändern. Postbank 51 –1256 27 Konzept und sehe mit sei- Die Beschäftigten werden sich auf neue Ge- nem traurigen Hundeblick –16 sichter und andere Sitten in Vorständen und 100% 14 zu, wie der Bahn die Kun- Aufsichtsräten einstellen müssen. den in Scharen davonliefen. Schon aus haushaltspolitischen Gründen Gerade 1998 entwickelte wird sich der Blick jeder Regierungspartei *Anfang 1998 1993 94 95 96 97 sich zum Jahr der Pannen,

144 der spiegel 42/1998 Werbeseite

Werbeseite Wirtschaft das Krisenmanagement und auch die Öf- Bei der Telekom soll bis spätestens Juni fentlichkeitsarbeit des Bahnobersten wer- ein Nachfolger für den ehemaligen Hen- den im Aufsichtsrat als mangelhaft emp- kel-Manager Helmut Sihler gefunden wer- funden. den. Als aussichtsreicher Wunschkandidat Mit Erfolgen kann Ludewig, der im po- gilt zur Zeit Gert Lorenz, der viele Jahre litischen Bonn von allen als Experte und die Kommunikationstochter von Philips Stratege geachtet wurde, bei der Bahn erfolgreich leitete, ehe er als erster Deut- nicht aufwarten. Seit 1990 fiel das Auf- scher ins Topmanagement des niederlän- kommen beim Güterverkehr um fast ein dischen Elektronikriesen berufen wurde. Drittel. Gleichzeitig stieg die Leistung der Der ehemalige Thyssen-Chef Dieter Vogel Fernlaster um mehr als ein Drittel. Und oder ein international renommierter Tele- auch beim Personenverkehr halten DB- kommunikationsmanager wäre vielen So- Züge gerade einmal einen winzigen Markt- zialdemokraten ebenfalls recht. anteil von sieben Prozent. Nur in Spitzen- zeiten sind die Züge überhaupt voll be- setzt. Eine Trendwende ist dem Bahnchef bisher nicht gelungen. Auch Ludewigs Haltung zum Bau der umstrittenen Transrapid-Strecke zwischen Hamburg und Berlin hat bei SPD und Grü- nen keine Begeisterung hervorgerufen. Sei- ne Ankündigung, die Bahn werde zusätz- liche Milliardenkosten allein übernehmen, empfinden die neuen Koalitionäre als all- zu großzügig. Ludewig wird kaum Trost in der Tatsa- che finden, daß seine Kollegen in anderen Bundesunternehmen ebenfalls um ihre Posten bangen müssen. So scheint auch der Postbank-Chef Dieter Boening unter der neuen Regierung wenig Chancen zu ha- ben, seinen Posten zu behalten. Boening verscherzte es sich mit fast al- len Parteien, als er vor wenigen Monaten

versuchte, Teile der Postbank ohne Ab- FRIEDRICHSON - PRESSEBILD stimmung mit dem Eigentümer an die Telekom-Chef Sommer Commerzbank zu verkaufen. Auch ein Weiter bis zum Jahr 2000 schlüssiges Konzept für den geplanten Bör- sengang, monieren die Sozialdemokraten, Außer Sihler werden nach SPD-Plänen habe der Banker bisher noch nicht vorle- langfristig auch weitere Aufsichtsräte wie gen können. der ehemalige CDU-Forschungsminister Die Sozialdemokraten dagegen haben Paul Krüger und die beiden Staatssekretä- bereits recht klare Vorstellungen, was mit re Rainer Funke (FDP) und Jürgen Stark der Bank an den Postschaltern geschehen (CSU) bei der Telekom ausscheiden. Für könnte. Nach derzeitiger Planung wollen ihre Posten sind Ex-Telekom-Chef Wilhelm sie der Post AG, die bereits 17,5 Prozent an Pällmann und Telekom-Berater Franz Ar- dem ehemaligen Schwesterunternehmen nold im Gespräch. Außerdem sucht die hält, das Recht einräumen, einen Mehr- SPD unter Bankern nach geeigneten Kan- heitsanteil an der Bank zu erwerben. Post- didaten. Chef Klaus Zumwinkel, so die SPD-Vor- Nur einer scheint sicher zu sein, daß er stellung, könnte dann neuer Aufsichtsrats- seinen Arbeitsplatz in der Führungsetage Chef bei der Bank werden und sich in noch eine Weile behält: Telekom-Chef Ron Ruhe nach einem Nachfolger für Boening Sommer.Anfang des Jahres hatte Sommer umsehen. unter der alten Regierung heftige Kritik Veränderungen an der Spitze der Kon- einstecken müssen, auch im Aufsichtsrat trollgremien planen die Sozialdemokraten rumorte es; jetzt wollen ihm die Sozial- auch bei der Post und bei der Telekom. demokraten offenbar eine weitere Be- Wichtige Posten sollen neu besetzt wer- währungsfrist einräumen, die Telekom im den, und zwar nicht mit altgedienten harten internationalen Wettbewerb voran- Parteifreunden und Politikern, sondern mit zubringen. Denn ob ein Neuling mehr Er- ausgewiesenen Wirtschaftsexperten. folg in dem heiß umkämpften Markt hät- Bei der Post soll der ehemalige Ge- te, scheint vielen mittlerweile zweifelhaft. schäftsführer der Becks-Brauerei Josef Sommer soll im nächsten Jahr abermals Hattig seinen Chefsessel im Aufsichtsrat sein oft gelobtes Verkaufstalent unter demnächst zur Verfügung stellen. Als Beweis stellen und die zweite Tranche der Nachfolger sind Werner Engelhardt, Chef Telekom-Aktien unters Volk bringen. der Mannheimer Röchling-Gruppe, und Zumindest bis zum Auslaufen seines Ver- Lufthansa-Chef Jürgen Weber im Ge- trags im Jahr 2000 dürfte sein Posten damit spräch. gesichert sein. ™

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Werbeseite Technik-Chef Hanenberger wollte mit dem Einsatz möglichst einfacher Teile Ko- sten sparen, damit sein Vorgesetzter Louis Hughes gute Finanzzahlen in die Kon- zernzentrale nach Detroit melden konnte. Hughes, der bis zu seiner völligen Ent- machtung vergangene Woche das gesamte Autogeschäft von GM außerhalb Ameri- kas verantwortete, förderte Hanenberger im Gegenzug nach Kräften. Nur so ist zu erklären, daß Hanenberger, der sein Ingenieur-Team stark demotivier- te, überhaupt noch auf seinem Posten ist. Selbst seine wohl schwerste Fehlleistung, die Einführung der Großraumlimousine Sintra in Europa, blieb für ihn ohne Folgen. Während der Entwicklung des Sintra zeigten sich bei Crash-Versuchen Struk- turschwächen der Karosserie. Si-

B. BERTELSMANN / ARGUM B. BERTELSMANN cherheitsingenieure baten Hanenberger Opel-Werk Rüsselsheim: Hat der Konzernchef in Detroit den Überblick verloren? deshalb um Nachbesserung. Der Vorschlag wurde abgelehnt. die Folgen eines 54 Tage dauernden Streiks, Als das Fahrzeug auf den Markt kam, AUTOINDUSTRIE der einen Umsatzausfall von knapp drei stellte das Fachblatt „Auto, Motor und Milliarden Dollar verursachte. Sport“ bei einem Crash-Test „schwere Si- Manager mit General-Motors-Chef Jack Smith, der cherheitsmängel“ fest. Die Tester entdeck- um seinen Job fürchten muß, reagiert dar- ten ein „hohes Verletzungsrisiko für die auf „wie in Panik“, so ein GM-Manager Beine und die Halswirbelsäule“, zudem Macken aus Detroit. Er baut die Konzernführung würden „die Rettungsmaßnahmen durch völlig um, versetzt Dutzende von Mana- die verklemmte Tür stark behindert“. Erneut Riesenwirbel bei Opel: gern und verliert dabei offenbar auch ein Mit solchen Fahrzeugen kann Opel vor wenig den Überblick. allem gegen den Konkurrenten VW, der Nach nur drei Monaten soll Vor gut drei Monaten erst hatte Smith seine Fahrzeuge immer höher positioniert, Konzernchef Gary Cowger schon gegen heftigen Widerstand von Managern kaum bestehen.VW verkaufte in Deutsch- wieder abtreten. und Aufsichtsräten Opel-Chef David Her- land in diesem Jahr vom Sharan, dem di- man durch Gary Cowger ersetzt. Jetzt wird rekten Konkurrenten des Sintra, mehr als eine Einstellung ist für einen Auto- Cowger schnellstmöglich nach Detroit dreimal so viele Wagen. mobilentwickler reichlich schlicht: wechseln und in der GM-Zentrale verant- GM-Chef Jack Smith hat im fernen De- SLangfristig werde das Auto, so be- wortlich sein für „labor relations“. troit von diesen Problemen offenbar wenig kundete Peter Hanenberger, „zum bloßen Cowger soll die seit dem Streik völlig ge- mitbekommen, sonst wäre er kaum auf die Fortbewegungsmittel“. störten Beziehungen zu den Gewerkschaf- Idee verfallen, Hanenberger zum Opel- Hanenberger hat es mit dieser Berufs- ten verbessern. Der Opel-Vorstand wird Vorsitzenden zu ernennen. In Rüsselsheim auffassung weit gebracht. Als Executive dann den dritten Vorsitzenden in diesem wird Smith damit ein mittleres Erdbeben Vice President ist er bei General Motors Jahr bekommen: den Entwickler Hanen- auslösen. verantwortlich für die gesamte Fertigung, berger. Opel-Aufsichtsratschef Hans Wilhelm das Design und die Fahrzeugentwicklung Im eigenen Konzern und in der Bran- Gäb, intern seit langem ein unbequemer in allen Märkten außerhalb der USA. Ne- che genießt Hanenberger einen grandios Kritiker von Hughes und Hanenberger, benbei ist Hanenberger auch noch Ent- schlechten Ruf. Seit 1994 kommt Opel im- hatte es vor Monaten nur mühsam ge- wicklungsvorstand bei der deutschen Toch- mer wieder durch Qualitätsprobleme in schafft, das Kontrollgremium zur Berufung ter Opel. die Schlagzeilen, vor allem mit den Model- Cowgers zu bewegen. GMs neuer Crash- Entsprechend seiner Maxime sorgte der len, die unter Hanenber- Plan für den Opel-Vorstand gelernte Maschinenschlosser dafür, daß bei gers Regie entstanden. aber stellt Gäb und den Opel nicht die beste, sondern vor allem bil- Mal beklagten Opel- gesamten Aufsichtsrat vor lige Technik eingesetzt wird. Die Folgen, Kunden Rost an ihren erst unlösbare Probleme. massive Qualitätsprobleme, teure Rück- wenige Jahre alten Fahr- Die Kontrolleure kennen rufaktionen, verheerende Ergebnisse bei zeugen, mal sorgten Stich- Hanenbergers Schwächen. einem Crash-Test, ramponierten zwar den flammen aus ungenügend Sie hatten im Juni deshalb Ruf der Marke Opel. Hanenbergers Kar- geerdeten Tankstutzen für eine Art Probezeit für riere aber nahm dadurch keinen Schaden. Aufregung, und schließlich Hanenberger durchgesetzt. Im Gegenteil: Jetzt könnte der umstrittene drohten beim Airbag Lade- Der Entwickler erhielt im Techniker sogar noch weiter aufsteigen – hemmungen wegen falsch Gegensatz zu den anderen Hanenberger soll Vorstandsvorsitzender bei montierter Stecker. Die Fir- Vorständen, die über Fünf- Opel werden. ma, die einst mit dem Slo- jahresverträge verfügen, Die Personalie ist Folge einer geplanten gan „Opel – der Zuverläs- nur einen Zweijahresver- Managerrochade beim größten Automo- sige“ warb, mußte sich in trag. „Bevor wir ihn zum bilkonzern der Welt, der Opel-Mutter Ge- ganzseitigen Zeitungsan- Opel-Vorsitzenden wäh- neral Motors (GM). Der Konzern steckt zeigen wegen der Mängel len“, so ein Aufsichtsrat,

nach jahrelangem Mißmanagement in ei- bei ihren Kunden entschul- DPA „müßten wir kollektiven ner schweren Krise, verschärft noch durch digen. Opel-Vorstand Hanenberger Selbstmord begehen.“ ™

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Werbeseite T. KLINK / ZEITENSPIEGEL T. W. WILDE W. Mobilcom-Gründer Schmid, Debis-Zentrale in Berlin: „Wir können nicht ewig der Nischenanbieter aus Schleswig bleiben“

Das Problem: Bislang hat Daimler noch TELEKOMMUNIKATION gar nicht entschieden, ob Debitel über- haupt abgestoßen werden soll. „Wir wollen Debitel nicht verkaufen“, sagt ein Daimler- Glückslos vom Minister Manager, „und schon gar nicht zu so einem lächerlichen Preis, wie Schmid ihn bietet.“ Trotz der abweisenden Haltung der Die Telefonfirma Mobilcom entwickelt sich zum aggressivsten Stuttgarter ist das Interesse an der seit Herausforderer der Telekom. Nun will der Newcomer kurzem in Berlin ansässigen Telefonfirma auch die Daimler-Tochter Debitel schlucken – ein Milliardendeal. groß. So ist auch die aufstrebende Tele- fonfirma Talkline, die seit der Übernahme ls ehemaliger Eishockey-Profi weiß nen kühnen Plan entwickelt, der noch weit durch das frühere Staatsunternehmen Tele Gerhard Schmid, daß „schnelle gigantischer ist als der Cellway-Kauf im Danmark über beachtliches Kapital ver- ASpielzüge und ein bißchen Power- Frühjahr. fügt, in den Milliardenpoker eingestiegen. play das Match entscheiden können“. Im- Schmid will die Telefonfirma Debitel, Sollte Schmid doch noch zum Zuge mer wieder verblüfft der Gründer der Te- eine gemeinsame Tochter von Daimler- kommen, dann gebietet er über ein Unter- lefonfirma Mobilcom die Konkurrenz Benz und dem Handelsriesen Metro, über- nehmen, das mit etwa 25 Prozent Markt- durch blitzschnelle Attacken. nehmen. Deutlich mehr als zwei Milliarden anteil im Handy-Geschäft größer wäre als Als etwa die französische Staatsfirma Mark – das entspricht etwa dem Jahres- E-Plus und das nur noch von den beiden France Télécom ihren deutschen Mobil- umsatz von Debitel – hat Schmid dafür Platzhirschen Deutsche Telekom (D1) und funk-Ableger Cellway Anfang des Jahres schriftlich geboten. Mannesmann (D2) übertroffen wird. zum Verkauf anbot, griff Schmid ohne Zö- Die Idee zur Übernahme des Service- Zwar behauptet Schmid: „Größe allein gern zu. Dabei war Cellway weitaus größer Providers, der mit rund 1,5 Millionen Kun- ist nicht wichtig.“ Dennoch ist ihm klar, als seine eigene Firma, und das Geld für den der bei weitem größte netzunabhän- daß „wir nicht ewig der Nischenanbieter den Kauf hatte Schmid, 46, auch nicht pa- gige Mobilfunk-Anbieter in Deutschland aus Schleswig bleiben können“, wenn Mo- rat. Das nötige Kapital mußte er sich erst ist, kam Schmid vor einigen Monaten, als bilcom im härter werdenden Konkurrenz- einmal bei seinen Aktionären holen. Daimler-Chef Jürgen Schrempp die Mam- kampf überleben will. „Den Telefonkrieg“, Für solche Schnellschüsse lieben die Ak- mutfusion seines Unternehmens mit dem weiß Schmid, „kann man nur mit Wachs- tionäre den Mobilcom-Gründer, der sich amerikanischen Autokonzern Chrysler tum gewinnen.“ innerhalb weniger Jahre zu einem der bekanntgab. „Ich ging davon aus, daß die Dafür hat er in den vergangenen sieben reichsten Männer in Deutschland ent- Telekommunikation jetzt nicht mehr zum Jahren einiges getan.Wendig wie kaum ei- wickelte. Auf den Aktionärsversammlun- Kerngeschäft von Daimler zählt“, meinte ner seiner Branche wußte Schmid die gen wird er deshalb angehimmelt wie ein Schmid und schickte an die Stuttgarter Chancen zu nutzen, die das Ende des Te- Popstar und auch schon mal um ein Auto- Konzernzentrale einen Brief, mit dem lefonmonopols für pfiffige Unternehmer gramm gebeten. Brav kritzelt der immer er sein Interesse am Kauf von Debitel bot. In diesem Jahr dürfte der Mobilcom- ein wenig tapsig wirkende Manager dann bekundete. Umsatz bereits auf knapp 1,4 Milliarden auf den hingehaltenen Geschäftsbericht: Die ersten Gespräche liefen zwar noch Mark steigen. „Dein Gerhard Schmid“. nicht zur Zufriedenheit Schmids. Doch so Besonders schnell war Schmid Anfang Nun ist der Börsenliebling wieder auf schnell will er nicht aufgeben: „Um eine des Jahres. Während die meisten Konkur- Einkaufstour. In aller Stille hat Schmid ei- tolle Braut muß man eben länger werben.“ renten noch darüber nachdachten, auf wel-

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Werbeseite Wirtschaft che Weise und zu welchen Preisen sie der hatten, im Vorteil, sondern wendige Klein- Telekom Kunden abspenstig machen könn- betriebe. Mit relativ geringen Investitionen ten, legte Schmid mit einem Kampfpreis können sie die benötigte Telefonkapazität los: Nur 19 Pfennig pro Minute kostet das für gut zehn Pfennig pro Minute, inklusive Ferngespräch innerhalb Deutschlands, aller Nebenkosten, bei der Telekom an- wenn der Kunde vor dem Gespräch die mieten und mit einem selbst kalkulierten Mobilcom-Netzkennzahl 01019 wählt. Aufschlag an die Kunden verkaufen. „Nur Der Erfolg ist verblüffend: Obwohl Mo- Verrückte“, höhnte Schmid, „verbuddeln bilcom längst nicht mehr immer der gün- ihr Geld in der Erde.“ stigste Anbieter ist, stieg der Umfang der Ob das Geschäftsmodell, mit dem in- Ferngespräche seit Januar von 700000 Mi- zwischen Dutzende von Minifirmen gute nuten auf jetzt 15 Millionen Minuten pro Geschäfte machen, auch in Zukunft Be- Tag. Damit ist Mobilcom zum stärksten stand haben wird, ist umstritten. Seit Herausforderer der Telekom aufgestiegen. Monaten schon drängt Telekom-Chef Ron Dabei ist Schmid weder Techniker, noch Sommer, flankiert vom mächtigen Man- hatte er Ahnung vom Telefon- markt, als er 1991 seinen gut do- tierten Job als Marketing-Vor- stand beim Münchner Auto- verleiher Sixt aufgab und eine eigene Firma gründete. „Ich wußte nur, daß Mobilfunk ein Riesengeschäft werden wird.“ Dennoch dauerte es einige Jahre, bis er mit seiner Firma Geld verdiente. Immer wie- der beschwerten sich Kunden über falsche Abrechnungen (SPIEGEL 30/1994). Steinreich wurde Schmid

erst im Frühjahr 1997, als er RÖTTGER J. Mobilcom am Neuen Markt an Mobilcom-Zentrale*: Schnell steinreich geworden die Börse brachte. Innerhalb ei- nes Jahres schoß der Aktienkurs zeitweise nesmann-Konzern (Arcor) und Teilen der auf das 25fache seines Ausgabepreises. Sozialdemokraten, auf eine Änderung der Doch gegen die Ableger der Energiekon- geltenden Interconnection-Regeln: „Wenn zerne, die nach dem Wegfall des Telefon- die jetzige Praxis Bestand hat, investiert monopols mit Milliarden-Investitionen ge- in Deutschland kein Mensch mehr in die gen die Telekom antreten wollten, schien Infrastruktur“, warnt Sommer. Schmid keine Chance zu haben. In einem Vorschlagspapier, das er bei Im September vergangenen Jahres zog der Bonner Regulierungsbehörde für Tele- Schmid das zweite Glückslos, als der da- kommunikation und Post eingereicht hat, malige Postminister Wolfgang Bötsch will der Telekom-Chef die Interconnection- (CSU) den Preis festsetzte, zu denen die Preise in drei Gruppen aufstaffeln. Mini- Telekom-Herausforderer über die Leitun- firmen, die sich mit weniger als acht Ver- gen der Staatsfirma telefonieren durften. mittlungsstellen ins Telekom-Netz einklin- Im Schnitt nur 2,7 Pfennig pro Minute ken, sollen danach für Ferngespräche bis müssen die Newcomer an den ehemaligen zu 18 Pfennig pro Minute bezahlen. Dis- Monopolisten zahlen. countpreise, wie sie Mobilcom bietet, Der Discountpreis war nach langen Ver- wären dann kaum noch möglich. handlungen zustande gekommen. Denn Doch Schmid will sich davon nicht laut Gesetz sind nicht die tatsächlichen Ko- schrecken lassen. Bis die Regulierungs- sten der Telekom entscheidend, vielmehr behörde ihre Entscheidung Ende November sollte sich der Preis an den „Kosten der bekanntgibt, will er 23 eigene Einwahlkno- effizienten Leistungsbereitstellung“ orien- ten in das Telekom-Netz aufgestellt haben. tieren. Um die zu ermitteln, hörten sich „Dann sind wir ein reinrassiger Netzbe- die Bonner Beamten unter anderem im treiber wie Arcor auch und haben von Ausland um. Aus den Preisen, die dort für der Regulierungsentscheidung nichts zu die sogenannte Interconnection zwischen befürchten“, glaubt er. Telefongesellschaften üblich waren, bilde- Sollte es dennoch anders kommen und ten sie nach einem komplizierten Verfah- seine Firma ins Trudeln geraten, hat ren einen Mittelwert, der den Preis von Schmid bereits vorgebaut. In Kiel kaufte er 2,7 Pfennig für Ortsgespräche ergab. direkt am Hafen ein 16000 Quadratmeter Damit änderte sich die Konkurrenzlage großes Areal, auf dem er aus eigener Ta- radikal. Mit einem Male waren nicht mehr sche 150 Millionen Mark in Mietwohnun- die kapitalstarken Unternehmen, die Mil- gen, Gewerbebetriebe und ein Spitzen- liarden in eigene Telefonleitungen gesteckt hotel investieren will. Der Unternehmer Schmid glaubt: „Das ist ein bombensiche- * Im schleswig-holsteinischen Büdelsdorf. res Geschäft.“ ™

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Werbeseite SPIEGEL: Die Zeiten scheinen vorbei, als MTV erfolgreich und arrogant genug war zu glauben, es reiche, dem Rest der Welt- jugend amerikanische Videoclips zu ser- vieren. Freston: Als wir 1987 in Europa starteten, blieb uns aus technischen und wirtschaft- lichen Gründen gar nichts anderes übrig, als auf englisch zu senden. Und welche lo- kalen Musikgrößen hätten wir präsentieren sollen? Die Plattenindustrie begann erst Anfang der neunziger Jahre, auf nationale Künstler zu setzen. Heute zeigen wir allein in Europa MTV-Programme in fünf Spra- chen. Vielleicht werden es bald acht sein. SPIEGEL: Regionalisierung ist teuer, der Er- folg nicht garantiert. An jeder Ecke lauern plötzlich neue Konkurrenten. Freston: Ach, so kostspielig ist das gar nicht. In Deutschland gehört MTV zu den weni- gen Sendern, die 1997 Gewinne machten. SPIEGEL: Wieviel genau? Freston: Rund 18 Millionen Mark bei ei- nem Umsatz von über 70 Millionen Mark. In Zukunft rechne ich mit zweistelligen Wachstumsraten. SPIEGEL: Das sollen wir glauben? MTV er- reicht hierzulande nur 19000 Zuhörer im Schnitt, weniger als manches Lokalradio. MTV-Show „Singled Out“: „Wir wollen abenteuerlustiger werden“ Freston: Diese Zahlen stammen von der deutschen Gesellschaft für Konsumfor- schung … SPIEGEL-GESPRÄCH SPIEGEL: … und sind als Maßstab weitge- hend anerkannt … Freston: … aber auch fragwürdig, wenn es „Ich finde uns ziemlich cool“ um schwer faßbare Nischengruppen wie Teenager geht. Eine andere deutsche Stu- MTV-Chef Tom Freston über den verblassenden die, die Allensbacher Markt-und-Werbe- träger-Analyse, bescheinigt uns ein Wachs- Mythos seines Musikkanals, den deutschen Konkurrenten Viva tum von 31 Prozent bei den 14- bis 29jähri- und seine Suche nach den Moden von morgen gen Zuschauern. So einen Sprung hat kein anderes Medium Ihres Landes vorzuwei- SPIEGEL: Mister Freston, Rußland steht vor sen. Und wenn die Mediaplaner sich nur dem politischen wie ökonomischen Kol- für Zuschauerzahlen interessierten, wür- laps. Und nun kommen Sie und wollen die den sie sowieso nicht bei uns Werbung Leute dort mit einem neuen Musikkanal schalten, sondern bei Pro Sieben. Wir ver- aufmuntern. Sind Sie lebensmüde? kaufen eine besondere Publikumsqualität. Freston: Die geplante Party zum Start un- Deshalb interessiert es uns auch nicht so seres russischen MTV-Programms haben sehr, wie viele Leute in einer bestimmten wir kurzfristig abgesagt. Aber starten wol- Viertelstunde vor dem Schirm sitzen. Un- len wir trotzdem. Zunächst riskieren wir sere Show dauert 168 Stunden pro Woche. nicht unsere Dollars, weil wir nur einen SPIEGEL: Früher proklamierte MTV, eine Lizenzdeal mit russischen Partnern abge- Art paneuropäisches Werbeumfeld er- schlossen haben. Wir investieren Zeit und schlossen zu haben. Erfahrung. Rußland ist ein riesiger Staat Freston: Zu Recht. Doch derlei ist letztlich mit einer schnell wachsenden, erstmals nur für ein paar große, weltweit operie- freien Generation junger Leute … rende Konzerne interessant. Das wirklich SPIEGEL: … die Sie nun mit den alten MTV- Comic-Rotznasen Beavis & Butthead er- obern möchten? Tom Freston Freston: Diesen Klassiker wollen unsere begann seine TV-Karriere 1980 als Marketingchef des russischen Partner unbedingt zeigen – neugegründeten Musikkanals MTV in New York, den wenn auch in synchronisierter Fassung, die der 52jährige zu einem der größten Spartensender der auf russische Eigenheiten Rücksicht nimmt. Welt aufbaute. MTV Networks erreichen nach eige- Das Moskauer Publikum trinkt zum Bei- nen Angaben weltweit über 300 Millionen Haushalte. spiel lieber Wodka als Bier. Zur Senderfamilie gehören neben dem Teenager- Flaggschiff MTV das Internet-Fernsehen M2, der Mu- Das Gespräch führten die Redakteure Konstantin von sikkanal VH-1 und das Kinderprogramm Nickelodeon.

Hammerstein und Thomas Tuma. / OUTLINE DOYLE T.

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Werbeseite Wirtschaft große Geld verdienen wir heute mit jenen Firmen, die nur in einem Land werben wol- len. Diese nationalen Budgets machen 95 Prozent der Umsätze aus. SPIEGEL: MTV spricht also nicht aus purer Nächstenliebe neuerdings deutsch und ita- lienisch? Freston: Wir tun das, weil es ums Geschäft geht, natürlich. Anfangs mußten wir froh sein, einen Fuß in die Tür zu kriegen. Das ging nur mit einem zentral gesteuerten Programm. Es wurde uns häufig vorge- worfen, daß wir die Jugend der Erde ame- rikanisieren wollten. Das ist naiv.Viele Kids leben längst in zwei Welten, einer natio- nalen und einer internationalen. Dabei ähneln Hamburger Kinderzimmer denen in Mexico City. Hier wie dort hängen diesel- ben Poster an der Wand. SPIEGEL: Glauben Sie das wirklich? Freston: Alle kennen Michael Jordan und Eros Ramazotti. Die Jugendlichen teilen diese dünne Patina von Oberflächlichkei- ten. Aber während die Welt durch die Me- dien immer kleiner wird, wächst das In- teresse an lokalen Identitätsstiftern. Wir beobachten eine wahre Explosion lokaler Musikstile, Filmindustrien und Moden. Die Kids bewegen sich in beiden Welten und denken nicht groß darüber nach. SPIEGEL: Welcher Welt gehört die Zukunft? Freston: Der lokalen. Der Rest ist Spaß. Ein Spiel ohne große Bedeutung. SPIEGEL: Ist das die Antwort auf die allge- genwärtige Globalisierung? Freston: Ich denke schon. Je kleiner der Planet wird, um so wichtiger wird es, die eigenen Wurzeln zu spüren.Wir sehen das in all unseren Untersuchungen. Die Kids respektieren in erster Linie ihre Eltern, nicht irgendwelche Sport- oder Pophelden. SPIEGEL: Wie gut kennen Sie Ihre Klientel? Freston: Wir untersuchen sie unglaublich genau. Das reicht von Befragungen bis zu Hausbesuchen. Wir leben mit den Leuten, flöhen ihre CD-Schränke, schauen uns ihre Zimmer an und ziehen mit ihnen um die Blocks. Ich will nicht sagen, daß wir alle Entscheidungen auf Statistiken aufbauen. Aber wir würden uns lächerlich machen, wenn wir die Fakten nicht parat hätten. SPIEGEL: Wie wichtig ist dabei Deutsch- land? Freston: Hinter den USA die Umsatz-Num- mer zwei. Deutschland ist unser Eckpfeiler in Europa und künftig unser wichtigstes Land überhaupt. SPIEGEL: Bislang ist die Bundesrepublik für Sie ein Markt voller Mißverständnisse: MTV wurde von Viva überholt. Ihr Oldie-Sender VH-1 gilt als „flimmernde Leiche“, seit ein Großteil der Mitarbeiter aus Kostengrün- den gefeuert wurde. Und Ihr Comic-Kanal Nickelodeon mußte sogar aufgeben. Freston: Jeder macht mal Fehler, aber der deutsche Markt ist schwer durchschaubar. Als wir mit Nickelodeon kamen, wurde uns plötzlich der öffentlich-rechtliche Kin- derkanal vor die Nase gesetzt. Zugleich

158 der spiegel 42/1998 rangelten RTL, RTL 2 und Pro Sieben um die knappen Werbebudgets. Prompt fielen die Preise. Einiges wußten wir vorher, man- ches haben wir unterschätzt, vieles konn- ten wir nicht vorhersehen. SPIEGEL: Wieviel Geld verloren Sie? Freston: Es hat jedenfalls weh getan. Aber deshalb gehen wir doch nicht her und sa- gen: „Hey, Deutschland ist ein mieses Ge- schäft, wir sind totale Idioten und müssen raus hier.“ MTV zeigt uns ja, daß es geht. SPIEGEL: Dennoch zog die kleine Lokal- größe Viva an Ihnen vorbei. Freston: Viva attackierte uns zum ungün- stigsten Zeitpunkt, als sie eine einfache Formel clever umsetzten: Der Sender prä- sentierte sich als freundlich-frischer Kum- pel von nebenan. Viva spricht deutsch, kommt nicht aus London, sieht nicht aus wie irgendeine BBC-Nachtshow und spielt die Charts rauf und runter … SPIEGEL: … was MTV zuerst kopierte und jetzt von Ihrer deutschen Statthalterin Christiane zu Salm-Salm aus dem Pro- gramm gefeuert werden soll, um wieder trendiger auszusehen. Freston: Wir können uns vom Mainstream nicht ganz verabschieden.Auch Bands spie- len auf Konzerten vor allem ihre Hits.Aber wenn nur Verkaufsschlager eine Chance bekommen, verödet die Musikszene. Des- halb wollen wir wieder abenteuerlustiger werden. Vielleicht kann man neue Sachen nur am späten Abend bringen, aber sie gehören zu unserem Charakter. SPIEGEL: „Ist MTV noch cool?“ fragt die „International Herald Tribune“. Freston: Mal bist du hip, mal nicht. Das passiert Popstars jeden Tag. Während die Musikindustrie momentan ziemlich flach auf der Brust ist, feiern wir in den USA ei- nen Quotenrekord nach dem anderen.Also ich finde uns ziemlich cool. SPIEGEL: Der Sender wird demnächst 18 Jahre alt. Zeit, erwachsen zu werden? Freston: Wir reden nicht gern über unser Alter. Das ist wie bei Frauen über 25. Al- ter bedeutet nichts. MTV lebt in der Ge- genwart.Wer ständig an die Vergangenheit denkt, hat keine Zukunft. SPIEGEL: Andere Klassiker leiden auch: Nike oder Swatch kämpfen damit, ihren Marken-Mythos zu konservieren. Freston: Nike ist ein interessantes Beispiel. Die wurden Opfer ihrer eigenen Größe. Die jungen Leute sind mißtrauischer ge- worden. Sie sehen diese Riesenfirmen mit all ihren gigantischen Kaufhäusern und fra- gen sich, was eigentlich aus den netten klei- nen Läden in ihrer Nachbarschaft gewor- den ist. Benetton und Nike sind überall … SPIEGEL: … wie MTV. Freston: Und wir sind uns des Problems bewußt. Okay, MTV ist ein Riesenladen. Aber wir operieren längst weltweit in klei- nen, unabhängigen Einheiten. Wer bin ich denn, daß ich den Jungs in Deutschland oder Taiwan sagen könnte, was sie zu tun haben? Man kann nicht in Hamburg kämp- der spiegel 42/1998 159 Wirtschaft fen und dabei dauernd auf Anrufe aus Lon- Freston: Schon die Monkeys wurden für don oder New York warten. eine TV-Show erfunden. Na und? Pop wird SPIEGEL: Im sogenannten Melissa Manifest für den Augenblick gemacht. Er verändert schimpften einige Ihrer Nachwuchs-Mana- nichts, aber er macht den Leuten Spaß. ger, MTV sei zu glatt, vorhersehbar und SPIEGEL: Muß MTV die Stimmung seiner düster geworden. Zuschauer formen oder eher reflektieren? Freston: Stimmte ja auch. Ich liebe dieses Freston: Beides. Doch obwohl das immer Manifest, weil es beweist, daß ein Laden wieder gern behauptet wird: Wir kontrol- wie MTV von Veränderung lebt. Nur so lieren nicht die Köpfe der Kids … können wir im launigen Jugendmarkt un- SPIEGEL: … aber deren Taschengeld. sere Glaubwürdigkeit behalten. Freston: Teil unserer Arbeit ist es, dem Pu- SPIEGEL: Auch bei Ihnen sitzen scharf kal- blikum neue Trends und Moden, Musik- kulierende Controller. Erschrecken die stile oder Filme zu präsentieren. Daneben jungen MTV-Wilden nicht vor deren Kra- müssen wir auch Werte transportieren. watten? SPIEGEL: Darf Ihr eigener Nachwuchs MTV Freston: Bei uns finden Sie alles – vom Na- gucken? senring bis zu Nadelstreifen. Nur nackt Freston: Mein ältester Sohn ist jetzt 14. Ich versuche, seinen TV-Konsum auf eine Stun- de täglich zu begrenzen. Wie für jeden 14jährigen ist Musik für ihn momentan sehr wichtig. Das ist sein Koordinatensystem. SPIEGEL: Haben Sie als 52jähriger manch-

S. DOUBLE / RETNA / PHOTO SELECTION S. DOUBLE / RETNA PHOTO mal Probleme, sich im MTV-Kosmos noch Beavis & Butthead, Bowie zurechtzufinden? „Wir kontrollieren nicht die Freston: Oh, ja. Dann können Sie nur hof- Köpfe der Kids“ fen, Leute zu haben, die Ihnen erklären, was angesagt ist und weshalb. Wenn die Freston: Mit Leuten wie David das nicht können, müssen Sie sie loswer- Bowie oder Paul Simon ver- den. Das ist Teil meiner Arbeit. brachte ich viel Zeit. Ich könn- SPIEGEL: Was ist der Hauptunterschied zwi- te Ihnen eine ziemlich lange Li- schen einem MTV-Chef und anderen Un- ste solcher Leute geben, aber ternehmensführern?

GLOBE PHOTO GLOBE das klänge, als ob ich eines die- Freston: Ich habe vielleicht mehr Spaß und ser kreischigen Groupies wäre. kriege einen Haufen CDs gratis. sollte keiner kommen. Und wahrschein- SPIEGEL: Ist Pop nicht längst ein Geschäft SPIEGEL: Sind Sie noch der große Geld- lich wissen die meisten sowieso nicht, wer geworden wie der Verkauf von Klopapier? lieferant Ihres Mutterkonzerns Viacom? ich bin. Freston: Nein, weil Musik uns immer mit Freston: Momentan sorgen wir für 35 bis 40 SPIEGEL: Ein Kind der sechziger Jahre, das Gefühlen versorgen wird. Klopapier kann Prozent der Profite. nach dem Studium am liebsten einen das nicht. Natürlich hat sich der Markt ver- SPIEGEL: Viacom wies im Juli einen Quar- Nightclub eröffnet hätte. ändert. In den alten Tagen von Sex, Drugs talsverlust von 281 Millionen Dollar aus – Freston: Ich jobbte damals lieber in einer & Rock’n’Roll war er klein und über- bei Schulden von rund 4 Milliarden Dollar. Bar, sparte ein bißchen Geld und reiste ein schaubar. Heute können Sie ein Album Teile des Verlags Simon & Schuster wurden Jahr herum. weltweit 20millionenmal verkaufen, von abgestoßen. Die Videokette Blockbuster SPIEGEL: Danach warfen Sie in einer New dem Sie zu Beatles-Zeiten keine Million soll verkauft werden … Yorker Werbeagentur ziemlich schnell das loswurden. Freston: … während die Viacom-Tochter Handtuch. SPIEGEL: Prompt wird die Szene beherrscht Paramount Riesengewinne einfährt – im Freston: Als ich mir eine Kampagne für ein von Anwälten und Agenten, Marketing- TV und mit Kino-Ereignissen wie „Tita- Klopapier überlegen sollte, machte ich spezialisten und Bands wie den Backstreet nic“. Viacom wird sich in Zukunft auf das Schluß. Ich verstand einfach nicht, weshalb Boys, die in den Retorten der Werbestra- Unterhaltungsgeschäft im Fernseh- und ich all die Schulen und Universitäten ab- tegen entstehen. Filmbereich konzentrieren. Ich glaube solviert hatte, nur um die Leute am Ende nicht an diese Mega-Me- von einem neuen Klopapier zu überzeu- dienkonzerne, die kaum gen. Danach wollte ich noch ein Jahr durch Bunte Mischung noch wissen, was sie alles die Welt reisen. Daraus wurden acht Jahre Umsätze der Viacom 1997 in Milliarden Dollar treiben. Die neigen zur in Indien und Afghanistan … und wichtige Tochterfirmen Schwerfälligkeit. SPIEGEL: … wo Sie Prolo-Klamotten für Verlag Video, Musik und SPIEGEL: Sie werden bereits verwöhnte US-Großstädter produzierten. Macmillan Publishing Themenparks als Nachfolger von Via- Freston: Nennen wir es Ethno-Mode. Wir Simon & Schuster Blockbuster Video com-Chef Sumner Red- bauten Fabriken, kämpften mit Streiks und 2,43 Paramount Parks stone gehandelt. Stromausfällen. Das öffnete mir auch die Freston: Er ist 75, spielt täg- Augen für fremde Kulturen.Als die Russen lich Tennis und läuft man- in Afghanistan einmarschierten, war es al- gesamt 4,25 chem Twen davon. Ich bin lerdings Zeit, mich zu verabschieden. 13,2 mir nicht sicher, ob Red- SPIEGEL: Damals stiegen Sie als Marke- Fernsehen 2,7 stone überhaupt glaubt, tingchef und einer der Gründerväter bei MTV daß es für ihn einen Nach- MTV ein. Für die Kampagne „I want my VH1 3,82 Unterhaltung folger geben kann. MTV“ gewannen Sie sogar Stars wie Mick M2 Paramount SPIEGEL: Mister Freston, Jagger. Haben Sie in der Popszene echte Pictures wir danken Ihnen für die- Freunde gefunden? ses Gespräch.

160 der spiegel 42/1998 Werbeseite

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FRANKREICH dortigen Gesetzestexte studieren. Mir reicht mein gesunder Menschenver- stand. „Ich renne vor niemandem weg“ SPIEGEL: Trauen Sie deutschen Richtern nicht zu, daß sie einen Mann mit Ih- rer politischen Einstellung ge- Der Führer des rechtsextremen Front recht behandeln? national (FN), Jean-Marie Le Pen, 70, Le Pen: Ich glaube nicht daran. soll vor ein Münchner Gericht gestellt In allem, was den Zweiten Welt- werden, weil er auf einer Pressekonfe- krieg betrifft, sind deutsche Ge- renz in Deutschland die Judenvergasung richte gehalten, sich ans offi- als „Detail“ der Geschichte abgetan zielle Denken zu halten. Es geht hatte. Vergangene Woche hob das Euro- auch gar nicht um die Anwen- paparlament die Immunität des Abge- dung deutschen Rechts, sondern ordneten auf. um eine Manipulation von Me- dien, Justiz und Politik, die alle SPIEGEL: Erstmals soll sich ein französi- zusammen einen französischen scher Politiker vor deutschen Richtern Patrioten erledigen wollen. wegen Volksverhetzung verantworten. SPIEGEL: Bedauern Sie Ihre Be- Haben Sie den Mut, sich zu stellen, oder merkung über die Judenver-

machen Sie künftig lieber einen Bogen SYGMA nichtung? um Deutschland? FN-Vorsitzender Le Pen* Le Pen: Ich habe die Existenz Le Pen: Ich renne grundsätzlich vor nie- der Gaskammern nie geleugnet mandem weg. Aber ich habe auch wenig SPIEGEL: Sie riskieren fünf Jahre Gefäng- oder verharmlost.Aber schriebe man die Lust, Befehlen zu folgen, die mir vom nis. Waren Sie sich dessen bewußt, als Sie Geschichte des Zweiten Weltkriegs auf Ausland diktiert werden und die das die „Detail“-Bemerkung machten? tausend Seiten nieder, kämen den Gas- Grundrecht der Meinungsfreiheit verge- Le Pen: Ich kann doch nicht jedesmal, kammern allenfalls ein paar Zeilen zu. waltigen. Hat Jean-Marie Le Pen etwa bevor ich ins Ausland reise, erst alle Churchill, Eisenhower und de Gaulle ha- nicht das Recht, seine Ansicht über Gas- ben sie in ihren Kriegserinnerungen mit kammern zu äußern? * Bei einem tätlichen Angriff auf eine Sozialistin 1997. keinem Wort erwähnt.

NIGERIA General als Versöhner ührende Oppositionsaktivisten mit FLiteratur-Nobelpreisträger Wole Soyinka an der Spitze kehren diese Wo- che aus dem Exil nach Nigeria zurück. Soyinka folgt einem Appell des Staats- chefs Abdulsalam Abubakar. Der an ei- ner Aussöhnung aller Nigerianer inter- essierte General hatte den Schriftsteller getroffen, als er zur Eröffnung der Uno- Vollversammlung in New York weilte. Als Gegenleistung für die Heimkehr der Oppositionsführer versprach Abubakar, Sondereinheiten des Militärs aus dem

Ogoni-Land und anderen Ölförderungs- AP gebieten abzuziehen. Dort dauern Un- Iranische Kampftruppen an der Grenze zu Afghanistan ruhen an, die 1995 mit der Hinrichtung des Bürgerrechtlers Ken Saro-Wiwa AFGHANISTAN ban-Einheiten stehen und den islami- durch Abubakars Vorgänger Sani Aba- schen Fundamentalismus ins Gebiet der cha ihren Höhepunkt erreicht hatten. Achse Moskau–Teheran ehemaligen Sowjetunion tragen könn- ten. Moskau hat sich deswegen Teheran oskau profitiert von der Eskalation als neuen strategischen Verbündeten ge- Mim Konflikt zwischen Afghanistans sucht. Abgesandte des Außenministe- Taliban-Regierung und Iran: In der ver- riums bewirkten, daß Iran eine Luft- gangenen Woche lieferten sich Truppen brücke ins tadschikische Duschanbe beider Länder das erste Gefecht; nach einrichtete, um von dort aus die Reste Angaben aus Teheran erlitten die Tali- der Anti-Taliban-Koalition unter Ahmed ban „schwere Verluste“. Die Kämpfe im Schah Massud mit Waffen und Gerät zu Westen Afghanistans entspannen die unterstützen. Zudem fliegen Massud- U. BAUMGARTEN / VARIO-PRESS BAUMGARTEN U. AP Lage an den Grenzen zu Usbekistan Kämpfer via Rußland in iranische Aus- Soyinka, Abubakar und Tadschikistan, wo gleichfalls Tali- bildungslager.

der spiegel 42/1998 163 Ministerpräsident Prodi (2. v. l.) im römischen Parlament*: Unschuldiges Opfer eines sozialistischen Brudermords

ITALIEN Der gefällte Olivenbaum Die Koalition der linken Mitte unter Ministerpräsident Romano Prodi hat Italien zum stolzen Mitglied im Euro-Club gemacht. Nun versetzten die Kommunisten ihr den Todesstoß. Fällt das Land in die alte Gewohnheit der Verschwendung und der Instabilität zurück?

omano, bist du immer noch da?“ sicher, so lange auszuharren und sein er- pflegte Bundeskanzler Helmut Kohl klärtes Ziel zu erreichen – die „Kultur der Rmit leicht herablassender Jovialität Stabilität“ endlich fest in der flatterhaften seinen italienischen Kollegen bei ihren re- italienischen Politik zu verankern. gelmäßigen Treffen zu begrüßen. Deutsche Doch vorigen Freitag scheiterte der Wirt- Kanzler haben gemeinhin ein zähes Leben schaftsprofessor mit seiner Koalition der und können leicht scherzen. Italienische linken Mitte, ausgerechnet zu dem Zeit- Ministerpräsidenten sind zuweilen nicht punkt, da fast die ganze Europäische Uni- viel mehr als Eintagsfliegen. on rot geworden war. Prodi verlor eine Ver- Romano Prodis Regierung erreichte das trauensabstimmung im Parlament mit 312 reife Alter von 28 Monaten. 55 Kabinette gegen 313 Stimmen. Ein Teil der hartge- hat es in Rom seit Kriegsende gegeben, nur sottenen Abgeordneten vom Partito della ein Premier – der Sozialist Bettino Craxi – Rifondazione Comunista (PRC) hatte ihm schaffte es, sich länger im Amt zu halten. zuvor die Unterstützung entzogen. Noch nie hat eine Regierung der italieni- Der Anlaß für das Auseinanderbrechen schen Republik eine volle Legislaturpe- der Koalition im Zeichen des „Ulivo“, des riode durchgestanden. Olivenbaums, war der Haushaltsentwurf Das Datum, an dem er den Ausdauerre- für das kommende Jahr. Von der Regie- kord gebrochen hätte, stand Prodi immer rung Ende September verabschiedet, fest vor Augen: der 10. Mai 1999. Er war fast genügte er den Ansprüchen der Kommu-

nisten nicht: Das Budget enthalte zu wenig / CONTRASTO SCATTOLON FOTOS: * Bei der Vertrauensabstimmung am Freitag; 2. von Mittel, um die Arbeitslosigkeit zu bekämp- Oppositionsführer Berlusconi rechts: Prodis Stellvertreter Veltroni. fen und den Bedürftigen zu helfen. Geschenk für den Klassenfeind

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Das grenzte an „absurdes Theater“, wie gen. Doch gegen Ende der Woche glaubte Allzuoft hatte der Stehaufmann im Re- Prodis Stellvertreter, der Kulturminister sich der Ministerpräsident außer Gefahr: gierungsamt Kräche und Krisen in der Walter Veltroni von der Partei der Demo- Nach den Abzählappellen schien eine buntgemischten Koalition aus Linksdemo- kratischen Linken, verärgert feststellte.Vel- hauchdünne Mehrheit von zwei Stimmen kraten, Grünen, Bürgergruppen und Re- troni und der Generalsekretär der neuge- sicher. sten der ehemaligen Democrazia Cristiana gründeten Kommunisten, Fausto Bertinot- Schon rückten die Zeitungen das Kri- nicht nur überlebt, sondern war sogar ge- ti, sind alte Genossen, der PRC und die senthema auf die hinteren Seiten, in den stärkt aus ihnen hervorgegangen. Partei der Demokratischen Linken mitein- Fernsehinterviews orteten vorausschauen- So vor einem Jahr, als der kommunisti- ander rivalisierende Erben der unterge- de Abgeordnete bereits den nächsten sche Generalsekretär Bertinotti schon ein- gangenen KPI. Prodi, von der Herkunft Zwist, der sich etwa über einer möglichen mal die Zustimmung zu dem von Prodi vor- eher ein linker Christdemokrat, schien so Nato-Intervention im Kosovo entzünden gelegten Haushalt verweigern wollte. Auch das unschuldige Opfer eines sozialistischen könnte – Prodis Abgang schien den römi- damals wurden flammende Reden gehalten Brudermords zu werden. schen Auguren am Freitag morgen jeden- und feine Intrigen gesponnen. Just am 9. Ok- Denn Bertinotti lehnte einen Haushalt falls ziemlich unwahrscheinlich. tober 1997 trat Prodi dann formell zurück – ab, der nach all den Einsparungen und Kür- zungen, die Italien sich für den Beitritt zur Europäischen Währungsunion abgerungen hatte, erstmals wieder deutlich soziale Komponenten aufwies: Hilfen für Rentner und Familien, Steueranreize für die Schaf- fung von Arbeitsplätzen. Damit hat der Kommunistenchef der rechten Opposition im Lande, die mit ihrem Anführer Silvio Berlusconi eigentlich schon am Boden lag, einen unschätzbaren Dienst erwiesen. Einen „giorno fausto“, einen glücklichen Tag, habe der rote Ge- nosse dem jubelnden Klassenfeind be- schert, hieß es spöttisch in Anspielung auf Bertinottis Vornamen. Bewegt hatte Prodi am Tag vor der ent- scheidenden Abstimmung im Parlament seinen Blick zu den Abgeordnetenbänken der Kommunisten gewandt: Wenn die Par- lamentarier ihm entgegen der Parteilinie ihr Vertrauen schenkten, „was ich hoffe und erbitte“, dann werde dies „für Italien eine Tat von großer Bedeutung sein“. Ihn ganz persönlich, schob Prodi noch ein wenig Zucker nach, werde ein solches Verhalten „mit Freude“ erfüllen, und für die regierende Koalition der linken Mitte würde die Bestätigung eine „stärkere, fe- stere Mehrheit“ bedeuten. Die Danksagung klang feierlich und formvollendet, aber sie war verfrüht: An- derntags mußte der italienische Regierungs- chef unversehens seinen Rücktritt erklären. Den Ausschlag gab eine einzige Stimme. Die stammte freilich nicht aus dem Lager jener Kommunisten, die Prodi zuvor so lie- bevoll umworben hatte. Ein Abgeordneter aus dem eher konservativen Spektrum der Koalition, der zu einer von Außenminister Lamberto Dini angeführten Parlamenta- riergruppe gehört, entschied sich im letz- ten Augenblick gegen Prodi: Silvio Liotta, 63, einst Staatsbediensteter in Palermo. Gleich rankten sich Gerüchte um den Mann aus Sizilien: Hatte ihn vielleicht je- mand mit sachfremden Argumenten über- zeugt? Zwei Anhänger Berlusconis sollen Liotta jedenfalls bis zum letzten Moment bearbeitet haben. Prodis Sturz bildete den Höhepunkt ei- ner dramatischen Regierungskrise. Vor- ausgegangen waren tagelange Wortgefech-

te, die Spaltung des die Regierung stüt- SINTESI zenden PRC sowie handfeste Palastintri- Kundgebung der Kommunisten in Mailand: Absurdes Theater

der spiegel 42/1998 165 Ausland jedoch nur, um wenig später noch fester im blieb bei etwa zwölf Prozent, und die Pro- Amt zu sitzen. Bertinotti gab klein bei, nach- gnosen für das Wirtschaftswachstum muß- dem Prodi ein Gesetz über die Einführung ten von 2,5 auf 1,8 Prozent zurückgenom- der 35-Stunden-Woche versprochen hatte. men werden. Nach demselben Muster vollzog sich die Der Premier versprach dem armen Dramaturgie der aktuellen Regierungskri- Mezzogiorno, wo die Arbeitslosigkeit dop- se. Im römischen Parlament gilt Bertinot- pelt so hoch ist wie im Landesdurchschnitt, ti, 58, als politischer Peter Pan im grauen Investitionen und neue Arbeitsplätze. Er Flanell. Stets elegant gekleidet, mit hand- scheute sich, das geldverschlingende staat- gefertigten Schuhen, versteht es der bril- liche Pensionssystem neu zu ordnen. Kurz- lante Demagoge, seine Zuhörer mitzu- um, für einen wie Bertinotti mußte alles so reißen. Nicht selten aber verrennt sich der aussehen, als sei der zähe Sparwille er- einstige Gewerkschaftsführer aus reiner lahmt. Das ermutigte ihn, seine eigenen Lust am Streit und am Widerwort. Forderungen höher zu schrauben. Während der letzten Krise hatte es der Seit einiger Zeit werden zudem Massimo Präsident und Gründer des PRC,Armando D’Alema,dem Chef der Linksdemokraten, Cossutta, 72, noch verstanden, den Feuer- der selbst nicht im Kabinett sitzt, eigene kopf zu zügeln. Doch diesmal gingen die Ambitionen auf das Amt des Regierungs- Pferde richtig durch, alle Versuche des Altstalinisten Cossutta, seinen Generalsekretär umzustimmen, fruchteten nichts. Bertinotti war es gelungen, eine Mehrheit des Polit- komitees hinter sich zu bringen. Eine Gruppe von Trotzkisten im PRC, sonst hoffnungslos in der Min- derheit, stimmte für Bertinottis Po- sition. Stolz bekannte der Anführer dieser radikalen Splittergruppe her- nach: „Ich wollte schon immer mal eine Regierung stürzen.“ Dagegen stemmten sich die An- hänger von Cossutta, die in der Par- lamentsfraktion die Mehrheit haben. Pathetisch erklärte der Altkommu- nist vergangenen Mittwoch den Aus- zug aus dem PRC. Cossutta, ein Mann, der Moskau stets die Treue gehalten hatte, bewies plötzlich Ei- gensinn: „Es gibt Momente, da darf man nicht gehorchen.“ Bertinotti

giftete zurück: „Andere haben die AP Partei auch verlassen, und sie wurde Kommunistenchef Bertinotti: Mit kalter Hand dadurch nicht geschwächt.“ Cossutta bezichtigt Bertinotti, den chefs nachgesagt. D’Alema weiß, daß er als Haushaltsentwurf, der nun zum Stolper- einstiger Kommunistenfunktionär in re- stein für Prodi wurde, nur zum Anlaß ge- gulären Wahlen kaum Chancen hat, ins Re- nommen zu haben für den Bruch. In Wahr- gierungsamt zu kommen. So mag er in der heit habe der Generalsekretär die Krise von Bertinotti angezettelten Zerreißprobe „von kalter Hand“ vorbereitet und dies auf die Gelegenheit gehofft haben, eine bereits in einem internen Brief im Mai an- Übergabe der Stafette einzuleiten. gekündigt. Gut möglich aber auch, daß die Linke Vielleicht hatte Bertinotti aber auch nur sich um die Macht gebracht hat. Weder gespürt, daß der Regierung allmählich die Bertinotti noch D’Alema können ein In- Luft ausging. Zwei Jahre lang hatte der Re- teresse an Neuwahlen haben, denn derzeit former Prodi seine ganze Energie auf ein würden nur die Konservativen vom selbst- Ziel gerichtet: den unsicheren Kandidaten zerstörerischen Kurs der Ulivo-Partner Italien von der ersten Stunde an zum Mit- profitieren. Überdies beginnt in sieben Wo- glied im Club der Euro-Länder zu machen. chen das sogenannte weiße Semester: So Dafür hielt er eiserne Disziplin, sparte und nennen die Italiener die Periode von sechs sanierte, forderte den Bürgern sogar eine Monaten, bevor ein neuer Staatspräsident eigene Europa-Steuer ab. gewählt wird; das Parlament darf in dieser Doch nun, da die große Tat gelungen Zeit nicht aufgelöst werden. war, drohten auch alte Untugenden wie- Er werde nun „nach Hause gehen“, er- derzukehren. Prodi zeigte sich mehr und klärte Prodi nach seiner Niederlage. Seine mehr spendabel, obwohl er das Defizit nur wichtigste Leistung, der Euro, aber bleibt, wegen sinkender Zinsen unter die Marke und deswegen kann es dem Rest Europas von drei Prozent des Bruttoinlandspro- nicht egal sein, ob Italien weiter auf Stabi- dukts drücken konnte. Die Arbeitslosigkeit litätskurs bleibt. ™

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RUSSLAND Knüppel im Sack Was als zweite Oktoberrevolution angekündigt war, endete in ohnmächtigem Zorn. Die meisten Unzufriedenen mochten nicht unter roten Fahnen marschieren. s war wie vor einem großen Krieg: vor sich hin: „Wir brauchen gar keinen Prä- die roten Fahnen einreihen mochten. In Die Regierung ließ vorsorglich die sidenten. Eine Regierung der Volksmacht Krasnojarsk setzte sich General-Gouverneur EKohl- und Kartoffelvorräte schätzen, tut not.“ Zwei Rentner neben ihr skan- und Präsidenschaftsanwärter Alexander Le- an der Chicagoer Getreidebörse kletterte dierten: „Nieder mit Jelzin! Vors Gericht bed an die Spitze der Demonstranten – und der Weizenpreis. Waffenträgern war er- mit der Jelzin-Bande!“ Ein Transparent sammelte dabei mehr Volk hinter sich als höhte Alarmbereitschaft befohlen. kam in ihr Blickfeld: „Das ist gut, das muß KP-Chef Gennadij Sjuganow in Moskau. Offiziere erhielten rasch noch ihren lan- man laut rufen, damit es alle hören: Jelzi- „Unsere KP“, kritisierte ein Metall-Funk- ge ausstehenden Sold,Wodka wurde unter nismus – Zynismus! Hoch die Sowjetunion, tionär, „brüstet sich als Avantgarde, ist aber strenge Staatsaufsicht gestellt. Schulkinder nieder mit Jelzin! Raus aus dem Kreml mit längst zum traurigen Nachtrab geworden.“ blieben daheim, Krämer und Kioskbesitzer diesem versoffenen Mistkerl“, grummelte Am Ende waren alle mit der Pflicht- sperrten zu, Ausländer schickten Ehefrau- Marja Fjodorowna. übung öffentlicher Rebellion zufrieden: der en und Kinder in die Heimat. Ein junger Zeitungsverkäufer rief die weiter amtierende Jelzin, die KP-Genos- Massenhaftes Aufbegehren im ganzen Schlagzeile aus: „Lebensmittel reichen sen, weil sie Dampf ablassen und die Hand Land hatten Gewerkschaften und Kom- noch bis Dezember.“ Er bekam zu hören: am Ventil halten durften, die Demonstran- munisten für vorigen Mittwoch angekün- „Ach Söhnchen, was haben sie aus unse- ten, weil sie ihren Zorn hinausgeschrien digt: streikende Betriebe von Kaliningrad rem Rußland gemacht, diese elenden Ka- hatten, und die Polizisten, weil ihnen die im Westen bis Kamtschatka im Osten, ge- pitalisten? Rußland, halte durch! Diesen Konfrontation mit dem Volk erspart blieb. waltige Aufmärsche, riesige Und Premier Jewgenij Primakow sah sei- Kundgebungen – eine Gene- ne Kompromißformel bestätigt, alle Unzu- ralprobe des Machtwechsels friedenheit bestehe zwar zu Recht, doch war angesagt. Halb furchtsam, niemand dürfe „mitten in der Krise das halb erwartungsfroh zitierten nationale Boot zum Kentern bringen“. Oppositionspolitiker das Nur einer bezahlte die dosierte Aufre- Puschkin-Wort vom „schreck- gung des Protest-Mittwochs mit dem Le- lichen russischen Aufruhr ohne ben: Ein Rentner fiel an der Stelle tot um, Erbarmen“. wo vor elf Jahren der deutsche Jung-Flie- Aber der Bürger-Krieg fand ger Mathias Rust zu Boden gegangen war. nicht statt. Weit weniger Rus- Die Polizei beteuerte, es sei „reines Herz- sen gingen hin als von den versagen“ gewesen. Organisatoren einer zweiten Oktoberrevolution erhofft. Rußlands KP hatte 40 Mil-

lionen Erniedrigte und Be- REUTERS leidigte auf den Straßen er- Präsident Jelzin, Premier Primakow: „Schaukelndes Boot“ wartet, die Gewerkschafts- führung wenigstens die Hälfte. Es kamen Schuften keinen Fußbreit Boden.Ach Ruß- 1,3 Millionen. land, Rußland …“ Boris Jelzin, das Ziel der Proteste, war Die russische Provinz tappte nur halb- am Tag des nationalen Widerstands in sei- herzig mit, verstört von der kommuni- nem Kreml-Büro erschienen. Die Familie stischen Doppelstrategie, den Kuchen hatte geraten, Großvater solle lieber in sei- gleichzeitig essen und behalten zu wollen, ner Vorort-Residenz Gorki 9 den Herbst einerseits das höchst dehnbare soziale genießen, in Moskau sei es „zu gefährlich“. Gewissen der verelendenden Massen zu Doch Feigheit vor dem Volk, das ihn einst verkörpern, andererseits als stiller Teil- als Helden verehrt hatte, mochte der müde haber an der neuen, seit vier Wochen am- Präsident nun doch nicht bekunden. Statt tierenden Regierung aufzutreten. auf die Datscha zu fliehen, zeigte er sich im Die Gewerkschaften, von der Basis der Fernsehen an seinem Arbeitsplatz. Werktätigen ebensoweit entfernt wie zu So- Knapp 50 000 Moskowiter zogen über wjetzeiten, zogen eine positive Bilanz: Zwar die Moskworezki-Brücke zum Roten Platz seien die Demonstrationen schlecht besucht vor die Ziegelmauern seiner Burg, da ga- gewesen, aber die Warnstreiks wären ein ben die Zivilfahnder schon Entwarnung: voller Erfolg. In 39000 Betrieben hätten Der Auflauf sei „friedlich strukturiert“, der zwölf Millionen Proletarier keinen Finger Knüppel blieb im Sack. Die vielen Son- gekrümmt. Nur, das tun sie auch sonst nicht derpolizisten in den Nebenstraßen durf- eben emsig, denn die meisten dieser Staats- ten in ihren Bussen sitzen bleiben. unternehmen sind längst pleite. Die Demonstrantin Marja Fjodorowna, Viele potentielle Meuterer hielten sich 69, schimpfte auf dem Marsch zum Kreml nur deshalb abseits, weil sie sich nicht unter

168 der spiegel 42/1998 Teil des Groß- und Einzelhandels sowie besonders einträgliche Branchen in ihre „Obhut“ genommen haben. Eine Steuerreform ist fällig, welche die Schlüssel zum Erfolg Abgabenlast auf jenes Maß reduziert, das es lebensfähigen Unternehmen erlaubt, mit Eine stabile Währung, Preiskontrollen, Schutz der heimischen Gewinn Waren zu erzeugen und Dienst- leistungen zu erbringen. So würde es Produzenten – mit welchen Rezepten kann die neue unnötig, sich der Tricks und Betrügereien Regierung die Wirtschaftskrise meistern? Von Oleg Bogomolow zu bedienen, um Steuern zu umgehen. Zu- gleich ist die strafrechtliche Verantwortung und Rentenschulden, für Steuerhinterziehung zu verschärfen. Professor Bogomolow, 71, lei- bemüht sich um höhe- Wegen der drastischen Reduzierung des tet das Institut für internatio- re Haushaltseinnahmen Geldvolumens leidet die Wirtschaft unter nale Wirtschafts- und Politik- und die Eindämmung Geldnot. Das Betriebskapital von Unter- forschung der Akademie der der Inflation. nehmen ist unter jedes erdenkliche Maß Wissenschaften in Moskau. Er Noch fehlen klare geschrumpft. Das Verhältnis der umlau- beriet einst den Reformpräsi- Vorstellungen darüber, fenden Geldmenge (M2) zum Bruttoin- denten Gorbatschow und ist wie eine sozial orien- landsprodukt ist von 79 Prozent 1990 auf 13 jetzt Mitglied einer Experten- tierte Marktwirtschaft in Prozent im Jahre 1998 zurückgegangen. In gruppe, die für die neue Re- Rußland zu errichten ist den westlichen Industriestaaten und selbst gierung Primakow ein Wirt- und wie sie wachsen in osteuropäischen Ländern, die sich im schaftsprogramm entwirft. soll. Der Schlüssel zum Übergangsstadium befinden, ist diese Re-

FOTOS: P. KASSIN P. FOTOS: Erfolg liegt im Aufbau lation drei- bis viermal so hoch. richtig funktionierender An die Stelle der fehlenden Geldmenge, ngesichts des drohenden wirt- Institutionen und in der industriellen und die auf 300 Milliarden Rubel geschätzt schaftlichen Zusammenbruchs muß kommerziellen Umstrukturierung. wird, ist „Ersatz“ getreten, so in Form von Adie neue Regierung unter akuter Erstens ist es nötig, die staatliche Ver- Tauschhandel, ausländischen harten Wäh- Zeitnot handeln, derweil sich das Mißtrau- waltung Schritt für Schritt zu stärken, die rungen, Schuldscheinen und wechselseiti- en gegenüber staatlichen Institutionen stei- Auswahl der Beamten und ihre Qualifika- ger Nichtzahlung. Das hob das Währungs- gert. Die Feuerwehraktion wird nicht ohne tionen zu verbessern, Korruption ent- system aus den Angeln und führte zu er- Fehler ablaufen, doch die Grundrichtung schlossen auszuschalten und übertrieben heblichen Verlusten im Staatshaushalt. scheint zu stimmen: große Mitarbeiterstäbe zu verkleinern. Das Innerhalb Rußlands befinden sich etwa Das Kabinett versucht, den Rubelkurs gilt besonders für die Streitkräfte, die Ju- 40 Milliarden Dollar-Banknoten im Um- auf ökonomisch vertretbarem Niveau zu stiz und den Strafvollzug sowie das Präsi- lauf, weit mehr als die Menge der im Lan- stabilisieren. Es will das Bankensystem ak- dentenamt und den Regierungsapparat. de zirkulierenden Rubel. Vorschläge wer- tivieren und sanieren, In- und Auslands- Der Staat muß eine wirksame Kontrol- den laut, parallel zum heutigen Rubel eine schulden begleichen und private Guthaben le der Monopole durchsetzen und mafiose harte und frei konvertierbare Währung ein- mit Garantien schützen. Die Regierung Gruppen eliminieren, die in der Vergan- zuführen: den Goldrubel oder Tscherwo- macht sich an die Tilgung von Lohn- genheit viele Banken, den überwiegenden nez, abgesichert durch Gold- und Devi- senvorräte sowie andere liquide Werte. Nach dem jüngsten Zusammenbruch wird es äußerst schwierig sein, Vertrauen für eine solche harte Währung zu gewin- nen; anders würde sie am Markt aber nicht akzeptiert. Wenn bei ihrer Emission die zentralen Bankinstitute Rußlands und der Europäischen Union zusammenwirken und wir uns am Euro orientieren, könnte sich dieses Vertrauen aber durchaus ein- stellen. Will der Staat die riesige Kapitalflucht aus Rußland stoppen, die sich auf 100 bis 150 Milliarden Dollar schätzen läßt, wird er ohne eine härtere Devisenkontrolle und Restriktionen des Kapitalverkehrs nicht auskommen können. Ich möchte eine gewisse Zunahme im Geldvolumen und bei der Kreditvergabe nicht ausschließen. Würde das Gelddefizit verringert oder ganz abgeschafft, könnte das zu einer höheren Nachfrage führen, was wiederum brachliegende Produk- tionskapazitäten aktivieren würde. Der Staat muß zusätzliche Nachfrage in Kanäle lenken, in denen die Gefahr einer

Jelzin-Gegner auf dem Roten Platz „Raus aus dem Kreml mit dem Mistkerl“ 169 Inflation minimal ist. Zum Beispiel könn- ten neue Bankkredite in Form zweckge- bundener Darlehen gewährt werden, um in der verarbeitenden Industrie das Betriebs- kapital wiederherzustellen. Grundlage für den Durchbruch des Landes zu wirt- schaftlichem Wachstum sollte die Ausla- stung derzeit stilliegender Produktions- kapazitäten in der verarbeitenden Indu- strie sein. Große Kapazitäten sind vorhanden. Sie werden nicht richtig genutzt, nicht wegen Ineffizienz, sondern wegen der gewaltig überhöhten Preise für Rohstoffe, Energie und Transport, des Zusammenbruchs der wirtschaftlichen Verbindungen zu den Län- dern der GUS, der Einfuhr von Waren und der Verringerung der Nachfrage. Die Nutzung solcher Kapazitäten erfor- dert keine größeren Neuinvestitionen.Vie- le Unternehmen können sofort anfangen, mehr Waren herzustellen, sobald sich die notwendige Nachfrage einstellt. Die Stärkung der Kaufkraft des einzel- nen zählt daher zu den dringendsten Auf- gaben einer politischen Kurskorrektur. Die extrem niedrige Kaufkraft der russischen Bevölkerung wurde zur Hälfte für Import- waren aufgewendet, so daß der Markt viel zu klein ist für inländische Unternehmen, die in der Lage sind, einigermaßen wett- bewerbsfähige Produkte herzustellen. Um dem Wirtschaftswachstum einen Impuls zu geben, ist es nötig, den Markt für nationa- le Hersteller auszuweiten.Ansonsten wird die Produktion weiterhin stagnieren. Entgegen allen Postulaten des Liberalis- mus ist Rußland ganz und gar nicht in der Lage, aus dem wirtschaftlichen Schlamas- sel herauszukommen, ohne irgendeine Art von Preiskontrolle einzuführen. Das ist be- sonders dringend in den stark monopoli- sierten Bereichen wie der Öl- und Gas- industrie, im Schienenverkehr, bei der En- ergieerzeugung und im Informations- und Kommunikationswesen. Die mechanische Übertragung von Welt- marktpreisen auf russisches Terrain hat verheerende Auswirkungen gehabt. Es wird weithin anerkannt, daß ein Land von so großen Dimensionen wie Rußland seine Volkswirtschaft hauptsächlich für den Bin- nenmarkt entwickeln muß, wenn es nicht zum Rohstoff- und Energieanhängsel der Industriestaaten werden will. Die russischen Produzenten brauchen Schutz gegenüber ausländischen Waren, die sie sonst vom heimischen Markt fegen. Zu den Instrumenten zählen Maßnahmen gegen Dumping, Steuerbefreiungen, Quo- ten und Außenhandelslizenzen. Die Zoll- und Tarifpolitik sollte weniger fiskalischen Zwecken als der Förderung der nationalen Produktion dienen. Ein neuer Reformstart setzt Initiativen und Eingriffe des Staates voraus mit dem vorrangigen Ziel, eine Konkurrenz im ei- genen Land zu schaffen: Das ist der Kern jeder Marktwirtschaft. ™

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SIPA Türkische Artillerie im Einsatz gegen PKK-Stellungen: „Wir haben die Macht, den Glauben und den Mut“

TÜRKEI Zu Mittag in Damaskus Die Regierung und die Armeeführung in Ankara bringen mit ihren Drohungen gegen Syrien den Nahen Osten in Aufruhr. Das türkische Militär ist offenbar entschlossen, den kurdischen Partisanen der PKK ihre letzte Zuflucht zu nehmen.

ie Kriegs- und Revolutionsjahre US-Präsidenten Bill Clinton in Washing- hatten ihm zugesetzt, die Zigaret- ton wissen, daß ein Angriff der türkischen Dten und sein geliebter Anisschnaps Armee auf sein Land zu einem „vollstän- nicht minder. Mustafa Kemal Atatürk, der digen Zusammenbruch des Friedenspro- „Vater der Türken“, war krank und hinfäl- zesses“ in der Region führen werde. lig geworden, und so ging er daran, sein Das türkische Militär scheint entschlos- Haus zu bestellen. Mit den alten Kriegs- sen, ein für allemal mit der Bedrohung gegnern England, Frankreich und Grie- durch die separatistische Arbeiterpartei chenland hatte er sich längst versöhnt; nun Kurdistans (PKK) aufzuräumen. Der Guer- folgten, im Juli 1937, die östlichen Nach- rillakrieg, den die Kämpfer der PKK seit barn: Iran, Irak und Afghanistan. 14 Jahren im Südosten der Türkei für ei-

Kurz nach Abschluß des Freund- DPA nen unabhängigen Kurdenstaat führen, schaftspakts stellten ihm die Ärzte die fa- Guerrilla-Führer Öcalan hat auf beiden Seiten mehr als 30000 Op- tale Diagnose: Leberzirrhose. Am 10. No- 30000 Tote im Befreiungskampf fer gefordert. vember 1938 starb der Republikgründer – Immer wieder verfolgten türkische Trup- nicht ohne seinen Landeskindern ein pen die Rebellen in den Nordirak, wo sie ih- großes Wort zu hinterlassen: „Yurtta sulh, nen empfindliche Schläge versetzten. PKK- cihanda sulh“ – Friede im Lande, Friede in Chef Abdullah Öcalan, genannt „Apo“, On- der Welt. kel, mußte schwere Niederlagen hinneh- Sechzig Jahre nach Atatürks Tod und men. Aber die Generäle in Ankara wissen, drei Wochen vor den großen Jubelfeiern daß sie die PKK nicht ganz ausschalten zum 75. Jahrestag seiner Republik stehen können, solange deren Partisanen in Syri- die Erben vor dem Bruch mit seinem Ver- en und im syrisch kontrollierten Libanon si-

mächtnis. Die türkische Armee marschiert AP cheren Unterschlupf finden. an der 880 Kilometer langen Grenze zu Vermittler Mubarak, Präsident Demirel Binnen 45 Tagen, so beschloß nun das Syrien auf – entschlossen, so Außenmini- Warnung vor Bruch mit den Arabern türkische Parlament, solle Syrien alle For- ster Ismail Cem, „zu tun, was notwendig derungen erfüllen, die Ministerpräsident ist. Wir haben die Macht, die Erfahrung, Mesut Yilmaz vor den Abgeordneten auf- den Glauben und den Mut dazu“. Gene- gezählt hatte: Damaskus müsse Öcalan ralstabschef Hüseyin Kivrikoglu sprach von ausliefern, alle PKK-Lager in Syrien und in einem „unerklärten Krieg“, und das Par- der libanesischen Bekaa-Ebene schließen lament in Ankara setzte dem Regime in sowie alle Kurdenkämpfer aus dem Land Damaskus eine „letzte Frist“. weisen. „Ich warne nicht nur Syrien, ich Der Nahe Osten, aber auch die Nato- warne die Welt. Das kann so nicht weiter- Partner der Türkei wurden von dem plötz- gehen“, bekräftigte Staatspräsident Süley- lichen Ausbruch des Konflikts völlig über- man Demirel.

rascht. Die Auswirkungen könnten weit / GAMMA STUDIO X C. VIOUJARD Die türkischen Medien verfielen in einen reichen: In einer vertraulichen Botschaft Syriens Staatschef Assad Taumel, der an die Prahlsucht des wilhel- ließ Syriens Staatschef Hafis el-Assad den „Anmaßende Großtürken“ minischen Deutschland erinnerte: Von

der spiegel 42/1998 171 „rotznäsigen Syrern“ ging die Rede, die Zudem hält Ankara immer wieder mal man „im Wasser ersaufen“ solle; die man- dringend benötigtes Euphrat-Wasser zu- gelnde Anerkennung der Welt für die rück. Seit dem Ausbau gewaltiger Stau- „große“ Türkei wurde beklagt. Die natio- damm- und Bewässerungsanlagen kann die nalkonservative Tageszeitung „Hürriyet“ Türkei ihren Nachbarn Syrien und Irak je- zitierte einen hohen Militär mit der Ankün- derzeit die Lebensadern Euphrat und Tigris digung, der Krieg werde ein Spaziergang: durchtrennen.Verhandlungen über die ge- „Zu Mittag sind wir in Damaskus.“ rechte Wasseraufteilung sind seit Jahren Die Syrer wiederum glaubten genau zu festgefahren. wissen, wer hinter dem martialischen Ge- Die PKK setzt Assad deshalb genauso pränge stecke: der Erzfeind Israel, mit dem als Faustpfand gegen die Türkei ein wie die die Türkei seit 1996 militärisch eng zusam- Hisbollah im Libanon gegen Israel. Sollte menarbeitet. Die beiden Partner halten ge- Assad, wegen seines unberechenbaren Tak- meinsame Manöver ab, die Türken lassen tierens als „Sphinx von Damaskus“ verru- ihre F-16-Kampfjets in Israel modernisie- fen, sich diesmal verrechnet haben? Wie ren, und israelische Piloten üben im weiten beim Serben Milo∆eviƒ besteht seine Poli- Luftraum über Anatolien. tik oft aus einer Gratwanderung am Ab- Das hat in Damaskus akute Ängste vor grund; als wäre er von Spielleidenschaft einer Einkreisung geweckt. „Die Span- getrieben, erhöhe er den Einsatz bis zum nungen werden lange anhalten, die Lage Äußersten, um die Grenzen des Gegners wird weiter eskalieren. Das nützt allein auszuloten, hat der irakische Politologe Benjamin Netanjahu und seiner Politik“, Ghassan Atijja beobachtet. sagt Außenminister Faruk el-Schara. Deshalb ist es kaum vorstellbar, daß So wie Israel die syrischen Golanhöhen Assad bald einlenkt und sich dem Ultima- besetzt halte, wolle die türkische „Militär- tum der Türken beugt. Seit dem Aufmarsch junta“ einen Grenzstreifen im Norden als der türkischen Truppen soll Öcalan oh- Pufferzone okkupieren, glauben die Poli- nehin nicht mehr in Damaskus residieren. tiker in Damaskus. „Ankara will versu- Angeblich ist der Kurdenführer in den chen, eine Tür auf einer Breite von fast 900 Nordirak geflohen. Kilometern aufzustoßen“, meint ein syri- Käme es zu einer bewaffneten Ausein- scher Generalstabsoffizier. „Aber diese Tür andersetzung, träten zwei militärische Gi- läßt sich nicht wieder schließen. Dann wird ganten gegeneinander an. Syrien unterhält die Junta erleben, was ein wirklicher Guer- mit 320000 Soldaten eine der größten ste- rillakrieg ist.“ henden Armeen des Nahen Ostens; die tür- So explosiv kam dem ägyptischen Prä- kischen Streitkräfte sind mit 640000 Mann sidenten Husni Mubarak die Lage vor, daß sogar doppelt so stark. Zudem können bei- er sich vorigen Dienstag als Vermittler nach de Seiten im Kriegsfall Hunderttausende Ankara begab. Dort überreichte ihm sein von Reservisten einberufen. türkischer Kollege Demirel ein Dossier für Aber das Gros der syrischen Streitkräf- die Syrer; es enthielt Öcalans angebliche te ist im Süden stationiert, weit weg von Adresse in Damaskus, seine Autokennzei- der neuen Krisenregion. Eine Verlegung chen, seine Telefonnummern sowie Zeug- nach Norden bei gleichzeitigem Schutz der nisse westlicher Politiker, die „Apo“ in Sy- Südgrenze gegen den türkischen Partner Is- rien getroffen haben. rael würde Assads Generäle vor Probleme „Wenn es zu einem Krieg kommt, wird stellen. Deshalb verläßt Syrien sich gern sich die arabische Welt gegen Sie stellen“, auf seine Abschreckungswaffen: Präsident warnte Mubarak. Demirel erwiderte, die Assad gebietet über 1000 Kurz- und Mit- Türkei bemühe sich seit 14 Jahren um einen telstreckenraketen, von denen sich viele Dialog mit Damaskus, dennoch müsse man wohl auch mit chemischen Sprengköpfen täglich „Märtyrer“ des Kampfes gegen den bestücken ließen. Terrorismus begraben. Gegen die böten auch die dichtgestaf- Rätselhaft blieb nur, warum die Regie- felten türkischen Grenzbefestigungen kei- rung in Ankara gerade jetzt ihre Kriegsge- nen Schutz. Östlich von Mardin, wo bei- sänge anstimmte, denn die Vorwürfe ge- derseits der Grenze Kurden wohnen, steht gen Syrien sind allesamt seit langem be- alle paar hundert Meter ein Wachturm. kannt: Assad benutzt die PKK als Stachel, „Daß hier einer unbeobachtet die Grenze um die „egoistischen und anmaßenden überschreitet“, sagt der diensthabende Un- Nachfahren der Großtürken“ (Radio Da- teroffizier, „ist fast ausgeschlossen.“ maskus) piesacken zu können. Er kommandiert den Grenzposten in Die nach dem Ersten Weltkrieg von den Karkami≠, wo der Euphrat nach Syrien Siegermächten willkürlich gezogene Gren- fließt; „Önce vatan“ und „Hudut namu- ze des neuen Staatswesens Syrien ist bis stur“ heißt es über dem Eingang der Kom- heute umstritten. In Schulatlanten sind die mandantur: „Das Vaterland zuerst“ und türkischen Städte Iskenderun und Antakya „Die Grenze ist unsere Ehre“. Der Unter- als syrisch eingetragen. Die gesamte Pro- offizier und seine Männer haben seit An- vinz Hatay, die wie ein Finger nach Syrien fang letzter Woche Urlaubssperre. Auf die hineinragt, fiel erst 1939 an die Türkei. Da- Frage, ob er mit Krieg rechne, fragt der maskus hat sich bis heute geweigert, die Wachführer streng zurück: „Was halten Sie Abtretung anzuerkennen. eigentlich von der PKK?“ ™

172 der spiegel 42/1998 Werbeseite

Werbeseite steuer hat sie indes schon einge- PROPAGANDA führt, außer Brot wird alles teurer. Wehrpflichtige Männer ver- Fünfte Kolonne stecken sich wieder, wie schon während des Bosnienkriegs, in Woh- Kriegshysterie in Belgrad: nungen von Bekannten, um nicht zwangsrekrutiert zu werden. Einige Radikale Serbenführer rufen zur Krankenhäuser setzen ihre halb- Jagd auf westliche Ausländer. wegs gehfähigen Patienten auf die Straße, um Platz für künftige en serbischen Politikern sagte „Kriegsopfer“ zu schaffen. schon Reichskanzler Bismarck, der Die 1,6 Millionen Einwohner der Dehrliche Balkan-Makler des Berli- Hauptstadt werden auf Luftangriffe ner Kongresses 1878, „ein aufschäumen- vorbereitet. In Belgrad soll es rund des Wesen“ nach. Aber die Serben, deren 1500 Schutzkeller geben, die etwa staatliche Unabhängigkeit damals bestätigt die Hälfte der Bevölkerung aufneh- wurde, liebten ihn, hatte er doch auch ver- men könnte. Der Rest müßte in Un- sichert, er verhandle nicht mit Bergtürken, terführungen Zuflucht suchen. So- er kenne keine Albaner. bald die Sirenen heulten, so die An- Der Spruch könnte heute so ähnlich weisung, hätten sich die Bürger dort vom jugoslawischen Präsidenten Slobodan mit Überlebensausrüstung einzu- Milo∆eviƒ stammen. Nur die Wertschätzung finden: Wasser, Nahrung und Do- für die Deutschen ist dahin. senöffner, persönliche Dokumente, Je näher ein militärischer Schlag der Transistorradio für die Mitteilungen Nato gegen Serbien rückt, um so schriller des Krisenstabs, Wundpflaster und

und absurder klingt die Kriegshysterie in AFP / DPA Beruhigungstabletten. Belgrad. „Sie haben uns bombardiert, zer- Albanische Flüchtlinge: Angst vor Geiselhaft Der aus dem Bosnienkrieg be- stört, getötet – 1914, und wir rüchtigte Freischärlerboß Zeljko haben sie besiegt“, erklärt der Raznjatoviƒ, genannt Arkan (Raubkatze), stellvertretende Regierungs- von Interpol gesuchter Verbrecher und chef Vojislav e∆elj, „sie haben Chef der Partei der Serbischen Einheit, uns auch 1941 bombardiert, un- kündigte an, seine paramilitärischen sere Frauen und Kinder ge- „Tiger“-Truppen zu mobilisieren. Es gehe mordet, unser Volk in die Kon- um die Verteidigung des heiligen serbi- zentrationslager verschleppt, schen Landes, man werde nicht vor der dennoch haben wir sie besiegt. Nato in die Knie gehen. So müssen wir Deutschland Doch auch dort, wo ein Nato-Schlag auch dieses Mal schlagen, wie noch vor kurzem ersehnt wurde – im Ko- alle seine Verbündeten, die sovo –, reagiert die drangsalierte albani- über unser Territorium herfal- sche Zivilbevölkerung beklommen auf die len wollen.“ sich überstürzenden Ereignisse. „Wir haben Für die Belgrader Regierung Angst“, sagt ein Funktionär in der Kosovo-

steht außer Zweifel, daß REUTERS Führung, „daß die Allianz den Bogen über- „Deutschland der Förderer des Milo∆eviƒ, Schulkinder: Vor der Nato nicht in die Knie spannt hat und konzeptionslos in einen albanischen Terrorismus“ ist. Krieg schlittert, dessen Ausgang sich für Zwischen München und Hamburg tum- Der ehemalige Soziologiedozent e∆elj uns als Bumerang erweisen kann.“ melten sich „unter dem Schutz des BND“ rief auch zu scharfem Vorgehen gegen Die meisten Albaner hätten lieber in- unzählige „Kampfzellen der UÇK“, die für die „fünfte Kolonne“ im Lande auf – Di- ternationale Friedenstruppen als Luft- ihren Traum vom großalbanischen Reich plomaten, Journalisten, Vertreter interna- angriffe, denn sie fürchten, nach Bomben- Sympathisanten fänden. In allen Parteien tionaler Hilfsorganisationen, „Kollabora- abwürfen in Geiselhaft genommen zu – außer der PDS – gebe es großzügige teure“ und „Agenten“. Ausländer aus werden. Schon berichtet die Organisation Spender, die albanische Freischärler un- Nato-Staaten sollten Serbien schleunigst „Ärzte ohne Grenzen“, medizinisches Per- terstützten. Die Bundeswehr beliefere die verlassen, riet er: „Wir werden vielleicht sonal im Kosovo werde gezielt angegrif- Untergrundarmee mit alter Militärausrü- nicht jedes Nato-Flugzeug vom Himmel fen, die Serben würden Hilfsgüter ver- stung der DDR, und die Medien seien holen, aber wir werden den schnappen, brennen oder zerstören. längst gleichgeschaltet im propagandisti- der in unserer Reichweite ist.“ Die Bot- Das belagerte Regime setzt in der Pro- schen Getöse für einen neuen Balkankrieg. schaften der westlichen Länder reduzierten paganda sogar schon auf die Wirkung Deshalb ordnete das serbische Infor- ihr Personal auf ein Minimum. angeblicher Wunderwaffen: Verteidigungs- mationsministerium vorige Woche „Maß- Ein Land igelt sich ein.Wut und Haß auf minister Pavle Bulatoviƒ habe bei seinem nahmen gegen die psychologische Kriegs- den Westen, der „Serbien zerstören will“, Besuch in Moskau das moderne Luft- führung“ des Feindes an. Per Dekret hat einen Großteil der Bevölkerung erfaßt. abwehrsystem S-300 bestellt, vor dem die wurde jede „Übernahme ausländischer In langen Kolonnen warten die Autofahrer Nato sich fürchte. Presseinformationen in gedruckter oder vor den Zapfsäulen. Vorrang bei der Ver- Sollte es noch nicht einsatzbereit sein, audiovisueller Form“ verboten; den Redak- sorgung mit Treibstoff haben jetzt die weiß die Wochenzeitung „Nedeljni Tele- tionen kleiner unabhängiger Radiostatio- Streitkräfte. graf“ Abhilfe: Pensionierte Piloten der nen und Zeitungen drohten die Behörden In den Geschäften stehen die Menschen Luftwaffe hätten sich für Kamikaze-Einsät- an, Verstöße hart zu ahnden. Sendungen für Hamsterkäufe an, obwohl die Regie- ze gemeldet – bereit, ihr Leben zu opfern, von Deutscher Welle, BBC und Radio Free rung bisher vermied, den Ausnahmezu- um die amerikanische Flotte aus der Adria Europe werden nicht mehr ausgestrahlt. stand offiziell zu erklären. Eine Kriegs- zu vertreiben. ™

174 der spiegel 42/1998 Werbeseite

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USA Lächelnde, winkende Diva

Der Balkan brennt, die Weltwirt- schaft trudelt, doch in Washington versinkt der US-Präsident immer tie- fer im Strudel der Sex-Affäre um sei- ne Ex-Praktikantin Monica Lewinsky. Am Donnerstag vergangener Woche entschied das Abgeordnetenhaus mit der Mehrheit der Republikaner und auch einem Teil der Demokra- ten, das Impeachment-Verfahren zu eröffnen, mit dem Bill Clinton aus dem Amt entfernt werden könnte. Damit ist er nach Andrew Johnson vor 130 Jahren und Richard Nixon 1974 der dritte Regierungschef in der Geschichte der Vereinigten Staaten, gegen den diese politische Anklage in Gang kommt. Die Parla- mentarier haben nicht nur dafür ge- sorgt, daß nun noch einmal all die Details des Skandals aufgerollt wer- den. Auch Uralt-Affären werden er- neut in die Untersuchung einbezo- gen. Der Kampf ums Amt wird den Präsidenten so noch monatelang beschäftigen und vielleicht lähmen – es sei denn, die Republikaner verlie- ren bei den Wahlen am 3. November ihre knappe Mehr- heit im Kongreß. AP Retten könnte Ehepaar Clinton Clinton seine un- gebrochene Popularität – und die verdankt er jetzt vor allem seiner Frau Hillary. Sie tut alles, um ihrem untreuen Ehemann die Präsident- schaft zu erhalten. Amerika bewun- dert die First Lady wie nie zuvor und rätselt zugleich über ihre Motive: Was steckt hinter ihrer Großmut – FOTOS: B. PUGLIANO / GAMMA STUDIO X FOTOS: Rednerin Hillary Clinton: „Warum mußte sie sich in diesen Idioten verknallen?“ Machtgier oder ungeheure Liebe?

178 der spiegel 42/1998 LIFE MAGAZINE / TIME WARNER R. WINSOR / WOODFIN CAMP Polizeiaktion gegen Studenten in Chicago (1968), Studentin Hillary (1969): Etwas war nicht in Ordnung in diesem Land

ie schreitet voraus, mit dem Priester Klar macht sie sich Sorgen, so wie sie befreundet ist. „Sie leidet. Sie hat einen un- plaudernd, sie lacht sogar ein biß- sich alle Sorgen machen in der Demokra- treuen Ehemann. Das rückt sie näher zum Schen. Bill trödelt allein hinterher. Sie tischen Partei. Dem Präsidenten steht ein Volk.“ Sie wird adoptiert und ins Familien- trägt Pink, diese Marshmallow-Farbe, die Impeachment-Verfahren bevor. Die Kon- leben integriert wie die Heldin der Lieb- ihr die Öffentlichkeitsarbeiter immer aus- greßwahlen im November können ein De- lingsseifenoper, gemeinsam rätselt man: reden wollten. Er hat einen dunklen An- saster werden, wenn wegen des Lewinsky- Wieviel wußte sie? Was geht in ihr vor? zug gewählt. Sie nehmen Platz in ihrer Skandals viele „aus Empörung einfach zu Es sind seltsame Wochen, und manchmal Holzbank, ein Präsident und eine First Hause bleiben“, wie die kalifornische Se- muß es wohl wie ein absurdes Theaterstück Lady beim Kirchgang, und die Gemeinde natorin Barbara Boxer fürchtet. Clinton wirken, in dem sie da auftritt; die Vorlage spricht ihr Gebet: „Lasset uns aufrichtig braucht die Unterstützung der Frauen, die hat der Sonderermittler Kenneth Starr ge- sein und wahr.“ ihm damals mit ihren Stimmen ins Amt ge- schrieben, die Medien inszenieren eifrig mit. Er fährt sich übers Haar, immer wieder, holfen haben, dringend braucht er sie. Er Da steht sie an einem hellen Herbsttag und ein paarmal blickt er zur Seite, streift braucht Hillary, mehr denn je. Wenn sie im Weißen Haus, unter Kronleuchtern und mit dem Blick über die Köpfe der Gläu- ihn fallenläßt, verliert er seinen Job. Stuck im frisch renovierten State Dining bigen hin, forschend, und unsicher blin- Von ihr hängt fast alles ab. Jedes Zucken Room, eine gesprächige, energische, vor zelt er dabei. Hillary tut das nicht. Sie ihrer Mundwinkel, jedes Stirnrunzeln wird Überzeugung vibrierende Gastgeberin. Sie schaut nach vorn. zur Zeit studiert und analysiert. Eine hat Kunsterzieher eingeladen, begeisterte „Richtet nicht, auf daß Ihr nicht gerich- „lächelnde, winkende, gelassene Diva“ Pädagogen, die lauschen, wie Hillary Rod- tet werdet“, spricht der Prediger, es ist Re- gehe da unbeirrbar ihren Weg, schreibt be- ham Clinton ausführlich von einer Zukunft verend Philip Wogaman, einer von dreien, eindruckt die „Washington Post“. „Kann schwärmt, in der „jedes Kind, wo auch im- die sich Bill Clinton als Seelenhelfer er- sie ihn retten?“ fragt „US News and World mer, in der Schule einen Malerpinsel in die wählt hat. Richtet nicht? Natürlich richten Report“ und staunt über diese betrogene Hand nehmen kann“. sie, alle, die Fotografen da draußen vor der Ehefrau, die „so bewundert wird für ihre Wenn sie den Blick hebt, über die Leh- Foundry United Methodist Church, die Loyalität zu ihrem Mann“. In diesen Tagen, rer hinweg, sieht sie auf eine Mauer aus Kongreßabgeordneten, die nach seiner da fast jeder an Monica denkt, wenn er Medien. Fotografen, Fernsehkameras, AP, Amtsenthebung schreien, selbst Leute aus Hillary sieht, ist Mrs. Clinton so populär ABC, alles da, die gesamte „White-House“- der eigenen Partei, die nicht verzeihen wol- wie nie zuvor. Zwei Drittel der Frauen und Presse ist erschienen und muß sich das al- len, daß er nicht die Wahrheit gesagt hat mehr als die Hälfte der Männer sind der les anhören, weil sie darauf wartet, ob die über seine unsägliche Affäre mit der Ex- Meinung, sie sei „ein gutes Rollenmodell“. First Lady eines der magischen Wörter sagt: Praktikantin Monica Lewinsky. Und Hil- Keine Rede mehr vom „Haß auf Hil- „Lewinsky“ oder „meine Ehe“ oder ir- lary? Richtet sie? lary“ („The New Yorker“, 1996), der in der gendwas in dieser Art. Überall sitzen jetzt düster gestimmte amerikanischen Öffentlichkeit fast schon Sie lächelt sarkastisch, als sie es aus- Männer und Frauen in ihren Lobbys und zur Gewohnheit geworden war. Die Frau, spricht: „My husband“. Ihr Ehemann. Er Lounges, in den dunkel getäfelten Restau- die 1993 an Bill Clintons Seite ins Weiße wird „dafür sorgen“, sagt sie, „daß es wei- rants um das Weiße Haus herum und grü- Haus eingezogen war, galt als links, an- ter vorangeht mit der Kunsterziehung“. beln: Was macht sie, die First Lady? maßend, familienfeindlich und ultraeman- Es ist lange her, daß sie sich wie ein nor- „Natürlich kann sie nicht darüber reden“, zipiert; sie wurde wahlweise als Domina, maler Mensch in der Öffentlichkeit be- sagt eine junge Frau, eine Hillary-Berate- Hexe oder Lady Macbeth porträtiert, und wegte, daß sie einfach sagte, was ihr durch rin, die aufgeregt ihr Thai-Hühnchen auf es schien, als mochten sie lediglich ein paar den Kopf ging. 50 ist sie jetzt und hat Tak- der Gabel schwenkt: „Das geht nicht, das Intellektuelle und Feministinnen. tieren gelernt, sie weiß, daß es nicht so habe ich ihr auch gesagt. Sie sitzt in der Jetzt sind es die Frauen ohne College- leicht ist, nach dem Ideal zu leben, das ih- Falle. Wenn sie ihm schnell vergibt, heißt Bildung, bei denen sie am meisten Rück- rer Mutter so wichtig war: „Niemals Angst das: Sie ist zynisch. Machtgeil. Wenn sie halt findet. Jetzt ist sie „menschlicher ge- haben zu sagen, was man denkt.“ es nicht tut, dann hat er ein verdammt ern- worden, weniger überlegen“, glaubt die Damals war das noch nicht so schwer, in stes Problem.“ Feministin Betty Friedan, die mit Hillary Park Ridge, Chicago, wo Hillary groß ge-

der spiegel 42/1998 179 Werbeseite

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Werbeseite um die weiblichen Kandidaten der No- vemberwahlen, sie redet, redet, redet. Früher einmal hatten sie eine Mission, Bill und sie. Sie wollten die „moralischste Regierung“ bilden, die es je in Amerika gab. Eine moderne Frau, hieß es damals, eine Feministin ziehe ein ins Weiße Haus. Und nun sitzt Eileen in der Aula des Ma- rie Reed Learning Center und schaut auf diese First Lady, die spricht, lacht, be- klatscht wird, mit Kindern posiert und ihren Ehemann preist. Und fragt sich, ob das alles ist, was vom feministischen Durchmarsch übriggeblieben ist: eine star- ke Frau, die einem schwachen Mann die Stellung hält. Eine Betrogene, die den Be- trüger vor den Konsequenzen seines Ver-

FOTOS: AP FOTOS: rats bewahrt. Präsidenten-Gattin Clinton in Maryland: „Gutes Rollenmodell“ Hillary Rodham hätte Richterin werden können oder Gouverneurin vielleicht oder worden ist; ein Mittelklasse-Kind mit ehr- denn in der Studentenpolitik gab sie in- eine wichtige Person in einer großen Wohl- geizigen Eltern, mit einem Vater, der immer zwischen den Ton an. Sogar das Magazin fahrtsorganisation. Statt dessen zog sie mit noch bessere Noten sehen wollte, und einer „Life“ hatte sie schon porträtiert. Bill nach Arkansas, in einen 2,5-Millionen- Mutter, die hoffte, ihre Tochter werde mal Hillary war jemand an der Uni, sie war Einwohner-Staat am Ende der Welt, sie half die erste Frau am Obersten Gerichtshof. klug und ehrgeizig, das imponierte ihm ihm, Gouverneur zu werden, half ihm ins Ein ernstes Mädchen, eine gläubige Me- wohl, er brauchte so eine Partnerin. Und Weiße Haus, half ihm bisher noch aus je- thodistin, die sich in ihren ersten Jahren am Bill, das war ihr wichtig, „hatte keine Angst der Lügen- und Skandalgeschichte heraus. Elitecollege Wellesley noch als Republika- vor mir“. So paradierte sie bald voller Stolz Aus Machtgier? Aus Liebe? nerin verstand. Die es zunächst einmal nur mit ihm vor ihren Freunden herum: „Der „Ich glaube“, sagt ein junger Mann aus lästig fand, daß damals, 1965, die Mädchen wird mal Präsident“, verkündete sie. Clintons Inner Circle, „daß die beiden zum Essen noch Röcke tragen mußten. Sie „Und damit fängt’s eigentlich schon an“, schon lange ein Abkommen haben. Kein betrieb ein bißchen Studentenpolitik, fing sagt Eileen, eine junge schwarze Demo- Sex mehr, dafür so etwas wie einen Pakt. an, sich für den Vietnamkrieg, Martin Lu- kratin und Clinton-Verehrerin. Bis vor Sie hat gesagt: Tu, was du willst, aber laß ther King und die Bürgerrechtsbewegung kurzem jedenfalls. „Warum hat sie nicht dich nicht erwischen. Er hat gesagt: Ich zu interessieren. Dann kam 1968 und der gesagt: Ich werde mal Präsidentin? War- werde dich niemals diskreditieren.“ demokratische Parteikonvent in Chicago. um mußte sie sich in diesen Idioten ver- „Ich kann nur sagen“, läßt Marsha Berry Hillary war Zeugin, wie die Polizei des knallen?“ wissen, die offizielle Sprecherin der First Bürgermeisters Daley die protestierende Ein trüber Tag, ein Schul-Auditorium im Lady, „daß sie den Präsidenten liebt, an Jugend zusammenschlug wie einen Feind. Nordwesten von Washington; es geht um ihn glaubt und an ihrer Ehe festhält.“ Richard Daley, das war derjenige, der einst Kinder und Musik, die First Lady wird er- „Ich denke“, das schrieb die First Lady die Parole ausgegeben hatte: „Shoot to wartet, und Eileen sitzt zwischen Kindern selbst 1996 in ihrem Erziehungsbuch „It Kill“. Sie war mit ihrer Schulfreundin in Festkleidung, um für ihre Lokalzeitung Takes a Village“, „daß eine Scheidung viel Betsy Johnson Ebeling unterwegs und völ- zu berichten. Und hat die Wut. schwieriger sein sollte, wenn Kinder be- lig fassungslos, erinnert sich die Freundin: „Es ist schon komisch“, sagt sie, „ich war troffen sind.“ Und weiter: „Diese Über- „Das waren Leute in unserem Alter, denen eine von denen, die Plakate getragen ha- zeugung hat mich etliche Male in meiner da die Köpfe eingeschlagen wurden, und es ben: Wählt Hillarys Ehemann. Und jetzt?“ Ehe dazu gebracht, mir auf die Zunge zu waren Polizisten, die das taten. Wir hatten Jetzt hat er sich mal wieder ausgeheult beißen.“ eine wunderbare Kindheit in Park Ridge bei seiner Frau, so hört man, und Hillary ist Hillary, die Methodistin, die Moralistin: gehabt.Aber wir hatten ganz offensichtlich damit beschäftigt, ihren Mann zu retten, Sie sei ganz einfach „verführt“ worden nicht die ganze Wahrheit erlebt.“ wie schon so oft. Die First durch den Filou Bill, glaubt Etwas war nicht in Ordnung in diesem Lady kennt sich aus mit Im- der Hillary-Biograph David Land. Und Hillary, die vor kurzem noch peachment-Verfahren, sie Brock. Und zwar immer von einem gelben Jaguar Cabrio geträumt saß selbst 1974 in jenem Un- wieder, ihr Leben lang. hatte, träumte nun von einer neuen, bes- tersuchungsstab, der die Be- Ihm zuliebe habe sie sich seren, gerechteren Welt. weise gegen Richard Nixon von der eigenen Karriere Ein Marsch durch die Institutionen also, zusammenstellte. Es sei un- verabschiedet, von eigenen und der begann beim Jurastudium in Yale. fair, predigt sie, was da mit Überzeugungen, vom eige- Dort hörte sie im Studentenclub zum er- ihrem Mann geschieht. Sie nen Weg. Er habe sie nicht stenmal die Stimme dieses Jungen aus den trifft sich mit Demokratin- nur nach Arkansas gelockt, Südstaaten, die da tönte: „Weißt du, bei nen aus dem Kongreß. Sie te- sondern dort auch in uns gibt’s die größten Wassermelonen der lefoniert mit den wichtigen die undurchsichtigen, wenn Welt.“ Ein Freund sagte: „Das ist Bill Clin- Leuten, versucht ihnen aus- auch wohl nicht illegalen ton. Er redet von nichts anderem. Er zureden, daß Bill Clinton ein Whitewater-Geschäfte ver- kommt aus Arkansas.“ Schaden sei für seine Partei. strickt, für die sich der Son- Er: ein charmanter Junge aus zerrütteter Bildung, Wohlfahrt, Frauen- derermittler Starr so inter- Familie, etwas dicklich, aber gut aussehend, und Kinderrechte: Das alles essiert hat. karrierehungrig und nicht dumm. Sie: ein sei mit Bill zu machen. Sie Es stimmt schon: Sie hat Mädchen mit rundem Gesicht und riesigen kümmert sich um Spenden- ihr Leben auf den Kopf ge- Brillengläsern, eine College-Berühmtheit, gelder und ganz besonders Bürgerrechtler King (1963) stellt, in dem Moment, als sie

182 der spiegel 42/1998 Werbeseite

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Bill aus dem ersten Tief holen mußte. 1980 Größe zugebilligt, Haltung,Würde in ihrem Es geht niemand etwas an, findet sie of- war das, der junge Gouverneur Clinton hat- Schweigen. Und gleichzeitig doch wieder fenbar, was sie über Monica Lewinsky te gerade seine Wiederwahl verloren. Seine nach Gefühlen gegiert – warum sagt sie denkt. Spekuliert wird trotzdem, und vie- erste Amtszeit hatte er eher lässig verbracht, denn nichts? „Das einzige, was man ihr len fällt es schwer zu glauben, daß eine wie ein Teenager, der diesen Staat als sein vorwirft“, weiß „US News and World Re- Frau, die seit 23 Jahren mit Bill Clinton persönliches Spielzeug betrachtet, und Hil- port“, ist, „daß sie nicht über ihre Emo- verheiratet ist, von seiner Unschuld über- lary,die damals für die Anwaltskanzlei Rose tionen spricht.“ zeugt ist, wo es um Sexaffären geht. Aber in Little Rock arbeitete, konnte auch nicht Damit ist nicht zu rechnen. Mrs. Clinton in ihrem Fernsehinterview im Januar, als mehr tun, als ihn telefonisch zur Arbeit an- hat sich weit in sich zurückgezogen, so als die First Lady sämtliche Vorwürfe gegen halten, weil er dauernd im Keller der Gou- ob der Körper der zähen, blondierten Bu- ihren Mann auf eine „riesige rechte Ver- verneursvilla am Flippern war. siness-Frau eine Rüstung sei: Die echte Hil- schwörung“ zurückführte, sagte sie, die Ju- Er war das Amt los und klappte zusam- lary verkriecht sich dahinter. Niemand soll ristin, den folgenden Satz: „Wenn sich die men. Er hing herum und wußte nichts mit wissen, ob sie darunter leidet, wenn sie Vorwürfe bewahrheiten würden, dann sich anzufangen, sprach von Scheidung, Tratsch hört wie den über Gennifer Flo- wäre das ein schweres Vergehen.“ lief fremden Frauen hinterher, die nicht so wers oder Monica Lewinsky, über die Lam- Ein halsbrecherischer Satz, wenn sie intelligent waren wie seine Ehefrau, aber pe, die sie im Ehekrach nach ihrem Mann weiß, daß ihr Mann im Unrecht ist. Und anschmiegsam. Brock glaubt, daß Hillary geworfen habe, über die Gerüchte, daß sie daß es nur von der Nervenstärke einer ent- vor allem ihre Ehe retten wollte, täuschten 25jährigen abhängt, ob er schließlich war Chelsea gerade auf die des Meineids überführt wird. Welt gekommen, und „sie dachte Vielleicht leidet sie ja, weil er die wohl, die Rückkehr zur Macht sei der Abmachung gebrochen hat, weil er sicherste Weg für ihren emotional sich dämlich benommen hat und alles schwachen Ehemann“. aufs Spiel setzt, wofür sie seit mehr Tatsächlich machte sie Ernst. Sie als 20 Jahren kämpft. Das ist die ge- nahm den Namen Clinton an, weil die meinsame Politik, natürlich, und die Berater sagten, daß der Wähler nicht Macht im Weißen Haus. Aber das ist verstehen könne, warum sie immer auch die Ehe und die gemeinsame noch Rodham hieß. Sie verabschiede- Tochter Chelsea, eine tiefe Bindung te sich von ihrer monströsen Brille und offenbar, die nicht so leicht zu lösen trug Kontaktlinsen, sie trennte sich ist. Vielleicht ist es auch nicht mehr von der praktischen Dauerwelle zu- möglich, das eine von dem anderen zu gunsten einer Modefrisur, sie gab ihren trennen, wenn man sein Leben schon Job auf und machte sich daran, seine so lange als Symbiose betreibt. Politik so gründlich zu überarbeiten Sehr, sehr laut und lange hat Hil- wie ihre eigene Person. lary Clinton zum Thema geschwiegen, Er sei zu links gewesen, hieß es. in diesen letzten seltsamen Wochen, Also schickte sie ihn auf Mea-culpa- seit Bill seine „unangemessene Bezie- Tour: Es werde keine Steuererhöhun- hung“ mit Monica gestand. Aber hin- gen mehr geben. Er werde nun hart ter verschlossenen Türen versteckt hat vorgehen gegen Kriminalität. Über- sie sich nicht. haupt, die Todesstrafe – Bill sei immer Es scheint ihr gutzugehen an die- ein bißchen zögerlich gewesen, was sem Morgen in der Washingtoner Süd- Hinrichtungen betraf, warfen die ganz stadt, in einem vorwiegend schwar- harten Rednecks ihm vor. Selbst da zen Viertel, wo sie an der Seite der machte Hillary Konzessionen. Sie un- Bürgermeistergattin Cora Barry den ternahm nichts dagegen, daß ihr Mann Grundstein legt für eine Tennisanlage. 1992 extra eine Wahlkampfreise un- Sie scherzt. Sie schüttelt Hände. Sie terbrach, um der Exekution eines gei- lacht in sich hinein, als sie lobend ans

stig behinderten Mörders beizuwoh- GIFFORD / GAMMA STUDIO X Rednerpult gebeten wird; es habe sich nen – sie, die das staatliche Töten Mutter Hillary, Tochter Chelsea: Würdevolles Schweigen viel getan in der Stadt, sagt Mrs. früher „barbarisch“ fand. Barry, seit Bill und Hillary dort leben Hillary ist weit gegangen, sehr weit, sie lesbisch sei. Oder über den Selbstmord ih- „als Präsident und Vizepräs… äh, First hat alles in Bill Clinton investiert, Arbeit, res alten Freundes und Beraters Vince Fo- Lady“. Gefühle, Zukunftspläne. Und als es endlich ster, bei dem es hieß: Aus enttäuschter Lie- Vizepräsidentin? Oder mehr? so aussah, als könne sie etwas tun für die be zu ihr habe er sich umgebracht. In einem Apartment in der Columbia bessere Welt, als der frisch gewählte Präsi- Nur wenige können Geschichten er- Road sitzt eine alte Dame, die große Plä- dent Clinton 1993 seiner First Lady die zählen aus „Hillaryland“: Das sind die ne schmiedet; stellvertretend, sozusagen. groß angekündigte Gesundheitsreform Freiräume wie ihr Bürotrakt oder das Prä- Hillary sei ja noch jung, sagt Betty Friedan, übertrug, da endete der Job mit einem De- sidentenflugzeug, in das sie keine Bericht- die 77jährige Freundin der First Lady. Sie bakel. Ihre Reform war ein ehrgeiziges, erstatter läßt. Dort taucht sie immer wie- könne noch Karriere machen, bei der Uno, aber völlig unübersichtliches Projekt und der auf, die alte Hillary mit der Monster- als Anwältin oder in der US-Politik. so kompliziert, daß es nicht einmal der Ar- brille und dem Pferdeschwanz, dort ist sie Sie führe gerade eine Umfrage durch, beitsminister verstand. „Wen interessiert die „warme, fürsorgliche Person“, die der sagt Frau Friedan. Wie kann Hillary nach schon, was Hillary denkt“, schrieben jetzt Ex-Präsidentenberater Dick Morris be- der Präsidentschaft besser Karriere ma- brave Amerikaner im Internet, und in den schreibt, dort muß sie nicht die starke First chen: wenn sie ihren Mann fallenläßt oder Zeitungen hieß sie „Lady Macbeth“. Lady sein, die „Mitgefühl haßt“, wie der wenn sie bei ihm bleibt? Nun? „Sie soll Heute, als unglückliche Ehefrau, hat die Ex-Arbeitsminister Robert Reich zu be- ihn fallenlassen“, sagt die alte Dame und Figur jene Tragik, die schuldloses Schei- richten weiß. Dort reißt sie Witze und lacht lächelt still. „Das sagen fast alle Frauen.“ tern verleiht. Jetzt wird ihr moralische ihr tiefes, kehliges Lachen dazu. Barbara Supp

184 der spiegel 42/1998 Werbeseite

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GROSSBRITANNIEN Der Elefant im Bett Ein eigenes Parlament ist vielen Schotten nicht mehr genug. Sie fordern Unabhängigkeit von England. Schon fürchten viele Briten um den Bestand des Vereinigten Königreichs. Premier Tony Blair, selbst ein Schotte, hat die Nationalisten beflügelt.

uropa macht alle gleich: Zu Beginn baut wird – als Freizeitpark, der den von Der Grund für die wachsende Kater- des neuen Jahrtausends haben sich Selbstzweifeln heimgesuchten Engländern stimmung – trotz der noch immer blühen- Edie Briten zähneknirschend auf den endlich ihre Version einer schönen, heilen den Wirtschaft, trotz des Strahlemanns Euro eingelassen. Die Brüsseler EU-Kom- Disney-Welt geben soll. Tony Blair – ist die Furcht, nach dem Ende mission überschwemmt das Inselreich mit Auch Jeremy Paxman, als TV-Moderator des Empire könne im neuen Europa nun Vorschriften, Normen und Gesetzen. Die so etwas wie Britanniens Uli Wickert, hat das Ende des Vereinigten Königreichs be- Gängelungswut stürzt die älteste europäi- die Gemütsverfassung seiner Landsleute vorstehen. Damit wäre der endgültige Ab- sche Großmacht in eine finale Identitäts- untersucht. Der Fernsehmann kommt zu stieg in die Bedeutungslosigkeit eines über- krise. In einem Anfall von Trotz tritt Groß- dem Schluß, das Vereinigte Königreich aus durchschnittlichen europäischen Staa- britannien daraufhin aus der Europäischen könne „schlicht überflüssig“ werden. Und tes besiegelt, eines „Little England“, das Union aus. der rechte „Spectator“, das Intelligenzblatt von den kontinentalen Führungsmächten Die mächtigen Nachbarn, Kontinental- der Tories, sucht bereits nach einem Autor Deutschland und Frankreich nicht mehr europa jenseits des Ärmelkanals und die für ein Buch mit dem Titel „Abstieg und ernst genommen würde. USA jenseits des Atlantiks, lassen eine sol- Fall des Vereinigten Königreichs“ und stellt Eine Gefahr, die nicht nur eingebildet che Splendid isolation indes nicht mehr die bange Frage: „Wird, soweit es das eng- ist. Während sich die deutschen Länder zu. Das Ende vom Lied eines kleinen an- lische Volk betrifft, dann das Ende der Ge- nach dem Kalten Krieg zu einem neuen gelsächsischen Landes, das nicht mehr schichte erreicht?“ Bund zusammenschlossen und argwöhni- weiß, wohin es gehört: England, das im letzten Jahrhundert noch über ein Viertel der Erde herrschte, endet als 51. Bundes- staat seiner einstigen nordamerikanischen Kolonien. Die Schreckensvision, verpackt in einen pfiffigen Roman des ehemaligen „Guar- dian“-Chefredakteurs Peter Preston, ist nur ein Beleg für die Zukunftsangst, die derzeit England befallen hat. Der Schrift- steller Julian Barnes hat gleichfalls einen satirischen Roman veröffentlicht, in dem das ganze Bilderbuchengland, vom Buckingham-Palast bis zu den Klippen von Dover, auf der Isle of Wight nachge- Territorien des Verei- nigten Königreichs Nordirland Schottland Einwohner: Einwohner: 5,12 Millionen 1,65 Millionen Arbeitslose: 7,6 Prozent Arbeitslose: Bruttoinlandsprodukt 6,9 Prozent pro Kopf: 10 614 Pfund Bruttoinlandsprodukt pro Kopf: Edinburgh 8700 Pfund Belfast

England Irland Einwohner: 49,1 Millionen Arbeitslose: 6,0 Prozent Bruttoinlandsprodukt pro Kopf: 10 897 Pfund Wales Cardiff Einwohner: 2,92 Millionen London Arbeitslose: 6,8 Prozent

Bruttoinlandsprodukt Quelle: Office for PRESS ACTION pro Kopf: 8899 Pfund National Statistics Schottischer Schauspieler Connery, Ehefrau: Spenden für die Separatisten

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Sie wird darin von einem prominenten Landsmann bestärkt: Der James-Bond- Darsteller Sean Connery unterstützt die SNP mit 4800 Pfund monatlich; vermut- lich hat die Regierung in London ihn nur deshalb noch nicht in den Adelsstand er- heben lassen. Die Nationalisten können ihr Glück gar nicht fassen. Wie Britanniens große Parteien auch, rufen sie jeden Herbst zu einem Parteitag, der bislang weitgehend unbeachtet blieb. Dieses Jahr war alles an- ders. Im Zelt vor dem Kongreßzentrum von Inverness hatten britische Großkon- zerne Informationsstände aufgebaut, alle britischen Medien berichteten, und der Parteivorsitzende Alex Salmond hatte Mühe, den Überschwang seiner Anhänger zu bändigen. Die SNP ist, anders als New Labour, eine

M. MacLEOD richtig linke Partei, ursprünglich agrari- Premier Blair in Edinburgh*: Schotte von Geburt, Brite von Gemüt scher Herkunft, denn in den Highlands gehört der Boden noch schen Nachbarn schon wieder wie ein neu- Tony Blair, Schotte von immer Großgrundbesit- es Großreich vorkommen, zerren zentri- Geburt und Brite von zern, was die Schotten ih- fugale Kräfte die Bestandteile Großbritan- Gemüt, hat ganz unwil- rer Meinung nach dem niens auseinander. lentlich den Unabhängig- Import des feudalen nor- Selbst liberale englische Politiker, die für keitsdrang beflügelt: Er mannischen Lehnsrechts das Selbstbestimmungsrecht der Nordiren löste ein Wahlverspre- durch englische Eroberer eintreten, geben heimlich ihrem Pessimis- chen ein und gewährte zu verdanken haben. mus freien Lauf und glauben, daß die bri- den Schotten nach einem Erlittenes Unrecht hat, tische Provinz Ulster auf Dauer wohl nicht Referendum im Septem- ähnlich wie bei den Iren, zu halten sei und an die katholische Re- ber 1997 ein eigenes Par- das Geschichtsbewußt- publik Irland fallen werde. lament mit weitgehender sein geschärft. Schon der Die Bewohner des Fürstentums Wales, Autonomie; 74,3 Prozent kleinste Vorwand reicht, seit 1536 mit England vereinigt, pflegen ihre sprachen sich damals für und jeder aufrechte walisische Sprache in Schule und Beruf, wo- mehr Eigenständigkeit Schotte kann die ganze mit sie Zuwanderern, die nur des Englischen aus. Der Premier bekam Litanei englischer Misse- mächtig sind, das Leben schwermachen. es nicht gedankt: Was taten herbeten, die das Was jedoch das britische Selbstverständnis Blair als Verfassungsän- häufig blutige Verhältnis zutiefst erschüttert, ist das neue Auftrump- derung für mehr Födera- zum großen Nachbarn im fen des schottischen Nationalismus. Nörd- lismus und Demokratie Süden mit sich gebracht

lich der Grenze zwischen dem Meeresarm verstanden hatte, benutz- PICTURE LIBRARY EVANS MARY hat. Die Union mit Eng- Solway und dem Fluß Tweed, einer Linie, ten Nationalisten für viel Schotten-Sieg über Engländer* land, glaubt der Schrift- die in etwa dem alten Hadrianswall der rö- radikalere Ziele. steller Paul Henderson mischen Inseleroberer entspricht, mehren Die allzu schlaue Rechnung von New Scott, sei wie der „Beischlaf mit einem Ele- sich die Stimmen, welche die fast 300 Jahre Labour ging nicht auf: Blair wollte Vor- fanten“, der alles platt mache – sogar wenn alte Union der Königreiche Schottland und aussetzungen dafür schaffen, daß die tra- das Ungetüm einmal ausnahmsweise nicht England wieder auflösen wollen. ditionelle Labour-Hochburg Schottland nie bösartig sei und sich nur im Bett umdrehe. „English scum go home“, englisches Pack, mehr unter einer möglicherweise auch mal Meist sei das Tier jedoch hinterhältig, geht doch nach Hause, ist eine Aufforde- wieder konservativen Londoner Zentral- meint Scott, einer der Vizepräsidenten der rung, die vielerorts in schottischen Städten regierung zu leiden habe. Statt dessen ist SNP und Inbegriff eines Schotten, dessen an Hausmauern steht. Auf Schulhöfen, die schottische Labour-Partei jetzt in ei- Verachtung für die „Sassenachs“, die Flach- aber auch an Arbeitsplätzen müssen sich nen Wettstreit mit den Nationalisten der länder, jeden Engländer zur Weißglut bringt. Engländer obszöne Schimpfworte anhören Scottish National Party (SNP) verwickelt, Er behauptet, daß die britischen Nachbarn und zuweilen sogar Prügel gefallen lassen. die bei den Wahlen für das Parlament in nicht mehr auf der Höhe des geschichtlichen Nun hat schottische Verachtung gegen- Edinburgh im Mai nächsten Jahres die Fortschritts seien – sie, nicht die Schotten, über allem Englischen eine jahrhunderte- Mehrheit erringen könnten. seien die Hinterwäldler im neuen Europa, alte Tradition, und das Streben nach Ei- Knapp zwei Drittel aller Schotten neh- „Barbaren, die am Ufer der Themse woh- genständigkeit der 5,1 Millionen „Nordbri- men schon heute an, daß ihr altes, bis nen“, wie schon der schottische Philosoph ten“ gehört zur Folklore wie das „mir san ins 9. Jahrhundert zurückreichende König- David Hume im 18. Jahrhundert befand. mir“ der Bayern in Deutschland. Aber daß reich in 15 Jahren wieder unabhängig sein Schotten dagegen, seit undenklichen Großbritannien wirklich eines Tages wieder könnte. Andere Umfragen zeigen, daß Zeiten eine „multi-ethnische“ (Skoten, auseinanderbrechen könnte, ist längst kei- sieben von zehn Jungwählern die Selb- Pikten, Norweger, Briten, Angelsachsen) ne bloße Hypothese mehr, sondern eine ständigkeit bevorzugen würden. In ihr und „multilinguale Gesellschaft“ (vier- durchaus realistische Perspektive. Grundsatzprogramm hat die SNP deshalb sprachig seit dem Mittelalter: Gälisch, die Verpflichtung aufgenommen, am Tag Schottisch, Lateinisch, Englisch), verfügen nach einem Wahlsieg Verhandlungen laut Scott über einen „egalitären Instinkt“, * Oben: am 12. September 1997 nach der Volksabstim- mung über ein schottisches Parlament; Mitte: Schlacht über die Loslösung von England zu be- der das Entstehen einer Klassengesellschaft an der Sterling-Brücke 1297. ginnen. wie in England verhindert habe. Nach dem

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Motto: „Die Feinde meines Feindes sind Thatchers Werk der Deindustrialisierung meine Freunde“ habe es für Franzosen und zu vollenden. Als Beweis gilt ihnen Schotten schon im Hochmittelalter eine der Umstand, daß der amerikanische gemeinsame Staatszugehörigkeit gegeben; Computerkonzern Viasystems vorletzte Schottland war, schließt der SNP-Mann, Woche seine schottische Fabrik schloß; mithin „bewußt europäisch“, lange bevor 1000 Arbeitsplätze gingen verloren, weil die Europäische Gemeinschaft erfunden Viasystems einen ehemaligen Konkurren- wurde. ten profitabel ausgeschlachtet hat. Das Zeitalter der schottischen Auf- Doch auch der Verlust von 9000 schot- klärung im 16. Jahrhundert, die zur Ent- tischen Arbeitsplätzen allein in diesem stehung einer schottischen Kirche nach Jahr schreckt die Nationalisten nicht. Sie calvinistischen Grundsätzen führte, ist für haben sich ausrechnen lassen, daß ein den Patrioten Scott mit dem „Athen eines selbständiges Schottland der siebtreichste Perikles“ oder dem „Florenz der Medici“ Staat der Erde sein könnte. Sie träumen vergleichbar. Während Oxford und Cam- von aktiver Industriepolitik, von Subven- bridge sich um die Ausbildung der eng- tionen für Zukunftstechnologien, und lischen Oberklasse kümmerten, waren wenn die Schotten aus der EU auch nur die schottischen Universitäten nahezu annähernd soviel herausholen könnten demokratische Institutionen. Dieses my- wie die Iren auf der keltischen Nach- thische Schottland, sozu- barinsel, wäre die wirt- sagen das Urbild einer schaftliche Lebensfähig- kommunitarischen De- keit allemal gesichert. mokratie, sei zerstört „Es gibt enorm viel worden durch den kor- guten Willen gegenüber rumpierenden Einfluß Schottland in der Londons. EU“, berichtet SNP-Par- „London leckt die But- teipräsidentin Winifred ter von unserem Brot“, Ewing. Die Abgeordnete beschwerte sich im 19. des Europaparlaments, in Jahrhundert schon der Straßburg als „Madame schottische Nationalheld Ecosse“ bekannt, weiß Sir Walter Scott, dem das auch, warum: „Wir sind höchste Denkmal der ein weltoffenes Volk, im schottischen Hauptstadt Gegensatz zur insularen, Edinburgh gewidmet ist. klein-englischen Menta- Gegen die Abwanderung lität, die in Westminster vieler gut ausgebildeter herrscht.“ Schotten nach Süden Premier Blair hat erst wettern noch heute die mal alle weiteren Refor- Delegierten auf dem men in Richtung auf ein SNP-Parteitag. föderales Großbritannien

Vorerst letztes Symbol M. MacLEOD gestoppt. Für den Kampf englischer Dominanz ist Schottischer Parteichef Salmond gegen die „Separatisten“ Margaret Thatcher, die in hat er jeden Schotten in Schottland aufrichtiger gehaßt wird als ir- seinem Kabinett dienstverpflichtet. Das gendwo sonst im noch Vereinigten König- „Neue Britannien“, von New Labour ge- reich. Daß sie ausgerechnet in der Assem- schaffen, werde so viele „schottische Wer- bly Hall von Edinburgh den berühmten te“ aufzeigen, daß sich jedes Unabhängig- Satz „There is no such thing as society“ keitsstreben erübrige: „Zusammen sind wir aussprach, um ihrer Verachtung für jegliche besser dran“, beschwor der Regierungschef Sozialpolitik Ausdruck zu geben, gilt den seine abwanderungswilligen Landsleute gemeinschaftsgläubigen Schotten als pure und versicherte, er sei „keine Neuauflage Blasphemie. von Margaret Thatcher“. Iain Banks, ein überaus erfolgreicher Die Konservative Partei, die seit der schottischer Schriftsteller und eigentlich Wahl im vergangenen Jahr keinen einzi- ein Softie, hofft gar, dereinst auf ihr Grab gen schottischen Abgeordneten im Un- pinkeln zu können – auch das scheint terhaus stellt, versucht dagegen, sich als schottische Tradition zu sein, jedenfalls be- Englands Sachwalter zu profilieren. Auf richtete der Kirchenreformer John Knox dem Parteitag im Seebad Bournemouth im 16. Jahrhundert erfreut, seine prote- forderten Delegierte vorige Woche nun stantischen Freunde hätten nach der Er- auch ein eigenständiges englisches Parla- mordung eines römischen Kardinals dem ment, da es nicht angehe, daß die Schot- Leichnam in den Mund uriniert. ten gleich zweimal mitbestimmten: bei Zeit also, dem „Diktat aus London“ sich daheim und in Westminster. Der Ab- Einhalt zu gebieten, wie in Inverness geordnete Peter Luff erklärte: „Wir müs- ein Parteitagsredner nach dem anderen sen den wachsenden englischen Ärger auf- forderte. Die 56 schottischen Labour- fangen und wenigstens dafür sorgen, daß Abgeordneten im Parlament von West- Engländer die gleichen Rechte haben wie minster hätten nichts anderes im Sinn, als die Schotten.“ ™

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Was ist das für ein Laden hier?“ Fußballprofi Stefan Effenberg und Ehefrau Martina über die wahren Gründe seines Rücktritts aus der deutschen Nationalmannschaft, die Sittenwächter beim DFB und das Opfer Berti Vogts

Effenberg, 30, war nach seiner „Stinkefin- Effenberg: Oliver Bierhoff ist das klassische ger“-Aktion 1994 bei der WM in den USA Gegenbeispiel zu dieser These. Er war über aus der Nationalmannschaft verbannt ein Jahrzehnt in seinen Vereinen kein über- worden. Vier Jahre später sollte der Profi ragender Spieler. Das Golden Goal für die des FC Bayern München am Neuaufbau deutsche Mannschaft bei der EM 1996 hat der deutschen Elf mitwirken. Doch im Sep- ihn zum absoluten Star gemacht. Ich per- tember, nach nur zwei Testspielen auf Mal- sönlich brauche die Nationalelf nicht mehr, ta, trat er überraschend zurück. Ehefrau weder finanziell noch um irgendeinen Bayern-Profi Effenberg, Ehepaar Effenberg (auf Martina, 32, ist seine Managerin. Stolz zu befriedigen. Den Weg dorthin, wo ich jetzt bin, habe SPIEGEL: Herr Effenberg, stört es Sie ei- ich alleine geschafft. gentlich nicht, daß Sie keine gescheite Kar- SPIEGEL: Haben Sie nach Ihrem riere als Nationalspieler gemacht haben? Rauswurf 1994 immer vor dem Effenberg:Was habe ich davon, wenn ich an Fernsehgerät gesessen, wenn die meinem Totenbett sagen kann: Ich habe 80 Deutschen spielten ? Länderspiele gemacht? Kann ich mir dafür Effenberg: Von der EM habe ich irgendwas kaufen? mir nur das Endspiel angesehen. Martina Effenberg: Vor acht Jahren haben Ich bin ohnehin nicht so fana- diese 80 Länderspiele zu seinem Lebens- tisch, daß ich mir jedes Spiel an- traum gehört. Ich kann mich noch erin- sehen muß. Wenn meine Kolle- nern, daß er nach seinem ersten Länder- gen in der Kabine darüber reden, spiel nach Hause kam und mir ganz stolz was gerade wieder auf d-box aus erzählte, daß Lothar Matthäus mit ihm ge- England, Spanien oder wer weiß

sprochen hat. Darüber war er regelrecht woher übertragen wird, dann RAUCHENSTEINER glücklich. kann ich nicht mitreden. Die Nationalspieler Effenberg, Trainer Vogts: Frage der Zeit Effenberg: Heute spreche ich mit Matthäus. Zeit kann ich anders nutzen. So ändern sich die Zeiten. SPIEGEL: Nämlich wie? gesagt: Die mir damals das Messer in den SPIEGEL: Haben Sie so etwas wie Stolz emp- Effenberg: Ich kenne Dinge, die machen Rücken getrieben haben, klopfen mir heu- funden, wenn Sie im Trikot der deutschen mehr Spaß, als Fußball zu gucken. te auf die Schulter. Das ist nicht mein Ding. Mannschaft spielen konnten? SPIEGEL: Sie hatten überhaupt keine Ver- Effenberg: Stimmt, das habe ich gesagt. Effenberg: Bis zur leidigen WM 1994 habe bindung mehr zu dieser Mannschaft? Martina Effenberg: Dazu mußt du stehen, ich Stolz und auch Ehre empfunden dabei. Martina Effenberg: Einmal haben wir den weil es einfach so ist. Beim DFB hat sich Martina Effenberg: Es gibt Dinge, da kann Thomas Berthold auf dem Flughafen ge- nämlich so gut wie gar nichts geändert in man nicht mehr zurück, wenn man sich troffen. Wir waren auf dem Weg zu den den letzten Jahren. nicht total verbiegen und diesen Nicke- Seychellen, und der hatte sich in Frankfurt Effenberg: Ich habe einfach festgestellt, daß Dackel machen will, den es an der Tank- zu einer dieser Tourneen einzufinden, die die Leute, von denen ich vor vier Jahren stelle für die Hutablage zu kaufen gibt. der DFB so gerne im Winter veranstaltet. eine schlechte Meinung hatte, immer noch Effenberg: Wissen Sie, was mich heute stolz SPIEGEL: Wie lange hatten Sie Aversionen dieselben Leute sind wie damals. Die spie- macht? Daß mich Franz Beckenbauer vor bei den Namen Vogts oder DFB? len ein falsches Spiel. Ich habe mich in die- einem halben Jahr anrief und sagte: Du Effenberg: Ich bin bestimmt kein nachtra- ser Woche einfach nicht wohl gefühlt. bist der beste Spielmacher Deutschlands, gender Typ, der immer wieder Dinge aus SPIEGEL: Sie selber haben sich in den letz- dich will ich haben. Das ist mir wichtig. der Kiste holt, die Jahre zurückliegen. Des- ten vier Jahren dem Urteil von Beobach- SPIEGEL: Früher galt die Nationalelf für halb habe ich es mit der Nationalelf ja auch tern nach auch nicht geändert. Fußballer als Türöffner für sozialen Auf- noch mal versucht. Effenberg: Dann fangen wir mal an: Ich stei- stieg. Fehlt dieser Anreiz heute, wo jeder Martina Effenberg: Ich glaube schon, daß ge auf Malta bei 35 Grad aus dem Flugzeug Bundesligaprofi ein Gesellschaftsstar ist? vor vier Jahren wahnsinnige Geschichten aus, blauer Himmel, ich trage eine Son- vorgefallen sind, die hast du nicht einfach nenbrille. Am nächsten Tag lese ich in der Das Gespräch führten die Redakteure Matthias Geyer so weggesteckt, sorry. Nach der Malta-Rei- Zeitung: Der trägt eine provozierende Son- und Alfred Weinzierl. se bist du nach Hause gekommen und hast nenbrille. Was, bitte schön, ist das, eine

196 der spiegel 42/1998 (l.) GES; (r.) L. BAADER (l.) GES; (r.) dem Münchner Oktoberfest): „Ich brauche die Nationalelf nicht mehr, weder finanziell noch um irgendeinen Stolz zu befriedigen“

provozierende Sonnenbrille? Ich habe die Effenberg: Ich habe lange überlegt, ob ich es dann hätte es geheißen: dieser arrogante seit fünf Jahren. Dann trete ich bei einer überhaupt machen soll. Es war eine enor- Idiot. Pressekonferenz auf, und anschließend me Herausforderung, aber ich war auch SPIEGEL: Glauben Sie, es käme besser an, wird mir angelastet, daß ich dabei Kau- nie hundertprozentig überzeugt von der wenn ein Fußballspieler behauptet, er habe gummi kaue. Ich kaue immer Kaugummi, Sache. Und kaum bin ich da, sagt mir ein zuwenig Zeit für die Familie? außer beim Essen und beim Schlafen. Journalist: Ihr könnt beide Spiele klar ge- Effenberg: Wenn das auch die Wahrheit ist? SPIEGEL: Sie haben diese Pressekonferenz winnen, das ändert nichts an der Situation. SPIEGEL: Nationalspieler können in der abgebrochen, weil Ihnen die Fragen nicht Es gibt so lange Druck, bis Berti Vogts auf- Werbung Millionen verdienen … paßten. Fällt es Ihnen schwer, sich an Spiel- gibt. Dann fragst du dich als Spieler: Was Effenberg: … weiß ich, und das habe ich mit regeln zu halten? ist das für ein Laden hier? meinem Berater, der Werbegeschäfte ver- Effenberg: Ich habe die Pressekonferenz Martina Effenberg: Das hat sich Vogts auch mitteln soll, auch durchdiskutiert. Der war nicht abgebrochen. Es war abgesprochen, selber zuzuschreiben, sorry. Du mußt ihn natürlich dafür, daß ich Nationalspieler daß die Veranstaltung um halb eins enden nicht bedauern, nur weil alle auf ihn ein- bleibe. Ich habe ihm gesagt: Wenn das die soll. Daran habe ich mich gehalten. Und am hauen. Er hat dich als ersten fallenlassen. Bedingung ist, dann verzichte ich auf Wer- nächsten Tag moniert der DFB, daß ich Effenberg: Du hast deine Meinung, ich hab’ beverträge. Laß uns den Vertrag zerreißen während der Nationalhymne Kaugummi meine. Zwei Stunden nach seinem Rück- und Freunde bleiben. kaue. Da frage ich mich dann: Was machen tritt habe ich ihn angerufen und gesagt: Das SPIEGEL: Erklären Sie mal, was so zeitauf- wir hier? Wir sind doch in erster Linie hier, tut mir leid, aber es war ja nur noch eine wendig ist am Arbeitsalltag eines Profis. um Fußball zu spielen. Frage der Zeit. Ich schließe mich der Mei- Effenberg: Für den FC Bayern muß man Martina Effenberg: Wir hatten schon vorher nung von Paul Breitner an, der gesagt hat: sehr viel Zeit investieren. Aber das war einen Familienkrach wegen dieser Sache. Man sollte den DFB auf den Kopf stellen. uns auch bewußt. Ich habe diese Rückkehr-Idee von Anfang SPIEGEL: Sie meinen, daß sich auch mit Martina Effenberg: Stefan hat vergangenen an boykottiert.Als sich Stefan entschieden Teamchef Erich Ribbeck nichts ändert? Dienstag seinen ersten freien Tag gehabt, hatte, doch wieder für Deutschland zu Effenberg: Ich wünsche ihm wirklich Er- seit er in München spielt. spielen, hat er bei seinen Eltern angerufen folg, wir haben ein sehr gutes privates Ver- Effenberg: So darf man aber nicht argu- und gefragt, ob sie auf die Kinder aufpas- hältnis zu ihm. Aber Ribbeck ist nicht der mentieren. Die Leute sagen nämlich: Das sen können, damit ich mit nach Malta rei- DFB. Und wir gehen ins dritte Jahrtausend, machst du, bis du 35 bist, und dann lebst sen kann. Ich habe ihm gesagt: Mach, was da muß man auch mal über grundsätzliche du, wie du leben willst. du möchtest, aber dieses Mal ohne mich. Umstrukturierungen nachdenken, wenn SPIEGEL: Was ist daran falsch? SPIEGEL: Warum? man oben bleiben will. Wenn ich daran Effenberg: Daran ist nichts falsch. Martina Effenberg: Weil die Mentalität im- denke, wie der DFB die Vogts-Nachfolge SPIEGEL: Der Chef der Deutschen Bank mer dieselbe bleiben wird, solange diesel- angepackt hat, dann sagt das alles. verdient nicht so viel wie Sie und hat noch ben Leute an der Macht sind. Es gibt vie- SPIEGEL: Warum haben Sie den Leuten ei- weniger Zeit. Können Sie verstehen, wenn le Spieler, denen da überhaupt nichts paßt, gentlich nicht gleich den wahren Grund Ihnen die Leute Arroganz vorwerfen? aber die halten eben ihren Mund, weil für Ihren Rücktritt erklärt? Effenberg: Das kann ich verstehen, ja. sie Angst haben, aussortiert zu werden. Effenberg: Viele Leute, die da bei der Pres- SPIEGEL: Und was antworten Sie denen? Ich denke an den Andreas Möller, der erst sekonferenz saßen, hätte das nicht die Boh- Effenberg: Ich sitze auch oft mit meiner das große Wort führt und drei Wochen spä- ne interessiert. Frau zusammen, und dann sagen wir: Wir ter fragt: Darf ich hier noch mal mit- Martina Effenberg: Hätte er gesagt, daß leben ein sehr schönes Leben. Auf der machen? er sich in diesem Kreis nicht wohl fühlt, anderen Seite ist es so: Wenn ich diesen

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Beruf mit 35 aufgebe, dann bin ich kör- SPIEGEL: Sie selber haben sich nichts vor- perlich ziemlich angeschlagen. Ich kann zuwerfen? jetzt die Schulferien nicht mit meinen Effenberg: Aber natürlich habe ich das. Ich Kindern verbringen, was jeder normale habe eine Menge Fehler gemacht, und ich Mensch kann. trage auch einen Teil der Schuld daran, SPIEGEL: Das ist in Ihrem Gehalt berück- wenn die Leute behaupten: was ist der Ef- sichtigt. fenberg für ein Schnösel. Ich will nur sagen: Effenberg: Ich sage ja: Ich beschwere mich Bei einem Verein wie Bayern München nicht über mein Leben.Aber wenn ich mir wäre so etwas nie passiert. Freiheiten nehmen kann, von denen ich SPIEGEL: Ihr Vereinskollege Lothar Mat- profitiere, dann nehme ich sie mir. thäus ist auch mal in Unehren aus der Na- SPIEGEL: Welche Freiheiten meinen Sie? tionalmannschaft entlassen worden. Sein Effenberg: Meine Entscheidung zum Thema Schönstes ist es jetzt, daß er nach seiner Nationalelf zum Beispiel. Ich möchte, daß Genesung da wieder mitspielen darf. Kön- man das respektiert. nen Sie ihn verstehen? SPIEGEL: Wie wichtig ist Ihnen noch, was die Effenberg: Nein. Aber das ist seine Ent- Leute über Sie denken? scheidung, die Respekt verdient. Effenberg: Ich lege Wert auf das Urteil der SPIEGEL: Womöglich würden Sie sich Leute, die für mich wichtig sind. wohler fühlen, wenn Sie nicht in einer SPIEGEL: Sie haben einmal Mannschaft, sondern für gesagt: „Wenn ich mal auf- sich alleine Sport treiben höre, dann sollen die Leute könnten. mit meinem Namen etwas Effenberg: Also, Tennisprofi verbinden können.“ Was – das wäre schon nicht so sollen sie denn mit Ihnen schlecht gewesen. Ich habe verbinden? Hochachtung vor einem Effenberg: Das sieht wohl wie Michael Stich, der ge- nicht so gut aus im Moment. sagt hat: So, jetzt ist Tennis Martina Effenberg: Ehrlich- vorbei. Der hat sich nicht keit zum Beispiel. durchgeschleppt, um hier Effenberg: Ich bin jedenfalls oder da noch mal 200000 keiner, der heute etwas sagt Dollar Antrittsgeld abzu- und morgen behauptet, das greifen, sondern der war hätte ich nie so gesagt oder konsequent. Vor dem hab’ anders gemeint. Zu den ich Hochachtung. Überzeugungen, die man SPIEGEL: Günter Netzer, ei- hat, muß man auch stehen. ner Ihrer schärfsten Kriti- Martina Effenberg: Was für ker, bezweifelt, daß Sie einen Spielertypen will man eine Persönlichkeit des eigentlich haben? Will man Fußballs sind. einen, der vollkommen oh- Effenberg: Jeder darf seine ne Emotionen sein Pro- Meinung äußern. Ich habe

gramm runterspult? Einen, REUTERS auch eine über Herrn Net- der sich nie zu einer Sache DFB-Trainer Stielike, Ribbeck zer, aber kein Bedürfnis, sie hinreißen läßt? Ich finde, so öffentlich zu äußern. einer sollte Ballett tanzen und nicht Fußball SPIEGEL: Empfinden Sie sich selber als Per- spielen. Die Wahrheit aber ist auch, daß Ste- sönlichkeit? fan eben nicht in diese Nationalmannschaft Effenberg: Ich wollte immer ein guter paßte. Bevor er ’94 zur WM flog, hat man Kicker werden. Und das ist mir, glaube ich, ihm zwei Rückflugtickets unter die Nase ge- gelungen. Es wird wohl nicht so sein, daß halten und gesagt: Die sind noch ohne Na- man irgendwann mal überwiegend positiv men.Als ich das hörte, habe ich gesagt: Ste- über mich spricht. Dafür waren die nega- fan, du weißt ja, für wen eins davon ist. tiven Dinge zu einschneidend. Effenberg: Ich will jetzt nicht larmoyant Martina Effenberg: Welche denn, bitte sein oder hier um Gnade winseln, aber mit schön? dem Abstand von ein paar Jahren ist mir Effenberg: Na, der Stinkefinger etwa. schon der Gedanke gekommen: Damals, Martina Effenberg: Daß du da für zwei Se- als ich diese dämliche Aktion mit dem Stin- kunden deinen Finger gezeigt hast? Sorry. kefinger gebracht habe, da hätte ich mir Ich weiß nicht, wieviel Millionen Menschen Rückendeckung vom DFB gewünscht. Da es auf der Welt gibt, die das in ihrem Le- hätte man auch sagen können: Junge, das ben schon einmal gemacht haben. In Ame- war ein großer Fehler, aber den bügeln wir rika gehört das zum guten Ton. jetzt gemeinsam aus. Diese Hilfe hätte ich Effenberg: Vielleicht bin ich nur im falschen schon erwarten können. Statt dessen bin Land geboren. Ein amerikanischer Journa- ich bloßgestellt worden. Ich wußte auch list hat mir mal gesagt: Junge, wenn du das sofort, was passieren wird. Ich habe noch bei uns gemacht hättest, wärst du jetzt ein am selben Abend meine Sachen gepackt, Superstar. meine Frau angerufen und gesagt: Die Na- SPIEGEL: Frau Effenberg, Herr Effenberg, tionalelf ist ab morgen für mich erledigt. wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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1997 rund 715 Millionen Mark umgesetzt hat, zunächst aufgetreten wie ein Großin- HANDBALL vestor im Zonenrandgebiet. Handballchef Ernst-Albrecht Lenz hatte den Club gera- de durch einen Vergleich geführt und dach- Hosen runter te an die freiwillige Rückgabe der Bun- desligalizenz, da schneite ihm Anfang 1997 Der VfL Gummersbach, der Welt erfolgreichster ein Fax auf den Tisch: Maxima bot Hilfe an. Statt „aufzugeben“, so Lenz, „ver- Handballclub, steht vor dem Ruin. Wieviel scherbelten wir“ das beste Stück deutscher Schuld trägt der Vermarktungspartner Maxima? Handball-Geschichte. Erkundigungen über die neuen Partner holte er nicht ein, die Zeit drängte. Die verschachtelte Maxima Holding genießt einen zwie- spältigen Ruf. Im Februar warn- te das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen vor von der Maxima vertriebenen Rentenversicherungen. Der Branchendienst Gerlach-Report bewertete „sämtliche Maxi- ma-Verträge“ als „extrem ge- fährdet“. Im April ließ die Kölner Oberstaatsanwältin Regine Ap- penrodt im Rahmen eines Er- mittlungsverfahrens Büro- und Privaträume des Maxima-Chefs Simon und eines Kompagnons durchsuchen, weil „über ein US-Unternehmen in betrügeri- scher Weise Versicherungsge- schäfte abgewickelt worden sein sollen“.Anschließend stellte die Maxima den Vertrieb ein, „um

FOTOS: M. HEUBERGER FOTOS: die Staatsanwaltschaft“, so ein Gummersbacher Torjäger Yoon: „Null Rechte, null Mitsprache“ Gesellschafter, „nicht weiter zu verärgern“. er Sturmangriff auf den VfL Gum- den Partner zugekommen sei, statt „endlich Die neue Ära für den Traditionsclub be- mersbach war minutiös vorberei- mal die Hosen runterzulassen“, zog Maxi- gann im Juli 1997. Die hochdotierten Hand- Dtet. Mit zwölf Mitarbeitern rückte ma-Chef Ulrich Simon die Notbremse: Sein ball-Profis wurden in die neugegründete Magdalene Geers, Inhaberin einer örtli- Unternehmen stieg aus, „um den Image- VfL Maxima Gummersbach GmbH ausge- chen Autovermietung, zur Abendstunde in schaden“ für sein Haus einzudämmen. gliedert – eine Maxima-Tochter übernahm der Trainingshalle des deutschen Rekord- Wer hier wem geschadet hat, darüber 74,9 Prozent-Anteile, der Verein pro forma meisters an. Anstandslos übergaben wird im Oberbergischen jetzt heftig gestrit- die restlichen 25,1 Prozent. Die Gesell- die Handballspieler ihre Wagenschlüssel, ten. Blauäugig hatte der Traditionsverein schaft übertrug dem Kölner Maxima- kramten ihre Handys aus den Sporttaschen sein Bundesligateam einer Firma überlas- Ableger in einem „Marketingvertrag“ zu- und riefen die Ehefrauen zu Hilfe – weil sen, die sich notleidenden Sportveranstal- gleich das „ausschließliche“ Werberecht; der Arbeitgeber über Monate keine Miete tern gern als Heilsbringer andient – und zu- dafür erhält sie monatlich 217 000 Mark gezahlt habe, seien ihnen gerade die Autos meist einen Scherbenhaufen zurückläßt. plus Mehrwertsteuer. abgenommen worden. Die Überraschung „Die Versprechungen“, behauptet der Jedoch lähmte das Ballwurfgeschehen der Ballwerfer hielt sich in Grenzen. aus Frust zurückgetretene VfL-Team- die erhoffte Rendite. Die Mannschaft fand Seit Monaten ist die fi- manager Klaus Brand, „wa- sich wie in den Jahren zuvor schnell im nanzielle Lage beim erfolg- ren nur Luftblasen, um in Tabellenkeller wieder, Trainer Olle Olsson reichsten Handball-Verein die Presse zu kommen.“ (Jahresgage: 180000 Mark) entpuppte sich der Welt angespannt. Am Denn sobald die Publici- als teurer Fehlgriff. Die zunehmende In- vorvergangenen Freitag ty abgeschöpft ist oder ternationalisierung bremste den Zuschau- schließlich ging ein Bündnis das Vermarktungskonzept erzuspruch – derzeit verdingen sich 14 in die Brüche, das im deut- klemmt, so lehren auch Spieler aus 9 Nationen beim deutschen Re- schen Sport bislang einma- Beispiele aus Tennis und kordmeister. lig gewesen ist: Der VfL Radsport, verläßt Maxima Die neuen Herren verschärften den Um- Gummersbach und sein unter oftmals fadenscheini- gangston. Als ein Nationalspieler öffent- Vermarkter, der Kölner Fi- gen Gründen die Arena. lich seinen Unmut zur Lage ausdrückt, nanzdienstleister Maxima, Beim VfL Gummers- wird er prompt abgemahnt. Ende März hatten sich in einer Betrei- bach war die Kölner Firma, warnt Maxima-Boß Simon den ganzen Ka- bergesellschaft zusammen- die mit Immobilienfonds der per Brief: Unter Androhung von frist- getan. Als der Verein mit und Rentenversicherungen losen Kündigungen werde es die Maxima- immer neuen Schulden auf Maxima-Boß Simon nach eigenen Angaben Gruppe „nicht auch nur annähernd tole-

der spiegel 42/1998 201 Sport rieren, durch den Handballsport in Gum- Schmitz fluchte über den „unseriösen mersbach in Mißkredit zu geraten“. Werbegag“. Für ein schlechtes Image braucht Maxi- Ihre Duftmarken haben die Maxima- ma indes keine Handballer. Längst hat sich Emissäre auch in anderen Sportkreisen in der Branche herumgesprochen, daß es hinterlassen. Daheim in Köln boten sie zu die Kölner mit der Zahlungsmoral nicht so Jahresbeginn dem radsportverrückten Ka- genau nehmen: Der ehemalige National- rosseriebauer Artur Tabat eine Koopera- spieler Karsten Kohlhaas fordert noch tion an. Tabat organisiert seit über 20 Jah- zwei Netto-Monatsgehälter von insgesamt ren den Klassiker „Rund um Köln“. 26 000 Mark, der Spielervermittler Gerd Zur Deckung des 500 000-Mark-Etats Butzeck eine fällige Vermittlungsprovision trat er die Vermarktungsrechte an die Ma- von 9000 Mark, sein Kollege Wolfgang Güt- xima ab – ohne einen Vertrag unterschrie- schow ein Honorar von 10800 Mark; dem ben zu haben.Als man sich über das Klein- nach Hameln gewechselten Walerij Gopin gedruckte nicht einigen konnte, wollte die fehlen 13400 Mark netto, der Geschäfts- Maxima die Rechte nicht wieder heraus- stellenangestellten Jutta Becker 2250 Mark, rücken. Tabat ließ in seiner Not das Rennen der Autovermieterin Geers 33300 Mark. „Rund um Köln“ ausfallen, eine Schadens- Der koreanische Nationalspieler Yoon ersatzklage über etwa 35000 Mark gegen Kyung Shin hat dem VfL gar die jährliche die Maxima ist vorbereitet. Leihgebühr für sich – zahlbar an den Uni- In Nümbrecht nahe Gummersbach ver- versitätsverein in Seoul – in Höhe von sprach die Maxima zuletzt, die General- 42000 Mark selbst vorgestreckt. Um sein vermarktung einer mit 100000 Dollar do- Gesicht zu wahren, übergab Yoon seinem tierten Tennisveranstaltung zu überneh- Professor das Geld vom Privatkonto. Den men. Der Organisator des ATP-Challen- Scheck, den der Spieler drei Wochen ger-Turniers, Frank Messerer, sah sich bei- später dafür bekam, löste die Bank nicht ein. Am Freitag vorletzter Wo- che schließlich erhielt der Gummersbacher Lenz über die „Bild“-Zeitung Nachricht von Maximas Scheidungsab- sichten. Mittags folgte dann das Kündigungsschreiben per Post. Der Handball-Obmann will auf den gültigen Verträ- gen beharren – doch sollte Maxima seine Zahlungen einstellen, scheint der Exitus des mit rund drei Millionen Mark verschuldeten VfL un- ausweichlich. Lenz vermutet, DHB-Auswahl*: Opfer eigener Geradlinigkeit? „daß denen die ganze Ange- legenheit zu teuer wird, nachdem sie in nahe schon am Ziel: Die Maxima hatte be- der eigenen Bude Probleme gekriegt reits 10 000 Mark angezahlt und eine haben“. Pressekonferenz abgehalten, da erhielt der Simons Tiraden auf die unfähigen Hand- Promoter Ende September ein lapidares ball-Funktionäre hält Lenz für Taktik: „Die Schreiben vom Maxima-Chef Simon: Man wollen einen Fehler unsererseits provozie- betrachte „die Sache nunmehr“ als „ab- ren, damit sie ihren Ausstieg legitimieren schließend erledigt“. können.“ Die Geschäfte verantworte die Simon, der für alles und jedes Erklärun- Maxima. „Wir in Gummersbach haben null gen parat hat, sieht sich als Opfer seiner ei- Rechte, null Mitsprache.“ genen Geradlinigkeit. „Die Mauscheleien Ein ähnlich jähes Beziehungsende ha- im Sport machen wir nicht mit.“ ben andere Verhandlungspartner der Ma- Möglicherweise dreht ein Maxima-Part- xima bereits erfahren. Als zu Silvester 1997 ner schon bald den Spieß herum. Beim der OSC Rheinhausen mitten in der Saison Deutschen Handball-Bund verfolgt man den wirtschaftlichen Abgang aus der das Gummersbacher Chaos aufmerksam. Bundesliga verkünden mußte, boten die Seit März ziert Maxima die Hemden der Kölner den Duisburger Handballern eben- nationalen Ballwerfer, die beiden bisher falls Hilfe an. Tagelang ließ sich die Maxi- fälligen Raten zum Dreijahresvertrag wur- ma an der Ruhr als Retter feiern, dann den pünktlich beglichen. scheiterten die Gespräche: Statt 450 000 Dennoch bereitet sich der Verband mit Mark Verbindlichkeiten habe man 1,4 Mil- seinem kommissarischen Präsidenten Ul- lionen entdeckt und den Verein im übri- rich Strombach auf ein abruptes Ende der gen telefonisch nicht erreichen können. Geschäftsbeziehungen vor: „Wenn sich Der Rheinhausener Manager Hans-Dieter herausstellt, daß die Firma nicht seriös ge- handelt hat, werden wir den Vertrag sofort * Bei der Europameisterschaft in Italien im Juni. kündigen.“ ™

202 der spiegel 42/1998 Werbeseite

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TIERE obachten. Einen Monat, nachdem der erste dieser Hurrikans über die Kleinen Antillen Floß der Reptilien hinweggefegt war, wurden an der Ostküste von Anguilla 15 Grüne Leguane gesichtet. ie Diskussion unter Geologen und Sie waren, wie Fischer berichteten, „auf DBiologen währt schon fast ein Jahr- einer Matte von entwurzelten Bäumen mit hundert: Wurden große Landtiere auf den großem Wurzelgestrüpp“ angeschwemmt

verschiedenen Inseln der Karibik bereits / SAVE-BILD K. WOTHE worden. Leguane dieser Spezies wurden heimisch, als diese noch durch Land- Grüner Leguan bis dato zwar auf dem südlicher gelegenen brücken verbunden waren, oder haben sich Guadeloupe, aber nicht auf Anguilla ge- manche von ihnen auch auf „Naturflößen“ schwimmend von In- sichtet. Die Forscher markierten einige der über einen Meter lan- sel zu Insel ausgebreitet? Daß letzteres tatsächlich möglich ist, gen Reptilien. Im März dieses Jahres fanden sie den ersten Hin- konnten Wissenschaftler im Gefolge der Wirbelstürme Luis und weis, daß die Anguilla-Besiedelung von Dauer sein wird – „ein Marilyn vom September 1995 auf der Antilleninsel Anguilla be- offenbar trächtiges Leguanweibchen“.

RAUSCHGIFT KREBS Grenze zur Sucht Frühe Spur vom Wächter as unterscheidet den Feierabend- WKokainkonsumenten, der mit stets in Test mit radioaktiv gleichbleibend kleiner Dosis auskommt, Emarkierten Spurenstof- vom Süchtigen, der offenbar immer fen kann bei einer Brust- größere Mengen des Rauschgifts krebsoperation mit großer braucht, um Wirkung zu spüren? Neu- Treffsicherheit Auskunft dar- ropharmakologen vom Scripps Re- über geben, ob schon Toch- search Institute in La Jolla, Kalifornien, terzellen ins Lymphsystem glauben in Rattenversuchen einen Hin- gelangt sind. Dabei wird der weis auf die zugrundeliegenden Mecha- radioaktive Farbstoff kurz nismen gefunden zu haben. Gaben sie vor der Operation des einer Gruppe Ratten jeweils nur eine Primärtumors in das Gewe- Stunde Zeit, sich Kokain einzuverlei- be injiziert, das die Ge- ben, blieben die Tiere über viele Wo- schwulst umgibt. Der Wan- chen bei stets der gleichen relativ klei- derweg des Farbstoffes zeigt nen Dosis. Wurde den Tieren dagegen dann in der Gammakamera, jeweils sechs Stunden lang die Möglich- wie die Gewebsflüssigkeit keit gegeben, sich Koks zu verschaffen, aus dem Tumorgebiet den stieg schon nach wenigen Tagen der ersten Lymphknoten durch- Konsum von 71 auf 110 Infusionen pro strömt. Bei mehr als 400 Versuchszeit. Der erhöhte Verbrauch ist Brustkrebs-Patientinnen in aber, wie Änderungen des Kokainge- den USA zeigte sich, daß der halts und andere Versuchstricks zeigten, Befall dieses „Wächterkno-

tens“, wie ihn die Ärzte KAEMPRE BILD- UND PRESSEAGENTUR nennen, zuverlässig verrät, Brustkrebsknoten im Röntgenbild ob auch die übrigen Lymphknoten, vor allem im Achselbe- könnte künftig vielen Patientinnen die reich, Krebszellen enthalten. Für die häufig mit Dauerschäden verbundene Entfernung des Wächterknotens ist nur Entfernung allen Lymphgewebes im ein kleiner Einschnitt nötig. Der Test Achselbereich ersparen.

AIDS

T. RAUPACH / ARGUS RAUPACH T. Bluthandel mit Folgen Kokain-Schnupferin eit Anfang dieses Monats ist der Kauf und Verkauf von Spenderblut in der Volks- nicht auf eine erhöhte Kokaintoleranz Srepublik China verboten. Mit dieser Maßnahme hofft die Regierung, wenigstens zurückzuführen. Vielmehr versuchen eine der Quellen für die Ausbreitung der Immunschwächekrankheit Aids eindämmen die Ratten – und nach Ansicht der For- zu können. Denn mittlerweise sind einige hunderttausend Rotchinesen mit dem HI- scher vielleicht auch kokainsüchtige Virus infiziert. Nahezu jedem Fünften der HIV-Positiven wurde, offiziellen Statistiken Menschen –, „einen höheren Grad des gemäß, das Virus zusammen mit weder geprüftem noch sterilisiertem Spenderblut Rausches zu erreichen und zu halten; übertragen. In einigen chinesischen Provinzen lag der Anteil der freiwilligen Blut- ihr hedonistischer Set-point hat sich spenden bislang nur bei 10 Prozent, die übrigen 90 Prozent ihres Bedarfs mußten die nach oben verschoben“. Kliniken von häufig dubiosen Handelsorganisationen beziehen.

der spiegel 42/1998 205 Prisma Computer

INTERVIEW der Bildröhre belastet die Augen. Es war zu Anfang sehr schwer für mich, Termine bei Verlagsmanagern zu bekommen, aber kaum hatte einer das eBook in der Hand, war er von der Idee Fliegende Bibliothek begeistert. Alle größeren US-Verlage machen mit. SPIEGEL: Auch andere Firmen arbeiten an solchen Geräten. Martin Eberhard, Chef der kalifornischen Firma NuvoMedia, Sind womöglich Bücher in Zukunft miteinander inkompatibel? präsentierte auf der Frankfurter Buchmesse ein digitales Buch. Eberhard: Hoffentlich nicht. Wir wollen das elektronische Buch standardisieren, so daß man mit jedem Gerät über das Internet SPIEGEL: Ihr elektronisches Buch wird aus dem Internet mit In- oder an Kiosken digitale Titel laden kann. Am Bahnhof könnte halten gefüllt. Wird bedrucktes Papier überflüssig? man so im Vorbeigehen zehn neue Bücher auf das eBook über- Eberhard: Nein, es wird immer Bücher geben, die wir zu Hause tragen. Das System sichert durch Verschlüsselungstechnik Be- im Regal stehen haben wollen. Aber zum Beispiel Taschenbü- zahlung und Schutz des Copyrights. Die amerikanische Nor- cher, die ich im Flugzeug lese, sind entbehrlich. Zur US-Ein- mungsbehörde hält gerade eine Konferenz zu diesem Thema führung des Rocket eBook im November werden wir auch die ab. Ich träume davon, daß in Zukunft jedes Flugzeug eine Digitalausgabe einer be- elektronische Bibliothek mit hundert- kannten Finanzzeitung ver- tausend Büchern an Bord hat. fügbar haben. SPIEGEL: Hat das sinnliche Vergnügen SPIEGEL: Wer längere Texte des Lesens nicht auch etwas mit gebun- lesen will, zieht bisher den denem Papier zu tun? Ausdruck vor, warum sollte Eberhard: Ich habe selbst Tausende Bü- sich das ändern? cher zu Hause, aber höchstens fünf leder- Eberhard: Das eBook hat gebundene, von denen ich mich nicht den besten derzeit erhältli- trennen will. Wenn mich ein Autor nach chen LCD-Bildschirm. Der den ersten Seiten nicht fesselt, lege ich macht es leider etwas teuer das Buch zur Seite. Alle eBook-Testleser – etwa 500 Dollar –, ist aber berichten, daß sie schnell vergessen ha- entscheidend. Ein gewöhnli- ben, daß sie von einem Bildschirm lesen. cher PC-Monitor zwingt zu SPIEGEL: Wann gibt es das eBook in Eu- unbequemer Sitzhaltung, die ropa?

Schrift ist nie wirklich B. BOSTELMANN / ARGUM Eberhard: Mitte nächsten Jahres, und scharf, und das Flimmern Eberhard, Rocket eBook zwar zuerst in Deutschland.

GURUS HARDWARE bindung treten. Damit wird ein viel- Doktor Digital stöckiges Geflecht von Leitungen mög- Chip mit 1000 Etagen lich. Im Prinzip funktioniert die Technik ormalerweise geht das gar nicht“, bereits; das US-Militär fördert die weite- Nlautet das Lebensmotto von Kai ie kalifornische Firma Irvine Sensors re Entwicklung. In wenigen Jahren will Krause, 41. Als Guru der Grafiksoftware Dhat einen Prozessor in Angriff ge- die Firma einen 1000stöckigen Prozessor befähigt er mit Programmen wie „Kai’s nommen, der die Architektur des fertigstellen, dessen einzelne Lagen dün- Power Tools“, „Bryce“ oder „Goo“ den menschlichen Gehirns nachbildet. Bis- heimischen PC zu Kunststücken, die lang waren selbst die rasantesten Com- man eigentlich nur ausgewachsenen puterchips stupide Machwerke, vergli- Workstations zugetraut hätte. Ähnlich chen mit der Hardware, die im mensch- ungewöhnliche Wege geht er auch im lichen Schädel steckt: Dort stehen eine wahren Leben: Am 21. Oktober verleiht Billion Nervenzellen, genannt Neuronen, ihm die Universität Essen die Ehren- gleichzeitig für die Geistesarbeit bereit, doktorwürde Dr. phil. h. c. Dabei hat er und sie können sich im Nu zu einer Un- seinerzeit kurz vor dem Abitur die zahl von Kombinationen verbinden.Wer Schule in seiner Heimatstadt geschmis- einen ebenso mächtigen Computer bau- sen, um mit Freunden ins en wollte, müßte eine Million Chips, be- sonnigere Kalifornien stückt mit je einer Million digitaler Neu- überzusiedeln. Krauses ronen, zusammenschalten. Und selbst phantasievoll-verspielte dann wäre nicht viel gewonnen. Beim Softwaregestaltung mit heutigen Stand der Technik ist jeder Chip bunten Knubbelknöpfen eine Insel; zu den Nachbarn führen nur Prozessor 3DANN (Prototyp) zum Drücken, Drehen und ein paar Dutzend Leitungen. Das dichte Schieben auf dem Bild- Nervengewebe des Gehirns läßt sich da- ner sind als ein Menschenhaar. Das Re- schirm bekommt nun aka- mit nicht annähernd simulieren. Der Re- chenwerk hätte in einem Würfel von

O. GEISSELBRECHT O. demische Weihen: Die chenwürfel von Irvine Sensors, genannt zweieinhalb Zentimeter Kantenlänge Krause „gänzlich innovative Ge- 3DANN, besteht dagegen aus mehreren Platz, und eine Schuhschachtel wiederum staltung der Mensch-Ma- gestapelten Chips. Deren digitale Neu- faßte 1000 dieser Würfel: Das sind dann schine-Interaktion“ habe „neuartige in- ronen können mit ihren Nachbarn in den so viele Schaltelemente, wie das Gehirn formatische, kognitive und visuelle Kon- oberen und unteren Etagen direkt in Ver- Neuronen hat. zepte“ eingeführt, so die Laudatio.

206 der spiegel 42/1998 Werbeseite

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BIOLOGIE Wurmjagd vor der Haustür Jahrzehntelang galt die biologische Systematik als verstaubte Wissenschaft, die Forscher selbst als vom Aussterben bedrohte Spezies. Jetzt sind Systematiker wieder gefragt: Im Wettlauf mit der Zeit sollen sie die schwindende Artenvielfalt der Erde erkunden.

Osnabrücker Zoologe und einer der vielleicht zwei Dutzend En- chytraeiden-Spezialisten auf der Welt. Trotzdem sei es „die Lust am Schauen“, die ihn antreibe. Als Systematiker arbeite er „wie ein Kunsthistoriker, der Bauten verschiedenen Stilen und Epo- chen zuordnet“. Jahrzehntelang galten Leute wie Schmelz als weltfremde Bor- sten- und Beinchenzähler, als Naturforscher von gestern. Die Systematik nahm immer weniger Raum in den Lehrplänen ein, Forschungsgelder versiegten, Nachwuchsbiologen wandten sich scheinbar aufregenderen Disziplinen zu, wie Molekular- biologie, Genetik oder Hirnfor- schung. Ende der achtziger Jahre widmeten sich nur noch rund drei Prozent der Biologie-Dok- toranden einem systematischen Thema. Jetzt ändert sich das Berufs- bild. Seit dem Umweltgipfel von Rio de Janeiro 1992 stehen Sy- stematiker unter dem neuen Etikett „Biodiversitätsforscher“ hoch im Kurs. Im Wettlauf mit der Zeit sollen sie den schwin- denden Artenreichtum der Erde erkunden – damit die Mensch- heit zumindest weiß, was sie zer- stört, oder retten kann, was sich als besonders kostbar erweist. Als erste haben amerikanische Wissenschaftsmanager die neue Brisanz des vermeintlich abge-

J. DÜRBAUM & T. KÜMERMANN & T. DÜRBAUM J. halfterten Forschungszweigs er- Ruderfußkrebse bei der Paarung: Ein paar Borsten erzählen ganze Geschichten kannt und Förderprogramme aufgelegt. So investiert die Na- icht zwangsläufig muß sich ein Bio- Regenwürmer, und wenn der Wissen- tional Science Foundation drei Millionen loge durch das Kronendach des Tro- schaftler selbst der Gattung der Systema- Dollar jährlich, insbesondere in die Aus- Npenwalds hangeln, um eine neue tiker angehört, den Buchhaltern der biolo- bildung des wissenschaftlichen Nach- Tierart zu entdecken. Es ist auch nicht gischen Vielfalt. wuchses. Neuerdings ist auch das deutsche nötig, Netze kilometertief in die Fluten der Sie allein haben den Blick für die De- Forschungsministerium bereit, die Erfas- Ozeane zu tauchen, um bislang unbe- tails, die eine Art von der anderen un- sung der biologischen Vielfalt zu fördern. kanntes Leben ans Licht zu holen. terscheiden, zumal bei minimalistischen Vorbei sind damit die Zeiten, da Syste- Manchmal reicht es, auf dem Campus Geschöpfen wie den Enchytraeiden, an matiker als selbst vom Aussterben be- der Universität Osnabrück zu graben. Je- denen außer ein paar Borsten eigentlich drohte Art verspottet wurden. „Aufbruch- denfalls wenn der Forscherehrgeiz den En- nichts dran ist. „Ich würde niemandem stimmung“ wittert der Oldenburger chytraeiden gilt, den fadendünnen, nur widersprechen, der diese Würmer pott- Professor Horst Kurt Schminke, Präsident wenige Zentimeter langen Verwandten der häßlich findet“, gesteht Rüdiger Schmelz, der neugegründeten Gesellschaft für

208 der spiegel 42/1998 den um ein Vielfaches artenreicheren Tro- pen hat noch kaum jemand nach den Würmchen gewühlt. Neben tropischen Wäldern und Korallenriffen entdecken die Forscher nun auch den antarktischen Mee- resgrund als schier unerschöpfliches Re- servoir unbekannter Lebensformen. „Ich weiß gar nicht, wie viele neue Ar- ten ich schon gesehen habe“, stöhnt Sibyl- le Seifried, Biologie-Diplomandin an der Universität Oldenburg. Ihr Spezialgebiet sind die Copepoden, winzige Krebstiere, mitgebracht vorwiegend aus antarktischen Gewässern. Aus der Fülle fremder Krea- turen pickt sie sich nur die interessantesten heraus, diejenigen, die ihr helfen, die Ver- wandtschaftsverhältnisse im Reich der Ru- derfußkrebse aufzuhellen. Als wirklich existent gilt eine neue Art erst dann, wenn sie beschrieben, also den Spezialistenzirkeln in einer Fachzeitschrift vorgestellt wurde. Und das macht Arbeit.

B. BEHNKE Wie die Gelehrten vergangener Zeiten Systematiker Schminke, Algenkulturen: Millionen Arten harren ihrer Entdeckung zeichnet die Biologin („Ich komme aus ei- ner künstlerischen Fami- Biologische Systematik, die sich Mitte Sep- lie“) akribisch Antennen tember zu ihrer ersten Jahrestagung traf. und Härchen ab, die „Das Blatt wendet sich“, bestätigt der Augen immer am Mikro- Hamburger Zoologe Harald Schliemann. skop. So entstehen fili- Mit ihrer „Agenda Systematik 2000“ leg- grane Kunstwerke von ten Zoologen und Botaniker aus aller Welt hohem ästhetischen Reiz. einen ehrgeizigen Schlachtplan vor: Inner- Um auch das Innen- halb von 25 Jahren wollen sie die gesamte leben der Copepoden ab- biologische Vielfalt des Planeten Erde er- zubilden, seziert Seifried fassen, ordnen und, eingespeist in Daten- kaum einen Millimeter banken, jedem Interessierten zugänglich große Tiere mit einer machen. haarfeinen Nadel aus Noch in den siebziger Jahren glaubten Wolframdraht. Monate-

Biologen, das „Organismeninventar“ der PÖLKING / PLUS 49 VISUM F. lang hat sie den „Fum- Erde, so der Fachjargon, weitgehend in ihre Artenreservoir Antarktis: Fülle fremder Kreaturen melkram“ geübt. Bestimmungsbücher gebannt zu haben. Was fasziniert einen Dann jedoch begaste der Amerikaner Terry Menschen so sehr am For- Erwin die Kronen tropischer Bäume mit menreichtum unscheinba- Gift und nahm unter die Lupe, was tot zu rer Krebse oder Würmer, Boden fiel. Ergebnis: Durch das Gezweig daß er ihnen sein ganzes einer einzigen Baumart krabbelten allein Forscherleben widmet? 1200 verschiedene Käferarten, ein Groß- „Mich verblüfft“, sagt teil davon nie zuvor gesichtet. „Das hat Systematiker Schminke, eingeschlagen wie eine Bombe“, erinnert „wie die Natur immer sich Schminke. wieder ein Grundthema, Ausgehend von Untersuchungen wie also den Bauplan einer Erwins Kerbtierinventur rechneten Biolo- Art, variiert.“ gen hoch, daß weltweit zwischen 10 und Nie ist die Gestalt ei- 100 Millionen Arten ihrer Entdeckung nes Körperteils Selbst-

harren. Bis heute sind gerade einmal 1,7 R. GAILLARDE / GAMMA STUDIO X zweck; ihre Funktion zu Millionen Tiere, Pflanzen, Pilze und Mi- Artensuche in den Tropen*: Kerbtierinventur im Kronendach enträtseln, macht für kroorganismen beschrieben – bestenfalls Schminke den Reiz der 17 Prozent der Lebensformen auf der Erde. „Die schönen Arten sind abgegrast“, Systematik aus. Ein paar Krebsborsten Geschätzte 27 000 Arten sterben jedes sagt Ringelwurmspezialist Schmelz, denn können ganze Geschichten erzählen: wie Jahr aus. Vögel und prachtvolle Schmetterlinge sind sich Männchen ins Schlepptau vorpuber- Die weitaus meisten der Kreaturen, die begehrte Studienobjekte von Hobby- tärer Weibchen hängen, um den Zeitpunkt inkognito den Planeten bevölkern, sind forschern. Wer als Systematiker Neuland der Geschlechtsreife nicht zu verpassen, Insekten, doch auch in die Welt der Bak- erkunden möchte, hat daher kaum eine und wie bei manchen Arten das Männchen terien, Algen und Pilze, der Würmer, Mil- andere Wahl, als sich auf kleine, unspek- nach erfolgter Paarung die Borsten am ben und Spinnen ist bislang allenfalls ein takuläre Geschöpfe zu verlegen. weiblichen Hinterleib abzwackt, damit kein Lichtstreif des Wissens gedrungen. Bei auf- Vor seiner Haustür hat Schmelz bereits Rivale andocken kann. fälligeren Lebewesen wie Säugetieren und eine Reihe neuer Enchytraeiden erjagt; in Fesselt den Systematiker schon das Stu- Vögeln hingegen sind nur noch wenige dium einer neuen Art, so versetzt die Ent- hundert Neuzugänge zu erwarten. * Im Urwald von Kamerun. deckung eines Geschöpfes, das sich in kei-

der spiegel 42/1998 209 Wissenschaft ne der bekannten Stämme, Ordnungen oder turpflanze leicht kreuzen. So gelang es, dem Familien eingemeinden läßt, die Fachwelt Mais, einer der wichtigsten Nutzpflanzen erst recht in Aufregung. Hin und wieder der Welt, Widerstandsfähigkeit gegen be- stoßen Forscher auf solche Kreaturen, die stimmte Viruskrankheiten anzuzüchten. ganz neue Entwürfe der Ingenieurin Natur Auch bei der Suche nach neuen Me- verkörpern, wie den erst 1995 beschriebe- dikamenten aus der Natur ist das Wissen nen Stamm Cycliophora: blasenartige, be- der Systematiker gefragt – oder im Kampf wimperte Gebilde, die sich mit Saugnäpfen gegen Schädlinge. So machten sich 1992 an die Mundwerkzeuge von Kaiserhum- seltsame Käfer in den Wäldern Westkana- mern heften und ihre Lebensgefährten das breit. Erst nach einem Jahr zogen in Gestalt noch kleinerer, knubbeliger Zwergmänn- chen auf dem Leib tragen. Zu klären, ob ein erst- mals gesichtetes Geschöpf Vertreter einer neuen Ord- nung ist, bloß den Status ei- ner neuen Art verdient oder überhaupt nur ein ab- weichlerisches Exemplar ei- ner längst bekannten Spe- zies darstellt, bringt den Systematiker fast immer in Schwierigkeiten. Zur selben Art gehören, per definitionem, zwei In-

dividuen, die miteinander B. BEHNKE Nachwuchs zeugen kön- Systematikerin Seifried*: Fummelkram mit Wolframdraht nen, der selbst fortpflan- zungsfähig ist – anders als etwa das Maul- besorgte Förster Spezialisten zu Rate, die tier, eine Kreuzung aus Esel und Pferd. den Fremdling als notorischen Baumkil- Aber wie läßt sich das bei Ringelwürmern ler identifizierten. Zu spät: Das Schadin- nachprüfen, die sich bisweilen durch Frag- sekt, ein Prachtkäfer namens Buprestis mentation vermehren können, also indem haemorrhoidalis, hatte bereits ganze Land- sie sich in Bruchstücke teilen? striche erobert. Um solche Probleme zu lösen, ent- Vor allem aber liefert die systematische decken die Systematiker derzeit die Me- Biologie den Naturschützern wichtige thoden der Molekularbiologie für sich. Argumente. Erst wenn bekannt ist, welche Genauer als die Untersuchung des Kör- und wie viele seltene Arten wo leben, kön- perbaus – die sogenannte Morphologie – nen sie sinnvolle Entscheidungen über soll der Vergleich von Genen oder Ei- Reservate treffen. „Naturschutz“, sagt weißen zeigen, welcher Organismus wie Systematiker Schminke, „ist ohne Biodi- nahe mit wem verwandt ist. versitätsforschung nicht möglich.“ Die Spitzfindigkeit der Systematiker Derzeit allerdings hält die Inventur der geht allerdings selbst manchen Forscher- biologischen Vielfalt nicht annähernd kollegen zu weit. „Daß die immer neue Schritt mit dem Artenschwund. Für Arten finden“, seufzt der Dresdner Öko- Schminke ist jede Spezies ein „einzigarti- loge Martin La France, „erschwert doch ges Dokument“. Stirbt sie aus, geht auch nur unsere Arbeit.“ Auch La France be- die in ihr gespeicherte Information unwie- schäftigt sich mit Enchytraeiden, doch für derbringlich verloren. ihn haben die Ringelwürmer in erster Linie Wie im Fall des Froschs Rheobatrachus praktischen Nutzen: als Indikatoren für die silus, den Zoologen 1973 in Australien auf- Güte von Waldböden. Ob er nun En- stöberten. Die neue Art zeigte ein höchst chytraeus crypticus ausgräbt (erstmals ent- ungewöhnliches Verhalten: Als die Forscher deckt in einer Fuhre Kompost) oder E. ein im Aquarium lebendes Exemplar auf- buchholzi oder ob beide in Wahrheit der- scheuchten, spuckte es sechs Kaulquappen selben Art angehören, ist dem Ökologen aus.Als einzig bekanntes Lebewesen nutz- ziemlich egal – solange sie in derselben te das Amphibium offenbar seinen Magen ökologischen Nische hausen. als Brutkammer. Dazu mußte es befähigt Unermüdlich verweisen indes die Ord- sein, die Produktion von Magensäure zeit- nungshüter der Biologie darauf, daß ihr weise zu stoppen. Treiben durchaus auch wirtschaftlich von Die zoologische Sensation weckte auch Bedeutung sei. Eines ihrer Paradebeispiele das Interesse der Mediziner, die auf neue ist die Entdeckung der Maisart Zea diplo- Ansätze zur Behandlung von Magenge- perennis in den Nebelwäldern Mexikos. Die schwüren hofften. Eine interdisziplinäre Trouvaille ließ sich, im Gegensatz zu einer Arbeitsgruppe sollte das Phänomen ge- anderen, ähnlichen Wildform, mit der Kul- nauer untersuchen.Abschließen konnte sie das Projekt nicht: Der Frosch war zwi- * Mit Zeichnungen von Ruderfußkrebsen. schenzeitlich ausgestorben. ™

210 der spiegel 42/1998 Werbeseite

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Werbeseite Technik

Mit der Fahrkultur stieg allerdings auch „Keyless-Go“-Option, eine Chipkarte, AUTOMOBILE das Preisniveau. Das Basismodell S 320 die den Wagen automatisch per Funk- (224 PS, 240 Stundenkilometer, Normver- signal öffnet und startet. Ende einer brauch 11,5 Liter pro 100 Kilometer) kostet Auch Metallic-Lackierung (2030 Mark), 112868 Mark, über 20000 Mark mehr als automatisch abblendende Rückspiegel (522 die frühere Einstiegs-Variante S 280, de- Mark), Leichtmetallräder (580 Mark), Irrfahrt ren Motor nicht mehr angeboten wird. Scheinwerferreinigungsanlage (464 Mark), Wer darüber hinaus Klapptische im Fond Mit der neuen S-Klasse der Verlockung erliegt, (1624 Mark) und Leder- könnte die von Pannen gebeutelte den neuen großen Mer- bezüge (ab 4094,80 Mark) cedes zum technischen zählen nicht bei allen Mo- Automarke Mercedes zum Kuriositätenkabinett der dellen zur Serienausstat- alten Renommee zurückfinden. Sonderklasse hochzurü- tung. Fachleute sind begeistert. sten, wird kräftig zur Kas- Die couragierte Preis- se gebeten: politik zeugt von der estellt hätten bereits Eliten aus allen π Der Genuß, sich von wieder erwachten Selbst- Erdteilen, versicherte Professor pulsierenden Luftkis- sicherheit der schwäbi- BJürgen Hubbert vergangene Woche sen in der Lehne sanft Navigationssystem schen Wagenbauer. Die bei der Präsentation der neuen Merce- den Rücken massieren neue S-Klasse ist in der des-S-Klasse. Bekannt wurde bisher je- zu lassen, kostet pro Summe ihrer Eigenschaf- doch nur eine Order: Laut „South China Vordersitz 986 Mark. ten das derzeit innovativ- Morning Post“ wünscht die Regierung Ein Belüftungssystem ste Luxusauto der Welt. Nordkoreas 200 Exemplare der Luxus- im Polster kühlt das Für Pkw-Vorstand Jür- limousine. Gesäß für zusätzliche gen Hubbert markiert Technisch betrachtet trafen die Herr- 2204 Mark. der neue große Wagen scher des darbenden Volkes eine gute π Für das Navigations- womöglich das Ende ei- Wahl. Die Fachwelt zeigt sich von dem system, das mit Bild- ner strapazenreichen Irr- neuen Spitzenmodell der Schwaben, das schirm, Radio und Blinker im Außenspiegel fahrt, einer Laufbahn, die deutlich graziler geformt ist als sein klot- Kassettenspieler in der ebenso strahlend begann, ziger, 300 Kilogramm schwererer Vorgän- Mittelkonsole Platz wie sie jäh ins Taumeln ger, vollauf begeistert. Mercedes, behaup- findet, werden wei- geriet. tet „Auto, Motor und Sport“, habe die Er- tere 4872 Mark be- Als großer Erneuerer wartungen „nicht nur erfüllt, sondern in rechnet. brach er 1992 mit der vielen Punkten übertroffen“. π Sollte der Kunde Wert Tradition des schwäbi- Besonders überzeugte die Luftfederung, auf „dynamische Ziel- schen Schwerwagen-Sta- „Airmatic“ genannt. Zwar ist sie im Prin- führung“ legen, die Ver- linismus. Sein Vorgänger zip keine Weltneuheit. Bereits die giganti- kehrsfunkmeldungen Schalthebel mit „Keyless-Go“-Chip (r.) Werner Niefer und des- schen Mercedes-Staatskarossen vom Typ auswertet und bei S-Klassen-Details sen Chefkonstrukteur 600 hatten ein ähnliches Fahrwerksystem. Stau automatisch Aus- Teures Kuriositätenkabinett Wolfgang Peter hatten sich ein Jahr zuvor mit der klotzigsten S-Klasse aller Zeiten ein abschreckendes Denkmal gesetzt und das Kainsmal des Umweltfeinds tief ins Mar- kenimage von Daimler-Benz eingebrannt. Hubberts Perestroika des Fahrzeugbaus öffnete völlig neue Wege hin zum Klein- und Kleinstwagenbau, endete aber in den Technik-Debakeln von A-Klasse und Smart, die den Unfehlbarkeitsnimbus der Marke Mercedes über Nacht demontierten. Doch trotz dieser Niederlagen ist die Ära Hubbert eine Epoche des Aufschwungs gewesen, in der Mercedes die größte Mo- dellvielfalt und die höchsten Gewinne der Unternehmensgeschichte erreichte. Als Neue Mercedes-S-Klasse: „Ich will ein Auto, das schwebt“ bestverkaufter Luxuswagen aller Zeiten soll die neue S-Klasse diese Erfolgskurve Auch der stets auf skurrile Lösungen be- weichrouten empfiehlt, sind noch ein- nun abschließen. 80 000 Exemplare kön- dachte französische Hersteller Citroën mal 1740 Mark fällig. nen im Werk Sindelfingen jährlich vom setzt seit Jahrzehnten auf Gaspolster an- π Die Zylinderabschaltung, die bei gerin- Band laufen. Die Hälfte des Weltmarkts in stelle von Stahlfedern. gerem Leistungsbedarf vier Töpfe des diesem Segment zu besetzen ist anvisiert. Dennoch ist der Komfortgewinn, den großen Achtzylinders von der Kraftstoff- Der Vorgänger erreichte 42 Prozent. Mercedes nun aus diesem Prinzip zog, un- zufuhr abschneidet, kostet 1160 Mark. Mit diesem Ziel vor Augen heißen die erreicht. Die neue S-Klasse, urteilt „Auto, π Den neu entwickelten Abstandsregel- Hersteller der Karosse auch die Machtha- Motor und Sport“, „stellt alles in den Tempomaten namens „Distronic“, der ber in Pjöngjang als Kunden willkommen. Schatten, was bisher als wohlabgestimmte radargesteuert Distanz zum Vorausfah- Die Meldung der „South China Morning Federung galt“. Hubbert sieht sich seinem renden hält, wird Mercedes im Frühjahr Post“ verstörte die Mercedes-Manager nur Entwicklungsziel („ich will ein Auto, das zu einem noch nicht bekannten Aufpreis aus einem Grund: Die Bestellung war noch schwebt“) sehr nahegekommen. nachreichen. Dann kommt auch die gar nicht in Stuttgart eingetroffen. ™

214 der spiegel 42/1998 Werbeseite

Werbeseite Wissenschaft

ASYLPRAXIS „Sie kommen als lebende Tote“ Viele Asylbewerber in Deutschland wurden in der Heimat gefoltert. Ein psychisches Trauma kann sie daran hindern, davon zu berichten. Beamte und Richter behandeln solche Bewerber unwillig und mißachten ärztliche Gutachten. Die Geschichte eines kurdischen Flüchtlings zeigt, wie Folteropfer im Asylverfahren ihre Erniedrigung erneut durchleben.

stets die Augen verbanden, wenn der in Deutschland Aufnahme sucht, gleich sie ihn quälten. Er würde sie trotz- nach seiner Ankunft vorsprechen und sei- dem jederzeit wiedererkennen, je- ne Geschichte darlegen. den von ihnen, behauptet er. Er hat Mit demselben unbeteiligten Gesicht, mit sich ihre Stimmen eingeprägt. dem Bingol heute erzählt, muß er damals Seit drei Jahren ist er in Deutsch- vor Dr. Than getreten sein, im Bundesamt land. Du bist jetzt in Sicherheit, sagt für die Anerkennung ausländischer Flücht- er sich immer wieder. Keiner trach- linge. In dürren Worten, dem Anhörungs- tet dir mehr nach dem Leben.Aber protokoll zu entnehmen, berichtete Bingol, diese Formeln, die er ständig wie- er sei Ortsvorsitzender der Lehrergewerk- derholt, um sich zu beruhigen, wol- schaft gewesen und habe für Oppositions- len nicht so recht wirken. zeitungen geschrieben. Für die militante Seine Freiheit in dem neuen PKK habe er nie gearbeitet; daß Bingol mit Land, in das ein Schleuser ihn ge- dieser Organisation nichts zu tun hatte, er- bracht hatte, dauerte zwei Monate, kannten die deutschen Behörden an.

M. WEISS / OSTKREUZ dann war das Touristenvisum abge- Als er sich 1994 für den Stadtrat aufstel- Flüchtling Bingol*: Angst vor Killerkommandos laufen. Einmal noch durfte Bingol len lassen wollte, habe man ihn neun Tage seine Schwester besuchen, die in auf der Gendarmerie festgehalten. Dann aß sie ihn jederzeit zurückschicken Mannheim lebt, danach beantragte er Asyl hätten ein Schüler und zwei ihm Unbe- können, sagt Aydin Bingol, ist gar und mußte ins Lager. kannte im Schulhof einen Anschlag auf ihn Dnicht das schlimmste. Auch nicht, Das Asylbewerberheim in der Torgauer verübt. daß er dann wieder in die Hände der Fol- Straße in Leipzig war stacheldrahtum- Than nahm die Atteste, die Bingol vor- terer fiele. Das schlimmste ist, daß keiner zäunt, wer hineinging, mußte seinen Aus- legte, zu den Akten. Vorschriftsgemäß ihm glaubt.Wozu soll es dann gut gewesen weis abgeben. Bingols Zelle darin war un- suchte er nach Widersprüchen in dessen sein, so lange durchzuhalten? gefähr so groß wie die im Gefängnis seiner Einlassungen und erfragte den Fluchtweg. Dabei mußten sie einfach nur hinsehen, kurdischen Heimatstadt. In die Wände hat- Dem neuen Asylrecht gemäß wird zurück- Bingols Begutachter im Asylverfahren: Wie ten seine Vorgänger graviert, wie lange sie geschickt, wer aus einem sogenannten si- er die Tür fixiert. Wie er stets mit dem hier gesessen hatten. cheren Drittstaat eingereist ist.Auf die Lei- Rücken zur Wand sitzt.Wie seine Hände zu Nach zehn Tagen wurde Bingol nach densgeschichte kommt es nicht an. zittern beginnen, wenn irgendwo ein Tele- Chemnitz zur Anhörung gebracht. Seit das „Der hat mich abgeschätzt wie ein fon läutet. neue Asylrecht von 1993 gilt, muß jeder, Roßhändler ein Pferd “, sagt Bingol. Keine In der Polizeiwache von Bingols kurdi- scher Heimatstadt Varto hat auch das Te- lefon geläutet, endlos. Niemand nahm ab, weil die Beamten beschäftigt waren: damit, den Lehrer Bingol an den Händen aufzu- knüpfen, oder ihn mit dem Kopf und den Beinen in Autoreifen zu stecken und durch die Gänge zu rollen. Manchmal preßten sie ihn mit dem Wasserstrahl einer Feuer- wehrspritze gegen die Wand; danach ließen sie ihn stundenlang draußen stehen. Bingols Finger spielen mit einem Kugel- schreiber, während er in einer psychologi- schen Station der Berliner Westend-Klinik seine Geschichte erzählt. Sein Gesicht ist reglos, als wäre es auf dem Hof der Poli- zeiwache eingefroren und nicht wieder auf- getaut. Gefühle, sagt er, habe er nicht mehr. Mit einem erstarrten Lächeln berichtet Bingol, 33, wie von einem sehr weit ent- fernten Bekannten: zum Beispiel, daß er seine Folterknechte nie sah, weil sie ihm GAMMA / STUDIO X * In der Berliner Westend-Klinik. Folteropfer (auf der indonesischen Insel Timor): Im Traum hören sie die eigenen Schreie

216 der spiegel 42/1998 Werbeseite

Werbeseite Wissenschaft einzige Frage nach Folterungen steht im erzählen. Ähnliche Sprachlosigkeit wurde Glaubwürdigkeit in Asylverfahren nahezu Protokoll, und von sich aus hat Bingol bei Opfern von Flugzeugentführungen und nichts taugt, wenn der Bewerber ein Fol- auch nicht davon berichtet. Nur in einem Katastrophen festgestellt. teropfer war“. Nebensatz erwähnte er, man habe ihn Folteropfer offenbaren sich oft nicht ein- Wer in der Erstanhörung nicht genug „noch einmal auf der Polizeistation fest- mal ihrem Anwalt, berichtet der Frankfur- vorbringt oder sich gar widerspricht, hat gehalten“. ter Jurist Ludwig Müller-Volck, der seit 20 kaum eine Chance zu bleiben. Er hat sich Was Bingol nicht sagte: Mehr als 20mal Jahren Asylbewerber vertritt: „Wenn die unglaubwürdig gemacht. Selbst wenn er war er in Haft. Seine ersten Schläge mit ei- Gefolterten sogar vor mir nicht reden, wie klagt – die Gerichte werten nachgescho- nem Gewehrkolben bekam er 1980, als bene Gründe als später erfunden. 14jähriger. Er hatte Plakate gemalt. „Laßt Orientalische Märchen Müller-Volck hat gelernt, auf Zwi- ihn laufen“, rief ein Gendarm damals, „er sollen den Verstummten neuen schentöne zu hören: Wenn eine Frau ist noch so jung.“ „Eben deswegen“, erwi- von einer Ohnmacht im Gefängnis berich- derte der Offizier, „er muß lernen.“ Lebensmut geben tet, verschleiert sie oft eine Vergewalti- Später überfielen ihn Polizisten zu gung. Gerade wenn ein Bewerber in seinem Hause und mißhandelten ihn vor seiner sollen sie dann vor den staatlichen Anhö- Vortrag plötzlich wirr wird, sich offen- dreijährigen Tochter. Als das Rollkom- rern auspacken?“ kundig widerspricht und Daten durchein- mando im Schulhof auf ihn eingeprügelt Frauen schweigen, weil sie vor einem anderbringt, wurde er meistens gefoltert. hatte, lag Bingol eine Woche im Koma. 29 Mann nicht über ihre Vergewaltigung spre- Denn Verschleppung und Folter werden Lehrer aus seiner Gruppe verschwanden in chen können. Männer schweigen, weil sie angewandt, um Gefangene systematisch den letzten Jahren oder wurden tot aufge- nicht zugeben wollen, daß sie unter den zu desorientieren. „Mit etwas Einfühlung funden. Auch seine Nichte wurde ver- Händen der Folterer schwach geworden und Willen“, sagt Müller-Volck, „könn- schleppt. sind. Und sexuellen Mißbrauch erleiden ten auch die Richter solche Anzeichen Warum hat Bingol das alles verschwie- auch sie. „Jedes zweite männliche Fol- erkennen.“ gen? „Genügte nicht, was ich sagte?“ er- teropfer“, sagt Müller-Volck, „wurde se- Doch an solchem Willen und Gespür widert er. Er habe die Schrecken nicht er- xuell mißhandelt.“ scheint es manchem Richter zu mangeln. neut wachrufen wollen. „Zu Hause haben „Möglicherweise ist die justizförmige Fast jeder Anwalt, der sich mit Asylrecht wir auch nicht darüber gesprochen.“ Verfahrensweise der ‚Wahrheitsfindung‘ in beschäftigt, kann Fälle aufzählen, in de- Daß Menschen, denen Schreckliches wi- Asylverfahren an eine Grenze gestoßen“, nen selbst eindeutige Gutachten aus Uni- derfahren ist, verstummen, ist Psycholo- schrieb der Jurist Müller-Volck vor kurzem versitätskliniken und sichtbare Spuren der gen seit den Erfahrungen mit Holocaust- in der „Zeitschrift für Ausländerrecht“. Mißhandlung Folteropfern nichts nutzten – Überlebenden bekannt.Viele der einstigen Das soll nicht heißen, daß es unmöglich sie wurden abgewiesen. KZ-Häftlinge konnten auch Jahrzehnte wäre aufzudecken, was geschehen ist. Es Niemand weiß, wie viele der 104 000 nach ihrer Befreiung nicht von den Lagern sei nur so, daß die übliche „Prüfung der Asylbewerber des vorigen Jahres in ihren übrigen wurden abgelehnt, wie Aydin Bingol. In der Begründung des Bundesbeauf- tragten für Asylangelegenheiten, heißt es: „Der Antragsteller schildert nicht substan- tiiert und nachvollziehbar, aufgrund wel- cher Aktivitäten konkret Zugriff staatli- cherseits auf seine Person genommen wer- den sollte.“ Nach der Logik des Asylverfahrens hät- te Bingol nicht nur minutiös erklären müs- sen, was seine Folterer ihm angetan haben, sondern vor allem, welche Gründe sie dafür hatten. Bis das angerufene Gericht entschieden hat, kann Bingol bleiben. „Machen Sie sich keine Sorgen“, versuchte ihn sein Anwalt zu trösten, „vorerst sind Sie hier legal.“ Für Bingol klang das wie Hohn. Er wurde in das sächsische Lager Bahren verlegt, idyllisch mitten im Wald gelegen, eine halbe Fußstunde vom nächsten Weiler

M. JEHNICHEN / TRANSIT entfernt. Jede Woche bekam er ein Essens- Erkennungsdienstliche Behandlung eines Asylbewerbers*: „Vorerst sind Sie legal“ paket und monatlich 80 Mark Taschengeld. Zweimal im Jahr bekam Bingol eine Ration Heimatländern Folter erlitten, denn noch Im letzten Jahr hat das Bundesamt für Altkleider ausgehändigt und ein Paar aus- kein statistisches Amt und kein Wis- die Anerkennung ausländischer Flücht- getretene Schuhe. senschaftler hat in Deutschland eine Er- linge weniger als fünf Prozent aller Asyl- „Organisierte Demütigung“ nennt der hebung darüber angestellt. Doch Studien bewerber anerkannt. Es waren exakt Berliner Sozialmediziner Sepp Graessner in England, Schweden und Dänemark 8443 Menschen, weniger als je zuvor. Alle diese Behandlung nach dem Asylbewerber- kamen zu dem Schluß, daß zwischen 5 leistungsgesetz, das in den letzten Jahren und 30 Prozent der Menschen, die dort um * Im Chemnitzer Bundesamt für die Anerkennung aus- immer wieder verschärft wurde. Graess- Asyl nachsuchten, gefoltert worden waren. ländischer Flüchtlinge. ner: „Den Flüchtlingen sollte das Leben Wissenschaft möglichst unangenehm gemacht werden, Wutanfälle oder sind so mißtrauisch ge- damit sie nicht kommen.“ worden, daß sie zu menschlichem Umgang Praktisch kein Asylbewerber darf arbei- kaum mehr fähig sind. „Viele“, sagt die ten, keiner hat Anspruch auf medizinische Psychologin Sibylle Rothkegel, „kommen Versorgung chronischer Krankheiten. als lebende Tote zu uns.“ Für die Lagerunterbringung bezahlt der 240 Flüchtlinge aus Ländern wie der Tür- Staat pro Flüchtling und Monat 2300 Mark. kei, Afghanistan und Togo werden in dem Eine kleine Mietwohnung in Leipzig wür- Zentrum behandelt, aber auch Ostdeut- de monatlich 600 Mark kosten. sche, denen die Stasi seelische Blessuren Nachts umstellten Polizisten das Lager zugefügt hat. Noch einmal so viele stehen und durchkämmten es nach Illegalen. Bin- auf der Warteliste, weil Geld nur für zehn Therapeuten da ist. Nachdem die letzte Zur Begrüßung eine Bundesregierung ihre Zuschüsse zusam- Ration Altkleider und ein Paar mengestrichen hat, arbeitet die Station vor allem mit Spenden. „Das Fortbestehen“, ausgetretene Schuhe sagt Christian Pross, der Leiter, „ist eine Zitterpartie geworden.“ gol erschien es, als hätten die Gendarmen, Vor sechs Jahren hat Pross, der über die die ihn in Kurdistan nachts überfielen, nur Geschichte der Medizin im Dritten Reich ihre Uniformen getauscht. geforscht hat, mit Kollegen das Zentrum Zu dieser Zeit brach seine seelische gegründet. „Wer der Folter erlag, kann Krankheit aus. „Retraumatisierung“ nen- nicht mehr heimisch werden in dieser nen es die Mediziner, wenn eine neue Er- Welt“, hat der Schriftsteller Jean Améry schütterung die alten Schrecken wieder- geschrieben, selbst ein KZ-Überlebender, aufleben läßt: Plötzlich plagte Bingol der sich viele Jahre später das Leben nahm. wahnhafte Angst vor Killerkommandos aus Pross und seine Leute wollen beweisen, daß der Türkei. Schuldgefühle peinigten ihn, er Améry unrecht hatte. warf sich vor, daß er sich abgesetzt habe, Die späten Seelenqualen der Opfer nennt während die Milizen zu Hause die Kollegen Pross das „Überlebenssyndrom“. Viele, die weiter verschleppten. Das Leben wurde mit ihren Erfahrungen scheinbar fertig ge- ihm unerträglich. worden waren, hat das Altern, haben Pen- Manchmal können die Qualen im Kopf sionierung oder Tod des Partners erneut schlimmer sein als Tritte und Schläge. Min- und endgültig aus der Bahn geworfen. destens 45 Menschen haben sich seit der Meistens waren die Leiden schon auf die Änderung des Asylrechts 1993 in deutschen nächste Generation übergegangen, denn Flüchtlingslagern das Leben genommen. Ein Bekannter vermittelte Bingol an das Behandlungs- zentrum für Folteropfer in der Berliner Westend-Klinik, wo Bingol einen Therapeu- ten fand, der seine Sprache spricht. Bingol wurde nach Berlin verlegt und durfte, nach langem Ringen um ei- ne Ausnahmegenehmigung, eine kleine Wohnung bezie- hen. Acht Monate lang war er im Lager. Einmal in der Woche kommt er nun zur Therapie in die Spezialstation, in der Ärzte, Psychologen und So- zialpädagogen gegen die Folgen der Mißhandlungen anzugehen versuchen. Kein Arzt hier trägt weiße Kittel

– um niemanden an Folte- / TRANSIT HIRTH P. rungen zu erinnern, bei de- Asylbewerberheim Leipzig: „Organisierte Demütigung“ nen Ärzte oft zugegen sind. Die Patienten haben geplatzte Trom- wer geschlagen wurde, schlägt. Studien an melfelle, ihnen fehlen Zehennägel oder Familien von KZ-Überlebenden zeigen, ganze Finger. Häufiger jedoch und schwe- daß deren Kinder überdurchschnittlich oft rer zu kurieren sind die Folgen der seeli- verhaltensgestört sind. schen Verwundungen: psychosomatische So werden die Opfer selbst zu Tätern. Magenkrämpfe und dauernde Kopf- Darauf legen es Folterer an: nicht nur schmerzen, Schlaflosigkeit, Konzentra- die Persönlichkeit eines Menschen, son- tionsstörungen. Die Gefolterten haben dern sein ganzes Umfeld zu zerstören. Sa-

220 der spiegel 42/1998 Werbeseite

Werbeseite Wissenschaft lah Ahmad, Therapeut im Berliner Zen- trum, erzählt die Geschichte eines Patien- ten aus dem Nahen Osten, der vor den Augen seiner Frau mißhandelt wurde; anschließend vergewaltigten die Folter- knechte die Frau in seinem Beisein. Weil der Mann ihr aus Scham nicht mehr unter die Augen treten mochte, trennte er sich von ihr. Ohne voneinander zu wissen, flohen die Eheleute nach Deutschland. Im Ber- liner Behandlungszentrum begegneten sie sich, heute leben sie wieder zusammen. Aber der Mann hat seine Demütigung noch nicht verwunden, oft wird er, scheinbar grundlos, wütend und schlägt seine Frau. Die Kinder sind übernervös, kommen in der Schule nicht mit, haben ebenfalls Wut- ausbrüche. „Man kann die Wunden der Folter nicht heilen“, sagt Ahmad, der im Jahr 1981 selbst aus Kurdistan geflohen ist. „Aber man kann lernen, mit dem Schrecken wei- terzuleben.“ Seinen Patienten versucht er zu helfen, indem er ihnen Geschichten er- zählt: Märchen aus einer einfachen Welt von Weisen, Liebenden und Bösen. Auch Scheherazade hat in 1001 Nächten erzählend ihr Überleben gesichert, sagt er. Warum sollte es dann nicht möglich sein, mit Geschichten den Verstummten wieder eine Ahnung zu geben von Lebensmut und Vertrauen? Ahmads Klienten, die meist aus dem Orient kommen, können mit Erzäh- lungen mehr anfangen als mit den Rezep- ten der westlichen Psychologie. Ahmad ist auch Bingols Therapeut. Nach sechs Monaten Gesprächen hört Bingol im Traum noch immer seine eigenen Schreie unter der Elektrofolter. Aber er kann jetzt durchschlafen. Nach wie vor tragen Angst- gefühle ihn davon, wenn er einen Polizisten in Uniform sieht.Aber nun ist es Wut, nicht mehr Panik. Und manchmal taut sogar sein Gesicht auf. Dann kann er weinen. Erfolge, sagt Ahmad, gewiß.Aber solan- ge Bingol fürchten muß, zurückgeschickt zu werden, wird der Schrecken ihn immer wieder packen. „Sisyphos“ hat Mediziner Pross einen Bericht von seiner Arbeit über- schrieben. In den Stunden, in denen Bingol opti- mistisch ist, kann er sich ein Leben in Deutschland vorstellen. Dann gibt er sich der Hoffnung hin, er könne hier noch ein- mal studieren und hernach an einer deut- schen Schule unterrichten. Oder, sollte das ein Traum bleiben, wenigstens die Kinder seiner Landsleute im Exil. Auch zu schrei- ben hat er wieder begonnen. Was ihn an den tristen Tagen aufrecht hält, ist sein Einsatz für die Sache der Kur- den. Exilgruppen in anderen deutschen Städten fordern ihn auf, bei ihnen Vorträ- ge zu halten. Neulich hat er sogar eine Ein- ladung nach Stockholm bekommen. Bingol ist nicht gefahren. Er darf, wie es das Asylrecht verlangt, Berlin nicht verlassen. Stefan Klein

der spiegel 42/1998 Technik

RAUMFAHRT Allflüge vom Fließband Eine US-Firma baut die ersten Recycling-Raketen der Welt – sie können bis zu 100mal Satelliten in den Orbit befördern.

m Süden Australiens ist die Wüste flach wie ein Pfannkuchen. Seit über zwei IMonaten werden dort 45 Millionen Dollar in den Sand gesetzt. Nahe dem 1800-Seelen-Kaff Woomera baut die „Kistler Aerospace Corporation“ einen privaten Weltraumbahnhof. Als Ge- burtsstätte von hochfliegenden Träumen hat der Ort Tradition: Mitte der sechziger Jah- re erprobten hier deutsche Techniker, wenn auch glücklos, die europäische Trägerrake- te „Eldo“. Vom nächsten Jahr an will nun das US-Unternehmen Kistler von Woome- ra aus unbemannte Transportvehikel ins All schießen, wie es sie nie zuvor gegeben hat. „Wir bauen die ersten Raketen, die voll wiederverwendbar sind“, sagt Kistler-Vor- K-1-Rakete vor der Landung*: Nach 14 Tagen wieder startbereit standschef Robert Wang. „Damit werden wir die Raumfahrt revolutionieren und sie brannten Raketenstufen im Umkreis von gelockt. Zwar werden zu einem der kommerziellen Luftfahrt ver- nur sieben Kilometern um den Startplatz diejenigen Firmen und gleichbaren Niveau führen.“ herum niederpurzeln. Fallschirme brem- Institute, die entweder Der Prototyp der neuen Kistler-Rakete sen den Sturzflug ab; Luftkissen sorgen besonders schwere ist nahezu fertig. Die zweistufige K-1 sieht beim Aufprall für eine weiche Landung. Lasten in den Orbit so unspektakulär aus wie ein Getreidesilo. Dann heißt es für die Technikertrupps, befördern oder einen Nach dem Aussetzen eines Satelliten soll keine Zeit zu verlieren. Sofort eilen sie Satelliten auf einer das Geschoß, das soviel wiegt wie ein voll mit Spezialkränen herbei, um die hausho- sehr hoch liegenden besetzter Jumbo-Jet, wieder unversehrt in hen Metallzylinder zu bergen. Innerhalb Bahn parken wollen, zwei Teilen auf die Erde fallen. von nur 14 Tagen, so die ehrgeizigen Kist- nach wie vor auf Ein- Die Kistler-Ingenieure behaupten, sie ler-Pläne, wird eine Rakete für ihren weg-Raketen wie die könnten die Flugbahn ihres Projektils so nächsten Start vorbereitet – Weltraumflü- europäische „Ariane“ exakt vorausbestimmen, daß die ausge- ge wie vom Fließband. oder die amerikanische Bis zu 100mal soll jede „Delta“ angewiesen ANZEIGE K-1 von der Startrampe sein. Denn K-1 faßt in Woomera abheben. maximal 4,5 Tonnen Durch die Abkehr vom und erreicht nur nied- Wegwerf-Prinzip, wie es rige Umlaufbahnen. bis heute bei unbemann- Für viele Interessen- ten Raketen üblich ist, Startende K-1* ten jedoch reicht das könnten die Transport- aus. Das Globalstar- kosten drastisch gesenkt Konsortium beispielsweise, das mit ins- werden. Rund 50 Millio- gesamt 48 Satelliten ein weltumspannen- nen Dollar müssen Satel- des Handy-Netz aufbauen will, hat zehn liten-Betreiber derzeit für K-1-Flüge zwischen 1999 und 2002 fest ge- einen Flug mit der eu- bucht. ropäischen „Ariane“ be- Kistler will seinen Kunden nicht nur zahlen – Kistler hingegen konkurrenzlos günstige Preise, sondern will Lasten für nur 17 Mil- auch kurzfristige Starttermine anbieten. lionen Dollar in eine Erd- Bislang müssen Satellitenbetreiber die Flü- umlaufbahn hieven. ge oft Jahre im voraus anmelden. Die neu- Mit solchen Dumping- en All-Spediteure hingegen wollen ihr Ge- Preisen hat die 1993 ge- schäft nach Art privater Versanddienste gründete Raketenfirma aufziehen. schon erste Kunden an- „Anruf genügt“, verspricht Kistler- Vorstandschef Wang, „und wir schaffen * Computeranimationen. Platz.“ ™

der spiegel 42/1998 223 Werbeseite

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Werbeseite Wissenschaft

Geplantes Genfer Atlantropahaus, Sörgel-Projekte am Mittelmeer, Bau des Gibraltardamms*: Volumen von 3600 Cheopspyramiden

UTOPIEN Korken vor Gibraltar Eine Fläche größer als Frankreich wollte ein deutscher Visionär im Mittelmeer trockenlegen und Europa mit Afrika zum Kontinent „Atlantropa“ verschmelzen. Das Projekt des Architekten Herman Sörgel war die phantastischste vieler Utopien der dreißiger Jahre.

anderpfade, die sich vom Berg- kleinerer Staudamm bei den Dardanellen eine Gesamtleistung von 110000 Megawatt land in Korsika bis nach Sardini- sollten das Gewässer wie überdimensio- erbringen – mehr als genug, um bis heute Wen winden, und 450 Autobahnki- nale Korken gegen den Atlantik und das den gesamten Strombedarf Deutschlands lometer zwischen Venedig und dem Schwarze Meer verschließen. zu decken.Allein die Turbinen in der Flan- Adriastrand – die Welt am Mittelmeer Sörgel hatte errechnet, daß die ins Mit- ke des Gibraltar-Damms hätten die Ener- könnte heute ganz anders aussehen. telmeer mündenden Flüsse wie Po, Rhône gieproduktion aller deutschen Atomkraft- Die Inseln Elba, Sizilien und Korfu und Nil nicht reichen, um den Wasser- werke zusammen weit übertroffen. wären mit dem europäischen Festland ver- spiegel konstant zu halten. Die Verdun- Auch an den Schiffsverkehr hatte der schmolzen, Peleponnes und Türkei nur stung werde deshalb dafür sorgen, daß die Planer gedacht: Eine riesige Schacht- durch einen schmalen Tümpel getrennt. In Fluten um 165 Zentimeter pro Jahr sinken. schleuse mit bis zu 100 Meter hohen der Ägäis, wo heute das türkis schim- Am Ende sollte das Niveau des Binnen- Wänden sollte selbst den größten Ozean- mernde Meer die Touristen anlockt, könn- meers um bis zu 200 Meter fallen. In seiner Linern die Passage ins Rest-Mittelmeer und ten 2500 Jahre alte Schiffswracks aus dem Phantasie verschob Sörgel alle Küstenlini- zurück ermöglichen. Schlick ragen und wie gestrandete Wale in en, das Mittelmeer ließ er um ein Fünftel Hatte Sörgel schon bei den Staudäm- der Sonne bleichen. Antike Weltwunder schrumpfen. men nicht mit technischen Superlativen wie der Leuchtturm von Pharos oder der Land und Energie versprach der Visionär gegeizt (das Volumen von 3600 Cheopspy- Koloß von Rhodos lägen womöglich, für je- im Überfluß. Rund 600000 Quadratkilo- ramiden wäre nötig gewesen, um den Ge- dermann sichtbar, am Wegesrand. All dies meter Neuland wollte er nach und nach steinspfropfen bei Gibraltar aufzuschüt- jedenfalls versprach die Utopie. vor den Küsten auftauchen lassen – soviel ten), so sollten weitere Megaprojekte das Mit einem gigantischen Staudamm-Pro- wie die Fläche Frankreichs und Belgiens Mittelmeer vollends in eine wuselnde Bau- jekt wollte der deutsche Architekt Herman zusammen.Acht Wasserkraftwerke an den stelle verwandeln. Den Gibraltar-Damm Sörgel in den dreißiger Jahren Teile des Flußmündungen und Meerengen sollten krönte er mit einem 400 Meter hohen tri- Mittelmeers trockenlegen. Eine an der umphalen Wahrzeichen – ein Wolkenkrat- Basis 2500 Meter, an der Dammkrone 100 * Links: Studie von Fritz Höger; Mitte: Entwurf von zer aus Stahl und Glas, 70 Meter höher als Meter breite Sperre bei Gibraltar und ein 1932; rechts: Vision des Malers Heinrich Kley. das damals noch im Bau befindliche Em-

226 der spiegel 42/1998 DEUTSCHES MUSEUM pire State Building.Auf dem Reißbrett ver- Dann gerieten sie fast vollständig in Ver- des 20. Jahrhunderts“ gewesen. Das „Think band er den alten Kontinent mit dem roh- gessenheit. Nur noch eine Handvoll Ex- big à la Sörgel“ habe zum „kollektiven stoffreichen Afrika durch eine Autobahn perten kannten die wie Science-fiction an- Traum einer Generation“ gehört, „die sich und eine Eisenbahnlinie, die über den mutende Mittelmeer-Vision. Jetzt hat der anschickte, mit den Mitteln der Technik Hauptdamm oder durch einen Tunnel Frankfurter Architekturhistoriker Wolf- dem ,neuen Menschen‘ eine neue Welt zu führen sollten. Eine weitere Verkehrsachse gang Voigt das bizarre planerische Treiben erschaffen“. überbrückte die Meerenge zwischen Sizi- des Bau-Utopisten wiederentdeckt*. Nie prallten an die Technik geknüpfte lien und Tunesien. Mit Bewunderung und Frösteln zugleich Hoffnung und Skepsis unversöhnlicher auf- Sechs Milliarden Dollar (in Preisen von schildert er die Geschichte des Bauvorha- einander als in der Zeit nach dem Ersten 1932), so glaubte Sörgel, werde der Bau bens, das den Fortschrittsoptimismus einer Weltkrieg. Während der Geschichtsphilo- des Gibraltar-Staudamms kosten. Nutzen ganzen Epoche widerspiegelt. Sörgels Mit- soph Oswald Spengler („Der Untergang verhieß er vor allem den Mittelmeer-An- telmeerplan, schreibt Voigt, sei die „gigan- des Abendlandes“) die Apokalypse pro- rainern: Mit zuvor entsalztem Wasser aus tischste technisch-architektonische Utopie phezeite, spukten in vielen Köpfen Bau- dem Mittelmeer sollte die nördli- projekte von gewaltigen Dimensionen. Die che Sahara bewässert werden – nicht länger von Macht- und Profitinteres- drei Millionen Quadratkilometer sen mißbrauchte Technik, so glaubten Fort- fruchtbares Agrarland glaubte der schrittsoptimisten, sei die Triebfeder einer Planer dadurch der Wüste abrin- neuen Epoche. Sie stilisierten Ingenieure gen zu können, fünfmal soviel wie und Techniker zu Übermenschen. Die Na- an den Küsten des Mittelmeers. tur war ihnen nur ein leeres Schlachtfeld, Gleichsam en passant löste Sör- auf dem sich die monumentalen Umge- gel auch die Landprobleme der staltungsphantasien neuer gesellschaftli- jüdischen Siedler: Vor der Küste cher Eliten austobten. Palästinas werde sich ein 10 bis 35 Großbauprojekte nährten während der Kilometer breiter Landgürtel aus Weltwirtschaftskrise die Hoffnungen von den Fluten erheben – genug Platz, Arbeitslosen wie Politikern. Anfang der um den eben beginnenden Konflikt dreißiger Jahre träumten deutsche Inge- zwischen jüdischen Einwanderern nieure von einem Geniestreich im Norden: und Arabern zu entschärfen. Durch einen Damm zwischen Dover und Bis in die frühen fünfziger Jah- Calais und einen zweiten zwischen Osteng- re propagierte der 1885 in Regens- land und der Westküste Jütlands wollten burg geborene Architektur-Ex- sie den größten Teil der Nordsee trocken- zentriker und Megalomane seine legen und dadurch Siedlungsland von der faustischen Landgewinnungspläne. Größe Österreichs und der Schweiz ge- winnen. * Wolfgang Voigt: „Atlantropa.Weltenbau am Andere Vorhaben blieben nicht nur auf Mittelmeer. Ein Architektentraum der Mo- derne“. Verlag Dölling und Galitz, Hamburg; dem Papier. Die Niederländer bauten zwi- 144 Seiten; 48 Mark. Architekt Sörgel (1932): Natur als Schlachtfeld schen 1927 und 1932 einen 15 Kilometer

der spiegel 42/1998 227 Werbeseite

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Werbeseite Wissenschaft langen Damm vor dem Ijsselmeer. Das se, „würde man die Kriegsschiffe mit Rä- „Zuidersee-Projekt“ diente der Landge- dern versehen, um sie ins Wasser zu lassen. winnung und sicherte zugleich den zur Die südfranzösische Küstenlinie um Hälfte unter dem Meeresspiegel liegenden 70 Kilometer ins Meer hinausgeschoben, Küstenstaat. In der Sowjetunion besaßen der italienische Stiefel bis zur Unkennt- viele Großprojekte den offiziellen Segen lichkeit von der neuen Landmasse ver- von Parteitagsbeschlüssen. schluckt, sämtliche Häfen Italiens von der Auch Sörgel landete mit seinen Plänen See abgeschnitten: „Oh, der arglose Herr keineswegs „im Ghetto der verrückten Er- Sörgel“, giftete der Mailänder „Corriere finder“, wie der Frankfurter Forscher be- della Sera“, „hat er nicht andere Felder, richtet. Bekannte Architekten wie Hans auf denen er seine wirren Phantasien Poelzig, Peter Behrens, Fritz Höger, Hans betätigen kann?“ Der so Angefeindete spann unterdes seine Ideen fort: Europa und Afrika würden dank der neuen Verkehrsverbindungen zum neuen Erdteil „Atlantropa“ zusammenwachsen, der mächtig genug sein werde, Amerika und Asien Paroli zu bieten. Erst als die Nazis an die Macht kamen, hatten die Pläne des Visionärs, der mit seinem bizarren Bau- vorhaben „die Kriegs- und Mordlust der Europäer für Jahrhunderte in Aufbau- arbeit“ umzuwandeln ge- dachte, ihre Faszination verloren. Zwar spekulierte auch Hitler auf Landge- winn in Europa, doch war sein Blick nicht nach Sü-

DEUTSCHES MUSEUM den, sondern nach Osten Brückenprojekt zwischen Sizilien und Tunesien gerichtet. Zudem galt der Stiefel verschluckt mit einer Halbjüdin ver- heiratete Sörgel den brau- Döllgast oder der Amsterdamer Stadtpla- nen Machthabern als unsicherer Kan- ner Cornelis van Eesteren steuerten ko- tonist. stenlos Entwürfe zu dem Mittelmeerpro- Nach 1945 fand Sörgels Idee erneut Zu- jekt bei. Nur Le Corbusier zeigte dem lauf. „Die friedenshungrige und noch im- deutschen Phantasten die kalte Schulter. mer technikgläubige Jugend der Trümmer- Die Prominenz der architektonischen zeit“, urteilt Voigt, habe in Atlantropa „den Moderne ließ sich von Sörgel ins Megafie- aktuellen Stoff zum Träumen gefunden“. ber versetzen. Sie zeichnete Blaupausen Ökologische Bedenken waren der Nach- für zukunftsweisende Modellstädte, die auf kriegszeit fremd. Sörgel hat sich nie damit dem Neuland entstehen sollten, und ent- befaßt, wie die Erdkruste auf die Verrin- warf Neuplanungen für die vom Meer ab- gerung der Wasserlast reagieren würde. gerückten Hafenstädte Genua, Neapel und Auch daß er dem Meer nur salzverkruste- Messina. tes Land hätte abgewinnen können, auf Sörgel selbst kümmerte sich um den ma- dem kaum die versprochenen satten Felder ritimen Ausgleich für die trockengefallene gediehen wären, kam ihm nie in den Sinn. Serenissima. Mit einem Hunderte von Ki- Den Todesstoß versetzte seinen Plänen lometer langen Stichkanal wollte er Vene- letztlich nicht Fortschritts-Skepsis, sondern dig mit dem nun fernen Mittelmeer ver- im Gegenteil eine neue Euphorie: Das Feu- binden. Die Gondolieri hätten weiterhin er des Atoms versprach in den fünfziger auf dem Canal Grande und in den Seiten- Jahren eine reichere Energieausbeute als kanälen der Stadt schippern können: Ein die ehrgeizigsten Staudamm-Projekte und 30 Kilometer breiter Stausee sollte die Il- Turbinen-Kraftwerke. lusion von der amphibischen Existenz der 1952 lief der Jules Verne des 20. Jahr- Stadt im Meer aufrechterhalten. hunderts auf der Münchner Prinzregen- Deutsche Literaten und Filmregisseure tenstraße vor ein Auto. Am 25. Dezember ließen sich von den phantastischen Plänen desselben Jahres erlag Sörgel, der in sei- Sörgels inspirieren. In den Blättern der Mit- nem Leben viele Schriften, aber kaum telmeerländer überwogen dagegen Ver- wirkliche Bauten hinterlassen hatte, sei- wunderung und Spott. „In Toulon, Bizerta nen schweren Verletzungen. Wenig später und La Spezia“, eiferte die Marseiller Pres- war auch Atlantropa tot. ™

der spiegel 42/1998 231 Werbeseite

Werbeseite Szene Kultur

REGISSEURE Michalkows „Barbier“ s handelt sich, so der Regisseur Ni- Ekita Michalkow, um den größten russischen Film seit der monumentalen Acht-Stunden-Version von „Krieg und Frieden“: Michalkows Epochen-Melo- dram „Der Barbier von Sibirien“, des- sen Thema die große Liebe zwischen ei- nem russischen Kadetten und einer jun- gen Amerikanerin im vorrevolutionären Zarenreich ist. Das Werk steht nach fast zweijähriger Dreharbeit – die Produk- tion hat etwa 40 Millionen US-Dollar gekostet – vor der Premiere. Der fran- zösische Koproduzent wollte dafür das Festival in Venedig gewinnen, doch Michalkow zeigte sich als Patriot: Die Uraufführung findet im fernöstlichen

Wladiwostok statt, dann wird ein Flug- PWE KINOARCHIV zeug den Film und seine Macher west- Szene aus „Casablanca“ (1942), Buchcover wärts zu sieben weiteren Provinz-Pre- mieren transportieren, bevor am 6. No- LITERATUR Im Buch geht die Ge- vember Moskau die Ehre hat. Für eine schichte hier erst los. Ilsa Nachtszene des Films waren, erstmals Kalter Braten spielt noch einmal, näm- seit Jahrzehnten, die rotleuchtenden lich ihre Rolle als Ehe- Sterne auf den Kremltürmen ausge- s war der Beginn einer wunderbaren frau, doch schon bald knipst worden, für die Gala wird, erst- EFreundschaft: „Was würden Sie da- „flogen ihre Gedanken zu Rick mals seit 1974, der Kreml-Kongreßpalast von halten, einen Roman über ,Casa- zurück“, sie selbst aber reiste weiter mit seinen 4500 Sitzen als Kino genutzt. blanca‘ zu schreiben?“ fragte die Präsi- nach London. Dort treffen sich Mitglie- dentin von Warner Books den US-Jour- der des tschechischen Widerstands, spä- nalisten Michael Walsh, 48. Der sagte ja; ter auch Ilsa und Rick; man beschließt, das Ergebnis liegt jetzt in den Kaufhäu- in Prag den stellvertretenden Reichs- sern: „Für immer Casablanca“ (Schnee- protektor von Böhmen und Mähren, kluth Verlag, München; 416 Seiten; 44 Reinhard Heydrich, zu ermorden – was Mark), die Fortsetzung der legendären vom Ergebnis her den historischen Tat- Hollywood-Schmonzette mit anderen sachen entspricht. Geschichte hat Walsh Mitteln. Rückblende: Im Film verhilft gleichwohl nicht geschrieben. Dafür der Barbesitzer Rick (Humphrey Bo- Stilblüten: „Ihre Kost – Brot, Käse und gart) seiner großen Liebe Ilsa (Ingrid kalter Schweinebraten – war einfach. Bergman) zur Flucht, nachdem er sie zu Ricks Gefühle waren es nicht.“ Kann

B. BARBEREAU / GAMMA STUDIO X B. BARBEREAU einem letzten Blickkontakt genötigt hat man den Mythos „Casablanca“ besser Michalkow („Ich seh’ dir in die Augen, Kleines“). pointieren?

AFFÄREN ein multikulturelles und meinungsfreudiges Land präsentierte („Hoher Himmel, enges Tal“), erlebte Ziegler, 64, „die Schweiz, wie sie wirklich ist“. Er habe, heißt es in der Anzeige, „als ein- Verrat im engen Tal ziger schweizerischer Vertreter“ an einem Hearing „mit Ver- tretern der jüdischen Organisationen“ in New York zum The- ean Ziegler, Schweizer Autor und Parlamentsabgeordneter, ma Nazigold teilgenommen. Ziegler sei es darum gegangen, Jhat im Ausland einen guten Ruf, doch daheim gilt er als „der Schweiz in der äußerst heiklen Situation, in die sie durch Nestbeschmutzer. Sein letztes Buch „Die Schweiz, das Gold die Begehren der jüdischen Organisationen ... gelangt ist“, zu und die Toten“ hat 20 eidgenössische Honora- schaden und die „Stellung der ... Erpresser zu tioren dermaßen empört, daß sie bei der Berner stärken“. Zieglers Aktivitäten hätten „der zu- Bundesanwaltschaft „Strafanzeige gegen Na- nehmenden Begehrlichkeit der Anspruchsstel- tionalrat Ziegler“ stellten – wegen Landesver- ler“ den Weg geebnet und schließlich zum „Ab- rats, genauer: wegen seiner Teilnahme an „aus- schluß des bekannten Abkommens zwischen ländischen Unternehmungen und Bestrebun- den Sammelklägern und den beiden Schweizer gen“, die „gegen die Sicherheit der Schweiz Großbanken“ geführt. Sollte Zieglers Immu- gerichtet“ sind. Demnächst wird eine Kommis- nität aufgehoben werden, droht ihm außer dem sion über die Aufhebung der Immunität des Ab- Strafverfahren auch eine Zivilklage der Ban-

geordneten Ziegler entscheiden. Während sich PRESS ACTION ken auf Schadenersatz in Höhe der von ihnen die Schweiz auf der Frankfurter Buchmesse als Ziegler an die „Erpresser“ geleisteten Zahlungen.

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KUNST Farbe statt Liebe STAATL. RADISCHTSCHEW-KUNSTMUSEUM SARATOW STAATL. „Stilleben“ von Ilja Maschkow (1912/13)

er Maler Kasimir Malewitsch Dglaubte, „den Knoten der Weisheit gelöst und das Bewußtsein für die Farbe befreit“ zu haben, entschlossen rief er

seinen Kollegen zu: „Gebt die Liebe ASTRAKHAN GEMÄLDESAMMLUNG KUSTODIEV, auf, gebt den Ästhetizismus auf, laßt die „Schnitterin“ von Malewitsch (1912) Koffer voller Weisheit stehen, denn in der neuen Kultur ist eure Weisheit Beständen zeigt sie etliche, die kaum auf den vertrauten Zusammenhang die- lächerlich.“ Malewitschs Manifest von oder noch gar nicht im Westen waren; ser Kunst mit westlichen Avantgarden 1916, ein Dokument ekstatischen Auf- neben dem Russischen Museum in als auf ihre heimischen Ursprünge, zu- und Umbruchs, ist nun erstmals ins Sankt Petersburg tragen Provinzsamm- mal in der „lebenswichtigen“ Ikonen- Deutsche übersetzt worden. Der Text lungen von Astrachan bis Krasnojarsk malerei. Die sollte, wie 1913 Kritiker Ni- steht im Katalog einer Hamburger zur Schau „Chagall, Kandinsky, Male- kolai Punin schrieb, die „tote Starre des Kunsthallen-Ausstellung, die dazu ein- witsch und die russische Avantgarde“ europäischen Realismus überwinden“ lädt, russische Kunst der frühen Moder- bei (bis 10. Januar, später im Kunsthaus helfen – jene Richtung, die von den ne mit frischem Blick zu würdigen. Un- Zürich). Der Katalog verweist, auch mit Zaren bevorzugt, unter Stalin neuerlich ter rund hundert Bildern aus russischen neuen Quellenpublikationen, weniger offiziell wurde.

Kino in Kürze

„Träume bis ans Ende der Welt“ ist einer dieser liebenswert tasievollen kleinen Mädchen, das sich mit einem freakigen versponnenen amerikanischen Außenseiterfilme, die von lie- Fremdling anfreundet, der den Erwachsenen nicht geheuer ist. benswert versponnenen Außenseitern erzählen, hier zum Bei- Die Geschichte (Regie führt der Schauspieler Timothy Hutton) spiel mal wieder von einem allzu einsamen, altklugen, phan- spielt Ende der sechziger Jahre im ländlich rückständigen Penn- sylvania, was dem Ganzen einen gefälligen Goldrand von Nostalgie gibt.

„Hans Eppendorfer – Suche nach Leben“. Ein Leben, wie für den Film gemacht: Mit 17 brachte er seine Ziehmutter um, saß zehn Jahre Jugendstrafe ab und beschloß, die Gefängnis- beamten eines Besseren zu belehren. Denn die hatten ihm pro- phezeit, er werde bald im Sarg oder wieder im Knast landen. Statt dessen wurde Hans Eppendorfer Schriftsteller. Der Re- gisseur Peter Kern schickt in seinem biographischen Filmessay, der jetzt in einigen Großstädten anläuft, seinen langjährigen Freund auf einen Trip in Vergangenheit und Zukunft zugleich. Eppendorfer, 56, schwer an Krebs erkrankt, spielt Szenarien sei- nes eigenen Sterbens durch, wandert durch St. Pauli und ägyp- tische Basare und trifft nachts auf einem Hamburger Friedhof den Totengräber aus „Hamlet“ (Josef Bierbichler). Ein Konvo-

ARSENAL lut aus Dokument und Drama, teils ernsthaft, teils grotesk und Szene aus „Träume bis ans Ende der Welt“ gelegentlich auch unbehaglich albern.

234 der spiegel 42/1998 Kultur

PIANISTEN Poesie von der Rolle Am Rande as machte sie so einzigartig, die Welcome! WGrößen romantischer Klavier- kunst vom Anfang des Jahrhunderts? Alle großen Ent- Piano-Archäologen sind dem Geheim- deckungen pas- nis seit Jahren auf der Spur – vor allem sieren zufällig. dank der frühen Aufnahmen für auto- Irgend jemand matische Klaviere, die meist in Form ge- langweilt sich, lochter Papierrollen überliefert sind. Längst gibt es CD-Versionen dieser haut mit einem Schätze. Nun aber hat der US-Fach- Stein auf den anderen, ein Funke mann Wayne Stahnke „Ampico-Rollen“ springt über, und am Ende der Ent- des legendären Virtuosen und Komponi- wicklung steht der Mikrowellen- sten Sergej Rachmaninow mit einer herd. So war es auch mit Viagra:

Methode überspielt, die jede mecha- PRESS CAMERA nische Störung umgeht: Das Papierband Rachmaninow Zur Verbesserung der Durchblu- wird gescannt, am Bildschirm rekon- tung gedacht, hilft das Mittel nun struiert und dann von einem Computer hin?“ aus der „Schönen Müllerin“ of- Männern, peinliche Situationen bei in Signale für ein elektronisch ange- fenbart kühne Klangbrechungen. Und primären Begegnungen zu vermei- schlagenes Klavier umgerechnet. „A auch die eigenen verträumten Finger- den. Doch die blaue Wunderpille Window in Time“ (Telarc 80489) heißt häkeleien von 1919 zaubert der aufer- das Ergebnis – und klingt auch so: Da standene Rachmaninow hervor: so poe- ist schon der Schrei von gestern. In rauscht ein „Hummelflug“ in digitaler tisch, wie nicht einmal sein Freund Vla- England kommt jetzt ein Präparat Frische vorbei, Schuberts Lied „Wo- dimir Horowitz es je geschafft hat. gegen Schüchternheit auf den Markt, das Seroxat heißt und, an- ders als Viagra, auf Krankenschein abgegeben wird. Eigentlich ein Mit- INTENDANTEN tel gegen Depressionen, hat es eine „Stadttheater fürs nächste nützliche Nebenwirkung: Es wirkt „euphorisierend“ auf Menschen, Jahrhundert“ die sich in Gesellschaft anderer ge- hemmt fühlen. Der Kulturmanager Tom Stromberg, 38, über seine Nominierung zum künftigen Intendanten des Hamburger Es ist nicht bekannt, an wem die Schauspielhauses neue Droge bereits ausprobiert wurde. Doch drängen sich eini- SPIEGEL: Herr Stromberg, Sie organisieren für die Expo in ge Verdächtige auf. War Prince Hannover das Kulturprogramm und schöpfen aus einem 107-Millionen-Etat. Das Schauspielhaus, das Sie im Jahr Charles nicht seltsam aufgekratzt, 2000 übernehmen sollen, ächzt dagegen unter Sparbe- als er zuletzt die Spice Girls be- schlüssen. Sind Sie tollkühn? suchte? Und tritt nicht die ganze Stromberg: Überhaupt nicht. Kultursenatorin Christina Königsfamilie viel lockerer, gera- Weiss hat mir bis zum Jahr 2003 eine Garantie auf gleich- dezu hip auf? Auch für unsere bleibende Subventionen gegeben. Allerdings müssen wir die tariflichen Lohnsteigerungen selber auffangen. Das deutschen Interessen kommt die kann haarig werden. neue Pille genau richtig. Von Doris SPIEGEL: Da bleibt wenig Spielraum fürs Programm. Was Schröder-Köpf heißt es, sie sei ex- soll auf der Bühne anders werden? trem verzagt, bei Antje Vollmer Stromberg: Das Schauspielhaus steht blendend da. Es verrät schon die Stimme, welche bleibt ein Ensembletheater, aber ich möchte es auch für Gastspiele öffnen: Blöcke mit internationalen Fremdpro- Überwindung sie ihre öffentlichen duktionen kombiniert mit herkömmlichem Repertoire-Be- Auftritte kosten, und Rudolf Schar- trieb. Es soll im besten Sinne ein Stadttheater fürs nächste ping wäre jetzt auf dem Wege ins Jahrhundert werden. Ich bin ja gar nicht der Avantgarde- Kanzleramt, wenn es Seroxat schon Freak aus der Festivalszene – jedenfalls nicht nur. SPIEGEL: Bisher dominieren in Hamburg Künstler wie eher gegeben hätte. Mag das Verei- Marthaler, Kresnik, Castorf oder der Polit-Schlingel nigte Königreich sich dem Euro Schlingensief. Ist deren Ära bei Ihnen beendet? verweigern und am Linksverkehr Stromberg: Mit einigen möchte ich weiterarbeiten. Aber festhalten – mit der „Wir sind gut auch auf der Bühne gibt es Modeerscheinungen. Ich mag drauf“-Pille ist England endlich in kein Theater, das vorgibt, klüger zu sein als das Publikum. Im übrigen habe ich viele Projekte im Kopf mit Leuten, Europa angekommen.

K. BOSSE Stromberg deren Namen Sie nicht einmal buchstabieren können.

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SCHAUSPIELER Die Frau im Schatten Als einzige deutsche Darstellerin ist Corinna Harfouch im Osten wie im Westen gleichermaßen ein Star – und das in Theater, Film und Fernsehen. Im psychologischen Thriller „Solo für Klarinette“ liefert sich die Harfouch jetzt ein sehr intimes Leinwandgefecht mit Götz George. Ihr Lebensthema aber bleibt der Untergang der DDR.

ine Frau steht in einer Telefonzelle, sein Leben zerbricht gerade in tausend mehr verspricht, als die Harfouch halten redet heftig, faßt sich an den Kopf, Scherben. will, und ihrer strengen, schmalen, skepti- Elacht und zögert. Der Mann, der sie „Solo für Klarinette“ ist eigentlich ein schen Person. heimlich beobachtet, wird erst viel später Duett von zwei tieftraurigen, gescheiterten Aber Corinna Harfouch kam nicht aus verstehen, daß die Frau mit sich selbst Seelen, aufgeführt von zwei großen deut- dem Nirgendwo. Sie kam aus dem Osten. spricht: Sie hat ihren eigenen Anrufbeant- schen Schauspielern. Ein rußig schwarzer Dort war sie seit Mitte der achtziger Jahre worter angerufen. Dem Band erzählt sie, Berlin-Blues, eine Love-Story, die keine ein Defa-Star mit großen Parts: der jun- was sie an diesem Tag erlebt hat. Eine aus Chance gegen die Verzweiflung und die gen Soldatenfrau in Roland Gräfs Welt- der Bahn Geworfene ist diese Anna Weller, Gewalt hat. Es ist der Versuch eines deut- eine, die nach ihrer Scheidung die Welt schen Films, die ganz große Leidenschaft nicht mehr versteht. zu stemmen, alles zu riskieren. Das aber macht die verwirrte Anna auch Vermutlich ist Corinna Harfouch, 43, die gefährlich und unberechenbar. Hat sie ei- einzige, die sich in einer solchen Partie ge- nen Mann umgebracht? Vertuscht sie ei- gen die pralle, brachiale Spielkraft von nen grausamen Mord? Der Mann, der sie Götz George behaupten kann.Auf sein Pa- beobachtet, ist Kommissar. Er sucht sie zu- thos reagiert sie mit Understatement. Er erst als Zeugin, dann verdächtigt er sie – spielt mit allen Muskeln, sie mit Kopf und und dann verliebt er sich in sie, denn auch Nerven. Während er schnaubt, schwitzt, das Bild beherrschen will, entzieht sie sich, bis die Zuschauer auf die Suche nach ihr gehen. Der Mann im Licht, die Frau im Schatten. Das ist die Macht der Harfouch: Man will ihr immer zusehen, gerade weil sie so wenig preisgibt. Sie läßt weg. Sie schweigt. Sie hält sich bedeckt. Daß sie sich immer Frauenrollen mit ei- nem Geheimnis aussuche, sei „Quatsch“, sagt Corinna Harfouch: „Ich weiß einfach, daß jede Frau ein Geheimnis hat.“ Dage- gen, daß das Rätsel der Anna Weller am Ende gelüftet wird, weil das Genre es verlangt, hat sie sich vergeblich gewehrt (siehe SPIEGEL-Gespräch Seite 238).

FILMMUSEUM POTSDAM Trotzdem: Der Film, gedreht von Nico Hof- Harfouch in „Das Haus am Fluß“ (1986) mann („Der Sandmann“), hält die Bezie- Tapfere kleine Soldatenfrau hung zwischen dem Kommissar und der Verdächtigen lange in der Schwebe. Er traut sich viel, wenn auch am Ende nicht genug. Seit mehr als zehn Jahren ist Corinna Harfouch ein Star, aber das wissen im We- sten nicht viele. Im Westen kennen die Zu- schauer sie allenfalls aus der Fernsehreihe „Unser Lehrer Doktor Specht“, aus dem Mauerdrama „Das Versprechen“ (1993), der Samenspender-Farce „Irren ist männ- lich“ (1995) und aus ihren großen Berliner Theaterauftritten der letzten Jahre, dem Harras in „Des Teufels General“ und der Eva Braun in „Eva – Hitlers Geliebte“. Im Westen tun die Kritiker so, als hätten

KUHRÖBER / DEFA erst sie diese „preußische Diva“ entdeckt, Harfouch in „Die Schauspielerin“ (1988) und geraten ins Taumeln angesichts ihres Antifaschistisches Pensum herben Charmes, ihrer Stimme, die immer Harfouch in „Solo für Klarinette“: Duett von zwei

236 der spiegel 42/1998 kriegsdrama „Das Haus am Fluß“ (1986), der Theaterdiva in dem antifaschistischen Melodram „Die Schauspielerin“ (1988) und der Ehefrau zwischen zwei Männern im Historienfilm „Treffen in Travers“ (1989), für die sie den Darstellerpreis beim natio- nalen Festival der DDR gewann. Fast jede Ausgabe der ostdeutschen Fachzeitschrift „Filmspiegel“ enthielt Fotos von Corinna Harfouch; es gab sogar Starposter von ihr. Und das alles betraf nur den Film, den die Harfouch nie so ernst genommen hat wie das Theater, denn „Filmen artet selten in wirkliche Arbeit aus“. 1983, da war sie keine 30 und hatte schon die Lady Macbeth gespielt, stieß sie zum Berliner Ensemble. Es wurde ihr Haus, das ganze Jahrzehnt hindurch, und der Dramatiker und Regis- seur Heiner Müller war derjenige, der ihre Arbeit und ihre Ästhetik prägte. Und auch am Theater wurde sie ein Star.

Diese Geschichte, diese Karriere wurde FILM SENATOR FOTOS: ihr, wie so vielen anderen DDR-Schau- Harfouch, George in „Solo für Klarinette“: „Die geballte männliche Potenz“

spielern, durch den Zusammenbruch des sozialistischen Staats geraubt. Sie wurde zum Opfer des Mauerfalls. Es war ein dop- pelter Verlust: Als auf einmal überall We- sten war, galten die DDR-Leistungen nichts mehr, jedenfalls nicht unter den Westdeut- schen, die jetzt das Sagen hatten. Der Sta- tus war weg. Und, was für Corinna Har- fouch wesentlich schlimmer war, auch ihr Weltbild war futsch: der Sinn ihrer Arbeit, der Sinn des Theaters. Daß sie praktisch die einzige Schau- spielerin ist, die sich aus diesem Verlust eine zweite Star-Karriere geschaffen hat, spricht für ihre Zähigkeit, ihre Begabung, ihre Vielseitigkeit und ihre Hingabe ans Spielen – und für einen rätselhaften Gang der Geschichte, den sie wohl selbst nicht erklären kann. Denn sie hat sich lange da- gegen gewehrt, ihren Frieden mit dem neu- en „Gesamtdeutschland“ zu schließen.Als Ostdeutsche kritisierte sie öffentlich Mar- garethe von Trottas Film „Das Verspre- chen“, in dem sie selbst eine Hauptrolle spielte, weil er eine „absolute Negativ- wertung der DDR“ liefere. Das gab einen Eklat. Schließlich sollen Schauspieler nicht an Filmen herummäkeln, sondern Werbung für sie machen. Jahrelang hat die Harfouch (nicht im- mer gute) Filme gedreht, die um die DDR und die Wunde der Teilung kreisen. In „Zwischen Pankow und Zehlendorf“ (1991) war sie die Ost-Mutter eines musikalischen Wunderkindes, die an den Sozialismus glaubt, sich abrackert, aber ihren Nach- wuchs nicht ausreichend unterstützen kann: Das kann nur die West-Oma. In „Der Tangospieler“ (1991) stellte sie die Gefähr- tin eines politischen Gefangenen in der DDR der ausgehenden sechziger Jahre dar, der nach der Entlassung mit dem System nicht mehr zurechtkommt. In „Goldstaub“ (1993) spielte sie eine Ost-Berlinerin, die tieftraurigen, gescheiterten Seelen gegen Ende der DDR-Ära erfährt, daß ihr

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Vater ein wichtiger Mann bei der Stasi war. Und bald folgt „Bis zum Horizont und wei- ter“, in dem sie eine West-Richterin spielt, SPIEGEL-GESPRÄCH die in den Osten entführt wird und erst dort das wahre Leben kennenlernt. Spielen, um aufzuarbeiten, um zu be- „Das war einfach geil“ greifen. „Die DDR ist mein Lebensthema, ganz klar“, sagt Corinna Harfouch. Das Die Schauspielerin Corinna Harfouch über Sex in der DDR, die Gespräch mit Westlern findet sie bis heute schwierig: „Man kann nicht so reden, wie Wende und ihren neuen Film „Solo für Klarinette“ wir das untereinander tun, sehr hart und sehr klar, weil man immer gleich in ei- SPIEGEL: Frau Harfouch, Sie spielen eine ne Erklärungs- und Verteidigungshaltung Frau, die – vielleicht – einem Mann die rutscht.“ Aber sie redet. Sie will ja er- Genitalien abgebissen und ihn an- klären. Sie will nicht in Ostalgie verfallen. schließend erschlagen hat.Was ist der Reiz Und sie spielt und dreht jetzt im Westen, einer solchen Figur? derzeit Bernd Eichingers Romanverfilmung Harfouch: Am Anfang habe ich die Ro- „Der große Bagarozy“ an der Seite des manvorlage gelesen, und darin war diese Kölners Til Schweiger. Frau phantastisch genau dargestellt. Sie hat Nur das mit dem Werben für ihre Filme, etwas Gräßliches erlebt, aber dieses Ereig- das fällt ihr immer noch schwer. Dazu nis danach verdrängt. Nur manchmal tau- ist sie zu skeptisch, zu kritisch und zu chen Bilder in ihrem Hirn auf, die sie über- ehrlich. Susanne Weingarten haupt nicht einordnen kann. BUENA VISTA Harfouch in „Irren ist männlich“* „In puncto Sex unabhängig“

SPIEGEL: Warum findet sich davon nichts im Film? Harfouch: Der Roman wurde für die Verfil- mung umgeschrieben zum Thriller. Und das ist ein Genre, das seine Gesetzmäßig- keiten und Grenzen hat. Da kannst du be- stimmte Dinge einfach nicht mehr machen, und es darf auch erst am Ende heraus- kommen, ob du nun die Täterin bist oder nicht. Als Schauspielerin heißt das: Das Genre verpaßt dir ein Korsett. SPIEGEL: Der Film erklärt letztlich Ihre Fi- gur, trivialisiert sie aber auch. Wir hätten uns gewünscht, daß ein paar Fragen offen- geblieben wären. Harfouch: Da stimme ich Ihnen zu. Damit hatte ich auch ab und zu bei den Dreh- arbeiten zu tun: Es gab einen permanenten Kampf zwischen der geballten männlichen Potenz und meiner weiblichen Kompetenz. Der hat zu Verlusten, aber auch zu Ge- winnen für den Film geführt. Insgesamt glaube ich, daß „Solo für Klarinette“ viel gewagter ist als die meisten anderen deut- schen Filme. Er hat eine ganze Menge zu sagen über die seelischen Gefängnisse, aus denen wir uns nicht befreien können. SPIEGEL: Gegen diese männliche Potenz ha- ben Sie sich aber gut behauptet. Es gibt ei- nige Szenen in „Solo für Klarinette“, aber auch in anderen Ihrer Filme, in denen Sie als sehr aktive sexuelle Partnerin auftreten. Liegen Ihnen solche Rollen näher als west- lichen Kolleginnen, weil Sie in der DDR

Das Gespräch führten die Redakteure Nikolaus von

D. BALTZER / ZENIT D. BALTZER Festenberg und Susanne Weingarten. Harfouch in Berliner „Des Teufels General“-Inszenierung: „Gesellschaftliche Relevanz“ * Mit Herbert Knaup.

238 der spiegel 42/1998 mit einer anderen, aktiveren Geschlech- terrolle aufgewachsen sind? Harfouch: Das weiß ich nicht. Mir jeden- falls ist dieses Aktiv-Sein selbstverständ- lich, und ich habe auch das Bedürfnis, es zu spielen. Wir DDR-Frauen waren wirklich freier in unserer Entscheidung. Die mei- sten Frauen arbeiteten und waren ökono- misch von Männern unabhängig. Sicher, wir mußten den Haushalt machen und waren für die Kinder verantwortlich; die- se Strukturen funktionierten ja. Aber in puncto Sex nicht. Und das haben wir auch fleißig bedient. SPIEGEL: Sie haben immer betont, Ihnen sei es in der DDR „phantastisch“ gegan- gen. Hatten Sie keine Zweifel am System? Harfouch: Als Kind und Jugendliche nie. Ich war sowohl Junger Pionier wie FDJler, und zu Hause wurde ich nicht zum Zwei- fel erzogen. Aber als Erwachsene habe ich dann permanent erlebt, daß meine Ener- gien vom System gebrochen wurden. Das ging schon bei lächerlichen Kleinigkeiten los. Nach dem Abitur habe ich Kranken- schwester gelernt, weil ich nicht an der Schauspielschule angenommen wurde. Und da war ich nun im Krankenhaus und dachte: Hier muß ein bißchen Leben rein. Eine Sportgruppe nach Dienstschluß viel- leicht.Aber als wir uns zusammentun woll- ten, kam gleich einer und sagte: Moment mal. Da haben wir ja den DTSB. Da müßt ihr euch organisieren. Und ich sagte: Wie- so denn? Wir wollen doch nur Spaß, ohne Mitgliedsausweis oder Vereinsmeierei. Aber das ging nicht. Dadurch fing ich an, nachzudenken und diese Strukturen ab- surd zu finden. SPIEGEL: Empfanden Sie sich als Oppo- sitionelle? Harfouch: Nein.Aber viele Menschen wur- den oft ganz zwangsläufig in eine Ecke ge- trieben, in der sie als Oppositionelle galten, ob sie wollten oder nicht. Es gab auch in- nerhalb der Opposition Denkverbote. Der Antikommunismus etwa. Und die Wieder- vereinigung war undenkbar. Was im We- sten abging, das wollten wir ja erst recht nicht, denn wir hatten den Eindruck, wir vereinigen uns mit einem Land, das mit dem Nazi-Regime nicht abgerechnet hat. Die meisten DDR-Oppositionellen wollten das System reformieren, nicht abschaffen. SPIEGEL: Und das Theater trug dazu bei? Harfouch: Das war unser Ziel. In der DDR gab es eine Einheit zwischen dem, was man gearbeitet, und dem, was man gelebt hat. Unsere Arbeitsauffassung war: Das ma- chen wir für die Leute im Saal, und darum müssen wir uns etwas ausdenken, was nicht vom Staat angreifbar ist, was eben noch so durchgeht. Das hat Spaß gemacht. Das war einfach geil. Du fühltest dich gut, du fühl- test dich wichtig. SPIEGEL: Das heißt: hier die subversiven Theatermacher, da der feindliche Staat? Harfouch: Es gab klare Aufgaben, klare Bilder, klare Freunde und Feinde. Der Job

der spiegel 42/1998 Werbeseite

Werbeseite Kultur eines Künstlers bestand darin, das System SPIEGEL: Vor einem Jahr haben Sie noch zu unterwandern. Das war unendlich viel erklärt, Sie könnten sich nicht vorstellen, einfacher als heutzutage. an einem westdeutschen Theater zu arbei- SPIEGEL: Haben Sie eine pädagogische Auf- ten, und Ihre Fernseharbeit haben Sie als fassung von Kunst? „Verrat“ bezeichnet. Und heute? Harfouch: Theater ist für mich eine Kom- Harfouch: Anders. Eigentlich hat mir die munikationsanstalt. Meine Vorstellung von Regisseurin Nina Grosse den Schubs gege- meinem Beruf war immer: Ich will kom- ben, mein Weltbild in Frage zu stellen. Als munizieren. Ich will etwas spüren. Mein ich mit ihr „Thea und Nat“ drehte, meinen Geld kriege ich ja dafür, daß ich die Zeit ersten Nach-Wende-Film im Westen, habe habe, über so manches nachzudenken und ich ihr dauernd von meiner Krise vorge- mich dann hinzustellen und zu sagen: So, jammert, und Nina hat gesagt: „Ah, ich das ist mein Angebot. So sehe ich die Welt. verstehe. Du brauchst also eine Diktatur, SPIEGEL: Und was geschah, als Ihre Welt- um dich in deiner Arbeit wohl zu fühlen.“ sicht nach der Wende zusammenbrach? Und da war was dran. Aber ich mußte erst Harfouch: Das war ein Schock. Man stand darauf gestoßen werden, um dieses ver- plötzlich ganz allein auf der Welt, war für dammte Selbstmitleid abzustellen. sich verantwortlich und mußte seinem Da- SPIEGEL: Welche Rolle spielte dabei der Tod sein einen neuen Sinn geben.Warum spie- von Heiner Müller? len? Und tatsächlich habe ich dann ziem- Harfouch: Der hat wirklich eine Ära been- lich lange nicht am Theater gearbeitet. det. Mit Heiners Tod wurde endgültig klar, SPIEGEL: Was hat Sie dann doch zurück auf daß es vorbei war mit dem, was vorher die Bühne getrieben? galt: unserem Material, unserem Willen, Harfouch: Zunächst mal war das eine ganz die Welt zu beschreiben, unserer Tradition private Sehnsucht. Ich habe das Theater des Theatermachens, mit allem. SPIEGEL: Werden Sie jetzt im Westen Theater spielen? Harfouch: Ja, ich habe ein Engagement am Wiener Burgtheater, da werde ich unter der Regie von Andrea Breth die Hauptrolle in Calderóns „Tochter der Luft“ spielen.Ausgerechnet am Burgtheater! Und ich freue mich darauf. Jetzt will ich wissen: Was heißt poli- tisches Theater auf west- deutscher Seite? SPIEGEL: Am Berliner En- semble haben Sie jetzt poli- tisches Theater gemacht, die Eva Braun gespielt.Wollten Sie auch mit den Zuschau- ern kommunizieren?

SENATOR FILM SENATOR Harfouch: Selbstverständ- George (M.) in „Solo für …“: „Permanenter Kampf“ lich. Ich wollte eine proto- typische Person darstellen, wahnsinnig vermißt. Nur dort erlebe ich eine von denen, die mit ihrer Mentalität die Leidenschaft, daß ich an einer Sache so dazu beigetragen haben, daß diese ganze hart und so lange arbeiten kann, bis ich Nazi-Maschinerie in Gang kam. Und die- blute. Das brauche ich einfach manchmal. se Kommunikation hat auch geklappt. Das Außerdem ist das Theater ein Raum, in Haus war immer voll.Vor ein paar Wochen dem ich ganz und gar zu Hause bin. Da kam nach der Vorstellung eine Frau zu mir fühle ich mich sicher, schon von Kindheit und erzählte, daß sie das Stück gesehen an. Ich hatte noch nie Angst im Theater. habe und hinterher tagelang krank gewe- SPIEGEL: Auch kein Lampenfieber? sen sei, weil sie sich so stark mit Eva Braun Harfouch: Das ist etwas anderes. Lampen- identifiziert habe. Das finde ich phanta- fieber ist ein rein erotisches Gefühl. stisch. Das ist für mich Kommunikation. SPIEGEL: Heute betreiben Sie die Schau- SPIEGEL: Können Sie heute, knapp 10 Jah- spielerei also zu Ihrem Privatvergnügen? re nach der Wende, für sich eine Identität Harfouch: Ich habe jetzt den Mut, auch per- als Deutsche formulieren? sönliche Gründe anzuerkennen. Im Grun- Harfouch: Ich bin jetzt viel mehr bereit als de braucht man mehr Sicherheit und in- früher zu sagen: Ich bin Deutsche, und ich nere Kraft, um seine Arbeit nicht immer will dieser Tatsache etwas abgewinnen. Ich von außen, vom System bestimmen zu las- will nicht immer nur hassen. Ich sehne sen. Mit „Des Teufels General“ hatte ich mich danach, auch stolz sein zu dürfen. auch wieder das Gefühl, daß Theater eine SPIEGEL: Frau Harfouch, wir danken Ihnen gesellschaftliche Relevanz haben kann. für dieses Gespräch.

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Werbeseite Kultur

die Matratze“, klagt etwa das Mädchen der Baracken-Bande, hat mit Gedanken- THEATER Olga während der erzwungenen Trennung schwere und Dekonstruktions-Firlefanz von ihrem Bruder, und der antwortet aus nichts im Sinn. Papi tot, der Sommerverbannung: „Es ist nicht so Für die Münchner „Feuergesicht“-Ur- schlimm wie daheim, aber schlimmer.“ aufführung haben die Herren der Kam- Statt auf penible psychologische Men- merspiele, um nun auch ein wenig Thea- Mama auch schenzeichnung oder grelle Stilisierung terjugend ins Haus zu locken, einen neuen setzt der Autor auf eine zart hingestrichel- Spielraum nach Baracken-Vorbild in der Der junge Dramatiker te Mischung aus beidem – und schafft eine Typenfarce mit Realismus-Einsprengseln Marius von Mayenburg schildert in von imposanter Wucht. Die rund 90 Sze- „Feuergesicht“ eine wilde nen, die lauter kurze Schlaglichter auf eine Geschichte von Inzest und Mord – wüste Szenerie werfen, verblüffen durch und landete damit einen Hit. schlichte Effektivität und jähe Wendungen. er mit Blut und anderen Körper- säften spritzt, braucht sich im WZeitalter des coolen Killer-Gru- sels auch im Theater um seinen Ruhm nicht / ZENIT LAIF D. BALTZER zu sorgen. Von tödlicher Wut und inner- Dramatiker Mayenburg familiärer Sudelei erzählte Marius von Mayenburg schon in einem frühen Stück Theaterschreinerei einge- namens „Papi ist tot“, und als das Werk vor richtet; dazu hat sich In- zwei Jahren bei einem Leseabend in Ber- tendant Dieter Dorn den lin der Öffentlichkeit präsentiert wurde, 29jährigen Regisseur Jan jubelte eine Kritikerin der „taz“: „So lass’ Bosse, wie Ostermeier und ich mir gern den Abend versauen.“ die meisten seiner Kumpa- Damals war Mayenburg 24 und studier- ne Absolvent der Berliner te „szenisches Schreiben“ an der Hoch- Ernst-Busch-Schule, ans schule der Künste in Berlin. Heute, als ge- Haus geholt. rade mal 26jähriger, gilt der Sohn eines Der zeigt nun mit „Feu- Münchner Ärzte-Ehepaars als Jungdrama- ergesicht“, was er kann – tiker-Hoffnung der Saison. Und das dank und das ist, wie sich in den eines Theaterstücks, in dessen Text es ein- Schlußproben vergangene mal heißt, es handle von einer einzigen Woche erwies, möglicher- großen „Kindheits-Sauerei“. weise schon viel zuviel. „Feuergesicht“ lautet der Titel des Dra- Wo der Autor bewußt auf mas, das – ungewöhnlicher Vertrauensvor- lässigem Erzählen beharrt, schuß – bereits vor der Uraufführung am präsentiert der Regisseur vergangenen Wochenende in München von Bosse großen Kunstzirkus. einer Handvoll weiterer Bühnen auf den Ein paar locker im Raum Spielplan gesetzt wurde. In der Tat zeich- verteilte Podeste markie- net der selbst eher bambigesichtige Autor ren Bett, Badezimmer und eine scheußliche Familienfratze: Brüder- jenen Speisesaal, in dem lein und Schwesterlein gehen sich inzestuös ein Abendmahlstisch als an die Weichteile; Papa und Mama mühen einziges Bühnenmöbel auf- sich verzweifelt um Verständigung mit ih- gestellt ist. Die Schauspie- rer Brut und sind ansonsten der gewöhnli- ler sind in scheußlichbunte

chen Erwachsenenverblödung aus Arbeit, STERNBERG O. Kostüme gezwängt, Anna Zeitunglesen und sexueller Frustration ver- „Feuergesicht“ in München*: Mit Ungeduld und Spucke Schudt und Jens Harzer, in fallen; der Aufstand der pubertierenden den Rollen von Olga und und bombenbastelnden Kleinen eskaliert So hofft die offenbar vom Psychowahn der Kurt die beiden jungen Schreckenshelden in ein paar tödlichen Hammerhieben auf Zeit erfaßte Mutter inmitten der Kinder- des Stücks, zeigen am liebsten Strumpfho- die elterlichen Hirnschalen. tyrannei einmal, aller Haß sei bloß insze- se und begleiten die Reden ihrer Mitspieler So weit, so säuisch normal: Von den klas- niert, um die gefühlserkalteten Eltern ein- schon mal mit chorischem Geraune. sischen Griechen bis zu Eugene O’Neill, ander näherzubringen: „Vielleicht machen Es wird mit Sabber gekleckst und in Er- von Shakespeares „Lear“ bis zu den die das alles nur für uns.“ brochenem geschliddert, meist schneidend „Fäkaldramen“ des Österreichers Werner „Feuergesicht“ ist ein Stück ohne Er- scharf gesprochen und leidensstark gri- Schwab hat sich die Familie als Horrorla- klärungen und formale Verrenkungen; ein massiert. Staunend beglotzt der Zuschau- den bewährt, auch der Inzest ist ein von So- rasantes, fast schmuckloses Drama in der er, wie Schudt, Harzer und Bosse sich mit phokles (Athen) über Sam Shepard (New Tradition des britischen well made play, Ungeduld und Spucke ans Werk machen York) bis zu Yukio Mishima (Tokio) welt- wie es jüngst in Deutschland durch die Er- und zu virtuosem Bühnen-Terror auflau- weit gern genommenes Thema. folgsaufführungen der Berliner „Baracke“ fen. Nur leider bleibt wenig von jenem bö- Mayenburg aber erzählt die uralte Ge- („Shoppen und Ficken“) und deren Chef sen Witz, der sexuellen Spannung und dem schichte clever auf der Höhe der Zeit. Die Thomas Ostermeier zu neuen Ehren ge- leisen Horror, die „Feuergesicht“ aus- Sprache seiner Figuren ist sehr nah am All- kommen ist. Auch Mayenburg, schon seit zeichnen – dabei würde die Theatersauerei tagskauderwelsch und hält trotzdem einen einiger Zeit locker assoziiertes Mitglied erst durch sie zur lustvollen Schlamm- schönen, klaren Kunstton: „Ich klebe fest schlacht in den Sudelgruben des Lebens. in den Möbeln, und nachts schluckt mich * Mit Jens Harzer und Anna Schudt. Wolfgang Höbel

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ZEITGESCHICHTE Der unersetzliche Führer Rudolf Augstein über die neue Hitler-Biographie von Ian Kershaw anchmal tut man nicht gut daran, 1936 entmilitarisierte Rheinland schildert, Erst während der bequemen 13monati- mit dem letzten Kapitel eines Bu- so hätte ich die im nächsten Jahr er- gen Festungshaft in Landsberg fand der Mches anzufangen, so auch bei dem scheinende zweite Hälfte wohl kaum damals 35jährige Adolf Hitler zu seiner neuen, freudig aufgenommenen Werk mit Spannung erwartet. Die Passagen eigentlichen Berufung: nicht einer unter „Hitler. 1889 – 1936“ von Ian Kershaw*. über die „Nürnberger Rassegesetze“ sind vielen völkischen Führern, sondern allei- Der 55jährige Professor für Neuere Ge- zwar durchaus lesenswert, aber auch nicht niger Führer zu sein. Diese Festungshaft in schichte und Direktor des Historischen In- ganz neu. Landsberg, was ihr vorausging und was ihr stituts der Universität Sheffield präsentiert Auf den Anfang des vorliegenden folgte, ist bisher wohl nie so einleuchtend uns, was offensichtlich alle 25 Jahre uner- Kershaw-Buches machte mich ein Freund beschrieben worden. läßlich ist: eine neue Hitler-Biographie, mit aus Oxford aufmerksam. Die Figur Hitler Was sich mir besonders einprägt, ist Ian der er, auf den Schultern der früheren wird darin durch eine zugespitzte, aber im Kershaws erzählende Schilderung, wie sich Standard-Biographen stehend, neue Er- Kern gleichwohl sehr einleuchtende These der Österreicher Hitler, ausgezeichnet mit kenntnisse und einen neuen Ausblick zu illustriert: Seine Macht „hing von der Be- dem preußischen Eisernen Kreuz Erster vermitteln sucht.Viele der vorgelegten Er- reitschaft der anderen ab, in ihm ,heroi- Klasse – zum Unteroffizier angeblich nicht kenntnisse sind bekannt, wirklich Neues sche‘ Fähigkeiten zu erkennen“. So wie geeignet –, durch und während seiner Haft war auch nicht zu erwarten. Hitler als Dreh- und Angelpunkt der vom Trommler für eine große Sache zum Hätte ich nur dieses letzte Kapitel „Dem nationalsozialistischen Bewegung und ihres Führer entwickelte, der alle seine wahn- Führer entgegenarbeiten“ des leider in in den Untergang führenden Reiches für witzigen Träume wahr macht, vielleicht so- zwei Teilen erscheinenden Werkes gelesen, Kershaw feststeht, so stellt sich ihm – und gar seine suizidalen Neigungen, ihm un- in dem Kershaw mit einem nur von den der Leser kann das nachvollziehen – die bewußt, bis zur Heirat und zum Tod in der Angelsachsen beherrschten, nüchternen Zeit des gescheiterten Putschversuchs Hit- Reichskanzlei. Erzählton den Einmarsch Hitlers in das bis lers am 9. November 1923 als die entschei- Der im Dezember 1924 als freier Mann aus dende Entwicklungsphase jenes Mannes dem Gefängnis trat, war eben der Führer. * Ian Kershaw: „Hitler. 1889 – 1936“. Deutsche Verlags- dar, der sich bis dahin „König von Mün- War in Hitlers Gedankensammelsurium anstalt, Stuttgart; 972 Seiten; 88 Mark. chen“ genannt hatte. bis zum Zeitpunkt seines Gefängnisauf- FOTOS(l. + r.) : BAYERISCHE STAATSBIBLIOTHEK : BAYERISCHE + r.) FOTOS(l. Selbstdarsteller Hitler (1925, 1928): In der Festungshaft vom Trommler zum Führer geworden

244 der spiegel 42/1998 enthalts noch für mehrere Varianten Platz doch etwas bescheiden können. Es kann al- In einem Punkt ziehe ich Joachim Fests gewesen, so festigten sich seine Phantasien lenfalls einen Biographen des 1946 in Nürn- Standardwerk, vor 25 Jahren erschienen, nun zu einer unumstößlichen Weltsicht, die berg hingerichteten „Reichsministers für unbedingt vor. Fest geht bei Hitler nicht dann 1925 als erster Band unter dem ihm die besetzten Ostgebiete“, Alfred Rosen- von einem eher mäßig Begabten aus. vom Verleger Max Amann zugespielten Ti- berg, interessieren, daß Rosenberg vom Kershaw tut das und betont in einem tel „Mein Kampf“ erschien. Das Buch wur- künftigen Führer vor Antritt seiner Fernsehinterview: Hitler sei ein Mann von de von mehreren Anhängern bearbeitet, Haftstrafe nicht deswegen zum provisori- „begrenzten Fähigkeiten“ gewesen, ledig- aber sogar Hitler hielt es am Ende immer schen Parteiführer bestimmt lich ein begabter Redner und noch für schlecht geschrieben. wurde, weil der die Partei am si- talentierter Schauspieler. Solche Nur zu wahr. Seine Unlesbarkeit nützte chersten schwächen und zerset- Charakterisierung kann man auf dem Fehlurteil, ein schlecht geschriebenes zen würde. Vielmehr war es so, viele Menschen anwenden. Buch könne keine explosiven Gedanken daß Hitler keinen besseren wuß- Es stellt sich doch gerade bei enthalten. Man nahm es bis in höchste Par- te. Hier ist unser Autor zu so- Hitler die Frage, wie ein solch teikreise nicht ernst. Der Führer dagegen phisticated. mäßig begabter Mensch ein im nahm sich von nun an um so ernsthafter als Etwas verwunderlich muß es ganzen völlig verrücktes und einen solchen wahr und ließ davon auch einem wiederum erscheinen, nicht erreichbares politisches nicht mehr ab. daß Kershaw immer wieder be- Ziel ins Auge fassen konnte; und Seine beiden Grundziele schienen auf tont, wie wenig Hitler unter- erst dann kann man sich fragen, seltsame Art zusammenzupassen: nommen habe, um seine Stel- wie er anderen diesen ersichtli- Der Marxismus war der Weltfeind, Ruß- lung zu festigen, zu untermauern chen Irrsinn einhämmern konn- land wurde vom bolschewistischen Juden- und auszubauen. Hitler mußte nur noch te, wobei er dabei auch wiederum taktisch tum zersetzt und bot dem deutschen „Volk „wenig“ tun, um zum „Mythos“ zu wer- vorging. ohne Raum“ grenzenlose Möglichkeiten den. Zu statuieren, daß da ständig eine Daß Kershaw genug studiert hat und der Kolonialisierung im Osten. Diese Hal- Wechselwirkung von unten nach oben und genug weiß, zeigt nicht nur seine Bio- tung änderte er auch nicht mehr, wie wir von oben nach unten stattfand, ist, pardon, graphie als Wissenschaftler, sondern nun wissen, ganz im Gegenteil. Je weniger er ei- eine Banalität. Anders geht und ging auch dies lesbare Buch. Nur mag man sich nes seiner beiden großen Ziele, die Erobe- Politik niemals vor sich. Natürlich mußte seine Grundvoraussetzung nicht zu eigen rung des Ostraumes, verwirklichen konn- Hitler nicht alles selber machen. Werner machen. te, desto fanatischer ließ er die noch ver- Willikens, Staatssekretär im preußischen Historiker und auch andere Wissen- bliebenen Juden ausrotten. Aus Ungarn Landwirtschaftsministerium, lesen wir bei schaftler neigen dazu, die Methode ihres wurden im Jahre 1944 von insgesamt über Kershaw, forderte 1934 von den Partei- wissenschaftlichen Ansatzes überzube- 700000 fast 500000 Juden deportiert, vie- genossen, „dem Führer entgegen“ zu ar- werten. Auch Kershaw läuft in diese Falle. le von ihnen in Auschwitz umgebracht. beiten. Hitler wird das recht gewesen sein. Er geht von den Belangen der Eliten und In der Gewichtung hätte sich Kershaw in So war er für falsche Entscheidungen im der einfachen Leute aus, die sich nach dem seinem modernen Meisterwerk manchmal Tagesgeschäft nie verantwortlich. Desaster des – wie die Engländer sagen – FOTOS (l. + r.) BAYERISCHE STAATSBIBLIOTHEK BAYERISCHE (l. + r.) FOTOS Postkarten-Modell Hitler (1925, 1927): Er faßte ein völlig verrücktes und nicht erreichbares politisches Ziel ins Auge

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„Großen Kriegs“, eine neue Ordnung, Kershaw erwähnt das wichtige Hitler- eine Aufhebung des Friedensdiktats von Buch Sebastian Haffners, um zu zeigen, Versailles und eine gemäßigte Diktatur daß dessen Erklärung, der Führer habe den wünschten. Deutschen den mörderischen Antisemi- Dies alles war zweifelsfrei vorhanden. tismus gewissermaßen eingeimpft, nicht Aber warum konnte die Hitler-Bewegung richtig sein kann. Das ist tatsächlich der in den sogenannten goldenen Jahren der Fehler in den verdienstvollen Untersu- Weimarer Republik keine nennenswerte chungen Haffners. Und Kershaw rückt Ausbreitung finden? auch den in Deutschland ja beinahe ver- Warum fand sie sich überhaupt zu einer ehrten Daniel J. Goldhagen ins rechte nennenswerten und zum Schluß unüber- Licht. Der gehe, so sagte Kershaw dem windlichen Kraft zusammen? Fernsehen, „viel zu undifferenziert, viel Man kann nicht anders, man muß hier Hitler, und nicht seine Bewe- gung, für maßgebend halten. Wenn Hitler gar nicht geboren wäre, wenn den tapferen Gefreiten ein Granatsplitter vernichtet hätte; wenn er, anstelle des Arm in Arm mit ihm marschierenden Balten Max Erwin von Scheubner-Richter von der bayerischen Landespolizei er- schossen worden wäre; wenn er, wovor er mit Recht Angst hatte, in Landsberg nicht nach 13 Monaten begnadigt worden wäre, sondern noch drei Jahre, 333 Tage, 21 Stunden und 50 Minuten hätte absitzen müs- sen; wenn er, und dies erklärt man- ches Benehmen in der ehrenvollen Haft, in sein Geburtsland Österreich ausgeliefert worden wäre, wovor er ebenfalls mit Recht Angst hatte, was dann mit der deutschen Geschichte? Übrigens, es hat Österreichs Bun- deskanzler selbst, Prälat Ignaz Sei- Gefreiter Hitler (r., 1916) pel, die Entgegennahme des aus- Zum Unteroffizier nicht geeignet zuliefernden Landsmannes Adolf Hitler verhindert. Es scheint so, als hätte zu plump vor“. Er geht sogar so weit, sich Seipel von den Münchner Aktivitäten des von dessen wissenschaftlichem Ansatz besagten Hitler sattsam gehört gehabt. „klar zu distanzieren“. Mehr Kritik ist Die angelsächsische Welt hat sich nach wohl nicht möglich. dem Krieg als erste mit dessen Ursachen Wie es geschehen konnte, daß die deut- und Hitler befaßt. Der Historiker Alan schen Eliten, der gehobene Mittelstand, am Bullock schrieb 1952 die erste klassische Ende auch noch die damals vorhandene Hitler-Biographie. Er sah in ihm einen Arbeiterklasse dem Führer, dem Ratten- Abenteurer und „prinzipienlosen Oppor- fänger, anheimfiel, davon handelt dieses tunisten“. Diese Ansicht änderte er aller- um jederlei Objektivität bemühte Buch des dings. In einem Interview mit dem Jour- Engländers Ian Kershaw. Zweifelhafte nalisten Ron Rosenbaum gab er zu, daß Quellen meidet er. die nationalsozialistische Ideologie Hitlers Entgegen seinen Intentionen, die mehr entscheidende Antriebskraft war. Er näher- auf das Umfeld und die Zeitgenossen- te sich damit – nicht ganz – seinem Lands- schaft abzielen, bleibt sein Gegenstand mann Hugh Trevor-Roper an, der Hitler doch der Mann aus Braunau am Inn. In schon 1947 als „irregeleiteten, aber leiden- Kershaws Sicht, und es gibt da nicht die schaftlich an seine Sache glaubenden Welt- geringste Verteidigung des Bösen, hat verbesserer“ beschrieb. „Hitler wie kein anderer dieses Jahrhun- Ich erinnere mich, daß meine Familie dert geprägt“, ja, er sagte in seinem Fern- 1934 zwei 14jährige blonde Zwillings- sehinterview, was gefährlich wäre, wenn schwestern, die auf dem Obersalzberg leb- einer das Buch nicht liest, Hitler ist der ten, kannte. Fuhr der neue Reichskanzler „Mann des Jahrhunderts“, er ist „absolut an ihnen vorbei, stieg er aus und tätschel- unersetzlich, ohne Hitler kein Holocaust, te sie. Nachdem man ihm gesagt hatte, dies kein Krieg, kein Polizeistaat“. Warten wir seien Halbjüdinnen, nahm er sie nicht ab, ob Kershaw im zweiten Band dabei mehr wahr. Es sieht also so aus, als habe bleibt. der Führer sich seine wahnsinnigen Vor- Fest steht: Hitler war kein „Gottes- stellungen von der Judenherrschaft in aller unglück“, wie Thomas Mann meinte, Gott Welt ganz ohne Schauspielerei zu eigen scheint für alle Unglücke dieser Welt doch gemacht. nicht verantwortlich zu sein. ™

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WERBUNG Lauter Plünderer und Fälscher? „Wir sind das neueste Auto“, sagt Hollywood-Star Dennis Hopper – und beruft sich dabei auf die Waren-Ikonen des Pop-Malers Andy Warhol. Provozierend und selbstironisch führt Hopper durch einen neuen TV-Dokumentarfilm zum Thema Werbung. Von Thomas Hüetlin

er König der Rebellen Ford Cougar den Highway ent- sitzt in langen Unterho- lang. Beide betreten eine Imbiß- Dsen in einem überheizten bude. Ein Mädchen kommt, igno- Wohnwagen und redet über sein riert den jungen Hopper und Jahreseinkommen: „Um die zwei macht sich an den alten heran. Millionen Dollar“, sagt er. Das Mit einer ähnlich selbstsiche- Dumme sei nur, daß es eigentlich ren Sturheit schnüffelte der Hol- nie reiche. lywood-Star vorher wie ein Psy- Wie jeder, der Assistenten, ei- chopath für Nike in den Schuhen nen hohen Steuersatz, Ex-Frauen berühmter Sportler herum und und eine moderne Kunstsamm- sagte dazu kranke Sätze wie: lung hat, muß auch Hollywood- „Oh, wow! Man, this is Bruce Star Dennis Hopper oft auf die Smith’s shoe, man. I can hear his vier bis fünf Stellen vor dem heart beat – bubumbubum.“ Komma schauen. Und deshalb Oder setzte sich mit einer Gum- freut es ihn, wenn manchmal an- miente in eine japanische Bade- dere für ihn zahlen. wanne und erzählte den Japa- Da ist zum Beispiel die Be- nern, was sie da für einen tollen kleidungsfirma Hugo Boss, die Badeschaum kaufen müßten. Hopper seine Anzüge schenkt. So ist es nicht wirklich überra- Oder das Fotomodell Claudia schend, daß der Hollywood- Schiffer, das vor ein paar Jahren Schauspieler jetzt auch für den einmal rekordverdächtig schnell Fernsehsender Arte durch eine eine Talkshow in Grund und Bo- Dokumentation der Werbewelt den moderierte, aber vorher führt mit dem sarkastischen Titel: Hopper und seiner Freundin zwei „The A to Z of separating People First-class-Flüge für 12000 Dollar from their Money.“ bezahlte. Und dann ist da noch Mit großem Fleiß hat der Re- MTV. Und Nike. Und Audi, die gisseur und Frankfurter Agen- gleich einen Chauffeur und eine turchef Hermann Vaske ein un- Satellitenanlage mitschickten, da- terhaltsames Kaleidoskop aus der mit Hopper bei einem Deutsch- Werbungs-, Politik-, Rock’n’Roll, landstopp nicht verlorenging. Film- und Zeitungsszene gesam-

Besonders mißtrauische Kul- L. HINSENHOFEN melt, stets seine These verfol- turkritiker schlagen bei solchen Regisseur Vaske, Star Hopper (1997): Geld ist der letzte Wert gend, daß einer im Leben nur Nachrichten sofort Alarm und bestehen kann, solange er sich weisen darauf hin, daß sich der Künstler mer recht gute Freunde waren und beson- gut zu verkaufen weiß. „In unserer Welt“, korrumpiere, bestechen lasse und über- ders in den marken- und marketingbeses- sagt Vaske, „dreht sich alles um Kaufen haupt den großen Ausverkauf betreibe. senen neunziger Jahren das Kunststück und Verkaufen. Ganz egal, ob es sich um ei- Und sie haben keine Ahnung davon, daß darin besteht, Boss, Nike, MTV, Audi von nen Journalisten, einen Anwalt oder eine Kunst und Kommerz eigentlich schon im- ihrem Geld zu trennen, sie zu benutzen Krankenschwester handelt.“ und trotzdem immer oben zu bleiben. Damit niemand auf die Idee kommt, Natürlich verlangt das Übung, und da Hopper und Vaske könnten mit dem Ver- trifft es sich gut, daß Dennis Hopper seit kaufen nur den metaphorischen Wechsel bald einem halben Jahrhundert als Schau- von Angebot und Nachfrage meinen, spieler und Selbstdarsteller vor einem macht das Duo schnell klar, was es für den großen Publikum ausharrt und längst sel- letzten gültigen Wert der neunziger Jahre ber zu einem Markenzeichen geworden ist. hält: das Geld. Dabei steht er so sicher, daß er es sich lei- „Die neue Kunst heißt Business“, wird sten kann, seine Legende im Spiel selbst zu der New Yorker Art-Tycoon Andy Warhol vernichten, wie in jenem Werbespot für ei- zitiert, und dessen Haltung folgend, be- nen Ford Cougar, der demnächst ausge- kennen sich auch ehemalige Betroffen- strahlt wird. heitsexperten, wie der Filmregisseur Emir

JAUCH UND SCHEIKOWSKI JAUCH Der junge, rebellische Hopper fährt dar- Kusturica und der Rocksänger Bono, zur Filmheld Hopper (l.) in „Easy Rider“ (1969) in mit seiner „Easy Rider“-Harley, und ne- Faszination an einer Ästhetik ohne gesell- „Ich dachte an die Marlboro-Werbung“ ben ihm rollt der alte Hopper in einem schaftliche Verantwortung. „Wenn Michel-

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ner Suppendose der Firma Campbell dar- auf, und als ihn jemand fragte, was er da- von halte, antwortete Hopper: „Keine Ah- nung.“ Zu Hause kam ihm später dieser merkwürdige, einfache Gedanke: „Es ist, was es ist. Wir sind die Werbung, wir sind die Coca-Cola-Flasche. Wir sind das neue- ste Auto.Wir sind die großen Billboards. Es ist unsere Wirklichkeit.“ Hopper begriff zum erstenmal, daß es manchmal keine Grenze zwischen Werbung und Kunst gibt. Bis zum heutigen Tag ist Dennis Hopper stolz darauf, nicht mit langen Reflexionen auf die Welt um sich herum zu reagieren, sondern mit seinem Instinkt, der stets der eines Hipsters war: immer interessiert am Neuen, stets dorthin ziehend, wo Inten- sität lockt. 1961 besaß er in Kalifornien eine der größten Sammlungen der Bilder War- hols, Lichtensteins, Jasper Johns und an- derer Pop-art-Künstler. Ein Teil verbrannte beim großen Feuer Hopper im Nike-Werbespot: Herumschnüffeln in den Schuhen berühmter Sportler von Bel Air, den Rest verkaufte Hoppers erste Frau, als sie ihn ver- angelo heute leben würde“, sagt Kusturica, der einmal am Tag vorbei- ließ, für 500 000 Dollar. „dann würde er Werbefilme drehen.“ fuhr.“ „Das Ganze hat mich da- Daß auch in der Politik längst ein Argu- Weil es keine Grenzen mals 38000 Dollar gekostet ment erst dann ein gutes Argument ist, gab, mußte er selbst wel- und wäre heute wahr- wenn es auch gut vermarktet wird, bewei- che finden. Er schaute mit scheinlich 150 Millionen sen Hopper und Vaske mit politischen einem Teleskop in die wert“, sagt er. „Nutzt ja Kampagnen für den Ex-US-Präsidenten Sonne, bis er fast blind nichts.Aber es wäre schön, Ronald Reagan und den ehemaligen Präsi- war; er schnüffelte das wenigstens die 38000 wie- dentschaftskandidaten Bob Dole. Schade Benzin seines Großvaters, der zurückzuhaben.“ nur für Dole, daß er sich nicht mit seinem bis er umkippte; und als Hopper überlebte bis Werbespot für Visa-Kreditkarten um das er auf einem Rodeo einen Mitte der sechziger Jahre Weiße Haus bewarb. „Denn in dem“, Mann sah, der sich einen als Fotograf, und als John meint der Vizechef des US-Werbemultis Gürtel aus Dynamitstan- Wayne dem Begnadigten BBDO Phil Dusenberry, sei er „viel warm- gen umlegte, alle gleich- auf dem Filmset von „Die herziger rübergekommen“. zeitig anzündete und dann Söhne der Katie Elder“ zu- Natürlich will in dieser schönen neuen unverletzt aus dem In- rief: „Da ist der Commie Welt des großen weißen Medienrausches ferno herausstieg, ahnte ja wieder“, war Hopper

keiner mehr etwas von Begriffen wie Ein- Hopper, wie er sein Leben GAMMA / STUDIO X längst nicht mehr allein. zigartigkeit oder Originalität wissen. „Wir angehen mußte: Druck er- Hopper, Ehefrau Victoria (1997) Rebellisch wie er began- sind alle Plünderer und Fälscher“, erklärt höhen, explodieren, über- nen alle halbwegs schlauen Hopper. Und der Londoner Agenturchef leben, wieder alles aufs Spiel setzen. Van jungen Menschen in ganz Amerika zu John Hegarty, seit Jahrzehnten erfolgreich Gogh, Gauguin, Rimbaud und Jesus Chri- fühlen. mit der Reklame für Levi’s Jeans, sagt: stus wurden seine Vorbilder. Er bekam die Chance, „Easy Rider“ zu „Wenn einer in Werbejurys mit dem Wort Sie hießen Jesus nicht gerade willkom- drehen, einen Film, der ein Western mit Originalität kommt, dann packt man am men in Hollywood. Der Westernveteran Motorrädern war, aber dank der Drogen, besten seine Sachen und fährt nach Hause Henry Hathaway ließ den gutverdienen- der langen Haare und ein paar Statements – denn so etwas wie Originalität wird man den Jungschauspieler eine Szene 80mal über das Leben und die Freiheit zum Ma- nicht finden.“ wiederholen, 15 Stunden lang, bis Hopper nifest der Hippie-Bewegung wurde. Dabei Angesichts so vieler selbstironischer Re- heulend zusammenbrach und tat, was man diente der Klassenfeind als Inspirations- lativierungen geht bei Vaske und Hopper ihm befahl. „Kid, you’ll never find work in quelle: „Ich dachte an die Marlboro Com- das Produkt, alleiniger Grund allen Wer- this town again“, sagte ihm Hathaway zum mercials und die von Volkswagen“, sagt bens, fast unter. Strahlend tritt in diesem Dank. Hopper war 21, er hatte in den Hopper heute. „Ihre Sprache war neu und Nirvana der englische Popmanager Mal- Schlüsselwerken „Denn sie wissen nicht, experimentell.Wie sie wollte ich möglichst colm McLaren hervor, der leichtherzig er- was sie tun“ und „Giganten“ gespielt und viele aufregende Dinge in möglichst kurzer klärt, woran er ein Produkt erkenne. „Es er war zum erstenmal am Ende. Zeit zeigen.“ muß die drei S haben: Es muß sexy sein Wahrscheinlich war dieser Rausschmiß Außerdem, meint er, habe er damals Mo- und subversiv und eine Menge Stil haben!“ das Beste, was ihm passieren konnte, denn torräder schon länger nicht mehr leiden Diese drei Buchstaben waren es auch, Hopper mußte seine geniale Unabhängig- können. „Ich hatte mich auf dem Sunset die Dennis Hoppers Haltung zur Welt von keit nicht mehr bloß behaupten, sondern Boulevard in eine Öllache gelegt und war Anfang an bestimmten. Aufgezogen von auch beweisen – er mußte wieder von vorn 10 Tage im Krankenhaus gewesen. Deshalb seinen Großeltern zwischen Hühnern und anfangen. Er malte, fotografierte und kam das Bike nach jeder Einstellung sofort Schweinen auf einer kleinen Farm in der schraubte aus dem Müll von der Straße wieder zurück auf den Lastwagen.“ Nähe von Dodge City, träumte Hopper ein- seltsame Dinge zusammen. Aber von all dem wollte niemand etwas sam in den Tag hinein. „Es gab keine Nach- In einer Galerie in Los Angeles sah er wissen. Der Pop-Mythos war stärker. „Easy barn, keine anderen Kinder, nur einen Zug, Anfang der sechziger Jahre ein Bild mit ei- Rider“ hatte aus 400 000 Dollar Kosten

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Werbeseite 50 Millionen Profit gemacht, und auf ein- mal war es egal, daß sich Hopper auf dem Set wie ein gefährlicher Irrer aufgeführt hatte und sein Partner Peter Fonda sich mit Leibwächtern vor ihm schützen ließ. Hopper war jetzt der Jesus von Hol- lywood, nur ohne Gnade, denn Jesus stell- te sich vor den Regisseur George Cukor und sagte: „Du bist am Ende. Wir sind ge- kommen, um dich zu beerdigen.“ Mit einem Haufen Getreuer, die glaub- ten, seinen romantischen Wahnsinn aus- halten zu können, zog sich Hopper nach Cuzco in den peruanischen Anden zurück, um sein endgültiges Meisterwerk zu dre- hen: Es sollte „The Last Movie“ heißen, und wahrscheinlich war der Titel Pro- gramm – jeder weitere Film sollte danach überflüssig sein. Regisseure zu beleidigen genügte Hopper nicht mehr, er wollte das ganze Genre zur Hölle schicken. Nur, die Hölle war er selbst, und er be- schwor sie ohne Pause neu in Drogen- und Gewaltexzessen, und als er mit 40 Stunden Film in Taos, New Mexico, eine Zuflucht fand, arbeiteten die anderen – Leute wie George Lucas und Steven Spielberg – in Hollywood an ihrer Karriere. Hopper schnitt ein Jahr an seinem Film, gewann das Filmfestival in Venedig und mußte mitansehen, wie die Bosse von Hol- lywood erst drei Kopien von seinem Mei- sterwerk anfertigen ließen und diese dann nach 14 Tagen aus dem Kino nahmen. Je- sus war zum zweitenmal am Ende. Natürlich war Hopper nicht der Typ, der eine Niederlage zugab, und die Drogen hal- fen ihm dabei. „Eine halbe Gallone Rum, ein Kasten Bier und drei Gramm Kokain, damit ich weitertrinken konnte, waren mei- ne Tagesration“, sagt er. Es kam die Para- noia, die dritte Scheidung und nach mehr als einem Jahrzehnt die Entziehungskur. Seit mehr als 13 Jahren hat Hopper jetzt nicht einmal mehr ein Bier getrunken, und er ist heute der zuverlässigste Junkie-, Ir- ren-, Bombenleger- und Terroristendar- steller, der in Hollywood beschäftigt wird. Er wohnt in einem Wellblechhaus, das der Stararchitekt Frank Gehry mitentwor- fen hat; er hat eine zauberhafte fünfte Frau namens Victoria; und er spielt Golf in dem Club, wo auch, in besseren Zeiten, O. J. Simpson seinen Schläger schwang und die Mitglieder nicht mehr vom Fernsehen interviewt werden dürfen, weil einer neu- lich auf CNN sagte, jeder von ihnen hätte an O. J.s Stelle genauso gehandelt. Nur hat Hopper Los Angeles noch nie leiden kön- nen und deshalb, meint er jetzt mit diesen langen Unterhosen in diesem überheizten Wohnwagen, sei der jeweilige Caravan am jeweiligen Drehort sein echtes Zuhause. Auf die Frage, wie er denn einmal ster- ben wolle, antwortete Hopper vor kurzem ziemlich stur: „In meinen Stiefeln.“ Und auf die unvermeidliche Abschlußfrage, was denn dann sein Lebensmotto sei, sagte er noch viel sturer: „Trage niemals Stiefel.“™

der spiegel 42/1998 Kultur

„Wildlife hautnah“ mit 3D-Sequenzen aus schaltquoten von bis zu 77 Prozent. Im FERNSEHTECHNIK sowie diverse Beiträge in seinen Magazin- schwedischen Fernsehen lief ein dreivier- sendungen (unter anderem „Welt der Wun- tel Jahr lang eine wöchentliche 3D-Sen- Wiederkehr der der“ und „taff“) und der Talkshow „An- dung. Ein Sender in Mexiko zeigte im letz- dreas Türck“. So sollen „gefährliche Haie, ten Jahr über 100 Sendungen in der dritten kämpfende Warane, mächtige Löwen, un- Dimension – sie wurden durch 20 Millio- berechenbare Tiger und seltene Men- nen 3D-Brillen gesehen. Mit einem US- Pappbrille schenaffen in besonderer Qualität auf dem Sender sei er gar in Verhandlungen über Bildschirm lebendig werden“. eine tägliche dreidimensionale Tiersen- Seit Jahrzehnten arbeiten Die nötigen Brillen (mit Film- und Fernsehtechniker am gelbgrüner und violetter dreidimensionalen TV-Bild – Plastikfolie) werden von erfolglos. Pro Sieben wagt diese der Getränkefirma Coca- Cola gesponsert und von Woche einen neuen Versuch. der Zeitschrift „TV Movie“ in zwei Ausgaben beigelegt. ie Rot-Grün-Euphorie war nur von 6,8 Millionen Exemplare kurzer Dauer. Im März 1982, als sollen so unters Fernseh- DIngrid Steeger, die Verona Feld- volk kommen. Ob die Neu- busch jener Jahre, für lange Schlangen vor auflage der Pappbrille dies- norddeutschen Optikerläden sorgte, gab es mal Furore macht, wird sich für 70 Pfennig Pappbrillen mit roter und frühestens am kommenden grüner Plastikfolie zu kaufen. Durch sie Sonntag um 18 Uhr zeigen. sollten die Kurven der Steeger auf dem Die Aussichten sind nicht Bildschirm dreidimensional erscheinen. schlecht, denn die Bilder „Wenn die Fernsehbilder plastisch werden“ wirken auch ohne Brille hieß die von der Nordkette in ihrem drit- scharf, wenn auch nicht ten Programm ausgestrahlte Sendung, in plastisch. Thomas Hohen- der mit 3D-Effekten gespickte Beiträge acker, 42, Inhaber und Ge- über 3D-Effekte gezeigt wurden. Doch die schäftsführer der Münch- Bilder gerieten nicht plastisch genug. ner Firma Telcast Interna-

Zwar wurden noch zwei 3D-Spielfilme tional, entdeckte 1990 in TEUTOPRESS im dritten Programm nachgeschoben, aber den USA die neue 3D- 3D-Show „Tutti Frutti“ (1991): „Mehr als ein Gimmick“ dann war das Experiment auch schon Technik und erwarb die wieder vorbei. Der räumliche Effekt funk- Rechte. Hohenacker war auch für die Ab- dung, sagt Hohenacker: „3D-Fernsehen ist tionierte mäßig und auch nur in schwarz- stecher in die dritte Dimension bei RTL inzwischen längst mehr als ein Gimmick.“ weiß. Zu teuer war das Verfahren auch. verantwortlich. Doch inzwischen habe er Während früher zwei rot und grün ver- Erst 1991 wagten sich die Sender wieder das „Nuoptix-Verfahren“ weiterentwickelt schlüsselte Teilbilder mit Hilfe der Brille in die dritte Dimension vor: Busen und Po zum „Telcast-Verfahren“ – und das sei viel mehr oder weniger erfolgreich in ein räum- in greifbare Nähe rücken wollte Hugo ausgereifter. liches, aber schwarzweißes Bild verwandelt Egon Balder in der RTL-Ausziehshow Hohenacker besitzt jetzt globale Pa- wurden, werden nun „die beiden verschie- „Tutti Frutti“. Immer noch war der Effekt tentrechte am 3D-Produktionsverfahren denen Perspektiven, die stets für räumliches von einer Pappbrille abhängig. Wieder und an den Brillen. Es habe sich „als ein- Sehen benötigt werden, um eine Fünfzig- konnte sich das Verfahren nicht durch- ziges 3D-System fürs Fernsehen weltweit stelsekunde zeitversetzt aufgenommen“. setzen. durchgesetzt“, bewirbt Telcast ihr Produkt. Ohne 3D-Brille wird die zeitliche Ver- Nun wagt der Münchner Sender Pro Sie- Fast 50 Länder haben mittlerweile 3D-Pro- zögerung nicht wahrgenommen – das Bild ben einen weiteren Vorstoß in die dritte Di- duktionen der Firma gezeigt. So strahlte erscheint gewohnt scharf und flach. Mit mension und ruft die „3D-Woche“ aus. ein französischer Sender das Weihnachts- Brille erreichen die Bilder das rechte Auge Vom 18. bis 25. Oktober strahlt der Sender programm 1996 (40 Sendungen) dreidi- minimal verzögert: Beide Perspektiven er- drei Tierdokumentationen der Reihe mensional aus und erzielte damit Ein- scheinen dem Betrachter allerdings zeit- gleich, und das Bild wirkt dreidimensio- nal. Das Verfahren eignet sich laut Telcast TV mit Tiefgang ist diese Abweichung mit bloßem Auge nicht zu erkennen, das Bild sieht aus wie gewohnt. besonders für Tier- und Naturfilme, aber Dreidimensionales Fernsehen auch für Shows. Die Produktionskosten in Telcast 3D-Technik Die 3D-Brille ist auf dem rechten Auge ver- dunkelt. Sie filtert die Farben des TV-Bildes steigen durch die neue Aufnahmetechnik Die 3D-Kamera zeichnet zwei Perspektiven so, daß die Informationen vom Gehirn lang- im Schnitt um zehn Prozent. Ein räumliches Fernsehbild ohne Brille (rechtes Auge, linkes Auge) um 1⁄50stel Se- samer verarbeitet werden. Dieser Effekt kunde zeitversetzt auf. Bei der Ausstrahlung gleicht die Zeitdifferenz aus: Beide Bilder wird wohl noch lange ein Traum bleiben – werden gleichzeitig wahrgenommen – es obwohl die Gerätehersteller seit Jahrzehn- entsteht ein dreidimensionaler Effekt. ten daran arbeiten. Zwar titelte der „Eco- RRRRRLLLL nomist“ schon 1978: „Philips’ Geheimnis: 3D-Fernsehen ohne Brille“, doch beim Ge- heimnis ist es wohl geblieben. Auch 3D- Entwicklungen von Siemens, Grundig, Saba, Sanyo und Sharp waren Flops. Telcast und Pro Sieben hoffen, daß die wilden Tiere die Zuschauer stärker zu fes- seln vermögen als seinerzeit die nackten Früchtchen. ™

der spiegel 42/1998 253 Kultur

Immerhin beeindruckte Bragg, 40, Warum jedoch hat die Kuratorin des POP Woody Guthries Tochter Nora so sehr, daß väterlichen Nachlasses ausgerechnet Bragg sie ihm drei Jahre später einen Brief ausgewählt? Distanz, so glaubt er mittler- Knallroter Kopf schrieb. Darin teilte sie dem Briten ganz la- weile selbst, sei wichtig für so einen ver- pidar mit, er solle doch ein paar bislang un- antwortungsvollen Job. „Ich dachte erst, Folk-Legende Woody Guthrie veröffentlichte Texte ihres Vaters vertonen daß nur Bob Dylan dieser Aufgabe ge- – für die weltweite Liedermacher-Gemein- wachsen sein könnte“, sagt Bragg, „aber hinterließ rund 1000 de eine Sensation. Und auch für Bragg „ein wahrscheinlich verehrt der Woody Guthrie Songtexte. Nun hat der britische Angebot, das man mit klarem Verstand schon zu sehr, und außerdem ist er alt. Ich Rockbarde Billy Bragg nicht ablehnen kann“. bin mit 40 auch nicht mehr jung, aber eine die ersten Nachlaßfunde vertont. Nun hat Bragg das Album „Mermaid entscheidende Generation jünger als Dylan Avenue“ veröffentlicht, auf dem er mit Un- – und zugleich ein ganzes Stück älter als in wenig verwundert war der Brite terstützung der Neo-Country-Band Wilco ein Bursche wie Beck, den der Mythos Billy Bragg schon über die Einladung die teilweise über 50 Jahre alten Texte mit Guthrie vermutlich noch viel mehr ein- Eaus New York. Was sollte ausgerech- klassischem, aber frischem Country Rock schüchtert.“ net er bei der Feier des 80. Geburtstags aufpolierte. Guthrie-Tochter Nora ist Trotzdem hatte Bragg dem bekennen- von Woody Guthrie? Schließlich wußte glücklich, die Kritiker sind begeistert, und den Guthrie-Verehrer Beck zunächst an- Bragg damals, 1992, reichlich wenig über Billy Bragg, der in dieser Woche in geboten, das Projekt mit ihm gemeinsam in den Jubilar. Deutschland auftritt, gibt sich als ehr- Angriff zu nehmen. Der Amerikaner war Die Party zu Ehren der 1967 verstorbe- fürchtiger Nachlaßverwalter: Nicht um den erst einmal begeistert, entschied sich dann nen amerikanischen Singer- und Song- eigenen Ruhm gehe es ihm, sagt er, son- aber doch, lieber daheim in Los Angeles zu writer-Legende war im Central Park dern „um den Beweis, daß diese Texte bleiben. angesetzt – als große Konzert-Gala mit noch heute hochaktuell sind“. Von neuen Zweifeln geplagt, spielte berühmten Barden wie Pete Seeger und Die eigentliche Leistung Braggs aber be- Bragg mit dem Gedanken, ein paar erfolg- Woodys Sohn Arlo, die jeweils einen Klas- steht darin, daß er Guthrie vom Legenden- reiche HipHop-Künstler zu Rate zu zie- siker zum besten geben sollten. Bragg sah Sockel geholt hat. Nacheiferer von Bob hen: Möglicherweise sei Guthries Straßen- seinem Auftritt mit Bangen entgegen: „Ich Dylan bis zum kalifornischen Songwriter- poesie im Jahr 1998 nur durch Rap-Beats konnte kein Woody-Guthrie-Lied wirklich Kauz Beck führten den Namen des großen und coolen Sprechgesang in zeitgemäße fehlerfrei aus dem Kopf spielen. So habe Mannes zwar stets im Mund und spielten Form zu bringen. Doch schließlich verwarf ich mich am Tag zuvor in einen Plattenla- auch einige seiner Songs nach, außer dem er auch das: „Woodys Songs stammen aus den verdrückt und mir eine Best-of-Kas- Guthrie-Klassiker „This Land is Your einer Zeit lange vor HipHop und stehen in sette besorgt. Damit übte ich dann hinter Land“ verschwanden die meisten Werke einem völlig anderen Kontext“, argumen- der Bühne, bis ich an der Reihe war.“ aber bald wieder aus dem Repertoire. tiert er, „jede Kombination mit solchen Elementen hätte wahrscheinlich Nora Guthrie drängte um der geklungen wie ein verkrampfter Klischeezertrümmerung willen Versuch, modern zu sein.“ darauf, gerade diesen Text ihres Für Bragg sprach wohl auch, Vaters aufzunehmen. Bragg wei- daß er wie der große Amerikaner gerte sich, weil er bei jeder Zeile als Protestsänger berühmt gewor- einen „knallroten Kopf“ bekam; den ist. Der 1912 in einfachen Ver- „außerdem hatte ich keine Lust, hältnissen in Oklahoma geborene mich von Journalisten hinterher Guthrie porträtierte in den drei- als Denkmalschänder beschimp- ßiger und vierziger Jahren Not fen zu lassen“. und Verzweiflung amerikanischer Bragg hält Woody Guthrie mitt- Landarbeiter in Liedern wie „I lerweile für den „größten ameri- ain’t got no Home“, „Ballad of kanischen Dichter dieses Jahr- Tom Joad“ und „Vigilante Man“. hunderts“ – neben Walt Whitman Bragg, Jahrgang 1957, verhöhnte und Mark Twain. Die Liebeslieder die britische Klassengesellschaft brächten heute noch sein Herz auf Platten wie „Talking with the zum Schwingen, sagt er, und die Taxman about Poetry“, ließ sich politischen Songs seien heute so bei Sit-ins festnehmen und brach- aktuell wie in den fünfziger Jah- te es mit Songs wie „New Eng- ren, „als Senator McCarthy gegen land“ sogar zu Hitparadener- jeden hetzte, der nicht ins Bild des

folgen. Die Berufsbezeichnung SELECTION PHOTO frommen Amerika paßte“. Protestsänger mag er allerdings Sänger Bragg: „Ein Angebot, das man nicht ablehnen kann“ Kürzlich hat Bragg in der Zei- weder für sich selbst noch für tung gelesen, daß kenianischen Woody Guthrie gelten lassen: „Was für handfeste Pornographie: „In einem Song Läufern angeblich demnächst die Teilnah- ein freudloser Begriff! Damit bezeichnet haben ein Schwuler und eine Lesbe Sex me an amerikanischen Wettbewerben ver- man allenfalls eine Dimension dieser miteinander“, berichtet er, „in acht Ver- boten werden soll – weil sie immer gewin- Musik.“ sen schildert Guthrie sehr detailliert, nen. „Amerika ist ein freies Land – so- Das Textarchiv Woody Guthries umfaßt wie sie es treiben, und am Ende erklärt lange du kein Schwarzafrikaner bist und weit über 1000 unveröffentlichte Ma- er beide für ,geheilt‘.“ Der Vorklampfer schnell laufen kannst“, lautet sein Fazit. nuskripte. Bragg fand darin Liebeser- der amerikanischen Linken war offen- „Solange so was möglich ist, kann es nicht klärungen an Ingrid Bergman, Hymnen bar nicht immer politisch korrekt im heu- schaden, ein paar Texte von Woody an unbekannte Flugobjekte und auch tigen Sinn. Guthrie zu kennen.“ ™ Kultur

noch nie einen Nobelpreis bekommen? Jetzt haben wir ihn. LITERATUR-NOBELPREIS SPIEGEL: Aber Sie leben doch seit 1993 nicht mehr in Portugal. Saramago: Ich wohne auf Lanzarote. Die „Ja, ich bin Kommunist“ Familie meiner Frau lebt dort, und wir ha- ben uns ein Haus gebaut. Wir lieben diese Insel. Das hat nichts mit Protest zu tun. Der portugiesische Schriftsteller José Saramago Ich bin oft in Portugal, auch für längere über seinen Erfolg und sein Land Zeit.Allerdings gab es vor Jahren Ärger mit der Regierung wegen meines Romans „Das Saramago war fast 60, als ihm der Durch- SPIEGEL: … als Portugal Themenschwer- Evangelium nach Jesus Christus“. bruch gelang. Aber dann gehörte er schnell punkt der Messe war. SPIEGEL: Jetzt hat sich auch noch der zu den meistgelesenen portugiesischen Saramago: Jedenfalls wollte ich meine Rei- Vatikan gemeldet und dagegen protestiert, Schriftstellern außerhalb seiner Heimat. sepläne nicht davon abhängig machen. daß der Nobelpreis an Sie gegangen ist. Seine zeitkritischen Parabeln sind barock Stellen Sie sich vor, ich hätte deswegen Saramago: Der Vatikan soll sich um seine und bilderreich formuliert. Die schwedi- eine spätere Maschine gebucht – und den eigenen Sachen kümmern und sich nicht sche Akademie sprach Saramago am ver- Preis nicht bekommen. Da wäre ich mir fundamentalistisch gebärden. Der „Osser- gangenen Donnerstag den Nobelpreis für doch blöd vorgekommen! vatore Romano“ schreibt, ich sei Kommu- Literatur zu und lobte „Phantasie, Mitge- SPIEGEL: Sie waren dann aber doch über- nist, hätte Bücher gegen die Religion ge- fühl und Ironie“ im Werk des 75jährigen. rascht? schrieben. Dazu sage ich: Ja, ich bin Kom- „Die Stadt der Blinden“ (1997) gilt als Saramago: Seit fünf Jahren werde ich im- munist. Ja, ich schreibe für die Humanität. Saramagos wichtigster Roman. mer wieder als Kandidat genannt. Was be- SPIEGEL: Sie sind in einem Dorf als Sohn ei- sagt das schon? Wie viele bedeutende Kol- nes Landarbeiters geboren. Ihre Mutter hat SPIEGEL: Wo haben Sie die Nachricht er- legen sind immer wieder genannt worden nie lesen können. Zwischen Ihrer Herkunft halten, daß Sie den Nobelpreis für Litera- und haben den Preis nie bekommen. und Ihrem Erfolg liegen Welten. Zerreißt es tur gewonnen haben? SPIEGEL: Als Sie die Nachricht erreichte – Sie nicht manchmal? Saramago: Ich hatte meinen Besuch auf der wie fühlten Sie sich da? Saramago: Man kann nicht sagen, daß mir Frankfurter Buchmesse eigentlich schon Saramago: Ich mußte mit meinem Koffer an der Wiege gesungen wurde, einmal die- beendet und wartete am Flughafen darauf, in der Hand mutterseelenallein einen lan- sen Preis zu erhalten. Doch ohne die Er- nach Madrid abfliegen zu können. Da kam gen Gang hinuntergehen. Komisch, dachte fahrungen meiner Kindheit würde es mein die Stewardeß auf mich zu und sagte es ich mir, jetzt hast du wirklich diesen Preis, literarisches Werk nicht geben. SPIEGEL: Sehen Sie Ihr Werk als Teil der europäischen Erzählkultur? Saramago: Das würde voraussetzen, daß es eine einzige europäische Kultur gibt. Statt dessen gibt es aber nur viele Sprachen und viele regio- nale Unterschiede. SPIEGEL: Hat das deutsche Publi- kum eine besondere Bedeutung für Sie? Saramago: Ich war oft in Ihrem Land zu Lesungen, in Hamburg, Heidelberg, Frankfurt, Berlin und andernorts. Aber ich erhalte wenig Post aus Deutschland. Das liegt dar- an, daß bei Ihnen bekannt ist, daß ich Ihre Sprache nicht spreche. SPIEGEL: Wenn Sie auf Ihr Leben und Ihr Werk zurückschauen: Sind Sie zufrieden? Saramago: Meinen ersten Roman habe ich mit 25 geschrieben. Er ist übrigens gerade veröffentlicht worden, nachdem er lange als verschollen galt und dann wieder-

REUTERS gefunden worden ist. Ich habe, Autor Saramago (vergangenen Donnerstag auf der Frankfurter Buchmesse): „Jetzt haben wir ihn“ 50 Jahre danach, kein Wort daran geändert. Damals habe ich mit dem mir. Ich wäre trotzdem gern sofort zu mei- und niemand ist hier, mit dem du darüber Schreiben aufgehört, weil ich der Meinung ner Frau geflogen. Aber mein Verleger bat reden kannst. war, nichts Besonderes zu sagen zu haben. mich, den Flug zu verschieben und auf die SPIEGEL: Zum erstenmal ist der Literatur- 1975 befand ich mich in einer Situation, in Messe zurückzukehren. Nobelpreis nach Portugal gegangen. der ich mir Arbeit suchen oder die Schrift- SPIEGEL: Haben Sie nicht mit dem Preis ge- Saramago: Ja, und ich weiß, daß viele stellerei zu meinem Beruf machen mußte. rechnet? meiner Landsleute darüber sehr glücklich Ich habe mich für letzteres entschieden. Saramago: Nein, in diesem Jahr eigentlich sind. Unsere Literatur hat eine jahr- Und nun habe ich diesen Preis bekommen. nicht. Wenn überhaupt, dann im vergan- hundertealte Tradition, und immer wieder Ganz falsch kann meine Entscheidung da- genen Jahr … wurden Stimmen laut: Wieso haben wir mals nicht gewesen sein. ™

256 der spiegel 42/1998 Werbeseite

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werfen“). Dieses „schickt sich nicht“, jenes ist „hinreißend“ oder „graziös“. UNTERHALTUNG „Um die Contenance ihrer Erzieherin stand es nicht zum besten“; „seine häusli- chen Verhältnisse waren, nun ja, bekla- Von Zofen und Zöpfen genswert, aber sie kam nicht umhin, Sym- pathie für ihn zu entwickeln“; „erzürnen- Sie ist kaum bekannt, aber ihre Romane werden von Millionen derweise tat er ihr nicht den Gefallen, be- stürzt dreinzuschauen“. Hier herrscht der gelesen – die junge Autorin Tanja Kinkel. Ihre Spezialität: sauberste Konjunktiv: „Er hatte sie sehen historische Schmöker – und alle wurden bisher zu Bestsellern. wollen, weil er dachte, er stürbe“, und die Leute reden sich zu gern im ie wirkt wie eine Figur aus einem ih- Zofen-Deutsch an: „Aber rer Romane: eine wohlerzogene meine Liebe“, „Teuerste“, SOberschicht-Dame, die auf Anhieb „Grundgütiger“. und sehr ausführlich Gedichte Lord Byrons Nun könnte man meinen, auswendig vorträgt und dabei Tee trinkt. daß historische Stoffe einer Sie ist gerade mal 29 Jahre alt und brütet antiquierten Sprache bedür- über Wochen und Monate wie ein Eremit in fen, doch wer mit Tanja Kin- ihrem schmucklos eingerichteten Bücher- kel spricht, merkt schnell: bunker. Was ist los mit Tanja Kinkel? Sie schreibt, wie sie redet. Mißt man sie an ihren Verkaufszahlen, „Nun, ich weiß nicht, wie Sie ist sie eine der erfolgreichsten Autorinnen es sehen, aber für mich ist Deutschlands. Sechs Romane hat sie ver- das Gotische die einzig an- öffentlicht, alle haben sich exzellent ver- gemessene Bauform für Kir- kauft. Daß ihr jüngster jetzt auf der Best- chen“, doziert sie im Inter- sellerliste steht, scheint so selbstverständ- view und entwirft – mit Lust, lich zu sein wie Ebbe und Flut. wie es scheint – ein perfektes Und gewiß: Tanja Kinkel kann was. Sie Biedermeier-Image. recherchiert so solide, daß sie sich und ihre Zukunftspläne? Mal etwas Leser spielend leicht mal in die finsteren ganz anderes machen als die Zeiten der Hexenverbrennung, mal in die ewigen Sitzungen am Com- ferne Welt Eleonores von Aquitanien ver- puter, im Archiv, in der Bi- setzen kann. Trotz der Opulenz ihrer Ge- bliothek? „Nein“, antwortet schichten – nur einer ihrer Romane umfaßt sie, „ich bin schnell das ge- weniger als 400 Seiten – vermag sie ihr worden, was ich immer wer- Personal klar zu führen, die Spannungs- den wollte. Ich möchte so bögen zu straffen. weitermachen wie bisher.“ Ihr neuer Bestseller „Unter dem Zwil- Vielleicht mal ein Orts- lingsstern“ schildert das Leben zweier wechsel? Ein ganz anderer

Schauspieler, Carla und Robert, die wie FELBERT V. P. Teil Deutschlands, ein ande- Geschwister aufwachsen, sich ewig plato- Autorin Kinkel: „Wenn ich schreibe, bin ich asozial“ res Land? „Nein, nicht län- nisch lieben und zu Zeiten von Nazi-Herr- gerfristig“, sagt Kinkel, die schaft und Künstlerexil versuchen zu über- Doch alle diese Modernisierungsmaß- immer in Bayern gelebt hat. „Ich bin in leben*. Es ist Kinkels erster Roman, der im nahmen haben auf Kinkels Diktion keinen München gerade umgezogen und hoffe, 20. Jahrhundert spielt, und weil sie sich Einfluß. Ihre Sprache ist so zopfig, daß der daß ich die nächsten 20 Jahre in der Woh- nun mal das Schauspielermilieu gewählt Leser das Bedürfnis hat, tief Luft zu holen, nung bleiben werde.“ hat und alles ein bißchen bohemienhaft um den feinen Staub, der auf der Ge- Will sie denn immer im Schmöker-Ver- wirken soll, gibt es die freie und die Homo- schichte liegt, wegzupusten. lag publizieren, hat sie keine Liebe, und Carla und Robert dürfen ein Litaneihaft beginnt Kinkel ihre Sätze mit Angst, den Massen-Kitsch-Stempel verpaßt ziemlich verwegenes Leben führen. einem altklugen „Nun“ („Nun, sie brauch- zu bekommen? „Nein, der Verlag hat mich te niemanden, und am Ende war es ein immer gut behandelt. Ich bleib’ dabei.“ * Tanja Kinkel: „Unter dem Zwillingsstern“. Blanvalet Glück“) oder mit einem betulichen „Oh“ Und was macht sie mit dem ganzen Verlag, München; 896 Seiten; 46,90 Mark. („Oh, es war schwer, sie nicht ins Feuer zu Geld? Häuser kaufen, Feste feiern? „Die

Die Erfolgsserie der Tanja Kinkel, sechs historische Romane, mit einer Auflage von insgesamt über 1,7 Millionen

258 der spiegel 42/1998 Honorare für Autoren werden überschätzt. Aber ich kann davon leben – ganz gut.“ Wenn sie schreibt, sagt sie, „bin ich aso- zial“, dann will sie nichts und niemanden sehen. Doch in der zermürbenden Kor- rekturzeit braucht sie den Zuspruch der wenigen engen Freunde und vor allem den Beistand ihrer Eltern. Alle drei Wochen fährt sie dann mit dem klapprigen BMW, den sie von ihrer Mutter übernommen hat, nach Bamberg. Dort leben ihre Eltern, selbständige Industriekaufleute, in einem Einfamilienhaus aus den Siebzigern. An den Wänden hängen Geweihe und zahllo- se Porträts der Tochter. In der erzkatholi- schen Stadt mit langer, langer Geschichte ist Tanja Kinkel geboren, auf dem Dom- berg ging sie zur Schule, und noch heute kann sie im Dom zu jeder Statue kunsthi- storisch einwandfreie Referate halten. Über den mittelalterlichen Kaiser Heinrich und seine Gattin Kunigunde, die hier be- graben liegen, spricht sie, als seien sie zu früh verstorbene Verwandte. Keine Frage: Tanja Kinkel ist klug. Große Frage: Warum zähmt, warum zwingt sie sich so? Lesungen strengen sie an, sie mag nicht gern im Mittelpunkt stehen – aber sie fügt sich, absolviert 60 pro Jahr. Auf Nachfrage äußert sie sich engagiert poli- tisch, ob Asylrecht, Regierungswechsel oder Genmanipulation, zu allem fällt ihr Intelligentes ein.Aber einen Roman in den Konflikten des Hier und Jetzt anzusiedeln – „nun, das plane ich nicht“. „Als Schülerin war ich Außenseiterin“, antwortet Kinkel entwaffnend offen auf die Frage, warum sie sich so gern ins Ver- traute, Gesicherte, von vielen Akzeptierte flüchtet. Daher also formuliert sie so, als brauche sie den Segen einer Seelenverwandten, ei- ner Jane Austen etwa. Bücher aus anderen, älteren Büchern zu schöpfen – hier funk- tioniert es, aber der Preis ist eine auf Dau- er nervtötende Künstlichkeit. Wirklich stark ist Kinkel, wenn sie die Verlorenheit ihrer Figuren beschreibt. Denn das Gefühl kennt sie. In ihrem neuen Roman sind alle auf un- terschiedliche Weise randständig, und es rührt den Leser an, wenn etwa die kurz- sichtige Carla auf einer Hochzeit die spöt- tischen Mienen der Mitfeiernden nicht sieht, aber ahnt und sich selbst beschwich- tigt: „Weiße Flecken, wiederholte sie sich, es sind nur weiße Flecken, und sie haben keine Macht über mich.“ Kinkels Doktorarbeit, die sie vor kur- zem abschloß, ist eine Würdigung ihres li- terarischen Vorbilds: Sie schrieb über den Exilautor Lion Feuchtwanger – schon wie- der ein Außenseiter, schon wieder ein Le- ben zwischen Flucht und Anpassung. Vielleicht interessiert sich Tanja Kinkel irgendwann einmal für ein Kapitel der Weltgeschichte, das sie auf andere Gedan- ken bringt: die Revolution. Susanne Beyer

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Werbeseite Werbeseite

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VERLEGER „Viermal war ich inhaftiert“ Die Verlegerin Ay≠e Nur Zarakoglu über ihren Kampf für die Meinungsfreiheit in der Türkei

Zarakoglu, 51, lebt in Istanbul und ist die sem Land thematisieren: das Kurdenpro- erste Trägerin des Menschenrechtspreises blem und die Verfolgung der Armenier. der Internationalen Verlegerunion, der Angesichts des schmutzigen Krieges der vergangene Woche auf der Frankfurter Militärs, der 1993 intensiv geführt wurde, Buchmesse verliehen wurde. dieses Ansatzes zum Völkermord, haben wir uns zur Verteidigung der Menschen- SPIEGEL: Frau Zarakoglu, was überrascht rechte entschlossen. Deshalb bringen wir Sie mehr: die Ehrung durch den Men- Bücher über geschehene Völkermorde her- schenrechtspreis oder der Versuch der tür- aus. Für 33 solcher Bücher wurden wir mit kischen Behörden, Ihre Teilnahme an der Verfahren überzogen. So wurden alle Preisverleihung zu verhindern? Werke des türkischen Soziologen Ismail Zarakoglu: Daß meine Reisefreiheit einge- Be≠ikçi, die wir nach dem Putsch von 1980 schränkt wurde, das hat mich überhaupt veröffentlicht haben, beschlagnahmt. nicht erstaunt. Ich lebe in einem Staat, in SPIEGEL: Wie oft haben Sie für Ihre Verle- dem innerhalb einer Nacht, binnen einer gertätigkeit schon vor Gericht gestanden? Stunde, Menschen ver- Zarakoglu: Viermal war schwinden. Hier wird ich schon inhaftiert – das Recht auf Leben wie viele Geldstrafen ebensowenig anerkannt wir bezahlen mußten, wie das Recht auf Mei- kann ich gar nicht mehr nungs- und Publika- zusammenzählen. tionsfreiheit. Mehr als SPIEGEL: Klagt Sie der- die Ehrung aber hat zeit wieder ein Staats- mich nach wochenlan- anwalt an? ger Weigerung und Ver- Zarakoglu: Im Moment zögerung durch die ist es sehr spannend. Behörden die Aufforde- Angesichts des stei- rung überrascht, die ich genden internationalen am vergangenen Diens- Drucks hat der Staat im tag kurz vor Mitter- letzten Jahr begonnen, nacht telefonisch von Strafen gegen Leute wie der Polizei erhielt: Ich mich für drei Jahre auf solle meinen Paß abho- Bewährung auszuset-

len. Zur Preisverleihung FOCUSNEXUS / AGENTUR zen. Nur einen Monat konnte ich trotzdem Preisträgerin Zarakoglu nach einem solchen Ur- nicht mehr rechtzeitig teil haben wir ein Buch kommen.Wegen eines Rohrbruchs im Ver- herausgebracht, das die Hinrichtungen lag bin ich gar nicht mehr losgefahren. während des Staatsstreichs 1980 zum The- SPIEGEL: Sie werden für Ihr Verlagspro- ma hat. Da ich jetzt deswegen vor Gericht gramm geehrt, doch in der Türkei gelten stehe, kommen auch die ausgesetzten Stra- manche Ihrer Bücher als „Verbrechen“. fen auf mich zu. Zarakoglu: Der Verlag „Belge“ (deutsch: SPIEGEL: Sie gründeten als erste Frau in der Dokument) wurde vor 21 Jahren gegrün- Türkei einen Verlag.Waren Sie sich damals det.Wir wollen gegen jegliche Tabus ange- Ihres persönlichen Risikos bewußt? hen und unseren Lesern den Reichtum al- Zarakoglu: Wer einen Kampf für Demo- ler Lebensformen, aller Widerstandsfor- kratie und Recht führt, darf keine Angst men und Revolutionen vermitteln. haben. Es reicht schon, kritischer Jour- SPIEGEL: Verlegen Sie ausschließlich po- nalist bei einer kurdischen Zeitung zu litische Bücher? sein, um ins Gefängnis zu wandern. Zarakoglu: Wir veröffentlichen auch schöne SPIEGEL: Was treibt Sie, Tabuthemen im- Literatur, etwa Romane des kurdischen mer wieder aufzugreifen? Autors Mehmet Uzun. Die türkischen Zarakoglu: Mich motiviert kein persönli- Übersetzungen finden viele Leser. Wir ches Schicksal – ich bin weder kurdischer haben über 350 Bücher herausgebracht. noch armenischer Herkunft. Ich trete für SPIEGEL: Für welche Veröffentlichungen universelle Rechte wie Publikationsfreiheit wurden Sie verurteilt? ein. Ich habe das Recht, einen Autoren wie Zarakoglu: Mir werden Bücher angekrei- Be≠ikçi zu veröffentlichen; er hat das det, die die beiden größten Tabus in die- Recht, sich zu artikulieren, und alle haben

262 der spiegel 42/1998 das Recht, Be≠ikçi zu lesen. Als wir kürz- SPIEGEL: Wie könnte sich die Menschen- lich einen Bericht der US-Menschen- rechtssituation verbessern? rechtsorganisation Human Rights Watch Zarakoglu: Wenn die kurdische Seite ein publizierten, wurden nicht etwa die in dem Friedensangebot vorlegt, muß sich die Bericht erhobenen Vorwürfe überprüft, internationale Öffentlichkeit für einen etwa daß ein Kurde aus einem Militärhub- gerechten Frieden einsetzen. Wir hoffen schrauber gestoßen wurde. Nein: Mir, der sehr, daß die Frankfurter Auszeichnung al- Verlegerin, wird der Prozeß gemacht. len Verängstigten Mut gibt. ™

Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich Bestseller ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ Belletristik Sachbücher 1 (2) Ingrid Noll Röslein rot 1 (1) Jon Krakauer In eisige Höhen Diogenes; 39 Mark Malik; 39,80 Mark

2 (1) Donna Leon Sanft entschlafen 2 (2) Stéphane Courtois und andere Das Schwarzbuch des Kommunismus Diogenes; 39 Mark Piper; 68 Mark

3 (3) Marianne Fredriksson Simon 3 (3) Harriet Rubin Machiavelli für W. Krüger; 39,80 Mark Frauen W. Krüger; 34 Mark

4 (4) Marianne Fredriksson 4 (4) Dale Carnegie Sorge dich Hannas Töchter W. Krüger; 39,80 Mark nicht, lebe! Scherz; 46 Mark 5 (6) Monty Roberts Der mit den 5 (5) Martin Walser Ein springender Pferden spricht Lübbe; 44 Mark Brunnen Suhrkamp; 49,80 Mark 6 (5) Jürgen Grässlin 6 (7) John Grisham Der Partner Jürgen E. Schrempp Droemer; 39,90 Mark Hoffmann und Campe; 48 Mark 7 (8) Ute Ehrhardt Gute Mädchen 7 (6) Arthur Golden Die Geisha kommen in den Himmel, böse überall hin C. Bertelsmann; 46,90 Mark W. Krüger; 32 Mark 8 (7) Peter Kelder Die Fünf „Tibeter“ 8 (8) Ken Follett Der dritte Zwilling Integral; 22 Mark Lübbe; 46 Mark 9 (9) Isabel Allende Aphrodite 9 (9) Diana Gabaldon Der Ruf der Suhrkamp; 49,80 Mark Trommel Blanvalet; 49,90 Mark 10 (–) Alice Schwarzer 10 (13) Catherine Clément Theos Reise Romy Schneider Hanser; 39,80 Mark Kiepenheuer & Witsch; 36 Mark 11 (–) Stephen King Sara Heyne; 49,80 Mark Kaiserin Sisi darf in der Romy-Biographie wiederauferstehen 12 (10) Richard Preston Cobra Droemer; 39,90 Mark 11 (10) Günter Ogger Absahnen und 13 (–) Christian Jacq abhauen Droemer; 39,90 Mark Ramses – Im Schatten 12 (12) Maxeiner/Miersch Lexikon der der Akazie Öko-Irrtümer Eichborn; 44 Mark Wunderlich; 42 Mark 13 (11) Peter Scholl-Latour Lügen im Pharao Ramses darf im fünften Band Heiligen Land Siedler; 49,90 Mark endlich sterben 14 (13) Krämer/Trenkler Das neue Lexikon der populären Irrtümer 14 (11) Benoîte Groult Leben heißt Eichborn; 44 Mark frei sein Droemer; 39,90 Mark 15 (14) Hans Herbert von Arnim 15 (–) Tanja Kinkel Unter dem Fetter Bauch regiert nicht gern Zwillingsstern Blanvalet; 46,90 Mark Kindler; 44,90 Mark

der spiegel 42/1998 263 in fand, daß vor fünf Monaten beim Festi- val in Cannes Elodie Bouchez und Natacha Régnier für ihre Rollen in „La vie rêvée des anges“ als beste Schauspielerinnen ausge- zeichnet wurden, begann vor vier Jahren bei einem französischen Nachwuchsfilm- festival: Zonca, der einen Kurzfilmpreis be- kam, verkündete von der Bühne herab, für seinen ersten Langfilm wünsche er sich als Hauptdarstellerin Elodie Bouchez. Sie saß im Saal, überrumpelt, da die beiden ein- ander gar nicht kannten, doch Zonca hielt treu an ihr fest. Von dem nicht enden wollenden Dreh- buch, das er dann zu schreiben begann, umfaßt der nun fertige Film offenbar nur eine Hälfte (aus der anderen ist inzwischen ein TV-Film für „Arte“ geworden), doch die vitale Qualität des Nichtendenwollens hat er sich erhalten. Das Schlußbild – die immer kindliche, immer sonnige Isa in ei-

CONCORDE ner Fabrik wie zu lebenslänglicher Arbeit „Liebe das Leben“-Darstellerinnen Bouchez, Régnier: Engel auf Abwegen verurteilt – kommt abrupt: Auch das Le- ben, wenn man es liebt, will ja nie enden. mern soll, solange die eigentlichen Be- Dazwischen, nach dem leichtherzigen FILM wohner, eine Frau und ihre Tochter, nach Aufschwung der Engel, der Sturz in einem Autounfall in einer Klinik liegen, Verwirrung, der die Schicksalsgefährtin- Kopflose beide im Koma. Seltsam leicht läßt sich die nen auseinandertreibt. Marie, die Störri- wortkarge, ernste Marie von der sonnig- sche, die in ihrem tiefen Lebenstrotz als quirligen Isa bequatschen, daß sie ihren Opfer früher väterlicher Gewalt erscheint Hühner Fabrikjob sausenläßt. („Mama hat immer weggeschaut“), hat das Übermütig streifen die beiden in ihren Interesse eines eleganten Halunken ge- In seinem erstaunlichen speckigen Lammfelljäckchen durch die kal- weckt: Der spürt mit sicherem Zuhälter- te Stadt, klauen Klamotten, hampeln in Instinkt, wie sie zu knacken ist, läßt sie Erstlingswerk verknüpft Erick kurzlebigen Jobs herum, rennen zum Spaß dann aber rasch, weil sie lästig wird, in ih- Zonca zwei Frauenschicksale. einem Kerl nach oder versuchen sich mit rer elenden Unterwürfigkeit, ihrer Sucht provozierender Koketterie bei zwei Tür- nach Unglück verhungern. er weiß, woher sie kommt, diese stehern Zutritt zu einem Rockkonzert zu Isa hingegen hat sich inzwischen für das Streunerin mit den großen dunk- erschnorren. Was für ein Leben! Was für unbekannte junge Mädchen zu interessie- Wlen Kinderaugen und dem dunk- eine Zukunft! Kopflose Hühner alle beide, ren begonnen, in dessen Zimmer sie haust. len Stoppelhaar, die mit ihrem Riesen- doch im Zustand der Gnade. Sie besucht die reglos unter Schläuchen rucksack durch den Passantenstrom in ei- Das Traumleben der Engel sei sein The- und Kabeln liegende Komapatientin, öfter ner Einkaufszone treibt? Wer weiß, was sie ma, sagt der verführerisch rätselhafte Ori- und öfter, bis irgendwann auch sie – hilflos aus Südfrankreich nach Lille geführt hat, in ginaltitel dieses Films von Erick Zonca, vor Marie, die sie zurückstößt, und hilflos die unwirtliche, winterlich trübe Kohlen- „La vie rêvée des anges“, vor der „Scheintoten“ – für ei- pott-Metropole des Nordens? wovon der deutsche Allerwelts- nen Augenblick von den Trä- Die Adresse eines angeblichen alten Be- titel „Liebe das Leben“ (ir- nen ihrer Ohnmacht überwäl- kannten, bei dem sie unterzukommen hoff- gendwo halbwegs zwischen tigt wird. Liebe das Leben! te, erweist sich rasch als Niete. Als sie es „Liebe in jeder Beziehung“, Das ist ein tapferer, doch dann, gewiß nicht zum erstenmal, mit Bet- Kinostart im September, und kein ausgesprochen lustiger telei versucht, bietet ein freundlicher Herr „Das Leben ist schön“, Ki- Film. Er läßt an Winterbottoms ihr einen Job in einer Textilfabrik an, natür- nostart im November) traurig „Butterfly Kiss“ denken, auch lich Schwarzarbeit; doch vor Ort zeigt sich, wenig verheißt. Warum nicht an Hanif Kureishis Londoner daß diese Nomadin, die sich Isa nennt, „Liebe den Tod“? Zum Traum- Drop-out-Szenarien, natürlich beim besten Willen nicht mit einer Näh- leben der Engel gehört doch, an das neuere französische maschine klarkommt. wie sich zeigt, daß auch auf die Arme-Leute-Kino, an Claire

Immerhin, der Fehlstart in der Fabrik heiterste Überlebenskünstlerin GAMMA / STUDIO X Denis und an Agnès Vardas führt zur Bekanntschaft mit einer zarten der Augenblick des Absturzes Regisseur Zonca berühmtes Porträt einer jungen Frau namens Marie, die in der Früh- wartet. Streunerin, „Vogelfrei“. Zonca stückspause keine Stulle auspackt, sondern Erick Zonca, 42, ist kein Nobody. Er hat braucht keine Kinomusik und (mit seiner sich in einer Klo-Ecke einen kleinen Joint sich, wie man hört, ein paar Jahre in New genauen, immer geistesgegenwärtigen Ka- dreht. Nachdem Isa sich einen Zug erbet- York herumgetrieben, erfolglos auch als merafrau Agnès Godard) nur körniges, un- telt hat, rückt sie mit der Frage heraus, ob Schauspielschüler, hat eine Weile Philoso- pathetisches 16-mm-Material, um ein ex- sie sich wohl für ein paar Tage bei Marie phie studiert, war in eher subalternen emplarisches bißchen Elend zu einem Film einquartieren könne, und Marie, wenn Funktionen beim Fernsehen beschäftigt zu verdichten, der – stets lieber holprig als auch widerstrebend, stimmt zu. und hat sich dann allmählich durch drei glatt – von der Nähe, der Intensität der So zufällig ereignen sich Schicksalswen- Kurzfilme das Ansehen eines eigenwilli- Gefühle getragen wird, falls man damit den. Marie verfügt, wie sich zeigt, über ein gen Autorenfilmers erworben. Seine En- nicht Schmalz meint, sondern Schmerz. großes Appartement, um das sie sich küm- gelsgeduldsgeschichte, die ihren Lohn dar- Urs Jenny

264 der spiegel 42/1998 Werbeseite

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Autoren, SAN FRANCISCO Rafaela von Bredow, 3782 Cesar Chavez Street, Schweiz: zwölf Monate sfr 260,– Reporter: Ariane Barth, Uwe Buse, Urs Jenny, Dr. Jürgen Neffe, Dr. San Francisco, CA 94110, Tel. (001415) 6437550, Fax 6437530 Europa: zwölf Monate DM 369,20 Fritz Rumler, Cordt Schnibben,Alexander Smoltczyk, Barbara Supp STOCKHOLM Hermann Orth, Scheelegatan 4, 11223 Stockholm, SPORT Alfred Weinzierl; Klaus Brinkbäumer, Matthias Geyer, außerhalb Europas: zwölf Monate DM 520,– Tel. (00468) 6508241, Fax 6529997 Gerhard Pfeil, Jörg Winterfeldt, Michael Wulzinger TOKIO Dr. Wieland Wagner, Chigasaki-Minami 1-3-5, Tsuzuki-ku, Abonnementsaufträge können innerhalb einer Woche SONDERTHEMEN Dr. Rolf Rietzler; Heinz Höfl, Hans Michael Kloth, Yokohama 224, Tel. 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(00431) 5323232, Fax 5323232-10 Abonnementsbestellung Dieter Gellrich, Hermann Harms, Sandra Hülsmann, Bianca bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an Hunekuhl, Rolf Jochum, Katharina Lüken, Reimer Nagel, Dr. DOKUMENTATION Dr. Dieter Gessner, Dr. Hauke Janssen; Jörg- SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Karen Ortiz, Gero Richter-Rethwisch, Hans-Eckhard Segner, Hinrich Ahrens, Sigrid Behrend, Dr. Helmut Bott, Lisa Busch, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg. Tapio Sirkka, Kirsten Wiedner Heiko Buschke, Heinz Egleder, Dr. Herbert Enger, Johannes Erasmus, Oder per Fax: (040) 3007-2898. BILDREDAKTION Michael Rabanus; Werner Bartels, Manuela Cordelia Freiwald, Silke Geister, Ille von Gerstenbergk-Helldorff, Cramer, Josef Csallos, Christiane Gehner, Rüdiger Heinrich, Peter Hartmut Heidler, Gesa Höppner, Christa von Holtzapfel, Bertolt Ich bestelle den SPIEGEL frei Haus für DM 5,– pro Hunger, Joachim Immisch, Michael Jürgens, Ulrich Klötzer, Angela Ausgabe mit dem Recht, jederzeit zu kündigen. Hendricks, Antje Klein, Matthias Krug, Peer Peters-König, Monika Rick, Elke Ritterfeldt, Heidi Russbült, Karin Weinberg,Anke Wellnitz Köllisch, Anna Kovac, Sonny Krauspe, Peter Kühn, Hannes Lamp, Zusätzlich erhalte ich SPIEGEL KULTUR EXTRA, Marie-Odile Jonot-Langheim, Inga Lindhorst, Michael Lindner, das monatliche Kultur-Magazin. GRAFIK Martin Brinker, Ludger Bollen; Cornelia Baumermann, Renata Biendarra, Tiina Hurme, Cornelia Pfauter, Julia Saur Dr. Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, Sigrid Lüttich, Rainer Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte LAYOUT Rainer Sennewald, Wolfgang Busching, Volker Fensky; Mehl, Ulrich Meier, Gerhard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Hefte bekomme ich zurück. Christel Basilon-Pooch, Sabine Bodenhagen, Katrin Bollmann, Musa, Anneliese Neumann, Werner Nielsen, Thorsten Oltmer, Bitte liefern Sie den SPIEGEL ab ______an: Regine Braun, Ralf Geilhufe, Petra Gronau, Ria Henning, Barbara Andreas M. Peets, Anna Petersen, Peter Philipp, Axel Pult, Ulrich Rödiger, Detlev Scheerbarth, Doris Wilhelm Rambow, Constanze Sanders, Petra Santos, Christof Schepers, Rolf PRODUKTION Wolfgang Küster, Frank Schumann, Christiane G. Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Stauder, Petra Thormann, Michael Weiland Schumann-Eckert, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Name, Vorname des neuen Abonnenten TITELBILD Thomas Bonnie; Stefan Kiefer, Ursula Morschhäuser, Stehmann, Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr.Wilhelm Oliver Peschke, Monika Zucht Tappe, Dr. Eckart Teichert, Jutta Temme, Dr. Iris Timpke-Hamel, Heiner Ulrich, Hans-Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Peter Wahle, REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wilkens, Holger Wilkop, BERLIN Heiner Schimmöller, Michael Sontheimer; Georg Masco- Straße, Hausnummer Karl-Henning Windelbandt lo, Hajo Schumacher; Wolfgang Bayer, Stefan Berg, Petra Born- höft, Markus Dettmer, Jan Fleischhauer, Uwe Klußmann, Harald BÜRO DES HERAUSGEBERS Irma Nelles Schumann, Peter Wensierski, Friedrichstraße 79, 10117 Berlin, INFORMATION Heinz P. Lohfeldt; Karl-H. Schaper (Leserdienst), PLZ, Ort Tel. (030) 203874-00, Fax 203874-12 Peter Zobel BONN Dr. Olaf Ihlau, Hans-Jürgen Schlamp; Annette KOORDINATION Katrin Klocke Ich möchte wie folgt bezahlen: Großbongardt, Martina Hildebrandt, Horand Knaup, Ursula SPIEGEL ONLINE (im Auftrag des SPIEGEL: a + i art and Kosser, Dr. Paul Lersch, Claus Christian Malzahn, Dr. Hendrik Muns- information GmbH & Co.) ^ Zahlung nach Erhalt der Jahresrechnung berg, Elisabeth Niejahr, Hartmut Palmer, Olaf Petersen, Redaktion: Hans-Dieter Degler, Ulrich Booms; Nataly Bleuel, Lisa Rainer Pörtner, Christian Reiermann, Ulrich Schäfer, Alexander Erdmann, Kristina Jagemann, Bettina Koch, Dr. Lorenz Lorenz- ^ Ermächtigung zum Bankeinzug Szandar, Klaus Wirtgen, Dahlmannstraße 20, 53113 Bonn, Tel. (0228) Meyer, Jeanette Neuendorf, Maren Rode von 1/4jährlich DM 65,– 26703-0, Fax 215110 Produktion: Regina Espig, Helke Grusdas, Georg Heßmann, Hanz DRESDEN Christian Habbe, Andreas Wassermann, Königsbrücker Sayami, Katinka von Staden Straße 17, 01099 Dresden, Tel. 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M., Tel.(069) 9712680, Fax 97126820 Verantwortlich für Anzeigen: Christian Schlottau HANNOVER Hans-Jörg Vehlewald, Georgstraße 50, 30159 Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 52 vom 1. Januar 1998 Hannover, Tel. (0511) 36726-0, Fax 3672620 Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 KARLSRUHE Dr. Rolf Lamprecht, Postfach 5669, 76038 Karlsruhe, Vertrauensgarantie Tel. (0721) 22737, Fax 9204449 Druck: Gruner Druck, Itzehoe Diesen Auftrag kann ich innerhalb einer Woche ab MÜNCHEN Dinah Deckstein, Wolfgang Krach, Heiko Martens, VERLAGSLEITUNG Fried von Bismarck Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) 418004-0, Fax 41800425 Bestellung schriftlich beim SPIEGEL-Verlag, Abon- MÄRKTE UND ERLÖSE Werner E. Klatten nenten-Service, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg, SCHWERIN Annette Bruhns, Spieltordamm 9, 19055 Schwerin, widerrufen. Zur Fristwahrung genügt die rechtzeiti- Tel. 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268 der spiegel 42/1998 Die Woche 3. bis 9. Oktober 1998 Chronik

SAMSTAG, 3. 10. MINUS Finanzfachleute der neuen Re- TERMINE gierungskoalition entdecken neue 12. bis 18. Oktober 1998 EINHEIT Bei den Feiern zur Deutschen Milliardenlöcher im Bundeshaushalt. Einheit demonstriert der designierte MONTAG, 12. 10. Bundeskanzler Gerhard Schröder sei- MITTWOCH, 7. 10. nen Humor mit einem Kommentar COUTURE Die Frühjahrs- und Sommer- zur gemixten, vor allem in Bayern ROT-GRÜN In Bonn setzen die neuge- mode ’99 geht auf den Prêt-à-porter- umstrittenen Deutschlandhymne: wählten Regierungsparteien die Ko- Schauen in Paris über den Laufsteg. „A scheene Musi.“ alitionsverhandlungen fort. Sie eini- gen sich auf ein Bündnis für Arbeit. DIENSTAG, 13. 10. BALKAN Papst Johannes Paul II. GLOBAL In London tagen hochrangige Re- spricht unter dem Jubel Hunderttau- SCHUTZ Für bessere Schutzmaßnah- men gegen gewalttätige Fahrgäste gierungsvertreter zum Thema „Globale sender den verstorbenen kroatischen Ökonomie“. Kardinal und Nazi-Freund Stepinac streiken in Paris die S-Bahn-Fahrer. selig. Hunderttausende Vorortpendler FLIMMERN In München beginnen die Me- haben ein Transportproblem. dientage. SONNTAG, 4. 10. DONNERSTAG, 8. 10. MITTWOCH, 14. 10. WAHLKLICK Per Computer wählen die Brasilianer ihren Staatspräsidenten. MONIGATE Das US-Repräsentanten- EU Die Kommission macht sich Gedan- An den im Land aufgestellten elek- haus beschließt mit 258 gegen 176 ken über bessere Betrugsbekämpfung. Stimmen, daß sich Bill Clinton als tronischen Wahlurnen klicken sie vor BAHN Für 260000 Arbeitnehmer der allem das Bild von Amtsinhaber Fer- dritter Präsident in der Geschichte Deutschen Bahn AG wird in Berlin über nando Henrique Cardoso an. Er er- der Vereinigten Staaten der Vorunter- ein Beschäftigungsbündnis verhandelt. hält knapp 53 Prozent. suchung zu einem Amtsenthebungs- verfahren stellen muß. TRUPPE Verteidigungsminister Volker HALBE-HALBE Beim kleinen Parteitag Rühe besucht zum Abschied Soldaten der Grünen sorgt die Forderung nach PREIS Auf der Fahrt zum Frankfurter in Sarajevo. Gleichberechtigung für Streit: Die Flughafen erfährt der portugiesische Grünen-Frauen wollen zwei Minister- Schriftsteller José Saramago, daß er DONNERSTAG, 15. 10. posten. neuer Literaturnobelpreisträger ist. Saramago fährt zu den Buchmesse- MOSKAU Das russische Verfassungsgericht NÖTE Die Bonner FDP-Führung will hallen zurück, dort jubelt die Menge. entscheidet über eine mögliche dritte Klaus Kinkel als Spitzenkandidat für Amtszeit von Präsident Boris Jelzin. die Europawahlen aufstellen. HANDYS Der Bundesgerichtshof ent- scheidet, daß Mobiltelefonanbieter FREITAG, 16. 10. MONTAG, 5. 10. weiterhin mit Billigpreisen werben OSLO Der Träger des Friedensnobelprei- dürfen. Dafür müssen sie genauer ses 1998 wird bekanntgegeben. AUS Das Bundeskartellamt untersagt über ihre Tarife informieren. der Bertelsmann-Tochterfirma CLT- SAMSTAG, 17. 10. UFA die Aufstockung ihrer Anteile FREITAG, 9. 10. am Pay-TV-Sender Premiere auf 50 ADIEU Die Bundeswehr verabschiedet Prozent. KRISE Der italienische Regierungschef sich von Kanzler Kohl in Speyer mit Ap- Prodi verliert die Vertrauensabstim- pell und Großem Zapfenstreich. OPPOSITION Wolfgang Schäuble soll mung im Parlament. Die Kommunisten SONNTAG, 18. 10. auch neuer Parteivorsitzender wer- hatten das Bündnis mit ihm aufgekün- den, dafür spricht sich das CDU-Prä- digt. Prodi reicht den Rücktritt ein. SKOPJE Parlamentswahlen in Mazedonien. sidium einstimmig aus. Gewählt wird am 7. November beim Bundesparteitag in Bonn. Mit Raketenantrieb am Fahrrad stellt am DIENSTAG, 6. 10. 3. Oktober der BIBLIOPHILIE In Frankfurt am Schweizer Alec Beney Main eröffnet zum 50.mal die einen Geschwindig- Buchmesse. Schwerpunktland keitsweltrekord auf. ist die Schweiz. Er rast mit 236 km/h über den Militärflug- BAYERN In München präsentiert hafen von Payerne. Ministerpräsident Edmund Stoi- ber seine neue Regierung. Er- gebnis: Staatskanzlei gestärkt, Kabinett verkleinert. LÜGE Das Europaparlament hebt die Immunität des franzö- sischen Rechtsradikalen Le Pen auf. Jetzt kann die Münchner Justiz gegen ihn wegen Verbrei- tung der Auschwitzlüge ermit-

teln. DPA

der spiegel 42/1998 269 Register

Gestorben Gene Autry, 91. Der Texaner verkörperte auf besondere Weise die amerikanische Auf- Federico Zeri, 77. Ob die Erde bebte und steigerlegende vom Farmerjungen zum Mul- schlecht gesicherte Kunstwerke verschlang, timillionär. Er war zur richtigen Zeit am ob Fälschungen aufflogen oder Museums- richtigen Ort, als er sich Mitte der dreißiger bilder gestohlen wurden Jahre in Hollywood mit einem Western- – stets beeilten sich Song vorstellte, da man gerade dabei war, Reporter, den „letzten die Popularität des Genres Western mit Ge- Maestro“ („La Repub- sangsuntermalungen aufzuwerten. Als er- blica“) zu befragen. ster „singender Cowboy“ spielte Autry in Ohne Professur, aber so erfolgreichen Filmen wie „Tumblin’ mit großer Kennerschaft Tumbleweeds“, „Under und sprühender Lust am Western Stars“, „Back in Komödiantentum gab the Saddle“ mit. Er dreh- der italienische Kunsthi- te insgesamt 95 Filme

M. LISI / SINTESI storiker stets apodikti- und moderierte von 1950 sche Urteile ab. Er ver- bis 1956 die „Gene Autry höhnte Museumsleute wie Kulturbeamte Show“. Seine 635 aufge- und empfahl, das Land solle sich doch lie- nommenen Songs („Ru-

ber von der Mafia regieren lassen. Zeri hat- dolph the Red-Nosed DPA te seine Laufbahn im Kulturministerium Reindeer“, „Tweedle-O- begonnen, war dort aber im Streit wieder Twill“), die sich 100millionenmal verkauf- ausgeschieden. Zeitweilig lehrte er an Uni- ten, vier Radiosender und ein Baseballclub versitäten, verfaßte Museumskataloge, pro- sicherten ihm für Jahre einen Platz auf der filierte sich als streitbarer Essayist und Forbes-Liste der 400 reichsten Amerikaner. beteiligte sich noch unlängst an einem Kri- Gene Autry,der einzige mit fünf Hollywood- minalroman aus der Kunstwelt. Zu- und Walk-of-Fame-Sternen geehrte Star (für Abschreibungen waren seine Spezialität: Film, Platten, TV, Radio und Lebenswerk), Als Getty-Treuhänder warf er wegen des starb am 2. Oktober in Los Angeles. Ankaufs einer angeblich altgriechischen Statue hin, die er, wohl zu Recht, als Fäl- Roddy McDowall, 70. Er war die fröhliche schung ansah.Aber vielfach entdeckte Zeri Ausnahme von der Regel, daß Kinderstars auch verkannte Meisterwerke. Aus seiner als Erwachsene unglücklich werden. Zwar eigenen Sammlung vermachte er dem Mai- blieben die Rollen, die der kleine Junge aus länder Museum Poldi Pezzoli ein Heiligen- London Anfang der vierziger Jahre in Hol- bild, das er Raffael zuschrieb, während die lywood spielte, für immer seine berühmte- Deutschen eine Goethe-Locke abbekom- sten – in John Fords „So grün war mein Tal“ men. Federico Zeri starb vergangenen Mon- oder als Partner der kleinen Elizabeth Tay- tag in Mentana bei Rom an Herzversagen. lor in „Lassies Heimweh“. Doch McDowall verstand es darauf im Kino, am Broadway Roger Vivier, 90. Er war immer auf der Su- und im Fernsehen eine lebenslange Karrie- che nach etwas Neuem und damit 60 Jahre re als Episodendarsteller zu gründen, gele- auf der Höhe der Zeit. Selbst im Alter von gentlich auch als Regisseur oder witziger 89 Jahren erhielt der französische Designer Talkshow-Gast. Daneben verfolgte der ele- noch Kollektionsaufträge für seine eleganten gante, umtriebige Junggeselle eine zweite Schuhe. Dabei hatte er sich schon in den Laufbahn als begehrter Porträtfotograf dreißiger Jahren einen Namen gemacht, für Hochglanz-Magazine wie „Vogue“ und als er die Füße der „Harper’s Bazaar“. Roddy McDowall starb berühmten Moulin- am 3. Oktober in Los Angeles an Krebs. Rouge-Tänzerin Mistin- guett mit einem Kunst- Stéphane Morin, 29. Der Kanadier war ei- werk aus Pailletten ner der vielen namenlosen Profis aus Über- beschuhte. In den fünf- see, die in der Deutschen Eishockey-Liga ziger Jahren revolu- ein Engagement gefunden haben.Außerhalb tionierte der für alle von Berlin, wo er bei den Capitals spielte, berühmten Modema- wurde der Torjäger erst post mortem be- cher arbeitende Vivier kannt: als jüngstes Opfer einer Liste von die Schuhwelt, als er scheinbar kerngesunden Leistungssportlern,

den Pfennigabsatz er- GAMMA / STUDIO X bei denen plötzlich das Herz stehenbleibt. fand. Marlene Dietrich Erst die Obduktion ergab, daß Morin vor empfahl er kugelförmige Absätze, Königin Jahren einen Infarkt erlitten hatte und an ei- Elizabeth II. hohe Sandalen zur Inthronisa- ner chronischen Bronchitis erkrankt war. tion, Brigitte Bardot lange Kniestiefel.Auch Ärzte beklagen seit längerem die unzurei- Maria Callas, Jackie Kennedy, Mick Jagger chende internistische Betreuung von Spit- und John Lennon ließen sich bei ihm extra- zenathleten. Stéphane Morin starb vergan- vagantes Schuhwerk anpassen. Roger Vivier genen Dienstag während eines Eishockey- starb am 2. Oktober in Toulouse. spiels in Oberhausen an Herzversagen.

270 der spiegel 42/1998 Werbeseite

Werbeseite Personalien REUTERS Sander

Jil Sander, 54, deutsche Modedesignerin, liebt die harten Gegensätze. Während die Kund- schaft bei der Königin des Modeminimalis- mus die schlichten Sander-Kleider in ebenso sparsam eingerichteten Verkaufsstätten er- wirbt, lebt die Selfmade-Frau in ihrem neuen Domizil an Hamburgs Außenalster wie ein indischer Nabob, russischer Großfürst oder deutscher Konzernchef am Ende des 19. Jahr- hunderts. Samt und Troddeln, schwellende Polster und Schabracken, Goldstuck und vie- lerlei Rankenwerk dominieren das millionen- teure Gehäuse der Modemacherin. Doch die Modepuristin, die dem Fotografen Bruce Weber für die amerikanische „Vogue“ einen Blick in ihre Privatgemächer gewährte, fühlt sich in diesem bombastisches Museum des wunderlichen Geschmacks wohl. „Ich kann in beidem leben“, im minimalistischen wie im

prunkvollen Interieur, sagt Jil Sander: „Das CONDÉ NAST hier ist für mich amüsant und verträumt.“ Sander-Gemächer („Vogue“-Ausriß)

Bärbel Höhn, 46, grüne Umweltministerin 1534 die Spanier vorgeschlagen – „aber Verhandlungen wurden ihm zwei Kästchen in Nordrhein-Westfalen, entwickelte im wie einige andere Pläne verschwand dieser feinster Luxuszigarren mit einer speziellen, Streit mit einem politischen Widersacher für fast 300 Jahre in der Schublade“. Schröder gewidmeten Bauchbinde über- düstere Perspektiven für das umstrittene reicht. Der überraschte Sozialdemokrat Braunkohletagebauprojekt Garzweiler II. Gerhard Schröder, 54, künftiger Bundes- nahm die Gabe ohne viel Zögern entgegen, Der SPD-Regierungspräsident von Köln, kanzler, freute sich vor den Koalitionsver- fragte launig, „Wie kommen Sie da dran?“ Franz-Josef Antwerpes, hatte Anfang ver- handlungen am vergangenen Mittwoch Und: „Muß ich dafür was zahlen, oder gangener Woche gelästert, „selbst die Pla- über unerwartete Präsente.Vor Beginn der was?“ Letzteres wurde verneint. Der Spen- nung des Panamakanals“ habe nicht der ist Raoúl Rodríguez, sozialistischer so lange gedauert wie die bisherige Bürgermeister der Stadt El Paso auf der Planungszeit (15 Jahre) für Garzwei- Kanareninsel La Palma. Spätabends, nach ler. Höhn, die nach Ansicht von Ge- offenbar erfolgreichen Verhandlungen mit nossen ihre wasserrechtliche Geneh- den Grünen, entspannte sich Schröder in migungskompetenz mißbraucht, um der niedersächsischen Landesvertretung das naturverzehrende Großprojekt bei einer guten Zigarre. zu verhindern, schickte umgehend Rechercheure los: Der Bau des 1914 Edward Heath, 82, früherer britischer Pre- eröffneten Panamakanals, stellten die mierminister (1970 bis 1974), rühmt in Fahnder fest, habe tatsächlich seiner eben erschienenen Autobiographie „knapp zehn Jahre“ gedauert. Doch „The Course of My Life“ die ersprießliche den Plan für eine Wasserstraße zwi- Zusammenarbeit mit Willy Brandt, dem schen Atlantik und Pazifik, so konn- ehemaligen Bundeskanzler (1969 bis 1974),

te Höhn den Garzweiler-Fan Ant- DPA in der Nord-Süd-Kommission. Allerdings werpes nun belehren, hätten erstmals Schröder-Zigarren irritierten Heath in den Unterhaltungen

272 der spiegel 42/1998 die immer länger werdenden Gesprächs- färe unter dramatischen Umständen ins pausen Brandts. „Soll ich ihn unterbrechen Gefängnis abgeführt – mit angelegten und das Gespräch wieder in Gang brin- Hand- und Fußfesseln. gen?“ fragte sich Heath. Um nicht wichti- ge Gedankengänge zu stören, entschied Hillary Clinton, 50, Ehefrau des von Mo- sich der Brite für geduldiges Warten. nicagate schwer angeschlagenen US-Präsi- denten Bill Clinton, bastelt an der Idylle im Susan McDougal, 43, ehemalige Buch- halterin der Familie des Star-Dirigenten Zubin Mehta, 62, und von dieser der Ver- untreuung von 150000 Dollar beschuldigt, erfreut das Gericht mit Reminiszenzen an die angebliche Verschwendungssucht ihres früheren Arbeitgebers. So mußte ein But- ler für den Mehta-Hund „Tarras“, einem Barsoi, täglich ein Filet Mignon zubereiten. Als die Wasserrohre in der italienischen Villa leckten, ließ Ehefrau Nancy ihren Klempner aus Los Angeles samt Werkzeug

einfliegen. Als ihr Cousin heiratete, veran- OFFICE B. KINNEY / WHITE HOUSE PHOTO staltete Frau Mehta eine Gartenparty mit „Socks“ und „Buddy“ im Weißen Haus extra aufgebautem Aussichtspunkt, einem Orchester und einem neu eingerichteten Weißen Haus und setzt auf zwei noch un- Teich, in dem kostbare japanische Zier- beschädigte Mitglieder aus dem Haushalt karpfen schwammen. Kosten der Lustbar- der First Family – auf den Kater „Socks“ keit: 100000 Dollar. Und nachdem sich das und auf den erst vor einem Jahr vom Haus- Ehepaar Mehta gezankt hatte, brachte der herrn angeschafften Hund „Buddy“. Die Maestro seiner Gattin aus Israel ein Tee- Popularität der beiden ist immens und un- service mit für schlappe 45000 Dollar. Die gebrochen. Aus mehr als 300000 von Kin- Gesellschaftsnachrichten scheinen einiger- dern an die beiden Haustiere gerichteten maßen seriös. McDougal war mit Frau Briefen hat die First Lady die schönsten Mehta einst befreundet. ausgewählt und ein Buch Obendrein war sie Ge- zusammengestellt. Titel schäftspartnerin des US- „Dear Socks, Dear Buddy“. Präsidentenpaares Clinton Mit Fotos, Faksimiles und und wurde vor zwei Jahren Zeichnungen geschmückt, wegen Aussageverweige- kommt das Werk nächsten rung in der Whitewater-Af- Monat auf den Markt – rechtzeitig zum Weih- nachtsgeschäft. Die häufig-

DPA sten Fragen der Kinder wer- den beantwortet, darunter jene an Socks, ob er überhaupt Buddy um sich haben mag. Der Erlös des Buchs geht an die Stiftung Nationalpark.

Benjamin Netanjahu, 48, israelischer Pre- mier, erteilte arabischen Schulkindern eine Lektion in virtueller Realität. Zum Beginn des neuen Schuljahres besuchte er eine Lehranstalt im Dorf Abu Ghosch bei Jeru- salem. Er habe gerade mit dem Finanzmi- nister gesprochen, eröffnete er den Schü- lern, und könne ihnen nun mitteilen, daß künftig alle Computer von der Einfuhr- steuer befreit seien. So sei er der Erfüllung seines Wahlversprechens, wonach jedes Schulkind einen Zugang zu Computern be- kommen solle, ein gutes Stück näherge- kommen. Langanhaltender Beifall. Tags darauf allerdings erfuhren die Schüler aus den Zeitungen, daß ihr Regierungschef sie mit einem seiner politischen Bluffs ge- foppt hatte, für die er mittlerweile berühmt ist: Auf Computer werden in Isarel seit

REUTERS fast zehn Jahren keine Importsteuern er- McDougal (1996), Ehepaar Mehta hoben.

der spiegel 42/1998 273 Fernsehen

Montag, 12. Oktober bis muffelig herunterhängen- den Mundwinkel und be- 16.00 – 17.00 UHR RTL schwingt seine Musik mit Whiskey. Langhaarige Schön- Hans Meiser heiten in engen Glitzer- Thema: „Vor meinen Brüsten haben alle abendkleidern lächeln ihm zu, Männer Angst.“ Es droht der Erstickungs- manchmal lächelt er zurück, tod im Silikon Valley. und man verabschiedet sich erst am nächsten Morgen. 19.30 – 20.15 UHR BAYERN III Harry hat das Gefühl, daß das Leben sehr nett zu ihm ist. Lebenslinien Doch dann ereilt ihn jedesmal „Ich bin kein Kuckuck-Kleber“ – Porträt beim Sex eine Herzattacke. Der eines Gerichtsvollziehers. Seit 30 Jahren Arzt verordnet Verzicht. Viel- treibt Günter Billmaier, 61, unter gericht- leicht könnte Harry die Askese licher Dienstaufsicht in Wolfratshausen mit Hilfe seines Verhaltensthe- Geld ein. Oder versucht es zumindest, rapeuten sogar durchhalten, denn immer öfter ist immer weniger zu wenn ihn sein Freund und holen. Er wäre über all dem Elend längst Scheidungsanwalt Peter (Uwe verrückt geworden, sagt Billmaier über sich Ochsenknecht) nicht in eine selbst, wenn er nicht durch seine vielfälti- Scheinehe mit der Russin Alma gen Interessen Ausgleich gehabt hätte. Zum (Sophie von Kessel) zwingen Beispiel hat er 1990 per Fernstudium einen würde. Die Komödie von Ga- Abschluß in Theologie gemacht. briela Zerhau (Buch und Re-

gie) ist Auftakt der ZDF-Reihe TELE BUNK 20.15 – 21.45 UHR ZDF „Fernsehfilm der Woche“. Grayson, Keel in „Küß mich, Kätchen“

Auch Männer brauchen Liebe 0.50 – 2.35 UHR ARD sion von 1953 (Regie: George Sidney) war Dominic Raacke, der sich auch als Dreh- ein Kassenschlager. In den Hauptrollen: buchautor von „Um die 30“ und „Die Mu- Küß mich, Kätchen Kathryn Grayson, Howard Keel, Ann sterknaben“ bewiesen hat, spielt wunder- Shakespeare als Musical: „Der Wider- Miller, Keenan Wynn. Auch wenn das ver- bar brummelig den Pianisten Harry. Der spenstigen Zähmung“ wurde durch Cole mittelte Frauenbild inzwischen etwas un- setzt sich jeden Abend in der Bar an den Porter als „Kiss Me Kate“ ein großer zeitgemäß ist: Der olle Schinken hat noch Flügel, klemmt eine Zigarette in den cool Broadway-Erfolg. Und auch die Film-Ver- immer viel Charme.

Dienstag, 13. Oktober 20.15 – 21.00 UHR ZDF Breuer und Wilhelm Fließ vor, die Freuds Entdeckungen überhaupt erst ermöglicht 17.30 – 18.00 UHR NORD III Hitlers Krieger haben. Der zweite Teil wird morgen um die Die Reihe „Hitlers Helfer“ brachte Guido gleiche Zeit ausgestrahlt. Ein Fenster zur Tiefsee Knopp, Leiter der Abteilung Zeitgeschich- Der kleine kalifornische Küstenort Mon- te beim ZDF, neben viel Lob auch Kritik 21.00 – 21.45 UHR WEST III terey kam durch John Steinbecks Roman ein: Das historische Material sei zu sehr un- „Die Straße der Ölsardinen“ zu Weltruhm. ter dramaturgischen Gesichtspunkten zu- Hobbythek Die Sardinenschwärme sind längst ver- rechtgeschnitten und durch nachgestellte Thema: „Quark und Käse selbstgemacht“. schwunden, die Konservenfabriken ge- Szenen unnötig aufgepeppt worden. Tat- Riesen-Schnauzer Jean Pütz zeigt seine schlossen. Dafür wurde eines der größten sache ist aber auch, daß Knopp mit der wahre Meisterschaft. und schönsten Aquarien der Welt eröffnet, Reihe ungewöhnlich viele, gerade auch vor dessen gewaltigen Glaswänden sich nun jüngere Zuschauer erreicht hat – bei dem 22.15 – 22.45 UHR ZDF die Touristen drängeln – wie die Ölsardinen. schweren Thema eine beachtliche Leistung. Zusammen mit Holger Hillesheim und 37º: Der Pornojäger Wolfgang Schoen untersucht Knopp nun Victor Grandits hat den Österreicher Mar- die Rolle führender Wehrmachtsoffiziere tin Humer, 72, mit der Kamera auf dessen im Zweiten Weltkrieg. Den Anfang macht Kreuzzug wider die (vermeintliche) Un- „Rommel – Das Idol“, dem noch heute der moral begleitet. Der „Pornojäger“ macht glorifizierende Beiname „Wüstenfuchs“ auch schon mal mit bewaffneten Helfern vorangeht. Die sechsteilige Reihe wird Razzien in Bordellen, Videotheken und nächsten Dienstag fortgesetzt mit „Keitel Sexshops und auch vor der Kunst nicht – Der Gehilfe“. halt. Seit gut einem Vierteljahrhundert ver- sucht Humer seine fundamentalistischen 20.45 – 21.45 UHR ARTE Moralbegriffe so durchzusetzen. Warum sollten auch die USA ein Monopol auf Sigmund Freud – die Erfindung selbstgerechte Moralapostel besitzen? Daß der Psychoanalyse die Weste des alten Eiferers keineswegs Mit der Behandlung weiblicher Hysterie weiß ist, glaubt Grandits mit Belegen über

NDR fing alles an: Der erste Teil der Dokumen- Verbindungen zur Neonazi-Szene nach- Qualle im Aquarium von Monterey tation stellt unter anderem Ärzte wie Josef weisen zu können.

274 der spiegel 42/1998 12. bis 18. Oktober 1998

Mittwoch, 14. Oktober ZDF wiederholt wird. Im Rahmen einer haupt können, ist eine Frage, die der Re- Seminararbeit für die Freie Universität daktion der Sendung seit über 20 Jahren 12.00 – 13.00 UHR SAT 1 Berlin nahmen Studenten zwei Berliner vorliegt. Nun endlich wird sie beantwortet. Arbeiterfamilien (mit deren Zustimmung) Meistens sind Hans-Joachim Wolfram Vera am Mittag für vier Wochen den Fernseher weg. Die und Christine Trettin-Errath mit ihrem Talkshow von der Ostsee-Insel Usedom. Auswirkungen des TV-Entzugs protokol- „Kundendienst für Neugierige“ erheblich Thema: „Dürfen Dicke an den Strand?“ lierten sie mit Videokameras (es müssen schneller. Die Sendung, die seit 1972 auf er- Vera wagt den Selbstversuch. die ersten Exemplare gewesen sein). frischend menschliche Art zwischen Rü- gen und dem Erzgebirge (inzwischen auch 19.15 – 20.00 UHR PHOENIX 21.15 – 21.45 UHR MDR in den alten Ländern) nach Kuriositäten fahndet, erfreut sich nicht nur in den neu- Einschalten – Abschalten? Außenseiter – Spitzenreiter en Bundesländern großer Beliebtheit. Das „Vier Wochen ohne Fernsehen“ heißt der Wuschi aus Leubsdorf/Augustusburg ist Relikt aus der Steinzeit des DDR-Fernse- Bericht von Helmut Greulich, der 1976 für eine ganz besondere Katze: Sie setzt sich hens bildet den Gegenpol zu all den schnie- Aufsehen sorgte und nun vom „Ereignis- freiwillig auf die Hinterbeine und macht ken, seelenlosen Unterhaltungssendungen und Dokumentationskanal“ von ARD und „bitte, bitte“. Ob Katzen so etwas über- aus holländischer Produktion.

Donnerstag, 15. Oktober 23.00 – 23.30 UHR ZDF Kind bis zur Volljährigkeit kostet, fließen über staatliche Leistungen wieder an die 20.15 – 22.35 UHR VOX Kinder machen arm Familie zurück. Sabine Lehmann hat sich Klar, sie bereichern das Leben, doch sie bei Betroffenen umgesehen. Mississippi Burning belasten auch das Portemonnaie – und das Eine Südstaaten-Kleinstadt im Juni 1964: nicht zu knapp, wie Väter und Mütter be- 23.45 – 1.20 UHR ZDF Der Ku-Klux-Klan ermordet drei Bürger- stätigen. Schon bei zwei Kindern bleibt El- rechtler. Zwei FBI-Agenten, idealistisch der tern mit dem deutschen Durchschnittsein- Before Sunrise eine (Willem Dafoe), abgebrüht der ande- kommen von rund 3500 Mark netto, Die Filmromanze von 1995, re (Gene Hackman), versuchen, in einem einschließlich Kindergeld, kaum mehr als eine amerikanisch-österrei- Sumpf von Rassismus und Gewalt die Tä- das Existenzminimum. Über indirekte chische Koproduktion (Buch ter zu finden.Alan Parker führte die Regie Steuern wie die Mehrwertsteuer werden und Regie: Richard Link- in diesem beklemmenden Drama (USA Familien erheblich stärker belastet als later), wurde auf der Berlina- 1989), das auf einer wahren Begebenheit Singles oder kinderlose Paare. Nur 15 Pro- le mit einem Silbernen Bären beruht. zent der rund halben Million Mark, die ein ausgezeichnet. Sie erzählt die

Liebesgeschichte von Jesse LINA-CINE (Ethan Hawke) und Céline Hawke, Delpy (Julie Delpy), die sich auf der Zugfahrt nach Wien kennenlernen – Boy meets girl, mehr nicht. Das aber sehr schön.

0.40 – 1.10 UHR RTL Verrückt nach dir Nach dem Oscar für ihren Part in „Besser geht’s nicht“ an der Seite von Jack Nichol- son hat Helen Hunt nun auch noch zum dritten Mal einen Emmy für ihre Rolle als Jamie in der US-Comedy „Verrückt nach

IMPRESS dir“ erhalten. Ihr Partner Paul Reiser ging Hackman, Dafoe in „Mississippi Burning“ leer aus. Es ist zum verrückt werden.

Freitag, 16. Oktober spektor einen Beitrag. Damit nicht genug: ten, sondern eine Reportage aus einer Morgen richtet Thomas Gottschalk noch Hamburger Tierarztpraxis. Der Doktor 20.15 – 22.15 UHR ZDF eine „Überraschungsparty“ aus. Und wem muß nicht nur das liebe Vieh verarzten, der Bulle und sein Assi dann immer noch sondern sich auch auf Menschen-Psycho- Derrick nicht auf den Tränensack gehen, der kann logie verstehen. Tja, Alter, das war’s also. Deutschlands er- in der Nacht zum Sonntag zwischen 23.15 folglosester Kriminalbeamter (in 24 Jah- und 4.15 Uhr noch fünf Folgen aus zwei 0.00 – 1.30 UHR ARTE ren nicht einmal befördert) meldet sich ab Jahrzehnten gucken – präsentiert von Fritz – er geht zu Europol.Vielleicht klappt’s da Wepper. Siehe auch Seite 98. Tschetan, der Indianerjunge ja mit der Karriere besser. Nach der letz- Bayerischer Jugend-Western von 1973. ten Folge, „Das Abschiedsgeschenk“, folgt 21.45 – 22.15 UHR ARD Hark Bohms (Buch und Regie) Kinodebüt. um 21.15 Uhr die erste produzierte Episo- Bruder Marquard Bohm spielt einen Schä- de, „Mitternachtsbus“, 1975 als vierte Fol- exclusiv fer, Pflegesohn Dschingis Bowakow den ge ausgestrahlt. Um 22.50 Uhr widmet das „Herr Doktor, mein Mops motzt.“ – Kei- Indianerjungen Tschetan. Hinter der Ka- Kulturmagazin „Aspekte“ dem Oberin- ne Talkshow von Klarabella und Konsor- mera: Michael Ballhaus („GoodFellas“).

der spiegel 42/1998 275 Fernsehen

Samstag, 17. Oktober 20.40 – 21.35 UHR ARTE SPIEGEL TV 12.30 – 13.00 UHR ARD Faszination Leben DONNERSTAG Die Bilder Lennart Nilssons, der mit seiner 22.35 – 23.15 UHR VOX Arbeiten bis zum Umfallen Kamera die Entwicklung eines Fötus im „Vier Deutsche – vierzehn Jobs“ nennen Mutterleib verfolgte, sind weltberühmt. SPIEGEL TV EXTRA Dörte Schipper und Gregor Petersen ihre Seit dem ersten Abdruck in der Zeitschrift Die weiße Armee Gottes Reportage im Untertitel. Bei den vier „Life“ sind inzwischen 34 Jahre vergan- Der moderne Ku-Klux-Klan verbrüdert Deutschen handelt es sich nicht um Work- gen. Nilsson ist noch immer von dem The- sich als militante, fanatische, amerika- aholics, sondern um Menschen, die täglich ma fasziniert – und noch immer faszinie- nische Bürgerwehrbewegung mit ob- mehrere Jobs machen müssen, um ihren ren seine Aufnahmen. Wie in dieser preis- skuren religiösen Gemeinden. Lebensstandard halten zu können. gekrönten Dokumentation (1995), die mit tanzenden Spermien an- FREITAG 20.15 – 22.30 UHR fängt und mit der Geburt 22.30 – 23.00 UHR VOX KABEL 1 eines Menschen endet. SPIEGEL TV INTERVIEW Frühstück bei Tiffany 22.35 – 0.15 UHR ARTE Doris Schröder-Köpf Eigentlich sollte Marilyn Die zukünftige „First Lady“ über Eman- Monroe die Hauptrolle in Bunte Hunde zipation, Muster-Ehen und das soziale der US-Komödie (1961, Til Schweiger und Peter Engagement als Kanzlergattin. Regie: Blake Edwards) be- Lohmeyer spielen in dem kommen. Doch der war lakonischen Krimi von 23.00 – 23.50 UHR VOX der Film nicht seriös ge- 1995 (Regie: Lars Becker). nug. Audrey Hepburn war Autoschieber, die nicht cle- SPIEGEL TV THEMA da weniger zimperlich – ver genug sind, sich in der Ein deutsches Wochenende und enorm erfolgreich in Marktwirtschaft zu be- Sie stellen Masse statt Muskeln zur der Rolle des Mädchens haupten. Schau: Sumo-Ringer in Sachsen. aus der Provinz, das sehnsüchtig in die Ausla- 0.10 – 4.40 UHR NORD III SAMSTAG gen der teuren Geschmei- 22.10 – 0.05 UHR VOX de-Schmiede blickt und Kabarett-Nacht dabei eine schicksalhafte Ausschnitte aus Program- SPIEGEL TV SPECIAL Bekanntschaft macht. Für men von Arnulf Rating, Im Reich der Tiefe Henry Mancinis Musik Mathias Richling, Stephan Taucher und Schatzsucher ergründen

und den Song „Moon HIPP-FOTO Wald, Django Asül, Dieter die geheimnisvolle Welt unter Wasser. River“ gab’s zwei Oscars. Gut gefrühstückt: Hepburn Nuhr, Hans Werner Olm. Dokumentation über Menschen auf der Suche nach versunkenen Schätzen.

Sonntag, 18. Oktober ge Pappbrille aufsetzt – in dieser 3D-Pro- SONNTAG duktion quasi aus dem Fernseher purzeln. 22.05 – 22.55 UHR RTL 10.25 – 11.00 UHR ARD Verspricht zumindest Pro Sieben. Schaun mer mal. Siehe auch Seite 253. SPIEGEL TV MAGAZIN Kopfball Aktuelles politisches Magazin Das Ratespiel für Eierköpfe, die auch beim 20.15 – 22.05 UHR RTL Eierköpfen am Frühstückstisch noch 23.05 – 23.35 UHR SAT 1 schlauer werden wollen – sozusagen „Die Merlin Sendung mit der Maus“ (folgt übrigens um Die brandneue amerikanische Produktion SPIEGEL TV REPORTAGE 11.30 Uhr) für Erwachsene. (Regie: Steve Barron), basierend auf der Beruf: Kopfgeldjäger – amerikanische uralten Artus-Sage, glänzt durch Spezial- Hilfssheriffs auf Verbrecherjagd 17.50 – 19.00 UHR PRO SIEBEN effekte und Starbesetzung (Sam Neill, In den USA werden auf flüchtige Straftä- Isabella Rossellini, Miranda Richardson, ter Kopfgeldjäger angesetzt. Udo Mau- Wildlife hautnah Martin Short). 56 Millionen Amerikaner Die Wildtiere der afrikanischen Savannen sahen sich die Erstausstrahlung des 30-Mil- und Regenwälder sollen – so man die nöti- lionen-Dollar-Films im April an. Den zwei- ten Teil (folgt morgen um 20.15 Uhr) woll- ten allerdings nur noch 20,6 Millionen sehen.

20.15 – 22.05 UHR SAT 1 Die Glücksspirale Moderator Kai Pflaume gibt Menschen, die SPIEGEL TV unter Phobien leiden, Geld, wenn sie sich Kopfgeldjäger unter dem Gejohle der Zuschauer mit ihren Ängsten konfrontieren lassen. Je ent- rer hat einen dieser „Bounty Hunter“

U. KLUYVER / AGENTUR FOCUS KLUYVER / AGENTUR U. setzter der Kandidat, desto freudiger das mehrere Wochen lang begleitet. Kilimandscharo Publikum. Schlicht pervers.

276 der spiegel 42/1998 Werbeseite

Werbeseite Hohlspiegel Rückspiegel

Aus einer dpa-Meldung: „Die Leiche auf Zitate Rembrandts Seziergemälde ‚Die Anatomie des Dr. Tulp‘ erstrahlt nach einer kostspie- Horst Tappert in seiner Autobiographie ligen Restaurierung in alter Frische.“ „Derrick und Ich. Meine zwei Leben“:

Als eine Zeitung mich einmal nach einem Weihnachtswunsch fragte, nannte ich die Gesammelten Werke von Knut Hamsun. Daraufhin schrieb mir Rudolf Augstein, er habe das mit Freude zur Kenntnis genom- Aus der „Passauer Neuen Presse“ men, auch er sei ein Hamsun-Verehrer. Un- höflicherweise antwortete ich ihm nicht. Bei einer Nachricht vom SPIEGEL denkt Hinweis in dem soeben erschienenen Buch man immer gleich, die bereiten eine Ent- von Peter Köpf „Der Neue – Gerhard Schrö- hüllungsstory vor. Es stellte sich heraus, der – Deutschlands Hoffnungsträger“: „Pe- daß der Brief wirklich nichts anderes ge- ter Köpf, geboren 1960, ist Politikwissen- wesen war als eine Sympathieerklärung an schaftler, Journalist und Buchautor (und we- Hamsun von einem ebenso begeisterten der verwandt noch verschwägert mit Ger- Mit-Leser. Denen, die meinem literarischen hard Schröders Ehefrau Doris Schröder- Urteil nicht trauen, kann ich also den SPIE- Köpf).“ GEL-Herausgeber getrost als Bürgen nen- nen. Und sagen: Lest mehr Hamsun, er ist es wert.

Die „Berliner Zeitung“ zur spiegel- Berichterstattung über Franz Josef Strauß, der am 3. Oktober 1988 starb:

Der bayerische Ministerpräsident, so dach- ten wir, würde als die Reizfigur schlecht- hin in die Annalen unserer geteilten Re- publik eingehen: von seinen Feinden als Krimineller in Amt und Würden gehaßt, von seinen Freunden als bärbeißiger Kriti- ker gefürchtet, von den Bayern geliebt. Keinem anderen Politiker widmete der SPIEGEL so oft eine Titelgeschichte wie ihm, kein anderer Politiker hat derart vie- le Affären nahezu unbeschadet überstan- den wie er. Nur einmal, 1962, hat er es Aus dem Heimatblatt des Märkischen Krei- übertrieben. Strauß war damals Verteidi- ses „Der Bote“ gungsminister … und ließ Redakteure und den Herausgeber wegen Landesverrats (aufgrund des SPIEGEL-Berichts über Aus der „TV Hören und Sehen“: „Südlich die Bundeswehr „Bedingt abwehrbereit“ der Pyrenäen ist Spanien am schönsten.“ –Red.) festnehmen. Das war zu viel. Strauß mußte gehen.Aber er kam wieder, diesmal als Finanzminister. Er kam auch später immer wieder. Aber die Geschichte hat ihm, der nie einen Hehl daraus machte, daß er Helmut Kohl für einen unbedeu- tenden Politiker der Ära Strauß hielt, übel Aus den „Salzburger Nachrichten“ mitgespielt. Genau zwei Jahre nach seinem Tod wurde Deutschland vereinigt, und Kohl bekam seine Ära. Strauß nur eine Aus der „Hamburger Morgenpost“: „Ein- Gruft in Bayern. fach mal ‚gar nichts tun und keinen Plan haben‘ – Helmut Kohl setzte sich gestern Die „Süddeutsche Zeitung“ zum mit der Zukunft als ‚einfacher Abgeordne- Prozeß gegen die mutmaßliche Terrori- ter‘ auseinander.“ stenhelferin Monika Haas:

Zwölf Jahre lebte Monika Haas unbehelligt Aus der „Chiemgau-Zeitung“ über die Fei- in Frankfurt. Erst als zwei SPIEGEL-Be- erlichkeiten am 3. Oktober in Hannover richte Anfang 1992 sie unter Berufung auf und Gerhard Schröders Würdigung des ein Dossier des ehemaligen Ministeriums Kanzlers der Einheit: „Die Tränen traten für Staatssicherheit (MfS) mit der Lands- Helmut Kohl bei diesem Lob aus dem hut-Entführung in Verbindung brachten, Munde des Konkurrenten in die Augen.“ wurden die Strafverfolger aktiv.

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