Auswege ins Exil Drei Perspektiven Wer die Geschichte von Flucht und Das Schicksal europäischer Künst- Vertreibung der europäischen Kul- ler und Literaten, die sich vor den tur- und Kunst-Prominenz aus dem Nazis zunächst im Süden Frank- Herrschaftsbereich der Nazis nach- reichs in Sicherheit brachten, erleben will, gut tut daran, sich dann, nach Kriegsbeginn, inter- nicht auf eine Quelle zu verlassen. niert wurden und später, als das Obwohl die Literatur zu dem The- Land von Deutschen und ihren ma kaum mehr zu überblicken ist, willfährigen Helfern in Vichy kon- gibt es immer wieder Versuche, es trolliert war, Auswege ins ausser- neu zu behandeln: zum Beispiel in europäische Exil suchten, ist so Ausstellungen, im Roman oder an- gut dokumentiert wie wenige hand von Selbstzeugnissen. Ruth Themen der jüngeren Historie. Werfel nutzte für eine Ausstellung Gleichwohl bleiben die Fluchtge- gesammelte Dokumente sowie schichten der Geistes-Prominenz Kontakte zu einschlägig engagier- Dauerbrenner und Mitleids-Mo- ten Forschenden zur Herausgabe tor. eines Sammelbandes, dessen reis- serischer Titel den Inhalt allerdings Mit grundsätzlich Neuem ist nicht nur unvollkommen widerspiegelt. zu rechnen, wenn vom Warten In Michael Lentz hilft mit seinem , vom Bangen in Cerbère, ebenso phantasievollen wie histo- vom Leiden in den Lagern von risch genauen Roman, ein be- Gurs oder Les Milles berichtet wird. klemmendes Stück Vergangenheit Auch das Personal ist immer das- im Kopfkino der Lesenden leben- selbe: Alle, die im deutschen Geis- dig zu machen. Und schon 1998 tesleben Rang und Namen hatten zeigte Marcus G. Patka mit seiner und einige prominente Franzosen nach wie vor gültigen Bilder-Bio- dazu. Gleichwohl ist es verdienst- gra"e über Egon Erwin Kisch, wie voll, wenn Autorinnen und Autoren gut es durch kluge Auswahl von versuchen, dem bereits gut doku- Texten und Dokumenten gelingt, mentierten Drama zusätzliche Sei- aus prominenten Namen Men- ten abzugewinnen und das bekannte Materi- schen aus Fleisch und Blut zu pro"lieren. al für neue Lesende umzugruppieren. Ruth Werfel (Hrsg.): Gehetzt. Südfrankreich 1940. Deutsche Literaten im Exil. Zürich Ruth Werfel hat sich, wohl auch aus familiärer 2007 (Verlag NZZ). Betroffenheit, diese Aufgabe anlässlich eines Ausstellungsprojekts in Zürich (2004, Zentral- Michael Lentz: Pazi"k Exil, Roman. Frankfurt/ bibliothek) und Basel (2007, Universitätsbibli- Main 2007 (S. Fischer). othek) gestellt und das reiche Material nun, Marcus G. Patka (Hrsg.): Der rasende Repor- zusammen mit einigen Aufsätzen, in Buch- ter Egon Erwin Kisch. Eine Biogra"e in Bil- form veröffentlicht. Es fällt nicht leicht, das dern. 1998 (Aufbau-Verlag). Anliegen zu loben, ohne gleichzeitig die Schwächen der Publikation zu kritisieren. Flüchtlinge. Die Informativen Bildtexte ver- Positiv ist, wie gesagt, das reichhaltige Bild– mitteln einen lebendigen Eindruck von der und Dokumenten-Material, das in dem Band täglichen Ungewissheit und der verzweifel- versammelt ist: Pressebilder aus dem besetz- ten Lage der Flüchtenden. ten Frankreich, Plakate, Buchumschläge, Kari- katuren, Briefe, Formulare und dazu Porträts Auch einzelne Textbeiträge bieten aufschluss- und Gelegenheitsbilder der prominenten reiche Einzelheiten, zum Beispiel ein Aufsatz !!!!!!! Auswege ins Exil!! ! ! 2 über die zahlreichen Hilfswerke, die sich der und Autoren. Ein wahres Wunderkind! Denn Emigranten annahmen, oder eine Arbeit über schon im zarten Alter von drei Jahren, 1966, das Lager Les Milles, das in fast allen Selbst- erschien ihre Abhandlung über die «Unsägli- zeugnissen später Geretteter eine prominen- che Lust des Schauens», wie am gleichen Ort te Rolle spielt. zu erfahren ist..

Leider macht die Auswahl der Essays kein Gewiss, alle Büchermacher wissen, dass sie schlüssiges Konzept sichtbar. Übersichtsbe- vom Druckfehler-Teufel verfolgt werden. Soll richte («Zur Situation des deutschsprachigen man deswegen gnädig darüber hinwegse- Exils in Frankreich 1940«) stehen neben Er- hen? Damit noch weniger in sorgfältiges Lek- wägungen zu speziellen Fragestellungen torieren und Korrigieren investiert wird und («Wer wird uns verlegen?»), als ob sie nur da- dass die heute übliche Schlampigkeit von Au- zu dienten, die Ausstellungs-Stücke mit Ge- toren und Herausgeberinnen nicht mehr vor schriebenem zu umgeben. Klar, dass dabei allem in der «Print-on-demand»-Produktion, Überschneidungen und Doubletten nicht zu sondern auch in Büchern renommierter Ver- vermeiden sind, zumal die Herausgeberin lage zum Alltäglichen gehört? Es ist schon den Autorinnen und Autoren offensichtlich erstaunlich, wie sehr die Einsicht an Boden völlig freie Hand gelassen hat. verliert, dass vereinzelte Fehlinformationen schnell ein ganzes Buch unglaubwürdig ma- Nicht überraschend, dass das Jekami durch chen. Wo Namen falsch geschrieben und Da- die Abwesenheit eines professionellen Lekto- ten falsch angegeben werden, geht das Ver- rats zusätzlich handicapiert wurde. Es ist un- trauen in alle übrigen Fakten #öten. übersehbar, dass einige der Schreibenden die deutsche Sprache nur ungenügend beherr- Da hat es ein Schriftsteller, der sich mit den- schen. Aber weit ärgerlicher sind die zahlrei- selben historischen Vorgängen befasst, natür- chen sachlichen Fehler. Vier Beispiele: Der lich einfacher. Michael Lentz beschreibt zu deutsche Journalist Berthold Jacob, der 1935, Beginn seines Romans «Pazi"k Exil» dasselbe nach seiner Entführung durch -Agen- Personal, das uns in Ruth Werfels Exponaten ten aus Basel und die darauf folgende diplo- entgegen tritt, und kompiliert aus Berichten, matische Kontroverse mit dem Dritten Reich Selbstzeugnissen und eigener Phantasie sei- zur wichtigen Person der Schweizer Geschich- ne Fluchtgeschichten. Wir erleben aus den te wurde, scheint einmal mit korrektem Na- unterschiedlichen Perspektiven die gleichzei- men und einmal mit falschem (als Jacob tig sowohl groteske als auch qualvolle Über- Berthold) auf. Und der 1908 als Sohn eines querung der Pyrenäen durch die Ehepaare tschechischen Vaters in Wien geborene, aber Heinrich und Nelly Mann sowie Franz und seit 1921 in Prag lebende Friedrich Torberg ist Alma Werfel, organisiert vom unermüdlichen zwar in tschechoslowakischer Uniform abge- amerikanischen Fluchthelfer und bildet, aber gleich daneben als «österreichi- begleitet vom jungen Golo Mann. Im literari- scher Schriftsteller» bezeichnet. Opfer editori- schen Text kommt – stärker als in den papie- scher Nonchalance ist auch der Literat Her- renen Dokumenten und sogar eindringlicher mann Kesten. Sowohl sein Todesjahr, als auch als in den Briefen der Flüchtenden – zum sein Todesalter stimmen nicht. Geboren 1900 Ausdruck, wie tief verstörend und kränkend starb er 1996 in Basel – nicht 1984 und nicht sich die Flucht auf diese Menschen auswirkte: 90-jährig, wie im Buch behauptet. Finanziell privilegiert und gesellschaftlich verwöhnt, waren sie im fremden Land plötz- Dass nicht nur weit zurückliegende, sondern lich gewöhnliche Bittsteller, die auf Wohlwol- auch aktuelle Fakten dem Schlendrian zum len und Mitgefühl von «kleinen Leuten» an- Opfer fallen, ist ein kleiner Trost: Claudia Öhl- gewiesen waren. Die Flucht bedeutete für sie schläger, Verfasserin von «Re#exionen zur nicht bloss den Verlust der selbst gewählten Psychologie des Exils» und Professorin für und selbst gestalteten Lebensumstände, Komparatistik in Paderborn, sei 1963 gebo- sondern auch der ganzen kulturellen ren, heisst es im Verzeichnis der Autorinnen Orientierung; Sie waren nicht nur bloss DPs !!!!!!! Auswege ins Exil!! ! ! 3 (displaced persons), sondern UPs (uprooted eine Mission, wie die Dokumente belegen, persons) – Entwurzelte. die zum Beispiel Marcus G. Patka in seiner Bil- der-Biographie »Der rasende Reporter Egon Wie hilfreich in einer solchen Situation eine Erwin Kisch» zusammen getragen hat. Sie feste politische Orientierung sein kann, zeig- gründeten einen Exil-Verlag, sie schrieben ten die kommunistischen Exilanten, von de- Romane, verfassten politische Kampfschriften nen sich die meisten in Mexiko wiederfanden. und p#egten enge Kontakte zu den einheimi- Anna Seghers und ihre Familie gehörten schen Intellektuellen – alles Dinge, die den ebenso dazu wie Egon Erwin Kisch und ande- «Kaliforniern» fern lagen und deshalb versagt re Linke aus Deutschland und der Tschecho- blieben. slowakei. «Das Salz der Erde hatte sich in Me- xiko versammelt», erinnerte sich der chileni- sche Dichter und Antifaschist Pablo Neruda in seinen Memoiren. Die ge#üchteten Intel- lektuellen verfügten dort zwar über weniger Mittel als die Emigranten-Kollegen in Kalifor- © Jürg Bürgi 2008 nien, und sie lebten in einer weit ärmlicheren Abdruck honorarp#ichtig Umgebung, doch hatten sie von Anfang an http://www.juerg-buergi.ch