Plenarprotokoll 19/143

Deutscher

Stenografischer Bericht

143. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- Zusatzpunkt 4: neten Dr. ...... 17841 A Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Wahl des Abgeordneten als schusses für Wirtschaft und Energie zu dem Schriftführer ...... 17841 A Antrag der Abgeordneten Katharina Dröge, Absetzung der Tagesordnungspunkte 17, 21 d , , weiterer Abge- und 9 ...... 17841 B ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wirtschaft zukunftsfähig auf- stellen Drucksachen 19/14825, 19/16905 Buchstabe b 17842 A , Bundesminister BMWi ...... 17842 A Tagesordnungspunkt 8: (AfD) ...... 17844 C a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister für Wirtschaft und Sören Bartol (SPD) ...... 17845 C Energie zum Jahreswirtschaftsbericht (FDP) ...... 17846 B 2020 Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU) ...... 17847 B b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: (DIE LINKE) ...... 17849 A Jahreswirtschaftsbericht 2020 der Bun- Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/ desregierung DIE GRÜNEN) ...... 17850 C Drucksache 19/16850 ...... 17841 C (SPD) ...... 17851 B c) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Leif-Erik Holm (AfD) ...... 17852 B Jahresgutachten 2019/20 des Sachvers- tändigenrates zur Begutachtung der Dr. (CDU/CSU) ...... 17853 B gesamtwirtschaftlichen Entwicklung – (FDP) ...... 17854 C Den Strukturwandel meistern Drucksache 19/15050 ...... 17841 D Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 17855 B d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie (SPD) ...... 17856 A zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Dr. (CDU/CSU) ...... 17856 D Theurer, Christian Dürr, Grigorios (SPD) ...... 17858 A Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Tempo für Deutsch- land Drucksachen 19/14781, 19/16905 Buch- Zusatzpunkt 13: stabe a ...... 17842 A a) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität in Verbindung mit und Geschäftsordnung: Antrag auf Ge- II Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

nehmigung zum Vollzug gerichtlicher Tagesordnungspunkt 10: Durchsuchungs- und Beschlagnahmebe- a) – Zweite und dritte Beratung des von der schlüsse Bundesregierung eingebrachten Ent- Drucksache 19/16920 ...... 17859 B wurfs eines Dritten Gesetzes zur Än- b) Beratung der Beschlussempfehlung des derung des Gemeindeverkehrsfinan- Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität zierungsgesetzes und Geschäftsordnung: Antrag auf Ge- Drucksachen 19/15621, 19/16404, nehmigung zum Vollzug gerichtlicher 19/16578 Nr. 1.11, 19/16908 ...... 17876 B Durchsuchungs- und Beschlagnahmebe- – Bericht des Haushaltsausschusses ge- schlüsse mäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 19/16921 ...... 17859 B Drucksache 19/16914 ...... 17876 C b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten , Matthias Zusatzpunkt 11: Gastel, Stephan Kühn (Dresden), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND- Antrag der Abgeordneten , NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten , , weite- Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Änderung des Gemeindeverkehrsfinan- Für ein Recht auf Anonymität im öffentli- zierungsgesetzes (1. VerkehrswendeG- chen Raum – Keine automatisierte Ge- ÄndG-GVFG) sichtserkennung durch die Bundespolizei Drucksachen 19/2695, 19/16908 ...... 17876 C Drucksache 19/16862 ...... 17859 C , Bundesminister BMVI . . . . . 17876 D in Verbindung mit (AfD) ...... 17878 A Sören Bartol (SPD) ...... 17879 A Stefan Gelbhaar (BÜNDNIS 90/ Zusatzpunkt 12: DIE GRÜNEN) ...... 17879 C Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von (FDP) ...... 17880 D Notz, Dr. , Tabea Rößner, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE) . . . 17881 B NIS 90/DIE GRÜNEN: Freiheit und Rechts- Andreas Wagner (DIE LINKE) ...... 17882 A staatlichkeit erhalten – Kein Einsatz Stefan Gelbhaar (BÜNDNIS 90/ biometrischer Gesichtserkennung in öffent- DIE GRÜNEN) ...... 17882 C lichen Räumen Drucksache 19/16885 ...... 17859 D (CDU/CSU) ...... 17883 B Konstantin Kuhle (FDP) ...... 17859 D Detlef Müller (Chemnitz) (SPD) ...... 17884 B (CDU/CSU) ...... 17861 A Manuel Höferlin (FDP) ...... 17861 D Zusatzpunkt 5: Anke Domscheit-Berg (DIE LINKE) ...... 17862 D Antrag der Abgeordneten , Dr. , , Roman Johannes Reusch (AfD) ...... 17863 C weiterer Abgeordneter und der Fraktion (SPD) ...... 17864 B BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verantwor- tung übernehmen – Einbürgerungsan- Dr. André Hahn (DIE LINKE) ...... 17865 A spruch für Nachfahren der Verfolgten des Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ NS-Regimes DIE GRÜNEN) ...... 17866 B Drucksache 19/16846 ...... 17885 B Dr. (CDU/CSU) ...... 17867 C in Verbindung mit (AfD) ...... 17869 D Uli Grötsch (SPD) ...... 17870 D Tagesordnungspunkt 11: (FDP) ...... 17871 D a) – Zweite und dritte Beratung des von den (CDU/CSU) ...... 17872 C Abgeordneten , Dr. André Hahn, Gökay Akbulut, weiteren Abge- Manuel Höferlin (FDP) ...... 17873 D ordneten und der Fraktion DIE LINKE Christoph de Vries (CDU/CSU) ...... 17874 A eingebrachten Entwurfs eines … Geset- zes zur Änderung des Staatsangehö- Dr. Jens Zimmermann (SPD) ...... 17874 B rigkeitsgesetzes (CDU/CSU) ...... 17875 A Drucksachen 19/13505, 19/16542 ...... 17885 C Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 III

– Zweite und dritte Beratung des von den e) Antrag der Abgeordneten Lorenz Gösta Abgeordneten Filiz Polat, Dr. Konstantin Beutin, , Dr. Gesine Lötzsch, von Notz, Luise Amtsberg, weiteren Ab- weiterer Abgeordneter und der Fraktion geordneten und der Fraktion BÜND- DIE LINKE: Strukturstärkungsgesetz NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Kohleregionen zukunftsfähig machen Entwurfs eines Gesetzes zur Wieder- Drucksache 19/16845 ...... 17899 A gutmachung im Staatsangehörigkeits- recht in Verbindung mit Drucksachen 19/12200, 19/16542 ...... 17885 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Zusatzpunkt 6: Ausschusses für Inneres und Heimat zu dem Antrag der Abgeordneten Stephan a) Antrag der Abgeordneten , Thomae, Konstantin Kuhle, Grigorios , Grigorios Aggelidis, weiterer Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Fraktion der FDP: Einbürgerung von im Die Blackbox-Clubszene – Kreativ und Nationalsozialismus Verfolgten und de- wirtschaftlich ren Nachfahren umfassend und klar ge- Drucksache 19/16833 ...... 17899 B setzlich regeln b) Antrag der Abgeordneten , Drucksachen 19/14063, 19/16542 ...... 17885 C , , weiterer Ab- Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ geordneter und der Fraktion der FDP: DIE GRÜNEN) ...... 17885 D Elektronische Tanz- und Clubkultur als immaterielles Kulturerbe unterstüt- Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU) ...... 17887 B zen Dr. Christian Wirth (AfD) ...... 17888 B Drucksache 19/16832 ...... 17899 B c) Antrag der Abgeordneten Konstantin (SPD) ...... 17889 D Kuhle, Stephan Thomae, Grigorios Stephan Thomae (FDP) ...... 17890 D Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Bürgerrechte und Si- Ulla Jelpke (DIE LINKE) ...... 17891 C cherheit schützen – Für einen wirksa- Michael Kuffer (CDU/CSU) ...... 17892 C men Verfassungsschutz Drucksache 19/16875 ...... 17899 C Dr. (SPD) ...... 17893 B d) Antrag der Abgeordneten Otto Fricke, Axel Müller (CDU/CSU) ...... 17894 D Christian Dürr, Grigorios Aggelidis, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der Sandra Bubendorfer-Licht (FDP) ...... 17895 D FDP: Schuldenbremse und Investitionen (CDU/CSU) ...... 17896 C nicht gegeneinander ausspielen – Ausga- beprioritäten setzen statt Schulden- bremse verletzen Drucksache 19/16831 ...... 17899 C Tagesordnungspunkt 26: e) Antrag der Abgeordneten Sven-Christian Kindler, Anja Hajduk, Ekin Deligöz, wei- a) Erste Beratung des von der Bundesregie- terer Abgeordneter und der Fraktion rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: In die Zu- zes zur Änderung des EG-Verbraucher- kunft investieren – Kreditspielräume schutzdurchsetzungsgesetzes sowie des nutzen und erweitern Gesetzes über die Errichtung des Bun- Drucksache 19/16841 ...... 17899 C desamts für Justiz Drucksache 19/16781 ...... 17898 D f) Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Maria Klein-Schmeink, c) Antrag der Abgeordneten Dr. Götz Filiz Polat, weiterer Abgeordneter und Frömming, Nicole Höchst, Dr. Marc der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Jongen, weiterer Abgeordneter und der NEN: Hohe Versorgungsqualität in der Fraktion der AfD: Aufstiegsfortbildung Einwanderungsgesellschaft sicherstel- praxisnah und umsetzbar fördern len, interkulturelle Öffnung im Gesund- Drucksache 19/16859 ...... 17899 A heitswesen fördern d) Antrag der Abgeordneten Peter Drucksache 19/16844 ...... 17899 D Boehringer, Marcus Bühl, Martin g) Antrag der Abgeordneten Agnieszka Hohmann, weiterer Abgeordneter und der Brugger, , Dr. Tobias Fraktion der AfD: Sinnvolle Investitionen Lindner, weiterer Abgeordneter und der für Deutschland ohne neue Schulden Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Drucksache 19/16860 ...... 17899 A Im Konflikt zwischen den USA und Iran IV Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

auf Deeskalation setzen, Krisendiploma- (BÜNDNIS 90/ tie verstärken und Bundeswehr aus dem DIE GRÜNEN) ...... 17906 D Irak abziehen Michael Donth (CDU/CSU) ...... 17907 C Drucksache 19/16847 ...... 17899 D -Emre (SPD) ...... 17908 B in Verbindung mit

Tagesordnungspunkt 13: Tagesordnungspunkt 26: a) Antrag der Abgeordneten Beatrix von b) Antrag der Abgeordneten , Storch, Jürgen Braun, , weite- , Jürgen Pohl, weiterer Abgeord- rer Abgeordneter und der Fraktion der neter und der Fraktion der AfD: Diskrimi- AfD: Das Verhältnis zwischen der EU nierung der Pflegekinder abschaffen und Israel verbessern Drucksache 19/16858 ...... 17900 A Drucksache 19/16855 ...... 17909 B b) Antrag der Abgeordneten Roman Johannes Tagesordnungspunkt 27: Reusch, Tobias Matthias Peterka, , weiterer Abgeordneter und der a) Beschlussempfehlung und Bericht des Fraktion der AfD: Maßnahmen gegen Ausschusses für Umwelt, Naturschutz die Diskriminierung von israelischen und nukleare Sicherheit zu dem Antrag Staatsangehörigen der Abgeordneten , Lisa Drucksache 19/16856 ...... 17909 B Badum, Dr. Bettina Hoffmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- (AfD) ...... 17909 C NIS 90/DIE GRÜNEN: 30 Jahre Grünes (CDU/CSU) ...... 17910 C Band Alexander Graf Lambsdorff (FDP) ...... 17911 C Drucksachen 19/14382, 19/15951 ...... 17900 B Dr. Barbara Hendricks (SPD) ...... 17912 B b) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucher- Dr. André Hahn (DIE LINKE) ...... 17913 D schutz: Übersicht 7 – über die dem Deut- Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ schen Bundestag zugeleiteten Streitsa- DIE GRÜNEN) ...... 17914 D chen vor dem Bundesverfassungsgericht Drucksache 19/16866 ...... 17900 C (AfD) ...... 17915 D c)–p) Beratung der Beschlussempfehlungen Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ des Petitionsausschusses: Sammelüber- DIE GRÜNEN) ...... 17916 C sichten 459, 460, 461, 462, 463, 464, Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU) ...... 17916 D 465, 466, 467, 468, 469, 470, 471 und 472 zu Petitionen Drucksachen 19/16526, 19/16527, 19/16528, 19/16529, 19/16530, 19/16531, Tagesordnungspunkt 14: 19/16532, 19/16533, 19/16534, 19/16535, a) – Zweite und dritte Beratung des von den 19/16536, 19/16537, 19/16538, 19/16539 . 17900 D Fraktionen der CDU/CSU und SPD ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung der Deutschen Stiftung Tagesordnungspunkt 12: für Engagement und Ehrenamt – Zweite und dritte Beratung des von der Drucksache 19/14336 ...... 17917 D Bundesregierung eingebrachten Entwurfs – Zweite und dritte Beratung des von der eines Fünften Gesetzes zur Änderung Bundesregierung eingebrachten Ent- des Regionalisierungsgesetzes wurfs eines Gesetzes zur Errichtung Drucksachen 19/15622, 19/16402, der Deutschen Stiftung für Engage- 19/16578 Nr. 1.9, 19/16909 ...... 17902 B ment und Ehrenamt – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß Drucksachen 19/14977, 19/15660, § 96 der Geschäftsordnung 19/15933 Nr. 5, 19/16916 ...... 17918 A Drucksache 19/16915 ...... 17902 B – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung Andreas Scheuer, Bundesminister BMVI . . . . . 17902 C Drucksache 19/16917 ...... 17918 A Wolfgang Wiehle (AfD) ...... 17903 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Detlef Müller (Chemnitz) (SPD) ...... 17904 C Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Abgeordne- Torsten Herbst (FDP) ...... 17905 C ten , Mariana Iris Harder- (DIE LINKE) ...... 17906 A Kühnel, Nicole Höchst, weiterer Abgeord- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 V

neter und der Fraktion der AfD: Stärkung Tagesordnungspunkt 16: des Ehrenamtes – Ausbau der Ehren- Antrag der Abgeordneten , amtskarte Caren Lay, , weiterer Abgeord- Drucksachen 19/14346, 19/16916 ...... 17918 A neter und der Fraktion DIE LINKE: Kleinge- werbe und soziale Einrichtungen vor Mie- in Verbindung mit tenexplosion und Verdrängung schützen Drucksache 19/16837 ...... 17940 C Pascal Meiser (DIE LINKE) ...... 17940 C Zusatzpunkt 8: Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) ...... 17941 C Antrag der Abgeordneten Grigorios Aggelidis, (AfD) ...... 17943 B , , weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP: Engage- Michael Groß (SPD) ...... 17944 B ment- und Ehrenamts-Check (FDP) ...... 17945 A Drucksache 19/16654 ...... 17918 B (BÜNDNIS 90/ Dr. Franziska Giffey, Bundesministerin DIE GRÜNEN) ...... 17945 D BMFSFJ ...... 17918 B (CDU/CSU) ...... 17946 C Nicole Höchst (AfD) ...... 17919 B (SPD) ...... 17947 D Nadine Schön (CDU/CSU) ...... 17920 B Grigorios Aggelidis (FDP) ...... 17921 A Tagesordnungspunkt 18: (DIE LINKE) ...... 17921 D Antrag der Abgeordneten , Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/ , Jürgen Braun, weiterer Ab- DIE GRÜNEN) ...... 17922 C geordneter und der Fraktion der AfD zur (SPD) ...... 17923 A Richtlinie (EU) 2019/1937 des Europä- ischen Parlaments und des Rates vom (CDU/CSU) ...... 17923 D 23. Oktober 2019 zum Schutz von Personen, Grigorios Aggelidis (FDP) ...... 17924 C die Verstöße gegen das Unionsrecht melden (CDU/CSU) ...... 17925 B KOM(2018) 218 endg.; Ratsdok. 8713/18 hier: Erhebung einer Subsidiaritätsklage ge- Namentliche Abstimmungen ...... 17926 B, 17926 D mäß Artikel 8 des Protokolls Nummer 2 zum Vertrag von Lissabon (Anwen- Ergebnisse ...... 17929 C, 17932 B dung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit) i. V. m. Artikel 263 des Vertrages über die Ar- beitsweise der Europäischen Union, Ar- Tagesordnungspunkt 15: tikel 23 Absatz 1a des Grundgesetzes, Zweite und dritte Beratung des von der Bun- § 12 des Integrationsverantwortungsge- desregierung eingebrachten Entwurfs eines setzes: Verstoß der Richtlinie des Gesetzes zur beschleunigten Beschaffung Europäischen Parlaments und des im Bereich der Verteidigung und Sicherheit Rates gegen das Subsidiaritätsprin- und zur Optimierung der Vergabestatistik zip, das Verhältnismäßigkeitsprinzip Drucksachen 19/15603, 19/16342, 19/16578 und das Prinzip der begrenzten Ein- Nr. 1.8, 19/16902 ...... 17927 A zelermächtigung Drucksache 19/16857 ...... 17948 D (CDU/CSU) ...... 17927 A Corinna Miazga (AfD) ...... 17949 A Rüdiger Lucassen (AfD) ...... 17927 D Dr. (CDU/CSU) ...... 17950 A (SPD) ...... 17928 C Tobias Matthias Peterka (AfD) ...... 17951 B Alexander Müller (FDP) ...... 17935 B Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU) ...... 17951 D Tobias Pflüger (DIE LINKE) ...... 17936 B Dr. Jürgen Martens (FDP) ...... 17952 A Dr. (BÜNDNIS 90/ Corinna Miazga (AfD) ...... 17952 C DIE GRÜNEN) ...... 17936 D (SPD) ...... 17953 A (CDU/CSU) ...... 17937 C (DIE LINKE) ...... 17954 B Alexander Graf Lambsdorff (FDP) ...... 17938 A Dr. (BÜNDNIS 90/ (SPD) ...... 17939 A DIE GRÜNEN) ...... 17955 A (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . 17939 B Alexander Hoffmann (CDU/CSU) ...... 17956 A VI Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Namentliche Abstimmung ...... 17957 A (Heidelberg) (SPD) ...... 17968 A

Ergebnis ...... 17960 C Nächste Sitzung ...... 17969 C

Tagesordnungspunkt 19: Anlage 1 a) Antrag der Abgeordneten Bettina Stark- Watzinger, Christian Dürr, Dr. Florian Entschuldigte Abgeordnete ...... 17971 A Toncar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Aktiensteuer darf nicht die Falschen treffen – Kleinanle- Anlage 2 ger, Realwirtschaft und Vorsorgesparer Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Drucksache 19/16754 ...... 17957 A Dr. André Hahn (DIE LINKE) zu der Abstim- b) Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- mung über die Beschlussempfehlung des Peti- nanzausschusses zu dem Antrag der Abge- tionsausschusses: Sammelübersicht 460 zu ordneten Jörg Cezanne, Fabio De Masi, Petitionen (Lärmschutz an Schienenwegen) Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und (Tagesordnungspunkt 27 d) ...... 17971 C der Fraktion DIE LINKE: Europäische Finanztransaktionsteuer vorantreiben und nationale Einführung vorbereiten Anlage 3 Drucksachen 19/4886, 19/16910 ...... 17957 B Erklärungen nach § 31 GO zu der namentli- Bettina Stark-Watzinger (FDP) ...... 17957 C chen Abstimmung über den von den Fraktio- (CDU/CSU) ...... 17958 B nen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung der Dr. (AfD) ...... 17963 A Deutschen Stiftung für Engagement und Eh- (SPD) ...... 17964 A renamt (Tagesordnungspunkt 14 a) ...... 17971 B Jörg Cezanne (DIE LINKE) ...... 17965 A (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . 17966 A (CDU/CSU) ...... 17971 B Dr. h. c. (Univ Kyiv) (CDU/CSU) ...... 17971 B (CDU/CSU) ...... 17966 D (CDU/CSU): ...... 17971 D Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17841

(A) (C)

143. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: b) Beratung der Unterrichtung durch die Bun- Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bitte desregierung nehmen Sie Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Jahreswirtschaftsbericht 2020 der Bun- Vor Eintritt in die Tagesordnung gratuliere ich nach- desregierung träglich dem Kollegen Dr. Edgar Franke zu seinem Drucksache 19/16850 60. Geburtstag. Alle guten Wünsche im Namen des gan- zen Hauses! Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) (Beifall) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Ausschuss für Gesundheit Dann müssen wir noch einen Schriftführer wählen. Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Auf Vorschlag der Fraktion der FDP soll der Kollege Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (B) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- (D) Peter Heidt für den Kollegen Alexander Müller als lung Schriftführer gewählt werden. Sind Sie damit einver- Ausschuss für Tourismus standen? – Das ist offenbar der Fall. Dann ist der Kollege Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss Digitale Agenda Heidt als Schriftführer gewählt. Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen Haushaltsausschuss Die Tagesordnungspunkte 17 und 21 d sollen abgesetzt werden. c) Beratung der Unterrichtung durch die Bun- desregierung Ebenso soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung der Tagesordnungspunkt 9 abgesetzt und stattdessen der Jahresgutachten 2019/20 des Sachverstän- Antrag auf der Drucksache 19/16862 mit dem Titel „Für digenrates zur Begutachtung der gesamt- ein Recht auf Anonymität im öffentlichen Raum – Keine wirtschaftlichen Entwicklung automatisierte Gesichtserkennung durch die Bundespoli- Den Strukturwandel meistern zei“ in verbundener Beratung mit dem Antrag auf der Drucksache 19/16885 mit dem Titel „Freiheit und Drucksache 19/15050 Rechtsstaatlichkeit erhalten – Kein Einsatz biometrischer Überweisungsvorschlag: Gesichtserkennung in öffentlichen Räumen“ mit einer Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Debattenzeit von 60 Minuten debattiert werden. Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Die Aktuelle Stunde mit dem Titel „Unklare Haltung Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur der Bundesregierung bei der automatisierten Gesichtser- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit kennung im öffentlichen Raum“ entfällt. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- lung Ausschuss für Tourismus Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ausschuss Digitale Agenda Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 d und den Haushaltsausschuss Zusatzpunkt 4 auf: d) Beratung der Beschlussempfehlung und des 8 a) Abgabe einer Regierungserklärung durch Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und den Bundesminister für Wirtschaft und Ener- Energie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der gie Abgeordneten Michael Theurer, Christian Dürr, Grigorios Aggelidis, weiterer Abge- zum Jahreswirtschaftsbericht 2020 ordneter und der Fraktion der FDP 17842 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) Tempo für Deutschland chen in einem wirtschaftlichen Aufschwung. Es ist der (C) längste Aufschwung seit der Wiedervereinigung und da- Drucksachen 19/14781, 19/16905 Buch- rüber hinaus der längste Aufschwung seit 1966, also seit stabe a mehr als einem halben Jahrhundert. In dieser Zeit sind der ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Wohlstand und die wirtschaftliche Stärke unseres Landes richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener- gewachsen, Löhne und Renten sind in den letzten Jahren gie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord- deutlich gestiegen, die öffentlichen Finanzen wurden neten Katharina Dröge, Dieter Janecek, Anja konsolidiert. Die Spielräume für Zukunftsinvestitionen Hajduk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion in Bildung, in Forschung, in Gesundheit, in Umwelt- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und in Klimaschutz sind gleichwohl deutlich gewachsen. Kaum ein anderes großes Land in Europa kann auf eine Wirtschaft zukunftsfähig aufstellen ähnliche Erfolgsgeschichte zurückblicken. Drucksachen 19/14825, 19/16905 Buchstabe b Dass dieser Erfolg möglich war und ist, verdanken wir Für die Aussprache im Anschluss an die Regierungs- den hart arbeitenden Beschäftigten in über 45 Millionen erklärung wurde eine Dauer von 60 Minuten beschlossen. Beschäftigungsverhältnissen. Wir verdanken es Millio- nen von Unternehmerinnen und Unternehmern, Selbst- Damit hat das Wort zur Abgabe einer Regierungser- ständigen, Handwerkern, Mittelständlern, Hidden Cham- klärung der Bundesminister für Wirtschaft und Energie, pions, die trotz mancher Hindernisse und trotz mancher Peter Altmaier. Probleme mit Bürokratie diese beispiellose Erfolgsge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- schichte ermöglicht haben und immer noch ermöglichen. ordneten der SPD) Dafür ein herzliches Dankeschön im Namen der Bundes- regierung und hoffentlich auch im Namen des gesamten Peter Altmaier, Bundesminister für Wirtschaft und Hauses! Energie: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- bei Abgeordneten der FDP) ren! Die Bundesregierung, vertreten durch die Bundes- kanzlerin, den Vizekanzler und die sie tragenden Fraktio- Meine sehr verehrten Damen und Herren, die deutsche nen und Parteien, hat heute Nacht vereinbart, dass – Wirtschaft ist auch im letzten Jahr gewachsen, sonst wä- erstmals überhaupt – die Abschreibung digitaler Wirt- ren wir ja nicht im Aufschwung geblieben. Sie ist um schaftsgüter erleichtert werden soll, um auf diese Art 0,6 Prozent gewachsen, also etwas stärker als erwartet, und Weise die Transformation im digitalen Bereich, den (B) aber – das ist auch unsere Auffassung – nicht stark genug. (D) Übergang zur Industrie 4.0, und die künstliche Intelligenz Wir haben es mit einer teilweise gespaltenen konjunktur- zu fördern. Das ist ein wichtiger Schritt, der dazu bei- ellen Entwicklung zu tun: In der Binnennachfrage, im tragen kann, eine neue Innovationsdynamik auszulösen. Baugewerbe, bei vielen Handwerksbetrieben, bei den Dienstleistungen gibt es nach wie vor eindrucksvolle (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wachstumszahlen, bei der exportorientierten Industrie Wir haben gleichzeitig beschlossen, dass wir bis zum dagegen haben wir zum Teil große Probleme. Deshalb nächsten Treffen eine Lösung erarbeiten wollen, wie Per- ist es wichtig, dass die wirtschaftliche Entwicklung wie- sonengesellschaften bei der Besteuerung mit Kapitalge- der Fahrt aufnimmt. Wir erwarten ein Wirtschaftswachs- sellschaften gleichgestellt werden können. Auch das ist tum von 1,1 Prozent im laufenden Jahr und 1,3 Prozent ein wichtiges Zeichen insbesondere an mittelständische im nächsten Jahr. Damit liegen wir auf einer Linie mit den Unternehmen, dass wir ihre Arbeitsbedingungen, dass Wirtschaftsforschungsinstituten; wir liegen, was die wir ihre Wettbewerbsfähigkeit stärken wollen. Prognose für 2021 angeht, sogar am unteren Rand. Wir haben schließlich drittens – aber nicht als Letztes – Wir haben also eine große Chance, dass die wirtschaft- auch vor dem Hintergrund des Transformationsprozesses liche Dynamik wieder an Fahrt gewinnt und dass die in der Automobilindustrie bei den Zulieferern, die mittel- Phase des eher niedrigen Wachstums überwunden wer- ständisch geprägt sind, beschlossen, dass wir diesen den kann. Das ist die Botschaft an all diejenigen, die Transformationsprozess durch kluge Regelungen bei der überlegen, ob sie in Ausrüstung investieren sollen, die Qualifizierung und durch Verbesserungen beim Kurzar- überlegen, ob sie neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beitergeld unterstützen. einstellen sollen, weil ihre Auftragsbücher immer noch Das zeigt: Wir lassen die Betroffenen nicht im Stich. voll sind. Den Pessimisten und den Schlechtrednern, von Dass es möglich war, in der Koalition gemeinsam diese denen es auch in diesem Haus eine ganze Reihe gibt, die Entscheidungen zu treffen, zeigt, dass die Wirtschafts- im letzten Jahr bei jeder Debatte die Rezession an die politik für diese Koalition wichtig ist. Dafür bedanke Wand gemalt und so getan haben, als sei die gesamte ich mich als zuständiger Minister ganz herzlich. deutsche Wirtschaft vom Scheitern bedroht, möchte ich sagen: Sie haben damit den Interessen unseres Landes (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- geschadet. ordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit diesem Jahreswirtschaftsbericht ist es amtlich: Deutschland be- Wir sollten unsere Stärken herausstellen und nicht unser findet sich seit nunmehr über zehn Jahren ununterbro- Licht unter den Scheffel stellen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17843

Bundesminister Peter Altmaier (A) Gleichwohl hat jeder Jahreswirtschaftsbericht die Auf- Wir haben gleichzeitig das ehrgeizige Projekt der (C) gabe, nicht nur Erfolge zu benennen, sondern ebenso Energiewende. Wir haben uns vorgenommen, 80 Prozent auch Herausforderungen, Defizite und Handlungsoptio- unserer Elektrizität bis 2050 aus erneuerbaren Quellen zu nen, und zwar für die Zukunft; denn Wirtschaftswachs- produzieren. Das ist wichtig für Nachhaltigkeit. Aber das tum ist auf Dauer nicht selbstverständlich. Die Claims für wird nur gelingen, wenn wir uns genauso intensiv, wie die internationale Wettbewerbsfähigkeit werden jeden wir uns um Windräder und um Photovoltaik kümmern, Tag und jeden Monat und jedes Jahr neu abgesteckt. Des- auch um die Akzeptanz kümmern und darum, dass die halb müssen wir uns um die Unternehmen kümmern, Leitungen fertig werden und der Strom bezahlbar wird. denen es nicht gleichermaßen gut geht; deshalb müssen wir uns um die Branchen und um die Transformations- Das bringt mich zu dem dritten großen Punkt, der mir prozesse kümmern, in denen wir weltweit mit anderen als Wirtschaftsminister wichtig ist. Es geht um die Rah- konkurrieren, mit Ländern in Asien, in Amerika und auch menbedingungen für Wachstum. Wenn sich ein mittel- anderswo in Europa. Deshalb, meine sehr verehrten Da- ständischer Unternehmer überlegt, ob er noch einmal men und Herren, brauchen wir eine Antwort auf die 20 Millionen oder 30 Millionen Euro in die Hand nimmt, Transformationsprozesse und auf den Klimawandel. um für die nächsten Jahrzehnte zu investieren und sein Unternehmen zukunftsfähig zu machen, dann wird er es Wir haben ein Paket zum Klimaschutz verabredet, das nur tun, wenn er an die Verlässlichkeit der Rahmenbedin- eindrucksvoll ist und das es ermöglicht, unsere Klima- gungen glaubt, wenn er überzeugt ist, dass der Staat ihm ziele 2030 einzuhalten. Wir bekennen uns zur Klimaneut- nicht das, was er damit erwirtschaftet, durch höhere ralität. Dieses Anliegen ist uns ernst. Aber gerade weil es Steuern und höhere Energiekosten und mehr Bürokratie uns ernst ist – das sage ich als Wirtschaftsminister –, versauert und wieder wegnimmt und er am Ende umsonst dürfen wir nicht auf dem Standpunkt stehen, dass uns gearbeitet und investiert hat. die wirtschaftlichen Folgen egal sind. Ich bin überzeugt, dass die Industrie, die in Europa Stahl produziert, die in ( [CDU/CSU]: So ist es!) Europa Güter produziert, weniger CO2 pro Tonne emit- Das ist der Grund für die Zurückhaltung bei den Aus- tiert als auf irgendeinem anderen Kontinent weltweit. Ich rüstungsinvestitionen in den letzten Jahren. Das ist ein bin überzeugt, dass wir unsere Klima- und Energiepolitik Grund dafür, warum viele die Frage stellen: Wie könnt nur dann weltweit vertreten und populär machen können, ihr uns denn garantieren, dass diese Rahmenbedingungen wenn wir nachweisen, dass Umwelt und Wohlstand kein gleich bleiben? Gegensatz sind, wenn wir deutlich machen können, dass wir die Wettbewerbsfähigkeit erhalten. Meine Damen und Herren, das, was wir gestern ver- einbart haben als Absicht für die Unternehmen, für die (B) (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Personengesellschaften, das, was wir als ersten Schritt für SPD und der FDP) die Abschaffung des Soli beschlossen haben, sind deut- liche Zeichen dafür, dass wir die Belastungsgrenzen er- Deshalb muss neben dem Klimawandel auch dieser As- kennen. Im Jahreswirtschaftsbericht – dafür bedanke ich pekt in den Vordergrund gestellt werden. mich, liebe Frau Hagedorn, auch beim Finanzministe- rium ganz herzlich – haben wir den Satz verankert, dass Wir haben beim Kohleausstieg, den wir gestern im wir den Soli abschaffen wollen. Ich hätte mir gewünscht, Kabinett als Gesetzentwurf beschlossen haben, ein klares dass wir über den ersten Schritt hinaus auch weitere Ter- Signal für Klimaschutz gesetzt, aber mit dem parallelen mine bereits im Gesetz verankert hätten. Aber wir haben Strukturstärkungsgesetz Kohleregionen auch deutlich ge- ja noch einige Monate Zeit bis zur nächsten Bundestags- macht: Wir lassen die Regionen nicht im Stich. Wir las- wahl. Ich vertraue darauf, dass wir gemeinsam diese Pla- sen das Mitteldeutsche Revier, die Lausitz und das Rhei- nungssicherheit herstellen. nische Revier nicht im Stich. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir wollen dafür sorgen – übrigens erstmals in der Geschichte des Strukturwandels in unserer Industrie, an- Wir haben uns als Koalition darauf verständigt, dass ders als bei früheren Gelegenheiten in den 60er- und die Sozialabgaben nicht über 40 Prozent steigen sollen. 70er-Jahren –, dass mit öffentlichem Geld, mit bis zu Wir haben diese Zusage bislang eingehalten, weil wir 40 Milliarden Euro, private Investitionen ermöglicht, Inf- Anstiege im Bereich der Pflegeversicherung durch zwei- rastrukturen geschaffen werden und neue Arbeitsplätze malige Senkungen im Bereich der Arbeitslosenversiche- entstehen. Wir haben das Ziel, dass wir in allen drei rung kompensiert haben. Aber, meine sehr verehrten Da- Revieren, um die es geht, in denen wir Braunkohlekraft- men und Herren, es ist das eine, dass wir das von werke stilllegen werden, soweit es hinsichtlich der Ener- Koalitionsbildung zu Koalitionsbildung wiederholen. gieversorgungssicherheit vertretbar ist, kontinuierlich da- Das andere ist, dass wir es in der Praxis erreichen. Wir ran arbeiten, dass am Ende des Transformationsprozesses haben gesehen, wie segensreich es war, vor über zehn in all diesen Revieren mehr und gute Arbeitsplätze be- Jahren eine Schuldenbremse im Grundgesetz zu veran- stehen und entstehen, als es heute der Fall ist. Diese kern. Ich habe in meiner Mittelstandsstrategie für mein Regionen müssen zu Gewinnern des Strukturwandels Ministerium den Vorschlag gemacht, dass wir auch über werden. Deshalb ist es eine gesamtstaatliche Aufgabe, eine Sozialabgabenbremse im Grundgesetz nachdenken. ihnen zu helfen. ( [Erfurt] [SPD]: Um Gottes (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) willen!) 17844 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Bundesminister Peter Altmaier (A) Das ist noch nicht die Meinung der Regierung insgesamt. Ich bin überzeugt, dass wir den digitalen Wandel ge- (C) Aber ich bin durch die Reaktionen, die darauf entstehen, stalten können, wenn wir den Mut dazu haben. Bertha sehr ermutigt. Benz, die Frau des Erfinders des Automobils, ist kürzlich in einer Biografie mit dem Titel „Mein Traum ist länger (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) als die Nacht“ gewürdigt worden. Das ist die Herausfor- derung für uns: dass wir uns bei allen Problemen des Ich habe das Thema Energie, die Bezahlbarkeit von Alltags trauen, den Blick nach vorne zu richten auf eine Strom, angesprochen. Ich bin davon überzeugt, dass wir Welt, in der Wohlstand und Umweltschutz zunehmen, auf die sichere Verfügbarkeit von Strom gewährleisten eine Welt, in der Handelsschranken und Protektionismus können. Wir wollen aber auch erreichen, dass Strom be- irgendwann wieder auf dem Rückzug sind, auf eine Welt, zahlbar wird. Heute ist der Haushaltsstrom bei uns der in der wir unseren Platz mit Selbstbewusstsein, mit Stolz teuerste in ganz Europa, und der Strom für die nichtpri- und gemeinsam mit anderen verteidigen werden. vilegierten Industrieunternehmen ist der zweitteuerste in ganz Europa. Deshalb muss es unser gemeinsames Ziel Vielen Dank. sein, dass wir in den nächsten Jahren dem Durchschnitt der europäischen Strompreise wieder näherkommen. Es (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- muss unser Ziel sein, dass trotz des weiteren Ausbaus der ordneten der SPD) Energiewende die Strompreise wieder sinken. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Wir haben im Rahmen des Klimapaketes beschlossen, Jetzt eröffne ich die Aussprache und erteile das Wort dass wir die zusätzlichen Einnahmen durch den höheren dem Abgeordneten Tino Chrupalla, AfD. Emissionsausgabepreis ab dem nächsten Jahr komplett für die Senkung der EEG-Umlage verwenden werden. (Beifall bei der AfD) Das wird die stärkste Senkung der EEG-Umlage seit 20 Jahren, seit wir sie eingeführt haben. Das ist für mich Tino Chrupalla (AfD): aber nur ein erster Schritt. Wir haben im Kohleausstiegs- Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen gesetz die Rechtsgrundlage dafür geschaffen, dass wir, und Kollegen! Liebe Landsleute! „Den Strukturwandel der Finanzminister, die Umweltministerin und der Wirt- meistern“: Unter diesem Motto steht das Jahresgutachten schaftsminister, bei der Strompreiskompensation und bei 2019/20 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der den Netzentgelten auf Preisanstiege gemeinsam reagie- gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Es handelt sich hier ren können. Das ist Mittelstandspolitik. meiner Meinung nach um ein Gefälligkeitsgutachten für (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die Bundesregierung. Die sogenannten Wirtschaftswei- (B) sen benennen Maßnahmen für Zwecke, die ohnehin be- (D) Wir müssen diese Mittelstandspolitik trotz aller Fährnis- reits feststehen. se, trotz aller Versuchungen gemeinsam verteidigen. Die Botschaft kann man grob zusammenfassen: Alles Ich habe festgestellt, dass die Akzeptanz wirtschaftli- prima, nur hier und da ein paar Schräubchen nachziehen, chen Erfolges, dass die Akzeptanz von Unternehmertum zum Beispiel noch mehr Frauen und alte Menschen ins in unserer Bevölkerung insgesamt gewachsen ist, weil die Erwerbsleben drücken, mehr sogenannte Fachkräfte aus Menschen kapieren, dass man nur das verteilen kann, was dem Ausland holen, auf keinen Fall protektionistisch man vorher erwirtschaftet hat, und weil sie wollen, dass agieren, auch wenn der Rest der Welt das mittlerweile Deutschland auch weiterhin zu den erfolgreichsten Län- tut, und ganz wichtig: alles international koordinieren. dern dieser Welt gehört. Ein grundlegender Kurswechsel wird nicht gefordert, und auch von Weisheit fehlt jede Spur. Die Digitalisierung wird uns vor ganz neue Heraus- In ihrer Rede beim Weltwirtschaftsforum in Davos hat forderungen stellen: das automatisierte Fahren, Massen- die Bundeskanzlerin hingegen ausnahmsweise Klartext produktionen mit Losgröße 1, die völlige Umstellung von gesprochen. Produktionsverfahren unter Zuhilfenahme von neuen Technologien. Die Frage ist, ob wir uns zutrauen, diese (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Loben Transformationsprozesse gemeinsam mit den Unterneh- Sie die Kanzlerin nicht zu doll! Dann sind Sie men, gemeinsam mit der Wirtschaft zu gestalten und zu nicht mehr lange Vorsitzender!) bewältigen. Jetzt wissen wir, was mit Strukturwandel eigentlich ge- Wir haben durch eine Förderung von Elektromobilität meint ist – Zitat –: „Transformationen von gigantischem, und durch eine Förderung des Baus von Batteriezellen in historischem Ausmaß“. Das waren ihre Worte. Diese Deutschland und in Europa einen wichtigen Anstoß ge- Transformationen müssen stattfinden, weil sich „die ge- geben, dass diese Transformation gelingen kann. Über samte Art des Wirtschaftens und des Lebens, wie wir es 70 Unternehmen beteiligen sich derzeit am Aufbau einer uns im Industriezeitalter angewöhnt haben“, grundlegend Batteriezellproduktion, viele davon in Deutschland. Wir verändern wird. So die Prophezeiung der Kanzlerin. haben mit dem Projekt „Gaia-X“, das eine europäische, ( [SPD]: Da hat sie auch verlässliche und souveräne Dateninfrastruktur schaffen recht!) soll, dafür gesorgt, dass wir im Bereich der Datenver- arbeitung vorankommen und Versäumnisse der Vergan- Sie weissagt außerdem, dass wir zu völlig neuen Wert- genheit aufholen. schöpfungsformen kommen werden, und zwar mittels Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17845

Tino Chrupalla (A) einer zweiten Riesentransformation: der Digitalisierung. (Beifall bei der AfD) (C) Da frage ich mich wirklich: In welcher Glaskugel haben Sie diese Vision erschaut, Frau Merkel? Was, wenn das Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: alles ein Riesenspuk ist, an dem sich große Player eine Nächster Redner ist der Kollege Sören Bartol, SPD. goldene Nase verdienen, während man einem Großteil der Menschheit die materiellen, sozialen und geistigen (Beifall bei der SPD) Lebensgrundlagen entzieht? Sören Bartol (SPD): (Beifall bei der AfD – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Was muss denn aus Ihrer Sicht Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und verbessert werden?) Kollegen! Die Wirtschaftsaussichten sind besser als ge- dacht. Die Arbeitslosenquote bleibt voraussichtlich sta- Die Kanzlerin hat erfreulicherweise auch Verständnis bil. Die Zahl der Beschäftigten wird sogar weiter steigen, dafür, dass noch nicht alle Menschen in Deutschland auf 45,5 Millionen. Das sind gute Aussichten. Das ist ein davon überzeugt sind oder, wie Herr Altmaier gerade Ergebnis unserer guten Arbeit. Aber darauf ruhen wir uns sagte, es noch nicht kapiert haben, dass diese dramati- nicht aus. schen Veränderungen wirklich notwendig sind und auch noch mit Steuermitteln finanziert werden müssen. Sie (Beifall bei der SPD) plädierte in ihrer Rede in Davos sogar dafür, dass wir Die zentrale Herausforderung, vor der die deutsche miteinander sprechen und „die Emotionen mit den Fakten Wirtschaft und unsere Gesellschaft stehen, ist der Struk- versöhnen“. – Das haben Sie schön gesagt, Frau Merkel. turwandel. Das heißt, es geht um den Zusammenhang von (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Dass Wirtschaft, Arbeit und der sozialen Frage. Wir wollen die Sie das nicht können, ist klar!) globale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands langfristig sichern. Aber das muss gerecht geschehen und alle Teile Das finde ich auch. Das ist es ja, was Menschen wie mich der Bevölkerung mitnehmen. in die Politik getrieben hat: Wir vermissen die Dialogbe- reitschaft auf der Seite derjenigen, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Sören Bartol [SPD]: Ihr und Dialogbereit- Es geht um Sicherheit im Wandel. Dieser Satz wurde schaft!) häufig strapaziert. Aber ich halte ihn für gültiger denn je. die an dieser großen Transformationsidee festhalten und Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt enorme Un- jeden Preis dafür zu zahlen bereit sind, sicherheiten und Wachstumsrisiken: globale Handels- (B) konflikte, drohende Kriege, ein wachsender Protektionis- (D) (Beifall bei der AfD – Michael Grosse-Brömer mus und der Fachkräftemangel. Hinzu kommen die [CDU/CSU]: Mit Fakten ist es natürlich Herausforderungen der Klimakrise und der Digitali- schwierig bei der AfD!) sierung. Wir haben selten in Deutschland vor einer so die wie besessen unsere gewohnte Lebensumwelt um- dynamischen und tiefgreifenden Umwälzung von Wert- krempeln wollen und gar nicht zu wissen scheinen, was schöpfungsketten, Geschäftsmodellen und ganzen Unter- sie dort eigentlich tun. nehmen gestanden. Diese Herausforderungen müssen wir vernünftig angehen. Das heißt, nicht Einzelinteressen Ist diese Idee vom großen Strukturwandel, von der dürfen im Vordergrund stehen; wir haben das Ganze, gigantischen Transformation der Welt wirklich zu Ende das Gemeinwohl im Blick. Am Ende halten Wirtschaft gedacht? Oder ist es wieder nur der alte Traum vom und Arbeit die Gesellschaft zusammen. irdischen Paradies, der dieser Politik zugrunde liegt Liebe Kolleginnen und Kollegen, für dieses Ziel hat (Beifall bei der AfD – Timon Gremmels [SPD]: die Koalition die richtigen Weichen gestellt. Der Haus- Trauen Sie den Menschen doch mal was zu!) halt 2020 und das Klimapaket 2030 setzen die richtigen und der wie jedes dieser Projekte in der Vergangenheit an Impulse für Investitionen und Innovationen. Wir werden der Realität scheitern wird? das Beschlossene umsetzen, so die Konjunktur stabilisieren, Unternehmen und Bürgern Verlässlichkeit (Beifall bei der AfD) geben und das Innovationspotenzial dieses Landes heben. Auch wir von der AfD finden, dass es Zeit ist, mit- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) einander zu sprechen. Ich bin zu diesem Dialog bereit. Es muss allerdings ein ergebnisoffener Dialog sein. Dabei machen wir aber auch nicht den Fehler, immer nur akut auf Herausforderungen zu reagieren. Wir gestalten (Timon Gremmels [SPD]: Das sagt die AfD!) den Wandel aktiv. Ich habe ein paar Wirtschaftsexperten an der Hand, Herr Mit dem Strukturstärkungsgesetz für die Kohlereviere Altmaier, die Ihnen nicht nach dem Mund reden, sondern und der massiven Förderung der Elektromobilität für die die Ihre Politik kritisch begleiten könnten. Die vermittle Automobilindustrie sind wir auf einem guten Weg. Wir ich Ihnen gerne. investieren in Innovationen. Aber es braucht noch mehr. Ein wichtiges Signal sind die gestrigen Beschlüsse des (Johann Saathoff [SPD]: Was wollen Sie ge- Koalitionsausschusses. Das Arbeit-von-morgen-Gesetz nau? Versprechen, oder was? Einlösen!) kommt; Dank auch noch mal an Bundesarbeitsminister Vielen Dank. Heil. 17846 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Sören Bartol (A) (Beifall bei der SPD) Chemieindustrie bis zu minus 30 Prozent. Die Zahl der (C) kurzarbeitenden Betriebe im deutschen Südwesten, in Damit geht die Koalition die Transformation unserer Baden-Württemberg, hat sich in den vergangenen zwölf Wirtschaft konsequent und zielgerichtet an. Das Paket ist Monaten verzehnfacht. eine gute Kombination aus Sicherheit für die Beschäftig- ten und Impulsen für den Wirtschaftsstandort. Qualifizie- (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Auf einem sehr rung und Innovation sind die Schlüsselworte der komm- niedrigen Niveau!) enden Jahre. Wir müssen mehr Vertrauen in unsere eigene Gestaltungskraft entwickeln. Aus Angst vor Veränderung Das bedeutet große Sorgen bei Beschäftigten mittelstän- entwickeln wir den Mut zur Veränderung; das ist unser discher Unternehmen. Ziel. Meine Damen und Herren, an dieser Stelle ist es ja gut und richtig, dass der Jahreswirtschaftsbericht wesentliche (Beifall bei der SPD) Forderungen enthält, die die FDP an dieser Stelle seit Liebe Kolleginnen und Kollegen, das alles heißt aber vielen Monaten vorträgt und einfordert und die wir heute nicht, dass wir kopflos und ohne Plan vorschnell Ideen wieder mit unserem Antrag „Tempo für Deutschland“ umsetzen. Wer täglich neue Vorschläge durch die Medien hier in den Bundestag einbringen: die vollständige Ab- treibt, was Unternehmen alles ändern müssten und was schaffung des Soli, eine Unternehmensteuerreform, die alles zu wenig sei, der verunsichert Mitarbeiterinnen und andere Länder wie die USA, Großbritannien, Frankreich Mitarbeiter. Unsicherheit ist das Gegenteil von einem ge- und selbst Italien bereits angepackt haben, und die Ent- sunden Investitionsklima. lastung der Bürgerinnen und Bürger von unnötiger Büro- kratie. (Beifall bei der SPD – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das stimmt!) Herr Bundeswirtschaftsminister, Ihre Rede hier hat mir in weiten Teilen sehr gut gefallen. Wir sehen in der aktuellen Situation, wie eng Wirt- schaft, Arbeit und Soziales zusammenhängen. Um den (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Mir Strukturwandel zu bewältigen, braucht es Bündnispart- auch!) ner. Das sind die Unternehmen, die Betriebsräte und die Aber es heißt ja „Regierungserklärung“, und was Sie Gewerkschaften sowie die Beschäftigten. Das ist für nicht geschafft haben, was Sie versäumt haben, ist, zu mich die eigentliche Innovationspartnerschaft des komm- erklären, warum die Vorschläge und Forderungen des enden Jahrzehnts. Jahreswirtschaftsberichtes in der Regierung nicht umge- Auch hier hat die Koalition den richtigen Weg einge- setzt werden. (B) schlagen. Wir haben die Grundlagen dafür gelegt, eine (Beifall bei der FDP) (D) leistungsfähige Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz zu verbinden. Der Jahreswirtschaftsbericht Da, meine Damen und Herren, sähen wir Sie sehr zeigt, dass wir gut gearbeitet haben. Aber er zeigt auch, gerne, Frau Bundeskanzlerin. Wir fordern, dass Sie mit dass wir uns nicht zurücklehnen können. Wir brauchen Ihrer Richtlinienkompetenz einfach die Wirtschaftspoli- weiter einen aktiven, gestaltenden Staat als Partner der tik, die Wettbewerbsfähigkeit, die Sicherung der Arbeits- Wirtschaft und verlässlichen Anker für die Beschäftigten plätze und vor allen Dingen auch die besseren Rahmen- im Strukturwandel. bedingungen für Handwerker, Selbstständige, kleine und mittlere Betriebe zur Chefsache dieser Regierung ma- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten chen. der CDU/CSU) Der Koalitionsausschuss hat hierzu allerdings nicht ge- Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Jahreswirt- nug geliefert: Fehlanzeige beim kompletten Soliausstieg, schaftsbericht zeigt, dass wir eine gute Wirtschaftspolitik keine Entlastung durch eine große Steuerreform, eine Zu- machen. Wir haben solide gearbeitet. Genau das wollen stimmung zur Grundrente. Diese ist leistungsfeindlich. wir auch fortsetzen. Sie folgt nicht dem Bedürftigkeitsprinzip; sie verteilt Wohltaten nach dem Gießkannenprinzip und nicht ziel- In diesem Sinne: Glück auf! genau. Wir sagen: Sie ist nicht eng definiert und nicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten generationengerecht. der CDU/CSU) Wir werben hier an dieser Stelle noch mal für unser Konzept der Basisrente, mit dem wir die Altersarmut Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: zielgenau bekämpfen können, ohne dass Menschen in Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Theurer, den Genuss von Sozialleistungen kommen, die sie nicht FDP. brauchen. Lassen Sie uns Steuergelder und Beitragsgel- der genauer für diejenigen bündeln, die sie wirklich nötig (Beifall bei der FDP) haben: die Bedürftigen, meine Damen und Herren.

Michael Theurer (FDP): (Beifall bei der FDP) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- Wenn es heißt, es gebe kein Geld für Steuerentlastun- ren! Das Bild der Wirtschaft in Deutschland ist ein ge- gen – darüber berichtet die „Börsen-Zeitung“ in ihrer spaltenes Bild: minus 3,6 Prozent bei der Industrie, minus vorgestrigen Ausgabe –: Allein in den Jahren 2008 bis 10 Prozent bei der Stahlindustrie, in einigen Teilen der 2019 hat der deutsche Fiskus durch die Niedrigzinspolitik Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17847

Michael Theurer (A) der EZB 436 Milliarden Euro Einsparungen durch nied- Es heißt Landwirtschaft; das sind Familienunternehmen, (C) rigere Zinsen erzielt. Das kann man an die Bürgerinnen das sind Mittelständler, die nachfolgeorientiert denken. und Bürger zurückgeben. Mittlerweile werden Landwirte ja zuweilen als Buhmänner angesehen und verantwortlich gemacht für (Beifall bei der FDP – Zuruf von der SPD: Das alles, was auf dem Globus passiert. Das ist mitnichten haben wir investiert!) richtig. Landwirte sind keine Buhmänner, sondern Land- Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. In wirte sind diejenigen, die den ländlichen Raum stärken. diesem Jahreswirtschaftsbericht ist eine Chance vertan Sie sind das Rückgrat des ländlichen Raums! worden. Kein Wort zur Wasserstoffstrategie, meine Da- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie men und Herren. EU-Kommissar Timmermans fordert bei Abgeordneten der SPD) die Bundesregierung auf, hier endlich zu liefern. Seit Monaten fordern wir das hier. Wir brauchen Technolo- Wir haben heute den 30. Januar. Seit 30 Tagen gibt es gieoffenheit, die Brennstoffzellentechnologie. Aber auch den Solidarpakt II nicht mehr. Vielleicht ist es ein richt- synthetische Kraftstoffe können helfen, Arbeitsplätze in iges Signal, an dieser Stelle einfach mal den Steuerzah- Deutschland zu erhalten. lern in Deutschland Danke zu sagen, die 30 Jahre lang diesen Solidarpakt finanziert haben. Außerdem werden Herr Altmaier, ich weiß nicht, ob Sie das Buch „Das wir – der Wirtschaftsminister hat es gesagt – für 90 Pro- Supermolekül“ – es geht um Wasserstoff – kennen. Ich zent der Solizahler den Solidaritätszuschlag komplett ab- habe mir gedacht, ich schenke es Ihnen einfach, schaffen. Das ist der richtige Schritt. Es ist kein Geheim- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) nis, dass wir gerne weitergehen wollen. Für uns ist die Abschaffung des kompletten Solis keine Frage der Finan- damit sich neben Ihren vielen Büchern über Bismarck zen, sondern eine Frage der Glaubwürdigkeit. Deswegen und über die Sozialpolitik der Vergangenheit jetzt auch halten wir an diesem Punkt fest. noch ein Buch über die Technologiepolitik der Zukunft findet. (Beifall bei der CDU/CSU) Vielen Dank. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir erleben derzeit eine Epochenwende. Wir erleben eine Renationalisie- (Beifall bei der FDP – Michael Grosse-Brömer rung, zumindest entsprechende Tendenzen weltweit. [CDU/CSU]: Er liest das auch! – Gegenruf des Morgen Nacht werden die Briten die Europäische Union Abg. Michael Theurer [FDP]: Ich habe es verlassen. Wir erleben zunehmend einen Wettlauf um schon gelesen! – Timon Gremmels [SPD]: Herr neue Zölle. Und seit 30 Tagen ist das Schiedsgericht der (B) Altmaier ist echt ein Supermolekül!) WTO nicht mehr funktionsfähig, weil die Amerikaner die (D) Nachbestellung von Richtern blockieren. Mit anderen Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Worten: Die Welthandelsordnung steht unter Druck. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Carsten Ich finde, auch in diesem Zusammenhang sollte die Koa- Linnemann, CDU/CSU. lition klar und deutlich für freien Handel werben; denn überall dort, wo Zölle abgebaut wurden, wo nichttarifäre (Beifall bei der CDU/CSU) Handelshemmnisse abgebaut wurden, gibt es wirtschaft- liche Prosperität weltweit. Deswegen müssen wir für die Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU): Werte der sozialen Marktwirtschaft werben, nicht nur in Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Deutschland, sondern auch global. Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie haben heute den 30. Januar und reden über diesen Jahres- bei Abgeordneten der SPD) wirtschaftsbericht im Lichte einer fragilen konjunkturel- len gesamtwirtschaftlichen Lage weltweit. Das zeigen In Deutschland haben wir jetzt zehn Jahre Wachstum auch die Ergebnisse des Koalitionsausschusses, hinter uns. Das hat es, glaube ich, in der jüngeren Wirt- schaftsgeschichte so noch nicht gegeben. Nachdem, wie (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ich finde, die Bundesregierung in den Jahren 2008 und NEN]: Wie fragil die Lage ist! Das stimmt!) 2009 klug gegen die Rezession, die mit minus 6 Prozent die wir als Fraktion begrüßen. Ich bedanke mich beim tiefgreifend war, gehandelt hat – Kurzarbeitergeld und Fraktionsvorsitzenden dafür, dass er wichtige Themen vieles mehr –, hat sich dieses Land und insbesondere auf die Agenda gegeben hat, dass wir wieder reden über der Mittelstand in atemberaubender Geschwindigkeit Beschleunigungen und Reformen, über Planungsbe- wieder in die internationale Arbeitsteilung eingeklinkt. schleunigung, über eine Unternehmensteuerreform. Wir haben in den letzten Jahren Wachstum gehabt, zwi- schen 2014 und 2018 sogar ein Wachstum über der Po- Mir ist aber auch wichtig, dass das Thema Landwirt- tenzialrate. schaft – die Landwirtschaftsministerin ist auch anwe- send – heute Nacht in den Fokus gerückt ist. Ich finde, Zur Ehrlichkeit gehört aber auch, dass die EZB dieses das Thema Landwirtschaft wird zu selten durch die wirt- Wachstum mit einer Niedrigzinspolitik befeuert. Sie be- schaftliche Brille betrachtet: gründet diese Nullzinspolitik – lassen Sie mich das bitte sagen – damit, dass sie mit ihr das Ziel einer Inflationsrate (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE nahe 2 Prozent einhalten kann. Ich halte das auf Dauer für GRÜNEN]: Bei Ihnen, Herr Linnemann!) ungesund. Es wird zu Kollateralschäden kommen. Des- 17848 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Dr. Carsten Linnemann (A) wegen bin ich dafür, dass wir in Deutschland und auch in Die Frage ist: Was kann Politik jetzt tun? Dazu stehen (C) Europa eine Debatte über das richtige Inflationsziel be- viele Punkte im vorliegenden Jahreswirtschaftsbericht. kommen. 2 Prozent halte ich in der heutigen globalisier- Ich glaube, entscheidend sind nicht in erster Linie Kon- ten und digitalisierten Welt für zu hoch. Die Firmen ha- junkturprogramme oder neue Förderrichtlinien oder Sub- ben nicht mehr die Möglichkeit, die Preise signifikant zu ventionen, sondern verlässliche Rahmenbedingungen. erhöhen. Deswegen müssen wir wieder zu einer gesun- Die Wirtschaft in Deutschland, der Mittelstand wollen den, zu einer marktwirtschaftlichen EZB-Zinspolitik zu- verlässliche Rahmenbedingungen. Hier möchte ich gerne rückkommen. auf drei Punkte eingehen, die auch im Jahreswirtschafts- bericht an prominenter Stelle stehen: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zum einen geht es um das Thema, auf das wir alle angesprochen werden, wenn wir unterwegs sind: das Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Thema Fachkräfte. Zum 1. März wird das Fachkräfteein- Herr Kollege Linnemann, es würde gerne eine Zwi- wanderungsgesetz in Kraft treten. Wir brauchen hier schenfrage aus den Reihen der FDP gestellt werden. schnelle Verfahren. Wir brauchen eine schnellere Aner- kennung ausländischer Abschlüsse und – das ist sehr Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU): wichtig – schnellere Visaverfahren, also gut ausgestattete Gerne im Anschluss, jetzt nicht. Visastellen in den Botschaften. (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das ist (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und dann keine Zwischenfrage mehr!) der FDP – Johann Saathoff [SPD]: Spät er- kannt!) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Wir brauchen zweitens eine Steuerreform; auch das Also jetzt nicht? wurde angesprochen. Der ehemalige Finanzminister Wolfgang Schäuble hat mal gesagt, dass eine Steuerquote Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU): von 22 Prozent ausreicht. Herr Präsident, ich möchte meine Rede zu Ende brin- (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Katrin gen; gerne als Kurzintervention im Anschluss. Jetzt nicht. Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ah! Jetzt wieder einschleimen!) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Mittlerweile sind wir bei 24 Prozent. Ich finde – auch das Das entscheiden Sie nicht. wurde richtigerweise vom Wirtschaftsminister angespro- (B) chen –, dass Deutschland eine Unternehmensteuerreform (D) Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU): braucht. Dieses Land lebt vom Mittelstand. Dieses Land Okay. 1 : 0 für Sie. lebt von den Familienunternehmen. Über 80 Prozent sind Personengesellschaften, und die müssen meines Erach- (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU tens gleich besteuert werden wie Kapitalgesellschaften, und der SPD) damit wir auch in Zukunft noch einen Mittelstand haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: bei Abgeordneten der SPD) Kommentieren Sie den Präsidenten besser nicht. Drittens müssen wir die Bürger entlasten; auch dabei (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten im bleiben wir. Die kalte Progression ist seit einigen Jahren ganzen Hause) abgeschafft; aber wir müssen darüber hinaus an den Mit- telstandsbauch ran: Es kann nicht sein, dass wir den Bür- Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU): gern das Geld wegnehmen, sie faktisch in die Bedürftig- Okay. keit ziehen, (Zuruf von der LINKEN: Was?) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: um sie anschließend mit vielen familienpolitischen Pro- Reden Sie einfach weiter. grammen da wieder rauszuholen. Das muss direkt pas- sieren. Deswegen ist es nicht gefährlich, über Steuer- Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU): senkungen zu reden, sondern es ist gefährlich, über Peter Altmaier, der Wirtschaftsminister, hat es gesagt: Steuersenkungen nicht zu reden. Wir sind im Jahr 2019 an einer Rezession vorbeige- schrammt. Es gab keine, und es wird vorerst auch keine (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) geben. Das liegt an der Binnenkonjunktur, das liegt an der Lassen Sie mich zum Schluss noch Folgendes sagen – staatlichen Nachfrage und auch an den Bauinvestitionen. auch da unterstütze ich Peter Altmaier ausdrücklich –: Fakt ist aber auch: Wir haben eine gespaltene Wirtschaft: Wir brauchen neue Dynamik, wir brauchen Freiräume. Die Bauindustrie, das Handwerk boomen, und auf der Wir müssen ein Land werden, in dem Menschen Risiken anderen Seite ist die Industrie in einer Rezession, auch eingehen können, in dem Menschen, übrigens Unterneh- befeuert durch demografische Entwicklungen und durch mer wie Politiker, Fehler machen können und aus ihnen Strukturwandel. lernen. Wir müssen offen sein für gute Ideen, für neue Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17849

Dr. Carsten Linnemann (A) Technologien und eine kluge Regulierung. Deswegen un- viel zu wenig. Gewerkschaften und Arbeitgeber fordern (C) terstützen wir die Bundesregierung dabei, mehr Experi- in bemerkenswerter Einheit Investitionen von 450 Mil- mentierklauseln vorzusehen bzw. zu nutzen; und wenn es liarden Euro für die nächsten zehn Jahre. Gerade um die funktioniert, dann rollen wir es in Deutschland aus, damit Klimaziele zu erreichen, sind massive Investitionen zum wir ein Land des Ausprobierens werden. Das muss jetzt Beispiel in Bahn, Bildung und neue Technologien not- das Gebot der Stunde sein. wendig. (Zuruf von der SPD: Die Windenergie!) (Beifall bei der LINKEN) Wir dürfen uns nicht im Klein-Klein verlieren, sondern Doch anstatt eine Investitionsoffensive zu starten, starten wir brauchen mehr Mut: Mut, dazuzulernen, Mut, auf die Sie eine Initiative zur Steuerentlastung der Unternehmen. Ideen des Mittelstandes und der Wirtschaft zu vertrauen, Was ist das denn? Haben denn die Unternehmen kein Mut zu einem neuen Aufbruch. Geld mehr für Investitionen, Herr Altmaier? Herzlichen Dank. Die Fakten: Während im Jahr 2000 noch 35 Prozent der Gewinne netto reinvestiert wurden, ist es im Jahr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – 2018 nur noch die Hälfte davon, nämlich 16 Prozent. Michael Theurer [FDP]: Sehr gut!) 2001 wurden die Unternehmensteuern deutlich gesenkt. Das Ergebnis waren nicht mehr, sondern permanent we- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: niger Investitionen. Die Quote ist gesunken. Mit Verlaub, Nächster Redner ist der Kollege Klaus Ernst, Die Lin- Herr Altmaier, Ihr Vorschlag macht überhaupt keinen ke. Sinn. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Richtig wäre es tatsächlich, die mittleren und unteren Klaus Ernst (DIE LINKE): Einkommen zu entlasten – übrigens nicht, wie Sie gestern Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- im Ausschuss sagten, die Entlastung aller Einkommen, ren! Herr Theurer, ich kann es mir nicht verkneifen: sondern die Entlastung der mittleren und niedrigen Ein- Wenn Sie sich hier über die Grundrente aufregen, die kommen. Warum? Weil zum Beispiel zwischen 1998 und die Koalition auf den Weg bringt, würde ich Ihnen mehr 2015 die oberen 30 Prozent der Einkommensbezieher Glaubwürdigkeit zubilligen, wenn Sie sich wenigstens schon entlastet wurden, die obersten 10 Prozent sogar einmal auch darüber aufregen würden, dass es Leute gibt, um 2,3 Prozent – die haben weniger Belastung –, und die 4 000 Euro Rente kriegen – nicht im Monat, sondern (B) die unteren 70 Prozent der Einkommensbezieher mehr (D) am Tag, wie der Herr Zetsche. Wenn Sie in Ihren Reden Steuern zahlten, die untersten 10 Prozent sogar 5,4 Pro- die soziale Ausgewogenheit zumindest ein wenig als Ziel zent mehr. Also: Wir brauchen wirklich eine Entlastung formulieren würden, würden Sie mehr Zustimmung er- der unteren Einkommen und nicht Steuerentlastungen mit halten, auch von den Bürgern in diesem Land. der Gießkanne, wodurch man reine Mitnahmeeffekte bei (Beifall bei der LINKEN – Michael Theurer den Reichen in diesem Lande erzielt, meine Damen und [FDP]: Wir haben ein eigenes Konzept vorge- Herren. legt! Basisrente! – Zuruf von der SPD: Der war (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. aber nicht in der CDU!) Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Meine Damen und Herren, wir reden hier nicht über Das reichste Prozent unserer Bevölkerung, also 1 Pro- die Rente, sondern über den Jahreswirtschaftsbericht der zent, besaß 2017 genauso viel wie die ärmeren 75 Prozent Bundesregierung. Sie haben positive Aspekte aufgezeigt, unseres Landes. Herr Minister. Sie haben auch durchaus Grund dazu. Al- lerdings ist die prognostizierte Steigerung des Wirt- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Die schaftswachstums um 0,5 Prozentpunkte auf 1,1 Prozent zahlen auch am meisten!) im nächsten Jahr im Wesentlichen darauf zurückzufüh- ren, dass wir zwei Tage mehr arbeiten, dass wir zwei Das ist ein Problem, weil diese Ungleichheit tatsächlich Arbeitstage mehr haben. Das ist also weniger eine Leis- Wachstum hemmt. Das sagen alle Ökonomen. tung des Wirtschaftsministers. (Reinhard Houben [FDP]: Nein, das glaube ich (Beifall bei der LINKEN) nicht!) Im Übrigen geht aus Ihrem Bericht hervor, dass insbe- Im Übrigen: Wichtig wäre auch tatsächlich eine Ent- sondere die Binnennachfrage die Konjunktur stabilisiert – schuldung der Kommunen. Warum? Weil die Kommunen auch richtig –, da insbesondere die steigenden Einkom- nicht mehr das Geld haben, die Leute einzustellen, die für men der Arbeitnehmer positiv wirken. Auch das ist keine Planungen notwendig sind, die sie aber brauchen, um die Leistung des Bundeswirtschaftsministers, eher eine Leis- Mittel abzurufen, die ihnen vom Bund zur Verfügung tung der Gewerkschaften, meine Damen und Herren. gestellt werden; denn diese werden nicht abgerufen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Die staatlichen Brutto-Ausrüstungsinvestitionen stag- Ich weiß nicht, warum Sie sich dagegen sperren, Herr nierten 2019. Herr Altmaier, Ihre Regierung investiert Minister. Ich kann es nicht verstehen. 17850 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Klaus Ernst (A) Dagegen lamentieren Sie ständig über Bereiche, die bedroht werden und selbst Briefe von amerikanischen (C) gar nicht in Ihre Zuständigkeit fallen. Senatoren kriegen, dann ist mal darüber nachzudenken, nicht mit Wattebäuschchen zu werfen, sondern vielleicht (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ach so! auch mit Maßnahmen darauf zu reagieren. Aber die Entschuldung der Kommunen schon?) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- Manchmal habe ich den Eindruck: Sie haben vielleicht zu ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE viel Zeit. – Ehe Sie sich darüber auslassen, dass wir keine GRÜNEN) Arbeitszeiterfassung bräuchten, ehe Sie die Dokumenta- Ich schlage Ihnen vor: Machen Sie Strafzölle gegen US- tion des Mindestlohns zu Ihrem Thema machen, ehe Sie amerikanisches Fracking-Gas; denn dann wissen die auch eine Sozialabgabenbremse ins Grundgesetz schreiben mal, wo der Hammer hängt. wollen, kümmern Sie sich doch bitte einfach um das, wofür Sie zuständig sind, Herr Minister! Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Dann wären wir vielleicht einen Schritt weiter. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Wofür wären Sie zuständig? Die Windenergiebranche Nächste Rednerin ist die Kollegin Katharina Dröge, steht kurz vor dem Kollaps. Statt alles dafür zu tun, dass Bündnis 90/Die Grünen. der Ausbau an Land und offshore wieder vorangeht, ver- harren Sie in dieser Frage in Untätigkeit. Auf die groß (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) angekündigte Wasserstoffstrategie – da hat die FDP auch mal recht – Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- (Reinhard Houben [FDP]: Die FDP hat häufig nen und Kollegen! Herr Minister Altmaier, Sie haben es recht, Herr Ernst!) eben selbst gesagt: Wenn die Prognosen für das nächste warten wir seit Wochen vergebens. Was ist mit der Um- Jahr etwas besser aussehen sollten, dann hat es damit zu setzung Ihrer Industriestrategie? Was ist zum Beispiel mit tun, dass der harte Brexit hoffentlich abgewendet wird, dem staatlichen Industriefonds, den Sie angekündigt ha- dann hat es damit zu tun, dass der Handelsstreit zwischen ben? Was passiert da? Ich habe den Eindruck: Da sind Sie den USA und China vielleicht nicht so schlimm wird, wie viele, viele Antworten schuldig. man befürchten musste. Mit einem hat es leider nichts zu tun, und das ist Ihre Politik. Denn wenn man sich an- (B) (Beifall bei der LINKEN) schaut, was die strukturellen Herausforderungen im Land (D) Die Autoindustrie wollen Sie bei der Umstellung auf sind, dann stellt man fest, dass Sie diese nicht angehen. neue Antriebe unterstützen. Toll, dass jetzt auch die Bun- Schlimmer noch: Ihre Politik ist so erratisch, dass sie desregierung gemerkt hat, dass man elektrisch nur fahren mittlerweile zum Standortrisiko für dieses Land gewor- kann, wenn eine Batterie drin ist. Das hat ja ziemlich den ist. lange gedauert bei uns in der Republik. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) Kein Unternehmen kann auf dem Prinzip Chaos Inves- Aber sollten die Gelder, die wir dort ausgeben, nicht an titionsentscheidungen gründen. Das traurigste Beispiel etwas gebunden sein? Was ist mit Mitbestimmung? Was dafür ist Ihr Umgang mit dem Kohlekompromiss. Er ist ist mit Tarifverträgen? Was ist mit den Arbeitsplätzen in nicht nur verantwortungslos mit Blick auf den Klima- den Betrieben? Warum einfach Geld rüberschicken ohne schutz. Ihr Umgang ist auch aus demokratischer Sicht jede Gegenleistung? Nein, meine Damen und Herren, das ein extrem schwieriges Signal an dieses Land. Da holen ist der falsche Weg. Sie aus allen gesellschaftlichen Gruppen Menschen zu- sammen und sagen Ihnen: Euer Auftrag ist es, einen (Beifall bei der LINKEN) Kompromiss mit Blick auf den Kohleausstieg zu verhan- Zum Schluss: Ein wichtiges Betätigungsfeld für Sie, deln. – Dann brauchen Sie ewig, um das Ganze zu bewer- Herr Altmaier, wäre zum Beispiel, auch mal Vorschläge ten, und dann setzen Sie es noch nicht mal um, sondern zu machen, wie wir uns eigentlich gegen die exterritoria- gehen hinter die Ergebnisse zurück. Das Signal, was Sie len Sanktionen der USA gegen europäische Unternehmen damit an die Bürgerinnen und Bürger und auch an die wehren, die immer unerträglichere Ausmaße annehmen. Unternehmen in diesem Land senden, ist vor allen Din- gen eines: Auf diesen Minister kann man sich nicht ver- (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Richtig! lassen. Genau! Absolut!) Es ist nicht mehr hinnehmbar, meine Damen und Herren, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – was da passiert. Timon Gremmels [SPD]: Ihr regiert doch mit in drei betroffenen Ländern! In Sachsen, Sachsen- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Anhalt und Brandenburg! Redet doch einmal Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) mit euren Leuten!) Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn unverhohlen europä- Dasselbe machen Sie mit Ihrer Industriepolitik. Sie ische Unternehmen, die sich an Nord Stream 2 beteiligen, haben mit großen Worten eine Industriestrategie ange- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17851

Katharina Dröge (A) kündigt. Dann haben Sie die nach massivem Widerstand Wir haben vor allem Dank zu sagen den vielen Millio- (C) zurückziehen müssen, haben eine neue vorgelegt, und nen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, innovativen dann sagen Sie, einen Kabinettsbeschluss möchten Sie Unternehmern, Handwerkern und Dienstleistern in die- daraus aber nicht machen. Wir brauchen keinen Minister, sem Land, die dazu beigetragen haben, dass wir auf so der immer nur schöne Papiere schreibt. Wir brauchen eine positive Bilanz und auf jahrzehntelanges Wirt- einen Minister, der handelt. schaftswachstum zurückblicken können. Dafür ganz herzlichen Dank! (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP) Herr Altmaier, Sie selbst haben die Stahlindustrie ge- nannt. Ja, die braucht wirklich einen Minister, der han- Das schafft politischen Spielraum. delt. Wenn thyssenkrupp oder Salzgitter auf eine klima- neutrale Stahlproduktion umstellen wollen, dann geht das Aber auch die Themen, die wir behandeln, sind von nur, wenn wir einen Minister haben, der die Instrumente einer enormen Tragweite. Es geht darum, die Weichen entwickelt, um ihnen zu helfen. Von Ihnen habe ich da zu stellen für eine sichere, soziale, aber auch wirtschaft- aber bislang nichts gehört, weder einen Vorschlag für lich erfolgreiche Zukunft in unserem Land. Dass die Po- einen funktionierenden Grenzausgleich, um internationa- litik der Großen Koalition dabei erfolgreich ist, zeigt die le Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen, noch einen Vor- lange Phase des wirtschaftlichen Wachstums. Aber ich schlag für Instrumente, die helfen könnten, neue Techno- sage auch: Der Bericht zeigt, dass gerade die Binnenkauf- logien im Markt zu etablieren. Ich kann Sie nur kraft, die Binnenkonjunktur dazu beigetragen haben. Das auffordern: Wenn Sie eine zukunftsfähige Stahlproduk- hat damit zu tun, dass wir Arbeitnehmerinnen und Arbeit- tion hier in diesem Lande haben wollen, dann müssen Sie nehmer entlastet haben und mit den richtigen Rahmen- handeln! bedingungen dafür sorgen, auch zukünftig Kaufkraft zu erhalten. Deshalb sage ich: Die Reduzierung des Solidari- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tätsbeitrages könnten wir sicherlich schon auf den 1. Juli dieses Jahres vorziehen. Bedauerlicherweise habe ich auch nichts von Ihnen dazu gehört, wie wir eine funktionierende Infrastruktur (Zuruf von der FDP: Komplett abschaffen!) in diesem Land gewährleisten. Ich sage Ihnen, Herr Mi- nister: In dieser Infrastruktur liegt die entscheidende Fra- Das würde zusätzliche Effekte bedeuten und auch die ge für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen. Tarifbindung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Das krasseste Beispiel – das haben wir gestern wieder erhöhen. (B) (D) im Ausschuss erlebt – ist das 5G-Netz. Hier schaffen (Beifall bei der SPD) wir die Infrastruktur der Zukunft, und seit Monaten ge- lingt es der Regierung nicht, eine gemeinsame Position Vor allen Dingen geht es darum, technischen Fort- dazu zu finden, welche Sicherheitsanforderungen wir an schritt so zu organisieren, dass er mit sozialem Fortschritt das 5G-Netz stellen wollen. Sie streiten miteinander, einhergeht und der gesellschaftliche Zusammenhalt ge- stärkt wird. hat als Arbeitsminister innova- (Timon Gremmels [SPD]: Ach! Die Union tive Arbeitsmarktpolitik in konkrete Politik umgesetzt. streitet erst einmal untereinander!) Auch heute Nacht sind viele Instrumente, mit denen der Sie verzögern. Sie können uns nicht sagen, wie die Si- Transformationsprozess sozial gerecht gestaltet werden cherheitsanforderungen an bestimmte Unternehmen sind. kann, vereinbart worden. Darauf können die Unternehmen nicht länger warten. Wir (Beifall bei der SPD) brauchen dieses 5G-Netz für die Infrastruktur der Zu- kunft. Aber wir brauchen ein sicheres 5G-Netz, und es Vor einem Jahr hat die Kohlekommission Ergebnisse wäre auch die Aufgabe eines Wirtschaftsministers, hier vorgelegt, wie wir die Organisation des Kohleausstiegs zu handeln und nicht immer nur Sonntagsreden zu halten. politisch gestalten können. Daran werden wir uns orien- tieren. Mit dem Strukturstärkungsgesetz und seit gestern (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auch mit dem Kohleausstiegsgesetz liegen Vereinbarun- gen auf dem Tisch, über die wir jetzt parlamentarisch Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: beraten werden. Sicherlich geht es im Kern sehr konkret Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Bernd darum, wie die Energiewende gestaltet werden kann. Westphal, SPD. Ich sage aber auch: Der Kohleausstieg ist nicht nur im (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bereich Strom, sondern auch im Bereich Wärme zu orga- der CDU/CSU) nisieren. Deshalb werden wir in einem konstruktiven Di- alog, Herr Altmaier, noch einmal überlegen, ob alles das, was im Kohleausstiegsgesetz festgeschrieben ist, auch Bernd Westphal (SPD): machbar ist. Wir brauchen Versorgungssicherheit nicht Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und nur im Bereich Strom, sondern auch im Bereich Wärme, Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der für Industrie- und für Fernwärme. Jahreswirtschaftsbericht 2020 beschreibt sehr ausführlich die aktuelle Situation, aber auch die enormen Herausfor- (Beifall des Abg. Andreas G. Lämmel [CDU/ derungen, vor denen Deutschland und Europa stehen. CSU]) 17852 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Bernd Westphal (A) Deshalb ist es gut, dass wir genau hingucken, ob die Um- rung endlich so weit bekommen, dass sie es schafft: Der (C) setzung so funktioniert. Soli muss endlich für alle weg; er ist ja auch für alle eingeführt worden. Die Unternehmen brauchen endlich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten eine deutliche Entlastung, die in anderen Ländern schon der CDU/CSU) vorgenommen wurde; denn wir stehen ja im internationa- Die Menschen brauchen vor den Veränderungen keine len Wettbewerb. Angst haben. Ganz im Gegenteil: Sichere Arbeitsplätze kann es in Zukunft nur dann geben, wenn sie mit Nach- (Beifall bei der AfD – Timon Gremmels [SPD]: haltigkeit, Klimapolitik und Umweltschutz vereinbar Wenn wir die Vermögensteuer einführen, ger- sind. Dafür brauchen wir natürlich auch eine Wasserstoff- ne!) strategie – sie ist schon angesprochen worden –, und die Ein Riesenklotz am Bein der Wirtschaft ist Ihre Klima- Transformationsprozesse in der Chemie- und Stahlin- und Energiepolitik. Gegen jede Vernunft treiben Sie eine dustrie müssen gestaltet werden. Auch durch eine Kauf- ideologische Energiewende voran, die überhaupt nicht prämie für Elektroautos, Herr Altmaier, brauchen wir funktioniert und unsere Versorgungssicherheit aufs Spiel dringend Signale für die Verbraucherinnen und Verbrau- setzt. cher. (Sören Bartol [SPD]: Das hat etwas mit der (Beifall bei der SPD) Zukunft unserer Kinder zu tun!) Auch im Bereich Mieterstrom brauchen wir mehr Dyna- Und dann muss der Bürger diesen Irrsinn auch noch mit mik. All das sind Innovations- und Investitionsimpulse, den höchsten Strompreisen in Europa bezahlen, Herr die wir brauchen. Bartol. Das ist gaga! Es gibt keinen Grund, pessimistisch zu sein. Es gibt (Sören Bartol [SPD]: Das ist nicht gaga! Sie jedoch allen Grund, mit dieser Politik offen, engagiert sind gaga!) und mutig die Verantwortung für die Zukunftsfragen zu übernehmen. Wir sind dazu bereit. Die Zukunft hängt Kein anderes Land sägt sich selbst den Ast ab, auf dem es davon ab, was wir heute tun. sitzt. Ganz offensichtlich haben wir nicht einen Klima- notstand, sondern einen ausgemachten Bildungsnotstand. Herzliches Glückauf! (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der SPD) Jetzt fahren Sie auch noch die Automobilindustrie ge- gen den Baum. (B) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (D) Nächster Redner ist der Kollege Leif-Erik Holm, AfD. (Widerspruch des Abg. Timon Gremmels [SPD]) (Beifall bei der AfD) Die Verbrauchsvorgaben der EU, die Sie mit zu verant- Leif-Erik Holm (AfD): worten haben, zwingen die Hersteller jetzt, E-Autos auf Liebe Bürger! Herr Präsident! Meine Damen und Her- den Markt zu bringen, obwohl sie wissen, dass die kein ren! Die Wirtschaft kann also aufatmen. Die Rezession Mensch kaufen will. Die Gründe liegen auf der Hand: zu fällt aus; zumindest bei den Herstellern von Papierrollen teuer, zu lange Ladezeiten, zu geringe Reichweite, kaum für Kassenzettel. Die Bonpflicht macht es möglich. Zum Infrastruktur. Da werden auch 6 000 Euro Kaufprämie Wohle der Wirtschaft endlich noch mehr Bürokratie! Was nichts dran ändern. Es macht einfach keinen Sinn. E- für ein Unfug, meine Damen und Herren! Autos sind weder umweltfreundlicher als moderne Die- sel, noch sind sie ökonomischer. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD – Sören Bartol [SPD]: Das Das steht sinnbildlich für Ihre unausgegorene Politik. ist doch absoluter Quatsch! Lesen Sie doch mal (Timon Gremmels [SPD]: Wenn das Ihr einzi- ein paar Gutachten und Studien!) ges Problem ist!) – Lesen Sie doch einmal nach. Ob es eben diese Bonpflicht ist oder die Industriestrategie Wir erleben jetzt, wie unsere Automobilindustrie, das 2030 mit staatlich verordneten nationalen Champions: Rückgrat der deutschen Wirtschaft, zunichtegemacht Die Sachverständigen, Herr Altmaier, haben Ihnen ja wird. Tausende Stellen sind bereits verloren gegangen. diese Idee zu Recht um die Ohren gehauen. Wir brauchen Kurzarbeit ist angesagt. Eine Studie der Bundesregierung Champions, ja, aber keine künstlichen Champions, son- sieht den Verlust von über 400 000 Arbeitsplätzen bis dern freien Wettbewerb und Luft zum Atmen für unsere 2030. Und das alles passiert nur wegen ideologisch völlig Unternehmen. überzogener Vorgaben. Diese Regierung hat offensicht- (Beifall bei der AfD) lich nicht die Kraft, dem irren Zeitgeist zu widerstehen. Auch ihr Jahreswirtschaftsbericht liest sich mittlerweile, Die Firmen ersticken an Bürokratie und Belastungen. als hätte ihn Greta geschrieben. Wir dagegen können den Wir haben eine der höchsten Steuer- und Abgabenlasten Autofahrern versichern: Die AfD steht weiter zum Ver- weltweit. Da müssen wir endlich ran. Mein Zeuge ist brennungsmotor, einfach weil er überlegen ist. Carsten Linnemann. Er hat es gesagt. Es war eine schöne Oppositionsrede, wirklich. Aber Sie müssen Ihre Regie- (Beifall bei der AfD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17853

Leif-Erik Holm (A) Meine Damen und Herren, wir brauchen keine teuren publik Deutschland. Wir haben den höchsten Beschäfti- (C) und sinnlosen Klimapakete oder Green Deals. Wir müs- gungsstand: 45,3 Millionen Menschen, die in Lohn und sen endlich zurückkommen zu einer sicheren und bezahl- Brot sind. Wir haben die niedrigste Arbeitslosigkeit seit baren Energieversorgung für Bürger und Unternehmen. der Wiedervereinigung. Und wir haben 4,2 Millionen Stecken wir das Geld also lieber in die Energieforschung, Menschen mit ausländischem Hintergrund, die bei uns um wirklich tragfähige Alternativen für die Zukunft zu beschäftigt sind, davon 2,24 Millionen aus der EU. Das finden. sind die Fachkräfte, die wir zum Teil händeringend su- chen und die diesen Wirtschaftsaufschwung auch mittra- Die Bundesregierung jedenfalls wird mit ihrer Wirt- gen. Deshalb ist es gut und richtig, dass wir im letzten schaftspolitik scheitern. Es hat schon seinen Grund, wa- Jahr entsprechende Entscheidungen im Fachkräftebe- rum sich selbst die Wirtschaftsverbände beklagen. Wa- reich getroffen haben. Wir brauchen diese Fachkräfte chen Sie also auf! Unsere Unternehmen brauchen weiterhin. endlich ein gutes Klima. Darauf kommt es an. Der Aufschwung kommt mehr denn je bei den Bürgern (Beifall bei der AfD – Timon Gremmels [SPD]: an. 2020 werden zum ersten Mal seit unvordenklichen Die Wirtschaftsverbände wollen zum Beispiel Zeiten die Nettolöhne sogar stärker steigen als die Brutto- Windkraft ausbauen! Wenn, dann zitieren Sie löhne, und zwar um 2,9 Prozent. Die Lohnquote steigt – richtig!) das wurde von den Linken immer eingefordert; davon Da ich erstaunlicherweise noch ein bisschen Zeit habe, habe ich vom Kollegen Ernst heute nichts gehört, dabei möchte ich noch eines sagen. hätte er das einmal loben können, sonst spricht er es immer an – zum ersten Mal seit den 90er-Jahren wieder (Sören Bartol [SPD]: Sagen Sie einmal etwas deutlich an auf 70,9 Prozent. Die Beiträge in der Sozial- zum Standortrisiko AfD!) versicherung bleiben unter 40 Prozent. Den Vorschlag Herr Wirtschaftsminister, Sie haben vorhin gesagt: Dieje- des Wirtschaftsministers, diese zu deckeln oder zu be- nigen, die von der Rezession reden, schaden unserem grenzen, können wir nur nachdrücklich unterstützen; Land. denn das war der Grund – das war ja das große Thema in den 90er-Jahren –, weshalb die Glücksspirale damals (Sören Bartol [SPD]: Ihr schadet unserem durchbrochen wurde und wir in einer Teufelsspirale wa- Land!) ren von immer mehr Arbeitslosen. Weil die Sozialver- Das entspricht nicht meinem Selbstverständnis in diesem sicherungsbeiträge zu hoch waren, waren wir nicht wett- Haus. Wir sind nicht die Volkskammer. Wir sind hier bewerbsfähig. Deshalb müssen sie dauerhaft unter aufgerufen, über die Probleme der deutschen Wirtschaft 40 Prozent gehalten werden. (B) zu reden. (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wovon Auch über die Neuverschuldung und die Schuldentil- reden Sie denn?) gung spricht kein Mensch mehr. Wir haben im letzten Wir haben eine Teilrezession im verarbeitenden Gewer- Jahr das Maastricht-Kritierium eingehalten und sind bei be, in der Industrie. Darüber muss hier in diesem Hause einer Staatsverschuldung von unter 60 Prozent des Brut- geredet werden. Darauf haben die Bürger ein Recht. toinlandsprodukts geblieben. Das ist für uns aber nicht genug. Das Maastricht-Kriterium ist eine Obergrenze. Danke schön. Wir werden dieses Jahr Richtung 55 Prozent gehen. Das (Beifall bei der AfD – Sören Bartol [SPD]: heißt, wir haben solide gewirtschaftet, wir haben solide Standortrisiko AfD! Keiner siedelt sich mehr Haushalte, und trotzdem können wir uns die größten Inf- an bei euch!) rastrukturinvestitionen der öffentlichen Hand leisten, die wir seit der Wiedervereinigung hatten. Insofern gibt es wirklich sehr viel Gutes zu berichten. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer, Auch geben wir mehr Geld für Forschung und Innova- CDU/CSU. tion aus. Da will ich bei dieser Gelegenheit klarstellen: Es gab die eine oder andere Meldung und auch besorgte (Beifall bei der CDU/CSU – Michael Grosse- Schreiben, dass wir weniger für die Energieforschung Brömer [CDU/CSU]: Erzähl ihm noch mal, ausgeben. Das ist natürlich nicht der Fall. Die Ausgaben wie es hier funktioniert! In einfachen Sätzen! – für die Energieforschung lagen 2011 bei rund 650 Millio- Gegenruf des Abg. Sören Bartol [SPD]: Lohnt nen Euro und 2018 bei knapp 1,1 Milliarden Euro, also sich gar nicht, darüber zu reden!) doppelt so hoch. Auf diesem hohen Niveau wird sie nicht nur verstetigt, sondern sie wächst weiter an. Wir geben Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): beispielsweise für die Reallabore, ein neues, gutes, inno- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- vatives Instrument des Technologietransfers im Energie- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die deutsche bereich, zwischen 2019 und 2022 zusätzlich 100 Millio- Glücksspirale dreht sich weiter, und zwar im elften Jahr. nen Euro pro Jahr aus. Insofern könnten wir sagen: Alles Es ist bereits vom Bundeswirtschaftsminister und auch gut, wunderbar, weiter so! – Das mache ich aber nicht. vom Kollegen Linnemann angesprochen worden: Wir sind im elften Jahr des Wachstums, wenn auch moderat, In der Tat gibt es auch Sorgenkinder. Wir haben als und das gab es noch nie in der Geschichte der Bundesre- Träger des Wachstums den privaten Konsum aufgrund 17854 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Dr. Joachim Pfeiffer (A) der Glücksspirale, die ich gerade beschrieben habe. Wir der Grundstoffindustrie – egal ob Chemie, Kupfer, Alu- (C) haben den staatlichen Konsum mit 0,5 Prozent; der pri- minium – hier in Europa bleiben und es kein sogenanntes vate liegt bei 0,7 Prozent. Wir haben auch Bauinvestitio- Carbon Leakage, keine Abwanderung der Industrie gibt. nen. Wir stehen gerade, von der Öffentlichkeit fast unbe- Ein Industriestrompreis ist hier allemal die bessere Lö- merkt, vor einem kleinen Bauwunder: 700 000 sung als die angedachte Border Adjustment Tax. Genehmigungen im Baubereich, die noch nicht umge- setzt sind, die also dafür sorgen, dass noch gebaut wird. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Im letzten Jahr gab es 350 000 neue Baugenehmigungen, Auch andere Instrumente wie die Important Projects of so viele wie schon lange nicht mehr. Das Baukindergeld Common European Interest im Batteriebereich und in der schlägt voll ein und trägt maßgeblich dazu bei, dass breite Mikroelektronik müssen ausgebaut werden. Ich bin der Teile unserer Bevölkerung in der Lage sind, zukünftig Meinung, dass wir sie sowohl bei 5G als auch bei 6G Wohneigentum zu erwirtschaften. brauchen, damit Europa hier die Kompetenzen zurückge- winnt. Wenn wir diese klugen Strukturreformen jetzt an- (Beifall bei der CDU/CSU) gehen, dann wird der Aufschwung weitergehen und die Sorgenkind ist aber der Außenbeitrag; das wurde heute deutsche Glücksspirale sich weiterdrehen. schon angesprochen. Über 30 Jahre war – mit Ausnahme In diesem Sinne lassen Sie uns in diesem Jahr dafür der Jahre 1993 und 2009, in denen es Rezessionen gab – gemeinsam arbeiten. der Außenbeitrag immer der Träger des Wachstums. Auch weltweit ist in über 40 Jahren das Handelsvolumen (Beifall bei der CDU/CSU) immer stärker gewachsen als das Sozialprodukt. Das heißt, der Handel und die Globalisierung haben dazu ge- führt, dass alle, die dort mitmachen, es besser haben, Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: mehr davon haben und ein größeres Wachstum erzielen; Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Houben, Kollege Linnemann hat das vorhin angesprochen. Das FDP. muss man mit aller Deutlichkeit wiederholen: Wer der (Beifall bei der FDP) Abgrenzung und dem Protektionismus, wie es die AfD tut oder wie die linke Seite das angesprochen hat, das Reinhard Houben (FDP): Wort redet, der schadet Deutschland, der schadet der Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- deutschen Wirtschaft, der schadet der europäischen Wirt- ren! Carsten Linnemann, Ihren Reden höre ich immer schaft. unheimlich gerne zu; das ist super. Nur, warum setzen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Sie denn diese Politik in der Bundesregierung nicht um? (B) (D) ordneten der SPD) (Beifall bei der FDP) Wir müssen alles tun, um die multilateralen Institutio- Machen Sie weiter, Herr Linnemann! Sie sind offensicht- nen wieder lebensfähig zu machen. Wir müssen alles tun, lich in Ihrer Fraktion in der Minderheit; der Eindruck auch im Rahmen einer Koalition der Willigen. Es gibt entsteht zumindest bei mir. Sie können immer auf die genug Länder auf dieser Welt, mit denen wir freien Han- Unterstützung der FDP im Bundestag bei Ihren Themen del treiben können, von Japan über Neuseeland, Austra- setzen. Vielen Dank! lien, Kanada bis hin zu den Mercosur-Ländern. Europa muss hier an der Spitze sein und die Koalition der Willi- (Beifall bei der FDP – Timon Gremmels gen für Freihandel und Globalisierung anführen. [SPD]: Werben Sie ihn doch ab!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – Ich glaube, er ist besser in der CDU aufgehoben. Da muss man mehr besser machen als bei der FDP, wenn es Dass die Wertschöpfungsketten zurückgehen, ist ein um Wirtschaftsfragen geht. Grund dafür, warum der Außenbeitrag im letzten Jahr einen negativen Beitrag geleistet hat. Die Wertschöp- (Beifall bei der FDP – Michael Grosse-Brömer fungsketten, also Vorprodukte, die geliefert werden, und [CDU/CSU]: Das machen wir auch!) deren Austausch – seit 200 Jahren wissen wir, dass Han- Herr Bundesminister, Sie sprechen von Pessimisten del Effizienzgewinne für alle bringt – sind im letzten Jahr und Schlechtrednern. Ich habe schon einmal versucht, kürzer geworden. Das ist ein erstes Fanal. Dagegen müs- das zu erklären. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass sen wir kräftig arbeiten. es dann, wenn ein Oppositionspolitiker vom Rednerpult Das zweite Sorgenkind sind – Peter Altmaier hat das aus die Wirtschaft – in Anführungszeichen – „schlecht- angesprochen – die Ausrüstungsinvestitionen. Wir brau- redet“, der Wirtschaft auch wirklich schlecht geht. Das ist chen einen wettbewerbsfähigen Industriestandard. Unter- doch nun wirklich irrsinnig. Wenn der Kollege nehmensteuerreform ist das andere Stichwort. Aber wir Linnemann sagt – wenn ich ihn zitieren darf –: „Die brauchen in Europa auch eine europäische Industriestra- Industrie steckt in einer Rezession“, ist dann Ihr Kollege tegie, die Antworten darauf gibt, wie Europa bei den Linnemann ein Schlechtredner? Machen Sie das einmal Herausforderungen und Zielen, die wir uns beispielswei- unter sich aus, meine Damen und Herren. se im Rahmen des Green Deals gesetzt haben, handeln soll. Wir benötigen einen europäischen Industriestrom- (Beifall bei der FDP) preis, der im Vergleich zu anderen Regionen der Welt Fakt ist zumindest: Das prognostizierte Wachstum von wettbewerbsfähig ist, sodass die Wertschöpfungsketten 1,1 Prozent wird hauptsächlich durch den Kalender ge- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17855

Reinhard Houben (A) tragen. Im Jahr 2020 gewinnen wir allein dreieinhalb mentlich der Parlamentarische Geschäftsführer Carsten (C) Arbeitstage. Damit kann man schon einen größeren Teil Schneider – Sie als Problembären für die deutsche Wirt- des Anstiegs des Wirtschaftswachstums von 0,6 auf schaft und für die deutsche Energiewende bezeichnet. Ich 1,1 Prozent darstellen. Damit sollten wir uns aber nicht möchte ihm nicht widersprechen. zufriedengeben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gerade ist eine aktuelle Meldung hereingekommen – In Ihre Amtszeit fällt der historische Tiefstand beim das finde ich traurig in unserem Land, Herr Wirtschafts- Ausbau der Windenergie seit Einführung des EEG vor minister –: Wir reden über Wirtschafts- und Ordnungs- 20 Jahren. politik eigentlich nur dann, wenn die Arbeitslosenzahlen steigen. Wenn wir im Moment über die Ticker mitbekom- (Tino Chrupalla [AfD]: Gott sei Dank!) men, dass die Arbeitslosigkeit wieder auf 5 Prozent ge- Gleichzeitig kündigten Sie – so viel Humor muss man stiegen ist, dass 200 000 Menschen in unserem Land erst einmal haben – gestern an, dass wir global eine Vor- mehr arbeitslos sind, dann kann uns das nicht freuen. reiterrolle beim CO -freien Wasserstoff anstreben. Sie Deswegen sollten wir mehr Anstrengungen zeigen und 2 scheinen über Zauberkünste zu verfügen: Mit immer we- dürfen uns nicht auf dem ausruhen, was wir hier so all- niger erneuerbaren Energien wollen Sie immer mehr grü- gemein gehört haben. nen Wasserstoff herstellen. Willkommen in der Voodoo- (Beifall bei der FDP) Ökonomie des Peter Altmaier! Dass zumindest die Gewerkschaften in unserem Land (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) begriffen haben, in welcher Situation wir stecken, zeigt Wenn wir ernsthaft – dieses Ziel verfolge ich wie Sie – sich doch dadurch, dass die starke IG Metall in Tarifver- Technologieführerschaft bei Wasserstoff, bei Power-to- handlungen eintritt und nicht etwa über Gehalts- und Gas, bei der Modernisierung der Grundstoffindustrien Tariferhöhungen diskutieren möchte, sondern darüber, anstreben wollen – allerdings wäre es auch nicht der wie Arbeitsplätze und Standorte in Deutschland gesichert richtige Weg, gemäß dem Buch „Das Supermolekül“, werden können. Die IG Metall möchte einen Tarifvertrag das Sie, Herr Theurer, erwähnt haben, eine Technologie abschließen, der zur Standortsicherung dient. Da sollten sozusagen über alle anderen zu erheben, was Sie uns ja beim Wirtschaftsminister eigentlich die Alarmglocken immer vorwerfen – schrillen. (Michael Theurer [FDP]: Das machen wir (Beifall bei der FDP – Michael Theurer [FDP]: nicht!) Wir begrüßen natürlich, dass die Gewerkschaf- (B) ten das machen!) und wenn wir diese Technologien nach vorne stellen wol- (D) len, dann brauchen wir eine Verdreifachung des Ausbau- Lieber Herr Pfeiffer, eine Bemerkung kann ich mir tempos bei den erneuerbaren Energien. Was Sie liefern, nicht sind Abstandsregelungen, die eine komplette Branche abwürgen. So kann es in Deutschland nicht weitergehen. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ver- kneifen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – – vielen Dank; manchmal ist es auch nett, wenn die CDU/ Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Das stimmt CSU einem etwas Freundliches zuruft – verkneifen. Sie überhaupt nicht!) hatten von einer Glücksspirale gesprochen. Ich finde, Wir laufen sehenden Auges in eine Ökostrom- und dass das eine etwas merkwürdige Wortwahl ist. Sie haben Versorgungslücke hinein. Damit gefährden Sie auch die den Freihandel angesprochen. Warum, lieber Herr Zukunftsfähigkeit unserer Industrie; denn wenn Sie mit Pfeiffer – täglich grüßt das Murmeltier –, ist diese Bun- der chemischen Industrie, mit den Grundstoffindustrien, desregierung nicht in der Lage, den Handelsvertrag mit mit der Stahlindustrie, der Zementindustrie, der Gipsin- Kanada, CETA, abzuschließen? Warum haben wir das dustrie, mit deren Vertretern ich heute sprechen werde, immer noch nicht gemacht? Mit wem, meine Damen reden, dann werden sie Ihnen alle sagen: Wenn wir den und Herren, sollen wir denn dann noch Verträge abschlie- Wandel hinkriegen wollen, dann brauchen wir erneuerba- ßen, wenn wir es noch nicht einmal mit Kanada machen re Energien. – Wir kommen da momentan nicht vom können? Das ist ein großes Problem in dieser Bundesre- Fleck, und dafür sind Sie als Wirtschaftsminister verant- gierung. Ändern Sie das! wortlich. (Beifall bei der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Jetzt habe ich auch der Rede von Herrn Pfeiffer zuge- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: hört. Sie haben sich zum Thema „Border Adjustment Jetzt hat das Wort der Kollege Dieter Janecek, Bünd- Tax“ geäußert. Die Europäische Kommission geht voran nis 90/Die Grünen. und möchte für den Wandel der Grundstoffindustrie – Bernd Westphal nickt, weil er das Thema auch betreibt – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) einen Rahmen schaffen. Wir brauchen einen Rahmen, weil die betroffenen Industriebereiche das nicht allein Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): hinbekommen. Sie brauchen Unterstützung, sie brauchen Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Mi- ein Level Playing Field. Jetzt ist die Äußerung aus der nister, vor wenigen Tagen hat Ihr Koalitionspartner – na- CDU/CSU-Fraktion: Wir wollen lieber einen niedrigen 17856 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Dieter Janecek (A) Industriestrompreis, als überhaupt darüber zu reden, wie die SPD, und da bin ich froh, dass wir in dieser Regierung (C) wir als Europäische Union stark sein wollen. – Das ist sind. doch genau der falsche Weg. Wir brauchen ein Konzept, wie wir gemeinsam mit der Industrie vorangehen können. (Beifall bei der SPD) Dennoch müssen wir natürlich Obacht geben; denn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – einzelne Branchen schwächeln. Dabei sollten wir nicht Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Nicht zuge- ausschließlich die großen Industrieunternehmen sehen, hört! Ich habe etwas ganz anderes gesagt!) sondern natürlich auch den Mittelstand und einen Teil Wenn wir von Planungssicherheit reden, müssen wir des Handwerks. Auch sie brauchen unsere Aufmerksam- feststellen, dass genau dieser Rahmen momentan nicht da keit; denn die Abhängigkeit von den Großen erschwert ist. Wie sollen denn die Investitionsentscheidungen – es den Kleineren häufig die Planung. Trotzdem haben sie geht um Hunderte von Milliarden Euro, die in diesen aufgrund ihrer Größe den Vorteil, schneller umstrukturie- Industrien in den 2020er-Jahren investiert werden müs- ren zu können. Aber auch das braucht Know-how, Ar- sen, um zu modernisieren – getroffen werden, wenn wir beitskräfte und Finanzierung. Es gilt auch hier, gezielt nicht entschlossen einen Rahmen setzen? vorbereitet zu sein, und deshalb sollten wir die guten Ergebnisse der gestrigen Beratung des Koalitionsaus- Das ist die Aufgabe, die ein Wirtschaftsminister anzu- schusses zügig umsetzen. gehen hat. Sie sind Ankündigungsweltmeister; beim Um- setzen mangelt es eben bei Ihnen. Mit uns als Grüne be- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. kommen Sie den Leitfaden für die ökologische Dr. Andreas Lenz [CDU/CSU]) Transformation, die die Wirtschaft braucht. Nur so si- chern wir die Arbeitsplätze der Zukunft. Darum geht es. Was mir insgesamt bei der Strategie für eine nachhal- tige Wirtschaft fehlt, ist der Gerechtigkeitsaspekt. Wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) halten unsere Wirtschaft an, die Unternehmen klimaneut- ral umzugestalten. Darin sehen wir die Chance, techno- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: logisch Vorreiter zu sein und unseren Wohlstand und auch das Wachstum zu erhalten. Das ist richtig und wichtig. Sabine Poschmann, SPD, hat als nächste Rednerin das Doch wäre es bei der derzeitigen ungleichen Vermögens- Wort. verteilung nicht sinnvoll, auch den sozialen Umbau der (Beifall bei der SPD) Wirtschaft mitzudenken? Jetzt mögen Sie meinen: Ja was sollen wir noch alles tun? – Aber an dieser Stelle sage ich Sabine Poschmann (SPD): Ihnen: Ohne sozialen Frieden gibt es auf Dauer kein Ge- (B) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und schäft. (D) Kollegen! Alle Jahre wieder bestaunen wir zur selben (Beifall bei der SPD) Zeit den Jahreswirtschaftsbericht. Dabei müssen wir nicht bei Adam und Eva anfangen. (Reinhard Houben [FDP]: Das steht so im Ge- Es gibt bereits Ansätze, für die wir allerdings von alten setz, Frau Poschmann!) Strukturen abrücken müssen. Dabei denke ich an Mitar- Ich sage natürlich extra „bestaunen wir“; denn es ist beiterbeteiligungen, dabei denke ich an eine Gesell- eigentlich unglaublich, welchem externen Einfluss unse- schaftsform „Verantwortungseigentum“, dabei denke re Wirtschaft doch so standhält. Sie ist immer noch ro- ich an soziales Unternehmertum. All das bietet Chancen bust, und dazu haben wir durchaus unseren Teil beige- nicht nur für den sozialen Frieden, sondern für mehr tragen. Wir haben zum Beispiel die Binnennachfrage Innovation, für Mitarbeiterbindung, Unternehmensnach- durch den Mindestlohn gestärkt. folge, für die Lösung von gesellschaftlichen Problemen. Nutzen wir doch diese Chance! (Beifall bei der SPD) Herzlichen Dank. Deutschland – das sei jetzt einmal in Richtung FDP und in Richtung Grüne gesagt – ist nach einer neuesten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Studie sogar Innovationsweltmeister, die Nummer eins der CDU/CSU) der Welt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Abg. Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]) Jetzt erteile ich dem Kollegen Dr. Andreas Lenz, CDU/ CSU, das Wort. Da kann man doch nicht kritisieren, dass wir nicht zu- kunftsfest seien, sondern wir gehen genau in diese Rich- (Beifall bei der CDU/CSU) tung von Innovationen, und genau das ist der Weg, die Zukunft, unsere Wirtschaft, aber auch die Arbeitsplätze Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU): zu sichern. Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Jahres- (Beifall bei der SPD) wirtschaftsbericht liegt vor; er wurde auch schon ausgie- Noch einmal in Richtung FDP: Wenn sich jemand um big diskutiert. Die Zahlen sind gut. Das Wirtschafts- steigende Arbeitslosigkeit oder, besser gesagt, um Ver- wachstum betrug im letzten Jahr 0,6 Prozent und wird meidung von Arbeitslosigkeit kümmert, dann ist es doch in diesem Jahr wahrscheinlich 1,1 Prozent betragen, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17857

Dr. Andreas Lenz (A) und das in einem schwierigen wirtschaftlichen Umfeld. oder Bulgarien, sondern als Europa insgesamt mit den (C) Wir haben externe Schocks, Stichwort „Handelskonflik- USA und China. Das verkennen Sie komplett. te“, und auch in diesem Haus ist es durchaus so – diesen Eindruck kann man zumindest gewinnen –, dass einige (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zu- gern die Rezession in Deutschland herbeigeredet hätten. ruf der Abg. Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/ Niemand sagt, dass Sie das nicht dürfen. Aber sich das zu DIE GRÜNEN]) wünschen, ist natürlich dann noch einmal verwerflicher. Wenn wir den Leistungsbilanzüberschuss abbauen, schaden wir auch unseren europäischen Partnern. Getragen wird das Wachstum vom Inlandskonsum, von den fleißigen Bürgerinnen und Bürgern, von den (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Unternehmern, vom Mittelstand, vom Handwerk. Für NEN]: Das ist Quatsch!) uns sind Unternehmer immer noch Vorbild und nicht Feindbild. An dieser Stelle sage ich meinen herzlichen Jetzt wollen Sie auch noch die Wettbewerbsfähigkeit Dank an all diese fleißigen Menschen. Deutschlands verbieten. Das ist mit uns nicht zu machen, meine sehr geehrten Damen und Herren. Im Gegenteil: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Wir brauchen noch mehr Wettbewerbsfähigkeit, ob bei der SPD) den Steuern oder auch bei den Energiekosten. Die Bauinvestitionen boomen. Sie stiegen letztes Jahr Der Industriestromtarif auf europäischer Ebene wurde um 3,8 Prozent und werden in diesem Jahr um über 2 Pro- angesprochen. Wir brauchen mehr Wagnis-, mehr Wachs- zent steigen. Aber auch die Investitionen des Bundes be- tumsfinanzierungen. Da begrüße ich ausdrücklich, dass finden sich auf Rekordniveau. Sie beliefen sich im letzten schon jetzt daran gearbeitet wird, wie man den 10-Mil- Jahr auf knapp 40 Milliarden Euro, und sie werden weiter liarden-Euro-Beteiligungsfonds, der im November be- steigen. schlossen wurde, richtig ausgestaltet. So geht Zukunft, so geht Innovation, und so werden Unternehmensgrün- All das sind Beiträge für Wachstum und Beschäfti- dungen auf den Markt gebracht, meine sehr geehrten gung, meine sehr geehrten Damen und Herren, und dies Damen und Herren. bei einem ausgeglichenen Haushalt. Übrigens liegen wir beim Maastricht-Kriterium der Gesamtverschuldung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wieder unter 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Auch darauf können wir stolz sein. Jetzt seien wir mal ehrlich: Von der FDP kommt nichts außer Problembeschreibung. Aber lassen Sie mich eines ganz klar sagen: Es ist in (Reinhard Houben [FDP]: Haben Sie nicht (B) dieser Situation nicht die Aufgabe des Bundes, jetzt die (D) Kommunen zu entschulden. richtig lesen können, oder wollen Sie nicht richtig lesen?) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Der BDI-Präsident Dieter Kempf bezeichnet die AfD als Die Kommunen zu entschulden, das ist, wenn überhaupt, Risiko für die deutsche Wirtschaft. Ähnlich sieht es üb- Aufgabe der Bundesländer. Auch deswegen wurden die rigens Siemenschef Kaeser. Länder in der Vergangenheit maßgebend entlastet. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Übrigens muss man an dieser Stelle auch erwähnen, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dass wir nach wie vor eine Rekordbeschäftigung in Übrigens, keine Frage: Wir stehen vor konjunkturellen Deutschland haben. 45,3 Millionen Menschen sind in und auch vor strukturellen Herausforderungen. Wirt- Deutschland erwerbstätig. Die Zunahme beruht im Übri- schaftspolitik ist gefragt, ist mehr denn je gefragt; aber gen hauptsächlich auf einem Zuwachs an sozialversiche- das wird nur mit der CDU/CSU klappen, meine sehr ge- rungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen. Auch die- ehrten Damen und Herren. Das muss nach der Diskussion ses Jahr wird die Beschäftigung nochmals zunehmen, um auch klar sein. über 200 000 Beschäftigte. Das ist die Grundlage für Wohlstand, die Grundlage auch für gesellschaftliche Teil- Anlässlich der aktuellen Diskussion und der Proteste habe. Um das zu erhalten, brauchen wir weiterhin einen um die Landwirtschaft möchte ich betonen, dass die flexiblen, das heißt einen aufnahmefähigen Arbeitsmarkt, Landwirtschaft die Wirtschaft des ländlichen Raumes meine sehr geehrten Damen und Herren. ist. Landwirte sind nicht nur irgendwelche Kulturlands- chaftspfleger, die für diese Aufgabe entlohnt werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Hier werden hochwertige Produkte produziert, hier findet Nur noch einmal kurz zum Thema Außenhandel. Der bedeutende Wertschöpfung statt. Jeder neunte Arbeits- Außenbeitrag zum Wachstum liegt dieses Jahr bei minus platz steht mit dem Agribusiness, mit den vor- und nach- 0,4 Prozent, ist also negativ. Wir haben es ja bereits ge- gelagerten Bereichen, in Verbindung. Auch darauf kön- hört: Der Leistungsbilanzüberschuss wird dieses Jahr auf nen wir stolz sein, und auch das müssen wir weiter 6,7 Prozent sinken, von 8,6 Prozent bezogen auf das BIP unterstützen, meine sehr geehrten Damen und Herren. in 2015. In einer solchen Situation beschließen die Grü- (Beifall bei der CDU/CSU) nen – wörtlich –: „ … muss Deutschland aktiv seinen überbordenden Leistungsbilanzüberschuss reduzieren Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität und den europäischen Partnern mehr Luft zum Atmen stärken, heißt es im Jahreswirtschaftsbericht. Dafür ha- lassen ...“ Wir konkurrieren doch nicht mit Griechenland ben wir viel getan. Dafür müssen wir aber zweifelsohne 17858 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Dr. Andreas Lenz (A) auch in Zukunft noch viel tun. Ich lade alle ein, dass wir (Beifall bei der SPD) (C) darüber diskutieren und die Aufgaben der Zukunft ge- Zum Beispiel bei der energetischen Gebäudesanie- meinsam anpacken. rung: Wir haben im Moment eine Sanierungsquote von In diesem Sinne: Herzlichen Dank. 0,7 Prozent, brauchen aber eine Quote von 2 Prozent. Es sind alles Handwerksberufe, die dort gebraucht werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) (Beifall bei der SPD) Weiteres Beispiel: Bei der Veredelung von landwirt- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: schaftlichen Produkten wie Fleisch und Milch vor Ort Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der haben wir die Möglichkeit, regionale Produkte wieder Kollege Johann Saathoff, SPD. zu stärken. Damit findet auch eine stärkere Identifikation des Verbrauchers mit dem Produkt statt, und damit wird (Beifall bei der SPD) das Problem der Landwirtschaft ein Stück weit einge- dämmt. Johann Saathoff (SPD): (Beifall bei der SPD) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ausgangslage – das haben wir jetzt oft Wesentlich für die Stärkung der ländlichen Räume ist gehört – ist besser als prognostiziert. Trotz der vielen der Ausbau der Infrastruktur: Straßen, Schiene, Häfen, Unkenrufe hat sich die Wirtschaft weiterhin positiv ent- aber auch Breitband, vor allen Dingen Breitband- und wickelt, oder wie wir in Ostfriesland den Kritikern sagen Glasfasernetze und die 5G-Anbindung. Mit der richtigen würden: Holl’t Beck to blaaren. Infrastruktur ergeben sich hervorragende Chancen zum Beispiel auch für Start-up-Unternehmen. Es wird näm- Aber es kommen auch noch viele Herausforderungen lich künftig egal sein, von wo aus man arbeitet; und wenn auf uns zu. Wir haben heute in der Debatte unglaublich das egal ist, kann man auch da arbeiten und leben, wo es viel über Außenwirtschaft gesprochen und relativ wenig schön ist, nämlich im ländlichen Raum, wo es sicher ist über Binnenwirtschaft. Deswegen lege ich den Schwer- und wo Kinder gesund aufwachsen können. punkt meiner Rede mal auf die binnenwirtschaftliche Be- trachtungsweise. (Beifall bei der SPD – Ralph Brinkhaus [CDU/ CSU]: Genau!) Die deutsche Wirtschaft wird von außen immer mit den Unternehmen, die international bekannt sind, identifiziert Das ist nachhaltige Wirtschaftspolitik, die die Städte ent- und verbunden: Siemens, Bayer, VW usw. Aber das lastet. (B) (D) Rückgrat der deutschen Wirtschaft, liebe Kolleginnen Auch erneuerbare Energie wird im ländlichen Raum und Kollegen, ist der Mittelstand: produziert. Ich habe das an dieser Stelle schon mal ge- sagt. Klimapolitik ist Wirtschaftspolitik, meine Damen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und Herren. Wirtschaftspolitik ist zugleich auch Struktur- der CDU/CSU) politik. Das ist die Handschrift der SPD-Fraktion. Die viele kleine Unternehmen, die teilweise industrielle Pro- Ausgangslage ist gut. Packen wir’s an! duktion erst möglich machen, und viele Handwerksbe- triebe mit bestens ausgebildeten Mitarbeitern. Gerade (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten diese kleinen und mittleren Unternehmen finden sich der CDU/CSU) oft in den ländlichen Räumen des Landes. Das muss man an dieser Stelle konstatieren: Das verfassungsmäßi- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: ge Ziel der gleichwertigen Lebensverhältnisse in Stadt Damit schließe ich die Aussprache. und Land in Deutschland gerät zunehmend aus den Fu- gen. Wollen wir die Wirtschaft stärken, Wirtschaftspoli- Zu den Tagesordnungspunkten 8 b und 8 c wird inter- tik vorantreiben, dann müssen wir die ländlichen Räume fraktionell die Überweisung der Vorlagen auf den Druck- stärken, damit das auch dort stattfinden kann. sachen 19/16850 und 19/15050 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es (Beifall bei der SPD) weitere Überweisungsvorschläge? – Das ist nicht der Wir müssen die ländlichen Räume nicht deshalb stär- Fall. Dann verfahren wir so. ken, um ihnen tröstend Almosen entgegenzuwerfen, son- Tagesordnungspunkt 8 d. Wir kommen zur Beschluss- dern weil wir die Potenziale der ländlichen Räume ken- empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Energie nen und damit die Wirtschaft voranbringen können. zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Tem- Ländliche Räume stärkt man dadurch, dass man dort po für Deutschland“. Der Ausschuss empfiehlt unter Arbeitsplätze schafft, und dafür muss man das Handwerk Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache stärken, zum Beispiel bei der Produktion von Windener- 19/16905, den Antrag der Fraktion der FDP auf der gieanlagen. Drucksache 19/14781 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Tausende Arbeitsplätze, Herr Minister, sind gerade in (Reinhard Houben [FDP]: Wir nicht!) Ostfriesland in Gefahr. Wir müssen gemeinsam dafür Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die sorgen, dass diese Menschen weiterhin Arbeit haben. Beschlussempfehlung bei Enthaltung der AfD gegen die Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17859

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) Stimmen der FDP mit den Stimmen der übrigen Fraktio- mung! – Sören Bartol [SPD]: Die haben durch- (C) nen angenommen. einandergestimmt!) Dann kommen wir zum Zusatzpunkt 4. Das ist die Wenn hier die Feststellung des Wahlergebnisses bezwei- Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft felt wird, dann lasse ich noch mal abstimmen. Wer stimmt und Energie zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/ für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Die Grünen mit dem Titel „Wirtschaft zukunftsfähig auf- Wer enthält sich? – Dann ist die Beschlussempfehlung stellen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b sei- bei Enthaltung der überwiegenden Mehrheit der Fraktion ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/16905, den der AfD mit den Stimmen aller übrigen Abgeordneten Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der angenommen. Drucksache 19/14825 abzulehnen. Wer stimmt für diese Wir kommen zum Zusatzpunkt 13 b. Das ist die Be- Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer schlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, enthält sich? – Dann ist diese Beschlussempfehlung bei Immunität und Geschäftsordnung auf der Drucksache Enthaltung der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen 19/16921 zu dem Antrag auf Genehmigung zum Vollzug von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der übri- gerichtlicher Durchsuchungs- und Beschlagnahmebe- gen Fraktionen angenommen. schlüsse. Der Ausschuss empfiehlt, die Genehmigung Liebe Kolleginnen und Kollegen, die heutige Tages- zu erteilen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – ordnung soll um die Beratung von zwei Beschlussemp- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist diese fehlungen des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität Beschlussempfehlung bei Enthaltung der Fraktion der und Geschäftsordnung auf den Drucksachen 19/16920 AfD angenommen. und 19/16921 zu zwei Anträgen auf Genehmigung zum Damit rufe ich die Zusatzpunkte 11 und 12 auf: Vollzug gerichtlicher Durchsuchungs- und Beschlagnah- mebeschlüsse erweitert werden. Diese sollen jetzt gleich ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten als Zusatzpunkte 13 a und 13 b zur verbundenen Beratung Konstantin Kuhle, Stephan Thomae, Grigorios aufgerufen werden. Das Verfahren entspricht der lang- Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der Frak- jährigen Praxis im Deutschen Bundestag. Ich gehe davon tion der FDP aus, dass wir auch heute so verfahren. – Ich sehe keinen Für ein Recht auf Anonymität im öffentlichen Widerspruch. Dann sind die beiden Punkte aufgesetzt. Raum – Keine automatisierte Gesichtserken- nung durch die Bundespolizei Dann rufe ich die soeben aufgesetzten Zusatzpunkte 13 a und 13 b auf: Drucksache 19/16862

(B) a) Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- Überweisungsvorschlag: (D) schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ausschuss für Inneres und Heimat Geschäftsordnung (1. Ausschuss) ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Dr. Irene Mihalic, Antrag auf Genehmigung zum Vollzug ge- Tabea Rößner, weiterer Abgeordneter und der richtlicher Durchsuchungs- und Beschlag- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nahmebeschlüsse Freiheit und Rechtsstaatlichkeit erhalten – Drucksache 19/16920 Kein Einsatz biometrischer Gesichtserken- b) Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- nung in öffentlichen Räumen schusses für Wahlprüfung, Immunität und Drucksache 19/16885 Geschäftsordnung (1. Ausschuss) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Inneres und Heimat (f) Antrag auf Genehmigung zum Vollzug ge- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz richtlicher Durchsuchungs- und Beschlag- Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe nahmebeschlüsse Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss Digitale Agenda Drucksache 19/16921 Es wurde für die Aussprache eine Dauer von 60 Minu- Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. ten beschlossen. – Wenn Sie vielleicht, soweit Sie nicht Zusatzpunkt 13 a. Beratung der Beschlussempfehlung an dieser Beratung teilnehmen wollen, schnell den Saal des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge- verlassen und im Übrigen Ihre Plätze einnehmen. schäftsordnung auf Drucksache 19/16920 zu dem Antrag Dann eröffne ich die Aussprache und erteile das Wort auf Genehmigung zum Vollzug gerichtlicher Durchsu- dem Kollegen Konstantin Kuhle, FDP. chungs- und Beschlagnahmebeschlüsse. Der Ausschuss empfiehlt, die Genehmigung zu erteilen. Wer stimmt für (Beifall bei der FDP) diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Beschlussempfehlung Konstantin Kuhle (FDP): bei Enthaltung der Fraktion der AfD angenommen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun- desregierung und die Große Koalition planen eine Re- (Unruhe – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/ form des Bundespolizeigesetzes. In einem ersten Entwurf DIE GRÜNEN]: Da gab es auch Zustim- für die Novelle dieses Gesetzes tauchte eine neue Er- 17860 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Konstantin Kuhle (A) mächtigungsgrundlage auf für automatisierte Gesichtser- (Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie (C) kennung im öffentlichen Raum an Verkehrsknotenpunk- bei Abgeordneten der AfD und des BÜNDNIS- ten durch die Bundespolizei. Um das gleich vorweg zu SES 90/DIE GRÜNEN) sagen: Viele Bürgerinnen und Bürger in Deutschland und Deswegen sollte der Deutsche Bundestag ein Recht auf wir Freie Demokraten sind gegen eine flächendeckende Anonymität in der Öffentlichkeit festschreiben. automatisierte Gesichtserkennung im öffentlichen Raum, Natürlich, meine Damen und Herren, gilt ein solches (Beifall bei der FDP – Michael Grosse-Brömer Recht nicht schrankenlos. Wer eine Straftat begangen hat [CDU/CSU]: Wir auch! Darum geht es doch und deswegen gesucht wird oder wer gefährlich ist, des- gar nicht! sen Identität muss durch den Staat in der Öffentlichkeit weil das nicht zu einer freiheitlichen Demokratie, son- aufgedeckt werden können, um die Bürgerinnen und dern eher in totalitäre Regime passt, wenn der Staat nach- Bürger und die öffentliche Sicherheit zu schützen. vollziehen kann, wo sich alle Bürgerinnen und Bürger Sie werden hier gleich mit dem Modellversuch am aufhalten. Berliner Südkreuz um die Ecke kommen, bei dem die (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist biometrische Gesichtserkennung in der ersten Testphase ja lustig! Darum geht es gar nicht!) ausprobiert worden ist. Da Sie bei der Union gerade die Zähne fletschen, weiß (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE ich schon ziemlich genau, was gleich hier in der Debatte GRÜNEN]: Schlechtes Beispiel!) gesagt werden wird. Hier wird gesagt werden, die Bun- Und ja: In der ersten Phase betrug die Fehlerquote gerade despolizei sei auf die Nutzung dieser neuen Technologie mal 0,5 Prozent – Menschen, die einen Datentreffer be- angewiesen, sie würde sie verantwortungsbewusst einset- kommen haben, obwohl sie gar nicht gesucht waren. zen und vor allem: Wer nichts zu verbergen hat, der hat auch nichts zu befürchten. – So werden Sie es hier gleich (Dr. [FDP]: Einer von hundert!) darstellen. Aber wissen Sie, wie viel 0,5 Prozent an einem großen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – deutschen Verkehrsknotenpunkt sind? Am Hauptbahnhof Thorsten Frei [CDU/CSU]: Stimmt! Super Re- in Frankfurt am Main mit 460 000 Fahrgästen pro Tag de! – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: sind das 2 300 Treffer, die eigentlich keine Treffer sein So kann es weitergehen!) sollten. Ich will Ihnen dazu aber sagen: Das passt überhaupt Meine Damen und Herren von der Union, Ihnen ist die (B) nicht zur Rechtslage, und das passt vor allen Dingen nicht Wirkung der Gesichtserkennung auf die Bürgerrechte im (D) zu dem, was das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2018 Allgemeinen egal. zu einem anderen Bereich der Datenerhebung im öffent- (Beifall bei der FDP) lichen Raum entschieden hat, nämlich zur Kfz-Kennzei- chenerfassung. Da hat das Bundesverfassungsgericht Aber dass Ihnen auch die Wirkung dieser 2 300 Treffer ganz eindeutig entschieden, dass schon die Erfassung egal ist, der Daten im öffentlichen Raum die Bürgerrechtsein- (Benjamin Strasser [FDP]: So ist es!) schränkung ist und nicht erst der Treffer. Und weil diese Entscheidung, die das Bundesverfassungsgericht Ende das sagt etwas über Ihren Wunsch aus, eine zweifelhafte, 2018 dazu getroffen hat, so schön ist, will ich Ihnen noch technisch unausgereifte Technologie einzuführen, ohne eine andere Passage aus dieser Entscheidung vortragen – sich hinreichend damit beschäftigt zu haben. ich zitiere –: (Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie Zur Freiheitlichkeit des Gemeinwesens gehört es, bei Abgeordneten der AfD und des BÜNDNIS- dass sich die Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich SES 90/DIE GRÜNEN) fortbewegen können, ohne dabei beliebig staatlich Hier sollte der Deutsche Bundestag ein Stoppschild auf- registriert zu werden, hinsichtlich ihrer Rechtschaf- stellen. fenheit Rechenschaft ablegen zu müssen und dem Gefühl eines ständigen Überwachtwerdens ausge- Die ganze Debatte über das Thema „automatisierte Ge- setzt zu sein. sichtserkennung“ hängt ja nicht nur am Bundespolizeige- setz, sondern auch an der Berichterstattung, die es in der (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ letzten Woche über die App Clearview gegeben hat, eine DIE GRÜNEN sowie der Abg. Anke App, die in den Vereinigten Staaten schon von Sicher- Domscheit-Berg [DIE LINKE]) heitsbehörden eingesetzt wird und mit der im öffentlichen Das sagen Ihnen nicht irgendwelche weltfremden Bür- Raum im Internet nach einem Gesicht gesucht werden gerrechtsfritzen von der FDP, sondern das sagt Ihnen kann wie in einer Suchmaschine. Das wäre das Ende das höchste deutsche Gericht. jeder Privatsphäre im öffentlichen Raum. Der Deutsche Bundestag muss deutlich machen: Wir (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE teilen die Skepsis der Europäischen Kommission. Es GRÜNEN]: Die hören nie zu!) braucht ein Moratorium für die Verwendung solcher Ap- Ich sage Ihnen: Das, was für Kfz-Kennzeichen gilt, das plikationen, und es braucht ein Recht auf Anonymität im gilt erst recht für Gesichter. öffentlichen Raum. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17861

Konstantin Kuhle (A) Vielen Dank. wäre: „Die digitale Gesichtserkennung verhindert keine (C) Straftaten“, dann würde das doch auch für die Regelun- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ gen des Strafgesetzbuches gelten. Wenn ein Richter eine DIE GRÜNEN sowie der Abg. Anke Strafe ausspricht, dann hat das auch keine unmittelbare Domscheit-Berg [DIE LINKE]) Auswirkung auf die Straftat,

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Nächster Redner ist der Kollege Thorsten Frei, CDU/ GRÜNEN]: Oje!) CSU. und trotzdem wissen wir, dass es natürlich eine enorme generalpräventive Wirkung hat. Da muss man ganz ein- (Beifall bei der CDU/CSU) fach sagen: Es ist klar, dass das genauso für die Videoer- Thorsten Frei (CDU/CSU): kennung gilt, und deswegen brauchen wir dieses Instru- mentarium. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn der Bundesinnenminister in der vergangenen Wo- Ein zweiter Punkt. Es ist auch in den letzten Tagen che die Regelungen für die automatisierte Gesichtserken- immer wieder davon gesprochen worden, dass es in der nung aus dem Entwurf für ein neues Bundespolizeigesetz Gesellschaft Widerstände gegen diese Form der Ge- herausgenommen hat, weil es da noch Fragen zu klären sichtserkennung gebe. Ich kenne keine solche Umfrage, gibt, dann ist das von uns nicht zu beanstanden. Ich halte überhaupt nicht. es für absolut richtig, dass offene Rechtsfragen geklärt werden, bevor wir in einem sensiblen Bereich der Polizei (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE die Nutzungsmöglichkeit neuer Instrumentarien eröff- GRÜNEN]: Ja, dann lesen Sie mal Bundesver- nen. fassungsgerichtsentscheidungen! Mensch!) (Anke Domscheit-Berg [DIE LINKE]: Na, Es ist eindeutig so, dass die Menschen Videoüberwa- dann macht es doch mal!) chung, auch die intelligente Gesichtserkennung, letztlich als Instrumentarium eingesetzt wissen wollen, wenn es in Aber das, was Sie hier vorgetragen haben, lieber Herr klar definierten Grenzen passiert. Kuhle, das hat mit der Realität und mit dem, was die Koalition plant, nichts, aber auch gar nichts zu tun – gar (Beifall bei der CDU/CSU – Konstantin Kuhle nichts! [FDP]: Warum klatscht denn die SPD nicht?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Diese Möglichkeit möchten wir mit dem Polizeigesetz (B) neten der SPD – Konstantin Kuhle [FDP]: Was schaffen. Deswegen wird es unser Ziel bleiben, in dieser (D) plant die Koalition?) Legislaturperiode mit der Novelle des Bundespolizeige- setzes diese Möglichkeit zu eröffnen. Es geht hier nicht um die staatliche Überwachung von Leuten, die überhaupt nichts mit diesen Dingen zu tun haben, sondern ganz im Gegenteil. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Herr Kollege Frei, der Kollege Höferlin, FDP, würde (Widerspruch bei der LINKEN) gerne eine Zwischenfrage stellen. – Nein, es geht darum, dass wir die digitale Gesichtser- kennung als Instrumentarium dafür nutzen, dass Men- Thorsten Frei (CDU/CSU): schen, die in polizeilichen Fahndungsdateien sind, letzt- lich auch schneller dingfest gemacht werden können. Ja, das darf er gerne tun.

(Manuel Höferlin [FDP]: Dafür erfassen Sie Manuel Höferlin (FDP): aber alle!) Danke schön, dass Sie die Frage zulassen. – Ich muss Da geht es eben nicht darum, dass man den Falschparker nur sichergehen, ob ich das richtig verstanden habe. Sie erwischt, sondern man muss klar definieren, in welchen haben gerade gesagt, dass die Maßnahme einen „general- Grenzen, für welche Dateien und in welchem Rahmen präventiven“ Charakter hat. Habe ich es richtig verstan- man diese Möglichkeit letztlich eröffnet. den, dass Sie der Meinung sind: „Wenn wir flächende- ckend videoüberwachen und die Gesichter erfassen, hat (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE das einen generalpräventiven Charakter so wie Straf- GRÜNEN]: Aha! Sehr gut zu wissen! Gut, dass recht“? Mit anderen Worten: Wenn wir die Gesichter aller Sie das aussprechen!) Menschen an öffentlichen Plätzen aufnehmen, sorgt das Es ist unzweifelhaft möglich; das haben bisherige Mo- dafür, dass sie sich anständig benehmen. – Ist es das, was dellversuche gezeigt. Sie gerade gesagt haben? (Manuel Höferlin [FDP]: So hat es in China (Beifall bei der FDP) auch begonnen! – Gegenruf des Abg. Christoph de Vries [CDU/CSU]: China ist lei- Thorsten Frei (CDU/CSU): der das falsche Beispiel!) Nein, Herr Höferlin, da haben Sie mich falsch verstan- Und die Argumente, die Sie hier ansprechen, überzeu- den. Ich vermute fast, dass Sie mich absichtlich falsch gen mich nicht. Wenn Ihre Argumentation zutreffend verstanden haben. 17862 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Thorsten Frei (A) (Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Ge- Es ist doch vollkommen klar, dass wir die Rechtspre- (C) nau!) chung des Bundesverfassungsgerichts in eine Novelle des Bundespolizeigesetzes miteinbeziehen werden. Es ist Es geht um Folgendes: Ich habe klar gesagt, dass wir auch deshalb überhaupt keine Frage, weil es nicht um uns hier im Parlament natürlich erstens darüber verstän- eine flächendeckende Überwachung geht, sondern weil digen müssen, wo solche Gesichtserkennungsmaßnah- es um die gezielte, intelligente Videoerkennung geht men örtlich ermöglicht werden sollen, wo die Bundes- polizei solche Maßnahmen einsetzen darf. (Konstantin Kuhle [FDP]: Aller!) (Dr. Florian Toncar [FDP]: Sie haben „general- und um nichts anderes. präventiv“ gesagt! Sie haben doch das Wort benutzt!) (Beifall bei der CDU/CSU) Zweitens müssen wir uns natürlich auch darüber ver- Wenn man tatsächlich lieber Polizisten einstellt, als ständigen, welche Straftaten, welche Fahndungsdateien diese Technik anzuwenden, dann kann ich nur sagen: letztlich als Grundlage dafür herangezogen werden sol- Das eine tun und das andere nicht lassen. – Wir haben len. in der Vergangenheit, in der letzten Legislaturperiode, 10 000 zusätzliche Stellen bei den Bundessicherheitsbe- (Manuel Höferlin [FDP]: Aber erfassen tun wir hörden geschaffen. sie erst einmal!) Wenn an Bahnhöfen und Flughäfen, wo ein besonderes (Konstantin Kuhle [FDP]: Jetzt noch zu beset- Gefährdungspotenzial besteht, eine solche Videoüberwa- zen!) chung vorgenommen wird, hat das natürlich eine general- Wir haben in dieser Legislaturperiode die Schaffung von präventive Wirkung. zweimal 7 500 zusätzlichen Stellen für Polizeibeamte be- (Konstantin Kuhle [FDP]: Unglaublich! – Zu- schlossen und die Mittel bundesseitig auch tatsächlich rufe von der LINKEN) durchetatisiert. Wir tun beides. Aber es reicht nicht, mehr Polizisten zu haben. Sie brauchen auch die Instrumenta- Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, lieber Herr Höferlin: rien, um ihre Arbeit vernünftig und gut erledigen zu kön- Das deckt sich auch mit der Wahrnehmung einer Mehr- nen. zahl in der Bevölkerung. – Ich lasse mich lieber ohne weitere Konsequenzen von einer solchen Videokamera aufnehmen, als dass ich mich auf einem Bahnhofsvor- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Herr Kollege Frei, die Frau Kollegin Domscheit-Berg, (B) platz verprügeln lasse. (D) Linke, würde auch eine Zwischenfrage stellen. (Konstantin Kuhle [FDP]: Also geht es um eine einfache Körperverletzung?) Thorsten Frei (CDU/CSU): Deshalb hat es diese Wirkung. Das ist doch überhaupt Dann soll sie das gerne tun. nicht zu bestreiten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Anke Domscheit-Berg (DIE LINKE): Konstantin Kuhle [FDP]: Irre! – Zuruf des Abg. Jörn König [AfD]) Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Es sind genau zwei halbe Fragen. – Sie beziehen sich ja auf Meine sehr geehrten Damen und Herren, Herr Kuhle den sogenannten erfolgreichen Versuch am Südkreuz. ist auch darauf eingegangen, dass wir sehr erfolgreiche Bei den Daten fehlen aber zwei Monate, und es ist uner- Probemaßnahmen am Bahnhof Berlin-Südkreuz hatten. klärlich, warum sie fehlen. Ist Ihnen das bekannt? Kön- Sie sind auch auf die Fehlerquote dort eingegangen nen Sie eine Erklärung geben, warum diese Daten fehlen? Und kann man diese Daten bekommen? (Konstantin Kuhle [FDP]: Tausende pro Tag! – Zurufe von der LINKEN) Zweite Teilfrage: Ist Ihnen bekannt, dass es sehr viele und darauf, was das für die praktische Arbeit der Polizei Studien gibt, die nachweisen, dass es bei Gesichtserken- bedeutet. Ich will Ihnen Folgendes sagen: Wenn Sie das nung sehr häufig zu Diskriminierungen kommt in Form entsprechende Gutachten durchlesen, werden Sie sehen, von Falscherkennungen bei bestimmten Personen, die dass Sie, wenn Sie unterschiedliche Softwaresysteme nicht weiß und nicht männlich sind. Das hat in anderen miteinander verbinden, keine Fehlerquote von 0,5 Prozent Ländern und Städten, unter anderem in San Francisco, haben, dazu geführt, dass man biometrische Erkennungssysteme im öffentlichen Raum verboten hat, weil sie zu unver- (Konstantin Kuhle [FDP]: 0,67!) tretbarer Diskriminierung und Falschverdächtigung füh- ren. Ist Ihnen das bekannt, und finden Sie es vor diesem sondern von 0,00018 Prozent. Hintergrund vertretbar, so etwas in Deutschland haben zu (Anke Domscheit-Berg [DIE LINKE]: Zwei wollen? Monate fehlen!) (Beifall bei der LINKEN – Michael Grosse- Und am Ende entscheiden immer noch Polizisten, was Brömer [CDU/CSU]: Schön, dass die USA damit passiert. Insofern ist Ihr Argument entkräftet. jetzt Vorbild für Die Linke sind!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17863

(A) Thorsten Frei (CDU/CSU): in unserem Land haben: beispielsweise auf Flughäfen, (C) Liebe Frau Domscheit-Berg, die erste Frage stellen Sie auf Bahnhofsplätzen oder anderem mehr. am besten dem Bundesinnenministerium. Dann werden Wir sind davon überzeugt, dass, wenn wir klar definie- Sie darauf eine Antwort bekommen. ren, in welchem Rahmen dies möglich und geboten ist, (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE wir dann zu einem Mehr an Sicherheit in unserem Land GRÜNEN]: Ja, wo ist der Minister über- kommen, und das wird auch die Freiheit für die Men- haupt? – Benjamin Strasser [FDP]: Wo ist er schen stärken. denn?) Herzlichen Dank. Die zweite Frage will ich gerne beantworten. Ich finde es wirklich eigentümlich, dass Sie als Vertreterin der (Beifall bei der CDU/CSU) Fraktion Die Linke die Frage nach der Antidiskriminie- rung stellen. Dazu fällt mir Folgendes ein: Der Senat Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: unter Beteiligung der Linken hier in Berlin arbeitet mit Nächster Redner ist der Kollege , AfD. großem Eifer an einem Antidiskriminierungsgesetz, das eine Beweislastumkehr für Polizeibeamte beinhaltet. Al- (Beifall bei der AfD) so der Polizist, der beispielsweise im Görlitzer Park einen Dealer anspricht, muss nachweisen, dass er das aufgrund Roman Johannes Reusch (AfD): eines Verdachts macht und nicht, weil er ihn diskriminie- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin sehr ren will. – Vor diesem Hintergrund müssen Sie doch zu- froh, dass Kollege Frei vor mir gesprochen hat; so kom- geben: Die Videoüberwachung ist eine Technologie, die me ich mit meinen drei Minuten Redezeit locker aus. diskriminierungsfrei ist. Wir haben keine anderen Er- kenntnisse. Es zeigt im Grunde genommen nur Folgen- (Dr. [DIE LINKE]: Das war zu des: Ihr abgrundtiefes Misstrauen gegenüber dem Staat befürchten!) FDP und die Grünen möchten gerne ein neues, wun- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – derbar funktionierendes Instrumentarium zur Fahndung Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Unfug!) nach Straftätern verbieten lassen. Sie berufen sich dabei und denen, die für den Staat den Kopf hinhalten. – Inso- auf die Freiheit. Worauf denn sonst? fern ist es ein Argument, das Sie als Linke selbst ad absurdum führen. (Konstantin Kuhle [FDP]: Wie viele haben Sie denn schon dingfest gemacht durch Gesichtser- (B) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Abso- kennung?) (D) luter Quatsch!) Beim Ruf nach Freiheit sollte man immer mal nachfra- Ich will zuletzt noch an die FDP gerichtet Folgendes gen: Freiheit wovon? Freiheit, um was zu tun? Und Frei- sagen: Sie brauchen uns nicht zu erklären, wie das Ver- heit für wen? Freiheit für Kinderschänder, für Mörder, für hältnis von Freiheit und Sicherheit im demokratischen Vergewaltiger, für Räuber, für Terroristen? Das sind die Rechtsstaat ist. Leute, nach denen üblicherweise in unseren Systemen gefahndet wird. Das ist dieser Personenkreis, Himmel- (Zurufe von der FDP: Doch!) herrgott noch mal! Man möchte sich die Haare raufen. Ich weiß, dass Sie das permanent versuchen. (Beifall bei Abgeordneten der AfD) (Konstantin Kuhle [FDP]: Danke!) Wer unseren Sicherheitsbehörden ein wunderbares Fahndungsinstrument aus den Händen schlagen will, Das brauchen Sie aber nicht. der nimmt billigend in Kauf, dass eine große Zahl solcher (Konstantin Kuhle [FDP]: Wir machen weiter!) Täter nicht erwischt wird, und der nimmt weiter billigend in Kauf, dass diese Täter – unter ihnen auch sehr viele Wir wissen sehr wohl, dass das Streben nach Sicherheit Serientäter – weitermachen können. nie dazu führen kann, die Freiheit für die Menschen in unserem Land zu beeinträchtigen. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Quatsch!) (Zuruf des Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Lassen Sie sich das von einem alten Strafverfolgerkno- chen sagen: Die beste Prävention ist es, Kollege von Wir wissen aber auch, dass Freiheit ohne Sicherheit nicht Notz, Serientäter dahin zu bringen, wo sie hingehören, gewährleistet werden kann. nämlich hinter Schloss und Riegel. Da können sie nicht weitermachen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der AfD – Dr. Jens Zimmermann Zu den Rechten, die wir zu schützen haben in unserem [SPD]: Das sind aber ganz schöne Erkenntnis- Land, gehört auch das Recht, nicht Opfer einer Straftat zu se, die Sie da haben!) werden, nicht beklaut zu werden, nicht verletzt zu wer- den, nicht getötet zu werden. Genau dazu dient dieses – Das sind alte, praktische Erkenntnisse. Da fragen Sie Instrumentarium, diese Technologie. Deshalb möchten mal andere alte Knochen; die können Ihnen das auch wir sie dort einsetzen, wo wir besondere Gefahrenpunkte bestätigen. 17864 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Roman Johannes Reusch (A) (Konstantin Kuhle [FDP]: „Alter Knochen“ ist Denn es geht in der Tat um die Abwägung zwischen (C) aber kein Wert an sich!) Kriminalitätsbekämpfung, Verbrechensbekämpfung ei- nerseits, aber andererseits eben auch um die individuelle Natürlich gibt es Probleme – wie immer –, wenn man Freiheit und Selbstbestimmung der Menschen und ihre ein neues System einführt, gerade im digitalen Bereich. Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum. Es gibt Fragen, die sich stellen, die geklärt werden müs- sen. Zu dem Themenkreis wird Frau Kollegin Cotar an- (Beifall bei der SPD) schließend noch was sagen. Ich kann jedenfalls nur sa- gen: Ich wünsche den Kollegen der CDU/CSU-Fraktion Da ist es gut, differenziert zu diskutieren. viel Fortune dabei, den Bundesinnenminister wieder zu Der Blick nach China zeigt uns, dass es gute Gründe seiner früheren Auffassung zu bekehren. gibt, solche Systeme mit großer Vorsicht anzufassen. Und Dieses sinnvolle System beeinträchtigt kaum jeman- es ist ja kein Zufall, dass inzwischen auch in der Europä- den; die Beeinträchtigung ist minimal. Wenn Sie dasselbe ischen Union ähnliche Diskussionen wie hier stattfinden, in der analogen Welt mit einem Riesenaufgebot an Poli- ob es nicht gar eines Verbots dieser Technologie im öf- zeibeamten machen, dann ist die Einwirkung auf die fentlichen Raum bedarf. Man braucht aber nicht China zu Kontrollierten viel stärker, als wenn Sie das digital ma- bemühen; ich denke, dafür besteht kein Anlass. Ich per- chen. Davon kriegen sie nicht mal was mit. Ob Wacht- sönlich und auch meine Bundestagsfraktion haben sehr meister Schulze nun eine größere Trefferwahrscheinlich- großes Vertrauen in unseren Rechtsstaat und auch sehr keit hat, wenn er sich ein Fahndungsfoto anguckt und sich großes Vertrauen in unsere Polizei und in die entsprech- dann die vorbeigehenden Leute anschaut, wage ich noch enden Behörden. zu bezweifeln. Da denke ich, dass die neuen Systeme (Beifall bei der SPD) besser sind. Deswegen sollte das Instrument eingeführt werden. Wir dürfen trotzdem fragen, ob dieses Instrument wirklich das richtige sein kann, um diejenigen zu finden, Die Anträge von Grünen und Liberalen sind abzuleh- die sich eines Verbrechens schuldig gemacht haben; denn nen. eine automatisierte Gesichtserkennung im öffentlichen Danke. Raum ist sehr leicht zu überlisten. Auf der einen Seite kann sich derjenige, der Böses im Schilde führt, sehr ein- (Beifall bei der AfD) fach tarnen, aber auf der anderen Seite werden alle ande- ren regelmäßig gescannt und damit eben auch identifi- ziert. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (B) Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Vogt, SPD. Die Gesichtserkennung im öffentlichen Raum hat eine (D) andere Qualität als zum Beispiel ihr Einsatz bei der Ein- (Beifall bei der SPD) reise an der Grenze, wie wir ihn kennen. Dort ist es ein bewusster Akt: Ich gehe hin mit meinem Pass, lege den Ute Vogt (SPD): Pass zur Erkennung der biometrischen Daten auf den Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Scanner, schaue gleichzeitig bewusst in die Kamera, will vorausschicken, dass wir dem Herrn Bundesinnen- und es sitzt ein Bundespolizist oder eine Bundespolizistin minister Seehofer dankbar sind, dass er das Thema „auto- daneben und beobachtet den Vorgang, um mögliche Feh- matische Gesichtserkennung“ aus dem Bundespolizeige- ler so gering wie möglich zu halten. setz erst mal herausgenommen hat. Die automatisierte Gesichtserkennung im öffentlichen (Konstantin Kuhle [FDP]: Erst mal! Aha! – Raum mithilfe von biometrischen Daten hat auch eine Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE andere Qualität als das, was wir derzeit an Videoüber- GRÜNEN]: Erst mal!) wachung kennen; denn es werden eben nicht wie bisher Geschehnisse erfasst, sondern Menschen werden sehr – Nach seiner Auskunft erst mal. individuell erkennbar. Aus meiner Sicht ist das gleich- (Konstantin Kuhle [FDP]: Wir sind doch das bedeutend mit einer Kontrolle ohne entsprechenden Parlament! – Gegenruf des Abg. Carsten Anlass. Dieser anlasslosen Kontrolle setzt unsere Verfas- Schneider [Erfurt] [SPD]: Genau!) sung – das zeigt auch die Entscheidung des Bundesver- fassungsgerichts, die der Kollege Kuhle schon zitiert Wir sind der Meinung, dass das Bundespolizeigesetz zü- hat –, wie ich finde, zu Recht sehr enge Grenzen. gig beschlossen werden muss, weil wir eine zeitgemäße Grundlage für die Arbeit unserer Bundespolizei brau- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) chen. Ich bin der Überzeugung, dass ein weiter gehender Eingriff, nämlich dass wir nicht nur Kennzeichen – sie (Beifall bei der SPD) waren Gegenstand der Bundesverfassungsgerichtsent- Wir sind auch der Meinung, dass das Thema „auto- scheidung vom Dezember 2018; dort wurden bereits Ein- matisierte Gesichtserkennung im öffentlichen Raum“ ei- schränkungen vorgenommen, sie wurden vorhin zitiert –, ne ausführlichere und lang andauernde Debatte in der sondern sogar die Gesichter entsprechend erfassen, ein gesamten Gesellschaft braucht. falscher, wenn nicht sogar gefährlicher Weg ist. (Beifall bei der SPD) (Konstantin Kuhle [FDP]: So ist es!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17865

Ute Vogt (A) Wir brauchen an dieser Stelle ein weiteres Mal – Kolle- Wir als Linke werden die Einführung einer automati- (C) ge Frei hat es angesprochen – eine ganz intensive Abwä- sierten Gesichtserkennung im öffentlichen Raum nicht gung zwischen Sicherheit auf der einen und Freiheit auf zulassen und dagegen, falls erforderlich, auch mit recht- der anderen Seite; das ist jede ausführliche und öffent- lichen Mitteln vorgehen. Wir wollen, was die Massen- liche Debatte wert. Deshalb bin ich ausnahmsweise mal überwachung angeht, hier in Deutschland nicht amerika- froh um einen Antrag der FDP, der diese Debatte heute nische und schon gar nicht chinesische Verhältnisse. aufruft; aber Sie können sich darauf verlassen, dass wir auch in der Bundesregierung eine lebendige Debatte zu (Beifall bei der LINKEN) diesem Thema führen werden. Wir befürchten allerdings, dass mit dem jetzigen, wo- möglich eher taktischen Verzicht auf die Aufnahme ins (Thorsten Frei [CDU/CSU]: Ich fürchte es Gesetz ein grundsätzliches Umdenken im Innenministe- fast! – Konstantin Kuhle [FDP]: Viel Erfolg!) rium nicht verbunden ist. Deshalb ist es wichtig und not- Ich wünsche mir ausdrücklich, dass wir das Bundes- wendig, dass wir jetzt eine gesellschaftliche Diskussion polizeigesetz davon abtrennen; denn das sollte schnell über den Einsatz von künstlicher Intelligenz im öffent- auf den Weg gebracht werden. lichen Raum anstoßen; denn der immer größer werdende Einsatz dieser Technik hat nachhaltige Auswirkungen auf Danke schön. unsere verfassungsmäßige Ordnung, weil er die Art und Weise beeinflusst, wie sich Bürgerinnen und Bürger in (Beifall bei der SPD) der Öffentlichkeit bewegen, wie sie ihre Grundrechte wahrnehmen und wahrnehmen können. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Nächster Redner ist der Kollege Dr. André Hahn, Die Anders als bei der klassischen Videoüberwachung, bei Linke. der die Kamera technisch gesehen nur ein optisches Hilfsmittel einer ortsabwesenden Polizei ist, werden bei (Beifall bei der LINKEN) Videoüberwachung mit automatisierter Gesichtserken- nung persönliche Daten der erfassten Personen in Echt- zeit verarbeitet, werden biometrische Informationen der Dr. André Hahn (DIE LINKE): gescannten Personen automatisiert mit Referenzdaten ab- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als je- geglichen. Dieser Vorgang greift tief in das Recht auf mand, der vor eineinhalb Jahren nicht geglaubt hat, dass informationelle Selbstbestimmung ein. Aus völlig unbe- Horst Seehofer nach den heftigen Kontroversen über die scholtenen Bürgerinnen und Bürgern – wir haben gehört: Flüchtlingspolitik heute noch immer im Amt ist, hätte ich es geht um Tausende jeden Tag – werden so potenziell (B) es kaum für möglich gehalten, dass ich noch mal in die Verdächtige. Der öffentliche Raum dient dann praktisch (D) Verlegenheit kommen würde, diesen Bundesinnenminis- nur noch der Fahndung. Eine derartige Entwicklung, die ter, den auch sein eigener Parteichef öffentlich infrage den freiheitlich verfassten Rechtsstaat vollends zu einem stellt, für irgendetwas loben zu müssen. Und doch könnte präventiv handelnden Sicherheitsstaat formen würde, man heute beinahe in Versuchung geraten, genau das zu dürfen wir nicht zulassen. tun. (Beifall bei der LINKEN) (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Widerstehe!) Aber es geht hier um weit mehr als den abstrakten Abgleich von Daten durch Computer. Wer beobachtet Bei der anstehenden Reform des Bundespolizeigeset- wird, verhält sich anders, zumal durch die fortwährenden zes war im Entwurf ein Passus geplant, der an 135 Bahn- Befugniserweiterungen in den Sicherheitsgesetzen kaum höfen und 14 Flughäfen den Einsatz von Videoüberwa- noch nachvollziehbar ist, welche Behörde die Aufzeich- chung mit automatisierter Gesichtserkennung erlaubt nungen zu sehen bekommt und was mit ihnen geschieht. hätte. Das wäre nicht weniger als ein Dammbruch ge- Dieser psychologische Effekt, der schon bei der klassi- wesen, ein weiterer Schritt hin zu einem Überwachungs- schen Videoüberwachung ohne Gesichtserkennung ein- staat, den ja angeblich niemand will, aber der durch die tritt, weshalb wir auch beim Einsatz dieser Technik große amtierende Bundesregierung dennoch immer weiter aus- Bedenken haben, hat unmittelbare Konsequenzen für die gebaut wird. Meinungs- und Versammlungsfreiheit in unserem Land. Dass nun ausgerechnet Horst Seehofer wegen recht- Wer das Gefühl hat, überwacht zu werden, zumal von einer staatlichen Autorität, wird sich zweimal überlegen, licher Bedenken die Einführung der hochumstrittenen auf welche Demonstration er geht oder welches Transpa- Technologie der automatisierten Gesichtserkennung ge- stoppt hat, begrüßen wir ganz ausdrücklich, auch wenn rent er hochhält. Deshalb dürfen wir nicht alles zulassen, nicht nur wir Zweifel daran haben, dass vor allem die was technisch möglich ist. In einem Rechtsstaat heiligt der Zweck nicht alle Mittel. Union wirklich dauerhaft auf dieses Instrument verzich- ten will; Herr Frei hat es hier ja deutlich gesagt. Deshalb (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- sollte der Bundestag hier unbedingt ein klares Stoppzei- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) chen setzen. Deshalb bin ich dankbar, dass es den vor- liegenden Antrag der FDP gibt; er wird von unserer Frak- Und wer glaubt denn ernsthaft, dass das Instrument der tion unterstützt. automatisierten Gesichtserkennung künftig tatsächlich nur bei der Polizei zum Einsatz kommt? Die Geheim- (Beifall bei der LINKEN und der FDP) dienste von BND bis Verfassungsschutz warten schon 17866 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Dr. André Hahn (A) seit Langem darauf, die neue Technik anwenden zu kön- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) nen. Auch deshalb ist es wichtig, dieser Entwicklung Ein- und bei der FDP) halt zu gebieten. Ohne uns! Vor wenigen Tagen gab es dazu einen interessanten Kommentar von Jannis Brühl in der „Süddeutschen Zei- Wer so agiert wie Horst Seehofer, der öffentlich sug- tung“, der davor warnt, dass „die Gesichtserkennung den geriert, es gehe ihm um eine ernsthafte Debatte über diese öffentlichen Raum erreicht“; denn das würde „ein Über- hochumstrittene Technologie, gleichzeitig aber längst mit wachungsnetz übers Land“ legen, „das sich von jenem im der Unionsfraktion ausgehandelt hat, die entsprechenden digitalen Raum unterscheidet“. Zitat: Passagen im weiteren Verfahren wieder ins Gesetz zu hieven, der handelt parlamentarisch unlauter und ist auch Man kann ihm nicht entkommen. Im Gegensatz zum eine Gefahr für die unseren Rechtsstaat konstituierenden Smartphone lässt sich ein Gesicht weder zu Hause Freiheitsrechte, meine Damen und Herren. lassen noch abschalten. … mit Gesichtserkennung springt Massenüberwachung nun in die physische (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Welt über. Jeder wird gescannt. …Tausende Kame- und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der ras mit angeschlossenen Datenbanken unserer LINKEN) Gesichter … ermöglichen blitzschnelles, automati- siertes Durchleuchten Hunderttausender, die vorbei- Wir diskutieren nicht seit gestern über die automati- laufen, und die … Verfolgung eines Menschen über sche biometrische Gesichtserkennung. Jede Fachfrau mehrere Kameras hinweg. weiß: Die Systeme sind völlig unausgereift. Die Fehler- quote ist horrend und das Pilotprojekt am Berliner Süd- Ich sage: Wer wann mit wem wohin unterwegs ist, geht kreuz ganz bestimmt nicht geeignet, als Blaupause für weder die Polizei noch die Geheimdienste etwas an. das Ausrollen dieser totalitären Technologie zu dienen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich füge hinzu: Orwell lässt grüßen, und selbst der hätte Sicher sind an der Gesichtserkennung drei Dinge: die das wohl kaum für möglich gehalten. Der Kommentator enorme Fehlerquote, der tiefe Grundrechtseingriff bei in der „Süddeutschen“ kommt dann auch zu dem Fazit: völlig unbescholtenen Bürgerinnen und Bürgern und „Die neue Technik“ ist zu gefährlich und „gehört unters- der fehlende sicherheitspolitische Mehrwert. Deswegen agt. Denn sie führt direkt in den Überwachungsstaat“. gehört diese Technik verboten, und zwar gesetzlich und europaweit, meine Damen und Herren. (B) Herzlichen Dank. (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der LINKEN) sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Stephan Thomae [FDP]) Vizepräsident : Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Hahn. – Nächster Red- Liebe Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion, ner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist der Kolle- Herr Kollege Schuster, Sie haben ja in den letzten Tagen ge Dr. Konstantin von Notz. zum Beispiel im Deutschlandfunk nebulös in den Raum gestellt, beim entsetzlichen Anschlag auf dem Breit- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) scheidplatz wäre irgendetwas mit automatischer biometrischer Gesichtserkennung zu erreichen gewesen. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bei aller Freude am Argument: Das ist wirklich abwegig, NEN): und es ist unseriös, solche Thesen zur Verfolgung der Moin, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen eigenen politischen Ziele hier in den Raum zu stellen. und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mehr und mehr wird deutlich, was in den vergangenen Tagen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bereits kaum zu übersehen war, und diese Debatte, die und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der wir hier schon eine geraume Zeit verfolgen können, LINKEN) macht es auch sehr deutlich: Bei der jüngsten Kehrtwen- Es gab sehr viele Probleme deutscher Sicherheitsbe- de des leider abwesenden Bundesinnenministers ging es hörden, gegen Anis Amri entschlossen vorzugehen, ob- eben nicht darum, die vielfachen, auch verfassungsrecht- wohl von zehn möglichen roten Lampen 20 lichterloh lichen Bedenken gegen die automatische biometrische brannten. Gesichtserkennung im öffentlichen Raum noch mal grundsätzlich zu hinterfragen. Vielmehr handelt es sich (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- um ein rein taktisches Manöver, das nur einem Zweck SES 90/DIE GRÜNEN und der FDP) dient, nämlich von den anderen im Gesetzentwurf ver- steckten bürgerrechtlichen Kloppern wie der Online- Aber ich sage Ihnen: Der Mangel an automatischer durchsuchung und wohl auch von dem hochumstrittenen biometrischer Gesichtserkennung ist keines dieser Pro- Hackback abzulenken und den eigenen Gesetzentwurf so bleme gewesen. Es ist schlicht unseriös, das so vorzu- doch noch irgendwie ins Kabinett zu bringen. Ich sage tragen, und entblößt auch, wie wenig Argumente Sie Ihnen: Da machen wir nicht mit, und ich wünsche Ihnen auf Ihrer Seite haben, wenn Sie solche Beispiele bemü- von der SPD frohe Verrichtung dabei. hen müssen, meine Damen und Herren. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17867

Dr. Konstantin von Notz (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der NEN): LINKEN) Nein, vielen Dank. – Hier liegen Ihnen heute gleich zwei ziemlich gleichlautende Anträge von FDP und Grü- Ihre Pläne und dieses Gesetz sind verfassungsrecht- nen vor. Die Forderung an Sie ist glasklar: Verzichten Sie lich – es hilft auch nicht, hier so platt zu argumentieren, auf dieses Instrument! Stellen Sie gesetzlich klar, dass ein Herr Frei – massiv angreifbar. Die Gesichtserkennung – solches grundsätzliches Infragestellen der relativen Ano- China lässt grüßen! – gefährdet die relative Anonymität nymität im öffentlichen Raum auch mit Ihnen von der öffentlicher Räume massiv. Großen Koalition nicht zu machen ist! (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Noch In Ihrer Fraktion, liebe Union, gibt es ja eine irritieren- haben wir andere Regeln als in China!) de Unentschlossenheit bezüglich der berechtigten Sorge hinsichtlich der Beteiligung chinesischer Staatsunterneh- Und wenn Sie auf dieses Problem rechtlich nicht mit men in sensiblen Infrastrukturbereichen. Ich finde, diese einem Wort eingehen, dann hilft das Ihrer Argumentation Debatte ist ein guter Punkt, um zu erkennen, dass es hier nicht; nicht um Symboldebatten geht, sondern dass Rechts- staatstreue sich in der Praxis der Gesetzgebung zeigt. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Die Instrumente von Diktaturen, liebe Kolleginnen und SES 90/DIE GRÜNEN und der FDP) Kollegen, vergiften die Freiheit eben leider auch in Rechtsstaaten. denn die automatische Gesichtserkennung stellt die Un- schuldsvermutung offen infrage und erklärt alle Men- Ganz herzlichen Dank. schen unabhängig von jedem Verdachtsmoment zu po- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tenziellen Terroristen oder Kinderschändern oder was und bei der FDP) andere hier eben ins Feld geführt haben.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: SES 90/DIE GRÜNEN und der FDP) Vielen Dank, Herr Kollege Dr. von Notz. – Nächster Redner ist Dr. Mathias Middelberg, CDU/CSU-Fraktion. Das alles erhöht die öffentliche Sicherheit überhaupt nicht, sondern sorgt vor allen Dingen für eines: Dringend (Beifall bei der CDU/CSU) benötigtes Personal bei der Bundespolizei wird einmal (B) mehr durch unnütze Dinge gebunden, und das brauchen Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): (D) wir nicht, meine Damen und Herren. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol- leginnen! Liebe Kollegen! Hier sind zum Schluss ganz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN heftige Kanonen aufgefahren worden. „Instrumente der sowie bei Abgeordneten der FDP und des Diktatur“, „Überwachungsstaat“, „Orwell“, „Verhältnis- Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]) se wie in China“, wo die Leute wirklich den ganzen Tag abgescannt werden, wo Benimmpunkte vergeben wer- Die Debatte um Clearview – Stichwort: mehrere Mil- den, wenn man über eine rote Ampel läuft – all das ist liarden Fotos teils illegal zusammengeklaubt durch Schwachsinn und hat mit dem, was wir heute diskutieren, Crawler – hat noch mal klargemacht, welche massiven rein gar nichts zu tun, um das mal deutlich zu sagen. Gefahren in dieser Technologie liegen. Deswegen fordert der Bundesbeauftragte für den Datenschutz aus gutem (Beifall bei der CDU/CSU) Grund ein EU-weites Verbot. Deswegen denkt auch die Ich will mal beim ersten Punkt anfangen. Die FDP EU-Kommission aus gutem Grund laut über ein solches schreibt in ihrem Antrag, es gehe hier um die Anonymität europäisches Verbot nach. der Betroffenen. Die Anonymität der Betroffenen ist überhaupt nicht gefährdet; sie ist gar nicht infrage ge- (Konstantin Kuhle [FDP]: Frau von der stellt. Leyen!) (Konstantin Kuhle [FDP]: Kfz-Kennzeichen!) Und wenn Sie unseren Argumenten nicht trauen, dann trauen Sie deren Argumenten; denn sonst erleben Sie Ich möchte allen Zuschauern hier und auch im Fern- nach dem Mautdesaster gleich das nächste europarecht- sehen deutlich machen, worum es geht: Hinterlegt ist eine liche Problem mit diesem Vorstoß, den Sie hier offen- Referenzdatenbank – das wurde eben schon erwähnt –; kundig planen. das ist gewissermaßen eine Verbrecherdateikartei mit Verbrechergesichtern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Konstantin Kuhle [FDP]: Wie sehen die denn sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN- aus?) KEN) Da sind die Verbrechergesichter von Schwerstkriminel- len, von Terroristen und Gefährdern, die wir in Deutsch- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: land dringend suchen, gespeichert. Herr Kollege von Notz, erlauben Sie eine Zwischen- frage aus der AfD-Fraktion? Jetzt stellen wir Kameras auf, 17868 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Dr. Mathias Middelberg (A) (Christoph de Vries [CDU/CSU]: Die stehen noch viel länger als in dem eben beschriebenen Fall der (C) schon!) biometrischen Gesichtserkennung. nicht flächendeckend in der Republik, sondern nur an (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Bahnhöfen und an großen Flughäfen, also ganz begrenzt GRÜNEN]: Aber doch nicht biometrisch!) und klar geregelt. Die Passanten, die wie Sie und ich und alle die, die hier im Raum sitzen, beispielsweise in Berlin Das ist unzweifelhaft zulässig und schon jetzt geltende durch den Bahnhof marschieren, werden von diesen Ka- Praxis an vielen Standorten in Deutschland und in vielen meras ganz kurz biometrisch abgescannt. Straßenbahnen. Was Sie, Herr von Notz, hier erzählt ha- ben – auch zum Thema Clearview; es würden massenhaft (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Daten gesammelt und in irgendwelchen Datenbanken ge- GRÜNEN]: Nur ganz kurz!) speichert –, ist alles Quatsch. – Jetzt werden Sie alle unruhig, weil es mal einer ver- (Konstantin Kuhle [FDP]: Das verstehen Sie nünftig erklärt. Hören Sie einfach mal zu! doch gar nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU – Steffi Lemke Diese Datenbanken – die Referenzdatenbank der [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist lächer- Schwerverbrecher und Terroristen – haben wir jetzt lich!) schon. Die dürfen wir auch auf gesicherter Rechtsgrund- Die Gesichter aller unbescholtenen Passanten wie von lage haben. Ihnen, vielleicht auch von mir (Konstantin Kuhle [FDP]: Klar!) (Konstantin Kuhle [FDP]: Wer weiß!) Auf der Grundlage dieser Bilder kontrollieren Polizeibe- werden kurz abgescannt und mit den Gesichtern, die wir amte – sie müssen all diese Bilder im Kopf haben – jetzt in dieser Schwerstverbrecherkartei haben, verglichen. schon auf Straßen, Plätzen und in Bahnhöfen, und das ist Wenn es keinen Treffer gibt – das wird bei uns allen der gut so. Fall sein –, dann passiert rein gar nichts. (Konstantin Kuhle [FDP]: Das ist doch gut so! (Konstantin Kuhle [FDP]: Wir haben doch ge- Anlassbezogen!) rade Immunitäten aufgehoben! – Zuruf des – Richtig, Herr Kollege Kuhle. Das ist gut so. Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der CDU/CSU) – Herr von Notz, hören Sie doch einmal zu. Ich habe Die Augen dieser Polizeibeamten – das ist der ganze Vor- (B) Ihnen eben auch zugehört, habe Sie nicht unterbrochen gang, um den es geht – ersetzen wir jetzt durch intelli- (D) und habe auch nicht dazwischengerufen. gente Kameratechnik. Ihr Gesicht, Herr von Notz, wird, wenn Sie durch den (Konstantin Kuhle [FDP]: Das ist so naiv!) Bahnhof laufen, biometrisch gescannt und Sekunden spä- ter gelöscht. Darum geht es und um nichts anderes. Das heißt, wir kontrollieren ja bisher schon. Wir machen bisher schon (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sekun- einen Gesichtsabgleich. Das machen wir jetzt mit einem den!) technischen Verfahren. Ich sage Ihnen – Stichwort: Feh- Da wird nichts erfasst. Es wird keiner registriert, es wird lerquote, Herr Kuhle –: niemand identifiziert. (Konstantin Kuhle [FDP]: 2 300!) (Konstantin Kuhle [FDP]: Alle! Alle werden Die Fehlerquote, wenn sich ein Polizeibeamter Gesichter erfasst!) anguckt, ist im Zweifel viel höher. Keine Anonymität ist in Gefahr. Das ist alles Käse, was (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie hier erzählt haben. Ich sage es ganz deutlich: Das ist alles Blödsinn. Er wird am Ende denken, der Kollege Grosse-Brömer könnte doch der sein, den wir suchen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Vor- Es ist doch so, dass der Eingriff jetzt schon stärker ist. sicht!) Wenn wir uns hier in Berlin in die BVG-Straßenbahn begeben, dann werden Videoaufnahmen von Ihnen, von – Ich habe extra einen aus unserer Fraktion ausgesucht. – uns gemacht. Es ist nicht jedes Gesicht erkennbar, Dann wird er Herrn Grosse-Brömer kontrollieren, wird sich nett mit ihm unterhalten und wird sagen: Das ist gar (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE nicht der gesuchte Schwerverbrecher. GRÜNEN]: Aber doch nicht biometrisch!) aber manche Gesichter sind durchaus gut erkennbar. (Konstantin Kuhle [FDP], an den Abg. Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU] gewandt: Verbre- (Konstantin Kuhle [FDP]: Sie kopieren doch chergesicht!) nicht alle Personalausweise! Das ist gaga!) Wir suchen einen anderen. – Dann wird sich der Kollege Diese Videoaufnahmen sind rechtlich völlig in Ordnung. Grosse-Brömer bedanken und sagen: Klasse, es ist ein Sie werden ungefähr 10 oder 14 Tage gespeichert, also Sicherheitsvorteil hier in Deutschland, dass wir solche Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17869

Dr. Mathias Middelberg (A) Systeme haben, die uns die Möglichkeit geben, Mörder, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (C) Serienvergewaltiger und Terroristen aus dem Verkehr zu Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Middelberg. – Wie Sie ziehen. bedauere auch ich, dass sich der Bundesinnenminister, die Bundesjustizministerin und der (Beifall bei der CDU/CSU) Bundeskanzleramtsminister der Gesichtserkennung im Ich sage Ihnen: Das werden die Leute hier im Land als Deutschen Bundestag dadurch entzogen haben, dass sie großen Sicherheitsgewinn verstehen. nicht anwesend sind. Noch eine letzte Bemerkung. Was mir wirklich auf die (Heiterkeit und Beifall bei der FDP – Michael Mütze geht – das sage ich Ihnen komplett auf der linken Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Dafür gibt es Seite –: Sie problematisieren das Thema Datenschutz Vertreter! – Gegenruf des Abg. Konstantin immer im Zusammenhang damit, dass im Zweifel unsere Kuhle [FDP]: Die sehen aber anders aus!) Polizei – Ja. Herr Kollege Grosse-Brömer, aber Sie wissen, dass (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: es in einer solch wichtigen, uns alle beschäftigenden De- Nein, auch in anderen Zusammenhängen! Das batte um die innere Sicherheit wünschenswert wäre, ist auch Quatsch!) wenn die Bundesregierung angemessen vertreten wäre, was nicht heißt, dass Parlamentarische Staatssekretäre das eine oder andere Datum mehr oder weniger erfasst nicht angemessene Vertretungen sind. oder gespeichert hat und unter Umständen dabei jemand zu Unrecht in Verdacht gerät. Das ist ein Problemfall, das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist ein Dateneingriff. Wir alle können darüber sprechen, sowie bei Abgeordneten der FDP und des wie wir dies regeln und kontrollieren. Aber die eigent- Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE] – liche Bedrohung für unsere Datensouveränität, für unsere Konstantin Kuhle [FDP]: Das ist ja eine Herab- privaten Daten, für jeden von uns liegt ganz woanders. setzung! – Michael Grosse-Brömer [CDU/ CSU]: Und der Verkehrsminister? – Steffi (Konstantin Kuhle [FDP]: Clearview zum Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Beispiel!) Scheuer ist da! – Zuruf des Bundesministers Die liegt bei den großen Datenkraken in den USA oder Andreas Scheuer) sonst wo. – Herr Kollege Scheuer, ich habe Sie kommen sehen. Das (Konstantin Kuhle [FDP]: Ja, Clearview!) hat mich sehr erfreut. Ich sehe Sie lieber kommen als gehen, um das einmal festzustellen. (B) Die liegt bei Facebook, bei Google, bei Instagram. Da (D) liegen die Probleme. Die sind in Zukunft in der Lage, (Heiterkeit) ganze Bewegungsprofile von uns zu erstellen. Das ist Als nächste Rednerin hat für die AfD-Fraktion die das eigentliche Risiko, mit dem wir uns auseinanderset- Kollegin Joana Cotar das Wort. zen müssen. (Beifall bei der AfD – Steffi Lemke [BÜND- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenigstens einer! – GRÜNEN]: Das tun Sie ja auch nicht!) Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE Wir müssen die entsprechenden Rechte haben, dass diese GRÜNEN]: Der Einzige, der zufrieden ist mit Daten kontrolliert und gelöscht werden. Andi Scheuer!)

Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Joana Cotar (AfD): Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kollegen! Es ist ein wirklich spannendes Thema, das wir heute diskutie- ren: Einsatz biometrischer Videoüberwachung. Bundes- Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): innenminister Seehofer forderte bis vor Kurzem in sei- Das ist die eigentliche Gefahr. Hinzu kommen künftig nem Entwurf zur Reform des Bundespolizeigesetzes möglicherweise Gefahren aus Russland oder China. Das noch den massenhaften Einsatz der automatischen Ge- sind die Gefahren für unseren Datenbestand, aber nicht, – sichtserkennung. Jetzt hat er den Passus aus dem Gesetz gestrichen. So kennen wir ihn: heute hü, morgen hott. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Durch die fortschreitende Digitalisierung wird vieles Herr Kollege, bitte. möglich, was früher noch undenkbar war. Vieles geht einfacher, effizienter und schneller, auch die Überwa- Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): chung der Menschen. Durch Kameras und künstliche – dass der eine oder andere Polizist aus Versehen je- Intelligenz kann man im Schnellverfahren Menschen manden kontrolliert, der nachher kein Schwerverbrecher überprüfen, Gesichter abgleichen, zur Fahndung ausge- ist. Es ist im Gegenteil ein Sicherheitsgewinn, wenn am schriebene Straftäter finden und festnehmen; ein Gewinn Ende auch nur einer dieser Schwerstkriminellen aus dem für die Sicherheit der Menschen hier im Land. Verkehr gezogen wird. Aber der Einsatz einer solchen Videoüberwachung (Beifall bei der CDU/CSU) stellt einen sehr weitreichenden Grundrechtseingriff dar, 17870 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Joana Cotar (A) und ganz schnell sind wir bei dem Thema Freiheit. Was Und die letzte Entscheidungsgewalt, das letzte Wort muss (C) darf der Staat? Was soll er? immer der Menschen haben und nicht die Maschine. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Bevor wir eine solche Technik einsetzen, muss aber GRÜNEN]: Das fand der Kollege Reusch nicht auch klar sein, dass sie richtig funktioniert, und das ist so wichtig!) im Moment nicht der Fall. Die Algorithmen sind noch zu ungenau. Wo haben die Rechte des Einzelnen Vorrang? Wo muss der Bürger vor dem Staat geschützt werden? Die Falscherkennungsrate beim Pilotprojekt – wir ha- ben es gehört – am Berliner Bahnhof Südkreuz lag kor- Die Diskussionen sind kontrovers. Die EU erwägt ein rigierterweise bei 0,67 Prozent. Das klingt auf den ersten Verbot biometrischer Videoüberwachung, London führt Blick wenig. Das bedeutet aber für diesen Bahnhof bei sie gerade ein, China hat sie perfektioniert und in San 90 000 Reisenden am Tag 600 völlig unschuldige Passan- Francisco – eine der Hauptstädte der technologischen ten sind in den Verdacht einer Straftat gekommen. Revolution – ist sie bereits seit letztem Jahr verboten. In meiner Brust schlagen zwei Herzen – ich bin ehr- (Dr. Jens Zimmermann [SPD]: Das findet Ihr lich –: Vor einigen Jahren hätte ich dem Antrag der FDP, Kollege überhaupt nicht schlimm!) ohne mit der Wimper zu zucken, zugestimmt. Aber wir Das sind über 70 000 Fehlalarme und anlasslose Kontrol- leben im Jahr 2020 und die Sicherheitslage ist eine ande- len im Monat an nur einem Bahnhof. Das können wir uns re. nicht erlauben. Das ist nicht nur den Bürgern nicht zuzu- muten, sondern auch den Beamten nicht. Es kostet Zeit (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE und Geld. Die Falschtreffer müssen also deutlich redu- GRÜNEN]: Offensichtlich haben Sie sich in ziert werden, bevor wir eine solche Methode einsetzen. der Fraktion nicht durchgesetzt!) Durch die verfehlte Politik der Bundesregierung, durch (Beifall bei der AfD) einsame Entscheidungen von Frau Merkel, Wir müssen die Balance zwischen Sicherheit und Frei- heit finden. Nicht alles, was digital gemacht werden (Konstantin Kuhle [FDP]: Treten Sie doch aus kann, sollte auch gemacht werden. Aber wenn es gemacht der Fraktion aus! Da hinten ist noch Platz!) werden muss, dann muss es klare Regeln und enge Gren- durch den fortgesetzten Rechtsbruch des Parlaments le- zen geben. Die Bürger müssen vor Straftätern, aber auch ben wir in Zeiten, in denen ein Terrorist einen Lkw in vor einem übergriffigen Staat geschützt werden. Dieser einen Weihnachtsmarkt fahren kann, in denen regelmäßi- Balanceakt ist eine Herausforderung, der wir uns alle (B) ge Updates an Gefährdern in diesem Land zur Tagesord- stellen müssen. Lassen Sie uns darüber diskutieren, und (D) nung gehören, in denen die Zahl der Messerattacken in zwar mit den Bürgern draußen. Schließen wir die Bürger bedrohlichem Ausmaß zunimmt, in denen Menschen vor bei dieser Diskussion nicht aus und treffen wir keine vor- Züge oder die Treppen hinunter gestoßen werden, in de- schnellen Entscheidungen. nen die Zahl der Sexualdelikte zunimmt. In Deutschland ist die innere Sicherheit erodiert. Dieser Realität müssen Vielen Dank. wir uns stellen. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD) Das bedeutet auch, unsere Polizei endlich zu stärken, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: ihr die Möglichkeit zu geben, Gefahren abzuwehren, die Vielen Dank, Frau Kollegin Cotar. – Als nächster Red- Chance, Schwerstkriminelle und Terroristen an beson- ner hat das Wort der Kollege Uli Grötsch, SPD-Fraktion. ders gefährdeten Orten zügig zu identifizieren und fest- (Beifall bei der SPD) zusetzen. Aber dabei müssen wir höllisch aufpassen. Es braucht klare Regeln, strenge Vorgaben und Kriterien und Uli Grötsch (SPD): vor allem Grenzen. Eine Totalüberwachung der Bürger Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und durch den Staat darf es nicht geben. Chinesischen Ver- Kollegen! Ich finde es gut, dass wir die Debatte um die hältnissen erteilen wir eine klare Absage. automatisierte Gesichtserkennung mit dem heutigen Tag (Beifall bei der AfD) hier ins Parlament bringen. Ich glaube aber, dass es nicht ausreichen wird, darüber nur im Parlament zu debattie- Kein Mensch darf an jeder Stelle registriert und überprüft ren. Über eine so weitgehende Frage wie die automati- werden. sierte Gesichtserkennung muss auch eine breite gesell- Bei der automatischen Gesichtserkennung müsste klar schaftliche Debatte geführt werden. Ich bin mit meiner geregelt werden, wer die Informationen sammelt, wer sie Kollegin Ute Vogt einig, dass es Zeit braucht, dass wir einsieht, verwendet und wie lange und wo die Überwa- Zeit brauchen, um eine so weitgehende Frage zu disku- chungsdaten gespeichert werden. Missbrauchsmöglich- tieren. keiten müssen ausgeschlossen, der Datenschutz sicherge- (Beifall bei der SPD) stellt werden. Erst im Herbst 2019 wurde bekannt, dass eine Datenbank mit 1 Million Fingerabdrücken und Ge- Ich will auch sagen: In einer solchen Frage muss man sichtsscans unverschlüsselt im Netz abrufbar war. Welche in einer Koalition nicht einer Meinung sein und darf um Gefahren davon ausgehen, muss ich Ihnen nicht erklären. die Lösung ruhig ringen. Denn eines vereint uns am Ende Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17871

Uli Grötsch (A) ja doch, nämlich dass wir eines der sichersten Länder der reiche Bürgerinnen und Bürger falsch erkannt werden. (C) Welt eben noch sicherer machen wollen. Über die Frage, Ich sage Ihnen: Egal ob das am Frankfurter Hauptbahn- wie wir das machen, darf man auch streiten. hof 230 Menschen sind oder 10: Auch 10 Menschen sind 10 zu viel; denn solch eine Identitätsfeststellung dauert – (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ich weiß das aus eigener beruflicher Erfahrung – ja keine Wer denkt bei einer solchen Frage nicht an China, wer fünf Minuten. Es dauert schon eine Weile, bis man weiß, denkt nicht an den Film „Minority Report“, wer denkt ob es der Herr Grosse-Brömer ist oder dann doch der Herr nicht an den Orwell’schen Überwachungsstaat aus dem de Vries, den man vor sich hat. Buch „1984“? (Zuruf des Abg. Christoph de Vries [CDU/ (Konstantin Kuhle [FDP]: Middelberg!) CSU]) Wer stellt sich nicht die Frage nach dem Potenzial einer Das dauert eine gewisse Zeit. Ich halte das nicht für solchen Kamera? Es geht dabei nicht um die Frage, was zumutbar. man jetzt konkret macht, sondern darum, welches Poten- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und des zial eine solche Kamera, eine solche Software und natür- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lich auch eine solche gesetzliche Regelung hat, nämlich das Potenzial, am Ende der Big Brother aus „1984“ zu Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum En- werden. Es geht bei der Frage des Einsatzes von Ge- de. Wir haben bei diesem Thema neben rechtlichen Fra- sichtserkennungssoftware im öffentlichen Raum darum, gen auch ethische Fragen zu diskutieren. dass wir damit sozusagen eine Tür aufmachen. Wir müs- sen in aller Breite und in aller Ausführlichkeit darüber Vizepräsident Wolfgang Kubicki: reden, was hinter dieser Tür wartet und ob wir wirklich durch diese Tür hindurchgehen wollen. Denn wenn wir Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. diese Tür öffnen und durch sie hindurchgehen, wenn wir die gesetzlichen Voraussetzungen schaffen, dann werden Uli Grötsch (SPD): wir diese Tür meiner Überzeugung nach nie wieder Dafür brauchen wir Zeit. Diese Zeit sollten wir uns alle schließen können. nehmen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vielen Dank. der LINKEN) (Beifall bei der SPD) Befürworter sagen nun, darum gehe es nicht; es gehe (B) um die Verfolgung von Straftätern und Terrorverdächti- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (D) gen. Ja, im Moment ist das wohl auch so, aber spätestens Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner ist der seit der Enthüllung von „China Cables“ wissen wir, dass Kollege Benjamin Strasser, FDP-Fraktion. dieselbe intelligente Technik in China massenhaft gegen die uighurische Minderheit und gegen Andersdenkende (Beifall bei der FDP) per se eingesetzt wird. Es ist, wie ich finde, auch bemer- kenswert, dass gerade San Francisco, das Tech-Head- Benjamin Strasser (FDP): quarter dieses Planeten, wenn man so möchte, seinen Be- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und hörden den Einsatz von Gesichtserkennungstechnologie Kollegen! Einmal mehr zwingt uns Bundesinnenminister verboten hat. Weil es also um so viel geht, ist es kein Seehofer, einen Antrag vorzulegen, weil im Bundesin- Zeichen von Schwäche, wenn Koalitionspartner über nenministerium ganz offensichtlich weder die Bürger- den richtigen Weg streiten. rechte noch die Privatsphäre trotz eines Heimatministers eine Heimat haben. Das ist bitter. Dabei wird in Deutsch- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Nicht land alles geregelt, es gibt für alles irgendwelche Normen alles, was in San Francisco geschieht, ist ver- und Regeln. Es gibt einen TÜV für Autos, es gibt aber gleichbar mit deutschen Verhältnissen!) keinen TÜV für Bürgerrechte. Darum ist es richtig, dass Es geht schließlich um nichts Geringeres als den von mir die Wählerinnen und Wähler uns als Freie Demokraten auch hier immer wieder bemühten Spagat zwischen Frei- als Bürgerrechts-TÜV wieder in dieses Hohe Haus ent- heit und Sicherheit, den wir Mal für Mal versuchen. sandt haben. Im Übrigen – das sei auch noch gesagt – haben wir uns (Beifall bei der FDP) im Koalitionsvertrag nicht dazu verpflichtet, diese Soft- Dieser Rolle werden wir heute auch gerecht. Ein Credo ware einzuführen; wir haben dort nur geregelt, diese der unionsgeführten Innenpolitik lautet seit Jahrzehnten: Technik zu prüfen. Auch ich habe mir das Pilotprojekt Alles, was möglich ist, ist für uns auch machbar, und zur am Bahnhof Südkreuz angesehen und komme – anders Not haben wir ja noch das Verfassungsgericht. – Das ist als die Bundesregierung – zu dem Schluss, dass jeder nicht unser Rechtsstaatsverständnis in diesem Land. Wir Falschtreffer einer zu viel ist. wollen nicht bei jedem Gesetz bis an die Belastungsgren- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ze des Verfassungsrechts gehen, sondern wir wollen uns der FDP und der LINKEN) ganz genau anschauen, was sinnvoll ist, und nicht, was nur technisch möglich ist. Ich will eben nicht in Kauf nehmen, dass jeden Tag an 135 Bahnhöfen und 14 Flughäfen in diesem Land zahl- (Beifall bei der FDP) 17872 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Benjamin Strasser (A) Wir sagen hier ganz klar Nein, wenn es um die Ein- (Beifall bei der CDU/CSU) (C) führung einer generellen automatisierten biometrischen Gesichtserkennung in diesem Land geht. Sie in der Union Christoph de Vries (CDU/CSU): scheinen gar nicht zu verstehen, was eigentlich das Pro- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ur- blem ist. Ich probiere es einmal auf Latein, wenn es auf sprünglich wollte die FDP ja heute über die Bonpflicht Deutsch nicht funktioniert: „Respice finem!“, möchte debattieren. man Ihnen zurufen, „Bedenke das Ende!“. Das Problem, Herr Middelberg, das ist doch nicht der Treffer; das Pro- (Konstantin Kuhle [FDP]: Selber schuld!) blem ist, dass Sie alle Bürgerinnen und Bürger, die an Ich glaube, da waren Sie zunächst auch auf der richtigen dieser Kamera vorbeigehen, zunächst einmal zu potenz- Spur, da haben Sie eine gewisse Kompetenz. Nun haben iellen Terroristen erklären, die abgeglichen werden müs- Sie sich umentschieden. Es wäre besser gewesen, Sie sen, und erst bei einem Treffer ist es ein Terrorist. hätten sich für die erste Variante entschieden. (Beifall bei der FDP – Dr. Mathias Middelberg (Zurufe von der FDP) [CDU/CSU]: Quatsch! Unsinn ist das! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Treffen Aber das kennen wir ja schon aus den Jamaika-Verhand- Sie sich mal auf einen Kaffee mit Herrn lungen. Da haben Sie sich auch falsch entschieden. Es ist Middelberg!) also ein kleines Déjà-vu. Das ist das Problem. Das wird Ihnen das Verfassungsge- Beschäftigen wir uns nun mit Ihrem Kernthema, der richt auch ganz klar sagen. Angst vor dem Überwachungsstaat à la George Orwell hier in Deutschland. Aber worum geht es eigentlich? Die Digitalisierung bietet unendliche Chancen, auch Kollege Middelberg hat das schon gut vor Augen geführt. im Sicherheitsbereich. Das ist so. Sie bietet im Übrigen Es geht darum, erhobene Daten gegen Fahndungsbestän- auch Chancen, Technologien, die momentan sehr ein- de der Sicherheitsbehörden abzugleichen und gegenzu- griffsintensiv sind, datensparsamer und eingriffsärmer checken, um nichts anderes. In welcher Form und in zu gestalten. Ich würde mir Ihre Technikbegeisterung welchem rechtlichen Rahmen das geschehen kann und gerne wünschen, wenn es beispielsweise darum geht, ei- soll, das ist doch noch alles völlig offen. Darüber kann nen verschlüsselten Messenger-Dienst für die Polizei an- man reden. Wir als Parlament hätten die große Chance, zuschaffen. Da versagen Sie seit Jahren, sind aber bei im Zuge der Beratungen zum Bundespolizeigesetz ein jeder Schnapsidee dieses Bundesinnenministers begeis- Zeichen für die Sicherheit in Deutschland zu setzen und tert. eine gute Rechtsgrundlage für intelligente Videoüberwa- chung mit automatisierter Gesichtserkennung zu finden. (B) (Beifall bei der FDP) (D) Das Problem ist doch, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir müssen ganz genau hinschauen, was da passiert. In Sie wollen diese Chance, die wir haben, mit Ihren An- Baden-Württemberg zum Beispiel gibt es am Fraunhofer- trägen schon im Vorfeld vereiteln, bevor überhaupt ein Institut in Mannheim das interessante Projekt, dass eben Gesetzentwurf vorliegt. nicht alle Menschen erkannt werden, sondern dass die Menschen verpixelt gefilmt werden und – basierend auf (Konstantin Kuhle [FDP]: So ist das!) Algorithmen – erst dann die Szene aktiviert wird, wenn ein Mensch geschlagen, getreten oder sonst wie körper- Damit wollen Sie jede Debatte im Keim ersticken. Da lich angegangen wird. Letztlich entscheidet dann ein werden wir auf keinen Fall mitmachen. Das sage ich Beamter, was in dieser konkreten Situation zu tun ist. Ihnen hier an dieser Stelle ganz klar. Da sind wir durchaus offen. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir sind aber nicht am Ende dieser Diskussion. Weder Was wir auch nicht teilen, ist Ihr grundsätzliches Miss- Sie noch wir wissen, wie sich das technologisch entwi- trauen gegenüber den Sicherheitsbehörden in Deutsch- ckeln wird und welche Risiken und Nebenwirkungen land. diese Technologie hat. Deswegen ist ein Moratorium so wichtig, das wir in diesem Antrag fordern. Erst einmal (Zuruf des Abg. Benjamin Strasser [FDP]) soll untersucht werden, was technisch möglich ist, was Es ist vielfach angesprochen worden: Die Trefferrate, die die Nebenwirkungen sind. Dann können wir in diesem wir im Testbetrieb hatten, lag bei unter 1 Prozent. Es ist Hohen Haus entscheiden, was bürgerrechtskonform um- eben nicht so, dass jeder, der dort fälschlicherweise als gesetzt werden kann. Deswegen sollten Sie unserem An- Treffer ausgelöst wird, gleich freiheitsentziehenden Maß- trag zustimmen. nahmen unterzogen wird, sondern der Beamte guckt hän- Vielen herzlichen Dank. disch, gleicht das ab, und erst dann werden Maßnahmen getroffen, wenn sie denn geboten sind. (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Jetzt lassen Sie mich das mal ins Verhältnis setzen; DIE GRÜNEN) denn Sie haben hier ja Ihre großen Berechnungen ange- führt. Gleichen wir das einmal ab mit der analogen Welt Vizepräsident Wolfgang Kubicki: von heute. Wie ist denn heute die Wirklichkeit? Wenn die Vielen Dank, Herr Kollege Strasser. – Als nächster Polizei eine Person öffentlich zur Fahndung ausschreibt, Redner hat der Kollege Christoph de Vries, CDU/CSU- kommt das Bild auf Litfaßsäulen, in Zeitungen und wird Fraktion, das Wort. sonst wo veröffentlicht, auch in Nachrichtensendungen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17873

Christoph de Vries (A) Bei jedem Fahndungsbild gehen Hunderte von Hinwei- Und das will ich Ihnen noch sagen: Gute Innenpolitik (C) sen ein, und die Polizei ist selbstverständlich verpflichtet, macht man nicht mit dem Schüren von Ängsten. jedem einzelnen Hinweis nachzugehen. Das heißt, wenn Oma Erna der Meinung ist: „Mein Nachbar ist der Täter“, (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dann muss die Polizei dort klingeln und dem nachgehen. Dieser Grundsatz gilt im Übrigen nicht nur für die AfD, (Konstantin Kuhle [FDP]: So ist das! So ist das sondern auch für viele andere hier in diesem Raum bei nun mal!) dieser Debatte. Die Trefferungenauigkeit in der anlogen Welt ist doch (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Konstantin eine deutlich höhere. Trotzdem käme niemand von Ihnen von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: auf die Idee, das infrage zu stellen. Die ganze Zeit hier über Verbrecher reden und dann so was!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Konstantin Kuhle [FDP]: Natürlich nicht, weil Aber Sie bleiben Ihrer Linie treu, Herr von Notz; das das ein absurder Vergleich ist!) muss man durchaus anerkennen. Sie stellen hier im Haus datenschutzrechtliche Maximalforderungen. Diese sind Ihnen wichtiger als der Schutz der Bürger vor Terroristen, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: vor Gefährdern, vor schweren Straftätern. Kollege de Vries, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Höferlin? (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Schutz der Menschenwürde! Christoph de Vries (CDU/CSU): Nehmen Sie das endlich einmal zur Kenntnis!) Nein, die lasse ich nicht zu. Bei uns ist es umgekehrt; das kann ich Ihnen sagen. Wenn (Manuel Höferlin [FDP]: Die Zahlen interes- sich im parlamentarischen Verfahren die Möglichkeit bie- sieren Sie nicht!) tet, werden wir deshalb die Nutzung der intelligenten Videotechnik unterstützen. Wir machen jetzt mit den Beispielen weiter; Stichwort „Bahnhof“ Wenn dort Bundespolizeibeamte heute ver- Vielen Dank. dächtigte Personen überprüfen – dies findet in großer (Beifall bei der CDU/CSU) Zahl statt –, dann haben wir selbstverständlich auch eine Trefferungenauigkeit. Das betrifft auch viele Menschen, die sich nichts zuschulden haben kommen lassen. Auch Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (B) da haben Sie bisher kein Problem gesehen. Glauben Sie Vielen Dank, Herr Kollege de Vries. – Die FDP-Frak- (D) denn – mit Blick auf die Effektivität der Fahndung –, dass tion hat eine Kurzintervention beantragt, die ich zulasse. ein Polizeibeamter Hunderte Fahndungsbilder von Straf- Herr Kollege Höferlin, Sie haben das Wort. tätern und Terroristen im Kopf haben kann und diese ausfindig machen kann, wenn er am Bahnhof Streife Manuel Höferlin (FDP): läuft? Danke, Herr Präsident. – Herr Kollege de Vries, jen- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE seits der Frage, ob es verfassungsrechtlich okay ist, woll- GRÜNEN]: Kann er nicht! Ein totalitärer An- te ich auf Ihre Zahlen eingehen. Sie sagen: Selbstver- spruch, den Sie hier formulieren!) ständlich muss jeder Treffer überprüft werden. – Ich habe das eben mal schnell mit den Zahlen von 2018, Es ist einfach so: Die Nutzung intelligenter Videotech- mit den Besucherzahlen an den 20 größten Bahnhöfen nik ist um ein Vielfaches effektiver als die bloße mensch- in Deutschland, überschlagen. Dort würden bei einer liche Wahrnehmung. Dass ausgerechnet die Parteien, die Fehlerquote von 0,5 Prozent – wir haben gehört, dass es hier sonst jede Debatte zur Digitalisierung anmelden, der eigentlich 0,67 Prozent sind, aber ich habe es mal über- Bundesregierung in diesem Fall Vorwürfe machen, im- schlagen – pro Tag zwischen 20 000 und 25 000 falsch mer dann, wenn es um Sicherheit geht, Nein sagen und positive Treffer erzeugt, die durch die Polizei überprüft alles blockieren wollen – das ist wirklich völlig daneben. werden müssten. Ich rede hier von den 20 größten Bahn- (Beifall bei der CDU/CSU – Benjamin Strasser höfen. Geplant sind: 140 Bahnhöfe und Flughäfen. Ich [FDP]: Das ist Quatsch! Völliger Unsinn!) prognostiziere, dass die Zahlen inzwischen höher sind. Das, was ich jetzt gesagt habe, zeigt doch, wie unbe- Meine Frage ist: Erklären Sie mir mal bitte, wie Sie pro gründet Ihre Ängste vor dem Überwachungsstaat sind, Tag – eigentlich sind die Zahlen höher; aber ich habe die Sie hier auch heute wieder in der Diskussion zu ver- mich nur auf die 20 größten Bahnhöfe bezogen – breiten versuchen. Es zeigt, wie haltlos Ihre Forderungen 25 000 falsch positive Treffer durch die Bundespolizei sind. überprüfen lassen wollen. Haben Sie bereits im nächsten Haushalt die entsprechenden Stellen dafür vorgesehen? (Zuruf der Abg. Anke Domscheit-Berg [DIE LINKE]) (Beifall bei der FDP) Ihre sicherheitspolitische Position ist wirklich fern jeder Realität. Das hat auch schon Kollege Middelberg deutlich Vizepräsident Wolfgang Kubicki: gemacht. Herr Kollege de Vries, Sie dürfen antworten. Bitte. 17874 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

(A) Christoph de Vries (CDU/CSU): nisch möglich. Deswegen ist es wichtig, dass wir darüber (C) Lieber Herr Kollege Höferlin, ich habe die Ehre, dass diskutieren. ich bisher zwei Kurzinterventionen hatte, beide von Ihnen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE]) (Manuel Höferlin [FDP]: Ja!) Wenn wir uns das Thema „Social Scoring“ anschauen, Ich muss auch heute sagen: Wenn man Unsinn redet, wird dann geht es schon weiter. Sie bekommen negative Be- er nicht dadurch besser, dass man ihn wiederholt. wertungen, wenn Sie ein Papierkügelchen auf den Boden schmeißen. Das findet mit dieser Technologie statt. (Manuel Höferlin [FDP]: Das meint aber Sie!) Eben sind auch die privaten Unternehmen angespro- Wir haben, wenn man die Systeme koordiniert, eine chen worden. Es ist richtig: Die privaten Datenkraken Fehlerquote – Herr Middelberg hat es schon gesagt – sind ein reales Problem. Aber wir müssen auch aufpas- von 0,00018 Prozent. Damit entbehren die Zahlen, die sen; denn: Die Versuchung, genau auf diese Daten dann Sie eben genannt haben, wirklich jeder Grundlage. Ich auch staatlicherseits zuzugreifen, ist ziemlich groß. habe Ihnen auch gesagt, dass nicht in jedem Fall eine Überprüfung stattfindet. Sie haben schon Bedenken an- (Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Aber gemeldet, als es um die Videoüberwachung im öffent- das steht doch hier gar nicht zur Debatte!) lichen Raum überhaupt ging. Ich will Ihnen das mal für Das Vorgehen des Unternehmens Clearview ist deswegen Hamburg darstellen: Dort sitzt die Bundespolizei mit zur Diskussion geworden: Ein privates Unternehmen hat 200 Bildschirmen, jeder S-Bahnhof wird angeguckt. über 3 Milliarden Fotos gesammelt und Profile erstellt, Die Konsequenz ist gewesen, dass die Zahl der Straftaten und jetzt kommen in den USA Ermittlungsbehörden und in den S- und U-Bahnhöfen in Hamburg um über 50 Pro- sagen: Wir nutzen das, um Menschen zu identifizieren. zent gesunken ist. Das ist ein guter Erfolg. Hier gehen wir einen Schritt weiter, und dieser ist genauso vernünftig. (Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Darum geht es hier doch gar nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU) Das ist real. Das ist ein Problem. Das gilt es in jedem Fall zu verhindern. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Vielen Dank. – Der nächste Redner ist der Kollege (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Jens Zimmermann, SPD-Fraktion. Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Darum geht es hier exakt gar nicht!) (B) (Beifall bei der SPD) (D) Wir müssen uns natürlich auch anschauen, welche Dis- Dr. Jens Zimmermann (SPD): kussionen eigentlich auch schon laufen. Wir haben ja Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, nicht nur die Diskussion über die Gesichtserkennung. zunächst sollte man mal feststellen, dass wir es eigentlich Schauen wir uns mal das Thema Palantir-Software an, in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten in Deutsch- wo es darum geht, mit Algorithmen Datenbanken zusam- land geschafft haben, eine vernünftige und ausgewogene menzulegen und eben auch analoge Dinge smart und Diskussion beim Thema Überwachung zu haben. Wir intelligent zu machen. Da blicke ich schon auch zu den sind, wenn wir uns andere Länder anschauen, weit, weit Kolleginnen und Kollegen von FDP und Grünen. In Hes- von den Extremen entfernt. Jeder, der mal in London war, sen ist diese umstrittene Software unter Schwarz-Grün weiß, dass an jeder einzelnen U-Bahnstation 200 Kameras eingeführt worden. sind. Das Ergebnis bei uns zeigt, dass wir auch hier im (Zuruf von der FDP: Können wir ja nichts für!) Deutschen Bundestag immer wieder um die Frage der Videoüberwachung gerungen haben, dass wir sie weder In Nordrhein-Westfalen wird es jetzt eingeführt mit Be- einseitig verteufelt haben noch einseitig als seligmachen- teiligung der FDP. de Lösung angesehen haben. Ich finde, wir brauchen bei dem Thema Gesichtserkennung an dieser Stelle genau so (Konstantin Kuhle [FDP]: Ganz anders! Nein! eine Debatte. Nein!) Ich würde mir an der Stelle auch mal eine so engagierte (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Debatte wünschen, wie wir sie jetzt haben. Das wäre not- der FDP) wendig. Wir hatten hier vor Weihnachten einen Kollegen aus dem Parlament in Hongkong zu Gast. Wenn man sich mit (Beifall bei der SPD) ihm unterhält, stellt man fest, dass das nicht irgendwelche Ich will am Ende meiner Rede auch noch eines klar- Fantasien sind, sondern dass es die Probleme, die heute in machen, weil immer von Orwell und irgendwie von Fan- dieser Debatte aufgeführt worden sind, durchaus schon tasie gesprochen wird. Warum müssen wir immer auch konkret gibt. Es ging darum, dass smarte Verkehrskame- ein bisschen nach vorne denken? In Österreich hätte sich ras aufgestellt wurden und jetzt plötzlich Menschen, die niemand vorstellen können, dass irgendwann mal das wieder nach China einreisen wollen, an der Einreise geh- Innenministerium das Bundesamt für Verfassungsschutz indert werden, weil diese Kameras auch die Demonstran- durchsuchen lässt und alle Akten von Rechtsextremisten tinnen und Demonstranten dort erfasst haben. Das ist konfisziert. Das war weit außerhalb unserer Vorstellungs- keine Fantasie; das findet dort statt. Das ist auch tech- kraft. Deswegen müssen wir, wenn wir dem Staat solche Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17875

Dr. Jens Zimmermann (A) Instrumente zur Verfügung stellen, solche Möglichkeiten Echtzeitvideoüberwachung haben. Warum? Weil wir die (C) in Betracht ziehen. Ich habe keine Bedenken, was das hier Vielzahl von Kameras angesichts der personellen Res- und jetzt angeht; ich habe großes Vertrauen in unsere sourcen bei der Polizei einfach nicht alle gleichzeitig im Behörden. Wenn wir uns anschauen, was in Österreich Blick haben können. Da kommen wir jetzt zum Kern des passiert ist, dann müssen wir uns auch vorstellen, was – Themas. ich hoffe, das wird nicht passieren – vielleicht auch mal in Deutschland passieren kann. Deswegen ist es wichtig, Die automatische Detektion versetzt uns in die Lage, dass wir hier eine abgewogene und ausgewogene Debatte eine funktionierende Echtzeitüberwachung – eine funk- führen und diese Dinge nicht einfach als Fantasie zur tionierende! – durchzuführen. Das heißt nichts anderes, Seite wischen. als die Möglichkeit zu schaffen, ins laufende Geschehen einzugreifen. Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen von Ich freue mich auf die Diskussion. Ich finde es gut, den Grünen, die Sie die Grundrechtsfragen so hoch ge- dass sie heute hier begonnen hat. hängt haben, schützen wir übrigens ein Grundrecht, näm- lich das Recht auf Leben und Gesundheit. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Konstantin (Beifall bei der SPD sowie des Abg. von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE klingt chinesisch! – Dr. Mathias Middelberg GRÜNEN]) [CDU/CSU]: Das ist auch ein schönes Grund- recht!) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Dieses Grundrecht müssen wir in einen sachgerechten Vielen Dank, Herr Kollege. – Letzter Redner zu die- und im Übrigen alle Aspekte berücksichtigenden Aus- sem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Michael Kuffer, gleich mit dem Persönlichkeitsgrundrecht bringen. CDU/CSU-Fraktion. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU) GRÜNEN]: Wo führt denn das schon wieder hin?) Michael Kuffer (CDU/CSU): Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kol- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wenn legen von der FDP, Sie geben sich einfach immer wieder Sie schon die „Gesta Romanorum“ zitieren, dann muss den gleichen Reflexen hin. Dabei zeigen Sie auch, dass ich Ihnen dazu sagen: Sie haben die Hälfte des Satzes Ihr Verständnis vom Verhältnis der Sicherheit zur Freiheit verschwiegen. Es heißt nämlich: „… prudenter agas et in einem Ausmaß verrutscht ist, das uns doch immer respice finem“. Handle klug und bedenke das Ende! (B) (D) wieder überrascht. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Sie wissen doch, wie erheblich wir gerade im Bereich CDU/CSU – Michael Grosse-Brömer [CDU/ des Terrorismus herausgefordert sind. Würde ich jetzt CSU]: Den einen Teil hat er nicht behalten!) eine Parallele zur Tierwelt ziehen, dann würde ich es so Zum klugen Handeln gehört genau jene Abwägung, die beschreiben: Die Tollwut bricht aus, und Sie reagieren ich Ihnen hier beschreibe. mit Tierschutzbestimmungen. Deshalb nur ein paar Worte zur Eingriffsintensität. Sie (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ist nämlich faktisch bei der automatischen Detektion viel Solche Vergleiche kommen nie gut!) geringer als bei der herkömmlichen Videoüberwachung. Unser politischer Violinschlüssel ist hier einfach ein Sie würden doch auch nicht allen Ernstes Datenschutzbe- ganz anderer. Absolute Sicherheit ist nicht möglich. Aber denken in den Vordergrund stellen, wir wollen das Menschenmögliche und das technisch (Konstantin Kuhle [FDP]: Es geht um die Er- Mögliche tun, um die Menschen zu schützen. Das bedeu- fassung, nicht um den Treffer!) tet, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir die techni- schen Möglichkeiten ausschöpfen wollen, um zu wenn Polizeibeamte patrouillieren und das Geschehen schützen vor Ort mit eigenen Augen verfolgen. Sie würden es ver- mutlich auch dann nicht tun, wenn die Polizeibeamten (Konstantin Kuhle [FDP]: Koste es, was es einfache Hilfsmittel, wolle!) und um schwere, zum Teil schwerste Kriminalität nicht (Konstantin Kuhle [FDP]: Sie verstehen das nur zu bekämpfen, sondern ihr vorzubeugen. Um genau mit Absicht falsch!) diesen präventiven Aspekt geht es bei der Frage der in- wie zum Beispiel ein Fernglas, benutzen. Deshalb frage telligenten Videoüberwachung und bei der Frage der au- ich Sie, warum Sie das gerade in einem Fall tun, wo uns tomatischen Detektion und der Gesichtserkennung im die Technik in die Lage versetzt, dass wir den Blick des Besonderen. Polizeibeamten sozusagen verlängern und dass wir die Videoüberwachung und das Auge des Polizeibeamten Die Videoüberwachung, liebe Kolleginnen und Kolle- maximal nah zueinander bringen. gen, beschränkt sich bisher in der Praxis allzu oft darauf, im Nachhinein, also nach einem Geschehen, mit der Aus- Es werden nur jene Fälle erkannt, die relevant sind. wertung der Videoüberwachung die Tataufklärung zu un- Alle anderen Fälle werden ausgesondert. Damit fallen terstützen. Das ist selbst dort in praxi meistens so, wo wir 99 Prozent der Videoüberwachung aus dem grund- 17876 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Michael Kuffer (A) rechtssensiblen Bereich heraus. Diese Videostrecken Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- (C) müssen wir dann gar nicht mehr sichern. Wir müssen schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung künftig, wenn wir diese Technik intelligent einsetzen, nicht Tausende von Bändern und von Datenträgern mit Drucksache 19/16914 Videomaterial sichern, sondern wir können uns auf das b) Zweite und dritte Beratung des von den Ab- beschränken, was relevant ist. Darum geht es. geordneten Stefan Gelbhaar, Matthias Ein Letztes. Gastel, Stephan Kühn (Dresden), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: wurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. des Gemeindeverkehrsfinanzierungsge- setzes Michael Kuffer (CDU/CSU): (1. VerkehrswendeG-ÄndG-GVFG) Wenn Sie richtig rechnen, lieber Kollege Höferlin, Drucksache 19/2695 dann kommen Sie mit den Zahlen, die hier genannt wor- den sind, nämlich mit einer Fehlerquote von 0,00018 Pro- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- zent, schusses für Verkehr und digitale Infrastruk- tur (15. Ausschuss) (Manuel Höferlin [FDP]: Woher nehmen Sie die denn?) Drucksache 19/16908 nicht auf 25 000 Fälle pro Tag, sondern dann kommen Sie Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen auf sieben, auf sieben Fälle pro Tag, die sozusagen falsch zwei Änderungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die positiv aufscheinen. Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der AfD vor. (Beifall bei der CDU/CSU – Manuel Höferlin [FDP]: Ihre Zahlen sind falsch! Woher kom- Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten be- men sie denn?) schlossen. Ich wäre dankbar, wenn die Kolleginnen und Kollegen den Sitzplatzwechsel, den sie jetzt vornehmen, zügig machen würden, damit wir fortfahren können. Lie- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: be Kollegen auch der FDP-Fraktion, Kuhle und Höferlin, Herr Kollege, kommen Sie jetzt bitte zum Schluss. es wäre nett, die Gespräche draußen fortzusetzen. (B) Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- (D) Michael Kuffer (CDU/CSU): ner das Wort dem geschätzten Bundesminister Andreas Das sind die Erfahrungen, die wir aus dem Pilotver- Scheuer für die Bundesregierung. such am Südkreuz gewonnen haben. Die sind für uns Grund genug, dieses Thema weiterzuverfolgen. (Beifall bei der CDU/CSU)

Vielen Dank. Andreas Scheuer, Bundesminister für Verkehr und (Beifall bei der CDU/CSU) digitale Infrastruktur: Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident, wegen vorhin: Ich bin auch sehr gerne Vizepräsident Wolfgang Kubicki: da, wenn Sie Präsident sind. Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache. (Heiterkeit) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 19/16862 und 19/16885 an die in der Vielen Dank für die immer klaren Ansagen und die Ord- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. nung der Sitzung. Gibt es weitere Überweisungsvorschläge? – Das erkenne Wir haben vor, den Nahverkehr mit viel Geld neu zu ich nicht. Dann verfahren wir wie vorgeschlagen. unterstützen und zu ordnen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf: (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE a) Zweite und dritte Beratung des von der Bun- GRÜNEN]: Hauptsache viel Geld!) desregierung eingebrachten Entwurfs eines Deswegen ist es heute ein sehr guter Tag; denn wir brau- Dritten Gesetzes zur Änderung des Ge- chen moderne Mobilität nicht neu zu erfinden, sondern meindeverkehrsfinanzierungsgesetzes wir können eine Mobilität ohne Staus und ohne Park- Drucksachen 19/15621, 19/16404, platzsuche anbieten. Sie ist vorhanden, nämlich über die 19/16578 Nr. 1.11 öffentlichen Verkehrsmittel. Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Gerade die zunehmende Zahl der Pendler zeigt, dass schusses für Verkehr und digitale Infrastruk- wir zum Umsteigen motivieren und ganzheitlich denken tur (15. Ausschuss) sollen. Das geht nicht alleine mit Appellen an die Ver- nunft, sondern vor allem mit ganz klaren Projekten und Drucksache 19/16908 vor allem mit einer entsprechenden Mittelausstattung. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17877

Bundesminister Andreas Scheuer (A) Wenn ich mir die Regionalbahnen anschaue, die Stra- setz, kann man sofort in die Ausschreibung gehen. Das (C) ßenbahnen, die S- und die U-Bahnen: Wir haben in der erwarten wir jetzt auch von den Bundesländern: dass sie Vergangenheit sehr stark immer nur einen Verkehrsträger Projekte melden; denn wir stellen die Mittel dafür bereit. im Auge gehabt. Mit dieser Reform, mit dieser Novelle des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes schaffen Wir investieren nicht nur in neue Maßnahmen, son- wir auch die Ausweitung auf verschiedene Verkehrsträ- dern – das ist ganz neu – vor allem auch in die Grund- ger und verschiedene Verkehrsmittel, damit das Umstei- erneuerung, in die Instandsetzung, in die Renovierung. gen erleichtert wird und der Anreiz erhöht wird. Wir Das ist zwar nachrangig, aber auch damit soll jetzt ein schaffen damit mehr Attraktivität. Beitrag geleistet werden. Wenn wir länger brauchen für die großen Bauprojekte, können wir im Bereich der Es freut mich riesig, dass diese Novelle gestern im Grunderneuerung sehr schnell in die Umsetzung kom- Verkehrsausschuss mit überwältigender Mehrheit ange- men. Wir werden U-Bahnhöfe, Treppenaufgänge moder- nommen wurde. Nicht nur die geschätzten Kolleginnen nisieren, tropfende Decken beseitigen oder Tunnel von und Kollegen der Koalition, was ja eigentlich normal ist, Grund auf erneuern, das heißt kleinere und mittelgroße Baumaßnahmen umsetzen, die vor Ort ankommen. (Torsten Herbst [FDP]: Eigentlich!) wenn ein Minister einen Vorschlag vorlegt, sondern auch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und die Kollegen und Kolleginnen der FDP und der Grünen der SPD) haben meinem Vorschlag zugestimmt. Das beweist, dass Mit dem Bündnis für moderne Mobilität, das ich ins wir nach langen Diskussionen, auch mit den Bundeslän- Leben gerufen habe, werden wir im Dialog mit Ländern dern, ein echtes, gutes Angebot vorlegen können. und Kommunen die Anmeldungen bzw. die Listen jetzt Um was geht es? Nicht jeder Bürger auf den Zu- sukzessive durchgehen, damit das Geld auch dort landet, schauerrängen und an den Bildschirmen kann etwas mit wo wir es brauchen, damit wir die Bürger wirklich zum dem Begriff „Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz“ Umsteigen auf die öffentlichen Verkehrsmittel animieren anfangen. Nicht jeder ist Verkehrspolitiker und weiß die- können, damit wir unsere Städte entlasten. Wir wollen ses Monstrum an Begriff zu definieren. Um was geht es nicht nur an die Vernunft appellieren, sondern wir wollen also? Wir verbessern mit Bundeshilfe die regionalen Ver- auch den Pendlerinnen und Pendlern helfen, Geld und kehre. Wir verbessern für die Bundesländer und die Kom- Zeit zu sparen, wenn sie umsteigen: Zeit bei der Park- munen die Investitionen vor Ort in den Ausbau von Stra- platzsuche und Geld für die Miete oder die Jahresgebühr ßenbahnlinien oder U-Bahnen. für den Parkplatz. Wir wollen Angebote im Bereich der öffentlichen Transportmittel schaffen. Diese Koalition hat schon im Koalitionsvertrag den (B) richtigen Schwerpunkt gesetzt, nämlich den ursprünglich Meine Damen und Herren, damit Sie sehen, dass wir (D) angedachten Betrag von 333 Millionen Euro zu erhöhen, ganzheitlich denken: Wir investieren, wie gesagt, nicht noch mal aufwachsen zu lassen. Das Klimakabinett hat nur in Neubauprojekte in den Metropolregionen, sondern am Ende des letzten Jahres noch mal ordentlich was mit den Grunderneuerungen auch in den ländlichen Räu- draufgelegt. Wir sprechen von einer – Achtung! – Ver- men. Dazu kommt noch: Wenn ein Pendler keine Mög- sechsfachung der Mittel, die diese Koalition mit Unter- lichkeit zum Abstellen seines Fahrzeugs hat, wenn er in stützung einiger aus der Opposition anwachsen lässt, da- seiner Mobilitätszentrale morgens sein Auto nicht abstel- mit vor Ort das Pendeln und vor allem der Nahverkehr für len kann, wenn er sein Elektroauto nicht laden kann, die Bürgerinnen und Bürger verbessert werden. Das ist wenn er sein Rad nicht in einer sicheren Fahrradgarage eine echte Verbesserung für die Bürgerinnen und Bürger. abstellen kann, dann wird er nicht auf die S-Bahn oder die Herzlichen Dank für diese Unterstützung. U-Bahn umsteigen. Deswegen schaffen wir auch diesbe- züglich ein Angebot. Das ist ganzheitlich zu sehen: Man (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- kann das Fahrzeug sicher abstellen, auf die Bahn umstei- ordneten der SPD und der FDP) gen und mit dieser in die Metropolregion fahren. Was machen wir, wenn wir als Bund für die Bundes- Herr Präsident, ich freue mich, dass wir heute noch länder und für die Kommunen Verbesserungen vor Ort Reden zu den Regionalisierungsmitteln, zu den zwei Pla- vornehmen? Wir wollen die Elektrifizierung und die nungsbeschleunigungsgesetzentwürfen hören können. Reaktivierung von Schienenstrecken. Wir wollen die Ka- Heute ist ein guter Tag für die Dynamik in Deutschland. pazitäten auf der Schiene erhöhen. Wir werden den För- dersatz auf sage und schreibe 75 Prozent der zuwen- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. dungsfähigen Kosten anheben. Wir werden nicht nur in Stadtgebiete gehen, sondern auch in den ländlichen Raum (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- und damit den Auftrag erfüllen, für die Gleichwertigkeit ordneten der SPD) der Lebensverhältnisse zu sorgen, was diese Koalition zum Ziel hat. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Wir schaffen so einen gesamtwirtschaftlichen Nutzen, Vielen Dank, Herr Minister Scheuer. – Für den Inhalt weil wir damit auch die mittelständische Bauwirtschaft der Reden ist das Präsidium nicht verantwortlich. anschieben. Wir haben heute über den Jahreswirtschafts- (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP) bericht debattiert. Das Bundesverkehrsministerium leis- tet einen großen Beitrag mit diesen Investitionen. Mit Als nächster Redner hat der Kollege Wolfgang Wiehle, diesem GVFG, dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsge- AfD-Fraktion, das Wort. 17878 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) (Beifall bei der AfD) Künftig sollen auch Straßenbahnen gefördert werden, (C) die auf Autospuren fahren, und zwar mit Priorität vor den Wolfgang Wiehle (AfD): Autos. Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kolle- gen! Mehr Geld für die Verbesserung der Verkehrsver- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Mein hältnisse in Städten und Gemeinden – das verspricht die Gott! So ein schlechtes Argument! – Sören Änderung des GVFG, des Gemeindeverkehrsfinanzie- Bartol [SPD]: Das ist ja auch eine Straßenbahn! rungsgesetzes. Da kann man doch eigentlich nur jubeln, Da sind mehr drin als im Auto!) Meine Damen und Herren von der Koalition, von Grünen (Sören Bartol [SPD]: Ja! Genau! Mach doch und Linken, damit produzieren Sie neue Verkehrsstaus, mal! Einfach machen!) jedenfalls auf den ersten Blick. Der Ausbau von U-Bahn (Sören Bartol [SPD]: Nein!) und Stadtbahn muss vielerorts warten, weil das Geld und die werden in den Städten schon jetzt immer schlim- fehlt. Dass hier jetzt endlich gehandelt wird, begrüßt auch mer. Die gestern veröffentlichte TomTom-Studie beweist die AfD. es aufs Neue. (Sören Bartol [SPD]: Hammer!) (Lachen bei Abgeordneten der SPD – Carsten Der Straßenverkehr geht aber leer aus, und das ist typisch Schneider [Erfurt] [SPD]: „TomTom“ ist gut!) für die Art, in der die Koalition ideologische Verkehrs- Diese Stauproduktion durch Straßenbahnprojekte nimmt wendepolitik macht. die Verkehrspolitik des Bundes systematisch in Kauf. (Detlef Müller [Chemnitz] [SPD]: „Föderalis- Jedes Bauprojekt muss bekanntlich auf seinen volkswirt- musreform“ heißt das!) schaftlichen Nutzen hin geprüft werden. Bei dieser soge- nannten standardisierten Bewertung werden alle mögli- Die Grünen hatten schon 2018 beantragt, alle Förder- chen Vorteile der Fahrgäste im Nahverkehr eingerechnet, tatbestände für den Straßenbau aus dem GVFG zu strei- aber eben nicht die Fahrzeitverluste für die Autofahrer, chen. Und die Regierungskoalition folgt dem. Manche die länger im Stau stehen. Bei einer Expertenanhörung werden jetzt sagen: Ja, bei Fördermitteln für den Straßen- hier im Bundestag wurde das bestätigt. Das ist so, wie bau müssen die Städte sich halt an die Bundesländer wenn Sie in einer Firmenbilanz die Gewinne ausweisen, wenden; aber für zu erwartende Verluste keine Vorsorge treffen. (Michael Donth [CDU/CSU]: Richtig!) „Milchmädchenrechnung“ ist dafür noch ein vornehmer Begriff, meine Damen und Herren. (B) denn vom Bund gibt es dafür schon seit Jahren kein Geld (D) mehr. (Beifall bei der AfD) (Michael Donth [CDU/CSU]: Ah!) Sie sehen: Auf den zweiten Blick ist beim GVFG längst nicht alles Gold, was glänzt. Die AfD-Fraktion Wenn aber bis 2025 die Gelder des Bundes versechsfacht wird den Gesetzentwurf der Bundesregierung in der Aus- werden, dann darf der Straßenbau dabei nicht völlig leer schussfassung daher ablehnen und den Gesetzentwurf der ausgehen. Grünen ebenfalls. Die beiden Änderungsanträge der (Beifall bei der AfD – Zuruf von der LINKEN: Fraktion der Grünen lehnen wir als zu weitgehend ab. So ein Unsinn!) Der Entschließungsantrag der AfD-Fraktion dient dage- gen dem Zweck, zwischen der Förderung des öffentli- Städte, die Straßentunnel bauen und damit den Lärm- chen Nahverkehrs und der Förderung des Individualver- schutz und den Verkehrsfluss verbessern, brauchen dafür kehrs in den Städten Ausgewogenheit herzustellen. Geld. Anwohnergaragen gibt es nicht für umsonst. Diese wird man verstärkt brauchen, beispielsweise wenn für (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Freie Fahrt den Radwegeausbau Parkplätze beseitigt werden. für freie Bürger!) (Detlef Müller [Chemnitz] [SPD]: Sollen wir als Bund jetzt Garagen bauen?) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Kommen Sie bitte zum Schluss. Digitalisierte Ampelsteuerungen verbessern den Ver- kehrsfluss und reduzieren den Schadstoffausstoß. Auch die müssen bezahlt werden. Wenn die Straßenprojekte Wolfgang Wiehle (AfD): nicht über das GVFG-Bundesprogramm laufen sollen, Bitte stimmen Sie diesem Antrag zu. Das ist der rich- dann muss der Bund die Länder in die Lage versetzen, tige Weg. ihre Förderung für kommunale Verkehrsprojekte entspre- (Beifall bei der AfD) chend aufzustocken.

(Beifall bei der AfD) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Die Forderung der AfD-Fraktion ist klar: Eine Einseitig- Vielen Dank, Herr Kollege Wiehle. – Als nächster keit zulasten des Straßenverkehrs darf es nicht geben. Redner hat der Kollege Sören Bartol, SPD-Fraktion, das Wort. (Detlef Müller [Chemnitz] [SPD]: So ein Quatsch!) (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17879

(A) Sören Bartol (SPD): (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Straßen- (C) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und bahnen!) Kollegen! In der Wirtschaft sprechen wir ja oft über Hid- – Straßenbahnen natürlich auch. – Auf dem Land sind die den Champions. Sie stehen nicht in der ersten Reihe, Menschen abhängiger vom Individualverkehr. Trotzdem werden nicht von allen bejubelt, spielen aber real oft die setzen wir auch in dünnbesiedelten Regionen auf den entscheidende Rolle. Auch bei Gesetzen gibt es Hidden ÖPNV. In meinen Augen haben wir ihn dort alle gemein- Champions, und dazu gehört das Gemeindeverkehrsfi- sam – in unterschiedlichsten Konstellationen – in den nanzierungsgesetz, kurz GVFG genannt. Neben der Städ- letzten Jahrzehnten teilweise kaputtgespart. Liebe Kolle- tebauförderung ist es eines der wichtigsten Instrumente, ginnen und Kollegen, das müssen wir zurückdrehen. Der um die Lebensqualität von Menschen ganz konkret und ÖPNV gehört überall zur Daseinsvorsorge. Auch deshalb spürbar zu verbessern. In Bezug auf den Klimaschutz ist brauchen wir die Investitionen, wie wir sie heute hier mit es zentral für die Verkehrswende. Es ist ein entscheid- dem GVFG beschließen. ender Baustein, wenn es um faire Preise und ein attrakti- ves Angebot im Nahverkehr geht. Und es ist systemrele- (Beifall bei der SPD) vant, damit Mobilität auch digital wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in den Vizepräsident Wolfgang Kubicki: letzten Monaten viel über neue Wege geredet, über soge- Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der nannte Wenden: Klimawende, Energiewende, nicht zu- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen? letzt die Verkehrswende. Was das industriepolitisch be- deutet, haben wir in den letzten Wochen ausführlich Sören Bartol (SPD): diskutiert. Etwas untergegangen ist dabei, dass die Kom- Bitte schön. munen einer der entscheidenden Faktoren für die Mobi- litätswende sind. Der Nahverkehr ist mitten in einem Stefan Gelbhaar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Strukturwandel: Roller, Leihräder, Pkw-Sharing, Platt- Herr Bartol, vielen Dank für das Zulassen der Zwi- formanbieter sind immer öfter natürlicher Teil der Mobi- schenfrage. litätskette. Sie werden quasi als öffentliche Verkehrsmit- tel wahrgenommen. Das eigentliche Verkehrsmittel in Sören Bartol (SPD): Städten wird jedoch das Smartphone sein. Liebe Kolle- Sie brauchen ja nicht zu fragen. Sie können auch ein- ginnen und Kollegen, das heißt, wir müssen unsere Infra- fach etwas sagen. strukturen zukunftsfest machen und modernisieren, auch um die Klimaziele zu erreichen. (B) Stefan Gelbhaar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (D) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Andreas Ja, danke für den Hinweis; auch das ist bekannt. – Ich Jung [CDU/CSU] – [SPD]: möchte Sie zwei Sachen fragen. Es geht zum einen um Sehr richtig!) das Thema Barrierefreiheit, das Sie angesprochen haben, und zum Zweiten um die gesteigerten Investitionen. Viel- Bei allen technischen und sozialen Innovationen brau- leicht fange ich mit dem Zweiten an: Können Sie mir chen wir im Kern einen leistungsfähigen öffentlichen vielleicht erklären, warum wir das Grundgesetz ändern Personennahverkehr. Wir wollen einen ÖPNV, der Men- mussten, um diesen Deckel wieder abzusprengen? Wer schen zuverlässig von A nach B bringt und dabei vor hat denn diese Versteinerung in der letzten Legislatur allem unseren Ansprüchen an Qualität, faire Arbeitsbe- eingeführt? Sie können gerne auch die Parteifarben be- dingungen für die Beschäftigten, Bezahlbarkeit und Bar- nennen. – Das war meine erste Frage. rierefreiheit genügt. (Ulli Nissen [SPD]: Die Antwort weiß er doch (Beifall bei der SPD) genau!) Ein bezahlbarer ÖPNV bleibt für uns die gerechteste Zum Zweiten habe ich eine Frage zum Stichwort Bar- und sozialste Form von Mobilität. rierefreiheit. Wir haben sowohl gestern im Ausschuss als auch hier im Plenum einen Antrag vorgelegt, der sagt: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir wollen Bundesmittel nur noch für Projekte vergeben, Deshalb nehmen wir auch im GVFG zusätzliches Geld in die sich Barrierefreiheit wirklich auf die Fahnen die Hand. Wir erhöhen die Haushaltsmittel schrittweise schreiben. – Im Gesetz steht das bislang anders. Wie wird auf 1 Milliarde Euro jährlich ab dem nächsten Jahr. 2025 sich denn Ihre Fraktion dazu verhalten? verdoppeln wir die Mittel noch einmal auf 2 Milliarden Euro. Damit gibt es vor allen Dingen Planungssicherheit. Sören Bartol (SPD): Länder und Kommunen müssen das jetzt schnell umset- Sie kennen die Antwort eigentlich schon; ich versuche zen, und wir müssen genau schauen, welche Effekte das trotzdem, Ihnen meine Sicht der Dinge darzustellen. Geld hat und ob wir in den kommenden Jahren vielleicht nachsteuern und uns das noch einmal anschauen müssen. Zur Barrierefreiheit: Sie wissen doch, was für riesige Herausforderungen wir in einem gewachsenen System, Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bedürfnisse und nicht nur im Nahverkehr, sondern auch im die Bedingungen in der Stadt und auf dem Land sind schienengebundenen Verkehr, im Fernverkehr, haben. unterschiedlich. In der Stadt gibt es mehr Carsharing, Wir reden hier über gigantische Summen, die wir alle mehr ÖPNV, neue Plattformen, Elektromobilität. gemeinsam aus Steuermitteln investieren müssen. Ja, 17880 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Sören Bartol (A) ich glaube, das ist im Haus auch Konsens. Wir alle wollen (Heiterkeit bei der SPD und der FDP sowie bei (C) das. Abgeordneten der CDU/CSU) Ich kann mich noch erinnern, als wir damals die Fern- Sie haben jetzt noch 44 Sekunden für den Rest Ihrer busse und das neue Fernbussystem eingeführt haben. Da Rede. gab es eine intensive Diskussion darüber, wie wir mit einem solchen System umgehen. Da haben wir – auch Sören Bartol (SPD): als deutsche Sozialdemokratie – Wert darauf gelegt, dass Ja. Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen wir von Anfang an das Thema Barrierefreiheit mitden- und Kollegen, wir müssen uns ehrlich machen – das war ken. Erinnern Sie sich einmal an die Änderungen im auch gerade die Diskussion –: Ein besserer ÖPNV kostet PBG, dem Personenbeförderungsgesetz, die wir vorge- mehr. Dieses Investitionspaket ist für mich wirklich ein nommen haben. Das war ein klares System, und wir ha- sehr, sehr guter Anfang. Zusammen mit dem Regional- ben gesagt: Es gibt einen Punkt, an dem ihr barrierefrei isierungsgesetz und unserem Modernisierungsprogramm sein müsst. – Da müssen sich alle Länder, alle Kommu- für Bahnhöfe investieren wir massiv in einen attraktiven nen, alle handelnden Akteure gemeinsam fragen: Sind Nahverkehr. Damit schaffen wir die Alternativen für ein wir weit genug? Ich sage Ihnen: Nein, wir sind noch nicht modernes und umweltfreundliches Mobilitätsangebot in weit genug. Dieses Thema wird uns weiter begleiten. Ich Stadt und Land. Ich freue mich, dass wir mit den heutigen glaube, wir müssen da immer eine Schippe obendrauf Beschlüssen das GVFG mehr in die öffentliche Wahrneh- legen. Deswegen haben wir uns – auch in der Großen mung rücken. Der Hidden Champion, das Gemeindever- Koalition; denken Sie an unsere Bahnhofsprogramme – kehrsfinanzierungsgesetz, darf heute einmal aus seinem genau um dieses Thema gekümmert. Schatten heraustreten und sich feiern lassen. Das wird seiner Bedeutung gerecht, und das kommt den Kommu- (Stefan Gelbhaar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nen und unseren Bürgerinnen und Bürgern auch zugute. NEN]: Das heißt, Sie stimmen zu?) Vielen Dank. Ich finde dieses Thema wichtig. – Und nein, ich stimme dem nicht zu, weil wir das anders machen. Dafür brau- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) chen wir keinen Grünenantrag. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Vielen Dank, Herr Kollege Bartol. – Als nächster Red- Dr. Christoph Ploß [CDU/CSU]) ner hat das Wort der Kollege Torsten Herbst, FDP-Frak- Ich komme zum zweiten Punkt, den Sie in Ihrer Frage tion. (B) angesprochen haben. Natürlich ist das GVFG, also das (D) (Beifall bei der FDP) Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, etwas, wo Fach- politiker schon immer gesagt haben: Es ist unterfinan- Torsten Herbst (FDP): ziert. Wir müssen es systematisch verändern. Wir müssen zum Beispiel nicht nur neu bauen, sondern wir müssen in Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- den Erhalt gehen. Wir dürfen die vorhandene Infrastruk- ren! Es ist keine Frage: Ein attraktiver ÖPNV schafft tur sozusagen nicht vergammeln lassen; sondern wir müs- einen Mehrwert für die Bürgerinnen und Bürger. Unser sen Geld in die Hand nehmen – auch vom Bund. Natür- Dank gilt aber nicht zuerst der Koalition, sondern zuerst lich dauert es bei Fachpolitikern lange, bis die Erkenntnis dem deutschen Steuerzahler; denn der ermöglicht mit in diesem großen Hause ankommt. Denn Sie wissen na- seinem Geld, dass wir in den ÖPNV investieren können. türlich auch: Es gibt immer widerstreitende Interessen, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten was die Frage der Mittelhöhe für einzelne Programme der SPD – Sören Bartol [SPD]: Das dürft ihr angeht. Ich finde, heute ist der Tag, wo Sie als Opposition jetzt ruhig mal sagen!) einfach einmal sagen können: Uns als Freien Demokraten geht es dabei nicht um Ideo- (Ulli Nissen [SPD]: „Super!“) logie, es geht nicht um Weltrettung, es geht auch nicht um den Kulturkampf gegen das Auto, sondern es geht Danke, dass diese Mittel so steigen. Danke, dass die schlichtweg darum, bessere Mobilität und Alternativen Kommunen jetzt das Ganze ausbauen können und dass im Alltag zu zeigen. sich alle einfach einmal gemeinsam freuen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der SPD – Ulli Nissen [SPD]: Wir haben es auch super gemacht!) Der Verkehrsminister hat es angesprochen: Wenn wir uns U-Bahnen, S-Bahnen und Straßenbahnen zu Stoß- Man kann aber natürlich auch das Haar in der Suppe zeiten anschauen, sehen wir, dass wir da mittlerweile an weitersuchen. Kapazitätsgrenzen gelangt sind. Da ist es sinnvoll, in Ausbau und Modernisierung zu investieren. Deshalb stimmen wir als Freie Demokraten diesem Gesetzentwurf Vizepräsident Wolfgang Kubicki: auch zu. Vielen Dank, Herr Kollege. – Sie haben es tatsächlich geschafft, in Ihrer weitreichenden Beantwortung der Fra- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gestellung Ihre Redezeit zu verdoppeln. Das ist eine echte der CDU/CSU und der SPD – Ulli Nissen Kunst. [SPD]: Gute Entscheidung!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17881

Torsten Herbst (A) Was wir allerdings – das will ich hinzufügen – schon schenfrage ist. Aber bei der Frage, ob die Kommunen das (C) als zum Teil ziemlich schräg empfinden, ist eine in Teilen nicht selbst finanzieren könnten, bin ich etwas angetrig- von manchen Fraktionen hier betriebene völlige ideolo- gert gewesen. Ich komme aus Potsdam. Die Landes- gische Überlagerung der gesamten ÖPNV-Diskussion. hauptstadt Potsdam profitiert vom starken Zuzug nach Da gibt es mittlerweile einen bunten Strauß an Forde- Berlin. Viele Menschen landen eben nicht in Berlin, son- rungen: Man müsse die Autos in Innenstädten komplett dern bei uns. Die Landeshauptstadt entwickelt gerade ein verbieten. Man müsse Radfahrern Sonderurlaubstage ge- Wohngebiet, in dem perspektivisch über 10 000 Men- währen. Kostenlosen ÖPNV müsse es überall geben, und schen wohnen sollen und das nur durch eine Straßenbahn den Verbrennungsmotor, den möge man bitte verbieten. – sinnvoll angeschlossen werden kann. Meine Meinung ist dazu: Das, sehr geehrte Damen und Herren, ist weit weg vom Bild des mündigen Bürgers. ( [FDP]: Norbert Müller? Das Das ist zwangsgrüne Umerziehung, und das wird es mit ist doch der mit dem Fahrdienst!) den Freien Demokraten nicht geben. Daher hofft sie dringend auf die Mittel aus dem Gemein- (Beifall bei der FDP) deverkehrsfinanzierungsgesetz. Wir reden über 300 Mil- lionen Euro für eine Stadt mit 180 000 Einwohnern. Wir wollen die Menschen durch attraktive ÖPNV-An- gebote überzeugen, auch einmal auf eine Autofahrt zu Bitte sagen Sie mir: Wie wollen Sie denn eine Kom- verzichten, und nicht die grüne Moralkeule schwingen. mune finanziell dauerhaft so ausstatten, dass sie ohne Ich glaube, das ist auch der bessere Weg: Alternativen Unterstützungsprogramme des Bundes 300 Millionen schaffen, gute Angebote schaffen. Komfort, Schnellig- Euro für ein Straßenbahnprojekt zur Erschließung eines keit und Service, das sind die Merkmale, die den ÖPNV Wohngebietes, das wir brauchen, weil viele Menschen attraktiv machen und die dafür sorgen, dass sich die von Potsdam aus nach Berlin fahren – nicht nur, weil es Bürger für den ÖPNV entscheiden. bei uns so schön ist –, investieren kann? Auch wenn es in Potsdam natürlich sehr schön ist, finde ich, dass es an Ich will aber auch hinzufügen: Beim GVFG und auch dieser Stelle richtig ist, dass der Bund die Kommunen bei anderen Bundesprogrammen stellt sich immer die unterstützt, und zwar auch, wenn es originär eine kom- grundsätzliche Frage, ob denn die Verlängerung einer munale Aufgabe sein mag. Denn eine Kommune könnte Straßenbahnlinie wirklich eine Aufgabe ist, die der Bund das niemals alleine stemmen, wie gesagt, 300 Millionen in jedem Fall mitfinanzieren muss. Warum haben unsere Euro bei 180 000 Einwohnern in der Landeshauptstadt. Länder und Kommunen eigentlich nicht die finanzielle Das ist überhaupt nicht darstellbar. Genau dafür brauchen Kraft, aus eigenen Mitteln diese doch originären Aufga- wir das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz. Ich glau- ben zu erfüllen? (B) be, es müsste sogar besser ausgestattet sein, als von der (D) ( [CDU/CSU]: Natürlich haben Bundesregierung jetzt beabsichtigt. sie das!) (Beifall bei der LINKEN) Ich glaube, wir könnten die gesamte Fördermittelbüro- kratie, über die wir uns alle hier ganz oft beschweren, Torsten Herbst (FDP): deutlich reduzieren, wenn wir die Finanzkraft von Län- dern und Kommunen stärken. Dann würde nämlich nicht Herr Kollege, in diesem Fall besteht sogar Konsens; vor allem gebaut, was mit Subventionen gefördert wird, denn bei Großprojekten in dieser Dimension ist eine fi- sondern es würde gebaut, was gebraucht wird. nanzielle Unterstützung der Kommunen von außen not- wendig. Aber Sie wissen auch: Wir haben die entsprech- (Marian Wendt [CDU/CSU]: Die Länder und enden Grenzen im GVFG sehr stark abgesenkt, teilweise Kommunen waren noch nie so finanzkräftig auf 10 Millionen Euro. Wenn ich mir die Größe des wie jetzt! Das muss man wissen!) kommunalen Haushalts der Stadt Potsdam anschaue: Das wäre aus unserer Sicht in der langfristigen Perspek- Ganz ehrlich, wenn man eine Investition von 10 oder tive der bessere Ansatz, um Steuergelder sinnvoll einzu- 12 Millionen Euro nicht selbst stemmen kann, dann setzen. macht man, glaube ich, etwas falsch. Wir regen uns alle auf und wir haben viel diskutiert Vizepräsident Wolfgang Kubicki: über Förderkriterien, über die Kompliziertheit der Ver- Herr Kollege Herbst, erlauben Sie eine Nachfrage aus fahren, über die Dauer; denn erst müssen Anträge ein- der Fraktion Die Linke? gereicht werden, dann werden sie im Bundesministerium bearbeitet, bevor sie zurückgegeben werden. Wir müssen Torsten Herbst (FDP): dafür sorgen, dass Verkehrsinvestitionen in Deutschland schneller auf den Weg gebracht werden. Bisher dauert Gerne. alles viel zu lange.

Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Beifall bei der FDP) Bitte. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE): Vielen Dank, Herr Kollege Herbst. – Als nächster Red- Herr Kollege Herbst, vielen Dank, dass Sie das zulas- ner hat der Kollege Andreas Wagner, Fraktion Die Linke, sen, auch wenn das jetzt quasi eine nachgelagerte Zwi- das Wort. 17882 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) (Beifall bei der LINKEN) auf 2 Milliarden Euro erhöht. Das wäre möglich. 1 Mil- (C) liarde Euro weniger in Militär- und Kriegsübungen ste- Andreas Wagner (DIE LINKE): cken und stattdessen in die Bahn investieren, das wäre Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und doch was. Herren! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Verstopfte Stra- ßen in den Städten sind nervig für alle: für die Anwohne- (Beifall bei der LINKEN) rinnen und Anwohner genauso wie für diejenigen, die mit Mit dem heute zur Abstimmung stehenden Gemeinde- dem Auto im Stau stehen. Deshalb müssen wir den Ver- verkehrsfinanzierungsgesetz werden die Kommunen bei kehr anders organisieren. ihren Aufgaben im Verkehrssektor gestärkt. Auch wenn Wenn wir Staus und den Autoverkehr reduzieren und noch mehr möglich gewesen wäre: Die dringend notwen- so die Wohn- und Aufenthaltsqualität in den Städten und dige Verkehrswende erhält damit einen kräftigen Schub, Gemeinden verbessern wollen, müssen wir Alternativen und das ist gut so. schaffen. Nur dann besteht die Möglichkeit zum Umstei- Herzlichen Dank. gen. Das heißt: Wo es bereits ein Angebot mit Bus und Bahn gibt, muss dieses ausgebaut werden, damit zusätz- (Beifall bei der LINKEN) liche Fahrgäste befördert werden können. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Gleichzeitig dürfen wir die vielen Kommunen im länd- Vielen Dank, Herr Kollege Wagner. – Nächster Redner lichen Raum nicht aus dem Blickfeld verlieren. Wir müs- ist der Kollege Stefan Gelbhaar, Bündnis 90/Die Grünen. sen uns um sie kümmern. Hier ist es vielerorts notwendig, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) überhaupt ein Angebot mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu schaffen. Die Menschen auf dem Land haben ein Recht darauf. Sie dürfen nicht vergessen werden. Stefan Gelbhaar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr (Beifall bei der LINKEN) Scheuer! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! „Op- Den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs position ist Mist“, wird gesagt. Und doch, mit einem können die Kommunen nicht alleine stemmen. Daher ist Schmunzeln, möchte ich sagen: Auch aus der Opposition es gut, dass mit der Änderung des Gemeindeverkehrsfi- heraus lässt sich etwas bewegen, es dauert nur lange. Vor nanzierungsgesetzes den Kommunen mehr Geld bereit- eineinhalb Jahren hat meine Fraktion hier einen Gesetz- gestellt wird, und das nicht nur einmalig, sondern lang- entwurf zum Gemeindeverkehr vorgelegt. Wir haben den (B) fristig. Das gibt den Kommunen mehr Sicherheit, die sie Entwurf „Verkehrswendegesetz" genannt. Darüber stim- (D) auch für die Personalplanung brauchen; denn ein zügiger men wir heute ab. Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs ist nicht Bis Ende 2019 gab der Bund jährlich nur 330 Millionen nur eine Frage des Geldes, sondern auch von genug Per- Euro für den ÖPNV aus, ein Dreiunddreißigstel des Ge- sonal in den Genehmigungsbehörden. ldes, das in Autobahnen und Bundesstraßen fließt. Das Der Schlüssel zur Mobilitätswende ist eine gute Ver- wird jetzt mehr. Bisher wurden mit diesen viel zu knap- knüpfung verschiedener Verkehrsmittel. Wer auf dem pen Mitteln allerdings vor allem Großprojekte in großen Land auf ein Auto angewiesen ist, soll die Möglichkeit Städten finanziert, und das muss sich ändern. haben, auf dem Weg in die Stadt auf die Bahn umzu- steigen. Deshalb ist es richtig Park-and-ride-Anlagen zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fördern. Gleichzeitig brauchen wir auch sichere Abstell- Unser Verkehrswendegesetz fordert deshalb, dass mehr anlagen für Fahrräder. Wir haben im Verkehrsausschuss Bus- und Bahnprojekte in mehr Kommunen gefördert beantragt, dass das Gemeindeverkehrsfinanzierungsge- werden. Projekte in kleineren Städten wie Cottbus oder setz entsprechend konkretisiert wird und auch Bike- Celle sind genauso förderungswürdig. and-ride-Anlagen gefördert werden. Leider wurde dies von der Regierungskoalition abgelehnt. Wir bleiben da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei: Aus unserer Sicht gehören Bike-and-ride-Anlagen sowie des Abg. Andreas Wagner [DIE LIN- zum Standard eines modernen Bahnhofs und entspre- KE]) chend gefördert. Kleinere Straßenbahnprojekte, O-Bus-Systeme oder Seil- (Beifall bei der LINKEN) bahnen brauchen Förderung, damit sie realisiert werden Positiv ist, dass entgegen dem Gesetzentwurf der Bun- können. Und nicht nur Neubau: Besonders die Grund- desregierung zukünftig auch Seilbahnen gefördert wer- sanierung bestehender Bahnsysteme lohnt sich. Das ist den können, die im öffentlichen Personennahverkehr in- nachhaltig. tegriert sind. Positiv ist auch, dass bessere Bedingungen Projekte dürfen grundsätzlich nicht nur aus wirtschaft- zur Förderung von Straßenbahnen ohne besonderen lichen Gründen gefördert werden. Auswirkungen auf Bahnkörper aufgenommen werden. Beides haben wir Umwelt-, Klima- und auch Gesundheitsschutz müssen im Ausschuss beantragt. Eine von uns angeregte Förde- künftig einfließen. Das, werte Bundesregierung, ist ein rung von Oberleitungsbussen wurde dagegen nicht über- Arbeitsauftrag an Sie. nommen. Wenn es nach uns gegangen wäre, hätten wir die Fördermittel ab dem Jahr 2025 auf 3 Milliarden statt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17883

Stefan Gelbhaar (A) Verkehrswende in Städten bedeutet nicht nur mehr Bus ein Quantensprung für die Schiene. Wenn man die Mittel (C) und Bahn. Es bedeutet auch bessere Infrastruktur für Rad eines Bundesprogramms, das eigentlich, so war es ver- und Fuß. einbart, 2019 hätte auslaufen sollen, nicht einstellt oder mit den bisher knapp 330 Millionen Euro jährlich fort- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- führt, sondern bis 2025 auf 2 Milliarden Euro versechs- SES 90/DIE GRÜNEN) facht und danach mit 1,8 Prozent dynamisiert, dann darf Das bedeutet auch eine intelligente Verknüpfung zwi- man das mit Fug und Recht einen Quantensprung nennen. schen den Verkehrsarten. Gute Verkehrspolitik muss all Aber damit ist Weihnachten noch nicht vorbei. Mit das zusammendenken. Deshalb müssen wir anfangen, dem Gesetz, über das wir heute abstimmen, wird der uns gute, auch teure Fuß- und Radinfrastruktur zu leisten: regelmäßige Förderanteil des Bundes von bisher 60 Pro- Brücken als Abkürzungen, Fahrradparkhäuser, insbeson- zent auf 75 Prozent, bei der Elektrifizierung sogar auf dere an Bahnhöfen. In den Niederlanden ist das längst 90 Prozent gesteigert. Mit dem Gesetz wird die Mindest- Standard. Diese Förderung braucht eine gesetzliche vorhabengröße je nach Fördertatbestand von bisher Grundlage. 50 Millionen auf 30 Millionen Euro, im Einzelfall sogar (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf 10 Millionen Euro gesenkt. Und das Gesetz enthält sowie des Abg. Andreas Wagner [DIE LIN- die Anerkennung und Förderung der teuren Planungskos- KE]) ten. Vor allem aber fördern wir in Zukunft die Grund- erneuerung, die bisher im Gesetz überhaupt nicht enthal- All das schlägt unser Gesetzentwurf vor. Deswegen ten war. Denn unser erklärtes Ziel mit dem Deutschland- fand er in der Expertenanhörung im Ausschuss breite Takt ist die Verdoppelung der Fahrgastzahlen. Damit Zustimmung. müssen wir auch sicherstellen, dass neben der noch zu Kurz vor Weihnachten hat die Bundesregierung selbst errichtenden auch die vorhandene Infrastruktur gut in einen Gesetzentwurf vorgelegt, der einige unserer Forde- Schuss ist. Dafür benötigen wir aber auch gute Verknüp- rungen übernimmt. Das ist eine Verbesserung, und des- fungen, integrale Taktknoten, die einen barrierefreien wegen werden wir zustimmen. Umstieg vom Auto, Bus oder Fahrrad ermöglichen. Auch diese Knoten wollen wir fördern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Sie haben dabei allerdings etwa den Radverkehr, die O- ordneten der SPD) Busse oder den Klimaschutz nur verwässert eingebracht oder gar abgelehnt. Daher verspreche ich Ihnen eines: Dass wir diese Weihnachtsgeschenke heute verteilen können, verdanken wir natürlich zunächst dem Steuer- (B) Diese Punkte stehen allesamt spätestens in der nächsten (D) Runde wieder auf der Tagesordnung. zahler; das wurde schon angesprochen. Es ist aber auch Ergebnis einer langen Diskussion mit Experten von Ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bänden, Ländern, Kommunen und auch mit den Vertre- Meine Damen und Herren, ich möchte mit einer Auf- tern der Opposition. Sie alle finden sich mit ihren Forde- forderung, meinetwegen auch einer Bitte schließen: rungen – Kollege Gelbhaar hat das unterstrichen – im Stimmen Sie zumindest dem Änderungsantrag zur Bar- heute zur Beschlussfassung anstehenden Gesetz wieder; rierefreiheit zu. Projekte, die nicht den Standards zur natürlich nicht zu 100 Prozent, aber alle finden sich wie- Barrierefreiheit entsprechen, dürfen einfach nicht mehr der. Ganz besonders möchte ich mich zuerst bei unserem mit Bundesmitteln gefördert werden. Lassen Sie uns das Bahnbeauftragten und seinem Team und gemeinsam im Gesetz klarstellen – damit die Verkehrs- bei meinem – morgen aus dem Bundestag ausscheiden- wende alle mitnimmt. den – Kollegen und bei Detlef Müller für die gute Zusammenarbeit als Berichterstatter bedanken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Gemeinsam ist es uns gelungen, einen guten Gesetz- Vielen Dank, Herr Kollege Gelbhaar. – Als nächstem entwurf noch zu verbessern. Wir senken die Anforderun- Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Michael gen an den sogenannten besonderen Bahnkörper und wer- Donth, CDU/CSU-Fraktion. den somit auch Projekte wie innerstädtische Trassen beispielsweise bei der Regionalstadtbahn in meinem (Beifall bei der AfD) Wahlkreis Reutlingen, in Tübingen, liebe Annette Widmann-Mauz, und anderswo, wo die Altstadtbebau- Michael Donth (CDU/CSU): ung einen eigenen Bahnkörper nicht zulässt, ermögli- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und chen. Wir senken die Hürden für die Grundsanierung, Kollegen! Wäre Franz Beckenbauer nicht Fußballfunk- und wir sorgen dafür, dass auch Mobilitätsformen wie tionär, sondern für Kommunen und Länder zuständig, Seilbahnen die Chance bekommen, als Teil des ÖPNV würde er heute womöglich fragen: Ja is denn heit scho die Straßen zu entlasten. Weihnachten? – Das, worüber wir heute abstimmen, mei- (Beifall bei der CDU/CSU) ne Damen und Herren, ist allerdings mehr als ein ver- frühtes Weihnachtsgeschenk an Länder und Kommunen. Dabei schütten wir die Mittel nicht mit dem Füllhorn aus, Es ist ein Quantensprung für den öffentlichen Verkehr, sondern es muss volkswirtschaftlich Sinn machen. 17884 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Michael Donth (A) Als Bundestagsabgeordneter, als Bahnberichterstatter Mainz, Krefeld, Essen, Leipzig und Chemnitz. Es geht (C) meiner CDU/CSU-Fraktion, aber vor allem auch als eben nicht nur um die Großstädte. Kommunalpolitiker bin ich – Sie merken das vielleicht – von diesem Gesetz schlichtweg begeistert; denn wir stel- Wir senken auch den Grenzwert für die Förderfähig- len nicht nur mehr Geld bereit. Wir schaffen mit dem keit der Maßnahmen auf 10 Millionen Euro pro Maß- neuen GVFG die Voraussetzungen für einen modernen, nahme ab und schaffen die Beschränkung auf Ballungs- klima- und kundenfreundlichen Schienenpersonennah- räume ab. Damit sind diese Förderungen erstmals verkehr. Das größte Weihnachtsgeschenk – um im Bild flächendeckend in ganz Deutschland nutzbar. Durch die zu bleiben – machen wir daher den Pendlern und solchen, Gesetzesnovelle lassen sich zentrale Omnibusbahnhöfe, die es noch werden sollen. Wir entlasten – das ist der Seilbahnsysteme im ÖPNV, Park-and-ride-Parkplätze, zweite Bestandteil – die Städte und Gemeinden deutlich. Umsteigeknoten finanzieren, Strecken reaktivieren, Stre- cken elektrifizieren. Der Ball – um bei Franz Beckenbauer zu bleiben – liegt Dass die AfD die Förderung von Straßen gegen die nun im Feld von Ländern und Kommunen, in deren Ver- Förderung der Schiene ausspielen will, zeugt von ihrer antwortlichkeit die Anmeldung der Projekte liegt und die Unkenntnis. nun mit der Planung loslegen können. Wie gesagt, auch die Planungskosten haben wir in die Förderung aufge- (Beifall bei der SPD) nommen. Wir werden genau hinschauen, ob es womög- lich Unsicherheiten bei der Bewilligung von Projekten Über das GVFG lässt sich seit der Föderalismusreform gibt, die vielleicht durch den Erlass von Verwaltungsvor- 2007 keine kommunale Straßeninfrastruktur mehr för- schriften beseitigt werden können, wie es der Bundes- dern, da dies Aufgabe der Länder ist. Die Länder wollten rechnungshof angeregt hat. Wenn nötig, müssen wir hier das, und die Länder machen das. Die Länder bekommen nachsteuern. dafür seit 2007 pro Jahr über 1,3 Milliarden Euro Ent- flechtungsmittel vom Bund. Im Übrigen investiert der Zusammengefasst: Ich bin begeistert. Stimmen Sie zu! Bund pro Jahr knapp 8 Milliarden Euro in die Fernstra- ßeninfrastruktur, auch weiter wachsend. Vielen Dank. Zum Schluss ein Dank für die gute Zusammenarbeit an (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- alle beteiligten Kolleginnen und Kollegen aus der Koali- ordneten der SPD) tion, besonders an meinen leider ausscheidenden Kolle- gen Martin Burkert, aber auch für die kritischen und hilf- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: reichen Hinweise aus den Reihen von FDP, Linken und Bündnis 90/Die Grünen. Wir haben als Parlament aus (B) Vielen Dank, Herr Kollege Donth. – Letzter Redner zu (D) diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Detlef einem Rohdiamanten, dem Gesetzentwurf der Bundesre- Müller, SPD-Fraktion. gierung, einen schön geschliffenen Edelstein gemacht. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Detlef Müller (Chemnitz) (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: ren! Wir alle – fast alle – wollen einen starken öffent- Vielen Dank, Herr Kollege Müller. – Damit schließe lichen Personennahverkehr als Rückgrat der Verkehrs- ich die Aussprache. wende. Wir wollen mehr Angebote im Nahverkehr, Taktverdichtungen und bessere Qualität. Dafür schaffen Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 a auf. Wir kommen wir mit dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, ei- zur Abstimmung über den von der Bundesregierung ein- nem wirklichen Juwel, die Voraussetzungen. Das Gesetz gebrachten Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung wird endgültig entfristet. In den mittelfristigen Wirt- des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes. Der Aus- schaftsplänen – auch meines kommunalen Verkehrsun- schuss für Verkehr und digitale Infrastruktur empfiehlt ternehmens – konnte man in den vergangenen Jahren unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf immer lesen: Risiko – Auslaufen des GVFG oder zurück- Drucksache 19/16908, den Gesetzentwurf der Bundesre- gehende Mittelbereitstellung. – Das ist vorbei. 6,6 Mil- gierung auf Drucksachen 19/15621 und 19/16404 in der liarden Euro, davon 4,6 Milliarden Euro zusätzlich, bis in Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegen zwei Än- das Jahr 2025, das ist die Summe, die wir als Bund zur derungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, Verfügung stellen. Wir erhöhen die Förderquoten in Tei- über die wir zuerst abstimmen. len bis zu 90 Prozent und senken auch Förderhöhen ab. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache Und wir ermöglichen bis 2030 die Förderung von Grund- 19/16922? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – erneuerung von Straßenbahnen, U- und S-Bahnen, flä- Keine. Dann ist dieser Änderungsantrag gegen die Stim- chendeckend; denn durch die Absenkung der Förderhöhe men der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grü- beim besonderen Bahnkörper – Herr Donth sprach das nen mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses an – können auch Maßnahmen in den Innenstädten finan- abgelehnt. ziert werden, wo sich Straßenbahnen, Autos und Radfah- rer die Straße nun einmal teilen müssen, weil es die Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache Bebauung nicht anders zulässt. Dadurch profitieren nicht 19/16923? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – nur Berlin, Hamburg und München, sondern auch Gera, Keine. Dann ist auch dieser Änderungsantrag gegen die Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17885

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bünd- Änderung des Staatsangehörigkeitsge- (C) nis 90/Die Grünen mit den Stimmen der übrigen Fraktio- setzes nen des Hauses abgelehnt. Drucksache 19/13505 Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 19/15621 und – Zweite und dritte Beratung des von den 19/16404 in der Ausschussfassung zustimmen wollen, Abgeordneten Filiz Polat, Dr. Konstantin um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- von Notz, Luise Amtsberg, weiteren Ab- hält sich? – Dann ist dieser Gesetzentwurf gegen die geordneten und der Fraktion BÜND- Stimmen der Fraktion der AfD bei Enthaltung der Frak- NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten tion Die Linke mit den Stimmen der übrigen Fraktionen Entwurfs eines Gesetzes zur Wiedergut- des Hauses angenommen. machung im Staatsangehörigkeitsrecht Dritte Beratung Drucksache 19/12200 und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – schusses für Inneres und Heimat (4. Aus- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist schuss) der Gesetzentwurf gegen die Stimmen der AfD-Fraktion Drucksache 19/16542 bei Enthaltung der Fraktion Die Linke mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses angenommen. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Inneres und (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Heimat (4. Ausschuss) zu dem Antrag der Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- Abgeordneten Stephan Thomae, Konstantin ßungsantrag der Fraktion der AfD auf Drucksache Kuhle, Grigorios Aggelidis, weiterer Abge- 19/16924. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – ordneter und der Fraktion der FDP Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist Einbürgerung von im Nationalsozialismus dieser Entschließungsantrag gegen die Stimmen der AfD- Verfolgten und deren Nachfahren umfas- Fraktion mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des send und klar gesetzlich regeln Hauses abgelehnt. Drucksachen 19/14063, 19/16542 Tagesordnungspunkt 10 b. Abstimmung über den von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Ent- Für die Aussprache wurde eine Dauer von 60 Minuten (B) wurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gemeinde- beschlossen. (D) verkehrsfinanzierungsgesetzes. Der Ausschuss für Ver- Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich alle Kolle- kehr und digitale Infrastruktur empfiehlt unter ginnen und Kollegen, beim Sitzplatzwechsel zügig vo- Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- ranzuschreiten. – Damit sind nun einigermaßen Auf- che 19/16908, den Gesetzentwurf der Fraktion Bünd- merksamkeit und Ruhe hergestellt. nis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/2695 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen Damit eröffne ich die Aussprache und erteile als erster wollen, um das Handzeichen. – Gegenprobe! – Enthal- Rednerin der Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Bünd- tungen? – Keine. Dann ist dieser Gesetzentwurf in zwei- nis 90/Die Grünen, das Wort. ter Beratung gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stim- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) men der übrigen Fraktionen des Hauses abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Bera- Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tung. NEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Ich rufe den Zusatzpunkt 5 sowie die Tagesordnungs- Ein Tagesordnungspunkt zur Wiedergutmachung im punkte 11 a und 11 b auf: Staatsangehörigkeitsrecht, das hört sich zunächst einmal ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Filiz wie eine kleine Sache an, die nur wenige Menschen be- Polat, Dr. Konstantin von Notz, Luise Amtsberg, trifft, und eigentlich ist es auch so. Aber es geht um mehr: weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Es geht um die Frage, ob wir nach den vielen wichtigen NIS 90/DIE GRÜNEN Reden, die hier gestern gehalten worden sind, auch Taten folgen lassen, ob wir handeln. Deswegen ist dieser Punkt, Verantwortung übernehmen – Einbürge- den wir heute hier besprechen, so zentral und so wichtig. rungsanspruch für Nachfahren der Verfolgten des NS-Regimes (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Drucksache 19/16846 Das Gedenken an die Untaten des Nationalsozialismus 11 a) – Zweite und dritte Beratung des von den gehört zu uns, gehört zu Deutschland, gehört zur Staats- Abgeordneten Ulla Jelpke, Dr. André räson und ist zugleich Herzenssache. Deswegen habe ich Hahn, Gökay Akbulut, weiteren Abgeord- mich mit anderen auch für den Vorschlag von Esther neten und der Fraktion DIE LINKE einge- Bejarano ausgesprochen, dem Erinnern durch einen bun- brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur desweiten Feiertag am 8. Mai Raum zu geben. 17886 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Katrin Göring-Eckardt (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Klezmer hören, sondern mit ganz konkreten nüch- (C) sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- ternen Handlungen. KEN) Darum geht es heute hier. Das ist unser Auftrag. Das kollektive Erinnern ist Ausdruck unseres Respekts für diejenigen, die unter den Nazis gelitten haben. Es ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aber auch für uns selbst, für unser demokratisches, freies sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Gemeinwesen so unfassbar wichtig, zu erinnern, nicht zu Wenn wir von Wiedergutmachung im Staatsangehörig- vergessen und zu handeln. keitsrecht sprechen, bedeutet es nicht, dass wir die deut- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schen Verbrechen vergessen machen können. Unser Ge- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) setzesvorschlag ist keine Antwort auf NS-Unrecht, sondern es ist eine praktische Maßnahme von anderen. Es darf niemals zu einem Satz wie folgendem kommen: Diese schlimme Zeit ist nun überwunden, wir können Ich persönlich sehe den Begriff „Wiedergutmachung“ einen Schlussstrich ziehen. – Nein, einen Schlussstrich in diesem Kontext und überhaupt übrigens sehr kritisch. gibt es nicht. Die Aufarbeitung der Verbrechen bleibt. Ich leite daraus vor allem eines ab: Es geht nicht um Wiedergutmachung. Das, was geschehen ist, können (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wir Deutschen niemals wiedergutmachen. Es geht darum, und bei der LINKEN) dass wir Verpflichtungen haben, es geht darum, dass wir Die Aufarbeitung der Verbrechen bleibt und ist eben ganz klar machen müssen: Diese Menschen können wir auch Auftrag. Wir können nicht ausblenden, worum es nicht noch mit wahnsinniger Verwaltung, mit Bürokratie dabei im Grundsatz geht, und eben auch nicht, worum es und mit schwierigen Verfahren konfrontieren. Darum gerade heute in der einen Frage beim Staatsangehörig- geht es heute und hier. keitsrecht geht. Es geht um Menschen, die von den Nazis (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verfolgt wurden, es geht um ihre Nachfahren. Von der sowie bei Abgeordneten der SPD) diskriminierenden Einbürgerungspraxis waren vor allem Jüdinnen und Juden betroffen, ihre Nachfahren waren Diejenigen in der Exclusions Group, die sich für die betroffen, Sinti und Roma und auch andere. Dass diese Wiedereinbürgerung von Menschen einsetzen, denen die Nachfahren von NS-Verfolgten heute wieder in Deutsch- Nazis die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen haben land leben und leben wollen, ist und bleibt ein wahnsin- oder die sie unter Verfolgungsdruck aufgeben mussten, nig großes Geschenk. Das können wir nicht oft genug sind heute zum Teil hier, und ich freue mich sehr, dass sie sagen. da sind. Herzlichen Dank dafür! (B) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der der CDU/CSU und der SPD) SPD, der FDP und der LINKEN) Ganz real aber bedeutet es für sie eben auch jeden Tag Die Gespräche mit den Mitgliedern der Gruppe haben alltägliche Anstrengung, im Land der Täter zu leben und immer wieder ergeben, welche Ungerechtigkeiten der sich damit auseinanderzusetzen, nicht zuletzt wegen des Artikel 116 Absatz 2 Grundgesetz in der Praxis immer alten und des neuen Antisemitismus, nicht zuletzt wegen noch mit sich bringt. Er schließt eben weiterhin ganze Hass, wegen Hetze, wegen Gewalt, die sie zu ertragen Gruppen von dem gesetzlichen Einbürgerungsanspruch haben, meine Damen und Herren, wie die jüdische Auto- aus. Deswegen haben wir im vergangenen August ein rin Mirna Funk anlässlich des diesjährigen Gedenktages Gesetz eingebracht, das diese Lücken schließen soll. formulierte: Für NS-Verfolgte und ihre Nachfahren darf die Einbür- gerung keine Bitte sein. Es ist ihr gutes Recht. Darum … man wird antisemitischen Vorurteilen ausgesetzt, geht es. und zwar wöchentlich. Man muss sich … zu Israel verhalten, man fragt sich, ob die eigenen Ängste … (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in irgendeiner Weise mit alten Traumatisierungen und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der Vorfahren zu tun haben. der FDP) Ich bin all denjenigen von Herzen dankbar, die sich Das Problem ist lange bekannt. Die Bundesregierung entscheiden, in Deutschland, in unserem Land zu leben hat übrigens auch reagiert, auf Druck von außen und von und ihm nicht den Rücken zu kehren. Auch deswegen innen, aus dem Parlament. haben wir den Auftrag zum Handeln, heute und hier. (Thorsten Frei [CDU/CSU]: Quatsch!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aber sie hat mit Erlassen reagiert, und so ein Erlass – das sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der wissen wir alle – ist etwas, was man sehr schnell zurück- SPD und der LINKEN) nehmen kann. Das ist eben kein Gesetz. Bei einem Erlass Das Erinnern muss das Handeln im Heute leiten. gibt es übrigens auch keinen Rechtsweg. Deswegen sa- Michael Groys, der sich selbst als jüdischer Aktivist ver- gen wir: Wir brauchen ein Gesetz. steht, formulierte es diese Woche im Deutschlandfunk so: Wir bitten Sie von Herzen: Stimmen Sie zu, dass es das Wer Juden helfen will, muss konkrete Maßnahmen Recht gibt, dass es ein Gesetz gibt, dass es Klarheit für tun. … Nicht empören, … nicht Bagel essen, nicht diejenigen gibt, die in unserem Land leben wollen, leben Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17887

Katrin Göring-Eckardt (A) können, die sich dafür entschieden haben, die uns dieses Das waren vor allen Dingen Fälle, in denen insbeson- (C) Geschenk machen und die wir nicht mit Bürokratie kon- dere Juden nicht formell ausgebürgert worden sind, son- frontieren sollten, die wir nicht mit weiteren Schwierig- dern aus Deutschland geflohen sind, was sie damals tun keiten konfrontieren sollten. Ich finde, das muss eigent- mussten. Sie sind in andere Länder gegangen und haben lich selbstverständlich sein. durch den Erwerb der dortigen Staatsangehörigkeit bei- spielsweise die deutsche Staatsangehörigkeit verloren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das hat es ihnen schwer gemacht und macht es ihnen und bei der LINKEN) auch heute schwer, die deutsche Staatsangehörigkeit wie- Es ist auch etwas, bei dem ich sage: Das kann man der zu erwerben. nicht mit Verwaltungsvorschriften lösen. Es ist ein The- Dafür aber – darin sind wir uns auch einig – muss es ma, bei dem ich übrigens finde, dass wir es hier nicht in eine Lösung geben; sie gibt es auch schon. Die Auffor- Konfrontation miteinander besprechen sollten. Das zeigt derung, jetzt müsse einer handeln, jetzt müsse die Bun- auch, dass Sie sich längst auf den Weg gemacht haben. desregierung etwas tun, Frau Göring-Eckardt, geht, ehr- Aber wir könnten gemeinsam heute hier ein eindeutiges, lich gesagt, ins Leere; denn die Bundesregierung handelt ein klares Zeichen setzen. Das ist meine Bitte. Deswegen schon seit August letzten Jahres, und das will ich hier sage ich: Stimmen Sie zu! Es ist ein Recht, es ist ihr gutes noch einmal ausdrücklich feststellen. Recht, und es ist gut für unser Land, für den Zusammen- halt, den wir hier so wichtig finden. Allen, die so betroffen sind, wie Sie es beschrieben haben, wird geholfen. Da sind eine Menge von Sonder- Herzlichen Dank. gruppen zu nennen und zu behandeln. All die sind in diesen Erlassen erfasst. Mit diesen Erlassen haben wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf dem verwaltungsrechtlichen Wege jetzt viel schneller und bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/ handeln können, und wir können auf dem verwaltungs- CSU: Fünf Monate zu spät!) rechtlichen Wege auch sehr viel flexibler handeln. Das erkennen wir an dem einen oder anderen besonde- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: ren Fall. Es gab zum Beispiel eine Einbürgerung von Vielen Dank, Frau Kollegin Göring-Eckardt. – Als Danzigern in das Deutsche Reich. Dabei hat man aber nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Mathias jüdische Mitbürger in Danzig nicht eingebürgert. Das Middelberg, CDU/CSU-Fraktion. ist eine Spezialgruppe, die quasi nicht ausgebürgert wur- de, die ihre Staatsangehörigkeit nicht verloren hat. Sie (Beifall bei der CDU/CSU) wurden gar nicht eingebürgert, obwohl sie damals eigent- (B) lich einen Einbürgerungsanspruch gehabt hätten. (D) Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU): Auch diese Sondergruppen sind jetzt durch die Regel- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol- ungen erfasst, die wir getroffen haben. Da gibt es über- leginnen! Liebe Kollegen! Wir teilen in ganz weiten haupt keine Beschränkungen. Es hätte auch auf die Ver- Punkten Ihre Einschätzungen, Ihre Darlegungen, die Sie fahren überhaupt keinen Einfluss, wenn wir das jetzt eben hier geäußert haben, Frau Göring-Eckardt. Es darf ja durch ein Gesetz regeln würden. Es würde überhaupt nicht umsonst sein, dass wir wie auch gestern hier Ge- keinen Unterschied machen. denktage veranstalten, dass wir des großen Unrechts ge- denken, das wir Deutsche vor allem gegenüber dem jüdi- Auch Sie haben in Ihrem Gesetzesvorschlag formu- schen Volk verübt haben. Dann muss es auch so sein, dass liert, dass ein Wiedergutmachungsinteresse gegeben sein wir die konkreten Konsequenzen ziehen. muss, und haben dafür Regelbeispiele genannt. Den un- bestimmten Rechtsbegriff des Wiedergutmachungsinter- Ich bin ganz ausdrücklich damit einverstanden, wenn esses müssten wir auch durch Verwaltungsvorschriften Sie sagen, dass der Begriff „Wiedergutmachung“ in die- oder durch Verwaltungspraxis auslegen. Das heißt, wir sem Zusammenhang kein geeigneter Begriff sei. Über wären dann genau an dem Punkt, an dem wir jetzt schon alle diese Dinge sind wir, glaube ich, einig; da wird es sind, und bei dem, was wir jetzt schon abgearbeitet ha- zwischen uns keinen Streit geben. Trotzdem kommt mir ben: Wir müssten nämlich dazu Verwaltungsvorschriften das, was wir so machen – ich sage das ganz ehrlich –, ein und Erlasse entwickeln. Das heißt, wir wären mit Ihrem wenig wie eine Scheindebatte vor. Gesetz am Ende keinen Schritt weiter. Wir wären kein Jota weiter. Es würde überhaupt keinen Unterschied ma- Sie haben eben davon gesprochen, es gehe darum, ein chen. Recht einzuräumen oder einen Anspruch auf gesetzlicher Basis einzuräumen, und das sei nun das Entscheidende. Ich würde von keinem verlangen, dass er Jura studiert; Da sind wir tatsächlich anderer Meinung. Sie haben eben das will ich auch keinem zumuten. gesagt, es müsse jetzt gehandelt werden. Ich kann nur feststellen: Es wird längst gehandelt, nämlich seit August ( [SPD]: Es ist nicht letzten Jahres. Da hat die Bundesregierung – das haben schlecht!) Sie in einem Nebensatz auch erwähnt – tatsächlich ge- – Finde ich auch. Ich habe es auch genossen. – Aber Sie handelt, nämlich zwei Erlasse verkündet, die genau die lernen im Jurastudium relativ bald, dass es so etwas wie Problemfelder behandeln, die bisher bei der Anwendung eine Ermessensbindung der Verwaltung gibt. Die entsteht des Artikel 116 Absatz 2 unzureichend behandelt wur- entweder dadurch, dass die Verwaltung bestimmte Fälle den, für die keine konkreten Regelungen getroffen waren. immer wieder in gleicher Weise behandelt, oder die be- 17888 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Dr. Mathias Middelberg (A) steht durch eine – ich sage mal: vorweggenommene – sich des Falles der russlanddeutschen Frau aus Germers- (C) Verwaltungspraxis, die man in Verwaltungsvorschriften heim, Rheinland-Pfalz, anzunehmen, die nächste Woche oder beispielsweise in Erlassen festlegt. Wenn die Ver- mit ihren beiden Kindern abgeschoben werden soll, ob- waltung dann aber so gebunden ist – Stichwort: Ermes- wohl bereits ihre Eltern als Russlanddeutsche in Deutsch- sensreduzierung auf null –, dann entwickelt sich dadurch land gelebt haben. Der Fall ist relativ absurd. für den Betroffenen ein Rechtsanspruch. Das heißt, wir haben materiell hier die gleiche Rechtslage geschaffen, Die Abstammung ist nach der Familie wohl das wich- die wir hätten, wenn wir jetzt Ihr Gesetz beschließen tigste Identifizierungsmerkmal des Menschen in der zivi- würden. lisierten Welt. Sie ist das Bindeglied zu den Wurzeln eines Menschen, zur Sprache, Kultur, Geschichte, sinn- Ich sage es einmal ganz offen: Die Aufforderung „Ihr gebend für eine Solidargemeinschaft auf allen politischen müsst handeln!“ ist völlig richtig. Ich sage dazu nur: Wir und gesellschaftlichen Ebenen einer Nation und somit die haben längst gehandelt. Deswegen brauchen wir auch wichtigste Grundlage für die Staatsangehörigkeit. Das nichts mehr zu ändern. Staatsangehörigkeitsrecht ist ein zentraler Aspekt der staatlichen Ordnung; denn dieses definiert das Staatsvolk (Beifall bei der CDU/CSU – Steffi Lemke und stellt das rechtliche Band dar, das den Bürger mit [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es wäre gut, seinem Staat verbindet. wenn es auch jeder sieht!) Genau das ist die Situation. Alle Sonderfälle – ich könnte (Marianne Schieder [SPD]: Was ist das für eine noch auf alle möglichen Fälle eingehen – sind behandelt. Vorlesung?) Was noch ein großes Problem ist – das ist jetzt der Die Ausbürgerung bedeutet ähnlich wie der Verstoß aus eigentliche Haken an der Sache –: Die Verfahren dauern der Familie den Verlust wesentlicher Identifikations- relativ lange; die dauern ziemlich lange. Das ist das ei- merkmale, mit denen ein Mensch aufwächst. Kein Wun- gentliche Problem. Ich habe die Information leider nicht der, dass der Nationalsozialismus sich während seiner im Detail, aber das Auswärtige Amt stockt in den Aus- Schreckensherrschaft auch des Mittels der Ausbürgerung landsvertretungen meines Wissens personell auf, um die bediente, bei Menschen, die nicht in ihr verqueres Welt- Fälle besser und schneller behandeln zu können. Vor allen bild passten. Dingen haben wir im Parlament mit dem letzten Haushalt festgelegt, dass das Bundesverwaltungsamt gerade im (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bereich der Prüfungen in Staatsangehörigkeitsverfahren Das war kein verqueres Weltbild, das war Fa- 50 zusätzliche Stellen bekommt. 50 zusätzliche Stellen! schismus!) (B) Davon werden die meisten, jedenfalls ein großer Teil, in Ebenso wenig ist es ein Wunder, dass die sozialistische (D) genau den Verfahren eingesetzt, um die es jetzt geht. Diktatur der DDR dieses Mittel gegen unliebsame Bürger Also, ich sage Ihnen ganz offen: Diesem sehr konkre- von den Nationalsozialisten übernahm. ten und auch wichtigen Problem – das haben Sie zu Recht, Frau Göring-Eckardt, geschrieben: das ist ein Zwar bestimmt Artikel 116 Absatz 2 des Grund- wirklich wichtiges Thema – stellen wir uns mit den an- gesetzes, dass frühere deutsche Staatsangehörige, denen gemessenen gesetzgeberischen Möglichkeiten und mit die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder dem angemessenen und aufgestockten Personal. Ich glau- religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Ab- be, das ist eine gute Lösung. Das sollten wir den Men- kömmlinge auf Antrag wieder einzubürgern sind. Aller- schen auch so erzählen und es auch so vermitteln. Wir dings ist diese Regelung nicht nur sprachlich ungenau, sie sollten nicht immer den Eindruck vermitteln, als wäre die wirft auch rechtliche Fragen auf, da die Einbürgerung Rechtslage schlecht und als hätten sie keinen Anspruch. nach alten überkommenen Regelungen erfolgt, die bei Sie haben einen Anspruch. Die Verwaltungspraxis ist ge- Frauen und Männern und deren Abkömmlingen je nach festigt, und die Verwaltung ist an die Anwendung der Ehestatus zu unterschiedlichen Regelungen führen kann. gesetzlichen Regelungen gebunden. Konkret bedeutet das Rechtspostulat der Kausalität der (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf vom Ausbürgerung nämlich, dass Abkömmlinge im Sinne des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Dann können Grundgesetzes die ehelichen und legitimierten Kinder Sie dem Antrag zustimmen!) und Kindeskinder ausgebürgerter Männer sind sowie die nichtehelichen sowie nach Durchsetzung der Gleich- berechtigung geborenen ehelichen Kinder und Kindes- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: kinder ausgebürgerter Frauen. Umgekehrt erbt aber ein Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Middelberg. – Als nichteheliches Kind nicht die Deutscheneigenschaft sei- nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Dr. Christian nes Vaters, und ein früheres eheliches Kind, dessen Vater Wirth, AfD-Fraktion, das Wort. kein Deutscher war, nicht die Deutscheneigenschaft sei- ner Mutter. (Beifall bei der AfD) Sicher reden wir nicht mehr von sehr vielen Geschä- Dr. Christian Wirth (AfD): digten, aber solche Ungerechtigkeiten müssen 75 Jahre Herr Präsident! Werte Kollegen! Vorab möchte ich im nach Ende der NS-Herrschaft beseitigt werden, während Rahmen der Behandlung des Themas Staatsangehörig- leider der Trend bei dem DDR-Unrecht dahin geht, das keit, Herr Professor Krings, die Bundesregierung bitten, Unrecht zu leugnen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17889

Dr. Christian Wirth (A) Da stellt sich natürlich die Frage, warum die Bundes- Zwar ist fraglich, ob die Geburt alleine schon aus- (C) regierung, die sonst gar nicht genug Staatsbürgerschaften schlaggebend sein soll, wenn das gesamte Berufsleben verteilen kann, bei diesem Thema so viel Zurückhaltung im Ausland stattfand, aber die Zahl der Fälle sollte über- zeigt. Wir haben vorhin vielleicht einen Grund gehört. schaubar sein. Immerhin entschärft die Vorgabe der Bin- Andererseits sagt die Bundesregierung: dung an Deutschland auch das Österreich-Problem, was vor absurden Folgen, wie sie sich aus dem Antrag der Die Bundesregierung weist darauf hin, dass die Linken ergeben, schützt. Überlegungen zu einer sachgerechten Lösung we- gen der Komplexität dieser Problematik noch nicht Wir werden deshalb dem Antrag der Grünen zustim- abgeschlossen sind. men. Auch wenn wir wissen, dass man uns nicht mit derselben Fairness begegnen wird, sind wir fairerweise Aus diesem Grunde ist der Antrag der FDP, die Bundes- bereit, einen sinnvollen Antrag auch ohne Ansehen der regierung zu einem Gesetzentwurf aufzufordern, bereits Partei mitzutragen. ein untaugliches Mittel. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber auch inhaltlich bleibt der Antrag schwammig und Wir haben auch keine Rechtsextremen bei handwerklich schlecht gemacht. Hier soll es auch um die uns!) Ehegatten ausgebürgerter deutscher Staatsbürger gehen, Darüber hinaus begrüßen wir es, dass die drei anderen die „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Oppositionsparteien offenbar das Abstammungsprinzip deutsche Staatsangehörigkeit erworben hätten“. Dieser in Sachen Staatsbürgerschaft wieder für sich entdeckt Gummiparagraf schließt auch all jene ein, die nie deut- haben, nachdem sie es jahrzehntelang verteufelten. Die sche Staatsbürger waren und nie Interesse an einer Ein- Grünen haben es im Jahr 2000 sogar mit abgeschafft. bürgerung hatten. Da es hier konkret auch um deren Ab- kömmlinge gehen soll, was bei gemeinsamen Herzlichen Glückwunsch zur Besserung und ein ge- Abkömmlingen mit dem deutschen Partner ja hinfällig nauso herzliches Willkommen im Kreis der Vernünftigen, ist, führt dies zu unsinnigen Realitäten: zumindest in dieser Frage. Eine Frau, sagen wir, eine Britin, die einen geflüchte- Vielen Dank. ten Deutschen geheiratet hat und nach der Trennung oder nach dessen Tod Kinder mit jemand anderem hatte, könn- (Beifall bei der AfD – Marianne Schieder te auf diesem Wege diesen den Anspruch auf eine Ein- [SPD]: Das ist nicht möglich, solange ihr dabei bürgerung vererben. Das wäre vielleicht nicht Ihre Ab- seid!) sicht, wäre aber die absurde Folge Ihrer Forderung. (B) (D) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Die Linkspartei weist in ihrem Gesetzentwurf auf ei- Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Helge nen oft übersehenen Sonderfall hin, nämlich die Fälle all Lindh, SPD-Fraktion. derer, die zwar nie formell ausgebürgert, aber von Mas- seneinbürgerungen ausdrücklich ausgenommen wurden, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) so zum Beispiel die Juden der Stadt Danzig. Allerdings ist die folgende Ausweitung auf alle „nach 1933 ange- Helge Lindh (SPD): schlossenen … Gebiete“ dann doch problematisch. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Nimmt man Ihren Entwurf so an, wie er hier steht, ent- Kollegen! Zwei Fragen und zwei Geschichten scheinen steht ein Paradoxon: Bestimmte Gruppen wie Juden, Sinti mir im Mittelpunkt zu stehen. und Roma, die in Österreich lebten und mit dem An- schluss von der deutschen Staatsangehörigkeit ausge- Zwei Fragen. – Erste Frage: Was bedeutet es, wenn nommen wurden, würden ein Recht auf Einbürgerung Nachfahren von NS-Verfolgten, insbesondere jüdische erhalten, obwohl sie nie eine deutsche Staatsbürgerschaft Nachfahren, Deutsche werden wollen? Ich denke, es ist hatten. Österreicher, die mit dem Anschluss die deutsche nicht nur eine riesige Gnade für uns, es ist auch ein un- Staatsbürgerschaft erhielten, sie aber 1945 natürlich wie- geheurer Akt des Verzeihens und des Vertrauens in uns, der verloren haben, nicht – mindestens ein Grenzfall des den wir gar nicht hoch genug würdigen können, Gleichbehandlungsgebotes. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Schließlich verzichten Sie auf die formellen Voraus- LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜND- setzungen des § 8 des Staatsangehörigkeitsgesetzes und NISSES 90/DIE GRÜNEN) fordern keinerlei Bindung an Deutschland für die Ab- gerade in einer Situation, in der Jüdinnen und Juden in kömmlinge, sodass bei Ihnen eine gewisse Beliebigkeit diesem Land zwar nicht auf gepackten Koffern sitzen, bei der Einbürgerung zu befürchten ist. aber doch angesichts des steigenden Antisemitismus die Koffer wieder vom Speicher geholt haben, was uns allen Kommen wir also zum Gesetzentwurf der Grünen, zu denken geben sollte. und – das wird Sie überraschen – den finden wir gut. Lobenswert sind der explizite Verweis auf § 8 Staatsan- Die zweite Frage, die mir bei dem Thema Staatsange- gehörigkeitsgesetz als Voraussetzung für die Einbürge- hörigkeit und hier bei dieser aktuellen Frage wichtig er- rung und eine ausdrücklich geforderte Bindung an scheint, ist: Wer ist deutsch? Denn mit der Staatsange- Deutschland für nicht in Deutschland geborene Ab- hörigkeit gibt sich ein Land ein Selbstbild, definiert kömmlinge. unzweifelhaft, wer im Sinne der Staatsangehörigkeit da- 17890 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Helge Lindh (A) zugehört und wer nicht; das ist einschließend und aus- über Emanzipation, und nicht nur über Juden-Emanzipa- (C) schließend. tion. Er schrieb Folgendes: Unser Verständnis als SPD-Fraktion ist, dass das Es ist die Emanzipation. Nicht bloß die der Irländer, Staatsangehörigkeitsrecht generell einen Akzent aufs In- Griechen, Frankfurter Juden, westindischen klusive, aufs Einschließen haben sollte. Es kann gerade Schwarzen und dergleichen gedrückten Volkes, son- bei dem betroffenen Personenkreis, aber auch insgesamt dern es ist die Emanzipation der ganzen Welt, abson- nicht unser Ziel sein, dass Menschen, die sich mit dem derlich Europas, das mündig geworden ist und sich Land identifizieren und die Staatsangehörige werden jetzt losreißt von dem eisernen Gängelbande der Be- sollten, dauerhaft sehr hohe Hürden ertragen müssen. vorrechteten, der Aristokratie. Wir sollten Menschen dafür belohnen, dass sie Deutsche Das ist so wichtig, damit wir erkennen, dass diejenigen werden wollen, und sie nicht bestrafen. und deren Nachkommen, um die es hier geht, nicht Frem- (Beifall bei der SPD) de sind – das wollten die Nationalsozialisten erreichen –, sondern sie waren zutiefst Teil von uns und unserer Ge- Der Alltag der Einbürgerungswilligen zeigt generell, dass schichte. die Praxis von nichtwilligen Ausländerbehörden oft von dem Gefühl eines Bestrafens getragen ist. Da ist noch viel Weil das Stichwort „Aristokratie“ mich jetzt dazu ver- Arbeit zu leisten. leitet: Unter denen, deren Nachfahren verfolgt wurden, waren zum Beispiel auch James und Agnes Simon, deut- Wir haben aber auch zwei Geschichten. Die eine Ge- sche Juden, die im deutschen Kaiserreich das Kaiserhaus schichte ist die der politischen Regelungen: Gesetzge- immens unterstützt haben, aber auch Stützen der bung, Rechtsverordnung, Erlass. Wir als Koalition haben Weimarer Demokratie waren und die in ungeheuerlicher uns erst einmal aus Gründen des Pragmatismus und ein- Weise Kunstschätze dem deutschen Staat überlassen, ge- deutig auch der Geschwindigkeit entschieden, den Er- schenkt haben. Ihre Nachfahren sind, trotz allem, was sie lassweg zu gehen. Gleichzeitig sage ich – das haben wir erlebt haben, dabei geblieben. Diese Haltung und diese als SPD auch immer offen formuliert –, dass unser gene- Bescheidenheit ist etwas, an dem sich zum Beispiel die relles Ziel durchaus eine gesetzgeberische Lösung ist, wir Hohenzollern ein Beispiel nehmen könnten. aber erst abwarten wollen, was die Erlasse ergeben, und uns genau anschauen wollen, welche Fälle erfasst wer- (Beifall bei der SPD und der LINKEN) den: Gibt es Nachsteuerungsbedarf? Es gibt aber auch noch einen anderen Fall, jemanden, der beispielhaft ist für die Personen und deren Nachfah- Wenn wir alle ehrlich miteinander sind, stellen wir fest, ren, über die wir sprechen. Sein Name ist Samuel Steil- (B) dass auch die durchaus sehr guten Gesetzentwürfe Lü- (D) berger. Er war Bandweber, kam als Arbeitsmigrant aus cken haben, dass es auch dort blinde Flecken gibt und Langenberg nach Elberfeld. Zwölf Kinder hatte er. Er war es auch, wie die Anhörung zeigte, Personengruppen gibt, kein Intellektueller. Er war ein ganz normaler Jude dieser die nicht umfassend erfasst sind, was es noch dringlicher Zeit, und er war ein ganz normaler Deutscher dieser Zeit; macht, erst einmal abzuwarten und nicht einfach diesen das war ganz selbstverständlich. Diejenigen aber, die Gesetzentwürfen zuzustimmen. Also: erst einmal der Er- dann seine Nachfahren aus der Staatsangehörigkeit aus- lassweg und dann schauen, was gesetzgeberisch möglich schließen wollten, konstruierten eine Geschichte, die nie ist. Aber ich danke ausdrücklich – ich finde, das ist bei eine war. Dieser Samuel Steilberger freute sich riesig, als dieser Debatte geboten – nicht nur dem Koalitionspart- seine Kinder und seine Enkelkinder Musikunterricht be- ner, sondern auch den Grünen und Linken, dass sie das kommen konnten – diese Chance hatte er nie – und als er Thema aufgebracht haben. zum Ende seines Lebens die Chance hatte, eine Wohnung Ich erlaube mir aber – so kennen Sie mich – eine mit Balkon zu beziehen. Seine Gedanken waren die eines kleine, winzige kritische Anmerkung. Im Antrag der Grü- gewöhnlichen Deutschen. nenfraktion steht, dass die Koalition erst nach dem groß- Also frage ich an dieser Stelle: Wer ist deutsch? Dieser en medialen Aufkommen und nach dem Gesetzentwurf Samuel Steinberger war und ist deutsch. Er gehörte und der Grünen gehandelt habe. Ich glaube, wir brauchen gehört zu uns, und seine Nachfahren gehören zu uns. Wir nicht diese Form der Belehrung und des Hinweises. In sind sie, und sie sind wir. diesem Punkt wären ein bisschen weniger grüne Selbst- gewissheit und ein Hauch mehr Zurückhaltung und De- Vielen Dank. mut angebracht gewesen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Generell aber stimmen wir bei dem Ziel und der Erkennt- Vielen Dank, Herr Kollege Lindh. – Nächster Redner nis, wie wichtig es ist, mit dem Staatsangehörigkeitsrecht für die FDP-Fraktion ist der Kollege Stephan Thomae. Menschen zu erfassen, die bisher nicht durch Artikel 116 (Beifall bei der FDP) Absatz 2 berücksichtigt wurden, völlig überein. Jetzt komme ich aber zu der eigentlichen Geschichte, Stephan Thomae (FDP): die mir wichtig erscheint. Worüber reden wir? Heinrich Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen Heine schrieb 1828 als herausragender deutscher Jude und verehrte Kollegen! Meine Damen und Herren! Am Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17891

Stephan Thomae (A) gestrigen Tag haben wir hier im Plenum des Deutschen der Grünen und der Linken nicht vollständig beseitigt (C) Bundestages in einer bewegenden Feierstunde an die Op- werden. Als Verbesserung haben die Grünen – allerdings fer des Nationalsozialismus erinnert. Heute geht es da- erst gestern – einen Antrag eingebracht, der diese Lücke rum, ein Stück Wiedergutmachung zu versuchen; das schließt. Genau der Punkt ist im Antrag der FDP enthal- Problem mit diesem Wort ist schon mehrfach erwähnt ten. Ich empfehle Ihnen, den Antrag der FDP anzuneh- worden. Wie kann man Unrecht in dieser Weise wieder- men; denn er beseitigt alle Lücken, fügt keine weiteren gutmachen? Aber es ist doch beschämend, dass noch Voraussetzungen, wie etwa Sprachkenntnisse, besondere Rechtszustände andauern, in denen Unrecht, das durch Deutschlandbezüge, ein, und es ist keine Examinierung Nationalsozialisten hervorgerufen worden ist, immer notwendig, um Kenntnisse in der deutschen Rechtsord- noch andauert. nung, Gesellschaftsordnung und dergleichen nachzuwei- sen. Ein solcher kleiner Punkt, der manchem vielleicht wie eine Fußnote erscheinen mag, ist in der Tat ein Problem Der Antrag der FDP ist der Antrag, der genau jenen im Staatsangehörigkeitsrecht. Es gilt immer noch: Wir Zustand lückenlos und ohne weitere Voraussetzung wie- müssen das Problem beseitigen, dass Menschen, denen derherstellt, der gelten würde, wenn es das Unrecht der die Staatsangehörigkeit durch die Nationalsozialisten Nationalsozialisten nicht gegeben hätte. Deswegen, mei- entzogen worden ist oder die die deutsche Staatsangehö- ne Damen und Herren, empfehle ich Ihnen diesen Antrag rigkeit wegen des Unrechts der Nationalsozialisten nicht der FDP heute zur Annahme. erwerben konnten, immer noch ausgeschlossen sind oder es ihnen erschwert wird, die deutsche Staatsangehörig- Vielen Dank. keit zu erwerben. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin : Was wie eine kleine Fußnote erscheinen mag, ist für Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion manche Menschen ein wichtiger Punkt. Es geht vor allem Die Linke. darum, dass wir den Anspruch erfüllen, dass dieses Un- (Beifall bei der LINKEN) recht beseitigt wird. Es handelt sich um einen Punkt von nicht zu unterschätzender Symbolkraft. Aus diesem Grunde genügt es uns nicht, dass nur durch zwei Erlasse Ulla Jelpke (DIE LINKE): der Bundesregierung die Möglichkeit, die deutsche Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für Die Staatsangehörigkeit zu erwerben, erleichtert wird. Viel- Linke ist ganz klar: Menschen, deren Vorfahren wegen (B) mehr sollten wir im Plenum des Deutschen Bundestages, NS-Unrecht die deutsche Staatsangehörigkeit verloren (D) wo wir uns in historischer Verantwortung mit diesen Fra- haben, haben einen Wiedergutmachungsanspruch. gen beschäftigen, diesen Punkt debattieren, und das tun Deutschland muss in die Pflicht genommen werden, ihre wir heute im Rahmen dieses Tagesordnungspunktes, mei- Einbürgerungsanträge positiv zu bescheiden, ohne Wenn ne Damen und Herren. und Aber. (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem Dass wir hier überhaupt über dieses Thema reden, ver- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) danken wir vor allem der überzeugenden Arbeit der Be- troffenengruppe. Ich möchte mich hier insbesondere bei Das Problem besteht darin, dass sowohl die beiden Nick Courtman und Felix Couchman bedanken, Erlasse des Bundesinnenministeriums als auch die beiden Gesetzentwürfe der Grünen und der Linken nicht völlig (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- lückenlos jenen Zustand wiederherstellen, der herrschen NIS 90/DIE GRÜNEN) würde, wenn durch nationalsozialistisches Unrecht nicht die Staatsangehörigkeit entzogen oder der Erwerb er- und ich möchte sie heute auf der Besuchertribüne begrü- schwert worden wäre. Kollege Middelberg hat solche ßen. Sie haben auf zahlreiche Fälle hingewiesen, in denen Fälle schon genannt. Deutsche aufgrund der Verfolgung durch die Nazis ihre Staatsbürgerschaft verloren haben und von den Wieder- Es geht darum, dass Menschen, die nicht formal aus- einbürgerungsgarantien des Grundgesetzes ausgeschlos- gebürgert worden sind, die aber noch rechtzeitig vor Be- sen sind. Das gilt zum Beispiel, wenn Frauen, die vor den ginn des Zweiten Weltkrieges aus Deutschland fliehen Nazis flohen, im Exil einen ausländischen Mann heirate- konnten, eine andere Staatsangehörigkeit annahmen und ten. Damit verloren sie automatisch die deutsche Staats- deswegen die deutsche Staatsangehörigkeit verloren. Es angehörigkeit. Das Gleiche gilt, wenn sie sich vom Auf- geht um die sogenannten Danziger Juden, also Men- nahmeland einbürgern ließen. schen, die eingebürgert worden wären, wenn auch Juden nach Beginn des Zweiten Weltkriegs in den eroberten Ich habe zahlreiche Schreiben von Betroffenen bekom- Gebieten eingebürgert worden wären. Und es geht um men, zum Beispiel von Katherine Scott. Sie lebt heute in Ehegatten, die Deutsche hätten werden können, wenn den USA. Vor einigen Jahren beantragte sie die deutsche ihr Ehepartner nicht ausgebürgert worden wäre oder die Staatsbürgerschaft. Ihr Antrag wurde abgelehnt; denn ih- Staatsangehörigkeit Deutschlands verloren hätte. re Mutter, so schrieb das Konsulat, habe Deutschland ja mit einem deutschen Pass verlassen und erst durch die Das sind Lücken, die nach wie vor bestehen und die Heirat mit einem Engländer die deutsche Staatsbürger- auch durch die Erlasse des BMI und die Gesetzentwürfe schaft verloren. Außerdem liege ihre Einbürgerung nicht 17892 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Ulla Jelpke (A) im deutschen Interesse, so das Konsulat. Das ist wirklich dafür sind die Länder zuständig, und der Bund hat keine (C) der Gipfel an Kaltherzigkeit. Weisungsbefugnis. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Das zeigt: Die Erlassregelungen führen das unüber- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sichtliche Flickwerk der bisherigen Regelung fort. Zu- dem versprechen sie lediglich eine – Zitat – „wohlwol- Das Gleiche erlebt Peter Guillery, der heute in England lende Handhabung“ der Einbürgerungsanträge. Es geht lebt. Sein Vater galt als Halbjude. Er floh mit seiner aber darum, dass wir den Betroffenen einen Rechtsan- Mutter 1939 nach England, wo er später britischer Staats- spruch gewähren. Die Linke findet: Die Nachfahren von bürger wurde. Damit habe er freiwillig auf die deutsche NS-Opfern verdienen nicht Gnade, sondern Recht, und Staatsbürgerschaft verzichtet, hieß es bei der Ablehnung dafür brauchen wir ein Gesetz. seines Einbürgerungsantrags. Selbst schuld, so das zyni- sche Fazit der deutschen Behörden. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) So, meine Damen und Herren, ging es Hunderten von Antragstellern. Ich möchte hier unmissverständlich klar- Deutschland ist in der Bringschuld. Es muss Wieder- stellen: Nein, diese Menschen waren nicht selbst schuld, gutmachung leisten, wo immer sie möglich ist, und zwar dass sie ihre deutsche Staatsbürgerschaft verloren haben. bedingungslos. Schuld war Nazideutschland und niemand sonst. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- NIS 90/DIE GRÜNEN – Canan Bayram neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Amthor könnte Ihnen jetzt mal zuhören!) Vizepräsidentin Petra Pau: Die Bundesregierung hat im Übrigen mit Erlassrege- Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege lungen – wir haben es heute schon gehört – einige kriti- Michael Kuffer das Wort. sche Punkte aus dem Weg geräumt. Nur, Kollege Middelberg und auch Kollege Lindh: Die Erlasse des (Beifall bei der CDU/CSU) Innenministeriums enthalten noch Lücken bei der Wie- dergutmachung, und sie sind auch politisch unzurei- Michael Kuffer (CDU/CSU): chend. – Deswegen sagen wir: Wir brauchen nicht nur Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Dieser Erlasse, sondern wir brauchen ein Gesetz mit einem kla- Tage befinden wir uns in Gedenken an die Opfer des ren Rechtsanspruch. (B) Nationalsozialismus. Das NS-Regime hat unaussprechli- (D) ches Leid über die Menschheit gebracht. Es hat verfolgt, (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- entrechtet, gemordet. Die Gedenkstunde in dieser Woche NIS 90/DIE GRÜNEN – Canan Bayram hat uns dieses Verbrechen wieder einmal in aller Deut- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!) lichkeit vor Augen geführt. Wir sind uns jeden Tag der In unserem Gesetzentwurf fordern wir, auch jene Men- Verantwortung bewusst, dafür Sorge zu tragen, dass sich schen zu berücksichtigen, deren Vorfahren zum Teil jahr- das Geschehene nicht wiederholt, dass es nicht in Ver- zehntelang in Deutschland gelebt haben, aber wegen anti- gessenheit gerät und, ja, dass den Betroffenen Wieder- semitischer Ressentiments nicht eingebürgert wurden. gutmachung zuteilwird. Diese Verantwortung leitet uns; sie leitet uns in den verschiedenen Bereichen unserer Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Daniel Eisenberg, 28 Jah- Arbeit und natürlich auch in diesem Fall. re alt. Sein Großvater wurde 1913 in Hannover geboren als Sohn eines staatenlosen galizischen Juden. Der Groß- Ich möchte Ihnen als Berichterstatter der Unionsfrak- vater hat 26 Jahre lang in Deutschland gelebt, im Pelz- tion für das Staatsangehörigkeitsrecht im Namen der gan- handel gearbeitet, Steuern gezahlt. Aber als sogenannter zen Fraktion in aller Deutlichkeit sagen: Deutschland Ostjude hatte er keine reelle Chance auf Einbürgerung, muss und wird seiner historischen Verantwortung gegen- schon gar nicht nach 1933. Kurz vor Kriegsbeginn floh er über denjenigen gerecht werden, die als Nachfahren deut- nach Großbritannien. Sein Enkel, Daniel Eisenberg, scher Verfolgter des NS-Regimes staatsangehörigkeits- möchte Deutscher werden, hier arbeiten und hier leben. rechtliche Nachteile und zum Teil himmelschreiendes Aber die Erlassregelungen geben es nicht her, dass er staatsangehörigkeitsrechtliches Unrecht erlitten haben. eingebürgert wird. Das steht außer Frage. Das gilt auch und besonders für Menschen, deren Eltern oder Großeltern aus Deutschland Wie absurd das ist, zeigt ein Vergleich. Die Nachfahren flüchten mussten. deutschsprachiger Juden, die im besetzten Polen von den Sammeleinbürgerungen deutschstämmiger Einwohner Da es in der Vergangenheit Fälle gab, in denen nicht ausgeschlossen wurden, können heute zu Recht ihre Ein- alle Betroffenen – es sind ja hier eine Reihe von Fällen bürgerung beantragen, obwohl sie nie im Deutschen aus der Praxis genannt worden – von der in Artikel 116 Reich gelebt oder gearbeitet haben. Aber für Leute wie Absatz 2 Grundgesetz vorgesehenen Regelung umfasst Daniel Eisenberg, dessen Großvater mitten aus Deutsch- wurden, wonach frühere deutsche Staatsangehörige, de- land stammte und vor den Nazis fliehen musste, gilt das nen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 nicht. Die Erlassregelungen gelten auch nicht für Betrof- durch NS-Unrecht die Staatsangehörigkeit entzogen wur- fene, die mittlerweile wieder in Deutschland leben – Nick de, auf Antrag wieder einzubürgern sind, hat das Bundes- Courtman, der heute hier ist, ist so ein Beispiel –; denn innenministerium bereits im August vergangenen Jahres Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17893

Michael Kuffer (A) mittels einer Erlassregelung eine Regelung geschaffen, Ich will für die SPD-Fraktion zunächst sagen, dass der (C) um den Betroffenen schnell, unmittelbar geltend und Begriff der Wiedergutmachung in diesem Zusammen- vor allem unbürokratisch helfen zu können. Der Bedarf hang wirklich ein schwieriger Begriff ist. Es wurden war unstrittig; er wurde erkannt, und er wurde aus unserer Menschen aus der Gemeinschaft ausgestoßen; sie wurden Sicht behoben. zur Flucht gezwungen. So etwas kann man nicht wieder- gutmachen. Ich denke, es geht vielmehr um unsere be- Nun ist eine Debatte um die rechtstechnische Umset- sondere Verantwortung, um unsere Verpflichtung diesen zung dieser Lösung – Erlass oder Gesetz? – entstanden. Menschen und ihren Nachkommen gegenüber. Ich will noch mal sagen: Im Hinblick auf die inhaltlichen Folgen ist klar – das haben uns auch die Experten in der (Beifall bei der SPD) Anhörung im Oktober vergangenen Jahres so bestätigt –, Eigentlich gibt unser Grundgesetz einen klaren Auf- dass dies keine Frage der Rechtsstellung ist. Die Rechts- trag: In Artikel 116 heißt es: stellung der Betroffenen, die die notwendigen Vorausset- zungen erfüllen, wird durch die Frage „Erlass oder Ge- Frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen setz?“ in keiner Weise berührt. dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Es geht doch um ein politisches Signal!) Abkömmlinge sind auf Antrag wieder einzubürgern. Im Gegenteil: Dazu bietet die Verwaltungsvorschrift In der Praxis – das ist dargestellt worden – gibt es aber Flexibilität, konkrete Fallkonstellationen zu formulieren, eine Vielzahl von Gruppen, die nicht berücksichtigt sind. und schafft dadurch aus unserer Sicht letztlich mehr Darin sind unter anderem die Erwähnten enthalten, die Rechtssicherheit. Wenn hier immer wieder davon gespro- die Staatsangehörigkeit besessen haben, sich aber auf die chen wird, dass ein Gesetz eine höhere Rechtssicherheit Flucht begeben haben, bevor sie ihnen entzogen werden schafft, weil man Verwaltungsregelungen jederzeit wie- konnte. Ein weiteres, wie ich finde, besonderes Beispiel der zurücknehmen kann, dann kann ich nur noch mal an ist: Wenn die Eltern nicht miteinander verheiratet waren das erinnern, was Kollege Middelberg hier vorgetragen und nur die Mutter Deutsche war, nach alter Rechtspre- hat: Sie übersehen dabei den Grundsatz der Selbstbin- chung aber der Vater die Staatsangehörigkeit weitergibt, dung der Verwaltung. In den Fällen, in denen das Ermes- dann bleibt das Kind ohne den Anspruch auf die deutsche sen auf null reduziert wird, ist eine stabile Bindung an Staatsangehörigkeit. Das ist bis heute der Fall. diese Regelung gegeben. Wenn Sie mich also fragen, ob ich glaube, dass wir mit Es ist ebenfalls zu Recht darauf hingewiesen worden, dem, was wir bisher auf den Weg gebracht haben, unserer (B) dass, wenn wir jetzt einen unbestimmten Rechtsbegriff besonderen Aufgabe, unserer besonderen Verpflichtung (D) einführen, indem wir ein Wiedergutmachungsinteresse den Menschen gegenüber in ausreichendem Maße nach- als Tatbestandsvoraussetzung normieren, dieser ganze gekommen sind, dann muss ich Ihnen sagen: Ich bin Bereich natürlich von den Verwaltungsgerichten ausge- dieser Auffassung nicht. Ich glaube, es braucht einen legt werden müsste. Die nähere Ausgestaltung müsste Rechtsanspruch für die Betroffenen. trotzdem in einer Rechtsverordnung erfolgen. Insofern glauben wir, dass durch eine gesetzliche Regelung an- (Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Den stelle des Status quo keine Verbesserung erreicht werden gibt es doch! Natürlich gibt es den Rechtsan- würde, sondern eher eine Verzögerung und vielleicht spruch!) auch zunächst eine Erschwerung. Insofern sind wir der Ich vermute auch, dass es weitere Personengruppen gibt, Meinung, dass hier kein Regelungsbedarf besteht. die von den Erlassen nicht erfasst sein werden. Danke schön. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der (Beifall bei der CDU/CSU) Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE] – Filiz Polat [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann stim- Vizepräsidentin Petra Pau: men Sie zu, Lars!) Das Wort hat Dr. Lars Castellucci für die SPD-Frak- Wir sind also wahrscheinlich einen wichtigen Schritt tion. gegangen – das ist dargestellt worden –; aber wir sind gewiss noch nicht am Ziel. Darüber war in der Koalition (Beifall bei der SPD) aber keine Einigkeit zu erzielen. Deswegen muss ich Sie für heute um Geduld bitten, da wir zunächst die Wirkung Dr. Lars Castellucci (SPD): dieser Erlasse auswerten werden. Das Thema bleibt auf Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen der Tagesordnung, und wenn es weiteren Handlungsbe- und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! darf gibt, dann werden wir es erneut besprechen. Uns liegen heute mehrere Anträge zur Wiedergutma- chung im Staatsangehörigkeitsrecht vor. Dabei geht es – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ man muss wirklich sagen: noch immer – um Menschen, DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulla Jelpke denen in der Nazizeit die Staatsangehörigkeit entzogen [DIE LINKE]) wurde oder die sie beispielsweise auf der Flucht verloren Meine sehr verehrten Damen und Herren, in den letz- haben, oder um ihre Nachkommen. ten zehn Jahren gab es 30 000 Einbürgerungsanträge von 17894 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Dr. Lars Castellucci (A) in diesem Zusammenhang Betroffenen. Die Grünen ha- nicht ganz dazugehören wollen. Ich finde, Johannes Rau (C) ben in ihrem Antrag dazu geschrieben – ich zitiere da- hat recht gehabt, als er vor 20 Jahren gesagt hat: raus –: Es kommt nicht auf die Herkunft des Einzelnen an, Dass eine so große Zahl an Nachkommen von wäh- sondern darauf, dass wir gemeinsam die Zukunft rend der NS-Diktatur Verfolgten und zur Emigration gewinnen. Gezwungenen heute wieder deutsche Staatsangehö- rige werden wollen, sollte Deutschland mit Dank- (Beifall bei der SPD) barkeit erfüllen. Für diesen Satz müssen wir heute noch eine ganze Menge Das hat Frau Göring-Eckardt heute so ähnlich in ihrer tun. Rede formuliert. Ich denke, dem kann man nur aus vol- Über 100 000 Menschen wurden 2018 eingebürgert. lem Herzen zustimmen. Ich finde, meine sehr verehrten Damen und Herren, das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ist eine gute Nachricht. Wir sollten mit der Staatsange- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der hörigkeit nicht zu großzügig sein; wir dürfen streng sein. CDU/CSU und der LINKEN) Ist man als Deutscher in Wuhan und von einem neuen Virus betroffen, dann müssen wir diesen Menschen aus- Ich glaube ganz generell, darin liegt auch der Schlüs- fliegen. Als Staat haben wir Pflichten gegenüber unseren sel. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sollten Staatsbürgern. uns freuen, wenn jemand Deutscher sein oder Deutscher werden will. Umgekehrt – das hat auch der Bundespräsident gestern zum Ausdruck gebracht – gilt, dass wir von den Men- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schen, die bei uns eingebürgert werden wollen, etwas des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) verlangen, nämlich nicht weniger, als dass – ich zitiere – Ganz offensichtlich ist die Freude darüber nicht gleich „die Lehren aus unserer Geschichte … zum Selbstver- verteilt in diesem Haus; sonst könnte es doch nicht so ständnis aller Deutschen gehören“ müssen; „denn Verant- schwierig sein, noch ein paar Veränderungen an unserem wortung im Hier und Heute tragen wir alle!“ Ich denke, Staatsangehörigkeitsrecht vorzunehmen. das ist gestern sehr gut zum Ausdruck gekommen. (Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Es geht (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Daniela um das Verfahren, Herr Castellucci! Das ist Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) doch völliger Käse!) Darin kommt auch der hohe Anspruch zum Ausdruck, (B) Ich möchte anschließen an das, was mein Kollege den wir mit dem Bekenntnis zu unserem Land verbinden. (D) Lindh hier vorgetragen hat: Wann ist man denn Deut- Meine sehr verehrten Damen und Herren, unser Thema scher? Unser Grundgesetz sagt: Deutscher ist, wer die ist auf Wiedervorlage. Nutzen wir die Zeit für das öffent- deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. – In Deutschland liche Gespräch darüber, was „dazugehören“ bedeutet und leben rund 21 Millionen Menschen mit Migrationshinter- wie gutes Zusammenleben gelingen kann! Nur so schaf- grund; mehr als die Hälfte von ihnen besitzt den deut- fen wir die Basis für ein wirklich gutes Staatsangehörig- schen Pass. In Deutschland leben vielleicht 4 bis 5 Millio- keitsrecht. Wir können im Leben nicht alles wiedergut- nen Muslime; fast die Hälfte von ihnen besitzt den machen, aber wir können versuchen, die Dinge immer deutschen Pass. Ich möchte Sie fragen: Glauben Sie, dass wieder von Neuem gut zu machen. diese Personen im Alltag als Deutsche angesehen wer- den? Ich habe gerade mit Praktikantinnen und Praktikan- Vielen Dank. ten hier im Deutschen Bundestag gesprochen. Da wurde mir unter anderem vermittelt: Wenn wir von „wir“ spre- (Beifall bei der SPD) chen, wissen sie zum Teil nicht, ob sie sich angesprochen fühlen können oder sogar angesprochen fühlen müssen. – Vizepräsidentin Petra Pau: Ich denke, solange das noch so ist, haben wir in Fragen Das Wort hat der Kollege Axel Müller für die CDU/ des gesellschaftlichen Zusammenhalts noch eine ganze CSU-Fraktion. Menge zu tun. (Beifall bei der CDU/CSU) Viele müssen sich immer wieder fragen lassen, wo sie eigentlich herkommen. Ferda Ataman hat darüber ein Axel Müller (CDU/CSU): Buch geschrieben mit dem Titel „Ich bin von hier: Hört Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten auf zu fragen!“. Auch der Titel zeigt: Wir haben noch viel Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zu tun, wenn es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt Bevor ich auf die Anträge bzw. Gesetzentwürfe der Frak- geht. tionen der FDP, der Grünen und der Linken etwas näher (Beifall bei Abgeordneten der SPD) eingehe, möchte ich ein paar allgemeine Gedanken zur Staatsangehörigkeit formulieren. Konkrete Beispiele sind Diskriminierungen im Alltag, beispielsweise bei der Suche nach einer Wohnung oder Die Staatsangehörigkeit ist Ausfluss der Staatsbürger- auf dem Arbeitsmarkt. Oder man unterstellt Menschen, schaft. Als Staatsbürger habe ich Rechte und Pflichten. dass sie, wenn sie ihre Wurzeln nicht verbergen oder ver- Den Pflichten versuchen sich sowohl dem rechten Spekt- heimlichen wollen, sich nicht ganz zu uns bekennen und rum zuzurechnende Reichsbürger wie auch linken Ideo- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17895

Axel Müller (A) logien anhängende sogenannte Weltbürger gerne zu ent- sich daran erinnert, dass ihre Vorgängerpartei unliebsame (C) ziehen. Staatsbürger einfach ausgebürgert hat. Im Personalausweis ist die Staatsangehörigkeit ein Die Verfasser des Grundgesetzes wollten den Entrech- identitätsstiftendes Merkmal. Für überzeugte Europäer teten einen Teil der ihnen geraubten Identität mit den und Unionsbürger, als die wir uns im Schengenraum über genannten Artikeln zurückgeben. Das muss auch unsere die nationalstaatlichen Grenzen hinweg frei bewegen, Richtschnur bei der Frage sein, wer aus diesem Personen- rückt die Zugehörigkeit zu einem Nationalstaat immer kreis einzubürgern ist. mehr in den Hintergrund. Für die Bürgerinnen und Wie sich im Laufe der Zeit herausstellte, hat Arti- Bürger des Vereinigten Königreichs hat sie mit Blick kel 116 Grundgesetz bei Weitem nicht alle möglichen auf den übermorgen in Kraft tretenden Brexit eine ganz und denkbaren Fälle erfasst. Das hat der Kollege andere Bedeutung gewonnen, wenn sie aufgrund ihrer Dr. Thomae mit den Beispielen, die er hier vorgetragen britischen Staatsangehörigkeit ihre Unionsbürgerschaft hat, deutlich gemacht. Allerdings: Eine Lückenlosigkeit und damit auch die Freizügigkeit verlieren. mit einer jetzt erlassenen gesetzlichen Regelung herstel- Das dürfte für einen Teil der Einbürgerungsanträge aus len zu wollen, halte ich dann doch für einen überhöhten diesem Teil Europas, deren Zahl gestiegen ist, mit ursäch- Anspruch. Es gibt viele solcher Fallkonstellationen, und lich sein. Während es 2015 gerade mal 43 Anträge waren, es kommen immer noch neue hinzu. Das verlangt eben schnellte die Zahl nach dem Brexit-Referendum auf 684 nach Flexibilität, und diese Flexibilität gewährleisten die nach oben, um in 2018 mit 1 506 Anträgen einen neuen genannten Erlasse des Bundesinnenministeriums. Höhepunkt zu erreichen. Mit diesen Zahlen will ich aber Gesetze, statisch, wie sie nun einmal sind, verlangen keinesfalls – ich möchte nicht missverstanden werden – stets nach einer Neufassung. Ich glaube, dem wird das die Ernsthaftigkeit der gestellten Anträge anzweifeln. Ganze nicht gerecht, zumal die Erlasse, wie gesagt wur- Vielmehr zeigt das nur, dass die Entwicklung immer neue de, anspruchsbegründenden und die Verwaltungsbehör- Beispiele und Fallkonstellationen hervorbringt. den bindenden Charakter haben. Dies und die Thematik der heutigen Debatte haben Sämtliche von der Opposition vorgelegte Anträge set- allesamt damit zu tun, dass wir auch 75 Jahre nach dem zen auf Gesetze. Man könnte das als Actus contrarius Ende des Zweiten Weltkrieges, der von Nazideutschland bezeichnen – das habe ich bereits ausgeführt –; man muss begonnen wurde, immer noch mit den Folgen und rechts- ein Gesetz aber so machen, dass es handwerklichen Ge- widrigen Entscheidungen dieses Unrechtsstaates befasst setzmäßigkeiten gerecht wird. Das wird der Gesetzent- sind. Dieses Unrecht setzt sich an den Nachkommen der wurf der Linken nicht; er spricht von einem Wiedergut- (B) Verfolgten und Entrechteten fort. Allen Versuchen, hier machungsinteresse, ohne das näher zu definieren, und das (D) einen Schlussstrich zu ziehen, erteile ich daher in Über- bedeutet, dass der Gesetzentwurf unbestimmt ist. einstimmung mit der Kollegin Göring-Eckardt eine klare Absage. Abschließend rufe ich Ihnen zu: Halten wir es in dem Fall mit Montesquieu: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Vizepräsidentin Petra Pau: NEN) Kollege – – Dieser Verantwortung wollten sich auch die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes stellen, indem sie Arti- Axel Müller (CDU/CSU): kel 116 Absatz 2 formulierten und in ihn ausdrücklich „Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, hineingeschrieben haben, dass gerade Personen, „denen dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.“ zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit ... entzogen worden ist“, und ihren Ich bedanke mich. Nachkommen, die Möglichkeit gegeben wird, auf Antrag (Beifall bei der CDU/CSU) eine Wiedereinbürgerung zu bekommen. Zugleich haben sie aber in Artikel 16 Grundgesetz Vizepräsidentin Petra Pau: einen Riegel vorgeschoben. Er sorgt dafür, dass die deut- Zu ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag erhält sche Staatsangehörigkeit nicht entzogen werden darf, nun die Kollegin Sandra Maria Bubendorfer-Licht für die wenn ansonsten eine Staatenlosigkeit droht. Dies gilt ak- FDP-Fraktion das Wort. tuell bei den zurückkehrenden deutschen IS-Kämpfern und -Unterstützern, wenn diese ansonsten staatenlos wür- (Beifall) den. Auch dieser Bürgerinnen und Bürger unseres Staates muss sich dieser Staat annehmen. Sandra Bubendorfer-Licht (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Abstrus ist allerdings ein Vorschlag, der einmal aus den und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In zahl- Reihen der Linken gekommen ist und der besagte, dass reichen Veranstaltungen haben wir in den letzten Tagen man deutschen Unternehmern, die sich, um weniger und Wochen der Shoah gedacht. Bis heute fällt es mir Steuern zahlen zu müssen, im Ausland niedergelassen persönlich – so wird es vielen gehen – immer noch haben, die Staatsangehörigkeit bzw. ihren Pass entziehen schwer, zu begreifen, wie Menschen anderen Menschen müsste. Überraschend ist das allerdings nicht, wenn man derart abscheuliche Grausamkeiten antun konnten. 17896 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Sandra Bubendorfer-Licht (A) Bei den Reden, Berichten und Erzählungen der Über- Herzlichen Dank. (C) lebenden lässt es mich schaudern. Die Aussage „Nie wie- der!“ ist keine Parole und kein Slogan; es ist unsere Ver- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ pflichtung aus einer – das sage ich aus tiefster DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Überzeugung – historischen Schuld. CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)

(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Vizepräsidentin Petra Pau: DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Das Wort hat der Kollege Philipp Amthor für die CDU/ CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) CSU-Fraktion. Diese Schuld werden wir niemals begleichen können. Wir können nur daran arbeiten, sie, so gut es geht, wie- (Beifall bei der CDU/CSU) dergutzumachen. Philipp Amthor (CDU/CSU): Dies war auch die Motivation der Mütter und Väter des Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Grundgesetzes für Artikel 116 Absatz 2. Damit haben sie Die Wiedergutmachung des Unrechts des Nationalsozia- die Grundlage zur Wiedergutmachung für das Unrecht lismus ist für uns nicht nur in diesen Tagen, sondern seit geschaffen, das Menschen wiederfahren ist, denen aus der Konstituierung und seit der Konstitutionalisierung diskriminierenden, politischen, rassischen oder religiösen unseres Staates eine originäre Verpflichtung. Dass darü- Gründen die deutsche Staatsbürgerschaft durch das natio- ber Einigkeit herrscht und dass wir deswegen größ- nalsozialistische Unrechtsregime entzogen wurde. tmögliche Offenheit für Einbürgerungswünsche von Es ist richtig und wichtig, dass wir als Parlament eine Nachfahren der NS-Opfer haben müssen, ist ein gutes, umfassende Wiedergutmachung ermöglichen. Lange ge- ein notwendiges und gemeinsames Zeichen dieser Debat- nug hat es gedauert. te, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Katrin (Beifall bei der CDU/CSU) Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Es ist wichtig, dass wir uns, um Klarheit in dieser NEN]) Frage zu gewinnen, auch den Geist der Verfassung vor Unser Ziel muss es sein, allen, denen Unrecht widerfah- Augen führen. Über Artikel 116 Absatz 2 des Grund- ren ist, und deren Nachfahren so weit wie möglich Wie- gesetzes ist heute schon verschiedentlich gesprochen dergutmachung zu leisten. Das kann leider nicht in allen worden. Es war eine ganz bewusste Entscheidung der Bereichen gelingen. Viele Folgen des Nationalsozialis- Mütter und Väter des Grundgesetzes, dort einen An- (B) mus sind unumkehrbar. Bezüglich der Staatsangehörig- spruch auf Wiedergutmachungseinbürgerung für die Op- (D) keit kann es nun aber endlich gelingen, und zwar auf fer des Nationalsozialismus zu verankern. Dabei liegt Betreiben der FDP-Fraktion. dieser Norm, Artikel 116 Absatz 2 des Grundgesetzes, das klare Verständnis zugrunde, dass die Ausbürgerungs- Meine Damen und Herren, eine ehrlich gemeinte Wie- maßnahmen des NS-Regimes Unrechtsakte par excellen- dergutmachung kann niemals an Voraussetzungen ge- ce und damit von Anfang an nichtig waren. knüpft sein. Dieser unerträgliche Widerspruch zur Gerechtigkeit, (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Daniela wie man es in der Radbruch’schen Formel formulieren Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) würde, muss aufgelöst werden. Aber schon damals war den Müttern und Vätern des Grundgesetzes klar, dass das Aber von welchen Menschen sprechen wir hier eigent- nicht mit zwei Sätzen in der Verfassung gehen wird, son- lich? Wir sprechen von Menschen, die die deutsche dern dass es dafür eine nähere Präzisierung braucht, dass Staatsangehörigkeit dadurch verloren haben, dass sie ihre wir eine praktisch handhabbare Spezifizierung dieses Heimat zurückließen, um sich und ihre Familie vor na- Wiedereinbürgerungsanspruches brauchen. tionalsozialistischer Verfolgung zu retten. Wir sprechen von Menschen, denen die deutsche Staatsangehörigkeit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen von den Nazis verweigert wurde. Wir sprechen aber auch von Dass das aktuell ist, haben wir anhand der Zahlen ge- Menschen, die aufgrund einer völlig überholten Rechts- sehen, über die wir diskutiert haben: Sie sind von 43 An- auffassung von der Gleichheit der Geschlechter die trägen in 2015 auf 1 500 Anträge in 2018 gestiegen, auch Staatsangehörigkeit in der Bundesrepublik noch nicht er- bedingt durch das Brexit-Referendum. Aber für uns ist halten haben. klar – auch wenn hier ein scheinbarer Widerspruch auf- gezeigt werden sollte –: Wir wollen auf diesen gestiege- Auch in der Bundesrepublik ist es uns bisher nicht nen Anspruch reagieren, und wir wollen das mit einer gelungen, das nationalsozialistische Unrecht in Bezug handhabbaren Lösung tun. Genau das hat das Bundes- auf Staatsangehörigkeiten wiedergutzumachen. Wie innenministerium mit seinen Erlassen zur Auslegung großartig ist es dann erst, wenn wir heute mit genau von § 14 des Staatsangehörigkeitsgesetzes auch getan. diesem Recht auf Staatsbürgerschaft belegen können, Denn wenn hier behauptet wird, es gebe keinen gesetz- dass das völkische Gedankengut – zumindest beim größ- lichen Anspruch auf Wiedereinbürgerung, dann ist das ten Teil in diesem Haus – endgültig überwunden ist und falsch. Die Erlasse selbst sind nicht die Grundlage der es nie, nie wieder Maßstab von politischen Entscheidun- Wiedereinbürgerung, sondern sie konkretisieren § 14 gen sein darf! des Staatsangehörigkeitsgesetzes. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17897

Philipp Amthor (A) Ich will deutlich machen: Wir haben einen gesetzli- des NS-Regimes“. Wer stimmt für diesen Antrag? – (C) chen Anspruch, und das ist auch gut so. Hier einen Wider- Das sind die Fraktionen der AfD, der FDP, die Fraktion spruch zu erwecken, führt in die Irre, liebe Kolleginnen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Wer stimmt da- und Kollegen. gegen? – Die Koalitionsfraktionen. Wer enthält sich? (Beifall bei der CDU/CSU) (Zurufe von der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Nun ist der Vorschlag der Opposition, mit einem neuen Euch geht es doch nur um die Mittagspause! – § 15 des Staatsangehörigkeitsgesetzes einen gänzlich Gegenruf der Abg. [Augsburg] neuen Wiedereinbürgerungsanspruch, eine neue Norm, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat doch zu schaffen. Das wird dann hier als weiter gehendere mit der Mittagspause nichts zu tun!) Lösung, als größerer Gewinn für die Betroffenen ver- kauft. Ich will aber sagen, auch nach dem Eindruck der Wir wiederholen die Abstimmung, da das Präsidium Anhörung, die wir im Innenausschuss hatten: Das ist kein sich über das Abstimmungsergebnis nicht einig ist. Das Gewinn für die Betroffenen. Für diejenigen, die als Nach- heißt, wir müssen zählen. Wer ist für diesen Antrag? – fahren der Opfer des Nationalsozialismus wieder einge- Wer stimmt dagegen? – Das Präsidium sieht sich nicht in bürgert werden wollen, ist nicht die Frage entscheidend, der Lage, ob das indirekt über das Verwaltungsinnenrecht passiert oder direkt durch einen neuen Anspruch, sondern ent- (Beifall bei Abgeordneten der AfD und der scheidend ist, dass es passiert. Genau dafür haben wir FDP) eine schnelle Regelung getroffen, liebe Kolleginnen und das Ergebnis zweifelsfrei festzustellen. Sie wissen, auf Kollegen. welche Art und Weise wir dann das Ergebnis feststellen. Das heißt, wir werden diese Abstimmung per Hammel- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sprung durchführen. Es ist wichtig, dass unsere Lösung nicht nur schneller ist – die Erlasse des Bundesinnenministeriums gelten Ich erkläre es jetzt allen, die nicht wissen, was zu tun schon seit einem halben Jahr, während wir hier noch ist. Der Sitzungsvorstand ist sich über das Ergebnis der diskutieren –, sondern sie ist auch rechtssicherer. In der Abstimmung auch nach der Gegenprobe nicht einig. Anhörung des Innenausschusses haben die Verwaltungs- Wir kommen daher zur Abstimmung über den Antrag rechtsprofessoren Hailbronner und Kluth das ausdrück- der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache lich erklärt. Die Regelung, die Sie vorschlagen, schafft 19/16846 per Hammelsprung. Sie gehen also bitte vor nämlich einen neuen auslegungsbedürftigen Rechtsbe- den Saal, und sobald alle Abgeordneten den Saal verlas- (B) griff in § 15 des Staatsangehörigkeitsgesetzes. Das führt sen haben, werde ich die Abstimmung eröffnen. Dann (D) erst mal nicht zu mehr, sondern zu weniger Rechtssicher- kommen Sie durch die Tür Ihrer Wahl – „Ja“, „Nein“ oder heit; denn Sie werden Verwaltungsverfahren haben, in „Enthaltung“ – wieder herein. Ich bitte, jetzt zügig den denen Verwaltungsgerichte in 16 Bundesländern diesen Saal zu verlassen. neuen Rechtsbegriff neu auslegen müssen. Das finden wir nicht überzeugend. Wir knüpfen an einen schon jetzt Mir ist schon klar, dass Sie eine ganze Menge Dinge zu bestehenden gesetzlichen Anspruch in § 14 an. Das ist regeln haben. Der Sitzungstag geht auch noch ein biss- schneller, das ist rechtssicherer, und das ist der richtige chen weiter. Ich bitte aber trotzdem, alle Amtsgeschäfte, Weg für die Praxis und auch für die Betroffenen, weil er die sich auch draußen erledigen lassen, vor dem Saal zu konkret hilft, liebe Kolleginnen und Kollegen. erledigen. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, den Saal zu verlassen. Für uns ist entscheidend: Wie müssen wir hier reagie- ren? Es geht nicht um die Frage „Erlass oder Gesetz?“, es Ich erkläre in der Zwischenzeit unseren Besucherinnen geht auch nicht nur um Gesetzestechnik, sondern es geht und Besuchern auf den Tribünen, was hier gerade ge- darum, dass wir eine Lösung brauchen, die verantwor- schieht. Wir waren in der Abstimmung zu einem Antrag tungsvoll ist, die schnell ist, die rechtssicher und einheit- der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wir konnten zwar lich ist und die unserer historischen Verantwortung ge- feststellen, aus welchen Fraktionen wie votiert wurde, recht wird. Genau das hat die Bundesregierung mit dem wir konnten aber nicht feststellen, ob die Ja- oder die Bundesinnenministerium vorgelegt. Das ist der richtige Neinstimmen in der Mehrheit waren. Der Sitzungsvor- Weg, und dafür treten wir ein, liebe Kolleginnen und stand war sich in der Feststellung des Abstimmungser- Kollegen. gebnisses nicht einig, auch nicht nach Wiederholung der Abstimmung. In einem solchen Fall gibt es in unserer (Beifall bei der CDU/CSU) Geschäftsordnung die Regelung, dass mit dem sogenann- ten Hammelsprung sowohl das Abstimmungsergebnis Vizepräsidentin Petra Pau: festgestellt wird als auch, wie viele Abgeordnete über- Ich schließe die Aussprache. haupt an den Verhandlungen des Deutschen Bundestages teilnehmen. Zu diesem Zwecke müssen alle Abgeordne- Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der ten den Saal verlassen, die Türen werden verschlossen. Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache Wenn ich die Abstimmung dann eröffne, kommen die 19/16846 mit dem Titel „Verantwortung übernehmen – Abgeordneten durch speziell gekennzeichnete Türen an Einbürgerungsanspruch für Nachfahren der Verfolgten der Stirnseite des Saales wieder herein. Über der einen 17898 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Tür steht „Ja“, über der anderen „Nein“ und über der be a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache (C) dritten „Enthaltung“. Das heißt, es wird das Abstim- 19/16542, den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke mungsergebnis festgestellt und gleichzeitig die Anzahl auf Drucksache 19/13505 abzulehnen. Ich bitte diejeni- der an der Abstimmung teilnehmenden Abgeordneten. gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Das sind die Fraktion Die Linke und die Ich bitte um ein Zeichen, ob alle Abgeordneten den Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Saal verlassen haben. – Das ist offensichtlich der Fall. Das sind die Koalitionsfraktionen, die AfD-Fraktion und Dann können wir die Türen schließen. die FDP-Fraktion. Wer enthält sich? – Niemand. Der Die Abstimmung ist eröffnet. Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Bera- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz zu tung. nehmen und dem Präsidium den Blick auf die Abstim- mungstüren zu ermöglichen, damit wir feststellen kön- Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf nen, ob noch Abgeordnete daran gehindert sind, an dieser der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Wiedergutma- Abstimmung teilzunehmen. chung im Staatsangehörigkeitsrecht. Der Ausschuss für Da inzwischen die Besetzung der Besuchertribünen Inneres und Heimat empfiehlt unter Buchstabe b seiner gewechselt hat, begrüße ich Sie herzlich im Deutschen Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/16542, den Ge- Bundestag und erläutere Ihnen, was die Abgeordneten setzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf des Bundestages gerade tun: Vor einigen Minuten konn- Drucksache 19/12200 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, ten wir das Ergebnis der Abstimmung über einen Antrag die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Hand- der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Ver- zeichen. Das sind die Fraktionen Die Linke und Bünd- antwortung übernehmen – Einbürgerungsanspruch für nis 90/Die Grünen sowie die AfD-Fraktion. Wer stimmt Nachfahren der Verfolgten des NS-Regimes“ nicht zwei- dagegen? – Die Koalitionsfraktionen und die FDP-Frak- felsfrei feststellen. Deshalb haben wir zu einem besonde- tion. Wer enthält sich? – Niemand. Der Gesetzentwurf ist ren Abstimmungsverfahren gegriffen, dem sogenannten in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unse- Hammelsprung. Das heißt, alle Abgeordneten mussten rer Geschäftsordnung die weitere Beratung. den Saal verlassen und kommen nun durch eine speziell gekennzeichnete Tür, die ihrem Abstimmungsverhalten Tagesordnungspunkt 11 b. Wir setzen die Abstimmung entspricht, wieder in den Saal. So stellen wir zweifelsfrei zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres das Abstimmungsergebnis fest und können fortfahren, und Heimat auf Drucksache 19/16542 fort. Der Aus- wenn diese Abstimmung beendet ist. schuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussemp- fehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP (B) (D) Ich bitte nochmals, uns den Blick auf die Abstim- auf Drucksache 19/14063 mit dem Titel „Einbürgerung mungstüren freizumachen, und um ein Signal, ob alle von im Nationalsozialismus Verfolgten und deren Nach- Abgeordneten, die dies wollten, an der Abstimmung teil- fahren umfassend und klar gesetzlich regeln“. Wer nehmen konnten. – Das ist noch nicht der Fall. stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die sich noch Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Die AfD- in der Lobby befinden und an der Abstimmung teilneh- Fraktion, die FDP-Fraktion, die Fraktion Bündnis 90/Die men wollen, dies jetzt zu tun. Zu diesem Zweck habe ich Grünen und die Fraktion Die Linke. Wer enthält sich? – auch gerade das Mikrofon in der Lobby zugeschaltet. Niemand. Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen. Ich bitte um ein Zeichen. – Die Abstimmung ist been- det. Ich bitte, mir das Ergebnis zu übermitteln. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 e sowie die Zusatzpunkte 6 a bis 6 g auf. Es handelt sich um Ich bitte, Platz zu nehmen. Ich gebe Ihnen das Ergebnis Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne De- der Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bünd- batte. nis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/16846 bekannt: abgegebene Stimmen 527. Mit Ja haben 228 Kolleginnen Wir kommen zunächst zu den unstrittigen Überwei- und Kollegen gestimmt, mit Nein stimmten 298, enthal- sungen. Tagesordnungspunkte 26 a und 26 c bis 26 e ten hat sich eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter. sowie Zusatzpunkte 6 a bis 6 g: Damit ist der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. 26 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur der SPD) Änderung des EG-Verbraucherschutz- durchsetzungsgesetzes sowie des Gesetzes – Ich bitte, von Beifallsbekundungen abzusehen. Wir sind über die Errichtung des Bundesamts für immer noch in den Abstimmungen zu den Anträgen und Justiz Gesetzentwürfen, die unter diesem Tagesordnungspunkt beraten wurden. Drucksache 19/16781

Tagesordnungspunkt 11 a. Wir kommen zur Abstim- Überweisungsvorschlag: mung über den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zur Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes. Der Aus- Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur schuss für Inneres und Heimat empfiehlt unter Buchsta- Ausschuss Digitale Agenda Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17899

Vizepräsidentin Petra Pau (A) c) Beratung des Antrags der Abgeordneten c) Beratung des Antrags der Abgeordneten (C) Dr. Götz Frömming, Nicole Höchst, Dr. Marc Konstantin Kuhle, Stephan Thomae, Jongen, weiterer Abgeordneter und der Frak- Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeordneter tion der AfD und der Fraktion der FDP Aufstiegsfortbildung praxisnah und um- Bürgerrechte und Sicherheit schützen – setzbar fördern Für einen wirksamen Verfassungsschutz Drucksache 19/16859 Drucksache 19/16875

Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- Ausschuss für Inneres und Heimat zung (f) Finanzausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Otto Haushaltsausschuss Fricke, Christian Dürr, Grigorios Aggelidis, d) Beratung des Antrags der Abgeordneten weiterer Abgeordneter und der Fraktion der , Marcus Bühl, Martin FDP Hohmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD Schuldenbremse und Investitionen nicht gegeneinander ausspielen – Ausgabeprio- Sinnvolle Investitionen für Deutschland ritäten setzen statt Schuldenbremse ver- ohne neue Schulden letzen Drucksache 19/16860 Drucksache 19/16831

Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss (f) Haushaltsausschuss Finanzausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sven-Christian Kindler, Anja Hajduk, Ekin Lorenz Gösta Beutin, Caren Lay, Dr. Gesine Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fraktion DIE LINKE In die Zukunft investieren – Kreditspiel- Strukturstärkungsgesetz Kohleregionen räume nutzen und erweitern zukunftsfähig machen Drucksache 19/16841 (B) Drucksache 19/16845 (D) Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Maria Klein- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit Schmeink, Filiz Polat, weiterer Abgeordneter Haushaltsausschuss und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ZP 6 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten NEN Hagen Reinhold, Frank Sitta, Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der Hohe Versorgungsqualität in der Einwan- Fraktion der FDP derungsgesellschaft sicherstellen, inter- kulturelle Öffnung im Gesundheitswesen Die Blackbox-Clubszene – Kreativ und fördern wirtschaftlich Drucksache 19/16844 Drucksache 19/16833 Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommu- Ausschuss für Inneres und Heimat nen (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Kultur und Medien Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- zung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartmut Ebbing, Thomas Hacker, Otto , Omid Nouripour, Fricke, weiterer Abgeordneter und der Frak- Dr. Tobias Lindner, weiterer Abgeordneter tion der FDP und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Elektronische Tanz- und Clubkultur als NEN immaterielles Kulturerbe unterstützen Im Konflikt zwischen den USA und Iran Drucksache 19/16832 auf Deeskalation setzen, Krisendiplomatie verstärken und Bundeswehr aus dem Irak Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) abziehen Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Tourismus Drucksache 19/16847 17900 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Überweisungsvorschlag: Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 19/14382 abzu- (C) Auswärtiger Ausschuss (f) lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Das sind die Koalitionsfraktionen, die AfD-Fraktion und die FDP-Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Die Frak- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an tion Bündnis 90/Die Grünen. Wer enthält sich? – Die die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Fraktion Die Linke. Die Beschlussempfehlung ist ange- überweisen. Gibt es weitere Überweisungsvorschläge? – nommen. Das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir wie vorgeschla- gen. Tagesordnungspunkt 27 b: Wir kommen nun zu einer Überweisung, bei der die Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- Federführung strittig ist. Tagesordnungspunkt 26 b: schusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin Sichert, Uwe Witt, Jürgen Pohl, weiterer Abge- Übersicht 7 ordneter und der Fraktion der AfD über die dem Deutschen Bundestag zugeleite- Diskriminierung der Pflegekinder abschaffen ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs- gericht Drucksache 19/16858 Drucksache 19/16866 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Federführung strittig sind die Koalitionsfraktionen, die Fraktion Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt Interfraktionell wird Überweisung des Antrags der dagegen? – Die AfD-Fraktion und die FDP-Fraktion. Fraktion der AfD an die in der Tagesordnung aufgeführ- Wer enthält sich? – Niemand. Die Beschlussempfehlung ten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fraktionen der CDU/ ist angenommen. CSU und SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, die Fraktion Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Peti- der AfD wünscht Federführung beim Ausschuss für Ar- tionsausschusses, Tagesordnungspunkte 27 c bis 27 p. beit und Soziales. Tagesordnungspunkt 27 c: Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Fraktion der AfD abstimmen: Federführung beim Aus- tionsausschusses (2. Ausschuss) (B) schuss für Arbeit und Soziales. Wer stimmt für diesen (D) Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer Sammelübersicht 459 zu Petitionen enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist gegen die Stimmen der AfD-Fraktion abgelehnt. Drucksache 19/16526 Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Diese Sammelübersicht umfasst 85 Petitionen. Wer Fraktionen der CDU/CSU und SPD abstimmen: Feder- stimmt für die Sammelübersicht 459? – Wer stimmt da- führung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen gegen? – Wer enthält sich? – Die Sammelübersicht 459 und Jugend. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor- ist einstimmig angenommen. schlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Tagesordnungspunkt 27 d: Niemand. Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stim- men der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion, der Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Fraktion Die Linke, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen tionsausschusses (2. Ausschuss) gegen die Stimmen der AfD-Fraktion angenommen. Sammelübersicht 460 zu Petitionen Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 p auf. Es Drucksache 19/16527 handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Diese Sammelübersicht umfasst 57 Petitionen. Tagesordnungspunkt 27 a: Mir liegt eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor. Diese betrifft die Num- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- mer 14 in der Sammelübersicht 460.1) richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (16. Ausschuss) zu dem Wer stimmt für die Sammelübersicht 460? – Wer Antrag der Abgeordneten Steffi Lemke, Lisa stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammelüber- Badum, Dr. Bettina Hoffmann, weiterer Abge- sicht 460 ist einstimmig angenommen. ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Tagesordnungspunkt 27 e: GRÜNEN Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- 30 Jahre Grünes Band tionsausschusses (2. Ausschuss) Drucksachen 19/14382, 19/15951 Sammelübersicht 461 zu Petitionen Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 19/15951, den Antrag der Fraktion 1) Anlage 2 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17901

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Drucksache 19/16528 enthält sich? – Niemand. Die Sammelübersicht 465 ist (C) angenommen. Diese Sammelübersicht umfasst 17 Petitionen. Wer stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen, die AfD-Frak- Tagesordnungspunkt 27 j: tion und die FDP-Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Die Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Fraktion Die Linke. Wer enthält sich? – Die Fraktion tionsausschusses (2. Ausschuss) Bündnis 90/Die Grünen. Die Sammelübersicht 461 ist angenommen. Sammelübersicht 466 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 27 f: Drucksache 19/16533 Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Es handelt sich um 1 Petition. Wer stimmt dafür? – Wer tionsausschusses (2. Ausschuss) stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammelüber- sicht 466 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, Sammelübersicht 462 zu Petitionen der AfD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Frak- Drucksache 19/16529 tion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen. Diese Sammelübersicht umfasst 12 Petitionen. Wer stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen, die Fraktion Tagesordnungspunkt 27 k: Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Wer stimmt dagegen? – Die AfD-Fraktion. Wer enthält tionsausschusses (2. Ausschuss) sich? – Darf ich erfahren, wie sich die FDP verhalten hat? Sammelübersicht 467 zu Petitionen (Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Wir haben zugestimmt!) Drucksache 19/16534 – Aha. Das war leider nicht erkennbar. Also, die FDP hat Es handelt sich um 1 Petition. Wer stimmt dafür? – Die auch zugestimmt. Damit ist die Sammelübersicht 462 an- Koalitionsfraktionen, die AfD-Fraktion und die Fraktion genommen. Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Die Fraktion der FDP. Wer enthält sich? – Die Fraktion Die Tagesordnungspunkt 27 g: Linke. Die Sammelübersicht 467 ist angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Tagesordnungspunkt 27 l: tionsausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- (B) Sammelübersicht 463 zu Petitionen tionsausschusses (2. Ausschuss) (D) Drucksache 19/16530 Sammelübersicht 468 zu Petitionen Diese Sammelübersicht umfasst 5 Petitionen. Wer Drucksache 19/16535 stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen und die FDP- Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Die AfD-Fraktion und Diese Sammelübersicht umfasst 5 Petitionen. Wer die Fraktion Die Linke. Wer enthält sich? – Die Fraktion stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen und die AfD- Bündnis 90/Die Grünen. Die Sammelübersicht 463 ist Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Die Fraktion der FDP damit angenommen. und die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grü- nen. Wer enthält sich? – Niemand. Die Sammelüber- Tagesordnungspunkt 27 h: sicht 468 ist angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Tagesordnungspunkt 27 m: tionsausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Sammelübersicht 464 zu Petitionen tionsausschusses (2. Ausschuss) Drucksache 19/16531 Sammelübersicht 469 zu Petitionen Es handelt sich um 1 Petition. Wer stimmt dafür? – Wer Drucksache 19/16536 stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Sammelüber- sicht 464 ist einstimmig angenommen. Diese Sammelübersicht umfasst 493 Petitionen. Wer stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen, die FDP-Frak- Tagesordnungspunkt 27 i: tion, die Fraktion Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Die AfD-Fraktion. Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Wer enthält sich? – Niemand. Die Sammelübersicht 469 tionsausschusses (2. Ausschuss) ist angenommen. Sammelübersicht 465 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 27 n: Drucksache 19/16532 Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Diese Sammelübersicht umfasst 5 Petitionen. Wer tionsausschusses (2. Ausschuss) stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen, die AfD-Frak- Sammelübersicht 470 zu Petitionen tion und die FDP-Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Wer Drucksache 19/16537 17902 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Diese Sammelübersicht umfasst 2 Petitionen. Wer Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundes- (C) stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen und die FDP- minister Andreas Scheuer. Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Die AfD-Fraktion, die Fraktion Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die (Beifall bei der CDU/CSU) Grünen. Wer enthält sich? – Niemand. Die Sammelüber- sicht 470 ist angenommen. Andreas Scheuer, Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur: Tagesordnungspunkt 27 o: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorhin haben wir über das Gemeindeverkehrs- Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- finanzierungsgesetz geredet. Da ging es vor allem um den tionsausschusses (2. Ausschuss) Bau, die Sanierung, den Ausbau, den Neubau unserer Sammelübersicht 471 zu Petitionen regionalen Infrastruktur. Jetzt geht es um ein weiteres ziemlich großes Begriffsmonster, nämlich das Fünfte Ge- Drucksache 19/16538 setz zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes. Was Es handelt sich um 1 Petition. Wer stimmt dafür? – Die heißt das? Für alle, die nicht zu den Feinschmeckern, Koalitionsfraktionen und die Fraktion Die Linke und ein zur verkehrspolitischen Community gehören: Wir sorgen Abgeordneter der FDP. für mehr Geld für den Betrieb von Bussen und vor allem Bahnen – das betrifft den Großteil des Geldes – in den (Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Nein! Er Regionalverkehren vor Ort. Aktuell stellen wir den Bun- hat das nicht so gemeint!) desländern die Rekordsumme von 8,65 Milliarden Euro jährlich zur Verfügung. Die Bundesebene schafft jetzt – Ich bitte um ein wenig Konzentration in den Fraktio- mehr Chancen für besseren Regionalverkehr, für die Be- nen. – Ich wiederhole die Abstimmung zur Sammelüber- stellung von wichtigen Regionalverkehren vor allem für sicht 471. Wer stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen die Pendlerinnen und Pendler, aber auch zur besseren und die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Die Anbindung der Fläche an die städtischen Regionen. Wir AfD-Fraktion, die FDP-Fraktion und die Fraktion Bünd- geben damit Chancen, die die Bundesländer jetzt ergrei- nis 90/Die Grünen. Wer enthält sich? – Niemand. Die fen können. Sammelübersicht 471 ist damit angenommen. (Beifall bei der CDU/CSU) Tagesordnungspunkt 27 p: Bei der Abstimmung über das Dritte Gesetz zur Ände- Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- rung des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes, über tionsausschusses (2. Ausschuss) das wir vorhin debattiert haben, haben die Koalition, (B) (D) Sammelübersicht 472 zu Petitionen die Grünen und die FDP zugestimmt; die Linken und die Grünen haben sich enthalten. – Sie haben jetzt die Drucksache 19/16539 Möglichkeit, angesichts von so viel Geld diesem Gesetz- entwurf zuzustimmen. Es geht um 8 Petitionen. Wer stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Die Oppo- (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sitionsfraktionen. Wer enthält sich? – Niemand. Die Sam- NEN]: Wir haben gute Gründe!) melübersicht 472 ist damit angenommen. Warum machen wir das? Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: (Zuruf von der LINKEN: Gute Frage!) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Weil wir im Rahmen des Klimapakets für dieses Jahr desregierung eingebrachten Entwurfs eines noch einmal zusätzlich 150 Millionen Euro drauflegen. Fünften Gesetzes zur Änderung des Re- Zwischen 2020 und 2031 fließen zusätzlich zu den jähr- gionalisierungsgesetzes lichen 8,6 Milliarden Euro – Rekordniveau – noch einmal Drucksachen 19/15622, 19/16402, insgesamt 5,2 Milliarden Euro an die Bundesländer, da- 19/16578 Nr. 1.9 mit sie diese wichtigen Regionalverkehre bestellen kön- nen. Das ist wirklich eine tolle Botschaft für die Fahr- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- gäste, für die Bürgerinnen und Bürger. schusses für Verkehr und digitale Infrastruk- tur (15. Ausschuss) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Drucksache 19/16909 Wir appellieren nicht nur an die Menschen, umzustei- – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- gen, damit im Verkehrsbereich die Klimaziele erreicht schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung werden können, sondern vor allem unterfüttern wir das jetzt mit richtig Geld, und zwar nicht für den Bau, son- Drucksache 19/16915 dern auch für den Betrieb. Unser Ziel ist, die Zahl der Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der Fahrgäste zu verdoppeln. Das gilt nicht nur für den Fern- FDP vor. verkehr, sondern auch für den Regionalverkehr. Ich bin sehr dankbar, dass wir intensiv mit dem Bahnbeauftrag- Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten be- ten der Bundesregierung, Enak Ferlemann, darüber dis- schlossen. kutiert haben. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17903

Bundesminister Andreas Scheuer (A) Wenn ich an den morgigen Tag denke: Da steht die Wenn ich das Gesamtpaket sehe, sage ich Ihnen: Wir (C) Verabschiedung zweier Gesetzentwürfe zur Beschleuni- haben ein paar Wochen nach den Beschlussfassungen zu gung von Planung und Genehmigung an. den Klimaprogrammen durch das Klimakabinett schon so viele entscheidende Weichen gestellt, dass die Anforde- (Zuruf des Abg. Matthias Gastel [BÜND- rungen wirklich erfüllt werden können. NIS 90/DIE GRÜNEN]) Das ist ein absoluter Durchbruch, vor allem für die Schie- In der Verkehrspolitik ist es so, dass die Verzögerung ne. Das wollte auch diese Große Koalition, diese Bundes- natürlich schon spürbar ist, wenn es eine Baumaßnahme regierung erreichen, nämlich dass wir ein klares State- bei laufendem Betrieb gibt. Aber wie geht es denn einem ment für die Stärkung der Schiene abgeben. normalen Abgeordneten, ob der im Bundestag ist oder in einem Landtag? Er steht auf einem Bahnsteig – Richtung (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Flughafen beispielsweise – und wird von Bürgern ange- sprochen. Dem Bürger ist es egal, wer wofür zuständig Wenn ich jetzt in dieser Reihe vorwärtsgehe: Die Leis- ist, ob für den Regionalverkehr oder für den Fernverkehr. tungs- und Finanzierungsvereinbarung mit einem Volu- Deswegen schaffen wir als Bundestagsabgeordnete und men von 86 Milliarden Euro wurde gefixt und unter- als Bundesregierung auch die Möglichkeiten vor Ort, schrieben. Der Aufwuchs im Vergleich zur letzten dass die Bundesländer an dieser Stelle besser wirken Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung beträgt können. 54 Prozent. (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Zuruf der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE NEN]: Luftbuchungen!) LINKE]) Die Aufteilung der 11 Milliarden Euro in einer Verein- – Frau Lötzsch, Ihr Kollege hat vorher gerade von Pots- barung mit der Bahn stehen für die Stärkung der Bahn, dam erzählt und dass er notwendige Mittel für die Ge- ein robustes Netz, Digitalisierung und vieles mehr bereit. meindeverkehrsfinanzierung braucht. Sie haben sich aber dann nicht entschließen können, diesem Gesamtpaket Vorher haben wir über Gemeindeverkehrsfinanzierung zuzustimmen, obwohl die Mittel versechsfacht wurden. geredet. Da gab es einen Aufwuchs von an die 2 Milliar- Er hat um die Mittel gebeten, und wir schaffen die Mittel den Euro. Das ist eine Versechsfachung der Mittel. Die als CDU/CSU- und SPD-Koalition. Regionalisierungsmittel von 8,6 Milliarden Euro jährlich werden in den nächsten Jahren noch einmal um insgesamt ( [DIE LINKE]: Sie schaffen 5,2 Milliarden Euro steigen. Diese Große Koalition, diese die nicht! Das macht der Steuerzahler!) Bundesregierung schafft wirklich etwas für neue Mobili- (B) Das ist die gute Botschaft für die Bürger: Wir gehen (D) tät, für die Mobilität der Zukunft, und dafür bin ich sehr, wirklich in die Regionen. sehr dankbar. Herzlichen Dank! Allen, die mitgearbeitet haben, meinen herzlichen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Dank! ordneten der SPD) Wenn ich noch ergänzen darf: Zu unseren weiteren (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Vorhaben gehören nicht nur das Zukunftsbündnis Schie- ordneten der SPD) ne, sondern auch der wichtige Deutschland-Takt, der wie- derum in diese Maßnahme sehr stark reinwirkt. Denn wir Vizepräsidentin Petra Pau: wollen die Regionalverkehre viel stärker mit den Fern- Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgang Wiehle für verkehren vernetzen, sodass sich die Aufenthaltsqualität die AfD-Fraktion. und die Umstiegsqualität für die Fahrgäste verbessern. Das erreichen wir, indem wir die Busfahrten und die (Beifall bei der AfD) Zugfahrten deutlich zuverlässiger machen und damit er- leichtern. Ja, wir wollen natürlich auch kräftig in die Wolfgang Wiehle (AfD): Digitalisierung der Schiene investieren. Wir wollen vor Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol- allem effizient steuern und eng takten. Es handelt sich legen! Mit den sogenannten Regionalisierungsmitteln also um ein stimmiges Gesamtpaket. (Gustav Herzog [SPD: Das ist nicht „soge- Aber ich muss den Bundesländern auch sagen: Der nannt“! Das heißt so!) Bund stellt das Geld zwar zur Verfügung; den Betrieb muss man aber vor Ort organisieren. Wir kämpfen mo- gibt der Bund den Ländern Geld, damit diese Nahverkehr mentan auch hier mit Ausgaberesten, die jetzt wirklich an beispielsweise mit S-Bahnen oder Regionalbussen anbie- den Mann und an die Frau vor Ort in den Regionen ge- ten können. Bislang sind das jährlich 8,6 Milliarden Euro. bracht werden müssen, und zwar durch die Bestellung Diese Summe soll jetzt in großen Schritten steigen. Ad- von Regionalverkehren. Der Bund will, dass investiert diert man diese Steigerungen über die nächsten zwölf wird. Daher müssen die Bundesländer auch die Leistung Jahre, so summieren sie sich auf stattliche 5,2 Milliarden bringen, meine Damen und Herren. Euro. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist positiv!) bei Abgeordneten der LINKEN) Die AfD begrüßt das, wenn es wirklich dazu führt, dass Das werden auch die Pendlerinnen und Pendler merken. der öffentliche Nahverkehr besser wird. 17904 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Wolfgang Wiehle (A) (Beifall bei der AfD – Detlef Müller [Chem- Wir können vom Bund aus die Länder nur dazu aufrufen, (C) nitz] [SPD]: Jetzt kommt das große Aber!) im Sinne der Bürger zu handeln und die Angebote zu Dafür gibt es Hürden. verbessern. Die AfD-Landtagsfraktionen werden, wenn nötig, gerne in die Diskussion einsteigen. Eine solche Hürde besteht in einer Automatik, die man in das Eisenbahnregulierungsgesetz eingebaut hat. Dort Die AfD-Fraktion erwartet, dass das Problem mit den steht, dass die Preise für die Nutzung von Bahnstrecken drohenden Preissteigerungen für die Nutzung der Bahn- und Stationen genauso schnell steigen wie die Regional- strecken und Stationen schnell gelöst wird. isierungsmittel. Mit einem Extraaufschlag auf die Regio- Wir werden der Gesetzesänderung heute zustimmen. nalisierungsmittel steigen dann auch die Streckenpreise Und – ich wiederhole es –: Wir werden die kluge Ver- schneller, und schon ist ein großer Teil der neuen Mittel wendung der Gelder in den Bundesländern immer im weg, ohne dass auch nur ein zusätzlicher Zug fährt. Übrig Auge haben. bleibt dann eine Geldspritze für die angespannte Kasse der Bahn. Die Koalition hat einen Entschließungsantrag (Beifall bei der AfD) gestellt, der eine zeitnahe Lösung dieses Problems for- dert. Dem werden wir zustimmen. Vizepräsidentin Petra Pau: (Detlef Müller [Chemnitz] [SPD]: Gut!) Das Wort hat der Abgeordnete Detlef Müller für die SPD-Fraktion. Und wir nehmen den Begriff „zeitnah“ sehr ernst. (Beifall bei der SPD) Die FDP-Fraktion glaubt, die Lösung in einer Subven- tion der Entgelte für die Nutzung der Bahnstrecken ge- Detlef Müller (Chemnitz) (SPD): funden zu haben; sie würde die Regionalisierungsmittel gar nicht erhöhen. Einfacher wird dadurch die Sache aber Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- nicht. Zum heutigen Zeitpunkt können wir zu Ihrem Ent- ren! Wir haben heute, vor knapp zwei Stunden, die parla- schließungsantrag, sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- mentarische Beratung des Gemeindeverkehrsfinanzie- gen von der FDP-Fraktion, nicht mehr als eine Enthal- rungsgesetzes abschließen können. Damit haben die tung anbieten. Kommunen die Grundlage für eine auskömmliche Finan- zierung des schienengebundenen öffentlichen Personen- Eine weitere Hürde für Verbesserungen im Nahverkehr nahverkehrs für die kommenden zehn Jahre. Jetzt geht es liegt im Verhalten einiger Bundesländer. Manche nutzen um die Erhöhung der Regionalisierungsmittel. die Gelder gar nicht voll aus und legen sie gewissermaßen Ich möchte zunächst eine Zahl wiederholen: 5,25 Mil- (B) auf Halde. Andere entlasten ihren Landeshaushalt und (D) finanzieren die Verbilligung von Schülerfahrkarten aus liarden Euro. 5,25 Milliarden Euro stellen wir als Bund den Regionalisierungsmitteln. Diese und ähnliche Dinge den Ländern bis zum Jahr 2031 zusätzlich zur Verfügung, liegen in der Verantwortung der Länder. Wir können von um hauptsächlich der Bundesebene aus nur Appelle formulieren. Schienenpersonennahverkehrsleistungen zu bestellen. Das heißt: mehr Regionalverkehr. Das heißt: Taktver- (Beifall bei der AfD) dichtung. Das heißt: Anbindung und Mobilität durch Aus der Sicht der AfD muss besonders scharf darauf mögliche Reaktivierung von Strecken und auch Neube- geachtet werden, dass in den Hauptverkehrszeiten genü- stellung von Leistungen. Damit schaffen wir neue Mög- gend Verkehrsmittel angeboten werden. In Bussen und lichkeiten, Regionen zu vernetzen und Entwicklungs- Bahnen herrscht oft drangvolle Enge, und das muss sich chancen zu nutzen. Denn schon heute können Sie in deutlich bessern. ganz Deutschland erkennen: Wo Regionen verkehrlich gut angebunden sind, da wachsen sie, da entwickeln sie (Beifall bei der AfD) sich positiv. Und das gilt für das Berliner Umland ge- nauso, wie es für Sachsen, Hessen oder eben auch Bayern Ideologische Scheuklappen darf es keine geben. Wer gilt. Autofahrer auf dem Weg in die Stadt zum Umsteigen bewegen will, muss an den Bahnhöfen mehr Parkplätze (Michael Donth [CDU/CSU]: Baden-Württem- anbieten. berg! – Gegenruf des Abg. Torsten Herbst [FDP]: Nein, Baden-Württemberg ist ausge- (Detlef Müller [Chemnitz] [SPD]: Jetzt geht nommen!) das wieder los! – Matthias Gastel [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Der kann aber auch Deswegen ist diese Maßnahme nicht nur verkehrspoli- mit dem Bus fahren!) tisch richtig; sie ermöglicht auch gute Standort- und Wirt- schaftspolitik. Dieses Park-and-ride-System wird aber von Autogegnern angegriffen, die am liebsten gar keine Parkplätze wollen. (Beifall bei der SPD) Unter dem Strich fahren die Leute aber dann mit dem Auto gleich ganz in die Stadt. Man sollte sich schon über- Als Verkehrspolitiker will ich besonders herausstellen, legen, was man tut. dass der vorliegende Gesetzentwurf zur Erhöhung der Regionalisierungsmittel nicht allein steht. Er reiht sich (Beifall bei der AfD – Detlef Müller [Chem- in eine ökologisch und ökonomisch zukunftsweisende nitz] [SPD]: Es geht aber um Regionalisie- Verkehrspolitik ein, durch die wir die Bahn, übrigens rungsmittel!) nicht nur die DB, als Verkehrsmittel stärken wie noch Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17905

Detlef Müller (Chemnitz) (A) nie zuvor, und zwar sowohl im Fern- und Nahverkehr als Vizepräsidentin Petra Pau: (C) auch im Güterverkehr. Wir stärken die Schieneninfra- Das Wort hat der Kollege Torsten Herbst für die FDP- struktur durch die Leistungs- und Finanzierungsvereinba- Fraktion. rung III mit 86 Milliarden Euro in den kommenden zehn Jahren. Durch das heute beschlossene GVFG fördern wir (Beifall bei der FDP) den kommunalen schienenbezogenen ÖPNV mit zusätz- lich 4,6 Milliarden Euro. Wir machen das Angebot der Torsten Herbst (FDP): Bahn durch die Mehrwertsteuersenkung im Fernverkehr Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und attraktiver. Die Trassenpreise im Schienengüterverkehr Herren! Bei diesem Thema geht es um eine Menge Geld: haben wir halbiert. Und wir schaffen auch die Voraus- 5,2 Milliarden Euro bis 2031 zusätzlich, vor allem für setzungen für den Deutschland-Takt ab 2030. Kurz: Wir einen besseren Schienenpersonennahverkehr. Wir als stehen für die Bahn als wirtschaftlich leistungsfähigen Freie Demokraten finden, dass dieses Geld dort sinnvoll und ökologisch sinnvollen Verkehrsträger der Zukunft. angelegt ist, wo es gelingen kann, zusätzliche Fahrgäste zu gewinnen. Wie stark der Paradigmenwechsel im Bereich Bahn- politik ist, lässt sich an den Regionalisierungsmitteln Ich möchte hinzufügen: Die Schiene hat ihre Stärken, ganz einfach verdeutlichen. Einige der Kollegen hier im aber sie hat auch ihre Schwächen. Die Schiene ist dort Plenum werden sich an die Neuregelung der Regional- stark, wo es gelingt, Nachfrage zu bündeln, wo Fahrzei- isierungsmittel im Jahr 2016 erinnern. Damals wurde hart ten, Takte und Komfort konkurrenzfähig zum Auto sind. um einen Kompromiss gerungen, der eine auskömmliche Aber das trifft längst nicht auf alle Regionen Deutsch- Finanzierung des Schienen-, Wasser- und Nahverkehrs lands zu. Schauen wir uns um: Allein in Deutschland gibt ermöglicht. Es ging um die Verteilung zwischen den Bun- es 55 Mittelstädte mit mehr als 40 000 Einwohnern, die desländern. Am Ende brauchte es sogar den Vermitt- überhaupt keinen Bahnanschluss haben. Die erreicht kein lungsausschuss. Damals war eine Senkung der Regional- Bahnangebot. Es gibt eine Vielzahl von kleinen Gemein- isierungsmittel für einige Länder, vor allem in den, die keinen Bahnanschluss haben. Es gibt eine Viel- Ostdeutschland, ein denkbares Szenario. Das konnten zahl von Gemeinden mit mehreren Ortsteilen, wo es zwar wir abwenden. in einem Ortsteil einen Bahnanschluss gibt, aber die an- deren Ortsteile zum Teil 10 oder 15 Kilometer entfernt Heute sind wir zum Glück deutlich weiter. Allein des- liegen. Das heißt, auch die werden von den zusätzlichen halb ist der vorliegende Gesetzentwurf zu begrüßen. Das Mitteln nicht profitieren. In den ländlichen Regionen gibt hat auch die öffentliche Anhörung des Verkehrsausschus- es ein subventioniertes Angebot, aber seien wir ehrlich: ses zur Erhöhung der Mittel gezeigt. Dort machten alle Es fahren oftmals Busse und Züge, die völlig leer sind. (B) geladenen Sachverständigen deutlich, dass eine Erhö- Das ist weder ökonomisch noch ökologisch. (D) hung des Mittelansatzes richtig ist. Natürlich wurde auch Kritik geübt, Kritik daran, dass ein Teil der erhöhten (Beifall bei der FDP) Regionalisierungsmittel eben nicht der Bestellung von Wir brauchen andere Konzepte und flexible Bedienfor- zusätzlichen Verkehren zugutekommt, sondern in Form men. Es ist traurig, dass das Bundesverkehrsministerium von Trassenentgelten und Stationsgebühren abfließt. Die- bei der Reform des Personenbeförderungsgesetzes in ei- se Kritik kann man teilen, muss man aber nicht. Ich ner Sackgasse steckt und keinen Millimeter vorankommt. möchte an dieser Stelle aber zu bedenken geben, dass die Trassenentgelte dafür genutzt werden, die Infrastruk- Meine Damen und Herren, hier wird der Eindruck tur des Systems Schiene zu erhalten. Wie sich dieses Ver- erweckt: Die 5,2 Milliarden Euro fließen eins zu eins in hältnis nun genau darstellt und regulatorisch unterlegt mehr Verbindungen und bessere Takte. Doch die Wahr- werden soll, werden wir in einer Revision des Eisenbahn- heit ist: Die Hälfte – 49 Prozent, um genau zu sein – geht regulierungsgesetzes klären. Das braucht Zeit, und das direkt wieder an die Infrastrukturgesellschaften des Bun- braucht die Einbeziehung aller Bundesländer, der Ver- des. Das ist de facto eine Finanzspritze an die Deutsche bände, der Bahn usw. Der im Ausschuss vorgelegte Ent- Bahn durch die Hintertür. Dadurch entsteht kein Nutzen schließungsantrag der Koalitionsfraktionen geht genau für die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. darauf ein. (Beifall bei der FDP) Abschließend bleibt zu sagen: Der vorliegende Gesetz- Man lässt sich gerne feiern für das viele Geld. Stellen entwurf schafft die Grundlage für mehr Regionalverkehr Sie sich aber vor, Sie gehen auf einen Geburtstag und auf der Schiene, für Taktverdichtungen und Neubestel- bringen eine große Geburtstagstorte mit, lassen sich dafür lungen von Strecken. Geben wir aber bitte alle gemein- gebührend feiern, aber beim Hinausgehen nehmen Sie die sam darauf acht, dass alle Bundesländer diese Mittel voll- halbe Torte wieder mit. Das ist schon eine halbe Mogel- ständig für den gedachten Zweck ausgeben packung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Heiterkeit und Beifall bei der FDP – Beifall der CDU/CSU) der Abg. Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE und nicht den Spar- oder Rücklagenstrumpf damit füllen. GRÜNEN] und Thomas Lutze [DIE LINKE]) Es gilt: Mehr Verkehr auf die Schiene! Im Übrigen: Das zusätzliche Geld löst nicht alle Pro- Vielen Dank. bleme. Wir hören von ganz vielen Aufgabenträgern, dass sie gerne mehr Leistungen bestellen würden, aber sie be- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) kommen von den Verkehrsgesellschaften gesagt: Wir fin- 17906 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Torsten Herbst (A) den keine Triebfahrzeugführer; wir können nicht mehr und wir endlich zu einer Verbesserung der Situation kom- (C) Angebote machen, obwohl wir gerne fahren würden. – men. Und was noch hinzukommt: Wenn Sie noch viele Kilo- meter vom Bahnhof nach Hause zurückzulegen haben, (Beifall bei der LINKEN) gibt es viel zu wenig Möglichkeiten, flexiblen ÖPNV Dritter Punkt: Wir brauchen irgendwann einmal auch nachfragegetrieben zu organisieren. klare Regeln, wie die Länder diese Gelder ausgeben wer- den. Zwei zufällige, aber aktuelle Beispiele zeigen, dass Meine Damen und Herren, wir müssen über andere manches sehr weit auseinander liegt. Im neuen Koali- Wege nachdenken. Unser Entschließungsantrag enthält tionsvertrag in Thüringen sind zahlreiche Projekte von ein ganz spezielles Angebot. Wir wollen die 5 Milliarden Streckenreaktivierungen aufgelistet. Ich hoffe sehr, dass Euro für eine Trassenpreissenkung im Schienenpersonen- die dortigen Kolleginnen und Kollegen von CDU und nahverkehr nutzen. Dann würden nicht 50 Prozent, son- FDP diesen sinnvollen Projekten zustimmen werden, da- dern 100 Prozent dieser Mittel in bessere Mobilitätsange- mit im thüringischen Landtag eine Mehrheit zustande bote fließen. Wir finden, das ist eigentlich ein kommt. unwiderstehliches Angebot. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der FDP) Bei mir zu Hause im Saarland wird aktuell eine Neben- bahn im Landkreis St. Wendel abgerissen, und dies, ob- Vizepräsidentin Petra Pau: wohl dort konkrete Nachfrage für den Güterverkehr be- Das Wort hat der Kollege Thomas Lutze für die Frak- stand. tion Die Linke. (Kerstin Kassner [DIE LINKE]: Unglaublich!) (Beifall bei der LINKEN) Nebenan auf der brachliegenden sogenannten Hochwaldbahn nach Hermeskeil droht die Umnutzung Thomas Lutze (DIE LINKE): zu einem Radweg. Der Vorschlag, auf dem ehemals zwei- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- gleisigen Bahndamm ein Bahngleis zu erhalten und das legen! Als Erstes begrüßt es die Linksfraktion ausdrück- andere Gleis parallel für den Radweg zu verwenden, wur- lich, dass die Regionalisierungsmittel aufgestockt wer- de abgelehnt. Sorry, aber im selbsternannten „Autoland den. Damit stärken wir die Bemühungen vieler Länder Saarland" würde sich bahnpolitisch auch dann nichts ver- und Verkehrsverbünde, ihr Bahnangebot gerade im Nah- bessern, wenn es deutlich mehr Geld vom Bund gibt. Hier verkehr zu verbessern. müssen unsere Regularien geändert werden. So geht es (B) nicht weiter. (D) (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Wir bedauern aber, dass die Hälfte der zusätzlichen Mittel, also rund 2,6 Milliarden Euro, tatsächlich nicht Langfristig ist zu überlegen, ob die Vergabe der Regio- vor Ort ankommen. Die aktuelle Gesetzeslage bindet nalisierungsmittel des Bundes nicht an strengere Verwen- die Hälfte des Geldes bei der Deutschen Bahn AG, ohne dungsregeln gekoppelt wird. Das sollte der Verkehrsaus- dass eine Verwendung für den Ausbau des Bahnangebo- schuss ergebnisoffen, aber ernsthaft diskutieren. tes sichergestellt werden kann. Wenn Sie das ändern wol- Vielen Dank. len, also dafür sind, dass die 5,2 Milliarden Euro bei den Ländern ankommen, dann müssen Sie einfach nur die (Beifall bei der LINKEN) Gesetzeslage – und dafür sind wir nun einmal zuständig im Deutschen Bundestag – ändern. Wir als Linksfraktion Vizepräsidentin Petra Pau: würden dem zustimmen. Das Wort hat der Kollege Matthias Gastel für die Frak- (Beifall bei der LINKEN) tion Bündnis 90/Die Grünen. Denn – zweitens – worum geht es? Aktuell führen wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) eine intensive Klima- und Umweltschutzdebatte. Die Ur- sachen dafür liegen auf der Hand, und sie sind in diesem Matthias Gastel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Haus, abgesehen von einer Fraktion, unumstritten. Und Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! trotzdem: Bevor man die Nutzung eines Autos ein- Liebe Kollegen! Es ist viel in Bewegung geraten im Mo- schränkt oder verteuert, muss das Angebot im öffentli- bilitätsbereich. Es gibt beispielsweise hehre Ziele, so die chen Verkehr deutlich verbessert werden. Verdoppelung der Fahrgastzahlen bei der Bahn. Es sind zahlreiche Diskussionen, die notwendig sind, in Gang (Beifall bei der LINKEN) gekommen und auch einige konkrete Vorhaben aufs Gleis gesetzt worden, so beispielsweise die Erhöhung der Re- Es ist nicht nur die Milchkanne auf dem Land, die nicht gionalisierungsmittel, um die es gerade geht. Es ist eine angebunden ist. Es sind oft Kreisstädte und Mittelzent- grüne Idee und Forderung gewesen, diese Mittel zu erhö- ren, manchmal sogar die Randlagen von Großstädten, wo hen, damit die Länder mehr Regionalverkehre bestellen es fast unmöglich ist, den öffentlichen Personennahver- können. kehr bzw. die Bahn zu erreichen. Gerade dort wird der Umstieg vom Auto auf die Bahn erschwert. Hier wird Aber was die konkrete Umsetzung angeht, müssen wir wirklich jeder Euro gebraucht, damit sich das ändert erhebliche Mengen an Wasser in den schwarz-roten Wein Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17907

Matthias Gastel (A) gießen. Sie reden von 5 Milliarden Euro. Aber man muss Vizepräsidentin Petra Pau: (C) sehen, dass die Hälfte davon an DB Netz und an DB Sta- Das Wort hat der Abgeordnete Michael Donth für die tion & Service durch die Trassenentgelte und die CDU/CSU-Fraktion. Stationsgebühren geht. Das heißt, diese Gelder stehen eben nicht für Leistungsverbesserungen zur Verfügung. (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist noch nicht einmal klar, was konkret mit dieser Hälfte, die an die Infrastrukturgesellschaften gehen soll, Michael Donth (CDU/CSU): gemacht wird. Wir haben andere und besser geeignete Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Finanzierungsinstrumente für die Infrastruktur, durch 5 247 547 487,45 – nein, das ist nicht meine Kontonum- die das Geld zielgenauer fließen würde. mer. Das ist die exakte Summe, über die wir hier reden, nämlich 5 Milliarden 247 Millionen 547 Tausend 487 Eu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ro und 45 Cent. Das ist das Geld, das wir von heute an bis 2031 mit dem Regionalisierungsgesetz den Bundeslän- dern zusätzlich zur Verfügung stellen. 5,2 Milliarden Eu- Wie gesagt, nur die Hälfte steht zur Verfügung. Aber ro für einen attraktiven, klimafreundlichen öffentlichen immerhin zweieinhalb Milliarden Euro für mehr Verkehr Nahverkehr! auf der Schiene! Da stellt sich die Frage: Worauf sollen eigentlich die zusätzlichen Regionalzüge fahren? Seit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- 1992 ist das deutsche Schienennetz um 20 Prozent zu- ordneten der SPD) rückgebaut worden. Im gleichen Zeitraum sind die Stra- ßen um 40 Prozent ausgebaut worden. Für mehr Züge Wir erhöhen die Kapazitäten und damit Fahrgastzah- sind natürlich Bedarfe und Notwendigkeiten vorhanden; len. Wir finanzieren aber auch eine Ausweitung bestehen- das ist keine Frage. Aber auf einer geschrumpften Infra- der und neuer Linienführungen, um in Städten, vor allem struktur mehr Züge fahren zu lassen, bedeutet auch mehr aber auch im Umland der Städte eine verlässliche Alter- Konflikte und mehr Verspätungen; auch das muss man native zum eigenen Pkw anbieten zu können. Wir ver- sehen. Drei Bundesverkehrsminister von der CSU in Fol- bessern damit gerade auch im ländlichen Raum erheblich ge waren für das deutsche Schienennetz einfach zu viel. die Infrastruktur und machen somit das Leben auf dem Es ist in die Knie gegangen. Es ist am Limit angekom- Land attraktiver. men. Diese enorme Summe steht aber auch für einen Investi- tionshochlauf zugunsten des ÖPNV, wie wir ihn noch nie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gesehen haben. Jetzt zusätzliche 5,2 Milliarden Euro für sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Karl die Länder, dann die vor zwei Wochen unterzeichnete (B) Holmeier [CDU/CSU]: Es ist beste Arbeit ge- LuFV III, mit der in den kommenden zehn Jahren ver- (D) leistet worden!) lässlich 86 Milliarden Euro in das Schienennetz fließen. Die GVFG-Mittel werden mit dem Gesetz, das wir vor Das Schlimmste ist, dass die Versäumnisse nicht kon- zwei Stunden beschlossen haben, auf 2 Milliarden Euro sequent genug aufgeräumt werden. Wenn man sich den pro Jahr bis 2025 erhöht. Damit und mit den Gesetzes- Haushaltsplan 2020 anschaut, dann sieht man bei den vorhaben zur Planungsbeschleunigung morgen unter- Bedarfsplanmitteln für den Aus- und Neubau der Schie- streichen wir unseren Willen zum schnellen Ausbau von nenwege ein Minus von 120 Millionen Euro. Sie kürzen Verkehrsinfrastruktur und zur Verbesserung des öffent- noch beim Aus- und Neubau der Schienenwege. Das ist lichen Nahverkehrs. eine wirkliche Katastrophe. Wenn man sich dann auch Verkehrsminister Andreas Scheuer bringt den ÖPNV noch die Preissteigerungen im Bahnbau vor Augen führt, voran wie kein anderer Minister vor ihm. weiß man: Es wird alles teurer, und im Bedarfsplan steht weniger Geld zur Verfügung. Das ist Ihre Politik, auf die (Beifall bei der CDU/CSU) man hier hinweisen muss. Was wahr ist, muss man auch sagen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Dr. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Du sollst nicht lügen!) Das Fazit ist also: Die Verkehrswende ist dringender Aber wir lehnen uns nicht zurück. Der Folgeeffekt der denn je, um die Mobilität der Menschen nachhaltig zu starken Erhöhung der Regionalisierungsmittel ist ein stär- sichern. Die Koalition steht aber sich selbst mit ihren kerer Anstieg der Trassenentgelte. Das wiederum weckt eigenen Zielen und damit auch der Verkehrswende im die Sorge, dass womöglich durch den Mittelabfluss in die Wege. Statt mehr für Straßen auszugeben, sollten Sie Infrastruktur nicht mehr genug Geld da sein wird, um klare Prioritäten für die Schiene setzen; denn Straßen zusätzliche Verkehre zu bestellen. Aber das deutsche Ei- haben wir genug. In Deutschland ist jedes Haus mit einer senbahnregulierungsrecht ist komplex, wie es der Titel Straße erschlossen, aber längst nicht jede Stadt mit einem schon nahelegt. Es reicht nicht, einfach nur an einer Stell- Schienenweg und mit einer Personenverkehrsanbindung schraube zu drehen. Wir müssen dieses komplexe System auf der Schiene. Wir brauchen jetzt klare Entscheidungen so reformieren, dass sowohl die Infrastruktur als auch das für eine starke Schiene. Ihnen fehlt leider der Mut, diese Angebot der darauf fahrenden Zugleistungen weiter Entscheidungen zu treffen. wachsen können. Wir unterstreichen daher mit unserer Vorlage, dass wir unserem Versprechen aus dem Koali- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tionsvertrag zügig nachkommen und das Eisenbahnregu- 17908 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Michael Donth (A) lierungsrecht anpacken werden. Da erwarten wir – Herr Geld sein – natürlich. Aber am Ende darf man nicht ver- (C) Gastel, das ist in Ihrem Sinne – Ihre Zustimmung. gessen: Das Regionalisierungsgesetz ist die Kirsche auf dem Eis. Das große Geld steckt in der LuFV III und dem Aber eines muss ich auch ganz deutlich sagen: Nur GVFG; das hat mein Kollege Herr Müller gerade ausge- mehr Geld vom Bund wird den Nahverkehr nicht per se führt. verbessern. Jetzt sind die Länder dran, diese deutliche Finanzspritze in spürbare Verbesserungen für die Kund- (Zuruf von der CDU/CSU: Herr Müller von der innen und Kunden des Nahverkehrs zu verwandeln. Ich SPD!) sage das ganz bewusst auch in Richtung meines Heimat- landes Baden-Württemberg, wo die groß angekündigte Fakt ist: Es tut sich gerade ganz schön viel. Das Geld Wende im öffentlichen Nahverkehr derzeit zu viel Frust, für die dringend notwendigen Investitionen steht zum zu kleineren Zügen mit zu wenigen Plätzen und etlichen Abruf bereit. Um einmal die Allianz pro Schiene zu zi- Zugausfällen führt, alles Folgen einer unüberlegten Poli- tieren: „Davon profitieren Millionen Pendler in Deutsch- tik, vor der meine Kollegen schon vor fünf Jahren im land und zudem der Klimaschutz.“ Das sei ein starkes Landtag gewarnt haben. Wir schaffen als Bund mehr Signal. – Ja, es ist ein verdammt starkes Signal, und das Kapazitäten auf der Schiene. Wir verbessern die Infra- darf auch einmal so gesagt werden. struktur und planen einen deutschlandweiten integralen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Taktfahrplan. Wenn aber im Zug schlicht kein Platz mehr ist, um mitzufahren, ist das alles für die Katz, und es Was mit dem Geld konkret passiert, zeigt ein Blick schreckt mögliche neue Kundinnen und Kunden ab. nach NRW. Hier haben wir drei SPNV-Aufgabenträger. Der NWL, der für meine Region zuständig ist, bedient (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 5,6 Millionen Einwohner mit einem Finanzvolumen von neten der SPD und der LINKEN – Christian rund 355 Millionen Euro und einem Schienennetz von Dürr [FDP]: Sehr richtig analysiert!) 1 700 Kilometern; er hat eine sagenhafte jährliche Be- Meine Kolleginnen und Kollegen, die Weiterentwick- triebsbilanz von 34,5 Millionen Zugkilometern. Die Zah- lung des öffentlichen Personenverkehrs liegt meiner len sprechen für sich, und mit dem Regionalisierungsge- Fraktion, liegt unserem Minister, liegt – ich glaube, das setz und dem zusätzlichen Geld werden wir das noch sagen zu dürfen – uns allen sehr am Herzen. Aber sie verstärken. kann nur gelingen, wenn alle über Parteigrenzen hinaus (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Florian zusammenarbeiten. Dazu fordere ich Sie heute ausdrück- Oßner [CDU/CSU]) lich auf. Unterstützen Sie dieses Gesetz; denn mit diesem Gesetz und den Gesetzen, die wir morgen noch beraten Fakt ist aber auch: Nur mit dem Aufwuchs der Mittel (B) und beschließen werden, sind wir auf dem richtigen Weg ist es nicht getan. Deshalb haben wir als Koalitionsfrak- (D) hin zu einem soliden Fundament für einen modernen tionen auch einen Antrag eingebracht, mit dem wir die ÖPNV in Deutschland. Ich bin gespannt, was sich auf Regierung auffordern, sich mit den Ländern zusammen- diesem Fundament aufbauen wird. Ich bitte um Ihre Zu- zusetzen und gemeinsam zu hinterfragen, wie die Mittel stimmung. zielgerichtet eingesetzt werden können. Vielen Dank. Verschweigen darf man auch nicht, dass wir über die grundsätzliche Struktur des Eisenbahnsektors sprechen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- müssen. Die Debatte konzentriert sich manchmal viel ordneten der SPD) zu stark auf die DB. Es geht hier aber um das Funktio- nieren eines Gesamtsystems, bei dem es durchaus Mitbe- Vizepräsidentin Petra Pau: werber gibt. Daher brauchen wir faire Marktbedingun- gen, Rechtssicherheit und Transparenz. Das ist die Das Wort hat die Kollegin Elvan Korkmaz-Emre für Voraussetzung dafür, dass am Ende alle in dieselbe Rich- die SPD-Fraktion. tung laufen. Nichts anderes schreiben uns auch Monopol- (Beifall bei der SPD) kommission, Rechnungshof und Netzagentur ins Haus- aufgabenheft. Elvan Korkmaz-Emre (SPD): Deshalb müssen wir in dieser Legislaturperiode an Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mobilität diese Themen herangehen. In diesem Sinne: Die Rich- ist ein Stück Freiheit. Sie kommt aber nicht, wenn kein tung stimmt. Wir stolpern hier nicht, sondern gehen hier Geld da ist. Mit diesem Gesetz kommt mehr Geld. große Schritte, und dafür ist auch die Zeit. Den Mut für 8,6 Milliarden Euro gibt es jährlich plus jährliche Dyna- die Verkehrswende bringen wir auf. misierung und jetzt 5,2 Milliarden Euro zusätzlich bis 2031 on top. Wir unterstützen damit Länder, ganze Re- Vielen Dank. gionen. Das sind Investitionen in die Daseinsvorsorge, und das ist sozialdemokratische Verkehrspolitik. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Franziska Brantner (Beifall bei der SPD) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie ist besser als der Minister!) Wir lösen damit ein zentrales Versprechen ein, das wir in der Regierung gegeben haben, nämlich die Einleitung der Verkehrswende. Klar haben die Bundesländer recht, Vizepräsidentin Petra Pau: wenn sie sagen, es könnte immer noch ein bisschen mehr Ich schließe die Aussprache. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17909

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Überweisungsvorschlag: (C) desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) des Regionalisierungsgesetzes. Der Ausschuss für Ver- Ausschuss für Inneres und Heimat kehr und digitale Infrastruktur empfiehlt unter Buchsta- Federführung strittig be a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten be- 19/16909, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf schlossen. den Drucksachen 19/15622 und 19/16402 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abge- wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – ordnete Beatrix von Storch für die AfD-Fraktion. Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stim- men der Koalitionsfraktionen und der AfD-Fraktion ge- (Beifall bei der AfD) gen die Stimmen der FDP-Fraktion bei Enthaltung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen ange- nommen. Beatrix von Storch (AfD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Nach Dritte Beratung 13 Jahren übernimmt Deutschland jetzt wieder den EU- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ratsvorsitz. Wir fordern die Bundesregierung in dem ers- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – ten unserer beiden Anträge heute auf: Nutzen Sie diesen Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- Vorsitz, um das Verhältnis zwischen der EU und Israel zu entwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen verbessern. Das ist dringend notwendig. und der AfD-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Frak- Eine Umfrage des MITVIM-Instituts zusammen mit tion bei Enthaltung der Fraktionen Die Linke und Bünd- Ihrer Friedrich-Ebert-Stiftung vom November zeigt: nis 90/Die Grünen angenommen. Nur 27 Prozent der Israelis sehen in der EU einen Freund Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Israels, aber 45 Prozent einen Feind. Die übergroße Drucksache 19/16909 empfiehlt der Ausschuss, eine Ent- Mehrheit hat laut dieser Umfrage mehr Vertrauen in schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss- Trumps Amerika und Putins Russland als in die EU. empfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen und die Das sollte uns zu denken geben. AfD-Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer enthält sich? – Die FDP- (Beifall bei der AfD) Fraktion und die Fraktion Die Linke. Die Beschlussemp- Die einseitig proislamische und antiisraelische Hal- fehlung ist angenommen. (B) tung in der EU-Kommission und im EU-Parlament belas- (D) Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- tet das Verhältnis zu Israel massiv. Das wird an drei ßungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache Punkten besonders deutlich: Die EU weigert sich, die 19/16918. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – islamistische Terrororganisation Hisbollah als Ganzes Die FDP-Fraktion und die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- als Terrororganisation zu listen, die EU fördert die anti- nen. Wer stimmt dagegen? – Die Koalitionsfraktionen. semitische BDS-Bewegung, und die EU diskriminiert Wer enthält sich? – Die AfD-Fraktion und die Fraktion Israel, indem sie Waren aus jüdischen Siedlungen jetzt Die Linke. Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt. besonders kennzeichnet; man könnte auch sagen: sie brandmarkt. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf: Die „Jüdische Allgemeine Zeitung“ schrieb im No- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten vember zu den Antisemitismus-Reden von – Beatrix von Storch, Jürgen Braun, Petr ich darf zitieren –: „Zur Phrase greift, wer nichts Kon- Bystron, weiterer Abgeordneter und der kretes zu sagen hat.“ Fraktion der AfD (Beifall bei der AfD – Marianne Schieder Das Verhältnis zwischen der EU und Is- [SPD]: Damit hat die AfD viel Erfahrung!) rael verbessern Die Bundesregierung beschwört die historische Ver- Drucksache 19/16855 antwortung Deutschlands. Wenn es aber konkret wird, Überweisungsvorschlag: dann knickt sie vor der Islamlobby ein, wie im Fall von Auswärtiger Ausschuss (f) Kuwait Airways, dem Gegenstand unseres zweiten An- Ausschuss für Inneres und Heimat Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe trags heute. Die Antidiskriminierungsstellen nehmen je- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union den Handwerksmeister ins Visier, der bei der Stellenaus- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten schreibung nicht korrekt gendert. Aber eine arabische Roman Johannes Reusch, Tobias Matthias Fluggesellschaft darf israelische Staatsbürger auf deut- Peterka, Marc Bernhard, weiterer Abgeord- schen Flughäfen diskriminieren und die Beförderung ver- neter und der Fraktion der AfD weigern? Stellen Sie sich nur einmal ganz kurz vor, die Lufthansa täte das mit Türken, Syrern oder Irakern. Maßnahmen gegen die Diskriminierung von israelischen Staatsangehörigen Vizepräsidentin Petra Pau: Drucksache 19/16856 Frau von Storch – – 17910 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

(A) Beatrix von Storch (AfD): Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): (C) Nein, vielen Dank. – Wie groß wäre da wohl die Empö- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- rung? ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben gestern in einer sehr anrührenden, emotionalen Gedenkstunde (Beifall bei der AfD) der millionenfachen Opfer des NS-Terrorregimes ge- Bei Israelis aber: das ganz große Schweigen. Das ist meinsam mit dem israelischen Präsidenten gedacht. Wer inakzeptabel, und deshalb steht dazu heute dieser Antrag von uns diese Gedenkstunde auf sich wirken lässt und von uns zur Abstimmung. Beenden Sie diese unerträg- zugleich die Ausstellung im Paul-Löbe-Haus besucht, liche Praxis! spürt: 75 Jahre nach Ende des Holocaust ist unsere Ver- antwortung im Kampf gegen Antisemitismus, Hass und Forderungen, Angriffe auf Israel zu stoppen, werden Rassismus offenkundiger denn je. – Klar wird: Die mitt- von der EU ignoriert, blockiert und im schlimmsten Fall lerweile gewachsene Freundschaft zwischen Deutschland sabotiert. und Israel ist eines der größten Geschenke, die unser Erstens: Hisbollah. Im EU-Ausschuss hat mein Kolle- Land seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs empfangen ge gestern den Außenminister gefragt: hat, Wird die Bundesregierung während ihrer Ratspräsident- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- schaft darauf hinwirken, dass die Hisbollah als Terror- ordneten der SPD und der FDP) organisation eingestuft wird, und zwar als Ganzes? Die Antwort war: Das wird nicht klappen. – Was taugt eine vielleicht sogar das größte Geschenk überhaupt. EU, die nicht einmal bereit ist, eine Terrororganisation als Deshalb hat unser Bundestag in den letzten zwei Jah- solche einzustufen? Was taugt eine EU, die sich willent- ren in etlichen fraktionsübergreifenden Anträgen zu der lich zum Rückzugsraum für Terroristen macht? Wir wol- BDS-Frage Stellung genommen. Wir haben uns klar da- len das nicht. gegen positioniert. Wir haben uns klar in der Hisbollah- (Beifall bei der AfD) Frage positioniert: Aufhebung der Trennung zwischen einem politischen und einem militärischen Arm. Aber Zweitens: BDS. Wir fordern Sie auf, den Bundestags- noch viel weitgehender: Wir haben in einer Antisemitis- beschluss „BDS entschlossen entgegentreten“ auch um- musdebatte sehr klare Positionen mit Blick auf Forde- zusetzen. Die EU-Vertreterin für Außenpolitik hat aus- rungen an die Bundesregierung vertreten und uns klar drücklich erklärt, dass die Zugehörigkeit zur zu „50 Jahre diplomatische Beziehungen mit Israel“ antisemitischen BDS-Bewegung nicht zum Ausschluss und zu „70 Jahre seit der Gründung dieses Staates“ ge- von EU-Geldern führt. Das ist unvereinbar mit dem Be- äußert. Damit haben wir als Parlament Leitplanken ge- (B) schluss dieses Bundestages. Deutsches Steuergeld darf schaffen. Innerhalb dieser Leitplanken sind die beiden (D) nicht an die BDS-Bewegung fließen, auch nicht indirekt Anträge, die hier zur Debatte stehen, bereits aufgehoben. über den EU-Haushalt. Das Thema Hisbollah habe ich bereits angesprochen. (Beifall bei der AfD) Aber genauso sind die Verhandlungen mit Kuwait ein Drittens: die Kennzeichnungspflicht. Zentralratspräsi- Thema für die Bundesregierung. Wir ermutigen auch dent Schuster hat dazu gestern im Innenausschuss noch die Bundesregierung, ihre Luftverkehrsverhandlungen einmal unterstrichen: Die Kennzeichnungspflicht für Wa- mit den kuwaitischen Behörden fortzusetzen. Es ist also ren aus jüdischen Siedlungen ist ein diskriminierender nichts Neues, was wir hier beraten, sondern es ist tägliche Doppelstandard. Sie gilt nämlich nur für Israel und nicht Arbeit der Bundesregierung, und die sollten wir unter- für den Rest der Welt, wo es auch Konflikte gibt. stützen und nicht Anträge, die zu spät kommen. (Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Die aber (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nicht vor dem EuGH verhandelt wurden!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich des- halb aus aktuellem Anlass die verbleibende Redezeit dem Die „Jerusalem Post“ titelte dazu: Während Dschihadis- Nahostfriedensplan widmen. Wir Deutschen stehen ge- ten Israel angreifen, ist die EU damit beschäftigt, Israel zu meinsam mit unseren europäischen Partnern dafür ein, bashen. dass das Existenzrecht Israels sehr klar auch in den Gre- Der islamische Terror und der Islamismus sind die mien der Vereinten Nationen verteidigt wird und dass wir Feinde Deutschlands, Israels und Europas. Der Einfluss alles dafür tun, dass der Friedensprozess, wie ihn die VN- der Islamlobby in der EU muss ein Ende haben. Sicherheitsratsresolution 2334 vertritt – sie ruft zu direk- ten Verhandlungen zwischen Israel und den palästinensi- Vielen Dank. schen Behörden auf –, gestärkt wird. (Beifall bei der AfD) Der Friedensplan, wie wir ihn gestern wahrgenommen haben, hat eine große Schwäche: Er ist nur zwischen Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Israel und den USA verhandelt und sieht vor, dass die Der nächste Redner ist der Kollege Roderich palästinensische Seite ihn akzeptieren muss. Wenn die Kiesewetter, CDU/CSU-Fraktion. Palästinenser ihn nicht akzeptieren, was sie gestern schon angedeutet haben, sind sie in einer sehr schwachen Ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- handlungsposition. Ich glaube, es ist unsere Aufgabe, im ordneten der SPD) Rahmen unserer deutsch-israelischen Beziehungen sehr Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17911

Roderich Kiesewetter (A) stark darauf hinzuwirken, dass dieser Friedensplan nicht glaubwürdige Unterstützung des Friedensprozesses im (C) exklusiv ist, sondern inklusiv, und die palästinensische Nahen und Mittleren Osten zu tun. Seite miteinbezieht. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. [DIE LINKE]) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Es ist legitim und nachvollziehbar – auch aus innen- GRÜNEN) politischen Gründen –, dass hier der Wahlkampf in Israel berücksichtigt wird. Netanjahu möchte am 2. März wie- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: dergewählt werden. Vielen Dank. – Für die FDP hat das Wort der Kollege (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE Alexander Graf Lambsdorff. GRÜNEN]: So ist es!) (Beifall bei der FDP) Es ist auch vor dem Hintergrund nachvollziehbar, dass in diesem Jahr Präsidentschaftswahlen stattfinden. Aber es Alexander Graf Lambsdorff (FDP): ist unsere Aufgabe, dass wir, wenn wir die regelbasierte Vielen Dank. – Herr Präsident! Ich habe mich etwas internationale Ordnung verteidigen, UN-Resolutionen in gewundert, als ich den Antrag zur Europäischen Union den Vordergrund stellen und alles tun, dass die VN-Si- und zu Israel sah und den Urheber, die AfD-Fraktion. Ich cherheitsratsresolution 2334 mit Leben erfüllt wird. habe mich gefragt: Wie sieht es eigentlich mit der Posi- (Beifall bei der CDU/CSU) tion der AfD zur EU und zu Israel aus? – Zur EU steht der Austritt Deutschlands 2024 im Wahlprogramm. Gestern Wenn von uns heute aus dieser Debatte ein Signal aus- Abend – ich war in Brüssel – liegen sich Herr Meuthen gehen soll, dann muss es das Signal sein, dass es inklu- und Herr Farage jubelnd in den Armen, sive Friedensverhandlungen sind, die auch Israel ermög- lichen, gesichtswahrend mit ihrem unmittelbaren (Beatrix von Storch [AfD]: Alles Quatsch!) Nachbarn zu wirken, dass wir für einen demokratischen als das Austrittsabkommen beschlossen worden war. jüdischen Staat arbeiten und dass wir für einen demo- kratischen palästinensischen Staat arbeiten, der auch le- Als die AfD sich überlegen konnte, mit wem sie in bensfähig sein muss. Diese Ziele dürfen wir nicht auf- Europa gemeinsame Sache macht, für wen hat sie sich geben. Denn weder eine Einstaatlösung noch eine entschieden? Für die ID-Fraktion, die Fraktion Identität Lösung zulasten der beiden Gruppen kann die Lösung und Demokratie, geführt von einem Mann von der Lega, von Herrn Salvini. Herr Meuthen ist darin gemeinsam mit (B) sein. Unsere Aufgabe ist es, in der EU-Ratspräsident- (D) schaft und im Weltsicherheitsrat darauf hinzuwirken, dem Generalsekretär vom Rassemblement National – das dass es zu einer echten Friedenslösung im Nahen und ist die Partei von Frau Le Pen – stellvertretender Vor- Mittleren Osten kommt. sitzender. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Meine Damen und Herren, Sie wollen überhaupt keine bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Beziehungen der EU zu irgendjemandem. Sie wollen, GRÜNEN) dass Deutschland aus der EU austritt. Sie wollen die EU zerstören. Sie haben keine Glaubwürdigkeit bezogen Wir sollten deshalb alles tun, um als Bundestag – auch auf Ihren Antrag, zumal Sie auch noch das Europäische im Lichte der Anträge, mit denen wir uns in den vergan- Parlament abschaffen wollen. genen Jahren beschäftigt haben; hier fühlen wir uns be- sonders verantwortlich – das zu tun, was uns Staatspräsi- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD, dent Rivlin ins Stammbuch geschrieben hat: mitzuwirken der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE als Europäer, dass Europa an der Seite Israels steht, dass GRÜNEN) wir für eine gemeinsame Friedenslösung in der Region Und wie sieht es mit Israel aus? Das ist ein Staat, der arbeiten. Wir müssen auch herausstellen, dass der Friede nur existiert, weil es die Shoah gegeben hat, an die hier so Israels durch Raketen der Hisbollah, unterstützt vom würdig erinnert worden ist. Dann haben Sie einen promi- Iran, genauso bedroht ist wie durch den Unfrieden, der nenten Vertreter Ihrer Partei, den Fraktionsvorsitzenden die Palästinenser auseinandertreibt und nicht eint. Wir in Thüringen, Herrn Höcke, der das Mahnmal, mit dem müssen dafür sorgen, dass wir zu einem gemeinsamen an die Shoah erinnert wird, infrage stellt, indem er sagt: Friedensprozess kommen, wie er seinerzeit in Oslo ange- Kein anderes Land würde sich ein solches „Denkmal der regt wurde und wie er immer wieder gefördert wird. Es ist Schande“ in seine Hauptstadt stellen. unsere Aufgabe, daran mitzuwirken. Unsere Aufgabe ist nicht, Wahlkampfabsichten in USA oder Israel zu för- Meine Damen und Herren, Regierungsvertreter Israels dern, sondern die Gesamtaussöhnung ist unsere Aufgabe. wollen mit Ihnen nichts zu tun haben. Sie verweigern Dafür stehen wir. jeden Kontakt! (Dr. Götz Frömming [AfD]: Auf welcher Sei- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD, te?) der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE Deshalb war der gestrige Gedenktag so wichtig: dass GRÜNEN) wir uns daran erinnern, gegen Antisemitismus, gegen Die NS-Herrschaft als „Vogelschiss“ zu bezeichnen, Rassismus und Hass zu stehen und dies auch durch die spricht auch noch für sich. 17912 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Alexander Graf Lambsdorff (A) Schauen wir noch auf das Verhältnis EU-Israel, wie es Ich will mich in der Tat damit auseinandersetzen: Hat (C) sich heute darstellt. Israel ist Teil von Horizon 2020, dem denn die AfD überhaupt das Recht, einen solchen Antrag großen Forschungsförderungsprogramm. Das ist super; zu stellen, oder ist das pure Heuchelei? denn Israel ist wirklich eine Forschungs-, Innovations- und Start-up-Nation. Das finden wir klasse. Israel ist auch (Lachen bei der AfD – Beatrix von Storch Teil von „Erasmus+“, das heißt, junge Leute haben die [AfD]: Jetzt wird es interessant!) Chance auf einen Austausch. Natürlich hat sie formal das Recht. Aber hat sie moralisch das Recht? Es stimmt: Wir sind uns nicht immer einig in allen Fragen. Über die Bewertung des Friedensplans können (Helin [DIE LINKE]: Nein! wir noch diskutieren. Das gilt auch für die Kennzeich- Definitiv nein!) nungspflicht. Ich bin der Meinung, dass das, was die israelische Regierung dazu sagt, einfach falsch ist: Die Das ist doch eine Frage, die wir uns stellen können. Siedlungen sind völkerrechtlich nicht Teil Israels. Also Ja, es ist klar: Es gibt muslimischen Antisemitismus; ist die Kennzeichnungspflicht – das war übrigens seit den gibt es in Deutschland, und den gibt es auch anders- Jahren absehbar – auch nachvollziehbar. wo. Und ja, es gibt muslimisch geprägte Staaten, die die (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD Existenz des Staates Israel leugnen und auch Israel als und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Staat zerstören wollen. Es ist überhaupt keine Frage, dass wir uns damit auseinandersetzen müssen, und selbstver- Die Europäische Kommission hat eine Antisemitis- ständlich ist das zu verurteilen. musbeauftragte – ich glaube, schon länger als die Bun- desregierung. Wenn dann im AfD-Text steht, man würde (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ in Europa bei muslimischem Terror beschwichtigen, DIE GRÜNEN) dann kann ich nur sagen: 2016 hat es im Herzen des Gleichwohl haben wir uns in unserem Land mit dem Europaviertels einen islamistischen Terroranschlag auf rechtsextrem motivierten Antisemitismus auseinanderzu- die U-Bahnstation Maelbeek gegeben. Darunter haben setzen. irrsinnig viele Leute massiv gelitten. Niemandem in Brüssel ist nicht bewusst, dass islamistischer Terrorismus (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- eine Bedrohung für unsere Zivilisation ist. KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN – Widerspruch bei der AfD) Also mit anderen Worten: An Ihrem Antrag stimmt ganz wenig, und das, was im Einzelnen vielleicht richtig In einer bekannten Umfrage von Allensbach aus dem (B) (D) sein mag, leidet darunter, dass Ihre Gesamtglaubwürdig- Juni des Jahres 2018 wurde die Aussage vorgestellt: „Ju- keit schlicht nicht gegeben ist. den haben auf der Welt zu viel Einfluss.“ Dem haben 55 Prozent der AfD-Anhänger zugestimmt. Bei den An- (Dr. [SPD]: Pure Heuche- hängern anderer Parteien waren es zwischen 16 und lei!) 20 Prozent. Am besten für die Europäische Union, am besten für (Dr. Daniela De Ridder [SPD]: So weit zur Israel, am besten für die Beziehungen der Europäischen Wahrheit! – Jan Ralf Nolte [AfD]: Das ist kein Union zu Israel wäre, wenn Sie und Ihresgleichen aus den Argument zu unserem Antrag!) Parlamenten unseres Kontinents wieder verschwinden würden. Das ist immer noch sehr viel; aber es sind trotzdem nicht 55 Prozent. Natürlich sind 16 bis 20 Prozent auch zu viel. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD, Da müssen wir demokratische Parteien uns auch noch der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE mal überlegen, was wir falsch machen. GRÜNEN – Dr. Götz Frömming [AfD]: Das entscheiden zum Glück nicht Sie, Herr Kolle- (Dr. Götz Frömming [AfD]: „Wir demokrati- ge!) sche Parteien“!) Aber 55 Prozent der Anhänger der AfD sind dieser Auf- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: fassung. Die Kollegin Dr. Barbara Hendricks ist die nächste Was haben wir in der letzten Zeit erlebt? Bei einem Rednerin für die SPD-Fraktion. Besuch des ehemaligen KZ Sachsenhausen hat ein Gast (Beifall bei der SPD) von die Existenz von Gaskammern in deut- schen Konzentrations- und Vernichtungslagern geleug- net. Mitglieder der AfD-Landtagsfraktion von Thüringen Dr. Barbara Hendricks (SPD): wollten am vergangenen Montag an einer Kranznieder- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu- legung der Thüringer Landesregierung und des Landta- nächst kann ich mich in der Analyse dem Kollegen ges in der Gedenkstätte Buchenwald teilnehmen. Die Roderich Kiesewetter vollständig anschließen und brau- Leitung der Gedenkstätte hat dies mit der Begründung che das hier nicht zu wiederholen. Auch Ihnen, Graf abgelehnt, die AfD-Fraktion im Thüringer Landtag habe Lambsdorff, danke ich für die deutlichen Worte, die Sie sich nie von den Aussagen ihres Fraktionsvorsitzenden gefunden haben. Björn Höcke distanziert. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17913

Dr. Barbara Hendricks (A) (Nicole Höchst [AfD]: Zum Antrag! – Jan Ralf Übrigens – Graf Lambsdorff sagte es schon –: Die (C) Nolte [AfD]: Ganz schwach, Frau Hendricks! israelische Regierung lehnt jedweden Kontakt zur AfD Sie sagen nichts zum Antrag!) ab. Die Anfang des Jahres geplante Reise einer Delega- tion des brandenburgischen Landtags nach Israel musste Man mag diese Maßnahme kritisch sehen. Aber immer- abgesagt werden, da die AfD-Abgeordneten in Israel hin: Der Leiter der Gedenkstätte verfügt über das Haus- nicht willkommen waren. Das kann man gut verstehen, recht, und er kann in der Tat entscheiden, wen er für nichtadäquate Besucher in der Gedenkstätte hält. Das (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, hat er getan. der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE wenn man die Person des Partei- und Fraktionsvorsitzen- GRÜNEN und des Abg. [CDU/ den in Brandenburg betrachtet. CSU]) Hingegen: AfD-Bundestagsabgeordnete reisten Ende Man darf vielleicht daran erinnern: Höcke forderte November nach Syrien und trafen sich mit Vertretern eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“, er von Diktator Assad. Syrien befindet sich, wie wir wissen, spricht von einem Mahnmal der Schande inmitten der nach wie vor mit Israel im Kriegszustand. Hauptstadt – Graf Lambsdorff erwähnte es schon –, und Der Bundespräsident hat am Mittwoch im Bundestag er bezeichnete die Aufarbeitung der NS-Zeit als „däm- Folgendes gesagt: Wenn wir die deutschen Verbrechen liche Bewältigungspolitik“. gegen Jüdinnen und Juden verharmlosen, verhöhnen wir (Beatrix von Storch [AfD]: Kommen Sie doch die Opfer. – Das Programm der AfD ist nicht antisemi- mit wenigstens einem Wort zum Antrag!) tisch. Er warnt vor einer „kleinen Geldmachtelite“ und bezeich- (Dr. Götz Frömming [AfD]: Aha!) net den Mäzen George Soros als „weltweit fanatischsten Aber die AfD gibt Antisemiten eine politische Heimat. Kämpfer gegen Souveränität und Demokratie“ mit „völ- kerauflösendem, perversen Geist“. So weit Herr Höcke in (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem einigen Äußerungen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- ordneten der CDU/CSU und der FDP – Zuruf (Dr. Daniela De Ridder [SPD]: Pfui Teufel!) der Abg. Beatrix von Storch [AfD]) Gleichzeitig sagt der AfD-Fraktionsvorsitzende Und darum schlussfolgere ich: Der heute vorliegende Gauland, Höcke stehe in der Mitte der Partei, und Herr (B) Antrag ist nicht wirklich ernst gemeint, er ist heuchle- (D) Gauland spricht auch vom Nationalsozialismus als einem risch. Die AfD gibt sich lediglich den Anschein, gegen „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte. den Antisemitismus anzugehen. Ihr Ziel ist es, die Wäh- (Dr. Daniela De Ridder [SPD]: Noch einmal lerinnen und Wähler glauben zu machen, die AfD sei eine pfui! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: bürgerliche Partei. Das sind Sie nicht. Dann will ich nicht wissen, was da rechts ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ in der Partei! – Nicole Höchst [AfD]: Zur Sa- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der che!) CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) Ein antisemitischer Abgeordneter des baden-württem- Die undemokratischen völkischen Kräfte gewinnen bergischen Landtags, der laut Gerichtsbeschluss „Holo- nach und nach die Mehrheit in der AfD, und Antisemiten caustleugner“ genannt werden darf, ist nach wie vor Mit- haben in dieser Partei, wie eben schon ausgeführt, eine glied der AfD. Die Landtagsfraktion hat ihn nicht politische Heimat. Dem werden wir uns entgegenstellen. ausgeschlossen, weil es dafür keine Zweidrittelmehrheit gab, die notwendig gewesen wäre. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE Ein Abgeordneter dieses Hauses schrieb daraufhin an GRÜNEN) einen Verleger in einem 2016 veröffentlichten Brief- wechsel – ich zitiere –: Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Ich möchte weiterhin die heuchlerischen politischen Der nächste Redner: für die Fraktion Die Linke der Instrumentalisierungen des Holocaust kritisieren Kollege Dr. André Hahn. können, ich möchte nicht schweigen müssen, wenn unsere Bundeskanzlerin die Torheit begeht, die Ver- (Beifall bei der LINKEN) teidigung des Staates Israel zur Staatsräson Deutsch- lands zu erklären. Dr. André Hahn (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das war es in den letzten Tagen mehrfach gehört: Es ist wunder- Jongen!) bar, dass es hier bei uns in Deutschland heute wieder viele Das war der Abgeordnete . aktive jüdische Gemeinden gibt. Kaum jemand hätte das nach der Befreiung vom Faschismus für möglich gehal- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sage ich ten. Viele Jüdinnen und Juden hat es erhebliche Über- doch!) windung gekostet, hierher zurückzukehren und in dem 17914 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Dr. André Hahn (A) Land zu leben, von dem der Zweite Weltkrieg ausging, (Dr. Daniela De Ridder [SPD]: Die lernen ja (C) jenem Nazideutschland, das für den Holocaust, für die leider nichts dazu!) Ermordung von Millionen Jüdinnen und Juden verant- Ich will für meine Fraktion Die Linke auch noch mal wortlich war. Für diese Schuld kann und darf es kein eindeutig erklären: Das Existenzrecht Israels darf von Vergessen geben. niemandem zur Disposition gestellt werden. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. NIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Daniela De Ridder [SPD]) Dr. Daniela De Ridder [SPD] und Roderich Kiesewetter [CDU/CSU]) Das ändert nichts daran, dass wir auch sagen: Ja, die Palästinenser haben Anspruch auf einen eigenen Staat. – Auch deshalb haben wir, haben alle Demokraten in Das tun wir auch. Trotzdem ist der erste Satz, den ich in diesem Land eine ganz besondere Verpflichtung: Men- diesem Zusammenhang betont habe, extrem wichtig. schen jüdischen Glaubens in jeglicher Hinsicht zu unter- stützen und zu schützen. Deshalb ist ein gutes, ein freund- Ein letzter Punkt. Unser Bekenntnis zu Schuld und schaftliches Verhältnis zu Israel wichtig – was Kritik an Verantwortung muss auch glaubwürdig sein. Durch mei- politischen Entscheidungen nicht ausschließt. Klar ist: ne parlamentarischen Anfragen der letzten Wochen ist Antisemitismus jeglicher Art müssen wir mit aller Ent- herausgekommen, dass die Gräber von SS-Kriegsverbre- schiedenheit entgegentreten. chern und sogar KZ-Kommandanten von Sachsenhausen, Dachau und Mauthausen über die Kriegsgräberfürsorge (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- bis heute mit Steuergeldern gepflegt und erhalten werden. ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Damit muss endlich Schluss sein! GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Antisemitische Positionen gehören zu den konstituie- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) renden Elementen des Rechtsextremismus. Die AfD lässt seit Jahren nahezu nichts unversucht, rechtsextreme Po- Letzter Satz: Staatliche Förderung verdienen die Opfer sitionen hoffähig zu machen. und nicht die Täter. Daran darf es keinen Zweifel geben – nicht hier im Bundestag und auch nicht in unserer Gesell- (Dr. Götz Frömming [AfD]: Unsinn!) schaft. Angesichts dessen finde ich es schon ziemlich dreist, dass (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- gerade diese Fraktion versucht, sich hier als Anwalt jüdi- ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE scher Menschen oder der Beziehungen Deutschlands zum GRÜNEN) (B) Staat Israel aufzuspielen. (D) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Der Kollege Omid Nouripour hat das Wort für Bünd- GRÜNEN – Beatrix von Storch [AfD]: Sonst nis 90/Die Grünen. tut es keiner! Das ist ja das Traurige! – Nicole (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Höchst [AfD]: Machen Sie das doch!) Ich will darauf verzichten, hier die unsäglichen anti- Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): semitischen Äußerungen von Gedeon, Sayn-Wittgen- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Ver- stein, Höcke, Gauland und Co zu wiederholen. Zur Ver- treter des israelischen Staates ist im Mai letzten Jahres besserung unserer Beziehung zu Israel brauchen wir ganz von den deutschen Medien gefragt worden, warum er, sicher keine Anträge der AfD. wie alle anderen Vertreter des Staates Israel, nicht mit der AfD sprechen möchte. Er hat daran erinnert, dass er (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem wenige Tage zuvor im Konzentrationslager Sachsenhau- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. sen zu Besuch war. Dann sagte er – ich zitiere –: Dr. [FDP]) Ich finde es sehr schwierig, mir irgendeine Art von Eines will ich für meine Fraktion Die Linke aber auch Gespräch mit Elementen vorzustellen, ganz klar sagen: Es reicht nicht aus, sich in Sonntags- reden oder hier im Parlament über ein wieder blühendes (Beatrix von Storch [AfD]: Elemente? Un- jüdisches Leben in Deutschland und enge Verbindungen glaublich!) zu Israel zu freuen, wo viele Jüdinnen und Juden nach die irgendeine Form von Nostalgie für diese Ver- dem Zweiten Weltkrieg eine neue Heimat gefunden ha- gangenheit verspüren. ben. Ich finde, er hat recht. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage von und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Herrn Friedhoff aus der AfD-Fraktion? der SPD und der FDP) Adorno hat gesagt: In rechtsradikalen Bewegungen Dr. André Hahn (DIE LINKE): macht die Propaganda die Substanz der Politik aus. – Nein, gestatte ich nicht. Auch er hat recht. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17915

Omid Nouripour (A) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- den Entlarver selbst als totalitären Moralisten und Idea- (C) SES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. listen hinstellen. – Genau das tun Sie täglich. Ich warte Dr. Daniela De Ridder [SPD]) eigentlich stündlich darauf, dass jemand von Ihnen auf- Ihnen geht es nicht um den Schutz des Staates Israel steht und sagt: Ein links-grün versiffter Steuerberater von oder seiner Bürgerinnen und Bürger, und das wissen auch Herrn Gauland ist schuld. unsere israelischen Freunde, wie wir gerade gehört ha- (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ ben. Ihnen geht es darum, die Erinnerungskultur in die- DIE GRÜNEN – Beifall bei Abgeordneten sem Land zu diffamieren. Das tut aus der Mitte der Partei der SPD und der FDP) heraus Ihr Parteikollege Björn Höcke stellvertretend für viele andere, die ihm zujubeln, und stellvertretend für Wenn der Antisemitismus in Deutschland zunimmt, eine Jugendorganisation, die sich selbst Höcke-Jugend wenn so schreckliche Ereignisse wie in Halle passieren, nennen will. Er diffamiert, indem er das, was wir in dieser dann haben diese Stimmen und diese Rhetorik daran auch Woche so würdig im Hohen Hause getan haben, als einen Anteil. „dämliche Bewältigungspolitik“ bezeichnet. (Dr. Götz Frömming [AfD]: Früher gab es ja Sie sind in einem braunen Sumpf versunken, aus dem auch keinen in Deutschland! 2013!) Sie nicht mehr herauskommen können. Das ist auch der Grund, warum die sogenannten Gemäßigten mittlerweile Und wer so tut, als wäre der Antisemitismus ein rein zunehmend aus Ihrer Fraktion austreten. Sie haben ein importiertes Problem – noch mal: es gibt dieses Problem – Monster geschaffen, das Sie gar nicht stoppen wollen. aus dem Nahen Osten, will nur eines, nämlich seinen eigenen Beitrag zur Wiedererstarkung des Antisemitis- Schauen Sie sich an, was diese Woche zum 75. Jahres- mus in der Mitte unserer Gesellschaft verschleiern. tag der Befreiung von Auschwitz auf Ihrer eigenen Face- book-Seite zu lesen ist – ich zitiere Übles –: „Schluss mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem Gejammer“, „Es reicht“, „Wir haben mit dem Scheiß und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten nichts zu tun“, „Immer dieses Gelaber über die Juden, ich der CDU/CSU und der SPD) kann es nicht mehr hören“, „Den Holocaust gab’s doch Ich kann Ihnen versichern: Alle demokratischen Par- gar nicht.“. teien in diesem Haus werden Ihnen das nicht durchgehen (Beatrix von Storch [AfD]: Irgendwelche ano- lassen. Wir haben eine verdammt große, besondere Ver- nymen Quellen zu zitieren, ist wirklich antwortung gegenüber dem jüdischen Leben in Deutsch- schwach, Herr Kollege! Das ist einfach land und dem Staat Israel. Wir alle werden nicht zulassen, dass Sie die Erinnerungskultur in diesem Land in den (B) schwach! Von irgendeiner Facebook-Seite ir- (D) gendwas zu nehmen, ist einfach schwach! – Dreck ziehen. Ich schwöre Ihnen als deutscher Moslem Dr. Götz Frömming [AfD]: Wahrscheinlich sel- bei meinem Gott, dass wir das nicht zulassen werden. Das ber geschrieben!) sind wir Deutsche den Opfern des Holocausts und allen weiteren Opfern der Nazidiktatur in Deutschland schul- Ich sage Ihnen jetzt – hören Sie bitte einmal zu –: Der dig. Grund, warum Menschen sich trauen, so einen strafbaren, menschenverachtenden, hetzerischen Mist zu schreiben, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ist auch Ihre Art, mit dem Thema umzugehen. bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP – Beatrix von Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Storch [AfD]: Waren wahrscheinlich Ihre Azu- Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention dem bis!) Kollegen Dietmar Friedhoff, AfD-Fraktion.

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Dietmar Friedhoff (AfD): Herr Kollege Nouripour, lassen Sie eine Zwischenfra- Herr Nouripour und auch die Vorredner, was mich ge des Kollegen Friedhoff zu? immer etwas entfremdet,

Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Dr. Daniela De Ridder [SPD]: Entfremdet? Nein, herzlichen Dank. Befremdet!) (Jürgen Braun [AfD]: Mit Argumenten haben ist, dass es meiner Ansicht nach hier in diesem Hohen Sie es ja nicht so!) Hause hin und wieder an Respekt fehlt. Das Resultat von Ihrem „Vogelschiss“, Ihrer Be- (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schwichtigungspolitik ist genau die Rhetorik, die ich ge- DIE GRÜNEN – Gegenruf des Abg. Dr. Bernd rade beschrieben habe. Und dann spielen Sie das Un- Baumann [AfD]: Jetzt hören Sie mal zu!) schuldslamm. Deswegen kann ich mich vor der gestrigen Rede des Ich zitiere noch einmal Adorno: Es ist ein altbewährtes israelischen Präsidenten nur verneigen, die nämlich ge- und bis heute beliebtes Verfahren von rechtsradikalen nau darauf zielte, dass das Wichtigste, was wir Menschen Bewegungen: die Gefahren von rechts verharmlosen, brauchen, Augenhöhe und Respekt sind. 17916 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Dietmar Friedhoff (A) (Dr. [SPD]: Ja, dann haltet euch Herr Kollege Friedhoff, könnten Sie während der Ant- (C) mal dran!) wort stehen bleiben? – Danke schön. – Ja, entspannen Sie sich. – Das fehlt mir hier bei dieser Diskussion. Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege, ich würde mir niemals anmaßen, im (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Namen des Staatspräsidenten eines anderen Landes zu NEN]: Wer hat gesagt: „Wir werden sie ja- sprechen, gen!“? Ist das respektvoll? – Zuruf der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr. [AfD]: Akzeptieren kann NEN]) man ihn!) – Ja, ich nicht. Entspannen Sie sich. erst recht nicht im Namen des Präsidenten Israels. Ich hoffe, dass Sie die gleiche Rede gehört haben wie (Jürgen Braun [AfD]: Pure Tricks, nichts an- ich gestern. Und zwar sagte der israelische Präsident, deres!) dass der Antisemitismus, der gerade stattfindet, nationa- Ich bin einfach nur dankbar, dass wir dieses Geschenk listisch ist, linksextrem ist und muslimisch ist. bekommen haben, dass der Staatspräsident Israels trotz (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Rechts- unserer Geschichte zu uns kommt, trotzdem diese Rede extrem! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: hält, und dann auch noch hier Unvollständig zitiert! – [DIE LIN- (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Genau das gesagt KE]: Stimmt doch gar nicht! – Dr. André Hahn hat!) [DIE LINKE]: Selektive Wahrnehmung! Hat er so nicht gesagt!) auf Hebräisch spricht. Das ist eine Gnade, die wir hof- fentlich alle verdient haben, die uns wirklich nur beschä- – Er hat es hier gesagt. men kann. Das ist eine große Ehre. (Dr. Götz Frömming [AfD], an DIE LINKE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, gewandt: Können Sie nachlesen! – Dr. Daniela bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge- De Ridder [SPD]: Eine debütante Geschichts- ordneten der CDU/CSU und der FDP – Zuruf klitterung! – Zurufe von der LINKEN und dem des Abg. Jürgen Braun [AfD]) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich hatte im Dezember letzten Jahres das Privileg, ge- – Das hat er so gesagt. – Wenn sich der Deutsche Bundes- meinsam mit meinem Parteivorsitzenden und einer klei- tag dieser Diskussion nicht stellt und wir die Wahrheit (B) nen Delegation Herrn Rivlin in seinem Büro zu besuchen. (D) nicht benennen, dann frage ich mich: Wie können wir Wir bekamen einen extrem herzlichen, freundschaftli- eine wahrheitslose, inhaltslose Diskussion, die Sie hier chen und guten Empfang und hatten eine wundervolle ja ständig führen, auf den Punkt bringen? Denn so Diskussion. Ich werde mir sicher nicht anmaßen, daraus schützen wir die israelischen Bürger in Deutschland näm- zu zitieren, aber ich kann Ihnen versichern, dass nicht nur lich nicht. der Staatspräsident Israels aufgrund des Erstarkens Ihrer (Zuruf der Abg. Dr. Daniela De Ridder [SPD]) Partei und auch anderer sinngleicher Parteien in Europa höchst besorgt ist. Wenn es eine Entwicklung gibt, die So liefern wir sie aus. Das ist Ihre Wahrheit, und das kann eine massive Belastung für das europäisch-israelische nicht zu unserer werden. Verhältnis bedeutet, dann sind Sie das. Ich möchte Sie an einer Stelle abholen, weil Sie immer von Einzelschicksalen und Familien sprechen: Mein Opa (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, war im KZ. Er war nämlich Kommunist und hat sich bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der gegen das Naziregime aufgelehnt. LINKEN)

(Dr. Daniela De Ridder [SPD]: Wie konnte so Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: eine Verirrung passieren?) Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist Genau wegen seiner Haltung wurde er eingesperrt. Glau- der Kollege Christian Schmidt, CDU/CSU-Fraktion. ben Sie mir: Meine Familie kann über das Thema reden. – Vielleicht sollten wir uns alle gemeinsam wieder mit (Beifall bei der CDU/CSU) Respekt an einen Tisch setzen. Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Danke schön. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um (Beifall bei der AfD) es noch einmal grundsätzlich zu sagen: Es gibt zwei ent- scheidende Lehren aus dem Holocaust, die wir gestern auch in diesen beeindruckenden Reden von Staatspräsi- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: dent Rivlin und unserem Bundespräsidenten gehört ha- Herr Kollege, wollen Sie darauf antworten? – Bitte ben. schön. Erstens. Es muss einen jüdischen demokratischen Staat (Abg. Dietmar Friedhoff [AfD] nimmt wieder geben, in dem jüdische Menschen leben können. Dieser Platz) Staat muss in der Lage sein, sich zu verteidigen. Es ist in Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17917

Christian Schmidt (Fürth) (A) unserem Interesse – wie die Bundeskanzlerin gesagt hat: vorurteilsfrei herangehen und sagen: Wenn sich daraus (C) unsere Staatsräson –, das Existenzrecht dieses Staates zu etwas machen lässt, dann aber nur mit allen gemeinsam. unterstützen, zu verteidigen und zur Gewährung beizu- tragen. Ich bedanke mich auch im Namen der Kolleginnen und Kollegen – das darf ich sagen – für das, was Staatspräsi- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie dent Rivlin über die Leuchtturmwirkung deutscher Poli- bei Abgeordneten der FDP) tik gesagt hat. Das hat mich beeindruckt. Dahinter steht auch eine Verantwortung, die wir wahrnehmen müssen, Wir müssen in unserem Land und weltweit zu jeder Zeit sei es in Europa oder international bei den Vereinten antisemitischen Einstellungen und Taten entgegentreten. Nationen. Da wird noch einiges zu tun sein. Aber im Dazu sind insbesondere diejenigen aufgerufen, die sich Hinblick auf den völkerrechtlichen Status beispielsweise in Gruppierungen befinden, bei denen die Auseinander- der Westbank und die Unversehrtheit Israels besteht noch setzung damit mangelhaft ist. Jeder Einzelne hat die Regelungsbedarf. Daran arbeiten wir mit, sodass auch die Möglichkeit, sich innerhalb seiner eigenen Struktur und palästinensische Seite die Möglichkeit bekommt, sich in Partei – Kollegin Hendricks hat einige Beispiele und einem eigenen Staat zu verwirklichen. Das richtet sich Zitate von Herrn Höcke genannt, die ich nicht wieder- nicht gegen Israel, sondern soll zum Frieden im Nahen holen oder unterstreichen möchte – klar zu äußern und Osten beitragen. festzulegen und Herrn Gedeon und Herrn Höcke die Pro- paganda gegen Israel, gegen Juden und gegen das deut- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- sche Geschichtsbewusstsein – die Erinnerungsarbeit – zu ordneten der SPD) nehmen. Das findet aber nicht mit solchen Anträgen statt, sondern das findet in einer Diskussion statt, die hart sein Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: mag. Aber unser Ziel muss doch sein, dass wir unsere Ich schließe die Aussprache. Mitbürgerinnen und Mitbürger in der Überzeugung un- terstützen, dass sich dieses Verbrechen, das stattgefunden Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf hat, nie wiederholen darf. Deklamatorische Bekenntnisse Drucksache 19/16855 an die in der Tagesordnung aufge- in Anträgen reichen dazu nicht aus. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Über- weisungsvorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- fahren wir wie vorgeschlagen. neten der SPD und des Abg. Grigorios Aggelidis [FDP]) Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 13 b. Interfrak- tionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache Die anderen Dinge kann man getrost denjenigen über- (B) 19/16856 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- (D) lassen, die sich darum kümmern. Ja, wir sind dankbar, schüsse vorgeschlagen. Allerdings ist die Federführung dass die größte Anzahl junger Israelis in Europa, die in strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wün- Start-ups oder in Forschungseinrichtungen arbeiten, hier schen Federführung beim Ausschuss für Verkehr und in Berlin ist. Darunter gibt es viele, die dazu beitragen, digitale Infrastruktur, die Fraktion der AfD wünscht Fe- dass auch die nächste Generation sagt: Ja, in Deutsch- derführung beim Ausschuss für Recht und Verbraucher- land, mit Deutschland und damit mit Europa ist eine gute schutz. Zusammenarbeit möglich. Wir stimmen zuerst über den Überweisungsvorschlag Dazu gehört auch, dass man, wie ich es getan habe in der Fraktion der AfD ab, also Federführung beim Aus- meiner Zeit als kommissarischer Verkehrsminister, einem schuss für Recht und Verbraucherschutz. Wer ist für die- jungen Mann – er ist Deutscher und Israeli, besitzt beide sen Vorschlag? – Das ist die AfD. Wer ist dagegen? – Das Staatsbürgerschaften, ist hier in Berlin aufgewachsen –, sind CDU/CSU, SPD, Grüne, Linke und FDP, also alle dessen Flugbuchung von Kuwait-Airlines zurückgewie- anderen. Keine Enthaltungen. Der Überweisungsvor- sen wurde, weil er koscheres Essen angefragt hatte, hilft schlag ist abgelehnt. und im Hinblick auf die sogenannte 6. Freiheit des Luft- verkehrs – sie betrifft Transporte woandershin, in diesem Wir stimmen jetzt über den Überweisungsvorschlag Fall ein Flug nach Bangkok oder Singapur, der über Ku- der Fraktionen der CDU/CSU und SPD ab: Federführung wait geht – klarmacht, dass man keine Diskriminierung beim Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur. von israelischen Staatsbürgern duldet. Deshalb müssen Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Das wir auch seitens der Bundesregierung – ich bin dankbar, sind alle Fraktionen mit Ausnahme der AfD. Wer stimmt dass dieser Ansatz fortgesetzt wird – bis hin zur kriti- dagegen? – Das ist die AfD-Fraktion. Damit ist der Über- schen Prüfung von Verkehrsrechten und Landerechten weisungsvorschlag angenommen. von kuwaitischen Airlines in Deutschland gehen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und b sowie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Zusatzpunkt 8 auf: SPD und der FDP) 14 a) – Zweite und dritte Beratung des von den Das findet statt. Fraktionen der CDU/CSU und SPD einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Er- Dazu gehört auch, dass wir – vielen Dank, Roderich richtung der Deutschen Stiftung für Kiesewetter – an den aktuellen Friedensvorschlag – man Engagement und Ehrenamt erwartet eigentlich, dass an so einem Tag alle, die daran beteiligten waren, gleichzeitig am Rednerpult stehen – Drucksache 19/14336 17918 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) – Zweite und dritte Beratung des von der (Beifall bei der SPD) (C) Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung der Deut- Wir schaffen damit erstmals eine bundesweite Anlauf- schen Stiftung für Engagement und Eh- stelle für Engagierte, Bürgerinitiativen, Vereine – kurz- renamt um: für das bürgerschaftliche Engagement in seiner gan- zen Vielfalt. Mit der Deutschen Stiftung für Engagement Drucksachen 19/14977, 19/15660, und Ehrenamt gehen wir einen wichtigen Schritt, um die 19/15933 Nr. 5 Zivilgesellschaft in Deutschland zu stärken und zu unter- stützen. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Ich weiß aus vielen Diskussionen, die wir geführt ha- Frauen und Jugend (13. Ausschuss) ben, dass es auch Bedenken gegenüber der Stiftung gab. Drucksache 19/16916 Aber eines ist ganz klar, und das will ich an dieser Stelle noch einmal versichern: Engagement ist und bleibt frei- – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- willig; es ist getragen von den Kräften der Zivilgesell- schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung schaft. Wir wollen mit der Stiftung nicht das Rad neu Drucksache 19/16917 erfinden oder Dinge tun, die es ohnehin schon gibt; viel- mehr wollen wir auf Vorhandenem aufbauen. Wir wollen b) Beratung der Beschlussempfehlung und des das, was vorhanden ist, stärken und unterstützen. Es geht Berichts des Ausschusses für Familie, darum, Netzwerke aufzubauen, Strukturen gerade dort zu Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss) schaffen und zu unterstützen, wo das Engagement noch zu dem Antrag der Abgeordneten Martin nicht so stark ist, im ländlichen Raum, in strukturschwa- Reichardt, Mariana Iris Harder-Kühnel, chen Regionen. Nicole Höchst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Stärkung des Ehrenamtes – Ausbau der Ehrenamtskarte Diejenigen, die sich seit Langem in diesem Bereich einbringen, die Erfahrung haben, wollen wir einladen, Drucksachen 19/14346, 19/16916 das mitzugestalten. Wir haben im parlamentarischen Ver- ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten fahren darüber eine Diskussion geführt, wir werden sie Grigorios Aggelidis, Katja Suding, Nicole Bauer, auch weiterhin führen. Deshalb haben wir im parlamen- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP tarischen Verfahren die Einrichtung von Fachbeiräten (B) vereinbart. Sie werden die Stiftung gut beraten und vielen (D) Engagement- und Ehrenamts-Check Akteuren aus der Zivilgesellschaft die Möglichkeit ge- Drucksache 19/16654 ben, im Stiftungsgeschäft dabei zu sein. Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU (Beifall bei der SPD) und SPD liegen ein Änderungsantrag der Fraktion der Wir haben im parlamentarischen Verfahren auch die FDP sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion Bünd- Möglichkeit geschaffen – das war eine große Diskus- nis 90/Die Grünen vor. sion –, dass besonders innovative Projekte und Initiativen Über den Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/CSU finanziell gefördert werden können. Wir ermöglichen, und SPD – das ist der Tagesordnungspunkt 14 a – sowie dass innovative Modellprojekte in Deutschland, die weg- über den Antrag der Fraktion der FDP – das ist der Zu- weisend sind, durch die Stiftung auch finanziell unter- satzpunkt 8 – werden wir später namentlich abstimmen. stützt und gefördert werden können. Vielen Dank an die Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten be- Parlamentarier, die das mit eingebracht haben. schlossen. (Beifall bei der SPD) Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt die Bundes- ministerin Frau Dr. Franziska Giffey. Das alles sind gute Voraussetzungen für die Arbeit einer solchen bundesweiten Stiftung, einer Stiftung, die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten denjenigen hilft, die etwas für die Gemeinschaft tun oder der CDU/CSU) tun wollen und dabei auf Hürden stoßen, zum Beispiel Brigitte aus Wiesbaden, die für ein Nachtcafé für einsame Dr. Franziska Giffey, Bundesministerin für Familie, Menschen nicht mehr genügend Freiwillige findet oder Senioren, Frauen und Jugend: Henning aus Cottbus, der nicht weiß, ob er die Mitglie- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und derliste des Vereins digitalisieren darf, der nicht weiß, Herren Abgeordnete! Heute ist der Gesetzentwurf zur wie er neue Mitglieder findet, wie er dafür sorgen kann, Errichtung der Deutschen Stiftung für Engagement und dass im Verein alles gut läuft. Die Stiftung wird somit Ehrenamt in der zweiten und dritten Lesung. Wir freuen Kompetenzzentrum sein, sie wird Service und Know- uns, dass wir an diesem Punkt sind. Es ist ein kleiner how bieten, gerade im Hinblick auf die Digitalisierung, Gesetzestext; der reine Text ohne Begründung umfasst aber auch bei den Themen Nachwuchsgewinnung, Fort- gerade einmal fünf Seiten. Aber diese fünf Seiten sind bildung und der Frage, wie man ehrenamtliches Engage- ein absolutes Novum für das Engagement in unserem ment gut organisieren und wie man vor Ort konkret unter- Land. stützen kann. Wir wollen Engagement nicht verordnen; Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17919

Bundesministerin Dr. Franziska Giffey (A) wir wollen es besser machen, indem wir es unterstützen, Souverän, dem Bürger, und oft auch weg von der Wahr- (C) indem wir erfolgreiche Ideen unterstützen. haftigkeit. Es gibt dafür Beispiele wie die Bundeskulturstiftung. (Beifall bei der AfD – Gitta Connemann [CDU/ Sie ist mittlerweile eine der größten Kulturstiftungen Eu- CSU]: Was hat das jetzt mit Ehrenamt zu tun?) ropas. Damit hat der Bund schon vor Jahren ein ganz Wir kritisierten bereits in der ersten Lesung, dass die klares Zeichen gesetzt: Kultur zu fördern, ist eine Auf- Art der Zusammensetzung der Gremien die Stiftung zum gabe von bundesweiter Bedeutung. verlängerten Arm der jeweiligen Regierung macht. Auch Das wollen wir nun auch mit dem Engagement tun. Es die Änderungsanträge der FDP und der GroKo ändern gibt in Deutschland 30 Millionen Menschen, die sich wenig an dieser Tatsache. Verehrte Kollegen insbesonde- engagieren. Ihr Einsatz verdient unsere Anerkennung. re der zukünftigen spezialdemokratischen Oppositions- Mit der Gründung dieser Stiftung setzen wir genau dieses partei, wollen Sie wirklich einem solchen Konstrukt zu- Signal und zeigen, dass das Engagement von nationaler stimmen? Bedeutung ist. (Ulli Nissen [SPD]: Logisch!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Verehrte Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion, wollen der CDU/CSU) Sie das so wirklich? Ihr Regierungsauftrag ist nicht in Meine Damen und Herren, vor 97 Tagen haben wir Stein gemeißelt. diesen Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht. Ich Wie schnell könnten auch Sie zum Ziel von bundes- möchte mich bei allen bedanken, die daran mitgearbeitet regierlichem Framing und Maßnahmen im Kampf gegen haben, ihn noch besser zu machen. Er ist für die Stiftung freiheitlich-konservative Meinungen und Haltungen wer- ein gutes Fundament. den! Jetzt geht es darum, die Stiftung mit Leben zu füllen. (Timon Gremmels [SPD]: Bei Ihnen fallen mir Ihr Sitz wird in Neustrelitz, in Mecklenburg-Vorpom- noch nicht mal mehr Zwischenrufe ein!) mern, sein, ganz bewusst im Osten Deutschlands. Das ist ein wichtiges Signal an diesen Teil des Landes, in Nicht unwahrscheinlich in Zeiten des aufsteigenden Öko- dem es eben aufgrund der historischen Entwicklung noch sozialismus, planwirtschaftlicher Verbots- und gesell- nicht so viel Engagement gibt. Wir haben dort nicht so schaftlicher Umbaupolitik. starke Strukturen, und es ist gut, diese zu unterstützen; Noch mal: Die geplante Vernetzung und Zentralisie- denn ich bin mir sicher, dass es auch in Ostdeutschland rung mittels Stiftungsgründungen dient nicht dem Ehren- viele Menschen gibt, die Großes bewirken bzw. bewirkt (B) amt, schon gar nicht dem Ehrenamt vor Ort, sondern der (D) haben. Deshalb ist es gut, dass die Stiftung an diesem Ort jeweiligen Bundesregierung und deren Ideen. Letztere ist. könnten im schlimmsten Fall auch eine Haltungsdiktatur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten verfestigen, Andersdenkende medial und beruflich ver- der CDU/CSU) nichten oder ihnen gar die Teilhabe an demokratischen Prozessen absprechen wollen. Das haben zum Beispiel Lassen Sie uns gemeinsam dafür arbeiten, dass die Frau Hendricks und Herr Hahn eben öffentlich vorge- Stiftung gelingt, dass sie das Engagement in Ost und führt, die offensichtlich dem israelischen Staatspräsiden- West, in Nord und Süd und in unserer Mitte weiter stärkt. ten bei der Feierstunde nicht zugehört haben. Ich freue mich, dass es heute so weit ist, dass wir die Stiftung errichten können. (Beifall bei der AfD – Ulli Nissen [SPD]: Das sagt gerade die AfD!) Herzlichen Dank. Eine Stiftung einer Regierung, die derart selektiv wahr- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nimmt und zum Teil der Ideologie von linksunten.indy- der CDU/CSU) media nähersteht als unserem Grundgesetz, lehnen wir ab. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Die Alternative für Deutschland möchte mit ihrem An- Vielen Dank, Frau Bundesministerin. – Für die Frak- trag Ehrenamtliche spürbar wertschätzen. Ehrenamtskar- tion der AfD hat nun das Wort die Kollegin Nicole ten gibt es bereits zum Beispiel in Berlin und Branden- Höchst. burg. (Beifall bei der AfD) (Timon Gremmels [SPD]: Aber nicht wegen der AfD!) Nicole Höchst (AfD): Letztendlich kann nur der Bund die Ehrenamtskarte in die Herr Präsident! Werte Kollegen! Die Gründung einer Fläche bringen. Er kann bundesweit für Vergünstigungen zentralisierenden Stiftung ist nicht die passende Maßnah- bei Mobilität, Konsum und Kultur sorgen und die Ehren- me zur Stärkung des Ehrenamts in strukturschwachen amtskarte zu einer Karte machen, die bedeutsame Ver- und ländlichen Räumen. Wohin zunehmend weltfremder günstigungen bundesweit ermöglicht. und sich selbst legitimierender sozialistischer Zentralis- mus in Europa führt, zeigt uns eindrucksvoll der Steuer- (Timon Gremmels [SPD]: Dazu brauchen wir gelder verschlingende Moloch der EU, nämlich weg vom aber nicht die AfD!) 17920 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Nicole Höchst (A) Unser Vorschlag kann das klassische unpolitische Eh- die von klein nach groß und von unten nach oben fähig (C) renamt in der Wertschätzung weiter stärken. Andere Sig- ist, Probleme zu lösen und sich weiterzuentwickeln. Die nale gehen leider vom Familienministerium aus. Freiwil- Vielfalt der Fähigkeiten, die Solidarität und das Sich-Ein- ligendienste und Bundesfreiwilligendienst mussten bringen machen unsere Gesellschaft so reich und so Kürzungen hinnehmen. menschlich. ( [SPD]: Unwahr!) Genau das sehen wir im Ehrenamt jeden Tag in ganz vielen Initiativen, Vereinen, Verbänden und Organisatio- Letztere gehören zwar nicht originär zum Ehrenamt; die nen vor Ort. Kürzungen sind dennoch ein politisches Signal. Sie zei- gen die Schieflage, dass Ehrenamtstätigkeiten zur politi- (Beifall bei der CDU/CSU) schen Meinungsbildung im Sinne der herrschenden Ideo- logie hohes Ansehen genießen und die klassischen Viele Menschen bringen sich mit ihren Fähigkeiten zu Freiwilligendienste und Ehrenamtstätigkeiten eben nicht. Themen ein, die sie für richtig und wichtig halten und die nicht, wie die AfD meint, von oben vorgegeben wer- (Zuruf von der SPD: Was für eine gedankliche den. Da ist die Spielplatzinitiative. Da ist das Netzwerk Verirrung!) von Freiwilligen. Da sind die Feuerwehrleute, die nachts aufstehen und morgens trotzdem ihre Kinder zur Schule Bestes Beispiel: „Demokratie leben!“ Unter Einfluss- bringen und arbeiten gehen. Da sind die Trainerinnen und nahme der Familienministerin Frau Dr. Giffey wurden Trainer in den Sportvereinen, die die Wochenenden auf die Kürzungen für das stark links schlagseitig meinungs- dem Sportplatz oder in Sporthallen verbringen. Da sind bildende Projekt wieder zurückgenommen; andere blie- Menschen, die sich für die Kleiderbörsen, für Menschen ben hingegen bestehen. So fördert die Regierung sehr vor Ort, für alte Menschen, für Senioren, engagieren. Die deutlich nicht grundsätzlich das Wohl der freiheitlich- Vielfalt des ehrenamtlichen Engagements in unserem demokratischen Gesellschaft, sondern die Durchsetzung Land ist unglaublich. Sie bereichert unsere Gesellschaft. ihres totalitär-toleranten familien- und gesellschaftszers- törenden Weltbildes in allen Bereichen. Das Ehrenamt, vor allen Dingen das Ehrenamt in Ver- einen und Verbänden, von Menschen, die sich über einen (Ulli Nissen [SPD]: So ein Schwachsinn! Das längeren Zeitraum hinweg engagieren, wollen wir mit glauben Sie doch selbst nicht, was Sie da sa- dieser Stiftung stärken. gen!) Meine Damen und Herren, bitte stimmen Sie gegen (Beifall bei der CDU/CSU) eine Verlängerung des Arms der jeweiligen Regierung, Unsere Aufgabe, die Aufgabe des Staates, ist es nämlich, (B) und stimmen Sie für die bundesweite Ehrenamtskarte! die Menschen zu befähigen, sich einzubringen, und die (D) Sorgen Sie in Deutschland wieder für mehr Heimat, Wär- Vielfalt zu stärken und zu unterstützen. Mit der Stiftung me und Vertrauen, damit es allen Menschen in Deutsch- für Ehrenamt und Engagement tun wir genau das. Wir land besser geht! sehen die Stiftung als eine Plattform, die die guten Dinge, Vielen Dank. die es überall in unserem Land gibt, transparent und für andere zugänglich macht. Der eine kann vom anderen (Beifall bei der AfD) lernen. Das Dach ist die Stiftung. Mit der Stiftung wollen wir das, was es noch nicht Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: genügend gibt, weiterentwickeln. Wir wollen Ehrenamt- Das Wort hat als Nächstes die Kollegin Nadine Schön, liche dabei unterstützen, neue Herausforderungen anzu- CDU/CSU-Fraktion. gehen. Die Digitalisierung birgt so viele Chancen für das Ehrenamt. Diese können gemeinsam unter diesem Dach (Beifall bei der CDU/CSU) in der Vielfalt der vielen verschiedenen Initiativen vor Ort entwickelt werden. Wir sehen sie als Treiber, die Nadine Schön (CDU/CSU): Neues auf den Weg bringt. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Grundlage unseres christdemokratischen Es wurde gelegentlich kritisiert, wir würden Doppel- Wertesystems ist die katholische Soziallehre. Sie beruht strukturen schaffen. auf den Prinzipien Personalität, Solidarität, Subsidiarität und Gemeinwohl. (Grigorios Aggelidis [FDP]: Sie schmeißen Geld aus dem Fenster! Noch schlimmer!) (Grigorios Aggelidis [FDP]: Und Wahrheits- Gerade im Gesetz haben wir noch mal herausgestellt, liebe!) dass wir keine Doppelstrukturen schaffen wollen. Wir „Baugesetze der Gesellschaft“ werden diese Prinzipien wollen das, was da ist, für alle zugänglich machen. Wir auch genannt. In kaum einem anderen Bereich kommen wollen das, was fehlt, ergänzen. Wir wollen eine Platt- diese Baugesetze so stark und so konkret zutage wie im form, die die Vielfalt der Ideen, der Möglichkeiten und Ehrenamt. Lösungen abrufbar macht. Wir wollen, dass das, was noch nicht da ist, entwickelt werden kann. In unserem Wertesystem sehen wir den einzelnen Men- schen im Mittelpunkt, als individuelles Wesen mit Frei- Niemand wird behaupten können, dass die Ehrenamt- heit, Verantwortung und ganz individuellen Fähigkeiten. ler heute sagen, dass vor Ort schon alles gut ist, dass sie Dieses Individuum bringt sich in die Gemeinschaft ein, tolle Unterstützung und Hilfe in egal welchem Bereich Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17921

Nadine Schön (A) haben. Da sind neue Herausforderungen wie die Bekämp- eindeutige zentrale Anlaufstelle, eine Ombudsstelle für (C) fung des sexuellen Missbrauchs, der die Vereine, die Eh- das Ehrenamt, um die bisher aufgelaufenen schwachsin- renamtlichen wirklich vor Herausforderungen stellt. Hier nigen Regelungen endlich zu entschärfen. können wir sie nicht alleinlassen. Da ist die Digitalisie- rung, die tolle Chancen für Vereinsmanagement, für Mit- (Beifall bei der FDP – Christian Dürr [FDP]: gliedergewinnung oder für den Umgang mit Regulierung Sehr gut!) bietet. Auch hier kann die Stiftung unterstützen, Neues Wir nehmen das sehr ernst. Genau deswegen lehnen auf den Weg bringen. wir Ihre Form der Ehrenamtsstiftung ab und legen einen Wir wollen mit der Stiftung Vielfalt stärken und nicht eigenen Antrag vor. So wie die Stiftung vorgeschlagen bekämpfen, wie es in der Rede zuvor ausgedrückt worden ist, ist sie vor allem teuer und mehr ein Feld für drei ist. Wir sehen in unserem Wertesystem den einzelnen Ministerien als ein Feld für Engagement. Ihr Vorschlag Menschen mit seinen Ideen, seinen Fähigkeiten und jeder hält die Akteure der Zivilgesellschaft am Gängelband der einzelnen Initiative im Mittelpunkt. Diese Fähigkeiten drei Ministerien; denn diese haben ein Vetorecht und ent- wollen wir allen zugänglich machen. Das soll die Stiftung scheiden alleine darüber, wer dazu darf, wer nicht oder leisten. Deshalb sind wir stolz, dass wir sie heute gemein- wer rausfliegt. Wir wollen im Gegensatz zu Ihnen – des- sam auf den Weg bringen. wegen dieser Antrag –, dass die Zivilgesellschaft stark und unabhängig von den Ministerien agieren kann. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Wir wollen vor allem, dass es eine Ombudsstelle als Grigorios Aggelidis. zentrale Anlaufstelle für notwendige Veränderungen, Er- leichterungen und Verbesserungen in der Gesetzgebung (Beifall bei der FDP) gibt. Ergebnis des Bürokratie-Barometers der Stiftung Aktive Bürgerschaft aus dem Jahr 2019: Von 870 000 Ar- Grigorios Aggelidis (FDP): beitsstunden der Führungskräfte der Stiftung Aktive Bür- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Minis- gerschaft entfielen 460 000, 53 Prozent – oder für die, die terin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe es einfacher brauchen: 32 Minuten einer jeden Stunde –, Kolleginnen und Kollegen! Ehrenamt und Engagement – auf Bürokratieerfüllung. Mehr als zwei Drittel der Vor- das ist der Kitt unserer Gesellschaft, bereichert unser stände sagen: Der Bürokratieaufwand war vor fünf Jah- Land und unser aller Leben. Es sind Millionen Menschen, ren geringer bzw. viel geringer als heute. – Es kann nicht (B) die ihre Zeit opfern, die jungen Menschen Teamgeist und sein, dass die Bundesregierung und der Gesetzgeber diese (D) Sport beibringen, in Gemeinden für und mit Bedürftigen tragende Säule unserer Gesellschaft mit Bürokratie und wertvolle soziale Arbeit leisten, in Blaulichtdiensten wie gesetzlichen Vorschriften abreißen. Wir brauchen endlich Feuerwehr, DRK, THW jeden Tag bereit sind, uns zu einen Ehrenamtscheck, bei dem schädliche Wirkungen schützen und zu retten, und die vielen Hunderttausenden, und Auswirkungen von Gesetzentwürfen für das Ehren- die diese Arbeit durch ihre Vorstandsarbeit erst möglich amt frühzeitig entdeckt und verhindert werden können. machen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Wir brauchen dringend eine konsequente und spürbare Das sind Millionen Menschen, die sich aber auch – oft Kehrtwende bei der bürokratischen Belastung von Ehren- täglich – darüber ärgern, dass sie immer mehr dieser amtlichen; denn das ist Zeit, die dann für das Engagement wertvollen Zeit für Bürokratie wie Dokumentation und selbst fehlt. Deswegen ist es jetzt Zeit, dass wir das än- Steuererklärungen aufbringen müssen, oder durch den dern. Stimmen Sie unseren Anträgen bitte zu. Helfen wir Gesetzgeber, der ihre Probleme nicht sieht, immer mehr dem Ehrenamt. Haftungen aufgeladen bekommen. Wenn Betreuer von Vielen Dank. Jugendfreizeiten ihre Arbeitszeit exakt dokumentieren müssen, wenn der DRK-Vorsitzende eines kleinen Orts- (Beifall bei der FDP) verbandes einen 160 Seiten langen Ratgeber Steuern be- rücksichtigen muss, Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Christian Dürr [FDP]: So ist es!) Die Kollegin Katrin Werner ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke. wenn eine freiwillige Feuerwehr nicht einmal unkompli- ziert Bratwürstchen für die eigene Kasse verkaufen kann, (Beifall bei der LINKEN) dann läuft hier gehörig etwas schief, meine Damen und Herren. Katrin Werner (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und (Beifall bei der FDP) Herren! Wir diskutieren abschließend über den Gesetz- Das muss in Zukunft aufhören. Solche Entwicklungen entwurf zur Errichtung einer Engagementstiftung. müssen wir, das Parlament, verhindern. Und genau des- Eigentlich sagt man: Was lange währt, wird endlich gut. – wegen brauchen wir sowohl einen Ehrenamtscheck, der Es wäre schön, wenn es so wäre. Aber bei diesen Vor- in Zukunft solchen Schwachsinn verhindert, als auch eine lagen stimmt es nicht ganz. 17922 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Katrin Werner (A) Ja, nach der massiven Kritik der zivilgesellschaftlichen (Beifall bei der LINKEN) (C) Organisationen und der Sachverständigen haben CDU/ CSU und SPD einen Änderungsantrag vorgelegt. Ja, die Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Änderungen gingen zum Teil in die richtige Richtung. Die Kollegin Kordula Schulz-Asche hat das Wort für Aber die Grundstruktur der Stiftung wird nicht geändert. Bündnis 90/Die Grünen. Der Einfluss der Zivilgesellschaft in der Stiftung ist im- mer noch viel zu gering. Es wurde gerade erwähnt: Drei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ministerien, die beteiligt sind, behalten ein Vetorecht in allen wichtigen Entscheidungen. Von 19 Sitzen sind 9 für die Zivilgesellschaft im Stiftungsrat vorgesehen. Wir ver- Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- stehen einfach nicht: Wie soll die Breite von Verbänden, NEN): Vereinen und Organisationen vertreten sein? Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man durchs Land fährt, dann begegnet man überall den zahl- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- reichen und bunten Vereinen, Initiativen, Organisationen NIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. des ehrenamtlichen Engagements, Menschen, die sich Grigorios Aggelidis [FDP]) Tag für Tag vor Ort für unsere Gesellschaft und unsere Für uns stellt sich die Frage: Wovor haben Sie eigent- Umwelt einsetzen. Was Engagement angeht, liegt lich Angst? Um die Organisationen stärker einzubinden, Deutschland europaweit über dem Durchschnitt. Darauf soll der Stiftungsrat nun Fachbeiräte berufen können. Das können wir alle stolz sein. Deswegen möchte ich an die- haben Sie erwähnt, Frau Giffey. Sie können beratend tätig ser Stelle allen Engagierten in diesem Land herzlich dan- sein. Das ist aus unserer Sicht viel zu wenig. Es muss eine ken. verbindliche, dauerhafte und umfassende Einbindung der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Zivilgesellschaft in die Stiftung geben und diese muss bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Ab- stärker an den Entscheidungen beteiligt werden. Die Stif- geordneten der LINKEN) tungsstruktur, die Sie jetzt schaffen möchten, zeugt, so finden wir, eher von Misstrauen gegenüber der Zivilge- Frau Merkel hat sich kürzlich mit Engagierten getrof- sellschaft. Das darf einfach nicht sein. fen und ganz plötzlich von dem Zuviel an Bürokratie gehört. Dabei steht schon im Koalitionsvertrag der Auf- (Beifall bei der LINKEN) trag: Bürokratieabbau im Ehrenamt. Nur passiert ist Auch wenn Sie erwähnen, dass nachkorrigiert wurde: bisher nichts. Der Fokus der Stiftung liegt immer noch auf den Service- Wer Engagement erleichtern will, meine Damen und (B) angeboten und auf der Beratung. Der Fokus liegt nicht Herren, darf nicht bei Sonntagsreden bleiben. Deshalb (D) auf der Förderung von vorhandenen Strukturen und Or- begrüßen wir vom Grundsatz her die Einrichtung einer ganisationen. Insofern kann man nachvollziehen, dass es Engagementstiftung, auch mit der großen Fördersumme Ängste gibt, dass Parallelstrukturen geschaffen werden. in Höhe von 30 Millionen Euro. Aber wie so vieles bei Auch diese werden mit dem Änderungsantrag nicht ab- dieser Großen Koalition: Gut gemeint ist noch längst geschafft. Sie schaffen also hauptsächlich eine nicht gut gemacht. Deswegen hagelt es Kritik aus der Beratungsagentur mit 75 Stellen, statt die Expertinnen Zivilgesellschaft. Das haben wir in der Anhörung, im und Experten in eigener Sache direkt zu unterstützen Bundesrat, im Normenkontrollrat usw. usf. gehört. und ihnen unter die Arme zu greifen. Uns ist es besonders wichtig, dass wir eine Stiftung des Zivilgesellschaftliche Strukturen befürchten – das ha- Förderns bekommen, die den Engagierten vor Ort tat- be ich gerade gesagt –, dass sie verdrängt werden, dass es sächlich unter die Arme greift und die Vernetzung vor aber auch Parallelstrukturen gibt. Diesem Vorwurf begeg- Ort fördert. nen Sie damit, dass es eine engere Abstimmung zwischen Ehrenamt- und Engagementstrukturen geben wird, die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sie in das Gesetz schreiben. Wir werden in Zukunft se- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) hen, ob das Problem damit aus dem Weg geräumt werden kann. Befürchtungen sind da. In der Praxis scheitert Engagement doch oft auch an kleineren Sachen: Man kann eine Raummiete nicht be- Die Kritik, die von vielen Seiten und auch in der Anhö- zahlen, man braucht Mittel für einen Beamer. Wir wollen rung geäußert wurde, greifen Sie eher halbherzig auf. Der Engagement erleichtern. Änderungsantrag geht allerdings in die richtige Richtung. Ihm werden wir zustimmen, insgesamt werden wir uns Die CDU/CSU hingegen möchte eine zentrale Service- enthalten. agentur als Sorgentelefon und für sogenannte Vernet- zungsleistungen. Dabei gibt es solche Netzwerke längst. Frau Giffey, von einer „Brücke zur Zivilgesellschaft“, Wir haben in den Kommunen die Freiwilligenagenturen, von der Sie anfänglich gesprochen haben, kann keine wir haben Bürgerstiftungen, wir haben das Bundesnetz- Rede sein. Sie geben den Ministerien mehr Macht als werk Bürgerschaftliches Engagement. Bauen Sie lieber der Zivilgesellschaft. Das finden wir schade. Der Ände- Bürokratie ab, statt eine zentrale Stelle zu schaffen, die rungsantrag der FDP und der Entschließungsantrag der den Weg durch den Bürokratiedschungel erleichtern soll! Grünen gehen in die richtige Richtung, aber beide betei- ligen die Zivilgesellschaft nicht mehr. Das finden wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN leider schade. sowie bei Abgeordneten der FDP) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17923

Kordula Schulz-Asche (A) Und weiter: Eine Engagementstiftung muss die Viel- dort, wo der demografische Wandel schmerzhaft spürbar (C) falt des Engagements abbilden. Aber was machen Sie? ist. Ich muss sagen: Ja, das trifft insbesondere auf Ost- Von 19 Mitgliedern im Stiftungsrat werden nur 9 aus der deutschland zu. Franziska Giffey hat das auch schon aus- Zivilgesellschaft sein. Das ursprünglich geplante Kurato- geführt. Deshalb ist es ein starkes Signal, dass diese Stif- rium wurde jetzt durch Fachbeiräte ersetzt. Statt die Zi- tung ihren Sitz in Neustrelitz haben wird. vilgesellschaft zu stärken und zu fördern, bleiben Sie Ihrem Top-down-Verständnis gegenüber engagierten (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Menschen treu. Abg. Gitta Connemann [CDU/CSU]) Mit dieser landesweiten Stiftung bringt der Bund auch (Beifall des Abg. Grigorios Aggelidis [FDP]) seine Wertschätzung für die verantwortungsvolle Arbeit Wir haben einen Entschließungsantrag mit unseren vieler Engagierter zum Ausdruck. Sie sollen sich vom Vorschlägen für eine selbstbewusste, für eine kritische Staat nicht alleingelassen fühlen. Sie verdienen jede För- Zivilgesellschaft eingebracht. Daher werden wir uns bei derung und Unterstützung; denn viele Ehrenamtliche der Abstimmung zur Stiftung enthalten. kennen die entmutigenden Momente im Kampf gegen die Bürokratie. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Genau hier setzt die Stiftung an. Sie soll engagierte Men- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: schen und Förderprogramme zusammenbringen, ihnen bei der Vernetzung mit bestehenden Engagementstruktu- Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für die SPD-Fraktion ren helfen oder eben auch bei den Hürden im Ehrenamts- hat das Wort die Kollegin Elisabeth Kaiser. alltag – wie der Datenschutz-Grundverordnung oder dem (Beifall bei der SPD) Steuerrecht – beistehen. Zweitens. Der wesentliche Grund für die Notwendig- Elisabeth Kaiser (SPD): keit dieser Stiftung ist, dass sie innovative Ideen zur Stär- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und kung des Gemeinwesens über eine unkomplizierte För- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Deutsch- derung zum Laufen bringen soll. Geben wir doch den land engagieren sich über 20 Millionen Menschen ehren- Menschen, die sich engagieren möchten, denen aber die amtlich, also unentgeltlich, in Initiativen und Verbänden. Mittel fehlen, die Chance, mit ihren Projekten das Zu- Respekt, kann ich da nur sagen, und vor allen Dingen: sammenleben vor Ort zu stärken und so auch andere für Danke! das Engagement zu motivieren! Ich bin sehr froh, dass (B) (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wir die Möglichkeit der direkten Förderung im parlamen- der CDU/CSU) tarischen Verfahren – vor allen Dingen durch die Vehe- menz von – noch in dem Stiftungszweck Denn das, was diese Menschen in ihrer Freizeit machen – verankern konnten. für andere da zu sein: für ihren Ort, die Kultur, die Ju- gend, Senioren, sozial Benachteiligte, unsere Sicherheit (Beifall bei Abgeordneten der SPD) und vor allen Dingen unsere Demokratie –, könnte der Liebe Kolleginnen und Kollegen, bürgerschaftliches Staat so nicht leisten und erst recht nicht ersetzen. Engagement ist sinnstiftend für eine offene, integrative Mit ihrem Engagement zeigen sie allen anderen, dass und partizipative Gemeinschaft. Ich bin überzeugt: Diese jeder etwas tun kann. Oft wächst dann aus einzelnen Ge- Stiftung hat bei guter Umsetzung die Chance, das Ehren- stalterinnern und Gestaltern ein Gemeinsames; ein Wir amt und die guten Strukturen des bürgerschaftlichen En- entsteht. Dieses Wir ist das Fundament des solidarischen gagements in Deutschland zu erhalten und zu stärken. Miteinanders in den Städten und Dörfern, dieses Wir ist Nun muss sie zügig auf die Beine kommen, damit diese der gesellschaftliche Zusammenhalt. Hilfe für die Ehrenamtlichen spürbar und wirksam wird. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Martin Deshalb bitte ich Sie, jetzt den ersten Schritt zu tun und Patzelt [CDU/CSU]) dem Gesetzentwurf zuzustimmen. Problematisch wird es aber in den Orten, wo dieses Vielen Dank. Fundament bröckelt, weil Menschen abgewandert sind, weil keine Zeit neben dem Pendeln oder der Familie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bleibt oder einfach weil es an Nachwuchs fehlt oder an der CDU/CSU) Geld. Diese Sorge bringt mich zum Kern der Debatte, nämlich zu der Frage: Warum braucht es überhaupt eine Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Stiftung für Ehrenamt und Engagement? Der nächste Redner ist der Kollege Martin Patzelt, Insbesondere als ostdeutsche Bundestagsabgeordnete CDU/CSU-Fraktion. möchte ich hier zwei Gründe und zwei wesentliche Punk- (Beifall bei der CDU/CSU) te nennen: Erstens. Die Stiftung soll dort unterstützen, wo die Martin Patzelt (CDU/CSU): ehrenamtlichen Strukturen besonders schwach ausge- Herr Präsident! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen prägt sind, also vor allen Dingen in ländlichen Regionen, und Kollegen! Liebe Gäste in unserem Haus! Die drei 17924 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Martin Patzelt (A) Ministerien, die die Stiftung tragen, fördern das Ehren- Martin Patzelt (CDU/CSU): (C) amt im Jahr mit etwa 1,2 Milliarden Euro. Hier kommt Ja. – Ich werde das gleich weiter klarstellen. doch die Frage auf: Warum müssen wir dann eine Stif- tung haben, und wie groß ist der Betrag von 30 Millionen Grigorios Aggelidis (FDP): Euro im Verhältnis zu dieser Fördersumme? Vielen Dank, Herr Kollege Patzelt, dass Sie die Frage zulassen. – Sie haben hier die 1,3 Milliarden Euro aufge- Aufgrund unserer Erfahrung, dass das Ehrenamt und führt, die die drei Ministerien aufwenden; Sie wollen jetzt das Engagement in Deutschland zwar eine erhebliche mit den 30 Millionen Euro noch einmal 75 Stellen schaf- Förderung erfahren, im Unterausschuss „Bürgerschaftli- fen. Sie sprechen von den Sorgen, die wir immer wieder ches Engagement“ und in unseren Wahlkreisen aber den- hören; ich höre sie übrigens deutlich länger, weil ich aus noch ständig Probleme an uns herangetragen werden, dem Ehrenamt komme. mussten wir die Frage stellen: Woran liegt es eigentlich, dass trotz einer so großzügigen Förderung die Sorgen der Sie haben also die 1,3 Milliarden Euro und die zusätz- Ehrenamtlichen und ihrer Organisationen so groß sind? lichen 30 Millionen Euro genannt. Mich würde interes- sieren – und das ist auch meine Frage –: Wo genau, an Wenn hier gesagt wird, dass wir genug Organisationen welcher Stelle, steht der klare Auftrag zum Bürokratieab- und Netzwerke für bürgerschaftliches Engagement ha- bau, zur Entlastung des Ehrenamtes, zur Verschlankung ben, stellt sich für mich noch einmal die Frage: Wie von Strukturen? Wo genau ist der Auftrag dazu? Wo ist kommt es denn, dass wir diese Sorgen und Probleme bitte die eine Stelle auf Bundesebene – viele dieser Ge- immer wieder vorgetragen bekommen? Es geht dabei setze sind Bundesgesetze –, an die sich das Ehrenamt um Fragen der Gemeinnützigkeit, Fragen des Steuer- konkret wenden und bei der es sich beschweren kann, rechts, Fragen der Versicherung. Wie gehe ich mit För- damit es besser wird? – Danke. deranträgen um? Was ist meine Ansprechadresse? Wie kann ich mich verbinden und in Netzwerken mitarbeiten? Martin Patzelt (CDU/CSU): All diese Fragen haben wir in den letzten Jahren ver- Wir wissen aus unserer Arbeit hier im Parlament – aus mehrt vorgetragen bekommen. Deshalb ist die Idee einer der Gesetzgebung –, dass wir die Bürokratie in Deutsch- kleinen, flexiblen Stiftung, die versucht, genau diese De- land mit jedem neuen Gesetz vermutlich – manchmal ist fizite zu beheben, ein positiver Beitrag der Bundesregie- das auch erwiesen – vermehren, statt dass wir sie ver- rung und unseres Parlamentes, um dort Abhilfe zu schaf- mindern. Wir haben einen Bedarf an Regelungswerken, fen. der sich aus der Praxis unseres Lebens ergibt. Ich vermute, dass die Stiftung genau der Ort sein wird, (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- wo genau diese Barrieren und Hürden aus der Erkenntnis ordneten der SPD) der Dialoge, die dort geführt werden, aufgenommen und Diese Stiftung wird überhaupt kein staatliches Monst- an die Regierung und uns, ans Parlament, herangetragen rum sein. Ich weiß nicht, wer den Entwurf überhaupt werden. gelesen hat. Haben Sie das mal gelesen? Subsidiär, ergän- (Beatrix von Storch [AfD]: Sie vermuten, dass zend, kooperativ, vernetzend – und das mit 30 Millionen „aus der Erkenntnis der Dialoge“! Das sind Euro! Wie man daraus den Eindruck ableiten und hier im Phrasen! Nicht zu fassen!) Parlament verkünden kann, dass das ein Monstrum wäre, verstehe ich nicht. Das ist genau die Funktion der Ombudsstelle, die Sie in Ihrem Antrag fordern. Wir brauchen dazu keinen Om- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und budsmann, sondern wir brauchen die Stiftung, die in ei- der SPD – Beatrix von Storch [AfD]: Peanuts!) nem andauernden und lebhaften Dialog diese Probleme aufnimmt und weitertransportiert. Kollege Aggelidis, Sie wissen aus dem Unterausschuss genau, wo die Sorgen sind. Wir brauchen dafür keine (Grigorios Aggelidis [FDP]: Das steht nicht wissenschaftliche Untersuchung. Diese Stiftung ist kein drin! Das ist nicht Satzungszweck! Das ist Monster, wie es vorgetragen wurde. Sie ist eine kleine, nicht der Stiftungszweck! Das steht da nicht feine und hoffentlich sehr wirksame Stiftung, die genau drin! Das ist gelogen! Das ist nicht Teil des auf die Anfragen, die aus der Praxis kommen werden, Stiftungszwecks! Es kann doch nicht sein, dass reagieren wird. Sie hier so lügen! – Beatrix von Storch [AfD]: „Lebhaften Dialog“! Was für ein Blabla!) (Beatrix von Storch [AfD]: 30 Millionen Euro – Wir müssen uns hier jetzt mal befrieden. sind nicht klein! Wenn man das Geld nicht sel- ber verdienen muss, dann schon!) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Sie wird ein atmendes System sein, und sie wird sich Okay, ich glaube, die Frage ist jetzt ausreichend be- dadurch beweisen, dass sie die Probleme aufgreift. antwortet. – Herr Kollege, fahren Sie fort.

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Martin Patzelt (CDU/CSU): Herr Kollege Patzelt, der Herr Kollege Aggelidis wür- Das hätten wir weiter im Ausschuss diskutieren kön- de gerne eine Zwischenfrage stellen. nen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17925

Martin Patzelt (A) Ich will noch einmal deutlich machen, was meine Vor- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (C) redner schon gesagt haben: dass – das ist die Innovation – in einer subsidiären Weise genau dort ein Ansprechpart- Sie alle werden gebraucht: die Feuerwehrfrau, der Fuß- ner da ist, der in den großen Ministerien und in den balltrainer, der Kirchenvorstand, die Bürgermeisterin, die Bundesverwaltungsämtern so nicht gegeben ist: Face to Hospizinitiative, der Schützenverein, die Theatergruppe. Face, von Mail zu Mail, von Telefon zu Telefon. Und Ohne dieses Ehrenamt geht es nicht, vor allem nicht auf dann gilt es, die guten Gedanken aufzunehmen, die da dem Land. Deshalb wird diese Ehrenamtsstiftung in ge- sind, und in eine Landschaft hineinzubringen, die tatsäch- meinsamer Verantwortung getragen, nicht nur vom BMI lich einen großen Bedarf an Innovationen hat. oder vom BMFSFJ, sondern auch vom Bundesministe- rium für Ernährung und Landwirtschaft. Denn wir wis- (Beatrix von Storch [AfD]: Hören Sie sich sen: Wir brauchen diese Ehrenamtlichen auf dem Land. eigentlich selber zu?) Sie sind kein Ersatz für den Staat, aber sie schenken sich selbst, und deshalb sind sie für uns die stillen Heldinnen Meine Damen und Herren, von der Nachbarschaftshilfe und Helden des Alltags. bis zur Kommunalpolitik haben wir insbesondere dort, wo die Wirklichkeit so ist, dass Menschen weggehen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und einen Bedarf, dass jemand anwaltlich an der Seite der der SPD) Ehrenamtlichen steht. Es wäre ein wirkliches Fehlverhal- ten oder ein Versäumnis, wenn wir diesen Leuten nicht Sie wollen keinen Lohn für ihren Einsatz, es geht ihnen zur Seite stünden. nicht um Geld – Kolleginnen und Kollegen von der AfD, das ist nur Ihre Kategorie –, aber sie wünschen sich An- (Grigorios Aggelidis [FDP]: Das wäre die Auf- erkennung. gabe der Abgeordneten! – Beatrix von Storch [AfD]: Offenbarungseid!) Bei Fragen: Die Kirmes war nicht groß genug? Die Lassen Sie uns diese Stiftung auf den Weg bringen. Sie Vorstellung der Theatergruppe war nicht lustig genug? wird sich beweisen müssen. Ich bin dankbar, dass wir die Der Sportverein ist abgestiegen? Die Kirche ist leer? Anhörung durchgeführt haben und nach der Anhörung Der Ortsvorsteher ist Politiker und macht deswegen so- mit unserem Antrag noch einmal alle die Probleme aus- wieso alles falsch? Dabei müssen sie sich mit Bürokratie zuräumen versucht haben. herumschlagen. Das Finanzamt will eine Bewertung des Sportvereins? Was ist eigentlich die Künstlersozialkasse? Wieso will die GEMA Geld für 300 Zuhörer, obwohl Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: doch nur 100 im Saal saßen? Muss der Landfrauenverein (B) Herr Kollege Patzelt, kommen Sie bitte zum Ende. wirklich ein Stück Torte für das Gesundheitsamt aufbe- (D) wahren? Und, und, und. Wer soll diese Fragen beantwor- Martin Patzelt (CDU/CSU): ten, wer kann das schon alles wissen? Frau Werner, zu Ihnen muss man sagen: Lesen Sie Ohne Frage: Es gibt manche Landkreise, die spezielle doch mal unseren Ergänzungsantrag! Dann werden Sie Ansprechpartner für das Ehrenamt bereithalten. Es gibt sehen, dass wir genau die Probleme, die beanstandet wur- auch Freiwilligenagenturen, die aber nur vernetzen. Es den in der Anhörung, aufgegriffen haben. gibt manche Vereine, die sich an Bundesverbände wen- Leider ist meine Zeit zu Ende. den können, wo es bereits professionelle Strukturen gibt. Diese sind beim Deutschen Roten Kreuz & Co auch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) bestens aufgehoben. Aber es gibt eben auch die vielen kleinen Vereine und Initiativen, die nirgendwo angebun- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: den sind – der Gitarrenchor, der Literaturkreis, die Senio- Vielen Dank, Herr Kollege Patzelt. – Die Kollegin rentanzgruppe –; diese brauchen mehr Hilfe, sie brauchen Gitta Connemann ist die letzte Rednerin zu diesem Ta- Beratung, sie brauchen Service. Das war uns gerade als gesordnungspunkt. Wenn Sie ihr noch die Chance geben, CDU/CSU-Bundestagsfraktion besonders wichtig. ihre Rede ungestört zu Ende zu führen! – Liebe Frau (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Kollegin, Sie haben das Wort. Genau darum geht es bei dieser Stiftung. Sie ist eine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Stiftung für das Ehrenamt, ein Servicezentrum, ein Kom- petenzzentrum mit Beratungsangeboten, mit Informatio- Gitta Connemann (CDU/CSU): nen. Ja, auch das gerade so belächelte Sorgentelefon. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Willst du Aber das ist eben gerade so wichtig, genauso wie die froh und glücklich leben, lass kein Ehrenamt dir geben“, Hilfe bei digitalen Formaten, die Unterstützung bei der heißt es in einem Gedicht. Das klassische Ehrenamt – die Nachwuchsgewinnung etc., übrigens auch bei der Ent- Arbeit im Sportverein, im Gemeinderat, im Posaunen- wicklung von Vorschlägen für den Bürokratieabbau. Die- chor –, wer tut sich das noch an neben Arbeit, Familie se Stiftung soll eine echte Anlaufstelle für jedermann und Haushalt? Die Antwort lautet: Mehr als 30 Millionen werden, schnell Hilfe leisten, und zwar vorneweg den Menschen in diesem Land. In unserem Land engagieren Ehrenamtlichen – damit es am Ende heißt: Willst du froh sich 30 Millionen Menschen ehrenamtlich. Dafür sage und glücklich leben, lass ein Ehrenamt dir geben! ich, auch im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion: Danke schön! Vielen Dank. 17926 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Gitta Connemann (A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Jetzt bitte ich alle, sich zu ihren Plätzen zu begeben. (C) der Abg. [SPD] und Ulli Nissen Wir führen jetzt drei einfache Abstimmungen und an- [SPD]) schließend die zweite namentliche Abstimmung durch.

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Wir stimmen jetzt ab über den Entschließungsantrag Vielen Dank, Frau Kollegin Connemann. – Ich schlie- der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Dieser Entschlie- ße die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. ßungsantrag befindet sich auf Drucksache 19/16927. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Das sind die Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak- Grünen. Wer stimmt dagegen? – AfD, FDP, CDU/CSU tionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Gesetzent- und SPD. Enthaltungen? – Fraktion Die Linke. Damit ist wurf zur Errichtung der Deutschen Stiftung für Engage- der Entschließungsantrag abgelehnt. ment und Ehrenamt. Es liegen mir dazu einige Erklärungen nach § 31 der Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus- Geschäftsordnung vor.1) schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem von der Bundesregierung eingebrachten gleichlau- Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju- tenden Gesetzentwurf. Der Ausschuss für Familie, gend empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp- Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Buchstabe b fehlung auf Drucksache 19/16916, den Gesetzentwurf seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/16916, der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa- 19/14336 in der Ausschussfassung anzunehmen. chen 19/14977 und 19/15660 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Aus- Dazu gibt es einen Änderungsantrag der FDP, den fin- schusses? – Alle Fraktionen des Hauses. Damit ist diese den Sie auf Drucksache 19/16926. Wir stimmen über Beschlussempfehlung angenommen. diesen Änderungsantrag der FDP zuerst ab. Wer stimmt für den Änderungsantrag? – Das ist die FDP-Fraktion, nicht überraschend. Wer stimmt dagegen? – Das sind Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus- AfD, CDU/CSU, SPD. Enthaltungen? – Grüne und Lin- schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu ke. Damit ist der Änderungsantrag der FDP abgelehnt. dem Antrag der Fraktion der AfD mit dem Titel „Stär- kung des Ehrenamtes – Ausbau der Ehrenamtskarte“. Der Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf der Frak- Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschluss- tionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 19/14336 empfehlung auf Drucksache 19/16916, den Antrag der in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Fraktion der AfD auf Drucksache 19/14346 abzulehnen. (B) Handzeichen. – CDU/CSU und SPD. Wer stimmt dage- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind (D) gen? – AfD und FDP. Enthaltungen? – Grüne und Linke. Linke, SPD, Grüne, FDP und die CDU/CSU-Fraktion. Der Gesetzentwurf ist damit in der zweiten Beratung an- Gegenprobe! – Die AfD. Enthaltungen? – Keine. Die genommen. Beschlussempfehlung des Ausschusses ist angenommen. Wir kommen zur Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der dritten Beratung Fraktion der FDP auf Drucksache 19/16654 mit dem Titel und Schlussabstimmung. Wir stimmen über den Gesetz- „Engagement- und Ehrenamts-Check“. Wir stimmen auf entwurf auf Verlangen der Fraktion der AfD namentlich Antrag und Verlangen der Fraktion der FDP über diesen ab. Ich bitte alle Schriftführerinnen und Schriftführer, die Antrag namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen vorgesehenen Plätze einzunehmen. – So, die Plätze an und Schriftführer, wieder ihre vorgesehenen Plätze ein- den Urnen sind besetzt. Ich eröffne die erste namentliche zunehmen. – Sind jetzt alle Plätze an den Urnen besetzt? – Abstimmung, und zwar die Schlussabstimmung über den Das ist der Fall. Ich eröffne die zweite namentliche Ab- Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD stimmung, und zwar geht es um den Antrag der Fraktion auf Drucksache 19/14336. der FDP auf Drucksache 19/16654. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie abge- Liebe Kolleginnen und Kollegen, haben Sie alle abge- stimmt haben, bleiben Sie bitte im Saal; es kommt dann stimmt? Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das nach drei kurzen einfachen Abstimmungen die zweite seine Stimme nicht abgegeben hat? – Ich frage noch mal: namentliche. Möchte sich jemand an der zweiten namentlichen Ab- Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine stimmung beteiligen und hat seine Karte noch nicht ein- Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? Liebe Kollegin- geworfen? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Ab- nen und Kollegen, ist noch jemand anwesend, der noch stimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Ich gebe nicht abgestimmt hat und gerne abstimmen möchte? – 3) Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die erste nament- Ihnen das Ergebnis später bekannt. liche Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Er- Ich bitte jetzt, Platz zu nehmen oder den Saal zu ver- gebnis gebe ich Ihnen später bekannt.2) lassen; ich würde nämlich gerne den nächsten Tagesord- nungspunkt aufrufen.

1) Anlage 3 2) Ergebnis Seite 17929 C 3) Ergebnis Seite 17932 B Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17927

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf: deshalb möglichst vermieden werden können. Ich gebe (C) Ihnen ein Beispiel: Die Bundeswehr will ein besonderes Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Nachtsichtgerät beschaffen. Die Markterkundung der Be- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes schaffungsstelle führt zu dem Ergebnis, dass nur ein zur beschleunigten Beschaffung im Bereich Bieter in der Lage ist, diese spezielle Fähigkeit zu liefern. der Verteidigung und Sicherheit und zur Opti- Wir stellen jetzt klar, dass der Nachweis eines Alleinstel- mierung der Vergabestatistik lungsmerkmals für den Zeitpunkt der Aufforderung zur Drucksachen 19/15603, 19/16342, 19/16578 Abgabe von Angeboten zu erbringen ist. Das gibt Rechts- Nr. 1.8 sicherheit und verhindert auch, dass unterlegene Bieter mit Klagen in der Zwischenzeit in die Lage versetzt wer- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- den, entsprechende Nachfertigungen oder Nachrüstungen ses für Wirtschaft und Energie (9. Ausschuss) vorzunehmen. Drucksache 19/16902 Um das Vergabeverfahren weiter zu beschleunigen, Es ist eine Aussprache von 30 Minuten beschlossen. soll außerdem bei Vorliegen von Verteidigungs- und Si- cherheitsinteressen der Vorabzuschlag erleichtert wer- Ich eröffne die Aussprache. Der erste Redner ist für die den, um langwierige Verzögerungen durch Vergaberügen CDU/CSU-Fraktion der Kollege Peter Bleser. Bitte oder Klagen zu vermeiden. schön. Schließlich sollen auch Direktaufträge erteilt werden (Beifall bei der CDU/CSU) können, wenn besondere Lagen vorliegen. Zum Beispiel, wenn in einem Einsatz Terrorgruppen mit anderen Waf- Peter Bleser (CDU/CSU): fen vorgehen, muss es möglich sein, schnell unsere Trup- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir leben pe mit entsprechenden Schutzeinrichtungen zu versor- seit 75 Jahren in Frieden und Freiheit, und ich gehe davon gen. aus, dass es in diesem Haus niemanden gibt, der nicht Meine Damen und Herren, ich bin sicher, dass wir mit alles dafür tun würde, dass dieser Zustand erhalten bleibt. diesen Maßnahmen in Zukunft schneller und zielgerich- (Enrico Komning [AfD]: Richtig!) teter beschaffen können. Voraussetzung ist aber, dass wir auch in Zukunft eine hohe Aufmerksamkeit auf die Be- Leider hat sich die Sicherheitslage in der Welt und schaffung richten und die Ausschreibungen gut überle- auch in Europa verändert. Wir haben immer noch den gen; denn das ist das A und O. Deswegen müssen wir Ukraine-Konflikt, und unsere osteuropäischen EU- und auch die Beschaffungsstellen entsprechend ausstatten. (B) NATO-Mitglieder sorgen sich um ihre Sicherheit. Die (D) NATO hat darauf schon 2014 reagiert und einen Aktions- Zwölf aktuell laufende Mandate für Auslandseinsätze plan für erhöhte Einsatzbereitschaft beschlossen. Da geht der Bundeswehr haben wir hier in diesem Haus beschlos- es um 5 000 Soldaten, die zu der Speerspitze gehören, die sen. Uns liegt daran, dass unsere Soldatinnen und Sicher- innerhalb von 48 bis 72 Stunden an jedem Ort sein muss. heitskräfte mit der bestmöglichen Ausrüstung in die Ein- sätze geschickt werden können; denn wir tragen hier die Meine Damen und Herren, für diese Fälle sind unsere Verantwortung für Leib und Leben unserer Soldatinnen bisherigen und heutigen Beschaffungswege zu lang. Des- und Soldaten und Polizistinnen und Polizisten. Dafür ist wegen brauchen wir die Möglichkeit, rechtssicher die vorgesehene Änderung des GWB und der VSVgV schneller zu beschaffen sowie die nationalen Sicherheits- notwendig. interessen und besondere Fähigkeiten unserer Sicher- heitsindustrie zu schützen. Wir haben das auch im Koa- Ich komme an den Anfang meiner Rede zurück. Den litionsvertrag schon vereinbart, und wir werden jetzt das Frieden zu sichern, muss auch in Zukunft unser wichtigs- Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen und die Ver- tes Ziel bleiben. Deswegen bitte ich Sie, dem Gesetzent- gabeverordnung Verteidigung und Sicherheit entspre- wurf zuzustimmen. chend ändern. Die anstehenden Gesetzesänderungen sind (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ausdrücklich nach Artikel 346 des EU-Vertrages erlaubt. ordneten der SPD) Wir definieren in Zukunft rechtssicher, unter welchen Voraussetzungen auf eine langwierige EU-weite Aus- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: schreibung verzichtet werden kann. Erstens wird das zu- Vielen Dank, lieber Kollege Bleser. – Der Kollege treffen bei Schlüsseltechnologien oder Leistungen für Rüdiger Lucassen hat das Wort für die AfD-Fraktion. den Grenzschutz, der Bekämpfung von Terrorismus, der organisierten Kriminalität und bei verdeckten Tätigkeiten (Beifall bei der AfD) von Polizei und Sicherheitskräften, bei Verschlüsselun- gen und dort, wo ein hohes Maß an Vertraulichkeit erfor- Rüdiger Lucassen (AfD): derlich ist. Zweitens wird ein Verzicht auf EU-weite Aus- Herr Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Meine schreibungen bei einer Krise, bei einem mandatierten Fraktion wird diesem Gesetzentwurf zustimmen, und Einsatz der Bundeswehr, einer einsatzgleichen Verpflich- das im Wesentlichen aus zwei Gründen. tung und einer Bündnisverpflichtung möglich sein. Erstens. Die AfD unterstützt jede noch so kleine Maß- Vergaberügen oder Klagen von unterlegenen Bietern nahme, die Deutschlands nationale Souveränität gegen verzögern ebenfalls die Beschaffung erheblich. Sie sollen die irrsinnige EU-Gleichschaltungspolitik verteidigt. 17928 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Rüdiger Lucassen (A) (Beifall bei der AfD) Zweitens. Wenn die Bundesregierung die Einsatzbereit- (C) schaft der Bundeswehr nicht zur Chefsache macht, wird In diesem Fall geht es um das Recht jedes Staates, die auch dieser Entwurf nichts helfen. Die Erfahrung lässt Schlüsseltechnologien seiner Streitkräfte im eigenen wenig Hoffnung. Land zu entwickeln, zu schützen und zu kaufen. Danke schön. Zweitens. Die AfD unterstützt jede noch so kleine Maßnahme, die die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr (Beifall bei der AfD) erhöhen kann. Der Wehrbeauftragte hat vorgestern zum sechsten Mal in Folge dokumentiert, wie nötig das ist. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung will Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Frank Deutschland das Recht zurückgeben, einen Rüstungsbe- Junge. darf nicht unbedingt EU-weit ausschreiben zu müssen. Das ist gut. Frankreich, Spanien, Italien und fast jedes (Beifall bei der SPD) andere EU-Mitglied machen das seit Jahren so – nur Deutschland bisher nicht. Frank Junge (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mei- Die Bundesregierung begründet diese Spätzündung ne sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte zu- mit der veränderten sicherheitspolitischen Lage und der nächst einmal allen Frauen und Männern, die auf den Notwendigkeit – ich zitiere –, „kurzfristig und effektiv“ unterschiedlichsten Ebenen aller Sicherheitskräfte unse- Waffensysteme beschaffen zu können. Die Bundesregie- res Landes für die Menschen in unserem Land Dienst tun, rung stellt in ihrem Entwurf also fest: Effektivität und EU ausdrücklich Dank sagen. schließen sich aus. Schnelligkeit und EU schließen sich aus. Einsatzbereite Streitkräfte und EU schließen sich (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ aus. – Allein für diese Klarstellung bekommen Sie unsere CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Zustimmung. NEN) Sie tun das aus Überzeugung und mit vollem Engage- (Beifall bei der AfD) ment, obwohl – das sage ich offen und selbstkritisch – Meine Damen und Herren, seit sechs Jahren versucht Ausrüstung und Ausstattung vor allem unserer Streitkräf- die Regierung, das Beschaffungswesen der Bundeswehr te mangelhaft zu reformieren. Den Erfolg dieser Bemühungen entneh- men Sie ebenfalls dem Bericht des Wehrbeauftragten. (Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: (B) Warum aber kommt die Bundesregierung erst jetzt da- Da soll die SPD mal was machen!) (D) rauf, die zulässige Ausnahmeregelung vom EU-Recht und unter diesem Gesichtspunkt nicht mehr zeitgemäß anzuwenden? Zwei Möglichkeiten: Entweder war die sind. Der Wehrbeauftragte hat das deutlich gemacht. Regierung zu blöd – das möchte ich nicht unterstellen –, Ich sage aber auch ganz klar, dass die Bundeswehr kein oder aber sie wollte es nicht umsetzen. Davon bin ich finanzielles Problem hat. Es ist klargemacht worden, dass überzeugt; denn Deutschland gilt seit 25 Jahren als der Streber im Umsetzen von EU-Recht, während andere im letzten Jahr 1,1 Milliarden Euro für die Beschaffung von Rüstungsgütern gar nicht ausgegeben, Staaten ihre nationalen Rechte selbstverständlich nutzen. (Tobias Pflüger [DIE LINKE]: So ist es! Aber (Beifall bei der AfD) trotzdem mehr! Unglaublich!) Der Gesetzentwurf ist nur ein kleiner Schritt auf dem sondern anderweitig verwendet worden sind. Unter die- Weg zur Wiederaufrichtung der Bundeswehr. Die Regie- sem Gesichtspunkt wird klar, dass wir ein Management- rung muss als Nächstes eine weit gefasste Liste mit deut- problem haben. Da sehe ich ganz besonders das Verteidi- schen Schlüsseltechnologien erarbeiten. Auf diese Liste gungsministerium in der Pflicht, Herr Staatssekretär gehört zum Beispiel auch der Bau von Überwasserkriegs- Tauber. Die Fehler in diesem Management müssen besei- schiffen. Dann wäre der Auftrag zum Bau der neuen tigt werden, damit unter diesen Gesichtspunkten die Res- Fregatten MKS 180 nicht nach Holland, sondern nach sourcen, die wir bereitstellen, am Ende auch dort ankom- Bremen, Hamburg oder Kiel gegangen. men, wo sie hingehören. Die Bundesregierung sollte das Recht auf nationale (Beifall bei der SPD) Vergabe auch auf den Bereich „Sicherung kritischer Inf- Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Optimierung rastruktur“ anwenden. Cyberkampf und hybride Kriegs- der Vergabestatistik und zum beschleunigten Verfahren führung machen den Schutz von E-Werken, Wasserwer- im Bereich der Verteidigung und Sicherheit – darauf ken und Krankenhäusern zum wesentlichen möchte ich vor allem eingehen – werden wir das Mate- Sicherheitsinteresse Deutschlands. rialproblem der Bundeswehr nicht lösen. Wir werden mit Zusammenfassend: Erstens. Die Bundesregierung diesen Änderungen aber dennoch dafür sorgen, dass in stellt in ihrem Entwurf verschämt fest, dass die Kern- Situationen, in denen Gefahr in Verzug ist, in denen es bereiche staatlicher Sicherheit nicht nach Brüssel, son- explizit um die Sicherheit des Landes und die Sicherheit dern hier nach Berlin gehören. der Soldatinnen und Soldaten geht, künftig schneller aus- geschrieben, schneller produziert und schneller bereitge- (Beifall bei der AfD) stellt werden kann als bisher. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17929

Frank Junge (A) Gegenwärtig – das wissen Sie; ich will es aber einmal Ich bin froh, dass wir endlich dazu gekommen sind, ein (C) für die sagen, die sich mit diesem Thema nicht so aus- weiteres Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag umzuset- kennen – ist das Erreichen von finanziellen zen. Nach meinem Dafürhalten hätte das Gesetz schon Schwellenwerten bei öffentlichen Vergaben dafür aus- ein Stück weit früher kommen können, Herr Staatssekre- schlaggebend, ob europaweit ausgeschrieben werden soll tär Hirte. Jetzt haben wir es, und ich bitte Sie herzlich um oder nicht. Im Sicherheits- und Verteidigungsbereich Zustimmung. liegt diese Schwelle bei 443 000 Euro netto. Wie schnell die erreicht wird, ist allen klar. Deshalb ist es an dieser Stelle notwendig, auch mit solchen kleinen Schritten die (Beifall bei der SPD) nationalen Gestaltungsmöglichkeiten, die wir haben, ein- fach zu nutzen und auszuüben. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Wir tun das heute. Wir werden also Ausnahmetatbe- Vielen Dank, Herr Kollege. – Bevor der nächste Red- stände – zum Beispiel den mandatierten Bundeswehrein- ner zum Zuge kommt, lese ich Ihnen gerade das Ergebnis satz, die friedenssichernde Maßnahme oder auch die Ab- der namentlichen Abstimmungen vor, das die Schrift- wehr von terroristischen Angriffen – einbeziehen und die führerinnen und Schriftführer ermittelt haben. Großschadenslage berücksichtigen. Wir werden durch diese Ausnahmetatbestände dazu kommen, dass wir schneller ausschreiben können als bisher und von europa- Ich komme zunächst zum Ergebnis der Schlussabstim- weiten Ausschreibungen Abstand nehmen können. Das mung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/ wird in Konsequenz bedeuten, dass dadurch vor allem CSU und SPD zur Errichtung der Deutschen Stiftung für unsere Soldatinnen und Soldaten, die Tag für Tag buch- Engagement und Ehrenamt. Bei dieser Abstimmung wur- stäblich den Kopf für unsere Sicherheit hinhalten, für ihre den 635 Stimmkarten abgegeben. Mit Ja haben gestimmt Einsätze und Aufgaben viel besser ausgerüstet sein wer- 352, mit Nein 156, 127 Enthaltungen. Damit ist der Ge- den als bisher. setzentwurf angenommen.

Endgültiges Ergebnis Gitta Connemann Abgegebene Stimmen: 636; Carsten Körber davon Jürgen Hardt Alexander Krauß ja: 352 Michael Donth nein: 157 Marie-Luise Dött Dr. Günter Krings enthalten: 127 (B) Hansjörg Durz Dr. Rüdiger Kruse (D) Thomas Erndl Michael Kuffer Ja Hermann Färber Dr. Roy Kühne CDU/CSU (Chemnitz) Dr. Dr. h. c. Karl A. Lamers Enak Ferlemann Mark Helfrich Andreas G. Lämmel Norbert Maria Altenkamp Axel E. Fischer (Karlsruhe- Land) Peter Altmaier Ulrich Lange Dr. Philipp Amthor Thorsten Frei Paul Lehrieder Dr. Dr. Dorothee Bär Dr. Heribert Hirte Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. Andreas Lenz Alexander Hoffmann (Hof) Dr. Carsten Linnemann (Börde) Hans-Joachim Fuchtel Ingo Gädechens Nikolas Löbel Dr. André Berghegger Dr. Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Torbjörn Kartes Ursula Groden-Kranich Hermann Gröhe Dr. Stefan Kaufmann Peter Bleser Klaus-Dieter Gröhler Dr. Thomas de Maizière Michael Grosse-Brömer Michael Brand (Fulda) Astrid Grotelüschen Roderich Kiesewetter Dr. Dr. Markus Grübel Michael Kießling Dr. Hans-Georg von der Monika Grütters Marwitz Ralph Brinkhaus Fritz Güntzler Dr. Dr. 17930 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

(A) Dr. Lars Castellucci Dr. (C) Dr. Mathias Middelberg (Rostock) Dr. Daniela De Ridder Karsten Möring Dr. Christian Frhr. von Stetten Esther Dilcher Axel Müller Siemtje Möller Dr. Gerd Müller Dr. Detlef Müller (Chemnitz) Sepp Müller Michelle Müntefering Carsten Müller Dr. Rolf Mützenich (Braunschweig) Dr. Dr. Stefan Müller (Erlangen) Dr. Hermann-Josef Tebroke Dr. Ulli Nissen Petra Nicolaisen Hans-Jürgen Thies Dr. Edgar Franke Dr. Georg Nüßlein Antje Tillmann Mahmut Özdemir (Duisburg) Florian Oßner Dr. Volker Ullrich Aydan Özoğuz Angelika Glöckner Henning Otte Timon Gremmels Michael Groß Sabine Poschmann Martin Patzelt Christoph de Vries Uli Grötsch Dr. Joachim Pfeiffer (Minden) Dr. Johann David Wadephul Rita Hagl-Kehl Dr. Dr. Christoph Ploß Sönke Rix Albert H. Weiler Hubertus Heil (Peine) Dr. Alois Rainer Dr. René Röspel Dr. Peter Weiß (Emmendingen) Dr. Susann Rüthrich (B) Sabine Weiss (Wesel I) (D) Dr. Barbara Hendricks Bernd Rützel Dr. Norbert Röttgen Marian Wendt Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Johann Saathoff Erwin Rüddel Bettina Margarethe Thomas Hitschler Dr. Wiesmann Dr. Eva Högl Marianne Schieder Klaus-Peter Willsch Frank Junge Dr. Wolfgang Schäuble Elisabeth Winkelmeier- Dr. Andreas Scheuer Becker Johannes Kahrs (Aachen) Christian Schmidt (Fürth) Elisabeth Kaiser (Wetzlar) Dr. Dr. Carsten Schneider (Erfurt) Nadine Schön SPD Cansel Kiziltepe Dr. Klaus-Peter Schulze Ingrid Arndt-Brauer Dr. Bärbel Kofler (Weil am (Spandau) Rhein) Elvan Korkmaz-Emre Dr. Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Sören Bartol Christian Lange (Backnang) Rainer Spiering Bärbel Bas Dr. Svenja Stadler Björn Simon Lothar Binding Helge Lindh Martina Stamm-Fibich (Heidelberg) Kirsten Lühmann Sonja Amalie Steffen Dr. Isabel Mackensen Dr. Karl-Heinz Brunner Katja Mast Dr. Martin Burkert Markus Töns Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17931

(A) Carsten Träger Dr. Marc Jongen Daniel Föst Stephan Thomae (C) Ute Vogt Otto Fricke Marja-Liisa Völlers Dr. Florian Toncar Dirk Vöpel Jörn König Peter Heidt Dr. Dr. Joe Weingarten Steffen Kotré Katrin Helling-Plahr Bernd Westphal Dr. Rainer Kraft Johannes Vogel (Olpe) Gülistan Yüksel Rüdiger Lucassen Torsten Herbst Dr. Dr. Katharina Willkomm Dr. Jens Zimmermann Dr. Birgit Malsack- Manuel Höferlin Winkemann Dr. Christoph Hoffmann Fraktionslos Nein Corinna Miazga Reinhard Houben CDU/CSU Volker Münz Sylvia Pantel Sebastian Münzenmaier Johannes Selle Dr. Enthalten Jan Ralf Nolte CDU/CSU AfD Dr. Dr. Tobias Matthias Peterka Daniela Kluckert Dr. Bernd Baumann Paul Viktor Podolay Johannes Röring Jürgen Pohl Dr. Lukas Köhler Peter Boehringer Anita Schäfer (Saalstadt) Stephan Brandner Jürgen Braun Martin Reichardt Wolfgang Kubicki AfD Marcus Bühl Martin Erwin Renner Konstantin Kuhle Matthias Büttner Roman Johannes Reusch Leif-Erik Holm Petr Bystron Dr. Alexander Graf Lambsdorff Enrico Komning Tino Chrupalla Jörg Schneider Ulrike Schielke-Ziesing Joana Cotar Martin Sichert (B) Siegbert Droese DIE LINKE (D) (Heilbronn) Dr. Berengar Elsner von Gronow René Springer Matthias W. Birkwald Dr. Beatrix von Storch Dr. Jürgen Martens Dr. Alice Weidel -Förster Dietmar Friedhoff Dr. Alexander Müller Dr. Birke Bull-Bischoff Dr. Wolfgang Wiehle Roman Müller-Böhm Jörg Cezanne Dr. Frank Müller-Rosentritt Sevim Dağdelen Dr. Götz Frömming Dr. Christian Wirth Dr. Fabio De Masi (Lausitz) Dr. Uwe Witt Dr. Diether Dehm Hagen Reinhold Anke Domscheit-Berg Klaus Ernst FDP Dr. Grigorios Aggelidis Dr. h. c. Thomas Sattelberger Armin-Paulus Hampel Christine Aschenberg- Christian Sauter Dr. Mariana Iris Harder-Kühnel Dugnus Frank Schäffler Dr. André Hahn Dr. Nicole Bauer Dr. Heike Hänsel Matthias Seestern-Pauly Udo Theodor Hemmelgarn Dr. Frank Sitta Matthias Höhn (Rhein-Neckar) Sandra Bubendorfer-Licht Dr. Ulla Jelpke Dr. Heiko Heßenkemper Dr. Bettina Stark-Watzinger Kerstin Kassner Dr. Marie-Agnes Strack- Dr. Nicole Höchst Carl-Julius Cronenberg Zimmermann Bijan Djir-Sarai Benjamin Strasser Jan Korte Dr. Bruno Hollnagel Christian Dürr Katja Suding Hartmut Ebbing Caren Lay Dr. Marcus Faber Michael Theurer 17932 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

(A) Dr. Bettina Hoffmann Filiz Polat (C) Stefan Liebich Katrin Werner Dr. Tabea Rößner Dr. Gesine Lötzsch Claudia Roth (Augsburg) Thomas Lutze Dieter Janecek Dr. Manuela Rottmann Pascal Meiser Dr. Kirsten Kappert- Corinna Rüffer Gonther BÜNDNIS 90/ Cornelia Möhring Katja Keul DIE GRÜNEN Sven-Christian Kindler Luise Amtsberg Norbert Müller (Potsdam) Maria Klein-Schmeink Stefan Schmidt Zaklin Nastic Sylvia Kotting-Uhl Charlotte Schneidewind- Hartnagel Dr. Alexander S. Neu Dr. Stephan Kühn (Dresden) Kordula Schulz-Asche Petra Pau Canan Bayram Christian Kühn (Tübingen) Dr. Wolfgang Strengmann- Kuhn Dr. Franziska Brantner Renate Künast Tobias Pflüger Agnieszka Brugger Markus Kurth Ekin Deligöz Eva-Maria Schreiber Katja Dörner Sven Lehmann Dr. Dr. Katharina Dröge Steffi Lemke Helin Evrim Sommer Dr. Tobias Lindner Beate Walter-Rosenheimer Matthias Gastel Dr. Irene Mihalic Claudia Müller Dr. Stefan Gelbhaar Beate Müller-Gemmeke Fraktionslos Katrin Göring-Eckardt Dr. Konstantin von Notz Alexander Ulrich Marco Bülow Anja Hajduk Cem Özdemir Andreas Wagner Britta Haßelmann Lisa Paus Dr.

Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt. (B) (D)

Das Zweite war die Abstimmung über den Antrag der Mit Ja haben gestimmt 78, mit Nein 431, Enthaltungen FDP-Fraktion mit dem Titel „Engagement und Ehren- 125. Damit ist dieser Antrag abgelehnt. amts-Check“. Hier wurden 634 Stimmkarten abgegeben.

Endgültiges Ergebnis Christian Dürr Daniela Kluckert Bernd Reuther Abgegebene Stimmen: 634; Hartmut Ebbing Pascal Kober Dr. Stefan Ruppert davon Dr. Marcus Faber Dr. Lukas Köhler Dr. h. c. Thomas ja: 78 Daniel Föst Carina Konrad Sattelberger nein: 431 Otto Fricke Wolfgang Kubicki Christian Sauter enthalten: 125 Thomas Hacker Konstantin Kuhle Frank Schäffler Reginald Hanke Alexander Kulitz Dr. Wieland Schinnenburg Ja Peter Heidt Alexander Graf Lambsdorff Matthias Seestern-Pauly FDP Katrin Helling-Plahr Ulrich Lechte Frank Sitta Grigorios Aggelidis Markus Herbrand Christian Lindner Judith Skudelny Renata Alt Torsten Herbst Michael Georg Link Dr. Hermann Otto Solms Christine Aschenberg- Katja Hessel (Heilbronn) Bettina Stark-Watzinger Dugnus Dr. Gero Clemens Hocker Oliver Luksic Dr. Marie-Agnes Strack- Nicole Bauer Manuel Höferlin Till Mansmann Zimmermann Jens Beeck Dr. Christoph Hoffmann Dr. Jürgen Martens Benjamin Strasser Dr. Jens Brandenburg Reinhard Houben Christoph Meyer Katja Suding (Rhein-Neckar) Ulla Ihnen Alexander Müller Linda Teuteberg Sandra Bubendorfer-Licht Olaf In der Beek Roman Müller-Böhm Michael Theurer Dr. Marco Buschmann Gyde Jensen Frank Müller-Rosentritt Stephan Thomae Karlheinz Busen Dr. Christian Jung Dr. Martin Neumann Manfred Todtenhausen Carl-Julius Cronenberg Karsten Klein (Lausitz) Dr. Florian Toncar Bijan Djir-Sarai Dr. Marcel Klinge Hagen Reinhold Dr. Andrew Ullmann Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17933

(A) Gerald Ullrich Eckhard Gnodtke Paul Lehrieder Stefan Sauer (C) Johannes Vogel (Olpe) Ursula Groden-Kranich Dr. Katja Leikert Anita Schäfer (Saalstadt) Sandra Weeser Hermann Gröhe Dr. Andreas Lenz Dr. Wolfgang Schäuble Nicole Westig Klaus-Dieter Gröhler Antje Lezius Andreas Scheuer Katharina Willkomm Michael Grosse-Brömer Andrea Lindholz Tankred Schipanski Astrid Grotelüschen Dr. Carsten Linnemann Christian Schmidt (Fürth) Nein Markus Grübel Patricia Lips Dr. Claudia Schmidtke Oliver Grundmann Nikolas Löbel Nadine Schön CDU/CSU Monika Grütters Bernhard Loos Felix Schreiner Dr. Michael von Abercron Fritz Güntzler Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Klaus-Peter Schulze Stephan Albani Olav Gutting Daniela Ludwig Uwe Schummer Norbert Maria Altenkamp Christian Haase Dr. Saskia Ludwig Armin Schuster (Weil am Peter Altmaier Florian Hahn Karin Maag Rhein) Philipp Amthor Jürgen Hardt Yvonne Magwas Torsten Schweiger Peter Aumer Matthias Hauer Dr. Thomas de Maizière Johannes Selle Dorothee Bär Mark Hauptmann Gisela Manderla Reinhold Sendker Thomas Bareiß Dr. Matthias Heider Dr. Astrid Mannes Dr. Patrick Sensburg Norbert Barthle Mechthild Heil Matern von Marschall Thomas Silberhorn Maik Beermann Thomas Heilmann Hans-Georg von der Björn Simon Manfred Behrens (Börde) Frank Heinrich (Chemnitz) Marwitz Tino Sorge Sybille Benning Mark Helfrich Andreas Mattfeldt Jens Spahn Dr. André Berghegger Rudolf Henke Dr. Michael Meister Katrin Staffler Melanie Bernstein Michael Hennrich Jan Metzler Frank Steffel Christoph Bernstiel Ansgar Heveling Dr. Mathias Middelberg Dr. Wolfgang Stefinger Marc Biadacz Christian Hirte Dietrich Monstadt Albert Stegemann Steffen Bilger Dr. Heribert Hirte Karsten Möring Andreas Steier Peter Bleser Alexander Hoffmann Elisabeth Motschmann Peter Stein (Rostock) Norbert Brackmann Karl Holmeier Axel Müller Sebastian Steineke Johannes Steiniger (B) Michael Brand (Fulda) Erich Irlstorfer Dr. Gerd Müller (D) Dr. Reinhard Brandl Thomas Jarzombek Sepp Müller Christian Frhr. von Stetten Sebastian Brehm Andreas Jung Carsten Müller Dieter Stier Heike Brehmer Ingmar Jung (Braunschweig) Gero Storjohann Ralph Brinkhaus Alois Karl Stefan Müller (Erlangen) Stephan Stracke Dr. Carsten Brodesser Anja Karliczek Petra Nicolaisen Max Straubinger Gitta Connemann Torbjörn Kartes Michaela Noll Dr. Peter Tauber Astrid Damerow Volker Kauder Dr. Georg Nüßlein Dr. Hermann-Josef Tebroke Alexander Dobrindt Dr. Stefan Kaufmann Wilfried Oellers Hans-Jürgen Thies Michael Donth Ronja Kemmer Florian Oßner Alexander Throm Josef Oster Marie-Luise Dött Roderich Kiesewetter Antje Tillmann Henning Otte Hansjörg Durz Michael Kießling Markus Uhl Ingrid Pahlmann Thomas Erndl Dr. Georg Kippels Dr. Volker Ullrich Sylvia Pantel Hermann Färber Volkmar Klein Arnold Vaatz Martin Patzelt Uwe Feiler Axel Knoerig Oswin Veith Dr. Joachim Pfeiffer Enak Ferlemann Jens Koeppen Kerstin Vieregge Stephan Pilsinger Axel E. Fischer (Karlsruhe- Markus Koob Christoph de Vries Land) Carsten Körber Dr. Christoph Ploß Kees de Vries Dr. Maria Flachsbarth Alexander Krauß Eckhard Pols Dr. Johann David Wadephul Thorsten Frei Gunther Krichbaum Kerstin Radomski Marco Wanderwitz Dr. Astrid Freudenstein Dr. Günter Krings Alexander Radwan Nina Warken Dr. Hans-Peter Friedrich Rüdiger Kruse Alois Rainer Kai Wegner (Hof) Michael Kuffer Dr. Peter Ramsauer Albert H. Weiler Michael Frieser Dr. Roy Kühne Lothar Riebsamen Dr. Anja Weisgerber Hans-Joachim Fuchtel Dr. Dr. h. c. Karl A. Lamers Josef Rief Peter Weiß (Emmendingen) Ingo Gädechens Andreas G. Lämmel Dr. Norbert Röttgen Sabine Weiss (Wesel I) Dr. Thomas Gebhart Katharina Landgraf Stefan Rouenhoff Ingo Wellenreuther Alois Gerig Ulrich Lange Erwin Rüddel Marian Wendt Eberhard Gienger Jens Lehmann Albert Rupprecht Kai Whittaker 17934 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

(A) Bettina Margarethe Thomas Hitschler Dr. Nina Scheer Dr. Axel Gehrke (C) Wiesmann Dr. Eva Högl Marianne Schieder Albrecht Glaser Klaus-Peter Willsch Frank Junge Udo Schiefner Franziska Gminder Elisabeth Winkelmeier- Thomas Jurk Dr. Nils Schmid Wilhelm von Gottberg Becker Oliver Kaczmarek Uwe Schmidt Kay Gottschalk Emmi Zeulner Johannes Kahrs Ulla Schmidt (Aachen) Mariana Iris Harder-Kühnel Paul Ziemiak Elisabeth Kaiser Dagmar Schmidt (Wetzlar) Dr. Roland Hartwig Dr. Matthias Zimmer Ralf Kapschack Carsten Schneider (Erfurt) Jochen Haug Gabriele Katzmarek Johannes Schraps Udo Theodor Hemmelgarn SPD Cansel Kiziltepe Michael Schrodi Waldemar Herdt Niels Annen Lars Klingbeil Ursula Schulte Martin Hess Ingrid Arndt-Brauer Dr. Bärbel Kofler Martin Schulz Dr. Heiko Heßenkemper Heike Baehrens Daniela Kolbe Swen Schulz (Spandau) Karsten Hilse Ulrike Bahr Elvan Korkmaz-Emre Stefan Schwartze Nicole Höchst Nezahat Baradari Anette Kramme Andreas Schwarz Martin Hohmann Dr. Matthias Bartke Christine Lambrecht Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Bruno Hollnagel Sören Bartol Christian Lange (Backnang) Rainer Spiering Johannes Huber Bärbel Bas Dr. Karl Lauterbach Svenja Stadler Fabian Jacobi Lothar Binding Helge Lindh Martina Stamm-Fibich Dr. Marc Jongen (Heidelberg) Kirsten Lühmann Sonja Amalie Steffen Jens Kestner Dr. Eberhard Brecht Isabel Mackensen Mathias Stein Stefan Keuter Leni Breymaier Caren Marks Kerstin Tack Jörn König Dr. Karl-Heinz Brunner Katja Mast Claudia Tausend Katrin Budde Steffen Kotré Christoph Matschie Michael Thews Martin Burkert Dr. Rainer Kraft Hilde Mattheis Markus Töns Dr. Lars Castellucci Rüdiger Lucassen Dr. Matthias Miersch Carsten Träger Bernhard Daldrup Jens Maier Klaus Mindrup Ute Vogt Dr. Daniela De Ridder Dr. Lothar Maier Susanne Mittag Marja-Liisa Völlers Dr. Karamba Diaby Dr. Birgit Malsack- (B) Falko Mohrs Dirk Vöpel Winkemann (D) Esther Dilcher Claudia Moll Dr. Joe Weingarten Corinna Miazga Sabine Dittmar Siemtje Möller Bernd Westphal Andreas Mrosek Dr. Wiebke Esdar Detlef Müller (Chemnitz) Gülistan Yüksel Volker Münz Saskia Esken Michelle Müntefering Dagmar Ziegler Sebastian Münzenmaier Yasmin Fahimi Dr. Rolf Mützenich Stefan Zierke Christoph Neumann Dr. Johannes Fechner Dietmar Nietan Dr. Jens Zimmermann Jan Ralf Nolte Dr. Fritz Felgentreu Ulli Nissen Gerold Otten Dr. Edgar Franke Thomas Oppermann AfD Tobias Matthias Peterka Ulrich Freese Josephine Ortleb Paul Viktor Podolay Dagmar Freitag Mahmut Özdemir Dr. Bernd Baumann Michael Gerdes (Duisburg) Andreas Bleck Jürgen Pohl Martin Gerster Aydan Özoğuz Stephan Brandner Stephan Protschka Angelika Glöckner Markus Paschke Jürgen Braun Martin Reichardt Timon Gremmels Sabine Poschmann Marcus Bühl Roman Johannes Reusch Michael Groß Florian Post Matthias Büttner Dr. Robby Schlund Uli Grötsch Achim Post (Minden) Petr Bystron Jörg Schneider Bettina Hagedorn Dr. Sascha Raabe Tino Chrupalla Uwe Schulz Rita Hagl-Kehl Joana Cotar Martin Sichert Metin Hakverdi Andreas Rimkus Siegbert Droese Detlev Spangenberg Sebastian Hartmann Sönke Rix Thomas Ehrhorn Dr. Dirk Spaniel Dirk Heidenblut Dennis Rohde Berengar Elsner von René Springer Hubertus Heil (Peine) Dr. Martin Rosemann Gronow Beatrix von Storch Gabriela Heinrich René Röspel Dr. Michael Espendiller Dr. Alice Weidel Marcus Held Dr. Ernst Dieter Rossmann Peter Felser Dr. Harald Weyel Wolfgang Hellmich Susann Rüthrich Dietmar Friedhoff Wolfgang Wiehle Dr. Barbara Hendricks Bernd Rützel Dr. Anton Friesen Dr. Heiko Wildberg Gustav Herzog Sarah Ryglewski Markus Frohnmaier Dr. Christian Wirth Gabriele Hiller-Ohm Johann Saathoff Dr. Götz Frömming Uwe Witt Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17935

(A) Fraktionslos Dr. Achim Kessler BÜNDNIS 90/ Sven Lehmann (C) Lars Herrmann Katja Kipping DIE GRÜNEN Steffi Lemke Jan Korte Luise Amtsberg Dr. Tobias Lindner Jutta Krellmann Enthalten Lisa Badum Dr. Irene Mihalic Caren Lay Margarete Bause Claudia Müller CDU/CSU Ralph Lenkert Dr. Danyal Bayaz Beate Müller-Gemmeke Johannes Röring Michael Leutert Canan Bayram Dr. Konstantin von Notz Stefan Liebich Dr. Franziska Brantner Friedrich Ostendorff AfD Dr. Gesine Lötzsch Agnieszka Brugger Cem Özdemir Thomas Lutze Leif-Erik Holm Ekin Deligöz Lisa Paus Pascal Meiser Enrico Komning Katja Dörner Filiz Polat Amira Mohamed Ali Ulrike Schielke-Ziesing Katharina Dröge Tabea Rößner Cornelia Möhring Harald Ebner Claudia Roth (Augsburg) Niema Movassat Matthias Gastel Dr. Manuela Rottmann DIE LINKE Norbert Müller (Potsdam) Kai Gehring Corinna Rüffer Doris Achelwilm Zaklin Nastic Stefan Gelbhaar Manuel Sarrazin Simone Barrientos Dr. Alexander S. Neu Katrin Göring-Eckardt Ulle Schauws Matthias W. Birkwald Thomas Nord Erhard Grundl Stefan Schmidt Heidrun Bluhm-Förster Petra Pau Anja Hajduk Charlotte Schneidewind- Dr. Birke Bull-Bischoff Victor Perli Britta Haßelmann Hartnagel Jörg Cezanne Tobias Pflüger Dr. Bettina Hoffmann Kordula Schulz-Asche Sevim Dağdelen Martina Renner Dr. Anton Hofreiter Dr. Wolfgang Strengmann- Fabio De Masi Eva-Maria Schreiber Ottmar von Holtz Kuhn Dr. Diether Dehm Dr. Petra Sitte Dieter Janecek Margit Stumpp Anke Domscheit-Berg Helin Evrim Sommer Dr. Kirsten Kappert- Markus Tressel Klaus Ernst Kersten Steinke Gonther Dr. Julia Verlinden Susanne Ferschl Friedrich Straetmanns Katja Keul Daniela Wagner Brigitte Freihold Dr. Kirsten Tackmann Sven-Christian Kindler Beate Walter-Rosenheimer (B) Nicole Gohlke Jessica Tatti Maria Klein-Schmeink Gerhard Zickenheiner (D) Dr. Gregor Gysi Alexander Ulrich Sylvia Kotting-Uhl Dr. André Hahn Kathrin Vogler Oliver Krischer Heike Hänsel Andreas Wagner Stephan Kühn (Dresden) Fraktionslos Matthias Höhn Harald Weinberg Christian Kühn (Tübingen) Marco Bülow Andrej Hunko Katrin Werner Renate Künast Verena Hartmann Ulla Jelpke Hubertus Zdebel Markus Kurth Mario Mieruch Kerstin Kassner Pia Zimmermann Monika Lazar Dr. Frauke Petry

Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt.

Wir kommen zum nächsten Redner. Das ist für die Der Gesetzentwurf hat einen großen Pferdefuß. Man Fraktion der FDP der Kollege Alexander Müller. will jetzt nach und nach Technologien zu Schlüsseltech- nologien erklären und die Beschaffung nur noch auf rein (Beifall bei der FDP) nationaler Ebene abwickeln. Wenn wir für unsere Solda- tinnen und Soldaten aber das Beste an Ausrüstung, das Alexander Müller (FDP): Beste an Material haben wollen, brauchen wir möglichst Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die viele Anbieter, möglichst viele Wettbewerber. Dann be- viel zu langsame Beschaffung von Rüstungsgütern ist das kommen wir besseres Material, dann bekommen wir es große Problem der Bundeswehr seit vielen Jahren. Seit günstiger, und dann bekommen wir es vor allen Dingen Jahren bekommen wir erzählt, die Trendwenden würden schneller. es bringen. Aber wir wissen mittlerweile, dass das Ziel (Beifall bei der FDP) nicht erreicht wird. Deswegen macht sich die Bundesre- gierung Gedanken, wie es doch noch schneller gehen Wenn man jetzt ohne Not hingeht und das auf rein na- kann. Deswegen liegt uns dieser Gesetzentwurf vor. Aber tionaler Ebene Technologie für Technologie organisiert, das war schon alles Gute, was man zu diesem Gesetzent- ist uns nicht geholfen. wurf sagen kann. (Henning Otte [CDU/CSU]: Das ist ja toll- (Beifall bei der FDP) kühn!) 17936 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Alexander Müller (A) Die Aufgabe der Bundesregierung wäre vielmehr, da- tionale Schlüsseltechnologien sein sollen. Die Definition (C) für zu sorgen, dass die anderen Länder in Europa eben- greift so weit, dass inzwischen quasi fast alles gefördert falls ihre Märkte öffnen, damit wir in ganz Europa einen werden soll, was vorhanden ist. Zum Beispiel wäre es gemeinsamen Markt für Rüstungsbeschaffung haben. jetzt so: Der Auftrag für dieses Mehrzweckkampfschiff Dafür haben wir millionenschwere Programme. Dafür MKS 180, der an einen niederländischen Anbieter ge- haben wir PESCO. Dafür gibt die EU Millionen aus. Da gangen ist, wäre mit diesem neuen Gesetz offensichtlich müssen wir weiterkommen. Das wäre die Aufgabe für die an einen deutschen Anbieter gegangen. Der Gesetzent- Bundesregierung. wurf hat als Grundregel: Gekauft wird auf jeden Fall hier in Deutschland, egal ob es teuer ist, ob es schlechter ist. (Beifall bei der FDP) Auf jeden Fall muss hier die deutsche Rüstungsindustrie Was das Vergaberecht angeht, da gibt es doch ganz gefördert werden. andere Mittel, um wirklich viel schneller voranzukom- Ich kann nur sagen: Offensichtlich sind Sie nicht strin- men. Im Moment ist die Rechtslage so: Wenn ein Bieter gent in dem, was Sie politisch tun. Bei der Rüstungs- in einem Vergabeverfahren unterliegt, kann er klagen, industrie wird eine Ausnahme gemacht; da wird vor al- und dann ist das ganze Rüstungsvorhaben so lange ge- lem national vergeben. Aber in anderen Bereichen soll es stoppt, bis das Verfahren entschieden ist. Warum geht europäisch sein. Das ist hochgradig widersprüchlich. Wir man nicht wieder hin – so war die Rechtslage früher – sagen: Es darf hier nicht rein um eine Förderung der und gibt dem Gewinner der Ausschreibung den Auftrag, deutschen Rüstungsindustrie gehen. die Rüstung wird beschafft, und wenn der Kläger sich vor Gericht durchsetzt, bekommt er den wirtschaftlichen (Beifall bei der LINKEN) Schaden ersetzt? Das wäre eine Maßnahme, um schneller Außerdem wird in diesem Gesetzentwurf klipp und vorwärtszukommen. klar formuliert, worum es eigentlich geht. Es geht darum, (Beifall bei der FDP) dass der Bedarf für die Einsätze und einsatzgleiche Ver- pflichtungen der Bundeswehr besonders gefördert wer- Ein anderer Punkt: Die Bundeswehr darf bei Vergaben den soll; besonders dort sollen die Rüstungsprodukte maximal 5 Prozent Schadensersatz fordern, wenn Rüs- möglichst schnell hinkommen. Es geht also um die Aus- tungsgüter nicht zum vertraglich vereinbarten Zeitpunkt landseinsätze in Afghanistan und Mali oder auch die Ein- ausgeliefert werden. In der Industrie sind viel höhere Ver- sätze von Enhanced Forward Presence im Baltikum. tragsstrafen gang und gäbe. Deswegen wird da auch viel Klipp und klar: Das sind alles Einsätze, die wir als Linke pünktlicher geliefert. Warum machen wir uns ohne Not ablehnen. Also wollen wir selbstverständlich auch nicht, diese Hürde von maximal 5 Prozent? Wenn wir da reali- dass die Rüstungsgüter schneller dorthin kommen. Des- (B) stischere Werte und höhere Strafen ansetzen würden, kä- halb lehnen wir diesen Gesetzentwurf logischerweise ab. (D) me das Material auch schneller. Dann würden wir ge- nauso schnell beliefert wie die Privatwirtschaft. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Katja Keul Der letzte Punkt: Wenn Sie tatsächlich wollen, dass [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Rüstungsprojekte anders und schneller funktionieren, dann müssen Sie das gesamte Verfahren ändern. Was Dieser Gesetzentwurf mit dem Schritt zu immer mehr Sie stattdessen machen, ist, dass Sie eine Konzentration nationaler Vergabe ist ein Rückschritt für die europäische in Richtung deutscher Rüstungsindustrie anstreben. Da Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Wir kann ich nur sagen: Es ist nicht gut, wenn in Zukunft Freie Demokraten stehen und bekennen uns ganz klar zu die Bundeswehr die teureren, schlechteren, aber vor al- Europa, stehen zum einheitlichen europäischen Binnen- lem deutschen Rüstungsprojekte hat. Es wäre vielleicht markt, ohne Wenn und Aber. Deswegen werden wir die- sinnvoll, dass man sich überlegt: Wie könnte man ver- sen Gesetzentwurf ablehnen. nünftig abrüsten? Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wir werden diesen Gesetzentwurf ablehnen, weil er des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nichts anderes ist als eine Förderung der deutschen Rüs- tungsindustrie, und das wollen wir nicht. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Vielen Dank. Vielen Dank, Herr Kollege Müller. – Für die Fraktion Die Linke spricht der Kollege Tobias Pflüger. Bitte (Beifall bei der LINKEN) schön. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Beifall bei der LINKEN) Vielen Dank, Kollege Pflüger. – Der Kollege Dr. Tobias Lindner hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. Tobias Pflüger (DIE LINKE): Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir sind mit dem Beitrag des FDP-Kollegen schon ein bisschen näher Dr. Tobias Lindner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): an dem Punkt, um den es hier eigentlich geht. Es liegt ein Vielen Dank. – Geschätzter Herr Präsident! Liebe Kol- Gesetzentwurf vor, bei dem neu definiert wird, was na- leginnen und Kollegen! In den letzten Tagen habe ich Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17937

Dr. Tobias Lindner (A) eine durchaus absurde Situation erlebt. Da komme ich als es gesagt – dafür sorgen, dass sie ihren Markt öffnen. Die (C) Oppositionsabgeordneter ins Verteidigungsministerium – Antwort kann nicht sein, dass wir unseren Markt abschot- es ging um die Vergabe der neuen Fregattenklasse ten. Aus diesen Gründen werden wir den Gesetzentwurf MKS 180 – und muss diese gegen Abgeordnete der Groß- ablehnen. en Koalition verteidigen. So weit sind wir gekommen. Herr Tauber, beides sollte Ihnen Sorgen machen. Herzlichen Dank. Über was reden wir hier? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP) (Henning Otte [CDU/CSU]: Ja, das fragen wir uns wirklich!) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Wir reden über die Situation, dass in einem langwierigen, Der nächste Redner: der Kollege Henning Otte, CDU/ transparenten Ausschreibungsverfahren der Auftrag für CSU-Fraktion. vier neue Schiffe an ein Konsortium vergeben wird. Es ist zwar unter niederländischer Führung, aber die Ver- (Beifall bei der CDU/CSU) teidigungsministerin sagt selbst, dass mindestens 70 Pro- zent, vermutlich 80 Prozent der Wertschöpfung aus Deutschland kommt. Ich kann verstehen, dass gerade Henning Otte (CDU/CSU): Kollegen mit Wahlkreisen an der Küste um Arbeitsplätze Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- besorgt sind. Ich kann verstehen, dass sich Kollegen aus ren! Insbesondere die letzte Rede hat wieder deutlich ge- dem Verteidigungsausschuss fragen: Dauert so ein Aus- macht, wie wichtig es ist, Verantwortung zu übernehmen. schreibungsverfahren nicht zu lange? Ich kann verstehen, Wer die Ausstattungssituation bei der Bundeswehr kriti- dass es Unmut gibt, wenn der unterlegene Bieter seine siert, der muss auch bereit sein, Politik gestaltend durch- ihm zustehenden Rechte wahrnimmt und die Vergabeent- zuführen. scheidungen rechtlich überprüfen lässt. Aber bei alldem, was ich verstehen kann, müssen wir uns doch die Frage (Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE stellen: Hilft dann dieses Gesetz? Und die Antwort ist GRÜNEN]: Sie regieren seit 15 Jahren!) eindeutig Nein. Wir müssen die Vergabeordnung ändern, damit das Mate- Wenn Sie die Vergaben nur national durchführen wol- rial bei den Soldatinnen und Soldaten schneller ankommt. len, dann haben Sie die genannten drei Probleme trotz- Deswegen machen wir dieses Gesetz. Dieses Gesetz hilft dem. Wir gehen davon aus – das will ich hoffen –, dass eindeutig; es ist ein gutes Gesetz, meine Damen und Herren. (B) die Beschaffung von Schiffen für die Bundeswehr von (D) den Forderungen der Bundeswehr und vom militärischen Bedarf abgeleitet wird, dass es nicht um die Frage geht, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Katja wie viel Arbeitsplätze wir auslasten müssen, und dass Sie Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, ist keine nationalen Kartelle bilden wollen, sondern den es nicht!) Wettbewerb zwischen deutschen Werften fördern wollen. Frau Strack-Zimmermann hat schon wieder aus der Auch bei nationalen Ausschreibungen wird es ein ent- vierten, fünften Reihe reingerufen. Sie lassen kein Mik- sprechendes Verfahren geben, und es wird am Ende un- rofon aus, um zu sagen: Die Materialsituation muss sich terlegene Bieter geben, die ihr gutes Recht wahrnehmen verbessern. und klagen. Meine Damen und Herren, was Sie hier vor- legen, hilft bei all dem Unmut, der im Raum steht, kein (Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: bisschen; im Gegenteil. Das ist so! – Alexander Müller [FDP]: Da hat sie recht!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) Sie haben auch recht, aber dann müssen Sie auch die Schauen Sie sich die Stellungnahme von Transparency richtigen Schlüsse ziehen. Das machen wir, indem wir International zu diesem Gesetz an; übrigens verfasst von die Vergabeordnung ändern; denn die sicherheitspoliti- einem Juristen, der auch als Zeuge im Untersuchungsaus- sche Lage hat sich grundlegend geändert. Die Bundes- schuss zur Berateraffäre zu Vergaberechtsverstößen ge- wehr sieht sich erhöhten Anforderungen gegenüber, ob hört wurde. Die Organisation weist zu Recht darauf hin, in der Bündnis- und Landesverteidigung oder in den Ein- dass das Gesetz nicht nur nicht hilft, sondern eine Menge satzgebieten. Es geht um Modernisierung und um Ersatz- Schaden anrichtet. Wenn Sie so weit auslegbare Begriffe beschaffung, und das alles bei unseren Verpflichtungen haben wie „einsatzgleiche Verpflichtungen“ und große gegenüber der NATO, der Europäischen Union, den Ver- Kriegsschiffe darunter fassen wollen, dann öffnen Sie einten Nationen, der OSZE oder bilateral. Wir richten uns mit diesem Gesetz Kartellbildungen, überhöhten Preisen darauf aus und verhindern, dass langwierige europäische und unter Umständen auch Korruption Tür und Tor. Ausschreibungen notwendig sind, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Das ist sowie des Abg. Alexander Graf Lambsdorff überhaupt nicht nötig!) [FDP]) auch wenn Material unmittelbar erforderlich ist und un- Abschließend: Wenn andere europäische Länder ihren mittelbar den Soldatinnen und Soldaten zur Verfügung Markt abschotten, dann muss man – Kollege Müller hat gestellt werden muss. 17938 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

(A) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (C) Herr Kollege, der Kollege Graf Lambsdorff von der Herr Kollege Otte, gestatten Sie noch eine Zwischen- FDP würde gerne eine Zwischenfrage stellen. frage, diesmal aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?

Henning Otte (CDU/CSU): Henning Otte (CDU/CSU): Herr Präsident, das würde ich gern, aber wir haben Sehr gerne. extra den Untersuchungsausschuss für meine Rede unter- brochen. Da müssen wir gleich fortfahren. Alexander Graf Lambsdorff (FDP): Ich hätte nur gerne, dass Sie bei der Wahrheit bleiben, Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Herr Otte. Also nein? (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Das macht er! Henning Otte (CDU/CSU): Das macht er immer!) Nein. Sie haben gerade gesagt: Wenn Streitkräfte unmittelbaren Bedarf an Material haben, darf es keine langwierige eu- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: ropäische Ausschreibung geben. – Das ist geltendes eu- ropäisches Recht, das ist geltendes nationales Vergabe- Tut mir leid, Frau Kollegin. recht. Ich habe vor zehn Jahren im Europäischen Parlament als Berichterstatter die Richtlinie zur Beschaf- Henning Otte (CDU/CSU): fung von Rüstungsgütern auf dem europäischen Markt Ich will darauf hinweisen, dass wir in der letzten Le- durchs Parlament gebracht. Was Sie hier gerade behaup- gislaturperiode fünfmal mehr Investitionen durchgeführt tet haben, hält keiner Überprüfung stand. Sie machen ein haben, nämlich in Höhe von 30 Milliarden Euro. Wir schlechtes Gesetz. Würden Sie mir da zustimmen? haben Modernisierungen durchgeführt. Wir haben uns um Ersatzbeschaffung gekümmert. Wir sind auch unserer (Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei Bündnisverpflichtung nachgekommen, indem wir 20 Pro- Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE zent der Mittel in die Erneuerung unserer Systeme inves- GRÜNEN – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: tieren. Wir streben bis 2024 1,5 Prozent des BIP an; aber Wir definieren Schlüsseltechnologie!) dass wir 2 Prozent erreichen müssen, das wissen wir alle. Das haben wir im Koalitionsvertrag mit der SPD klar definiert. Wir sagen: Wir müssen das Haushaltsrecht an- (B) Henning Otte (CDU/CSU): (D) passen, damit das Geld, wenn das Gerät im Dezember Da stimme ich Ihnen natürlich nicht zu. nicht abnahmefähig ist, sondern mit Nachbesserungen (Beifall bei der CDU/CSU) erst im Februar, nicht verfällt. Wir wollen die Beschaf- fungsorganisation anpassen. Wir haben vor allem gesagt: Wir machen ein sehr gutes Gesetz, weil wir die Ver- Wir wollen die Vergabeordnung ändern, wenn es mili- antwortung für unsere Soldatinnen und Soldaten wahr- tärisch notwendig ist, damit wir uns eine langwierige nehmen. Wir müssen nicht, wie Sie, Graf Lambsdorff, europäische Ausschreibung ersparen. Wir wollen die trotz Sachverstand dagegenstimmen; Sie müssen das Ho- Auftragsvergabe durchführen, allerdings unter der Vo- helied des Liberalismus spielen. Vielmehr machen wir raussetzung, dass das Material krisenbedingt notwendig verantwortbare, pragmatische Politik für die Sicherheit ist oder wenn es um Bündnisverpflichtungen geht. Das unseres Landes. Es ist gut, dass CDU/CSU und SPD setzt nicht die Haushaltssystematik außer Kraft, wie Herr diesem Gesetzentwurf zustimmen. Pflüger gerade auf seinem Handy vielleicht nachliest. Der Bundesrechnungshof geht hier noch weiter. Es geht um (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Wettbewerb. ordneten der SPD) Wenn Sie sich Sorgen machen, dass wir veraltete Sys- Wir von der Union passen nicht die Situation an die teme haben, dann fassen Sie Mut und stimmen Sie zu, Politik an, wie sich das manche wünschen, sondern wir wenn wir sagen: Wir müssen auch in Forschung und passen unsere Politik so an, dass wir Situationen verän- Technologie und in militärische Mittel investieren, damit dern können. Darum geht es. Es geht auch darum, dass wir die Sicherheit unseres Landes erhöhen. Das erwarten man den Bericht des Wehrbeauftragten ernst nimmt, um die Bürgerinnen und Bürger von uns, das erwarten die Veränderungen durchzuführen. Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sowie die zi- vilen und militärischen Mitarbeiter. Man erwartet aber 18 000 Soldatinnen und Soldaten waren Ende 2019 im auch in Europa, dass wir unserer Verantwortung gerecht Einsatz oder in einsatzgleichen Verpflichtungen. Kollege werden, indem wir unsere Truppe so ausstatten, dass wir Peter Bleser hat deutlich dargestellt, was es bedeutet, gemeinsam in Europa Frieden und Freiheit verteidigen wenn wir die VJTF für die NATO stellen. Wir müssen können. Deswegen ist es gut, dass wir die Vergabeord- unmittelbar und schnell in der Lage sein, innerhalb von nung heute anpassen. Ich bitte um Zustimmung zum vor- zwei bis fünf Tagen zu verlegen. Wir übernehmen unsere liegenden Gesetzentwurf. Verantwortung in Einsatzgebieten wie in Afghanistan, in Mali und im Kosovo. Wir haben auch unseren Soldatin- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- nen und Soldaten gegenüber Verantwortung. ordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17939

(A) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Thomas Hitschler (SPD): (C) Vielen Dank, Herr Kollege Otte. – Der letzte Redner zu Liebe Frau Kollegin Keul, erst einmal vielen herzli- diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Thomas chen Dank für die Frage. – Ich würde erst einmal an Hitschler für die SPD-Fraktion. diesem Punkt beginnen. Vielleicht komme ich ja im Lau- fe meiner Rede noch ein Stück weit auf das zu sprechen, (Beifall bei der SPD) was Sie gerade gefordert haben. Aber Sie sind auch schon eine ganze Weile im Bereich der Verteidigungspolitik Thomas Hitschler (SPD): tätig. Wir können uns lange vormachen, dass alles bei Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir der Bundeswehr ganz schnell ist und dass wir nichts än- haben es schon ein paarmal gehört: Der Wehrbeauftragte dern wollen. Aber für diesen Punkt ist die Große Koali- hat zu Beginn dieser Woche ganz bewusst den Finger in tion nicht angetreten. Wir hören fast jede Woche im Ver- die Wunde gelegt, wenn er davon spricht, dass es inzwi- teidigungsausschuss Berichte zum Großgerät bei der schen dysfunktional gewordene Strukturen in der Be- Bundeswehr, das nicht schnell genug kommt. Ausschrei- schaffung gibt. Er spricht von bürokratischem Klein- bungen werden immer weiter nach hinten geschoben. Ge- Klein und erwähnt Mittel in Höhe von 1,1 Milliarden nau diesen Punkt gehen wir jetzt an. Euro, die im Bereich der militärischen Hardware im ver- Vielleicht ein Punkt, der die ganze Zeit merkwürdig gangenen Jahr nicht abfließen konnten. Wir denken, dass dargestellt wurde: Es hört sich so an, als würden wir ein großes Hindernis dafür, eine gut ausgerüstete Bundes- nur noch national ausschreiben. Wir können künftig in wehr herbeizuführen, eben die bürokratischen Hürden manchen Bereichen in einem sehr eng definierten Rah- sind, über die wir heute ausführlich diskutiert haben. men sagen: Nationale Schlüsseltechnologie in einem be- Wir haben uns daher im Koalitionsvertrag darauf ge- stimmten Bereich schreiben wir national aus. Der europä- einigt, im Vergaberecht die notwendigen Änderungen ische Markt bleibt davon unberührt, Kolleginnen und vorzunehmen. Kollegen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Henning Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Otte [CDU/CSU]) Herr Kollege Hitschler, die Kollegin Keul würde gerne Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzent- eine Zwischenfrage stellen. wurf ist ein wichtiger Schritt auf diesem Weg. Wo es Bedarf an schneller Beschaffung gibt, muss es auch ge- (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Er hat noch gar setzliche Möglichkeiten geben, genau diesen Bedarf zu nichts gesagt!) decken. Wir glauben nämlich, dass schnelle Beschaffung (B) wichtig ist. Trotzdem, Frau Kollegin Keul, stellen wir (D) Thomas Hitschler (SPD): keinen Freibrief zur Aushebelung des Beschaffungs- Das ging aber schnell. – Ja, liebe Frau Kollegin Keul, rechts für alles, was olivgrün angestrichen ist, aus. Wir sehr gern. setzen klare Grenzen, die festlegen, was geht und was nicht. Wir fügen Regelbeispiele für Fälle ein, in denen auf eine EU-weite Ausschreibung verzichtet werden Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): kann. Wir setzen klare Grenzen dabei. Ein Beispiel: Wir Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Frage zulas- können bei bereits mandatierten Auslandseinsätzen, ein- sen. satzgleichen Verpflichtungen oder Bündnisverpflichtun- gen und selbstverständlich auch im Krisenfall genau auf Thomas Hitschler (SPD): diese Ausnahmen zurückgreifen. Für Sie immer. Im Gesetzentwurf wird nicht nur deutlich, wann unsere wesentlichen Sicherheitsinteressen berührt sind, sondern Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): auch, welche Güter die beschleunigte Beschaffung in Ich muss jetzt doch einmal der FDP zur Seite springen. diesem Bereich ermöglichen soll. Kurz gesagt: Es muss eine sogenannte Schlüsseltechnologie sein, die vom Bun- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) deskabinett entsprechend eingestuft wird. Dazu gehören beispielsweise geschützte Fahrzeuge, U-Boote oder Ver- Wenn man Ihnen und dem Kollegen Otte zuhört, dann hat schlüsselungstechnologien. Wir meinen, das ist ein klares man das Gefühl, das gesamte Vergaberecht sei eine ein- Bekenntnis genau zu den besonderen Anforderungen der zige bürokratische Hürde für effiziente Beschaffung. Ha- sicherheitsrelevanten Beschaffung, für die wir uns auch ben Sie denn schon einmal darüber nachgedacht, dass der im Verteidigungsausschuss sehr häufig starkmachen. Sinn und Zweck eines Vergabeverfahrens der ist, einen fairen Wettbewerb sicherzustellen und dafür zu sorgen, (Beifall bei der SPD) dass am Ende das tatsächlich qualitativ beste Produkt für Wenn wir aber feststellen, dass speziell im Bereich des die Bundeswehr angeschafft wird Beschaffungswesens – wer sich das Beschaffungsamt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN anschaut, stellt genau das fest – noch über 1 500 Stellen sowie bei Abgeordneten der FDP) unbesetzt sind, dann wissen wir, dass wir nicht aufhören und den Eindruck erwecken dürfen, durch die Änderung und nicht das, was sich in intransparenten Verfahren des Vergaberechts sei alles geklärt. Sehr geehrter Herr möglicherweise durchsetzt? Staatssekretär, ich finde, das ist für Sie und für das Mi- 17940 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Thomas Hitschler (A) nisterium noch immer eine der zentralen Aufgaben, an Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: (C) den Stellen zum Beispiel in Koblenz dafür zu sorgen, dass nicht nur die Arbeitsbedingungen für die Kollegin- Beratung des Antrags der Abgeordneten Pascal nen und Kollegen gut sind, sondern dass auch die Stellen, Meiser, Caren Lay, Fabio De Masi, weiterer Ab- die Ihnen vom Parlament zur Verfügung gestellt wurden, geordneter und der Fraktion DIE LINKE besetzt werden. Kleingewerbe und soziale Einrichtungen vor Mietenexplosion und Verdrängung schützen Ich will abschließen. Wir haben auch Erwartungen an die Industrie. Wir haben als Parlament unsere Hausaufga- Drucksache 19/16837 ben gemacht: 1,1 Milliarden Euro, die nicht ausgegeben Überweisungsvorschlag: werden konnten – Verbesserungen beim Vergaberecht, Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Stellen, die beim Beschaffungsamt zur Verfügung stehen. Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen Unsere Erwartung an die Industrie ist, dass sie auch lie- Federführung strittig fert, wenn bei uns die Vergabe genau so ist, wie sie sein soll. Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten be- schlossen. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich die Redner- Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte. innen und Redner, die Kolleginnen und Kollegen genau- so zügig Platz zu nehmen, wie das Präsidium gewechselt hat. Thomas Hitschler (SPD): Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als erstem Schlussendlich, Herr Präsident: Ich glaube, das Parla- Redner dem Kollegen Pascal Meiser, Fraktion Die Linke, ment, der Deutsche Bundestag, hat seine Hausaufgabe das Wort. bei dieser Frage gemacht. Jetzt ist es am Ministerium und an der Ministerin, die Hausaufgaben auf ihrer Seite (Beifall bei der LINKEN) zu machen. Pascal Meiser (DIE LINKE): Vielen herzlichen Dank. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Gegensatz zum Wohnungsmietrecht ist die Vermietung (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ekin von Gewerberäumen gesetzlich kaum reguliert. Das (B) Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) heißt, es gibt keinen speziellen Kündigungsschutz, kei- (D) nen Anspruch auf eine Mindestvertragslaufzeit, keine Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Begrenzung zulässiger Mieterhöhungen, und auch bei Neuvermietungen sind den Mietforderungen der Vermie- Vielen Dank, Herr Kollege Hitschler. – Damit schließe ter keinerlei Grenzen gesetzt. Für kleine Handwerksbe- ich die Aussprache. triebe und Einzelhändler, aber auch für Kultur- und So- zialeinrichtungen in Innenstadtlage kann dies höchst Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- bedrohliche, ja, existenzgefährdende Folgen haben. Des- desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur halb wird es höchste Zeit, dass die Bundesregierung da- beschleunigten Beschaffung im Bereich der Verteidigung vor nicht länger die Augen verschließt. und Sicherheit und zur Optimierung der Vergabestatistik. Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt in (Beifall bei der LINKEN) seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/16902, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa- Ein Beispiel – von vielen – aus meinem Wahlkreis: chen 19/15603 und 19/16342 anzunehmen. Ich bitte die- Nach 25 Jahren musste Ende letzten Jahres ein Kinder- jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um laden schließen. Trotz heftiger Proteste: Die Eigentüme- das Handzeichen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Kei- rin beharrte darauf, den Kinderladen vor die Tür zu setzen ne. Dann ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Lesung ge- und die 190 Quadratmeter in Büroräume umzuwandeln, gen die Stimmen der Fraktionen von FDP, Die Linke und um dabei die Miete fast zu verdoppeln. Alternative Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der übrigen Räumlichkeiten im Stadtteil gab es nicht. Die Folge: Fraktionen des Hauses angenommen. Die Erzieherinnen und Erzieher verloren ihren Arbeits- platz. Die Eltern waren gezwungen, für ihre Kinder – Dritte Beratung einige von ihnen mit besonderem Förderbedarf – inner- halb kurzer Zeit neue Kitaplätze zu suchen. Einige Eltern und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem mussten sogar ihren Arbeitsplatz aufgeben, weil sie kei- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge- nen Kitaplatz fanden. Leider kein Einzelfall! genprobe! – Enthaltungen? – Keine. Dann stelle ich fest, Meine Damen und Herren, wenn Vermieter ohne dass in dritter Beratung und Schlussabstimmung der Ge- Rücksicht auf die Folgen maximalen Profit aus einem setzentwurf gegen die Stimmen der Fraktion der FDP, der angespannten Gewerbemietmarkt zu schlagen versuchen, Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die dann ist und bleibt das in meinen Augen inakzeptabel. Grünen mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses angenommen worden ist. (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17941

Pascal Meiser (A) Und immer mehr soziale Einrichtungen und kleine Ge- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- (C) werbetreibende wehren sich dagegen. Einige dieser Ge- NIS 90/DIE GRÜNEN) werbetreibenden sind heute auch hier bei uns zu Gast. Es sind solche klaren Regeln, die wir dringend brau- Herzlich willkommen und vielen Dank für Ihr Engage- chen, wenn wir wollen, dass es auch in Zukunft noch ment! kleine Handwerksbetriebe in den Innenstädten gibt, dass (Beifall bei der LINKEN) inhabergeführte Einzelhandelsgeschäfte nicht gänzlich von großen Ketten verdrängt werden und dass soziale Dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, belegen auch Einrichtungen wie Kitas oder Seniorentreffs in unseren die von mir bei der Bundesregierung abgefragten Daten. Innenstädten noch eine Zukunft haben. Allein von 2014 bis 2018 stiegen zum Beispiel die Mieten für größere Ladenflächen in 1B-Lagen jenseits der be- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. kannten Haupteinkaufsstraßen in München, Berlin, Ham- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- burg, Düsseldorf, Frankfurt und Köln im Schnitt um satte neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 53 Prozent. Auch der Generalsekretär des Zentralver- bands des Deutschen Handwerks, Holger Schwannecke, schlägt inzwischen Alarm – ich zitiere –: Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Vielen Dank, Herr Kollege Meiser. – Nächster Redner Die Preisexplosion im Immobiliensektor wird für ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Dr. Jan-Marco unsere Betriebe zunehmend zum Problem. Vieler- Luczak. orts erleben wir einen Rückzug von Handwerkern aus den Innenstädten und Wohnvierteln an die Rän- (Beifall bei der CDU/CSU) der der Stadt, da spielt sich ein echter Verdrängungs- wettbewerb ab. Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- Spätestens da müsste doch ein Aufschrei durch die ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben hier Reihen der vermeintlichen Freunde des Handwerks und einen Antrag von den Linken vorliegen, der nicht nur – der Kleinunternehmer in der Union gehen. Aber nein, das das erwarten wir auch nicht anders – ein Griff in die Gegenteil ist der Fall. Obwohl der Bundesrat die Bundes- sozialistische Mottenkiste ist – dazu komme ich gleich regierung Ende 2018 aufgefordert hat, Maßnahmen zum noch –, sondern der vor allen Dingen auch eines ist: Er ist Schutz von Gewerbemietern zu prüfen, sieht Wirtschafts- eine Mogelpackung. minister Altmaier keinerlei Handlungsbedarf. Liebe Kol- leginnen und Kollegen von der Union, bekennen Sie doch Er ist eine wirkliche Mogelpackung. Denn wie ist die- (B) endlich Farbe, auf welcher Seite Sie in dieser Frage ste- ser Antrag überschrieben? Da steht: Wir wollen Kleinge- (D) hen: auf der Seite der Immobilienlobby oder auf der Seite werbe und soziale Einrichtungen vor der Mietenexplo- des Handwerks und des Kleingewerbes. sion retten. Darüber kann man vielleicht sogar reden. Aber davon steht in Ihrem Antrag überhaupt nichts. Wenn (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Canan Sie sich Ihren Antrag einmal genau anschauen, sehen Sie: Bayram [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Da steht überhaupt gar nichts von Kleingewerbe, sondern Dass es auch anders geht, zeigen übrigens Länder wie da geht es generell darum, das Gewerbemietrecht umzu- Frankreich, Österreich oder Dänemark, wo die Gewerbe- gestalten. mieten in unterschiedlicher Form reguliert sind. Lassen (Enrico Komning [AfD]: So ist das also!) Sie uns jetzt auch in Deutschland endlich für mehr Si- cherheit für Kleingewerbe und soziale Einrichtungen sor- Generell wollen Sie die Dinge, die wir im Wohnungs- gen. mietrecht zu Recht haben, weil die Wohnung für Men- schen natürlich mehr ist als eine bloße Ware, weil sie dort (Beifall bei der LINKEN) leben – das ist ein Stück Heimat, das ist Rückzugsraum –, Als Linke haben wir dazu konkrete Vorschläge vorgelegt. wo wir aus guten Gründen einen hohen sozialen Schutz- standard haben, wo wir das Mietrecht in den vergangenen Erstens. Gewerbemieter brauchen einen besseren Kün- Jahren zugunsten der Mieter deutlich angepasst haben, digungsschutz. Und sie brauchen bei befristeten Verträ- gen das Recht auf Vertragsverlängerung zu klar festge- (Pascal Meiser [DIE LINKE]: Aber nicht aus- schriebenen Konditionen. reichend!) Zweitens. Für die besonders stark betroffenen Kom- weil wir diese Problemlagen auch sehen, auf das Gewer- munen braucht es eine Gewerbemietpreisbremse, die bemietrecht übertragen. den unregulierten Anstieg der Gewerbemieten endlich Aber all das trifft doch auf Gewerbemieter überhaupt stoppt. gar nicht in dieser Form zu. Das, was Sie hier vorschla- gen, trifft dann auch die Großen. Das trifft dann Aldi, das (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- trifft Rewe, das trifft Obi. Das sind doch nicht diejenigen, neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die den Schutz brauchen. All das wollen Sie jetzt aber mit Drittens. Die Kommunen müssen ihre Instrumente des diesem Antrag machen. Deswegen ist dieser Antrag wirk- sogenannten Milieuschutzes endlich auch zum Schutz der lich eine große Mogelpackung. Sie sollten vielleicht ein- gewerblichen und sozialen Infrastruktur nutzen können, mal deutlich formulieren, was Sie eigentlich damit wol- meine Damen und Herren. len. 17942 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Dr. Jan-Marco Luczak (A) (Beifall bei der CDU/CSU – Sebastian lien sind so unterschiedlich, dass es fachlich in der Praxis (C) Steineke [CDU/CSU]: Schutz der Millionäre überhaupt nicht möglich ist, einen einheitlichen Mieten- durch Die Linke!) spiegel zu erstellen. Es geht nämlich überhaupt nicht darum. Man könnte ja (Zuruf von der AfD: Das wissen die auch der Auffassung sein, das ist irgendwie alles fachlich ein- nicht!) fach nur schlecht formuliert und schlecht gemacht. Aber ich glaube, Ihnen geht es am Ende um etwas ganz ande- Ich möchte das einmal an einem Beispiel deutlich ma- res. Ihr wirkliches Ziel ist, dass Sie am Ende einen Sys- chen. Für einen Bäcker zum Beispiel, der sein Unterneh- temwechsel erreichen wollen; Sie wollen regulieren, Sie men, seinen Laden in einem Wohngebiet hat, kann das wollen eine staatliche Bevormundung machen, eine Toplage sein, weil die Leute morgens losgehen und auch sonntagmorgens Brötchen kaufen. Da kann ein (Enrico Komning [AfD]: Richtig!) Bäcker richtig florieren. Wenn aber an der gleichen Stelle Sie wollen eine staatliche Bewirtschaftung von Grund vielleicht ein Fachhandel für Schrauben aufmachen soll- und Boden. So hatten wir das 40 Jahre in der DDR, und te, hätte der in einem Wohngebiet überhaupt gar keine wir haben am Ende auch gesehen, wohin das geführt hat, gute Lage. Wie wollen Sie denn da jetzt eine irgendwie nämlich zu einem völlig maroden Land. Seit 30 Jahren angemessene Miete im Sinne eines Mietspiegels ma- kehren wir die Scherben weg, und langsam werden wir chen? erst damit fertig. Wir wollen das an dieser Stelle nicht (Canan Bayram [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- noch einmal haben. NEN]: Das stimmt so nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU und der AfD sowie Das ist fachlich absolut unmöglich. bei Abgeordneten der FDP) Das ist ja auch ein Teil einer Gesamtstrategie. Wir Vizepräsident Wolfgang Kubicki: haben heute im Berliner Abgeordnetenhaus gesehen, dass Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage der es Ihnen genau darum geht. Das ist Teil einer Strategie. Kollegin Lay? Sie nehmen das Land Berlin immer als Experimentierfeld für Ihre sozialistischen Versuche. Heute ist der Mieten- Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): deckel hier in Berlin beschlossen worden. Nein, erlaube ich nicht. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Deswegen werden wir einen solchen Gewerbemiet- Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das hat spiegel an dieser Stelle auch nicht mitmachen. (B) Sie wohl getroffen?) (D) – Da können Sie klatschen. Aber ich kann Ihnen sagen: Man muss an dieser Stelle auch noch einmal verdeut- Dieser Mietendeckel wird den Menschen in der Stadt hier lichen: Wir haben hier eine fundamental andere Aus- überhaupt nicht helfen. gangslage. Am Ende geht es bei Gewerbemieten um Un- ternehmer, die nicht in der gleichen Weise schutzwürdig (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Abwar- sind wie etwa Menschen, die in ihrer Privatwohnung ten!) wohnen, wo sie einen Rückzugsraum haben, wo sie ein Ganz im Gegenteil: Er wird ihnen schaden, weil wir näm- Stück weit Heimat haben. Deswegen gibt es an dieser lich das, was allein die Wohnungsknappheit hier in Berlin Stelle einfach fundamentale Unterschiede. bekämpfen könnte, was allein das Problem lösen könnte, Der einzige Punkt, an dem wir wirklich darüber nach- dass wir nämlich mehr Angebote haben, nur schaffen, denken müssen – das hatte ich eingangs gesagt –, sind die wenn wir mehr Neubau haben. sozialen Einrichtungen. Das sind Kindertagesstätten, das sind Seniorentreffpunkte. Sie sind tatsächlich unter (Zuruf von der AfD: So sieht es aus!) Druck. Da gibt es mehrere Punkte, die wir uns anschauen Mit diesem Mietendeckel, den Rot-Rot-Grün heute in müssen. Berlin beschlossen hat, schaden Sie den Menschen, weil Sie am Ende Neubau verhindern, weil Sie Klimaschutz Viele von diesen sozialen Einrichtungen sind bei kom- verhindern, weil niemand mehr energetisch modernisie- munalen Trägern angesiedelt, die eine staatliche Unter- ren will. Das wollen wir jetzt nicht auch noch im Ge- stützung erfahren. Da kann man schon einmal schauen: werbemietrecht haben. Wie können wir sozusagen staatliche Unterstützung an dieser Stelle vielleicht besser organisieren, damit sie eben (Zurufe von der LINKEN) nicht so stark unter Druck geraten? Ich bin sehr dafür, dass man überlegt, wie man schützende Regelungen ein- – Da können Sie noch so sehr schreien. führt. Aber wir müssen das, glaube ich, mit Augenmaß (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Falsch! tun, nicht so, wie Sie das machen: das gesamte Woh- Wir schreien nicht, wir korrigieren Sie!) nungsmietrecht mit all seinen mieterschützenden Regeln, die dort völlig angemessen und richtig sind, jetzt einfach Aber Sie müssen sich einmal genau anschauen, was Sie über einen Kamm zu scheren und auf das Gewerbemiet- hier fordern. Sie sagen ja zum Beispiel, dass man einen recht zu übertragen. Das hat keinen Sinn. Gewerbemietendeckel machen will, dass Sie einen Ge- werbemietspiegel machen wollen. Ich frage mich jetzt Vielmehr müssen wir sehr genau schauen, dass, wenn wirklich, wie Sie das machen wollen. Gewerbeimmobi- wir dort Veränderungen vornehmen, dies am Ende nicht Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17943

Dr. Jan-Marco Luczak (A) dazu führt, dass gerade solche sozialen Einrichtungen, Sehr geehrte Kollegen, zunächst einmal müssen wir (C) aber auch kleine Handwerksbetriebe, wie sie jetzt gerade bei Gewerbemieten zwischen den großen Metropolen, hier genannt werden, am Ende überhaupt gar keinen La- weil hier tatsächlich Probleme aufgrund explodierender den mehr bekommen, weil die Vermieter dann sagen: Mieten bestehen, und den kleinen und mittleren Städten Wenn die jetzt auch so stark geschützt sind, dann ver- unterscheiden. Dort heißt das Problem nämlich „Leer- miete ich an sie nicht mehr. Deswegen müssen wir an stand“. Beide Zustände sind verursacht durch zu viel dieser Stelle sehr sorgsam damit umgehen. Sozialismus und zu wenig Markt. (Pascal Meiser [DIE LINKE]: Deshalb sollen (Beifall bei der AfD – Pascal Meiser [DIE LIN- alle gleich behandelt werden!) KE]: Zu viel Sozialismus? – Matthias W. Deswegen noch einmal: Das Ziel, soziale Einrichtun- Birkwald [DIE LINKE]: In diesem Land zu gen auch in Kiezen zu erhalten, sodass sie durchmischt viel Sozialismus? Jetzt haben Sie geraucht sind, dass wir dort lebendige Kieze haben, teilen wir. und getrunken!) Aber das, was Sie jetzt vorschlagen, das Gewerbemiet- Sie wollen jetzt mit noch mehr Sozialismus die Proble- recht vollständig umzugestalten, hilft am Ende nicht, das me beseitigen. Allein hier in Berlin vernichtet die plan- schadet nur, und deswegen werden wir das auch nicht wirtschaftlich gelenkte Wohnbaupolitik weite Teile der mittragen. angestammten Gewerbeflächen. Von Ihren Genossen kontrollierte städtische Immobiliengesellschaften zocken (Pascal Meiser [DIE LINKE]: Das schadet den kleine Gewerbe durch Mondmieten, Kündigungen und Profiten! Das ist richtig!) Drohungen ab. Sie sind für die Probleme verantwortlich, Danke schön. liebe Kollegen von den Linken. (Beifall bei der CDU/CSU – Caren Lay [DIE Eine Gewerbemietpreisbremse schafft nicht einen zu- LINKE]: Tosender Applaus! Das finden nicht sätzlichen Quadratmeter mehr Gewerbefläche. einmal Ihre eigenen Leute gut, was Sie da sa- gen!) (Beifall bei der AfD) Sie ist außerdem ein bürokratisches Monster. So sieht es Vizepräsident Wolfgang Kubicki: im Übrigen auch der Städte- und Gemeindebund. Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner hat Überhaupt ist eine solche Mietpreisbremse ohnehin das Wort der Kollege Enrico Komning, AfD-Fraktion. verfassungswidrig. Schon Ihr unseliger Berliner Mietde- ckel wird die Gerichtsinstanzen wohl nicht überleben, bei (Beifall bei der AfD) (B) Gewerbemieten erst recht nicht; denn hier bestehen gar (D) keine Gründe dafür, das Eigentumsrecht des Vermieters Enrico Komning (AfD): zu beschneiden, so im Übrigen auch der Wissenschaft- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- liche Dienst des Bundestages. ren Kollegen! Lieber Kollege Dr. Luczak, ich muss ja eigentlich gar nicht mehr viel sagen; denn Sie haben ja (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wie viel eigentlich schon alles gesagt. Aber nun ist meine Rede Euro zahlen Sie freiwillig, wenn das nicht so geschrieben, und dann will ich in die gleiche bürgerliche ist? Gehen Sie eine Wette ein!) Kerbe hauen, wie Sie es schon getan haben. Ich hoffe, Sie müssen sich heute Abend nicht rechtfertigen, weil ich Ihr Antrag ist vor allem aber auch Ausdruck einer Ihnen applaudiert habe. linken Arroganz gegenüber dem kleinen Gewerbe, dem Mittelstand, in den strukturschwachen Gebieten und in (Zuruf von der LINKEN: Doch!) den ländlichen Räumen. Ziel muss es letztlich sein, dort, wo große Arbeitslosigkeit besteht, Mittelstand anzusie- Ja, meine Damen und Herren, man reibt sich ja schon deln, und nicht, ihn dort, wo er noch floriert, zu gängeln manchmal die Augen. Wenn die Linken einen Antrag und zu beseitigen. Wenn wir auch nur ansatzweise dem zum Schutz kleiner Gewerbetreibender einbringen, ist tatsächlich vielerorts bestehenden Problem explodieren- das so ähnlich, als würden sich die Grünen für den Aus- der Gewerbemieten in den großen Städten wirksam be- bau von Kernkraftwerken aussprechen. gegnen wollen, müssen wir im Grunde genau das Gegen- (Beifall bei der AfD – Matthias W. Birkwald teil von dem tun, was Sie vorschlagen: [DIE LINKE]: Was haben Sie denn getrunken? (Pascal Meiser [DIE LINKE]: Lobbyisten- Oder geraucht?) tum! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist dann auch dieser Antrag. Nicht nur, dass sich die Mieten erhöhen!) vorgeschlagenen Maßnahmen in ein Meer von sozialis- weniger Regulierung, weniger Markt. tischen Blütenträumen ergießen, nein, der Antrag ist geradezu zynisch. Er liest sich wirklich abenteuerlich: (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Weniger Kündigungsausschluss, Schadensersatzanspruch bei Markt, das ist ein Widerspruch in sich! Contra- böswilliger Nichtverlängerung des Mietvertrages, Ihre dictio in Adjecto!) geliebte Mietpreisbremse und Milieuschutz nun auch für Gewerbe. Nicht nur keinen sogenannten Milieuschutz für Gewerbe; aus meiner Sicht muss der § 172 Baugesetzbuch, der (Pascal Meiser [DIE LINKE]: So sieht es aus!) dafür verantwortlich zeichnet, vollständig in die Tonne 17944 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Enrico Komning (A) geschmissen werden. Wir brauchen nämlich mehr Frei- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das (C) heit. weiß er offenkundig nicht! Aber gut, dass Sie es noch mal sagen!) (Beifall bei der AfD) Sie haben ja schon mehrfach darauf hingewiesen – Sie Anstelle einer Mietpreisbremse müssen die richtigen selber sehen es jeden Tag –: In vielen Städten, etwa im Rahmenbedingungen geschaffen werden: planerische Si- Ruhrgebiet, in meiner Heimat, ist es so, dass viele Laden- cherheit für bestehende Gewerbeflächen und vor allem lokale schließen, dass die multifunktionale Gestaltung Ausweitung von neuen Flächen. Dazu müssen mehr der Stadtteile nicht mehr vorhanden ist, dass die Vielfalt Möglichkeiten für Mischgebiete aus Wohn- und Gewer- sinkt. Aber in diesen Städten hat das hauptsächlich damit beflächen geschaffen werden. zu tun, dass die Kaufkraft sinkt, dass die Umsätze sinken, Hohen Gewerbemieten begegnen wir mit neuen Ideen, während die Mieten stabil bleiben. Aber es gibt eben auch weniger Unterdrückung des Marktes, keinesfalls aber mit andere Regionen: Berlin, München, Köln; das muss ich Sozialismus von gestern. Ihnen nicht sagen. Auch eine Stadt im Ruhrgebiet ent- wickelt sich positiv. Dort liegen die Gewerbemieten zwi- Vielen Dank. schen 4 Euro und 220 Euro pro Quadratmeter. (Beifall bei der AfD – Ulli Nissen [SPD]: Dann passiert natürlich Folgendes: Wenn der Umsatz Vielen Dank, dass diese Rede vorbei ist!) aufgrund von Onlinehandel, anderen Dingen und der feh- lenden Kaufkraft sinkt, dann geht uns ebendiese Vielfalt Vizepräsident Wolfgang Kubicki: verloren. Wir als Bundesregierung verschließen davor auf keinen Fall die Augen. Wir haben zum Beispiel mit Vielen Dank, Herr Kollege Komning. – Um einen Irr- dem Programm „Lebendige Zentren“ in der Städtebau- tum am Beginn Ihrer Rede aufzuklären: Man muss keine förderung mit 300 Millionen Euro dafür gesorgt, dass hier Rede halten; man kann sie auch zu Protokoll geben. Impulse gegeben werden. Das hilft den einzelnen Mietern (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem nicht; aber es nützt der Gestaltung des Stadtteils. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir müssen dafür sorgen – deswegen ist der Antrag der Das gilt nicht nur für ihn; das gilt für alle Beteiligten. Ich Linken an dieser Stelle natürlich richtig –, dass wir uns will nur darauf hinweisen. das genau anschauen. Es fehlt leider aus unserer Sicht an der Datengrundlage. Wir müssen natürlich genau (Heiterkeit – Beifall des Abg. Matthias W. schauen, wen wir durch den Schutz eigentlich erreichen Birkwald [DIE LINKE]) wollen. Es darf nicht sein, dass wir Ketten unterstützen. (B) (D) Als nächster Redner hat für die SPD-Fraktion der Kol- Das kann auf keinen Fall der Sinn sein. lege Michael Groß das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD) Vielmehr müssen wir die kleinen Gewerbetreibenden und die sozialen Einrichtungen erreichen. Außerdem ha- Michael Groß (SPD): ben wir für die sozialen Einrichtungen schon etwas bei Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- der letzten Mietrechtsreform getan, und zwar beim Mie- gen! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Präsident, Sie terschutz bei Weitervermietung zu sozialen Zwecken. Al- haben natürlich jetzt die Latte sehr hoch gelegt. so, wir sind auf dem Weg. Ich kann den Vorschlag von Herrn Luczak nur aufgreifen – er orientiert sich jetzt nach (Beifall des Abg. Christian Kühn [Tübingen] hinten –, dass wir bei den sozialen Einrichtungen in die- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) ser Legislatur noch was tun. Ich hoffe, meine Rede muss ich nicht zu Protokoll geben. (Beifall des Abg. Christian Kühn [Tübingen] (Zuruf von der AfD: Das hoffen wir auch!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich möchte darauf hinweisen, dass die steigenden Mie- Bei den anderen Fragen wollen wir das noch auf den Weg ten hauptsächlich mit Gewinnerwartungen und Spekula- bringen. tion etwas zu tun haben und nicht mit anderen Dingen. (Beifall bei der SPD – Christian Kühn [Tübin- (Beifall bei der SPD und der LINKEN) gen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Finde ich auch!) Ich weiß nicht, in welcher Welt Sie leben. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass ich zwei Vor- Der zweite Punkt. Ich bin froh, dass der Mietendeckel – schläge für sehr problematisch halte; einer wundert mich ich schaue jetzt Eva Högl an – jetzt in Berlin umgesetzt etwas. Die erste Problematik sehe ich bei der Mietpreis- wurde. Eva, noch einmal herzlichen Dank für den Vor- bremse. Die Mietpreisbremse ist verfassungsrechtlich in- schlag! soweit geprüft, als es einen besonderen Schutzstatus für die Wohnungen gibt – aus einem bekannten Grund; den (Beifall bei der SPD und der LINKEN) muss ich jetzt nicht wiederholen. Die Frage ist: Lässt sich Herr Luczak, Sie wissen auch, dass der Mietendeckel das auf das Gewerbe übertragen? Ich muss mich deswe- nicht für Neubau gilt. Also, er wird keinen Neubau ge- gen wundern, weil ich gestern Frau Lay im Fernsehen bei fährden. Phoenix gesehen habe. Sie haben da sozusagen zitiert: Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17945

Michael Groß (A) Die Mietpreisbremse ist der letzte Mist, sie wirkt nicht, Schauen Sie sich mal in Frankreich um, wie es (C) und sie treibt die Preise. da geregelt ist!) (Ulli Nissen [SPD]: Hört! Hört!) Ein einseitiger Antrag, auf zwei Seiten niedergeschrie- ben: keine Freiheit, kein Fortschritt, strukturkonservativ Wenn Sie also einen Antrag stellen, wonach die Miet- bis ins Mark. preisbremse sozusagen das richtige Instrument ist, dann müssen Sie auch schlüssig bleiben. Da sollten Sie sich (Pascal Meiser [DIE LINKE]: Ja, wir wollen überprüfen. Wir halten sie für das richtige Instrument. die Leute schützen! Das stimmt! Wenn das konservativ ist, dann gerne!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Sie schützen damit auch, wie gesagt, die Groß- Ich bin leider jetzt am Ende meiner Redezeit. Ich will unternehmen. den Präsidenten auch nicht ärgern. Ich danke Ihnen herz- (Pascal Meiser [DIE LINKE]: Nein! Die klei- lich für die Aufmerksamkeit. nen Gewerbebetriebe!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Unter rein taktischen Gesichtspunkten funktioniert Ihr der CDU/CSU) Antrag auch. Denn wie soll die SPD Nein sagen, wenn doch das rote Berlin ein solches Anliegen gerade durch Vizepräsident Wolfgang Kubicki: den Bundesrat gebracht hat und der Bundesfinanzminis- Vielen Dank, Herr Kollege Groß, für diesen Beitrag. – ter öffentlich sein Verständnis für den Berliner Mieten- Als Nächste hat das Wort die Kollegin Katharina deckel erklärt hat? Willkomm, FDP-Fraktion. (Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD]: Ist auch gut (Beifall bei der FDP) so! – Ulli Nissen [SPD]: Da hat er auch recht!) Wie soll die Union Nein sagen, nachdem sie schon die Katharina Willkomm (FDP): Mietpreisbremse durchgewunken hat, deren Verschär- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und fung und auch noch die Verlängerung der Verschärfung? Kollegen! Der Grundstein der sozialen Marktwirtschaft ist die Freiheit. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes Wenn diese Regierung es ernst meint mit unternehmer- standen vor der Frage: Was ermöglichen wir, wem trauen ischer Freiheit, mit einem ausgewogenen Mietrecht und wir was zu? Bei Unternehmerinnen und Unternehmern der Kompetenzordnung des Grundgesetzes, dann ver- war die Antwort: Wir trauen euch in besonderem Maße steckt sie sich beim Mietendeckel nicht hinter der (B) (D) zu, euer Leben selbst zu gestalten. Unionsfraktion, sondern dann geht die Bundesregierung noch selbst als Verfassungsorgan nach Karlsruhe und (Beifall bei der FDP) bittet um Überprüfung des Mietendeckels. Nutzt die Freiheit! Schafft Wohlstand! Tragt zum Fort- (Beifall bei der FDP) schritt bei! Tragt aber auch Verantwortung für das, was nicht gelingt! – Das ist der Ausgangspunkt, wenn ich Ihren Antrag betrachte. Ich möchte drei Punkte heraus- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: greifen. Vielen Dank, Frau Kollegin Willkomm. – Als nächste Rednerin hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Sie wollen bei Mietverträgen über Gewerberäume or- Kollegin Canan Bayram das Wort. dentliche Kündigungen ausschließen. Na super! Dann hat die Kita, die Sie angeblich schützen wollen, morgen die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kündigung im Briefkasten und übermorgen das Angebot für einen befristeten Mietvertrag. Canan Bayram (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie wollen bei befristeten Mietverträgen einführen, Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle- dass der Gewerbemieter einseitig einen laufenden Vertrag gen! Meine Kieznachbarin Daniela betreibt in Friedrichs- zu unveränderten Konditionen verlängern kann. Das hain ein Modeinstitut. Das ist ein Bekleidungsgeschäft. heißt, Sie legen uns diesen Antrag vor, weil für die einen Sie hat sich damit vor fast 17 Jahren eine Existenz auf- Unternehmer alles teurer wird. Dass auf der anderen Seite gebaut, die nun bedroht ist. Vor einem Jahr hat sie er- des Vertrages ein Unternehmer steht, dessen Ausgaben fahren, dass der Immobilienspekulant Fortis das Gebäude für Maler und andere Handwerker auch steigen, das ist erworben hat. Nun muss sie raus. Ihnen völlig egal. Täglich bin ich mit den Folgen der fehlenden Gesetze Folgenden Punkt fand ich besonders interessant: Der zum Schutz der Gewerbemieterinnen und -mieter kon- Vermieter verlängert den Mietvertrag nicht und macht frontiert. Um die Gewerbemieterinnen und -mieter zu dafür ein auch in Ihren Worten schutzwürdiges Interesse schützen, habe ich einen Gesetzentwurf erarbeitet, der geltend. Dann soll er trotzdem Schadensersatz zahlen! erstmalig in der Geschichte dieses Landes ein eigenstän- Ein Anspruch auf Schadensersatz, ohne dass der Vermie- diges Gewerbemietrecht schafft. Wir wollen, dass kleine ter eine Pflicht verletzt hat – was für ein Quatsch! Ladeninhaber, soziale Einrichtungen sowie Kunst- und Handwerksbetriebe vor Verdrängung geschützt werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Pascal Meiser [DIE LINKE]: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 17946 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Canan Bayram (A) Viele Gewerbemieterinnen und -mieter wie Daniela (Beifall bei der CDU/CSU) (C) gibt es in ganz Deutschland. Die wollen wir schützen, meine Damen und Herren. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Lie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) be Kollegen! Das Mitleid der Grünen mit der Parteizent- Noch vor einem Jahr hat der Staatssekretär Nußbaum rale der CDU in Berlin ehrt Sie; aber es ist scheinheilig. auf meine Kleine Anfrage geantwortet, es lägen „keine verlässlichen und belastbaren Daten vor, die auf ein (Pascal Meiser [DIE LINKE]: Sie können auch strukturelles und erhebliches Ungleichgewicht zwischen in den Tunnel ziehen!) Vermietern und Mietern auf dem Mietmarkt über Gewer- Wir haben heute einen schwarzen Tag für den Woh- beraum schließen lassen“. Es scheint mir ein deutlicher nungsbau, zumindest in Berlin, lieber . Fingerzeig zu sein, dass ausgerechnet Sie, meine Damen Heute hat die rot-rot-grüne Koalition in Berlin einen und Herren von der CDU, sich nun infolge einer drasti- Mietpreisdeckel auf den Weg gebracht. schen Mieterhöhung gezwungen sehen, Ihre Berliner Par- teizentrale zu verlegen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Ulli Nissen [SPD]: Hört! Hört! Herr Luczak, was ist das denn?) – Da gibt es keinen Grund zum Klatschen. Wie ich hörte, wird Ihnen von einem Berliner Künstler- Lieber Herr Birkwald, glauben Sie im Ernst, dass kollektiv ein Büro in einem U-Bahn-Tunnel errichtet. durch den Mietpreisdeckel auch nur eine Wohnung ge- Tja, meine Damen und Herren, so was kommt von so schaffen wird? was. Jetzt sehen Sie selbst: Der Kapitalismus frisst seine (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Endlich Eltern. passiert was!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ja, habe ich schon verstanden; es wird aber auch keine und bei der LINKEN) Wohnung saniert. Unseren Gesetzentwurf werden wir am 12. Februar im (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ Deutschen Bundestag in einem Fachgespräch präsentie- DIE GRÜNEN]: Der Neubau ist doch ausge- ren und zur Diskussion stellen. Wir wollen die nommen! Nehmen Sie das doch mal zur Kennt- Schutzregeln des Wohnraummietrechts, soweit sie Sinn nis!) machen, auf das Gewerbemietrecht übertragen. Damit (B) wollen wir unanständig hohe Mietforderungen der Ver- – Jetzt höre ich von den Grünen den Zwischenruf: „Der (D) mieter stoppen. Neubau ist doch ausgenommen.“ Gleichzeitig mit dem Mietendeckel ist aber auch geregelt – auch das gehört (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Wahrheit –, dass nach einer Sanierung die Miete nur sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE maximal um 1 Euro pro Quadratmeter erhöht werden LINKE]) kann. Jetzt frage ich euch von den Grünen: Kann man Wir wollen kleinen Gewerbemieterinnen und Gewerbe- mit 1 Euro Mietsteigerung mietern das Recht geben, befristete Mietverhältnisse zu verlängern, um ihre Existenz zu sichern; darum geht es (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Pro doch. Quadratmeter und Monat!) eine vernünftige energetische Sanierung in vielen Altbau- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ten durchführen? Sicherlich nicht! Da fällt sogar bei den Damit Daniela ihr Modegeschäft behalten kann, damit Grünen die Kinnlade runter. die Berliner CDU nicht in den U-Bahn-Tunnel ziehen muss (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, das ist ein schlechter Tag. (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Wir ha- ben eine wunderbare Landesgeschäftsstelle! (Zuruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE Alles super!) LINKE]) und damit alle Gewerbetreibenden in Deutschland ge- – Matthias, entweder stellst du eine Frage, dann kriege schützt werden, wollen wir ein Gewerbemietrecht schaf- ich mehr Zeit, oder du störst mich nicht. fen. Denn unser Entwurf muss Gesetz werden. Der Antrag von den Grünen, den wir heute behandeln, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wurde offensichtlich mit heißer Nadel gestrickt. Er soll das verfassungsrechtlich höchst fragwürdige Vorhaben Vizepräsident Wolfgang Kubicki: des rot-rot-grünen Berliner Senats, einen Mietendeckel Vielen Dank, Frau Kollegin Bayram. – Das haut mich zu schaffen, flankieren. Ihr anderthalbseitiger Antrag ist aber wirklich um, dass die Grünen jetzt die CDU-Partei- dabei aber inhaltlich nicht ansatzweise in der Lage, die zentrale schützen wollen. Das macht mich sprachlos. vielschichtigen Probleme in Ballungsräumen oder Groß- städten zu lösen. Im Gegenteil: Käme man ihm nach, so Ich finde, dass jetzt der Kollege Paul Lehrieder für die würde er in einer ohnehin schon angespannten Situation CDU/CSU-Fraktion antworten darf. zusätzliche Rechtsunsicherheit auslösen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17947

Paul Lehrieder (A) Sie lassen dabei auch weiterhin außer Acht, dass der und sage: Jawohl, wie schaut es denn aus? Können wir (C) rasante Anstieg der Wohnungsmieten, also den persön- einen Vertrag für 10, 15 Jahre machen und, wenn ja, zu lichen Rückzugsbereich einer Person oder eine Familie welchen Konditionen? Können wir reinschreiben, dass betreffend, durchaus schutzwürdig ist. Die Vorredner ha- die Mieten nach dem Lebenshaltungskostenindex stei- ben bereits darauf hingewiesen, dass durchaus eine Dif- gen? – All die Möglichkeiten bestehen jetzt schon, um ferenzierung angebracht ist zwischen Schutz von Wohn- sich langfristig beidseitig zu binden, Vertrauen auf beiden raum, weil jeder eine Unterkunftsmöglichkeit braucht, Seiten zu schaffen, Planungssicherheit auf beiden Seiten und Gewerberaum, weil die Partner hier stärker auf Au- zu schaffen. All dies ist da. genhöhe sind. Dies verkennt natürlich Die Linke. Die Linke möchte – Ich verkenne nicht, dass es in Innenstädten, in Klein- auch darauf hat der Kollege Luczak bereits hingewie- städten, natürlich auch in Berlin, mit Verlaub, Leerstand sen –, wie das zu Zeiten der DDR der Fall war, dass gibt und Läden zum Teil leer stehen; darauf wurde schon Einraum- und Zweiraumwohnungen zugewiesen werden. von Vorrednern hingewiesen. Wir müssen schauen: Was Seien wir mal ehrlich: Vor 1989 war der gewerbliche sind die Ursachen? Nicht immer ist es die überhöhte Wohnungsbestand in den Städten in den neuen Ländern Miete, sondern oft ist es auch unser Freizeitverhalten. nicht viel besser, als er heute ist, mit Verlaub. Wir diskutieren das Gaststättensterben, und zwar nicht (Pascal Meiser [DIE LINKE]: Sie wissen nur in den Städten, sondern auch auf den Dörfern, weil schon, dass es in der Bundesrepublik Deutsch- wir abends nicht mehr so oft ausgehen. Auf der anderen land bis in die 60er-Jahre eine Regelung gab?) Seite weiß ich auch um die Problematik von Klubs in Berlin. Wir sind froh, dass wir in vielen Bereichen blühende Landschaften sehen. Das ist aber eben auch ein Stück (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Also, an weit die Marktwirtschaft. Das ist die Möglichkeit, dass mir liegt das nicht!) gewerbetreibende Mieter und Vermieter ihre Konditionen aushandeln. Daran wollen wir nicht rütteln. Deshalb wird – Ich weiß nicht, wie oft der Kollege Birkwald in die es dich nicht wundern, lieber Matthias, dass wir euren Kneipe geht. Aber ich gehe davon aus, dass es ausrei- Antrag ablehnen. Er ist nicht so toll. chend ist. – Also, in aller Regel ist es natürlich schlicht- weg multikausal. (Caren Lay [DIE LINKE]: Ja, was machen Sie denn? Sie stehen doch da mit leeren Händen!) Wie kann man den Gewerbetreibenden helfen? Es gibt einen ganz tollen Bereich, bei dem man ansetzen kann: Ich bin gespannt, was die Grünen in ein paar Wochen Das ist das Planungsrecht. Wir haben Artikel 30 Absatz 1 bringen werden, wenn wir uns mit dem Thema wieder (B) (D) Baugesetzbuch. Vielleicht hilft mal ein Blick ins Gesetz, befassen. Ich freue mich darauf. bevor man so einen Antrag schreibt. In einem Be- Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Machen bauungsplan kann man festsetzen, was in Zukunft auf Sie es gut! einem Areal passieren soll: Kita, öffentliche Bedarfsflä- che, kulturelle Einrichtungen. Das kann man natürlich (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. auch berücksichtigen. Birkwald [DIE LINKE]: Du hast jetzt nur nicht gesagt, was ihr machen wollt!) (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Und was ist mit dem Be- stand?) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Ich kenne es auch, dass viele soziale Einrichtungen im Vielen Dank, Herr Kollege. Besitz der Kommune sind. Da kann die Kommune mit- (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Punktlandung!) gestalten, und die verlangt von sich aus keine überhöhte Miete. Da muss man auch ein bisschen die Kirche im – Punktlandung. Ich bin ja auch stolz auf Sie. Sie haben Dorf lassen. Ja, es gibt auch private soziale Einrichtun- noch drei Sekunden. gen, die angemietet sind und sicherlich diese Probleme Als nächste Rednerin und damit abschließend zu die- haben. sem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin Ulli Nissen (Pascal Meiser [DIE LINKE]: Schauen Sie sich das Wort. doch mal die großen Städte an, um zu sehen, ob (Beifall bei der SPD) das funktioniert, was Sie da sagen!) Auch darauf wurde hingewiesen: Wir haben in Ulli Nissen (SPD): Deutschland – im Übrigen anders als Sie in Ihrem Antrag Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und schreiben und anders als in Frankreich – einen hohen Kollegen! Auch in Frankfurt gehen die Gewerbemieten Schutz des Privateigentums. Wir haben Artikel 2 Absatz 1 durch die Decke. Alteingessene Bäckereien, Obst- und Grundgesetz, die allgemeine Handlungsfreiheit, und wir Gemüseläden, Metzger, Buchhandlungen und kleine haben im gewerblichen Bereich die Möglichkeit, Staffel- Nähstuben verschwinden wegen hoher Mieten aus den mieten zu vereinbaren. Wir haben die Möglichkeit, be- Stadtteilen. Die Versorgung der Nachbarschaft ist häufig reits vor Ablauf des Mietvertrages den Mietvertrag zu nicht mehr gesichert. Wie soll die Stadt der Zukunft aus- verlängern. Wenn ich meine Gaststätte oder meine Bou- sehen? Die SPD spricht sich schon seit Langem für eine tique umbauen will, dann rede ich mit meinem Vermieter Stadt der kurzen Wege mit wohnortnaher Versorgung aus. 17948 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Ulli Nissen (A) Für das Klima ist es gut, wenn Erledigungen zu Fuß oder (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) per Fahrrad gemacht werden können. Auch die SDGs der CDU/CSU) fordern nachhaltige Städte und Gemeinden, liebe Kolle- ginnen und Kollegen. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Der Bundesrat hat die Bundesregierung darum gebe- Vielen Dank, Frau Kollegin Nissen. – Damit schließe ten, dass sie Maßnahmen im Dreiklang aus Gewerbemiet- ich die Aussprache. recht, Wirtschaftsförderung und Städtebaurecht prüfen Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf soll, die geeignet sind, eine Verdrängung von kleinen Drucksache 19/16837 an die in der Tagesordnung aufge- und mittleren Unternehmen, von Einzelhandels- und führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist Handwerksbetrieben und sozialen Einrichtungen in In- jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD nenstädten zu verhindern. wünschen Federführung beim Ausschuss für Recht und 790 Millionen Euro stellt der Bund jedes Jahr für die Verbraucherschutz. Die Fraktion Die Linke wünscht Fe- Städtebauförderung zur Verfügung. Wir haben jetzt drei derführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Dachprogramme. Für die Entwicklung von Ortskernen, Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvor- insbesondere zur Sicherung der Daseinsvorsorge, inves- schlag der Fraktion Die Linke: Federführung beim Aus- tieren wir 300 Millionen Euro mit dem Programm „Le- schuss für Wirtschaft und Energie. Wer stimmt für diesen bendige Zentren“. Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Ent- haltungen? – Keine. Dann ist gegen die Stimmen der Mit weiteren 200 Millionen Euro fördern wir das Pro- Fraktion Die Linke mit den Stimmen der übrigen Fraktio- gramm „Sozialer Zusammenhalt“. Hiermit soll die Stär- nen des Hauses der Überweisungsvorschlag abgelehnt. kung von Bildung und generationsübergreifenden Ange- boten sowie die Integration aller Bevölkerungsgruppen – Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungs- der soziale Zusammenhalt – gefördert werden. vorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Federführung beim Ausschuss für Recht und Verbrau- Mit 290 Millionen Euro ist das Programm „Wachstum cherschutz. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor- und nachhaltige Erneuerung“ ausgestattet. Dabei geht es schlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. um die nachhaltige Erneuerung von Quartieren, insbe- Dann ist gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke mit sondere durch Unterstützung des Wohnungsbaus und den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses dieser durch Klimafolgeanpassungen. Überweisungsvorschlag angenommen. Ich bin überzeugt: Diese Programme helfen gegen Ver- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: (B) drängung und Gentrifizierung. Zugleich stärken sie den (D) schon vorhandenen Gestaltungsspielraum der Kommu- Beratung des Antrags der Abgeordneten Corinna nen. Diese sollten sie auch nutzen, zum Beispiel durch Miazga, Stephan Brandner, Jürgen Braun, weite- städtebauliche Verträge, Einzelhandelsentwicklungsplä- rer Abgeordneter und der Fraktion der AfD ne, vielleicht auch durch Gewerbe- oder Handwerkerhö- zur Richtlinie (EU) 2019/1937 des Europä- fe; darüber wird in Frankfurt nachgedacht. Bei der städti- ischen Parlaments und des Rates vom 23. Ok- schen Frankfurter Wohnungsbaugesellschaft ABG tober 2019 zum Schutz von Personen, die Ver- Holding sind die Gewerbemieten zum Beispiel noch so stöße gegen das Unionsrecht melden moderat, dass sich auch Familienbetriebe halten können. KOM(2018) 218 endg.; Ratsdok. 8713/18 Die Mietrechtsreform der Großen Koalition von 2018 hier: Erhebung einer Subsidiaritätsklage gemäß verbessert die Situation von sozialen Trägern, die Miet- Artikel 8 des Protokolls Nummer 2 zum verhältnisse geschlossen haben, um sie für Wohnzwecke Vertrag von Lissabon (Anwendung der weiterzuvermieten. Seit dem 1. Januar 2019 gelten be- Grundsätze der Subsidiarität und der Ver- stimmte Regelungen aus dem sozialen Mietrecht. Das gilt hältnismäßigkeit) i. V. m. Artikel 263 des zum Beispiel für betreutes Wohnen oder Obdachlosen- Vertrages über die Arbeitsweise der Euro- unterkünfte. Besonders wichtig ist der Kündigungs- päischen Union, Artikel 23 Absatz 1a des schutz. Jetzt haben soziale Träger mehr Planungssicher- Grundgesetzes, § 12 des Integrationsverant- heit und werden besser vor Verdrängung geschützt. Die wortungsgesetzes Bundesregierung prüft außerdem, ob ein Bedarf für wei- tere Maßnahmen besteht. Die SPD hat dazu in ihrem Verstoß der Richtlinie des Europäischen Par- Papier zur Wohnwende gute Vorschläge gemacht. laments und des Rates gegen das Subsidiari- tätsprinzip, das Verhältnismäßigkeitsprinzip Ich danke den Linken, die mit ihrem Antrag ein wichti- und das Prinzip der begrenzten Einzelermäch- ges Thema aufgegriffen haben, tigung (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Drucksache 19/16857 und ich freue mich schon auf die Diskussionen im Aus- Über den Antrag werden wir später namentlich abstim- schuss. men. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bedanke mich für Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten be- die Aufmerksamkeit. schlossen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17949

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- Dass dieses Instrument aber nicht nur erhebliche Ge- (C) nerin der Kollegin Corinna Miazga, AfD-Fraktion, das fahren für den Arbeitsfrieden mit sich bringt und vorsätz- Wort. liche oder fahrlässige Fehlmeldungen erleichtert, also der gezielten Denunziation Vorschub leistet, ist noch lange (Beifall bei der AfD) nicht alles. Wir haben es hier funktional mit einer Rege- lung aus dem Exekutivbereich zu tun, unabhängig davon, Corinna Miazga (AfD): ob sie in der öffentlichen Verwaltung oder in privaten Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Unternehmen ausgeübt wird. Das ist Polizeirecht, und Herren! Geschätztes Kollegium! In dieser Woche, genau dieses gehört gerade nicht zum Aufgabenbereich der Eu- genommen morgen, verlieren wir mit Großbritannien ei- ropäischen Union. Punkt! nen wichtigen Partner und den zweitgrößten Nettozahler in der Europäischen Union. Die Briten treten aus; sie (Dr. Jürgen Martens [FDP]: Was? Polizei- wollten es so. Wer Demokratie ernst nimmt, der respek- recht?) tiert den Willen des Volkes. – Ja, das gehört zum Polizeirecht. Richtig, Herr (Beifall bei der AfD) Martens. – Die Verwaltung ist Sache der Mitgliedstaaten, in Deutschland vornehmlich Sache der Länder. Die Eu- Insofern passt mein heutiger Antrag sehr gut in das ak- ropäische Union hat somit keine Ermächtigung, diesen tuelle Zeitgeschehen; denn wer sich noch immer verwun- Bereich zu regeln. Sie verletzt das Subsidiaritätsprinzip. dert die Augen über die Gründe des Brexits reibt, der sollte sich intensiv mit dem Gegenstand dieser Debatte Wie kritisch, wie problematisch, ja, wie gefährlich die- befassen, der sogenannten Whistleblower-Richtlinie der se Richtlinie ist, hat 2018, als die Entwurfsfassung be- EU. kannt wurde, nur ein Staatsorgan erkannt: die Bayerische Mit dieser Richtlinie, die sich sowohl an den privaten Staatsregierung. Diese hat am 14. Juni 2018 einen Be- wie auch an den öffentlichen Sektor wendet, wird angeb- schluss des Bayerischen Landtags herbeigeführt: Der lich die Verbesserung des Schutzes von Hinweisgebern, EU fehle für die Richtlinie die Kompetenz, und sie ver- sogenannten Whistleblowern, bezweckt. So sollen Perso- letze das Subsidiaritätsprinzip. – Erhellend ist aber der nen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, keine letzte Absatz aus dem Beschluss des Landtags, den ich – Benachteiligung durch ihre Arbeitgeber oder Diensther- mit der Genehmigung des Präsidenten – zitiere: ren befürchten müssen. Das hört sich ja erst mal gar nicht Abschließend verwahrt sich der Bayerische Landtag so abwegig, fast sogar ein bisschen populistisch an. Den- gegen den mit dem Richtlinienvorschlag implizier- ken wir allein an Edward Snowden, der ja gern als Held ten Generalverdacht gegen die Behörden in den Mit- (B) der Wahrheit in den Medien gefeiert wird. gliedstaaten. (D) (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ist der auch!) Der Bundesrat hat die Bedenken Bayerns aufgegriffen – Genau, ja, ist er. – Kurios ist nur, dass genau dieser und im Beschluss vom 25. Juni 2018 sogar erweitert. Als Mann, der eindeutig politisch Verfolgter ist, in Deutsch- Mitglied des Deutschen Bundestages und als Vorsitzende land kein Asyl erhält. Aber vielleicht stammt er einfach der AfD in Bayern rufe ich Sie deshalb dazu auf, diesen aus dem falschen Herkunftsland. Richtlinienentwurf dem EuGH im Rahmen einer Subsi- diaritätsklage – die Frist dafür läuft noch circa eine Wo- (Beifall bei der AfD) che – vorzulegen und sich damit für den Rechtsstaat und Zurück zur Richtlinie. Wir dürfen uns nicht von ihrem den Erhalt des Föderalismus in Deutschland und in der klangvollen Titel ablenken lassen. Mit ihr wird das EU- EU einzusetzen. Meldewesen in Amtsstuben und privaten Unternehmen etabliert. Verstöße gegen das Unionsrecht sollen intern – (Beifall bei der AfD) oder besser noch: extern – gemeldet werden, und das auf Ich kann nur warnen: Wenn diese Richtlinie umgesetzt eigens dafür eingerichteten Meldekanälen, nach dem wird, werden wir hier in der Folge nicht mehr nur über Motto: Ich möchte hier mal jemanden melden. – Wir Zuständigkeitsfragen reden. Wir werden uns dann mit kennen das Prinzip ja. den materiellen Problemen der Richtlinie und mit ihrer Was soll hier in Wirklichkeit also anderes geleistet Vereinbarkeit mit unseren Grundrechten, vor allem mit werden, als die Beamten und Arbeitnehmer aktiv dazu dem Persönlichkeits- und Unternehmensschutz, ausei- aufzurufen und sie zu provozieren, die Anwendung des nandersetzen müssen. Unionsrechts und darüber hinaus die Unionspolitik in den Ganz ehrlich: Wenn Sie heute der Subsidiaritätsklage Amtsstuben und Unternehmen der Mitgliedstaaten zu nicht zustimmen, dann sollten Sie, bevor Sie Strafgesetze überwachen? Wir reden hier doch von nichts anderem zum Schutz der EU-Flagge vor Verunglimpfung verab- als vom, bildlich gesprochen, berühmten roten Telefon schieden, das Design ebendieser vielleicht einmal über- der Europäischen Union. denken: Entfernen Sie die Sterne, und setzen Sie Hammer (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) und Sichel drauf, Ich kann es nicht oft genug wiederholen: Nicht Big (Zurufe von der CDU/CSU: Oah!) Brother, sondern Big Union is watching you now! damit auch dem Letzten hier klar wird, welchem Regime (Beifall bei der AfD) Sie hier eigentlich nacheifern. 17950 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Corinna Miazga (A) (Beifall bei der AfD – Sebastian Steineke richtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum (C) [CDU/CSU]: Das waren wieder die zehn Se- Gegenstand haben“. Daran fehle es hier. Die Richtlinie kunden für YouTube, oder?) habe „nichts mit dem Funktionieren oder gar der Errich- Von der Europäischen Union zur Währungsunion zur tung des Binnenmarktes zu tun“. Es gehe nur „um den Umverteilungsunion zur Überwachungsunion zur Melde- Schutz der Arbeitnehmer und Bediensteten, die auf Ver- union, stöße gegen das Unionsrecht ... hinweisen“. (Ulli Nissen [SPD]: Junge, Junge!) Dazu kann ich nur sagen: Ja, darum geht es. Es ist nein danke, das braucht in Europa wirklich niemand. Das richtig. Und es betrifft das Funktionieren des Binnen- haben die Briten verstanden und sind uns deshalb im marktes, und zwar ganz zentral. wahrsten Sinne des Wortes von dieser Fahne gegangen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Vielen Dank. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Jürgen Martens (Beifall bei der AfD – Matthias W. Birkwald [FDP]) [DIE LINKE]: Von wem wollen Sie denn noch ernst genommen werden mit solchen Reden?) Denn seit Jahrzehnten wissen wir, dass wir hinsichtlich der Rechtsangleichung in der Europäischen Union durch- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: aus nicht selten mit der Lage konfrontiert sind, dass Mit- Vielen Dank, Frau Kollegin Miazga. – Als nächster gliedstaaten europäisches Recht zwar umsetzen, aber Redner hat das Wort Herr Professor Dr. Heribert Hirte, nicht anwenden. Auch wir selbst – das gebe ich unum- CDU/CSU-Fraktion. wunden zu – sind hier manchmal in Versuchung geraten.

(Beifall bei der CDU/CSU) Im Bereich des Beihilferechts – das spielt gerade hier eine große Rolle – wissen wir ebenso, dass mit den euro- Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU): päischen Geldern und damit auch mit unseren Geldern Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir nicht immer sauber umgegangen wird. Deshalb ist es beraten hier über den Antrag der AfD-Fraktion, nach richtig und wichtig, hier genauer hinzuschauen. Die hier- Artikel 263 AEUV und Artikel 23 unseres Grundgesetzes für aus Ihrer Sicht notwendigen, aber angeblich nicht ge- eine Subsidiaritätsklage gegen die am 26. November lieferten Beispiele nennen doch gerade Sie immer, wenn 2019 – Sie haben die Frist richtig erwähnt – im Amtsblatt es darum geht, dass die Europäische Union angeblich der EU veröffentlichte sogenannte Whistleblower-Richt- (B) Mittel verschwendet, Mittel, die wir ihr zur Verfügung (D) linie zu erheben. gestellt haben. Gerade in diesem finanziellen Bereich Die Frage, ob ein Akt der Europäischen Union gegen muss genauer hingeschaut werden. das Subsidiaritätsgebot verstößt, ist zunächst einmal rich- tig; denn es entspricht unserem Staatsverständnis, dass (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- eine höhere Ebene erst und nur dann tätig werden soll neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE und kann, wenn die tiefere, bürgernähere das nicht kann GRÜNEN) oder will. Ebenso entspricht dieser Gedanke auch unse- rem Menschenbild, dass der Staat erst dann handeln und Traurig ist in diesem Zusammenhang – deshalb ist es eingreifen soll, wenn der Bürger die Probleme nicht gut, Frau Miazga, dass Sie das erwähnen –, dass es gerade selbst sinnvoll lösen kann. das Vereinigte Königreich war, das hier eine Vorreiter- rolle einnahm, indem es europäisches Recht nicht nur Nach der Richtlinie – das ist hier der Hauptpunkt – kodifizierte, sondern auch korrekt anwandte. Deutlicher sollen Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht als durch diesen Punkt kann eigentlich nicht aufgezeigt melden, keine Benachteiligungen durch ihren Arbeitge- werden, dass das Funktionieren des Binnenmarktes eben ber oder ihren Dienstherren befürchten müssen. Dabei nicht nur von den Regeln auf dem Papier, sondern auch steht im Mittelpunkt Ihrer Kritik, dass die Richtlinie auch vom gemeinsam gelebten und praktizierten Recht ab- die Verwaltung der Mitgliedstaaten und damit auch die hängt, was die Briten trotz eigener Compliance manch- deutsche Verwaltung adressiert, die bei uns in erster Linie mal bei anderen vermisst haben. Zu Recht hat die Europä- in der Hand der Länder liegt. ische Kommission deshalb schon vor längerer Zeit den tatsächlichen Vollzug europäischen Rechts und dessen Sie rügen mit Ihrem Antrag das Fehlen einer Ermächti- Kontrolle zu einer ihrer Prioritäten gemacht. Genau hier gungsgrundlage, einen Verstoß gegen den Subsidiaritäts- setzt die Whistleblower-Richtlinie an. grundsatz und die Unverhältnismäßigkeit. Meines Erach- tens treffen alle diese drei Gesichtspunkte nicht zu. Die Stärkung des Normvollzugs ist auch deshalb rich- Was zunächst das Fehlen einer Ermächtigungsgrund- tig, weil die – in Ihren Worten – Überwachung der An- lage angeht, rügen Sie unter anderem eine Überschrei- wendung des Unionrechts eine der Voraussetzungen ist, tung der Binnenmarktkompetenz aus Artikel 114 AEUV, um überhaupt Recht zu schaffen. Solange altes Recht auf die die Richtlinie unter anderem gestützt wird. Nach nicht angewandt wird, ist es richtig, dass wir kein neues Artikel 114 AEUV darf die Europäische Union „Maß- Recht schaffen. Deshalb: Die Richtlinie verstößt nicht nahmen“ treffen „zur Angleichung der Rechts- und Ver- gegen das Subsidiaritätsprinzip; sie verwirklicht es, und waltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, welche die Er- das ganz zentral. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17951

Dr. Heribert Hirte (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wer-Richtlinie zum Beispiel dazu diene – in diese Rich- (C) neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- tung wollten Sie gehen –, Vergaberechtsverstöße aufzu- SES 90/DIE GRÜNEN) decken. Es sollte also quasi die Verschwendung von Geldern der EU aufgedeckt werden, und wir als AfD Dass es dabei nicht, wie Sie gerade gesagt haben, um sollten das begrüßen. Das ist aber nur ein sehr kleiner Überwachung des Normvollzugs durch die EU-Kommis- Teil davon. sion geht, hat die Kommission gerade gegenüber der Bayerischen Staatsregierung und dem Bundesrat klarge- Sie wissen ja auch ganz genau, dass die Konferenz der stellt. Es geht immer noch um interne deutsche Melde- Justizminister im November die Forderung an die Regie- wege. Diese innerdeutsche Überwachung des Normvoll- rung gestellt hat, dass die Umsetzung per Gold-Plating zugs steht dabei Seite an Seite mit den Regeln des auf nationales Recht ausgeweitet werden sollte. Artikels 267 AEUV, des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, nach dem ein Gericht eine Vor- (Dr. Manuela Rottmann [BÜNDNIS 90/DIE entscheidung durch den Europäischen Gerichtshof ein- GRÜNEN]: Sollte!) holen kann. Niemand käme auf die Idee, dass das gegen Ich habe es von Anfang an im Ausschuss gesagt, dass zu unsere eigene Rechtsprechungskompetenz verstößt. erwarten ist, dass hier wieder Gold-Plating durch Nein, wir brauchen die gleiche Auslegung des Rechts; Deutschland erfolgt wir brauchen die gleiche Anwendung des Rechts. Darum geht es hier. (Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Es gibt eine deutsche Rechtsprechung dazu!) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: und dass durch diese Hintertür die quasi polizeiliche Kontrolle von Gewerbe und Behörden durchgesetzt wer- Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der den soll, wie es die EU dauernd macht. Deswegen: Bitte AfD-Fraktion? werfen Sie nicht diese Nebelkerzen. Schon der zugrunde- liegende Ansatz ist zu verurteilen, und es wird – wie von Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU): dieser Bundesregierung zu erwarten – durch Gold-Plating Nein. – Sie meinen weiter, dass die Richtlinie in unsere noch schlimmer gemacht. Organisationsautonomie bei der Verwaltung eingreift. Entschiedener Widerspruch: Das, was hier gemacht wird, (Beifall bei der AfD) das sind Richtlinien, das sind Vorschläge, die neutral sind. Sie greifen genauso wenig in den Vollzug der Ver- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: waltung ein wie Bauvorschriften, die den Bundestag Vielen Dank, Herr Kollege. – Herr Dr. Hirte, Sie wol- (B) zwingen, Brandschutzvorschriften zu erlassen. Ich halte len antworten. Bitte schön. (D) das Argument für völlig fernliegend. Was den von Ihnen gerügten Verstoß gegen das Sub- Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU): sidiaritätsprinzip angeht – die Fragmentierung der Norm- Herr Peterka, die Frage des Gold-Platings haben Sie im gebung durch die EU-Richtlinie –: Ja, genau dieser Punkt Unterausschuss selbst aufgeworfen, und Sie haben ge- treibt uns um – dass das Melden, sozusagen das Aufde- sagt: Eigentlich müsste eine solche Richtlinie auch Ver- cken von Verstößen gegen europäisches Recht in man- stöße gegen nationales Recht beinhalten, und auch die chen anderen Ländern nicht so funktioniert, wie wir es müssten entsprechenden Meldewegen unterliegen. uns wünschen. Das kann und muss angeglichen werden. (Sebastian Steineke [CDU/CSU]: Oha! – Insofern liegt auch in diesem Punkt kein Verstoß vor. Alexander Hoffmann [CDU/CSU]: Hat er ver- Wir werden Ihren Antrag ablehnen, und das mit großer gessen!) Überzeugung. Das möchte ich nur in Erinnerung rufen. Sie haben genau (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Mit dies gefordert. Im Übrigen ist die Frage, die Sie stellen, großer Freude!) eine Frage der nationalen Umsetzung, und es ist keine Frage einer EU-Richtlinie. Vielen Dank. Natürlich können wir über Anwendungsbereiche, so- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- weit diese Richtlinie es nicht vorgibt, hier im Bundestag neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE beraten. Das ist unsere Aufgabe. Das ist keine Frage des GRÜNEN) europäischen Rechts. Deshalb ist Ihr Antrag, das sozu- sagen nach Europa zu schieben, abzulehnen und falsch. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Vielen Dank, Herr Kollege Hirte. – Der Kollege neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Peterka hat auf Bitten der AfD-Fraktion eine Kurzinter- GRÜNEN) vention angemeldet, die ich zulasse. Bitte, Herr Kollege Peterka. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Jürgen Tobias Matthias Peterka (AfD): Martens, FDP-Fraktion, das Wort. Vielen Dank, Herr Präsident, für die Zulassung. – Herr Dr. Hirte, Sie haben ja ausgeführt, dass diese Whistleblo- (Beifall bei der FDP) 17952 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

(A) Dr. Jürgen Martens (FDP): (Beifall der Abg. Dr. Eva Högl [SPD]) (C) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- ren! Zu dem vorliegenden Antrag der AfD: Ich habe mich Vizepräsident Wolfgang Kubicki: zunächst gewundert, warum die ansonsten im Unteraus- Herr Kollege Dr. Martens, erlauben Sie eine Zwischen- schuss Europarecht nicht gesehene Kollegin Miazga hier frage der Kollegin Miazga? tätig geworden ist. (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Freitag- Dr. Jürgen Martens (FDP): morgen! Zu früh!) Ja. Wahrscheinlich deswegen, weil diese Ausführungen so peinlich waren, dass man sich hinterher mit ihnen im Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Unterausschuss Europarecht nicht mehr wird sehen las- Bitte schön. sen können. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD Corinna Miazga (AfD): und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen, Herr Präsi- Hier geht es nicht um „Big Union is watching you“ – dent. – Sie sind mich gerade ein bisschen angegangen. mit Sicherheit nicht. Der Hammer-und-Sichel-Vergleich (Zurufe von der SPD: Oah!) hinkt; er ist wirklich daneben, er ist schief, meine Damen und Herren. Das wissen Sie. – Sie müssen gleich für ihn ein bisschen weinen, nicht für mich. – Wissen Sie eigentlich, dass ich im Jahr 2018 eine (Sebastian Münzenmaier [AfD]: Sie hängen Drucksache eingebracht habe, nämlich eine mit der Auf- auch daneben!) forderung zu einer Subsidiaritätsrüge, die hier durchs Es geht auch nicht um eine Gefahr für die Souveränität Plenum gegangen ist? Da haben Sie wohl geschlafen, der Bundesrepublik. Statt den Umsetzungsbedarf für eine Herr Kollege, oder? Richtlinie erst mal zu evaluieren, gehen Sie weiter und behaupten, es gehe hier um Verwaltungsorganisations- Dr. Jürgen Martens (FDP): recht, Verwaltungsverfahrensrecht. Herr Professor Hirte Moment! Es ging hier um die Frage, ob Sie im Aus- hat klargemacht, dass das mitnichten der Fall ist. Natür- schuss gerügt haben, dass gegen das Subsidiaritätsprinzip lich ist die Whistleblower-Richtlinie auch relevant für verstoßen wird. den Binnenmarkt, eben im Bereich Vergaberecht, Zoll- (B) recht, Kartellrecht, Beihilfen, wo es immer wieder zu (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ (D) Verstößen kommt. CSU und der SPD – Sebastian Steineke [CDU/ CSU]: Genau! Da gehört es hin!) Wenn Sie fordern, dass wir uns intensiv mit dieser Richtlinie befassen, dann muss ich fragen: Was haben § 93a Absatz 1 der GO-BT verlangt das nämlich. Wenn Sie eigentlich die letzten zwei Jahre gemacht? Mit was Sie andere Wege wählen, die nicht der Geschäftsordnung haben Sie sich denn befasst? entsprechen, können Sie mir das hinterher doch bitte nicht vorwerfen. (Beifall des Abg. Michael Theurer [FDP]) (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD Ihr Schweigen lässt sich doch eigentlich nur mit einer und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – tiefgreifenden Narkotisierung erklären, wenn Sie sich Matthias W. Birkwald [DIE LINKE], an die hier auf einen Antrag aus Bayern von 2018 berufen. Dann Abg. Corinna Miazga [AfD] gewandt: Setzen, verlangen Sie hier eine Sofortabstimmung. Ich sage mal: fünf!) Das ist auch prozedural eine Unverschämtheit. Noch etwas. Sie möchten hier eine Subsidiaritätsklage. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der Dazu verhält sich § 93d Absatz 2 unserer Geschäftsord- SPD) nung wie folgt: Sie hätten längst tätig werden können. Das wäre nach der Verlangt … ein Viertel der Mitglieder des Bundes- Geschäftsordnung dieses Hauses auch geboten gewesen. tages die Erhebung der Klage …, ist der Antrag so Ich brauche sicherlich keine Erlaubnis des Präsidenten, rechtzeitig zu stellen, dass innerhalb der Klagefrist wenn ich sie zitiere: eine angemessene Beratung im Bundestag gesichert Bei der Beratung von Unionsdokumenten prüfen die ist. Ausschüsse auch die Einhaltung der Grundsätze der Sie bringen einen Antrag ein, hoppladihopp, von jetzt Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit. Wird beab- auf nachher, und verlangen die Sofortabstimmung, weil sichtigt, insoweit eine Verletzung zu rügen, ist un- Ihnen nämlich dann noch ganze neun Tage bleiben, um verzüglich der Ausschuss für Angelegenheiten der eine ordnungsgemäße Klage gegen ein Gesetz beim Eu- Europäischen Union zu informieren … ropäischen Gerichtshof einzureichen. Haben Sie das irgendwann gemacht? Ist Ihnen die Idee (Jörn König [AfD]: Besser spät als nie!) irgendwann gekommen, hier etwas zu beanstanden? Nein. Offensichtlich kam Ihnen die Idee irgendwann in Das möchten Sie jetzt Ihren Wählern und Mitgliedern als der Weihnachtspause, aber vorher nicht. höchst seriöse Europapolitik, getragen von Kenntnis und Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17953

Dr. Jürgen Martens (A) kritischem Bewusstsein, verkaufen. Das werden auch die im deutschen Parlament und von uns Parlamentariern der (C) Ihnen nicht abnehmen. Lächerlichkeit preisgegeben. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Hilfreich wäre es vielleicht auch für Sie gewesen, sich Nunmehr erhält die Kollegin Esther Dilcher, SPD- einmal damit zu beschäftigen, was Subsidiarität tatsäch- Fraktion, das Wort. lich bedeutet. Ich finde, der Kollege Hirte und der Kolle- ge Martens haben das hier eindrücklich ausgeführt. (Beifall bei der SPD) Man sollte vielleicht noch mal gucken, was in der Esther Dilcher (SPD): Richtlinie an Bereichen abgedeckt werden sollte. Beson- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- ders werden dort Regelungen für folgende Bereiche nen und Kollegen! Um mich auf diesen Antrag vorzuber- getroffen: zum öffentlichen Beschaffungswesen, im eiten, habe ich mir mal im Internet angeguckt, was die Bereich Finanzdienstleistungen, zu Maßnahmen gegen AfD vielleicht dazu sagen könnte. Witzigerweise findet Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung, zu Produktsi- man dort ein tolles YouTube-Video von Ihnen, Frau cherheit, Transportsicherheit, Umweltschutz, Atomsi- Miazga. cherheit, zu Nahrungs- und Futtermittelsicherheit, Tier- gesundheit und -wohlergehen, zur öffentlichen (Dagmar Ziegler [SPD]: Natürlich! Was sonst!) Gesundheit, zum Verbraucherschutz, Schutz der Privat- sphäre und Schutz von persönlichen Daten sowie zu Ver- Allerdings steht das in erheblichem Widerspruch zu dem, stößen gegen Wettbewerbsvorschriften der Europäischen was Sie heute gesagt haben. Union. (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) Um diese Bereiche zu schützen, werden diese von Ich war über Ihre Ausführungen sehr überrascht. Sie ha- Ihnen auch zitierten Meldekanäle geprüft. Es wird ge- ben mich nicht überzeugt, aber sie standen in erheblichem prüft: Wie kann gemeldet werden, um die Loyalitäts- Widerspruch zu Ihrem Video. pflichten gegenüber dem Arbeitgeber zu wahren und nicht selbst bestraft zu werden? Der Knackpunkt ist na- In diesem Video bekamen wir – theatralisch ausge- türlich: Die EU darf im Grundsatz nur tätig werden, so- führt – zu hören: Subsidiarität ist ein Instrument, das fern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maß- man nutzen könnte, wenn man denn wollte. – Ich kann (B) nahmen nicht von den Mitgliedstaaten verwirklicht (D) Sie nicht ganz so gut nachmachen, aber ich fand es schon werden können, sondern wegen ihres Umfangs oder ihrer beeindruckend. Wirkung besser auf Unionsebene zu verwirklichen sind. (Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD]) Sobald dieser Grundsatz verletzt ist, sieht Artikel 23 Grundgesetz vor, dass sowohl der Bundestag als auch Es folgt dann ein stark verkürzter historischer Abriss zur der Bundesrat Klage vor dem Europäischen Gerichtshof Entstehung der Europäischen Union aus einer Europä- erheben kann, wenn ein Viertel der Mitglieder dies bean- ischen Wirtschaftsgemeinschaft usw. Sie erwähnen in tragt; auch das dient dem Schutz der Minderheitenrechte. diesem Beitrag, der auch mit „Subsidiarität“ überschrie- ben ist, mehrmals diesen Begriff, ohne ihn jedoch einmal Der in der Union bestehende Hinweisgeberschutz ist zu erklären. bereits in mehreren Mitgliedstaaten geregelt und gestal- tet. Jetzt müssen wir uns fragen: Ist das ausreichend? Ist (Karsten Hilse [AfD]: Das müssen wir nicht! damit das Ziel des Whistleblower-Schutzes bereits natio- Unsere Wähler wissen, was Subsidiarität ist!) nal verwirklicht? Verletzt die EU-Richtlinie daher das – Wenn Sie es erwähnen wollen, müssen Sie es erklären. – Subsidiaritätsprinzip? Wir als SPD-Fraktion sagen hier – Aber bei Ihnen ist jedes Thema dazu geeignet, gegen wir haben das auch von der CDU/CSU-Fraktion gehört –: Flüchtlinge und Menschen mit Migrationshintergrund Nein, das reicht als Verletzung längst nicht aus. zu hetzen; das haben Sie auch in diesem Video wieder Ich will Ihnen auch sagen, warum. Die Folgen der von geschafft. den Hinweisgebern gemeldeten Verstöße gegen das Unionsrecht, die eine grenzüberschreitende Dimension (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ulli aufweisen, zeigen deutlich, dass ein unzureichender Nissen [SPD]: Pfui! – Zuruf von der AfD: Schutz in einem Mitgliedstaat dazu führt, dass Verstöße Bullshit-Bingo!) von Hinweisgebern eben nicht mehr gemeldet werden, Sie haben kritisiert, dass es über das Thema Subsidia- obwohl auch die Interessen aller anderen Mitgliedstaaten rität noch nicht einmal eine Diskussion im Parlament ge- betroffen sind und Verstöße gegen Umweltschutz, nukle- be, und Sie haben Ihren Ausschuss, den Europaaus- are Sicherheit, Geldwäsche oder Finanzdienstleistungen schuss, als Kaffee-und-Kuchen-Ausschuss bezeichnet. nicht an nationalen Grenzen haltmachen. (Ulli Nissen [SPD]: Pfui!) (Beifall bei der SPD) Sie behaupten, dass immer mehr Kompetenzen nach Eu- Wer glaubt, dass sich Hinweisgeber nur durch nationa- ropa abgegeben würden, bis wir im Deutschen Bundestag le Gesetzgebung – und das angeblich auch noch besser – nichts mehr zu entscheiden hätten. Damit wird die Arbeit schützen lassen, der leugnet wahrscheinlich auch die Kli- 17954 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Esther Dilcher (A) makatastrophe oder kommt auf die Idee, die Sonne zu (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- (C) verklagen, weil sie einfach zu heiß scheint. ten der SPD – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Richtig!) (Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD] – Sebastian Münzenmaier [AfD]: Der war richtig gut! Sie Wenn wir aber schon mal über dieses Thema reden, sind zu früh für Fasnacht, Frau Dilcher!) dann sollten wir es nicht nur juristisch aufgreifen, wie es meine Vorredner gemacht haben; lasst uns doch mal – Das war genauso zum Thema, wie das, was alle Kol- darüber reden, worum es hier geht. Ich finde, der Vor- legen vorher gesagt haben. schlag der Europäischen Union, dass man Whistleblower schützen soll, ist eine gute Idee; denn solche Leute brau- Die Kollegin Miazga hat es ja deutlich gesagt – aller- chen Schutz. dings vertreten wir eine andere Auffassung –: Subsidia- rität, also ob die EU unterstützend eingreifen bzw. Vor- Ich möchte mal zwei Beispiele nennen, die vielen von schläge machen darf, ist immer zu prüfen. Aus diesen Ihnen vielleicht bekannt sind. Ich glaube, dass auch bei Richtlinien, die auf Regierungsebene und auch in den der nationalen Umsetzung dieser Richtlinie noch einiges Ausschüssen besprochen werden, müssen wir anschlie- getan werden muss. Ich nenne das Beispiel von Erwin ßend Gesetze machen, und die werden im Parlament be- Bixler. Kennt den noch jemand? Er hat auf Fälschungen raten. Wir haben so viel zu tun wie selten; es ist nicht zu der Arbeitslosenstatistik durch das Landesarbeitsamt befürchten, dass wir in Deutschland wegen mehr EU- Rheinland-Pfalz-Saarland aufmerksam gemacht. Die Ar- Richtlinien weniger zu entscheiden hätten. beitgeber haben den aufrechten Beamten mit einer De- nunziationskampagne und mit Mobbing in Krankheit und Danke. Frührente getrieben. So etwas sollte in Zukunft nicht mehr passieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. GRÜNEN) Dr. Manuela Rottmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Das zweite Beispiel: Der Apotheker Martin Porwoll Vielen Dank, Frau Kollegin Dilcher. – Nächster Red- fand heraus, dass in seiner Apotheke gepanschte Krebs- ner für die Fraktion Die Linke ist der Kollege Alexander medikamente verkauft wurden, und ging an die Öffent- Ulrich. lichkeit. Sein Chef entließ ihn fristlos.

(B) (Beifall bei der LINKEN) Diese Menschen sind keine Verräter, wie sie die AfD (D) vielleicht gerne bezeichnet, sondern sie sind Helden des Alltags. Und solche Helden müssen geschützt werden. Alexander Ulrich (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- ist mal wieder eine halbe Stunde hier im Bundestag, die ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – man sich eigentlich schenken könnte; Ulli Nissen [SPD]: Genau!) Deswegen geht die Richtlinie der EU auch in die richtige (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Richtung. Demokratien benötigen dringend einen recht- denn da wird eine eigentlich gute Idee der Europäischen lichen Schutz für Whistleblower – auch über nationale Union mal wieder von der AfD für einen Generalangriff Grenzen hinweg. auf die Europäische Union missbraucht. Das hat Ihre Aber ich sage auch: Die Bundesregierung sollte jetzt heutige Rede wieder einmal deutlich gezeigt; Sie haben endlich mal tätig werden; denn was in Deutschland fehlt, den Brexit als Bespiel genannt und gesagt, warum es gut ist ein Whistleblower-Schutzgesetz, wie wir es als Linke ist, dass Großbritannien aus der Europäischen Union aus- schon seit Jahren fordern. Deshalb ist die Bundesregie- tritt. Wenn die AfD-Abgeordneten so gegen das Europä- rung aufgefordert, diese Richtlinie endlich zum Anlass ische Parlament und gegen die Europäische Union sind, für eine nationale Umsetzung zu nehmen. Da geht es dann sollten sie konsequent sein und diese Woche mit den nicht nur um EU-Recht, sondern da geht es auch um Ver- Briten zusammen das Europaparlament verlassen. stöße in Unternehmen, im Privatleben oder beim Staat bzw. bei deutschen Behörden. Das, was bei VW oder (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- anderen Firmen zum Beispiel beim Dieselskandal pas- neten der SPD) siert ist, wäre vielleicht aufgedeckt worden, wenn die Irgendwann ist ja auch mal die Schonfrist für die AfD Menschen nicht Angst davor hätten, dass ihnen dafür vorbei. Wenn man zwei Jahre im Bundestag ist und wie fristlos gekündigt wird. Sie, Frau Miazga, auch zwei Jahre im Europaausschuss, (Beifall bei der LINKEN) müsste man langsam wissen, wie das mit der Subsidiari- tät ist, was man da machen kann und wie man es machen Wir brauchen endlich einen Schutz für Whistleblower muss. Die Vorredner sind darauf eingegangen: Lernen Sie in Deutschland. Deshalb, glaube ich, ist es auch ganz gut, endlich Parlamentarismus, und halten Sie hier keine blö- wenn wir daran erinnern, dass es Whistleblower gibt, die den Reden über die Europäische Union! Das wäre besser verfolgt werden, die sich in Russland oder woanders ver- als das, was Sie heute hier angestellt haben. stecken müssen. Solche Whistleblower sind Helden des Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17955

Alexander Ulrich (A) Alltags und sollten auch durch den Deutschen Bundestag Er hat Leben gerettet, und er hat dafür schwerste Nach- (C) geschützt werden. teile erlitten. So jemanden nennen Sie einen Denunzian- ten. (Beifall bei der LINKEN) (Ulli Nissen [SPD]: Widerlich!) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Ich kann es mir nur damit erklären, dass Ihr moralischer Vielen Dank, Herr Kollege Ulrich. – Ich merke: Kaum Kompass vollkommen zerstört ist, füllt sich der Saal, wird der Geräuschpegel deutlich wahr- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, nehmbarer. Ich bitte auch die Kollegin Künast, Gesprä- bei der SPD und der LINKEN sowie der Abg. che zu unterlassen, damit den Rednerinnen und Rednern Christian Hirte [CDU/CSU] und Dr. Jürgen zugehört werden kann. Martens [FDP]) Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Manuela oder damit, dass besonders die Mitglieder Ihrer Fraktion Rottmann, Bündnis 90/Die Grünen. den Immunitätsausschuss überdurchschnittlich beschäfti- gen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Manuela Rottmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Die Umsetzung der Hinweisgeberschutzrichtlinie wird Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und anspruchsvoll. Aber zuallererst – hier wende ich mich an Herren! Vieles, was von der AfD kommt, ist schlimm. alle anderen Fraktionen – ist Hinweisgeberschutz eine Manches ist aber auch nur ermüdend dumm. Der Antrag, Frage der Haltung. über den wir gerade reden, gehört zur zweiten Abteilung. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge- Hier müssen sich alle Fraktionen in diesem Haus ent- ordneten der CDU/CSU) scheiden. Der Hinweisgeber handelt im öffentlichen In- teresse. Er stellt sich gegen wirtschaftliche Macht, gegen In diesem Antrag steht, dass Mitarbeiter von Unter- Menschen, die großen Einfluss auf sein Leben haben. nehmen, die Verstöße gegen Unionsrecht aufdecken, Stellen wir uns an die Seite dieser Menschen, oder lassen funktional Verwaltungstätigkeit ausüben. Wer, bitte, von wir sie allein? Stärken wir Zivilcourage in Deutschland? (B) Ihnen denkt sich eigentlich einen solchen Unsinn aus? Schauen wir der Wahrheit ins Auge, dass wir beim Hin- (D) Dann ist wahrscheinlich jemand, der eine Strafanzeige weisgeberschutz nun wirklich nicht vorne dran sind und stellt, ein funktionaler Staatsanwalt, oder jemand, der den Anstoß aus Brüssel dringend brauchen? Erste Hilfe leistet, gehört funktional zum Rettungsdienst. Das ist totaler Unsinn. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Helfen wir mit dieser Richtlinie auch den Menschen in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Mitgliedstaaten der Union, die um Rechtsstaat und sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Demokratie kämpfen? Die brauchen ein solches Instru- KEN und des Abg. Dr. Heribert Hirte [CDU/ ment: in Bulgarien, in Ungarn, in Rumänien. Solidarität CSU]) mit den Hinweisgebern, mit den Helden des Alltags, Die Überschrift Ihres Entschließungsantrages zum selben fängt hier im Parlament an. Thema lautet: „Hinweisgeberschutz national regeln – (Beifall der Abg. Corinna Rüffer [BÜND- Subsidiaritätsprinzip einhalten“. Die Überschrift ist, höf- NIS 90/DIE GRÜNEN]) lich gesagt, irreführend; man könnte auch sagen: glatt gelogen. Denn Ihre Rede hat ja deutlich gemacht, dass Öffnen Sie sich diesen Menschen! Lassen Sie uns in Sie eines nicht wollen: weder auf europäischer noch auf Deutschland die Hinweisgeberrichtlinie gut umsetzen. nationaler Ebene irgendetwas für den Hinweisgeber- schutz tun. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der und bei der SPD sowie des Abg. Dr. Jürgen LINKEN und des Abg. Dr. Jürgen Martens Martens [FDP]) [FDP]) Sie haben auch wieder die üblichen Begriffe verwen- det: Denunziantentum und was nicht alles. Der Kollege Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Ulrich hat schon auf Martin Porwoll hingewiesen, der mit Vielen Dank, Frau Kollegin. – Letzter Redner in dieser der Aufdeckung, dass Krebsmedikamente gepanscht wer- Debatte ist der Kollege Alexander Hoffmann, CDU/ den, nicht nur millionenschweren Betrug gegen Kranken- CSU-Fraktion. kassen aufgedeckt, sondern Leben gerettet hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie herzlich, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wenn Sie es schon nicht selbst spüren, vielleicht aus Höf- sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP) lichkeit oder Stilempfinden auch dem letzten Redner die- 17956 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) ser Debatte noch zuzuhören und die Gespräche einzu- Bedenken hinsichtlich Verhältnismäßigkeit und Subsi- (C) stellen. diarität hat. Die Kommentarstelle besagt nur: Wenn eine Subsidiaritätsklage eingereicht ist und es um Subsidiari- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- tät und Verhältnismäßigkeit geht, dann geht es zwangs- ordneten der SPD und der LINKEN) läufig und denknotwendig um die Frage der Zuständig- keit der Europäischen Union. Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Dann komme ich am Ende zur dritten Ebene, nämlich: sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen Warum keine Subsidiaritätsklage? Das ist eigentlich noch und Kollegen! Ich glaube, diese Debatte hat drei Ebenen. viel interessanter. Die Antwort ist doch ganz einfach: Es gibt zunächst einmal die Sachebene. Ja, ich glaube Das, was in der Richtlinie geregelt werden soll, ist im schon, dass man bei der sogenannten Whistleblower- Interesse von uns allen. Richtlinie auch durchaus juristische Bedenken hinsicht- lich der Frage der Subsidiarität und der Frage der Ver- (Dr. Heribert Hirte [CDU/CSU]: Eben!) hältnismäßigkeit anmelden kann. Das hat es im Bayeri- Sie bedienen doch an den Stammtischen das Bild von schen Landtag gegeben. Ich glaube, dass in der dem Europa, wo in Brüssel irgendetwas entschieden Begründung sehr schön austariert ist, auf welche Punkte wird; die Einzigen, die es umsetzen, sind die Deutschen, man achten muss. und der Rest kümmert sich gar nicht darum, Ich glaube, ich kann an dieser Stelle im Namen der (Dr. Manuela Rottmann [BÜNDNIS 90/DIE CDU/CSU-Bundestagsfraktion sagen, dass wir all diesen GRÜNEN]: Das stimmt nicht!) Bedenken im Rahmen der Umsetzung Rechnung tragen werden, genauso wie wir dafür Sorge tragen werden, dass und das alles zu unserem Nachteil. diese Richtlinie nicht überschießend umgesetzt wird. (Beifall bei der AfD) Ich komme zur zweiten Ebene. Die zweite Ebene ist die Frage: Wie löst man diese Bedenken auf? Das, was – Sie applaudieren sogar. – Genau das soll die Umsetzung Sie heute suggerieren, ist: Die einzige Möglichkeit, wenn der Richtlinie verhindern. man Bedenken hinsichtlich Subsidiarität und Verhältnis- (Dagmar Ziegler [SPD]: Das haben sie noch mäßigkeit hat, ist, eine Subsidiaritätsklage zu erheben. nicht verstanden!) Das zieht sich wie ein roter Faden durch Ihren Antrag. Es wird am Schluss theatralisch untermauert – auch das Deswegen tun wir gut daran, konstruktiv in die Richt- muss man mal sagen; Sie haben es heute sehr schön dar- linienumsetzung einzusteigen. Deswegen ist es auch rich- (B) geboten –: Wenn diese Richtlinie kommt, dann haben wir tig, wenn man sagt, dass die Umsetzung der Richtlinie (D) unsere Hoheitsrechte an das böse Europa, die Krake, ab- auch eine Frage des funktionierenden Binnenmarktes ist. gegeben und wir sind quasi rechtlos und der Bürger so- Denn er funktioniert nur, wenn sich alle an die Regeln wieso. halten. Deswegen trägt auch der Vortrag nicht, dass Arti- kel 114 AEUV nicht als ausreichende Ermächtigungs- Man hat fast das Gefühl, dass diese Richtlinienumset- grundlage von Ihnen anerkannt wird. zung Ihr neuer Migrationspakt ist. Ich darf an den Mi- grationspakt erinnern. Da haben Sie auch YouTube-Vi- (Beifall der Abg. Dr. Heribert Hirte [CDU/ deos gemacht und die Backen aufgeblasen, so wie heute. CSU] und Michael Theurer [FDP]) Aber all das, was Sie damals behauptet haben, ist nicht eingetreten. Deswegen, meine Damen, meine Herren: Das Ziel müssten Sie doch vor Augen haben. Dann ziehen wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der doch an einem gemeinsamen Strang! Kümmern wir uns SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- um eine gute sachgerechte Umsetzung im Interesse eines NEN) stabilen, eines gleichberechtigten Europas! Deshalb zurück zur Frage: Ist es denn zwingend, eine Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Subsidiaritätsklage zu erheben? Genau das ist es eben nicht. Ich kann nämlich Bedenken hinsichtlich Verhält- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- nismäßigkeit und Subsidiarität auch im Rahmen der Um- ordneten der SPD und der FDP) setzung der Richtlinie Rechnung tragen, und ich habe sogar später auch im Rahmen eines Umsetzungsverstoß- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: verfahrens die Gelegenheit, mich auf solche Punkte zu Vielen Dank, Herr Kollege Hoffman. – Damit schließe berufen. Deswegen ist das, was Sie heute – auch mit ich die Aussprache. der namentlichen Abstimmung – an Endzeitstimmung erzeugen wollen, vollkommen fehl am Platz. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der AfD auf Erhebung einer Subsidiaritätsklage (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie in Bezug auf die Richtlinie des Europäischen Parlaments des Abg. Dr. Jürgen Martens [FDP]) und des Rates zum Schutz von Personen, die Verstöße Sie zitieren dann eine Kommentarstelle, die genau den gegen das Unionsrecht melden, Drucksache 19/16857. Zusammenhang, den Sie herstellen, gar nicht beinhaltet. Wir stimmen über den Antrag auf Verlangen der Fraktion Auch diese Kommentarstelle beinhaltet nicht, dass eine der AfD namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen Subsidiaritätsklage zwingend zu erheben ist, wenn man und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17957

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) Sind alle Urnen besetzt? – Das ist erkennbar der Fall. Bettina Stark-Watzinger (FDP): (C) Dann eröffne ich die Abstimmung über den Antrag der Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da- Fraktion der AfD auf Drucksache 19/16857. men und Herren! Die Vorsitzende der SPD, Frau Esken, hat vor nicht allzu langer Zeit getwittert, dass in Deutsch- Ich frage das erste Mal: Ist noch ein Mitglied des Hau- land alle elf Minuten große Vermögen übertragen wer- ses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben den. Wenn ich mir die Politik der Großen Koalition der hat? – Zweiter Aufruf: Ist noch ein Mitglied des Hauses letzten Monate anschaue, fällt mir ein ganz anderer Tweet anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? – ein: Alle elf Minuten fallen Union und SPD eine neue Dritter und letzter Aufruf: Ist noch ein Mitglied des Hau- Steuer oder ein neuer Weg ein, wie sie die Mitte dieser ses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben Gesellschaft belasten können. hat? – Wir sehen, dass niemand mehr eine Hand hebt. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift- (Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD: führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu Oh!) beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen spä- ter bekannt gegeben.1) Ob Solidaritätszuschlag bei den Kapitalerträgen, Verlust- verrechnung oder Freibetrag bei der Grunderwerbsteuer: Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf: Überall wird der Sparer belastet. Eigenverantwortung und Vorsorge haben keinen Platz in der Großen Koali- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten tion – mit einem Ziel: Staat vor Privat. Bettina Stark-Watzinger, Christian Dürr, Dr. Florian Toncar, weiterer Abgeordneter (Beifall bei der FDP – Dr. h. c. [Univ Kyiv] und der Fraktion der FDP Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ganz schlech- ter Anfang als Parlamentarische Geschäftsfüh- Aktiensteuer darf nicht die Falschen tref- rerin! – Metin Hakverdi [SPD]: Immer das fen – Kleinanleger, Realwirtschaft und Gleiche!) Vorsorgesparer Mit der Finanztransaktionsteuer ist der Sparer jetzt Drucksache 19/16754 noch mal dran, meine Damen und Herren. Als Robin- Hood-Steuer sollte die Finanztransaktionsteuer die Fi- Überweisungsvorschlag: nanzmärkte zähmen. In der Scholz’schen Version einer Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Aktiensparersteuer ist davon nichts mehr übrig geblie- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ben.

(B) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des (Beifall bei der FDP) (D) Berichts des Finanzausschusses (7. Aus- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Im Gegenteil: Jeder, der privat vorsorgt und Aktien kauft Jörg Cezanne, Fabio De Masi, Klaus Ernst, oder in Fonds einzahlt, zahlt mehrmals. Die Großen, die weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Professionellen, investieren in Derivate. Die Steuer ist LINKE somit ein Subventionsprogramm für Derivate. Gestern hat es der Wissenschaftliche Beirat des Finanzministe- Europäische Finanztransaktionsteuer vo- riums noch mal zusammengefasst: Diese Finanztransak- rantreiben und nationale Einführung vor- tionsteuer stabilisiert nicht, sie destabilisiert. bereiten (Beifall bei der FDP) Drucksachen 19/4886, 19/16910 Aus der Robin-Hood-Steuer ist also eine Anti-Robin- Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten be- Hood-Steuer geworden. Sie ist in der Mitte der Gesell- schlossen. schaft angekommen, und sie trifft nicht nur die Falschen, sondern die Belastung ist auch viel höher, als man uns Ich bitte Frau Teuteberg und den Rest dieser wunder- vormachen möchte. Es sind nicht 0,2 Prozent, die ein- baren Truppe der Freien Demokraten, die Gespräche ein- malig anfallen. Niemand hält eine Aktie über 30 Jahre. zustellen und sich hinzusetzen oder den Saal zu verlassen, Fonds werden umgeschichtet. Das ist richtig so; das ist wenn Sie an der folgenden Debatte nicht teilnehmen wol- Risikovorsorge. Privatpersonen und Fondsmanager tun len. das. Berechnet man realistische Szenarien, dann sieht man: Die Steuer kostet rund 10 Prozent des Endwertes. (Metin Hakverdi [SPD]: Ist doch Ihr eigener Scholz nimmt es den Bürgern und gibt es dem Reichen, Antrag! Was ist da los?) nämlich dem Staat. – Wir sehen uns so selten. (Beifall bei der FDP – Lachen des Abg. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die Aus- Michael Schrodi [SPD]) sprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Zu diesem Ergebnis kommt auch ein wissenschaftli- Bettina Stark-Watzinger, FDP-Fraktion, das Wort. ches Gutachten, das wir in Auftrag gegeben haben, weil die Bundesregierung kein Interesse daran hatte, die Fol- (Beifall bei der FDP) gewirkungen abschätzen zu lassen. Österreich kommt zum gleichen Ergebnis. Diese Aktiensteuer belastet die 1) Ergebnis Seite 17953 C Kleinanleger, die Realwirtschaft und die Altersvorsorge. 17958 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Bettina Stark-Watzinger (A) (Michael Schrodi [SPD]: Was wollen die Ös- Frau Stark-Watzinger kann es offensichtlich gar nicht ab- (C) terreicher?) warten, dass diese Finanztransaktionsteuer hier ins Ge- setzgebungsverfahren kommt. Wir sind da bei Weitem Sie belastet die Eigenkapitalaufnahme von Unterneh- nicht so schnell; wir haben erheblichen Diskussionsbe- men – und das, obwohl wir starke Unternehmen mit star- darf. kem Eigenkapital wollen. Das ist ein Schlag gegen das, was wir wollen, nämlich die Stärkung der Kapitalmärkte. (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Es gibt aber Das Einzige, was die Steuer in dieser Form kann, ist, schon Stellen im Finanzministerium!) Einnahmen für die Staatskasse zu generieren – und das Die Steuer haben wir uns auch nicht erst gestern aus- nur, weil der Koalition das Geld für die Ausgabenwün- gedacht. Sie wissen, dass wir 2008, bei der Finanzkrise, sche ausgeht. zu der es durch riskante Investitionen und Handel im (Beifall bei der FDP) Aktienmarkt, aber auch im Hochfrequenzhandel gekom- men ist, sehr wohl darüber nachgedacht haben – und zwar Ich erwarte heute in dieser Debatte etwas von der europaweit –, die Finanzmärkte sicherer zu machen. Eu- Union dazu. Liebe Frau Tillmann, lieber Herr Dr. de ropa war sich damals nicht nur einig, dass wir mehr Maizière, ich frage mich, ob Ihre Presseerklärung vom Regulierung, mehr Aufsicht und mehr Sicherheit im Fi- letzten Jahr noch gilt, wonach diese Aktiensteuer ein nanzmarkt brauchen, sondern damals ist auch die Idee der Etikettenschwindel ist. Ich bin gespannt, wie Sie sich europäischen Finanztransaktionsteuer entstanden. heute positionieren, ob Sie nachgeben werden und ob Sie einen nationalen Alleingang, der ja auch schon durch Dieses Modell ist unter Schäuble diskutiert worden. die Medien ging, ermöglichen werden. Leider stellte sich ziemlich schnell heraus, dass nicht alle EU-Mitgliedstaaten mitmachen werden. Übrig geblieben Die Sparer sind nicht dazu da, die Wahlversprechen der ist die verstärkte Zusammenarbeit von zehn interessierten Großen Koalition zu finanzieren. Staaten in Europa, und darum geht es heute. Unser Fi- (Beifall bei der FDP) nanzminister hat einen Vorschlag gemacht, wie es in die- sem Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit in Europa Es gibt auch eine Solidarität mit denen, die unser Land zu einer einheitlichen Finanztransaktionsteuer kommen finanzieren. könnte. Das ist die Minimallösung, die wir mitmachen. Ich war auf einigen Neujahrsempfängen. Dort sagte Das haben wir mehrfach gesagt; das steht im Koalitions- jemand zu mir: Ich spare, ich betreibe Eigenvorsorge. vertrag. Eine nationale Steuer wird mit der CDU/CSU In den letzten Monaten habe ich von dieser Bundesregie- nicht zu machen sein. Diese verstärkte Zusammenarbeit (B) rung keinerlei Unterstützung bekommen. ist im Moment in der Diskussion, nichts anderes, keine (D) nationale Finanztransaktionsteuer. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir Freien Demokraten möchten es den Menschen er- möglichen, eigenständig Vermögen aufzubauen. Wir Nur zeigt die aktuelle Diskussion, dass wir Grund hat- möchten ihnen Respekt vor der Leistung zeigen, die sie ten, so lange diese Steuer nicht auf den Weg zu bringen. erbringen, und wir möchten diesen Menschen im Deut- Denn je mehr man sich mit dieser Steuer befasst, desto schen Bundestag auch wieder eine Stimme geben. mehr Probleme sieht man. Ja, Sie haben recht: Alles das, was wir uns vorgestellt haben, um den Finanzplatz siche- Stärken Sie mit uns die Aktienkultur in diesem Land! rer zu machen, ist in dieser Steuer nicht mehr enthalten. Nehmen Sie hier und heute Abstand von der Aktienspa- rersteuer! Der Hochfrequenzhandel ist bisher nicht besteuert. Da- zu verweise ich aber darauf, dass das Gesetz durchaus Vielen Dank. noch Spielraum offenlässt – es gibt ja noch nicht einmal (Beifall bei der FDP) einen Referentenentwurf – und dass wir uns sehr wohl anschauen werden, wie die Franzosen das machen; die haben nämlich eine spezielle Hochfrequenzsteuer. Wir Vizepräsident Wolfgang Kubicki: sind mit dem Finanzministerium im Gespräch, auch eine Vielen Dank, Frau Kollegin Stark-Watzinger. – Das solche Steuer in den Referentenentwurf aufzunehmen, Wort hat nunmehr für die CDU/CSU-Fraktion die Kolle- sobald er vorgelegt wird – aber auch das nur europäisch, gin Antje Tillmann. keinesfalls national.

(Beifall bei der CDU/CSU) Und ja, Sie haben auch recht, dass die Sicherheit der Finanzmärkte bei diesem Gesetz nicht mehr im Vorder- Antje Tillmann (CDU/CSU): grund steht. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lie- be Zuhörerinnen und Zuhörer! Man könnte meinen, wir (Zuruf der Abg. Bettina Stark-Watzinger würden heute über die Finanztransaktionsteuer abstim- [FDP]) men. Das ist aber gar nicht der Fall. Die Sicherheit der Finanzmärkte haben wir aber längst (Dr. Thomas de Maizière [CDU/CSU]: So ist anderweitig umgesetzt, zum Beispiel, indem wir Hoch- es!) frequenzhändler unter BaFin-Aufsicht gestellt haben, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17959

Antje Tillmann (A) (Zuruf der Abg. Bettina Stark-Watzinger Gar nichts geregelt ist hinsichtlich der Kleinsparer. Bei (C) [FDP]) der FTT einen Freibetrag für Kleinsparer einzuführen, zum Beispiel, indem wir Gebühren für das exzessive wird – das wird uns von allen Seiten gesagt – nicht funk- Nutzen von Handelssystemen eingeführt haben, tionieren, ist ja auch als Optionsmodell gar nicht vorge- sehen in der europäischen Lösung. Das heißt, auch da (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) sind wir noch nicht so weit, dass wir dem Entwurf zu- stimmen können. Auch da diskutieren wir Lösungen, zum Beispiel, indem wir Mindestpreisänderungsgrößen zum Beispiel über eine Erhöhung des Sparerfreibetrags. für Algorithmen festgelegt haben. Das heißt, Sicherheit auf den Finanzmärkten haben wir durch zahlreiche ande- All das ist in der Debatte. Deshalb können wir uns re Gesetze, übrigens ohne Ihre Beteiligung, auf den Weg heute auf gar keinen Fall für eine Position entscheiden. gebracht, Aber wir werden auch auf gar keinen Fall dem Antrag der Linken zustimmen, die diese ganzen europäischen Bemü- (Cansel Kiziltepe [SPD]: Genau!) hungen heute einstampfen und heute eine nationale sodass dieser Teil bei dem Gesetz gar nicht mehr im Vor- Steuer einführen wollen. Das ist mit uns nicht zu machen. dergrund steht. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das habt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ihr doch selber gefordert, zum Beispiel Herr der SPD) Söder!) Ich bin lange genug Finanzpolitikerin, um zu wissen, Die vielen ungeklärten Fragen, die ich genannt habe, dass es nicht per se unanständig ist, wenn ein Steuerge- werden in den nächsten Monaten noch gemeinsam mit setz dazu dient, Steuereinnahmen zu erheben. dem Finanzministerium geklärt werden müssen. Ich gebe (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des gerne zu: Dass all diese Fragen und Bedenken auch vom BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wissenschaftlichen Beirat im BMF geteilt werden, macht uns diese Aufgabe nicht leichter. Sie können ganz gelas- Es kann nicht Ihr Ernst sein, dass Sie das problematisch sen abwarten, was kommt. Unsere Position steht klar fest: finden. Kein nationaler Alleingang, keine Belastung der Alters- (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Doch! Für die vorsorge, keine Belastung der Kleinsparer! Nur dann sind Sparer!) wir bereit, weiter mitzudiskutieren. Aber – jetzt werden Sie mir vermutlich wieder zustim- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dann men – es ist nicht sehr sinnvoll, wenn ein Steuergesetz kauft ein paar Hubschrauber weniger! Dann (B) Steuern in Bereichen einnimmt, bei denen wir auf der reicht das auch! Dasselbe Geld! 1,5 Milliar- (D) anderen Seite die Bürgerinnen und Bürger mit Steuergel- den!) dern unterstützen möchten. Deshalb will ich gar nicht Das steht vor uns, und wir freuen uns, wenn Sie bei den verhehlen, dass wir beim Vorschlag des Finanzministers Beratungen mitwirken. durchaus Diskussionsbedarf haben, zum Beispiel, wenn Altersvorsorge und Kleinsparer betroffen sind. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dagmar Ziegler [SPD]) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Denn auch das war Bedingung für unsere Zustimmung im Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Koalitionsvertrag: dass Altersvorsorgeprodukte nicht be- lastet werden und dass der Kleinsparer nicht belastet Vielen Dank, Frau Kollegin Tillmann. wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich den nächs- Herr Scholz hat in seinem Entwurf schon eine Opt-out- ten Redner aufrufe, gebe ich Ihnen das von den Schrift- Lösung gefunden für Altersvorsorgeprodukte. führerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt, nämlich über den (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Wie grenzen Antrag der Abgeordneten Corinna Miazga, Stephan Sie das ab?) Brandner, Jürgen Braun, Matthias Büttner, weiterer Ab- Das können wir national tun, das ist europäisch vorge- geordneter und der Fraktion der AfD zur Richtlinie (EU) sehen. Ich will aber gar nicht verhehlen, dass auch das 2019/1937 des Europäischen Parlaments und des Rates natürlich Schwierigkeiten mit sich bringt. Denn was ma- vom 23. Oktober 2019 zum Schutz von Personen, die chen wir mit den Instituten, die nicht selber handeln? So Verstöße gegen das Unionsrecht melden – KOM können wir doch nicht sagen: Wenn das Steuerberaterver- (2018) 218 endg.; Ratsdok. 8713/18 –, hier Erhebung sorgungswerk Aktien kauft, dann ist das steuerfrei bei der einer Subsidiaritätsklage gemäß Artikel 8 des Protokolls FTT, aber nicht, wenn ein Dienstleister dazwischenge- Nummer 2 zum Vertrag von Lissabon (Anwendung der schaltet wird. – Das heißt, nur über einen Freibetrag bei Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßig- der FTT werden wir da keine Lösung finden, die uns keit) in Verbindung mit Artikel 263 des Vertrages über befriedigt. Wir denken im Moment darüber nach, über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Artikel 23 Ab- die Einkommensteuer sicherzustellen, dass die Altersvor- satz 1a des Grundgesetzes, § 12 des Integrationsverant- sorge nicht belastet wird. wortungsgesetzes aufgrund Verstoßes der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates gegen das Sub- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sidiaritätsprinzip, das Verhältnismäßigkeitsprinzip und 17960 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, Druck- – Ich bin sicher: Sie haben das auch alles im Kopf, weil (C) sache 19/16857. – Sie konnten mir folgen? wir darüber ja auch schon beraten haben. – Abgegebene Stimmen 633. Mit Ja haben gestimmt 83, mit Nein haben (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nicht gestimmt 550, Enthaltungen keine. Der Antrag ist damit immer ganz leicht, aber wir haben es ge- abgelehnt. schafft! – Zurufe von der SPD und der FDP: Ja, natürlich!)

Endgültiges Ergebnis Jens Kestner Nein Alois Gerig Abgegebene Stimmen: 633; Stefan Keuter CDU/CSU Eberhard Gienger davon Enrico Komning Eckhard Gnodtke Dr. Michael von Abercron ja: 83 Jörn König Ursula Groden-Kranich Stephan Albani nein: 550 Steffen Kotré Hermann Gröhe Norbert Maria Altenkamp Dr. Rainer Kraft Klaus-Dieter Gröhler Philipp Amthor Ja Rüdiger Lucassen Michael Grosse-Brömer Peter Aumer AfD Astrid Grotelüschen Dorothee Bär Jens Maier Markus Grübel Dr. Bernd Baumann Thomas Bareiß Dr. Lothar Maier Oliver Grundmann Andreas Bleck Norbert Barthle Dr. Birgit Malsack- Monika Grütters Peter Boehringer Maik Beermann Winkemann Fritz Güntzler Stephan Brandner Manfred Behrens (Börde) Corinna Miazga Olav Gutting Jürgen Braun Sybille Benning Andreas Mrosek Christian Haase Marcus Bühl Dr. André Berghegger Volker Münz Florian Hahn Matthias Büttner Melanie Bernstein Sebastian Münzenmaier Jürgen Hardt Petr Bystron Christoph Bernstiel Christoph Neumann Matthias Hauer Tino Chrupalla Peter Beyer Jan Ralf Nolte Mark Hauptmann Joana Cotar Marc Biadacz Gerold Otten Dr. Matthias Heider Siegbert Droese Steffen Bilger Tobias Matthias Peterka Mechthild Heil (B) Thomas Ehrhorn Peter Bleser (D) Paul Viktor Podolay Thomas Heilmann Berengar Elsner von Norbert Brackmann Gronow Jürgen Pohl Frank Heinrich (Chemnitz) Michael Brand (Fulda) Dr. Michael Espendiller Stephan Protschka Mark Helfrich Dr. Reinhard Brandl Peter Felser Martin Reichardt Rudolf Henke Sebastian Brehm Dietmar Friedhoff Michael Hennrich Martin Erwin Renner Heike Brehmer Dr. Anton Friesen Ansgar Heveling Roman Johannes Reusch Ralph Brinkhaus Markus Frohnmaier Christian Hirte Ulrike Schielke-Ziesing Dr. Carsten Brodesser Dr. Götz Frömming Dr. Heribert Hirte Dr. Robby Schlund Gitta Connemann Albrecht Glaser Alexander Hoffmann Jörg Schneider Astrid Damerow Franziska Gminder Karl Holmeier Uwe Schulz Alexander Dobrindt Wilhelm von Gottberg Dr. Michael Donth Kay Gottschalk Erich Irlstorfer Martin Sichert Marie-Luise Dött Armin-Paulus Hampel Thomas Jarzombek Detlev Spangenberg Hansjörg Durz Mariana Iris Harder-Kühnel Andreas Jung Dr. Dirk Spaniel Thomas Erndl Dr. Roland Hartwig Ingmar Jung René Springer Hermann Färber Jochen Haug Alois Karl Beatrix von Storch Uwe Feiler Udo Theodor Hemmelgarn Anja Karliczek Dr. Alice Weidel Enak Ferlemann Waldemar Herdt Torbjörn Kartes Dr. Harald Weyel Axel E. Fischer (Karlsruhe- Martin Hess Volker Kauder Wolfgang Wiehle Land) Dr. Heiko Heßenkemper Dr. Stefan Kaufmann Dr. Heiko Wildberg Dr. Maria Flachsbarth Karsten Hilse Ronja Kemmer Dr. Christian Wirth Thorsten Frei Nicole Höchst Roderich Kiesewetter Uwe Witt Dr. Astrid Freudenstein Martin Hohmann Dr. Hans-Peter Friedrich Michael Kießling Dr. Bruno Hollnagel (Hof) Dr. Georg Kippels Leif-Erik Holm Fraktionslos Michael Frieser Volkmar Klein Johannes Huber Verena Hartmann Hans-Joachim Fuchtel Axel Knoerig Fabian Jacobi Mario Mieruch Ingo Gädechens Jens Koeppen Dr. Marc Jongen Dr. Frauke Petry Dr. Thomas Gebhart Markus Koob Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17961

(A) Carsten Körber Dr. Joachim Pfeiffer Kerstin Vieregge Michael Groß (C) Alexander Krauß Stephan Pilsinger Christoph de Vries Uli Grötsch Gunther Krichbaum Dr. Christoph Ploß Kees de Vries Bettina Hagedorn Rüdiger Kruse Eckhard Pols Dr. Johann David Wadephul Rita Hagl-Kehl Michael Kuffer Kerstin Radomski Nina Warken Metin Hakverdi Dr. Roy Kühne Alexander Radwan Kai Wegner Sebastian Hartmann Dr. Dr. h. c. Karl A. Lamers Alois Rainer Albert H. Weiler Dirk Heidenblut Andreas G. Lämmel Dr. Peter Ramsauer Dr. Anja Weisgerber Hubertus Heil (Peine) Katharina Landgraf Lothar Riebsamen Peter Weiß (Emmendingen) Gabriela Heinrich Ulrich Lange Josef Rief Sabine Weiss (Wesel I) Marcus Held Jens Lehmann Johannes Röring Ingo Wellenreuther Wolfgang Hellmich Paul Lehrieder Dr. Norbert Röttgen Marian Wendt Dr. Barbara Hendricks Dr. Katja Leikert Stefan Rouenhoff Kai Whittaker Gustav Herzog Dr. Andreas Lenz Erwin Rüddel Annette Widmann-Mauz Gabriele Hiller-Ohm Antje Lezius Albert Rupprecht Bettina Margarethe Thomas Hitschler Andrea Lindholz Stefan Sauer Wiesmann Dr. Eva Högl Dr. Carsten Linnemann Anita Schäfer (Saalstadt) Klaus-Peter Willsch Frank Junge Patricia Lips Dr. Wolfgang Schäuble Elisabeth Winkelmeier- Thomas Jurk Becker Nikolas Löbel Andreas Scheuer Oliver Kaczmarek Emmi Zeulner Bernhard Loos Tankred Schipanski Johannes Kahrs Paul Ziemiak Christian Schmidt (Fürth) Elisabeth Kaiser Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Matthias Zimmer Daniela Ludwig Dr. Claudia Schmidtke Ralf Kapschack Dr. Saskia Ludwig Nadine Schön Gabriele Katzmarek SPD Karin Maag Felix Schreiner Cansel Kiziltepe Yvonne Magwas Dr. Klaus-Peter Schulze Niels Annen Lars Klingbeil Dr. Thomas de Maizière Uwe Schummer Ingrid Arndt-Brauer Dr. Bärbel Kofler Gisela Manderla Armin Schuster (Weil am Heike Baehrens Daniela Kolbe Rhein) Dr. Astrid Mannes Ulrike Bahr Elvan Korkmaz-Emre Torsten Schweiger (B) Matern von Marschall Nezahat Baradari Anette Kramme (D) Johannes Selle Hans-Georg von der Dr. Matthias Bartke Christine Lambrecht Marwitz Reinhold Sendker Sören Bartol Christian Lange (Backnang) Andreas Mattfeldt Dr. Patrick Sensburg Bärbel Bas Dr. Karl Lauterbach (Altötting) Thomas Silberhorn Lothar Binding Helge Lindh Dr. Michael Meister Björn Simon (Heidelberg) Kirsten Lühmann Jan Metzler Tino Sorge Dr. Eberhard Brecht Heiko Maas Dr. h. c. (Univ Kyiv) Hans Jens Spahn Leni Breymaier Isabel Mackensen Michelbach Katrin Staffler Dr. Karl-Heinz Brunner Caren Marks Dr. Mathias Middelberg Frank Steffel Katrin Budde Katja Mast Dietrich Monstadt Dr. Wolfgang Stefinger Martin Burkert Christoph Matschie Karsten Möring Albert Stegemann Dr. Lars Castellucci Hilde Mattheis Elisabeth Motschmann Andreas Steier Bernhard Daldrup Dr. Matthias Miersch Axel Müller Peter Stein (Rostock) Dr. Daniela De Ridder Klaus Mindrup Dr. Gerd Müller Sebastian Steineke Dr. Karamba Diaby Susanne Mittag Sepp Müller Johannes Steiniger Esther Dilcher Falko Mohrs Carsten Müller Christian Frhr. von Stetten Sabine Dittmar Claudia Moll (Braunschweig) Dieter Stier Dr. Wiebke Esdar Siemtje Möller Stefan Müller (Erlangen) Gero Storjohann Saskia Esken Detlef Müller (Chemnitz) Petra Nicolaisen Stephan Stracke Yasmin Fahimi Michelle Müntefering Michaela Noll Max Straubinger Dr. Johannes Fechner Dr. Rolf Mützenich Dr. Georg Nüßlein Dr. Peter Tauber Dr. Fritz Felgentreu Dietmar Nietan Wilfried Oellers Dr. Hermann-Josef Tebroke Dr. Edgar Franke Ulli Nissen Florian Oßner Hans-Jürgen Thies Ulrich Freese Thomas Oppermann Josef Oster Alexander Throm Dagmar Freitag Josephine Ortleb Henning Otte Antje Tillmann Michael Gerdes Mahmut Özdemir Ingrid Pahlmann Markus Uhl Martin Gerster (Duisburg) Sylvia Pantel Dr. Volker Ullrich Angelika Glöckner Aydan Özoğuz Martin Patzelt Arnold Vaatz Timon Gremmels Markus Paschke 17962 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

(A) Detlev Pilger Christine Aschenberg- Dr. h. c. Thomas Thomas Lutze (C) Sabine Poschmann Dugnus Sattelberger Pascal Meiser Florian Post Nicole Bauer Christian Sauter Amira Mohamed Ali Achim Post (Minden) Jens Beeck Frank Schäffler Cornelia Möhring Dr. Sascha Raabe Dr. Jens Brandenburg Dr. Wieland Schinnenburg Norbert Müller (Potsdam) (Rhein-Neckar) Martin Rabanus Matthias Seestern-Pauly Zaklin Nastic Sandra Bubendorfer-Licht Frank Sitta Andreas Rimkus Dr. Alexander S. Neu Dr. Marco Buschmann Judith Skudelny Sönke Rix Thomas Nord Karlheinz Busen Dr. Hermann Otto Solms Dennis Rohde Petra Pau Carl-Julius Cronenberg Bettina Stark-Watzinger Dr. Martin Rosemann Victor Perli Bijan Djir-Sarai Dr. Marie-Agnes Strack- René Röspel Tobias Pflüger Christian Dürr Zimmermann Dr. Ernst Dieter Rossmann Martina Renner Hartmut Ebbing Benjamin Strasser Michael Roth (Heringen) Eva-Maria Schreiber Dr. Marcus Faber Katja Suding Dr. Petra Sitte Susann Rüthrich Daniel Föst Linda Teuteberg Helin Evrim Sommer Bernd Rützel Otto Fricke Michael Theurer Kersten Steinke Sarah Ryglewski Thomas Hacker Stephan Thomae Friedrich Straetmanns Johann Saathoff Reginald Hanke Manfred Todtenhausen Dr. Kirsten Tackmann Dr. Nina Scheer Peter Heidt Dr. Florian Toncar Jessica Tatti Marianne Schieder Katrin Helling-Plahr Dr. Andrew Ullmann Alexander Ulrich Udo Schiefner Markus Herbrand Gerald Ullrich Andreas Wagner Dr. Nils Schmid Torsten Herbst Johannes Vogel (Olpe) Harald Weinberg Uwe Schmidt Katja Hessel Sandra Weeser Katrin Werner Ulla Schmidt (Aachen) Dr. Gero Clemens Hocker Nicole Westig Hubertus Zdebel Dagmar Schmidt (Wetzlar) Manuel Höferlin Katharina Willkomm Pia Zimmermann Carsten Schneider (Erfurt) Dr. Christoph Hoffmann Johannes Schraps Reinhard Houben DIE LINKE Michael Schrodi Ulla Ihnen Doris Achelwilm BÜNDNIS 90/ Ursula Schulte DIE GRÜNEN (B) Olaf In der Beek Simone Barrientos (D) Martin Schulz Gyde Jensen Matthias W. Birkwald Luise Amtsberg Swen Schulz (Spandau) Dr. Christian Jung Heidrun Bluhm-Förster Margarete Bause Stefan Schwartze Karsten Klein Dr. Birke Bull-Bischoff Dr. Danyal Bayaz Andreas Schwarz Dr. Marcel Klinge Jörg Cezanne Canan Bayram Rita Schwarzelühr-Sutter Daniela Kluckert Sevim Dağdelen Dr. Franziska Brantner Rainer Spiering Pascal Kober Fabio De Masi Agnieszka Brugger Svenja Stadler Dr. Lukas Köhler Dr. Diether Dehm Katja Dörner Martina Stamm-Fibich Carina Konrad Anke Domscheit-Berg Katharina Dröge Sonja Amalie Steffen Wolfgang Kubicki Klaus Ernst Harald Ebner Mathias Stein Konstantin Kuhle Susanne Ferschl Matthias Gastel Kerstin Tack Alexander Kulitz Brigitte Freihold Kai Gehring Claudia Tausend Alexander Graf Lambsdorff Nicole Gohlke Stefan Gelbhaar Michael Thews Ulrich Lechte Dr. Gregor Gysi Katrin Göring-Eckardt Markus Töns Christian Lindner Dr. André Hahn Erhard Grundl Carsten Träger Michael Georg Link Heike Hänsel Anja Hajduk Marja-Liisa Völlers (Heilbronn) Matthias Höhn Britta Haßelmann Dirk Vöpel Oliver Luksic Andrej Hunko Dr. Bettina Hoffmann Dr. Joe Weingarten Till Mansmann Ulla Jelpke Ottmar von Holtz Bernd Westphal Dr. Jürgen Martens Kerstin Kassner Dieter Janecek Gülistan Yüksel Christoph Meyer Dr. Achim Kessler Dr. Kirsten Kappert- Gonther Dagmar Ziegler Alexander Müller Katja Kipping Jan Korte Katja Keul Stefan Zierke Roman Müller-Böhm Jutta Krellmann Maria Klein-Schmeink Dr. Jens Zimmermann Frank Müller-Rosentritt Dr. Martin Neumann Caren Lay Oliver Krischer (Lausitz) Ralph Lenkert Stephan Kühn (Dresden) FDP Hagen Reinhold Michael Leutert Christian Kühn (Tübingen) Grigorios Aggelidis Bernd Reuther Stefan Liebich Renate Künast Renata Alt Dr. Stefan Ruppert Dr. Gesine Lötzsch Markus Kurth Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17963

(A) Monika Lazar Cem Özdemir Stefan Schmidt Daniela Wagner (C) Sven Lehmann Lisa Paus Charlotte Schneidewind- Steffi Lemke Filiz Polat Hartnagel Beate Walter-Rosenheimer Dr. Tobias Lindner Tabea Rößner Kordula Schulz-Asche Gerhard Zickenheiner Dr. Irene Mihalic Claudia Roth (Augsburg) Dr. Wolfgang Strengmann- Claudia Müller Dr. Manuela Rottmann Kuhn Beate Müller-Gemmeke Corinna Rüffer Margit Stumpp Fraktionslos Dr. Konstantin von Notz Manuel Sarrazin Markus Tressel Friedrich Ostendorff Ulle Schauws Jürgen Trittin Marco Bülow

Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt.

So, nun rufe ich in der Fortsetzung des TOP 19 den (Beifall bei der AfD) Kollegen Dr. Bruno Hollnagel, AfD-Fraktion, auf. Meine Damen und Herren, wir wollen keine Neidsteuer. (Beifall bei der AfD) Sicherungsgeschäfte: Wenn nun ein Fonds Aktien besitzt und Kurseinbrüche befürchtet, könnte er durch Dr. Bruno Hollnagel (AfD): sogenannte Sicherungsgeschäfte Verluste vermeiden. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da- Auch diese Geschäfte sind keine Spekulation und sollten men und Herren! Die Finanzkrise hat uns in Deutschland deswegen auch nicht entsprechend behandelt oder gar sehr viel Geld gekostet. Die Finanztransaktionsteuer soll- bestraft werden, indem sie der Transaktionsteuer unter- te ursprünglich die Schuldigen im Nachhinein zur Kasse liegen. Nein, sie sind freizustellen, weil sie die Nachhal- bitten. Dieses Ziel wird vollkommen verfehlt. Denn wer tigkeit von Wirtschaften eben unterstreichen. waren die Schuldigen? Es war die amerikanische Politik, die Kredite ohne persönliche Haftung ermöglichte, und es Termingeschäfte: Ein Schweinezüchter hat tausend waren außerdem die Institute, die intransparente CDOs Schweine im Stall, die in drei Monaten schlachtreif sind. ermöglichten und auf den Weltmarkt brachten. Aber Was kann er machen? Er kann sie bereits heute verkau- wenn nicht die Verursacher getroffen werden, wer soll fen – und weiß genau, was er dafür bekommt. (B) dann getroffen werden? Wir, wir Steuerzahler, wir sollen (D) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wenn zur Kasse gebeten werden, und das ist nicht vertretbar. keins stirbt zwischendurch!) (Beifall bei der AfD) Jemand, der die Schweine verarbeitet und Würste daraus Die Sache mit der Finanztransaktionsteuer ist sehr machen will, kann schon heute zu einem festgestellten kompliziert. Hierzu einige Beispiele, um etwas Klarheit Preis diese Schweine kaufen und hat damit eine klare zu schaffen: Kalkulationsgrundlage. Diese Planungssicherheit ist wertvoll und sollte nicht bestraft werden. Wertpapiergeschäfte zum Zwecke der nachhaltigen Kapitalanlage, also zum Beispiel Geschäfte mit Aktien (Beifall bei der AfD – Michael Grosse-Brömer und Anleihen: Wir wollen, dass die Menschen damit die [CDU/CSU]: Kann man die Würste schon ver- Möglichkeit haben, Vermögen zu bilden und zu halten kaufen, wenn die Schweine noch leben?) und zu erhalten. Wer das will, darf aber keine Transak- Zu einem Spekulationsgeschäft – bleiben wir bei tionsteuer auf Geschäfte mit Aktien und Anleihen wollen. Schweinen! - Nun sagt das Institut für Weltwirtschaft aber: Die meisten DAX-Werte werden doch von großen Fonds, Staatsfonds (Zuruf von der LINKEN: Jetzt reicht es aber!) und Pensionsfonds gehalten. – Ja, richtig. Aber wer gibt wird die Sache erst dann, wenn der Verkäufer, in diesem denen denn die Gelder? Wie der Name schon sagt, sind Fall von Schweinen, die Schweine gar nicht besitzt das eben Staatsbürger und Pensionäre oder zukünftige Pensionäre. Aber wir wissen, Gelder gehören eben in (Michael Schrodi [SPD]: Ist eine Schweinerei!) die richtigen Kassen, und deswegen werden wir hier die- sen Antrag ablehnen. oder wenn der Käufer Rechte auf Schweine erwirbt, die er gar nicht haben will, Von besonderem Interesse ist in diesem Fall, was der Beirat des Finanzministeriums laut „Handelsblatt“ heute (Michael Schrodi [SPD]: Was ist mit einer gesagt hat, nämlich: Die Transaktionsteuer ist „aus öko- Kuh?) nomischen Gründen nicht sinnvoll“. aber mit Anrechten auf Schweine spekuliert und auf stei- gende Preise hofft. Die Schweine selbst interessieren sie (Jörg Cezanne [DIE LINKE]: Aktiensteuer! dabei überhaupt nicht. Für solche Fälle der Spekulation Lesen, Herr Hollnagel, lesen!) halten wir eine Finanztransaktionsteuer durchaus für Das ist genau auch unsere Meinung, zumindest was Ak- überlegenswert. Sie würde Spekulation verteuern und tien und Anleihen betrifft. damit eindämmen und Preisschwankungen dämpfen. 17964 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Dr. Bruno Hollnagel (A) Auch für Hochfrequenzhandel ist eine Finanztransak- (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Wissen wir (C) tionsteuer durchaus bemerkenswert und erwähnenswert. nicht! Es kann auch mal ein Crash kommen! Das ist Risiko!) Darüber sollten wir im Ausschuss näher diskutieren, wie wir es schon angefangen haben. Das steht in keinem Verhältnis; das müssen auch Sie mal zugeben. (Zuruf von der LINKEN: Überweisen wir an den Landwirtschaftsausschuss, oder was?) Diese Steuer besteuert zudem nicht den Aktienbesitz, sondern den Aktienhandel. Diese Steuer ist alles, nur kein Vielen Dank, meine Damen und Herren. Sparhindernis für Kleinanleger. Es ist eine Steuer, die (Beifall bei der AfD) hauptsächlich von Großanlegern und der Finanzindustrie getragen wird. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Beifall bei der SPD – Dr. Florian Toncar Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kollegin [FDP]: Die legen doch für normale Menschen Cansel Kiziltepe, SPD-Fraktion. Geld an!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das sagt im Übrigen aktuell auch das Kieler Institut für Weltwirtschaft. Vielleicht sollten Sie auch mal die richti- Cansel Kiziltepe (SPD): gen Gutachten lesen. Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Das habe ich Kolleginnen und Kollegen! Wie Sie sehen oder hören: mir sogar angeguckt!) Den Gegnern der Finanztransaktionsteuer ist jedes Mittel recht, um sie zu torpedieren. Das jüngste Beispiel zeigt, Die Großanleger und die Finanzindustrie besitzen 80 Pro- dass diesmal die Kleinsparer herangezogen werden zent der DAX-Aktien; allein BlackRock hat einen Markt- anteil von fast 10 Prozent. (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Ja, weil es die auch trifft!) (Dr. Florian Toncar [FDP]: Lebensversiche- rungen!) und als angeblich Leitragende postuliert werden. Mit anderen Worten: Kaum jemand wäre so stark betrof- (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Sind sie!) fen wie Friedrich Merz. Ob er angesichts der Finanztran- Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Ihre politi- saktionsteuer Angst um seine zwei Flugzeuge hat, konnte (B) sche Strategie ist wieder einmal ziemlich durchsichtig. ich noch nicht herausbekommen; aber ich bleibe dran. (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) Ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie 2012, kurz nach der Finanzkrise, trotz Ihres Glaubensansatzes, der Markt Aber noch mal zum Antrag der FDP. Auf Seite 2 steht, regle alles, hier im Bundestag mit allen Fraktionen dafür- „dass das von der Politik ausgerufene Ziel, durch die gestimmt haben, dass wir eine umfassende Finanztran- Finanztransaktionsteuer spekulativen Übertreibungen saktionsteuer einführen, damit wir die Verursacher der Einhalt bieten zu wollen und … Kapitalmarkteffizienz“ Finanzkrise auch an den Kosten beteiligen. Das haben herzustellen, nicht erreicht werde. Sie wohl vergessen. (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Ja!) (Zurufe von der FDP) Dann steht im Forderungsteil, deshalb müsste dieser un- 2012 scheitern die Verhandlungen auf EU-Ebene unter terbreitete Vorschlag zurückgezogen und nationale Al- einer schwarz-gelben Bundesregierung. Und heute legen leingänge verhindert werden. Aber kein einziges Wort Sie einen diffusen Antrag vor, der den Titel „Aktiensteuer bzw. Vorschlag zu einer umfassenden Finanztransaktion- darf nicht die Falschen treffen“ trägt. steuer in Deutschland oder in Europa! (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Ja! Absolut (Michael Schrodi [SPD]: Heiße Luft von der richtig!) FDP! – Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Wollen Sie ja auch nicht! – Gegenruf des Abg. Fritz Sagen Sie mal, geht’s noch? Die Wahrheit ist doch: Die Güntzler [CDU/CSU]: Was?) FDP und die Finanzlobby treiben Scheinargumente vor sich her, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen, und Nur zur Erinnerung: Es gibt eine fast identische Steuer das spiegelt sich auch im Antrag wider. in zahlreichen anderen europäischen Ländern. Sie ist an der Londoner Börse fällig, sie ist an der Pariser Börse (Beifall bei der SPD) fällig, Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir reden hier über (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Ja, genau! einen Steuersatz von 0,2 Prozent! Wer also 10 000 Euro Dann gucken Sie sich mal an, was da passiert in Aktien anlegt – und das muss man sich erst einmal ist!) leisten können –, müsste dafür beim Kauf 20 Euro Steuern zahlen. 20 Euro! Demgegenüber steht eine Wert- nur bei uns nicht. Deutschland würde, selbst wenn es die verdoppelung nach zehn Jahren. Steuer im Alleingang einführen würde, – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17965

(A) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (C) Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss, bitte. neten der SPD) Leider – und da hat die FDP dann sogar wieder recht – Cansel Kiziltepe (SPD): taugt der Vorschlag des Bundesfinanzministers für eine – nur mit den anderen Ländern gleichziehen. Aktiensteuer dazu überhaupt nicht. Wir als SPD wollen diese Steuer. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Lisa (Grigorios Aggelidis [FDP]: Sie wollen ja im- Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) mer nur an das Geld anderer Leute ran!) Er hat mit einer Finanztransaktionsteuer nichts, aber auch Wir als SPD sind der Meinung, dass die Finanzindustrie gar nichts zu tun. Er droht auch noch die letzten Reste der an den Kosten der Finanzkrise in der Vergangenheit, aber verstärkten Zusammenarbeit auf europäischer Ebene zu auch in Zukunft beteiligt werden muss. sprengen. Und vor allen Dingen ist der Kernhaken, dass er eben gerade jene gefährlichen spekulativen Geschäfte (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Ja, aber sie auf den Finanzmärkten nicht besteuert. Das ist falsch. wird ja nicht beteiligt! Es werden die Anleger beteiligt!) (Beifall bei der LINKEN – Fabio De Masi [DIE LINKE]: So sieht es aus!) Danke schön. Und wenn Sie es mir nicht glauben, dann lauschen Sie (Beifall bei der SPD) vielleicht noch mal den Worten von Wolfgang Schäuble: Allein die Umsätze mit Aktien zu besteuern, ist an- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: gesichts der Entwicklung an den modernen Börsen Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist der mit Derivategeschäften nicht zielführend. Kollege Jörg Cezanne, Fraktion Die Linke. Ein kluger Mann! (Beifall bei der LINKEN – Fabio De Masi [DIE LINKE]: Richtig Stimmung hier!) (Beifall bei der LINKEN) Für den Fall, dass im Rahmen der verstärkten Zusam- Jörg Cezanne (DIE LINKE): menarbeit kein Ergebnis erzielt worden ist, war ausdrück- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich zitiere: lich auch die Einführung einer Finanztransaktionsteuer (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Ui!) durch weniger Staaten oder sogar im nationalen Allein- (B) gang vorgesehen. Auch hierzu zwei Zitate. (D) Wir wollen eine Finanzmarkttransaktionssteuer ein- führen. … Carsten Schneider, SPD: (Beifall des Abg. Pascal Meiser [DIE LINKE]) Die Einführung dieser Steuer ist ein zentrales Vor- haben der Koalition. Ich erwarte, dass dies mit Prio- Eine solche Besteuerung sollte möglichst alle Fi- rität von der Bundeskanzlerin und dem Finanzminis- nanzinstrumente umfassen, insbesondere Aktien, ter vorangetrieben wird. Anleihen, Investmentanteile, Divisentransaktionen sowie Derivatekontrakte (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Michael Schrodi [SPD]: Tut er ja!) (Metin Hakverdi [SPD]: Wen zitieren Sie da? Herrn Macron, oder wen?) Oder – noch konsequenter – Markus Söder, CSU: und mit einer breiten Bemessungsgrundlage bei ei- Wenn das Vorhaben in der EU nem niedrigen Steuersatz verwirklicht werden. Hier- durch wird die Belastung der einzelnen Finanztran- sich nicht durchsetzen lasse, dann eben saktionen gering gehalten. in der Euro-Zone … „Und wenn es dort nicht klappt, Große Ratenummer: Wer hat’s erfunden? dann wäre ich für einen deutschen Alleingang.“ Deutschland besitze in Europa eine Führungsfunk- (Metin Hakverdi [SPD]: Macron!) tion … Beschluss des Deutschen Bundestages vom 21. Juni Herr Finanzminister – ich hoffe, Frau Ryglewski rich- 2012, getragen von den Fraktionen der CDU/CSU, der tet es ihm aus –, nehmen Sie diese Führungsrolle wahr! FDP, der SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Einfüh- Schaffen Sie eine Finanztransaktionsteuer, die den Na- rung einer Finanztransaktionsteuer im Rahmen des Pakts men verdient, im Notfall eben im nationalen Alleingang. für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung. Danke schön. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE], an die FDP gewandt: Da war die FDP dabei! Ja, guck (Beifall bei der LINKEN) mal an! – Gegenruf des Abg. Dr. Florian Toncar [FDP]: Das war aber ein Kompromiss!) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Herzlichen Glückwunsch: Sie waren alle schon mal Vielen Dank, Herr Kollege Cezanne. – Bei der Auf- schlauer! zählung des Abstimmungsergebnisses aus dem Jahr 2012 17966 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) habe ich bedauerlicherweise nicht erfahren, wie Die Lin- (Dr. h. c. [Univ Kyiv] Hans Michelbach [CDU/ (C) ke abgestimmt hat. – Wissen Sie nicht mehr. Gut, okay. CSU]: Ein Märchen!) (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der Er hätte zwei Möglichkeiten gehabt. Die eine wäre ge- FDP) wesen, sie sozusagen in Ehre zu beerdigen. Die andere wäre gewesen, sie tatsächlich wieder zum Leben zu er- Dann hat als nächste Rednerin die Kollegin Lisa Paus, wecken. In dem Moment war es doch schon so – ein Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. Thema war ja immer: das können wir wegen des Finanz- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) platzes London nicht machen; die machen ja nicht mit –, dass das Thema Brexit schon aktuell war. Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die SPD hatte zuvor gesagt: Wir machen den Unter- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fi- schied. Wenn wir das Finanzministerium führen, dann nanztransaktionsteuer wäre eine wichtige und zielgenaue gehen wir auf europäischer Ebene bei der Finanztransak- Steuer. Sie beteiligt den Finanzsektor an den Kosten des tionsteuer voran, dann wird alles anders hinsichtlich der Gemeinwesens – das ist überfällig –, und sie macht den Finanztransaktionsteuer. – Der Finanzminister hätte tat- Hochfrequenzhandel unattraktiver; sie dämpft ihn, sie sächlich Grund genug gehabt – sicherlich auch Unterstüt- entschleunigt und reduziert damit die Spekulationen. zung von seiner Partei –, das Thema voranzutreiben und Deswegen brauchen wir sie dringend in Deutschland wiederzubeleben. Aber leider hat er genau das eben nicht und in der Europäischen Union. gemacht. Stattdessen hat er einen Zombieball für Untote (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN veranstaltet, nämlich diese Mini-Aktiensteuer vorge- sowie bei Abgeordneten der SPD) schlagen, die er uns allen als Finanztransaktionsteuer ver- kaufen will. Das ist zu Recht aufgeflogen: Das ist ein Es waren nicht die Grünen, die dazu eine Studie ge- großer Bluff, ein Etikettenschwindel. Wie auch immer: macht haben, sondern die FCA, also die britische Finanz- Es taugt überhaupt nicht. aufsicht. Die hat festgestellt, dass die Existenz und mas- sive Ausweitung des Hochfrequenzhandels jetzt schon Deswegen werden auch wir dafür nicht die Hand he- jedes Jahr Schäden in Höhe von 5,5 Milliarden Dollar ben, sondern unterstützen den Antrag der Linken. für die normalen Kleinsparer anrichten. Das gehört drin- gend reduziert, und auch deswegen brauchen wir eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Finanztransaktionsteuer, meine Damen und Herren. und bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Lassen Sie uns einen Neuanfang machen. Gerade heute (B) ist der Tag, bevor die Briten aus der Europäischen Union (D) Deswegen gibt es auch zu Recht seit Jahren, wenn aussteigen. Lassen Sie uns die Situation nutzen, um jetzt nicht gar Jahrzehnten, eine sehr, sehr hohe – und zwar neu über den Finanzplatz Europa zu diskutieren und ge- stabil hohe – Zustimmung in der Bevölkerung. meinsam eine Finanztransaktionsteuer auf den Weg zu bringen, – (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Ach!) Wie für die Einführung des Mindestlohns und wie für eine stärkere Vermögensbesteuerung sind über 80 Prozent Vizepräsident Wolfgang Kubicki: der Menschen in Deutschland und darüber hinaus dafür; Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss. aber die Situation ist anders als beim Mindestlohn. Wir haben zwar das Jahr 2020, aber wir haben immer noch Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): keine Finanztransaktionsteuer, weder auf Derivate noch – auch, indem wir Deutsche da vorangehen. auf Aktien noch auf Währungen. Und woran liegt das? Wolfgang Schäuble trägt dafür tatsächlich in Europa die Danke. zentrale Verantwortung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Zuruf von der CDU/CSU: Guter Mann!) und bei der LINKEN) 2011 haben wir hier gemeinsam beschlossen, dass sie kommen soll. Seit 2011 hat er es wirklich mit Bravour Vizepräsident Wolfgang Kubicki: geschafft, diese Finanztransaktionsteuer totzureiten. Vielen Dank, Frau Kollegin Paus. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans Michelbach, CDU/CSU-Frak- (Markus Herbrand [FDP]: Genau!) tion. In aller Ruhe hat er sie seit 2011 bis 2017 Runde um Runde, Arbeitsgruppensitzung um Arbeitsgruppensit- (Beifall bei der CDU/CSU) zung durch die Manege geführt, bis sie dann tatsächlich in ziemlicher Erschöpfung am Boden darniederlag. Dr. h. c. (Univ Kyiv) Hans Michelbach (CDU/CSU): Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Koali- (Beifall des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] tionsparteien haben, wie Sie wissen, im Koalitionsvertrag [SPD]) eine Reihe von Maßnahmen zur Eindämmung der Fi- Deswegen muss man es tatsächlich einmal sagen: Als nanzmarktrisiken vereinbart. Im Koalitionsvertrag heißt 2018 das Finanzministerium übernommen es dazu – ich zitiere mit Genehmigung des Herrn Präsi- hatte, war die Finanztransaktionsteuer schon ziemlich tot. denten –: Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17967

Dr. h. c. (Univ Kyiv) Hans Michelbach (A) Wir stärken den Finanzplatz Deutschland und Das heißt, es bleibt noch viel zu tun. Es geht um Beratun- (C) schützen Steuerzahler vor riskanten Finanzmarkt- gen, es geht darum, Fachwissen und Sachverstand einzu- Spekulationen … bringen. Das ist hier notwendig. So weit, meine Damen und Herren, dürfte jedem die Not- Der Bundesfinanzminister muss nach einer Lösung su- wendigkeit, am Finanzmarkt stärker und deutlicher Leit- chen, die zu einer effektiven Abwehr neuer Finanzkrisen planken zu setzen, seit der internationalen Finanz- und führt. Es muss auch sichergestellt werden, dass bei der Wirtschaftskrise vor gut zehn Jahren bewusst sein. FTT inländische wie ausländische Papiere gleichermaßen erfasst werden. Eine weitere wichtige Bedingung ist für Wir haben dazu mehr als 40 Gesetze verabschiedet. uns, dass Altersvorsorgeprodukte nicht der FTT unterlie- Hier kann sich als weitere Maßnahme im europäischen gen. Kontext die Finanztransaktionsteuer positiv einreihen. Die Koalition hat sich deshalb im Koalitionsvertrag da- (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Ja, wie will er rauf verständigt, eine echte, zielführende Finanztransak- das machen?) tionsteuer im europäischen Kontext einführen zu wollen. Der Bundesfinanzminister hat dies für die Staaten der Das ist die Sachlage, meine Damen und Herren. verstärkten Zusammenarbeit bereits als Option in sein Verhandlungspapier geschrieben. Das begrüßen wir au- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. ßerordentlich, wie es die Kollegin Antje Tillmann hier Cansel Kiziltepe [SPD] – Sebastian Brehm schon vorgetragen hat. [CDU/CSU]: So ist es! – Fritz Güntzler [CDU/CSU]: Dazu stehen wir auch!) (Beifall bei der CDU/CSU) Es war uns immer klar: Eine Finanztransaktionsteuer Wir halten es deshalb auch für selbstverständlich, dass nur im nationalen Rahmen kann die notwendige Wirkung Deutschland diese Optionsmöglichkeit zieht, sollte es auf dem internationalen Finanzmarkt wie auch den zu einer Einigung auf europäischer Ebene kommen. Alles Schutz vor Krisen nicht erreichen. andere wäre – auch für die Bürgerinnen und Bürger – nicht nachvollziehbar. (Beifall des Abg. Dr. Thomas de Maizière [CDU/CSU]) Es geht uns also, um es an dieser Stelle noch einmal deutlich zu sagen, nicht um eine Kleinanlegersteuer oder Wer dennoch für eine rein nationale FTT plädiert, betreibt eine Grundrenten-Finanzierungssteuer. dann natürlich nur Symbolpolitik. (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Na! – Dr. Florian Toncar [FDP]: Das sieht der Koali- (B) (Zuruf von der LINKEN: Also Söder, Seehofer (D) usw.!) tionspartner anders!) Es gibt auch kein beliebiges Steuerfindungsrecht aus fis- Es geht klar und deutlich um ein Instrument zur Finanz- kalischen Gründen als Grundlage für eine nationale marktregulierung. Das ist das Ziel, das wir uns mit der Steuer. Eine echte, substanzielle Finanztransaktionsteuer Steuer gesetzt haben. Ich erwarte von der Bundesregie- benötigt mindestens den Kontext der verstärkten Zusam- rung, dass sie dem Parlament eine substanzielle und funk- menarbeit in der Europäischen Union; denn eine Verla- tionsfähige Lösung im europäischen Kontext vorlegt. Es gerung ins Ausland nützt niemandem. ist klar: Die Diskussion muss dann weitergehen, die Be- ratungen müssen zum Ziel geführt werden. Sie kann aber (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und erst dann sinnvoll weitergeführt werden, wenn sich die der FDP) anderen europäischen Verhandlungspartner positioniert haben. Die richten sich nicht nach der FDP, die richten Frankreich hatte mit 1,6 Milliarden Euro Einnahmen ge- sich nicht nach der Linken, sondern nach ihren eigenen plant, hat aber jetzt nur 756 Millionen Euro eingenom- Vorstellungen. men, weil es eben eine Verlagerung in das Auslandsge- schäft gab. (Dr. Florian Toncar [FDP]: Die Mächte warten auf die CSU!) (Fritz Güntzler [CDU/CSU]: So ist es!) Deswegen sind Verhandlungen angebracht, um letzten Also: Wenn man es richtig machen will, dann geht es Endes sachgerechte Lösungen voranzubringen. Wir sind national nicht. Das zeigt das Beispiel Frankreich. sach- und lösungsorientiert und wollen natürlich keine Showeffekte. Meine Damen und Herren, nun wissen Sie, dass die Bundesregierung, konkret der Bundesfinanzminister Olaf Herzlichen Dank. Scholz, mit anderen EU-Staaten an einer gemeinsamen (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Regelung arbeitet. Und wer arbeitet, der wird auch Er- Dagmar Ziegler [SPD]) gebnisse vorweisen können. Es gibt dazu einen Entwurf, der jetzt von den beteiligten Staaten geprüft wird, also nichts, was jetzt schon fertig oder gar gesetzesreif wäre Vizepräsident Wolfgang Kubicki: oder hier zur Abstimmung gestellt werden könnte. Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Michelbach. – Vorletz- ter Redner des heutigen Tages und letzter Redner zu (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Wenn er da diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Lothar ist, muss er umgesetzt werden!) Binding, SPD-Fraktion. 17968 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) (Beifall bei der SPD) trägt die Hauptlast. (C)

Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): (Zuruf der Abg. Bettina Stark-Watzinger Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Lie- [FDP]) be Kolleginnen und Kollegen! Lisa Paus hat die Ge- Das ist auch die Wahrheit. Beauftragt hat dieses Gutach- schichte der Finanztransaktionsteuer schön geschildert. ten übrigens ein CSU-Minister, Gerd Müller. Die For- Wenn man Attac noch mit dazunimmt, ist es sogar eine scher unterstützen die Einführung der Finanztransaktion- 20-jährige Geschichte. Du hast gesagt, Scholz hätte die steuer, weil die meisten Anlagen in die von dieser Steuer Möglichkeit gehabt, das Projekt zu beerdigen oder ein betroffenen Papiere von Großinvestoren kommen, ganz neues Projekt im großen Stil aufzulegen. Nur hast du vergessen, die dritte Alternative zu erwähnen: Weil es (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Wer gibt manchmal total wichtig ist, einen Fuß in die Tür zu be- ihnen das Geld?) kommen, ist ein erster Schritt, wenn er in die richtige Richtung geht – oft ist der erste Schritt der schwierigste –, von Investoren aus dem Ausland, zum Beispiel von pri- etwas sehr Gutes, auch wenn er klein sein mag. vaten US-Fonds – da können wir ruhig eine kleine Steuer nehmen; (Beifall bei der SPD) Ich glaube, Frau Stark-Watzinger, über eine Sache (Beifall bei der SPD – Zurufe von der FDP) müssen wir noch mal reden: Sie nutzen oft den Begriff von der Krise wurde ja vorhin schon gesprochen – oder „Mitte der Gesellschaft“. Jetzt frage ich mich, wo Sie von Staatsfonds. Und wie kommt das? Weil diese die diese Mitte ansiedeln. meisten DAX-Aktien halten oder handeln. Das zitiert (Zuruf der Abg. Bettina Stark-Watzinger die „Rheinische Post“ aus diesem Gutachten. [FDP]) Insofern ist klar: Dass es bei der Finanztransaktion- Alles, was Sie in Ihrem Antrag schreiben – da steht es steuer um Privathaushalte und Kleinanleger geht, ist, of- zehnmal drin –, dreht sich um Kleinanleger, Kleinaktio- fen gestanden, nur bei einer von der FDP erfundenen näre, Jedermannssteuer. Jetzt frage ich mich, ob nicht Finanztransaktionsteuer so. Das trifft aber nicht auf die Folgendes wahr ist: Die meisten kleinen Leute haben Steuer zu, die wir im Moment planen einzuführen. ein Sparbuch (Beifall bei der SPD) (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Das ist schlecht!) Übrigens, eine Aktiensteuer ist international und his- (B) torisch bewährt. (D) und kein Aktiendepot. – Ich glaube, das ist die Wahrheit. (Zuruf der Abg. Bettina Stark-Watzinger (Zuruf des Abg. Dr. Florian Toncar [FDP]) [FDP]: Als Stempelsteuer!) Also denken Sie bei der Mitte der Gesellschaft an die obersten 10 Prozent der Einkommen. – Ja, Stempelsteuern gibt es schon einige Hundert Jahre. – Da können wir gleich weitermachen: Belgien hat eine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Börsenumsatzsteuer, Finnland eine Kapitalverkehrsteuer, der LINKEN) Frankreich eine Finanztransaktionsteuer, Irland eine Stempelsteuer, Italien eine Finanztransaktionsteuer usf. Sie haben sich dann noch gewundert, dass die Steuer Ringsum sind wir von Ländern mit Steuern dieser Art der Einnahmeseite des Staates dient. umgeben. (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Nein, ge- wundert nicht!) Kurz noch etwas zum Hochfrequenzhandel – ich will die eine fachliche Information noch geben –: Die Idee Da war ich froh, dass Antje Tillmann Ihnen erklärt hat: Es von Olaf Scholz ist, sich an Frankreich anzulehnen. Da ist die traditionelle Aufgabe von Steuern, die Einnahme- ist es so, dass die Scheinorder im Hochfrequenzhandel seite des Staates zu bedienen. – Vorhin hat jemand gesagt, extra besteuert werden. Die Scheinorder sollen eingestellt wir bäten die Leute zur Kasse. Ganz klar: Wir bitten alle werden. zur Kasse, und alle bekommen alles wieder zurück. (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Oh!) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: – Ja! – Das ist die Idee der Steuer. Es gibt ja keine Steuer- Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. einnahmen, die nicht wieder ausgegeben werden. Ja gut, unseren Lohn ziehen wir ab – das stimmt –; aber ansons- Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): ten ist es so. Das dämmt schon einen großen Teil des Hochfre- Laut der „Rheinischen Post“ hat das Kieler Institut für quenzhandels ein. Sie sehen: Das ist eine tolle Idee, und Weltwirtschaft, nicht direkt ein SPD-Institut – das ist Ihre Kritik geht leer. schon richtig –, gesagt: Nicht der Kleinanleger, sondern der Großanleger Schönen Dank. (Zuruf von der SPD: Ah!) (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17969

(A) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. (C) So interessant Ihre Ausführungen sind: Vielen Dank, Dann ist diese Beschlussempfehlung gegen die Stimmen dass Sie zum Ende gekommen sind, Herr Binding. – Da- der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die mit schließe ich die Aussprache. Grünen mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 19 a. Interfraktionell wird Über- weisung der Vorlage auf Drucksache 19/16754 an die in Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord- der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- nung. gen. Gibt es weitere Überweisungsvorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann wird wie vorgeschlagen verfahren. Ich wünsche Ihnen heute Abend noch viel Freude beim Durchdenken des Beispiels mit dem Schwein und den Tagesordnungspunkt 19 b. Wir kommen zur Be- Würsten, wie auch immer Sie das bewerten wollen. schlussempfehlung des Finanzausschusses zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Europäische Fi- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- nanztransaktionsteuer vorantreiben und nationale Einfüh- tages auf morgen, Freitag, den 31. Januar 2020, 9 Uhr, rung vorbereiten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner ein. Dann sehen wir uns wieder. Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/16910, den An- Die Sitzung ist geschlossen. trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/4886 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- (Schluss: 19.01 Uhr)

(B) (D)

Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020 17971

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Entschuldigte Abgeordnete

Abgeordnete(r) Abgeordnete(r)

Akbulut, Gökay DIE LINKE Tiemann, Dr. Dietlind CDU/CSU Auernhammer, Artur CDU/CSU Weber, Gabi SPD Bellmann, Veronika CDU/CSU Weinberg (Hamburg), Marcus CDU/CSU Bernhard, Marc AfD Wiese, Dirk SPD Christmann, Dr. Anna* BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN *aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes Curio, Dr. Gottfried AfD

Gabelmann, Sylvia DIE LINKE Anlage 2 Gauland, Dr. Alexander AfD Erklärung nach § 31 GO Grund, Manfred CDU/CSU des Abgeordneten Dr. André Hahn (DIE LINKE) Hebner, Martin AfD zu der Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 460 zu Heinrich (Chemnitz), Frank CDU/CSU Petitionen (Lärmschutz an Schienenwegen) Irmer, Hans-Jürgen CDU/CSU (Tagesordnungspunkt 27 d) Juratovic, Josip SPD (B) Bahnlärm ist in meinen Wahlkreisen Sächsische (D) Kamann, Uwe fraktionslos Schweiz-Osterzgebirge und Meißen auf der Strecke von Schöna (an der tschechischen Grenze) bis Weinböhla ein Kekeritz, Uwe BÜNDNIS 90/ Dauerbrenner. Neben dem Rheintal gehört gerade das DIE GRÜNEN Obere Elbtal zu den vom Bahnlärm am stärksten betroffe- nen Regionen und trotz aller Versicherungen des Bundes- Launert, Dr. Silke CDU/CSU verkehrsministeriums, dass der Schutz vor Schienenver- Leidig, Sabine DIE LINKE kehrslärm zu den Kernelementen einer nachhaltigen Verkehrspolitik zählt und die Belästigungen durch Schie- Magnitz, Frank AfD nenlärm ausgehend vom Jahr 2008 bis 2020 um 50 Pro- zent gesenkt werden sollen, kommt bei den Betroffenen Mayer (Altötting), Stephan CDU/CSU davon zu wenig an, und es dauert einfach viel zu lange, bis was passiert. Möhring, Cornelia DIE LINKE Am 10. Dezember 2017 hat die Deutsche Bahn die Müller, Bettina SPD Ausbaumaßnahmen der Strecke Berlin – Dresden für Nestle, Dr. Ingrid BÜNDNIS 90/ die Geschwindigkeitserhöhung auf 200 km/h in dem DIE GRÜNEN Streckenabschnitt zwischen Großenhain Berliner Bahn- hof und Abzweig Kottewitz fertiggestellt. Zu den Bau- Pronold, Florian SPD maßnahmen gehörte auch die Errichtung von Schallschutzwänden. „Vergessen“ wurde bereits bei der Rehberg, Eckhardt CDU/CSU Planung und beim Planfeststellungsbeschluss des Eisen- bahnbundesamtes vom 28. September 2016, auch die Remmers, Ingrid DIE LINKE vom Schienenlärm hauptbetroffene Wohnsiedlung im Schimke, Jana CDU/CSU Florian-Geyer-Weg ebenfalls mit entsprechenden Schallschutzwänden – es geht hier um 370 Meter – zu Schmidt, Dr. Frithjof BÜNDNIS 90/ versehen. DIE GRÜNEN Daraufhin schlossen sich die Anwohner zu einer Bür- Schnieder, Patrick CDU/CSU gerinitiative zusammen und forderten von der Deutschen Bahn sowie in einer Petition an den Bundestag umgehend Seitz, Thomas AfD Schallschutzmaßnahmen für ihre Wohnsiedlung. 17972 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2020

(A) Das Fazit: Es musste im Februar 2019 ein weiterer klar gegen zusätzliche Bürokratie und Strukturen ge- (C) Planfeststellungsbeschluss für die Lärmschutzwander- äußert. Die Vereine würden lieber eine Entbürokratisie- weiterung erteilt werden, die Baumaßnahme soll nun vo- rung begrüßen als die Schaffung einer neuen Struktur raussichtlich im Jahr 2021 stattfinden. Vorausgesetzt, die durch eine Ehrenamtsstiftung/Service-Agentur. Baumaßnahme wird 2021 abgeschlossen, müssen die Be- Folgende Gremien und Verbände haben kritische Stel- wohnerinnen und Bewohner der Wohnsiedlung vier Jahre lungnahmen zu der geplanten Ehrenamtsstiftung verfasst: lang unnötig viel und auch krankmachenden Schienen- Nationaler Normenkontrollrat, Diakonie Deutschland, verkehrslärm ertragen. Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement, der Immerhin dass jetzt nach langem Kampf doch etwas Deutsche Frauenrat, Kommissariat der deutschen Bischö- passiert, ist vor allem dem engagierten Einsatz der Bür- fe, Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbil- gerinitiative und ihrer Sprecher Harald Kühne und Mirko dung, Paritätischer Gesamtverband, Bund Deutscher Roch zu verdanken. Die Petition war auf diesem Weg Amateurtheater e. V. Kritisiert werden im Besonderen durchaus hilfreich. Der Beschlussempfehlung, das Peti- der Mangel an Transparenz und die Etablierung von Pa- tionsverfahren abzuschließen, stimme ich zu. rallelstrukturen zu bereits bestehenden Serviceangeboten und Stiftungen. Ich erwarte aber auch, dass die angekündigten Bau- maßnahmen ebenso wie weitere ausstehende Schall- Mit dem Errichten der geplanten Stiftung unterstützen schutzmaßnahmen auf der Bahnstrecke zwischen Wein- wir meiner Auffassung nach langfristig nicht das Enga- böhla und Schöna nun zügig in Angriff genommen und gement direkt, sondern eine Struktur, auf die das Parla- schnellstmöglich umgesetzt werden. ment keinen Zugriff mehr haben wird, auch wenn die Bundesregierung binnen fünf Jahren nach Errichtung der Stiftung evaluieren und dem Bundestag über die er- reichten Ziele berichten soll. Mit der Ehrenamtsstiftung Anlage 3 wird eine Doppelstruktur geschaffen, die das Ehrenamt erschwert. In den Bundesministerien gibt es bereits ganze Erklärungen nach § 31 GO Abteilungen mit genügend vielen Stellen, die sich ent- weder direkt oder querschnittlich mit dem Thema Ehren- zu der namentlichen Abstimmung über den von amt und Bürgerschaftliches Engagement befassen: den Fraktionen der CDU/CSU und SPD einge- brachten Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung Im Bundesinnenministerium stehen für den Aufgaben- der Deutschen Stiftung für Engagement und Eh- bereich Ehrenamt sechs Funktionen zur Verfügung; im renamt Bundesfamilienministerium sind 7 Referate direkt/über- (B) wiegend mit dem Thema Ehrenamt befasst und 2 quer- (D) (Tagesordnungspunkt 14 a) schnittlich/teilweise; im Bundeslandwirtschaftsministe- rium befasst sich unter anderem das Referat 815 Petra Nicolaisen (CDU/CSU): Auf diesem Wege „Ehrenamt, Landfrauen, Landjugend“ mit dem Thema möchte ich darüber informieren, dass ich in der heutigen Ehrenamt. Dieses Thema kann dort als Querschnittsauf- Plenardebatte zu dem Tagesordnungspunkt 14 dem Ge- gabe die Aufgabengebiete verschiedener Referate tangie- setzentwurf der Koalitionsfraktionen „zur Errichtung der ren. Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt“ (Bundestagsdrucksache 19/14336) sowie dem wortglei- Im Koalitionsvertrag steht, dass eine Ehrenamtsstif- chen Entwurf der Bundesregierung (Bundestagsdrucksa- tung oder eine Service-Agentur dabei helfen kann, das che 19/14977) zustimmen werde. Allerdings möchte ich zivilgesellschaftliche Engagement und das Ehrenamt zu meine nachfolgenden Bedenken mitteilen. fördern und zu stärken. Die Stärkung des ehrenamtlichen und freiwilligen En- Unsere Bürgerinnen und Bürger, die sich freiwillig und gagements in unserem Land ist eine zentrale Aufgabe. unentgeltlich für die Gesellschaft engagieren, möchten Diese Ziele werden meines Erachtens nach mit dem vor- mehr Geld und Unterstützung im System haben, keine gelegten Stiftungsansatz nicht erreicht. Länder und Kom- zusätzliche Struktur. Auch deshalb halte ich die Errich- munen oder Verbände haben bereits ähnliche Strukturen tung einer Stiftung für nicht zielführend. aufgebaut. Der Aufbau von Doppelstrukturen ist nicht Johannes Selle (CDU/CSU): In der Befassung mit sinnvoll. Zudem sehe ich die geplante personelle Aus- dem Thema habe ich mich heute entschieden, dem Ge- stattung der Geschäftsstelle der Stiftung kritisch. Die da- setzentwurf nicht zuzustimmen. Für mich bedeutet die durch entstehenden Personal- und Sachkosten sind erheb- Errichtung einer Ehrenamtsstiftung eine höhere Bürokra- lich. Im Sinne der Subsidiarität ist es unbedingt tie, ohne dass es einen erkennbaren Nutzen für die ehren- notwendig, bereits bestehende Strukturen zu stärken. amtlich Engagierten gibt. Insofern werden die erhebli- chen Mittel nicht verantwortlich im Hinblick auf Sylvia Pantel (CDU/CSU): Dem Gesetzentwurf zur Effizienz verwendet. Das Ziel, ehrenamtliches Engage- Errichtung der Deutschen Stiftung für Engagement und ment zusätzlich anzuregen, kann so aus meiner Sicht Ehrenamt werde ich nicht zustimmen. Im Folgenden nicht erreicht werden. Zahlreiche Institutionen haben möchte ich meine Gründe hierfür darlegen. ebenfalls Zweifel angemeldet. Mit der Errichtung der Mehrere Organisationen haben sich in Fachgesprächen Ehrenamtsstiftung habe ich andere Erwartungen ver- des Unterausschusses Bürgerschaftliches Engagement knüpft.

Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co. KG, Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333